Der Gerichtshof der Vernunft. Eine historische und systematische Untersuchung über die juridischen Metaphern der Kritik der reinen Vernunft 978-3-8260-6214-8

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Der Gerichtshof der Vernunft. Eine historische und systematische Untersuchung  über die juridischen Metaphern  der Kritik der reinen Vernunft
 978-3-8260-6214-8

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À minha mãe e ao meu irmão

Danksagung Das vorliegende Buch stellt meine Inauguraldissertation dar, die im November 2015 vom Fachbereich 05 – Philosophie und Philologie der Johannes Gutenberg-Universität Mainz und vom Departamento de Filosofia da Faculdade de Filosofia, Letras e Ciências Humanas der Universidade de São Paulo zur Erlangung der Doktorwürde im Fach Philosophie angenommen wurde. Mein Dank gilt an erster Stelle meinen Doktorvätern Univ-Prof. Heiner F. Klemme und Prof. Dr. Ricardo R. Terra, die die Arbeit mit Geduld und steter Förderung betreut haben. Für die Begutachtung der Arbeit und für die Teilnahme an der mündlichen Prüfung danke ich Prof. Dr. Christian Thein, Prof. Dr. Maurício Keinert und Prof. Dr. Bruno Nadai. Der DAAD und die FAPESP haben dankenswerterweise durch Stipendien meine Forschungsarbeit finanziell ermöglicht, gedruckt wurde sie mit freundlicher Unterstützung der Geschwister Boehringer Ingelheim Stiftung für Geisteswissenschaften in Ingelheim am Rhein. Für ihre vielfältige Unterstützung schulde ich Margit Ruffing besonderen Dank. Nicht zuletzt gilt mein Dank vielen Freunden aus Deutschland und Brasilien, ohne deren wohlwollende Unterstützung meine Arbeit nicht möglich gewesen wäre. Diego Kosbiau Trevisan Campinas, SP, Brasilien. 2018

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Inhaltverzeichnis Siglenverzeichnis ............................................................................................................ 13 Einleitung ........................................................................................................................ 17 1 2 3

Jurisprudenz als methodologisches Modell ............................................... 17 Status quaestionis ........................................................................................... 21 Interpretationsgrundlagen und Vorgehen der Untersuchung................ 36

1 Die Metaphern der kantischen Philosophie........................................................ 41 1.1 Die „neue“ kritische Terminologie ............................................................. 41 1.2 Ein Überblick über die Metaphern in der kritischen Philosophie. Die Bedeutung der juristischen Metapher .................................................... 45 1.3 Kant und die Metaphern. Die Grenzen der ästhetischen Vorstellungsart oder die Grenzbestimmung von Philosophie und Literatur ........................................................................................................... 52 1.4 Wie sind die Metaphern bei Kant zu interpretieren?............................... 59 1.4.1 Die Metapher als Übergang zwischen Sinnlichem und Übersinnlichem; Vermittlung zwischen „Buchstabe“ und „Geist“, Stil und Schreiben – Leonel dos Santos ............... 59 1.4.2 Die Metapher als heuristisches Mittel zur Problemauflösung – Suzuki, Oesterreich und Eucken .............. 60 1.4.3 Die Metapher als Mittel zur polemischen Verbreitung von Ideen - Pietsch.................................................... 61 1.4.4 Die Metaphorologie des Kritizismus – Marcos .......................... 62 1.5 Das Verhältnis Kants zum Recht ............................................................... 65 TEIL I QUELLEN- UND BEGRIFFSGESCHICHTE DER JURIDISCHEN METAPHORIK ................................................................... 72 2 Die Gerichtsmetapher in der neuzeitlichen Philosophie und in der Aufklärung – Ein Überblick .................................................................................. 73 2.1 Der Gerichtshof der Vernunft .................................................................... 73 2.2 Bacon und die Naturforschung als Gerichtsprozess ............................... 77 2.2.1 Bacon und die juridischen Metaphern .......................................... 77 2.2.2 Die Bedeutung der juridischen Metaphorik bei Bacon ............. 81 2.2.3 Der Einfluss Bacons auf Kant ....................................................... 83 2.3 Leibniz und die Waage der Vernunft ......................................................... 87 2.3.1 Der Mittelweg als Motiv der deutschen Aufklärung .................. 87 2.3.2 Ars characteristica als Auflösungsmethode. Der iudex controversiarum ................................................................... 89

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3 Quellengeschichte des juridischen Deduktionsbegriffs .................................... 97 3.1 Quellen .......................................................................................................... 103 3.2 Theoretische und praktische Jurisprudenz und juridische Praxis ....... 107 3.3 Deduktion nach Pütter und ihre Ähnlichkeiten mit der Deduktion der KrV ....................................................................... 113 4 Quellengeschichte der Antinomie als juridischer Begriff ............................... 120 4.1 Der rhetorische Ursprung des Antinomiebegriffs ................................. 121 4.2 Der Umschwung des Antinomiebegriffs in der frühen neuzeitlichen Rechtswissenschaft..................................... 127 4.3 Der spätaufklärerische Drang nach Systematisierung und Vereinfachung der Gesetzgebung und nach Abschaffung der entgegengesetzten Gesetze.................................................................. 139 4.4 Kant und die juristischen Antinomien ..................................................... 143 TEIL II DIE ENTSTEHUNGSGESCHICHTE DER JURIDISCHEN METAPHORIK DER KRITIK DER REINEN VERNUNFT Zum Problem einer Entstehungsgeschichte der kritischen Philosophie ........... 146 5 Die Anfänge der juridischen Methode als Vermittlungsmethode ................ 154 5.1 Die Gedanken von der wahren Schätzung der lebendigen Kräfte ..... 155 5.2 Weitere Schriften der 1750er Jahre ........................................................... 165 5.2.1 Allgemeine Naturgeschichte und Theorie des Himmels ......... 166 5.2.2 Nova dilucidatio ................................................................................. 168 5.2.3 Monadologia physica ........................................................................... 172 6 Skeptisch-polemische Methode .......................................................................... 175 6.1 Begriffserklärung .......................................................................................... 175 6.1.1 Skeptizismus und skeptische Methode ....................................... 175 6.1.2 Skeptische Methode als juridische Methode.............................. 179 6.2 Status quaestionis und Quellen. Eklektik als ein möglicher Vorläufer des Kritizismus? ......................................... 180 6.3 Etappen der skeptisch-polemischen Methode ....................................... 187 6.3.1 Polemische Vorgehensweise als disputatio oder dialectica eristica .................................................. 187 6.3.2 Hume und der gemäßigte Skeptizismus ..................................... 192 6.3.3 Kants gemäßigter Skeptizismus im Verhältnis zur Metaphysik....................................................................................... 198

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7 Die Nomothetik der Vernunft ............................................................................ 205 7.1 Die Dissertatio und die Subjektivierung des Widerstreits ....................... 205 7.1.1 Die Dissertatio ................................................................................... 205 7.1.2 Die Subjektivierung des Streits und der Kritik als negative Metaphysik – Von 1769 bis 1772 .......................... 210 7.2 Der Skeptiker als Richter ............................................................................ 214 7.3 Das Gewissen als forum rationis .................................................................. 217 7.4 Der Gerichtshof der Vernunft im Erkenntnisprozess .......................... 227 TEIL III DIE SYSTEMATISCHE UNTERSUCHUNG DER JURIDISCHEN METAPHORIK DER KRITIK DER REINEN VERNUNFT ........................ 234 8 Die Disziplin der reinen Vernunft – Die negative und die positive Gesetzgebung der Vernunft ................................................... 235 8.1 Die Disziplin der reinen Vernunft als negative Gesetzgebung ........... 237 8.1.1 Die (Selbst-)Disziplin der Vernunft ............................................ 237 8.1.2 Die Kritik als Disziplin. Die Quelle des Disziplinbegriffs in der Logik........................... 240 8.1.3 Disziplin als Unterweisung und negative, die positive vorbereitende Gesetzgebung. Der Ursprung des kantischen Disziplinbegriffs bei Rousseau ................................ 245 8.1.4 Die Einteilung des Disziplin-Kapitels ........................................ 251 8.2 Die „Disziplin der reinen Vernunft im dogmatischen Gebrauche“ ... 253 8.2.1 Kants Verhältnis zur Mathematik ............................................... 253 8.2.2 Die „Disziplin der reinen Vernunft im dogmatischen Gebrauche“ – Philosophie als diskursive Wissenschaft .......... 256 8.3 Die Disziplin der reinen Vernunft in Ansehung ihres polemischen Gebrauchs, der Hypothesen und ihrer Beweise ............. 264 8.3.1 Die „Disziplin der reinen Vernunft in Ansehung ihres polemischen Gebrauchs“ .............................................................. 266 8.3.2 Die „Disziplin der reinen Vernunft in Ansehung der Hypothese“ ...................................................................................... 274 8.3.3 Die „Disziplin der reinen Vernunft in Ansehung ihrer Beweise“ ........................................................................................... 277 9 Die juridische Deduktion in der Kritik der reinen Vernunft ............................... 291 9.1 Die metaphysische und die transzendentale Deduktion in der KrV ................................................................................. 293 9.2 Res facti in der KrV ....................................................................................... 301 9.2.1 Gibt es ein Faktum in der KrV? .................................................. 301 9.2.2 Was ist das Faktum in der KrV? .................................................. 313

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9.3 Der Zirkel oder die „Dialektik“ des Faktums – eine Inkonsistenz der Transzendentalphilosophie oder ein weiteres juridisches Grundmerkmal der KrV?........................ 318 9.4 Die metaphysische und transzendentale Deduktion der Kategorien .............................................................................................. 327 9.4.1 Die metaphysische Deduktion der reinen Verstandesbegriffe ...................................................... 327 9.4.2 Die transzendentale Deduktion der reinen Verstandesbegriffe ...................................................... 334 9.5 Die metaphysische und transzendentale Deduktion der transzendentalen Ideen.................................................... 341 9.5.1 Ähnlichkeiten und Unterschiede zwischen Vernunft und Verstand – Versuch eines Prinzips der metaphysischen Deduktion der transzendentalen Ideen ...................................... 342 9.5.2 Subjektive Ableitung oder objektive Deduktion? Einige Begriffserklärungen ........................................................... 345 9.5.3 Über die subjektive Ableitung oder metaphysische Deduktion der Ideen – die Bestimmung der Gültigkeit der Vernunftbegriffe überhaupt .................................................. 348 10 Der Gerichtshof der Vernunft in der Transzendentalen Dialektik .............. 356 10.1 Der transzendentale Schein und die Transzendentale Dialektik ......... 360 10.1.1 Der transzendentale Schein, das vitium subreptionis und der Widerstreit von Gesetzen vor dem Gerichtshof der Vernunft ............................................................. 360 10.1.2 Die dialektischen Vernunftschlüsse der Vernunft – Die Entstehung des Scheins und des Irrtums ........................... 368 10.2 Die Paralogismen der reinen Vernunft .................................................... 369 10.3 Die Antinomie der reinen Vernunft ......................................................... 377 10.3.1 Die Antithetik der reinen Vernunft – Das freie Spiel der Argumente der reinen Vernunft ........................................... 379 10.3.2 Die skeptische Methode – die Bestimmung der streitenden Parteien und die Rolle des unparteiischen Richters ......... 385 10.3.3 Die Lösung des Streites – Die Entdeckung der „grundlosen Voraussetzung“ und der transzendentale Idealismus .... 389 10.3.4 „Der Sinn, in welchem die Vernunft mit sich selbst zusammenstimmt“ ......................................................................... 396 Schlusswort ................................................................................................................... 403 Bibliographie ................................................................................................................. 407 Primärliteratur ........................................................................................................ 407 1) Kants Schriften........................................................................................ 407 2) Andere Quellen ....................................................................................... 407 Sekundärliteratur .................................................................................................... 412

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Siglenverzeichnis Soweit nicht ausdrücklich anders vermerkt, werden Kants Werke, Briefe, Reflexionen sowie die Vorlesungsnachschriften zitiert nach: Kants gesammelte Schriften (hrsg. von der Preußischen Akademie der Wissenschaften et al. Berlin 1900ff.) Römische Ziffern bezeichnen die Bandnummer, arabische die Seitenzahl dieser Ausgabe (zitiert: AA). Die Kritik der reinen Vernunft (KrV) wird üblicherweise mit der Seitenzahl von der ersten (1781 [A]) oder zweiten (1787 [B]) Auflage zitiert. Insbesondere werden folgende Abkürzungen verwendet: AA Anth BDG DfS EACG FM GMS GSE GSK GUGR IaG KpV KrV KU Log MAN MonPh MpVT MdS RL TL MSI

Akademie-Ausgabe Anthropologie in pragmatischer Hinsicht (AA 07) Der einzig mögliche Beweisgrund zu einer Demonstration des Daseins Gottes (AA 02) Die falsche Spitzfindigkeit der vier syllogistischen Figuren erwiesen (AA 02) Entwurf und Ankündigung eines Collegii der physischen Geographie (AA 02) Welches sind die wirklichen Fortschritte, die die Metaphysik seit Leibnitzens und Wolf’s Zeiten in Deutschland gemacht hat? (AA 20) Grundlegung zur Metaphysik der Sitten (AA 04) Beobachtungen über das Gefühl des Schönen und Erhabenen (AA 02) Gedanken von der wahren Schätzung der lebendigen Kräfte (AA 01) Von dem ersten Grunde des Unterschiedes der Gegenden im Raume (AA 02) Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht (AA 08) Kritik der praktischen Vernunft (AA 05) Kritik der reinen Vernunft Kritik der Urteilskraft (AA 05) Logik (AA 09) Metaphysische Anfangsgründe der Naturwissenschaften (AA 04) Metaphysicae cum geometria iunctae usus in philosophia naturali, cuius specimen I. continet monadologiam physicam (AA 01) Über das Mißlingen aller philosophischen Versuche in der Theodicee (AA 08) Die Metaphysik der Sitten (AA 06) Metaphysische Anfangsgründe der Rechtslehre (AA 06) Metaphysische Anfangsgründe der Tugendlehre (AA 06) De mundi sensibilis atque intelligibilis forma et principiis (AA 02)

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NEV NG NLBR NTH OP Päd PG PhilEnz PND Prol Rx RezHerder RezHufeland RezSchulz RezUlrich RGV SF TG TP UD ÜE ÜGTP VAMS VARGV VARL VASF VATL VAVT

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Nachricht von der Einrichtung seiner Vorlesungen in dem Winterhalbenjahre von 1765-1766 (AA 02) Versuch, den Begriff der negativen Größen in die Weltweisheit einzuführen (AA 02) Neuer Lehrbegriff der Bewegung und Ruhe und der damit verknüpften Folgerungen in den ersten Gründen der Naturwissenschaft (AA 02) Allgemeine Naturgeschichte und Theorie des Himmels (AA 01) Opus Postumum (AA 21 u. 22) Pädagogik (AA 09) Physische Geographie (AA 09) Philosophische Enzyklopädie (AA 29) Principiorum primorum cognitionis metaphysicae nova dilucidatio (AA 01) Prolegomena zu einer jeden künftigen Metaphysik (AA 04) Reflexion (AA 14–19) Recensionen von J. G. Herders Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit (AA 08) Recension von Gottlieb Hufeland’s Versuch über den Grundsatz des Naturrechts (AA 08) Recension von Schulz’s Versuch einer Anleitung zur Sittenlehre für alle Menschen (AA 08) Kraus’ Recension von Ulrich’s Eleutheriologie (AA 08) Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft (AA 06) Der Streit der Fakultäten (AA 07) Träume eines Geistersehers, erläutert durch die Träume der Metaphysik (AA 02) Über den Gemeinspruch: Das mag in der Theorie richtig sein, taugt aber nicht für die Praxis (AA 08) Untersuchung über die Deutlichkeit der Grundsätze der natürlichen Theologie und der Moral (AA 02) Über eine Entdeckung, nach der alle neue Kritik der reinen Vernunft durch eine ältere entbehrlich gemacht werden soll (AA 08) Über den Gebrauch teleologischer Principien in der Philosophie (AA 08) Vorarbeit zur Metaphysik der Sitten (AA 23) Vorarbeit zur Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft (AA 23) Vorarbeit zur Rechtslehre (AA 23) Vorarbeit zum Streit der Fakultäten (AA 23) Vorarbeit zur Tugendlehre (AA 23) Vorarbeit zu Von einem neuerdings erhobenen vornehmen Ton in der Philosophie (AA 23)

VAZeF VNAEF

Vorarbeiten zu Zum ewigen Frieden (AA 23) Verkündigung des nahen Abschlusses eines Tractats zum ewigen Frieden in der Philosophie (AA 08) V-Anth/Busolt Vorlesungen Wintersemester 1788/1789 Busolt (AA 25) V-Anth/Collins Vorlesungen Wintersemester 1772/1773 Collins (AA 25) V-Anth/Fried Vorlesungen Wintersemester 1775/1776 Friedländer (AA 25) V-Anth/Mensch Vorlesungen Wintersemester 1781/1782 Menschenkunde, Petersburg (AA 25) V-Anth/Mron Vorlesungen Wintersemester 1784/1785 Mrongovius (AA 25) V-Anth/Parow Vorlesungen Wintersemester 1772/1773 Parow (AA 25) V-Anth/Pillau Vorlesungen Wintersemester 1777/1778 Pillau (AA 25) V-Lo/Blomberg Logik Blomberg (AA 24) V-Lo/Busolt Logik Busolt (AA 24) V-Lo/Dohna Logik Dohna-Wundlacken (AA 24) V-Lo/Herder Logik Herder (AA 24) V-Lo/Philippi Logik Philippi (AA 24) V-Lo/Pölitz Logik Pölitz (AA 24) V-Lo/Wiener Wiener Logik (AA 24) V-Met/Arnoldt Metaphysik Arnoldt (K 3) (AA 29) V-Met/Dohna Kant Metaphysik Dohna (AA 28) V-Met/Heinze Kant Metaphysik L1 (Heinze) (AA 28) V-Met/Herder Metaphysik Herder (AA 28) V-Met-K2/Heinze Kant Metaphysik K2 (Heinze, Schlapp) (AA 28) V-Met-K3/Arnoldt Kant Metaphysik K3 (Arnoldt, Schlapp) (AA 28) V-Met-K 3E/Arnoldt Ergänzungen Kant Metaphysik K3 (Arnoldt) (AA 29) V-Met-L1/Pölitz Kant Metaphysik L 1 (Pölitz) (AA 28) V-Met-L2/Pölitz Kant Metaphysik L 2 (Pölitz, Original) (AA 28) V-Met/Mron Metaphysik Mrongovius (AA 29) V-Met-N/Herder Nachträge Metaphysik Herder (AA 28) V-Met/Schön Metaphysik von Schön, Ontologie (AA 28) V-Met/Volckmann Metaphysik Volckmann (AA 28) V-Mo/Collins Moralphilosophie Collins (AA 27) V-Mo/Mron Moral Mrongovius (AA 27) V-Mo/Mron II Moral Mrongovius II (AA 29) V-MS/Vigil Die Metaphysik der Sitten Vigilantius (AA 27) V-NR/Feyerabend Naturrecht Feyerabend (AA 27) V-PG Vorlesungen über Physische Geographie (AA 26) V-Phil-Th/Pölitz Philosophische Religionslehre nach Pölitz (AA 28) V-PP/Herder Praktische Philosophie Herder (AA 27) V-PP/Powalski Praktische Philosophie Powalski (AA 27) V-Th/Baumbach Danziger Rationaltheologie nach Baumbach (AA 28) V-Th/Pölitz Religionslehre Pölitz (AA 28) V-Th/Volckmann Natürliche Theologie Volckmann nach Baumbach (AA 28)

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VT VUB WA WDO ZeF

Von einem neuerdings erhobenen vornehmen Ton in der Philosophie (AA 08) Von der Unrechtmäßigkeit des Büchernachdrucks (AA 08) Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung? (AA 08) Was heißt sich im Denken orientiren? (AA 08) Zum ewigen Frieden (AA 08)

Wenn nicht ausdrücklich anders angegeben, erfolgt die Zitierung von Leibniz’ Schriften und Fragmenten nach Die philosophischen Schriften, hrsg. von Carl I. Gerhardt (GP).

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Einleitung 1

Jurisprudenz als methodologisches Modell

Die vorliegende Arbeit ist eine historische, entstehungsgeschichtliche und systematische Untersuchung über die juristischen Metaphern in der Kritik der reinen Vernunft (KrV), wie sie vor allem in dem Bild des ‚Gerichtshofes der Kritik als des Gerichtshofes der Vernunft‘ zum Ausdruck kommen. Sie kann in diesem Sinne als ein ausführlicher Kommentar zu der folgenden Stelle der Disziplin der reinen Vernunft betrachtet werden: Man kann die Kritik der reinen Vernunft als den wahren Gerichtshof für alle Streitigkeiten derselben ansehen; denn sie ist in die letzteren, als welche auf Objekte unmittelbar gehen, nicht mit verwickelt, sondern ist dazu gesetzt, die Rechtsame der Vernunft überhaupt nach den Grundsätzen ihrer ersten Institution zu bestimmen und zu beurteilen (A 751/ B 779. Vgl. auch A xi–xii).

Daraus ergibt sich eine thematische Einschränkung. Nicht die Auseinandersetzung mit inhaltlichen Fragen der KrV bildet den Schwerpunkt dieser Untersuchung, obwohl sich eine textimmanente Erläuterung einiger Stellen der KrV nicht umgehen lässt. Das Ziel besteht vielmehr darin, zu erforschen, inwiefern die juristische Terminologie und die Rechtwissenschaft auf den methodologischen Aufbau der KrV und auf ihren Werdegang entscheidenden Einfluss ausgeübt haben. Wenn man in Anschlag bringt, dass Kant ganz nach Art der philosophischen Diskussion seiner Zeit1 die KrV als einen „Traktat von der Methode“ (B xxii) definiert, erklärt sich eine solche Untersuchung von selbst.2 Das Methodenproblem steht also im Mittelpunkt der vorliegenden Untersuchung, jenes Problem, das von Anfang an dringliche Fragen aufwirft. Es gibt nicht nur eine Vieldeutigkeit des „Methodenbegriffs“ in der kritischen Philosophie. So ist z. B. von der analytischen, synthetischen, skeptischen, dogmatischen, polemischen Methode usw. die Rede, was es unmöglich macht, von einer „einheitlichen Methode“ bei Kant zu sprechen.3 Der Werdergang des kantischen Denkens ist darüber

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Vgl. z. B. Vleeschauwer, H. J. „Le sens de la méthode dans le Discours de Descartes et la Critique de Kant“. In: Gueroult, M. et al. (Hrsg.). Studien zu Kants philosophischer Entwicklung. Hildesheim: Olms, 1967. Vaihinger zufolge ist „das Wesentlich und Neue bei Kant, dass er die sachlichen Fragen von der Erledigung der methodologischen Probleme abhängig macht: die Metaphysik wird durch ihn eine von der Methodologie und Erkenntnisstheorie abhängige Function. Es geht sowohl aus den früheren Schriften und den erhaltenen Briefen Kants als aus der ganzen Anlage der Kritik und ausdrücklichen Bestimmungen in derselben klar hervor, dass Kant, wie er den Streit der entgegengesetzten Richtungen seiner Zeit und früherer Zeit [nämlich zwischen Dogmatismus und Empirismus bzw. Skeptizismus – D. K. T.] in erster Linie vom methodologischen Gesichtspunkt aus auffasste, also weniger als einen Streit um eine bestimmte materialistische oder spiritualistische Weltanschauung, sondern vielmehr als einen Streit über die propädeutische Frage der Methode.“ Vaihinger, H. Commentar zu Kants „Kritik der reinen Vernunft“. Bd. 1. Stuttgart: Spemann. 1881, S. 26. Vgl. Brandt, R. „Philosophical Methods“. In: Haakonseen, K. (Hrsg.). The Cambridge History of Eighteenth-Century Philosophy. Bd. 1. Cambridge: Cambridge University Press, 2006, S. 150–155; Hinske, N. „Die Rolle des Methodenproblems im Denken Kants. Zum Zu-

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hinaus durch eine intensive, vielen Umbrüchen unterworfene Auseinandersetzung mit der Frage geprägt, welche Methode in der Philosophie die am besten geeignete ist. Wie im zweiten Teil dieser Arbeit dargestellt wird, suchte Kant schon in seiner ersten Schrift, den Gedanken von der wahren Schätzung der lebendigen Kräfte, nach einer Methode, mit deren Hilfe die „Tyrannei der Irrthümer“ (GSK AA 01: 95) abzuschaffen sei.4 Die Untersuchung wird immer wieder auf dieses Thema zurückkommen, um im Zuge der Argumentation die wichtigsten Punkte herauszuarbeiten und Kants grundlegende methodische Erwägungen zu beleuchten. Das Methodenproblem lässt sich schon früh feststellen und bildet eine Konstante. So wurde die Ablehnung der Idee einer identitas methodi philosophicae et mathematicae5 schon in der Erstlingsschrift angedeutet, in der Preisschrift zunächst formuliert und in dem Disziplin-Abschnitt der KrV konsolidiert. Auf die Unzulänglichkeiten der allgemeinen Logik als methodologische Richtlinie verweisen bereits die in der Nova Dilucidatio zu findende Geltungseinschränkung von dem Satz vom Grund und dem Satz vom Widerspruch sowie die in den Schriften der 1750er und 1760er Jahre formulierte Zurückweisung der Herleitung der Existenz aus der bloßen Möglichkeit.6 Schließlich ist an die Bezeichnung der Physik als „Nebenlehre“ zu denken, die, anders als etwa bei Hobbes, wegen der Insuffizienz ihres methodologischen Instruments par excellence, nämlich des Experiments, zumindest in der reinen Philosophie nicht als „methodologisches Mo-

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sammenhang von dogmatischer, polemischer, skeptischer und kritischer Methode“. In: Fischer, N. (Hrsg.). Kants Grundlegung einer kritischen Metaphysik. Hamburg: Meiner, 2010. Schon in seiner ersten Schrift findet sich bei Kant „die Tendenz, sachliche Probleme und Streitfälle durch den Rekurs auf methodologische Fragen zu lösen“ (Engfer. H-J. Philosophie als Analysis. Studien zur Entwicklung philosophischer Analysiskonzeptionen unter dem Einfluß mathematischer Methodenmodelle im 17. und frühen 18. Jahrhundert. Stuttgart-Bad Cannstatt: Frommann-Holzboog, 1982, S. 49). Dies zeigt sich dann auch in zahlreichen Reflexionen und Vorlesungen, und die Frage nach der besten Methode in der Philosophie spielt in der Preisschrift, im Beweisgrund, in der Dissertatio und den Briefen an Lambert und Mendelssohn eine Rolle (UD AA 02: 286; BDG AA 02: 71; MSI AA 02: 410ff.; AA 10: 51–54; AA 10: 70). Vgl. Hinske, N. Kants Weg zur Transzendentalphilosophie. Stuttgart: Kohlhammer, 1970, S. 119ff., „§ 8. Der Vorrang des Methodenproblems“. Wolff, C. Einleitende Abhandlung über Philosophie im allgemeinen (Discursus praeliminaris de philosophia in genere). Stuttgart-Bad Cannstatt: Frommann-Holzboog, 2006, § 119, S. 84. Vgl. z. B. Ciafardone, R. La Critica della Ragion Pura di Kant. Introduzione alla lettura. Roma: Carocci editori, 2007, S. 27ff. So heißt es bei Tonelli z. B: „It is my contention that the subject matter of the Critique of Pure Reason cannot be properly defined as theory of knowledge (gnosiology, epistemology), and that defining it as metaphysics is correct, but only partially: in fact it is, in my opinion, a treatise on logic as much as on metaphysics.“ Tonelli, G. „Kant’s Critique of Pure Reason Within the Tradition of Modern Logic“. In: Funke, G. (Hrsg.). Akten des 4. Internationalen Kant-Kongresses, Mainz 6.–10. April 1974, Vol. III. Berlin & New York: De Gruyter, 1975, S. 186; wieder abgedruckt in: Tonelli, G. Kant’s Critique of Pure Reason Within the Tradition of Modern Logic. Ed. D. H. Chandler. Hildesheim, Zürich & New York: Olms, 1994, S. 1. Tonelli setzt die Logik der Zeit Kants, verstanden als praktische Logik, mit einer methodologischen Anweisung gleich. Auch wenn dies zutreffen mag, so erklärt diese Gleichstellung nicht den ständigen und entscheidenden Hinweis Kants in seiner kritischen Philosophie auf die aus der Rechtswissenschaft stammende Terminologie. Das Methodenproblem stellt sich daher nicht nur im Rahmen der Logik, sondern auch im Rahmen der Rechtswissenschaft. Auf Tonellis Interpretation wird in Kapitel 8 noch zurückzukommen sein.

dell“ gelten kann.7 All dies weist auf die Möglichkeit, ja Notwendigkeit eines neuen methodologischen Paradigmas hin: die Rechtswissenschaft.8 Was hat jedoch Kant dazu geführt, sich der Jurisprudenz zwar nicht inhaltlich, aber doch methodologisch anzunähern? Vielleicht liegt ein erster Grund in der engen Beziehung, die im 17. und 18. Jahrhundert zwischen der spekulativen Philosophie und der Rechtswissenschaft bestand – darauf wird das zweite Kapitel dieser Arbeit eingehen. Neben den experimentellen Wissenschaften und der Mathematik boten die Rechtswissenschaft und ihr methodologischer Aufbau der Philosophie der Aufklärung ein Rüstzeug zur Behandlung spekulativer Fragen. Es lässt sich darüber hinaus vermuten, dass insbesondere die Art und Weise, wie die Juristen ihre Rechtssachen entschieden und insbesondere wie sie die an sie herangetragenen Fälle und Beweise in Frage stellten, das war, was Kants Aufmerksamkeit erregte. Während der Mathematiker, der Logiker und der Physiker stets strenge Verfahren zur Demonstration ihrer Sätze und zur Auflösung ihrer Probleme zur Hand haben müssen, besitzt der Jurist das Recht auf Zweifel. Er muss die Parteien anhören, Spuren ermitteln, Gesetze auslegen, Kompromisse schließen, zu einem Konsens finden – und obwohl der Rechtsfall nicht unentschieden bleiben darf, muss er nicht in gleicher Weise bewiesen oder demonstriert werden wie die auf Gültigkeit pochenden Sätze in der Mathematik, Logik oder Physik. Die Jurisprudenz spielte somit eine wichtige Rolle in der methodologischen Krise, die Kant in den 1760er Jahren stark wahrnahm. Die ersten Spuren in seinem Denken reichen jedoch bis zu seiner Erstlingsschrift zurück – nicht ohne Grund beinhaltet sie in ihrem Titel den aus der Jurisprudenz stam-

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Vgl. B xviii–xix: „Diese dem Naturforscher nachgeahmte Methode besteht also darin: die Elemente der reinen Vernunft in dem zu suchen, was sich durch ein Experiment bestätigen oder widerlegen läßt. Nun läßt sich zur Prüfung der Sätze der reinen Vernunft, vornehmlich wenn sie über alle Grenze möglicher Erfahrung hinaus gewagt werden, kein Experiment mit ihren Objecten machen (wie in der Naturwissenschaft): also wird es nur mit Begriffen und Grundsätzen, die wir a priori annehmen, thunlich sein, indem man sie nämlich so einrichtet, daß dieselben Gegenstände einerseits als Gegenstände der Sinne und des Verstandes für die Erfahrung, andererseits aber doch als Gegenstände, die man bloß denkt, allenfalls für die isolirte und über Erfahrungsgrenze hinausstrebende Vernunft, mithin von zwei verschiedenen Seiten betrachtet werden können. Findet es sich nun, daß, wenn man die Dinge aus jenem doppelten Gesichtspunkte betrachtet, Einstimmung mit dem Princip der reinen Vernunft stattfinde, bei einerlei Gesichtspunkte aber ein unvermeidlicher Widerstreit der Vernunft mit sich selbst entspringe, so entscheidet das Experiment für die Richtigkeit jener Unterscheidung.“ Kant bezieht sich auf die Antinomie der reinen Vernunft und die kosmologischen Ideen, beschränkt aber im Disziplin-Kapitel die Anwendbarkeit der „dem Naturforscher nachgeahmten Methode“ auf die weiteren Gegenständen der reinen Vernunft: Seele und Gott. Es ist hierbei darauf hinzuweisen, dass „alle Richter Hypothesen [machen]“ (V-Lo/Blomberg AA 24: 222). Das heißt, die Hypothesen sind Kant zufolge nicht ausschließlich dem Naturforscher zuzuweisen. Vgl. weiter unten Kapitel 7.2. Vgl. dazu Henrich, D. „Die Beweisstruktur der transzendentalen Deduktion der reinen Verstandesbegriffe – eine Diskussion mit Dieter Henrich“. In: Tuschling, B. (Hrsg.). Probleme der ‚Kritik der reinen Vernunft‘. Kant-Tagung Marburg 1981. Berlin & New York: De Gruyter, 1984, S. 89; Marcos, M. H. „Sobre el carácter jurídico de la razón critica“. In: Daimon, 4, 1992, S. 64; Höffe, O. Kants Kritik der reinen Vernunft. Die Grundlegung der modernen Philosophie. München: Beck, 2003, S. 328–331.

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menden Ausdruck „Streitsache“.9 Einige Hinweise, dass Kant in der Verfahrensweise der „Juristen“ einen möglichen Ersatz für die mathematischdeduktive Methode vermutete, finden sich bezeichnenderweise schon Mitte der 1750er Jahre: Es ist ungewiß, ob die Welt endlich oder unendlich ist. [e.g. daß wir nicht wißen, wo der Ort der Seeligen oder verdamten sey.] Es ist einem juristen keine Schande, ungewiß zu seyn, ob in dem Streite der Monaden Leibnitz oder seine Gegner recht haben. Es ist nothig, bisweilen die Ungewißheit zu bekennen. Schädlichkeit der mathematischen Methode. (Rx 2659 AA 16: 454–455, b1. L 50 (Terminus ad quo 1752; Terminus ad quem 1755–56).

In dem Auszug von Meier, wo diese Reflexion sich befindet, geht es um die Ungewissheiten, denen die menschliche Erkenntnis unterliegt.10 Meier behauptet, es gebe Ungewissheiten, die man vermeiden könne und deren man sich dann zu schämen habe. Kant weist dies zurück und betont die „Schädlichkeit der mathematischen Methode“. Dabei gibt er den Hinweis, es solle dem „Juristen“ keine Schande einbringen, wenn er bei dem metaphysischen Streit der Monaden nicht wisse, wer Recht hat, falls ein solcher Streit vor einen Gerichtshof, möglicherweise den Gerichtshof der menschlichen Erkenntnis, gebracht werde. Wenn man in Betracht zieht, dass Kant in der vorkritischen Periode mit seinen eigenen metaphysischen Auffassungen gerungen hat, lässt sich besser einschätzen, wie wichtig die Bewertung der Zweifel des Juristen ist. Dies ist das Thema des zweiten Teils der vorliegenden Arbeit. Darin soll gezeigt werden, wie das Zweifeln des Juristen mit jenem des Skeptikers zusammenhängt. Die zahlreichen juristischen Metaphern, die an strategisch wichtigen Stellen der KrV auftreten, weisen alle – vielleicht indirekt und noch interpretationsbedürftig – auf den „juristischen methodologischen Ursprung“ des Kritizismus Kants hin. Nicht umsonst ist für Kant die Philosophie die Gesetzgebung der reinen Vernunft (u. a. A 840/B 868) und die KrV der Gerichtshof derselben (u. a. A xi; A 751/ B 779).

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Der vollständige Titel lautet: Gedanken von der wahren Schätzung der lebendigen Kräfte und Beurtheilung der Beweise, deren sich Herr von Leibniz und andere Mechaniker in dieser Streitsache bedient haben, nebst einigen vorhergehenden Betrachtungen, welche die Kraft der Körper überhaupt betreffen. Vgl. Meier, G. F. Auszug aus der Vernunftlehre, Halle 1752, § 180: „Es giebt in der menschlichen Erkenntniss eine Ungewissheit 1) welche ganz unvermeidlich ist, und die uns weder zur Schande noch zur Ehre gereicht; 2) welche wir nicht vermeiden dürfen, wenn wir gleich könnten, weil ihr Gegenstand außer unserm Horizonte, oder unter demselben angetroffen wird, und die gereicht einem Menschen zur Ehre; 3) welche ein Mensch vermeiden kann und soll, weil die entgegengesetzte Gewissheit in seinen Horizont gehört §.178. Diese letzte gereicht uns allemal zur Schande, und wer seine gelehrte Erkenntniss aufs möglichste verbessern will, der muss nur alle Ungewissheit der dritten Art zu vermeiden suchen.“

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Status quaestionis

Seit der frühesten Rezeption der Kritik der reinen Vernunft, insbesondere durch Hamann und Herder11, wurde der juridisch-politische Charakter der kritischen Philosophie zur Diskussion gestellt. Die ersten Rezensenten taten sich schwer mit dieser „Eigentümlichkeit“ der Kritik. In ihren Augen war die ausgesprochen juridische Sprache des Werks, vornehmlich die Vorstellung von einem Gerichtshof der Vernunft, ein unbestreitbares Merkmal sowohl des sterilen Rigorismus der Moralphilosophie Kants als auch eines verwerflichen Formalismus, der seine ganze Philosophie durchziehe. Der erste Autor, der dieses negative Urteil prägnant in Frage stellte, dürfte Karl Jaspers gewesen sein. Im Jahre 1957 erkannte er Kant nicht nur als einen maßgeblichen politischen Denker an,12 sondern hob auch die wesentliche politische Bedeutung seiner Philosophie hervor: Kants Pathos des vernünftigen Denkens ist seine Philosophie selber, mit der er sich in der großen geschichtlichen Bewegung weiß. Diese Philosophie ist politische Philosophie, sofern sie selber ein Element der Politik sein will, und ist politische Philosophie, sofern dies politische Denken sich auf dem Weg der freien vernünftigen Selbsteinsicht bindet an das Höchste, das im Übersinnlichen auf praktischem Grunde erfahren und spekulativ gedacht wird.13

Abgesehen von den schon erwähnten Kritikern der ersten Stunden der KrV, Hamann und Herder, und den auf die Veröffentlichung der KrV folgenden Diskussionen der heute fast in Vergessenheit geratenen Verteidiger und Gegner der metaphorischen Umschreibung von metaphysischen Fragen durch politische und rechtliche Bilder bei Kant,14 hatten bereits vor Jaspers bedeutende Autoren der „modernen“ Kant-Forschung die Wichtigkeit des in der KrV vertretenen Bildes eines Gerichtsprozesses betont. Unter ihnen sind vor allem Hans Vaihinger und Bruno Bauch zu nennen. Vaihinger behauptet, dass „dieses Bild des Processes der ganzen Kritik zu Grund [liegt]“.15 Bruno Bauch erkennt seinerseits die quid iuris als das echte kritische Thema,16 was schon Maïmon zugegeben hat.17

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Hamann, J. G. Schriften zur Sprache. Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 1967, S. 217–218; Herder, J. G. Verstand und Erfahrung. Eine Metakritik der Kritik der reinen Vernunft I. Leipzig 1799, S. 6–7. Vgl. Pietsch, L.-H. Die Topik der Kritik. Die Auseinandersetzung um die kantische Philosophie (1781–1788) und ihre Metaphern. Berlin & New York: De Gruyter, 2010, S. 200ff. „Das Wesen einer Philosophie, deren erste und letzte Frage die nach dem Menschen ist, muss politisch sein. Kant ist in der Tat ein politischer Denker höchsten Ranges gewesen.“ Jaspers, K. Die großen Philosophen. Erster Band. München: Piper, 1957, S. 534. Ebd., S. 563. Vgl. Pietsch, L.-H. Die Topik der Kritik, a. a. O., S. 196–212. Vaihinger, H. Commentar zu Kants „Kritik der reinen Vernunft“, a. a. O., S. 107. Weiter unten wird noch näher auf Vaihingers Deutung eingegangen. Bauch, B. „Das Rechtsproblem in der Kantischen Philosophie“. In: Zeitschrift für Rechtsphilosophie, 3, 1921. Vgl. Marcos, M. H. „Sobre el carácter jurídico de la razón crítica“, a. a. O., S. 56; Santos, L. R. „Da Linguagem Jurídica da Filosofia Crítica à Arqueologia da Razão Prática“. In: Santos, L. R. & André, J. G. (Hrsg.). Filosofia Kantiana do Direito e da Política. Seminário Internacional. Lisboa: Centro de Filosofia da Universidade de Lisboa, 2007, S. 205. Vgl. Brief Maimons an Kant AA 11: 15–17; Frank, M. „Unendliche Annäherung“: die Anfänge der philosophischen Frühromantik. Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 1997, S. 114–132; Bondeli, M.

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Allerdings sind diese spärlichen Hinweise erst in jüngerer Zeit zu fundierten Interpretationen geworden, nämlich nach der in den letzten Jahrzehnten stattgefundenen Wende zu einer Aufwertung der Rechtsphilosophie Kants und der darauffolgenden neuen rechtlich-politischen Strömung der Interpretation der kritischen Philosophie. Diese Koinzidenz ist nicht zufällig. Erst vor etwa dreißig Jahren hat eine bedeutsame Gruppe von Interpreten die „kryptische Bemerkung“ 18 Jaspers ernst genommen und auf die konstitutive und positive Rolle der juridisch-politischen Metaphorik für das Projekt einer Kritik der reinen Vernunft aufmerksam gemacht. Ungeachtet ihrer unterschiedlichen Ausrichtung heben diese Kommentare den praktischen Gehalt der juridisch-politischen Problematisierung hervor, die bei zentralen theoretischen und metaphysischen Fragen eingesetzt wird. Ihnen zufolge kann nicht allein die begriffliche Fassade, sondern vielmehr auch der Zweck des kritischen Unternehmens Kants nur durch den Rekurs auf dessen politisches und juridisches Denken erklärt werden. Dies sei selbst dann der Fall, wenn Passagen der Kritik der reinen Vernunft betrachtet werden, in denen anscheinend nur ein spekulatives Verfahren zur Anwendung kommt. Ihren Ausgang nehmen diese Autoren entweder von der ersten Vorrede und Teilen der transzendentalen Methodenlehre, in denen Kant eine kurze „politische Geschichte“ der Metaphysik und ihre aufeinanderfolgenden Etappen des Despotismus (dogmatischer Rationalismus), des Anarchismus (skeptischer Empirismus) und endlich der Gesetzlichkeit des bürgerlichen Zustandes, die erst unter dem Ansehen des Gerichtshofs der Kritik möglich ist, darstellt (A IX–XII; A 751–753/B 779–781). Oder sie knüpfen an strategische Stellen für die kantische Beweisführung an, wie zum Beispiel an die transzendentale Deduktion der Kategorien und die Antinomie der reinen Vernunft, wo die politische und juridische Metaphorik angerufen wird (vgl. u. a. A 84/B 116; A 423–425/B 450–453). Dabei schlagen sie eine Interpretation der kantischen Philosophie vor, die die Unzulänglichkeiten der theoretischen Rede betont, wenn diese allein Erklärungen zu geben versucht. Sie betonen die Struktur der Kritik und die Art und Weise, wie sie die überlieferten Fragen der Philosophie behandelt. Für diese Strömung der Kant-Forschung geht es letztlich darum, den Primat der praktischen Vernunft gegenüber der theoretischen zu stärken und zu radikalisieren,19 was die Kritik mit den Absichten der deutschen und europäischen Aufklärung in Einklang bringt. Die vorgebliche Homogenität dieser Lesart, die aus der gemeinsamen und strategischen Rubrik „rechtlich-politisch“ entsteht, verdeckt zwar unterschiedliche Ziele und manches Mal auch deutliche Dissonanzen zwischen den Interpretationsansätzen dieser Autoren. Allen aber dient die politische Lesart der Kritik

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Apperzeption und Erfahrung: Kants transzendentale Deduktion im Spannungsfeld der frühen Rezeption und Kritik. Basel: Schwabe, 2006. Shell, S. M. The Rights of Reason. A Study of Kant’s Philosophy and Politics. Buffalo, London & Toronto: University of Toronto Press, 1980, S. 5. Gerd-Walters Kürsters weist darauf hin, dass dieses Vorhaben sich schon in dem Aufsatz Bruno Bauchs wiederfindet: „Mit solch juridischer Konstruktion […] vollendet sich in spezifischer Weise der Primat der praktischen Vernunft, denn damit ist die theoretische Vernunftkritik von vornherein praktisch strukturiert, worauf auch B. Bauch schon hingewiesen hatte.“ Küsters, G.-W. Kants Rechtsphilosophie. Darmstadt: WBG, 1988, S. 29.

der reinen Vernunft einer wohldefinierten Absicht und spielt eine wesentliche Rolle in ihrer Interpretation. Die umfangreiche Literatur über das Thema dieser Arbeit macht eine vorherige Klassifizierung und Eingrenzung erforderlich. So ist es nicht möglich, sich direkt und intensiv mit allen Studien zur „juridischen Verfassung“ der kantischen Vernunft auseinanderzusetzen. Behandelt werden nur jene, die einen substanziellen Beitrag zur Untersuchung zu leisten versprechen. Zuerst sind die „französischen Zweige“ der politischen Lesart der KrV zu nennen und gleich auch zurückzuweisen, nämlich Jacques Derrida, Jean-Luc Nancy und Jean-François Lyotard. Von der Kant-Deutung Heideggers ausgehend, verurteilen sie die Eigenmächtigkeit der „kantischen Juridifizierung des philosophischen Denkens“ und beklagen eine „grundlose Gewalt“ des Gerichtshofes der Vernunft“.20 Sie konstatieren eine „Fiktionalisierung des Juridischen“21 oder eine „unerschöpfliche Heterogenität der philosophischen Sätze“, die die „friedensstiftende Funktion der Vernunft“ behindere und sogar unmöglich mache.22 Damit verweisen sie auf den Ursprung dieser „entarteten“ Neufassung von der Vernunft und von dem „alten Projekt einer Selbsterkenntnis der Vernunft“ zurück auf Kant und seinen „Gerichtshof der Vernunft“. Da die Deutung dieser Autoren keinen Anhaltspunkt in dem kantischen Text selbst hat und eher als eine (grobe) Instrumentalisierung einiger Lehrstücke Kants zu verstehen ist, wird diese Strömung im Folgenden nicht weiter berücksichtigt.23 Andere Autoren bieten Deutungen an, die, wenngleich sie plausibel erscheinen und ihnen eine sorgfältige Argumentation zugrunde liegt, doch als beschränkt oder einseitig betrachtet werden müssen. Kiefner etwa interpretiert die KrV als einen Zivil-, nicht als einen Kriminalprozess.24 Diejenigen Interpretationen, die den Schwerpunkt auf den von Vernunft und Verstand mit Blick auf die Natur durchgeführten inquisitorischen Prozess legten, „verfehl[en] […] den entscheidenden Gesichtspunkt des Kontradiktorischen im Zivilprozeß zwischen Kläger und Beklagtem“.25 Kiefner, der in seinem Aufsatz eine gründliche Kenntnis über Kants Rechtsphilosophie, ihre Vorläufer und ihre Wirkungsge-

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Derrida, J. Force de Loi. Paris: Galilée, 1994; ders. Du Droit à la Philosophie. Paris: Galilée, 1990. Nancy, J.-L. „Lapsus judicii“. In: Communications, 26, 1977. Lyotard, J.-F. L’Enthousiasme: La Critique Kantienne de l’Histoire. Paris: Galilée, 1995; ders. Le Différend. Paris: Minuit, 1983. Andere haben sich bereits mit dieser französischen Interpretation der KrV auseinandergesetzt. Vgl. Trevisan, D. K. „O problema da linguagem no discurso filosófico kantiano como questão político-jurídica“. In: Cadernos de Filosofia Alemã, Vol. 20, 2012, S. 81–100; Baumgarten, H. M. „Die friedenstifende Funktion der Vernunft. Eine Skizze“. In: Kato, Y. & Schönrich, G. (Hrsg.). Kant in der Diskussion der Moderne. Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 1996; Seba, J.-R. Le Partage de l’Empirique et du Transcendantal. Essai sur la Normativité de la Raison: Kant, Hegel, Husserl. Bruxelles: Éditions Ousia, 2006; Twellmann, M. „Der (Anti-) Juridismus der reinen Vernunft. Zur Rechtsmetaphorik bei Kant“. In: Weimarer Beiträge, 55, 2009. Dazu vgl. unten Kapitel 1. Vgl. Kiefner, H. „Ius Praetensum. Preußisches Zivil- und Zivilprozeßrecht, richterliche Methode und Naturrecht im Spiegel einer Reflexion Kants zur Logik“. In: Kaulbach, F. & Krawietz, W. (Hrsg.). Recht und Gesellschaft. Berlin: Duncker & Humblot, 1978, S. 287, N. 2, S. 311 und passim.

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schichte zeigt, hat eine leider nie veröffentlichte eingehendere Untersuchung über das Thema versprochen. Fumiyasu Ishikawa erkennt in dem Vorgehen zur Entdeckung des „dialektischen Scheins“ die Wirkung des „Gerichtshof-Modells“.26 Dies mache die „Tiefenschicht des Denkmechanismus der kritischen Philosophie“27 aus, nämlich die Zuweisung eines „Dritten“, was die „Zwei-Glieder-Opposition“ auflöse, die man fälschlicherweise für eine Opposition halte, die nicht aus konträren, sondern kontradiktorischen Sätzen bestehe.28 Ishikawa sieht eine gerichtlichskeptische Methode besonders im Fall der Antinomie der reinen Vernunft. Diese Methode sei „grundlegend mit den Begriffen der Gesetzgebung und der Rechtsprechung definiert“.29 Sie erfordere, „dass es einen dritten Gesichtspunkt geben muß, von dem aus die beiden ersteren [die These und die Antithesis der Antinomien – D. K. T] zunächst einmal gleichermaßen in Betracht gezogen werden können“.30 Der dritte, unparteiische Standpunkt sei dabei durch das unendliche Urteil ermöglicht.31 In weiteren Aufsätzen weist Ishikawa darauf hin, dass das Gerichtshof-Modell nicht nur in der Antinomie der reinen Vernunft, sondern auch in der transzendentalen Deduktion vorkommt. Dabei sei dieselbe Struktur zu finden, nämlich eine dem „Dritten“ unterliegende „Zwei-GliederOpposition“.32 Es ist Ishikawas Verdienst, den Zusammenhang zwischen dem Gerichtshof-Modell und dem „ursprünglich gesetzgebenden Charakter der Vernunft“33 herausgestellt und das „Dritte“ oder den „dritten Standpunkt“ bei dem Streit der Vernunft mit sich selbst einem „Richter“ zugewiesen zu haben.34 Jedoch leiden die Studien von Ishikawa an einer Überbetonung des logischen Aspekts des Gerichtshofs (des unendlichen Urteils als der logischen und sogar „ontologischen“ Grundlage des Dritten). Zudem übersieht Ishikawa die im GerichtshofsModell implizierten juristischen Aspekte, sei es aus der kantischen Rechtsphilosophie selbst, sei es aus der Tradition. Die Forderung nach einem dritten, unparteiischen Standpunkt, der den Streit beilegen könne, lässt sich nicht nur mit der

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Ishikawa, F. Kants Denken von einem Dritten. Das Gerichtshof-Modell und das unendliche Urteil in der Antinomie. Frankfurt a. M., Bern, New York & Paris: Lang, 1990, S. 1. Ebd., S. 2. Ebd., S. 119. Ebd., S. 9. Ebd., S. 13. Ebd., S. 29–35 und passim. Vgl. Ishikawa, F. „Zum Gerichtshof-Modell der Kategorien-Deduktion“. In: Croitoru, R. (Hrsg.). The Critical Philosophy and the Function of Cognition. Proceedings of the Fifth International Symposion of the Romanian Kant Society. Bucharest: Diogene, 1995; ders. „Grundmotive des Gerichtshof-Modells der Kategorien-Deduktion Kants“. In: Mohrs, T., Roser, A. & Salehi, D. (Hrsg.). Die Wiederkehr des Idealismus? Festschrift für Willheim Lütterfelds zum 60. Geburtstag. Frankfurt a. M.: Lang, 2003. „Die gerichtliche Methode ist also erstens aufgrund des ursprünglich gesetzgebenden Charakters der Vernunft und zweitens aufgrund des dialektischen Charakters derselben angesichts des Unbedingten für die Vernunftkritik die einzig angemessene und zwangsläufige“. Ishikawa, F. Kants Denken von einem Dritten. Das Gerichtshof-Modell und das unendliche Urteil in der Antinomie, a. a. O., S. 10–11. Ebd., S. 13; vgl. unten Kapitel 7.

Logik begründen, wie etwa bei Leibniz,35 sondern beruht auch auf der neuzeitlichen Rechtswissenschaft36 und auf der Philosophie der Frühaufklärung37. Zuletzt sei Kurt Röttgers erwähnt. Er deutet den Gerichtshof der Vernunft als eine Verbildlichung von „Kants radikalem Kritikbegriff“.38 Der Gerichtshof setze Gesetze voraus, auf deren Grundlage der Streit geschlichtet wird. Demgegenüber sei es prinzipiell nicht erlaubt, Gesetze anzunehmen, die der kritischen Vernunft vorangehen. Kants Kritikbegriff erweise sich als ein radikaler Kritikbegriff, weil die Normen der Kritik nicht aus einem vorher gegebenen Normensystem geschöpft werden dürften. Die Normsetzung erfolge in dem Verfahren der Kritik als einem normativen Verfahren par excellence. Röttgers Deutung verweist jedoch auf eine historische Grundlage, die so nicht gegeben ist. Das normative Verfahren der Kritik lehne sich an die Methode der „angelsächsischen Präjudizien-Jurisprudenz“ an.39 Nun ist jedoch die den juristischen Metaphern der KrV zugrunde liegende Tradition offensichtlich nicht die angelsächsische Jurisprudenz, sondern das „kontinentale Recht“, sprich das römische Recht (das Usus modernus pandectarum) und das neuzeitliche Naturrecht. Diese sind die historische und konzeptuelle Grundlage der kantischen juristischen Metaphorik, wie es im ersten Teil der vorliegenden Arbeit herauszuarbeiten gilt. Zur Klassifizierung und Abgrenzung aller übrigen juridisch-politischen Interpretationen der KrV, die fundierter und damit vielversprechender erscheinen, sind jedoch einige Leitlinien erforderlich. Maximiliano Marcos hat die bislang umfassendste Untersuchung des Bildes von der Kritik als Zivilprozess vorgelegt.40 Er stellt drei mögliche Interpretationsansätze des juristischen Charakters der KrV und der kritischen Philosophie im Allgemein vor: a) einen systematischen, b) einen genetischen bzw. entstehungsgeschichtlichen und c) einen historischen. Der systematische Ansatz behandelt die genannte Thematik innerhalb des kantischen Programms einer „‚filosofia transcendental‘, atendiendo a las conexiones entre las diferentes piezas doctrinales y a su engranaje arquitectónico, tanto forma […] como material […], en las principales obras del denominado período ‚critico‘. El enfoque ‚genético‘, en cambio, aborda la cuestión dentro de la ‚historia del desarrollo‘, o de la formación del pensamiento kantiano que cristaliza en sus obras ‚críticas‘. Por último, el enfoque ‚histórico‘ centra la cuestión en el mundo del derecho de la época (dogmática, praxis y legislación jurídicas), especialmente el prusiano, para desentrañar no sólo la presumible deuda institucional de la filosofía kantiana sino también – por así decirlo – su unidad de ‚destino histórico‘“.41 Die Kategorisierung von Marcos, wenn auch treffend, erscheint jedoch allzu schematisch. Einige Studien über die juristische Gestaltung der KrV, wie die 35 36 37 38 39 40

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Vgl. Kapitel 2. Vgl. Kapitel 3. Vgl. Kapitel 2 und Kapitel 6. Röttgers, K. Kritik und Praxis: zur Geschichte des Kritikbegriffs von Kant bis Marx. Berlin [u. a.]: De Gruyter, 1975, S. 25ff. Ebd., S. 39–40. Marcos, M. H. La Crítica de la razón pura como proceso civil. Sobre la interpretación jurídica de la filosofía trascendental de I. Kant. Salamanca: Universidad de Salamanca, Colección Vitor (Tesis doctorales en microficha), 1994. Marcos, M. H. „Sobre el carácter jurídico de la razón critica“, a. a. O., S. 56, Fn. 4.

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von Brandt, Saner und Marcos selbst, umfassen zwei oder sogar drei Perspektiven. Es ist außerdem möglich, weitere Ansätze anzuführen, nämlich die Reaktualisierung, etwa von Höffe und O’Neill, den literarischen Ansatz, beispielsweise von Leonel dos Santos (und, wenn auch weniger prägnant, von Kaulbach), und schließlich die Geschichte der philosophischen, nicht nur der juristischen Quellen der KrV. Wie im Folgenden gezeigt werden soll, liegt der Schwerpunkt der Reaktualisierung auf dem politischen und weniger auf dem juristischen Aspekt der KrV. Der literarische Ansatz bezieht sich auf den literarischen, also den die Tropen betreffenden Aspekt der KrV. Die Geschichte der philosophischen Quellen konzentriert sich schließlich auf diejenigen Elemente der Philosophiegeschichte, die dazu beitragen, die rechtliche Gestaltung der KrV und seine Verankerung in der philosophischen Tradition zu verstehen. Abgesehen von dieser weiteren Differenzierung ist die Klassifizierung von Marcos jedoch möglicherweise gerade deshalb nützlich, weil sie schematisch ist. Der erste Kommentator, der eine strukturierte genetische und systematische Deutung der kritischen Philosophie im Lichte des politischen und rechtlichen Denkens Kants vorgeschlagen hat, war nicht zufällig ein Schüler von Karl Jaspers: Hans Saner. In seinem im Jahr 1967 erschienenen Buch Kants Weg vom Krieg zum Frieden. Widerstreit und Einheit: Wege zu Kants politischem Denken 42 interpretiert er die ganze Philosophie Kants, von den frühesten Schriften bis zum Opus Postumum, als eine durch das „irenische Modell“43 der Auflösung von Konflikten geprägte Philosophie. Ihm zufolge handelt es sich also um eine Philosophie, die ihre wichtigsten Fragen im Sinne einer als „vom Konflikt zum Frieden“ zu beschreibenden politischen Denkweise aufgreift. Dieses Merkmal charakterisiere nicht nur die politische Philosophie Kants und die Idee eines „ewigen Friedens“, sondern auch die KrV und ihr Ziel, mit Blick auf die Metaphysik „den sicheren Weg der Wissenschaft einzuschlagen“ (B IX). Sie sei gewissermaßen eine „Ur-Absicht“, ein leitendes und metatheoretisches Motiv der ganzen Philosophie Kants und sogar seiner Persönlichkeit. Saner behauptet, dass die „pazifistische Neigung“ nicht nur bestimmte Bereiche der kantischen Philosophie durchdringe – so etwa in den geschichtsphilosophischen Betrachtungen, wo dieser Aspekt an der „ungeselligen Geselligkeit“ deutlich wird, aber auch in der Naturwissenschaft bei den Begriffen von „Gemeinschaft der Substanzen“, „Realentgegensetzung“, „Realrepugnanz“ usw. Vielmehr kennzeichne sie Kant auch als einen „existentiellen Polemiker“, der seinen philosophischen Lebensgang mit einem „kritischen Gerichtshof“ gekrönt habe. Indem er den Fokus seiner Interpretation der KrV auf den Kampf der philosophischen Grundhaltungen in der Transzendentalen Dialektik gemäß dem im Disziplin-Kapitel dargestellten „polemischen Gebrauch“ der Vernunft legt, lehnt sich Saner an seinen Lehrer Jaspers an. Der Konflikt, der Antagonismus und die friedliche Beilegung der Streitigkeiten seien die entscheidenden Merkmale der ganzen Philosophie Kants und a fortiori der strukturelle Aufbau der KrV. Daraus werde ersichtlich, so Saner, dass die kantische Philosophie eine politische Philosophie sei, wobei der Gebrauch von politischen Kategorien sogar bei 42 43

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Saner, H. Kants Weg vom Krieg zum Frieden. Widerstreit und Freiheit: Wege zu Kants politischem Denken. München: Piper, 1967. Vgl. Hinske, N. Kants Weg zur Transzendentalphilosophie, a. a. O., S. 123ff.

den leitenden „metaphysischen Zielen“ maßgeblich sei.44 Die Politik sei kurz gesagt „das konkrete Modell seiner [scil. Kants] Metaphysik“ und der Gegenstand par excellence seines Philosophierens.45 Die durchaus scharfsinnige Interpretation von Saner vertritt jedoch einen extrem weiten und vagen Begriff von „Politik“: Hier erscheint Politik als locus von Konfliktlösung.46 Außerdem stellt Saner keine eingehende Untersuchung über die juridischen Quellen Kants an und unternimmt auch keine gründliche Analyse der Rechts- und der politischen Philosophie Kants. Er hätte diese Lücke im zweiten Band seines Buches, in dem er die Politik und die Rechtsphilosophie Kants untersuchen wollte, schließen können, jedoch kam es nie zu der versprochenen Veröffentlichung. 47 Leonel Ribeiro dos Santos und Friedrich Kaulbach bilden eine erste Gruppe von Autoren, die eine eher systematische juridisch-politische Lesart der Kritik vertreten.48 Beide erörtern die juridisch-politischen Metaphern der Kritik der reinen Vernunft in einer umfassenden hermeneutischen Absicht, die die konstitutive symbolische und analogische Beschaffenheit der philosophischen Rede hervorhebt. Kaulbach und dos Santos verwenden die in § 59 der Kritik der Urteilskraft dargestellte Theorie Kants, die Symbol, Analogie, Schematismus und reflektierendes Urteil verbindet, als eine „transzendentale Rechtfertigung der Metaphorik und aller Sprache als sinnhaltige Form (forma significante)“49. Indem er diese hermeneutische Absicht im Auge hat, schlägt Leonel dos Santos eine „Poetik der Vernunft“50 vor. Darunter versteht er eine Untersuchung über die Wesensverwandtschaft zwischen dem Ausdruck des Denkens und der ausdruckvollen Sprache, dem Inhalt und der Form der philosophischen Rede. Ihr entspringt der Gebrauch allegorischer Verflechtungen als der einzige und unvermeidliche Ausweg der Philosophen, der sich hinter einer bloß rhetorischen Fassade versteckt. Die juridisch-politische Allegorie tritt hier in den Vordergrund: Laut dos Santos liefere sie „den Schlüssel zur Lektüre der Kritik selbst

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Saner, H. Kants Weg vom Krieg zum Frieden, a. a. O., S. 4. Ebd., S. 313. So hat schon Orth Saner eine Unbestimmtheit des Politikbegriffs vorgehalten. Orth, E. W. „Kants Politikbegriff zwischen Existenzmetaphysik und kritischer Philosophie“. In: Kant-Studien, 64, 1973, S. 103–119, bes. S. 107. Saner spricht in der Vorrede davon, dass sein Buch eine „Vorbereitung zu Kants politischem Denken“ sei, das erst im zweiten Band dargestellt werde. Saner, H. Kant’s Political Thought: Its Origins and Development, a. a. O., S. v. Kaulbach, F. Studien zur späten Rechtsphilosophie Kants und ihrer transzendentalen Methode. Würzburg: Königshausen & Neumann, 1982; Santos, L. R. „Da Linguagem Jurídica da Filosofia Crítica à Arqueologia da Razão Prática“, a. a. O.; ders. Metáforas da Razão ou Economia Poética do Pensar Kantiano. Lisboa: Calouste Gulbenkian, 1990. Santos, L. R. Metáforas da Razão, a. a. O., S. 90. Obwohl Kaulbach sich über den Gehalt des Symbolischen bei der juridischen Rede Kants in dem erwähnten Buch ausschweigt, ist sein ganzes Werk dadurch geprägt, dass er die analogische und symbolische Gestalt der philosophischen bzw. metaphysischen Sprache hervorhebt, z. B.: „Philosophisches Denken und darstellendes Sprechen des Gedachten geschieht in der Sprache der symbolischen Bedeutungen […]. Unter dieser Voraussetzung einer bloß analogen Geltung sind die Bedeutungen der metaphysischen Aussage zu verstehen: sie haben bloß symbolischen Charakter“. Kaulbach, F. Philosophie des Perspektivismus. 1. Teil. Wahrheit und Perspektive bei Kant, Hegel und Nietzsche. Tübingen: Mohr, 1990, S. 102–103. Santos, L. R. Metáforas da Razão, a. a. O., S. 128.

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und zum kantischen philosophischen Unternehmen im Allgemeinen“, insofern man sie als die Allegorie der in der „Disziplin der reinen Vernunft in Ansehung ihres polemischen Gebrauchs“ dargestellten „Republik der Vernunft“ versteht.51 Da es sich um eine „absolute Metapher“ handelt, die die Geheimschrift des ganzen philosophischen Gebäudes von Kant enthalte, nimmt dos Santos sich vor, das Inventar aller juridisch-politischen Metaphern ausführlich zu erstellen, die das Werk Kants durchziehen, und mit derjenigen Metapher zu schließen, die den anderen Bedeutung verleihe: mit der Metapher der „Errichtung der Republik der Vernunft“ unter der Ägide des kritischen Gerichtshofs.52 Seinerseits vertritt Kaulbach die Ansicht, „dass die philosophische Vernunft nach Kants Auffassung durch Züge des Rechtsdenkens maßgeblich bestimmt wird“.53 Genauer gesagt sei die „philosophische Vernunft“ eine „juridische Vernunft“.54 Das Ziel Kaulbachs besteht darin, die Präsenz der juridischen Rede im Kern der transzendentalen Philosophie zu ermessen. Kaulbach zufolge sind das Recht und genauer die Rechtslehre von 1797 statt eines „beiläufigen Anwendungsgebietes“ der transzendentalen Methode „die Domäne […], in der sie ursprünglich zu Hause“ sind.55 Er geht von der Feststellung aus, dass „sich bei der transzendentalphilosophischen Fundierung beider [scil. theoretische Vernunft und Rechtsvernunft] eine gemeinsame Wurzel“ zeige, um darauf zu verweisen, dass Grundzüge der transzendentalen Methode – in ihrer Allgemeinheit betrachtet – in der Kritik der reinen Vernunft durch Begriffe und Verfahren der Rechtslehre sichtbar werden. Dies gilt besonders für das transzendentale Subjekt als der Gesetzgeber, der durch einen Akt der Freiheit die erfahrungsermöglichenden Gesetze begründet.56 Trotz ihres philosophischen Interesses leiden die Studien von Kaulbach und Santos (und auch von Vaihinger)57 daran, dass sie ein übermäßiges Gewicht auf die metaphorische und bildliche Dimension des kantischen Diskurses legen.

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„Kant desenvolveu toda a sua filosofia teorética na Crítica da Razão Pura no elemento de uma complexa alegoria expondo a natureza e funcionamento da razão como se efetivamente de um estado republicano se tratasse“. Santos, L. R. „Da Linguagem Jurídica da Filosofia Crítica à Arqueologia da Razão Prática“, a. a. O., S. 209. Vgl. auch Santos, L. R. Metáforas da Razão, a. a. O., S. 567. Vgl. Santos, L. R. Metáforas da Razão, a. a. O., S. 561–631. Kaulbach, F. Studien zur späten Rechtsphilosophie Kants und ihrer transzendentalen Methode, a. a. O., S. 7. Kaulbach, F. Philosophie als Wissenschaft. Eine Anleitung zum Studium von Kants Kritik der reinen Vernunft in Vorlesungen. Hildesheim: Gertenberg, 1981, S. 11. Kaulbach, F. Studien zur späten Rechtsphilosophie Kants, a. a. O., S. 7. „Dazu ist es nötig, einzusehen, dass ein und dieselbe ‚Handlung‘ der Vernunft, welche das theoretische Subjekt als Gesetzgeber allgemeiner Gesetze der Natur legitimiert, auch die rechtliche Konstellation zwischen Rechtssubjekt (Person) bzw. der Gesamtheit der Rechtssubjekte und der im Handeln brauchbaren, verfügbaren ‚Sache‘ begründet. […] Gleich an dieser Stelle soll darauf aufmerksam gemacht werden, dass damit nicht die Identität von theoretischer Vernunft und Rechtsvernunft behauptet wird: vielmehr hat die Behauptung den Inhalt, dass sich bei der transzendentalphilosophischen Fundierung beider eine gemeinsame Wurzel zeigt“. Ebd., S. 113–114. Vgl. auch S. 78–87, 111–134 und passim. Vgl. Vaihinger, H. Die Philosophie des Als-ob: System der theoretischen, praktischen und religiösen Fiktionen der Menschheit auf Grund eines idealistischen Positivismus; mit einem Anhang über Kant und Nietzsche. Neudr. d. 9./10. Aufl., Leipzig, 1927. Aalen: Scientia-Verlag, 1986.

Die Vernunft und andere Zentralbegriffe der Philosophie Kants dürfen zwar durch Metaphern erläutert, aber keineswegs definiert werden. Wie im ersten Kapitel noch zu zeigen sein wird, darf man nicht aus der bloß heuristisch-historischen Funktion der Metaphern auf eine angeblich „ontologisch-metaphysische“ Rolle beim Aufbau des kantischen philosophischen Diskurs schließen. Man darf also nicht, um ein Begriffspaar Kants zu verwenden, ihre regulative Funktion als methodologische Richtung mit ihrer konstitutiven Rolle bei der „Ermöglichung des Denkens“ verwechseln. Dies würde nämlich bedeutet, das Heuristische als Ontologisches zu nehmen, Philosophie und Literatur zu nivellieren und die Grenze zwischen ihnen aufzuheben. Leonel dos Santos z. B. denkt die Idee der Metapher als ein bloß heuristisches Mittel zu Ende und weist damit auf eine von ihr ausgeübte tiefere metaphysische Funktion hin: die Vermittlung zwischen Sinnlichem und Übersinnlichem, zwischen sensitivem und diskursivem Ausdruck. Die Heidegger’sche Ausprägung der „Brückenfunktion“ der Sprache kommt auch bei Kaulbach vor, der der Vernunft Prädikate zuspricht, die aus Bildkonstellationen stammen. In beiden Fällen wird der bloß methodologische Beitrag der juristischen Metaphorik extrapoliert. Zudem übergehen die genannten Autoren die tatsächliche Begriffsgeschichte, womit sie in – durchaus anspruchsvollen – metaphysischen Fallen gefangen bleiben. Eine zweite Gruppe von Interpreten bilden Otfried Höffe und Onora O’Neill. Statt sich an den metaphorischen Aspekt der kantischen philosophischen Sprache oder an die juridisch-politische Metaphorik der Kritik der reinen Vernunft zu halten, verteidigen sie eine rekonstruktivistische Interpretation der KrV. Dabei heben sie den politischen Sinn hervor, der Kant zur Berufung auf diese allegorische Konstellation, vornehmlich in der Disziplin der reinen Vernunft, angeregt haben soll. Ihr Ziel ist klar: Höffe versucht, Kant gegen die Vorwürfe der Diskursethik zu verteidigen, die einen Solipsismus unterstellen.58 O’Neill schlägt einen „kantischen Konstruktivismus“ vor, der radikaler und „kantischer“ sei als derjenige von John Rawls.59 Beide streben dabei eine Reaktualisierung der kantischen Philosophie im Hinblick auf ihre politischen und juridischen Bilder an. So fügt Höffe seine „kosmo-politische Lektüre“ der Kritik der reinen Vernunft in den umfassenderen Zweck einer Interpretation des in verschiedenen Bereichen der Philosophie Kants vorzufindenden kosmopolitischen Motivs ein.60 58

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Vgl. Höffe, O. „Eine republikanische Vernunft. Zur Kritik des Solipsismus-Vorwurf“. In: Kato, Y. & Schönrich, G. (Hrsg.). Kant in der Diskussion der Moderne. Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 1996; ders. „Kritik der reinen Vernunft. Eine kosmo-politische Lektüre“. In:. Königliche Völker. Zu Kants kosmopolitischer Rechts- und Friedenstheorie. Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 2001; ders. Kants Kritik der praktischen Vernunft: eine Philosophie der Freiheit. München: Beck, 2012. Höffe widerlegt die Vorwürfe von Apel und Habermas, denen zufolge Kants Philosophie die Radikalität der intersubjektiven und diskursiven Perspektive, die im linguistic turn des 20. Jh. kulminierte, verloren hat, weil Kant sich an eine solipsistische und bloß subjektive Auffassung von der Begründung der Erkenntnis und der Moral gehalten habe. Demgegenüber hebt Höffe den „demokratischen und republikanischen Charakter“ der kantischen Vernunft und deren intersubjektiven und kosmopolitischen Horizont hervor. Vgl. O’Neill, O. Constructions of Reason. Explorations of Kant’s Practical Philosophy. Cambridge: Cambridge University Press, 1989, S. 206–218. Höffe argumentiert, dass die Kritik der reinen Vernunft und ihr Gerichtshof einen „epistemischen Kosmopolitismus“ (Höffe, O. Kants Kritik der reinen Vernunft, a. a. O., S. 18–20) oder eine „epistemische Weltrepublik“ (Höffe, O. „Universaler Kosmopolitismus. Über die

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Kant erhebe das juridische Verfahren anstelle des geometrischen in der Disziplin der reinen Vernunft zum methodologischen Paradigma.61 Damit zeige er, wie seine intersubjektive und kosmopolitische „republikanische Vernunft“ erfordere, dass die philosophischen Anstrengungen nicht durch Dekrete vorgehen, die den einseitigen Willen der „despotischen Vernunft“ der Rationalisten und ihre logischen und mathematischen Aufbauten widerspiegeln. Vielmehr müssten sie durch öffentliche und diskursive Verfahren, die von politischer Natur sind und es für selbstverständlich halten, dass die Vernunft zwischen den Menschen gleichmäßig verteilt ist, vereint und zusammengestimmt werden.62 O’Neill betont ihre Absicht, „die Idee einer Kritik der Vernunft als den Zweck des kantischen philosophischen Unternehmens ernst zu nehmen“.63 Hierzu sieht sie in der Disziplin der reinen Vernunft die Darstellung eines gemeinschaftlichen politischen Verfahrens, das einen antifundamentalistischen (antifoundationalist) Charakter habe und deshalb darauf abziele, eine Vernunft zu rechtfertigen, die von allen potenziellen Teilnehmern einer wahren Öffentlichkeit akzeptiert werden kann. Als „das oberste Prinzip der Vernunft“ müsse der kategorische Imperativ mithin „den Grund nicht nur zur Ethik, sondern auch zu der ganzen Philosophie Kants legen“,64 die von jetzt an als die Konstruktion einer so umfassenden Rationalität verstanden werden muss, dass diese allgemein mitgeteilt werden kann. Die Metapher des Gerichtshofs veranschaulicht das Motiv, das diese praktische Bemühung leitet: Die freie und öffentliche Debatte sei das Symbol eines konstruktivistischen Verfahrens der Vernunft, das „offen, pluralisch und endlos“ sei.65 Da sie auf eine eingehendere Untersuchung der metaphorischen Gestaltung der KrV verzichten, die textimmanente Lektüre übersehen und schließlich die geschichtlichen und philosophischen Grundlagen der juristischen Metaphorik der kantischen Philosophie unberücksichtigt lassen, interpretieren bzw. lesen Höffe und O’Neill ihre eigenen zeitgenössischen politischen Vorstellungen in die systematische Struktur der KrV hinein.66 Sie nehmen den kantischen Text zur

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Einheit der Philosophie Kants“. In: Ottmann, H. (Hrsg.). Kants Lehre von Staat und Frieden. Baden-Baden: Nomos, 2009, S. 15–17) errichten, wo sich verschiedene kosmopolitische Bereiche der kantischen Philosophie, nämlich Moral, Erziehung, Recht usw., verbinden lassen. Höffe bezieht sich auf die Ablehnung der Methode a more geometrico, die in der „Disziplin der reinen Vernunft im dogmatischen Gebrauche“ erörtert wird, und auf das Aufgreifen argumentativer Verfahren, die dem juridischen Bereich entstammen und die in den anderen Abschnitten der Disziplin der reinen Vernunft diskutiert werden. Vgl. Höffe, O. Kants Kritik der reinen Vernunft. Die Grundlegung der modernen Philosophie, a. a. O., S. 286–292. Auch O’Neill hebt diesen Punkt hervor; vgl. O’Neill, O. Constructions of Reason, a. a. O., S. 14–15, 19. Vgl. Höffe, O. „Kritik der reinen Vernunft. Eine kosmo-politische Lektüre“. a. a. O., S. 247-250. O’Neill, O. Constructions of Reason, a. a. O., S. ix. Ebd., S. ix, 24. Ebd., S. 21. Brandt spricht von den Gefahren einer Interpretation, die nur die „Gedankenbildung“ des Interpreten selbst am philosophischen Text zu finden bereit ist. Vgl. Brandt, R. Die Interpretation philosophischer Werke. Stuttgart-Bad Cannstatt: Frommann-Holzboog, 1984, S. 11– 63. Obwohl den Einwänden Brandts gegen die von ihm genannte „subjektiv-reflektieren-

Geisel von begrifflichen Strukturen und Diskussionen, die ihm nahezu ohne Vermittlung aufgedrängt werden.67 Beispielsweise schreibt Höffe anlässlich der in der Erstlingsschrift Kants zu findenden kritischen und die juristische Metaphorik betreffenden Motive, etwa der Ablehnung von Vorurteilen und des Anspruchs auf freie Prüfung philosophischer Lehren: „[P]olitisch gesprochen verschwistern sich Menschenrechte und Demokratie. Zum Menschenprinzip, der Freiheit des Selbstdenkens, gesellt sich das Demokratieprinzip der Gleichheit aller Selbstdenkenden“.68 Das aber ist historisch und genetisch irreführend. Höffe vernachlässigt Kants eigenen Begriff der Demokratie als einen „Despotismus der Mehrheit“. Selbst wenn man in Kants kritischem Republikbegriff eine mög-

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de Zugangweise“ der Interpretation zuzustimmen ist, bietet die von ihm vertretene Alternative einer „objektiv-bestimmenden Methode“ keine Lösung und ist illusorisch. Es handelt sich um eine falsche Opposition, der zufolge der philosophische Text als ein „Ding an sich selbst“ betrachtet wird, um wie Brandt mit Kant zu sprechen. Dabei beansprucht der Interpret für sich einen unhaltbaren „objektiven“ Zugang zu den Gedanken eines Autors. In eine ähnliche Falle – das heißt, den „Text“ als ein Ding an sich zu betrachten – treten meines Erachtens D. Schönecker („Textvergessenheit in der Philosophiehistorie“. In: Schönecker, D. & Zwenger, T. (Hrsg.). Kant verstehen. Understanding Kant. Über die Interpretation philosophischer Texte. Darmstadt: WBG, 2001) sowie die in Brasilien weitgehend etablierte strukturalistische Lektüre. Wie Kant uns lehrt, gibt es „subjektiv-objektive Vorstellungen“. Subjektive Vorstellungen brauchen nur einer wohlbegründeten Mitteilbarkeit fähig zu sein, das heißt, zur Überzeugung zu gelangen, um objektiv zu werden (A 821/ B 849ff.). Dieser Vorwurf nähert sich demjenigen an, den der Strukturalist gegen den „genetischen“, „historischen“ Interpreten erhebt: „Or, les assertions d’un système ne peuvent avoir pour causes, à la fois prochaines et adéquates, que des raisones, et des raisons connue du philosophe et alléguées par lui“. Goldschmidt, V. „Temps historique et temps logique dans l’interprétation des systèmes philosophiques“. In: ders. Questions Platoniciennes. Paris: Vrin, 1970, S. 15. Zurückzuweisen ist aber der strukturalistische Anspruch, die „interne Logik“ des Textes zu rekonstruieren und bloß auf seine „logische“, nicht auf seine „chronologische Zeit“ zu achten. Dabei wird jeder dem Text selbst äußere Bezug als „unphilosophisch“ abgelehnt, selbst die Notizen des untersuchten Autors, etwa die vorbereitenden Notizen für ein späteres Werk: „Notes préparatoires, où la pensée s’essaie et s’élance, sans encore se déterminer, ce sont des lexeis san croyance et philosophiquement irresponsables“ (ebd., S. 20). Dabei seien auch alle historischen und genetischen Hinweise ausgeschlossen. „Plus généralement, replacer les systèmes dans un temps logique, c’est comprendre leur indépendance, relative peut-être, mais essentielle, à l’égard des autres temps où les recherches génétiques les enchaînent. L’histoire des faits économiques et politiques, l’histoire des sciences, l’histoire des idées générales (qui ne sont celles de personne) fournissent un cadre commode, peut-être indispensable, ent tout cas non-philosophique“ (ebd., S. 18). Diese strukturalistische Distanzierung würde bedeuten, nicht nur die ganze historische Verankerung, die das besprochene Werk möglich (und bedeutend) macht, zu übersehen. Es würde auch bedeuten, wie bei der „objektiv-bestimmenden Methode“ das Denken eines Autors als ein Ding an sich zu postulieren („A validade lógica de cada sistema assume-o como sendo em si e por si, isto é, independente das condições contingentes pelas quais foi realizado“. Gueroult, M. „Lógica, Arquitetônica e Estruturas Constitutivas dos Sistemas Filosóficos“. In: Trans/Form/Ação, N. 30, 2007, S. 238), zu dem der Interpret einen priviligierten Zugang hat und dessen „unauflösliche Einheit“ er in seinen „konkreten“, also „der Logik des Textes internen Bewegungen“ restituieren muss. Der Anspruch, die KrV ohne Bezug auf den Nachlass und die philosophische Tradition zu interpretieren, ist jedoch nicht sinnvoll, wenn nicht ganz und gar unmöglich. Höffe, O. Kants Kritik der praktischen Vernunft, a. a. O., S. 20.

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liche Urbedeutung der gegenwärtigen Demokratietheorie sehen will, wird nicht in Betracht gezogen, dass Kant in dieser Zeit, nämlich 1747, noch nicht von Rousseau auf den Wert der Menschheit verwiesen worden war und insofern zu jener Zeit noch als „elitär“ gelten kann – das Motto seiner Gedanken zeigt dies sehr deutlich (AA 01: 07).69 Daraus folgt eine gewisse „Karikatur“ bzw. Stilisierung Kants, die trotz ihrer „Aktualität“ übersieht, was bei dem systematischen sowie dem historischen Kant als „echt“ gelten kann.70 Reinhard Brandt vertritt seinerseits eine Interpretation, die sich in keine der genannten direkt einordnen lässt. Ohne an eine vorwiegend hermeneutische Untersuchung der kantischen philosophischen Rede anzuknüpfen oder sich innerhalb der gegenwärtigen Diskussion über die Aneignung der kantischen politischen Philosophie zu positionieren, fragt Brandt nach dem richterlichen und politischen Aspekt des Unternehmens einer Kritik der reinen Vernunft unter einem systematischen und quellengeschichtlichen Standpunkt. Er benutzt eine bestimmte Frage der Geschichte der Philosophie als Leitfaden, die Frage nach der Bestimmung des Menschen als das, was in allen Bereichen des kantischen Werkes eine Einheit bilde und eine deutliche Spur in der philosophischen Debatte des 18. und 19. Jahrhunderts hinterlassen habe.71 Der besondere praktische und moralische, nicht der theoretische und spekulative Charakter dieser Frage72 habe Kant zu jenem Paradigmenwechsel in der philosophischen Tradition gezwungen, der darin zum Ausdruck kommt, was Brandt als die „kantische“ oder „praktische“ Phase der Aufklärung definiert.73. Nach der Kritik der reinen Vernunft und ihrem Rekurs auf den Gerichtshof der Kritik mache das rationalistische Modell einer kritischen Philosophie Platz, die den Primat der praktischen Vernunft begründet und seine bevorzugte Stellung bei der Antwort auf die Frage nach der menschlichen Bestimmung betont. Der kritische Gerichtshof und das juridische Verfahren verkörpern demgemäß die selbstbewusste Unvermeidlichkeit eines moralischen Sinns, der alle theoretischen Fragen einer Philosophie durchdringen muss, die sich selbst als einem praktischen Interesse unterworfen anerkennt.74 Indem er die Notwendigkeit sieht, dass die juridische und politische Philosophie von Kant selbst der „juridischen Beschaffenheit“ der ersten Kritik als Vorbild dient,75 nimmt Brandt zwei Intepretationsgrundlagen an: die Veran69

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Dies kann auch O’Neill vorgehalten werden. Gegen O’Neills Deutung des kategorischen Imperativs als oberstes Prinzip der praktischen und theoretischen Vernunft siehe Klemme, H. „Is the Categorical Imperative the Highest Principle of both Pure Practical and Theoretical Reason?“. In: Kantian Review, Vol. 19, Issue 1, 2014. Zu der metaphysischen Interpretation von Kant und den Versuchen, sie historisch weiterzuführen, vgl. Lehmann: „Keine Interpretation ist wertlos, die neue Seiten Kants erschließt. Es gibt aber doch hier eine Grenze. Wird Kant so vielseitig gemacht, daß er seinen historischen Charakter verliert, so verliert auch die historische Interpretation ihren Sinn“. Lehmann, G. „Kritizismus und kritisches Motiv in der Entwicklung der kantischen Philosophie“. In: Kant-Studien, 1957, S. 30. Brandt, R. Die Bestimmung der Menschen bei Kant. Hamburg: Meiner, 2007, S. 31–32. Ebd., S. 15–18. Vgl. Brandt, R. Immanuel Kant – Was bleibt? Hamburg: Meiner, 2010, S. 175–196. Brandt, R. Die Bestimmung der Menschen bei Kant, a. a. O., S. 336–339. Ebd., S. 281–286. Außer der Rechtsphilosophie von Kant selbst erkennt Brandt drei andere Quellen der „juridischen Modellierung der KrV“ (ebd.; S. 283): 1) das Allgemeine Landrecht für die preußischen Staaten von 1794, nämlich die Kodifikation von Teilen des öffentli-

kerung der juristischen Verfassung der KrV in der „Lehre von der moralischen Bestimmung des Menschen und einer teleologia rationis humanae“76 und die systematische Homologie zwischen der Transzendentalen Analytik und der Transzendentalen Dialektik einerseits und der Einteilung der Rechtslehre in Privatrecht und öffentliches Recht andererseits. Daraus folgt das Bild eines Gerichtshofs als Verbindung der beiden juristischen Dimensionen der KrV.77 Trotz der konsistenteren philologischen Grundlage und der durch die Lehre der Bestimmung des Menschen besser begründeten praktisch-moralischen Dimension der juristischen Metapher der KrV begeht die Untersuchung von R. Brandt zwei Fehler: Erstens glaubt Brandt ein „Desinteresse an der juridischen Konzeption in […] der 2. Auflage der KrV“78 zu erkennen, das sich an dem Verschwinden des Bildes des Gerichtshofs aus der Vorrede B am deutlichsten zeige. Die „Baconische Wende“ der 2. Auflage der KrV weise auf den „Verzicht […] der Jurisdiktion“79 der Transzendentalphilosophie und auf „Kants eigenen Neukantismus“ 80 hin. Dies ist jedoch ein irreführendes Verständnis von Sinn und Umfang der juridischen Metaphern der KrV: Diese spielen eine Rolle, die noch im Jahr 1787 zu finden ist. Zur Erwiderung auf Brandts Interpretation wird im ersten Teil die juridische Bedeutung der Philosophie Bacons als eine mögliche Quelle von Kant behandelt; darüber hinaus konzentriert sich die ganze Untersuchung auf die 2. Auflage der KrV, um zu zeigen, dass auch im Jahr 1787 die juristischen Metaphern noch methodologisch von Bedeutung sind. Zweitens begeht Brandt einen „werkgenetischen“ Fehler: Wie kann man die KrV in Bezug auf die RL deuten, wenn man die 15 Jahren, die zeitlich und besonders „inhaltlich“ beide Werke trennen, berücksichtigt? Zwar kann gegen einige Interpreten81 mit Sicherheit behauptet werden, dass der Grundgedanke der RL, wie der Republikbegriff, der Unterschied zwischen Recht und Ethik

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chen Rechts Preußens; 2) das „Deduktionsrecht“, das „Kant im Rahmen der deutschen Rechtsvorstellungen zugänglich“ war (ebd., S. 282); und 3) das Natur- und Staatsrecht u. a. von Thomas Hobbes, Samuel Pufendorf, Gottfried Achenwall, John Locke und J. J. Rousseau (ebd., S. 283). Diese Grundlagen werden im Weiteren noch untersucht, insofern sie die „Rechtsverfassung der KrV“ zu erklären helfen. Ebd., S. 340. Ebd., S. 310. Ebd., S. 343. Ebd., S. 345. Ebd., S. 272. Brandt ist der Auffassung, dass sich im Laufe der kritischen Periode, genauer zwischen 1781 und 1787, die Bedeutung einer KrV selbst verändert habe. Während Kant im Jahr 1781 sie noch als eine Kritik der reinen Vernunft verstand, gab es im Jahr 1787 eine Kritik des reinen Verstandes bzw. der reinen spekulativen Vernunft: „Es war 1781 ein falscher Titel, denn das damals gemeinte gesetzgebende Vermögen ist nicht die reine Vernunft, sondern der reine Verstand“. Ebd., S. 498, siehe unter Schlusswort. Wie z. B. Kleingeld, S. Kant and Cosmopolitanism. The Philosophical Ideal of World Citizenship. Cambridge: Cambridge University Press, 2013, bes. Kapitel 2. Ihre These über die „kantische Entdeckung“ des Republikanismus erst in den 1790er Jahren ist merkwürdig unhistorisch. Schon in der KrV spricht Kant von „einer Staatsverfassung“, die man „bei allen Gesetzen zum Grunde legen muß“ und die „die größte menschliche Freiheit nach Gesetzen [ermöglicht], welche machen, daß jede Freiheit mit der andern ihrer zusammen bestehen kann“ (A 316/B 372). Vgl. auch Rx 7536, AA 29: 448–449 (1764–1768).

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usw., schon im Jahr 1781 oder spätestens 1787 ausreichend formuliert ist. Es ist jedoch bekannt, dass zum Zeitpunkt der Veröffentlichung der KrV Kants Rechtslehre noch unvollständig war, zumal im Hinblick auf das Privatrecht, was entscheidend zur kontinuierlichen Verschiebung der Veröffentlichung der erst im Jahr 1797 erschienenen Metaphysik der Sitten beigetragen hat.82 Wie aber ist es möglich, die juristische Grundlage der KrV hinsichtlich der Einteilung in Privatrecht und öffentliches Recht zu deuten, wenn diese Einteilung erst 15 Jahren später in der RL ausformuliert wird?83 Auf die Gefahr hin, genetische Fehler zu begehen, muss sich jede Untersuchung, die die KrV in Bezug auf die RL und ihre Grundbegriffe deuten will, die öfters in der Sekundärliteratur behandelte Frage nach der Entstehungsgeschichte der RL stellen. Dabei gilt es zu untersuchen, zu welcher bestimmten Station dieser Entwicklung die juristische Verfassung der KrV eigentlich gehört. Schließlich bietet Maximiliano Marcos die ausführlichste Untersuchung über die juristische Metaphorik der KrV an. Er stützt sich vorwiegend auf die Rechtsquellen jener Zeit und führt die oben erwähnte genetische Erforschung der RL durch. Ausgangpunkt und Voraussetzung ist für ihn die Rehabilitierung des kritischen Charakters der RL. Dabei wendet er sich gegen eine bestimmte neukantianische Schule, die den vorkritischen Charakter der RL und allgemein der Rechtsphilosophie Kants behauptet.84 Marcos behauptet, dass die Rechtsphilosophie der kritischen Periode tatsächlich kritisch ist aufgrund ihrer systematischen und genetischen Abhängigkeit von dem transzendentalen Idealismus.85 82

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Am 26.10.1794 schreibt F. Schiller an Erhard, um ihm über ein Gespräch zu berichten, das er mit Kant vor kurzer Zeit gehabt hatte: „Die Ableitung des Eigentumsrechts ist jetzt ein Punkt, der sehr viele denkende Köpfe beschäftigt, und von Kanten selbst höre ich, sollen wir in seiner Metaphysik der Sitten etwas darüber zu erwarten haben. Zugleich höre ich aber, daß er mit seinen Ideen darüber nicht mehr zufrieden sei, und deswegen die Herausgabe vor der Hand unterlassen habe“. Ludwig, B. „Einleitung“. In: Kant, I. Metaphysische Anfangsgründe der Rechtslehre. Hrsg. B. Ludwig. Hamburg: Meiner, 2009, S. XIX– XX. Vgl. unten Kapitel 1.5. U. Seebergs Deutung der transzendentalen Deduktion in Bezug auf die RL und Kants Eigentumslehre begeht den gleichen Fehler. Vgl. Seeberg, U. Ursprung, Umfang und Grenzen der Erkenntnis. Eine Untersuchung Kants transzendentaler Deduktion der Kategorien. Hamburg: Philo & Philo Fine Arts, 2006. Hermann Cohen zufolge hat Kant bei der Moralphilosophie auf das „kritische Verfahren“ verzichtet, nämlich von einem factum der Wissenschaft auszugehen, post festum seine Möglichkeitsbedingungen zu deduzieren und es damit philosophisch zu rechtfertigen. Anders als in der Physik Newtons habe Kant bei der moralischen Philosophie keine wohlbegründete praktische Wissenschaft gefunden, deren ermöglichende Grundsätze er philosophisch hätte untersuchen können. Kant habe stattdessen auf ein „faktisches Urteil“ des „gesunden Menschenverstandes“ (das „Analogon eines Faktums“, worüber Cohen spricht) hingewiesen, von dem her er sein praktisches System aufgebaut habe. Die These von Cohen sei, so K. Lisser, „selbstverständlich“ angesichts der „historischen Phase der praktischen Wissenschaften“ zur Zeit Kants (vgl. Lisser, K. Der Begriff des Rechts bei Kant: mit einem Anhang über Cohen und Görland. Unveränd. Neudr. der Ausg. Berlin 1922. Vaduz & Liechtenstein: Topos, 1978). Cohen habe Kant „korrigiert“, indem er von dem factum der Rechtswissenschaft ausgehend eine „Ethik des reinen Willens“ aufgebaut habe. Christian Ritter hat seinerseits einen historisch-genetischen Beweis für die These Cohens et al. zu liefern versucht. Ritter, C. Der Rechtsgedanke Kants, a. a. O. Vgl. Marcos, M. „Sobre el carácter jurídico de la razón crítica“ und La “Crítica de la razón pura” como proceso civil, a. a. O., S. 239ff. Siehe dazu Klemme, H. „Der Transzendentale Ide-

Auf dieser Grundlage kann Marcos von der Analogie zwischen der kritischen Philosophie und der Jurisprudenz ausgehen, was aber bedeutet, dass entweder das „Juridische“ die Tiefenstruktur der Transzendentalphilosophie (wie bei Kaulbach) bildet oder die zeitliche Rechtswissenschaft sich für die Kritik als ihren historischen Horizont darbietet. Marcos entscheidet sich für die letztere Möglichkeit. Er nimmt die „enge Verbindung zwischen der Kritik als Denkungsart und dem demokratischen Rechtstaates als historischem Horizont des menschlichen Lebens“86 und knüpft dabei an die damals in Preußen geführten legislativen und prozessrechtlichen Diskussionen an. Anders als die vorherigen Studien über die juristisch-politischen Metaphern der KrV, die Marcos zufolge bloß ihre „strukturelle Entzifferung“ bzw. „systematische Fundierung“ vorschlagen,87 nimmt er sich eine Rekonstruktion der diese Metaphorik ermöglichenden „philologischen und sozialen Geschichte“ in ihrem ganzen Umfang vor.88 Marcos untersucht auf diese Weise die KrV mit besonderem Augenmerk auf die Rechtsgeschichte und den historischen Horizont, in dem die kantische Metaphorik entstanden ist, vor allem im Hinblick auf die Reform des preußischen Zivil- und Verfahrensrechts. Die Untersuchung von Marcos ist zwar sehr sorgfältig bei der Quellenforschung, fruchtbar bei den Schlussfolgerungen und gründlich in der Behandlung des kantischen Gedankengangs, sie lässt aber die Diskussion der Deduktion als juristischer Begriff beiseite.89 Ihr misslingt es daher, ein Gesamtbild der juristischen Metaphorik der KrV zu liefern, und ebenso wenig schafft sie es, ein einheitliches „Gerichtshof-Modell“ nachzuzeichnen. Darüber hinaus ist es kaum zu rechtfertigen, den Schwerpunkt auf die Rechtsstatt auf die Philosophiegeschichte zu legen, wenn das Hauptziel ist, die gesamte „Sozial- und philologische Geschichte der Gerichtsmetapher zu rekonstruieren“. Es mag selbstverständlich klingen, dennoch muss hier betont werden, dass Kant nicht so sehr ein Denker war, der zur Geschichte des juristischen Denkens beigetragen hat, sondern in erster Linie ein Philosoph, also ein Denker, der vorwiegend auf dem Hintergrund der Geschichte der Philosophie untersucht werden muss. Dessen ungeachtet bleibt der Beitrag von Marcos wegen seiner vielen Verdienste ein wichtiger Bezugspunkt der vorliegenden Arbeit. Während wir uns somit auf die einschlägige Sekundärliteratur stützen, besteht das Ziel dieser Arbeit generell darin, auf der Grundlage der interpretativen

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alismus und die Rechtslehre. Überlegungen zum Zusammenhang von Pflicht, Recht und Ethik bei Kant“. In: Euler, W. & Tuschling, B. Kants Rechtslehre, Berlin, 2013; Brandt, R. „Rezension zu Christian Ritter. Der Rechtsgedanke Kants“. In: Philosophische Rundschau, 20, 1974. Wir wenden uns diesem Thema unten in Kapitel 1.5 zu. Marcos, M. La Crítica de la Razón Pura como Proceso Civil, a. a. O., S. iii. Ebd., S. v. „El tratamiento ‘estructural’ y ‘sistematico’ de la analogia es - ¿que duda cabe? – necessario pero insuficiente para comprenderla en su esplendor histórico y filosófico“. Ebd., S. iv–v. Anstelle einer Untersuchung über die Deduktion als juristische Beweisart betrachtet Marcos den Kritizismus als ars inveniendi, d. i. als einen „Weg zur Erfindung einer Täuschung durch die polemische Gegenüberstellung von Meinungen und Beweisgängen, wie bei den in Zivilgerichten durchgeführten Rechtsstreitigkeiten“. Das heißt, er beschränkt sich auf die Untersuchung der transzendentalen Antithetik als Schauplatz eines Zivilverfahrens. Marcos, M. H. La Crítica de la Razón Pura como Proceso Civil, a. a. O., S. iv–v.

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Perspektive, die es im Folgenden zu erläutern gilt, die aufgezeigten Lücken zu schließen. 3

Interpretationsgrundlagen und Vorgehen der Untersuchung

Nach der Darstellung des Forschungsstands zur juristisch-politischen Interpretation der KrV geht es im Folgenden um die Erörterung der Grundsteine der in der vorliegenden Arbeit zu leistenden Interpretation. Wie bereits erwähnt, werden drei Perspektiven zur Beurteilung des methodologischen Gehalts der juristischen Metaphorik der KrV eingenommen: a) eine philosophische und rechtliche quellen- und begriffsgeschichtliche, b) eine entstehungsgeschichtliche und c) eine systematische Perspektive. Jede dieser Interpretationsachsen entspricht einem Teil der vorliegenden Untersuchung. Eine feste Bestimmung des interpretatorischen Ansatzes wird hier indes nicht beansprucht. Vielmehr wird bewusst eine genaue Definition von Quellen- bzw. Begriffsgeschichte90, werkgenetisch orientierter Analyse91 und systematischer Interpretation92 vermieden. In den historischen und entstehungsgeschichtlichen Teilen der vorliegenden Arbeit wird die Schwierigkeit, ja Unmöglichkeit nicht übersehen, die echten Quellen Kants zu bestimmen93, das genaue philosophische Milieu, in dem seine Begriffe entstanden sind 94, zu schildern, ganz zu schweigen von den philologischen Einwänden gegen Adickes’ Datierung der Reflexionen95. Was den syste90

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Das von uns verwendete „offene“ Konzept von Begriffsgeschichte kann als derjenige Ansatz erläutert werden, der „somit nicht lediglich zur philosophischen Propädeutik [gehört]; sie [die Begriffsgeschichte] bietet mehr als letztlich funktionslose Aggregate historischer Materialien und erschöpft sich keineswegs in gelehrter Philologie der Fachwörter. Begriffsgeschichte ist in der Weise integraler Bestandteil der Philosophie selbst, daß diese vernünftiges Begreifen und wissenschaftliche Erkenntnis der gesellschaftlich-geschichtlichen und natürlichen Welt und Wirklichkeit in einer allgemeinen und umfassenden Theorie nur dann erfolgreich zu leisten imstande ist, wenn der jeweilige Begriffsgebrauch der verwendeten Begriffe in seiner geschichtlichen Wirksamkeit aufgearbeitet und der Begriff dadurch im eindeutig geklärten Bedeutungszusammenhang systematisierbar wird“. Meier, H. G. „Begriffsgeschichte“. In: Historisches Wörterbuch der Philosophie. Bd. 1. Darmstadt: WBG, 2001, S. 788–789. Zu einem Klassifizierungsversuch der verschiedenen Formen der Begriffsgeschichte siehe Pozzo, R. & Sgarbi, M. (Hrsg.). Eine Typologie der Formen der Begriffsgeschichte. Hamburg: Meiner, 2010. Wir wenden uns diesem Problem in der Einleitung zum zweiten Teil der vorliegenden Arbeit zu. Über die Schwierigkeiten, eine mögliche systematische Interpretation der KrV und der kantischen Philosophie überhaupt zu führen, siehe Lehmann, G. „Voraussetzungen und Grenzen systematischer Kantinterpretation“. In: Kant-Studien, 49, 1958. Vgl. auch Henrich, D. Identität und Objektivität. Eine Untersuchung über Kants transzendentale Deduktion. Heidelberg: Karl Winter, 1976. Hinske, N. „Che cosa significa e a qual fine si pratica la storia delle fonti? Alcuni osservazioni di storia delle fonti sulla antinomia kantiana della libertà“. In: Studi Kantiani, 19, 2006. Siehe dazu z. B. Erdmann, B. Martin Knutzen und seine Zeit: ein Beitrag zur Geschichte der Wolfischen Schule und insbesondere zur Entwicklungsgeschichte Kants. Leipzig, 1876; Tonelli, G. Elementi metodologici e metafisici in Kant dal 1745 al 1768. Saggio di sociologia della conoscenza. Turin: Edizioni di ‘Filosofia’, 1959. Die Probleme und doch Verdienste des Datierungsversuches Adickes’ im Vergleich mit denen von Erdmann, Haering und Reicke sind bekannt und schon viel diskutiert. Vgl.

matischen Teil anbelangt, so wird auf irgendwelche endgültigen Stellungnahmen dazu, was das kantische System an sich ist oder sein muss, verzichtet. Vielmehr geht es darum, dass der angenommene systematische Standpunkt sich durch die historisch orientierte Analyse bestätigen und bekräftigen lässt. Dies wird im ersten Kapitel weiter diskutiert. Es ist nun aber darauf hinzuweisen, dass der Grundansatz der vorliegenden Untersuchung darin besteht, die notwendige, in der Kant-Forschung in Brasilien aber kaum zu findende Wechselbeziehung zwischen historischer und systematischer Interpretation herauszustellen. Um einen bekannten Ausdruck Kants zu verwenden, ist die systematische oder textimmanente Interpretation ohne den Beitrag der historisch-genetischen Interpretation leer und die werkgenetisch oder historisch orientierte Analyse ohne den Beitrag der systematischen Interpretation blind.96 Es wird also einerseits die Interpretationsregel von K. Fischer angenommen: „Kant erklären heißt ihn geschichtlich ableiten“.97 Andererseits werden aber die Bedenken berücksichtigt, die R. Brandt gegen jene Untersuchungen vorbringt, die in einem Maße an den historischen und genetischen Aspekten der kritischen Philosophie orientiert sind, dass sie den Grundgedanken Kants übersehen, nämlich „die Philosophie sei eine Vernunftwissenschaft und nur systematisch möglich“.98 Mit anderen Worten wird die Warnung von M. Campo, die

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Hinske, N. „Einleitung zur Neuausgabe“. In: Reflexionen Kants zur kritischen Philosophie. Aus Kants handschriftlichen Aufzeichnungen. Hrsg. von Benno Erdmann. Neudr. der Ausg. Leipzig 1882/1884. Neu hrsg. und mit einer Einl. vers. von Norbert Hinske. Stuttgart-Bad Cannstatt: Frommann-Holzboog, 1992, S. 7–14; ders. „Prolegomena zu einer Entwicklungsgeschichte des Kantschen Denkens. Erwiderung auf Lothar Kreimendahl“. In: Theis, R. & Weber, C. (Hrsg.). De Christian Wolff à Louis Lavelle. Metaphysique et Histoire de la Philosophie. Recueil en hommage à Jean École à l’occasion de son 75e anniversaire. Hildesheim, Zürich & New York: Olms, 1995, S. 106–110; Klemme, H. Kants Philosophie des Subjekts. Systematische und entwicklungsgeschichtliche Untersuchungen zum Verhältnis von Selbstbewußtsein und Selbsterkenntnis. Hamburg: Meiner, 1996, S. 40–41; Vleeschauwer, H. J. La Déduction Transcendentale dans l’Oeuvre de Kant. Tome I. New York & London: Garland, 1976 (Nachdruck der Ausgabe Antwerpen: De Sikkel, 1934), S. 43-49. Wir stimmen daher Lehmann zu: „Näherer Überlegung kann allerdings nicht verborgen bleiben, daß eine historische Interpretation philosophischer ‚Lehre‘ ohne systematische Voraussetzungen nicht möglich, daß sie ohne Verständnis des Sinnes dieser Lehre keine Interpretation ist“. Lehmann, G. „Kritizismus und kritisches Motiv in der Entwicklung der kantischen Philosophie“, a. a. O., S. 25. Die von Lehmann aufgezeigten Probleme aber, wie der „kritische Kant“ im Rückblick auf die metaphysische und erkenntnistheoretische Tradition historisch und systematisch zu interpretieren ist, ohne ihn dabei zu verfälschen, werden hier nicht thematisiert. „Kant erklären heißt ihn geschichtlich ableiten. Ohne diese genaue geschichtliche Ableitung ist weder die kritische Philosophie noch ihre allmälige Entstehung in Kant selbst zu begreifen. Denn die kritische Philosophie ist nicht plötzlich hervorgetreten, sondern allmälig entstanden, sowohl in der Geschichte als in ihrem eigenen Urheber“. Fischer, F. Geschichte der neuern Philosophie. Bd. III. Kant’s Vernunftkritik und deren Entstehung. 2., rev. Aufl. Heidelberg: Bassermann, 1869, S. 29. Brandt wendet sich gegen Untersuchungen, die sich zu stark an der biographisch-historischen Genese des kantischen Gedankens orientieren und die „systembedingte Form“ vernachlässigen. Solche Interpretationen versetzten sich in einen „hermeneutischen Zirkel“ und nicht selten in einen „Teufelszirkel“: Sie wollten „die Genese des Werks erkennen, das sie ohne seine Genese“ nicht kennen können; es handelt sich daher um „eine zielloszielstrebige Fahrt durch die Reflexionen, Briefe und Nebenbemerkungen Dritter“. Vgl.

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Grenzen des historischen Rückblicks sollten durch das quid iuris und mithin durch eine wohlbegründete systematische Stellungnahme gesetzt werden,99 ernst genommen. Sicher ist aber auch, dass die Interpretation sich nicht auf eine systematische Analyse beschränken darf. Diese läuft nicht selten auf einen paraphrasierenden Kommentar (was in Brasilien in Gestalt einer strukturalistischen Lektüre oft vorkommt) oder auf eine „analytische Rekonstruktion“ à la Strawson oder Bennett (häufig bei angelsächsischen Autoren) hinaus, die in „gemessenem Abstand zum wirklichen Verlauf von Kants Argumenten“ bleibt sowie nur einen schmalen Ausschnitt aus den tausenden Seiten von Kants Publikationen, Manuskripten und Notizen“100 ins Auge fasst. Man muss nun nicht nur den „systematischen“, sondern auch den „aporetischen Kant“ vor Augen haben.101 Das verhindert von vornherein jede unflexible systematische Stellungnahme. Wie lässt sich nun die oben beschriebene interpretative Sackgasse vermeiden? Dieser Untersuchung liegt die Annahme zugrunde, dass die Wechselbeziehung von System und Geschichte einen möglichen Weg zeigt. Die am ehesten Erfolg versprechende Interpretation von Kant ist diejenige, die nicht nach der historischen oder systematischen Wahrheit der KrV oder der kantischen Philosophie fragt, sondern umgekehrt danach strebt, ihre historischen Einordnungen, Spannungen und systematischen Zusammenhänge ans Licht zu bringen und die dabei zu spürende langsame, unvollendete und aporetische Bearbeitung von Themen und Problemen der Zeit und der Philosophiegeschichte zurückzuverfolgen. System und Geschichte sind eng miteinander verflochten und unterstützen sich gegenseitig. Der Versuch, den Zweck der Kritik durch die Gerichtsmetapher zu verstehen, lädt dem Interpreten die schwere Aufgabe auf, eine Brücke zwischen zwei verschiedenen, aber miteinander verknüpften Diskursfeldern zu schlagen: zwischen der spekulativen Philosophie und der Rechtsphilosophie. Um diese Aufgabe bewältigen zu können – und das ist zumindest die hier verfolgte hermeneutische Orientierung –, ist es umso wichtiger, den oben geschilderten Ansatz zu verfolgen, das heißt, eine philosophisch-geschichtliche und zugleich textorientierte,102 eine quellengeschichtliche und zugleich textimmanente 103 Interpretation vorzunehmen. Die Erwartung ist, dass sich der vermeintliche methodologische Gegensatz durch die hier bloß skizzierte Interpretation auflösen lässt. Die vielfältige Rede Kants über die Methode in der Philosophie und ihre Auflösung bzw. Versöhnung in der komplexen kritischen Methode ruft in Erinnerung, dass diese „Schlichtungsaufgabe“ nicht per se als unmöglich betrachtet werden darf. So wie die Kritik es sich zur Aufgabe macht, den bürgerlichen Zustand in der Metaphysik und auch als beste Darstellungsweise in der Philosophie zu errich-

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Brandt, R. „Rezension zu Lothar Kreimendahl, Kant – Der Durchbruch von 1769, Köln 1990“. In: Kant-Studien 83, 1992, S. 103. Campo, M. La Genesi del Criticismo Kantiano. Varese: Magenta, 1959, S. xvi. Vgl. Henrich, D. Identität und Objektivität, a. a. O., S. 13–14. Lehmann, G. „Voraussetzungen und Grenzer systematischer Kantinterpretation“, a. a. O. Klemme, H. „Perspektiven der Interpretation“. In: Schönecker, D. & Zwenger, T. (Hrsg.). Kant verstehen. Understanding Kant. Über die Interpretation philosophischer Texte, a. a. O. Hinske, N. „Che cosa significa e a qual fine si pratica la storia delle fonti?“, a. a. O.

ten,104 so war auch eine Methode, die die verschiedenen interpretatorischen Ansätze zu harmonisieren versucht, dies zu leisten imstande. Im Laufe der Untersuchung werden die Begriffe erläutert, die uns als Richtlinien gelten, nämlich der Gerichtshof und die Gesetzgebung der Vernunft (Kap. 2 und 8), die Deduktion (Kap. 3 und 9) und die Antinomie (Kap. 4 und 10). Jedem von ihnen entspricht die spezifische Entwicklung eines kritischen Motivs 105 bzw. der Nomothetik der Vernunft (Kap. 7), der skeptischen Einstellung eines Richters (Kap. 6) und der unparteiischen Prüfung der entgegengesetzten philosophischen bzw. methodologischen Meinungen bzw. Positionen (Kap. 5). Was den letzten Punkt betrifft, muss eingeräumt werden, dass die leitenden bzw. operativen Begriffe der vorliegenden Untersuchung keine strenge Entsprechung in der werkgenetisch orientierten Analyse der kritischen Philosophie finden. Hier wäre stattdessen eher von einer begrifflichen oder thematischen Überdeterminierung zu sprechen. Die vorliegende Arbeit bewegt sich daher um drei Achsen (historisch, genetisch und systematisch) und stützt sich auf drei Fundamente (Gerichtshofs und Gesetzgebung, Deduktion und Antinomie). Die These, die es zu prüfen gilt, lautet: Die KrV und die kritische Philosophie Kants stützen sich auf die Darstellung einer negativen und positiven Gesetzgebung der Vernunft, die an der zweifachen Funktion der Disziplin der reinen Vernunft als einem Quasi-Synonym von Kritik106 ersichtlich wird und mit der sich die methodologische Rolle des aus der Jurisprudenz stammenden Deduktions- und Antinomiebegriffs verbinden lässt. Dieser Grundgedanke der Kritik, der in der vorkritischen und kritischen Periode zahlreiche Änderungen und Umformulierungen erfährt, lässt sich anhand von Begriffen und methodologischen Mitteln, die Kant aus der Rechtswissenschaft übernommen hat, darlegen und bestimmen. Aus dieser dreifachen Interpretationsperspektive erklärt sich das scheinbare Ungleichgewicht der Kapitel der vorliegenden Arbeit. Während es im ersten Teil (Kap. 2–4) darum geht, die Quellen und die Geschichte einiger juristischer Begriffe und Motive der KrV in die Philosophie- und Rechtsgeschichte zurückzuverfolgen, ist es das Ziel des dritten Teils (Kap. 8–10), eine eher textorientierte, doch auf die systematische Perspektive bezogene und historisch begründete Analyse von bestimmten Abschnitten der KrV durchzuführen. Als Zwischenglied beabsichtigt der zweite Teil (Kap. 5–7), die Entstehung der juristischen 104 105 106

Vgl. Trevisan, D. K. „O problema da linguagem no discurso filosófico kantiano como questão político-jurídica“, a. a. O. Vgl. die Einleitung zum zweiten Teil der vorliegenden Arbeit. Dabei nimmt unsere These einen anderen Weg als der von Marcos verfolgte. Für ihn „el deseño juridico de la Crítica se articula básicamente sobre dos estructuras en último término ‘procesales’, de algún modo vienen a coincidir con las dos partes de la Lógica Transcendental: la ‘deductio iuris’ (Analítica) y el ‘conflicto cosmológico’ (Dialética). La primera hace que el método transcendental de la argumentación filosófica tenga el sentido juridico-judicial de la legitimación de pretensiones particulares (cognoscivas, éticas, estéticas, etc.). El segundo, en cambio, nos sitúa ante la representación formalmente fiel de un proceso civil contra la metafísica con la puesta en escena de los actores (el juez y las partes), las pruebas de los contendientes y la sentencia del tribunal“. Marcos, M. H. La Crítica de la razón pura como proceso civil, a. a. O., S. 24–25, Fn. 23. Obwohl diese Prämissen hier durchaus akzeptiert werden, sind wir der Auffassung, dass man zum Verständnis der ganzen juristischen Verfassung der KrV und der kritischen Philosophie weitere Elemente braucht.

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Verfassung der KrV im Laufe des Werdegangs der kritischen Philosophie zu untersuchen. Dabei geht es darum, den Ursprung und die Entfaltung solcher kritischen Motive zu bestimmen, die eine Brücken- bzw. Übersetzungsfunktion zwischen dem historischen und dem systematischen Teil der vorliegenden Arbeit ausüben. Im ersten Kapitel werden zunächst aber einige Schwerpunkte unserer Interpretation erläutert, nämlich wie die kantischen Metaphern zu deuten sind, was die Grenzen einer Interpretation sind, die auf der bildlichen Gestaltung des kantischen Diskurses beruht, usw. Außerdem wird ein erster Überblick über die juristischen Metaphern der kantischen Philosophie dargeboten.

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1 1.1

Die Metaphern der kantischen Philosophie Die „neue“ kritische Terminologie

Ein Merkmal der Kritik der reinen Vernunft, das bereits von ihren ersten Kritikern bemerkt und nicht selten getadelt wurde, ist die Einführung einer neuen und ihnen zufolge merkwürdigen Terminologie. Das Ergebnis davon sei gewesen: „Kraftsprache, Schaffung neuer Wörter, geheimnißvolle Dunkelheit, und Geniestolz“.107 Da Kant nun oft betont hat, dass die kritische Philosophie „zu ihrer Grundlegung sogar ganz eigener technischer Ausdrücke bedarf“ (Brief an Herz 24.11.1776 AA 10: 199), geht es dabei um einen Einwand von nicht geringer Bedeutung. Es ist dann kein Zufall, dass die ersten Anhänger des Kritizismus zu dessen Popularisierung und Ausbreitung es als dringlich empfunden haben, seine zentralen Begriffe zu erläutern.108 Im Wörterbuch zum leichtern Gebrauch der Kantischen Schriften nennt Schmid es einen „äußerst beleidigende[n] […] Vorwurf“, den man Kant machen könnte, dass er eine „zwecklose oder gar schädliche Spracherneuerung“ eingeführt habe, oder eben, dass er „das Gedächtnis mit neuen unnützen Wörtern überladen und das philosophische Nachdenken erschwert und verwirrt“ habe.109 Die Wörterbücher und Sammlungen von Auszügen über die kritische Philosophie, wie die von Mellin,110 Beck,111 Schmid 107

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„Es ergibt sich endlose Spitzfindigkeiten, der Jagd transscendentaler Begriffe und dem Idealismus, der bis zur Bezweifelung unserer Persönlichkeit hinansteigt. Dort, wie hier, Kraftsprache, Schaffung neuer Wörter, geheimnißvolle Dunkelheit, und Geniestolz, der auf jene, die nicht zur Parthey gehören, wie auf Klötze und Alltagsmenschen herabsieht“. Berg, F. „Rezension zu Johann Georg Heinrich Feder, Über Raum und Causalität zur Prüfung der Kantischen Philosophie“. In: Wüzburger Gelehrter Anzeigen für das Jahr 1787, Stück 83, 17. Oktober 1787, S. 814. Neudruck: Landau, A. (Hrsg.): Rezensionen zur Kantischen Philosophie 1781–1787. Bebra: Landau, 1991, S. 681f. Als weitere Beispiele sind zu nennen. „Nicht weniger ärgerte man sich in formeller Beziehung über Kants Terminologie. Wozu doch, meinte man, solch’ undeutsche Ausdrücke, wie Amphibolie, Antinomie, Kathartikon, Noumen, Epigenesis, u. s. f. über welche der zwar sehr gesunde, aber nicht gerade Griechisch gelehrte Menschenverstand jeden Augenblick stolpert?“. Rosenkranz, F.: Geschichte der Kant’schen Philosophie. Leipzig, 1840, S. 359. Vgl. Zweiter Abschnitt. „Die Bekämpfung der Kant’schen Philosophie“. In seiner Rezension der KrV behauptet Garve: „Der Verfasser, um sein System begreiflich zu machen, hat nöthig gefunden, auch eine neue Terminologie einzuführen“. Garve, C. [„Rezension zu der Kritik der reinen Vernunft“]. In: Allgemeine Deutsche Bibliothek, Anhang zum 37.–52. Band, Abteilung 2, Berlin u. Stettin, 1783, S. 839. Neudruck: Landau, A. (Hrsg.): Rezensionen zur Kantischen Philosophie 1781–1787, a. a. O. A. 35. Vgl. auch Hinske, N.: „Kants neue Terminologie und ihre alten Quellen. Möglichkeiten und Grenzen der elektronischen Datenverarbeitung im Felde der Begriffsgeschichte“. In: Kant-Studien, 65, 1974, 68f.; Ders. „Einleitung“ zu Schmid, C. C. E. Wörterbuch zum leichtern Gebrauch der Kantischen Schriften. (1798). Neu hrsg., eingel. und mit einem Personenreg. vers. von Norbert Hinske. Darmstadt: WBG, 2005, S. viii. Vgl. Hinske, N.: „La tardía impaciencia de Kant. Un epílogo para los Prolegómenos de Kant“. In: Immanuel Kant: Prolegómenos a toda metafísica futura que haya de poder presentarse como ciencia. Madrid: Istmo, 1999. Schmid, C. C. E.: Wörterbuch zum leichtern Gebrauch der Kantischen Schriften, a. a. O., S. 2. Mellin, G. S. A.: Encyclopädisches Wörterbuch der Kritischen Philosophie. 6 Bde. Leipzig 1797– 1803. Beck, J. S.: Erläuternder Auszug aus den kritischen Schriften. 3 Bände. Riga. 1793–6.

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u. a.,112 hatten zum expliziten Ziel, zur Popularisierung der kritischen Philosophie beizutragen, indem sie die „eindeutige Bedeutung“ erklärten, die Kant selbst den Begriffen gegeben hatte.113 Kant sollte sich wundern, wie viele Begriffe der kritischen Philosophie missverstanden worden waren. Während nun viele auf die Neuheit der zur kritischen Philosophie gehörenden Begriffe und lexikalischen Strukturen hinwiesen, beanspruchte Kant, er habe nicht „eine neue Sprache ein[zu]führen“ (KpV AA 05: 10) gesucht, sondern vielmehr längst vergessene Bedeutungen von in der Philosophie häufig verwendeten Wörtern und Termini, wie Idee (A 312/B 3689), absolut (A 324/B 381), usw., vor allem in ihrer germanisierten Form, wieder herzustellen.114 Es handelt sich für Kant darum, von einer „kindischen Bemühung“, „neue Worte zu künsteln, wo die Sprache schon so an Ausdrücken für gegebene Begriffe keinen Mangel hat“ (KpV AA 05: 10). Wenn man dabei nach Popularität strebt, irrt man sich umso sehr. Wichtiger als die sofortige Zustimmung des Publikums soll der „dauerhafte Beifall“ sein: „die Anlockung einer früheren, günstigen Aufnahme der Aussicht auf einen zwar späten, aber dauerhaften Beifall nachzusetzen“ (Prol AA 04: 262). Nun, „so lange aber jene Gedanken noch stehen, zweifele ich sehr, daß ihnen angemessene und doch gangbarere Ausdrücke dazu aufgefunden werden dürften“ (KpV AA 05: 10-1). Im Laufe der langen Konzeption und Niederschrift der Kritik der reinen Vernunft in den 1770er Jahren war Kant sich der mit dem „kritischen Geschäft“ verbundenen Schwierigkeiten völlig bewusst.115 Eine dieser Schwierigkeiten war sicherlich die terminologische. Im Brief an Herz von Ende 1773 schreibt Kant darüber, dass es ihm Mühe bereitete, „das Verfahren der sich selbst isolierenden Vernunft“ unter sichere Regeln zu bringen. Er schob die Veröffentlichung des Werkes auf, weil es dabei um eine „gantz neue Wissenschaft der Idee nach“ 116 ging. Kant brauchte dann viel Zeit und Mühe bei der Suche nach „der Methode[,] den Ein-

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Vgl. Hinske, N.: „Einleitung“, zu Schmid, C. C. E.: Wörterbuch zum leichtern Gebrauch der Kantischen Schriften, a. a. O., S. x–xii. In Kunstsprache der kritischen Philosophie vergleicht Mellin seine Bemühungen mit denen von Baumeister in Bezug auf Wolffs Philosophie (Philosophia definitiva, Wittenberg, 1734). Mit seiner „ähnliche[n] Sammlung von Erklärungen“ der kantischen Philosophie wollte Mellin die „Klage […], Kant sey zu sparsam in Erklärungen gewesen, und habe sich hinter eine fremde Kunstsprache versteckt“, zurückweisen. Mellin, G. S. A.: Kunstsprache der kritischen Philosophie. Jena, 1798, S. i. „Die deutsche Sprache ist unter den gelehrten lebenden die eintzige, welche eine Reinigkeit hat, die ihr eigenthümlich ist. Alle fremden Worte sind in ihr auf immer kentlich, an die stelle daß Englisch und Französisch mit solchen können angefüllet werden, ohne daß zu merken ist, sie wären ihnen anderwerts zugefallen. Deswegen belohnt es der Mühe, darauf acht zu haben und sich lieber in parenthese der fremden Worter zu bedienen. Diese Aufmerksamkeit macht nach und nach die Sprache reich und zugleich sehr bedeutend und bestimmt. Der neuen Zusammensetzung der Wörter müssen schranken gesetzt werden. Das allgemeine einer Sprache und der idiotismus“. (Rx 5108 AA 18: 90). Vgl. u.a., Arnoldt, E.: „Die äussere Entstehung und die Abfassungszeit der Kritik der reinen Vernunft“. In: Gesammelte Schriften. Bd. IV. Teil I. Berlin: Cassirer, 1908. Erdmann, B. „Einleitung zu der Kritik der reinen Vernunft“. In: Akademieausgabe. AA 04: 569ff. Vgl. auch (Prol AA 04: 262).

theilungen[,] der genau angemessenen Benennungen“ (AA 10: 144).117 Die Überzeugung, dass diese „ganz neue Wissenschaft“ nicht nur Fleiß seitens Kants bei ihrer Bearbeitung, sondern auch eine ernsthafte Bemühung seitens des Lesers zum Verständnis benötigt, dauerte bis nach der Veröffentlichung der KrV an. In Reaktion auf Garve, der Kant auf „die neue Sprache, welche durchaus in demselben [scil. dem System Kants] herrscht“ (AA 10: 331-2), aufmerksam gemacht hatte, schrieb Kant am 07.08.1783, dass „diese Art von Wissenschaft“ die Besonderheit hat, dass „die Darstellung des Ganzen erforderlich ist jeden Theil zu rectificieren“ (AA 10: 339).118 Mit der „Schwierigkeit der Sache selbst“ erklärt er darüber hinaus die „Unannehmlichkeit“, die beim Leser durch die „Dunkelheit“ des Stils und die „Neuigkeit der Sprache“ erweckt wird (AA 10: 339-340). Daraus folgt, dass die Kritik nicht leicht die von Garve erforderte „Popularität“ erlangen könnte. Kant bestand darauf, bei der Bearbeitung „eine ganz neue und bisher unversuchte Wissenschaft, nämlich die Critik einer a priori urtheilenden Vernunft“ zu sein (AA 10: 340). Die Neuigkeit der Sprache bedeutet jedoch nicht unbedingt eine neue Sprache. Die „Unannehmlichkeit“ der ersten Leser und Kritiker der KrV konnte vielleicht teilweise in ihrer Unfähigkeit liegen, den ursprünglichen Hintergrund der von Kant verwendeten Begriffe zu erfassen, was paradoxerweise aus der „neuen“ Terminologie der „ganz neuen Wissenschaft“ eine großenteils alte aber für die Zwecke des Kritizismus geänderte Terminologie machte.119 Man kann auch behaupten, dass diese „Unannehmlichkeit“ bis heute zu finden ist, wobei einige Grundbegriffe der Kantischen Philosophie dem Unverständnis ausgesetzt sind, 117

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Es gibt hier, so Hinske, den Hinweis auf die drei Grundprobleme der zukünftigen KrV, nämlich die „transzendentale Methode“, das „Problem der systematischen Anordnung“ und „das Problem der neuen Terminologie“. Hinske, N.: „La tardía impaciencia de Kant.“, a. a. O., S. 341. „Meine Methode ist nicht sehr geschikt dazu, den Leser an sich zu halten und ihm zu gefallen. Man muß seine Beurtheilung vom Ganzen anfangen und auf die Idee des werks samt ihrem Grunde richten. Das übrige gehört zur Ausführung, darin manches kan gefehlt seyn und besser werden”. (Rx 5025 AA 18: 64). Tonelli teilt die Quellen der neuen kantischen Terminologie nach 1769 in zwei Gruppen ein: a) die aus dem Essay von Locke und den Nouveaux Essais von Leibniz und b) die aus der deutsch-aristotelischen Tradition entlehnten Termini. Die Termini von a) tauchen vornehmlich gegen 1769–1770 auf (Beispiele: „Wahrnehmung“, „Anschauung“, „rein“; die logische Bedeutung von Wahrheit als „Widerspruchslosigkeit unabhängig von der Realität“; wohingegen „subjektiv“ und „objektiv“ aus Baumgarten und der britischen Moralphilosophie stamme). Die Termini von b) tauchen wiederum vorwiegend nach 1770 auf: „Nach 1770 taucht bei Kant eine ganze Reihe aristotelischer Termini wieder auf, Termini, die im 17 Jh. in Deutschland sehr verbreitet gewesen waren, wie ‚Kategorie‘, ‚transzendental‘, ‚Analytik und Dialektik‘. Außerdem trifft man Termini fast ausschließlich griechischer Abstammung, die zwar im 17 Jh. teilweise bekannt, aber doch verhältnismäßig selten waren, wie ‚Kanon‘, ‚Antinomie‘, ‚Antithese‘, ‚Paralogismus‘, ‚Amphibolie‘ und die drei Urteilsformen ‚problematisch‘, ‚assertorisch‘, ‚apodiktisch‘“. Tonelli, G. „Das Wiederaufleben der deutsch-aristotelischen Terminologie bei Kant während der Entstehung der ‚Kritik der reinen Vernunft‘“. In: Archiv für Begriffsgeschichte 9, 1964, S. 236. Tonelli übersieht jedoch alle kantischen Metaphern und alle für den Kritizismus gleichermaßen entscheidenden Begriffe, die aus der Rechtswissenschaft entlehnt worden sind. Gegen Tonelli weisen wir vorläufig darauf hin, dass man unter Deduktion bei Kant nicht die aristotelische Bedeutung des Begriffes verstehen darf.

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wenn man sie irreführend für Synonyme von aktuell weitgehend verwendeten Begriffen hält und nicht in ihrer ursprünglichen und „alten“ Bedeutung versteht. Als Beispiel sind zwei Begriffe anzuführen, die der vorliegenden Arbeit zugrundliegen, nämlich Deduktion und Antinomie. Der kantische Begriff von Deduktion soll nicht, wie im Kapitel 3 zu sehen ist, unter der heutigen Bedeutung der Deduktion als einer logisch konsistenten Schlussfolgerung von Prämissen auf Konsequenzen, sondern unter seiner ursprünglich juristischen Bedeutung als die Rechtfertigung einer Erwerbung oder die Verteidigung eines Rechts bzw. einer Befugnis, verstanden werden. Die ursprüngliche Bedeutung des kantischen Begriffs von Antinomie ist ebenfalls, wie im Kapitel 4 zu zeigen ist, nicht außerhalb der Rechtswissenschaft zu verstehen, in der er einen Streit von Gesetzen in einer Gesetzgebung, und nicht primär in einem Logiksystem, bezeichnet. Die heutige Rückgewinnung der ursprünglichen Bedeutung dieser Begriffe würde genau derjenigen begrifflichen Erklärung entsprechen, die Kant und seine Anhänger als Bedingung des Gelingens des Kritizismus beanspruchen. Auf die historische und genetische Erschließung einiger Begriffe erfolgt nun die Aufklärung ihrer systematischen Rolle bei der kritischen Philosophie. Es ist jedoch sicher, dass diese beiden Beispiele, Deduktion und Antinomie, Grenzfälle sind. In der „neuen“ kritischen Terminologie befinden sich auch termini technici, die nicht denselben, doch aber analogen Schwierigkeiten unterworfen sind, nämlich Kategorie, Analytik, Dialektik, Paralogismus, Kanon, Organon, und weitere Begriffe griechischer und lateinischer Abstammung. Es gibt außer diesen noch andere Begriffe, deren ursprünglicher Sinn heute zwar zurückgewonnen werden muss, aber der Zeit Kants nicht so fremd war, wie z. B. transzendental, Ontologie, Metaphysik, usw.120 Die Begriffe aber, um die es in der vorliegenden Arbeit geht, sind nicht mit den vorherigen zu vergleichen. Bei „Antinomie“ und „Deduktion“ kommt noch eine weitere Schwierigkeit hinzu: beide sind gewissermaßen quasi-Metaphern, d.i. bewusste und beabsichtigte Übertragungen aus einem Bereich (Rechtswissenschaft) in einen anderen (Philosophie), durch die der besprochene Begriff seinen Bedeutungskern behält, aber zugleich einen neuen, durch die Aufnahme in das neue Begriffsfeld gewonnenen Sinn bekommt. Ebenso haben weitere „neue“ von Kant verwendete Termini oder Ausdrücke einen metaphorischen Ursprung, wie „das Land des reinen Verstandes“ (A 235-6/ B 294-95), die „Architektonik der reinen Vernunft“ (A 833/ B 861), das „System der Epigenesis der reinen Vernunft” (B 167), das „Kathartikon des gemeinen Verstandes” (B 78), usw. Diese Metaphern aber, wenngleich nicht ohne Belang für das Verständnis von Lehrstücken der KrV, haben nicht die gleiche Wichtigkeit für den Aufbau der kritischen Philosophie wie die der Deduktion und Antinomie. Diese erweisen sich nebst und innerhalb des Gerichtshofes der Vernunft als systematische Angelpunkte der KrV und der kritischen Philosophie. Sie scheinen daher zugleich Metaphern und termini technici, das heißt strukturierende bzw. strukturelle Metaphern der kritischen Philosophie zu sein. Dies weist ihnen eine bedeutende methodologische Rolle zu, aber führt zugleich 120

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Vgl. z. B die Untersuchung Hinskes über den Begriff von Transzendental bei. Hinske, N. Kants Weg zur Transzendentalphilosophie, a. a. O. Über den Begriff von Ontologie, vgl. Rivero, G. Zur Bedeutung des Begriffs Ontologie bei Kant. Eine entwicklungsgeschichtliche Untersuchung. Berlin [u. a]: de Gruyer, 2014.

schwierige interpretative Probleme herbei. Mit dieser vorläufigen Feststellung, die aber noch verfeinert werden muss, kommen wir zwingend zu der Frage nach der Verwendung von Metaphern bei Kant als einer hermeneutischen Voraussetzung unserer Interpretation. 1.2

Ein Überblick über die Metaphern in der kritischen Philosophie. Die Bedeutung der juristischen Metapher

Seitdem Rudolf Eucken noch im 19. Jahrhundert den Metaphern bei Kant eine kleine Schrift gewidmet121 und dabei ihre Bedeutung herausgestellt hatte 122, haben die Zahl und der Umfang der Untersuchungen über Kants Verwendung von Metaphern und über den kantischen Diskurs zugenommen.123 Es ist bedeutsam, dass Eucken der Vorläufer der zeitgenössischen Lexikografie über Begriffsgeschichte war, die ihren Höhepunkt im 20. Jahrhundert hatte.124 Eucken, der u.a. eine Geschichte der philosophischen Terminologie geschrieben hat, war der Auffassung, dass eine „Gesamtgeschichte der philosophischen Grundbegriffe“ der systematischen Philosophie dienen könnte.125 Die geschichtliche Entwicklung der Begriffe in den großen Systemen sei durch die fortschreitende Akkumulation von Metaphern bereichert, die bildlich das zum Ausdruck bringen, was erst danach begrifflich formuliert werden kann.126 Was die kantische Philosophie betrifft, beansprucht Eucken, dass bei Kant die Bilder und die sinnlichen Vorstellungen „neue Verbindungen anregen, noch unversuchte Wege zeigen“127, das heißt als „methodologische Richtungen“128 fungieren. Sie dienen außerdem im Rahmen der Begriffsgeschichte als eine wertvolle Spur der Schöpfung, Veränderung 121

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Eucken, R.: „Über Bilder und Gleichnisse bei Kant“. In: Beiträge zur Einführung in die Geschichte der Philosophie. Leipzig: Verlag der Dürr’schen Buchhandlung, 1906. Zuerst erschienen in der Zeitschrift für Philosophie und philosophische Kritik 83 (1883). „Eben die Bilder dürfen als ein Beweisstück der vollen Eigentümlichkeit seines Denkens gelten“. Ebd., S. 82. Für einen ausführlichen Überblick vgl. Santos, L. R.: Metáforas da Razão, a. a. O., S. 55–90. „Der begriffsgeschichtlichen Lexikographie gibt 1872 R. Eucken mit seinem Aufruf zur ‚Herausgabe eines geschichtlichen Lexicons der philosophischen Terminologie‘ den entscheidenden Impuls für diejenigen bis in die Gegenwart hineinreichenden Bemühungen zur Realisierung eines Unternehmens, welches alle Wörter umfaßt, die ‚eine eigenthümliche philosophische Bedeutung erhalten haben‘ und sie ‚in ihrer Entstehung und Entwicklung bis auf die Gegenwart‘ darstellt“. Meier, H. G. „Begriffsgeschichte“, a. a. O., S. 792. Eucken war Schüler von Trendelenburg, dem höchst einflussreichen, aber heute fast „Unbekannten“ zu Beginn des Neukantianismus in der zweiten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts. Trendelenburg hat bekanntlich Anregungen zu philologischen, genetischen und geschichtlichen Untersuchungen über die kantische Philosophie gegeben. Vgl. Köhnke, K. C.: Entstehung und Aufstieg des Neukantianismus: die deutsche Universitätsphilosophie zwischen Idealismus und Positivismus. Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 1993. Eucken lobt Trendelenburgs Gründlichkeit bei der philosophischen Terminologie als eine Anregung für sein eigenes Unternehmen einer Geschichte der philosophischen Terminologie. Eucken, R.: Geschichte der philosophischen Terminologie. Leipzig, 1879, S. iii–iv. „Schließlich freilich können alle Ausdrücke des geistigen und philosophischen Gebietes als aus bildlicher Verwendung entstanden gelten […]. Fortwährend sehen wird die Terminologie sich durch Überführung des Bildlichen in ein Begriffliches bereichern“. Eucken, R. Geschichte der philosophischen Terminologie, a. a. O., S. 178–9. Eucken, R.: „Über Bilder und Gleichnisse bei Kant“, a. a. O., S. 55 Ebd., S. 57.

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oder Verschwinden von Begriffen und zeigen damit die sozialgeschichtliche Verankerung der kantischen Philosophie. Die vorliegende Untersuchung verfolgt einen ähnlichen Ansatz. Die ausführliche Darstellung aller Metaphern der kantischen Philosophie würde den Rahmen dieser Arbeit sprengen; daher soll nur ein Überblick hier genügen, bevor wir uns auf die Probleme und Grenzen, die kantische Philosophie von ihren Metaphern her zu interpretieren, und auf die Erläuterung unseres eigenen interpretatorischen Ansatzes eingehen. Den Versuch, die Metaphern bei Kant zu klassifizieren, haben schon einige Autoren unternommen. D. W. Tarbet teilt die Metaphern der Kritik der reinen Vernunft in zwei Gruppen ein, nämlich die illustrativen Metaphern (illustrative metaphors) und die Analogiemetaphern (metaphors of analogy oder simile).129 Die ersten „stand in conventional position outside the line of argument, and serve primarly as illustration of the text“130; zu ihnen zählen die „metaphor of fly“131, die „military“ oder „belicist metaphors“ 132, die „geographical metaphors“133 und die damit verbundenen „cartographical“ 134, „oceanographical“135 und „travel metaphors“136. Die Analogiemetaphern seien diejenigen, durch die „Kant saw his work vis-à-vis other intellectual disciplines“137, wie die Biologie138, Regierung bzw. Staatswissenschaft 139, Astronomie140, Mathematik141, Chemie142, Physik143 und Medizin144. Doch neben den besprochenen Metaphern zählt Tarbet noch eine weitere, die wichtiger als die andere sei und daher keinen Platz in der vorherigen Klassifizierung finde, nämlich die juristische Metapher. Diese sei das „metaphoric mold which shapes the Critique“ und „around which the entire work is constructed […]. [W]ords and phrases such as tribunal, case, validity, legal title, claim, cross-examining, appeal to testimony, pass judgment, rule, law, evidence, justify, illicit, right, legislation, canon, lawgiver - are distributed throughout the text, carefully patterning our view of the critical philosophy“.145 Auch Leonel Ribeiro dos Santos, der die ausführlichste Untersuchung über die Metaphern der ganzen kantischen Philosophie geschrieben hat, erkennt die Wichtigkeit der juristischen Metapher bei Kant. Nebst der juristischen Metapher zählt Leonel dos Santos noch weitere Metaphern bzw. Allegorien als „metáforas continuadas“ oder „série de metáforas in129 130 131 132 133 134 135 136 137 138 139 140 141 142 143 144 145

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Tarbet, D. W.: „The Fabric of Metaphor in Kant’s Critique of Pure Reason“. In: Journal of the History of Philosophy, 6, 1968, S. 263. Ebd., S. 257. B 8; A 591/B 619; A 563/B 591; A 638/B 666; A 689/B 717; A 569/B 597. A viii; B xxx; A 383–4A 420–1/B 448; A 740–7/B 768–75; A 756/B 784; A 768/B 796. A 235–6/B 294–5; A 255/B 310; A 760–2/B 788–90. B vii; A 238/ B 297; A 255/ B310. A 235–6/ B 294–5; A 395–6. A 235–6/ B 294–5; A 644/ B 672. Tarbet, D. W.: „The Fabric of Metaphor in Kant’s Critique of Pure Reason“, a. a. O., S. 263. B 24; A 387; A 777–8/B 805–6; A 835/B 863. A 677/B 695; A 741/B 769; A 789/B 817. B xvi–xvii; A 179–B 221; A 211/B 257; A 213/B 260; B 277; A 662–3/B 690–91. A 234/B 287; A 295/B 351. A 842/B 870. B xviii–xix; A 295/B 351; A 662–3/B 690–1. A 53/B 78; A 486/B 514; A 824/B 852. Tarbet, D. W. „The Fabric of Metaphor in Kant’s Critique of Pure Reason“, a. a. O., S. 265.

terligadas“146 verstanden, nämlich die Allegorie der „Reinigkeit der Vernunft“ 147, die räumlich-geographischen148, architektonischen149, organischen150, kosmologischen151, optischen152 und die Trinität betreffenden Metaphern 153. Wie Tarbet gibt Leonel dos Santos zu, dass die juristische Metapher systematischen Vorrang hat; anders als Tarbet aber fügt Leonel dos Santos der juristischen Metapher noch eine politische Dimension hinzu: die KrV sei als die Republik der Vernunft verstanden.154 Die Wirkung der juristisch-politischen Metapher würde damit den Rahmen der KrV sprengen und sich dann auf alle Bereiche der Transzendentalphilosophie als Philosophie der reinen Vernunft erstrecken. Es lässt sich daraus ersehen, dass die juristische Metapher eine zentrale Bedeutung hat, und zwar „não só como a ‘metáfora fundamental’ segundo a qual se estrutura, se constrói e se expõe a primeira crítica, mas também como o paradigma ou o esquema de acordo com o qual se explicita a ideia da filosofia transcendental na filosofia prática e na crítica do juízo estético“.155 Es gibt in der Tat nicht nur in der KrV zahlreiche juridisch-politische Metaphern. Dies sind einige Beispiele, die in den Druckschriften zu finden sind:156 in der Einleitung zur Kritik der Urteilskraft weist Kant allen Gemütsvermögen ein „Gebiet“ zu, in dem sie „a priori gesetzgebend“ sind (KU AA 05: 171ff.); im Streit der Fakultäten Kant bezeichnet 146 147 148 149 150 151 152 153 154

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Ebd., S. 92–3. Santos, L. R. Metáforas da Razão, a. a. O., S. 131–251. Ebd., S. 252–337. Ebd., S. 336–402. Ebd., S. 403–446. Ebd., S. 447–506. Ebd., S. 507–560. Ebd., S. 633–666. „A imagem kantiana do ‘tribunal da razão’ […] é elemento de uma constelação mais vasta, a concepção da razão como uma república, em que os três poderes diferenciados funcionam separadamente e, ao mesmo tempo, em organização orgânica, mantendo a autonomia, a autosuficiência e o bem-estar do todo“. Die Besonderheit der Interpretation von Leonel dos Santos besteht darin, dass er die kantische Vernunft als eine „republikanische Institution“ begreift, die durch die republikanisch-politische Metapher zu einer organischen Konzeption der Vernunft verbunden ist“. Ebd., S. 562. Goetschel hat einen Interpretationsansatz, der dem von Leonel dos Santos nahe kommt. Alle Metaphern der kantischen Philosophie würden auf dasselbe hinauslaufen, nämlich den politischen Bereich. Goetschel, W. Constituting Critique. Kant’s Writing as Critical Praxis. Durham & London: Duke University Press, 1994, S. 139. Es gibt eine strikte Gegenseitigkeit zwischen Erkenntnis- und politischer Theorie, die die Gestalt einer „Kritik der Erkenntnis“ einnimmt. „The legal, governmental, economic, architectonic, and other metaphors all point to something encompassing them all, whose central, fundamental context finally begins to reveal itself precisely through them – metaphorically – in the midst of Kant’s epistemological-political project: the realm of politics“. Ebd. Durch die entlang des kritischen Werkes zu sehende Verflechtung von Metaphysik und Politik „the form of legal procedure is given a new twist: it is not only a model of knowledge, but moreover a mode of representation“. Ebd., S. 140. Wie im Folgenden erläutert wird, hat die Deutung von Goetschel das gleiche Problem wie die von L. R. dos Santros, nämlich Philosophie und Literatur zu nivellieren: „The title already expresses this, for with it, critique is first constituted as a literary genre“. Ebd. Ebd., S. 567. Den Stellen des Nachlasses, in denen die juristische Metaphorik auftaucht, wenden wir uns im Laufe der vorliegenden Arbeit zu.

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den Streit zwischen den oberen und der unteren Fakultät als einen „Prozeß“ (SF AA 07: 33ff.)157; in Einige Bemerkungen zu Ludwig Heinrich Jakob’s Prüfung der Mendelssohn’schen Morgenstunden (AA 08: 152; 155) und in Über das Mißlingen aller philosophischen Versuche in der Theodicee (MpVT AA 08: 255; 263)158 weist Kant auf den Gerichtshof der „Vernunft und die „Acten“ eines Prozesses hin 159. Wie schon gesagt, ist unser Interesse vor allem auf die Metaphern der KrV gerichtet, die innerhalb der Gerichtsvorstellung eine bestimmte strukturelle Funktion haben. In diesem Sinn waren Tarbet und Leonel dos Santos nicht die ersten Interpreten, die die zentrale Bedeutung der juristischen Bilder für den systematischen Aufbau der KrV herausgestellt haben. Schon Eucken hatte auf die durch die juristische Metaphorik zum Ausdruck gebrachte „enge Verwandtschaft [der] Transzendentalphilosophie mit dem Recht“ 160 hingewiesen, wofür man auch ein „ziemlich zusammenhängendes Bild“161 zustande bringen konnte. Zur Darstellung dieses „zusammenhängenden Bildes“ ist es aber ratsam, sich auf H. Vaihinger zu beziehen, der den ersten ziemlich vollständigen, aber vermutlich an den von Eucken162 angelehnten Überblick der juristischen Metaphern der KrV geliefert hat. In seinem Kommentar listet Vaihinger sieben Momente der juristischen Metaphorik der KrV auf, wenn er A xi-xii erläutert, wo Kant über die Notwendigkeit, die Vernunft als „einen Gerichtshof einzusetzen“, 157

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„Dieser Streit [der oberen Fakultäten mit der unteren, der philosophischen] kann und soll nicht durch friedliche Übereinkunft (amicabilis composito) beigelegt werden, sondern bedarf (als Proceß) einer Sentenz, d.i. des rechtskräftigen Spruchs eines Richters (der Vernunft); denn es könnte nur durch Unlauterkeit, Verheimlichung der Ursachen des Zwistes und Beredung geschehen, daß er beigelegt würde, dergleichen Maxime aber dem Geiste einer philosophischen Facultät, als der auf öffentliche Darstellung der Wahrheit geht, ganz zuwider ist“ (SF AA 07: 33). „Dieser Antagonism, d.i Streit zweier mit einander zu einem gemeinschaftlichen Endzweck vereinigter Parteien (concordia discors, discordia concors), ist also kein Krieg, d.i. keine Zwietracht aus der Entgegensetzung der Endabsichten in Ansehung des gelehrten Mein und Dein, welches, so wie das politische, aus Freiheit und Eigentum besteht, wo jene, als Bedingung, notwendig vor diesem vorhergehen muß; folglich den oberen Fakultäten kein Recht verstatten werden kann, ohne daß es der unteren zugleich erlaubt bleibe, ihre Bedenklichkeit über dasselbe an das gelehrte Publikum zu bringen“ (SF AA 07: 35–6). „Der Verfasser einer Theodicee willigt also ein, daß dieser Rechtshandel vor dem Gerichtshofe der Vernunft anhängig gemacht werde, und macht sich anheischig, den angeklagten Theil als Sachwalter durch förmliche Widerlegung aller Beschwerden des Gegners zu vertreten: darf letztern also während des Rechtsganges nicht durch einen Machtspruch Unstatthaftigkeit des Gerichtshofes der menschlichen Vernunft (exceptionem fori) abweisen“ (MpVT AA 08: 255). „Der Ausgang dieses Rechtshandels vor dem Gerichtshofe der Philosophie ist nun: daß alle bisherige Theodicee das nicht leiste, was sie verspricht, nämlich die moralische Weisheit in der Weltregierung gegen die Zweifel, die dagegen aus dem, was die Erfahrung an dieser Welt zu erkennen giebt, gemacht werden, zu rechtfertigen. obgleich freilich diese Zweifel als Einwürfe, so weit unsre Einsicht in die Beschaffenheit unsrer Vernunft in Ansehung der letztern reicht, auch das Gegentheil nicht beweisen können […]. [D]as muss bewiesen werden, um diesen Prozeß für immer zu endigen“ (MpVT AA 08: 263). Für einen ausführlicheren Überblick, Vgl. Santos, L. R. Metáforas da Razão, a. a. O., S. 561– 630. Eucken, R. „Über Bilder und Gleichnisse bei Kant“, a. a. O., S. 72. Vgl. auch S. 78. Ebd., S. 73. Ebd., S. 73–8. Vaihinger erwähnt Eucken allerdings nicht.

spricht. Vaihinger zufolge liege das Bild eines Prozesses „der ganzen Kritik zu Grunde“.163 Vaihinger versucht alle Stellen, wo das juristische Bild vorkommt, in eine zusammenhängende Einheit zu bringen; dies sei die Voraussetzung für das Verständnis des Überganges, als dem Hauptziel der KrV verstanden, vom Krieg zum Prozess bei der Streitbeilegung in der Metaphysik-Sache (A 7512/B 779-80). Die Kritik will mit diesem Verfahren die „Ruhe“ des bürgerlichen Zustandes in der Metaphysik errichten, bei dem alle Streitigkeiten nur durch einen Prozess geführt werden sollen. Im Naturzustand wird der Streit oder der „Krieg“ lediglich durch einen Sieg beendigt, was den dadurch erhaltenen Frieden unsicher macht, wohingegen im bürgerlichen Zustand eine Sentenz den ewigen Frieden gewährleisten soll, weil sie zu der Quelle der Streitigkeiten kommt.164 Es ist genau dieser ewige Frieden in der Philosophie, der in der KrV erreicht werden will. Die von Vaihinger aufgelisteten sieben Momente sind die folgenden: I) Man fragt sich zuerst: was ist die genaue Funktion der Vernunft bei dem Gerichtshof und von welchem Gerichtshof ist hier die Rede? Der Gerichtshof wird manchmal als Gerichtshof der KrV (A xi-xii) und manchmal als Gerichtshof einer „kritischen Vernunft“ (A 787/B 815) oder als „oberste[r] Gerichtshof aller Rechte und Ansprüche unserer Spekulation“ (A 669/B 697. Vgl. A 740/ B 769) begriffen. Diesen zwei Bedeutungen entspricht die zweifache Funktion, die Kant der Vernunft bei dem Gerichtshof zuweist, nämlich die „forschende“ und die „richterliche“ Funktion der Vernunft.165 Die forschende Vernunft wird als Partei verstanden und die richterliche Vernunft als Richterin. Kant weist klar darauf hin, dass die richterliche Vernunft höher steht als die forschende (A 739/ B 767). Daraus folgt, dass die Vernunft in dem „Gerichtshof der Vernunft“ im schwachen Sinn (als genitivus subjectivus) eine Partei und in dem „Gerichtshof der Vernunft“ im starken Sinn (als genitivus objectivus) die Richterin ist. Die Spannung oder Komplementarität beider Sinne durchdringt die ganze KrV.166 II) Man fragt sich auch nach der Gesetzgebung oder dem „Rechtsbuch“ des Gerichtshofes. „Das Rechtsbuch, nach dem dieser Gerichtshof urteilt, sind die von ihm selbst festgestellten Gesetze der Erkenntnis (wie sie in Aesthetik und Analytik niedergelegt sind)“.167 Es handelt nicht von Machtsprüchen, sondern von einer vernünftigen Gesetzgebung. „Das Kriterium dieser kritischen Vernunft ist das

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Vaihinger, H. Commentar zu Kants Kritik der reinen Vernunft, a. a. O., S. 107 Ebd. Vgl. unter Kap. 8. „Der Terminus ‚Richterstuhl der reinen Vernunft‘“ ist bei K. alt, denn schon Herz, der ganz unselbständig an Kant sich anschließt, gebraucht ihn in seinen ‚Betrachtungen‘ 1771“. Vaihinger weist darüber hinaus auf weitere Stellen der Philosophie Kants hin, in denen der juristische Zusammenhang auftaucht, ebd., S. 108. Zur Vaihingers Deutung über die Schwierigkeiten des doppelten Genitivs, des subjektiven und des objektiven, in dem Ausdruck „Gerichthof einer kritischen Vernunft“, Vgl. Hirata, T.: „Kants Modellwechsel im Hinblick auf die Kritik der reinen Vernunft. Vom Gerichtshofmodell zum Polizeimodell“. In: Gerhardt, V., Horstmann, R.-P. und Schumacher, R. (Hrsg.): Kant und die Berliner Aufklärung. Akten des IX. Internationalen Kant-Kongresses. Berlin: De Gruyter, 2000, S. 749–752. Vaihinger, H. Commentar, a. a. O., S. 109.

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Kriterium der Möglichkeit resp. Unmöglichkeit „solcher synthetischen Sätze, die mehr beweisen sollen als Erfahrung geben kann“.168 III) Die Streitparteien in diesem Prozess sind „erstens die zwei großen gegnerischen Schulen der Dogmatiker und Skeptiker, zweitens die verschiedenen Schulen der Ersteren“. Der erste Streit ist auch als der Streit der Vernunft mit sich selbst zu bezeichnen. In vielen Stellen aber ist der Streit als ein Streit zwischen wohlbegründeten Ansprüchen des Verstandes und der dialektischen Anmaßungen der Vernunft (A 768/B 796), sowie als ein Streit zwischen Verstand und Sinnen, wobei die Vernunft vermitteln muss (A 465/B 493), zu verstehen. All diese Momente des Streites laufen jedoch auf einen einzigen Streit hinaus, nämlich den Streit zwischen Dogmatismus und Skeptizismus oder Empirismus (A 466-8/B 494-6). Vaihinger stellt heraus, dass der Prozess nicht ein Straf-, sondern ein Zivilprozess ist. „Es handelt sich um die Rechtsansprüche auf einen Besitz“.169 IV) Der strittige Gegenstand oder Besitz sind die „Rechtsansprüche der Vernunft auf transzendente Erkenntnis, die ihr von den Skeptikern abgesprochen werden“.170 Die Metaphysik erhebt Ansprüche, die ihren Gegnern als grundlose Anmaßungen erscheinen. Vaihinger schließt daraus, dass die Deduktion und ihre juristische Bedeutung im Hinblick auf den Streit zwischen Dogmatikern und Skeptikern erklären lassen. Die transzendentale Deduktion der reinen Begriffe des Verstandes sei dann der Beweis der juristischen Ansprüche auf deren Gebrauch.171 „Den ‚Rechtsgrund‘ für ihre angemaßten Erkenntnisse sollen also die Dogmatiker darthun. Diese Erkenntnisse werden auch als der angemaßte Besitz der Vernunft bezeichnet“ (A 238; A 377-8; A 740/B 768; A 776-7/B 804-5).172 V) Wie bei allen Zivilprozessen werden auch beim Prozess der reinen Vernunft Zeugen (B xii; A 606/B 634; A 703/B 731), Dokumente (A 209-210/ B 255; A 751/ B 779) und Kreditive (B 285; Prol, AA 04: 278) als Beweise benutzt.173 VI) Nach allen Etappen des Prozesses kommt man zu einer Entscheidung, das heißt zu der Sentenz (A 751/B 779). „[D]ie Entscheidung (‚Sentenz‘) in diesem großen Streithandel“, so Vaihinger, „ist in der Dialektik gegeben, ist von der Kritik der reinen Vernunft definitiv getroffen“.174 In der Dialektik, genauer in der Antinomie, sei die endgültige Entscheidung über die strittigen Besitzan168 169

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Ebd. Ebd., S. 110. Dies bedeutet, dass Vaihinger die neulich von Brandt und Höffe gemachte Aussage, der Prozess der KrV sei ein Zivil- oder ein Strafprozess, vorwegnimmt und auflöst. Vgl. Brandt, R.: Die Bestimmung des Menschen bei Kant. Hamburg: Meiner, 2007, S. 567, Fn. 3. Anhand historischer Belege beanspruchen Brandt, Marcos und Kiefner, dass es sich beim Prozess der KrV um einen Zivilprozess handelt. Höffe missdeutet den Bezug Kants auf Bacon bei der zweiten Auflage der KrV und schließt daraus , dass es sich um einen Strafprozess handelt, durch den die Natur dazu gezwungen ist, die durch die Vernunft gestellten Fragen zu beantworten. Vaihinger, H. Commentar zu Kants Kritik der reinen Vernunft, a. a. O., S. 111. „In der Analytik handelt es sich um die juristische Deduktion der apriorischen Begriffe, d.h. um Erweis der Rechtsansprüche ihres Gebrauchs, um die Lösung der Frage: quid iuris“, ebd., S. 111. Ebd. Ebd., S. 112. Ebd., S. 113.

sprüche getroffen. Die Sentenz würde dann zugunsten des Verstandes und zuungunsten der Vernunft über die von beiden erhobenen Ansprüchen beschließen. „Denn hier [Analytik] handelt es sich um den Besitz sicheren Wissens, dort [Dialektik] um den Besitz vermuthenden Glaubens“.175 VII) Endlich, „um das Bild bis ins Einzelnste und Letzte auszunützen, so hat dieser Process auch seine Acten“.176 Am Ende des Anhanges zur transzendentalen Dialektik und a fortiori der Transzendentalen Elementarlehre schreibt Kant: „[Es] war ratsam, gleichsam die Acten dieses Processes ausführlich abzufassen, und sie im Archive der menschlichen Vernunft, zur Verhütung künftiger Irrungen […], niederzulegen“ (A 704/B 732). Obwohl Vaihinger zentrale Punkte der juristischen Metaphorik behandelt und sie in ein zusammenhängendes Bild bringt,177 kann argumentiert werden, dass Vaihinger, vielleicht wegen des Mangels einer eingehenden historischen Untersuchung, den eigentlichen Zweck der juristischen Metaphorik, vor allen in den oben beschriebenen Punkten II und IV, verfehlt. Im anstehenden „Rechtsbuch“ oder in der Gesetzgebung geht es nicht nur um die Gesetze des Verstandes, sondern auch um die Vernunftgesetze, das heißt nicht nur um Erkenntnis-, sondern auch um Moralgesetze. Mit der Herausbildung der juristischen Verfassung der KrV bezieht sich Kant implizit und manchmal auch explizit auf die doppelte Dimension der Gesetzgebung der Vernunft, nämlich die negative und die positive. Kant muss bzw. den spekulativen Vernunftgebrauch auf den Boden der möglichen Erfahrung beschränken, um genau dadurch den Vernunftgebrauch allgemein über die Grenzen der möglichen Erfahrung hinweg erweitern zu können, nämlich durch die Ermöglichung des praktisch-moralischen Gebrauchs der Vernunft. Die Beschäftigung Vaihingers mit dem im Prozess der KrV strittigen Gegenstand scheint in diesem Zusammenhang sehr begrenzt zu sein. Anstatt die bloßen „Rechtsansprüche der Vernunft auf transcendente Erkenntnis“ zu beschränken, müssen bezüglich des Rechtsstreites der KrV auch die übersinnlichen Objekte miteinbezogen werden, wobei die Ansprüche des Metaphysikers auf die spekulative Erkenntnis des Übersinnlichen sowie die Ansprüche der Skeptiker und der Empiristen auf alle Erweiterung, sei es spekulative oder praktischmoralische, des Vernunftgebrauches über die Grenzen der Erfahrung zurückgewiesen werden. Das Verständnis des Hauptzwecks des Gerichtshofs der KrV, als die Gewährleistung seitens der Vernunft von ihrer negativen und positiven Gesetzgebung, setzt aber eine Beschränkung der juristischen Metapher in dem kritischen Geschäft auf eine methodologische, nicht „ontologische“ Funktion im Sinne einer durch den Perspektivismus oder Fiktionalismus erläuterten „gemeinsamen und identischen Wurzel […] von Erkenntnisvernunft und Rechtsvernunft“178 voraus. Die erläuterte Rolle der juristischen Metapher in der KrV wird paradoxerweise mit dieser Einschränkung erweitert. Sie verdeutlicht ein methodologisches 175 176 177 178

Ebd. Ebd., S. 114. Vaihinger zieht fast alle Stellen heran, bei denen Kant in der KrV juristische Bilder verwendet. Ebd., S. 107–114. Vgl. Kaulbach, F.: Studien zur späten Rechtsphilosophie Kants und ihrer transzendentalen Methode, a. a. O., S. 112.

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Modell der Prüfung von Ansprüchen, weist auf die Ablehnung von der mathematischen Methode hin und ermöglicht die historische Einordung der KrV in ein stark durch rechtlich-politische Diskussionen geprägtes Umfeld. Man stellt somit die Rolle der juristischen Metapher als heuristisches Mittel und Grundlage historischer Verankerung heraus. 1.3

Kant und die Metaphern. Die Grenzen der ästhetischen Vorstellungsart oder die Grenzbestimmung von Philosophie und Literatur

Es wurde bereits auf die Interpretation der juristischen Metaphorik der KrV hingewiesen. Eine wichtige Frage muss aber noch gestellt und beantwortet werden: Wie ist Kants Metapherngebrauch zu verstehen und zu deuten? Zur Beantwortung dieser Frage ist vorher noch eine grundlegendere Frage zu formulieren: Wie hat Kant selbst den Gehalt und Umfang des Metapherngebrauchs in seiner Philosophie konzipiert? Im Gegensatz zur bisherigen Deutung scheinen die Metaphern bei Kant ein derart wesentliches Merkmal seiner Philosophie zu sein, dass es wohl berechtigt ist zu behaupten, Kant sei ein „Metaphoriker“ statt eines „Metaphysikers“. Dies ist bekanntlich die Interpretation Vaihingers.179 Einige Stellen der Kritik der Urteilskraft weisen jedoch darauf hin, dass für Kant die Versinnlichung von Begriffen durch Analogien und Metaphern erfolgen muss. Dies sei die Bedingung der Belebung des Gemüts und des „Vorstellens des Unvorstellbaren“, nämlich der analogischen Versinnlichung der Ideen der Vernunft und der übersinnlichen Gegenstände.180 Daraus folgt, dass die Metaphern eine bestimmte systematische Rolle für Kant besitzen. Die Grundlage dazu findet sich eindeutiger in der Hypotyposis-Lehre im § 59 der KU. Es wird hierbei die ausdrückliche Stellung des „Problems der Sprache“ bei Kant genannt,181 nämlich durch die 179

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Vaihinger, H.: „Kant als Metaphysiker?“. In: Kant-Studien 7, 1902. Dieser Aufsatz von Vaihinger wurde 20 Jahre nach seinem Kommentar und 10 Jahre vor Die Philosophie des Als Ob, wo die Idee eines „metaphorischen“ Kants nicht weiter entwickelt wird, veröffentlicht. F. Marty folgt der Grundidee Vaihingers und deutet das „metaphysische Projekt“ Kants als ein metaphorisch-analogisches Projekt, wobei Kant das Übersinnliche durch Analogien in die Sinnlichkeit projiziere. Das Neue der KU sei in diesem Zusammenhang nicht so sehr die schon in der KrV angedeutete Fragestellung der Zweckmäßigkeit, sondern vielmehr das Zusammentreffen von „deux nouvelles formes de la manifestation de la raison dans le sensible – et nous savons que c’est ainsi que s’ouvre un nouvel espace critique – celle du jugement esthétique, celle de la connaissance du vivant comme être organisé“. Das Gemeinsame beider Urteilsformen sei dann die „manifestation de la raison, faculté des principes, de l’inconditionné, au niveau même de l’expérience sensible“. Marty, F.: La naissance de la métaphysique chez Kant : une étude sur la notion kantienne d’analogie. Paris: Beauchesne, 1997, S. 313ff. „Man kann dergleichen Vorstellungen der Einbildungskraft Ideen nennen: eines Theils darum, weil sie zu etwas über die Erfahrungsgrenze hinaus Liegendem wenigstens streben und so einer Darstellung der Vernunftbegriffe (der intellectuellen Ideen) nahe zu kommen suchen, welches ihnen den Anschein einer objectiven Realität giebt; andrerseits und zwar hauptsächlich, weil ihnen als innern Anschauungen kein Begriff völlig adäquat sein kann. Der Dichter wagt es, Vernunftideen von unsichtbaren Wesen, das Reich der Seligen, das Höllenreich, die Ewigkeit, die Schöpfung u.d.gl., zu versinnlichen“. KU AA 05: 314. Vgl. auch V-Lo/Dohna AA 24: S. 698–99. Vgl. Santos, L. R.: Metáforas da Razão, a. a. O., S. 81f.

Erweiterung der kritischen Funktion des Schemas bis zur symbolischen Darstellung des Übersinnlichen und hiermit der Gegenstände der reinen Vernunft und der Metaphysik. Es gibt zwei Arten von Hypotyposen, das heißt von Darstellung oder Versinnlichung, nämlich die schematische und die symbolische. Der Schematismus, durch den „einem Begriffe, den der Verstand faßt, die correspondirende Anschauung a priori gegeben wird“ (KU AA 05: 351), wurde in der KrV erläutert; in der Kritik der Urteilskraft konzentriert sich Kant auf die andere Art von Hypotypose, das Symbol. In der die symbolische Vorstellungsart betreffenden Leistung des reflektierenden Urteils gibt es ein „doppeltes Geschäft“ der Urteilskraft; diese brauche „erstlich den Begriff auf den Gegenstand einer sinnlichen Anschauung und dann zweitens die bloße Regel der Reflexion über jene Anschauung auf einen ganz andern Gegenstand, von dem der erstere nur das Symbol ist, anzuwenden“ (KU AA 05: 352). Es handelt sich dabei um „indirecte Darstellungen nach einer Analogie“, durch die der „Ausdruck“ nicht ein für den Begriff geeignetes Schema, sondern ein „Symbol für die Reflexion“ erhält. In einem Symbol bzw. in der durch eine Analogie herausgestellten indirekten Darstellung erfolgt eine „Übertragung der Reflexion über einen Gegenstand der Anschauung auf einen ganz andern Begriff, dem vielleicht nie eine Anschauung direct correspondiren kann“ (KU AA 05: 352f.). Aus einer solchen Übertragung der Regel der Reflexion auf einen Begriff, dem ein sinnlicher Gegenstand nie direkt korrespondieren würde, folgen analogische bzw. metaphorische Vorstellungen, wie der Anthropomorphismus (KU AA 05: 353; vgl. Prol AA 04: 357). Viele Interpreten ziehen daraus aber extreme Schlussfolgerungen. Man würde zu einer „Metaphorisierung“ der ganzen Philosophie Kants kommen, wenn die Wirkung des oben beschriebenen Verfahrens sich auf alle abstrakten Begriffen erstreckte, d.i. auf diejenigen Begriffe, deren Hypotypose nur symbolisch sein kann.182 Alle Grundbegriffe der kritischen Philosophie, die keinem Gegenstand in der Anschauung korrespondieren, sollten mit Bildern versinnlicht werden, die aus verschiedenen Erfahrungsbereichen entlehnt wurden. Zu diesen Begriffen würden auch diejenigen gehören, zu deren Versinnlichung es notwendig sei, sich auf andere Wissenschaften zu beziehen, die irgendeinen „sensiblen Anhaltspunkt“ haben, wie die Chemie, Geographie und besonders die Rechtswissenschaft. Die Grundbegriffe und auch die „strukturierenden Metaphern“ der kritischen Philosophie seien dann Symbole oder bloße „Fiktionen“, die Kant verwendet hätte, um seine Zwecke indirekt zu erreichen.183 Wenn dem 182

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Als Beispiele der Symbolisierung von abstrakten Begriffen nennt Kant die Wörter Grund und Substanz: „Unsere Sprache ist voll von dergleichen indirecten Darstellungen nach einer Analogie, wodurch der Ausdruck nicht das eigentliche Schema für den Begriff, sondern bloß ein Symbol für die Reflexion enthält. So sind die Wörter Grund (Stütze, Basis), abhängen (von oben gehalten werden), woraus fließen (statt folgen), Substanz (wie Locke sich ausdrückt: der Träger der Accidenten) und unzählige andere nicht schematische, sondern symbolische Hypotyposen“ (KU AA 05: 352). Für Vaihinger gibt es eine „fiktive Tätigkeit der logischen Funktion, [und] die Produkte dieser Tätigkeit sind die Fiktionen. Wir behandeln die Kunstbegriffe des Denkens, die Art, wie dieses sich behilft, um sein Ziel indirekt zu erreichen – wir behandeln die Hilfsbegriffe und Hilfsoperationen des Denkens“. Vaihinger, H.: Philosophie des Als-Ob, a. a. O., S. 18. Die Grundbegriffe der kantischen Philosophie, die theoretischen und praktischen Ideen (ebd., S. 628) sowie die Kategorien, der Raum und die Zeit, seien Fiktionen, sofern man

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so ist, würde dann das gelten, was Herder über die KrV geschrieben hat: „durch sie ward die Philosophie, was sie nie gewesen war und nie seyn sollte, Phantasie, d.i. schlechte Poesie, Abstraktionendichtung“?184 Man weiß nun, dass Kant seine Philosophie nicht als „schlechte Poesie“ verstand. Bezüglich der Nivellierung des philosophischen Diskurses mit dem metaphorischen und damit dem literarischen wurde schon viel argumentiert.185 Kant selber wendet sich explizit gegen das Gleichsetzen von Philosophie und Literatur und verweist auf eine Grenzbestimmung zwischen Philosophie und Dichtung.186 Dies wird in den Rezensionen über die Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit von Herder deutlich. Mit seiner zu sehr poetischen Sprache habe dieser eine „specifische Denkungsart“ produziert, „wodurch sie von denjenigen, dadurch sich andere Seelen nähren und wachsen, merklich unterschieden und der Mittheilung weniger fähig werden“; in den Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit von Herder fehle tatsächlich „etwa eine logische Pünktlichkeit in Bestimmung der Begriffe, oder sorgfältige Unterscheidung und Bewährung der Grundsätze“, stattdessen komme zur Geltung ein sich nicht lange verweilender, viel umfassender Blick, eine in Auffindung von Analogien fertige Sagacität, im Gebrauche derselben aber kühne Einbildungskraft, verbunden mit der Geschicklichkeit, für seinen immer in dunkeler Ferne gehaltenen Gegenstand durch Gefühle und Emp-

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sie als „Hilfsvorstellungen, deren sich das ‘Gemüt’ bedient, um das Empfindungsmaterial systematisch zu verarbeiten“, auffasse (ebd., S. 619). Es ist darauf hinzuweisen, dass nur ein bestimmter Gebrauch des Fiktionalismus-Prinzips es auf den bloß literarischen bzw. bildlichen Aspekt solcher Fiktionen reduziert. Vaihinger zufolge haben die Fiktionen und insbesondere die Notwendigkeit sie zu „erfinden“, eine physische bzw. biologische Grundlage als Formen der Adaptation des Organismus an äußere Bedingungen zwecks seiner Selbsterhaltung – in diesem Sinne sei sogar das menschliche Denken eine organische Funktion fiktionaler Art. Herder, J. G.: Kalligone. In: Sämmtliche Werke zur Philosophie und Geschichte. Bd. 15. Stuttgart und Tübingen. 1819, S. viii. Genannt sei beispielsweise die Polemik von Habermas gegen Derrida. Habermas kritisiert Derrida und seine „Nivellierung“ von Philosophie, indem er sich an Jakobson anlehnt und behauptet, dass in bestimmten Fällen der alltäglichen Kommunikation die übermäßige Betonung der poetischen bzw. fiktionalen Seite der Sprache dazu führe, ihre kommunikative Funktion zu unterlaufen. „Die sprachliche Funktion der Welterschließung [die zur poetischen Sprache gehört – D.K.T.] gewinnt gegenüber der expressiven, regulativen, informativen Sprachfunktion keine Selbständigkeit“. Habermas, J.: Der philosophische Diskurs der Moderne. Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 1996, S. 238. Es solle stattdessen eine Selbständigkeit der „Poesie“ einerseits und der „Philosophie“ gemäß ihrer „Problemlösungskapazitäten“ und „Brückenfunktion“ zwischen Wissensbereichen (ebd., S. 240–247) stattfinden. Obwohl die Philosophie und die Poesie Ähnlichkeiten haben, gehe es dabei um eine beschränkte Verwandtschaft, „denn die rhetorischen Mittel in beiden Unternehmungen der Disziplin [werden] einer jeweils anderen Argumentationsform untergeordnet“ (ebd., S. 245f.). „Wie Kant darauf besteht, ‚dass die Grenzen der Wissenschaft nicht ineinanderlaufen, sondern ihre gehörig abgeteilten Felder einnehmen‘, wie er es nicht ‚für Vermehrung, sondern für Verunstaltung der Wissenschaften‘ hält, ‚wenn man ihre Grenzen ineinander laufen‘ lasse, so betrachtet er es als eine ihm durch die Ziele der Vernunftkritik auferlegte Pflicht, die Philosophie auch ihrerseits aufs strengste von der Poesie abzusondern“. Rosikat, K. A.: Kants Kritik der reinen Vernunft und seine Stellung zur Poesie. Königsberg, 1901, S. 15.

findungen einzunehmen, die als Wirkungen von einem großen Gehalte der Gedanken, oder als vielbedeutende Winke mehr von sich vermuthen lassen, als kalte Beurtheilung wohl gerade zu in denselben antreffen würde (RezHerder AA 08: 45).

Die hier besprochene Opposition zwischen „logischer Pünktlichkeit“ und „in Auffindung von Analogien fertiger Sagacität“ bringt den in der Vorrede A der KrV strategisch gemachten Unterschied zwischen diskursiver Deutlichkeit und intuitiver Deutlichkeit, das heißt zwischen „discursive[r] (logische[r]) Deutlichkeit durch Begriffe, dann aber auch eine[r] intuitive[n] (ästhetische[n]) Deutlichkeit durch Anschauungen, d.i. Beispiele oder andere Erläuterungen in concreto“ (A xvii-iii), in Erinnerung. Die erste tendiert zu einer logischen, dogmatischen, scholastischen Vorstellungsart, nach Art von Wolffs „Geist der Gründlichkeit“187, und die zweite zu einer ästhetischen, galanten, populären Vorstellungsart, nach der Art von Hume und Rousseau und ihrer ästhetischen Schönheit bei der Darstellung philosophischer Dinge.188 Die Schwierigkeit, eine zugleich galante und rigorose Darstellung zu erreichen, erfordert, dass man die logische Deutlichkeit, das heißt die scholastische Gründlichkeit des Dargestellten, der ästhetischen Deutlichkeit, also dem poetischen Überschwang, vorzieht. Dies sei, so Kant, Herders Fehler bei seinen Ideen gewesen. Die Darstellung von Herder verwechselt und blendet oft die Grenzen und „Besitzungen“ der „philosophischen“ und „poetischen Sprache“ aus, was zu einer Blockade des Denkens führt. Es gehört auch hier nicht zu unsrer Absicht, so manche schöne Stellen voll dichterischer Beredsamkeit auszuheben oder zu zergliedern, die jedem Leser von Empfindung sich selbst anpreisen werden. Aber eben so wenig wollen wir hier untersuchen, ob nicht der poetische Geist, der den Ausdruck belebt, auch zuweilen in die Philosophie des Verfassers eingedrungen; ob nicht hier und da Synonyme für Erklärungen und Allegorien für Wahrheiten gelten; ob nicht statt nachbarlicher Übergänge aus dem Gebiete der philosophischen in den Bezirk der poetischen Sprache zuweilen die Grenzen und Besitzungen von beiden völlig verrückt seien; und ob an manchen Orten das Gewebe von kühnen Metaphern, poetischen Bildern, mythologischen Anspielungen nicht eher dazu diene, den Körper der Gedanken wie unter einer Vertugade zu verstecken, als ihn

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Kant lobt Wolff, weil er der „Urheber des Geistes der Gründlichkeit in Deutschland“ gewesen sei, nämlich die nach „gesetzmäßiger Feststellung der Principien, deutlicher Bestimmung der Begriffe, versuchter Strenge der Beweise, Verhütung kühner Sprünge in Folgerungen“ durchgeführte Methode (B xxxvi). Kant schreibt über Rousseau: „Ich muß den Rousseau so lange lesen bis mich die Schönheit der Ausdruke gar nicht mehr stöhrt u. dann kann ich allererst ihn mit Vernunft untersuchen“ (Bemerkungen AA 20: 30). Über Hume: „Aber wo ist der Schriftsteller, der die Geschichte und die trokensten philosophischen Gegenstände mit Verstand und tiefer einsicht doch so schön abhandelt als hume?“ (Rx 1355 AA 15: 592). „Wenn ich auch wie Hume alle Verschönerung in meiner Gewalt hatte, so würde ich doch Bedenken tragen, mich ihrer zu bedienen. Es ist wahr, daß einige Leser durch Trokenheit abgeschrekt werden. Aber ist es nicht nöthig, einige abzuschreken, bey denen die sache in schlechte Hände kommt?“ (Rx 5040 AA 18: 70). In den Prolegomena zählt Kant Moses Mendelssohn zu der Reihe von Schriftstellen, die zugleich „elegant und gründlich“ seien (Prol AA 04: 262).

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wie unter einem durchscheinenden Gewande angenehm hervorschimmern zu lassen (RezHerder AA 08: 60).

Kant moniert hier ausdrücklich nur das Übermaß von Metaphern und die Exzesse einer allzu bildlichen Sprache, die lieber mit Symbolen und Analogien das ausdrückt, was mit „logischen“, einer bestimmten Sprache vorhandenen Begriffen ausgedrückt werden kann. Kants Vorwurf dürfte nicht gegen jeden Gebrauch von Metaphern gelten – Kant verwendet hier eine Metapher („den Körper der Gedanken wie unter einer Vertugade zu verstecken“), um gegen die Verwendung von Metaphern zu argumentieren! –, sondern nur gegen jenen überflüssigen, bzw. untunlichen. Auch sein Vorwurf hinsichtlich der Einführung von neuen Wörtern in der philosophischen Terminologie wird nur gegen diejenigen Begriffe gerichtet, die ohne Not, nämlich zum Ersatz von schon vorhandenen Begriffen eingeführt werden.189 Im Hintergrund des Vorwurfs Kants gegen die poetische Träumerei von Herder liegt jedoch eine grundlegendere Überlegung über die Grenzen und Möglichkeiten der poetischen bzw. ästhetischen Mittel in der philosophischen Darstellung. Der Hintergrund dieser Streitigkeit ist der schon erwähnte Unterschied zwischen Gründlichkeit und Popularität bzw. logisch-diskursiver und ästhetisch-intuitiver Deutlichkeit der Erkenntnis.190 Kant nimmt dieses Thema wieder in der Schrift Von einem neuerdings erhobenen vornehmen Ton in der Philosophie (1796) auf, in der er erklärt, worin die „Gefahr“ einer allzu ästhetischen und poetischen Sprache liegt. Bezüglich der begrifflichen Gründlichkeit und literarischen Schönheit muss der Philosoph sich für das kleinste Risiko entscheiden, nämlich lieber dogmatisch zu klingen und damit den Leser „einzuschüchtern“ als „durchs Gefühl zu philosophieren“ (VAVT AA 08: 401) und damit gegen den 189

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Rosikat bemerkt, dass Kant „an dem philosophierenden Herder keineswegs die Metaphern und Bilder an sich tadelt, sondern nur deren Missbrauch“ (Rosikat, K. A.: Kants Kritik der reinen Vernunft und seine Stellung zur Poesie, a. a. O., S. 22). Man kann hinzufügen, dass Kant ebenso wenig die transzendentalen Ideen, sondern nur ihren Missbraucht ablehnt. Siehe unter Kap. 11. Der Ursprung dieses Unterschiedes, der auch der Einteilung der Transzendentalen Elementarlehre in eine Transzendentale Ästhetik und eine Transzendentale Logik zugrunde liegt, ist bekanntlich Baumgarten und seine „Rehabilitation“ der sinnlichen Erkenntnis als einer ästhetisch-intuitiven Erkenntnis in der Aesthetica: „Aesthetices finis est perfectio cognitionis sensitivae, qua talis. Haec autem est pulchritudo“. Baumgarten, A. G.: Ästhetik. Lateinisch-deutsch. Hamburg: Felix Meiner, 2007, § 14. Daraus folgt die bei Leibniz und im orthodoxen Wolffianismus undenkbare Idee einer ästhetischen Erkenntnis, die sich als „anschauliche Vollkommenheit“ von der logisch-diskursiven Vollkommenheit radikal unterscheidet. Kant vertritt diese Idee schon in der Dissertatio, in der er anschauliche und intellektuelle Vorstellungen nach ihrem Ursprung und nicht nach ihrer Deutlichkeit unterscheidet (MSI, AA 02: 39f.). Kant weist auf einen Schlag den rationalistischen Grundgedanken über die Erkenntnisgrade und das logische Kriterium der Deutlichkeit oder Undeutlichkeit zur Bestimmung jeder (sinnlichen oder intellektuellen) Vorstellung zurück und ermöglicht eine „transzendentale Ästhetik“ als „reine Wissenschaft der Sinnlichkeit“ und den Begriff einer „ästhetischen Vollkommenheit der Erkenntnis“. Vgl. dazu Tedesco, S.: „A. G. Baumgartens Ästhetik im Kontext der Aufklärung: Metaphysik, Rhetorik, Anthropologie“. In: Aufklärung 20, 2008, S. 5–18. Ders.: L’estetica di Baumgarten. Centro Internazionale Studi di Estetica. Palermo, 2000, S. 11–16; 80–83. Trevisan, D. K.: „Estética como ‚ciência do sensível‘ em Baumgarten e Kant”. In: ArteFilosofia, 17, 2014, S. 170–181.

kommunikativen Zweck der Philosophie als Vernunfterkenntnis durch Begriffe zu handeln. Die Mitteilbarkeit der Erkenntnis, die in einer allzu poetischen und bildlichen Sprache Gefahr läuft, muss den Philosophen dazu antreiben, die begriffliche und vielleicht trockene Verständlichkeit des Diskurses den Exzessen einer allzu imaginativen und poetischen Sprache vorzuzuziehen. Die „ästhetische Vorstellungsart“ soll, so Kant, erst dann verwendet werden, wenn durch erstere [die „logische Lehrart“ – D. K. T.] die Principien schon ins Reine gebracht worden, bedienen kann, um durch sinnliche, obzwar nur analogische, Darstellung jene Ideen zu beleben, doch immer mit einiger Gefahr in schwärmerische Vision zu gerathen, die der Tod aller Philosophie ist (VAVT AA 08: 405).

Je größer die poetische Freiheit, umso größer ist auch die Gefahr der Schwärmerei, das ist, ein Übersprung (salto mortale) von Begriffen zum Undenkbaren, ein Vermögen der Ergreifung dessen, was kein Begriff erreicht, eine Erwartung von Geheimnissen, oder vielmehr Hinhaltung mit solchen, eigentlich aber Verstimmung der Köpfe zur Schwärmerei liege. (VAVT AA 08: 398)

Die Gefahr, in eine „göttliche […] Sprache des Eingeweihten“ 191 hineingezogen zu werden und damit „alle Philosophie zu töten“, ist von Kant mit merkwürdigen juristisch-politischen Begriffen beschrieben. In der Philosophie ist das Ergebnis einer allzu poetischen und imaginativen Sprache „die Stimme der Vernunft (dictamen rationis), die zu Jedermann deutlich spricht und einer wissenschaftlichen Erkenntniß fähig ist“ (VAVT AA 08: 402), zum Verstummen zu bringen statt sie besser und schöner klingen zu lassen. Derjenige Philosoph, der einen „vornehmlichen Ton“ (vielleicht einen „Jargon der Eigentlichkeit“) annimmt, weil er vergeblich wartet, eine „höchste Wahrheit“ zu erreichen, bringt hiermit die Stimme der Vernunft zum Schweigen und spricht in dem „Tone eines Gebieters […], der der Beschwerde überhoben ist den Titel seines Besitzes zu beweisen (beati possidentes)“ (VAVT AA 08: 395). Wenn er so handelt, nimmt er der Philosophie die Vernünftigkeit als eine Eigenschaft von Eingeweihten und nimmt die Philosophie als ein gewissermaßen Sektenwissen, wie bei den Pythagoreern, und nicht als ein „öffentliches Geschäft“, an dem alle Menschen teilhaben. Die Vernunft wird dann ein nicht mittelbarer und ungerechtfertigtes factum. Die KrV als die Errichtung des Gerichtshofes der Vernunft muss aber fähig sein, alle vernunftbegabten Wesen zu erreichen. Die „ursprünglichen Rechte 191

In einem Brief an Hamann (06.04.1774) bittet Kant ihn darum, dass er sich „in der Sprache der Menschen“ ausdrückt. „Wenn Sie werther Freund meinen Begriff, von der Hauptabsicht des Verfassers, worinn zu verbessern finden, so bitte mir Ihre Meinung in einigen Zeilen aus; aber wo möglich in der Sprache der Menschen. Denn ich armer Erdensohn bin zu der Göttersprache der Anschauenden Vernunft garnicht organisirt. Was man mir aus den gemeinen Begriffen nach logischer Regel vorbuchstabiren kan, das erreiche ich noch wohl. Auch verlange ich nichts weiter als das thema des Verfassers zu verstehen, denn es in seiner gantzen Würde mit Evidentz zu erkennen ist nicht eine Sache worauf ich Anspruch mache“ (AA 10: 156).

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der menschlichen Vernunft […] [erkennen] keinen anderen Richter, als selbst wiederum die allgemeine Menschenvernunft, worin ein jeder seine Stimme hat“ (A 752/B 780). Eine vornehmlich logische, nicht ästhetische Sprache ist dann die Voraussetzung zur unbegrenzten Mittelbarkeit der Erkenntnis. Erst nachdem die „logischen“ Grundlagen des kritischen Gebäudes festgelegt sind, kann man nach der Popularität durch eine eher „attraktive“ Sprache streben und sie mit Glück erreichen.192 Es lässt sich noch eine Stelle in Betracht ziehen, in der Kant eine zunächst literarische Gestaltung einer Kritik der reinen Vernunft wegen ihrer Natur selber, als einer „ganz neuen“ Wissenschaft, zurückweist. In der zur Zeit der Niederschrift der KrV gehörenden Reflexion 5106 schreibt Kant, dass die „Produkte der reinen Vernunft“ sich nicht literarisch, das heißt durch bloße Gelehrsamkeit beurteilen lassen. Wer die reine Vernunft aus Gelehrsamkeit her beurteilen will, der muss sich selbst zuerst der Kritik unterwerfen. Wenn er sich dazu verweigert, unternimmt der „durchs Gefühl“ oder „durch Gelehrsamkeit philosophierende“ Denker eine „idiotische Kritik“, er wird damit Philodox statt Philosoph. Ein ieder, der die producte der reinen Vernunft literarisch, d.i. durch Belesenheit beurtheilen will, unternimmt vergebliche Arbeit. Er kan sich dadurch mit Gegenständen der Beurtheilung versehen. Allein, weil er seinen eignen Verstand nicht einer Critik unterworfen hat, so ist seine Critik doch immer idiotisch und nicht philosophisch. Sie bedient sich solcher Grundsatze, deren Prüfung eigentlich der Zwek ist. Philodox anstatt philosoph. (Rx 5106 AA 18: 89 (1776)).

Der Anspruch, die Produkte der reinen Vernunft literarisch darzustellen, oder der „Vorschlag jetzt wiederum poetisch zu philosophieren möchte wohl so aufgenommen werden, als der für den Kaufmann: seine Handelsbücher künftig nicht in Prosa, sondern in Versen zu schreiben“ (VAVT AA 08: 406). Die Gefahr aber, die Grenzbestimmung von Philosophie und Poesie auszublenden, ist noch größer als bloß ‚idiotisch‘ oder kontraproduktiv zu sein. Kant stellt den Philodox mit einem dogmatischen Philosophen gleich, der seine Vernunft nicht der Kritik unterwirft (FM AA 20: 329). Er definiert darüber hinaus die Philodoxie als „die cultur und instruction aller talente, d.i. die angemessenheit der Erkentnisse mit allerley Zweken“ (Rx 4970 AA 18: 44 (1778)), das heißt als eine pragmatische Wissenschaft. Die Philosophie im Gegenteil ist „die Wissenschaft der Angemessenheit aller Erkenntnisse mit der Bestimmung des Menschen“ (ebd.). Es geht dabei um die auch in der KrV vorzufindende Gegenüberstellung

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Im dem oben zitierten Brief an Garve stellt Kant sein Desiderat nach einem zugleich populären und gründlichen Werk dar, wofür er schon ein „Plan“ hatte: „Wenn ich es nur dahin bringen kann, daß man im schulgerechten Begriffe, mitten unter barbarischen Ausdrücken, mit mir eine Strecke fortgewandert wäre, so wollte ich es schon selbst unternehmen (andere aber werden hierin schon glücklicher seyn) einen populären und doch gründlichen Begriff, dazu ich den Plan schon bey mir führe, vom Ganzen zu entwerfen; vor der Hand wollen wir Dunse (doctores umbratici) heissen, wenn wir nur die Einsicht weiter bringen können, an deren Bearbeitung freylich der geschmaksvollere Theil des Publici keinen Antheil nehmen wird, ausser bis sie aus ihrer dunkelen Werkstatt wird heraus treten und mit aller Politur versehen auch das Urtheil des letzteren nicht wird scheuen dürfen“ (AA 10: 339–340).

zwischen dem Philodoxen als einem bloßen „Techniker“ der Vernunft und dem Philosophen als dem Gesetzgeber der Vernunft (A 839/B 867). Wenn man dann die Metaphern bei Kant überbewertet, übersieht man diesen Zusammenhang. Kants Philosophie ist eine Philosophie für die Welt und keine Poesie für Eingeweihte; der wahre Philosoph ist der Gesetzgeber, nicht Despot der Vernunft 1.4

Wie sind die Metaphern bei Kant zu interpretieren?

Es stellt sich also die Frage, wie man die Metaphern bei Kant interpretieren und gleichzeitig die Grenzbestimmung von Philosophie und Dichtung beachten kann? In der Sekundärliteratur findet man grundsätzlich vier mögliche Antworten auf diese Frage:193 B) Die Metapher als heuristisches Mittel zur Formulierung und Lösung von philosophisch-begrifflichen Problemen; C) Die Metapher als Mittel zur Rekonstruktion der Kontroversen in öffentlichen Debatten; D) Die Metapher als (Vor-)Geschichte des Begriffes und Übergang von der Unzur Begrifflichkeit, das heißt die Metapher als Metaphorologie. Bevor auf diese möglichen Ansätze eingegangen wird und damit meine eigenen skizziert werden, wird zuerst diejenige Interpretation näher betrachtet, die u.E. jene Grenzbestimmung nicht beachtet, nämlich A) die Metapher als Übergang zwischen Sinnlichem und Übersinnlichem. 1.4.1

Die Metapher als Übergang zwischen Sinnlichem und Übersinnlichem; Vermittlung zwischen „Buchstabe“ und „Geist“, Stil und Schreiben – Leonel dos Santos

Ein Ansatz denkt die Idee der Metapher als bloß heuristisches Mittel in einer tiefgreifenden „metaphysischen“ Funktion zu Ende: Die Metapher soll zwischen Sinnlichem und Übersinnlichem, anschaulichem und diskursivem Ausdruck vermitteln. Leonel dos Santos zufolge ist die Sprache eines Philosophen dadurch geprägt, wie er „a forma sensível“ etabliert, die „se adequa à forma inteligível, que exprime a legalidade própria desta, a potencia e inspira, a torna histórica e culturalmente significativa e fecunda […]. Em rigor, só as filosofias dogmáticas, que acreditassem ter acesso à essência real ou ideal das coisas, poderiam dispensar-se do uso de imagens e metáforas“.194 Daraus folgt, dass der Metapherngebrauch der Philosophie nicht nur eigen, sondern sogar unausweichlich ist. Dies beruht auf der metaphysischen Grundlage, worauf sie sich notwendig stützt. Leonel dos Santos lehnt sich an die bekannte Idee Heideggers an, wonach es „das Metaphorische nur innerhalb der Metaphysik [gibt]“.195 Dass Hei193 194 195

Für einen ausführlicheren Forschungsstand der Metaphern bei Kant vgl. Santos, L. R.: Metáforas da Razão, a. a. O., S. 55–90. Ebd., S. 33. „Weil unser Hören und Sehen niemals ein bloß sinnliches Aufnehmen ist, deshalb bleibt es auch ungemäß zu behaupten, das Denken als Er-Hören und Er-blicken sei nur als Übertragung gemeint, nämlich als Übertragung des vermeintlich Sinnlichen in das Nichtsinnliche. Die Vorstellung von ‚übertragen‘ und von der Metapher beruht auf der Unterscheidung, wenn nicht gar Trennung des Sinnlichen und Nichtsinnlichen als zweier für sich bestehender Bereiche. Die Aufstellung dieser Scheidung des Sinnlichen und Nichtsinnlichen, des Physischen und des Nichtphysischen ist ein Grundzug dessen, was Metaphysik heißt und das abendländische Denken maßgebend bestimmt. Mit der Einsicht, daß

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degger diesem Ansatz zugrunde liegt, belegen viele Stellen des Buches von Leonel dos Santos.196 Als Grundzug der Metaphysik und des „Wesens der Sprache“ weist Leonel dos Santos der Metapher somit folgendes zu: „conjunto de funções múltiplas de natureza expositiva, didática, ilustrativa, apologética, crítica, heurística e hermenêutica, havendo mesmo metáforas que, pela sua pregnância, se revelam investidas de um caráter configurador e fundamentador das próprias teorias científicas ou filosóficas, constituindo-se como paradigmas ou arquimodelos de teorias e explicações racionais“.197 Die Metaphern enthüllen daher Sinnhorizonte, die vor ihrer begrifflichen Konsolidierung verborgen bleiben.198 Im eigentlichen Sinne von einer „Seinsenthüllung“ befriedigen die Sprache und die damit enthaltenen Metaphern den Bedarf des abendländischen Denkens nach einer „Übertragung des vermeintlich Sinnlichen in das Nichtsinnliche“, einem Übergang zwischen Anschaulichem und Vernünftigem. Es wird jedoch erkennbar, dass die Heidegger’sche Grundlage für die Untersuchung von Leonel dos Santos überflüssig und irreführend ist.199 Auf der Grundlage einer solchen Überbewertung der Rolle der Metaphern muss man sich nach den genauen Grenzen zwischen Philosophie und Literatur bzw. Poesie fragen. Wenn die Metapher eine derartige Rolle als Vermittlerin zwischen Vernunft und Sinnlichkeit in der Philosophie bzw. „Metaphysik“ hat, worin würde dann der Unterschied zwischen ihr und der Poesie liegen? Die Grenzbestimmung zwischen Philosophie und Literatur bzw. philosophischem und literarischem Diskurs wird somit ausgeblendet. 1.4.2 Die Metapher als heuristisches Mittel zur Problemauflösung – Suzuki, Oesterreich und Eucken Einem anderen Interpretationsansatz zufolge, nämlich dem von M. Suzuki, P. Oesterreich und R. Eucken, weist der Metapherngebrauch Kants lediglich auf eine „heuristische Methode“ hin, die darin bestehe, Verfahren und Themen anderer Wissenschaften bzw. Lehren zu entlehnen, damit Kant seine eigene Philosophie besser etablieren kann.200 Suzuki zufolge würde er dies deutlicher an den „bildlichen“ und „symbolischen Vorstellungen“ zeigen. Diese erweisen sich als „Quasi-Schemata“, d.i. heuristische Mittel, die dazu dienen, nicht so sehr einen Begriff indirekt darzustellen, als vielmehr ein „Projekt auszuführen“. Was damit gemeint ist, ist die Art und Weise, wie bestimmte Begriffe heuristisch (d.i. erfin-

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die genannte Unterscheidung des Sinnlichen und Nichtsinnlichen unzureichend bleibt, verliert die Metaphysik den Rang der maßgebenden Denkweise“. Heidegger, M.: Der Satz vom Grund. Frankfurt a. M.: Klostermann, 1997, S. 71–2. Vgl. Santos, L. R.: Metáforas da Razão, a. a. O., S. 19. Ebd., S. 39. Die Metaphern „definem o horizonte das significações, antes que a razão, de forma consciente e metódica, chegue a instituí-las e fixá-las, conferindo-lhes, ou tentando conferir-lhes, validade universal“. Ebd., S. 40. Vgl. Ricœur, P.: La Métaphore vive. Paris: Seuil, 1975, S. 434ff; 475ff. Suzuki, M.: „A palavra como invenção. Heurística e linguagem em Kant“. In: Studia Kantiana, 6/7, 2008, S. 29–61.

derisch) in das System Eingang finden und hiermit zur Auflösung bestimmter philosophischer Probleme „operativ“ eingesetzt werden. Die Hauptfunktion der Metapher für diesen Interpretationsansatz ist dann weder etwas attraktiver und überzeugender auszudrücken noch eine „Übertragung des Sinnlichen auf das Nichtsinnliche“ zu durchführen, sondern „neue Gedanken zu erfinden“.201 Ihre Rolle als ars inveniendi verschafft der Metapher einen bestimmten Vorrang vor dem Begriff. Sie soll nicht bloß der „Ordnung der Begriffe“ folgen, die schon in einem diskursiven Zusammenhang aufgestellt sind, sondern ihre heuristische Rolle ausüben, die „precede a construção lógica mostrando-lhe o caminho“.202 Bei Kant würde die heuristische Rolle der Metapher an der Gerichtsmetapher am deutlichsten gezeigt. Diese sei die „Schlüsselmetapher“, die „sein[en] ganze[n] philosophische[n] Stil bestimmt“203 und die „Problematisierung und die kritische Prüfung aller Geltungsansprüche“ zum Ausdruck bringt. Die Gerichtsmetapher dient zusammenfassend bei Kant als heuristisches Mittel, damit er den Zweck und auch die logisch-diskursive Ordnung seiner ganzen Philosophie bestimmen kann. Von einem zuerst „fremden“ Wissensbereich, nämlich der Rechtswissenschaft, ausgehend und durch eine metaphorisch-heuristische Übertragung konnte Kant die Konturen seiner eigenen kritischen Philosophie besser bestimmen. 1.4.3 Die Metapher als Mittel zur polemischen Verbreitung von Ideen - Pietsch Der dritte Interpretationsansatz, nämlich der von L-H. Pietsch, versucht, durch die von den Beteiligten verwendeten Metaphern, die Kontroversen zu rekonstruieren, die kurz nach dem Erscheinen der KrV entstanden sind.204 Seine Analyse lehnt sich an die historische Kontroversenforschung an und strebt nach der „Durchsetzung der Kantischen Lehre stärker, als das bisher geschehen ist, im historischen Zusammenhang der zeitgenössischen Diskussion zu verankern und sie aus der Eigenperspektive der Zeit heraus als offenen Prozess darzustellen“.205 Zur Rekonstruktion der Kontroversen und damit der Polemik um die Konsolidierung und „Aneignung“ der kritischen Philosophie seitens ihrer Anhänger muss man nicht nur die logischen Argumente, sondern auch die rhetorisch-stilistischen Merkmale, die die Debatte geprägt haben, in Betracht ziehen. Es geht dabei um den Versuch, die „Bausteine zu einer ‚Logik und Rhetorik 201

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„Der primordiale Ort der Metapher im Produktionsprozess philosophischer Texte ist […] nicht die sprachliche Ausdrucksgestaltung (elocutio), sondern die gedankliche Erfindung (inventio)“. Oesterreich, P. L.: „Vom Vernunftgerichtshof zum Weltgericht. Gerichtliche Metaphorik bei Kant und Hegel“. In: Bowman, B. (Hrsg.): Darstellung und Erkenntnis. Paderborn: Mentis Verlag, 2007, S. 45–59. „Während die ornamentalen Metaphern der Disposition der Begriffe nachfolgen, gehen die heuristischen der logischen Konstruktion wegweisend voran […]. Die zur Invention gehörenden Metaphern bilden demnach die heuristische Basis zur analogen Ausbildung der spezifischen Begrifflichkeit philosophischer Rede“. Ebd., S. 45f. Ebd., S. 46. Pietsch, L-H.: Topik der Kritik, a. a. O. Ebd., S. 5.

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agonaler intellektueller Diskurse‘ zu liefern“.206 In diesem Zusammenhang verstehe man, dass der Metapherngebrauch nicht grundlos ist. „Die Metaphernforschung hat die wichtige persuasive und normative Wirkung, die die metaphorische Konzeptualisierung von Themen und Argumenten in öffentlichen Debatten entfaltet, schon lange erkannt“.207 Die öffentlichen Debatten um die Transzendentalphilosophie werden „[h]ier als ein synchroner Diskurszusammenhang aufgefasst, in dem sich kollektive Akteure (in Gestalt philosophischer Parteien) einen Kampf um die öffentliche Durchsetzung ihrer Positionen liefern, der durch das kulturspezifische Inventar topischer Metaphern mitstrukturiert wird“.208 Die Untersuchung von Pietsch ist aufgrund seiner gründlichen und detaillierten Rekonstruktion des historisch-diskursiven Zusammenhanges, in dem die Metaphern von Kant (u.a.) ihre erste Wirkung hatten, von großem Wert. Allerdings, wie der Autor selber betont, verzichtet er darauf, den vorkantischen historischen Hintergrund zu rekonstruieren, der jene Metaphern zuerst ermöglicht und verständlich gemacht hat. Außerdem verzichtet der Autor auch auf eine systematische Untersuchung, die die Rolle der Metaphern in der kantischen Philosophie selber und nicht nur in ihrer unmittelbaren Rezeption erläutert. Der Ansatz Pietschs aber, die Metaphern und Bilder seien wichtig für die Fixierung und Verbreitung einer Lehre bzw. Philosophie in einem bestimmten historischintellektuellen Zusammenhang, ist von Belang für unseren Interpretationsansatz. 1.4.4 Die Metaphorologie des Kritizismus – Marcos Maxiliano Marcos nimmt eine dreifache methodologische Perspektive in seiner Deutung der KrV als Zivilprozess vor, nämlich: 1) sozialpolitische Verankerung, 2) Metaphernanalyse, 3) juristische Praxis.209 Die Untersuchung beruht auf der Verbindung von diesen drei Perspektiven: „la implicación de la ʻhistoria social’ en la ʻhistória do conceito’ (Koselleck), el servicio de la metáfora en la formácion conceptual (Blumenberg) y la génesis juridico-politica de las formas de verdad y de conciencia (Foucault)“.210 Was den eigentlich metaphorischen Aspekt seiner These betrifft, stützt sich Marcos auf Blumenberg und betreibt eine „metaforologia del Criticismo“. Die Metapher erweise sich als die Neubeschreibung eines Bedeutungszusammenhanges, in dem das, was abweichend ist, sich an die Lebenswelt assimiliert und demzufolge als strategisches Mittel zu neuen Sinnstiftungen aufgewiesen würde.211 Nebst der geschichtlichen Behand206 207

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Ebd., S. 6. Ebd., S. 6. Pietsch lehnt sich an Jürgen Link an, demzufolge die metaphorischen, bildlichen Elementen des Diskurses eine große Fähigkeit zur kulturellen Reproduktion und Paraphrasierung haben. Ebd., S. 13. Marcos, M. H. La Critica de Razón Pura como Proceso Civil, a. a. O., S. 3. Ebd., S. 4. Ebd., S. 9. Auf der Perspektive der Metaphorologie deutet M. Sommer, ein Schüler von Blumenberg, die Metaphern bei Kant als die Art, wie die Vernunft „ihrer Vernünftigkeit“ bewusst wird. Die These Sommers lautet, das Prinzip der „Selbsterhaltung“ der Vernunft liege der ganzen kantischen Philosophie zugrunde. Das „Bewusstwerden“ der Vernünftigkeit der Vernunft geschieht durch dieses Prinzip: „Indem die Vernunft Selbsterhaltung zu ihrem Grundsatz macht, sieht sie zugleich ein, was ihre eigene Vernünftigkeit ausmacht“. Das Zusammentreffen von Selbsterkenntnis und Selbsterhaltung der Vernunft sei

lung diene die Metapher zum Zweck des Verkehrs zwischen Begriffen und empirischer Wirklichkeit.212 Blumenberg zufolge seien die Metaphern von ihrer Eigenschaft her zu betrachten, „philosophische Orientierung in metaphysischen Grundfragen zu stiften, in denen die Begriffsbildung noch nicht gefestigt ist oder sich (im Fall der ›absoluten‹ Metapher) als prinzipiell unzulänglich erweist“.213 Die Metaphern haben somit die Funktion, das zur Begrifflichkeit zu bringen, was grundsätzlich unbegrifflich bleibt. Insofern dient die Metaphorologie zur Begriffsgeschichte, als sie die durch Metaphern, d.i. durch die indirekte Darstellung stattgefundene Entstehung von Begriffen darlegt. Dementsprechend nimmt Marcos die Metaphorologie als Hermeneutik historischer Begriffe an.214 Was die juristischen Metaphern betrifft, beansprucht Marcos, dass die Gerichtsmetapher die Einführung einer neuen Methode in die Philosophie verdeutlicht, „dado que o plano carecia de referentes histórico-culturais na tradição metafísica mais recente“.215 In diesem Zusammenhang diente die Rechtswissenschaft dazu, das am besten geeignete Bild zur Versinnlichung des von Kant in die Philosophie genommenen Methodenwechsels bereit zu stellen. Die in der Kabinettsorder vom 14. April 1780 skizzierten Reformvorschläge waren in Preußen auf der Tagesordnung 216 und das Recht erwies sich darüber hinaus als ein Bereich, in dem eine „moralische Alternative zum politischen Absolutismus“ anzubieten war. Daher „con el recurso a la metáfora de la institución del tribunal Kant quería dejar claro que su crítica de la razón pura trataba de realizar en el ámbito de la metafísica lo mismo que proyectaban los intelectuales burgueses, los teóricos jusnaturalistas de la Aufklärung en el ámbito político: la fundación de un Estado de derecho que suplantar el Estado absolutista de la fuerza, la creación de un orden civil de justicia pública según leyes que sustituir la administración autoritaria y arbitraria de los derechos en el orden estamental“.217 Wie man dar-

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genau die „Kritik der reinen Vernunft“. Sommer, M.: Die Selbsterhaltung der Vernunft. Stuttgart-Bad Cannstatt: Frommann-Holzboog, 1977, S. 13–15. Genau in diesem Zusammenhang verrät Sommer die metaphorologische Grundlage seines Ansatzes. Die Untersuchung über die kantischen Metaphern ziele darauf ab, die „vorbegrifflichen Interessen“ der Vernunft zum Ausdruck zu bringen. Die Metapher „interessiert sich für die generierende Denkform, für das System möglichen Aussagen, nicht primär für das faktisch Ausgesagte. Sie sucht, so würde ich fast formulieren, zu den Syntagmata das Paradigma“. Ebd., S. 17. Aus dem „Resevoir“ der metaphorischen Sprache, d.i. aus dem „Reservoir des nicht adäquat in reine Logizität und trennscharfe Begrifflichkeit Übersetzbaren, das traditionell den Gegenstand von Rhetorik und Poetik abgibt, holt die Vernunft ihre Provisorien und ihre Stützen […]. Es gibt also einen systematischen Zusammenhang zwischen der Verwendung von Metaphern und der Selbsterhaltung einer Vernunft, die mit der Defizienz ihrer primären Mittel zu ihrem Zweck fertig werden muss“. Ebd., S. 16–17. Mit der Überbewertung der biologischen Metapher (wobei Sommer sich an Vaihinger annähert) übersieht Sommer aber die zentrale, nicht subsidiäre Bedeutung der juristischen Metaphern für den systematischen Aufbau der KrV. Ebd., S. 233–236. Marcos, M. H. La Critica de Razón Pura como Proceso Civil, a. a. O., S. 43. Pietsch, L-H.: Topik der Kritik, a. a. O., S. 8. Marcos, M. H.: La Critica de Razón Pura como Proceso Civil, a. a. O., S. 10. Ebd., S. 11. Ebd., Kap. 3b. Ebd., S. 11.

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aus leicht ablesen kann, nimmt Marcos die Theorie Kosellecks als eine Lehre über die Begriffsgeschichte als Sozialgeschichte.218 Auf der Grundlage dieser „geschichtlichen Hermeneutik der philosophischen Begriffe“ als einer Untersuchung, deren Ziel es ist, den geschichtlich-sozialen Hintergrund eines Textes zu enthüllen, haben die Metaphern die Rolle, den latenten historischen Zusammenhang in den Vordergrund zu stellen. Die Interpretation von Marcos ist erfolgreich bei der Durchsetzung ihrer hermeneutischen Voraussetzungen. Wie aber bereits in der Einleitung der vorliegenden Arbeit diskutiert wurde, scheitert die Untersuchung von Marcos (ihrer Gründlichkeit und Umfang zum Trost) mit seinem Vorhaben, die juristische Verfassung der Vernunft ausführlich und umfassend zu deuten, an dem Verzicht auf eine Analyse der Deduktion als juristischem Beweismittel und auch auf gewisse Weise an der Vernachlässigung der Philosophiegeschichte um der Rechtsgeschichte willen. Aus der übermäßigen Betonung der rechtshistorischen Einstellung seiner Untersuchung folgt auch, dass Marcos die systematische Seite, die immer überwiegen muss, nicht zureichend beachtet. Der Verdienst von Marcos’ Untersuchung muss jedoch anerkannt werden. Aus dem bisher Dargestellten ziehen wir die folgenden Schlüsse für unseren Ansatz: Die Metapher soll als ein historischer und systematischer Anhaltspunkt betrachtet werden, der veranschaulicht, wie die begrifflich-heuristische Übertragung von geschichtlich etablierten Problemen und Lösungsansätzen zwischen der Philosophie und der Rechtswissenschaft geschieht. Die systematischen und geschichtlichen Kapitel der vorliegenden Untersuchung verdeutlichen, so ist zu erwarten, das oben Gesagte. Das Verständnis der systematischen Stellung der Antinomie und der Deduktion in der kritischen Philosophie, unter Berücksichtigung deren juristischer Ursprünge, gestatten es, einige komplexe begriffliche Strukturen zu verstehen, die außerhalb dieses Zusammenhanges latent oder sogar undurchsichtig bleiben würden. Systematische Fragestellungen, wie die über die Kritik als die Gesetzgebung der Vernunft, die keinen Widerspruch in ihren Geltungsbereichen zulässt, oder über das Faktum, wovon das kritische Problem der Legitimität der Erkenntnis a priori ausgeht, können nur zureichend vor ihrem historischen Hintergrund verstanden werden. Von dem oben beschriebenen Verständnis der Funktion der Metapher her, im Ausgang von Kants philosophischem Diskurs, muss eine Bestätigung für den eigenen Interpretationsansatz gesucht werden, demzufolge System und Geschichte miteinander verflochten sind und sich gegenseitig unterstützen. 218

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„Die Begriffsgeschichte ist also zunächst eine spezialisierte Methode der Quellenkritik, die auf die Verwendung sozial oder politisch relevanter Termini achtet und die besonders zentrale Ausdrücke analysiert, die soziale oder politische Inhalte haben“. Koselleck, R.: Vergangene Zukunft. Zur Semantik geschichtlicher Zeiten. Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 1995, S. 114. Vgl. auch: „Die Begriffsgeschichte als historische Disziplin hat es immer mit politischen oder sozialen Ereignissen oder Zuständen zu tun, freilich nur mit solchen, die bereits früher in der Quellensprache begrifflich erfaßt und artikuliert worden sind. Sie interpretiert in einem engen Sinne Geschichte durch ihre jeweilig vergangenen Begriffe – auch wenn die Worte heute noch verwendet werden –, do wie sie die Begriffe geschichtlich versteht – auch wenn ihr ehemaliger Gebrauch für uns heute neu definiert werden muß. Insofern hat die Begriffsgeschichte, überspitzt formuliert, die Konvergenz von Begriff und Geschichte zum Thema“. Ebd., S. 120f.

1.5

Das Verhältnis Kants zum Recht

Wenn dem so ist, ist zu fragen, wie das Verhältnis Kants zur Jurisprudenz und der Rechtswissenschaft seiner Zeit war, zumal in der Zeit, die für die vorliegende Arbeit interessant ist, nämlich die bis zur Veröffentlichung der Kritik der reinen Vernunft im Jahr 1781. Es wurde schon vieles über die Bedeutung von Rousseau und Hobbes zum Verständnis der Rechts- und Staatslehre Kants gesagt. Es ist aber zugleich sicher, dass sich die Quellen über die Rechtsgedanken Kants darin nicht erschöpfen.219 Kant war ein Autor, der ganz verschiedene Einflüsse und Lektüren, auch in seinem Rechtsgedanken, aufgenommen hat. In Bezug auf die antike Rhetoriklehre, die eng mit dem römischen Recht verbunden war, ist z. B. bekannt, dass Kant, abgesehen von der ausgesprochenen klassischen Bildung, die er am Collegium Friedericianum220 erwarb, eine besondere Vorliebe für das Lesen der Klassiker,221 vor allem Cicero,222 hatte, auch wenn er Bedenken gegen den manchmal verderblichen Charakter der Rhetorik äußerte, wenn sie über ihre Nützlichkeit als „Kunst der Wohlredenheit“ hinausgeht (KU AA 05: 327).223 Was die juristische Tradition betrifft, ist wohl anzunehmen, dass Kant nicht nur die naturrechtliche Tradition der Frühneuzeit gut kannte224 und die rechtliche Reformbewegung in Preußen mit Aufmerksamkeit 219

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Bärthlein, K. „Die Vorbereitung der Kantischen Rechts- und Staatsphilosophie in der Schulphilosophie“. In: Oberer, H. & Seel, G (Hrsg.). Kant. Analysen – Probleme – Kritik. Würzburg: Königshausen u. Neumann, 1988. Bärthlein argumentiert zu Recht, dass die üblicherweise herangezogenen Quellen des juristischen Gedanken Kants, nämlich Hobbes und Rousseau, nicht dazu hinreichen, Kants Rechtsphilosophie ausführlich zu erklären, besonders das angeborene Recht. Vgl. Schiffert, Chr. Nachrichten von den jetzigen Lehranstalten des Collegii Friedericiani, abgedruckt bei Klemme, H. F. (Hrsg.): Die Schule Immanuel Kants. Hamburg: Meiner, 1994, S. 73–9. „Kants Schulzeit (1730–1740) fällt in eine Zeit, die vor der Phase des erneuertem Platonismus liegt. Auf dem Collegium Fridericianum, das Kant von 1732 bis 1740 besuchte, konzentriert sich die Lektüre vor allem auf lateinische Autoren, besonders Cicero und Cornelius Nepos“. Santozki, U.: Die Bedeutung antiker Theorien für die Genese und Systematik von Kants Philosophie: eine Analyse der drei Kritiken. Diss. Marburg, S. 34. „Durch Privatstudien, und kaum durch den Besuch von Kollegien, machte er sich wohl auch mit den Römern mehr und mehr vertraut, weniger mit den Griechen. Trotzdem erwuchs in ihm die hohe Wertschätzung der humaniora, welche er dereinst öffentlich durch die Erklärung bekundete: Bildung der Gemütskräfte durch Vorkenntnisse, die man humaniora nenne, sei die Propädeutik zu aller schönen, den höchsten Grad der Vollkommenheit anstrebenden Kunst“. Arnoldt, E.: „Kants Jugend und die fünf ersten Jahre seiner Privatdozentur“. In: Gesammelte Schriften. Bd. III, S. 122. Vgl. Klemme, H. F.: „Immanuel und seine Schule“. In: Klemme, H. F. (Hrsg.): Die Schule Immanuel Kants, a. a. O., S. 49. „Er [Kant] habe die beste Rede eines Römischen Volksredners nie ohne das unangenehme Gefühl der Missbilligung einer hinterlistigen Kunst lesen können. Beredtheit und Wohlredenheit seien Bestandteile der schönen Kunst; aber Rednerkunst (ars oratoria), d.h. die Kunst, sich der Schwächen der Menschen zu seinen Absichten zu bedienen, habe sich in Athen und in Rom zur höchsten Stufe erst dann erhoben, als der Staat seinem Verderben zueilte“. Arnoldt, E.: „Kants Jugend und die fünf ersten Jahren seiner Privatdozentur“, a. a. O., S. 123–4. Man kann nicht mit Sicherheit bestimmen, ob und welche der oberen Fakultäten (Medizin, Jurisprudenz und Theologie) nebst der unteren Fakultät, der Philosophie, Kant an der Universität von Königsberg besucht hat. Erdmann versucht zu beweisen, dass Kant systematisch nur die untere Fakultät besuchte. Vgl. Erdmann, B. Martin Knutzen und seine Zeit,

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und Interesse beobachte und ihr folgte,225 sondern sich auch in der juristischen Literatur seiner Zeit und in der juristischen Praxis gut auskannte.226

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a. a. O., S. 133–139. E. Arnoldt legt nahe, Kant habe auch Vorlesungen der Jurisprudenz gehört: „Und sollte er nicht Vorlesungen über Naturrecht, über Römisches Recht, über Staatsrecht gehört haben?“. Arnoldt, E. „Kants Jugend und die fünf ersten Jahre seiner Privatdozentur“, a. a. O., S. 122. Erdmann weist darauf hin, dass Knutzen über Naturrecht von 1740 bis 1747 vorgelesen hat. In dieser Zeit habe Kant, so Borowski, seinem Unterricht „unausgesetzt bei[gewohnt]“. (Borowski, L. E. Darstellung des Lebens und Charakters Immanuel Kant. In: Hoffmann, A. (Hrsg.): Immanuel Kant. Ein Lebensbild nach Darstellungen seiner Zeitgenossen. Jachmann, Borowski. Wasianski. Halle, 1902, S. 156. Vgl. auch S. 16. und 125). Vgl. auch Erdmann, B. Martin Knutzen und seine Zeit, a. a. O., S. 139, Fn. 29. Vorländer, K.: Immanuel Kant: der Mann und das Werk. Mit einem Verzeichnis der Bibliographien zum Werk Immanuel Kants von Heiner Klemme. Hamburg: Meiner, 1992, S. 23. Laut der Regelung des Alma Albertina von 1735 „soll[te] ein jeder Professor publicus ordinarius […] in seinen Lectionibus publicis […] jedes Semester eine Science publique zu Ende [bringen], zum Exempel, daß die Logica in einem, die Metaphysica im andern, desgleichen das Ju Naturae in einem, die Moral in dem andern halben Jahr absolviert werde“. Arnoldt, D. H.: Histoire der Königsbergischen Universität. Bd. I., Beilage 54, S. 319. Apud Pozzo, R.: Kant und das Problem einer Einleitung in die Logik. ein Beitrag zur Rekonstruktion der historischen Hintergründe von Kants Logik-Kolleg. Frankfurt a. M. [u. a.]: Lang, 1989, S. 2. Über die Erkenntnisse Kants über die Tradition des Naturrechts, Vgl. u.a., Bärthlein, K.: „Die Vorbereitung der Kantischen Rechts- und Staatsphilosophie in der Schulphilosophie“, a. a. O.; Busch, W.: Die Entstehung der kritischen Rechtsphilosophie, a. a. O.; Ritter, C.: Der Rechtsgedanke Kants, a. a. O.; Hoffmann, T. S.: „Kant und das Naturrechtsdenken“. In: Archiv für Rechtsund Sozialphilosophie 87, 2001, S. 449–467. Es ist bekannt, dass Kant mit einigen an der Verfassung des Allgemeinen Preußischen Landrechts beteiligten Juristen, wie Ernst Ferdinand Klein, in Kontakt stand. Vgl. Brandt, R.: „Das Erlaubnisgesetz in den Metaphysischen Anfangsgründen der Rechtslehre“. In: Ders (Hrsg.): Rechtsphilosophie der Aufklärung. Berlin/New York: De Gruyter, 1982, S. 250–255. Marcos, M.: La Critica como Processo Civil, a. a. O. Hruschka, J. „Die species facti und der Zirkel bei der Konstitution des Rechtsfalles in der Methodenlehre des 18. Jahrhunderts“. In: Schröder, Jan (Hrsg.): Theorie der Interpretation vom Humanismus bis zur Romantik – Rechtswissenschaft, Philosophie. Stuttgart: Franz Steiner Verlag, 2001, S. 210. Laut des vom Arthur Warda veröffentlichten Versteigerungskatalogs der Privatbibliothek Kants besaß Kant die folgenden Werke über Natur- bzw. positives Recht, die bis 1780 erschienen sind: Bulamarqui, J. J.: Principes du droit naturel, Géneve, 1747. Huber, U.: Praelectionum juris civil tomi III, ed in Germania tertia, 1735; Vattel, Emmerich von: Völkerrecht […]. dt. von J. Ph. Schulin, 3 Teile, Frankfurt & Leipzig, 1760; Baco, operum moralium et civilium, Leipzig, 1751; Darjes, J. G.: Discours über sein Natur- und Völkerrecht. 3 Teile, Jena, 1762/3; Nettelbladt, D.: Anfangsgründe der natürlichen Rechtsgelehrsamkeit. Eine abgekürzte freye Übersetzung von Joh. Christ. Gottlieb Heineccius, Halle, 1779; Hufeland, G.: Lehrsätze des Naturrechts und der damit verbundenen Wissenschaften zur Vorlesung, Jena, 1770. Wie Ritter bemerkt, folgt aus dem bloßen Vorhandensein dieser Bücher im Katalog aber nicht, dass Kant sie gelesen oder auch sie im Zeitpunkt ihrer Veröffentlichung erworben hatte. Dies bedeutet wiederum, dass daraus wenig herausgezogen werden kann. Vgl. Ritter, C. Der Rechtsgedanke Kants, a. a. O., S. 32f. Kant selbst skizzierte bei einer kleinen Schrift eine juristische Deduktion über die Unrechtsmäßigkeit des Büchernachdrucks (VUB AA 08: 77–87). Als Dekan der philosophischen Fakultät hatte Kant eine Amtstätigkeit inne, die Kenntnisse der Rechtspraxis voraussetzte. Vgl. Euler, W.: „Immanuel Kants Amtstätigkeit. Aufgaben und Probleme einer Gesamtdokumentation”. In: Brandt, R. und Stark, W (Hrsg.): Autographen, Dokumente und Berichte. Zur Edition, Amtsgeschäften und Werk Immanuel Kants. Kant-Forschungen V. Hamburg: Meiner, 1994, S. 58–90. In seinem amtlichen Schriftverkehr (AA 12: 421–442) erwähnt Kant sogar eine „deduction der Rechtsame der Phil. Fac“ AA 12: 445. Darüber hinaus

Abgesehen von den in der kritischen Periode veröffentlichten Schriften über Recht, zeigt sich eine bedeutende Schwierigkeit bezüglich der direkten Quellen, wenn man versucht, die Rezeption Kants von der Privatrechtslehre, wozu die Diskussion über den deductio in iuris und das Eigentumsrecht gehört, und den Prinzipien des Naturrechts zu beurteilen. Das Lehrbuch, worauf Kant in seinen Vorlesungen über Naturrecht zurückgegriffen hat, war das Ius naturae in usum auditorum von dem „behutsamen, bestimmten und bescheidenen“ (TP AA 08: 301) Gottfried Achenwall. Das Werk teilt sich in zwei Teile ein, nämlich Iuris naturalis partis prioris und Iuris naturalis pars posterior, denen die Prolegomena iuris naturalis vorangestellt sind. Kant hat in seinen von ihm gehaltenen 12 Vorlesungen über Naturrecht, von 1766/7 bis 1788,227 die zwei Teile des Werkes benutzt, aber von seinem Handexemplar ist nur der zweite Teil nicht verschollen, Iuris naturalis pars posterior, woraus die in der Akademie-Ausgabe enthaltenen Erläuterungen Kants zu G. Achenwalls Iuris naturalis Pars posterior (AA 19: 323-439) und die Reflexionen über Rechtsphilosophie (AA 19: 443-613)228 stammen. In den anderen Teilen von Achenwalls Lehrbuch findet sich die Auseinandersetzung mit dem, was bei Kant dem Privatrecht (und somit der Deduktion, den juristischen Beweismitteln und dem Eigentumsrecht) entspricht, sowie die Darstellung der Prinzipien und Grundlagen des Naturrechts.229 In diesem Zusammenhang bietet die Nachschrift des im Sommersemester 1784 von Kant gehaltenen Kollegs über Naturrecht, das Naturrecht-Feyerabend, ein wertvolles Material zur Erforschung der Entwicklung und der Quellen seines Rechtsgedankens, und zwar deshalb, weil sie die einzige bis heute gehaltene Nachschrift über Naturrecht und demzufolge die einzige zur Verfügung stehende Quelle der Auseinandersetzung Kants mit dem Iuris naturalis partis prioris und den Prolegomena iuris naturalis ist. Die Nachschrift, die zuerst 1979 im Rahmen der vierten Abteilung der Aka-

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hatte sich Kant in einen Zivilprozess über Mietkontraktsfragen verwickelt – in AA 22: 401 findet man die Entwürfe einer Klageerwiderung gegen den Sekretär des Collegii Medici von Königsberg, Carl Georg Burckhardt. AA 12: 375. Einige Reflexionen (z.B. Rx 3357 AA 16: 797) deuten schließlich auf Besonderheiten der preußischen Gesetzgebung hin. Vgl. Kiefner, H.: „Ius Praetensum“, a. a. O.; Ritter, C.: Der Rechtsgedanke Kants, a. a. O. Vgl. Arnoldt, E.: „Möglichst vollständiges Verzeichnis aller von Kant gehaltenen oder auch nur angekündigten Vorlesungen nebst darauf bezüglichen Notizen und Bemerkungen“. In: Gesammelte Schriften, Bd. V, a. a. O., S. 336–7. Vgl. Adickes, E.: „Einleitung in die Abtheilung des handschriftlichen Nachlasses“. AA 14: XX u. XXVII. „Seit 1758 besteht Achenwalls Hauptwerk zur Universaljurisprudenz aus drei verschiedenen, aber zusammengehörigen Büchern, den Prolegomena und den beiden Teilen des Ius Naturae. Dabei gelten dem Autor die (noch mit Pütter zusammen verfaßten) Elementa Iuris Naturae, Göttingen, 1750, als erste Auflage des Ius Naturae. Kant hat wahrscheinlich die 2. Auflage der Prolegomena und die 5. Auflage der beiden Teile des Ius Naturae, alle drei Werke Göttingen 1773, benutzt […] Kants Handexemplar der Prolegomena und des ersten Teils des Ius Naturae sind verlorengegangen“. Hruschka, J:. „Die Konkurrenz von Goldener Regel und Prinzip der Verallgemeinerung in der juristischen Diskussion des 17./18. Jahrhunderts als geschichtliche Wurzel von Kants kategorischem Imperativ“. In: Juristen Zeitung 42, Nr. 20, 1987, S. 949. n.140. Vgl. auch Ritter, C.: Der Rechtsgedanke Kants, a. a. O., S. 68–70; Busch, W.: Die Entstehung der kritischen Rechtsphilosophie Kants, a.a. O., S. 2. Marcos, M. H.: La Crítica da Razón Pura como Proceso Civil, a. a. O., S. 242. Rauscher, F.: „Review Essay: A New Resource for Kant’s Political Philosophy“. In: Kantian Review 17, 2, 2012, S. 357–365.

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demie-Ausgabe von G. Lehmann herausgegeben wurde, hat neulich im Rahmen des Kant-Indexes eine neue Textgrundlage bekommen, die die „nicht selten sinnstörenden Fehler“ der Edition Lehmanns korrigiert.230 Wie bedeutend diese Nachschrift auch sein mag, es ist jedoch eine Tatsache, dass Kant sich bei der Einleitung des Naturrecht-Feyerabends, die etwa den Prolegomena iuris naturalis entspricht, von Achenwall entfernt und dabei in der Tat seine eigene, der Station der Entwicklung seiner praktischen Philosophie entsprechende Lehre über die Grundlagen des Naturrechts darstellt.231 In Bezug auf das iuris naturalis partis prioris taucht aber das umgekehrte Problem auf. Kant lehnt sich derart an den Text von Achenwall an, dass daraus kaum kritische Anmerkungen oder Abweichungen zu ziehen sind. Neben Achenwall sind Baumgartens Initia Philosophiae Praticae, die „zum großen Teil eine Abhandlung des Naturrechts enthalten“ 232, und die damit entstandenen Reflexionen und Vorlesungen weitere bedeutende Quellen der Entstehung des Rechtsgedanken Kants. Es erweist sich aber, dass aus der Erforschung von Baumgartens Lehrbuch, wenngleich es von Belang für die Erklärung von wichtigen Lehrstücken der kantischen Rechtslehre ist, wie die Beziehung zwischen Recht und Ethik, kein vollständiges Bild des Rechtsgedanken Kants in einer systematischen und genetischen Perspektive Kants zu gewinnen ist. Weitere mögliche Quellen werden gegebenenfalls herangezogen. Solche exegetischen Schwierigkeiten verbieten alle Interpretation, die die juristische Verfassung der KrV in Bezug auf die Rechtslehre [RL] von 1797 deuten 230

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Kant-Index. Hrsg. von Norbert Hinske: Bd. 30.1–3: Section 2, Indices zum Ethikcorpus, Stelllenindex und Konkordanz zum „Naturrecht Feyerabend“. Heinrich P. Delfosse; Norbert Hinske; Gianluca Sadun Bordoni. Stuttgart-Bad Cannstatt: Frommann-Holzboog, 2012–14. Vgl. Terra, R.: „História e Direito em 1784. Comentário sobre a interpretação da ‘Escola Semântica de Campinas’“. In: Studia Kantiana, 12, 2012, S. 175–194. Bordoni, G. S; Delfosse, H. P. und Hinske, N.: „Einleitung. Die Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, das Naturrecht Feyerabend und die Moral Mrongovius II – drei Variationen eines und desselben Gedankens“. In: Kant-Index. Bd. 30.1., a. a. O. Scattola, M.: „Die Naturrechtslehre Alexander Gottlieb Baumgarten und das Problem des Prinzips“. In: Aufklärung 20, 2008., S. 242. Vgl. Baumgarten, A.: Initia Philosophiae Practicae. Halle, 1760. §§ 60ff., 76ff., 87ff., 100ff., 149ff., 171ff., 186ff., und passim. Die starke juridische Prägung der praktischen Philosophie Baumgartens lässt sich durch die Tatsache, dass in der Zeit das jus naturae late dictum als die praktische Philosophie par excelence galt (Scattola, M.: „Die Naturrechtslehre Alexander Gottlieb Baumgarten“, a. a. O., S. 240–245), sowie durch den Einfluss von Heinrich Köhler erklären. C. Schweiger zufolge wurden die Lehrbücher von Baumgarten unter dem Einfluss von dem Naturrecht Köhlers verfasst, der wie Baumgarten ein heterodoxer Wolffianer war. Als Folge hielt „sein [Baumgartens] Ethikentwurf […] ein stärker juridisches Gepräge“. Vgl. Schwaiger, C.: Alexander Gottlieb Baumgarten – Ein intellektuelles Porträt. Stuttgart-Bad Cannstatt: Frommann-Holzboog, 2011, S. 117. Vgl. auch S. 130: „ein stärker juristischer Zuschnitt“. Als Beispiele dafür nennt Schweiger zwei Lehrstücken, die bei Köhler, Baumgarten und auch Kant vorkommen, nämlich die Hervorhebung des Begriffs von Verbindlichkeit und den Unterschied zwischen erzwingbaren und nicht erzwingbaren Pflichten. Zur H. Köhlers Naturrechtslehre, Vgl. Aichele, A.: „Sive vox naturae sive vox rationis sive vox Dei? Die metaphysische Begründung des Naturrechtsprinzips bei Heinrich Köhler, mit einer abschließenden Bemerkung zu Alexander Gottlieb Baumgarten“. In: Jahrbuch für Recht und Ethik 12, 2004, S. 115– 135.

wollen. Aufgrund dessen ist es keine leichte Aufgabe, die Stationen der Entwicklung des Rechtsgedanken Kants nachzuzeichnen.233 Obwohl viele Lehrstücke der späten RL schon in den Reflexionen der vorkritischen Periode zurückzuverfolgen sind, bedeutet dies nicht, dass die Rechtslehre Kants vorkritisch ist (viele Grundbegriffe der RL lassen sich nicht außerhalb des transzendentalen Idealismus begründen234) oder keine grundlegende Veränderungen und Ergänzungen während der kritischen Periode selbst, d.i. nach der KrV und dem Gerichtshof der Vernunft, erfährt. Das Privatrecht, wie schon in der Einleitung der vorliegenden Arbeit gesagt wurde, ist der eindeutigste Beleg dafür. Einige Bestandteile der nur innerhalb des transzendentalen Idealismus zu verstehenden Eigentumslehre Kants in der RL, nämlich der Unterschied zwischen empirischem Besitz und bloß rechtlichem-intelligiblem Besitz und den rechtlichen Postulaten der reinen praktischen Vernunft, wurden erst nach der Veröffentlichung von Zum ewigen Frieden, das heißt nach 1795 etabliert – wenigstens werden sie früher weder in den Druckschriften noch im Nachlass erwähnt.235 Z.B. liest man in dem Naturrecht-Feyerabend über den rechtlichen Akt der Besitznehmung (apprehensio)236, durch den sich die Unrechtmäßigkeit einer Tat erklären lässt, die aus meinem Besitz einen Gegenstand nimmt, den ich als meinen deklariert hatte. Die Sachen sind Produkte der Natur, und der Freiheit. Ein Produkt der Freiheit zu meiner Freiheit gehörig, und davon dependent, also greift man meine Freiheit an, wenn man mich angreift. Ein Produkt der Freiheit ist ein Produkt der Natur, welches durch meine Freiheit in Ansehung seiner Form modifizirt wird, z.E. ein Baum, den ich behauen habe. 233

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Vgl. Ritter, C.: Der Rechtsgedanke Kants, a. a. O.; Busch, W.: Die Entstehung der kritischen Rechtsphilosophie, a. a. O.; Marcos, M, H.: „La Formacion del Criticismo Juridico de Kant“, a. a. O., S. 243–280. Vgl. u.a., Klemme, H. F.: „Der Transzendentale Idealismus und die Rechtslehre“, a. a. O.; Brandt, R.: „Rezension zu Christian Ritter. Der Rechtsgedanke Kants“, a. a. O., S. 43–50. „Und in der Tat, schauen wir die Nachschrift Vigilantius (V-MS/Vigil AA 27: 479f.) durch, so finden wir dort nichts, was des Namens einer solcher Ableitung würdig wäre. Schon die ‚Gemeinspruch‘-Schrift [1793] blendete dieses Problem durchgängig aus, so daß Kant – im Wissen um dieses Desiderat – sich erneut an die Arbeit machen mußte“. Ludwig, B.: „Einleitung“. In: Immanuel Kant. Metaphysische Anfangsgründe der Rechtslehre, a. a. O., S. xx. Die Vorarbeiten zur Rechtslehre (VARL AA 23: 271–336) enthalten die vorbereitenden Überlegungen Kants darüber. Die kantische Privatrechtslehre ist ohne Zweifel der Teil der RL, der den transzendentalen Standpunkt der kritischen Periode am deutlichsten einnimmt. Kant verwendet nicht nur die Kategorien der Relation für die Einteilung des Privatrechts in Sachenrecht, persönliches Recht und dinglich-persönliches Recht (MS AA 06: 247f.), sondern er setzt auch den transzendentalen Idealismus und die ZweiWelten-Lehre für den Unterschied zwischen dem empirischen Besitz, d.i. das bloße In eines Gegenstandes in Raum und Zeit, und dem intelligiblen Besitz, d.i. der bloß rechtliche Besitz eines Gegenstandes ohne Detention (MS, AA 06: 249–252), ein. Wie die Vorarbeiten zur Rechtslehre deutlich belegen, waren die Schwierigkeiten bei der „Anpassung“ dieser Begriffe an den Rahmen des Kritizismus beträchtlich. Für eine Untersuchung über das Privatrecht Kants, die auf die Vorarbeiten weitgehend Bezug nimmt, Vgl. Kersting, W.: Wohlgeordnete Freiheit. Immanuel Kants Rechts- und Staatsphilosophie. 3. Erweiterte und Bearbeitete Auflage. Paderborn: Mentis Verlag. 2007, S. 177–250. Seeberg weist ausdrücklich auf die Momenta bei der in der RL dargestellten Besitznehmung zur Erklärung der Deduktion in der KrV hin. Vgl. Seeberg, U.: Ursprung, Umfang und Grenzen der Erkenntnis, a. a. O., S. 222ff.

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Wer dieser Sache sich bedient, handelt wider meiner Freiheit, weil er die Produkte meiner Freiheit, und die Handlungen meiner Freiheit hindert, und die Absicht, die ich dabei habe. Apprehension ist nicht jeder Gebrauch einer Sache; sondern der, wo die Form der Sache durch Freiheit modifizirt wird. Apprehensio physica ist redactio in potestatem, aber iuridica ist, wenn die Sache eine Form bekommt, die von meiner Freiheit herrührt. Wenn jemand zuerst ein Land entdeckt, und da eine Fahne aufsteckt, und Besitz nimmt; so hat er noch kein Recht dazu. Aber wenn er das Land bearbeitet, am Lande seine Kräfte anwendet, dann hat er es apprehendirt (V-NR Feyerabend AA 27: 1342).

Aus der Folge der herangezogenen Stelle wird klar, dass Kant hier eine eigene Idee darstellt, anstatt Achenwall zu folgen. Kant kritisiert Achenwall, weil dieser nicht beachtet hätte, dass die Arbeit oder „Cultur“ (in Sinne von „Cultivierung“) die declaratio der Freiheit ist; diese declaratio sei nicht dort zu finden, wo eine bloße empirische apprehensio ohne „Anwendung meiner Kräfte“ geschieht.237 Mit dem Hinweis, dass die Freiheit sich in der „Arbeit“ offenkundig macht, ist Kant sehr weit entfernt von seiner kritischen Lehre über die lex permissiva als „Postulat der rechtlich-praktischen Vernunft“ und die in der ursprünglichen Erwerbung vorausgesetzten „Idee eines a priori vereinigten (nothwendig zu vereinigenden) Willens“ (MS AA 06: 264). Kant scheint in dem Naturrecht-Feyerabend nahe an der Lockeschen Arbeitstheorie des Eigentums zu sein, die er im Übrigen noch in den 1760er Jahren, genauer in den Bemerkungen, mit Änderungen vertrat.238 Nahe der Arbeitstheorie zu sein bedeutet aber nicht, sich ihr völlig anzulehnen. Wie in der RL beansprucht Kant in dem Naturrecht-Feyerabend, dass es kein Recht gegenüber Sachen, sondern nur gegenüber Menschen geben kann; anders als in der RL aber weist Kant darauf hin, dass aus dem Actus der Freiheit, der eine Sache (physisch) modifiziert, folgt, dass diese Sache nicht mehr res nullius ist – Kant weist diese Auffassung in der RL mit dem Postulat der rechtlichpraktischen Vernunft zurück.

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„Der Autor sagt: es ist genug Apprehensio, denn durch die ist schon tacita declaratio geschehen, daß ichs behalten will – denn in rechtmäßigen Handlungen, sagt er, müssen sich andre mit meinem Vortheil begnügen. Da setzt er aber voraus, daß es Recht sey. Wenn der andre aber glaubt, daß es unrecht sey, denn gilt das nicht. – Mein Wille, den ich habe, was zu behalten, muß durch den Effectus der Freiheit declarirt werden, und denn ist keine äußere Declaration nöthig. Im jure gentium kann die Apprehension der Länder in der Kultur bloß bestehen. Wenn ich einen Theil bebaut habe, so gehört mir bloß der, und der andre unbebaute nicht“ (V-NR/Feyerabend AA 27: 1342). „Der Leib ist mein, denn er ist ein Theil meines Ichs und wird durch meine Willkühr bewegt. Die gantze belebte oder unbelebte Welt, die nicht eigene Willkühr hat, ist mein in so fern ich sie zwingen u. sie nach meiner Willkühr bewegen kann. Die Sonne ist nicht Mein“ (Bemerkungen AA 20: 67). „Kant vertritt in der Mitte der sechziger Jahre die Meinung, man müsse die Moralphilosophie anthropologisch oder naturalistisch begründen, man müsse erwägen, was geschieht, bevor man anzeigt, was geschehen soll (AA 02: 311). Zu diesem Programm einer anthropologischen oder naturalistischen Begründung von Recht und Ethik gehört die – experimentierend erwogene – Lehre, das Eigentum sei begründet im menschlichen Willen, soweit er durch Arbeit Dinge der Natur unterwirft“. Brandt, R. Eigentumstheorien von Grotius bis Kant. Stuttgart-Bad Cannstat: Frommann-Holzboog. 1974, S. 171.

In Anbetracht des damaligen noch unvollendeten Zustandes der Besitzlehre Kants, ist zu fragen, wie man die juristische Verfassung der KrV in Bezug auf die Einteilung der RL in Privat- und öffentliches Recht deuten kann, wie z.B. R. Brandt es tut? Die These Brandts, die Analytik entspreche dem Privatrecht und die Dialektik dem öffentlichen Recht in der juristischen Verfassung der KrV, wird durch die hier herangezogenen Belege widergelegt. Es wäre ein Forschungsdesiderat, trotz der exegetischen Schwierigkeiten, die juristische Verfassung der KrV nach dem damaligen Stand des Rechtsgedanken Kants zu deuten und dabei auf die Abweichungen hinsichtlich der RL hinzuweisen. Eine solche Untersuchung aber würde den Rahmen dieser Arbeit sprengen.

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TEIL I QUELLEN- UND BEGRIFFSGESCHICHTE DER JURIDISCHEN METAPHORIK Im ersten Teil der vorliegenden Arbeit wird eine Quellen- und Begriffsgeschichte der wesentlichen Begriffe zum Verständnis der juridischen Verfassung der KrV dargestellt. Das zweite Kapitel handelt von den juridischen Metaphern und vor allem von der Idee eines Gerichtshofs der Vernunft in der Philosophie der Neuzeit und in der Aufklärung, einer „von Rechtsproblemen und rechtlichen Strukturen“239 durchdrungenen Epoche. In diesem Zusammenhang werden die Philosophie von F. Bacon und ihre juridische Metaphorik über das Gerichtsverfahren, dem der Mensch die Natur unterwerfen muss, diskutiert. Ebenso wird das Anliegen der Frühaufklärung, für die philosophischen Streitigkeiten einen Mittelweg zu finden, vor allem bei Leibniz und seiner Idee einer „Waage der Gerichtigkeit“ als Ausdruck des judice controversiarum betrachtet. Im dritten Kapitel wird der Versuch unternommen, den von Kant aufgenommenen und angewandten Deduktionsbegriff darzustellen. Aus dem von J. S. Pütter im Rahmen einer praktischen Jurisprudenz entwickelten juridischen Deduktionsbegriff wird ein methodologisches Modell zur Deutung von Aufbau und Zweck der Deduktion in der KrV sowie zum besseren Verständnis von Kants Zurückweisung des logisch-mathematischen Deduktionsbegriffs und des axiomatisch-deduktiven Systems erschlossen. Das vierte Kapitel hat schließlich die Quellen- bzw. Begriffsgeschichte des Begriffs „Antinomie“ zum Thema – von der antiken Rhetorik bis zu seinem Umschwung in der frühen neuzeitlichen Rechtswissenschaft und im späteren Zeitalter der Kodifikationen. Auch in diesem Kontext erweist sich die Philosophie von Leibniz als für die Untersuchung leitend, insofern sie auf die Idee einer Nomothetik als Wissenschaft der Gesetzgebung und auf den Anspruch auf Widerspruchslosigkeit und Abwesenheit von Lücken in einer Gesamtheit von Normen verweist. Kant nimmt diese Konzeption von G. Achenwall und A. G. Baumgarten wie auch den Begriff eines completissimum ius auf, was seinen Vernunftbegriff und vor allem die Idee einer Gesetzgebung der Vernunft stark prägt.

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Brandt, R. „Einführung“. In: Brandt, R (Hrsg.). Rechtsphilosophie und Aufklärung: Symposium Wolfenbüttel 1981. Berlin: De Gruyter, 1981, S. 1.

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Die Gerichtsmetapher in der neuzeitlichen Philosophie und in der Aufklärung – Ein Überblick

Dieses Kapitel hat die Quellengeschichte der Gerichtsmetaphorik in der neuzeitlichen Philosophie zum Thema. Nicht nur das damit eng verwandte oder sogar wörtliche Vorkommen des Ausdrucks bei Hume, Bayle, Reimarus u. a. (2.1), sondern auch – und insbesondere – bei Bacon und der Vorstellung eines rechtlichen Prozesses in der Naturforschung (2.2) und bei Leibniz und seiner Idee einer Waage der Vernunft als Folge der frühaufklärerischen Suche nach einem „Mittelweg“ (2.3) werden berücksichtigt. Ziel ist es, die Gerichtshofsproblematik im Gang der neuzeitlichen Philosophie in ihren großen Linien zu rekonstruieren und die tatsächlichen oder zumindest möglichen Einflüsse auf Kants „Gerichtshof der Vernunft“ zu erwägen. 2.1

Der Gerichtshof der Vernunft

Eine der bekanntesten Metaphern der Geschichte der Philosophie ist zweifellos die des „Gerichtshofs der Vernunft“, die Kant in der ersten Vorrede de KrV benutzte. Sein Werk sei der Ausdruck der Aufforderung an die Vernunft, das beschwerlichste aller ihrer Geschäfte, nämlich das der Selbsterkenntnis aufs neue zu übernehmen und einen Gerichtshof einzusetzen, der bei ihren gerechten Ansprüche sichere, dagegen aber alle grundlose Anmaßungen, nicht durch Machtsprüche, sondern nach ihren ewigen und unwandelbaren Gesetzen, abfertigen könne und dieser ist kein anderer als die Kritik der reinen Vernunft selbst (A xi–xii).

Kant betrachtet das „Zeitalter der Kritik“ und ihre „gereifte Urtheilskraft“ – wobei „Religion, durch ihre Heiligkeit, und Gesetzgebung, durch ihre Majestät“ (A xi), der Kritik unterworfen wird – als Vorbedingungen zur Selbsterkenntnis der Vernunft. Die Rede Kants von der Notwendigkeit, die Kritik der reinen Vernunft als einen Gerichtshof einzusetzen (A xi–xii; A 751/B 779), der „alle Rechte und Ansprüche unserer Spekulation“ (A 669/B 697) beurteilt und deshalb als ein Gerichtshof der Vernunft (A 501–502/B 529–530) bzw. der kritischen Vernunft (A 787/B 815) zu verstehen ist, war innerhalb der europäischen Aufklärung und der neuzeitlichen Philosophie gar keine Exzentrizität, noch war sie einmalig. Man kann ganz im Gegenteil behaupten, dass die Aufklärung und ein bedeutender Teil der neuzeitlichen Philosophie durch das Recht und die Rechtsphilosophie geprägt wurden. Entsprechend ist die erkenntnistheoretische Verwendung von Bildern, Metaphern und Allegorien, die aus dem juristischen Bereich stammen, in dieser Epoche recht häufig. Der metaphorische Gebrauch von göttlichen oder irdischen Gerichtshöfen bzw. Tribunalen tritt schon in frühen sakralen Texten des Judentums bzw. des Christentums240, noch früher auch bei den Ägyptern241 auf. Die gerichtliche 240

Vgl. Sterzenbach, G. „Die Welt als Tribunal. Der Gerichtshof als Metapher in Philosophie und schöner Literatur“. In: Kritische Justiz, 31, 1988. Die folgenden Passagen der Bibel sind bildhaft: Gen 15,18-21: „An dem Tage schloss der HERR einen Bund mit Abraham und

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bzw. forensische Metaphorik242 kam in diesem Zusammenhang stets in Gestalt einer als strafender oder belohnender Richter vorgestellten Gottheit vor, die losspricht oder verurteilt, je nachdem, ob man die von ihr erlassenen Gebote achtet bzw. missachtet.243 Die starke ethische Betonung der religiösen Gerichtsmetaphorik erfährt aber eine bedeutende Änderung in der neuzeitlichen Philosophie und in der europäischen Aufklärung.244 Dabei kam ihr eine erkenntnistheoretische Bedeutung zu. Die folgenreichen Ideen über die Vernunft als einen unparteiischen Schiedsrichter, die Entwicklung und Konsolidierung der Wissenschaften als ein Prozess, die Natur als ein allgemeingültigen Gesetzen unterworfenes wohlgeordnetes Ganzes, die Erkenntnis der Natur als Ergebnis einer der Inbesitznahme des Eigentums analogen Erwerbung usw., all dies tritt in diesem neuen Kontext auf. Die Verbreitung und, so könnte man sagen, Säkularisierung der Gerichtsmetaphorik und der mit ihr verwandten Vorstellungen kann durch das vertiefte Interesse an politischen und rechtlichen Themen im Zeitalter der Aufklärung, „eine[r] von Rechtsproblemen und rechtlichen Strukturen durchdrungene[n] Epoche“245, erklärt werden. Praktische Beispiele dafür sind die auf den beiden

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sprach: Deinen Nachkommen will ich dies Land geben von dem Strom Ägyptens an bis an den großen Strom Euphrat […]“; Weish 11,11: „Sie hast du wie ein mahnender Vater auf die Probe gestellt, die Frevler aber wie ein strenger König gerichtet und verurteilt“; Sam 24,16: „Der Herr soll unser Richter sein und zwischen mir und dir entscheiden. Er blicke her, er soll meinen Rechtsstreit führen und mir dir gegenüber Recht verschaffen“; Ps 7,2: „Gott ist ein gerechter Richter, / ein Gott, der täglich strafen kann“; Js 1: „Der Rechtsstreit Gottes mit seinem Volk“; vgl. auch Matthäus V,25; 7,1-5; Lukas 18,9-14 u. a. Dierste, U. & Pinomma, L. „Gericht (Gottes)“. In: Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 3, a. a. O., S. 338. Oesterreich, P. „Vom Vernunftgerichtshof zum Weltgericht“, a. a. O. Oesterreich macht einen Unterschied zwischen einer „richterlichen bzw. iuridischen“ und einer „gerichtlichen bzw. forensischen“ Metaphorik innerhalb der philosophischen Tradition. Die richterliche oder juridische Metaphorik wird in der Regel als ein als „dogmatisch-metaphysisch“ zu charakterisierender philosophischer Stil eingestuft, der sich auf religiöse oder mythologische Figuren bezieht, während die gerichtliche bzw. forensische Metaphorik zu einem „kritischen“ Stil der Philosophie gehört, dessen Schwerpunkt in einer durch „diskursive Verfahrensrationalität“ inventiven Sinnstiftung besteht (ebd., S. 46-47). Die vorliegende Untersuchung stimmt mit Oesterreich überein, indem sie bei Kant eine kritische Verwendung der Rechtsmetaphorik anerkennt, sie entfernt sich aber von ihm, insofern sie zur Bezeichnung dieses kritischen Merkmals der Rechtsmetaphorik gerade den anderen Ausdruck benutzt, nämlich „juridisch“ statt „forensisch“. Das entspricht der kantischen Vorstellung des Gewissens als „forum internum“ (V-PP/ Herder AA 27: 13) bzw. „forum divinum“ (V-PP/Powalski AA 27: 159), das heißt als innerer Gerichtshof im Gegensatz zu „forum externum“ bzw. „forum humanum“ (V-Mo/Mron AA 27: 1444). Im inneren Gerichtshof des Gewissens wird Gott als ein Richter vorgestellt. Die Bedeutung des Begriffs Gewissen im Lauf der Entwicklung der Gerichtsmetaphorik in Kants Denken wird im siebten Kapitel behandelt. Zu der auf den ersten Blick nicht einleuchtenden Gleichsetzung von neuzeitlicher Philosophie und Aufklärung siehe Hinske, N. „Die tragenden Grundideen der deutschen Aufklärung. Versuch einer Typologie“. In: Ciafardone, R. (Hrsg.). Die Philosophie der deutschen Aufklärung. Stuttgart: Reclam, 1990, S. 413–414. „Aufklärung und Rechtsphilosophie stehen in einem intensiven Zusammenhang, die Philosophie der Aufklärung ist von Rechtsproblemen und rechtlichen Strukturen im ganzen so durchdrungen, dass auch andere Disziplinen als die eigentliche Rechtsphilosophie in bestimmten Dimensionen Anwendungsgebiete der Rechtsphilosophie sind“. Brandt, R. „Einführung“. In: Brandt, R (Hrsg.). Rechtsphilosophie und Aufklärung: Symposium Wolfenbüttel

Seiten des Atlantiks tiefgreifenden politischen Veränderungen (die Glorious Revolution in England, die Französische Revolution und die Amerikanische Revolution) und die großen Kodifikationen wie der Code civil français und das Allgemeine Landrecht für die preußischen Staaten.246 Auf der theoretischen Ebene erlebte das Naturrecht im 17. und 18. Jahrhundert sein goldenes Zeitalter.247 Die enge Verwandtschaft zwischen Philosophie und Jurisprudenz ist das Thema unserer Untersuchung: die wechselseitige Beeinflussung zwischen diesen beiden Disziplinen und besonders die Präsenz der rechtlichen Gedankenstrukturen in der theoretischen Philosophie, Naturwissenschaft und Metaphysik. Pierre Bayle248 etwa schrieb über die république des lettres, „un Etat extrêmement libre [où] on n’y reconnoit que l’empire de la Vérité & de la Raison“.249 Er verwendet auch das Bild eines Gerichtshofs der Vernunft: „le tribunal suprême & qui juge en dernier ressort & sans appel de tout ce qui nous est proposé, est la Raison parlant par les axiomes de la lumière naturelle, ou de la Métaphysique“.250 Auch David Hume weist am Anfang der Vorrede zu A Treatise of Human Nature auf diesen Aspekt hin: Nothing is more usual and more natural for those, who pretend to discover any thing new to the world in philosophy and the sciences, than to insinuate the praises of their own systems, by decrying all those, which have been advanced before them. And indeed were they content with lamenting that ignorance, which we still lie under in the most important questions, that can come before the tribunal of human reason, there are few, who have an acquaintance with the sciences, that would not readily agree with them. ’Tis easy for one of judgment and learning, to perceive the weak foundation even of those systems, which have obtained the greatest credit, and have carried their pretensions highest to accurate and profound reasoning. Principles taken upon trust, consequences lamely de-

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1981. Berlin: De Gruyter, 1981, S. 1. Dabei ist zu beachten, dass der hier vorgestellte Ausschnitt der Aufklärung als arbiträr scheinen kann. Die Aufklärung ist bestimmt nicht nur durch politische und juristische Themen, sondern auch durch die Entstehung und Konsolidierung verschiedener Wissenschaften, die Kritik und Umformung der Rolle und des Einflusses der Religion etc. geprägt. Zu einem vollständigeren Überblick über das Zeitalter der Aufklärung vgl. u. a. Cassirer, E. Philosophie der Aufklärung. Hamburg: Meiner, 2007; Hazard, P. La Crise de la conscience européenne. Paris: Fayard, 1961; ders. La Pensée européenne au XVIIIème siècle. De Montesquieu à Lessing. Paris: Fayard, 1990. Dazu siehe Kapitel 4.3. „So angelegentlich man sich im Altertum und Mittelalter um die Erforschung des natürlichen Rechtes und seiner realen Verbindlichkeit bemühte, so gilt doch das 17. und 18. Jahrhundert als die klassische Naturrechtsepoche […]. [D]as Naturrecht [war] in diesen zwei Jahrhunderten die vorherrschende Geisteswissenschaft […]. Zugleich war das Naturrecht in jenen Jahrhunderten die wissenschaftliche Methode der Jurisprudenz“. Sauter, J. Die philosophischen Grundlagen des Naturrechts. Untersuchungen zur Geschichte der Rechts- und Staatslehre. Frankfurt a. M.: Sauer u. Auvermann, 1966, S. 113. Vgl. dazu Röttgers, K. Kritik und Praxis, a. a. O., S. 20–21. Bayle, P. „Catius“. In: Dictionnaire historique et critique. Cinquième édition, revue, corrigée et augmentée. Avec la vie de l’auteur par Mr. Des Maizeaux. 4 Bände. Amsterdam, Leiden, La Haye & Utrecht, 1740. Bayle, P. „Commentaire philosophique, sur ces paroles de l’evangile selon S. Luc, Chap. XIV. Vers 23. Première Partie“. In: Ouevres diverses de Mr. Pierre Bayle. Vol. 2. La Haye, 1737, S. 368.

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duced from them, want of coherence in the parts, and of evidence in the whole, these are every where to be met with in the systems of the most eminent philosophers, and seem to have drawn disgrace upon philosophy itself.251

In Rahmen seiner bekannten These über personale Identität erläutert Locke das identische Ich als einen forensischen Begriff, also als einen Rechtsbegriff. Die Kontinuität der Persönlichkeit des Subjekts ist eine unerlässliche Voraussetzung für die Zurechnung vergangener, gegenwärtiger und zukünftiger Taten, aber auch dafür, dass „intelligent agents [be] capable of a law, and happiness and misery“.252 Auch Reimarus gebraucht das Bild von einem „Richterstuhl der Vernunft“253, und Meier schreibt über einen unparteiischen Richter in spekulativen Fragen über Wahrheit und Falschheit 254 und sieht in der Vernunft eine Richterin, deren Entscheidungsgründe sehr verschieden seien.255 Dies sind nur einige Beispiele von Philosophen, die juristische Bilder und Metaphern in der Philosophie der Neuzeit verwendet haben. Reinhard Brandt 256 folgend, richtet sich der Blick nun auf das Vorkommen der Gerichtsmetaphorik bei zwei großen Vertretern der Aufklärung bzw. der neuzeitlichen Philosophie: Bacon und Leibniz. Dabei wird deutlich, dass wichtige Begriffe und konzeptuelle Strukturen, die in der Jurisprudenz ihren „natürlichen Ort“ haben, in die Philosophie übertragen worden sind. Dabei handelt es sich nicht nur um die schon erwähnten Bilder von „Gerichtshof“ und „Richter“, sondern auch die von „Prozess“, „Rechte“, „Freiheit“, „Autonomie“, „Souveränität“, „Herrschaft“, „Erwerb“ u. a. tauchen in neuen, erkenntnistheoretischen und praktischen Zusammenhängen auf. Die hier vorgeschlagene philosophisch-geschichtliche Diskussion schafft insofern die Grundlage für die Untersuchung der kantischen Verwendung der juristischen Metaphern, als ihre historischen Voraussetzungen und

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Hume, D. A Treatise of Human Nature. Oxford: Clearedon Press, 1896, S. xvii. Locke, J. An Essay Concerning Human Understanding. London: 1824, Book II, Cap. XXVII, § 26, S. 346. Reimarus, H. S. Die Vernunftlehre, als eine Anweisung zum richtigen Gebrauch der Vernunft […] Hamburg. Erste Auflage, 1756, S. 43, § 38; zweite und dritte Auflagen, 1758, 1766, S. 15, § 21; vierte Auflage, 1782, S. 38, § 21: „Richterstuhl der Vernunft“. Vgl. Hinske, N. „Reimarus zwischen Wolff und Kant. Zur Quellen- und Wirkungsgeschichte der Vernunftlehre von Hermann Samuel Reimarus“. In: Boronski L. & Walter, W. Logik im Zeitalter der Aufklärung. Studien zur ‚Vernunftlehre‘ von Hermann Samuel Reimarus. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 1980. Meier, G. F. Beyträge zu der Lehre von den Vorurtheilen des menschlichen Geschlechts. Contributi alla dottrina di pregiudizi del genere umano: Kritische Ausgabe - Edizione critica. Hrsg. von H. Delfosse, N. Hinske & P. Rumore. Pisa & Stuttgart-Bad Cannstatt: ETS & Frommann-Holzboog, 2006. „Wenn meine Vernunft denenjenigen Gründen für die Unsterblichkeit der Seele nachdenckt, an denen mein Herz Antheil nimt, und die es mit Entzücken fühlt: so ist sie einem Richter ähnlich, welcher sich in eine schöne Klägerin, die eine gerechte Sache hat, sterblich verliebt; er giebt ihr Recht, ohne ihre Gründe recht zu hören […] Allein unsere Vernunft ist ofte einem alten Richter ähnlich, welcher kein ander Gefühl hat, als eine Empfindung von der auf die Pandecten gegründeten Gerechtigkeit. Sie will eine Wahrheit allein untersuchen, ohne auf die Vorbitte des Herzens zu hören“. Meier, G. F. Beweis, daß die Menschliche Seele ewig lebt. Zweite Auflage. Halle: 1754, S. 18–19. Brandt, R. „Einführung“, a. a. O.

vermutlich auch die unmittelbaren Einflüsse auf Kants eigene Theorie dargestellt werden. Diese in der Philosophie gebrauchten Bilder veranschaulichen in einer juristischen Verkleidung zentrale Schlagworte der Aufklärung, nämlich die Befreiung von Vorurteilen durch die gründliche Überprüfung des Wissens (die „unparteiische“, gemeinsame Vernunft), das freie und eigenständige Denken, das sich über alle Einseitig- und Parteilichkeiten hinwegsetzt (das Selbstdenken, die Einmündigkeit), usw. Wenn es tatsächlich möglich ist, einen gemeinsamen Nenner dafür zu finden,257 so kommen jene Leitmotive der Aufklärung in der am Anfang dieses Kapitels zitierten Stelle der ersten Vorrede zur KrV über das Zeitalter der Kritik und den Gerichtshof der Vernunft prägnant zum Ausdruck (A xi). 2.2

Bacon und die Naturforschung als Gerichtsprozess

2.2.1 Bacon und die juridischen Metaphern Es ist bekannt, dass das Motto der zweiten Auflage der Kritik der reinen Vernunft aus der Bacon’schen Instauratio Magna stammt. Es lautet: Von uns selbst schweigen wir; was jedoch die Sache betrifft, um die es hier geht, so bitten wir, dass die Menschen sie nicht für eine bloße Meinung, sondern für eine erste Angelegenheit erachten; und überzeugt sind, dass wir den Grund nicht für irgendeine Schule oder Lehrmeinung, sondern für Nutzen und Würde der Menschheit zu legen bemüht sind; dann, dass sie nach Maßgabe ihres eigenen Vorteils […] auf das allgemeine Beste258 bedacht sind […] und selbst an ihr teilhaben; außerdem, dass sie Gutes erwarten und sich nicht einbilden oder denken, unsere Erneuerung der Wissenschaften (Instaurationem) sei etwas Endloses und Übermenschliches; denn in Wahrheit ist die doch das Ende oder der rechtmäßige Schluß endlosen Irrtums.259

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Vgl. Hinske, N. „Die tragenden Grundideen der deutschen Aufklärung. Versuch einer Typologie“, a. a. O.; Brandt, R.. Immanuel Kant – Was bleibt?, a. a. O., S. 175–196. „in commune consulant“. In der modernen Ausgabe des Novum Organum steht: „gemeinschaftlich beratschlagen“. Bacon, F. Neues Organon. Hrsg. u. mit e. Einl. von Wolfgang Krohn. Übersetzung von Rudolf Hoffmann. Hamburg: Meiner, 1999, S. 35. Es geht hier um einen schwer zu übersetzenden Ausdruck, der in der Literatur schon viele Diskussionen verursacht hat. Dazu siehe Vaihinger, H. Commentar zu Kants „Kritik der reinen Vernunft“. Bd. 1, a. a. O., S. 76. Vaihinger schlägt eine eigene Übersetzung vor: „auf das allgemeine Beste bedacht sei […] und selbst Theil nehme“; er erwägt aber auch andere Vorschläge: „gemeinsam Rath pflegen“ (Kirchmann), „gemeinschaftlich zu Werke gehen“ (Bartoldy). Laut Vaihinger sind „grammatisch betrachtet beide Übersetzungen: ‚gemeinsam Rath pflegen‘, und: ‚für das allgemeine Beste sorgen‘, gleichermassen möglich“. In jüngerer Zeit haben O’Neill mit „discuss together“ und Höffe mit „to join in consultation for the common good“ zu der Diskussion beigetragen. Höffe, O. „Kritik der reinen Vernunft: Eine kosmopolitische Lektüre“, a. a. O., S. 245–246; O’Neill, O. „Reason and Politics in the Kantian Enterprise“, a. a. O., S. 6–7). Bacon, F. Instauratio Magna. The Works of Francis Bacon. Gesamtausgabe von Spedding 1857–1874. Bd. 1, S. 210. Die hier benutzte Übersetzung findet sich in der Meiner-Ausgabe der KrV. Kant, I. Kritik der reinen Vernunft. Hrsg. von Jens Timmermann. Mit. Biblio. v. Heiner Klemme. Hamburg: Meiner, 1998, S. 2.

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Wichtige Themen für das Projekt einer Kritik der reinen Vernunft finden sich in diesem Motto: der Verzicht auf voreingenommene Parteinahme bei philosophischen Streitfragen,260 die gemeinsame und kooperative Zusammenarbeit, das Ende des immer noch verharrenden Irrtums, die Idee einer radikale Erneuerung der Philosophie u. a. Wir werden unten auf diese berühmten Zeilen zurückkommen; vorerst sei lediglich darauf hingewiesen, dass Bacons Einfluss auf Kant größer sein könnte, als dieses Motto nahelegt. Francis Bacon war wahrscheinlich der erste bedeutsame Philosoph, der zur Kennzeichnung seiner eigenen Lehre ausdrücklich Rechtsbegriffe heranzog. Eine durch rechtliche Bilder inspirierte Neudefinition der Zielsetzung und Methode der Philosophie hängt mit der von Bacon vorgeschlagenen Reform bzw. der Loslösung von der Tradition zusammen.261 Sogar der Gebrauch des Begriffs „Revolution“ zur Bezeichnung einer „radikalen Abkehr von der Tradition“ findet sich bei Bacon zum ersten Mal, wenngleich vermutlich nicht in einem politischen, sondern in naturwissenschaftlichem bzw. astronomischem Sinn, wie es auch bei Kant der Fall ist.262 Die kritische, manchmal geradezu vernichtende Beurteilung der Vergangenheit und die Verherrlichung der damals neuen experimentellen Wissenschaften sind Leitmotive seiner Philosophie. Allerdings war Bacon von seiner Ausbildung her Jurist und in seinem Wirken auch Politiker; er hatte hohe Ämter im englischen Königreich inne und besaß somit praktische und theoretische Kenntnisse in der Jurisprudenz. Die juristischen Bilder sind wohl aus diesem Grund relativ häufig in seinen philosophischen und naturwissenschaftlichen Schriften zu finden.263

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Vgl. Bacon, F. Novum Organum. The Works of Francis Bacon. Gesamtausgabe von Spedding 1857–1874. Bd. 1, Buch I, Aphorismus 77: „Auch jene angebliche Übereinstimmung (consensu) ist jene, die aus der Freiheit des Urteils (ex libertate judicii), nachdem zuvor die Sache erforscht ist, entsteht“. Rossi, P. I filosofi e le macchine. 1400–1700. Milano: Feltrinelli, 2009, S. 94: „L’intera opera di Francesco Bacone è rivolta a sostituire a una cultura di tipo retorico-letterario una cultura di tipo tecnico-scientifico. Bacone è perfettamente consapevole che la realizzazione di questo programa di riforma comporta una rottura con la tradizione“. Krohn, W. Francis Bacon. München: Beck, 2006, S. 7: „Bacons Philosophie ist eine revolutionäre Philosophie. Sie ist eine Loslösung von allen philosophischen Traditionen, auf die seine Zeit zurückblickte. Von den antiken Philosophien des Platon und Aristoteles behauptete Bacon, sie würden zwar die Fähigkeit schulen, gegenüber anderen Recht zu behalten, nicht aber die Erkenntnis der Welt erweitern. Der Scholastik warf er vor, Welterkenntnis und religiöses Heil zum Verderben beider zu vermischen. Die Philosophien der Renaissance waren für ihn phantastische Konstruktionen, die mehr der Dichtung als der Erfahrung entsprangen“. Bacon, F. Novum Organum, a. a. O., Buch I, Aphorismus 92, S. 303. Vgl. Krohn, W. Francis Bacon, a. a. O., S. 7; Kim, S.-H.: Bacon und Kant. Ein erkenntnistheoretischer Vergleich zwischen dem Novum Organum und der Kritik der reinen Vernunft. Berlin & New York: De Gruyter, 2008, S. 20–22. Vgl. dazu Krohn, W. „Das Labyrinth der Natur. Bacons Philosophie der Forschung betrachtet in ihren Metaphern“. In: Sandkühler, H. J. (Hrsg.). Interaktionen zwischen Philosophie und empirischen Wissenschaften. Philosophie- und Wissenschaftsgeschichte zwischen Francis Bacon und Ernst Cassirer. Frankfurt a. M. [u. a]: Lang, 1995; Brandt, R. Die Bestimmung des Menschen bei Kant, a. a. O., S. 284–285; ders. „Einführung“, a. a. O., S. 4–5.

In Parasceve ad Historiam Naturalem et Experimentalem, einer späteren Schrift von ca. 1622, behauptet Bacon, dass die Natur, um die experimentellen Wissenschaften zu ihrem Recht kommen zu lassen, vor Gericht gestellt werden solle: […] oder eher (so wie in den Zivilprozessen) in dieser großen Klage auf Herausgabe (einer Sache durch den Besitzer an den Eigentümer), durch göttliche Gnade und Voraussicht zugelassen und eingerichtet (durch die das Menschengeschlecht sein Recht auf die Natur wiederzuerlangen versucht) sollen wir die Natur selbst und die Künste gemäß den Gesetzartikeln examinieren.264

Damit das „Menschengeschlecht seine Rechte auf die Natur wiedererlangen“ kann, muss die Natur gleichsam ins Verhör genommen werden. Der Philosoph soll die Position eines Richters einnehmen, der die Natur befragt und sie sogar dazu zwingt, seine Fragen zu antworten.265 Es handelt sich um einen Straf-266 bzw. Kriminalprozess267, in dem man der Natur ihre Bekenntnisse, wenn sie nicht freiwillig dazu bereit ist, durch Zwangsmaßnahmen entlockt. Aber das bedeutet nicht unbedingt, dass bei diesem Prozess Gewalt angewendet werden soll. W. Krohn behauptet, dass die von Bacon als Weg der Wahrheitsfindung vorgeschlagene Verhörtechnik eher der Methode entspricht, die in England als rules of evidence entwickelt wurde, also jenen Ermittlungsregeln, die aus Hauptverhören, Kreuzverhören und Wiederverhören bestehen. Die beschriebene Verhörmethode „steht Modell für Bacons Methodik. Einzelne präzise Fragen und entsprechende Antworten bestimmen die Verhöre. Lange Erörterungen sind selten zugelassen. Die Rolle des englischen Richters als möglichst neutraler Beobachter der Kontrahenten gleicht der eines Schiedsrichters in einem Spiel des Pro und Contra“.268 Einige Autoren behaupten, dass auch der Stil oder die sprachliche Struktur bei Bacon seine juristischen Wurzeln verraten. Laut Brian Vickers benutzt Bacon in vielen Schriften ein Stilmittel, das auf die klassische Rhetorik zurückgeht und damals in der Rechtspraxis häufig war, nämlich die partitio oder divisio. Der in Rhetorica ad Herennium beschriebenen Struktur der Rede zufolge kommt die 264

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Bacon, F. Parasceve ad Historiam Naturalem et Experimentalem. In: The Works of Francis Bacon. Gesamtausgabe von Spedding 1857–1874. Bd. I, S. 402. Die hier wiedergegebene Übersetzung findet sich bei Krohn, W. „Das Labyrinth der Natur. Bacons Philosophie der Forschung betrachtet in ihren Metaphern“, a. a. O., S. 44. Die lateinische Originalfassung unterscheidet sich leicht: „vel potius (sumto exemplo a causis civilibus) in hac Vindicatione Magna sive Processu, a favore et providentia divina concessu et instituto (per quem genus humanum jus suum in naturam recuperare contendit), naturam ipsam et artes super articulos examinemus“. „Bacon’s program is perhaps nowhere better depicted than in the forensic image of the stern judge who dictates his questions in order to extract manipulative directions with regard to his sole practical interests“. Pérez-Ramos, A. „Bacon’s Legacy“. In: Peltonen, M. (Hrsg.). The Cambridge Companion to Bacon. Cambridge: Cambridge University Press, 1996, S. 330. Krohn, W. „Das Labyrinth der Natur. Bacons Philosophie der Forschung betrachtet in ihren Metaphern“, a. a. O., S. 43. Brandt, R. Die Bestimmung des Menschen bei Kant, a. a. O., S. 284. Krohn, W. „Das Labyrinth der Natur. Bacons Philosophie der Forschung betrachtet in ihren Metaphern“, a. a. O., S. 43.

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partitio nach der Darstellung des Sachverhalts oder der narratio.269 In diesem Moment der Rede beschreibt der Redner In diesem Moment der Rede beschreibt der Redner das, was zu kommen ist, in Übereinstimmung mit dem, was als Status oder Streitpunkt in dem Fall schon angesetzt worden war. Dieser aus der juristischen Rhetorik von Quintilian und Cicero stammende Gebrauch der partitio wurde in den Inns of Court von Britain gelehrt, wo Bacon seine juristische Ausbildung absolvierte. Vickens beschreibt die in dieser Einrichtung angebotene Lehrmethode wie folgt: „[In] the actual teaching method of the Inns of Court […], and the writings of some theorists on the Law, [m]uch of the student’s time was taken up in learning statutes and cases, and in taking part in the two dialectical exercises, the ‘moot’ and the ‘bolt’, which consisted of arguments pro and contra. But the major teaching method, the Reading, which took place twice a year, added to this dialectical structure a well-defined concept of division“.270 In Bacons Philosophie finden sich weitere Spuren der damaligen juridischen Methode. So wird zum Beispiel eine strukturelle Analogie zwischen der Vorgehensweise der Bildung „rechtlicher Maximen“, dem Thema einer der frühesten Schriften von Bacon,271 und der induktiven Methode,272 die einen wesentlichen Bestandteil seiner Naturphilosophie bildet, gesehen. Beide gehen von einer Analyse der Erfahrung aus und lehnen axiomatische bzw. syllogistische Modelle ab. Im ersten Fall muss der Richter durch die Betrachtung von Einzelfällen Grundsätze bilden und dann zu Prämissen für die Entscheidung von neuen Rechtsfällen, die Beseitigung von Widersprüchen und den gesicherten Gebrauch von Analogien gelangen. Der Naturwissenschaftler muss wiederum eine Reihe von Experimenten durchführen, eine große Zahl von Materialien zusammentragen, die Ergebnisse verallgemeinern, zu Prinzipien, den Axiomen, gelangen und dann diese durch eine miss- oder gelingende Anwendung auf neue, in der Erfahrung gegebene Einzelfälle auf die Probe stellen.273 In beiden Fällen fungieren sowohl die rechtlichen Maximen als auch die Axiome als „regulative Prinzipien“ und dienen grundsätzlich zur „Erfindung von neuen Wahrheiten“, indem allgemeine Regeln auf die Erfahrung angewandt werden.274 Aufgrund der Tatsache, dass die juristischen Maximen sich gleichsam wie Regeln zweiter

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[Anonymus] Ad. C. Herrenium. De ratione dicendi. Cambridge: Harvard University Press, 1964, I, III, 4, S. 8: „Inventio in sex partes orationis consumitus: in exordium, narrationem, divisionem, confirmationem, confutationem, conclusionem“. Quintilianus stellt wiederum ein ausgearbeitetes Schema vor, das sieben statt sechs Komponenten enthält: proemium, narratio, confirmatio, propositio, partitio, refutatio e peroratio. Quintilian, M. F. Ausbildung des Redners. Zwölf Bücher = M. Fabii Quintiliani Institutionis oratoriae libre XII. Hrsg. u. übers. von Helmut Rahn. Bd. I u. II. Darmstadt: WBG, 2006, Lib. IV, I.I. Vickers, B. Francis Bacon and Renaissance Prose. Cambridge: Cambridge University Press, 1968, S. 39. Bacon, F. Maxims of the Law. In: The Works of Francis Bacon. Gesamtausgabe von Spedding 1857–1874, Bd. XV. Die Schrift wurde 1630 posthum veröffentlicht, ihre Abfassung reicht aber nach Vermutung der Herausgeber bis 1593/1597 zurück. Vgl. z. B. Bacon, F. Novum Organum, a. a. O., S. 245, Buch I, Aphorismus 19. Kocher, P. „Francis Bacon on the Science of Jurisprudence“. In: Journal of the History of Ideas, Vol. 18, No. 1, Jan. 1957. Vgl. auch Krohn, W. Francis Bacon, a. a. O., S. 139–140. Bacon, F. Novum Organum, a. a. O., S. 246–247, Buch I, Aphorismus 24.

Ordnung verhalten – was so auch von den mittleren Axiomen gesagt werden kann –, nennt Bacon die juristischen Maximen legum leges.275 2.2.2 Die Bedeutung der juridischen Metaphorik bei Bacon Die Gerichtsmetaphorik hat darüber hinaus jedoch eine tiefere Bedeutung bei Bacon. Das von ihm vorgeschlagene neue Organon soll dazu dienen, Fehlerursachen zu entdecken, genauer gesagt Idole zu entlarven, nämlich die „false appearances“276 bzw. „notiones falsae“277, die die Philosophen bzw. Wissenschaftler vom richtigen Weg der Wahrheitsfindung abbringen und zu Vorurteilen und Irrtürmern führen.278 Die voreiligen, ohne vorherige Prüfung gebildeten und nur auf Meinungen gestützten Urteile sollen durch eine aktive und gegen diese „internal and profound errors and supersticions in the nature of mind“ 279 gerichtete Einstellung zurückgedrängt werden. This facility of credit and accepting or admitting things weakly authorised or warranted, is of two kinds according to the subject: for it is either a belief of history (as the lawyers speak, matter of fact); or else of matter of art and opinion.280

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Bacon, F. Maxims of the Law, a. a. O., S. 180. Man könnte auch erwägen, inwiefern der Begriff von einem Gesetz der Natur bei Bacon (und bei den „neuen“ Wissenschaften) auf einer rechtlichen bzw. politischen Gedankenstruktur aufbaut. Beide drücken eine aus der Beobachtung der Erfahrungsgegenstände verallgemeinerte Norm aus, die die zukünftigen natürlichen bzw. rechtlichen „Gegebenheiten“ regeln soll. Es werden dabei aber auch theologische Elemente angedeutet, wie z. B. die Regelmäßigkeit einer göttlichen Verordnung gegenüber der Natur, die „Unverbrüchlichkeit“ und „Absolutheit“ der Geltung von Normen, die allein aus einem absolut vollkommenen Willen entstammen können. Der Bereich, der sich hier für die Forschung eröffnet, ist ziemlich breit und gehört nicht zu unserer Fragestellung. Vgl. Kelsen, H. Vergeltung und Kausalität. Eine soziologische Untersuchung. The Hague: W. P. van Stockum & Zoon, 1941; Krohn, W. „Die ‚Neue Wissenschaft‘ der Renaissance“. In: Böhme, G., van den Daele, W. & Krohn, W. Experimentelle Philosophie. Ursprünge autonomer Wissenschaftsentwicklung. Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 1977; Zilsel, E. The Social Origins of Modern Science. Dordrecht, Boston & London: Kluwer Academic Publishers, 2003. Bacon, F. Valerius Terminus: of the Interpretation of Nature. In: The Works of Francis Bacon. Gesamtausgabe von Spedding 1857–1874, Bd. VI, S. 66; ders. The Advancement of Learning. In: The Works of Francis Bacon. Gesamtausgabe von Spedding 1857–1874, Bd. VI, S. 276. Bacon, F. Novum Organum, a. a. O., S. 250, Buch I, Aphorismus 38. Vgl. dazu Schneiders, W. Aufklärung und Vorurteilskritik. Studien zur Geschichte der Vorurteilstheorie. Stuttgart-Bad Cannstatt: Frommann-Holzboog, 1983, S. 49–56. Bacon, F. Valerius Terminus: of the Interpretation of Nature, a. a. O., S. 61. Bacon, F. Advancement of Learning, a. a. O., S. 125–126. Der Auszug geht weiter: „As to the former [belief of history – D. K. T], we see the experience and inconvenience of this error in ecclesiastical history; which hath too easily received and registered reports and narrations of miracles wrought by martyrs, hermits, or monks of the desert, and other holy men, and their relics, shrines, chapels, and images: which though they had a passage for a time by the ignorance of the people, the superstitious simplicity of some, and the politic toleration of others holding them but as divine poesies; yet after a period of time, when the mist began to clear up, they grew to be esteemed but as old wives’ fables, impostures of the clergy, illusions of spirits, and badges of Antichrist, to the great scandal and detriment of religion“.

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Um die besonders aus der Geschichte, den Künsten usw. stammenden Fehlerquellen anzugehen, weist Bacon der Philosophie die Aufgabe zu, mithilfe einer strengen, aus den Naturwissenschaften entlehnten Methode die Wurzel der Vorurteile und Irrtümer zu finden und diese zu bekämpfen. Das ist laut Bacon die Voraussetzung der „eigentlichen Interpretation der Natur“ (legitimam Naturae Interpretationem)281, die ihrerseits erlaubt, dass die „human race recovers that right over nature which belongs to it by divine bequest“ (Recuperet modo genus humanum jus suum in naturam quod ei ex dotatione divina competit)282, indem „die Macht und die Herrschaft des Menschengeschlechts über die Gesamtheit selbst der Natur“ 283 erneuert und erweitert werden. Bacons Naturgeschichte der Winde bietet ein Beispiel dafür, wie diese Methode in Gang gesetzt werden kann. Nachdem er eine Liste von 33 „offenen Forschungsfronten“ aufgestellt hat und noch bevor er das zu seiner Zeit verfügbare Wissen über den Wind vorstellt, schreibt Bacon über die unzulänglichen Antwortversuche: Ohne Zweifel können viele von ihnen auf der Basis unserer gegenwärtigen Erfahrung nicht beantwortet werden. Aber wie in einem Gerichtsverfahren der gute Rechtslehrer weiß, wie er dem Fall angemessen fragen muss, aber nicht weiß, was der Zeuge antworten wird, ebenso ergeht es mir in der Naturgeschichte. Die späteren werden das übrige untersuchen.284

Die juristischen Metaphern bei Bacon („Prozess“, „Rechte“, „Herrschaft“, „Gerichtsverfahren“ usw.) spielen alle, wie bereits Blumenberg 285 erklärt hat, auf eine radikale Veränderung der Stelle des Menschen im Kosmos und der menschlichen Einstellung gegenüber der Natur und der Wahrheit an. Anstatt eine passive Haltung als bloßer Zuschauer gegenüber der Natur einzunehmen, soll der Mensch, so Bacon, sich als ein handelndes, aktives Wesen begreifen, statt einem Angeklagten ein Richter sein, statt einem Theater ein Tribunal abgehalten werden. „Hier [bei Bacon] wird die alte Metapher von der Welt als dem Theater und dem Menschen als Zuschauer ausdrücklich außer Kraft gesetzt; die Welt wird zum Tribunal, der Mensch zum Richter und Veranstalter des scharfen Verhörs, in das die Natur genommen wird“.286 Bacon drückt etwas Ähnliches in Advancement of learning aus: „But it is not good to stay too long in the theatre. Let us now pass on to the judicial place of palace of mind. So nature exhibits herself clearly under the trials“.287 Diese Behauptung Bacons kommt im zweiten Buch über „the parts of Learning“ vor, genauer am Übergang von Dichtung und Geschich281 282 283 284

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Bacon, F. Novum Organum, a. a. O., S. 322, Buch 1, Aphorismus 116. Ebd., S. 337–338, Buch 1, Aphorismus 129. Ebd., S. 337. „Neque nobis dubium est, quin ad nonullos horum responderi non possit, secundum copiam experimentiae quam habemus. Verum quemadmodum in causis civilibus quid causa postulet ut interrogetur noverit jurisconsultus bonus, quid testes repondere possint non norit; idem nobis circa Historiam Naturae accidit. Posteri caetera viderint“. Bacon, F. Historia Ventorum. In: The Works of Francis Bacon. Gesamtausgabe von Spedding 1857–1874, Bd. 3, S. 224. Deutsche Übersetzung von Krohn, W. Francis Bacon, a. a. O., S. 58. Blumenberg, H. Paradigmen zu einer Metaphorologie, a. a. O., S. 38–41. Ebd., S. 38. Bacon, F. The Advancement of Learning, a. a. O., S. 206.

te – die, wie oben erwähnt, Quellen von Irrtümern sind – zu Philosophie. In der Philosophie gilt es dann, in den „judicial place of mind“ einzutreten, wo sich „die Natur“ durch „Prozesse“ deutlicher zeigt. Es handelt sich hier um die Experimente, die der Wissenschaftler durchführen, und die propädeutische Arbeit, die der Philosoph leisten muss, um von der Natur die Wahrheit zu erwerben.288 2.2.3 Der Einfluss Bacons auf Kant Es ist schwer, genau zu bestimmen, in welchem Maße Bacon Kant tatsächlich beeinflusst hat.289 Man weiß, dass Kant wenigstens ein Werk Bacons in seiner persönlichen Bibliothek hatte.290 In seinen veröffentlichten Werken erwähnt Kant Bacon zwar nur fünf Mal, nämlich in der KrV291, in der Logik Jäsche292 und in der Anthropologie293; im Nachlass und in den Vorlesungen aber ist diese Anzahl größer: Hier kommt Bacon vierzehn Mal vor.294 Die Hinweise auf Bacon erstre288

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Bei der Herrschaft über die Natur handelt es sich um Eigentümerrechte: „Hintergrund der Rechtstreite sind Eigentumsfragen. Der Natur wird das Eigentumsrecht an dem Besitz ihrer Eigenschaften bestritten. Sie versucht diese zu verbergen, aber gegenüber der neuen Methode der Inquisition muss sie bekennen und der Schiedsspruch lautet auf Herausgabe. Für die Bezeichnung des Ziels all dieser Prozesse benutzt Bacon die Metapher der Macht, der Verfügungsgewalt über die Natur. Diese ist allerdings eingeschränkt auf die tatsächlich beherrschten Eigenschaften, die erkannten Formen der Natur. Darüber hinaus reicht die Herrschaft nicht“. Krohn, W. „Das Labyrinth der Natur“, a. a. O., S. 48. Die ausführlichste Untersuchung darüber stammt von Shi-Hyong Kim: Bacon und Kant, a. a. O. Der Autor zählt dreizehn Bezugspunkte zwischen Bacon und Kant auf, die in der Literatur schon erwähnt wurden: 1) der Reformgeist, der den beiden Philosophen gemeinsam ist; 2) die veränderte Auffassung über die Natur und Naturbetrachtung; 3) die Gemeinsamkeit im neuen Verständnis über die Erkenntnis und das Erkenntnissubjekt; 4) das Anliegen, Rationalismus und Skeptizismus zu überwinden; 5) die Auffassung von der Erkenntnis als eine schöpferische Tätigkeit; 6) der enge Zusammenhang zwischen der Idolenlehre und der transzendentalen Dialektik bzw. Antinomienlehre; 7) die Verschiedenheit im Verständnis der Metaphysik; 8) die innige gedankliche Beziehung zwischen Bacons ars inveniendi und Kants regulativen Vernunftideen; 9) der Unterschied im Verständnis des Wesens der Religion; 10) eine Gemeinsamkeit bei der veränderten Zielsetzung der Philosophie und dem veränderten Verständnis vom Endzweck der Wissenschaft; 11) die Auffassung, dass Bacon ein „gedanklicher Wegbereiter der kantischen Philosophie“ bzw. ein „Vorläufer der Aufklärung“ sei; 12) die Alternative zwischen Kant oder Bacon, wie sie schon Maïmon sah; und endlich 13) die juridischen Metaphern (ebd., S. 40-44). Auf alle diese Punkte kann hier im Einzelnen nicht eingegangen werden. Warda, A. Immanuel Kants Bücher, a. a. O. Das von Warda erwähnte Buch ist Baco de Verulam Franciscus, operum moralium et civilium tomus. Qui continet … Cura et fide Guilielmi Rawley … In hoc volumne, iterum excusi, includuntur … Londini, 1638. Diese Ausgabe bestand aus vielen Schriften von Bacon, nämlich History of the Reign of King Henry VII. (1622), Sermones fideles, sive Interiora rerum, d. h. Essays or Counsels Civil and Moral (1597, 1612, 1625), De Sapientia Veterum (1609), Dialogum de bello sacro, d. h. Advertisement Touching an Holy War (verfasst 1622, publiziert 1629) und New Atlantis (1624), De Augmentis (1623), Historia Ventorum (1622) und Historia vitae et mortis (1623). Vgl. Kim, S.-H. Bacon und Kant, a. a. O., S. 59–61. Das Motto und KrV B xii. Log AA 09: 32. Anth AA 07 223; 405. AA 16: 48, 58; AA 18: 287; AA 24: 28, 37, 613, 804; AA 28: 539; AA 29: 103, 107; „Logik Hechsel“. In: Kant, I., Logik Vorlesung. Bd. 2. Hrsg. von Tillmann Pinder. Hamburg: Meiner, 1998, S. 301.

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cken sich dabei über einen großen Zeitraum, der Datierung von Adickes zufolge von 1752/1756295 bis zum Ende der Lehrtätigkeit Kants296. Der Zusammenhang ist dabei fast immer ein zweifacher: Bacon wird als der erste Philosoph der Natur und der Erfahrung und als der Reformer der Naturwissenschaften, der Philosophie und der Logik gesehen.297 Bei allen Hinweisen ist dann der oben geschilderte juridische Hintergrund herauszuhören. Die ersten Autoren, die Bacon und Kant aufeinander beziehen, weisen denn auch auf das reformistische Grundanliegen beider Philosophen hin. Maïmon z. B. nennt Kant und Bacon „die größten Philosophen ihrer Zeit“; beide hätten die „Bewerkstelligung einer völligen Reformation der Philosophie (und folglich aller Wissenschaften insofern sie ihre Prinzipien aus der Philosophie nehmen müssen) vorgesetzt“.298 In der Tat herrschte ein dringlicher Reformbedarf in der Philosophie jener Zeit. Vaihinger schreibt: Schon im Jahre 1772 sagten die aus dem Goethe’schen Kreise redigirten ‚Frankfurter Gelehrten Anzeigen‘: ‚Unsere Zeiten, wir müssens gestehen, und sollten auch manche noch so sauer dazu sehen; unsere Zeiten brauchen einen neuen Baco, so nöthig als die Zeiten unserer Väter‘.299

Kant selbst redet in einem Brief an Lambert vom 31. Dezember 1765 über eine lang erwartete und doch erwünschte „Revolution der Wissenschaften“.300 Der deutliche Ton dieser Zeilen ruft Bacons Vorhaben ins Gedächtnis, der Philosophie und den Wissenschaften eine neue Richtung zu geben. Dies bringt er nicht zuletzt im Motto der Instauratio Magna klar zum Ausdruck: Über den Stand der Wissenschaften, der weder glücklich ist, noch zu einer Stärkung der Erkenntnis führt. Dem menschlichen Verstande muß ein ganz neuer, bisher nicht gekannter Weg eröffnet werden. Andere Hilfsmittel müssen beschafft werden, damit der Geist von seinem Recht auf die Natur der Dinge Gebrauch machen kann (ut mens suo jure in rerum naturam uti possit).301

In der Philosophie gelangt man, so Kant, zur erwünschten Reform durch „eine gänzliche Veränderung der Denkungsart“ (Brief an Herz, 11.05.1789, AA 10: 269), die die philosophischen Konflikte zu überwinden vermag. Die philosophischen Schulen, die es aufzuheben gilt, sind bei Kant und bei Bacon die „Empiriker“ oder „Skeptiker“ und die „Dogmatiker“. Bacon schreibt: 295 296 297 298 299 300

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Rx 1635 AA 16: 58. Anth AA 07 223, 405; Log AA 09: 32. Vgl. Kim, S.-H.: Bacon und Kant, a. a. O., S. 50ff. Maïmon, S. „Baco und Kant: Schreiben des H. S. Maimon an den Herausgeber dieses Journals“. In: Berlinisches Journal für Aufklärung, 1788–90, 1790, S. 102–103. Vaihinger, H. Commentar zu Kants ‚Kritik der reinen Vernunft‘, a. a. O., S. 76–77. „Ehe wahre Weltweisheit aufleben soll, ist es nöthig, daß die alte sich selbst zerstöhre, und, wie die Fäulnis die vollkommenste Auflösung ist, die iederzeit vorausgeht, wenn eine neue Erzeugung anfangen soll, so macht mir die Crisis der Gelehrsamkeit zu einer solchen Zeit, da es an guten Köpfen gleichwohl nicht fehlt, die beste Hofnung, daß die so längst gewünschte große revolution der Wissenschaften nicht mehr weit entfernet sey“ (AA 10: 57). Über das „ausgeprägte Krisenbewußtsein“ in Kants vorkritischer und kritischer Philosophie siehe Engfer, H.-J. Philosophie als Analysis, a. a. O., S. 51ff. Bacon, F. Instauratio Magna, a. a. O., S. 199.

Die welche die Wissenschaften betrieben haben, sind Empiriker oder Dogmatiker gewesen. Die Empiriker, gleich den Ameisen, sammeln und verbrauchen nur, die aber, die die Vernunft übertönen, gleich den Spinnen, schaffen die Netze aus sich selbst. Das Verfahren der Biene aber liegt in der Mitte; sie zieht den Saft aus den Blüten der Gärten und Felder, behandelt und verdaut ihn aber aus eigener Kraft. Dem nicht unähnlich ist nun das Werk der Philosophie; es stützt sich nicht ausschließlich oder hauptsächlich auf die Kräfte des Geistes, und es nimmt den von der Naturlehre und den mechanischen Experimenten dargebotenen Stoff nicht unverändert in das Gedächtnis auf, sondern verändert und verarbeitet ihn im Geiste. Daher könne man bei einem engeren und festeren Bündnisse dieser Fähigkeiten, der experimentellen nämlich und der rationalen, welches bis jetzt noch nicht bestand, bester Hoffnung sein.302

Die zoologische Metapher Bacons wird bei Kant ausdrücklich eine politische. Wie die schon zitierten Passagen der Vorrede A und auch der Transzendentalen Dialektik und der Transzendentalen Methodenlehre (A 407/B 433–34; A 767/ B 795) belegen, treten bei Kant Despoten, Anarchisten und der Gerichtshof der Kritik anstelle von Ameisen, Spinnen und Biene auf. Anfänglich war ihre [scil. der Metaphysik] Herrschaft, unter der Verwaltung der Dogmatiker, despotisch. Allein weil die Gesetzgebung noch die Spur der alten Barbarei an sich hatte, so artete sie durch innere Kriege nach und nach in völlige Anarchie aus, und die Sceptiker, eine Art Nomaden, die allen beständigen Anbau des Bodens verabscheuen, zertrennten von Zeit zu Zeit die bürgerliche Vereinigung (A ix).

Wie bei Bacon das Verfahren der „Biene“ in der Philosophie nachgeahmt werden muss, so braucht man laut Kant die Kritik der reinen Vernunft als die „richtige Methode“ in der Philosophie zur Aufhebung der Anarchie bzw. zur Überwindung dieses Naturzustandes in der Wissenschaft: Ohne dieselbe [scil. KrV] ist die Vernunft gleichsam im Stande der Natur und kann ihre Behauptungen und Ansprüche nicht anders geltend machen oder sichern, als durch Krieg. Die Kritik dagegen […] verschafft uns die Ruhe eines gesetzlichen Zustandes, in welchem wir unsere Streitigkeit nicht anders führen sollen, als durch Proceß. Was die Händel in dem ersten Zustande endigt, ist ein Sieg, dessen sich beide Theile rühmen, auf den mehrentheils ein nur unsicherer Friede folgt, den die Obrigkeit stiftet, welche sich ins Mittel legt, im zweiten aber die Sentenz, die, weil sie hier die Quelle der Streitigkeiten selbst trifft, einen ewigen Frieden gewähren muß. Auch nöthigen die endlosen Streitigkeiten einer bloß dogmatischen Vernunft, endlich in irgend einer Kritik dieser Vernunft selbst und in einer Gesetzgebung, die sich auf sie gründet, Ruhe zu suchen (A 751–752/B 779–780).

Hier wird verständlich, warum Kant Bacon, den „eklektischen“ Reformer der Philosophie und der Wissenschaften303 in einer ebenso „kritischen“ Epoche, wie 302 303

Bacon, F. Novum Organum, a. a. O., S. 306, Buch I, Aphorismus 95. In der Wiener Logik nennt Kant Bacon einen „Eklektiker Philosoph“, der – logisch, nicht zeitlich – nach den Dogmatikern und Skeptikern auftrat. Eklektiker waren jene Philosophen, die „keiner Sekte anhingen“: „Um die Zeit der Reformation wurde der Rest der

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sie das Zeitalter der Kritik darstellt, als Motto heranzog. Das reformistische Anliegen der Philosophie Kants wurde seinen Zeitgenossen durch den Vergleich mit Bacon deutlicher vor Augen geführt.304 Dass dieser revolutionäre Geist durch juridisch-politische Metaphern zum Ausdruck gebracht werden kann, liegt auf der Hand. Es wurde schon die Annahme geäußert, dass Bacon eine mögliche Quelle des Antinomiegedankens bei Kant war.305 Dieser Gedanke liegt vor allem dann nahe, wenn man den Aphorismus 48 aus Buch I des Novum organum betrachtet, in dem die „Problematik aller vier Antinomien angesprochen“ wird.306 Dieser Aphorismus gehört zur Erörterung der Idole, die – als dem menschlichen Geist

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Scholastiker ausgefegt. Gleich nach den Scholastikern erhoben sich als Sceptici: Huetius, Bayle, Hume, die man antilogicos nannte. Dann kamen eclectici auf, d. i. Philosophen, die keiner Sekte besonders anhingen. Diese Verbesserung ist keinem Umstande mehr beyzumeßen, als dem Studio der Natur, womit man Mathematik verband. Hierdurch ward die Ordnung im Denken befördert. Zu dieser trug der Großkanzler Baco von Verulam in seinem Organon der Wissenschaften bey, indem er auf die Methode in der Physic, nämlich auf observationen und experimente aufmerksam machte“ (V-Lo/Wiener AA 24: 804). Die Benennung „Eklektiker“ für Bacon stammt aus J. Brucker, wie im sechsten Kapitel noch zu sehen sein wird. Brandt behauptet, dass die Wahl des Bacon-Mottos für die zweite Auflage der KrV gewissermaßen auf eine bessere „Selbstverständigung“ der kritischen Philosophie als eine „Revolution“ bzw. „Wende“ anspielt: „Der gesamte Abschnitt der ‚Vorrede‘ enthält seinerseits eine wahrhafte Evolution, von der sie allerdings nicht spricht. Die ‚Vorrede‘ der ersten Auflage enthält vielfache Anspielungen auf John Locke, und dessen psychologische subjektive Wende in der Erkenntnistheorie. Die zweite ‚Vorrede‘ ersetzt John Locke schon im Motto durch Francis Bacon und die Erkenntnistheorie durch das Programm einer Methodologie der Wissenschaft; die durch diese ‚Revolution‘ neu geschaffene Kritik wird zu einem ‚Traktat von der Methode‘ – 1787, nicht 1781!“ Brandt, R. „Kant in Königsberg“. In: Brandt, R. & Euler, W. (Hrsg.). Studien zur Entwicklung preußischer Universitäten (Wolfenbütteler Forschungen Bd. 88). Wiesbaden: Harrassowitz, 1999, S. 300. Laut Brandt war Kant im Jahr 1781 noch nicht selbstbewusst genug, um eine echte „Revolution“ in der Philosophie einzuläuten, weshalb das Bacon-Motto mitsamt der Rede über die „Wende“ erst in der zweiten Auflage der KrV vorkomme. Kreimendahl, L. Kant – der Durchbruch von 1769, a. a. O., S. 166–167, Fn. 64; Krohn, W. Francis Bacon, a. a. O., S. 104–105; Schmidt, G. „Ist Wissen Macht? Über die Aktualität von Bacons ‚Instauratio Magna‘“. In: Kant-Studien, 58, 1967. Kreimendahl, L. Kant – der Durchbruch von 1769, a. a. O., S. 166, Fn. 64. Vgl. .Bacon, F. Novum Organum. In: The Works of Francis Bacon. Gesamtausgabe von Spedding 1857–1874, Bd. 1, S. 322, Buch 1, Aphorismus 48: „Der menschliche Verstand ist ständig im Gleiten, er vermag nicht stille zu stehen oder zu ruhen, sondern er strebt vorwärts: aber vergeblich. Daher ist es undenkbar, dass es etwas Letztes und Äußerstes in der Welt gibt, sondern immer ist man notwendigerweise gezwungen anzunehmen, dass es noch etwas darüber hinaus gibt [vierte Antinomie – D. K. T.]. Auch kann man ebenso nicht denken, wie die Ewigkeit bis auf diesen heutigen Tag verflossen sein mag [erste Antinomie – D. K. T.]; da jene Unterscheidung zwischen einem Unendlichen als Vergangenem und als Künftigem, die gewohnterweise hingenommen wird, in keiner Weise Geltung beanspruchen kann; denn daraus würde folgen, dass ein Unendliches größer wäre als das andere, und dass das Unendliche sich aufzehrt und dem Endlichen nähern würde. Ähnlich rührt die Überspitzung von der unendlichen Teilbarkeit der Linien von der Ratlosigkeit des Denkens her [zweite Antinomie – D. K. T.]. Aber weit verderblicher wirkt sich dieses Unvermögen des Geistes bei der Erforschung der Ursachen aus: Denn da das Allgemeinste in der Natur positiv sein muss, wie es auch gefunden wird, kann es in keiner Weise Verursachtes sein [dritte Antinomie – D. K. T.] […].“

innewohnende Quellen des Irrtums oder „zutiefst verborgene Fehl- oder Trugschlüsse mit grundsätzlichem Charakter“307 verstanden – Kants Lehre vom transzendentalen bzw. natürlichen Schein beeinflusst haben könnten.308 Diese und weitere Berührungspunkte zwischen Bacon und Kant müssen hier jedoch außer Acht gelassen werden.309 Geht es uns um die metaphorische Rede über einen Gerichtshof in der Philosophie und die Richterrolle, die der „eklektische Reformer-Philosoph“ einnehmen soll, so ist aber gerade dies ein weiterer unbestrittener Beweis der Gemeinsamkeit zwischen beiden Philosophen. 2.3

Leibniz und die Waage der Vernunft

2.3.1 Der Mittelweg als Motiv der deutschen Aufklärung Im § 58 der Prolegomena beschreibt Kant die Kritik als den „wahren Mittelweg“ zwischen dem Dogmatismus und dem Skeptizismus: [Die] Kritik der Vernunft bezeichnet hier den wahren Mittelweg zwischen dem Dogmatismus, den Hume bekämpfte, und dem Skeptizismus, den er dagegen einführen wollte; einen Mittelweg, der nicht wie andere Mittelwege, die man gleichsam mechanisch (etwas von einem und etwas von dem andern) sich selbst zu bestimmen anrät, und wodurch kein Mensch eines Besseren belehrt wird, sondern einen solchen, den man nach Prinzipien genau bestimmen kann (Prol AA 04: 360, Hervorh. d. Verf.).310

Das Inkrafttreten des Gerichtshofs der Kritik sei die einzige Möglichkeit, die Interessen der beiden philosophischen Streitparteien durch ein Urteil in Einklang zu bringen, das zum ersten Mal in der Geschichte der Philosophie einen Mittelweg zwischen den widerstreitenden Ansprüchen etablieren würde. Allerdings war die Philosophie der Aufklärung längst vor Kant auf der Suche nach einem Mittelweg.311 Thomasius verband schon im Jahr 1688 diese Frage mit dem auf307

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Schneiders, W. Aufklärung und Vorurteilskritik, a. a. O., S. 51. Vgl. Brandt, R. „Über die vielfältige Bedeutung der Baconschen Idole“. In: Philosophisches Jahrbuch, 83, 1976, S. 42– 70. Kim, S.-H.: Bacon und Kant, a. a. O., S. 5–6. Schneiders weist darauf hin, dass Martin Knutzen, der Lehrer Kants, in seiner Logik (Elementa Philosophiae rationalis seu logicae, 1747) Bacons Idole als „idola logica“ interpretiert und systematisiert hat. Schneiders, W. Aufklärung und Vorurteilskritik; a. a. O., S. 178–180. Vgl. dazu Kim, S.-H.: Bacon und Kant, a. a. O. Vgl. auch: „Zwischen dem Dogmatism und Scepticism ist die mittlere und eintzig-gesetzmäßige Denkungsart der Criticism. Die Kritik ist das einzige mögliche Mittel gegen das Gefähr des Dogmatismus und Skeptizismus […] das Bedürfnis unseres Zeitalters in Ansehung der Gefahr, zwischen den beyden Klippen des Dogmatismus und Scepticismus glüklich durchzukommen, ausfindig zu machen und [dabey] zugleich beyde Begriffe diesem Bedürfnis angemessen zu bestimmen, müssen wir den Character desselben in Ansehung der Denkungsart, die jene Behutsamkeit nothwendig macht, zuvorderst festsetzen“ (Rx 5654 AA 18: 287 (1785–1788)). „Es geht bei der Suche nach dem sogenannten dritten Weg meistens darum, unter Vermeidung zweier verkehrter Entscheidungen die einzig richtige zu treffen. Unter der Voraussetzung einer triadischen oder trichotomischen Denkfigur (anstelle einer schlichten dyadischen oder dichotomischen) geht es darum, unter Abwehr einer falschen Alternative (ne-utrum), zwischen zwei gegebenen falschen Wegen (Extremen, Gefahren, etc.) den

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klärerischen Drang nach einer Aussöhnung zwischen streitenden philosophischen Parteien. In Philosophia aulica suchte er einen Mittelweg zwischen den herrschenden philosophischen Parteien seiner Zeit, dem Cartesianismus und dem Aristotelismus Er wollte „in gegenwärtigem Buchlein einen Versucht thun […], ob ich die eclatante Fehler der meinen Logicken für Augen stellen und einen ebenen und leichten Weg vernünftig zu schließen, welcher von den Schulsüchtischen Dornen und Disteln […] leer ist, zeigen könne“;312 solchen Lastern seien „so wohl Cartersianer als Peripatetici“ verfallen.313 Die Idee eines Mittelwegs der Wahrheit, der „zwischen zwei gegebenen falschen Wegen den einzig richtigen, meist normativ richtigen Weg“ zeigt, findet sich jedoch nicht nur bei Thomasius und in seinem „sozusagen ersten Werk der deutschen Aufklärungsphilosophie“314. Ebenso kann Leibniz, der bekannteste Zeitgenosse von Thomasius, als Wegbereiter der Vermittlungstendenz Kants betrachtet werden. K. Fischer hebt hervor, dass „Leibniz kam, die Philosophie aus dieser Stellung zu erlösen und zwischen Metaphysik und Erfahrung gleichsam den Mittler zu machen“.315 Auch Vaihinger weist auf die Vermittlungstendenz von Leibniz hin – er habe „zwischen Platon und Aristoteles, Alten und Neuen, Scholastik und Renaissance, Gassendi und Cartesius, Katholicismus und Protestantismus, u.s.w., zu vermitteln [gesucht]“.316 Der zugleich polemische und vermittelnde Ton vieler seiner Schriften deutet auf deren unverkennbar programmatischen Charakter hin. Die Schriften „Discours touchant la Méthode de la Certitude et l’Art d’inventer pour finir les disputes et pour faire en peu de temps des grandes progrès“ (GP VII, 174–183) und „Projet et essais pour arriver à quelque certitude, pour finier une bonne partie des disputes et pour avancer l’art d’inventer“ (A VI, 4, A 963–970) sind in dieser Hinsicht paradigmatisch. Leibniz schlägt die Aufstellung eines „Inventaire Général de toutes les connaissances qui se trouvent déjà parmi les hommes“ vor (GP VII, 182). Es sollte auch die Elemente zu einer Methode aufweisen, die neuen Wahrheiten zu entdecken oder eine noch „dunkle Wahrheit“ zu verdeutlichen; Leibniz spricht hier

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einzig richtigen, meist normativ richtigen Weg zu finden – und dies ist dann in aller Regel der mittlere Weg […]. Mit Hilfe dieser Denkfigur kann aber auch Kant noch den Kritizismus als den ‚wahren Mittelweg‘ zwischen Dogmatismus und Skeptizismus bestimmen“. Schneiders, W. Hoffnung auf Vernunft: Aufklärungsphilosophie in Deutschland. Hamburg: Meiner, 1990, S. 56–57. Thomasius, C. Einleitung zur Hoff-Philosophie. Berlin & Leipzig 1712, repr. Bd. 2 der Ausgewählten Werke von Christian Thomasius. Hildesheim [u. a]: Olms, 1994, S. vi. Ebd., S. vii. Thomasius sieht sein Ziel darin, „die Vorurtheile aus dem Weg zu räumen“; ebd., S. 8. Die Vorurteile teilt er in zwei Gruppen ein: in die Vorurteile der Übereilung und die Vorurteile der menschlichen Autorität. Vgl. Thomasius, C. Ausübung der Sittenlehre (1710). Halle: 1726, repr. Bd. 9 der Ausgewählten Werke von Christian Thomasius. Hildesheim [u. a.]: Olms, 1998, Kap. 1, § 25. Vgl. Schneiders, W. Hoffnung auf Vernunft, a. a. O., S. 52. „[…] das sozusagen erste Werk der deutschen Aufklärungsphilosophie“. Auch Wundt, M. Die deutsche Schulphilosophie im Zeitalter der Aufklärung. Tübingen, 1945, repr. Hildesheim [u. a.]: Olms, 1964, hält Thomasius für den „Wegbereiter der Aufklärungsphilosophie in Deutschland“. Fischer, K. Geschichte der neuern Philosophie, Bd. III, a. a. O., S. 10. Vaihinger, H. Commentar, a. a. O., S. 58.

von „l’art d’inventer“ respektive „l’art de démonstrer“.317 Die Kontroversen aller Wissenschaften könnten mit dieser „Science Generale“ beigelegt werden.318 Eine solche „Science Generale“ werde dann characteristica universalis heißen. Es genüge den Philosophen, ein Rechengerät zu ergreifen und zu sagen: „Calculemus!“319 Die characteristica universalis sei in einem Wort der iudex controversiarum.320 Wie wir im Folgenden sehen werden, erweist sich aber die Beilegung durch einen Mittelweg bei Leibniz in der Tat nicht so sehr als eine friedensstiftende wie bei Kant, sondern vielmehr als eine durch ihre völlige Deutlichkeit den Konflikt vernichtende Methode. 2.3.2 Ars characteristica als Auflösungsmethode. Der iudex controversiarum Abgesehen von der Characteristica universalis als Mittel zur Auflösung von Konflikten stellt Leibniz in einer Reihe von Briefen und kleinen Schriften eine weitere „Methode zur Belegung von Kontroversen“ vor. Es handelt sich dabei um bestimmte Anweisungen, wie eine wissenschaftliche Kontroverse zu führen sei. Dazu gelte es, die Hindernisse auszuräumen, die ihren reibungslosen Ablauf unmöglich machen. Diese Methode warnt u. a. vor dem übermäßigen Vertrauen auf Autoritätsargumente, der Ausnutzung von angeblichen Widersprüchen des Gegners, der Wiederholung von schon angeführten Gründen, Argumenten ad hominem, Digressionen usw.321 Der größte Beitrag der neuen Methode sei die 317

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„Car les verités qui ont encore besoin d’etre bien establies, sont de deux sortes, les unes ne sont conues que confusement et imparfaitement, et les autres ne sont point connues du tout. Pour les premieres il faut employer la Methode de la certitude ou l’art de demonstrer, les autres ont besoin de l’art d’inventer“ (GP VII 183). Couturat, L. La Logique de Leibniz : d’après des documents inédits. Paris, 1901, S. 97–98. „Quo facto, quando orientur controversia, non magis disputatione opus erit inter duos philosophos, quam inter duos Computistas. Sufficiet enim calamos in manus sumere sedereque ad abacos, et sibi mutuo (accito si placet amico) dicere: Calculemus!“ (GP VII, 200). „Les hommes trouveroient par là un juge des controverses veritablement infallible“; Brief an Herzog von Hannover, 1690. GP VII, 26. Vgl. auch weitere Verweise in Couturat, L. La Logique de Leibniz, a. a. O., S. 98, N. 2. Vgl. „La premiere [practique] est, que chacun de ceux qui disputent choisit un ordre à sa mode, et range aussi bien les raisonnemens de son adversaire, que les siens, comme bon luy semble. Cela trouble tout, ar autant qu’il y a de repliques autant y a-t-il souvent de nouvelles dispositions de la matiere, ce qui confond le lecteur. Il a de la peine à rapporter tout ensemble, et il faut qu’il ait bien de la memoire, ou du loisir, et même du jugement pour l’entreprendre. L’autre est, que les disputes grossissent d’abord et s’enflent en volumes; ce qui fait désesperer ceux qui avoient dessein de tout examiner avec soin, et qui se voyent dans l’impossibilité de l’executer sans renoncer à toute autre occupation. La troisième adresse est, qu’on dissimule ou affoiblit en rapportant les argumens de son adversaire. Cela se fait bien souvent sans malice, par l’empressement qu’on a de tourner tout à son avantage. La quatrième est la repetition des raisons alleguees, sans tenir aucun compte des réponses que nostre adversaire a données[,] ce qui arrive par oubly ou par prevention, car souvent elles nous font pitié et nous paroissent indignes d’estre rapportées. Cependant l’adversaire se persuade tout le contraire. La cinquième est la digression, lors qu’on se jette à corps perdu dans quelque difficulté incidente, où l’on croit de trouver quelqu’avantage sur son adversaire, cela fait naistre tous les jours des nouvelles questions; des expressions singulieres, dures, scandaleuses; des condemnations et des heresies, auxquelles on ne son-

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Einführung eines „rapporteur“, der nicht als Richter oder Vermittler fungiere, sondern sich darauf beschränke, die von den Parteien angeführten Gründe mit „Klarheit und Deutlichkeit“ darzustellen, damit die oben besprochenen „Hindernisse“ ausgeräumt werden könnten.322 Im Commentatiuncula de judice controversiarum (1669–1671) (A VI, 1, 548–559) setzt sich Leibniz mit den damals gängigen Anweisungen zur Beurteilung theologischer Kontroversen auseinander. Die Schrift hat einen sozusagen metalogischen Charakter, sofern sie die Kontroversen um die theologischen Kontroversen darstellt und beurteilt. Leibniz sucht eine Methode zur Beilegung von theologischen Kontroversen und somit von überhaupt allen Kontroversen, indem er eine Reihe von Vorschriften aufstellt, wie exegetische Probleme aufzulösen und die Quellen zu erschließen und auszuwerten sind. Es geht dabei um die Etablierung eines iudex controversiarum, der die controversia controversiarum behandelt. Controversia Controversiarum est quaestio de judice controversiarum, à qua aliarum decisio, executio, fructus effectusque pendet (A VI, 1, 548).

Was die theologischen Kontroversen betrifft, argumentieren die Katholiken, dass man einen sichtbaren und unfehlbaren Richter brauche, um die Kontroversen beenden zu können (judice qvodam visibili infallibili, ut termini controversiae possint), sprich den Papst. Die Protestanten teilen sich wiederum in Textualisten (textuales) und Rationalisten (rationales) ein. Erstere appellieren an den heiligen Text als den einzigen iudex controversiarum. Leibniz weist diese Auffassung zurück, indem er argumentiert, dass nur einige doktrinäre und theoretische Lehren (wie die Einheit von Gott und der Trinität) sich durch den Verweis auf die Heiligen Schriften erklären ließen, während andere praktische Fragen (wie z. B. die Zulässigkeit der Ehe zwischen Cousins) dabei unbeantwortet bleiben (A VI, 1, 549). Letztere teilen sich ihrerseits in reine oder gemischte Rationalisten (A VI, 1, 552). Beide stützen sich auf die Heiligen Schriften und auf die Vernunft und erheben den Anspruch, es lasse sich vernünftig ableiten, was in den Heiligen Schriften als wahr enthalten ist. Die Divergenz zwischen beiden tritt dann auf, wenn der Text mehrdeutig ist oder nichts sich durch Vernunft klar bestimmen lässt, etwa bei Tatfragen. Dadurch entsteht ein „Streit zwischen Text und Vernunft“ (oritur pugna inter textum et rationem). Die Beilegungsformen unterscheiden sich radikal: Man kann entweder dem Text treu bleiben oder mit der Vernunft bestreiten, was am Text ausdrücklich ausgesagt wird (ebd.).323 In allen oben beschriebenen Fällen setzen die theologischen Kontroversen einen unfehlbaren Richter voraus, sei es einen Menschen, dem Gott die Gnade der Unfehlbarkeit verdankt, sei es einen Text, der in seiner Gesamtheit, also ohne Zusätze oder Verbesserung betrachtet werden soll (A VI, 1, 554, § 36). Bei weltlichen Kontroversen ist die absolute Unfehlbarkeit indes nicht vonnöten. Es

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geoit pas au commencement de la dispute, pas un ne voulant ceder, et les auteurs faisant gloire de soûtenir ce qui leur est échapp sans y penser“ (A, IV, 3, 209–210). „[C]eluy qui se servira de cette methode ne sera point juge ny partie, ny conciliateur mais rapporteur […] [qui] gardera un certain ordre incontestable qui portera avec luy la clarté et l’evidence“ (A IV, 3, 212). Siehe dazu die Anwendung dieser Anweisungen auf die Kontroverse über die Auferstehung des Fleisches (A VI, 1, 553, § 35)

reicht dabei eine „moralische Gewissheit“ (certitudine morali), das heißt eine praktische Unfehlbarkeit. Bei einigen Fragen reicht das Urteil des Subjekts selbst (wie z. B. in der Frage, was für ein Leben zu führen ist oder ob Reisen nützlich sind); hier „ist die Vernunft jeder der Richter der Kontroversen“. Andere Fragen aber, die den „Konsens der Gesellschaft“ erfordern, müssen von „der Autorität und Beurteilung der Gesellschaft“ entschieden werden (ex autoritate sententiaeque societatis decidendae) (wie z. B. „Krieg, Frieden, öffentliche Verwaltung“; A VI, 1, 554, §§ 37–39). Der Richter soll in einer wohlgeordneten Gemeinschaft keiner Leidenschaft unterworfen sein.324 Leibniz weist jedoch darauf hin, dass es in den Gemeinschaften seiner Zeit nicht der Fall sei. Die Richter seien in ihnen immer Menschen, deren Entscheidungen wiederum von anderen Menschen beurteilt würden, sodass der ganze Entscheidungsprozess von Gefühlen und Leidenschaften durchdrungen sei. Von allen iudices controversiarum in einer Gemeinschaft ist die Mehrheit der Stimmen das beste Verfahren; so wie in allen Entscheidungen von Einzelnen ist jedoch auch sie von Leidenschaften beeinflusst (A VI, 1, 555, §§ 45–47). Leibniz schließt daraus, dass der am besten geeignete Richter in Kontroversen die von keiner Leidenschaft getriebene Vernunft ist, die recta ratio in abstracto: Re igitur perpensa, cum homo sit obnoxius passionibus, sors autem sit prorsus irrationalis, qvaerenda est Ratio qvaedam, sed qvar passionibus non sit obnoxia. Talis autem ratio non reperitur in ullo homine particulari (nisi DEUS aliqvem miraculose summittat), sed est ipsa Recta Ratio in abstracto sumta, hanc ego judicem controversiarum in mundo esse debere ajo (A VI, 1, 555, § 52).325

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„Iudex controversiarum igitur in Republica alius est passionibus obnoxius, alius non obnoxius. Passionibus obnoxius est certus homo, certumque collegium, ex cujus voluntate res agenda est. Is enim interdum affectibus, amore, odio, invidia, impetu regitur, ejus tamen dictatis standum esse magna est servitus“ (A VI, 1, 554). „Thus, the judge of controversies is one thing in a republic subjected to passions and another in a republic not subjected to them. A certain man or a certain collective, on whose will depends what is to be done, is subjected to passion [if] now and then it [the will] is ruled by affections such as love, hatred, envy, impulse; and to obey their dictates is a major [form of] servitude“. Leibniz, G. W. The Art of Controversies. Hrsg. v. M. Dascal. Dordrecht: Springer, 2006, S. 17. Vgl. auch De legum interpretatione, rationibus, applicatione systemate: „Fatendum est tamen affectus saepe transire in rationes, sive ad principia quaedam stabilienda inservire, praesertim in rebus moralibus et civilibus, ubi cum multa sint ab utraque parte commoda et incommoda, plerumque homines non ea satis exacte inter se conferunt ponderaque, sed inspectis tantum quibusdam commodis praesenti mentis affectioni congruentibus, in eam partem praecipites ruunt“ (A VI, 4C. 2784). „Nevertheless one must admit that the affects often become reasons, that is, they serve to determine certain principles. This happens above all in moral and civil affairs, which involve advantages and disadvantages for both sides, so that most persons generally do not compare or weigh them accurately enough; rather, they examine only certain advantages that conform to their momentary state of mind, and precipitate themselves to follow them“. Leibniz, G. W.The Art of Controversies, a. a. O., S. 81. „If one thinks about this thoroughly, while man is subject to passions, chance is also irrational, so that one should look for some reason which is not subject to passions. Such a reason, however, is not found in any particular man (unless God miraculously sends

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In den Fällen aber, wo etwas den Sinnen unmittelbar vorgestellt oder deutlich nachgewiesen werden kann, ist die recta ratio in abstracto nicht der beste Richter von Kontroversen: Manifesto judicio ejusmodi evidenter demonstrabilia esse arbitrio judicis eximenda et relinqvenda trutinae rationis; idem statuunt, qvando judex contra legem in terminis sententiam dixit, et ita à norma textus discessit (A VI, 1, 556, § 58).326

Aus dem bisher Gesagten wird ersichtlich, dass es eine Ermessensfreiheit des Richters so weit wie möglich zu vermeiden gilt, gibt sie doch Anlass zu Partikularismen und infolge von Leidenschaften zu tendenziösen Auslegungen.327 Wenn es möglich wäre, eine Methode ausfindig zu machen, die alle Fragen und Probleme beantworten und auflösen könnte, dann hätte man für die praktischen Fragen sozusagen ein Gleichnis der nur in den demonstrativen Wissenschaften vorhandenen „theoretischen Unfehlbarkeit“ geschaffen. Solche Methode werde dann von der recta ratio betrieben und sei der vollkommene omnium controversiarum iudex. Si qvis igitur viam generi humano certum infallibilemqve demonstraret, in omnibus qvaestionibus aeqve perveniendi ad infallibilitatem practicam, qvam in qvaestionibus de subductione calculi pervenitur ad theoreticam, is opinor modum etiam ostendisset Recta rationis omnium controversiarum judicis statuendae semper et audiendiae (A VI, 1, 556, § 59).328

Die „Waage der Vernunft“ wäre dann in der Lage, alle in einer Rechtssache von jeder Partei angegebenen Gründe richtig abzuwägen und dadurch eine gerechte und billige Entscheidung zu treffen.329 Die Kunst, durch strenge Ableitungen ein billiges Urteil zu fällen, ist, so Leibniz, die Logik (A VI, 1, 556, § 61). Er be-

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someone); it is rather right reason abstractly taken [which] must be, in my opinion, the judge of controversies in the world“. Leibniz, G. W. The Art of Controversies, a. a. O., S. 18. „In such a way, it is clear that what is evidently demonstrable should be withdrawn from the judge’s decision and trusted to the balance of reason; the [jurists] express the same opinion about [cases] where the judge issues a verdict against the terms of the law, thus deviating from the norm of the text“. Leibniz, G. W. The Art of Controversies, a. a. O., S. 18. Vgl. auch Disputatio inauguralis de casibus perplexis in jure, § 6 (A VI, 4C, 236). „If someone discovered a way for humankind to achieve in all questions the same practical infallibility as the theoretical [infallibility] achieved in questions about the performance of calculations, he would thereby have shown – I believe – how right reason is to be established and obeyed as the judge of all controversies“. Leibniz, G. W. The Art of Controversies, a. a. O., S. 82. „Perinde ac si daretur Trutina qvaedam rationum in qva utrinqve momenta causae exposita accuratè expenderentur, et qvo inclinaret examen, pro illa parte pronunciarentur. Qvam trutinam fabricare qvisqvis homines docuerit, is profectò majorem eis artem tradiderit fabulosa illa scientia aurificandi“ (A VI, 1, 556, § 60). „Just as if there were a certain balance of reason such that in each of its scales the circumstances (momenta) regarding a cause were carefully expounded and weighed, and their examination would incline [to one side], one should pronounce a verdict in favor of that party. If someone were to teach men how to construct such a balance, he would have delivered to them a greater art than that fabulous science of making gold“. Leibniz, G. W. The Art of Controversies, a. a. O., S. 19.

schreibt folgendermaßen das von dieser „logischen Kunst“ durchgeführte Verfahren, Konflikte beizulegen: Ius autem sit cuilibet suppeditare alteri rationes intra certum temporis terminum, in qvo omnes rationes vtrinque allatae esse debent, qvo facto claudantur septa, et fiat examen accuratissima illa methode, aut etiam partium alter alteri cum judicibus attendat ratiocinanti, filum verae Logicae observans, ut nuspiam assumere aliqvid obscurum et dubium, nusqvam a perpetua ratiocinandi lege declinare possit (A VI, 557, § 63).330

Die Analogie zwischen dem guten Funktionieren einer Waage und der gerechten und billigen Abwägung der angegebenen Gründe ist offenkundig: Beide streben nach einem „medius terminus“, der „à majore et minore aeqvidistet“.331 330

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„It is just, however, to limit somehow the exposition of each party’s reasons to a certain period of time, within which all the reasons of each side should be alleged. Once this is done, the fences are to be closed and the examination is to be done by that most accurate method: the parties heed, with the judges, to each other’s reasoning, following the thread of the true logic, so that nothing obscure and doubtful be assumed and nowhere it be possible to deviate from the eternal law of reasoning“. Leibniz, G. W. The Art of Controversies, a. a. O., S. 83. „Utqve in ponderibus attendendum est, ut pondera imponantur omnia, ut non nimia, ut ea qvae imponuntur non sint adulterata aliis metallis, non justo graviora aut leviora, deniqve ut Trutina rectè sit disposita brachiorum aeqvidistantium, lancium aeqviponderantium est; ita in hâc Trutina rationali, tum propositionibus tanqvam ponderibus, tum trutinae tanqvam connexioni attendi debet, ponderum nullum inexaminatum praetermittendum, ita et propositionum. Ut ponderum aestimanda gravitas, ita propositionum verias; utqve ponderum gravitas eadem methodo aestimatur qva gravitas re ponderandae, it et propositionum ad probationem adductarum veritas eadem methodo examinanda est, qva veritas propositionis principalis in qvaestionem deductae; ut attendendum est ne qvod ponderum omittatur aut superaddatur, ita attendendum est, ne qvod rei aestimandae onus aut commodum omittatur aut idem allis verbis bis ponatur. Trutinae autem constitutio ipsarum propositionum conexioni est similis, ut enim lan lance non debet esse levior, it si ex duabus praemissis altera altera sit debilior, conclusio seqvi debet partem debiliorem; ut brachia debent esse inter se connexa per jugum, it e puris particularibus nihil seqvitur, sunt enim arena sine calce; ut debent brachi esse aeqvè distantia à jugo, ita is situs propositionum esse debet, ut medius terminus aeqvidistet, qvod fit, per obervationem exacti et perpetui Soritae“ (A VI, 1, 557, § 65). „Just as in weighing it is necessary to pay attention that all the weights are put into place, to check that they are not in excess, to check that they are not adulterated by other metals nor heavier or lighter than they should, to verify the balance’s correct position, with the arms equidistant, the scales with equal weights, etc.; so too in this rational balance attention must be paid to the propositions as to the weights, to the balance as to their connection, and no unexamined weight or proposition is to be admitted. Just as one is to estimate the gravity of the weights, so too [one should measure] the truth of a proposition; just as the gravity of the weights measures the gravity of the things to be weighed, so too the truth of the propositions adduced in the proof measures the truth of the principal proposition of the question under discussion; just as one must take care that no weight be omitted or added, so too one is to take care that nothing unfavorable or favorable to the topic examined be omitted or that the same thing, expressed in different words, be repeated. The mechanism of the balance is similar to the connection of the propositions; just as one scale should not be lighter than the other, so too if one of two premises is weaker than the other, the conclusion must follow from the weaker one; just as the arms must be linked to each other by the beam, so too from pure particulars nothing follows, for they are sand without lime; just as the arms must be at equal distances from the beam, so too the place of the proposition must be such that the

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Der gute Streitvermittler soll genauso unfehlbar in praktischer Hinsicht sein, wie der Rechner in theoretischer Hinsicht ist. Hierbei muss bei einer wohlgeordneten Gemeinschaft ein Buch verfasst werden, wobei die genaue Bedeutung aller zu verwendenden Begriffe festgestellt und somit die exakte Definition aller an der Waage der Vernunft abzuwägenden Termini bestimmt wird (A VI, 1, 558, § 66). Im Anschluss sollen weitere Bücher geschrieben werden, so das Theoremas, das eine nach strengen logischen Regeln aufgestellte Liste mit den für wahr gehaltenen Aussagen, wie die Elemente von Euklid (A VI, 1, 558, § 67), enthält; ferner ein historisches Buch mit den wichtigsten geschichtlichen Tatsachen in chronologischer Reihenfolge (A VI, 1, 558, § 68), ein Buch mit den bedeutendsten Experimenten der Natur (A VI, 1, 559, § 70) usw. Die Anwendung dieser Methode ist Leibniz zufolge umso dringlicher in Fällen, die die Gemeinschaft selbst betreffen, nämlich wenn ein oder mehrere Subjekte die Teile sind und das Ganze der Richter ist. Hierbei müsse man eine „forma rigorosa“ einnehmen, um „Täuschungen“ oder „fraudes“ auszugrenzen. Iudicandi autem cura verè est Reipublicae, inveniendi partibus aut iis, qvos assistere partibus ea in re Respublica jubet, deleganda est. In causis autem ipsam Rempublicam attingentibus singuli sunt pro partibus, totum pro judice, adhibita illa forma rigorosa fraudes omnes excludente. Haec in universali sapientium societate primum institui possunt donec paulatim sucessu temporum ad caeteros dimanare commodè possint (A VI, 1, 559, § 70).332

Daraus wird ersichtlich, wie Leibniz eine Quasi-Institutionalisierung seiner Characteristica universalis in einem Entscheidungsprozess vorsieht, der in politischen Gemeinschaften errichtet werden soll. Es ist insofern kein Zufall, dass Leibniz in seinen Schriften über Naturrecht eine Reform der Rechtswissenschaft in ihren theoretischen, praktischen und didaktischen Grundlagen und dementsprechend die Wiederbegründung des Corpus iuris civilis in einer systematischen Absicht als Voraussetzung für gerechte und „unfehlbare“ Entscheidungen in der Gemeinschaft vorschlägt. Die mathematische Gründlichkeit würde es nicht einmal erlauben, dass sogar die verwickelten Fälle unentschieden bleiben.333 In anderen Schriften nimmt Leibniz dennoch die Fallibilität bestimmter Entscheidungen hinsichtlich „zufälliger Gegenstände“ an. Dabei handelt es sich um jene Gegenstände, die keine „ewigen Wahrheiten“, wie die der Theologie oder der Gerechtigkeit, angehen. Leibniz schreibt Ende 1696 in einem Brief an Gabriel Wagner, dass bei einer die ewigen Wahrheiten betreffenden Kontroverse oder Streitigkeit die folgenden Strategien in Frage kämen: entweder a) den

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middle term be equidistant from the major and the minor, which is achieved by observing an exact and eternal Sorites“. Leibniz, G. W. The Art of Controversies, a. a. O., S. 83. „The Republic should take care of judgment (iudicandi), while discovery (inveniendi) should be delegated to the parts or to those whom the republic appoints to assist the parts in a particular case. However, in cases that touch the Republic itself, where single [persons] are the parts and the whole the judge, a rigorous formal [procedure] that precludes every fraud should be applied. This can be first instituted in the universal society of sages, and then be step by step and easily extended to the others as well“. Leibniz, G. W. The Art of Controversies, a. a. O., S. 84. Siehe dazu unten Kapitel 4.2.

Gegner durch einen aus einer Kette von Syllogismen bestehenden Beweis zu überzeugen, die aufeinanderfolgen, bis man auf einen unerweislichen Satz stößt, der als wahr anerkannt werden muss; oder b) den Gegner zu unleugbaren Sätzen zu drängen und ihn dann zum Geständnis zu bringen. Bei einer Kontroverse aber, die „Zufälligkeiten“ oder „zufällige Materien“ betrifft, gilt auch eine weitere Strategie, nämlich c) dem Gegner die Beweislast aufzuladen.334 Leibniz erörtert dann zwei Probleme, die sich bei der dritten Strategie ergeben, nämlich die „praesumtion, das ist wenn und wie einer den Beweiß von sich auff einen andern zu legen macht habe“, und die „gradibus probabilitatis, wie man die anzeigungen, so keinen vollkommenen Beweiß machen und gegen einander laufen […] abwegen und schäzen soll“.335 Leibniz führt dies aber nicht weiter aus, sondern weist nur darauf hin, nach langer Überlegung zu einer Methode gelangt zu sein, die „zur auslegungskunst und einfolglich in der Theologie“ dienen kann. Es „steckt“ in dieser Methode ein „untrüglicher Schiedesrichter der Streitigkeiten“, der, wenngleich nicht stets uns die Entdeckung der Wahrheit erlaubt, wenigstens darauf hindeuten kann, ob ein bestimmter Satz oder eine Frage sich vollständig nachweisen lässt.336 Die Juristen seien diejenigen, so Leibniz, die in der Untersuchung und Prüfung des möglichen Gewissheitsgrades bei zufälligen Materien am weitesten gekommen seien. Er behauptet in der unter einem Pseudonym geschriebenen Schrift Ad Stateram Juris, dass „ut Mathematicos in necessariis, sic Jurisconsultos in contigentibus Logicam, hoc est rationis artem, prae caeteris mortalibus optime exercuisse“.337 Der Gerichtsprozess sei zwar nicht anders als „forma dispu334

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„Ich habe zu unterschiedenen mahlen der Sach nachgedacht, auch einige Proben angestellet, und sehe daß nicht fehlen kan, wenn derjenige, der etwas zu beweißen unternimt, bey [a] einem ieden ganz oder zum theil geleugneten Saze wieder einen Syllogismum formiren solle, er endtlichen nothwendig entweder auß mangel des beweißes aufhöhren und das erkennen, [b] oder den gegenpart auff unverneinliche säze, mithin auch zum geständtniß treiben, oder [c] doch (welches zumahl in zufälligen materien zu maße komt) sich des beweises auf ihn entladen werde. Daher die disputir-form zwar in nothwendigen sachen, da ewige wahrheiten vorfallen, zur nothdurfft außgemacht, nicht aber in zufälligkeiten, wo man das wahrscheinlichste wehlen muß“ (GP VII, 521). „[Z]weyerley annoch außzuführen, erstlich von der praesumtion das ist wenn und wie einer den Beweiß von sich auff einen andern zu legen macht habe, vors andere von den gradibus probabilitatis, wie man die anzeigungen, so keinen vollkommenen Beweiß machen und gegen einander laufen (indicantia et contra-indicantia, wie die Medici reden) abwegen und schäzen solle, umb den außschlag zu geben“ (GP VII, 521). „Denn man insgemein gar wohl sagt, rationes non esse numerandas sed ponderandas, man müße die anzeigungen nicht zehlen, sondern wägen, aber niemand hat noch dazu die Wage gezeiget, wiewohl Keine dem werck näher gekommen und mehr hülffe an hand gegeben als die Juristen, daher ich auch der materi nicht wenig nachgedacht, und dermahleins den mangel in etwas zu ersezen hoffe. Und dieses dienet auch zur auslegungskunst und einfolglich in der Theologi, und stecket darinn ein untrüglicher Schiedesrichter der Streitigkeiten, nicht daß uns allemahl erlaubet die wahrheit auszufinden, denn solche in den hohen geheimnißen sich Gott offt selbst vorbehalten und uns was wir gern wißen wolten, nicht allemahl offenbaret, sondern man kan dieß zum wenigsten allemahl ausmachen, erstlich ob die sach vollkömmlich bewiesen, vors andere wo nicht, ob und wie weit sie glaublich gemacht worden“ (GP VII, 521–522). „Just as the mathematicians have excelled above the other mortals in the logic, i.e., the art of reason, of the necessary, so too the jurists did in the logic of the contingent“. Leibniz,

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tandi a scholis translata ad vitam“.338 Die Akribie (akribeia), mit der die Juristen sogar die kleinsten Sachen behandeln, stelle jedoch ein Urbild der „rationis humanae in gravissimis de vita (et sanitate), de republica, de belli pacisque negotiis, de conscientiae modermane, de aeternitatis cura, deliberationibus“ dar.339 Die Methode der Juristen bestehe darin, „ratione inter se confligentes velut in bilance expediendi“. Dementsprechend behauptet Leibniz in einem Fragment vom Ende der 1760er Jahre, der Gegenstand der Jurisprudenz, nämlich die Gesetze, sei „nicht absolut notwendig, sondern zufällig wahr“; allerdings sei es möglich, dazu einen unwiderlegbaren und stichhaltigen Beweis zu erbringen, das heißt eine Demonstration, sofern man nicht eine absolute Wahrheit, sondern eine bloße Wahrscheinlichkeit nachweisen will.340 Im Laufe der vorliegenden Untersuchung wird zu zeigen sein, dass Kant die Idee einer Quasi-Institutionalisierung der Characteristica universalis als Entscheidungsverfahren zur endgültigen Beilegung der Streitigkeiten zurückweist. Im Gegensatz dazu lehnt er sich an die Auffassung über die (um mit Leibniz, nicht mit Kant zu sprechen) Wahrscheinlichkeit an, die die Beweise angeht, deren Überzeugungskraft nicht der der logisch-mathematischen Beweise ähnlich ist. Dies bedeutet, dass Kant sich an dem Begriff der probatio, nicht dem der demonstratio orientiert, wie sowohl im Disziplin-Kapitel als auch in der Einsicht Kants über die Deduktion als direkten bzw. ostensiven Beweis und über die „positive Brauchbarkeit“ der Antinomie als indirekter bzw. apagogischer Beweis nicht der Wahrheit, sondern der Möglichkeit eines bestimmten Satzes ersichtlich ist. Was auch immer von der Besonderheit der kantischen Philosophie zu halten sein mag, die die Aufklärung prägende Idee eines „Mittelwegs“ findet in der Transzendentalphilosophie ihre unleugbare Fortsetzung und sogar ihre paradigmatische Form.

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G. W. The Art of Controversies, a. a. O., S. 36. Vgl. Opuscules et fragments inédits de Leibniz : extraits des manuscrits de la Bibliothèque royale de Hanovre. Hrsg. v. L. Couturat. Paris, 1903, S. 211. Ebd. Ebd., S. 212–213. „Tametsi autem pleraeque leges sint enuntiationes quae non habent absolutam necessitatem, sed quas ut plurimum contingunt, veras esse. Nihilominus locum circa eas habent probationes exactae sive infallibiles, id est demonstrationes, modo quis probare suscipiat enuntiationis hujusmodi non veritatem absolutam, sed ipsam probabilitatem“. De legum interpretatione, rationibus, applicatione, systemate (A VI, 4C, 2786).

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Quellengeschichte des juridischen Deduktionsbegriffs

Im ersten Abschnitt des Hauptstücks der KrV über die transzendentale Deduktion der Kategorien spricht Kant mit aller Deutlichkeit – und mit unverkennbar juridischen Termini – davon, dass sein Begriff der Deduktion anders als die gewöhnliche logische Bedeutung juristischen Ursprungs sei: Die Rechtslehrer, wenn sie von Befugnissen und Anmaßungen reden, unterscheiden in einem Rechtshandel die Frage über das, was Rechtens ist, (quid iuris) von der, die die Tatsache angeht, (quid facti) und indem sie von beiden Beweis fordern, so nennen sie den ersten, der die Befugnis, oder auch den Rechtsanspruch dartun soll, die Deduktion. Wir bedienen uns einer Menge empirischer Begriffe ohne jemandes Widerrede, und halten uns auch ohne Deduktion berechtigt, ihnen einen Sinn und eingebildete Bedeutung zuzueignen, weil wir jederzeit die Erfahrung bei der Hand haben, ihre objektive Realität zu beweisen. Es gibt indessen auch usurpierte Begriffe, wie etwa Glück, Schicksal, die zwar mit fast allgemeiner Nachsicht herumlaufen, aber doch bisweilen durch die Frage: quid juris, in Anspruch genommen werden, da man alsdenn wegen der Deduktion derselben in nicht geringe Verlegenheit gerät, indem man keinen deutlichen Rechtsgrund weder aus der Erfahrung, noch der Vernunft anführen kann, dadurch die Befugnis ihres Gebrauchs deutlich würde (A 84–85/B 116–117).

Die Hauptfunktion des juridischen Deduktionsbegriffs besteht demnach für die theoretische Philosophie in der Rechtfertigung von Ansprüchen auf den Besitz und den Gebrauch bestimmter Begriffe. Kant nahm diesen Deduktionsbegriff im Anschluss an die ursprünglich juridische Argumentation bei der Legitimierung einer Erwerbung oder der Verteidigung eines Rechts bzw. einer Befugnis auf. Er setzte ihn an die Stelle des gewohnten logisch-mathematischen Beweisverfahrens, das Descartes’ zweiter „Regel zur Ausrichtung der Erkenntniskraft“ zufolge auf „reinen Ableitungen“ beruht und sich als vortrefflicher „Weg zur Erkenntnis der Dinge“ erwiesen hat.341 Gewöhnlich nimmt man den Deduktionsbegriff entweder in einem aristotelischen oder in einem logisch-mathematischen Sinne, das heißt entweder als eine Ableitung vom Allgemeinen auf das Besondere (Deduktion im Gegensatz zu Induktion) 342 oder als „die Ableitung 341

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Descartes, R. Regulae ad directionem ingenii. Regeln zur Ausrichtung der Erkenntniskraft. Hamburg: Meiner, 2011, S. 11: „Wir müssen darauf hinweisen, daß wir auf zweifachem Weg zur Erkenntnis der Dinge gelangen, nämlich durch Erfahrung oder durch Deduktion. Außerdem ist darauf hinzuweisen, daß die Erfahrungen der Dinge oft trügerisch sind, während eine Deduktion bzw. eine reine Ableitung des einen aus dem anderen zwar unterbleiben kann, wenn man nicht aufpaßt, aber von einem Verstand, der auch nur im geringsten funktioniert, wie er soll, niemals verkehrt vollzogen werden kann“. Zu der Opposition zwischen „Deduktion/Induktion“ in der mittelalterlichen Rezeption der aristotelischen Philosophie schreibt Ulrich Seeberg: „Die Deduktion selbst, im modernen Sinne, heißt ‚apodeixis‘ oder – gelegentlich eingeschränkt auf Ableitungen aus Hypothesen – ‚syllogismos‘“. Seeberg, U. Ursprung, Umfang und Grenzen der Erkenntnis, a. a. O., S. 167–168. Bei Aristoteles selbst aber meint „Deduktion“ einen indirekten Beweis (apagoge), der keinen Anspruch auf eine gründliche Demonstration erhebt. Erst mit Euklid wird die Deduktion ein „strenger Beweis“: „Die ‚apagoge‘ (deductio) bei Aristoteles meint also keinen strengen Beweis, sondern eine Argumentationsstrategie, die mit mehr oder weniger

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einer Aussage (These) aus anderen Aussagen (Hypothesen) mit Hilfe der Regeln des logischen Schließens (logische Folgerung)“.343 Die Deduktion erscheint so als ein Bestandteil der kategorisch axiomatischen Methode Euklids, d. i. die im großen Teil der neuzeitlichen Philosophie maßgebliche mos geometricus.344 Daher ist es kein Zufall, dass der Deduktionsbegriff normalerweise mit jener Form der Philosophie in Verbindung gebracht wird, die den Gebrauch seiner Grundsätze und Grundbegriffe nicht nur zu rechtfertigen oder zu berechtigen, sondern sogar auf der Grundlage der mathematischen Methode und nach einem syllogistisch-deduktiven System zu begründen und zu demonstrieren versucht. Dabei wird nicht selten die Vernunft selbst mit der Fähigkeit und Möglichkeit einer deduktiven Erkenntnis identifiziert.345 Wolff z. B. definiert die Philosophie als eine „strenge Wissenschaft“, die fähig sein muss, alle ihre Aussage aus absolut „gewissen Grundsätzen“ herzuleiten und sie demzufolge zu demonstrieren: In der Philosophie dürfen keine Grundsätze verwendet werden, die nicht zureichend bewiesen sind. Weil die Philosophie eine Wissenschaft ist, müssen ihre Behauptungen aus gewissen und unerschütterlichen Grundsätzen durch gültigen Schluß hergeleitet werden.346

Einen Grundsatz gründlich zu beweisen bedeutet, ihn richtig zu deduzieren, das heißt ihm all diejenigen Eigenschaften zuzuschreiben, die ihm durch eine vollständige Kette von Syllogismen wirklich zuzuweisen sind. Hierbei ist eine Stelle in Wolffs Elementa matheseos universae über das Ableitungsverfahren als demonstratio in der Mathematik aufschlussreich: Das Verfahren bei der Herleitung von Folgesätzen aus Prinzipien ist aber kein anderes als dasjenige, welches in allen Logikbüchlein, die vom Syllogismus handeln, schon immer dargelegt wird. Denn die Demonstrationen (demonstrationes) der Mathematiker sind Aneinanderreihungen von

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wahrscheinlichen Aussagen operiert. Als strenger Beweis erscheint der Terminus in der seither geläufigen Form des indirekten Beweises, also durch Widerlegung des Gegenteils einer Annahme, z. B. durch Ableitung widersprüchlicher Folgen, erst bei Euklid [Elementa, Liber X, Propositio 27]“. Seeberg, U. Ursprung, Umfang und Grenzen der Erkenntnis, a. a. O., S. 168. „Deduktion nennt man die Ableitung einer Aussage (These) aus anderen Aussagen (Hypothesen) mit Hilfe der Regeln des logischen Schließens (logische Folgerung)“. Lorenz, K. „Deduktion“. In: Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 2, a. a. O., S. 27. „In ‚Definitionen‘ werden die Grundbegriffe wie Punkt, Linie und Fläche geklärt; in ‚Postulaten‘ werden Konstruktions- oder Existenzforderungen für Figuren formuliert; und in ‚Grundsätzen‘ (seit dem berühmten Euklid-Kommentar des Proklos auch ‚Axiome‘ genannt), werden allgemeine Gleichungsaussagen von nicht speziell geometrischer Natur zusammengefasst. Darin, dass so alle ‚Lehrsätze‘ systematisch begründet und auf die selbstevidenten Axiomen zurückgeführt werden, besteht Euklids kategorisch axiomatische Methode“. Leibniz, G. W. Frühe Schriften zum Naturrecht: lateinisch-deutsch. Hrsg., mit einer Einl. und Anm. vers. sowie unter Mitw. von Hans Zimmermann, übers. von Hubertus Busche. Hamburg: Meiner, 2003, Anmerkung des Herausgebers, S. 411. „Et nous pouvons considérer dans la raison ces quatre degrés : 1° découvrir des preuves, 2° les ranger dans un ordre qui en fasse voir la connexion; 3° s’apercevoir de la connexion dans chaque partie de la déduction; 4° en tirer la conclusion. Et on peut observer ces degrés dans les démonstrations mathématiques“. Leibniz, G. W. Nouveaux essais sur l’entendement humain. Paris: Flammarion, 1921, Livre 4, Cap. XVII, S. 424. Wolff, C. Einleitende Abhandlung über Philosophie im allgemeinen, a. a. O., § 117, S. 68.

Enthymenen, und zwar so, daß man auf alles in der Kraft von Syllogismen schließt […]. Ein Beweis aber ist dann vollständig, wenn die Prämissen seiner Syllogismen durch neue Syllogismen so lange bewiesen werden, bis man zu einem Syllogismus gelangt, dessen Prämissen entweder Definitionen, deren Möglichkeit bereits erwiesen wurde, oder andere identische Sätze sind.347

Da die Philosophie nach demselben Gewissheitsgrad wie die Mathematik strebt, muss sie auch dieselbe Methode der Mathematik anwenden.348 Diese war im intellectus systematici des „alten Geometer Euklid“ am besten verkörpert.349 Wenn Kant ausdrücklich nicht den logisch-mathematischen, sondern den juridischen Deduktionsbegriff aufgreift, so nimmt er Abstand vom wolffianischen Verständnis der Philosophie als scientia objective spectata, das in Wolffs Deduktionsbegriff implizit enthalten ist.350 Es handelt sich hier um einen weiteren unmissverständlichen

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Wolff, C. Elementa matheseos universae. (Conspectus commentationis de methodo mathematica.) Bd. 1. Hildesheim: Olms, 1968, § 45. Deutsche Übersetzung in: Ciafardone, R. (Hrsg.). Die Philosophie der deutschen Aufklärung. Stuttgart: Reclam, 1983. Zu Wolff und zur mos geometricus in der Philosophie der Frühneuzeit im Allgemeinen vgl. Arndt, H. W. Methodo scientifica pertractatum. Mos geometricus und Kalkülbegriff in der philosophischen Theorienbildung des 17. und 18. Jahrhunderts. Berlin, New York: De Gruyter, 1971. Wolff, C. Einleitende Abhandlung über Philosophie im allgemeinen, a. a. O., § 139, S. 84–85. Wolff. C. De differentia intellectus systematici & non systematici. / Über den Unterschied zwischen dem systematischen und dem nicht-systematischen Verstand, übers., eingel. u. hrsg. von Michael Albrecht, in: Aufklärung, 23, 2011, S. 253. Vgl. Baum, M. „Systemform und Selbsterkenntnis der Vernunft bei Kant“. In: Fulda, H. & Stolzenberg, J. (Hrsg.). Architektonik und System in der Philosophie Kants. Hamburg: Meiner, 2001. Vgl. Bübner, R. „Selbstbezüglichkeit als Struktur transzendentaler Argumente“. In: Böhler, D. & Kuhlmann, W. (Hrsg.). Kommunikation und Reflexion. Zur Diskussion der Transzendentalpragmatik. Antworten auf Karl-Otto Apel. Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 1982. R. Bübner zufolge richtet sich Kant mit der juridischen Bedeutung seines Deduktionsbegriffs ausdrücklich gegen das alte apodiktische Beweisverfahren der Schulmetaphysik, vor allem gegen Wolff. Statt eines durch die formelle Richtigkeit des Beweises auferlegten „Zustimmungszwanges“ bestehe der „Nachweis einer Legitimation“. Das Deduktionsverfahren entspreche damit der „Leitmetapher“ des Gerichtshofs der Kritik. Das mit der Deduktion eng verbundene juridische Verfahren würde damit die methodische Lücke füllen, die durch die Ablehnung des Zustimmungszwangs eines strengen Beweises geöffnet wurde (ebd., S. 307). Das Neue an Kant bestehe in der Selbstbezüglichkeit seiner Beweisart. Mit der Deduktion werde die formale und rationale Stringenz einer stichhaltigen und formallogisch korrekten Aussage als „Zustimmungszwang“ durch die „Drohung des Verlustes der Konsistenz des Selbstverhältnisses“ seitens des vernünftigen Subjekts ersetzt. Bei der Zurückweisung des Legitimationsbeweises einer (juridischen) Deduktion bringe nun das Subjekt das Fundament für die Annahme der möglichen Erfahrung in Gefahr: „Den Rechtsgrund dafür muss ein jeder anerkennen, der überhaupt ein Bewußtsein von sich als Subjekt beansprucht. Die Kraft der Deduktion beruht folglich nicht wie im Falle des stringenten Beweises darauf, dass die Leugnung der vernünftigen Gründe als solche unvernünftig wäre. Bei Gefahr eines widersinnigen Verzichts auf Vernünftigkeit kann hier niemand zur Zustimmung gezwungen werden. Die Deduktion zieht ihre Kraft vielmehr aus dem drohenden Verlust der Konsistenz des Selbstverständnisses, so dass jeder, der sich selber richtig versteht, die Zustimmung nicht versagen kann“ (ebd., S. 308). Allerdings stützt Bübner seine Auffassung auf keine eingehende Untersuchung des historischen Deduktionsbegriffs, unabhängig von der Folge, die er daraus zieht.

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und bewussten Schritt Kants in seiner Ablehnung der identitas methodi philosophicae et mathematicae.351 Vor der Quellenuntersuchung des von Kant aufgenommenen juridischen Deduktionsbegriffs soll im Folgenden die Beziehung zwischen den beiden Bedeutungen des Deduktionsbegriffs bei Kant, der juridischen und der logischmathematischen, selbst einer näheren Betrachtung unterzogen werden. Zwar weist Kant bisweilen auf eine rein logische Bedeutung von deductio als Ableitung hin, d. i. „ein unmittelbare[r] Schluß (consequentia immediata) […] eines Urtheils aus dem andern ohne ein vermittelndes Urtheil (judicium intermedium)“ (Log. AA 09: 114). Diese logische Bedeutung verweist jedoch bloß auf die allgemeine, nicht die transzendentale Logik. Nicht ohne Grund ist hier von dem lateinischen Begriff „deductio“ und dem deutschen „Ableitung“ die Rede, während „Deduktion“ nicht gebraucht wird.352 Der Deduktionsbegriff in der Transzendentalphilosophie bedeutet zwar die Rechtfertigung oder Berechtigung des Anspruchs auf den Gebrauch eines Begriffs oder Grundsatzes, aber nicht in erster Linie als ein logischer Schluss. Dass eine (juridische oder transzendentale) Deduktion wirklich eine syllogistische Grundstruktur (besonders das modus ponens) hat oder haben kann, heißt nicht, dass sie sich auf diese reduzieren oder damit identifizieren lässt.353 Wie im Folgenden gezeigt werden soll, nahmen die Juristen wohl an, dass sich das Ergebnis oder der Schluss der juridischen Deduktion nach einer syllogistischen Folgerung formulieren lässt; ihr wesentliches Merkmal, die Bestimmung des Verhältnisse zwischen Tatsache und Gesetz, kann jedoch nicht durch die logisch351 352

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Wolff, C. Einleitende Abhandlung über Philosophie im allgemeinen, a. a. O., § 119, S. 84. Wir kommen auf diesen Punkt in Kapitel 8 zurück. Kant hält sich allerdings nicht streng an diese Unterscheidung. In KrV B 119 wird eine „physiologische Ableitung“ von einer Deduktion unterschieden, während in den Prolegomena beide (Ableitung und Deduktion) als Synonyme gelten: „Ableitung oder Deduktion“ (Prol AA 04: 324). Kant scheint ferner, wie im neunten Kapitel noch zu sehen sein wird, eine subjektive Ableitung als das zu bezeichnen, was der metaphysischen Deduktion der transzendentalen Ideen entspricht (A 336/B 393). Zu den verschiedenen Gebrauchsweisen von „Deduktion“ bei Kant siehe Henrich, D. „Die Deduktion des Sittengesetzes“. In: Schwan, A. (Hrsg.). Denken im Schatten des Nihilismus. Festschrift für Wilhelm Weischedel zum 70. Geburtstag. Darmstadt: WBG, 1975; Seeberg, U. Ursprung, Umfang und Grenzen der Erkenntnis, a. a. O., S. 173–182. Man kann mit M. Baum behaupten, „daß für Kant die juristische Argumentationsweise der Deduktion und die syllogistische Form eines Beweises in keinerlei Konflikt miteinander stehen […]. Kants transzendentale Deduktion der Kategorien ist beides, eine deduktive Schlußfolgerung und eine Rechtfertigung oder der Nachweis einer Befugnis“. Baum, M. Deduktion und Beweis in Kants Transzendentalphilosophie. Untersuchungen zur Kritik der reinen Vernunft. Königstein/Ts.: Hain bei Athenäum, 1986, S. 10. Vgl. auch Caimi, M. Kant’s B Deduction. Newcastle: Cambridge Scholars Publishing, 2014, S. 15: „ [T]he rhetorical prescriptions of jurists account for the external wording of the Transcendental Deduction. But that does not mean that the Kantian Deduction of 1787 has no logical structure beyond these rhetorical features“. Gegen Baum kann argumentiert werden, dass das bestimmende Merkmal der Deduktion bei Kant darin besteht, dass sie die „Rechtfertigung einer Befugnis“ und keine „deduktive Schlußfolgerung“ ist; gegen Caimi ist wiederum anzuführen, dass die juridische Gestaltung einer Deduktion bei Kant kein bloßes rhetorisches Element ist, das um das, was „wirklich interessiert“, ergänzt werden muss, nämlich „the logical structure“. Auf diesen Punkt wird im Folgenden, nämlich bei der Diskussion über Wolffs juridisches Verständnis der Deduktion und vor allem im achten und neunten Kapitel, erneut eingegangen.

mathematische Beweisführung einer deduktiven Ableitung erklärt oder erschlossen werden.354 Wenn Kant am Ende der B-Deduktion das „Resultat dieser Deduktion der Verstandesbegriffe“ als einen Syllogismus modus ponens darstellt355 und er selbst eine echte juridische Deduktion als logische Ableitung in der Schrift über die Unrechtmäßigkeit des Büchernachdrucks durchführt (VUB AA 08: 77–87), setzt diese bloße Darstellung dennoch voraus, dass die Frage nach der Rechtmäßigkeit bzw. Legitimität des jeweils zuvor erhobenen Anspruchs nach einer juridischen, nicht logisch-mathematischen Behandlungsweise schon bestimmt worden war. Daraus folgt, dass eine juridische Deduktion zwar eine logische Struktur haben oder sogar dem mos geometricus356 folgen kann. Ihr wesentliches Merkmal liegt jedoch woanders, nämlich in dem Unterschied zwischen res facti und quid iuris, dem wiederum der in der kantischen Deduktion besprochene Unterschied zwischen quaestio facti und quaestio iuris entspricht.357 Das Problem, das sich hier ergibt, wird jedoch erst in Kapitel 9 behandelt werden. 354

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A. Aichele bringt etwas Ähnliches zum Ausdruck, wenn er den Umfang der logischen Struktur einer juridischen Deduktion begrenzt: „Die juristische Deduktion erweist sich demnach als ein sowohl bedingungs- als auch begriffsanalytisches logisches Verfahren, das eine Entscheidung über die Subsumierbarkeit bestimmter Ereignisklassen unter Regeln höherer Extension gemäß modus ponens ermöglicht, indem es die logischen Beziehungen klärt, die zwischen dessen Ober- und Untersatz bestehen. Das Resultat dieses Verfahrens kann allerdings aufgrund der empirischen Genese dieser Ereignisklassen nicht wie ein mathematischer oder rein theoretischer Beweis objektive Gültigkeit beanspruchen, sondern nur subjektive Gewissheit, mithin Wahrscheinlichkeit jenseits allen vernünftigen Zweifels. Die schließlich gefällte Entscheidung darf folglich nie absolute Gewissheit bzw. Wahrheit beanspruchen, obgleich sie spätestens letztinstanzlich gilt“. Aichele, A. „Metaphysisches oder logisches Systemprinzip. Die Dynamik des Unbedingten und seine Deduktion in Schellings Naturphilosophie von 1799“. In: Danz, C. & Stolzenberg, H. (Hrsg.). System und Systemkritik um 1800. Hamburg: Meiner, 2011, S. 132. „Wir können uns keinen Gegenstand denken, ohne durch Kategorien; wir können keinen gedachten Gegenstand erkennen, ohne durch Anschauungen, die jenen Begriffen entsprechen. Nun sind alle unsere Anschauungen sinnlich, und diese Erkenntnis, so fern der Gegenstand derselben gegeben ist, ist empirisch. Empirische Erkenntnis aber ist Erfahrung. Folglich ist uns keine Erkenntnis a priori möglich, als lediglich von Gegenständen möglicher Erfahrung“ (B 165–166). Wie z. B. die Deduktion des Sittengesetzes oder des Freiheitsbegriffs in der Analytik der KpV. Vgl. Wolff, M. „Warum das Faktum der Vernunft ein Faktum ist. Auflösung einiger Verständnisschwierigkeiten in Kants Grundlegung der Moral“. In: Deutsche Zeitschrift für Philosophie, 57, 4, 2009. Wolff erklärt die Verfahren des mos geometricus genau in dem Moment der KpV; er übersieht aber völlig die juridische Bedeutung des Deduktionsbegriffs bei Kant. Wenn man die Analytik der KpV lediglich als eine Deduktion im Sinne der mos geometricus deutet, bleibt ungeklärt, warum Kant die mos geometricus in der KrV, der KU usw. nicht angewendet hat. Es kann behauptet werden, dass die „geometrische Gestaltung“ der Deduktion der KpV einen teils ironischen, teils bestätigenden Charakter hat. So entgegnet Kant in der Vorrede der KpV auf den Vorwurf, er habe bei der GMS „kein neues Princip der Moralität, sondern nur eine neue Formel aufgestellt […]. Wer aber weiß, was dem Mathematiker eine Formel bedeutet, die das, was zu thun sei, um eine Aufgabe zu befolgen, ganz genau bestimmt und nicht verfehlen läßt, wird eine Formel, welche dieses in Ansehung aller Pflicht überhaupt thut, nicht für etwas Unbedeutendes und Entbehrliches halten“ (KpV AA 05: 08). Andererseits wird deutlich, dass der juridische Deduktionsbegriff eine logische Grundstruktur haben kann, ohne allerdings darauf beschränkt zu werden. „Die in den juristischen Definitionen von ‚deductio‘ auftretenden Elemente (Unterscheidung von quaestio facti und quaestio iuris, Behandlung von Tat- und Rechtsfragen in be-

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An dieser Stelle geht es darum, die Besonderheit der spezifisch juridischen Bedeutung des Deduktionsbegriffs und seinen Einfluss auf das juridische (Selbst-)Verständnis der KrV und der kritischen Philosophie im Allgemeinen zu untersuchen. Nur mit diesem historisch-philosophischen Hintergrund lässt sich Kants Deduktion als eine „bescheidene Deduktion“ 358 verstehen. In Kapitel 8 wird näher auf die Disziplin der reinen Vernunft eingegangen. Es bleibt jedoch zu erwähnen, dass Kant zugibt, in der Transzendentalphilosophie seien keine demonstrationes, jedoch probationes erlaubt und möglich. Nur unter dieser Voraussetzung macht es Sinn, von „Recht statt Mathematik“ zu sprechen.359 Die systematische Erörterung der gerichtlichen Funktion der Deduktion in der KrV ist das Thema des neunten Kapitels; das vorliegende beschränkt sich auf die Erörterung der Quellen und des Ursprungs des juridischen Deduktionsbegriffs, wobei einige Hinweise zu den hieraus entstehenden systematischen Folgen gegeben werden.

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weisender Absicht, deduktive Herleitung des rechtlichen Anspruchs) werden von Kant vollständig übernommen“. Herberger, M. „Quaestio iuris/quaestio facti“. In: Historisches Wörterbuch der Philosophie. Bd. 7, a. a. O., S. 1743. Henrich deutet die kantische „Umkehrung“ der logisch-mathematischen Tradition durch die neue „juridische Begründung“ als einen „Verzicht auf das Ganze“ und als eine Mäßigung der Beweisansprüche in der Philosophie. „In einem Rechtsstreit muss man sich nicht auf den gesamten Zusammenhang einlassen, in dem eine strittige Sache und in dem der Anspruch auf sie zustande gekommen sind. Von Gewicht ist einzig die Bezugnahme auf einige wenige Aspekte der Sache und des auf sie gehenden Anspruchs, nämlich auf solche Umstände des Ursprungs beider, die dann auch über die Legitimität des Anspruchs entscheiden“. Henrich, D. „Systemform und Abschlussgedanke. Methode und Metaphysik als Problem in Kants Denken“. In: Gerhardt, V. (Hrsg.). Kant und die Berliner Aufklärung. Akten des Kant-Kongresses Berlin. Bd. 1. Berlin [u. a.]: De Gruyter, 2001, S. 102. Aichele interpretiert die Mäßigung oder „Bescheidenheit“ der juridischen Deduktion als Ergebnis der Unmöglichkeit, die Subsumierung des Singulären (Handlung) unter das Allgemeine (juridisches Gesetz) mit völliger Gewissheit zu bestimmen: „[D]ie zu erzielende Gewißheit [in der Deduktion] kann also gemäß der Terminologie des 18. Jahrhunderts immer nur subjektiv sein, da es jederzeit um die begriffliche Erfassung eines Einzelnen durch universale Terme geht. Deswegen resultiert der abschließende Urteilsspruch auch nicht aus einem mathematisch-logischen Verfahren, das sich prinzipiell automatisieren ließe, sondern erfordert eine eigene entscheidende und eben nicht irrtumsimmune Instanz in der Person des Richters“. Aichele, A. „Metaphysisches oder logisches Systemprinzip“, a. a. O., S. 130. Aichele zufolge spiegelt sich hier die Zirkularität der Zurechnung in der Rechtsphilosophie der Neuzeit wider (dazu mehr in Kapitel 9). Siehe zuletzt Ishikawa: „Der stärkste Beweis der obersten Prinzipien des Wissens ist wegen ihrer Unhintergehbarkeit prinzipiell immerhin unmöglich. Also wird ein Beweis für solche Prinzipien nicht als Angabe eines Beweisgrundes im stärksten Sinne, sondern zufolge der ursprünglichen, juristischen Fragestellung nur als Angabe eines Rechtsgrundes durchführbar.“ Ishikawa, F. „Zum Gerichtshof-Modell der Kategorien-Deduktion“. In: Croitoru, R. (Hrsg.). The Critical Philosophy and the Function of Cognition. Proceedings of the Fifth International Symposion of the Romanian Kant Society. Bucharest: Diogene, 1995. Vgl. Höffe, O. Kants Kritik der reinen Vernunft, a. a. O., S. 286ff. Höffe spricht von dem Recht als Surrogat der Mathematik in der Transzendentalen Methodenlehre, schweigt aber erstaunlicherweise darüber, wenn er sich mit der metaphysischen und transzendentalen Deduktion auseinandersetzt. Ein Grundproblem der „juridischen Methode“ Kants in der KrV bleibt somit unberührt, nämlich die Frage, wie das Disziplin-Kapitel und die Deduktions-Kapitel zusammenhängen. Hier zeigt sich einer der Nachteile in Höffes Ansatz, worauf schon in der Einleitung der vorliegenden Arbeit hingewiesen wurde.

3.1

Quellen

Zunächst ist unter rein etymologischen Gesichtspunkten festzustellen, dass die ursprüngliche Bedeutung der germanisierten Form von deductio, „Deduction“ oder „Deduktion“, nicht logisch oder mathematisch, sondern juridisch ist.360 Das eingedeutschte Wort ist zum ersten Mal in der Mitte des 16. Jahrhunderts als Übersetzung von deductio belegt und bezeichnet „in direkter Anlehnung“ an das mittelalterliche Latein eine „Darlegung(-sschrift), rechtsstreitliche Ausführung; Exposition“.361 Ab Ende des 16. Jahrhunderts bezeichnete „Deduktion“ derivativ auch eine „Her-, Ableitung, Folgerung (des Einzelnen/Besonderen aus dem Allgemeinen), Schlußfolgerung […] bes. in Philosophie, Mathematik und Logik als Bezeichnung für eine Denkweise und wissenschaftliche Erkenntnismethode“.362 Wenn Kant auf die ursprüngliche juridische Bedeutung des Deduktionsbegriffs verweist, bezieht er sich auch auf die ursprüngliche Bedeutung des deutschen Wortes „Beweis“, dessen Ursprung ebenfalls in der Jurisprudenz liegt, wobei es einen gerichtlichen Beleg durch Zeugen, Urkunden usw. bezeichnete.363 Auch in einem etymologischen Zusammenhang ist daher bei Kant unter „Deduktion“ etwas wie eine apagoge als Klageschrift364 und nicht ein logisch-mathematisches Begründungsverfahren im Sinne einer Ableitung oder Schlussfolgerung zu verstehen. Viele in der Zeit Kants erschienenen Wörterbücher der kritischen Philosophie belegen und bestätigen auch begrifflich die juridische Bedeutung des kantischen Deduktionsbegriffs. Im Wörterbuch zum leichtern Gebrauch der Kantischen Schriften von Schmid wird die juridische Bedeutung der Deduktion als die eines Beweises herausgestellt, dessen Ziel vorwiegend in der Rechtfertigung bzw. „Legitimierung“ eines Rechtsanspruchs oder einer Befugnis zum Gebrauch einer Vorstellung besteht (wie eine Kategorie, ein reiner Verstandesbegriff, d. i. eine „allgemeine Vorstellung“). Dies erfolgt, indem man nachweist, dass die be360

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Es ist aber schwieriger, den juridischen Ursprung des lateinischen Begriffs deductio zu belegen. In der Encyclopedia of Ancient History heißt es, „deductio has several meanings in Roman culture and law: part of the Roman marriage ceremonies, the foundation of a colony, and an institution of Roman contract law. The first of these is most likely to be encountered“. Bagnall, R. S. et al. The Encyclopedia of Ancient History, First Edition. London [u. a.]: Wiley-Blackwell, 2012, S. 1959. Deutsches Fremdwörterbuch. Völlig neubearbeitet im Institut für deutsche Sprache. Bd. 4. Gerhard Strauß (Leitung), Elke Donalies, Heidrun Kämper-Jensen, Isolde Nortmeyer, Joachim Schildt, Rosemarie Schnerrer, Oda Vietze. Berlin & New York: De Gruyter, 1996, S. 67: „Zunächst in direkter Anlehnung an das Mlat. (s. o.) als juristischer Terminus in der Bed. ‚(schriftliche) Darlegung eines für die Entscheidung einer Streitsache relevanten Tatbestandes, einer Rechtsfrage, (Rechts-)Ausführung; ausführliche Überlegung, Erörterung, Erklärung, Beschreibung, Bericht; (rechtliche) Auseinandersetzung; institutionelle Durchführung‘, in Wendungen wie Deduktion über etwas, als Bestimmungs- und (seltener) Grundwort in Zss. wie Deduktionsschrift, -literatur, -verfahren; Rechtsdeduktion“. Ebd. „So war es [Beweis] in der Rechtssprache gebräuchlich als durch einen Eid, Zeugen, Urkunden u. dgl. klarlegen“. Trübners deutsches Wörterbuch. Hrsg. von Alfred Götze. Berlin [u. a.]: De Gruyter, 1939. Seeberg, U. Ursprung, Umfang und Grenzen der Erkenntnis, a. a. O., S. 169; Busolt, G. Griechische Staatskunde. 2. Hälfte: Darstellung einzelner Staaten und der zwischenstaatlichen Beziehungen. München: Beck, 1976, S. 1108.

103

treffende Vorstellung nicht „leer“ ist, sondern sich auf einen Gegenstand bezieht und somit Bedeutung, „objectiver Gültigkeit“ hat: Deduction (s. Beweis): 1) überhaupt: der Beweis eines Rechtsanspruchs, einer Befugnis. 2) Insbesondere: Deduction (Legitimation) einer Vorstellung; Beweis von dem Rechte, sie zu gebrauchen; Beweis, dass eine Vorstellung Sinn, Bedeutung, Realität, objective Gültigkeit habe, nicht leer zu sein, sondern sich auf Objecte beziehe.365

Im Enziclopädischen Wörterbuch der kritischen Philosophie Mellins werden ebenfalls die juridische Bedeutung und der Ursprung des kantischen Deduktionsbegriffs betont. Die Deduktion sei der „kritische Beweis“, der die Rechtmäßigkeit oder Legitimität eines gegebenen Rechtsanspruchs „dartut“. In diesem Sinn sei sie synonym mit „Rechtsdeduktion“: [Deduction]: transcendentaler Beweis, auch critischer Beweis, deductio, deduction […]. Das Wort Deduction hat Kant von den Rechtslehren entlehnt, welche darunter den Beweis, der den Rechtsanspruch darthun soll, verstehen. So macht Cajus, in einem Rechtshandel, auf ein Capital Anspruch, das Jemand nachgelassen hat; und der Beweis, dass dieser Anspruch in den Rechten gegründet sei, und das Capital folglich dem Cajus gehöre, heißt die Deduction. Man kann diese Deduction, die nachweiset, was in einem einzelnen Falle Rechtens (quid iuris) ist, auch die Rechtsdeduction nennen.366

Die Frage nach der wirklichen Quelle eines solchen juridischen Deduktionsbegriffs bleibt jedoch weiterhin offen. Henrich war der erste Autor, der auf den juridischen Ursprung des kantischen Deduktionsbegriffs aufmerksam machte. 367 Ihm zufolge hat die ganze Tradition der Kant-Forschung den Fehler begangen, die transzendentale Deduktion als das mit dem Deduktionsbegriff herkömmlich verbundene logisch-mathematische Begründungsverfahren zu verstehen. „But by adopting this seemingly natural and almost irresistible reading one has already missed what is distinctive to the methodological idea that gives to Kant’s deductions a unitary structure“.368 Um dieses Versäumnis nachzuholen, müsse man erst einmal das historische „juridische Paradigma“ der Deduktion ernst nehmen und die Quellen dieser „Praxis“ erschließen, die nach dem Ende des Heiligen Römischen Reiches beinahe „extinct and almost incomprehensible“ geworden seien.369 Henrich zeigt, wie der juridische Deduktionsbegriff als terminus technicus auf einen Bestandteil der juridischen Praxis zurückzuführen ist, der vor allem im 18. Jahrhundert in Preußen in den sogenannten Deduktionsschriften festgelegt wurde. Weitere Autoren haben die Untersuchungen von Henrich fortgesetzt und direkt oder indirekt die von ihm begonnenen Quellenstudien vertieft, ohne aber 365 366 367

368 369

104

Schmid, C. C. E. Wörterbuch zum leichtern Gebrauch der Kantischen Schriften, a. a. O., S. 159. Mellin, G. S. A. Enziclopädisches Wörterbuch der kritischen Philosophie, a. a. O., S. 37ff. Henrich, D. „Die Deduktion des Sittengesetzes“, a. a. O.; ders. „Die Beweisstruktur der transzendentalen Deduktion der reinen Verstandesbegriffe“, a. a. O.; ders. „Kant’s Notion of a Deduction and the Methodological Background of the First Critique“. In: Förster, E. (Hrsg.). Kant’s Transcendental Deductions. Stanford: Stanford University Press, 1989. Henrich. D. „Kant’s Notion of a Deduction“, a. a. O., S. 32. Ebd., S. 33.

wesentlich Neues beigetragen zu haben.370 Am sorgfältigsten war dabei nicht ohne Grund ein Schüler von Henrich, Ulrich Seeberg. Er behauptet, dass der älteste Verweis auf Deduktionen bis zum Ende des 15. Jahrhunderts zurückreicht, als sie noch als ein Synonym von „Rechtfertigung“ und „Beweis“ galten.371 Im Allgemeinen wurden „diese Deduktionen teilweise außergerichtlich veröffentlicht, fanden anderenteils aber auch interne Verwendung als Bestandteile des gerichtlichen Prozesses und wurden dann bei den Gerichtsakten verwahrt“.372 In allen ihren Formen und ungeachtet ihres bestimmten Gegenstands waren die Deduktionsschriften eine „juristische Verteidigung oder Widerlegung von Ansprüchen, die sich häufig aus genealogischen Verhältnissen begründen, die über viele Generationen zurückreichen oder sich aus alten Verträgen ergeben“.373 Bevor aber die Deduktionsschriften und die wesentlichen Merkmale der darin enthaltenen Vorgehensweisen eingehend diskutiert werden, ist der Deduktionsbegriff selbst mithilfe einiger Lexika der Zeit zu untersuchen. Im zum ersten Mal 1755 erschienenen Repertorium reale practicum Iuris privati Imperii Romano-Germanici von Hellfeld werden die deductiones als „rechtliche Ausführungen und Beweise durch Documente und Gründe, wegen eines gewißen Anspruchs oder angemaßten Gerechtsame“, erklärt.374 Diese Bedeutung findet sich nicht nur in juristischen Wörterbüchern. Auch im Grammatisch-Kritischen Wörterbuch der Hochdeutschen Mundart von Adelungen, dessen erste Auflage 1774 erschienen ist, wird „Deduktion“ als „eine Schrift, worin die Ansprüche und darauf gegründeten Gerechtsame einer streitenden Partey untersucht werden“, definiert.375 In Adelungs Wörterbuch werden auch die erwähnten „Gerechtsame“ nicht als bloße „Rechte“, sondern als „die in einem Rechte oder Gesetze ge-

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Aichele, A. „Enthymematik und Wahrscheinlichkeit. Die epistemologische Rechtfertigung singulärer Urteile in Universaljurisprudenz und Logik der deutschen Aufklärung: Christian Wolff und Alexander Gottlieb Baumgarten“. In: Rechtstheorie. Sonderheft: Rechtsrhetorik, Bd. 42, 2011; ders. „Metaphysisches oder logisches Systemprinzip“, a. a. O.; Bübner, R. „Selbstbezüglichkeit als Struktur transzendentaler Argumente“, a. a. O.; Frank, M. „Unendliche Annährung“, a. a. O.; Ishikawa, F. „Zum Gerichtshof-Modell der Kategorien-Deduktion“, a. a. O.; ders. „Grundmotive des Gerichtshof-Modells der Kategorien-Deduktion Kants“. In: Mohrs, T., Roser, A. & Salehi, D. (Hrsg.). Die Wiederkehr des Idealismus? Festschrift für Willheim Lütterfelds zum 60. Geburtstag. Frankfurt a. M.: Lang, 2003; Kaulbach, F. „Die rechtsphilosophische Version der Transzendentalen Deduktion“. In: Studien zur späten Rechtsphilosophie Kants, a. a. O.; Pievatolo, M. C. „The Tribunal of Reason: Kant and the Juridical Nature of Pure Reason“. In: Ratio Juris, 12, 1999; Proops, I. „Kant’s Legal Metaphor and the Nature of a Deduction“. In: Journal of the History of Philosophy, Vol. 41, N. 2, 2003; Seeberg, U. „Kants Vernunftkritik als Gerichtsprozeß“. In: Bowman, B. (Hrsg.). Darstellung und Erkenntnis. Paderborn: Mentis, 2007; ders. Ursprung, Umfang und Grenzen der Erkenntnis, a. a. O. Seeberg, U. Ursprung, Umfang und Grenzen der Erkenntnis, a. a. O., S. 199, Fn. 74. Ebd., S. 200. Ebd. Hellfeld, J. A. Repertorium reale practicum Iuris privati Imperii Romano-Germanici. Bd. 2. Jena, 1755, S. 1122. Adelung, J. C. „Deduction“. In: Grammatisch-Kritisches Wörterbuch der Hochdeutschen Mundart. Bd. 1. 1. Aufl. Leipzig 1774–1786, 5 Bde.; 2. Aufl. Leipzig 1793–1801, 4 Bde., Supplementband 1818 Sp. 1433.

105

gründete Befugniß“376 bezeichnet, das heißt als eine auf einem Recht oder Gesetz basierende Erlaubnis zum Gebrauch eines bestimmten Gegenstands oder zur Ausübung einer bestimmten Tätigkeit bzw. eines bestimmten Rechts. In der 1832 erschienenen Allgemeinen Encyklopädie der Wissenschaft und Künste wird ferner „Deduktion“ im Singular von „Deduktionen“ im Plural unterschieden. Während „Deduktion“ im Singular eine „Formalität, durch welche man den bestrittenen Besitzstand einer Sache, zunächst eines Fundus andeuten wollte“, bedeutet, meint „Deduktionen“ im Plural spezifisch die „rechtliche[n] Ausführungen, also Schriften, deren Tendenz dahin geh[en], die Rechtsbeständigkeit einer streitigen Angelegenheit überzeugend darzuthun“.377 Deduktionen seien im Privatrecht sowie im Staats- oder öffentlichen Recht möglich. Die Besonderheit der Deduktion bestehe also darin, dass man „bei jenem Worte hauptsächlich an eine Bearbeitung publicistischer Controversen [denkt], und in diesem Sinne machen Deductionen namentlich einen für Geschichte und Rechtsfunde gleich wichtigen Bestandtheil unserer teutschen Literatur aus“.378 Weiter heißt es: Denn einen der glänzendsten Mittelpunkte der gelehrten Thätigkeit unserer frühern Reichspublicisten bildeten gerade ihre mannichfachen Deductionen; in geschichtlicher Hinsicht aber sind die meisten und zum Theil wichtigkeiten Urkunden für allgemeine und specielle teutliche Geschichte erst auf Veranlassung jener rechtlichen Erörterungen dem Druck übergeben worden.379

Schließlich wird „Deduktion“ auch im 1832 erschienenen Allgemeinen Handwörterbuch der philosophischen Wissenschaften, nebst ihrer Literatur und Geschichte von T. W. Krug in ihrem juridischen wie auch in ihrem logischen Sinne erörtert und explizit auf die „kritische Schule“ bezogen: Deduction (von deducere, ableiten) ist eigentlich Ableitung eines Satzes aus einem oder mehren andern. Weil aber beim Beweisen auch etwas aus einem Andern und Gewissern (oder doch als schon ausgemacht Angenommenen) abgeleitet wird: so nennt man auch oft die Beweise Deductionen. Besonders pflegen die Rechtsgelehrten ihre Beweise so zu nennen, und zwar, wiefern dieselben auf die Thatsache gehn, deductiones facti, wiefern sie aber auf die eigentliche Rechtsfrage gehn, deductiones juris. Die Philosophen, besonders die aus der kritischen Schule, pflegen ebenfalls ihrer Beweise aus der ursprünglichen Gesetzmäßigkeit des menschlichen Geistes Deductionen zu nennen, und zwar transcendentale. Doch sind sie im Gebrauche dieses Worts nicht einig, indem Manche auch jeden philoso376

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106

„Eines Gerechtsamen kränken. Eine Stadt, welche viele Gerechtsamen hat. Anm. Im Oberdeutschen nur Rechtsame. In eben dieser Mundart hat man auch das Bey- und Nebenwort gerechtsam für rechtmäßig, und Gerechtsamkeit für die Gerechtsame. Es ist unbegründet, wenn einige behaupten; Gerechtsamen habe keinen Singular. Indessen kommt der Plural freylich häufiger vor“. Ebd., Bd. 2, S. 582. Vgl. Zedler: „Rechtsamen oder Gerechtsame sind so viel, als die gewissen Personen zustehenden besondern Rechte und Gerechtlichkeiten, oder Befugnisse“. Zedler, J. H. Großes vollständiges Universal-Lexicon. Bd. 30. 1731–1754, S. 1423. Allgemeine Encyklopädie der Wissenschaft und Künste. Hrsg. von J. S. Ersch und J. G. Gruber. Leipzig: 1832, Bd. 23, S. 316–317. Ebd. Ebd., S. 317.

phischen Beweis eine Deduction, den mathematischen aber eine Demonstration nennen.380

3.2

Theoretische und praktische Jurisprudenz und juridische Praxis

Die zuletzt vorgestellte Erklärung von „Deduktion“, die von T. W. Krug, dessen Grundanliegen ein kritisch-historisches Wörterbuch der Philosophie war,381 gegeben wurde, verrät die konzeptuelle Verschiebung, die der Deduktionsbegriff als philosophische Beweisart im Gegensatz zu der mathematischen Demonstration im deutschsprachigen Raum durch die kritische Philosophie erfuhr. In der Zeit Kants aber gehörte der juridische Deduktionsbegriff zu der Reihe von Begriffen und termini technici, die sowohl die aus praktischer und theoretischer „Rechtsgelehrsamkeit“ oder Jurisprudenz bestehende „Theorie des Rechts“ als auch die juridische Praxis selbst 382 ausmachten. Diese von Kant nahegelegte Unterscheidung (MdS AA 06: 229–230) ist hier von Interesse, weil sich daraus die Merkmale und das Ziel der juridischen Deduktion näher erklären lassen. Daniel Nettelbladt und Johann Stephan Pütter haben zum ersten Mal die praktische und theoretische Jurisprudenz einerseits und die juristische Praxis andererseits unterschieden.383 Die jurisprudentia theoretica und die jurisprudentia practica, das heißt die theoretische und die praktische Behandlung der Rechte und Verbindlichkeiten, gehören zu der theoria iuris, während die juridische praxis außerhalb der Theorie bleibt, weil sie die Einzelfälle behandelt.384 Für Nettelbladt ist „Theorie die Lehre selbst, die die Wahrheiten über Rechte und Pflichten enthält, ‚Praxis‘ aber die Anwendung der Gesetze auf Fakten (applicatio legum ad facta)“.385 Im Gegensatz zu der theoretischen Jurisprudenz, die Definitionen und Begriffe behandelt, sei die praktische Jurisprudenz „der Theil der Rechtsgelahrtheit, welcher die Wahrheiten von der Art und Weise, wie die rechtlichen Geschäfte betrieben werden müssen, in sich enthält“.386 Die juridische Praxis bestehe wiederum „in der Anwendung dieser allgemeinen Wahrheiten auf einzelne

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Krug, W. T. „Deduction“. In: Allgemeines Handwörterbuch der philosophischen Wissenschaften, nebst ihrer Literatur und Geschichte. Bd. 1. Leipzig 1832, S. 567. „Es müßte sehr instruktiv sein, wenn man von allen philosophischen Begriffen und Sätzen ein Werk hätte, welches sie in alphabetischer Ordnung reihete, dabei ihren Ursprung, ihren Fortgang, ihre Veränderungen, ihre Anfechtungen und Verteidigungen, Entstellungen und Berichtigungen mit Angabe der Quellen, der Verfasser, der Zeiten bis auf den gegenwärtigen Augenblick angäbe“. Krug, W. T. „Rezension des Mellinschen Encyclop. Wb. der krit. Philos. Neue Leipziger Lit.-Ztg. 22. Stück (1806) S. 346“. Apud. Meier, H.G. „Begriffsgeschichte“. a. a. O., S. 792. Vgl. Schröder, J. Wissenschaftstheorie und Lehre der ‚praktischen Jurisprudenz‘ auf deutschen Universitäten an der Wende zum 19. Jahrhundert. Frankfurt a. M.: Klostermann, 1979. Auch Hufeland unterscheidet theoretische und praktische Jurisprudenz. Vgl. Abriß der Wissenschaftskunde und Methodologie der Rechtsgelehrsamkeit, Jena, 1797, S. 52, N. 91. Nettelbladt, D. „De optima iurisprudentiam practicam docendi methodo“. In: Sammlung kleiner juristischer Abhandlungen, Halle, 1792, S. 92. Nettelbladt, D. „De optima iurisprudentiam practicam docendi methodo“, a. a. O., S. 90: „Est enim theorie iuris ipsa doctrina, veritates de iuribus et obligationibus sistens; praxis iuris vero applicatio legum ad facta obvenientia“. Nettelbladt, D. Versuch einer Anleitung zu der ganzen Practischen Rechtsgelahrheit. Halle, 1767, S. 3.

107

Rechtsfälle“ und sei von der „praktische[n] Rechtsgelahrheit […] sehr unterschieden“.387 In anderen Worten: Die [theoretische Rechtsgelehrsamkeit] enthält Wahrheiten über Rechte und Pflichten selbst, die [praktische Rechtsgelehrsamkeit] Wahrheiten, wie die rechtlichen Geschäfte zu betreiben seien. Zum Beispiel: Wer testieren könne, gehöre zur theoretischen Jurisprudenz; wie aber ein Testament ordentlich zu errichten sei, zur praktischen. Was ein Kaufvertrag ist, gehört zur theoretischen, wie ein Kaufvertrag aufzusetzen ist, zur praktischen Jurisprudenz. Sowohl theoretische als auch praktische Jurisprudenz gehörten also zur Theorie des Rechts und seien scharf von der Praxis selbst, der konkreten Ausführung der rechtlichen Geschäfte, zu unterscheiden.388

Der Deduktionsbegriff nun lässt sich sowohl in den philosophischen Werken über das Naturrecht (theoretische Jurisprudenz) als auch in jenen Schriften finden, die eher die Grundlagen zur Durchführung von Rechtsgeschäften (praktische Jurisprudenz) und die Einzelfälle (juridische Praxis) zum Thema haben. Im Folgenden wird der Blick zuerst auf die theoretische Jurisprudenz und dann auf die praktische Jurisprudenz und die juridische Praxis gerichtet, wobei es vor allem Pütter und seinen Deduktionsbegriff zu berücksichtigen gilt. In C. Wolffs Definition ist die Deduktion im juridischen Zusammenhang gleichbedeutend mit der Demonstration (demonstratio) eines erworbenen Rechts: Die Demonstration, dass irgendjemand ein beworbenes Recht zusteht, pflegt Deduktion genannt zu werden: so dass sein oder eines anderen Recht zu deduzieren dasselbe ist wie zu beweisen, dass ihm selbst oder einem anderen dies Recht zusteht, oder, weil hier von erworbenem Recht die Rede ist, dass durch diese Handlung er selbst oder ein anderer dieses Recht erworben hat.389

Wie im gewohnt logischen Sinne des Wortes stellt die Deduktion im juridischen Zusammenhang eine Beweisführung dar, der ein strenger Gewissheitsanspruch zukommt: „Wer eines anderen Recht deduzieren will, muß zeigen, daß dasselbe gewiß ist“.390 Dieser Anspruch ergibt sich daraus, dass dem deduktiven Verfahren in der Rechtswissenschaft die Demonstration in der Mathematik und a fortiori in der Philosophie entspricht.391 Der Beweis der Rechtmäßigkeit eines erwor387 388 389

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Ebd., S. 3ff. Schröder, J. Wissenschaftstheorie und Lehre der ‚praktischen Jurisprudenz‘, a. a. O., S. 46-7. Wolff, C. Jus naturae methodo scientifica pertractatum. Pars tertia. Frankfurt, Leipzig & Halle 1740; 2. Repr. Hildesheim: Olms, 2003, § 443. „Demonstratio juris acquisiti alicui competentis appellari solet Deductio: ut adeo jus suum vel alterius deducere idem sit ac demonstrare, quod sibi vel alteri hoc jus competat, vel, cum de jure acquisito hic sermo sit; quod hoc facto jus hoc acquisiverit ipse, vel alius“. Übers. (leicht verändert): Aichele, A. „Metaphysisches oder logisches Systemprinzip?“, a. a. O., S. 127; ders. „Enthymematik und Wahrscheinlichkeit“, a. a. O., S. 498. Wolff, C. Jus naturae methodo scientifica pertractatum, a. a. O., § 444; Übers. nach Aichele, A. „Enthymematik und Wahrscheinlichkeit“, a. a. O., S. 499. Wolff, C. Jus naturae methodo scientifica pertractatum. a. a. O. § 441: „Eodem sensu jus certum dicimus, quo propositionem certam appellamus in Logica. Certa est propositio, quae demonstrari potest (§ 568, Log.). Ergo certum quoque est jus, quod quod nobis competat demonstrari potest. Nimirum si dicis: Mihi competit hoc jus, & tu demonstrare potes,

benen Rechts ist insofern der Demonstration der Wahrheit einer Aussage vergleichbar. Die logisch-syllogistische Struktur der juridischen Deduktion, vor allem die Modus-ponens-Schlussfigur, ist genau das, was ihren Gewissheitsanspruch aufrechterhält. Die Gewißheit eines erworbenen Rechts hängt von dieser allgemeinen Schlußform (syllogismo catholico) ab, der die Überlegungen dessen anleitet, der beweisen will, daß irgendjemandem ein erworbenes Recht zusteht: Wenn eine Handlung so beschaffen war, wird durch dieselbe ein so beschaffenes Recht erworben. Nun war diese Handlung so beschaffen. Also wurde ein so beschaffenes Recht durch dieselbe erworben.392

Es liegt nahe, dass das Problem der species facti oder momenta facti in dem Untersatz („Nun war diese Handlung so beschaffen“) – also die Frage danach, ob die anstehende Handlung sich unter das Gesetz subsumieren lässt und ob sie tatsächlich die entsprechende juridische Bedeutung hat – gelöst werden muss, noch bevor der Obersatz formuliert wird, in dem das Gesetz und folglich die festzustellende juridische Beschaffenheit der Handlung zum Ausdruck kommt. Wie im neunten Kapitel näher zu sehen sein wird, geht es dabei keineswegs um ein triviales Problem. Vielmehr erscheint es bei Kant als das Problem der Feststellung einer metaphysischen Deduktion und eines ursprünglichen normativen factum, das nicht auf ein anderes zurückzuführen ist; insofern geht es um die transzendentale Apperzeption. Dieses Problem der Beziehung zwischen lex und factum, der applicatio legum ad facta und demzufolge der Bestimmung des factum selbst kommt vor dem der transzendentalen Deduktion, das heißt vor der Frage nach dem Beweis der Rechtmäßigkeit, irgendeinen gegebenen Begriff zu gebrauchen. An dieser Stelle kann wieder an Wolff angeknüpft werden. Ist die Frage nach der juridischen Beschaffenheit der anstehenden Handlungen beantwortet, erfolgen die Deduktion und hiermit die quaestio iuris für einen in der Logik bewanderten Juristen ohne Mühe.393 Daher betreibt Wolff auch in der Rechtswissenschaft eine „objektive, demonstrierte Wissenschaft“. Auch Gottfried Achenwall weist auf die Deduktion im Zusammenhang mit der Bestimmung der quaestio iuris und der quaestio facti hin. Die probatio sei eine deductio iuris, wenn sie nicht nachweise, dass eine Tatsache (factum) „existiert“ oder nicht (quaestio facti), sondern dass diese Tatsache recht oder unrecht sei (quaestio iuris). Es geht dabei um die von Wolff angedeutete Unterscheidung von momenta in facto und momenta in iure, das heißt von den „Momenten“, die die Anwendung

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quod tibi competat, jus tuum certum est. In casu autem opposito incertum utique dicendum. Potest tibi actu competere aliquod jus, adeoque habere potes jus quaesitum (§ 102); quoniam tamen demonstrare nequis, quod tibi competat, jus tum certum non est. Apparet adeo jus quaesitum omne non esse certum“. Ebd., § 442; Übers. nach Aichele, A. „Enthymematik und Wahrscheinlichkeit“, a. a. O., S. 499. „Der Erfolg des juristischen Deduktionsverfahrens entscheidet sich also ganz offenkundig an der Darstellung des Untersatzes, welche die Legitimität der Erfassung des Geschehens als eines Falls der Regel, das heißt des Obersatzes, begründet. Ist dies geleistet, ist die quaestio iuris beantwortet“. Aichele, A. „Enthymematik und Wahrscheinlichkeit“, a. a. O., S. 500.

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einer Regel oder eines Gesetzes auf eine gegebene Handlung bestimmen, und den „Momenten“, aus denen die Regel oder das Gesetz besteht und die darlegen, ob das anstehende factum sich unter ein solches Gesetz subsumieren lässt.394 Bei den momenta in iuris hat die deductio iuris ihren Platz. Circa factum vero quod moueri potest dubium, vel est 1) an factum sit verum seu an existat, vel 2) si de veritate facti constet, an sit iustum. Probatio existentiae vel non-existentiae facti est probatio facti, probatio iustitiae vel iniustitiae facti pertinet ad probationem (deductionem) iuris.395

Der Gegensatz zwischen probatio facti und probatio bzw. deductio iuris verweist auf den ersten Blick auf den von Kant herausgearbeiteten Unterschied zwischen transzendentaler Deduktion und physiologischer Ableitung bzw. empirischer Deduktion, das heißt zwischen quaestio iuris und quaestio facti. Die juridische Deduktion bzw. der Beweis oder die probatio kann nur sachgemäß bei der Bestimmung dessen vorgenommen werden, was Recht oder Unrecht sei, und nicht dessen, ob ein bestimmtes Faktum „existiert“ oder nicht. Wie jedoch im neunten Kapitel noch zu klären sein wird, ist die unmittelbare Gleichsetzung von Faktum und „Empirischem“ nicht folgenlos für die Bestimmung dessen, was die Deduktion leisten soll. Die Feststellung des Faktums (res facti, species facti) geschieht auch bei der metaphysischen Deduktion, die die Kategorien aus den logischen Formen des Urteils ableitet, ohne dabei ihre objektive Realität oder Gültigkeit zu beweisen (quid iuris, quaestio iuris). Für den Moment reicht es festzustellen, dass, wie bei Wolff, auch bei Achenwall (und sogar bei Baumgarten) 396 das vorige (und normativ gehaltvolle) Problem der Bestimmung der momenta in facto oder momenta facti zuerst thematisiert werden muss, bevor die quaestio iuris behandelt und gelöst werden kann. Wolff und Achenwall sind bedeutende Beispiele dafür, dass die Deduktion zu den Grundbegriffen der theoretischen Jurisprudenz gehörte, die den terminologischen Aufbau der Rechtswissenschaft ermöglichten. Allerdings deutet der eher geringe Umfang, den diese Autoren der Darstellung der Deduktion einräumen, darauf hin, dass die theoretische Jurisprudenz nicht der „natürliche Ort“ für die Erörterung der Deduktion als juridische Beweisart ist. Die Deduktion als ein „rechtliches Geschäft“, das gegen Ende des 15. Jahrhunderts aufkam und im 17. Jahrhundert vervollkommnet wurde, gehörte vornehmlich zur praktischen Jurisprudenz und zur juridischen Praxis. Die Deduktionsschriften werden wie folgt definiert:

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Vgl. unten Kapitel 9.3. Achenwall, G. Ius naturae in usum auditorum. Pars prior. Göttingen, 1773, § 292, S. 262. Vgl. Kaulbach, F. „Die rechtsphilosophische Version der Transzendentalen Deduktion“, a. a. O., S. 35, N. 39: „Von Herrn Prof. Kiefner wurde ich darauf aufmerksam gemacht, dass Achenwall in ius naturae […] die rechtsprozessuale Rolle der in der transzendentalen Deduktion geleisteten Schritte der Tatbestandfeststellung und der Rechtsprüfung so kennzeichnet: es gehe im Prozeßverfahren um die Beantwortung der Frage: ‚1) an factum sit verum seu an existat, vel 2) si de veritate facti constet, an sit iustum‘. Die Prüfung der Existenz bwz. Nichtexistenz ist die der Faktums, ‚die Prüfung von Recht und Unrecht des Faktums gehört zur probatio iuris (Deduktion)‘“. Vgl. Hruschka, J. „Die species facti“, a. a. O.

Schriften, deren Absicht dahin geht, näher zu entwickeln, dieselbe dem Publikum in ihrer vorteilhaftesten Gestalt darzustellen, und die Leser, so viel möglich, von der in einem gewissen Fall vorhandenen Gerechtigkeit zu überzeugen, […] nennt man in dem angenommenen Sprachgebrauch Deduktionen.397

Abgesehen von unwichtigen formalen Unterschieden war der Aufbau der Deduktionsschriften stets derselbe. Deduktionen beabsichtigten es, in einer bestimmten Rechtssache und vor einem Richter die Gründe der Partei, deren Ansprüche angefochten wurden, zu verteidigen oder die von der entgegengesetzten Partei erhobenen Ansprüche oder Gründe zu widerlegen.398 Ein implizites Ziel war außerdem, die wichtigsten Rechtsstreite öffentlich zu machen, indem für die „gelehrte Welt“ die Urkunde und Materialien zur Verfügung gestellt wurden, anstatt sie geheim zu halten.399 Es gibt viele Indizien dafür, dass Kant mit den Deduktionsschriften durchaus vertraut war. Immerhin war er Bibliothekar der Königlichen Schlossbibliothek in Königsberg und damit für die Überprüfung ihres Bestandes zuständig, in dem sich sicherlich eine Sammlung der Deduktionsschriften befand. Darüber hinaus erwähnt Kant die Deduktionen im Völkerrecht (MdS AA 06: 350; vgl. auch ZeF AA 08: 344, 382) und im Privatrecht (z. B. „Deduction des Begriffs der ursprünglichen Erwerbung“, MdS AA 06: 268; „Deduction des Begriffs des bloß rechtlichen Besitzes“, MdS AA 04: 249). Vor allem aber hat er eine spezifisch juridische Deduktion über die Unrechtmäßigkeit des Büchernachdrucks (VUB AA 08: 77–87) verfasst, bei der er einigen der Anweisungen zur Ausführung einer juridischen Deduktion folgt, auf die im nächsten Abschnitt eingegangen wird. Es gibt aber noch einen anderen deutlichen Hinweis. So war Johann Stephan Pütter einer der berühmten Autoren der Deduktionsschriften, der zusammen mit Achenwall die erste Ausgabe des Ius Naturae in usum auditorum 400 verfasste. Die bekannteste Schrift Pütters über die Methodologie der Deduktionsschriften heißt Anleitung zur juristischen Praxi wie in Teutschland sowohl gerichtliche als ausserrechtliche Rechtshändel oder andere Kanzley-Reichs- und Staats-Sachen schriftlich oder mündlich verhandelt, und in Archiven beygeleget werden, die in vier Ausgaben (1754– 1780) erschienen ist. Die Schrift Pütters gibt Anweisungen zum Verfassen einer gelungenen juridischen Deduktion –und genau mit diesen weist die Deduktion der KrV viele Ähnlichkeiten auf. Pütter fügte sich dabei in die Bewegung einer

397 398 399

400

Holzschuher, C.-S. Deduktion-Bibliothek von Teutschland. Bd. 1. Frankfurt & Leipzig 1778, S. III. Vgl. Henrich, D. „Kant’s notion of a Deduction“, a. a. O., S. 32–40; Seeberg, U. Ursprung, Umfang und Grenzen der Erkenntnis, a. a. O., S. 197–204. „Deductionen sind […] die einzigen Canäle, durch welche Urkunden, die außer dem in ihrer Verborgenheit liegen bleiben würden, der gelehrten Welt mitgetheilt werden. Auch Höfe, deren Politique vielleicht zu ihrer ersten Maxime gemacht hat, alles geheim zu halten, um nichts, das irgend einmal nachtheilig werden könnte, bekannt werden zu lassen, werden zuweilen durch Streitigkeiten mit Nachbarn genöthiget, Urkunden aus dem Dunkel hervorzuziehen“. Reuß, J. A. Deductions- und Urkunden-Sammlung: ein Beytrag zur Teutschen Staatskanzelei. Ulm 1785, S. x–xi. Vgl. oben Kapitel 1.5.

111

spekulativen und institutionellen (universitären) Stärkung der praktischen Jurisprudenz und juridischen Praxis ein.401 Bis 1748 setzte Pütter Praxis mit Prozess gleich, „einschließlich des Prozesses der höchsten Reichsgerichte“.402 1754 stellte er der Praxis dann aber die Theorie des Rechts (praktische und theoretische Jurisprudenz) entgegen, der die Untersuchung der Prozesse zufällt. Theorie und Praxis unterscheiden sich nicht dadurch, dass die Theorie Rechte und Verbindlichkeiten und die Praxis nur die Art, wie diese durch Prozesse zu verwirklichen sind,403 behandeln; vielmehr gehört zu der Theorie des Rechts auch die Untersuchung der Prozesse.404 Rechte und Verbindlichkeiten gehören nur insofern zur juridischen Praxis, als „es in einzelnen Fällen auf deren Errichtung, Aufhebung, oder Beurtheilung […] ankommt“.405 Die juridische Praxis wird dann dadurch definiert, dass sie die Einzelfälle und die spezifischen Mittel (Schriften, Zeremoniale usw.) der rechtswissenschaftlichen Praxis zum Thema hat. Daraus folgt, dass sie sozusagen dem modus operandi des Juristen entspricht; mit anderen Worten ist sie gewissermaßen die Untersuchung über die genaue Art und Weise, wie Rechte und Verbindlichkeiten durch Prozesse und konkrete Verfahren in die Praxis umzusetzen sind. Alle juristische Praxis besteht also nur darin, daß man in einzelnen Fällen schriftlich oder mündlich so zu handeln wisse, wie es jedesmahl die Absicht einer Erklärung oder eines Vortrags zu Errichtung, Aufhebung, Beurtheilung, oder zu Erhaltung der vorhabenden Rechte und Verbindlichkeiten nöthig und dienlich ist; kurz: Mund und Feder so zu gebrauchen, wie es der Absicht eines jeden Geschäffts wozu man Rechtsgelehrte braucht, am gemässesten ist.406

Pütter zufolge „enthält die Theorie der Rechte […] die allgemeinen Wahrheiten, wie sie durch die natürlichen oder willkürlichen Gesetze bestimmt sind. So bald von einzelnen Fällen die Rede ist, gehört es zur Praxis eines Rechtsgelehrten“.407 Es ist genau diese juridische Praxis, in der sich die Deduktionsschriften und der juridische Deduktionsbegriff im Allgemeinen am besten einordnen lassen.

401

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Vgl. Schröder, J. Wissenschaftstheorie und Lehre der ‚praktischen Jurisprudenz‘, a. a. O.; Scattola, M. La nascita delle scienze dello Stato. August Ludwig Schlözer (1735–1809) e le discipline politiche del Settecento tedesco. Milano: Franco Angeli, 1994, S. 18ff. Schröder, J. Wissenschaftstheorie und Lehre der ‚praktischen Jurisprudenz‘, a. a. O., S. 49. „Der Unterschied der practischen Rechtsgelehrsamkeit von der theoretischen besteht also nicht darin, dass diese die Rechte und Verbindlichkeiten selbsten, jene nur die Art, solche in die Wirklichkeit zu setzen, als besonders den Proceß in sich begreife. Sondern der Proceß gehört noch zur Theorie, wie er dann auch bloß in einer durch Gesetze bestimmten Ordnung besteht, die dem Richter, dem Kläger, und dem Beklägten, jedem seine Rechte und Pflichten anweiset“. Pütter, J. S. Anleitung zur juristischen Praxi, wie in Teutschland sowohl gerichtliche als außergerichtliche Rechtshändel oder andere Canzley- Reichs- und Staats-Sachen schriftlich oder mündlich verhandelt und in Archiven beygeleget werden. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 1789, § 4, S. 2. Ebd. Ebd., Anmerkung II, § 4, S. 2. Ebd., § 8, S. 3. „Die Theorie der Rechte enthält von beyden die allgemeinen Wahrheiten, wie sie durch die natürlichen oder willkürlichen Gesetze bestimmt sind. So bald von einzelnen Fällen die Rede ist, gehört es zur Praxi eines Rechtsgelehrten. Anleitung“. Ebd., § 4, S. 2.

3.3

Deduktion nach Pütter und ihre Ähnlichkeiten mit der Deduktion der KrV

Bevor die Deduktion bei Pütter näher untersucht wird, soll noch einmal ein kurzer Blick in die Lexika der Zeit geworfen werden. Die Allgemeine Encyklopädie der Wissenschaft und Künste nennt die bedeutsamen Sammlungen der Deduktionsschriften. Neben der schon erwähnten Sammlung von Holzschuher sind die von Lünig (Bibliotheca Deductionum; laut Holzschuher selbst handelt es sich dabei um den ersten Versuch, Deduktionsschriften in einem Werk zu versammeln408), von Moser (Sammlung der neuesten und wichtigsten Deduktionen), von Reuß (Deductions- und Urkunden-Sammlung) und vor allem die von Pütter, Auserlesene Rechtsfälle, der wir uns später zuwenden, nennenswert. Noch in der Allgemeinen Encyklopädie wird von den bei der Anfertigung von Deduktionen zu beachtenden „theoretischen Regeln“ berichtet: „hier greifen Umstände und Verhältnisse der mannigfachsten Art ein; der Zweck, den man erreichten will, ist überall von Einfluss; die Personen, welche in Betracht kommen, werden eigene Veranstaltungen herbeiführen müssen“. Nichtsdestoweniger gebe es einige „normative Andeutungen“, „wie solche namentlich der größte Deductionen-Meister Teutschlands uns überliefert hat“409 – gemeint ist damit Pütter. Die Deduktion nimmt der Allgemeinen Encyklopädie zufolge die Gestalt eines „Schreibens“, einer „Bittschrift“, einer „Promemoria“ oder eines „wahrhaft gerichtlichen Actenstücks“ an, und in diesem letzten Fall kann sie als eine „Klage“, „Exception“, „Replik“, „Treplik“ oder „Quadruplik“ sowie eine „Probatio“, „Salvation“, „Reprobation“, „Appellation“, „Revision“, „Restitution“ oder „Supplication“ fungieren. Neben einer „Anrede“ und einer „Courtoise“ wird empfohlen, je nach dem Adressat ein „Memorandum“ einzufügen, bei dem die „Trennung des faktischen oder geschichtlichen Stoffs und die juridische Entwickelung“ gemacht wird. Diese Einteilung bedeutet aber nicht, „dass in der historischen Entwicklung kein Rechtsgrund angedeutet werden dürfte“.410 Gleich wird zu sehen sein, wie Pütter genau diesen Punkt herausstellt. Der geschichtliche Teil kann je nach Umständen beim Begriffsgebrauch variieren, „denn der geschichtliche Theil einer Deduction ist überhaupt dazu bestimmt, das Feld deutlich zu bezeichnen und zu begrenzen, auf welchem operiert wird und operiert werden soll“. Es sind schließlich klar und deutlich die Fragen zu stellen, um deren Beantwortung und Feststellung es geht; anders gesagt ist „der eigentliche status causae et controversiae zu fixieren“. Auch kann es klug sein, die Streitfragen nicht wiederholt aufkommen zu lassen, „sondern vielmehr die ganze Darstellung so einzurichten, dass jene Fragen dem Leser ohnedies klar vor Augen treten“.411 Was den zweiten Teil einer Deduktion betrifft, nämlich „die eigentliche Rechtserörterung […], so sind hier, wie bei den Gründen eines jeden rechtlichen Urtheils, eben sowohl die zur Seite als die entgegenstehenden Argumente zu berücksichtigen“.412 Am Ende der Schrift muss „das gewonnene Resultat gezogen 408 409 410 411 412

Holzschuher, C.-S. Deduktion-Bibliothek von Teutschland. a. a. O., S. VI. Allgemeine Encyklopädie der Wissenschaft und Künste. a. a. O., S. 316ff. Ebd., S. 317. Ebd., S. 317–318. Ebd., S. 318.

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werden, sei es nun in der Form einer Bitte, oder in der Einkleidung einer rechtlichen Überzeugung, oder einer juristischen Ansicht und Meinung“.413 Mit Blick auf die „Schreibart“ wird zuletzt empfohlen, „die Übersicht des Ganzen durch zweckmäßige Eintheilung, Überschriften, Inhaltsanzeigen und Absätze, vielleicht auch durch Marginalien und Summarien zu erleichtern, ferner Anmerkungen unter dem Text, namentlich in gedruckten Deductionen, möglichst zu vermeiden, die Rubriken endlich oder den Titel des Ganzen fachgemäß einzurichten“.414 Es gilt alles in allem der Hinweis Pütters, „das wesentliche wiederholt zusammenzufassen“.415 Im Repertorium Reale Practicum Iuris Privati Imperii Romano-Germanici werden die „Formalitäten“ der Deduktion, also die oben dargestellten Anweisungen, bündig beschrieben: Die Formalität der Deductionen besteht 1) in Wiederholung des Facti und der daher entstandenen Streitigkeit und Rechts-Frage, 2) in Anführung der Zweifel und 3) Entscheidungs-Gründen, wobey 4) jene widerleget und diese dadurch bestärket werden, 5) in rechtlicher Beantwortung der Rechts-Fragen, und 6) Anfügung der nöthigen Urkunden und Documenten als Beylagen.416

Die Lexika der Zeit beschränken sich darauf, die Anweisungen und formellen Empfehlungen Pütters, des „größten Deductionen-Meisters Teutschlands“, zusammenzufassen. In der Anleitung zur juristischen Praxi erklärt er die Deduktionsschriften als Schriften, die „zur Ausführung der Gerechtigkeit einer Sache dienen sollen“417, „und zwar unerachtet des Anlasses, gerichtlich oder außergerichtlich, des besonderen Inhaltes, weltlich oder geistlich, privat oder öffentlich, und der Form, Schreiben, Bittschrift, Akte oder Aufsatz etc.“418. Pütter stellt heraus, dass die Deduktionen zwei Hauptteile haben, nämlich einen geschichtlich-faktischen und einen eigentlichen rechtlichen. Als Schriften, „worin zu einem juristischen Endzweck etwas vorgetragen wird“, enthalten die Deduktionen unvermeidlich „Geschichts-Umstände (res facti)“.419 Pütter nimmt also wie Wolff und Achenwall an, dass eine Deduktion nicht nur die Bestimmung dessen betrifft, was Recht sei (quid iuris), sondern auch die Erklärung oder Feststellung der facta voraussetzt, die als „Geschichts-Umstände (res facti)“ das ius controversum selbst bestimmen. Anders formuliert: Der Deduktion als probatio iuris gehört die vorhergehende Erklärung und Feststellung der quaestio facti bezüglich der Quelle bzw. des Ursprungs des in der Deduktion als controversum angenommenen ius an. Dennoch weist Pütter darauf hin, dass die geschichtlich-faktuellen von den rechtlich-normativen Umständen sorgfältig unterschieden werden müssen, wie schwierig es auch sein mag, im jeweiligen Fall eine Trennung durchzuführen. 413 414 415 416 417 418 419

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Ebd. Ebd. Ebd. Hellfeld, J. A. Repertorium reale practicum Iuris privati Imperii Romano-Germanici, a. a. O., S. 1122. Pütter, J. S. Anleitung zur juristischen Praxi, a. a. O. § 95. Seeberg, U. Ursprung, Umfang und Grenzen der Erkenntnis, a. a. O., S. 204. Vgl. Pütter, J. S. Anleitung zur juristischen Praxi, a. a. O., § 95. Ebd., § 77.

Pütter nennt zwölf methodologische, formelle und stilistische Punkte, die für den Erfolg einer Deduktion zu beachten sind. Neben dem allgemeinen Hinweis, dass der Verfasser zwischen geschichtlichen Umständen und „RechtsPuncten“ zu unterscheiden hat, empfiehlt Pütter, (1) eine Stammtafel zu entwerfen, worin alle an der Sache beteiligten Personen und Verwandtschaften graphisch vorgestellt werden, um als „Leitfaden [der] Arbeit und als ein Hülfsmittel des Gedächtnisses und der Einbildungskraft“ dienen zu können.420 Mit Blick auf den formellen Aspekt müsse man (2) nach einem Vorbericht oder einem „kurzen Begriff des Inhaltes“ der Rechtssache sowie nach den „Marginalien, oder Summarien“421 auch eine (3) „Geschichts-Erzählung“ liefern, wobei eine Erzählung dessen, „was schon in der Sache verhandelt worden [ist], z. B. die Geschichte des Prozesses […], so fern solche statt findet, und zur Beurtheilung dieser Sache etwas beyträgt“,422 beigefügt werden könnte. In der Folge formuliere man (4) die Hauptfrage, auf die sich der Richter als status controversiae konzentriert müsse.423 Man richte „nach der Hauptfrage […] die Gründe und deren Ausführung ein“, zuerst (5) die „Gründe, die für seine [des Verfassers der Deduktion – D. K. T.] Sache streiten (rationes pro, oder rationes decidendi)“,424 und danach (6) „alle Gründe, [die] seiner Absicht entgegen stehen“, das heißt die „rationes contra oder rationes dubitandi“.425 Gehe es jedoch nicht um ein unparteiisches „Gutachten“, um „consilia“ oder ein „rechtliches Bedenken“,426 sondern darum, die „Rechtlichkeit“ der eigenen Ansprüche zu verteidigen oder überzeugend zu machen,427 dann dürfe man nicht alle oder überhaupt keine rationes dubitandi nennen, sondern man „erwege […] nach allen Regeln der Klugheit und Behutsamkeit, ob es rathsam, solche Zweifelgründe anzuführen, oder sie lieber mit Stillschweigen zu übergehen“.428 Am Ende der Schrift soll es (7) einen Schluss geben, der „der vorhandenen Absicht gemäß ist“.429 Was den Stil angeht, sei es wünschenswert, dass der Text einer Deduktion (8) „öftere Abtheilungen, nach Befinden mit Nummern, Buchstaben, oder andern Zeichen, Paragraphe, Sätze, Fragen, Glieder, Hauptstücke, Abschnitte, Bücher, Theile, usw.“ hat,430 aber auch, dass man „die Hauptsätze und deren Ausführung von (9) Anmerkungen [unterscheidet], die zur Erläuterung oder zu Beweisen, als Anführungen und Erklärungen […] dienen“.431 Als Zusatz könne man „bei weitläufigen oder schweren Sachen […] 420 421 422 423 424 425 426

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Ebd., § 99, § 122. Ebd., § 115. Ebd., § 106. Ebd., § 107. Ebd., § 109. Ebd., § 110. Ein Beispiel eines unparteiischen rechtlichen Gutachtens von Pütter findet man in Pütter, J. S. Unpartheyisches rechtliches Bedenken über die zwischen der Krone Böhmen und den Herren von Zedtwitz wegen Mittelbarkeit oder Unmittelbarkeit der Herrschaft Asch. Göttingen 1772. Pütter, J. S. Anleitung zur juristischen Praxi, a. a. O., §§ 124–126. Ebd., § 110. Außerdem, „wo es irgend möglichst, richte man seine eignen Gründe und deren Ausführung so ein, daß aus denselben oder aus deren Zusammenhange die Gegengründe und Zweifel sich von selbten wiederlegen, mithin gar nicht angeführt, noch beantwortet zu werden bedürfen“. Ebd., § 111. Ebd., § 113. Ebd., § 114.

115

nebst der Haupt-Deduction noch (10) einen kürzern Auffsatz entwerfen, worin nur das wesentliche der Sache ins kurze gezogen, und so vorgestellt wird, daß man die ganze Sache dadurch geschwinder überstehen kann“.432 Pütter empfiehlt schließlich, „zur Überzeugung und Bewegung dessen, an den die Schrift gerichtet ist“, (11) die „Schreibart“ klar und deutlich433 zu halten und ferner (12) im „Titel der ganzen Schrift“ deren Inhalt „am deutlichsten und vollständigsten“ auszudrücken.434 In der von Pütter unter dem Titel Auserlesene Rechtsfälle435 zusammengestellten Sammlung von Deduktionen und auch in weiteren kleinen Schriften, etwa in Kurzer Begriff von der ganzen Zedtwitzischen Sache,436 findet man viele Beispiele, wie diese Anweisungen auf konkrete Rechtsfälle angewendet werden. Diese Beispiele belegen eine merkwürdige Vielfalt von Darstellungen und Anordnungen der Teile einer Deduktion, ganz nach der in der Anleitung zur juristischen Praxis enthaltenen relativ großen formalen Freiheit. Abgesehen von ihren Unterschieden bleibt die Grundstruktur dieser Schriften grundsätzlich dieselbe. Als Beispiel kann jene Deduktion – hier eigentlich die Formulierung rechtlicher Bedenken – genannt werden, in der Pütter darzulegen sucht, dass die Marquise de Favras, obwohl leibliche Tochter des Fürsten Carl Ludewigs von Anhalt-Schaumburg, nicht dessen gesetzliche Erbin und folglich nicht die Erbprinzessin von AnhaltSchaumburg war. Die Deduktion schrieb er im Auftrag des damaligen Ehemanns der Marquise, des Marquis de Favras. Pütter argumentiert, dass die Ehe des Fürsten Carl Ludewigs, aus der die Marquise hervorgegangen war, nichtig war, sodass die Abkömmlinge, auch wenn sie die leiblichen Kinder waren, keine gesetzlichen Erben wurden.437 Die Schrift hat die Grundstruktur einer Deduktion. Eine Einleitung („themata generalia“) enthält einen Vorbericht bzw. einen „kurzen Begriff des Inhaltes“,438 und am Ende der Schrift finden sich als „Beylagen“ beigefügte „Marginalien“, die Belegurkunden gleichen.439 Eine „Ge-

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Ebd., § 120. Ebd., § 112. Ebd., § 117. Der vollständige Titel des Werkes lautet: Pütter, J. S. Auserlesene Rechts-Fälle aus allen Theilen der in Teutschland üblichen Rechtsgelehrsamkeit in Deductionen, rechtlichen Bedenken, Relationen und Urtheilen theils in der Göttingischen Juristen-Facultät, theils in eignem Namen ausgearbeitet. 3 Bde. Göttingen, 1760–1785. Der vollständige Titel des Werkes lautet: Pütter, J. S. Kurzer Begriff von der ganzen Zedtwitzischen Sache die von der Krone Böhmens bestrittene Reichsunmittelbarkeit betreffend. Göttingen, 1772. Zu dem Verfahren Pütters in diesem Werk siehe Aichele, A. „Metaphysisches oder logisches Systemprinzip“, a. a. O., S. 130–131. Anders als bei Aichele dargestellt, dürfte diese Schrift ein durchaus bedeutsames Beispiel einer Deduktion für Pütter sein. Es fehlen dabei fast alle in der Anleitung beschriebenen Merkmale einer Deduktion, einschließlich – und vor allem – der ausdrücklichen Unterscheidung zwischen res facti und quid iuris. Aichele scheint diese Schrift gewählt zu haben, um seine Auffassung zu belegen, das wesentliche Merkmal einer juridischen Deduktion liege darin, eine syllogistische Grundstruktur zur Zurechnung von singulären Tatsachen unter allgemeinen Regeln oder Gesetzen zu haben. Es ist klar, dass die Methode und das Ziel einer Deduktion nicht darauf eingeschränkt werden dürfen. Pütter, J. S. Auserlesene Rechtsfälle. Bd. 3.1. Göttingen, 1777, S. 1-68. Ebd., S. 1f. Ebd., S. 43–68.

schichtserzählung“ umfasst 29 Absätze, die die Genealogie der Sache darstellen, vor allem die Geschichte der Ehe des Fürsten und die faktischen Belege für ihre Nichtigkeit.440 Darüber hinaus gibt es eine „Erörterung der Rechtspuncte“ mit 53 Absätzen, in denen die „Rechts-Puncte“ der Rechtssache und je einige Gründe für und gegen die vertretene Partei erörtert werden.441 Die Schrift ist in Paragraphen, Abschnitte und Unterabschnitte eingeteilt. In anderen Deduktionen findet man weitere Beispiele der in der Anleitung zur juristischen Praxis gegebenen Anweisungen, so etwa eine „Stammtafel“442 oder eine „genealogische Vorstellung“443, besonders bei Erbschaftsfällen; die „Geschichtserzählung“ wird manchmal als res facti444 und die „Rechts-Puncte“ als „Rechtsfragen“ benannt445; die rationes decidendi und die rationes dubitandi werden explizit erwähnt, wenn es sich um ein unparteiisches Gutachten handelt 446; der Abschluss oder „Erfolg“ einer Rechtssache ergibt sich am Ende der Deduktion447; die Einteilung der Deduktion erfolgt u. a. nach Hauptstücken und Teilen448 oder nach Paragraphen und Abschnitten 449 usw. Alles in allem ist zu erkennen, dass trotz einer gewissen formalen Freiheit einige bedeutsame Regelmäßigkeiten, vor allem die Unterscheidung von res facti und quaestio iuris, bestehen. Die Parallelen zwischen den Anweisungen Pütters und der Methode bzw. Methodologie der (transzendentalen und metaphysischen) Deduktion der Kategorien sind so frappierend, „dass kaum ein Zweifel daran bestehen kann, dass Kant dieses Buch [die Anleitung zur juristischen Praxi] […] gekannt und zum Vorbild für seine eigenen Deduktionen genommen hat“,450 wie Seeburg schreibt. Er führt dazu eine Reihe von Gesichtspunkten an, die es detailliert zu betrachten lohnt. (I) Stilistischer Aspekt: (a) Es findet sich hier bei Kant eine Einteilung in Paragraphen und es gibt kurze Anmerkungen in Form von Fußnoten, was in Kants Schriften nicht oft zu finden ist, aber der Forderung Pütters nach „deutlicher Untergliederung“ 451 der Deduktionsschrift entspricht. (II) Formelle Aspekte: (b) Das erste Hauptstück „Von dem Leitfaden der Entdeckung aller reinen Verstandesbegriffe“ (A 67/B 92) will die „Stammbegriffe des reinen Verstandes“ (A 81/B 107) nach einem Prinzip systematisch aufsuchen; darüber hinaus 440 441 442 443 444 445 446 447 448 449 450 451

Ebd., S. 6–19. Ebd., S. 19–43. Pütter, J. S. Auserlesene Rechtsfälle. Bd. 2, a. a. O., S. 6ff. Pütter, J. S. Auserlesene Rechtsfälle. Bd. 4, a. a. O., S. 932. Ebd., S. 1041. Pütter, J. S. Auserlesene Rechtsfälle. Bd. 2,a. a. O., S. 241. Ebd., S. 255, 257. Ebd., S. 253. Ebd., S. 3ff. Pütter, J. S. Auserlesene Rechtsfälle. Bd. 3/4, a. a. O., S. 1056ff. Seeberg, U. Ursprung, Umfang und Grenzen der Erkenntnis, a. a. O., S. 206. Zu den Parallelen vgl. ebd., S. 206–211. Ebd., S. 209.

117

wird die „Tafel der Kategorien“ als ein „Stammbaum des reinen Verstandes“ (A 82/B 108) bezeichnet. (c) Die Deduktion in A schließt mit einer „Summarischen Vorstellung der Richtigkeit und einzigen Möglichkeit dieser Deduktion der reinen Verstandesbegriffe“ (A 128), die Deduktion in B mit einem „Resultat dieser Deduktion der Verstandesbegriffe“ (B 165) sowie einem kurzen Anhang mit dem Titel „Kurzer Begriff dieser Deduktion“ (B 168). Das entspricht wiederum der Empfehlung Pütters, die Deduktion mit einem Überblick dessen, was gemacht wurde, abzuschließen. (III) Methodologische Aspekte: (d) Im § 14 über den „Übergang zur transzendentalen Deduktion der Kategorien“ wird der „Hauptstreitpunkt, das ‚status controversiae‘“452, insofern dargelegt, als Kant ihn das „Prinzip“ der Deduktion der Kategorien nennt (A 92–95/ B 124–129). (e) Noch im § 14, genauer in dem für die Fassung B geänderten Teil, gibt es etwas Ähnliches wie die von Pütter erwähnte „Geschichte des Prozesses“, wenn Kant sich kurz mit früheren Auseinandersetzungen mit seinem Thema, vor allem mit denen von Locke und Hume (B 127–129), beschäftigt. (f) Kant diskutiert die Gründe gegen seine „Partei“ nicht, was im Prinzip in Rechtssachen (etwa denen der Antinomie, wie im nächsten Kapitel zu sehen sein wird) nicht ratsam ist. Das lässt sich durch die Besonderheit der Deduktionsschriften leicht erklären. Es handelt sich bei dieser Stelle der KrV nicht um ein unparteiisches Gutachten im Sinne eines „rechtlichen Bedenkens“ (wie bei der Antinomie), sondern um die Zurückweisung eines „Angriffes“ (Prol AA 04: 257) oder einer „Anfechtung der Rechte einer reinen Vernunft“ (KpV AA 05: 50), vor allem von Seiten Humes. Die Widerlegung des Gegners erfolgt außerdem nicht durch den Nachweis eines Widerspruchs, sondern als Folge des direkten Beweises eines bestimmten Arguments, der auf diese Weise seinen Gegensatz unmöglich macht, wie die grundlegende Einstellung Kants bei dem Beweis der transzendentalen Sätze (A 794/B 822) lautet. Bei der Deduktion geht es nämlich um die Begründung des angenommenen Satzes – hier: Die reinen Verstandesbegriffe sind die die Erfahrung ermöglichenden Begriffe – nicht durch apagogische, sondern direkte bzw. ostentative Beweise.453 Schließlich ist zu beachten, dass noch ein wesentlicher Bestandteil bzw. ein wesentliches Merkmal der juridischen Deduktion (im Gegensatz zu der logischmathematischen Deduktion) bei Kant auftaucht und auf gewisse Weise die in diesem Moment der Transzendentalen Analytik zu beantwortende kritische Frage bestimmt. Mit dem Unterschied zwischen transzendentaler und metaphysischer Deduktion deutet Kant auf die Trennung bzw. die Unterscheidung zwischen „Geschichts-Umständen“ und „Rechts-Punkten“, res facti und quid iuris, oder anders gesagt auf die zwei Momente der Deduktion der Kategorien selbst hin. Die nähere Erörterung dessen, was damit gemeint ist, ist das Thema des achten Kapitels, in dem die zwei erwähnten Momente, die Feststellung der res facti und die Entwicklung des quid iuris, als Pendants einer metaphysischen bzw. 452 453

118

Ebd. ,S. 208. Vgl. unten Kapitel 8.

transzendentalen Deduktion behandelt werden. Anders formuliert geht es zum einen um die Feststellung der Tatsache, woraus ein ius controversum entsteht (res facti – metaphysische Deduktion), zum anderen um die Rechtsprüfung der Rechtsmäßigkeit bzw. Legitimierung der Rechte und Befugnisse, die aus der festgestellten Tatsache folgen (quid iuris – transzendentale Deduktion). Dazu muss aber zunächst die empirische quaestio facti (Wie lassen sich die reinen Verstandesbegriffe empirisch, d. i. durch die Erfahrung, ableiten?) von der normativen quaestio facti (Wie lassen sich die reinen Verstandesbegriffe a priori, d. i. durch die logischen Urteilsformen als die „allgemeinen logischen Funktionen des Denkens“, ableiten?) deutlich unterschieden werden. Ob man nun die quaestio facti oder die res facti im Sinne einer metaphysischen oder empirischen Deduktion auffasst, so verrät der Unterschied zwischen quid iuris und quid facti den unleugbaren juridischen und nicht logisch-mathematischen Ursprung des kantischen Deduktionsbegriffs.

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4

Quellengeschichte der Antinomie als juridischer Begriff

Im vorliegenden Kapitel sollen die geschichtlichen Quellen des kantischen Antinomiebegriffs erörtert werden. In der Regel versteht Kant unter „Antinomie“ einen „Widerstreit der Gesetze“ (KrV A 407/B 434). Es lassen sich jedoch drei verschiedene, aber miteinander verknüpfte Bedeutungen von „Antinomie“ bei Kant unterscheiden.454 Im Plural findet sich der Terminus insbesondere in den späteren Reflexionen des handschriftlichen Nachlasses sowie in den Briefen,455 und gemeinhin sind alle oder einige der kosmologischen Widerstreite damit gemeint. Im Singular scheint „Antinomie“ eher ungenau Konflikte oder Divergenzen zwischen Grundsätzen oder Begriffen zu bezeichnen, wie z. B. die Antinomie des äußeren Mein und Dein (MS AA 06: 254–255) oder die „Antinomie zwischen Politik und Moral“ (ZeF AA 08: 383). Als letzte und wichtigste Bedeutung findet sich „Antinomie“ auch im Singular für einen bestimmten Zustand bzw. eine bestimmte Verfassung der Vernunft (KrV A 340/B 398); sie wird dann als die Antinomie der reinen Vernunft bezeichnet. In diesem bestimmten Sinn wird sie als ein „Phänomen der menschlichen Vernunft“ (KrV A 407/B 433–434; vgl. Prol AA 04: 338) verstanden, und zwar als ein Widerstreit der Gesetze der reinen Vernunft (A 407/B 434). Es geht hier um die wohlbekannten scheinbaren „Widersprüche der Vernunft mit sich selbst“ (B 24), in die sie sich verwickelt, wenn sie die kosmologischen Grundfragen der Metaphysik zu beantworten versucht. Die vier „Widerstreite der transzendentalen Ideen“ – erstens die Begrenzbarkeit bzw. Unbegrenzbarkeit der Welt nach Zeit und Raum; zweitens die endliche bzw. unendliche Teilbarkeit der Substanzen bzw. Dinge; drittens die Möglichkeit bzw. Unmöglichkeit einer Kausalität aus Freiheit; viertens die Existenz bzw. Nicht-Existenz eines schlechthin notwendigen Wesens in oder außerhalb der Welt – versetzen die Vernunft in einen Zustand, in dem sie sowohl für die Thesis als auch für die Antithesis stichhaltige Argumente vorbringen kann. Dass diese gedankliche Struktur nicht nur einen theologischen Ursprung in der Kontroverstheologie des 17. und 18. Jahrhunderts hat,456 sondern auch terminologisch und methodologisch in der Jurisprudenz verwurzelt ist, geben einige Autoren durchaus zu. Sogar N. Hinske, der als Erster die vermeintlich theologi454

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Hinske, N.: Kants Weg zur Transzendentalphilosophie, a. a. O., S. 99–106. Vgl. auch Malkorn, W. Kants Kosmologie-Kritik: Eine formale Analyse der Antinomienlehre. Berlin [u. a.]: De Gruyter, 1999, S. 91–97. So z. B. Rx 5412 AA 18: 175; Rx 5962 AA 18: 402; Rx 6418, Rx 6419 AA 18: 710; Rx 6421 AA 18: 711; Brief an Herz, 26.05.1789, AA 11: 54; Brief an Beck, 20.01.1792, AA 11: 314. Hinske, N.: „Kants Begriff der Antithetik und seine Herkunft aus der protestantischen Kontroverstheologie des 17. und 18. Jahrhunderts. Über eine unbemerkt gebliebene Quelle der Kantischen Antinomienlehre“. In: Archiv für Begriffsgeschichte, 16, 1972, S. 48–29. Hinske stellt fest, dass der Begriff „Antithetik“ aus der polemischen Theologie von Paul Anton und F. A. Schultz stammt. Allerdings erklärt dies die Herkunft des Antinomiebegriffs bei Kant nicht vollständig. Darüber hinaus sind „Antinomie“ und „Antithetik“ gründlich zu unterscheiden. Während Antithetik das bloße Gegeneinander von Argumenten bzw. Gründen (thesin cum antithesi) bedeutet, ist Antinomie der Zustand eines (scheinbaren) Widerspruchs mit sich selbst, in dem die Vernunft sich befindet.

sche Herkunft der Antinomienlehre bei Kant vertreten hat, führt beiläufig an, dass „der Begriff der Antinomie [bei Kant] von Hause aus ein juristischer Begriff [ist]“.457 L. W. Beck lehnt sich an diese Auffassung an und behauptet, dass „the word ‘antinomy’, like many of Kant’s technical terms, was derived from jurisprudence, where it referred to a conflict between laws“.458 Obwohl diese Feststellung auf den ersten Blick einleuchtend und gewiss für weitere Untersuchungen zum Ursprung und zur Bedeutung der kritischen Philosophie fruchtbar ist, wurde sie von fast keinem Kant-Forscher weiterentwickelt.459 Während das zehnte Kapitel die juridische bzw. gerichtliche Funktion der Antinomie in der negativen und positiven Gesetzgebung der Vernunft zum Thema haben wird, ist es das Ziel des vorliegenden Kapitels, den quellengeschichtlichen Mangel hinsichtlich der Antinomie zu beheben. 4.1

Der rhetorische Ursprung des Antinomiebegriffs

Der Ausdruck „Antinomie“ dient im Bereich der gegenwärtigen Philosophie vornehmlich zur Bezeichnung eines „mit rein logischen Mitteln beweisbaren Widerspruch[s], etwas der Form ‚A‘ und nicht ‚A‘“.460 Gemeinhin aber bezeichnet der „aus der griechischen Sprache entlehnte“ 461 Terminus „Antinomie“ (ἀντινομία) zumindest seit den Digesten von Justinian den Widerstreit von Gesetzen bzw. Grundsätzen innerhalb einer bestimmten Rechtsordnung, Gesetzsammlung oder Gesetzgebung.462 Laut Justinian sollte es in der von ihm zusammengestellten 457 458 459

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Ebd., S. 56. Beck, L. W. „Antinomies of Pure Reason“. In: Wiener, P. P. (Hrsg.): Dictionary of the History of Ideas. New York: Scribner, 1973, Bd. 1, S. 91. So wiederholt z. B. Ertl fast wörtlich die Ergebnisse von Hinske, trägt aber nichts Neues dazu bei; vgl. Ertl, W. David Hume und die Dissertation von 1770, a. a. O., S. 25–28. Als Ausnahme kann M. Marcos gelten, der aber lediglich die Quellen aus der zeitlichen Rechtswissenschaft heranzieht und dies nur unvollständig tut. Vgl. Marcos, M. H. La Crítica de la Razón Pura como Proceso Civil: Sobre la Interpretación Jurídica de la Filosofia Transcendental de I. Kant. Tesis Doctorales. Universidad de Salamanca, 1994. Kutschera, F. v. „Antinomie“. In: Historisches Wörterbuch der Philosophie. Bd. I, S. 396. Es gibt auch semantische (wie z. B. der Satz: „Dieser Satz ist falsch“) und mengentheoretische Antinomien (wie z. B. die Frage, ob die Menge aller Mengen sich selbst als Element enthält). Vgl. auch Ertl, W. David Hume und die Dissertation von 1770, a. a. O., S. 25. Iustiani Digesta. Corpus Iuris Civilis. Constitutio deo auctore. De conceptione digestorum, § 8. Im deutschen Sprachgebrauch hat sich genau dieser juristische Sinn von Antinomie gefestigt: „Antinomie […] im früheren 16. Jh. über (m)lat. antinomia ‚Widerstreit der Gesetze‘ entlehnt aus griech. (antinomia) ‚Widerspruch des Gesetzes gegen sich selbst, so dass beide Parteien es zu ihren Gunsten auslegen können‘ (aus anti- ‚gegen etwas gerichtet‘ […] und nomos ‚Gesetz‘), anfangs in der lat. (flekt.) Form. Zunächst im juristischen Bereich in der Bedeutung ‚Widerspruch eines Gesetzes in sich, Widerspruch innerhalb eines oder zwischen zwei als verbindlich geltenden Gesetzen, Widerstreit der Gesetze‘ […]; seit spätem 18. Jh. vor allem als Terminus der Philosophie häufiger belegt in der Bedeutung ‚Widerspruch eines Satzes in sich‘, auch ‚Unvereinbarkeit zweier gültiger Sätze, logischer Widerspruch zwischen zwei gültigen Aussagen‘ […], z. B. Antinomien der Vernunft; seit dem 19. Jh. auch allgemeiner und eher bildungsspr. verwendet für ‚Gegensätzlichkeit, Widersprüchlichkeit, Zwiespalt, unaufhebbare Spannung‘ […], z. B. die Antinomie des Lebens […]. Seit früherem 16. Jh. die (vermutlich aus (m)lat. antinomi ‚Gesetzfeinde‘ übernommene) Personbezeichnung Antinomer M. (Antinomen), auch in der (m)lat. Pl.-Form, in der Bedeutung ‚Gegner des Gesetzes, Gesetzesstürmer, -feind‘, gelegentlich dafür auch

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Gesetzsammlung keinen Platz für Antinomien geben, stattdessen sollten „vollständige Übereinstimmung und volle Konsistenz“ 463 herrschen. Jede Rechtsordnung, die man als gültig betrachten will, muss sich als eine widerspruchlose Einheit der Vielheit ihrer Normen konstituieren.464 Der Anspruch auf Widerspruchslosigkeit in der Gesetzgebung und der Rechtsprechung gilt bis in die Gegenwart465 – und, so lässt sich behaupten, sicherlich auch bei Kant. Der Antinomiebegriff hat jedoch eine noch weiter zurückreichende Geschichte.466 Der Begriff gehörte ursprünglich zur Rhetorik und wurde bereits in der Rhetorik des Aristoteles kurz angeführt. Dort kommt er unter der Überschrift „juristische Rhetorik“ zusammen mit anderen Fällen vor, so etwa der Amphibolie, die die anlässlich eines umstrittenen Rechtsfalles entstandene Notwendigkeit aufzeigt, das geschriebene Gesetz zu deuten.467 Nach der kurzen Erwähnung bei Aristoteles erfuhr er eine erste Entwicklung bei den griechischen Rhetorikern und wurde später bei den lateinischen Rhetorikern zu einer strukturierten Lehre. Hermagoras war es, der der Antinomie ihren systematischen Ort in der Stasi- bzw. Status-Lehre zuordnete, das heißt in der Taxonomie des status oder der „Zurückweisung[en] (refutatio) einer Anklage, in der die Abwehr eines Schuldvorwurfs besteht“,468 bzw. dem „ersten Zusammenstoße in Rechtsfällen (primam causarum conflictionem)“ oder den Fragen, die „aus dem ersten Zusammenstoß [entstehen], das heißt die Form der Fragestellung: ‚du hast es getan, ich habe es nicht getan: hat er es getan?“.469 Auch als Synonym für Feststellung (constitutio),

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(bis ins frühere 20. Jh. gebrauchtes) Antinomist M. (-en; -en)“. „Antinomie“. In: Deutsches Fremdwörterbuch, a. a. O., S. 1. Iustiani Digesta, a. a. O., § 8. „Nulla itaque in omnibus praedicti codicis membris antinomia (sic enim a vetustate graeco vocabulo nuncupatur) aliquem sibi vindicet locum, sed sit una concordia, una consequentia, adversario nemine constituto“. Hans Kelsen brachte dieses Erfordernis der Rechtswissenschaft exemplarisch zum Ausdruck: „Da die Grundnorm der Geltungsgrund aller zu einer und derselben Rechtsordnung gehörigen Normen ist, konstituiert sie die Einheit in der Vielheit dieser Normen. Diese Einheit drückt sich auch darin aus, dass eine Rechtsordnung in Rechtssätzen beschrieben werden kann, die sich nicht widersprechen“. Kelsen, H. Reine Rechtslehre. Wien: Österreichische Staatsdruckerei Wien, 1992, S. 209. Vgl. hierzu u. a. die Aufsätze in Perelmann, Ch. Les Antinomies en Droit. Bruxelles: Établissements Émile Bruylant, 1965; Weiss, A. Widersprüche im Recht. Unter besonderer Berücksichtigung europarechtsbedingter Widersprüche im deutschen Zivilrecht. München: Herbert Utz, 2011. R. Eisler weist darauf hin, dass der Terminus „Antinomie“ der Sache nach schon bei Plato und Zeno zu finden ist. Vgl. Phaedo 102; Rep. 523ff.; Parm. 135. Vgl. auch Eisler, R. „Antinomie“. In: ders. Wörterbuch der philosophischen Begriffe. Berlin: Mittler, 1927. „Auch (ist zu prüfen), ob sich ein Gesetz im Gegensatz zu einem angesehenen Gesetz oder ob es im Gegensatz zu sich selbst steht, wie zum Beispiel manchmal das eine Gesetz anordnet, alle Verträge seien verbindlich, das andere hingegen verbietet, Verträge gegen das Gesetz einzugehen“. Rhetorik, 1375b. Die benutzte Übersetzung ist aus: Aristoteles. Rhetorik. Übers. und erl. von Christof Rapp. Werke in deutscher Übersetzung. Begr. von Ernst Grumach. Hrsg. von Hellmut Flashar. Bd. IV. Darmstadt: WBG, 2002. Cicero Topica 93. „Refutatio autem accusationis, in qua est depulsio criminis, quoniam Graece stasi dicitur, appelletur Latine ‚status‘“. Die benutzte Übersetzung ist aus: Cicero, M. T. Topica. Die Kunst, richtig zu argumentieren. Übers. und erl. von Karl Bayer. Darmstadt: WBG, 1993. Quint. Inst. Or. III, 6, 4. Die benutzte Übersetzung ist aus: Quintilian, M. F. Ausbildung des Redners. Zwölf Bücher = M. Fabii Quintiliani Institutionis oratoriaes libre XII, a. a. O.

Fragestellung (quaestio) oder Hauptsache (caput)470 konzipiert, dient der status in der Regel dazu, einen Streit oder eine Kontroverse um eine gewisse Tat, Handlung oder Behauptung einer Partei zu bezeichnen, insofern eine Gegenpartei sie zu widerlegen oder sie vor Gericht auf etwas zu verklagen versucht oder es zu einem Für und Wider von Argumenten kommt.471 Wie Quintilian schreibt, „gibt [es] ja keine Frage, die nicht jedenfalls eine Rechtsfrage enthält“ (nam quaestio nulla non habet utique statum).472 Selbst der Ursprung des Stasis- oder Status-Begriffs scheint „am wahrscheinlichsten […] mit der Auffassung des gerichtlichen Verfahrens als eines Kampfes zusammenzuhängen“,473 wie bei vielen antiken Rhetorikern zu lesen ist.474 Hermagoras stellt status legales und quaestiones legales einander gegenüber, das heißt Kontroversen um Tatsachen und Kontroversen um die Deutung eines Textes.475 Zu den Tatsachenfragen gehört der status legales, der entscheidet, ob eine gewisse Tatsache gerecht oder nicht gerecht, ob sie rechtgemäß oder nicht rechtmäßig ist. Demgegenüber kommt es bei den quaestiones legales nicht darauf an, zu entscheiden, ob eine bestimmte Tatsache richtig ist, sondern darauf, einen gewissen Text (z. B. eines Gesetzes) so zu deuten, dass einer der beteiligten Parteien das Recht anerkannt wird. Die folgende Klassifikation der quaestiones legales von Hermagoras bildet die Grundlage für die späteren Einteilungen:476 1) quaestio scripti et voluntatis, das heißt Wortlaut und Absicht; 2) ratiocinatium, das heißt Analogie oder Schlussverfahren; 3) quaestio ambiguitatis oder Amphibolie, das heißt die Frage nach der Zweideutigkeit; und zuletzt 4) quaestio legum contrariarum oder Antinomie, das heißt die Frage nach den widersprechenden Gesetzen.477

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Quint. Inst. Or. III, 6, 2. Zu der vielfältigen und manchmal verwirrenden Terminologie der Statuslehre vgl. Martin, J. Antike Rhetorik. Technik und Methode. München: Beck, 1974, S. 27ff. „Es [status] entwickelt sich aus der bejahenden Behauptung der einen Partei […] und der ihr widersprechenden der anderen Partei […], oder, wenn es sich um ein gerichtliches Verfahren handelt, aus dem Widerspruch des [ratio], der Begründung seiner affirmatio durch den Kläger, und dem [continens], d. h. der Begründung seines Standpunkt durch den Beklagten“ Martin, J. Antike Rhetorik. Technik und Methode, a. a. O., S. 28. Zu einer vollständigen Erläuterung der Statuslehre des Hermagoras und der daraus entstandenen Tradition vgl. Patillon, M. La théorie du discours chez Hermogène le Rhéteur. Paris: Les Belles Lettres, 1988, insb. S. 56–78. Quint. Inst. Or. III, 6, 7. Martin, J. Antike Rhetorik. Technik und Methode, a. a. O., S. 29. Ebd. Vgl. Hermagoras. Fragments et Témoignages. Paris: Les Belles Lettres, 2012, S. xv, 136–139; Patillon, M. La théorie du discours chez Hermogène le Rhéteur, a. a. O., S. 64–67. Zu den taxonomischen Unterschieden zwischen den Klassikern vgl. Martin, J. Antike Rhetorik. Technik und Methode, a. a. O., S. 44–46. „La (1) ‘question de la lettre et de l’esprit’ […] renvoie à une controverse où l’une des parties s’attache exactement aux termes qui ont été écrits, tandis que l’autre exige qu’on fasse une exception […] concernant le texte de la loi et appuie son discours sur l’intention qu’il prête au rédacteur, en interprétant la loi d’une manière restrictive ou extensive; (2) le ‘rationacinatif’ renvoie à une controverse où l’on dégage de ce qui est écrit quelque part quelque chose qui ne l’est nulle part; (3) la ‘question de l’ambiguïté’ concerne une controverse où l’intention du rédacteur est obscure et où le texte présente deux sens ou davantage; (4) la ‘question des lois contraires’ a lieu quand deux lois ou davantage sont en désac-

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Hermogenes von Tarsos setzt die schon in Gang befindliche Übertragung der aristotelischen Rhetorik auf die forensische Tätigkeit fort und vertieft die Klassifikationen von Hermagoras mit der Gegenüberstellung von logischargumentativen und rechtlichen Fragestellungen.478 Der Antinomie kommt die Funktion eines status legales oder constitutio legalis zu, das heißt einer der Hauptfragestellungen, „in denen der Redner sich bemüht, für einen bestimmten Fall, in dem die Tat zugestanden ist und auch in ihrer Bezeichnung und Qualität feststeht, einen in sich unklaren Gesetztext durch Interpretation zu klären“.479 Bei Hermogenes’ status legales handelt es sich nicht um die Rechtmäßigkeit einer Tat, sondern um die Deutung einer schon zweifelhaften oder aufgrund gelegentlicher Änderungen an den Umständen unsicheren bzw. nicht mehr haltbaren rechtlichen Bestimmung.480 Die Antinomie oder den Widerstreit der Gesetze erklärt Hermogenes als eine Unterart der rechtlichen Fragestellung neben dem Wortlaut und der Absicht, dem Schlussverfahren oder der Analogie und der Amphibologie oder der Zweideutigkeit, das heißt als eine den Streit im Hinblick auf „verbale Mittel“481 im Rahmen eines schriftlichen Textes betreffende Fragestellung.482 Hermogenes zufolge kommt eine Antinomie genau dann vor, wenn „two or more verbal instruments, or one divided into two parts, which are not inherently contradictory come into conflict because of special circumstances“.483 Diese Definition der Antinomie als Widerstreit von Gesetzen, der eine Unterart der rechtlichen Fragestellungen ausmacht, wobei bestimmt werden muss, welchen der streitenden Parteien das Recht auf die kontroverse Tatsache zuzuschreiben ist, wurde von den lateinischen Rhetorikern aufgenommen und näher thematisiert. Bei Cicero484 findet man eine ausführlichere Behandlung der Antinomie, deren Nachwirkungen, wie noch gezeigt wird, bis in die Neuzeit hinein zu spü-

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cord“. Anmerkung des Übersetzers. In: Hermagoras. Fragments et Témoignages, a. a. O., S. 137. Vgl. auch Quint. Inst. Or. III, 6, 86: „die [Grundfragen; status generales] auf Vernunftserwägungen und die auf Gesetzestext beruhende (rationale et legale)“. Martin, J. Antike Rhetorik, a. a. O., S. 44. „Bei den status legales handelt es sich nicht um die Gesetzlichkeit der Tat, sondern um die Auslegung einer nicht eindeutigen oder durch die Änderung der Verhältnisse unhaltbar gewordenen gesetzlichen Bestimmung. Es geht also darum, durch Interpretation den Willen des Gesetzgebers nach den Grundsätzen der Billigkeit zu erkennen und mit den gegebenen Verhältnissen in Einklang zu bringen oder für den vorliegenden, gesetzlich noch nicht erfaßten und festgelegten Fall nach Analogie anderer Gesetzbestimmungen eine Lösung zu finden“. Martin, J. Antike Rhetorik, a. a. O., S. 46. Bezogen also auf „laws, wills, decrees, correspondence, definitive proclamations, and in short everything given verbal expression“. De Statibus, 39–40. Die benutzte Übersetzung ist aus: Hermogenes. On issues. Strategies of argument in later Greek Rhetorik. Übers. u. erl. von Malcolm Heath. Oxford: Claredon, 1995. Leider liegt keine deutsche Übersetzung dieser Fragmente vor. Zum Verständnis der rhetorischen Lehre von Hermogenes von Tarsos vgl. Patillon, M. La théorie du discours chez Hermogène le Rhéteur, a. a. O., sie die Einleitung und die Anmerkungen des amerikanischen Übersetzers in: Hermogenes. On issues: Strategies of argument in later Greek rhetoric, a. a. O., 1995. De statibus, 41, 1-4. De Inventione II, 144–147. Vgl. hierzu Stroux, J. „Summum ius summa iniuria“. In: ders. Römische Rechtswissenschaft und Rhetorik. Potsdam: Stichnote, 1949.

ren sind. Die widersprüchlichen Gesetze sind neben der Amphibolie, dem Wortlaut und der Absicht, der Analogie (ratiocinatiuum; analogie) und – eine früher nicht vorhandene Unterart – der Definition als eine Klasse von Kontroversen definiert, die sich auf die Zweifelhaftigkeit eines schriftlichen Textes (scriptum) im Gegensatz zu einer Argumentation (ratio) beziehen.485 Cicero zeigt, wie jeder dieser umstrittenen Rechtsfälle486 durch die Aufmerksamkeit auf die verwendeten Begriffe, den Kontext des verbalen Gebrauchs, die aus anderen Schriften abgeleitete Absicht des Verfassers des Gesetzes, die Vernachlässigung der relevanten Punkte im Gesetz usw. gelöst werden kann. Als Beispiel einer Antinomie führt Cicero die folgende fiktive Situation an: Lex: Qvi tyrannvm occiderit olympionicarvm praemia capito et qvam volet sibi rem a magistrav deposcito et magistratvs ei concedito. Et altera lex: Tyranno occiso, qvinqve eivs proximos cognatione magistratvs necato. Alexandrum, qui apud Phaeraeos in Thessalia tyrannidem occuparat, uxor sua, cui Thebe nomen fuit, noctu, cum simul cubaret, occidit. Haec filium suum, quem ex tyranno habebat, sibi in praemii loco deposcit. Sunt qui ex legi occidi puerum dicant oportere. Res in iudicio est.487

In einem solchen Fall sind „dieselbe[n] Vorschriften und dieselbe[n] loci den zwei Parteien angemessen, denn [es] muss jede dasjenige Gesetz verteidigen, das für sie günstig ist, und dasjenige Gesetz widerlegen, das für sie ungünstig ist“. Cicero stellt zehn mögliche Regeln zur Auflösung der Antinomien auf. Wenn zwei (oder mehrere) Gesetze untereinander widerstreiten, muss man (1) die zwei (oder mehr) Gesetze miteinander vergleichen, wobei man feststellt, welches „ad utilitores, ad honestiores ac magis necessarias res pertinent“, und dieses soll beachtet werden. Ferner muss man berücksichtigen, (2) welches am spätesten erlassen wurde, denn dieses „grauissima est“; (3) welches verbietet und welches erlaubt, denn das Gebot ist notwendig und die Erlaubnis freiwillig; (4) welches eine härtere Strafe vorsieht, denn man muss immer das Gesetz achten, dessen 485

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De Inventione II, 116. „In scripto versatur controversia, cum ex scriptionis ratione aliquid dubii nascitur. Id fit ex ambiguo, ex scripto et sententia, ex contrariis legibus, ex ratiocinatione, ex definitione“. Vgl. auch De Inventione I, 17: „Eius autem genera, quae separata sunt a constitutionibus, quinque sunt. Nam tum uerba ipsa uidentur cum sententia scriptoris dissidere, tum inter se duae leges aut plures discrepare, tum id quod scriptum est duas aut plures res significare, tum ex eo quod scriptum est aliud quoque quod non scriptum est inueniri, tum uis uerbi quasi in definitiua constitutione, in quo posita sit, quaeri. Quare primum genus de scripto et sententia, secundum ex contrariis legibus, tertium ambiguum, quartum ratiocinatiuum, quintum definitiuum nominamus“. Obwohl diese Bemerkung ohne Folgen für unsere Untersuchung ist, muss berücksichtigt werden, dass Cicero die quaestiones legales nicht als der Gattung von status bzw. constitutio zugehörig, sondern als eine besondere Art betrachtete. Vgl. De Inventione I, 12; Patillon, M. La théorie du discours chez Hermogène le Rhéteur, a. a. O., S. 65, 68. De Inventione II, 144: „Soit une loi: ‘le meurtrier d’un tyran recevra les mêmes récompenses que les vainqueurs aux jeux olympiques; il demandera au magistrat ce qu’il voudra et le magistrat le lui donnera’. Et cette autre loi: ‘Après la mort d’un tyran, le magistrat fra tuer ses cinq plus proches parents par le sang’. Alexandre [un tyran cèlebre] avait pris le pouvoir à Phères en Thassalie: une nuit, sa femme, appelée Thébé, qui couchait à ses côtés, le tua. Elle réclame à titre de récompense le fils qu’elle avait eu du tyran. Mais certains disent que, selon la loi, il faut tuer l’enfant. L’affaire passe en jugement“.

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Sanktionen strenger sind; (5) welches gebietet und welches verbietet, denn es scheint, dass das verbietende Gesetz das bietende durch eine Art von Ausnahme korrigiert; (6) welches besondere statt allzu allgemeine Fälle betrifft, „nam quae in partem aliquam et quae in certam quandam rem scripta est proprius ad causam accedere uidetur et ad iudicium magis pertinere“; (7) welches sofort angewandt werden muss; (8) welches von einem eigenen schriftlichen Text (scripto) abhängt und welches hingegen von der Zweideutigkeit, dem Schlussverfahren oder der Definition, also den anderen Klassen von Kontroversen, die sich auf die Zweifelhaftigkeit eines schriftlichen Textes beziehen, denn Ersteres muss zuerst beachtet werden; (9) bei welchem Gesetz die Absicht genauer dem Text entspricht und bei welchem es möglich ist, den angeblichen Widerspruch durch eine eingehendere Auslegung aufzuheben. Wenn (10) der Widerstreit nach allen diesen Alternativen noch besteht, muss man eines der beiden Gesetze beiseitelassen.488 Quintilian ist ein weiterer Autor, der in der Neuzeit oft als derjenige Rhetoriker zitiert wurde, der die Antinomienlehre auf eine klare, wenn auch nicht so ausführliche Weise wie Cicero dargestellt habe. Quintilian übernimmt die Taxonomie von Hermagoras und Hermogenes, während Cicero die Unterart definitio hinzugefügt hatte, und teilt die quaestiones oder status legales in vier Unterarten ein: in a) Wortlaut und Absicht, b) widersprüchliche Gesetze, c) die Anwendung des Schlussverfahrens (collectivum) und d) Zweideutigkeit.489 Diesen „vom schriftlich Fixierten hergeleiteten (ex scriptio)“490 Rechtsfällen, die sich nicht um facta, sondern um iura drehen,491 kommt eine ähnliche Funktion zu wie bei den frühen Autoren. Die Antinomie sei eng mit der Fragestellung nach dem Wortlaut und der Absicht verwandt, wobei beide „auf denselben Grundfragen beruhen“,492 obwohl zwischen den vier Unterarten eine „gewisse Verwandtschaft“ bestehe.493 Quintilian behauptet, dass in der Antinomie „zwei Grundfälle von Wortlaut und Absicht vorliegen“, denn wenn Gesetz gegen Gesetz stehe, „[wird] von beiden Parteien gegen den Wortlaut gesprochen und [es gilt] die Untersuchung bei beiden Gesetzen der Absicht des Gesetzgebers“.494 Bei der Antinomie ist die Frage strittig, ob die betreffenden Gesetze überhaupt anzuwenden sind, da nicht vorausgesetzt werden darf, dass ein Gesetz seiner eigentlichen Rechtsnatur gemäß 488

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De Inventione II, 144–147. Eine weitere Darstellung der Antinomie findet man in Rhetorica ad Herennium II, 15, einer apokryphen Schrift, die lange Zeit Cicero zugeschrieben wurde. Die Stelle bringt jedoch keine neuen Erkenntnise. Quint. Inst. Or. III, 6, 66, 68. Quintilian schließt eine Unterklasse aus, die von ihm zuvor eingeschlossen wurde, nämlich die „Verschiebung der Zuständigkeit“ (translatio). Quint. Inst. Or. III, 6, 46. Quint. Inst. Or. III, 6, 70. Quint. Inst. Or. III, 6, 88. „Es besteht nun aber zwischen den oben genannten Grundfällen eine gewisse Verwandtschaft; denn sowohl der Definition liegt die Frage zugrunde, welches die Absicht bei einer Benennung sei, als auch dem Syllogismus, der der an die Definition sich anschließende Grundfall ist; auch hier ist der Blick auf die Frage gerichtet, was der Verfasser des Textes beabsichtigt hat, und dass das widersprüchliche Gesetz zwei Grundfälle von Wortlaut und Absicht darstellt, ist klar. Umgekehrt ist auch die Definition gewissermaßen eine Amphibolie, da der Sinn der Benennung in zwei Teile aufgespaltet wird“. Quint. Inst. Or. VII, 10, 1. Quint. Inst. Or. VII, 7, 1.

(iure ipso) einem anderen widersprechen kann. Der Widerstreit von Gesetzen kann nur aufgrund von beliebigen Umständen aufkommen. Quintilian unterscheidet die verschiedenen Gesetzesarten, bei denen es überhaupt einen Streit geben kann. Zudem stellt er aber – anders als die frühen Autoren – die Frage, ob eine Partei die Rechtmäßigkeit (iure) der von der Gegenpartei aufgeworfenen Fragestellung anerkennt. In Bezug auf den ersten Punkt kann Widerstreit zwischen Gesetzen, die unter sich gleich (pares inter se) oder ungleich (diversae impares) sind, aber auch innerhalb der Gesetze selbst (secum ipsae), nämlich zwischen deren Teilen, bestehen. In Bezug auf den zweiten Punkt können die Streitparteien die Rechtmäßigkeit (ius) der Fragestellung anerkennen oder nicht. Tun sie dies, müssen sie gegenseitig die Gültigkeit des einen oder beider Gesetze anerkennen. Ist dem nicht so, dann treten die folgenden Fragen auf: [W]elches der beiden Gesetze hat stärkeres Gewicht? Bezieht es sich auf Götter oder auf Menschen, auf das Gemeininteresse oder auf Privatleute? Betrifft es eine Auszeichnung oder Bestrafung? Wichtige oder geringfügige Dinge? Gestattet, verbietet oder gebietet es? […] Welches von ihnen [verlangt] das geringere Opfer […]. Das allermeiste indessen hat die Frage zu bedeuten, welches von ihnen sich besser und eher nach billigem Ermessen ausführen läßt.495

Quintilian liefert, anders als Cicero, keine weiteren Vorschriften zur Auflösung der Antinomie, stattdessen beschränkt er sich auf die Anmerkung, dass man den Verdienst (meritum), die Zeitumstände (tempores) und die Belohnung (praemium) beachten müsse.496 4.2

Der Umschwung des Antinomiebegriffs in der frühen neuzeitlichen Rechtswissenschaft

In der Zeit Kants reichte der übliche Gebrauch des Begriffs „Antinomie“ in die eigentlich juridische, nicht unmittelbar in die rhetorische Herkunft des Terminus zurück, wie es unter dem Stichwort „Antinomie“ im Großen vollständigen UniversalLexicon von J. H. Zedler belegt wird.497 Darüber hinaus bestätigen andere Lexika, aber z. B. auch Leibniz, die Bedeutung von Antinomie als den die juristische Logik betreffenden, ursprünglich aber aus der Rhetorik stammenden forensischen Widerstreit von Gesetzen, wie im Folgenden erläutert wird. Im 17. Jahrhundert beginnt die juristische Logik sich von der aristotelischen und scholastischen Logik zu distanzieren und den Rhetorikern des klassischen Altertums anzunähern. Die strikte scholastische Logik macht Platz für eine stark durch Ciceros Lehre geprägte juristische Topik, die sich am besten an die Beschaffenheit des rechtlichen Gegenstands assimilieren sollte, was bedeu-

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Quint. Inst. Or. VII, 7, 7ff. Quint. Inst. Or. VII, 10, 2. Zedler, J. H. „Antinomie“. In: Großes vollständiges Universal-Lexicon, Bd. 2, S. 572–573: „Die Widerwärtigkeit derer Gesetze, wenn nämlich zwei Gesetze einander zuwider sein oder gar widersprechen“.

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tet, Zanke und Hader vor Gericht zu bringen.498 Doch schon im 18. Jahrhundert gab es den Anstoß für einen Prozess der Systematisierung und Konsolidierung rationaler Argumentations- und Verfahrensweisen, die die Jurisprudenz fortschreitend von der als rhetorisches Erbe erhaltenen Topik entfernte.499 Ein solcher Vorgang der Systematisierung und Aufnahme von methodologischen Einflüssen aus anderen Gebieten, etwa der Geometrie, verlief jedoch langsam. Während der Einfluss der Topik Ciceros auf die allgemeine Logik schon in der frühen Neuzeit von der aristotelischen Lehre verdrängt wurde und damit keinen fruchtbaren systematischen Abschluss fand, verbreitete ihre Autorität in der Jurisprudenz seit dem 17. Jahrhundert eine „in ihrem Kern der Rhetorik artverwandte Spezielle Logik“.500 Nun soll „die Gerichtsrede […] nicht aus feststehenden Prinzipien deduzieren, sondern das Für und Wider der Argumente gegeneinander abwägen und im Streit der Meinungen die angemessenste, sachlich vertretbarste und gerechteste Lösung finden“.501 Die zeitliche Rechtslogik handelte eher von „sachlichen Anhaltspunkten der Argumentation“, den sogenannten loci, als von den „allgemeinen, formalen Voraussetzungen, de[m] Schluß“.502 Den Rechtsgelehrten ging es nicht um ein innersystematisches archimedisches Prinzip, mit dem man die rechtlich relevanten Fälle in ein wohlgeordnetes System bringen kann, sondern vielmehr um eine durch P. Ramus’ Logik inspirierte äußerliche „Tafel“, auf der eine umfassende Klassifizierung der juristischen topoi vorzunehmen war.503 498

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„Ausgangspunkt und Basis dieser sich rasch entwickelnden juridischen Logik wird die für die juristische Argumentation und Entscheidung maßgebliche, in ihrem Kern mit der Rhetorik durchaus artverwandte Gerichtsrede. Sie liefert den Ansatzpunkt für den Aufbau einer juristischen Argumentations- und Methodenlehre, die in methodischer Hinsicht nicht bloß aus vermeintlich feststehenden Normen und Prinzipien zu deduzieren sucht, sondern bestrebt ist, im Streit der Meinungen das Für und Wider der meinungsmäßig fixierten Argumente gegeneinander abzuwägen, um zu einer angemessenen und annehmbaren, gerechten juristischen Entscheidung zu gelangen“. Krawietz, W. „Juristische Logik“. In: Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 5, S. 431. Vgl. auch Schröder, J. Recht als Wissenschaft. Geschichte der juristischen Methode vom Humanismus bis zur historischen Schule (1500–1850). München: Beck, 2001, S. 23ff. Vgl. Schröder, J. Recht als Wissenschaft, a. a. O., S. 119ff. Vgl. auch Krawietz, W. „Juristische Logik“, a. a. O., S. 434: „Durch diese Kritik der Topik wird jedoch die genuine juristische Logik nicht berührt, die sich ihrem eigenen Selbstverständnis nach im Anschluß an die im 18. und 19. Jh. begründete fachwissenschaftliche Tradition der Jurisprudenz als juristische Methodik bzw. Methodenlehre der Praktischen Rechtswissenschaft wie der Rechtspraxis – und nicht als formale, auf die Normen des Rechts anwendbare Logik – begreift“. W. Risse. Logik der Neuzeit. Bd. I: 1500–1640. Stuttgart-Bad Cannstatt: Frommann-Holzboog, 1964, S. 67. Diese „der Rhetorik artverwandte Spezielle Logik“ hat als Begründer R. Agricola und P. Ramus. Ebd., S. 67ff. Ebd., S. 68. „As a theory based on the idea of commonplaces [loci], the first type of ancient legal doctrine offered an exterior order, an order that classified the whole of a discipline from an external point of view. But in fact, this type of doctrine was mainly concerned with describing the reality of law through a complete list of the law’s arguments or through a comprehensive enumeration of its features. Hence this method, in its effort to faithfully reproduce every possible case within a frame of commonplaces, wound up multiplying the rubrics it used, tending to make them as numerous as the juridical circumstances to which they applied. As new categories were added, their logical extension closed a tighter and

Rudolph Glocenius ist ein Beispiel dieser mit rhetorischen Elementen vermischten und durch die ramistische Tradition beeinflussten Logik. Im Lexicon philosophicum (1613)504 unterscheidet er unter dem Stichwort „antinomia“ zwischen Antinomien in engerer und weiterer Bedeutung. Antinomie in weiterer Bedeutung sei der Streit oder Gegensatz von Sätzen oder Äußerungen untereinander, Antinomie in engerer Bedeutung hingegen der Widerstreit von Gesetzen. Glocenius unterscheidet ferner zwischen wahren und scheinbaren Antinomien, ohne diesen Unterschied jedoch näher zu erklären. In der Redekunst sei der status „Antinomie“ das, was Kontroversen enthält, die genau dann auftauchen, wenn die Schriften sich widersprechen oder wenn ein Gesetz als ein den anderen entgegengesetztes betrachtet wird. Die Regeln zur Auflösung der Antinomien teilt Glocenius in zwei Gruppen auf, in die allgemeinen und die speziellen Regeln. Erstere gehören zu der Logik; auf sie braucht an dieser Stelle nicht eingegangen zu werden. Zur zweiten, für uns wichtigeren Gruppe werden elf Regeln gezählt. Die vorgeschlagenen Lösungen sind fast dieselben, die schon Cicero aufgestellt hat und die den in der Philosophie und der modernen Rechtswissenschaft überlieferten Kanon der Vorschriften zur Auflösung der Antinomie ausmachen. Dazu zählen pragmatische Vorschriften, das heißt solche, die die Aufmerksamkeit auf den Kontext legen (1), hermeneutisch-interpretative Vorschriften, also solche, die die Aufmerksamkeit auf die bestimmte Art des Diskurses und die darin verwendeten Tropen richten (2, 3), und die traditionell zur Rechtswissenschaft gehörenden Vorschriften, die der Beilegung einer Normenkollision innerhalb einer bestimmten oder zwischen verschiedenen Rechtsordnungen dienen. Sie unterscheiden sich nach dem jeweils angewandten Kriterium: der Spezialität (Aufhebung eines allgemeineren zugunsten eines besonderen Gesetzes) (7), der Hierarchie (Aufhebung eines unteren zugunsten eines oberen Gesetzes, eines menschlichen zugunsten eines göttlichen Gesetzes und eines Erlaubnis- zugunsten eines präskriptiven bzw. prohibitiven Gesetzes) (4, 5, 6 und 8) und der Zeit (Aufhebung eines älteren zugunsten eines jüngeren Gesetz und eines abgelaufenen zugunsten eines noch gültigen Gesetzes) (9, 10 und 11).505 Wie erwähnt, entsprechen die von Glocenius aufgestellten Lösungsvorschriften genau denen, die weitgehend bereits bei Cicero zu finden und im phi-

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tighter circle around the singularity of the relative legal cases, thus reducing the gap between the boundless variety of legal materials and their description by juridical means“. Scattola, M. „Scientia Iuris and Ius Naturae. The Jurisprudence of the Holy Roman Empire in the Seventeenth and Eighteenth Centuries“. In: Canale, D., Grossi, P., Hofmann, H. & Riley, P. (Hrsg.). A History of the Philosophy of Law in the Civil Law World, 1600–1900. New York: Springer, 2009, S. 11. In seinem Aufsatz gibt Scattola Beispiele dieser Tafeln. Vgl. auch ders. „Models in History of Natural Law“. In: Ius commune, 28, 2001, S. 97ff. Dazu auch Schmidt-Beggemann, W. Topica Universalis. Eine Modellgeschichte humanistischer und barocker Wissenschaft. Hamburg: Meiner, 1983. Goclenius, R. Lexicon philosophicum quo tanquam clave philosophiae fores aperiuntur. 2., reprogr. Nachdr. der Ausg. Frankfurt 1613 und Marburg 1615. Hildesheim: Olms, 1980. Vgl. Bobbio: „Les situations où les conflits de critères peuvent se produire sont au nombre de trois: 1. conflit entre les critères chronologique et hiérarchique; 2. conflit entre les critères de spécialité et chronologique; 3. conflit entre les critères hiérarchique et de spécialité“. Bobbio, N. „Des Critères pour resoudre les antinomies“. In: Dialectica, Vol. 18, Issue 1–4, S. 253. Vgl. auch Kelsen, H. Reine Rechtslehre, a. a. O., S. 209–212.

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losophischen und juristischen Gedankengut bis zu Kant hin verankert sind. In der Naturrechtslehre der frühen Neuzeit, z. B. bei Grotius und Pufendorf, wird die Antinomie bei einer deutlichen Anspielung auf die Statuslehre und die quaestiones legales im Zusammenhang mit der Auslegung von Gesetzen und Verträgen behandelt. Pufendorf und Grotius weisen ausdrücklich auf die von Cicero festgesetzten Regeln zur Auflösung der Antinomien hin.506 Grotius stellt seinerseits sechs Regeln auf: a) „Das nur Erlaubte muss vor dem zurücktreten, was befohlen ist“; b) „Daher geht das, was zu einer bestimmten Zeit getan werden soll, dem vor, was zu jeder Zeit geschehen kann“; c) „Ebenso geht in der Regel ein verbietender Vertrag einem gebietenden vor“; d) „Unter Verträgen, die sich in den bisher genannten Beziehungen gleichstehen, geht der vor, welcher der besondere ist und der Sache nähertritt“; e) „Nächst dem geht das Anständigere und Nützlichere vor“; f) „Endlich hat das zuletzt Gesagte den Vorzug“.507 Pufendorf lehnt sich explizit an Grotius an und stellt ihn ergänzend elf Regel zur Auflösung der Antinomien auf: a) „Das, was nur zugelassen wird, muss dem weichen was geboten wird“; b) „Was zu gewisser Zeit gethan werden soll, wird dem vorgezogen, was zu allen Zeiten geschehen kann“; c) „Ein bejahendes Gebot muss einem verneinenden weichen“; d) „In denjenigen Abreden oder Conventionen und Gesetzen, welche einander [an]sonsten gleich sind, muss man diejenige der Allgemeinen vorziehen, welche mehr besonders ist und welche der Sache am nächsten kommt“; e) „Zwischen zweien Handlungen, welche auf eine Zeit wider einander laufen, deren eine ehrbarere oder nützlichere Bewegnütz Ursachen hat, als die andere, ist es vernünftig, dass diese jener weiche“; f) „Wann zwei Pacta oder Verträge, ein beschworener und ein unbeschworener, zugleich nicht erfüllet werden können, muß jenes diesem weichen“; g) „Eine unvollkommene gegenseitige Verbindung muß einer vollkommenen dieser Arth weichen“; h) „Das Gesetz der Wohlthat muß dem Gesetz der Dankbarkeit weichen“; i) „Unter denen Gesetzen, welche von höhern und geringern Obrigkeiten herkommen, muß das Gesetz der geringern dem Gesetz der höhern weichen“; j) „Nachdem eines jeden Gesetzes Materie, das andere an Adel, Nutzen oder Nothwendigkeit übertritt, also ist ordentlicher Weise eines wichtiger als das andere, und dem andern vorzuziehen“; l) „Je genauer das Band womit uns jemand verbunden, um so viel wichtiger sind die Pflicht-Leistungen, die man selben schuldig, wo das übrige gleich ist“.508 Die Diskussion über das Vorkommen von Antinomien oder Kollisionen zwischen Gesetzen und die Notwendigkeit, sie aufzuheben, hatte in jener Zeit gewiss mehr Platz in der Rechtsliteratur. Die Dissertation De collisione legum 506

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Grotius. De iure belli ac pacis libri tres, II, 16, § 29: „Welche Stelle der Schrift (pars scripti) in einem solchen Fall [eines Widerstreits von Gesetzen] den Vorzug haben soll, darüber hat Cicero aus den alten Schriftstellern einige Regeln aufgestellt“. Die benutze Übersetzung ist aus: Grotius, H. De jure belli ac pacis libri tres. Drei Bücher vom Recht des Krieges und des Friedens. Paris 1625. Nebst einer Vorrede von Christian Thomasius zur ersten dt. Ausg. des Grotius vom Jahre 1707. Neuer dt. Text und Einl. von Walter Schätzel. Tübingen: Mohr, 1950. Pufendorf. De jure naturae et gentium libri octo, V, 12, § 23. „Autor ad Herennium [= Cicero]“. Die benutzte Übersetzung ist aus: Pufendorf, S. Gesammelte Werke. Bd. 4: De jure naturae et gentium. Hrsg. von Frank Böhling u. W. Schmidt-Biggemann. Berlin: Akademie Verlag, 1998. Grotius. De iure belli ac pacis libri tres, II, 16, § 29. Pufendorf. De jure naturae et gentium libri octo, V, 12, § 23.

(1688) von Johann Nikolaus Hert, der als Begründer der deutschen Statutenlehre bekannt ist,509 fängt mit der Feststellung an, dass die Erörterung des Widerstreits von Gesetzen bislang nicht hinreichend erklärt worden sei.510 Man findet in der kleinen Schrift von Hert eine „ausschließlich kollisionsrechtlichen Fragen gewidmete“ bahnbrechende Untersuchung,511 in der es nicht nur darum geht, die Gründe der Entstehung und die Auflösungsweisen der Antinomien zu erläutern, sondern auch die verschiedenen Rechtsordnungen oder Statuten, in denen und zwischen denen ein Konflikt zwischen Gesetzen entstehen kann.512. Nach einem kurzen Prolegomenon über Gesetzkollisionen im Allgemeinen (Sectio I), in dem Hert einige der hier schon diskutierten Lösungsregeln aufstellt,513 behandelt er zunächst den Widerstreit von Naturrechtssätzen untereinander (Sectio II), zwischen positivem Recht und Naturrecht (Sectio III) und schließlich zwischen speziellen Gesetzen (Sectio V). Aber „der Schwerpunkt der Untersuchung liegt […] auf der vierten Sektion […] ‚über die Kollision positiver Gesetze untereinander‘“.514 Es gibt laut Hert zwei Möglichkeiten für Gesetzeskollisionen: Entweder kann ein Gesetz mit einer „lex prior“ zusammenstoßen; in diesen Fällen tritt das frühere notwendige zurück. Oder die Kollision erfolgt so, „dass zwar beide Gesetze ‚wohlbehalten‘ weitergelten, aber eben im konkreten Fall nicht wirken könnten“.515 Genau von dieser letzten Art von Kollision ist die Rede in Herts Dissertatio und insbesondere in Sektion IV, in der er „zwischen gegensätzlichen Bestimmungen des gleichen Gesetzgebers und solchen Kollisionen, die durch abweichende Regelungen verschiedener Gesetzgeber entstehen“,516 unterscheidet. Er erklärt die Kollision zwischen positiven Gesetzen wie folgt: Positive Gesetze kollidieren entweder aufgrund eines Zusammentreffens (concursum) der Materien bzw. der Gegenstände oder aufgrund des unter-

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„Die ‚Dissertatio de collisione legum‘ von 1688 ist die erste Arbeit der europäischen Rechtsgeschichte, die allein den Gesetzeskollisionen gewidmet ist. Die vor ihr erschienen Äußerungen über das Kollisionsrecht waren stets Teile einer Abhandlung über ein materiellrechtliches Thema oder eines Kommentars eines Rechtes o. ä.“ Hermann, G. Johan Nikolaus Hert und die deutsche Statutenlehre. Berlin: De Gruyter, 1963, S. 160. „Die Erörterung der Gesetzeskollisionen ist unentschieden, schwierig und weitläufig, und ich weiß nicht, ob sich schon einmal jemand daran gemacht hat, sie ganz zu erklären“. Hert, J. N. De Collisione Legum, Sect. 1, § 1. Übers. in: Hermann, G. Johan Nikolaus Hert und die deutsche Statutenlehre, a. a. O., S. 76. „Tatsächlich handelt es sich um die erste ausschließlich kollisionsrechtlichen Fragen gewidmete Schrift eines Deutschen“. Deutsches Internationales Privatrecht im 16. und 17. Jahrhundert: Materialien, Übersetzungen, Anmerkungen. Hrsg. von Christian von Bar und Peter H. Dopffel unter Mitarb. von Hans Jürgen Hilling. Tübingen: Mohr, 2001, S. 583. „Hert was the first and only German to date to make a serious and thorough attempt to resolve nagging questions of conflict of laws. To work out collision rules was the solution. Hert complexified the so-called statutist method according to which collision rules determined jurisdiction by analysing the nature of the statutes involved“. Teubner, G. „De Collisione Discursuum“. In: Cardozo Law Review, Vol. 17, S. 901. De Collisione Legum, Sect. 1, §§ 1–3. Hermann, G. Johan Nikolaus Hert und die deutsche Statutenlehre, a. a. O., S. 76. Hert De Collisione Legum, Sect. 1, § 2. Vgl. Hermann, G. Johan Nikolaus Hert und die deutsche Statutenlehre, a. a. O., S. 77. Internationales Privatrecht im 16. und 17. Jahrhundert, a. a. O., S. 583.

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schiedlichen Willens der Gesetzgeber. Jenes geschieht, wenn es zwei oder mehrere Gesetze desselben Gesetzgebers gibt, die am selben Ort und zur selben Zeit zugleich und in einem nicht befolgt werden können; in diesem Fall ist die Sache durch eine billige Auslegung zu regeln.517

Unter den positiven Gesetzen gebe es keine deutliche Hierarchie, wie dies bei einem Widerstreit zwischen natürlichen Gesetzen untereinander oder mit den positiven Gesetzen der Fall sei.518 Aufgrund des Mangels eines eindeutigen Kriteriums verweist Hert – wie Grotius und Pufendorf – auf Cicero und die oben diskutierte Stelle aus De Inventione, um Beispiele für die beste Auflösungsmethode des Widerstreits zwischen solchen Gesetzen anzugeben.519 Das Problem des Widerstreits zwischen positiven Gesetzen, wofür eine von den antiken Rhetorikern inspirierte juristische Logik das zweckmäßigere Lösungswerkzeug darstellt, fand sich, so Hert, sehr häufig in Deutschland: [W]er wüßte nämlich nicht, dass jedes Herrschaftsgebiet oder jeder Staat, der mit Macht und Gebietsgewalt ausgestattet ist, seine eigentümlichen Gesetze, Sitten und Gewohnheiten hat, ja dass sogar innerhalb dieser Staaten Städte und Dörfer bisweilen nach ihren eigenen Gesetzen verwaltet zu werden pflegen?520

Die Bedeutung der Dissertation Herts wird allerdings erst dann richtig begreifbar, wenn man dem zu jener Zeit schon in Gang gekommenen „Zug zur Systematisierung“ in der Rechtswissenschaft 521 und der Diskussion um die Konsistenz und Wohlgeordnetheit von Rechtsordnungen Aufmerksamkeit schenkt, zu denen bedeutende Juristen und Philosophen des deutschen Sprachraums, etwa Leibniz, beigetragen haben. Leibniz’ Rechtslehre bot die erste philosophisch konsequente Entwicklung einer Konzeption, die einen tiefgreifenden Einfluss 517 518

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Hert De Collisione Legum, Sect. 4, § 1. Übers. nach Internationales Privatrecht im 16. und 17. Jahrhundert, a. a. O., S. 589. Hert stellt drei Grundsätze des Naturrechts im eigentlichen Sinn (juris naturalis proprie) auf, die die „Quellen aller Pflichten gegenüber Gott und d[en] Menschen“ (fontes officiorum ominium erga DEUM hominesque) seien und deswegen eine deutliche Normenhierarchie ausmachen würden: a) „nosse DEUM, soli obtemperare, solum colere“ (De Collisione Legum, Sect. 1, § 5); b) „Amare se, tueri ac conservare“ (ebd., § 6); c) „Esse socialem – prodesse quibus possis, nocere nemini“ (ebd., § 7). Vereinfacht gesagt hat der Grundsatz a) Vorrang vor b) und c), und c) hat Vorrang vor b). Die drei allgemeinen Grundsätze des Naturrechts haben Vorrang beim Widerstreit mit den besonderen Grundsätzen des Naturrechts und – mit der Ausnahme von b) – beim Widerstreit mit den positiven Gesetzen. Vgl. De Collisione Legum, Sect. 2 und 3; Hermann, G. Johan Nikolaus Hert und die deutsche Statutenlehre, a. a. O., S. 78–81. Hert zufolge ist der Mensch in dreierlei Weise der Staatsgewalt unterworfen: hinsichtlich der Person, der Sache und der Handlungen, wobei sich der Widerstreit fallweise auflösen lässt. Es gehört aber nicht zur hier behandelten Problemstellung, näher zu untersuchen, wie Hert die Konflikte zwischen positiven Gesetzen aufzulösen versucht. Vgl. dazu Hermann, G. Johan Nikolaus Hert und die deutsche Statutenlehre, a. a. O., S. 81–96. De Collisione Legum, Sect. 4, § 2. Übers. nach Internationales Privatrecht im 16. und 17. Jahrhundert, a. a. O., S. 593. „Dabei hat er [Hert] sich in der Tat um eine solide Fundierung und gleichzeitig um eine Systematisierung des Stoffes bemüht; er erweist sich damit schon als ein Gelehrter seiner Zeit, dem ja ein Zug zur Systematik eigen war“. Hermann, G. Johan Nikolaus Hert und die deutsche Statutenlehre, a. a. O., S. 151.

auf die Ideologie der Kodifikationen im 18. Jahrhundert ausübte, nämlich die Konzeption der juristischen Norm als ein Satz, der zu einem logisch-deduktiven System gehört. Dabei bestand das Hauptproblem darin, die Sicherheit und Deutlichkeit des Ganzen und der Teile des Ganzen zu gewährleisten.522 In seinen Jugendschriften, in denen Leibniz sich intensiv mit der Jurisprudenz beschäftigte, findet sich eine interessante und höchst fruchtbare Diskussion über die Antinomien in Verbindung mit der neuzeitlichen Forderung nach einer Systematisierung der Rechtswissenschaft als ein nach wissenschaftlichen Methoden eingerichtetes Erkenntnisganzes und der Rechtsordnung als eine einheitliche und widerspruchlose Gesamtheit von Normen. Leibniz steht im Mittelpunkt des Übergangs zum modernen Naturrecht, indem er nach einer „Art Synthese des ‚christlichen Naturrechts‘ […], die das von Natur aus Gerechte ‚mit der aristotelisch-ciceronianischen Gerechtigkeitslehre einerseits‘ und ‚mit der patristisch-scholastischen Gottesrechtslehre‘ andererseits verbindet‘“, strebte.523 Abgesehen von seiner Suche nach einer Synthese der verschiedenen Traditionen des Naturrechts ist hier lediglich von Interesse, wie Leibniz einen systematischen Grundsatz und eine wissenschaftliche Methode für die Rechtwissenschaft formulieren und mit einem Wort ein Rechtssystem524 errichten wollte, in dem die Aufhebung der Antinomien mithilfe rein logischer statt prinzipiell rhetorischer Hilfsmittel eine zentrale Rolle spielte. In einer Reihe von Schriften, die kurz vor und während seiner Mainzer Zeit (1666–1672) verfasst wurden, stellte Leibniz mögliche logische und hermeneutische Kriterien für die Beilegung von Konflikten zwischen Gesetzen auf, 522

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Tarello, G. Storia della cultura giuridica moderna. I. Assolutismo e codificazione del diritto. Bologna: Il Mulino, 1976, S. 133ff. Vgl. auch Kalinowski, G. „La Logique Juridique de Leibniz: Conception et Contenu“. In: Studia Leibnitiana, Bd. 9, H. 2, 1977. Busche, H. „Einleitung des Übersetzers“. In: Leibniz, G. W. Frühe Schriften zum Naturrecht. Hrsg. und übers. von Hubertus Busche. Hamburg: Meiner, 2003, S. xvii. Die Bücher von Hans-Peter Schneider und Gaston Grua bleiben nach wie vor die besten und ausführlichsten Studien zu Leibniz’ Rechtsphilosophie. Grua, G. La Justice Humaine selon Leibniz. Paris: PUF, 1956; Schneider, H.-P. Justitia Universalis. Quelenstudien zur Geschichte des ‚christlichen Naturrechts‘ bei Gottfried Wilhelm Leibniz. Frankfurt a. M.: Klostermann, 1967. Über den Hang zur Systematik in der neuzeitlichen Rechtswissenschaft, die nicht selten mit dem Versuch einer Synthese des alten und des modernen, zu den humanistischen und den christlichen Traditionen gehörenden Naturrechts einhergeht, vgl. Scattola, M. „Dialectics, topology and practical philosophy in early modern times“. In: Chang, H. & Dascal, M. (Hrsg.). Traditions of Controversy. Amsterdam & Philadelphia: John Benjamins Publishing, 2007, S. 197. „Since the late seventeenth century, principle, system and method are tightly bound together and form a kind of ‘epistemological triangle’. Samuel Pufendorf explained in the Scandinavian Quarrel that a genuine doctrine of natural law must identify a first principle that contains in itself all possible conclusions. On the other hand, all propositions of a system must be gained through a continuous deduction from its first principle. We can describe this mutual dependence by saying that a principle is a condensed system, whereas a system is an expanded principle: both express the same content in two different states of aggregation. The method is the device to transform a principle into a system or a system into a principle. On the main features of this doctrine, most authors of the late seventeenth and eighteenth centuries both in practical and theoretical philosophy, from Leibniz to Schelling, agree. In the twentieth century we then find the best definition of this relationship in the theory of legal positivism, in Hans Kelsen’s Philosophical Foundations of Natural Law Doctrine and Legal Positivism“.

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um die Kohärenz der Rechtswissenschaft wiederherstellen zu können. Leibniz sagte in einer frühen Schrift aus dem Jahr 1664, Specimen quaestionum philosophicarum ex jure collectarum, zum ersten Mal in seinem Werk, dass ohne den Beitrag der Philosophie das Recht ein „unentwirrbares Labyrinth“ (A VI 1, 73)525 bleibe. Leibniz beabsichtigte demnach, logisch-mathematische und metaphysische Aspekte im Corpus iuris civilis herauszufinden und herauszuarbeiten (Vgl. A VI 1, 73). In den 17 Fragen, aus denen die Schrift besteht, erläutert Leibniz, wie sich die Probleme, mit denen die Juristen häufig konfrontiert sind, durch semantische (Frage 1), logische (Frage 2), naturwissenschaftlich-mathematische (Fragen 3 bis 7) und metaphysische Erklärungen (Fragen 11 bis 17) lösen lassen. In einer Schrift von 1766, Disputatio inauguralis de casibus perplexis in jure, nimmt er das Vorhaben wieder auf, Konflikte, Kontroversen und hard cases beizulegen. Dazu stellt er die Idee vor, die Rechtswissenschaft könne als eine „auf moralische Fragen angewandte Logik“ bezeichnet werden.526 Die Antinomien werden in dieser Schrift im Gegensatz zu „verwickelten Fällen“ (casibus perplexis) bestimmt. Solche verwickelten Fälle drücken, anders als die Antinomien, einen unmittelbaren oder zufälligen Widerspruch aus, der erst dann vorkommt, wenn die Gesetze auf eine bestimmte Tatsache angewandt werden. Bei den Antinomien besteht hingegen ein „unmittelbarer Widerstreit von Gesetzes“ (in Antinomia autem ipsarum immediate legum pugna est).527 Daraus folgt, dass die Antinomien einen echten Widerspruch zwischen Gesetzen ausmachen, der nicht wie bei den verwickelten Fällen, denen Leibniz sich widmet, auf eine unberechtigte Nutzung oder auf besondere Umstände zurückgeht. Wie in der vorherigen Schrift handelt es sich um einen scheinbaren Widerstreit zwischen dispositiones perplexae und concursus perplexi,528 zu dessen Beilegung er einige Regeln aufstellt. Er lehnt die Berufung auf das non liquet, die Entscheidung durch das Los und die Entscheidung nach dem freien oder geregelten Ermessen des Richters, ab und besteht darauf, dass für jeden Rechtsfall nur eine einzige Lösung vorhanden ist, nämlich die des Gesetzes. Das Problem bestehe darin, das positive Gesetz richtig auszulegen, das auf der Grundlage der „bürgerlichen Vernunft“ (civili ratione) dem natürlichen Gesetz durch eine Ausnahme bzw. Einschränkung Grenzen setzt.529 Jeder ver525

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Die Zitation von Leibniz’ Schriften und Fragmenten erfolgt nach der Akademie-Ausgabe. Leibniz, G. W. Sämtliche Schriften und Briefe. Hrsg. von der Deutschen Akademie der Wissenschaften, Berlin & Darmstadt, 1923. „[D]e mème qu’il y a une Logique théologique, une Logique médicale, une Logique mathématique (c’est-à-dire l’Algèbre), il y a une Logique juridique, de sorte que la Jurisprudence est une véritable dialectique du droit“. Couturat, L. La Logique de Leibniz. D’après des documents inédits. Paris, 1969, S. 120. „Casum igitur (propriè) PERPLEXUM definio (eum, qui realiter in jure dubius est ob) copulationem contingentem plurium in facto eum effectum juris habentium, qui nunc mutuo concursu impeditur. In Antinomia autem ipsarum immediatè legum pugna est, quanquam et perplexitas Antinomia quaedam indirecta dici potest“ (A VI 1 238). Dispositio ist die rechtlich geltende Tat des Willens einer der beteiligten Parteien, wodurch sie ihre Interessen zum Ausdruck bringt, und concursus ist der Widerstreit zwischen den gültigen Ansprüchen der Streitparteien. Leibniz sieht drei mögliche Ursachen für die Entstehung eines Widerstreits von Gesetzen: a) wenn ein natürliches und ein positives Gesetz kollidieren; b) wenn die Auslegung des positiven Gesetzes nicht klar und deutlich ist und somit die regulae interpretandi rationis naturalis herangezogen werden müssen; c) wenn die Gesetze beiden Streitparteien recht geben,

wickelte Fall könne jedoch durch das „bloße Natur- und Volksrecht“, durch das alles sicher ist, aufgelöst werden (Ita patet omnia ex mero jure naturae et gentium in effectu semper decidi, quibus nihil incertum esse) (A VI 1, 240). Von der Rechtskasuistik mit ihrer Auslegungskunst der Gesetze ist Leibniz allmählich zu einer vollständigen Reflexion des Rechtsphänomens fortgeschritten, sprich zu einer Rechtsphilosophie, die in seinem bekanntesten Werk über das Recht dargestellt wird, in der Nova Methodus Discendae Docendaeque Iurisprudentiae (Neue Methode, Jurisprudenz zu lernen und zu lehren). Diese 1767 veröffentlichte Schrift kann als eine die Reformbewegung der Rechtswissenschaft in den deutschsprachigen Territorien vorantreibende Kraft gelten.530 Leibniz schlägt darin eine Reform der Rechtwissenschaft in ihren theoretischen, praktischen und didaktischen Grundlagen vor: Dies bedeutet die Wiederbegründung des Corpus iuris civilis in systematischer Absicht.531 Die in der Nova methodus vorgestellte Reform hat als Bedingung sine qua non die Neuordnung des Rechtsstudiums und umfasst den Vorsatz, die riesige Anzahl von Gesetzen zu reduzieren.532 Das Ziel von Leibniz war es, alles darzulegen, was zur Verwirklichung der Idee eines „vollkommenen Rechtsgelehrten“ gehöre, wie es Cicero in De Oratore und Plato in Politeia getan hätten (A VI 1, 293). Die Bildung eines vollkommenen Rechtsgelehrten bestehe wie in der Theologie aus vier Teilen: a) dem didaktischen oder positiven Teil, der all das enthält, was in den schriftlichen, für wahr gehaltenen und zum „sicheren Recht“ (certi iuris) gehörenden Quellen ausdrücklich vorhanden ist; b) dem historischen Teil, der „den Ursprung, die Verfasser, die Veränderungen und Aufhebungen der Gesetze aufzählt“; c) dem exegetischen Teil, der die als echt geltenden Schriften, (libros authenticos), auslegt; und endlich d) dem polemischen Teil, der die unentschiedenen Fälle durch Vernunftgründe oder gemäß ihrer Ähnlichkeit festlegt (A VI 1, 293).533 Im didaktischen Teil, der die Definitionen und Vorschriften in „allgemeinen Tafeln“, sprich die systematische Bestimmung des Gegenstands des Rechts behandelt, hebt Leibniz die Fehler und Mängel der justinianischen Methode und die Nützlichkeit der von ihm vorgeschlagenen neuen Methode hervor. Er kritisiert z. B. an dem Corpus iuris civilis die dreifache Einteilung des Rechts in Person, Dinge und Handlung, wobei er behauptet, dass sich Letztere unter Erstere subsumieren lässt. Leibniz wirft der justinianischen Methode zudem vor, dass sie sich vornehmlich mit Tatsachen, nicht mit Rechten befasse (Gegensatz zwi-

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sodass man den Fall gegen diejenige Partei entscheiden muss, die nicht beweisen kann, dass das positive Gesetz, worauf sie ihren Anspruch gründet, wirklich erlassen worden ist. „Dal Leibniz si inizia il moto di rinnovamento degli studi giuridici in Germania e tale rinnovamento egli promosse sotto il duplice aspetto del metodo e dei principii“. Solari, G. Studi storici di filosofia del diritto. Torino: Giappichelli, 1949, S. 181. Vgl. auch Solari, G. L’idea individuale e l’idea sociale nel diritto privato. Parte I. L’idea individuale. Milano, Torino & Roma: Fratelli Bocca Editori, 1911, S. 65ff., insb. S. 64. Aufschlussreich ist, dass C. Wolff die Vorrede der im Jahr 1748 erschienen Ausgabe der Nova methodus schrieb. Vgl. Schneider, H.-P. Justitia Universalis, a. a. O.; Couturat, L. La Logique de Leibniz, a. a. O., S. 121ff. Busche, H. „Einleitung des Übersetzers“, a. a. O., S. xxxvii. Zu den vier Teilen, aus denen die Jurisprudenz besteht, vgl. Schneider, H.-P. Justitia Universalis, a. a. O., S. 48–50.

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schen factum und iuris)534 (A VI 1, 295–299). Ferner kritisiert er sie, weil dadurch, dass sie sich nur auf die Darstellung der facta beschränke, keine erschöpfende Einteilung von Personen und Dingen zustande gekommen sei. Die Neuordnung des Corpus iuris civilis sieht er daher als eine Voraussetzung für das Gelingen der Reform der Rechtswissenschaft an. Man erlange dadurch eine neue Methode zur Beilegung von Konflikten zwischen Rechtsbestimmungen, die „vollständig, kurz und wohlgeordnet“ (plene, breviter, ordinate) sei. „So werden die umständliche Wiederholung, die Dunkelheit und die Widersprüchlichkeit verschwinden“ (ita aberit repetitio, obscuritas, contradiction) (A VI 1, 307). Die letzten zwei Teile des Werks, der exegetische und der polemische, sind im eigentlichen Sinn die Bestandteile der Rechtswissenschaft, während die ersten, der didaktische und der historische, ihre bloßen Vorbedingungen sind – diese sind theoretisch, jene praktisch. Wie bei Grotius und Pufendorf gehört die Erläuterung der Antinomien zum exegetischen Teil, der die Auslegung des Gesetzes betrifft, allerdings mit dem Unterschied, dass die Auflösungsmethode vornehmlich zur Logik, nicht zur Rhetorik gehört. Die jurisprudentia exegetica beschäftigt sich mit Auslegung der Rechts- und Gesetzesbücher und soll mithilfe der traditionellen Methoden (Grammatica, Rhetorica, Historica, Ethico-Politica, Logico-Metaphysica) die mutmaßliche Ansicht des Gesetzgebers (quis de facto sensus fuerit sensus legislatoris) ermitteln.535 Besteht der Streit über die Anwendung oder gar die Gültigkeit eines bestimmten Gesetzes weiterhin, ist es die Aufgabe des polemischen Teils, ihn durch deutliche und unumstrittene Kriterien beizulegen.536 Dass es Antinomien im Recht gibt (in Jure Antinomiae), sei eine vexantissima quaestio, mit der sich der Rechtsgelehrte auseinandersetzen solle (A VI 1, 328). Anders als Grotius und Pufendorf behandelt Leibniz im Kapitel über jurisprudentia exegetica die Kunst, Antinomien aufzulösen, nicht als eine zur Rhetorik oder

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Leibniz zufolge wurde in allen bisherigen Versuchen die Rechtswissenschaft zu systematisieren der gleiche Fehler wiederholt, nämlich „Tatsache und Recht zu vermischen“, (factum iuri miscuit), wie z. B. bei Althusius: „Denn gleich die erste Begriffseinteilung bei Althusius besagt, die Jurisprudenz untergliedere sich in einen Teil, der die Tatsächliche, und einen anderen Teil, der die Rechtmäßigkeit behandelt (Jurisprudentiam esse duplicem, aliam de Facto, aliam de Jure). Als ob es aber die Aufgabe der Jurisprudenz sei, Tatsachen zu behandeln! Oder als ob es eine Abteilung der Jurisprudenz gäbe, die nicht vom Recht handelte!“ (A VI 1, 300). Schneider, H.-P. Justitia Universalis, a. a. O., S. 49. Im polemischen Teil wird Leibniz’ bekannte „Drei-Stufen-Lehre“ des Naturrechts dargestellt: 1) das strenge Recht (jus strictum) oder Eigentumsrecht (jus proprietatis) als Tauschgerechtigkeit bzw. justitia commutativa, das im Privatrecht positiviert und in der Ulpian-Formel neminem laedere zusammengefasst wird; 2) die Billigkeit (aequitas) oder das Gesellschaftsrecht (jus societatis) als Zuteilungsgerechtigkeit oder justitia distributiva, die im öffentlichen Recht positiviert und in der Ulpian-Formel suum cuique tribuere zusammengefasst wird; 3) die Pietät (pietas) oder das innere Recht (jus internum) als universale Gerechtigkeit oder iustitia universalis, die nicht positiviert werden kann und in der Ulpian-Formel honeste vivere zusammengefasst wird. Vgl. u. a. Busche, H. „Einleitung des Übersetzers“, a. a. O., S. lxix–xcv. Diese „Stufen-Lehre“ von Prinzipien und Normen soll dazu dienen, Konflikte aufzulösen, die nach dem exegetischen Teil der gerichtlichen Tätigkeit weiter bestehen. Es kann auf diesen Kernpunkt von Leibniz’ Naturrecht hier jedoch nicht weiter eingegangen werden.

zu den Kategorien der Statuslehre gehörende Kunst, sondern vielmehr als eine Aufgabe der juristischen Logik. „Zu dieser Logik“, so Leibniz, „gehört die Beilegung der Antinomien“ (ad hanc Logicam Iudicam pertinet & Conciliatio Antinomiarum) (A VI 1, 328). Leibniz bezieht sich nicht ohne Grund auf Aristoteles und nicht auf Cicero, wenn er die ars solvendi antinomiae beschreibt: Ars Solvendi Antinomias consistit in eo, ut tueamur aliud subjectum vel praedicatum esse in hac aliud in illa Lege vel propositione, vel utrumque esse idem. Quibus autem modis probari Aristoteles diversitatem & identitatem posse ostendit, tot modis solvi possunt Antinomiae. Quo nos in peculiari Commentario de Arte solvendi Antinomias plenius ostendemus (A VI 1, 329).

Leider wurde die von Leibniz versprochene Schrift nie verfasst. Die Nova methodus selbst gibt aber einige weitere Hinweise darauf, wie diese Ars Solvendi Antinomiae zu verstehen ist. Sie sollte nicht nur „logische Fehler in den Gesetzen“ und „petitiones principii“ aufdecken und beheben, sondern auch „ad hanc Logicam Juris pertinent Jurisconsultorum rationes definendi, dividendi, casus formandi per arte combinatoriam“ (A VI 1, 328). Weitere Schriften und Fragmenten der Zeit belegen tatsächlich, wie sich für Leibniz die Rechtswissenschaft einen privilegierten Bereich der Anwendung der ars combinatoria so schuf, dass sich alle strittigen Fälle nach Gattungen und Arten und mithilfe logischer Hilfsmittel zuordnen und auflösen ließen. Zum Zweck der Vollständigkeit und Genauigkeit sei der mos geometricus von Euklid wegen der Affinität zwischen dem juristischen und dem geometrischen Gegenstand hinzuzufügen.537 Die durch die geometrische Methode und die ars combinatoria ermöglichte Deutlichkeit steht in Einklang mit dem Anspruch auf Widerspruchlosigkeit und Abwesenheit von Lücken, der Leibniz’ systematischem Ansatz eigen war. In einer unveröffentlichten Schrift, De legum interpretatione, rationibus, applicatione, systemate, die zwischen 1677 und 1679 geschrieben wurde, weist Leibniz auf den Systematisierungsbedarf aller Gesetze hin, damit keine Kollision bzw. Lücke zwischen Gesetzen entstehe – so weit würden alle Zweifel entfernt. Obwohl eine harmonische und wohlgeordnete Rechtsordnung noch nicht vorhanden sei, äußert er die Hoffnung, dass ein echtes Rechtssystems zu erreichen sei: Materiam Systematis faciunt Leges ipsae; in quibus illud observandum est, quod in lapidibus ex quibus molimur aedificium, debent enim ita esse secti ut inter se commode firmiterque conjungi possint, deinde, ut nullus sit locus vacuus, ita in legibus coordinandia requiritur, tum ut ne pugnent inter se, tum et nullum negotium dubium relinquant. Tale Systema Legum hactenus quidem non extat, quin tamen confici possit, ego dubitare non possum. Sed vulgus in contrarium abit, credunt enim infinita esse negotia, quae complecti omnia sit supra humanas vires; quod ita esset fateor, si propositum nobis esset 537

„Iurisprudentia enim cum in aliis geometriae similis est, tum in hoc quod utraque habet Elementa, utraque casus. Elementa sunt simplicia, in geometria figurae: triangulus, circulus etc. in Iurisprudentia: actus, promissum, alienatio etc. Casus: complexiones horum, qui utrobique variabiles sunt infinities. Elementa Geometriae composuit Euclides, Elementa juris in ejus Corpore continentur, utrobique tamen admiscentur Casus insigniores“. De arte combinatoria (A VI 1, 189).

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enumerare omnes casus; sed qui universalia novit, is facile innumerabilem rerum copiam in classes dividere potest, ita ut nihil effugere possit (IV, 4C, 2791, Hervorh. d. Verf.).538

Der Ansatz, Jurisprudenz und Geometrie zu verbinden, war zwar nicht beispiellos,539 das Anliegen Leibniz’, die ars combinatoria auf die gesamte Rechtswissenschaft (das Corpus iuris civilis einbegriffen) anzuwenden, war jedoch neu. Die ars combinatoria sollte aus einer begrenzen Anzahl von Elementen zur Berechnung aller Rechtsfälle dienen, um die Unsicherheit der Gesetzgebung zu beseitigen und das richterliche Ermessen, das noch in der frühneuzeitlichen Rechtstradition als eine mit der aequitas540 verbundene gültige und authentische Rechtsquelle angesehen wurde, außer Kraft zu setzen.541 Die Auffassung, dass dem Naturrecht diejenige Deutlichkeit zukommt, die in der Mathematik zu finden ist und die daher größer ist als die der anderen moralischen Urteile, prägte die Rechtsphilosophie der Neuzeit542 bis hin zu Kant543. Schließlich ist eine kleine Schrift von C. Wolff zu erwähnen, De differentia intellectus systematici & non systematici, die er im Jahr 1729 verfasste. Wolff, der später die Vorrede der 1748 erschienenen Ausgabe der Nova methodus schrieb,544 spricht hier über die rechtlichen Antinomien im Zusammenhang mit der Idee und Notwendigkeit eines Systems in der Rechtwissenschaft. So wie ein System von Wahrheiten keinen Widerspruch zulasse, so gestatte ein System von Gesetzen keine Antinomie. Die systematische Form sei ein Garant gegen Fehler und Widersprüche in der Rechtswissenschaft und insofern ein Desiderat des Rechtswissenschaftlers: So wie aber in jeder Gattung von Wahrheiten Widersprüche am einfachsten vermieden werden, wenn man die Wahrheiten in ein System 538

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Es liegt eine englische Übersetzung dieses Fragments vor: Leibniz, G. W. The Art of Controversies, a. a. O. „[There should be a system of laws such that] the laws neither conflict with each other nor leave any margin of doubt regarding any case is so far available, but in my opinion there is no doubt that it can be achieved. People tend to think otherwise, for they believe that there are infinite cases, so that to enumerate all of them is beyond human power. This would be the case if our aim were to enumerate all cases; but he who knows the universals [universalia] can easily range acountless quantity of things in classes, so that nothing remains outside“. Röd, W. Geometrischer Geist und Naturrecht: methodengeschichtliche Untersuchungen zur Staatsphilosophie im 17. und 18. Jahrhundert. München: Verlag der Bayerischen Akademie der Wissenschaft, 1970. Vgl. z. B. Pufendorf. De jure naturae et gentium libri octo, V, 12, § 21. Vgl. Schröder, J. Recht als Wissenschaft, a. a. O., S. 15ff. Die zwischen 1669 und 1671 verfassten Entwürfe zu den „Elemente des Naturrechts“ verdeutlichen diese Absicht von Leibniz. Vgl. Grua, G. La Justice Humaine selon Leibniz, a. a. O., S. 246ff. Schneider, H.-P. Justitia Universalis, a. a. O., S. 359ff. Es liegt eine deutsche Übersetzung eines großen Teils dieser Entwürfe vor: Leibniz, G. W. Frühe Schriften zum Naturrecht, a. a. O., S. 90–319. Vgl. Schröder, J. Recht als Wissenschaft, a. a. O., S. 177ff. Vgl. z. B. Rx 6672, AA 19: 129–130 (1769–1770?) (1764–1768?). „Die Urtheile über Recht und Schuldigkeit betrachten die Regeln der voluntatis purae, sind also die leichtesten; die der Gültigkeit gehen auf Neigungen, Verhältnisse des Wohlbefindens und sind schwer. Schlecht und recht ist die praecisio iustitiae“. Vgl. Schneider, H.-P. Justitia Universalis, a. a. O., S. 10.

bringt, so werden in der Rechtswissenschaft Antinomien – falls sie erzeugt worden sind – unschwer entdeckt und beim Abfassen eines Gesetzbuches vermieden, wenn die Gesetze ein System ergeben.545

Wolff hält es wie Leibniz für möglich, die Pandekten in eine systematische Ordnung zu bringen. Aber dasselbe gilt für „jegliches Recht, an welchem Ort und zu welcher Zeit auch immer es abgefaßt wird“. Die systematischen Rechtsordnungen seien dann mit einem Körper zu vergleichen: Wenn das Recht in ein System gebracht worden ist, das diesen Namen verdient, dann darf es wahrlich ein Korpus genannt werden, da der tierische Körper ein System darstellt, in dem die Organe und ihre Teile nach demselben Gesetz angeordnet sind, durch das die Wahrheiten in einem System angeordnet werden müssen.546

Wie erwartet hatte der Systematiker par excellence547 etwas über die Abschaffung von Antinomien zu sagen. 4.3

Der spätaufklärerische Drang nach Systematisierung und Vereinfachung der Gesetzgebung und nach Abschaffung der entgegengesetzten Gesetze

Es ist Leibniz, der den entscheidenden Anstoß zur Konsolidierung des sich in den Rechtssystematisierungen der Zeit spiegelnden Anspruchs gab, alle Rechtsfälle zu entscheiden und alle Kollisionen zwischen Normen aufzulösen, die sich in einer normativen Instanz vorstellen ließen. Für das Zeitalter der Aufklärung verband sich die Systematisierung und logische Konsistenz des Rechts mit einem neuen Ansatz zur Gesetzgebung und Rechtsvereinheitlichung. Die Rechtsphilosophie der Aufklärung bietet zahlreiche Beispiele eines „Antriebes für die Gesetzgebung“ oder eines „Drangs zur Kodifikation“. Es handelte sich sicherlich nicht um Einzelgesetzgebungen, sondern um eine Wissenschaft der Gesetzgebung bzw. Nomothetik, die das vielfach zersplitterte und unübersichtlich gewordene Recht simplifizieren und vereinheitlichen konnte, sprich um eine Kodifizierung548 der in vielen Territorien und Gerichtsbarkeiten verstreuten und manchmal untereinander widersprüchlichen Gesetze.549 Es gab z. B. in Preußen im 18. Jahrhundert noch kein zentralisiertes, hierarchisches und wohlgeordnetes Gerichtssystem.550 Rechtsordnungen, die miteinander konkur545 546 547 548

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Wolff. C. De differentia intellectus systematici & non systematici. / Über den Unterschied zwischen dem systematischen und dem nicht-systematischen Verstand, a. a. O., S. 291. Ebd., S. 293. Albrecht, M. „Einleitung des Übersetzers“. Ebd., S. 235. „L’adozione di una nozione di ‘codice’ piuttosto lata serve appunto per considerare, nell’ambito di tutto il processo di codificazione, anche il processo di constituzionalizzazione che si traduce in documenti normativi coerenti e unitari“. Tarello, G. Storia della cultura giuridica moderna, a. a. O., S. 20 Conrad, H. „Einleitung“ zu Svares, C. G. Vorträge über Recht und Staat. Hrsg. von H. Conrad & G. Kleinheyer. Köln & Opladen: Westdeutscher Verlag, 1960, S. xi. Zum „Zeitalter der Kodifikationen“ insgesamt vgl. Tarello, G. Storia della cultura giuridica moderna, a. a. O. „There was a vague division between lower and higher courts, but there was no clear-cut relationships among the courts in either group, or between the groups. A host of different courts had survived from the Middle Ages and the Reformation, when the basic principles

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rierten und sich überschnitten, waren das Ergebnis dieser Vielfalt an Entscheidungsinstanzen und Gerichten unterschiedlicher Natur und Gerichtsbarkeiten. Es herrschte eine Fragmentierung oder ein juridischer Partikularismus,551 wobei nicht nur ein objektiver Kompetenzkonflikt zwischen Rechtsordnungen festzustellen war, sondern auch die Gefährdung individueller Rechte, die aus der subjektiven Unbestimmtheit der Gesetze hervorgingen, die das jeweilige individuelle Verhalten regeln sollten.552 Kant weist indirekt auf diesen Zusammenhang hin, wenn er sich am Anfang der transzendentalen Dialektik auf den „alten Wunsch“ bezieht, die Gesetzgebung zu simplifizieren und die „endlose Mannigfaltigkeit bürgerlicher Gesetze“ auf ein Prinzip zu bringen: Es ist ein alter Wunsch, der, wer weiß wie spät, vielleicht einmal in Erfüllung gehen wird: daß man doch einmal, statt der endlosen Mannigfaltigkeit bürgerlicher Gesetze, ihre Prinzipien aufsuchen möge; denn darin kann allein das Geheimnis bestehen, die Gesetzgebung, wie man sagt, zu simplifizieren. Aber die Gesetze sind hier auch nur Einschränkungen unsrer Freiheit auf Bedingungen, unter denen sie durchgängig mit sich selbst zusammenstimmt; mithin gehen sie auf etwas, was gänzlich unser eigen Werk ist, und wovon wir durch jene Begriffe selbst die Ursache sein können (A 301/B 358 Hervorh. d. Verf.).

Die Idee einer Vereinfachung der Gesetzgebung war in jener Epoche tatsächlich sehr verbreitet und stand in engem Zusammenhang mit der aufklärerischen Absicht, die die Regierungszeit Friedrichs I. (1740–1786) durchdrang und zugleich Einheit stiftete. Durch das Jahrzehnte dauernde Projekt der Kodifizierung wurde „der friderizianische Staat […] Gesetzgeber“.553 Der erste Entwurf eines neu-

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of their creation had been social status and territorial custom. To mention only a few, there were ecclesiastical courts (Consistorien), courts of knights and fees (Lehnsgerichte), manorial courts (Patrimonialgerichte), municipal courts (Stadtgerichte), royal courts (Hofgerichte), and provincial courts (Regierungen). On the highest level, there were, in addition to the judicial committee of the privy council, which sat as a court of appeals in certain cases, a number of superior courts of appeals. The two best-known were the Kammergericht, the Court of Appeals for the Mark and the oldest Prussian court of appeals, and the Tribunal, the Superior Court of Appeals for the Prussian territories outside the Mark, but there was also territorial courts of appeals which the ruler had to grant when these territories were acquired by Prussia, such as the Ravensberg Court of Appeals“. Weill, H. „Judicial Reform in Eighteenth Century Prussia. Samuel von Cocceji and the Unification of the Courts“. In: The American Journal of Legal History, Vol. 4, No. 3, 1960, S. 226. Vgl. G. Tarellos Erklärung des „rechtlichen Partikularismus“: „Per ‘particolarismo giuridico’ si indende la mancanza di unitarietà e di coerenza dell’insieme delle leggi vigenti in una data sfera spazio-temporale, individuata in seguito ad un giudizio di valore secondo il quale in quella stessa sfera vi ‘dovrebbe’ essere, o ‘ci si aspetterebbe’ vi fosse, unità e coerenza di leggi“. Tarello, G. Storia della cultura giuridica moderna, a. a. O., S. 28. „Tali inconvenienti […] si riassumevano nell’estrema incerteza dei diritti di ciascuno, causata sia dai frequenti dubbi soggettivi circa la legge regolatrice dei rapporti sia da oggettivi conflitti di competenza – positivi o negativi – tra sistemi di norme.“ Tarello, G. Storia della cultura giuridica moderna, a. a. O., S. 32f. „Der friderizianische Staat wird Gesetzgeber. Der Geist, der diesen Staat erfüllt, der in seinen Organen vom König bis zum letzten Beamten und Unteroffizier wirksam war, der in den Schriften Friedrichs, in Denkern wie Christian Wolff und Kant, in Juristen, Staats-

en preußischen Gesetzbuchs stammt von Samuel von Cocceji (1679–1755), der das sogenannte Projet des Corporis juris Friedericiani (1749–1751) durchgeführt. Das Projekt wurde aber trotz einiger Fortschritte bei der Verringerung der staatlichen Instanzen554 nicht weiter vorangetrieben.555 Die Arbeiten zur Kodifikation wurden in Preußen erst gegen Ende der Regierungszeit Friedrichs II. wieder aufgenommen, nun mit dem zweifachen Ziel, die damalige Gesetzgebung zu simplifizieren und zu unifizieren: Die Kabinettsorder vom 14. April 1780 […] ordnete die Ausarbeitung eines umfassenden Gesetzeswerks für die preußischen Staaten an. Das Anliegen des Königs war die Vereinfachung der Gesetze (Simplifizierung), so dass das Gesetz dem gemeinen Mann verständlich war und die juristischen Streitigkeiten und Spitzfindigkeiten ausgeschlossen wurden. Darüber hinaus sollte aber auch das Recht in den preußischen Staaten vereinheitlicht werden (Unifizierung), ohne dass dabei die Landes- und Provinzialgesetze ausgeschaltet werden sollten.556

Der Tod Friedrichs II. im Jahr 1786 unterbrach die Arbeit an der Kodifikation nicht. Am 20. März 1791 wurde das Gesetzwerk als Allgemeines Gesetzbuch für die Preußischen Staaten erlassen, und am 1. Juni 1792 erlangte es Gesetzeskraft. Nach

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rechtslehrern und politischen Schriftstellern einen freien literarischen Ausdruck fand, hat selber sein allgemeines und dauerndes Wesen im Landrecht ausgesprochen“. Dilthey, W. „Das allgemeine Landrecht“. In: Gesammelte Schriften. Bd. XII: Zur preußischen Geschichte. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 1985, S. 131. Zu Preußen vgl. Maximiliano Marcos. KrV como proceso civil, a. a. O., S. 526ff.; Tarello, G. Storia della cultura giuridica moderna, a. a. O. S. Cocceji senkte die Anzahl der obersten Gerichte in Ostpreußen von vierzehn auf vier: „When he arrived there, in April 1751, he found no less than fourteen higher courts in and around Königsberg, including the East Prussian Regierung and Tribunal, the Royal Court (Hofgericht), the Lithuanian Royal Court (Litthauisches Hofgericht), the General Consistory Court (Kirchencollegium), the Samlandian Consistory Court (Samländisches Consistorium), the Pomesanian Consistory Court (Pomesanisches Consistorium), the Court for Minors (Pupillencollegium), the Commission for Fiefs (Lehnscommission), the Commission for Land Disputes (Landrechtscommission), the Superior Burgrave Court (Ober-Burggräfliches Amt), the Royal Criminal Court (Hofhalsgericht), the Academic Senate for the University of Königsberg (Akademischer Senat), and the French Court (Französisches Gericht). Cocceji now proceeded to reduce this welter of jurisdictions to four courts. The Tribunal became the highest court in civil law, the Royal Court the second highest. The Regierung tried all cases in public law, the Royal Criminal Court all those in criminal law“. Weill, H. „Judicial Reform in Eighteenth Century Prussia“, a. a. O., S. 231. Zu dem Verhältnis zwischen Cocceji und Leibniz vgl. Dilthey: „So wollte sein Landrecht die ‚im römischen Recht versteckten principia iuris naturalis hervorsuchen‘ – hierin nahm er den tiefen Gedanken einer Analysis des römischen Rechtes von Leibniz auf, und aus den Prinzipien, dem Rechtsalphabet von Leibniz, wollte er das Universalsystem der Rechtsvernunft ableiten“. („Das allgemeine Landrecht“, a. a. O., S. 139). Das römische Recht und das Natur- und Volksrecht beruhen nach S. Cocceji auf den gleichen Grundsätzen. Vgl. Cocceji, S. Novum Systema Justitiae naturalis et romanae, I, § 2. Die Verwandtschaft zwischen Cocceji und Leibniz beruht ferner auf der Ablehnung von Grotius’ Auffassung, das Naturrecht wäre gültig, auch wenn Gott nicht existierte. Für Leibniz und Cocceji ist die einzige Quelle der Gültigkeit der Naturgesetze der Wille Gottes. Vgl. Trendelenburg, A. „Friedrich der Grosse und sein Grosskanzler Samuel von Cocceji. Beitrag zur Geschichte der ersten Justizreform und des Naturrechts“. In: Kleine Schriften. Bd. I. Leipzig: 1871. Conrad, H. „Einleitung“ zu Svarez, C. G. Vorträge über Recht und Staat, a. a. O., S. xii.

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einigen Verbesserungen und Korrekturen erhielt es seine endgültige Form und den Namen Allgemeines Landrecht für die preußischen Staaten. Am 1. Juni 1794 trat es in Kraft. Das preußische Gesetzbuch, dessen hauptsächlicher Autor Carl Gottlieb Svarez ist, verwirklicht „die Forderungen der Aufklärung nach Allgemeinverständlichkeit, Übersichtlichkeit und Volkstümlichkeit des Gesetzes, nach Zurückdrängung des römischen Rechtes und weitgehender Berücksichtigung des Naturrechtes und des einheimischen Rechtes“.557 Zusätzlich zu der Vereinfachung und Vereinheitlichung der Gerichte und Entscheidungsinstanzen wurde als Grundsatz festgelegt, dass bei der Gesetzgebung und in der Regierung weder Willkür noch Machtanspruch Geltung erlangen sollten, insofern jede Verfassungsänderung einer autonomen und unabhängigen Gesetzcommißion vorzulegen war.558 Zentraler Punkt des neuen preußischen Gesetzbuchs war die Simplifizierung der Gesetzgebung.559 Svarez stellt diese Absicht in dem Aufsatz „Inwiefern können und müssen Gesetze kurz sein?“ dar, der im Jahr 1788 in der Berliner Monatsschrift publiziert wurde. Er beginnt mit einer klaren Aussage über die Notwendigkeit einer Vereinfachung der Gesetze: „Gesetze müssen kurz sein. – Das ist einer der gewöhnlichsten Gemeinplätze in den Werken unsrer alten und neuen Schriftsteller über Staatswissenschaft und Gesetzgebung“.560 Es sei in der Tat ein „Übel“, dass man die Entscheidung über die Klarheit und Sicherheit der Gesetze dem Befinden des Richters anvertrauen müsse, denn alsdann wird der Richter zum Gesetzgeber; und nichts kann der bürgerlichen Freiheit gefährlicher sein, zumal wenn der Richter ein besoldeter Diener des Staats und das Richteramt lebenswierig […] ist“.561

Der Reform der Gesetzgebung liege eine „natürliche Logik“ in dem Sinne zugrunde, dass man nach der Angemessenheit der Gesetze streben und sich dabei am „richtigen gesunden Menschenverstande“ orientieren solle. Erforderlich seien eine geringere Anzahl an Ausnahmen, kurze und präzise Sätze und Vorschriften sowie eine „nach richtigen philosophischen Regeln sich bestimmende[…] Schlußfolge“. Somit werde „der Willkür des Richters so wenig, als es irgend möglich ist, Raum gelassen“.562 Friedrich II. selbst hatte Jahrzehnte zuvor den Bedarf nach einem zusammenhängenden Ganzen von Gesetzen zum Ausdruck gebracht. In einer im Jahr 1750 vor der preußischen Akademie der Wissenschaften gehaltenen Rede, die später als Dissertation sur les raisons d’établir ou d’abroger les loix veröffentlicht wurde, 557 558 559

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Ebd., S. xiv. Vgl. Allgemeines Landrecht für die preußischen Staaten, §§ 7ff. So groß war der Drang nach Popularität, dass Svarez im Jahr 1793 eine Schrift veröffentlichte, in der er die Kernelemente des Allgemeinen Landrechts für das Volk präsentierte: Unterricht über die Gesetze für die Einwohner der preußischen Staaten von zwei preußischen Rechtsgelehrten. Dabei folgte er dem Plan, „ein doppeltes Gesetzbuch […]: eines für den Richter und Rechtsgelehrten und das andre für das Volk überhaupt“, vorzulegen. Svarez, C. G. „Inwiefern können und müssen Gesetze kurz sein?“ In: Svarez, C. G. Vorträge über Recht und Staat, a. a. O., S. 629. Vgl. auch ebd., S. xviii. Svarez, C. G. „Inwiefern können und müssen Gesetze kurz sein?“, a. a. O., S. 627. Ebd., S. 628. Ebd., S. 629.

beschrieb er, wie dringend Preußen eine Gesetzesreform erwarte, die ihm jede „Chef-d’ouevre de l’Esprit humain“ gewähren könne, nämlich ein „corps de loix parfaites“. [Ce] feroit le Chef-d’oeuvre de l’Esprit humain, dans ce qui regarde la Politique du Gouvernement : on y remarqueroit une unité de dessin, & des régles si exactes & si proportionnées, qu’un Etat conduit par ces Loix ressembleroit à ne Montre, dont tous les ressorts ont été faits pour un même but.563

Bei diesen harmonischen und klaren Gesetzen untergeworfenem „Uhr“ oder bei diesem „Körper“, wovon bei Wolff einige Jahrzehnte zuvor die Rede war, sollte es natürlich keinen Raum für widersprüchliche Gesetze geben – sprich, jede Antinomie sollte als Zeichen einer Abweichung von der Absicht des Gesetzgebers aufgehoben werden: Lorsque dans un État les Loix ne sont pas rassemblées en un seul Corps, il faut qu’il y en ait qui se contredisent entre elles : comme elles sont l’ouvrage de différens Legislateurs, qui n’ont pas travaillé sur le même Plan, elles manqueront de cette unité si essentielle & si nécessaire à toutes les choses importantes.564

Daher stand die Notwendigkeit einer Vereinfachung und Rationalisierung der Gesetzgebung nicht nur in der theoretischen, sondern auch in der praktischen Diskussion auf der Tagesordnung. Die Idee, widersprüchliche Gesetze aufzuheben und der Gesetzgebung Einheit und Zusammenhalt zu geben, war maßgebend, als Kant seine Kritik der reinen Vernunft als Gerichtshof anlegte. Es wäre also nicht übertrieben zu behaupten, dass die kantische Idee einer Antinomie der Vernunft weitgehend der hier in ihren großen Linien dargestellten Diskussion geschuldet ist. 4.4

Kant und die juristischen Antinomien

Ungeachtet der langen und bedeutenden Geschichte der Antinomien ist zu vermuten, dass die unmittelbaren und wahrscheinlicheren Quellen des kantischen Antinomiebegriffs bei Baumgarten und Achenwall zu finden sind. Achenwall erörtert beiläufig die Antinomie in dem Kapitel über die Verbindlichkeit in seinen Prolegomena zum Jus Naturae. Ein Widerstreit von Gesetzen (legum collisio, antinomia, legum pugna, conflictus) trete genau dann auf, wenn man zwei oder mehreren Gesetzen oder Verbindlichkeiten Genüge tun muss. In diesen Fällen sei zwangsläufig eine Ausnahme zuzulassen, wobei das „schwächere Gesetz“ dem „stärkeren“ weiche.565 Eine ausführlichere Behandlung des Themas ist bei Baumgarten zu finden. Er definiert die Antinomie in den Initia philosophiae practicae primae als „Widerstand von entgegengesetzten moralischen Gesetzen“ und unterscheidet zwischen wahren und scheinbaren Antinomien. Die ersten sind 563 564 565

Friedrich II. Dissertation sur les raisons d’établir ou d’abroger les loix. Frankfurt & Leipzig: 1752, S. 29. Ebd., S. 42. „Consequens es, ut in collisione legum et obligationum vincat fortior, et ipsi cedat debilior lex et obligatio“. Achenwall, G. Prolegomena Ius Naturae, a. a. O., § 25.

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diejenigen, die denselben Aspekt von genau demselben Sachverhalt bejahen bzw. verneinen, die zweiten bejahen bzw. verneinen entgegen dem Anschein verschiedene Sachverhalte oder unterschiedliche Aspekte. Demnach gibt es keine Antinomie, wenn die Gesetze nicht über dasselbe Thema sprechen, wenn sie von verschiedenen moralischen bzw. normativen Aspekten eines bestimmten Themas handeln und wenn sie verschiedene deontologische Gehalte (das heißt bejahend, verneinend, präskriptiv, prohibitiv) besitzen.566 Die Notwendigkeit, die Antinomien durch den Nachweis ihres scheinbaren Charakters aufzuheben, gründet auf dem Erfordernis, dass das Naturrecht late dictum, nämlich die praktische Philosophie,567 completissimum, das heißt vollendet, lückenlos und widerspruchsfrei sei.568 Man verspürt in allen diesen Diskussionen deutliche Anklänge an die Antinomienlehre Kants. Es ist unentbehrlich für Kant zu beweisen, dass der Widerspruch der Vernunft ein nur scheinbarer ist. Er muss zeigen, dass die Antinomie der reinen Vernunft, obwohl sie auf einem natürlichen und unvermeidlichen, genauer transzendentalen Schein beruht, aufgehoben werden kann, indem man Erscheinung und Ding an sich als zwei verschiedene Anwendungsbereiche der einander widersprechenden oder miteinander kollidierenden Gesetze unterscheidet und demzufolge den Widerstreit als scheinbar entlarvt (A 490–507/ B 518–535). Die Auflösung der Antinomie setzt folglich die Entdeckung des Scheins voraus. Da er completissimum und widerspruchlos sein muss, lässt der Gerichtshof der Vernunft bzw. die Gesetzgebung der Vernunft keine Antinomie, sprich keinen Widerspruch zu: Es ist etwas Bekümmerndes und Niederschlagendes, daß es überhaupt eine Antithetik der reinen Vernunft geben, und diese, die doch den obersten Gerichtshof über alle Streitigkeiten vorstellt, mit sich selbst in Streit gerathen soll. Zwar hatten wir oben eine solche scheinbare Antithetik derselben vor uns; aber es zeigte sich, daß sie auf einem Missverstande beruhte, da man nämlich, dem gemeinen Vorurtheile gemäß Erscheinungen für Sachen an sich selbst nahm […]. Es war also damals kein wirklicher Widerspruch der Vernunft mit ihr selbst (A 740/B 768).

Es ist zu vermuten, dass der Begriff von der Vernunft als Vermögen der Prinzipien aus diesem juristischen Zusammenhang stammt. Im Antinomie-Kapitel 566

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Baumgarten. Initia philosophiae practicae primae, a. a. O., § 85: „Leges morales oppositae colliduntur, M. §. 97, earumque collisio est ANTINOMIA. Cumque contradictio vel sit vera, vel apparens, M. §. 12, antinomiae erunt vel verae, vel apparentes. Ad contradictionem veram requiritur accurate eiusdem de accurate eodem affirmatio et negatio, M. §. 7, 12. Inter leges ergo, 1) quae non de eodem accurate subiecto loquuntur, 2) quae non eandem accurate determinationem moralem de subiecto suo enuntiant, et quae 3) altera affirmative, altera negative, ita, ut una sit praeceptiva, altera prohibitiva, §. 68, non est vera antinomia“. Vgl. dazu Scattola, M. „Die Naturrechtslehre Alexander Gottlieb Baumgartens und das Problem des Prinzips“, a. a. O., bes. S. 240–245. Baumgarten. Initia philosophiae practicae primae, a. a. O., § 98. „Jus completum dicitur, quod ad omnes controversias circa moralitatem factorum (vel simpliciter omnium, vel certi generis) decidendas sufficit. Licet ergo ius naturae late dictum, s. philosophia practica, quia sufficit ad omnes controversias circa factorum quorumcumque moralitatem decidendas, §. 70, 82, completissimum ius dici possit“.

zeigt sich, dass Kant die Vernunft als fähig ansieht, alle Aufgaben und Fragen, die ihr vorgestellt werden können, aufzulösen (gl. A 477/B 505). In der Kritik der praktischen Vernunft wird dies noch deutlicher: Das, was zur Möglichkeit eines Vernunftgebrauchs überhaupt erforderlich ist, nämlich daß die Prinzipien und Behauptungen derselben einander nicht widersprechen müssen, macht keinen Teil ihres Interesses aus, sondern ist die Bedingung, überhaupt Vernunft zu haben (KpV AA 05: 120, Hervorh. d. Verf.).

Die Idee eines vor dem Gerichtshof der KrV geführten Prozesses und die der Philosophie als Gesetzgebung der menschlichen Vernunft sowie die des Philosophen als ihr Gesetzgeber setzen einen Begriff von Vernunft als ein zusammenhängendes Ganzes voraus, das keinen inneren Widerspruch hat. Daraus ist zu ersehen, inwiefern das Recht, die Jurisprudenz und der Antinomiebegriff Kants Vernunftbegriff beeinflusst haben. Den systematischen Beleg dieser Behauptung liefert der dritte Teil der vorliegenden Arbeit, während der genealogische im zweiten Teil thematisiert wird.

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TEIL II DIE ENTSTEHUNGSGESCHICHTE DER JURIDISCHEN METAPHORIK DER KRITIK DER REINEN VERNUNFT Zum Problem einer Entstehungsgeschichte der kritischen Philosophie Jede Entwicklungsgeschichte der kantischen Philosophie leidet an einer grundsätzlichen Willkürlichkeit bzw. Beliebigkeit. Die Entstehung und Konsolidierung der KrV im Hinblick auf ein Thema (Antinomie 569, Raumproblem570, Deduktion oder transzendentale Synthese571, Kausalität572 usw.) oder auf den Einfluss eines Autors (Hume573, Rousseau574, die „Schotten“575) zu deuten, bedeutet zwangsläufig eine große Menge weiterer Themen und Autoren zu übersehen, die auf die eine oder andere Weise Einfluss auf weitere Lehrstücke der kritischen Philosophie gehabt haben. Abgesehen von der entscheidenden Schwierigkeit, den Nachlass und insbesondere die Reflexionen genau zu datieren,576 muss man Kants verschiedene und nicht selten widersprüchliche autobiographische Äußerungen bzw. „Selbstzeugnisse“ miteinander in Einklang bringen, Um- und Durchbrüche erklären und nicht zuletzt die die eigene Deutung des Kantforschers irritierenden Elemente in geeigneter Form berücksichtigen. Die Schwierigkeiten lassen sich nicht dadurch umgehen, dass einfach ein „philosophischer“ oder „kritischer Grundantrieb“ Kants postuliert wird. Bei näherem Hinsehen gelangt man zu der Einsicht, dass alle und jede Interpretation unter einer gewissen Einseitigkeit und sogar Willkürlichkeit leidet, insofern sie ihren Gegenstand isoliert und andere, gegenläufige Ansätze grundsätzlich ausklammert. Die Frage in diesem Zusammenhang lautet, wie man mit der vorgefundenen Willkürlichkeit umgehen und sie in Grenzen halten kann. K. Fischer war derjenige, der den Grundstein für die im Neukantianismus populäre und jüngst wieder auflebende entwicklungsgeschichtliche Untersu569

570 571 572 573 574 575 576

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Wie z. B. Erdmann, B. „Die Entwicklungsperioden von Kants theoretischer Philosophie“. In: Reflexionen Kants zur kritischen Philosophie. Aus Kants handschriftlichen Aufzeichnungen. Hrsg. von Benno Erdmann. Neudr. der Ausg. Leipzig 1882/1884. Neu hrsg. und mit einer Einl. vers. von Norbert Hinske. Stuttgart-Bad Cannstatt: Frommann-Holzboog, 1992. Dazu bes. Fischer, F. Geschichte der neuern Philosophie, Bd. III, a. a. O. So z. B. Vleeschauwer, H. J. La Déduction Transcendentale dans l’Oeuvre de Kant, a. a. O. So z. B. Paulsen, F. Versuch einer Entwicklungsgeschichte der Kantischen Erkenntnistheorie. Leipzig, 1875. So z. B. ebd. u. a. Velkley, R. Freedom and the End of Reason. On the moral foundations of Kant’s critical philosophy. Chicago & London: The University of Chicago Press, 1989. Kuehn, M. Scottish Common Sense in Germany. 1768–1800. A contribution to the history of critical philosophy. Kingston [u. a.]: McGill Queens University Press, 1987. Vgl. oben Einleitung.

chung über die kantische Philosophie legte.577 Im Clavis Kantiana (1858) betrachtet er den Werdegang Kants als den Schlüssel zum Verständnis seiner kritischen Philosophie und deutet die vorkritischen Schriften als eine „kontinuierliche Annäherung an die Kritische Philosophie“578. Für ihn, der an dem Problem des Raumes und der Mathematik den Leitfaden der philosophischen Entwicklung Kants erkennt, gibt es eine strikte Entsprechung bzw. Widerspiegelung zwischen dem entwicklungsgeschichtlichen und dem systematischen Aspekt. Daraus folge, dass die Entwicklungsgeschichte der KrV ihre Schritte in derselben Reihenfolge wie die Teile der KrV vollzogen habe, nämlich 1) Ästhetik, 2) Analytik und 3) Dialektik.579 An diesen entwicklungsgeschichtlichen Ansatz Fischers haben sich u. a. Paulsen580, Riehl581 und Erdmann582 angelehnt. Erdmann hat jedoch anhand des bisher nicht verfügbaren Nachlasses das Widerspiegelungsprinzip Fischers umgekehrt und anstelle dessen die These aufgestellt, die Themen und Fragestellungen der Dialektik, vor allem der Antinomie, hätten den Vorzug im Werdegang der kritischen Philosophie: Die „Entdeckung“ der Antinomie der reinen Vernunft habe zu der Lehre der Idealität von Raum und Zeit (Ästhetik) und dann zu der transzendentalen Deduktion (Analytik) geführt.583 B. Erdmann hat damit gemäß vielen Interpreten „ein und für allemal bewiesen“584 oder wenigstens „very conclusively shown“ 585, dass die Antinomie der reinen Vernunft das auflösende Motiv bzw. der systeminitiierende Impuls der Transzendentalphilosophie Kants war.586 Ein großer Teil der Kant-Forschung hat die entwicklungsgeschichtliche These Erdmanns als eine communis opinio587 577

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Zu einer Entwicklungsgeschichte der Interpretationen zur kritischen Philosophie Kants vgl. Campo, M. La Genesi del Criticismo Kantiano, a. a. O., S. xxii ff.; Kreimendahl, L. Kant – Der Durchbruch von 1769, a. a. O. Fischer, K. „Clavis Kantiana“. Übers. und eingel. von A. Schmid. In: Busche, H. (Hrsg.). Kant als Bezugspunkt philosophischen Denkens: Festschrift für Peter Baumanns zum 75. Geburtstag. Würzburg: Königshausen & Neumann, 2010, S. 217. „In der transzendentalen Ästhetik ist also die Kantische oder Kritische Philosophie niedergelegt (posita)“ (ebd., S. 217). „Die transcendentale Lehre von Raum und Zeit ist Kants epochemachende Entdeckung, die eigentliche Grundlage und der Maßtab der kritischen Philosophie“ (Fischer, K. Kants Leben und die Grundlagen seiner Lehre. Mannheim: Bassermann, 1860, S. vi–vii). Fischer betrachtet aber die Unterscheidung von Verstand und Sinnlichkeit als grundlegender als den Transzendentalen Idealismus: „So sind Verstand und Sinnlichkeit (mens et sensus) von Grund auf verschiedene Fähigkeiten des Erkennens“ (Fischer, K. „Clavis Kantiana“, a. a. O., S. 219); diese Unterscheidung hat für Fischer in Über die falsche Spitzfindigkeit stattgefunden (ebd., S. 225–227). Paulsen, F. Versuch einer Entwicklungsgeschichte der Kantischen Erkenntnistheorie. 1875. Riehl, A. Geschichte und Methode des philosophischen Kritizismus. 1876. Erdmann, B. Kants Criticismus in der ersten und zweiten Auflage der KrV. Leipzig, 1878; Erdmann, B. „Die Entwicklungsperioden von Kants theoretischer Philosophie“, a. a. O. Indem Erdmann die Bedeutung der Antinomie für das „Erwachen“ Kants betont, richtet er sich explizit gegen Paulsen und Vaihinger, die Hume respektive Leibniz (von den Nouveaux Essays) als entscheidende Impulsgeber ansehen. Vgl. Erdmann, B. „Die Entwicklungsperioden von Kants theoretischer Philosophie“, a. a. O., S. xxiii–xxiv. Vaihinger, H. Kommentar zu Kants Kritik der reinen Vernunft, a. a. O., S. 436. Kemp Smith, N. A Commentary to Kant’s Critique of Pure Reason. 2. ed., rev. and enl., reprinted. Atlantic Highlands, NJ: Humanities Press, 1993, S. 431–432. Erdmann, B. „Die Entwicklungsperioden von Kant theoretischer Philosophie“, a. a. O., S. xxiv ff. Kreimendahl, L. Kant - Der Durchbruch von 1769. a. a. O., S. 69.

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aufgenommen und versucht, sich dieser als „gesichert geltenden historischen Einsicht“588 anzuschließen und mithilfe der vorkritischen Schriften und des Nachlasses den Grund und den genauen Zeitpunkt der Entdeckung der Antinomie und ihrer entwicklungsgeschichtlichen Bedeutung zu eruieren.589 In diesem Zusammenhang sind zwei Forschungsrichtungen zu erkennen. Die Entdeckung der eigentlichen Antinomie der reinen Vernunft ist der einen zufolge vor (besonders durch das „große Licht“ von 1769),590 gemäß der anderen jedoch nach der Inaugural-Dissertation von 1770 (in Verbindung mit der Fragestellung der transzendentalen Deduktion von 1772 oder sogar noch später bei der Formulierung des Aufbaus der KrV in der zweiten Hälfte der 1770er Jahre)591 geschehen. Es unterliegt aber keinem Zweifel, dass die Komplexität des Themas viele der an der Debatte beteiligten Autoren daran hindert, ein zu simples und pauschales Urteil über das genaue Wann und Wo der Entdeckung der Antinomie zu fällen. Ganz zu schweigen von den schon genannten philologischen Einwänden gegen Adickes’ Datierung der Reflexionen ist es keine einfache Aufgabe, zu bestimmen, ob es tatsächlich so etwas wie ein einziges, der Antinomie der reinen Vernunft zuzuschreibendes „Erwachen“ in Kants Philosophie gibt, das heißt, ob sie und die kritische Philosophie im Allgemeinen sich als derartige Gedankenprodukte interpretieren lassen, die nahezu ex nihilo entstehen. Auch wenn 588

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„Dass […] die Thematik der Antinomien auch für die Genesis von Kants Philosophie eine bestimmende, ja entscheidende Bedeutung gehabt hat, darf heute als gesicherte historische Einsicht angesehen werden“. Heimsoeth, H. Atom, Seele, Monade. Historische Ursprünge und Hintergründe von Kants Antinomie der Teilung. Mainz & Wiesbaden, 1960, S. 263. Erdmann hat somit die Grundlagen für die späteren Untersuchungen geschaffen. Die Antinomien, „deren erste Ansätze wir bis in die früheste Phase des Dogmatismus hinein verfolgen können“, seien demzufolge „die eigentlichen Triebkräfte“ zu Kants Denkentwicklung. Erdmann, B. „Die Entwicklungsperioden von Kants theoretischer Philosophie“, a. a. O., S. xxxix. Zu der ersten Gruppe gehören u. a. nicht nur die Autoren der „älteren Richtung der KantForschung“ wie Adickes („Einleitung“. In: Immanuel Kants Kritik der reinen Vernunft mit einer Einleitung und Anmerkung. Berlin, 1889), Vaihinger (Kommentar, a. a. O.), Riehl (Der Philosophische Kritizismus, a. a. O.) und auch Erdmann („Die Entwicklungsperioden“, a. a. O.), sondern auch neuere Autoren wie Vleeschauwer („Les Antinomies Kantiennes et la ‘Clavis universalis’ d’Arthur Collier“. In: Mind, 47, 1938; L’Évolution de la pensée kantienne. Paris: Librairie Félix Alcan, 1939, S. 58; La Déduction Transcendentale dans l’Oeuvre de Kant. Tomes I, a. a. O., S. 148–153), Schmucker („Was entzündete in Kant das große Licht von 1769?“ In: Archiv für Geschichte der Philosophie, 58, 1976), Kreimendahl (Kant – Der Durchbruch von 1769, a. a. O.) und Ertl (David Hume und die Dissertation von 1770: eine Untersuchung zur Entwicklungsgeschichte der Philosophie Immanuel Kants. Frankfurt a. M. [u. a]: Lange, 1999). Zu der zweiten Gruppe gehören u. a. Reich („Einleitung“ zu: Kant, I. Über die Form und die Prinzipien der Sinnen- und Geisteswelt. Lat.-deutsch. Hamburg: Meiner, 1958), Fang („Das Antinomienproblem im Entstehungsgang der Transzendentalphilosophie“. In: Kant-Interpretation. Münster, 1967), Heimsoeth (Atom, Seele, Monade, a. a. O.), Hinske (Kants Weg zur Transzendentalphilosophie, a. a. O.), Baum („Kritischer Rationalismus. Zur Entwicklung des Vernunftbegriffs nach 1770“. In: Fulda, H. F. & Horstmann, R.-P. (Hrsg.): Vernunftbegriffe in der Moderne. Stuttgart: Klett-Cotta, 1994, S. 185f.), Klemme (Kants Philosophie des Subjekts, a. a. O., S. 42–43), Brandt („Buchbesprechung von Kreimendahl“, a. a. O.; Die Bestimmung des Menschen bei Kant, a. a. O., S. 255) und Falkenburg (Kants Kosmologie. Die wissenschaftliche Revolution der Naturphilosophie im 18. Jahrhundert. Frankfurt a. M.: Klostermann, 2000, S. 172).

man von der grundsätzlichen genetischen Bedeutung der Antinomie ausgeht, gibt es keinen Konsens darüber, ob sie aus entstehungsgeschichtlicher Perspektive das erste und entscheidende Lehrstück der KrV darstellt und demzufolge der zentrale Anlass zum transzendentalen Idealismus und zu den weiteren Teilen der Dialektik und sogar der KrV im Ganzen war.592 Auch in diesem Zusammenhang gibt es Kant-Forscher, die die Schlüsselstellung der Antinomie für die Entstehungsgeschichte der KrV abstreiten.593 Man fragt sich nun berechtigterweise, wie die Antinomie mit dem von Kant wiederholt betonten Einfluss Humes bei dem „kritischen Erwachen“ zusammenhängt. Es gilt jedoch die Gefahr zu vermeiden, in einen „umgekehrten Dogmatismus“ zu geraten und zu behaupten, der Einfluss Humes sei das Wichtigste und die Antinomie und wei592

593

Hierbei sei explizit auf J. Schmucker hingewiesen. Er behauptet einerseits gegen Hinske und Reich und für die „alte Richtung“ der Kant-Forschung, dass das Antinomieproblem der Dissertatio vorausgeht, andererseits verneint er gegen die alten Kantianer, dass die Formulierung der Idealität oder Subjektivität von Raum und Zeit eine begriffliche Reaktion auf die Entdeckung der Problematik der Antinomie ist. Schmucker ist der Auffassung, die in der ersten Sektion der Dissertatio entworfene Auflösung der mathematischen Antinomien sei nicht der These über die Subjektivität von Raum und Zeit, sondern dem in derselben Sektion gefundenen Unterschied zwischen sinnlicher und intellektueller Erkenntnis zu verdanken. Mit der erst in der KrV vorliegenden Idee, dass die Vernunft sich in Widersprüche begibt, wenn sie das Unbedingte erstrebt, werde dieses Problem zu Ende gedacht. Daraus schließt Schmucker, dass das „große Licht von 1769“, das für ihn in der Formulierung der These über die Subjektivität von Raum und Zeit liegt, nicht als eine bewusste Reaktion auf die Entdeckung der Antinomie, sondern im Rahmen der Änderungen des kantischen Raumbegriffs zu verstehen ist, nämlich als eine Antwort auf die Entdeckung der Nichtigkeit des im Jahr 1768 von Kant noch vertretenen Newton’schen Begriffs eines absoluten Raums (vgl. Schmucker, J. „Was entzündete in Kant das große Licht von 1769?“, a. a. O.) Schmucker argumentiert ferner, die Themen der Dialektik, zumal des Paralogismus und des Ideals der reinen Vernunft, seien vorkritisch, das heißt, sie gingen chronologisch und systematisch der Formulierung des transzendentalen Idealismus voraus (vgl. Das Weltproblem in Kants Kritik der reinen Vernunft: Kommentar und Strukturanalyse des ersten Buches und des zweiten Hauptstücks des zweiten Buches der transzendentalen Dialektik. Bonn: Bouvier, 1990, S. 8–9, 188–234; Die Ontotheologie des vorkritischen Kant. Berlin [u. a.]: De Gruyter, 1980). Es spricht aber einiges dafür, dass Schmucker einen allzu engen Begriff von „Kritizismus“ hat, nämlich „kritisch“ und „transzendentaler Idealismus“ gleichsetzt, und sich sogar in einigen Punkten, etwa zum Paralogismus (vgl. dazu Klemme, H. Kants Philosophie des Subjekts, a. a. O.), völlig irrt. Hier sind vor allem K. Reich und M. Baum zu erwähnen. Reich zufolge ist vielmehr die „Mißhelligkeit“ zwischen Sinnlichkeit und Verstand der kritische „Grundimpuls“: „Die Idee dieser Mißhelligkeit [zwischen Verstand und Sinnlichkeit] aber ist die Grundkonzeption, mit der die Dissertation von 1770 Kant über den bloßen Gebrauch der skeptischen Methode in Fragen der Metaphysik, den er seit mindestens 1765 übte, hinausgeführt hat“. Reich, K. „Über das Verhältnis der Dissertation und der KrV und die Entstehung der kantischen Raumlehre“, a. a. O., S. xv. Die kosmologische Antinomie entstehe dann erst in der Mitte der 1770er Jahren unter dem Einfluss von Humes skeptischer Herausforderung (ebd., S. xv f.). M. Baum lehnt sich an die Auffassung Reichs an und suggeriert, diejenige Antinomie, die zu der Entstehung des kritischen Motivs Anlass gegeben habe, sei nicht die kosmologische Antinomie, sondern die „Antinomie“ der reinen Vernunft als Streit zwischen praktischen und theoretischen Gesetzen der Vernunft oder des Verstandes im Rahmen der Gesetzgebung der Vernunft. Leider diskutiert Baum diese wirkungsvolle Idee nicht aus. Vgl. Baum, M. „Kritischer Rationalismus. Zur Entwicklung des Vernunftbegriffs nach 1770“, a. a. O., S. 192–193.

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tere Motive bzw. Autoren (Rousseau, Problem von Raum usw.) seien alle von zweitrangiger Bedeutung. Als Reaktion darauf haben vor allem jüngere Interpreten zu zeigen versucht, dass die Entstehung der kritischen Philosophie eher in Form eines zahlreichen Wendungen594 unterworfenen langen Prozesses erfolgte und weniger von einem plötzlichen Erwachen ausgelöst wurde, ob nun durch Hume, durch die Antinomie oder (gemäß einem Verlangen nach „Harmonisierung“ der autobiographischen Äußerungen Kants) durch beide.595 Die Einteilung der Etappen des Werdegangs der kantischen Philosophie in „statische Momente“ – einen dogmatischen Anfang, danach eine empiristische Phase, gefolgt von einem skeptischen Rückfall und endlich die rationalistisch-kritische Periode mit einer unerklärlichen dogmatischen Zwischenzeit bei der Dissertatio596 – erweist sich daher als unhaltbar, sofern sie der grundsätzlichen Dynamik und Aporetik des kantischen Denkens nicht gerecht wird. Sogar der Hinweis auf eine angebliche Entsprechung zwischen den Etappen der Entwicklung der kritischen Philosophie und der Rede Kants von den „Schritten“ der Metaphysik – Dogmatismus, Skeptizismus und Kritizismus (FM AA 20: 264; A ix)597 – ist hier nicht schlüssig. Die „philosophierende“ Geschichte der Philosophie, die von Kant nacherzählt wird, scheint aber nicht der wirklichen Geschichte der Philosophie Kants selbst zu entsprechen. Im Werdegang des kantischen Denkens vermengen sich oft kritische mit vorkritischen Motiven; „progressive“ und „retardierende“ Elemente598 befinden sich in allen Schriften vor der KrV. Wie schon D. Henrich bemerkt hat, ist Kant ein „viel zu dynamischer Denker“,599 als dass er auf eine solche Folge von Schritten oder Stationen festgelegt werden könnte. Das Problem für den Historiker der kantischen Philosophie ist „oftmals gerade diese ungeheure Dynamik, welche die Motive und Anstöße aufgrund mannigfacher Metamorphosen des Gedankens in dem von Kant schließlich Geäußerten oftmals nur noch schwer erkennen läßt“.600 Es lässt sich aber bei den Rekonstruktionsversuchen der Entwicklungsgeschichte der kantischen Philosophie gar nicht leugnen, dass sich im Laufe der 594

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Vgl. hierzu Hinske, N. Kants Weg zur Transzendentalphilosophie, a. a. O., S. 12: „Einer der charakteristischen Züge des Kantischen Denkens [ist] die Rücknahme zu weit gesteckter Positionen, die Milderung zu heftiger Polemik, die ‚Revision‘ zu revolutionärer Programme und die Wiederaufnahme bestimmter Traditionen, kurz: die nachträgliche Selbstkorrektur von frühen Projekten“. Zu dem Versuch, das Erwecken durch Hume mit dem durch die Antinomie zu versöhnen, vgl. Ertl, W. David Hume und die Dissertation von 1770, a. a. O., und vor allem Kreimendahl, L. Kant – Der Durchbruch von 1769, a. a. O. Das Buch von Kreimendahl liefert übrigens eine vollständige Darstellung des Forschungszustands zur Entstehungsgeschichte der kritischen Philosophie und bietet weitere Hinweise zu dieser Thematik, auf die wir hier nicht eingehen können. Das sind bekanntlich die von Erdmann vorgeschlagenen Stationen für den Werdegang Kants. Vgl. Erdmann, B. „Die Entwicklungsperioden von Kants theoretischer Philosophie“, a. a. O. Kreimendahl, L. Kant – Der Durchbruch von 1769, a. a. O., S. 104–105. Dies sind die von Kreimendahl verwendeten Ausdrücke zur Bezeichnung der vorkritischen und kritischen Motive in der Dissertatio. Henrich, D. „Über Kants Entwicklungsgeschichte“. In: Philosophische Rundschau, 13, 1965. Kreimendahl, K. Kant – Der Durchbruch von 1769, a. a. O., S. 76.

ganzen kantischen Denkentwicklung, von der ersten Schrift bis zu der kritischen Philosophie, einige kritische Motive eindeutig erkennen lassen.601 Dass diese kritischen Motive viele Etappen durchlaufen und von verschiedenen Elementen (Hume, Antinomie usw.) beeinflusst werden, liegt auf der Hand. Die aus vielen verschiedenen kritischen Motiven bestehende kritische Philosophie ist aus dieser Sicht weniger als Ergebnis einer abrupten, einem einzigen Autor bzw. Lehrstück zuzuweisenden „Entdeckung“, sondern eher als die Entfaltung der genannten kritischen Motive zu verstehen, die mehrere aufeinanderfolgende Schritte durchlaufen. Kurz, es handelt sich um eine „allmähliche Entstehung“, nicht um eine „abrupte Wende“.602 In diesem Sinne erweist sich die Untersuchung der langsamen Entfaltung einiger kritischer Motive von der Erstlingsschrift Kants bis zu ihrer letzten und kritischen Etappe als ein möglicher Leitfaden für den Werdegang der Philosophie Kants.603 601

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Adickes und Lehmann sprechen von „kritischen Motiven“ in der Entwicklungsgeschichte der kritischen Philosophie. In „Die bewegenden Kräfte in Kants philosophischer Entwicklung und die beiden Pole seines System“. In: Kant-Studien, 1, 1897, weist Adickes auf zwei große kritische Motiven hin, nämlich „die Rettung der Wissenschaft durch Sicherstellung des Rationalismus und Schutz der religiösen Weltanschauung durch Zurückführung derselben auf den praktischen moralischen Glauben“ (ebd., S. 10). In Kants Systematik als systembildender Factor. Berlin: Mayer & Müller, 1887, nähert sich Adickes der Auffassung Erdmanns, indem er die Entstehung der Ästhetik und der Analytik der KrV von der Dialektik abhängig macht, während die Formulierung der späten Dialektik wiederum die der Antinomie vorausgesetzt habe. Adickes erwähnt hier aber ein weiteres kritisches Motiv, nämlich das Problem des Unendlichen (ebd., S. 60ff.; vgl. auch Adickes, E. „Einleitung“, a. a. O., S. xv). In „Kritizismus und kritisches Motiv“ (a. a. O.) deutet Lehmann die Entstehung und Entwicklung des „kritischen Motivs“ in Bezug auf die Entstehung und Entwicklung des „anthropologischen Motivs“. Wenn man untersuche, wie Kant im Laufe seines Werdegangs die Stelle des Menschen im Kosmos begriffen habe, sei es möglich, die Entstehung und Entwicklung von „kritischen Themen“ zu untersuchen. So gebe es z. B. ein „objektivierendes, kosmologisches und monistisches Menschenbild“ (1750er Jahre), danach die Aufhebung der Anthropologie hinsichtlich der Kosmologie und der Vorstellung des Menschen als „Erdenbürger“ und nicht als „Planetenbewohner“ (erste Hälfte der 1760er Jahren) und zuletzt den „Durchbruch zur Anthropologie“ aus dem Bewusstsein der Unmöglichkeit, das Menschenwesen bloß physisch oder bloß metaphysisch zu bestimmen. Daraus folgt, so Lehmann, eine ganz neue Konzeption der Beziehung zwischen Metaphysik und Philosophie, Übersinnlichem und Sinnlichem, aber auch eine neue Grenzziehung der menschlichen Erkenntnis (zweite Hälfte der 1760er Jahre, Anfang der 1770er Jahren) (ebd., S. 34ff) Dieses kritische Grundmotiv nehme fünf Formen an: Unterscheidung, Begrenzung, Begründung, Übergangs- und Anwendungsproblematik (ebd., S. 48ff). Brandt, R. Die Bestimmung des Menschen bei Kant, a. a. O., S. 251. Vgl. auch Hinske, N. Kants Weg zur Transzendentalphilosophie, a. a. O.; Falkenstein, L. „The Great Light of 1769 – A Humeian Awakening? Comments of Lothar Kreimendal’s account of Hume’s influence on Kant“. In: Archiv für Geschichte der Philosophie, 77, 1995, S. 70–71; Zammito, J. Kant, Herder, and the Birth of Anthropology. Chicago: Chicago University Press, 2002, S. 259–260. Vgl. auch Falkenburg, B. Kants Kosmologie, a. a. O. „Kant hat den Widerstreit der Vernunft mit sich selbst nicht auf einen Schlag entdeckt, sondern lange Zeit gebraucht, bis er die metaphysische Theorienbildung insgesamt als dialektisch erkannte“. Ebd., S. 174. Genau dies ist Hinskes Absicht hinsichtlich der Antinomie: „Bei der Antinomienlehre, diese Auffassung hat sich in der Kantforschung mittlerweile weitgehend durchgesetzt, handelt es sich nicht etwa um eine Problematik, die im Denken Kants vor oder nach 1770 wie aus heiterem Himmel auftaucht. Einzelne ihrer Problemstränge lassen sich vielmehr bis in die ersten Anfänge seines Denkens zurückverfolgen“. Hinske, N. „Georg Friedrich

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Unser Ziel in diesem Teil der vorliegenden Arbeit besteht nicht in der erschöpfenden Auflistung aller kritischen Motive oder in der ebenfalls anspruchsvollen Aufgabe, das kritische Motiv par excellence (Antinomie, Hume, Problem von Raum, Kausalität, Möglichkeit der Metaphysik als Wissenschaft, synthetische Urteile a priori usw.) herauszufiltern. Beides würde eine vorherige Interpretation der ganzen kritischen Philosophie zur Identifizierung ihrer „bestimmenden Motive“ voraussetzen. In den folgenden Kapitel geht es vielmehr darum, die Entstehungsgeschichte einiger kritischer Motive nachzuzeichnen, genauer derjenigen Motive, die die juridische Verfassung der Kritik betreffen, nämlich die Vorstellung eines Richters, der über die Rechtsansprüche der Vernunft entscheidet, die Idee eines Gerichtshofs und vor allem die Gesetzgebung der Vernunft, die in dieser Idee enthalten ist.604 Unser Interesse beschränkt sich somit auf diejenigen Motive, die jener Vermittlungstendenz, die die kantische Philosophie von der Erstlingsschrift bis zum Opus Postumum prägt, gewissermaßen eine juridische Bedeutung verleihen.605 Mit dieser Einschränkung wird auf eine umfassende und anspruchsvolle Darstellung der Um- und Durchbrüche der Denkentwicklung Kants und des systematischen Aufbaus der kritischen Philosophie verzichtet. Es

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Meier und das Grundvorurteil der Erfahrungserkenntnis. Noch eine unbemerkte Quelle der Kantschen Antinomienlehre. Zu den Grundimpulsen der ‚Kritik der reinen Vernunft‘“. In: ders., Zwischen Aufklärung und Vernunftkritik. Studien zum Kantischen Logikcorpus. Stuttgart-Bad Cannstatt: Frommann-Holzboog, S. 118. Eucken behauptet gleichfalls, dass dieselben Bilder beide Perioden, die vorkritische und die kritische, durchdringen „und sich somit auch hier ein enger Zusammenhang beider Perioden bekundet“. Eucken, L. „Über Bilder und Gleichnisse bei Kant“, a. a. O., S. 58. „Die Vermittlung zwischen Gegensätzen ist eine sehr hervorstechende Tendenz von Kant, ohne welche sein Streben und sein Wirken nicht verständlich ist“. Vaihinger, H. Commentar, a. a. O., S. 58. Wie schon im zweiten Kapitel angedeutet, ist diese Tendenz sehr deutlich in der deutschen Philosophie vor Kant. Vaihinger erwähnt neun „Vermittlungsarten“: (1) In der Erstlingsschrift würden die entgegengesetzten Lehren von Descartes und Leibniz vereinigt. (2) In der Allgemeinen Naturgeschichte bemühe sich Kant darum, Newton und Leibniz, Mechanismus und Theologie in Einklang zu bringen. „Also auch hier übernimmt K. die Rolle des Schiedsrichters, die kritische, und neben der Bestimmung der Grenzen des menschlichen Erkennens, der einen Seite der Kritik, ist die richterliche Entscheidung, die speciell als Vermittlung sich darstellt, die andere Seite der Kantischen Methode“ (ebd., S. 59). (3) In der Monadologia physica wolle Kant die Gegensätze zwischen Geometrie und Transzendentalphilosophie (besonders Newton und Leibniz), zumal über die unendliche Teilbarkeit der Materie, „conciliare“ (MonPh AA 02: 475). (4) In der Nova dilucidation nehme Kant im Streit zwischen Wolff und Crusius über den Satz vom zureichenden Grund eine vermittelnde Position ein. (5) Ferner versuche er, Wolffs Lehre von der Weltharmonie mit Newtons Determinismus zusammenzubringen. (6) In der Preisschrift wolle Kant Newtons naturwissenschaftliche mit Leibniz’ philosophischer Methode vereinigen. (7) Die Vermittlungstendenz sei stärker bei den Träumen. Im ersten Teil der Schrift (Kap. I–IV) hebe Kant die Position des Metaphysikers, Dogmatikers, Rationalisten oder Idealisten einerseits und des Philosophen der Erfahrung, Skeptikers, Empiristen oder Realisten andererseits in einem „neuen kritischen Standpunkt“ auf („Es entspricht diese Methode genau der Art und Weise bei den Antinomien in der Kritik“. Vaihinger, H. Commentar, a. a. O., S. 58). (8) In der Dissertatio liefere Kant einen Vermittlungsversuch zwischen der britischen und der deutschen Raumlehre, also noch einmal zwischen Newton und Leibniz. (9) Schließlich sei „die ganze KrV eine Vermittlung zwischen englischem Empirismus und deutschem Rationalismus“ (ebd., S. 59). Vgl. hierzu auch Hinske, N. Kants Weg, a. a. O., S. 131–132.

soll also keine umfassende Korrektur anderer Interpretationen der Entstehungsgeschichte der kritischen Philosophie beansprucht werden, diese soll lediglich von einem anderen Standpunkt aus dargestellt werden. Drei verschiedene Momente bzw. Etappen der Problematik des Gerichtshofs und der Gesetzgebung der Vernunft werden im Laufe des Werdegangs der kantischen Philosophie erkenntlich:606 a) In den 1740er und 1750er Jahren versuchte Kant, gegnerische philosophische Positionen, die er in der philosophischen Tradition anerkannte und die ähnliche methodologische Fehler begingen, zu vermitteln und in Einklang zu bringen. Der Konflikt sollte dann von dem vermittelnden Philosophen beigelegt werden, der einen Mittelweg sucht. b) In den 1760er Jahren und Anfang der 1770er Jahren haben die Zuspitzung der skeptischen Züge des Denkens Kants und deren systematische Ausgestaltung durch Hume zu der Vorstellung eines „unparteiischen Richters“ im Erkenntnisprozess und bei der Entscheidung über die Möglichkeit der Metaphysik als Wissenschaft geführt. c) Schließlich gelangte Kant um die Mitte der 1770er Jahren zu der Idee eines Gerichtshofs und einer Gesetzgebung der Vernunft durch eine vermutlich von A. Smith inspirierte begriffliche Übertragung des „Gerichtshofs des Gewissens“, in dem sich die Vorstellungen von streitenden Parteien und einem nicht nur unparteiischen, sondern auch idealen Richter finden. Ein solcher unparteiischer und idealer Richter wäre auf der Grundlage einer einwandfreien Gesetzgebung in der Lage, fehlerfrei und absolut gerecht zu urteilen. In diesem Zusammenhang entstand die Idee einer Nomothetik oder „Gesetzgebungswissenschaft“, nachdem alle vorherigen Etappen durchlaufen waren. Es ist dann kein Zufall, dass etwa zur gleichen Zeit, in der die Begriffe von „Antinomie“ und „Deduktion“ zum ersten Mal in Kants Terminologie auftauchen, Kant beginnt, die Transzendentalphilosophie als eine Nomothetik, den Philosophen als „Gesetzgeber“ und die Philosophie als die Gesetzgebung der menschlichen Vernunft zu erklären.

606

Damit weisen wir auf N. Hinske hin. Er vertritt die Auffassung, dass die Entstehungsgeschichte der KrV als eine Entwicklungsgeschichte der Antinomienproblematik oder der Entdeckung des Grundvorurteils, das zu der Antinomie führt, zu verstehen sei. Im folgenden Kapitel wird diese Grundhaltung gegenüber dem Werdegang der kritischen Philosophie diskutiert und kritisiert.

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Die Anfänge der juridischen Methode als Vermittlungsmethode

In diesem Kapitel wird die Entstehung der kritischen Motive des Gerichtshofs und der Gesetzgebung der Vernunft in Kants Schriften der 1740er und 1750er Jahre erörtert. Der „alten Kant-Forschung“ zufolge, so etwa bei K. Fischer und B. Erdmann, war Kant in dieser Zeit ein „Dogmatiker“, der vom „Kritizismus“ himmelweit entfernt war. Die in diesen Jahrzehnten erschienenen Schriften, die uns interessieren, sind die Allgemeine Naturgeschichte und Theorie des Himmels, Monadologia physica, Nova dilucidatio und vor allem die Gedanken von der wahren Schätzung der lebendigen Kräfte. Ziel ist es, die Beurteilung, diese Werke seien bloß „dogmatisch“, in Frage zu stellen. Dabei wird darauf hingewiesen, dass in dieser Zeit durchaus kritische Motive vorliegen, unter denen vor allem der Versuch nach einer unparteiischen Überprüfung und Beilegung der philosophischen Streitigkeiten durch „einen gewissen Mittelsatz“, einen „dritte[n] Standpunkt“, „der beiden Parteien in gewisser Maße Recht läßt“ (GSK AA 01: 32), für uns von Interesse ist. Auf die spätere Entwicklung dieser dem Juridischen zugehörenden Motive gehen wir in den nächsten Kapiteln ein. Dem ausgewählten zeitlichen Ausschnitt entspricht die, so Hinske, „erste Etappe der Antinomienproblematik“, nämlich die des „irenischen Lösungsmodells“ 607 oder, so Vaihinger, der „ältesten Schicht“ der Vermittlungstendenz Kants608. Trotz des zeitlichen und sachlichen Zusammentreffens bezeichnen wir es aber als erstes Moment oder erste Etappe der Problematik des Gerichtshofs oder der Gesetzgebung der Vernunft. Anstatt die als Merkmale des Kritizismus erschlossenen Elemente unmittelbar auf die Problematik der Antinomie zu beziehen, wie etwa Hinske und andere dies tun, ziehen wir einen umfassenden Interpretationsansatz heran, indem wir solche Merkmale mit der Vorstellung der KrV von einem Gerichtshof bzw. einer Gesetzgebung der Vernunft in Verbindung bringen. Es lässt sich dann daraus ersehen, dass Kant von seiner Erstlingsschrift an (5.1) bis hin zu den weiteren Werken der Zeit (5.2) eine gewisse „Tendenz“ 609 aufzeigt, philosophische Positionen bzw. Schulen einander gegenüberzustellen und, wie die spätere KrV mit Blick auf den Gerichtshof der Vernunft vorschlägt, eine neue Methode zur Beilegung dieses Streits ausfindig zu machen. Im nächsten Kapitel wird gezeigt, wie Kant während der 1760er Jahre mit der „polemisch-skeptischen Methode“ dieser „Tendenz“ eine gründlichere Grundlage verschafft.

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N. Hinske vertritt die Auffassung, dass man drei Etappen bzw. Modelle der Antinomienproblematik unterscheiden kann, nämlich a) das irenische Lösungsmodell von 1747 bis 1770, wonach die Antinomie als „konkrete, inhaltliche Streitfrage“ behandelt wird; b) das separierende Lösungsmodell von 1770, das den „dissensus inter facultatem sensitivam et intellectualem“ (MSI AA 02: 389) betrifft; und endlich c) das kritische Lösungsmodell nach der Dissertation von 1770, wenn die Antinomienproblematik in ihrer ganzen Strenge und Paradoxie, das heißt „zur Bezeichnung der widersprüchlichen, eben antinomischen Struktur der Vernunft“ auftritt. Hinske, N. Kants Weg zur Transzendentalphilosophie, a. a. O., S. 106– 112. Vgl. auch ders. „Georg Friedrich Meier und das Grundvorurteil der Erfahrungserkenntnis“, a. a. O. Hinske erklärt aber nicht, wie Kant zu dieser dritten Etappe gelangt ist. Vaihinger, H. Commentar, a. a. O. Saner, H. Kants Weg vom Krieg zum Frieden. a. a. O.

5.1

Die Gedanken von der wahren Schätzung der lebendigen Kräfte

Ganz am Anfang seiner im Jahr 1747 veröffentlichen Erstlingsschrift, Gedanken von der wahren Schätzung der lebendigen Kräfte, kündigt der 22-jährige Kant klar und selbstbewusst die Einstellung an, die er während seiner ganzen Denkentwicklung einnehmen wird: Ich werde in dem Verfolg dieser Abhandlung kein Bedenken tragen, den Satz eines noch so berühmten Mannes freimüthig zu verwerfen, wenn er sich meinem Verstande als falsch darstellt (GSK AA 01: 09).

Vielleicht eher als die dreiste Anmaßung eines noch unerfahrenen und stolzen Studenten ist diese Formulierung eine bedeutsame Absichtserklärung eines jungen Genies, die unmissverständlich darauf hindeutet, dass die libertas philosophandi und demnach die Zurückweisung jedes Dogmatismus und jeder Parteilichkeit, die Kant sich bei der KrV zu Herzen nimmt, schon in der Erstlingsschrift vorhanden sind.610 Das Bild eines Gerichtshofs, dessen Richter völlig unparteiisch ist, wird schon an dieser und weiteren Stellen der Gedanken angekündigt. Es geht bei dieser Schrift, in deren Titel nicht ohne Grund der juridische Begriff „Rechtssache“ vorkommt, um eine Untersuchung in versöhnlichem Ton über die Kraftbegriffe von Leibniz und Descartes. Es ist tatsächlich in der Sekundärliteratur mehrmals darauf hingewiesen worden, dass schon in der Erstlingsschrift einige Züge der späteren kritischen Philosophie zu finden sind. Diese Beurteilung ist aber eher eine jüngere Erscheinung. Erdmann zufolge sind die Gedanken eine bloß „dogmatische“ Schrift.611 Daher streitet er es ab, „aus gelegentlichen Äußerungen der ersten Schrift Kants […] Vorgedanken des späteren Kriticismus herauslesen zu dürfen“; sie seien „nicht sowohl der Ausdruck überlegener Einsicht, als vielmehr jugendlichen Vollgefühls einer ungewöhnlichen geistigen Kraft“.612 Cassirer, Vaihinger und B. Bauch waren dann diejenigen, die das Urteil von Erdmann in Frage stellten und im Gegensatz zu ihm die eindeutige Ankündigung kritischer Motive bei dieser Schrift, die mutmaßlich zu der 610

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Adickes zufolge verrät die Erstlingsschrift Kants einen „Selbständigkeitsdrang“. Bestimmte Äußerungen der Vorrede bezeugen zwar, „dass gewisse geistige Tendenzen, die Kants spätere Entwicklung beherrschen, schon im 22jährigen mächtig sind: so der Wahrheitsdrang, der Zug nach Selbständigkeit gegenüber den Zwang der Schule“. Adickes, E. Kant als Naturforscher. Bd. I. Berlin: De Gruyter, 1924, S. 67. „Die Charakterisierung der ersten Entwicklungsperiode als Dogmatismus […] entspricht der allgemeinen Auffassung […]. Die Zurückschiebung ihres Anfangspunktes in die Zeit um 1746, die Zeit der Ausarbeitung der ersten Schrift Kants, wird keinen ersten Bedenken begegnen“. Erdmann, B. „Die Entwicklungsperioden von Kants theoretischer Philosophie“, a. a. O., S. xiii–xiv. An anderer Stelle schreibt Erdmann, Kant erscheine in seiner Erstlingsschrift „als ein entschiedener Anhänger jener freieren Richtung des Wolfianismus, zu deren bedeutendsten Vertreten Knutzen gehörte“. Erdmann, B. Martin Knutzen und seine Zeit, a. a. O., S. 143. Erdmann, B. „Die Entwicklungsperioden von Kants theoretischer Philosophie“, a. a. O., S. xv. Erdmann ist dennoch nicht ganz eindeutig. Einige Seiten später behauptet er, dass „die eigentlichen Triebkräfte“ für die methodologischen Untersuchungen Kants die Antinomien gewesen seien, „deren erste Ansätze wir bis in die früheste Phase des Dogmatismus hinein verfolgen können“ (ebd., S. xvii). Erdmann musste daher davon ausgehen, dass in Kants „dogmatischen Schriften“ auch „kritische Elemente“ vorzufinden sind, was er aber nicht ausdrücklich zugesteht.

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„dogmatischen Phase“ Kants gehöre, betonten. Genannt wird als Beispiel dafür die Suche nach einem „Mittelsatz, der beiden Parteien in gewisser Maße Recht läßt“ (GSK AA 01: 32).613 In jüngerer Zeit haben weitere und bedeutsame Autoren, so u. a. N. Hinske, R. Brandt, F. Kaulbach und G. Tonelli,614 im Rahmen des eher „dynamischen“ Verständnisses der Denkentwicklung Kants gezeigt, dass sich aus den Gedanken nicht nur einige, sondern eben viele kritische Motive ablesen lassen. Dieselbe Absicht liegt diesem Kapitel zugrunde. Die Gedanken gehen von einer naturwissenschaftlichen Kontroverse aus, bei der sich Cartesianer und Leibnizianer einander gegenüberstehen und diskutieren, ob die Kraft gleich dem Produkt der Masse und der Beschleunigung des Körpers (m v) oder gleich dem Produkt der Masse und des Quadrats seiner Geschwindigkeit (m v²) ist.615 Es handelt sich dabei grob gesagt um den Streit zwischen einer mechanischen bzw. wissenschaftlichen und einer dynamischen bzw. metaphysischen Konzeption von Bewegung (GSK AA 01: 19–20). Mit der Absicht, diese verschiedenen Konzeptionen in Einklang zu bringen, teilt Kant die Schrift in drei Teile. Im ersten Teil werden einige metaphysische Begriffe über die Kraft der Körper dargestellt (GSK AA 01: 17–31), der zweite Teil ist eine umfassende Überprüfung der Konzeptionen der Leibnizianer über die lebendigen Kräfte (GSK AA 01: 32–138), und im letzten Teil stellt Kant seine eigene Konzeption der lebendigen Naturkräfte dar (GSK AA 01: 139–181). Es ist daher möglich, den philosophischen oder metaphysischen (Teil I) von dem wissenschaftlichen Aspekt (Teile II und III) der Fragestellung zu unterscheiden. Im zweiten Teil aber, genauer in den §§ 48–51 (GSK AA 01: 58–60) und §§ 88–90 (GSK AA 01: 93–101), zeichnet sich ein weiterer Aspekt der Schrift ab, nämlich der methodologische,616 dem wir uns in diesem Kapitel zuwenden. Die Lösung Kants zur Beilegung des Streits besteht grundsätzlich darin, dass die Schätzung der lebendigen Kräfte, der Naturkräfte, durch das Quadrat der Geschwindigkeit erfolgt und insofern die Leibnizianer recht behalten; allerdings irren sie sich, wenn sie dieses Prinzip auf alle Bewegungen anwenden und sich auf die Mathematik stützen, weil sich nicht alle Kräfte nach dem Quadrat der 613

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Cassirer, E. Kants Leben und Lehre. Berlin: 1921, S. 28–29; Vaihinger, H. Commentar, a. a. O., S. 58; Bauch, B. Geschichte der Philosophie V. Immanuel Kant. Berlin & Leipzig, 1916, S. 25– 26. Brandt, R. „Philosophical Methods“, a. a. O., S. 150–151; Hinske, N. Kants Weg zur Transzendentalphilosophie, a. a. O., S. 42, 83–84, 96–97, 108–109, 119–123; Kaulbach, F. Immanuel Kant. Berlin & New York: De Gruyter, 1982, S. 19–26; Petrocchi, I. Lockes Nachlaßschrift Of the Conduct of the Understanding und Ihr Einfluss auf Kant. Frankfurt a. M.: Lang, 2004; Stentzler, F. Die Verfassung der Vernunft. Berlin: publica, 1994, S. 7–27; Tonelli, G. Elementi metodologici e metafisici in Kant dal 1745 al 1768, a. a. O., S. 1–42; Weber, L. Das Distinktionsverfahren im mittelalterlichen Denken und Kants skeptische Methode. Meisenheim am Glan: Anton Hain, 1976, S. 94–105. Zu Untersuchungen, deren Schwerpunkt nicht den methodologischen, sondern vielmehr den wissenschaftlichen Inhalten dieses und der weiteren Werke der 1750er Jahre entspricht, vgl. Adickes, E. Kant als Naturforscher, a. a. O.; Arana, J. Ciencia y Metafisica en el Kant Precritico. Sevilla: Universidad de Sevilla, Secretariado de Publicaciones, 1982; Kant, I. Pensamientos sobre la verdadera estimación de las fuerzas vivas. Übersetzung, Einleitung und Anmerkungen von J. Arana. Bern [u. a.]: Lang, 1988; Campo, M. La Genesi del Criticismo Kantiano, a. a. O., S. 5ff. Vgl. Campo, M. La Genesi del Criticismo Kantiano, a. a. O., S. 17–18.

Geschwindigkeit messen lassen und auch die Mathematik den Cartesianern recht gibt. Zur Beendigung der Kontroverse bzw., laut dem Titel der Schrift, der „Rechtssache“ bedarf es unausweichlich einer methodologischen Berechtigung, durch die der verborgene Fehler, der den Beweisen von Leibnizianern und Cartesianern zugrunde liegt, entdeckt wird; damit lassen sich dann den streitenden Parteien jeweils legitime Geltungsbereiche zuweisen. Genau aus diesem Versuch einer Harmonisierung der zwei Auffassungen von Kraft lässt sich der Grundzweck der Erstlingsschrift Kants erklären.617 Hierbei ist festzustellen, dass das „methodologische Schema“ der Gedanken sich mit der späteren „kritischen Methode“618 und mit der Vorstellung des Gerichtshofs und der Gesetzgebung der Vernunft619 in Zusammenhang bringen lässt. Damit sind mehrere kritische Motive verbunden: a) Es findet sich das Misstrauen gegen die Wissenschaftlichkeit der Metaphysik und die Begrenzung der menschlichen Erkenntnis durch einen 617

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„The Living Forces was a sustained attempt to harmonize two distinct perspectives on nature“. Schonfeld, M. The Philosophy of the Young Kant: The Precritical Project. Oxford: Oxford University Press, 2000, S. 56. Petrocchi fasst das in den Gedanken dargestellte „Schema“ zur Beilegung der philosophischen Streitigkeiten folgendermaßen zusammen: „Zum Teil [ist das Schema] auf die ‚Regel in der Untersuchung der Wahrheiten‘ des Wolffianers Bülfinger und zum Teil auf die Methode der Gleichgültigkeit Lockes zurückzuführen“. Petrocchi, I. Lockes Nachlaßschrift Of the Conduct of the Understanding und Ihr Einfluss auf Kant, a. a. O., S. 155–156. Den Untersuchungen von R. Brandt und A. Winter folgend beschäftigt sich Petrocchi mit dem Einfluss von Lockes Nachlassschrift, Of the Conduct of the Understanding, auf Kant. Ihre Übersetzung ins Deutsche hatte M. Knutzen angefangen und ein Schüler Knutzens und Freund Kants, G. D. Kypke, fertiggestellt. Petrocchi behauptet, sie habe einen maßgeblichen Einfluss auf Kants Erstlingsschrift ausgeübt. Daraus ergibt sich, dass schon in den Gedanken viele Elemente vorhanden sind, die sich erst später in Kants Denkentwicklung festigen, wie z. B. die Annahme eines unparteiischen Standpunkts zur Beurteilung, die Bekämpfung und Überwindung von Vorurteilen, die Notwendigkeit der Vereinigung der philosophischen Bemühungen usw. Vgl. auch A. Winter, der zum ersten Mal auf den möglichen Einfluss von Lockes Nachlassschrift auf Kant aufmerksam gemacht hat: „In dieser Schrift kommt Locke wenigstens zwölfmal auf einander entgegengesetzte Argumente und Gedankenreihen zu sprechen, bei deren Prüfung man möglichst gleichgültig gegenüber beiden Seiten sein müsse und auch die Stelle der anderen Partei einnehmen solle, um Vorurteil und Standpunkt nicht das Ergebnis bestimmen zu lassen“. Winter, A. „Seele als Problem in der Transzendentalphilosophie Kants“. In: Kremer, K. (Hrsg.). Seele: Ihre Wirklichkeit, ihr Verhältnis zum Leib und zur menschlichen Person. Leiden & Köln: E. J. Brill, 1984, S. 109. Vgl. auch Winter, A. „Selbstdenken – Antinomien – Schranken. Zum Einfluss des späten Locke auf die Philosophie Kants“. In: Aufklärung, 1, 1986, S. 27–66. N. Hinske sieht in den Gedanken Züge der späteren skeptischen Methode. Die Methode der Gedanken, wie auch die skeptische Methode, habe einen negativen Teil, nämlich die Entdeckung des Irrtums, und einen positiven Teil, nämlich die Entdeckung eines „Mittelsatzes“, der die streitenden Parteien vereinigen kann. Wie schon erwähnt konzentriert sich Hinske bei seiner Auseinandersetzung mit den Gedanken und weiteren Schriften dieser Zeit auf die „Antinomienproblematik“ und den Ursprung der Antinomien in der polemischen Theologie. Wenngleich zum großen Teil den Ergebnissen seiner Untersuchung über die Schriften der 1750er Jahre zugestimmt werden kann, so ist dieser doppelte Anknüpfungspunkt Hinskes zurückzuweisen. Es geht nicht um die Antinomienproblematik im Sinne des späteren kosmologischen Widerstreits der reinen Vernunft, sondern vielmehr um die Problematik des Gerichtshofs oder der Gesetzgebung der Vernunft; ebenso wenig geht es um die polemische Theologie, sondern um die Rechtswissenschaft. Hinske, N. „Kants Begriff der Antithetik“, a. a. O., S. 58.

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„Zwang“ (wie die spätere „Disziplin“), der sich übrigens auf die Unzulänglichkeit und den Missbrauch der mathematischen Methode bei deren Anwendung auf die Philosophie bezieht. b) Ebenso zeigt sich das Bedürfnis, „den Zwiespalt und die Uneinigkeit unter den Philosophen aller Nationen“ (GSK AA 01: 148) aufzulösen, indem man eine Beilegung anstrebt, die mit einer Untersuchung der Quellen des Streits und der von allen Parteien begangenen Fehler erreicht wird. c) Dies setzt wiederum die Suche nach einem dritten, den Parteien äußerlichen und somit unparteiischen Standpunkt voraus, was aber einen vorigen Kampf gegen die Vorurteile als Bedingung zur unparteiischen Überprüfung der Sache erfordert. d) Es gibt schließlich das grundsätzliche Interesse an dem methodologischen Problem jenseits einer bestimmten inhaltlichen Fragestellung. Abgesehen von den möglichen Quellen solch eines grundlegenden methodologischen Ansatzes von Kant zu dieser Zeit620 könnte man mit gutem Grund behaupten, dass alle oben besprochenen Motive auf das spätere kritische Motiv des Gerichtshofs der Vernunft hinauslaufen. Wir gehen im Folgenden näher darauf ein. Wie bei anderen vor- und kritischen Schriften bedauert Kant in den Gedanken, dass die Metaphysik noch nicht die Gewissheit und Deutlichkeit anderer Wissenschaften erreicht hat: „Unsere Metaphysik ist wie viele andere Wissenschaften in der Tat nur an der Schwelle einer recht gründlichen Erkenntnis“ (GSK AA 01: 30). Der Grund hierfür liegt ihm zufolge in dem „Vorurteil“, dem die Metaphysiker bei ihrem Versuch, die menschliche Erkenntnis zu „erweitern“, erliegen: „Man findet sehr oft das Vorurteil als die größte Stärke ihrer Beweise. Nichts ist mehr hieran Schuld als die herrschende Neigung derer, die die menschliche Erkenntnis zu erweitern suchen“ (GSK AA 01: 31). Zwei Hauptgründe spielen hier eine Rolle: erstens die Schwierigkeit, gründliche Erkenntnisse zu erlangen, und zweitens die Neigung des Verstandes „zum Beifalle“. Das hat zur Folge, dass die Philosophen nicht ohne weiteres auf ihre vor langem erworbenen Meinungen und Einsichten verzichten: Es ist einem Philosophen fast die einzige Vergeltung für seine Bemühung, wenn er nach einer mühsamen Untersuchung sich endlich in dem Besitze einer recht gründlichen Wissenschaft beruhigen kann. Daher ist es sehr viel von ihm zu verlangen, daß er nur selten seinem eigenen Beifall traue, daß er in seinen eigenen Entdeckungen die Unvollkommenheiten nicht verschweige, die er zu verbessern nicht im Stande ist, und daß er niemals so eitel sei, dem Vergnügen, das die Einbildung von einer gründlichen Wissenschaft macht, den wahren Nutzen der Erkenntniß hintan zu setzen (GSK AA 01: 31).

Aufgrund dessen muss man dem Verstand „Zwang tun“, damit er „um einer gegründeten Erkenntniß“ willen alle Eitelkeiten „aufopfert“ (ebd.). Diese und weitere Stellen der Gedanken weisen eindeutig auf kritische Motive hin, wie das Motiv des Mangels an Wissenschaftlichkeit der Metaphysik, das Motiv des Bedarfs eines Zwanges bzw. einer Disziplin621 zur Begrenzung bzw. Berechtigung der Erkenntnis sowie das Motiv des Vorurteils als Grund des Fehlers bei der Suche nach Erweiterung der menschlichen Erkenntnis. 620 621

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Siehe das nächste Kapitel. Dazu unter Kapitel 8.

Zur Beilegung des Streits zwischen Cartesianern und Leibnizianern muss man ein neues Gesetz zur Kräfteeinschätzung ausfindig machen, das die „philosophischen Köpfe“ in Einklang zu bringen vermag. Das ist genau das, was Kant versucht. Er schlägt das folgende Gesetz vor: „[E]in Körper, der seine Geschwindigkeit in freier Bewegung ins unendliche unvermindert erhält, [ist] eine lebendige Kraft, d. i. eine solche, die das Quadrat der Geschwindigkeit zum Maße hat“ (GSK AA 01: 148). Dieses Gesetz sei das „Fundament der wahren Dynamik“ und auch verantwortlich für die Beendigung des „Zwiespaltes und der Uneinigkeit unter den Philosophen aller Nationen“ (GSK AA 01: 148–149). Der Grund aller Streitigkeiten um die Kraftschätzung liege an der missbräuchlichen Anwendung der Mathematik auf die Naturwissenschaft, die Kant damals noch als eine zur Metaphysik gehörende Lehre verstand. Das neue Gesetz sei in der Lage, diesen Grundfehler zu korrigieren: Dieses Gesetz ist der Hauptgrund der neuen Kräftenschätzung, von welcher ich sagen würde, daß ich sie an die Stelle der Schätzungen des Cartes und Leibnizens setze und zum Fundament der wahren Dynamik mache, wenn die Geringschätzigkeit meiner Urtheile in Vergleichung mit so großen Männern, mit denen ich zu thun habe, mir erlaubte mit solcher Autorität zu reden. Indessen bin ich nicht ungeneigt, mich zu überreden: daß dieses Gesetz vielleicht dasjenige Ziel bestimmen könne, dessen Verfehlung den Zwiespalt und die Uneinigkeit unter den Philosophen aller Nationen erregt hat. Die lebendigen Kräfte werden in die Natur aufgenommen, nachdem sie aus der Mathematik verwiesen worden. Man wird keinen von beiden großen Weltweisen, weder Leibnizen noch Cartesen, durchaus des Irrthums schuldig geben können. Auch sogar in der Natur wird Leibnizens Gesetz nicht anders stattfinden, als nachdem es durch Cartesens Schätzung gemäßigt worden (GSK AA 01: 148–149).

Mit der Formulierung des neuen Gesetzes zur Kraftschätzung versucht daher Kant, eine Einigkeit unter den cartesianischen und leibnizianischen Schulen herzustellen, das heißt, einen Mittelpunkt oder Mittelsatz zu finden, bei welchem sich die streitenden Parteien mit der „gemeinschaftlichen Wahrheit“ wiedertreffen. Dies bedeutet für den 22-jährigen Kant, die „Ehre der menschlichen Vernunft zu vertheidigen“, sofern sie „sich mit sich selber vereinigt“. Das wiederum deutet auf die spätere Antinomienlehre der KrV und die Idee einer zusammenhängenden Gesetzgebung hin. Es heißt gewissermaßen die Ehre der menschlichen Vernunft vertheidigen, wenn man sie in den verschiedenen Personen scharfsinniger Männer mit sich selber vereinigt und die Wahrheit, welche dieser ihre Gründlichkeit niemals gänzlich verfehlt, auch alsdann herausfindet, wenn sie sich gerade widersprechen (GSK AA 01: 149).

Ebenso wie bei der Antinomienlehre verbindet Kant in den Gedanken die Entdeckung der „Quelle des Irrthums“ (GSK AA 01: 69) mit der „Vereinigung“ der Vernunft mit sich selbst und der Verteidigung ihrer „Ehre“ oder der Ehre ihrer „Rechte“. Um die Quelle des Irrtums zu finden, braucht man aber einige methodologische Vorschriften, nämlich Unparteilichkeit, Vielseitigkeit und Bescheidenheit. Kant verdeutlicht die von ihm angenommene Methode zunächst durch den Hinweis darauf, wie die streitenden Parteien ihre Beweise zu begründen versu-

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chen. Der Streit bei der Kraftschätzung beruht von Haus aus auf der Zweideutigkeit des von den Parteien benutzten Kraftbegriffs. Beide Parteien weigern sich, ihre eigenen Ansprüche in Grenzen zu halten und hiermit die Ansprüche der entgegengesetzten Partei unter bestimmten Umständen als gültig anzuerkennen. Stattdessen bestreiten sie die Ansprüche des Gegners. Kant nennt als Beispiel das Gesetz von Leibniz. Die Welt hatte vor Leibnizen dem einzigen Satze des Cartes gehuldigt, der überhaupt den Körpern, auch denen, die sich in wirklicher Bewegung befinden, zum Maße ihrer Kraft nur die bloße Geschwindigkeiten ertheilte. Niemand ließ es sich beifallen, daß es möglich wäre in dasselbe einen Zweifel zu setzen; allein Leibniz brachte die menschliche Vernunft durch die Verkündigung eines neuen Gesetzes plötzlich in Empörung, welches nach der Zeit eines von denen geworden ist, die den Gelehrten den größten Wettstreit des Verstandes dargeboten haben. Cartes hatte die Kräfte der bewegten Körper nach den Geschwindigkeiten schlechthin geschätzt, allein der Herr von Leibniz setzte zu ihrem Maße das Quadrat ihrer Geschwindigkeit. Diese seine Regel trug er nicht, wie man denken sollte, nur unter gewissen Bedingungen vor, die der vorigen annoch einigen Platz verstatten; nein, sondern er leugnete Cartesens Gesetz absolut und ohne Einschränkung und setzte das seinige sofort an dessen Stelle (GSK AA 01: 33).

Kant zeigt und tadelt somit zugleich die despotische Haltung von Leibniz. Seiner Sicht nach ist es nicht angebracht, die cartesianische Position ohne Umstände und vollständig zu leugnen; es gilt vielmehr, ihr ein „gewisses Recht“ einzuräumen, indem man ihr einen bestimmten Geltungsbereich zuweist. Ungeachtet des inhaltlichen Streits teilen die beiden Streitgegner die gleiche Einstellung. Beide Parteien, so Kant, haben den Streit angefangen, nachdem sie dem Gegner dessen Vorurteile vorgeworfen hatten und glaubten, die eigenen Beweise und Argumente seien einwandfrei, was auch der Gegner zugeben müsste, wenn er „sie in einem rechten Gleichgewichte der Gemüthsneigungen“ 622 angesehen hätte. Jede Partei habe mit „merkwürdigem Unterschied“ ihre Beweise zu begründen versucht: die Cartesianer aus „einfachen Fällen“ und die Leibnizianer mit „verwickelten und dunklen“ Schlussfolgerungen: Sowohl die Partei des Cartesius, als die des Herrn von Leibniz haben für ihre Meinung alle die Überzeugung empfunden, der man in der menschlichen Erkenntniß gemeiniglich nur fähig ist. Man hat von beiden Theilen über nichts als das Vorurtheil der Gegner geseufzt, und jedwede Partei hat geglaubt, ihre Meinung würde unmöglich können in Zweifel gezogen werden, wenn die Gegner derselben sich nur die Mühe nehmen wollten, sie in einem rechten Gleichgewichte der Gemüthsneigungen anzusehen. Indessen zeigt sich doch ein gewisser merkwürdiger Unterschied unter der Art, womit sich die Partei der lebendigen Kräfte zu erhalten sucht, und unter derjenigen, womit die Schätzung des Cartesius sich vertheidigt. Diese beruft sich nur auf einfache Fälle, in denen die Entscheidung der Wahrheit und des Irrthums leicht und gewiß ist, jene 622

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Über das rechte Gleichgewicht und den Einfluss von Lockes Nachlassschrift siehe Petrocchi, I. Lockes Nachlaßschrift Of the Conduct of the Understanding und Ihr Einfluss auf Kant, a. a. O.

im Gegentheil macht ihre Beweise so verwickelt und dunkel als möglich und rettet sich so zu sagen durch Hülfe der Nacht aus einem Gefechte, darin sie vielleicht bei einem rechten Lichte der Deutlichkeit allemal den kürzern ziehen würde (GSK AA 01: 15).

Der aggressive Ton des Streits verhindert, dass die Gründe und Gegengründe mit einer gewissen Unparteilichkeit überprüft werden. Er nimmt auch dem Leser das Vergnügen, selbst eine Überprüfung der gegeneinander streitenden Gründe vorzunehmen. Wer den Gegner lächerlich macht, der will für die eigenen Argumenten einen ungestörten Ort finden, in diesem bleiben und sich selbst „von einem mühsamen Nachdenken lossprechen“ – der Bezug auf einen „Ruhestand“ findet sich oft in der Auseinandersetzung Kants mit dem Skeptizismus. Eine „ernsthafte Vorstellung“ lockt stattdessen „den Leser zu der gehörigen Aufmerksamkeit und Untersuchung an und läßt die Seele zu allen Gründen offen“. All dies sind methodologische Anweisungen des 22-jährigen Kant, die er in der Diskussion der Argumentationsweise der Marquise de Châtelet gegen einen Cartesianer, Jean-Jacques d’Ortous de Mairan, darstellt: Ich kann nicht umhin, hier noch eine Anmerkung über diejenige Art zu machen, womit die Frau Marquisin die Lehrsätze ihres Gegners angreift. Mich dünkt, sie habe keine bessere Methode erwählen können, ihm den allerempfindlichsten Streich beizubringen, als da sie seinen Schlüssen den Zug von etwas Seltsamem und Ungereimtem zu geben beschäftigt ist. Eine ernsthafte Vorstellung lockt den Leser zu der gehörigen Aufmerksamkeit und Untersuchung an und läßt die Seele zu allen Gründen offen, die von einer, oder der andern Seite in sie eindringen können. Aber die wunderliche Figur, unter der sie die Meinungen ihres Gegners auftreten läßt, bemächtigt sich sogleich der schwachen Seite des Lesers und vernichtet in ihm die Lust zu einer näheren Erwägung. Diejenige Kraft der Seele, die die Beurtheilung und das Nachsinnen regiert, ist von einer trägen und ruhigen Natur; sie ist vergnügt den Punkt ihres Ruhestandes anzutreffen und bleibt gerne bei demjenigen stille stehen, was sie von einem mühsamen Nachdenken losspricht; darum läßt sie sich leicht von solchen Vorstellungen gewinnen, die die eine von zwei Meinungen auf einmal unter die Wahrscheinlichkeit heruntersetzt und die Mühe fernerer Untersuchungen für unnöthig erklärt. Unsere Philosophin hätte also ihr ridendo dicere verum, oder den Einfall, ihrem Gegner im Lachen die Wahrheit zu sagen, mit mehrerer Billigkeit und vielleicht auch mit besserem Erfolg gebrauchen können, wenn ihr Gegner ernsthafter Gründe unfähig gewesen wäre, und man ihn seine Auslachenswürdigkeit hätte wollen empfinden lassen (GSK AA 01: 132–133).

Die „ernsthafte“ Beweisführung ist diejenige, die den Leser zum „Nachdenken“ und zur „Selbstprüfung“ der von beiden Parteien angeführten Gründe anregt. Kant weist eindeutig darauf hin, wie das Gesetz einzubringen ist, das die gemeinschaftliche Wahrheit, die den Parteien aus dem Blick geraten ist, zum Ausdruck bringt. Man müsste dem Weg folgen, den er der „skeptischen Methode“ später zuweist, nämlich die gegeneinander streitenden Gründe in Betracht ziehen und sie mit Gleichgültigkeit und Unparteilichkeit überprüfen, um so zu einem „Gleichgewichte des Verstandes“ (GSK AA 01: 68) zu gelangen, wobei al-

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lein die Wahrheit erreicht und die Philosophie von den Fehlern befreit werden kann. Die Vorstellung eines „Gleichgewichtes des Verstandes“ wird von Kant mithilfe einer Kritik an den Leibnizianern dargelegt, die die Erforschung der Lebenskräfte aus der Lehre von der Bewegung unelastischer Körper durch den Stoß vermeiden, weil sie gegen ihre Beweise spricht. Eine kleine Ausflucht, eine frostige und matte Ausrede ist fähig ihnen genug zu thun, wenn es darauf ankommt eine Schwierigkeit wegzuschaffen, die der Meinung, für die sie eingenommen sind, hinderlich ist. Man hätte uns in der Philosophie viel Fehler ersparen können, wenn man in diesem Stücke sich hätte einigen Zwang anthun wollen. Wenn man auf dem Wege ist, alle Gründe herbeizuziehen, welche der Verstand zu Bestätigung einer Meinung, die man sich vorgesetzt hat, darbietet: so sollte man mit eben der Aufmerksamkeit und Anstrengung sich bemühen das Gegenteil auf allerlei Arten von Beweisen zu gründen, die sich nur irgend hervortun, eben so wohl als man für eine beliebte Meinung immer tun kann. Man sollte nichts verachten, was dem Gegensatze im geringsten vorteilhaft zu sein scheint, und es in der Verteidigung desselben aufs höchste treiben. In einem solchen Gleichgewichte des Verstandes würde öfters eine Meinung verworfen werden, die sonst unfehlbar wäre angenommen worden, und die Wahrheit, wenn sie sich endlich hervortäte, würde sich in einem desto größern Lichte der Überzeugung darstellen (GSK AA 01: 68).623

Wenn eine Partei ihre eigenen Fehler verschweigt und die Gegengründe außer Acht lässt oder sie sogar ins Lächerliche zieht, macht sie das Gelingen eines „Mittelweg[s]“ unmöglich, auf dem aber die Wahrheit beruht. Nach der Beurteilung des Streits zwischen Cartesianern und Leibnizianers deutet Kant am Ende der Schrift darauf hin, dass es nur „einer kleinen Abwesenheit des Parteieneifers“ bedurfte, um „den Punkt“ zu finden, „darin das Wahre von beiden Seiten zusammen fiel“: Nach den scharfsinnigen Bemühungen der Cartesianer war es nicht schwer, die Verwirrung der Quadratschätzung mit der Mathematik zu verhüten, und nach den sinnreichen Anstalten der Leibnizianer war es fast unmöglich, sie in der Natur zu vermissen. Die Kenntniß dieser zwei äußersten Grenzen mußte ohne Schwierigkeit den Punkt bestimmen, darin das Wahre von beiden Seiten zusammen fiel. Diesen anzutreffen, war nichts weniger als eine große Scharfsinnigkeit nöthig, es bedurfte nur einer kleinen Abwesenheit des Parteieneifers und ein kurzes Gleichgewicht der Gemüthsneigungen, so war die Beschwerde sofort abgethan (GSK AA 01: 181).

Wie bei der späteren Vorstellung des kritischen Gerichtshofs der KrV als einer unparteiischen Entscheidungsinstanz vertritt Kant auch hier den Standpunkt, dass man nur im Falle der „Abwesenheit des Parteieneifers“ bei der Überprüfung des anstehenden Problems den „gewissen Mittelpunkt“ erreicht, der „bei623

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Vgl. Hinske, N. „Prolegomena zu einer Entwicklungsgeschichte“, a. a. O., S. 114. Hinske zieht diese Stelle gegen Kreimendahls These heran, der zufolge die skeptische „Umbruchphase“ des Kant’schen Denkens erst 1765/66 stattgefunden hat.

den Parteien in gewisser Maße Recht läßt“. Kant verdeutlicht dies durch einen Hinweis auf die Methode von Georg Bernhard Bilfinger:624 Ich finde in der Abhandlung, die Herr Bülfinger der Petersburgischen Akademie überreicht hat, eine Betrachtung, der ich mich jederzeit als einer Regel in der Untersuchung der Wahrheiten bedient habe. Wenn Männer von gutem Verstande, bei denen entweder auf keinem oder auf beiden Theilen die Vermuthung fremder Absichten zu finden ist, ganz wider einander laufende Meinungen behaupten, so ist es der Logik der Wahrscheinlichkeiten gemäß, seine Aufmerksamkeit am meisten auf einen gewissen Mittelsatz zu richten, der beiden Parteien in gewisser Maße Recht läßt (GSK AA 01: 32).625

Im folgenden Absatz weist Kant auf die „Streitsache“ der lebendigen Kräfte hin und behauptet, dass beide streitenden Parteien „allem Ansehen nach gleich stark und gleich billig sind“. Bei dieser Streitsache verfolgt Kant den „sicherste[n] Weg, wobei beide Parteien ihre Rechnung finden“. Der „sicherste Weg“ zur Wahrheit wäre dann die „Methode des Mittelweges“.626 Um zu der „Abwesenheit des Parteieneifers“ und demnach dem Mittelweg zu gelangen, muss man zunächst die Fähigkeit des menschlichen Verstandes, auf alle seine Fragen Antworten zu haben, bezweifeln, das heißt, man muss seine eigenen Überzeugungen in Zweifel ziehen. Im nächsten Schritt kann dann das „Gleichgewichte des Verstandes“ zur Überprüfung der Gründe und Gegengründen bei jedem Streit zum Zuge kommen: Er [Bernouilli] spricht: Non capio, quid pertinacissimus adversarius, si vel scepticus esset, huic evidentissimae demonstrationi opponere queat, und bald darauf: Certe in nostra potestate non est, aliquem eo adigere, ut fateatur, discere, quando videt solem horizontem ascendere. Lasset uns diesen Zufall der menschlichen Vernunft in der Person eines so großen Mannes nicht mit Gleichgültigkeit ansehen, sondern daraus lernen, auch in unsere größte Überzeugung ein weises Mißtrauen zu setzen und allemal zu vermuthen, daß wir auch alsdann noch nicht außer der Gefahr seien, uns selber zu hintergehen, damit der Verstand in seinem Gleichgewichte wenigstens sich so lange erhalte, bis er Zeit gewonnen hat, die Umstände, den Beweis und das Gegentheil in genugsamer Prüfung kennen zu lernen (GSK AA 01: 134). 624

625 626

Vgl. Hinske, N. Kants Weg zur Transzendentalphilosophie, a. a. O. S. 124–126. Das Buch von Bilfinger, worauf Kant sich bezieht, ist De viribus corpori moto insitis et illarum mensura. Bilfinger verteidigt eine „unparteiische Darstellung der einander entgegengesetzten Positionen“ (alterius partis argumenta audias), wobei nach der Plausibilität der angeführten Gründe gefragt wird. Kant stellt sich insofern gegen Bilfinger, als er die von diesem vorgeschlagene Art der Beilegung zurückweist, nämlich die „Distinktionen oder Unterscheidungen“ (siehe dazu Kapitel 6.3.1). Stattdessen behauptet Kant, der Streit könne dadurch aufgelöst werden, dass man die falsche Voraussetzung entdeckt. Diese falsche Voraussetzung ist in den Gedanken die Annahme, dass die lebendigen Kräfte durch bloße mathematische Mittel beweisbar oder widerlegbar seien. „Diese falsche Voraussetzung ist nach Meinung Kants die eigentliche Quelle der Entzweiung: ihre Aufdeckung bedeutet daher die – zumindest grundsätzliche – Beilegung der Streitigkeiten und die ‚Wiedervereinigung‘ der verfeindeten Parteien“. Hinske, N. Kants Weg zur Transzendentalphilosophie, a. a. O., S. 125. Siehe dazu Vaihinger, H. Commentar, a. a. O., S. 58. Schonfeld, M. The Philosophy of the Young, a. a. O., S. 56–62.

163

Es lässt sich daraus ersehen, dass die Methode des Mittelwegs das methodologische Fazit der Erstlingsschrift Kants ist. Dies wird von Kant folgendermaßen formuliert: „Wir bestreiten hier also nicht eigentlich die Sache selbst, sondern den modum cognoscendi“ (GSK AA 01: 60). Die Gedanken lassen sich folglich als eine Überlegung über die beste Methode zur Beilegung des Streits zwischen dem mathematischen und dem metaphysischen modus cognoscendi in der Frage nach der Beschaffenheit und Schätzung der lebendigen Kräfte deuten. Die von Kant vorgeschlagene „neue“ Methode könnte imstande sein, Fehler erkennen, über die die bloße geometrische Betrachtung schweigen muss. Kant nimmt damit eines seiner kritischen Grundmotive vorweg, nämlich die Ablehnung der Nachahmung des mos geometricus in der Philosophie. Mit einem Worte: diese ganze Abhandlung ist einzig und allein ein Geschöpf von dieser Methode zu denken. Ich will es aufrichtig gestehen: ich habe alle diejenige Beweise für die lebendigen Kräfte, deren Schwäche ich jetzt vollkommen zu begreifen glaube, anfänglich als so viel geometrische Demonstrationen angesehen, in denen ich nicht den geringsten Fehler vermuthete und auch vielleicht nie einen einzigen gefunden hätte, wenn die allgemeine Erwägung der Bedingungen, unter welchen die Schätzung des Herrn von Leibniz festgesetzt wird, meiner Betrachtung nicht einen ganz andern Schwung ertheilt hätte (GSK AA 01: 94).

Kants „Erwachen“ aus dem „geometrischen Schlummer“ durch den Einfluss des „Herrn von Leibniz“627 brachte ihn zu der Erkenntnis, dass die mathematischen, genauer gesagt die geometrischen Konzeptionen der lebendigen Kräfte von der falschen Voraussetzung ausgehen, dass man „die Kraft des bewegten Körpers nicht so wie die Kraft des zur Bewegung strebenden schätzen solle“ (GSK AA 01: 94). Ebenso wurde ihm klar, dass das Gesetz des Quadrats der Geschwindigkeit infolgedessen zur Schätzung aller Kräfte gelten müsse. Aus dieser falschen Voraussetzung müssten so Kant, die Schlüsse der Geometer „sehr hinken[d]“ sein: Also sah ich mit einer Gewißheit, die der geometrischen gar nicht weicht, ein, daß die Wirklichkeit der Bewegung kein hinlänglicher Grund sein könne, zu schließen, daß die Kräfte der Körper in diesem Zustande wie das Quadrat ihrer Geschwindigkeit sein müßten, da sie bei einer unendlich kurz gedauerten Bewegung, oder, welches einerlei ist, bei der bloßen Bestrebung zu derselben, nichts wie die Geschwindigkeit zum Maße haben. Ich schloß hieraus: wenn die Mathematik die Wirklichkeit der Bewegung als den Grund der Schätzung nach dem Quadrat für sich hat und sonst nichts, so müssen ihre Schlüsse sehr hinken (GSK AA 01: 94–95).

Nicht ohne Grund ist der nächste Abschnitt folgendermaßen betitelt: „Der Mangel dieser Methode ist eine Ursache mit gewesen, woher gewisse offenbare Irrthümer sehr lange sind verborgen geblieben“ (GSK AA 01: 95). Kant schreibt: 627

164

Die von Kant hierbei benutzten Ausdrücke sind denen sehr ähnlich, die er zur Bezeichnung des späteren Erwachens durch Hume verwendet: „Ich gestehe frei: die Erinnerung des David Hume war eben dasjenige, was mir vor vielen Jahren zuerst den dogmatischen Schlummer unterbrach und meinen Untersuchungen im Felde der speculativen Philosophie eine ganz andre Richtung gab“ (Prol AA 04: 260).

Wenn man sich jederzeit dieser Art zu denken beflissen hätte, so hätte man sich in der Philosophie viel Irrthümer ersparen können, zum wenigsten wäre es ein Mittel gewesen, sich aus denselben viel zeitiger heraus zu reißen. Ich unterstehe mich gar zu sagen, daß die Tyrannei der Irrthümer über den menschlichen Verstand, die zuweilen ganze Jahrhunderte hindurch gewährt hat, vornehmlich von dem Mangel dieser Methode, oder anderer, die mit derselben eine Verwandtschaft haben, hergerührt hat, und daß man sich also dieser nunmehr vor andern zu befleißigen habe, um jenem Übel inskünftige vorzubeugen. Wir wollen dieses beweisen (GSK AA 01: 95).

Kant bezieht sich hierbei auf die Entdeckung des in einer bestimmten Schlussfolgerung versteckten Fehlers, was, sobald er entdeckt ist, die auf ihm beruhenden Beweise ungültig macht. Die Beweise würden fortwährend betrügen, wenn der Fehler nicht entdeckt würde. Problematisch ist jedoch, wenn dieser Fehler auf etwas beruht, wo man es am wenigsten vermuten würde, also z. B. wenn der auf dem Fehler beruhende Beweis mit „geometrische[r] Schärfe und Richtigkeit“ geführt wird. Es kann aber auch sein, „[dass der Fehler] also gemeiniglich sehr lange verborgen bleiben [wird], ehe er entdeckt wird, denn dieser glückliche Zufall kann viele Jahre, ja öftermals ganze Jahrhunderte ausbleiben. Dies ist beinahe der vornehmste Ursprung der Irrthümer, die zur Schande des menschlichen Verstandes viele Zeiten hindurch fortgewährt haben, und die hernach eine sehr leichte Betrachtung aufgedeckt hat“ (GSK AA 01: 95–96). Abgesehen von den Unterschieden, denen wir uns im Folgenden zuwenden, bleiben die Lehre Kants über die „Quellen des Irrtums“ bzw. „Fehlers“ und die Grundrisse der Methode zu seiner Aufhebung beinahe dieselben bis zur KrV. Bei näherem Hinsehen gelangt man zu der Einsicht, dass sich einige Grundzüge des späteren kritischen Gerichtshofs der KrV schon in der Erstlingsschrift Kants finden lassen. Die Gedanken sind in dieser Hinsicht ein methodologisches Werk wie die Preisschrift. Die „Vermittlungstendenz“ Kants ist schon hier tätig; sie zeigt sich in seinem Versuch, die Quelle bzw. Ursache der Uneinigkeit der philosophischen Bemühungen zu entdecken, sofern sie auf einer von den streitenden Parteien angenommenen „falschen Voraussetzung“ beruht. 5.2

Weitere Schriften der 1750er Jahre

Schon kurz nach ihrer Veröffentlichung hat Kant die Gedanken zurückgewiesen und viele ihrer Lehren, so etwa den cartesianischen Bewegungsbegriff, nach seinem Bekenntnis zur Newton’schen Naturphilosophie und infolge weiterer Einflüsse im Laufe seiner Denkentwicklung aufgegeben.628 Dennoch weisen die anderen Schriften der 1750er Jahre eindeutig auf denselben methodologischen Ansatz der Gedanken und die „Vermittlungstendenz“ hin. Es ist hier nicht möglich, jede Schrift von Kant der 1750er eingehend zu untersuchen und darzustellen. Eine mit Blick auf das anstehende Problem des kritischen Motivs des Gerichtshofs entworfene Skizze der weiteren Schriften und Themen des „dreißigjährigen

628

Dazu Adickes, E. Kant als Naturforscher, a. a. O.; Arana, J. Ciencia y Metafisica en el Kant Precritico, a. a. O.

165

Kant“ muss genügen, bevor wir uns den 1760er Jahren und der Konsolidierung der skeptisch-polemischen Methode zuwenden. 5.2.1 Allgemeine Naturgeschichte und Theorie des Himmels Die Allgemeine Naturgeschichte und Theorie des Himmels (1755) ist in drei Teile untergliedert. Der erste Teil entwirft die Struktur des Sternenhimmels, wobei das System der Fixsterne nach einer Analogie mit dem Planetensystem entworfen und die Hypothese einer unbestimmten Menge ähnlicher Systeme im Universum aufgestellt wird. Der zweite Teil, der aus acht Hauptstücken besteht, handelt von dem „ersten Zustande der Natur, der Bildung der Himmelskörper, den Ursachen ihrer Bewegung und der systematischen Beziehung“ (NTH AA 01: 259). Das 7. und 8. Hauptstück sind von besonderem Interesse, weil sie die unendliche Expansion des Universums nach einem mechanischen Modell der Expansion der Materie postulieren.629 Der dritte und letzte Teil stellt einige Mutmaßungen und Hypothesen über die Möglichkeit von Bewohnern anderer Planeten und ihre psychophysische Struktur an. Die Schrift stellt im Grunde genommen den Streit zwischen der mechanistischen und der teleologischen Konzeption der Natur bzw. den Streit zwischen dem Naturalisten und dem „Sachwalter des Glaubens“ (NTH AA 01: 222) oder „Vertheidiger der Religion“ (NTH AA 01: 222–223) dar. Kant formuliert die Grundfrage der Schrift zu Beginn der Vorrede: Wie kann man an einer aus der Annahme eines „höchstweisen Urhebers“ stammenden teleologischen Ordnung der Welt festhalten, wenn man doch auch eine mechanistische Erklärung des Ursprungs und der Bildung des Universums und der Naturdinge annimmt? Da Kant in der Schrift ein mechanistisches Modell zur Erklärung des Ursprungs der Welt liefert, ist er sich völlig bewusst, den Interessen der Religion zuwiderzulaufen. Er beruft sich jedoch auf dasselbe Recht, das Descartes „bei billigen Richtern jederzeit genossen hat“, wenn er „die Bildung der Weltkörper aus bloß mechanischen Gesetzen zu erklären wagte“ (NTH AA 01: 228). Am Ende der Vorrede verweist Kant abermals auf den „billige[n] Richter“ bei der Prüfung des Wertes der in der Schrift dargestellten Lehre (NTH AA 01: 235). Die Rechtssache, die dargelegt wird, betrifft also die „Vertheidiger der Religion“, die eine teleologische Erläuterung aller Naturereignisse vertreten, und die „Naturalisten“, die wiederum eine bloß mechanistische Erklärung des Ursprungs und der Bildung der Welt liefern. Um die Billigkeit des Verfahrens zu garantieren, mag „der „Sachwalter des Glaubens demnach zuerst seine Gründe hören lassen“ (NTH AA 01: 222). Kant bevorzugt keine der beiden streitenden Parteien, sondern versucht, sie zu versöhnen: Allein ich behaupte: dass die Verteidiger der Religion dadurch, dass sie sich dieser Gründe auf eine schlechte Art bedienen, den Streit mit den

629:

166

„Quella [der erste Teil] costituisce la ‘teoria del cielo’, questa la ‘storia naturale del cielo’. La prima estende per analogia la struttura del nostro sistema planetario a tutto l’universo stellato; la seconda vuol dimonstrare l’origine meccanica del mondo, e particolarmente del nostro sistema solare, dal caos primitivo alle formazioni celesti oggi osservabili, secondo le sole leggi meccaniche“. Campo, M. La Genesi del Criticismo Kantiano, a. a. O., S. 54

Naturalisten verewigen, indem sie ohne Not denselben eine schwache Seite darbieten (NTH AA 01: 222).

Der Sachwalter des Glaubens, der „die Gute Sache der Religion retten“ will, gerät aber in Verlegenheit, wenn er leugnet, dass die Natur durch die bloße „Mechanik ihrer Kräfte“ durchaus „nützliche und auf Zwecke abzielende Verfassungen“ produzieren kann (NTH AA 01: 224). Wenn er so handelt, gibt er daher „dem Unglauben durch eine schlechte Vertheidigung Anlaß zu triumphiren“ (NTH AA 01: 225). Der Naturalist weist wiederum die „göttliche Regierung“ der Natur völlig zurück und schreibt alle Naturbildungen der „blinde[n] Mechanik der Naturkräfte“ zu. Es ist, so Kant, als wäre „Epikur mitten im Christentume wieder [aufgelebt]“ (NTH AA 01: 222). Die Argumente dieses „Freigeistes“ gleichen denen, die Kant im Antinomie-Kapitel der KrV den Anhängern der Antithesis im Allgemeinen zuspricht (vgl. A 471/B 499): „Gebt ihr es, sagt allhier der Freigeist, zu, daß, wenn man nützliche und auf Zwecke abzielende Verfassungen aus den allgemeinsten und einfachsten Naturgesetzen herleiten kann, man keine besondere Regierung einer obersten Weisheit nöthig habe“ (NTH AA 01: 224). Zur Beilegung des Streits zwischen den Verteidigern der Religion und den Naturalisten suggeriert Kant, dass die teleologische und die mechanistische Erklärung des Naturganzen auf demselben Fundament gründen, nämlich auf einem „gemeinschaftlichen Ursprung […], [einem] unendlichen Verstand, in welchem aller Dinge wesentliche Beschaffenheiten beziehend entworfen“ (NTH AA 01: 225). Die mechanische Auswicklung der Natur in all ihrer „Schönheit und vollkommenen Anordnung“ (NTH AA 01: 222) wäre dann von einem „Urwesen“ abhängig, das „die Quelle der Wesen selber und ihrer ersten Wirkungsgesetze in sich hat“ (NTH AA 01: 226). Anders als Epikur und seine Anhänger, die auf den reinen Zufall der Atomverbindung zur Erklärung der Ordnung der Welt setzen, geht Kant davon aus, dass die Materie „an gewisse notwendige Gesetze gebunden“ ist (NTH AA 01: 227), die ihrerseits eine mechanische Erzeugung von Zwecken ermöglichen. Daraus ergibt sich eine der Materie und den mechanischen Naturgesetzen innewohnende Teleologie, was wiederum das Postulat eines direkten und dauernden Eingreifens Gottes oder eines Deus ex machina zur kontinuierlichen Anordnung der Welt und der Naturereignisse unnötig macht. Die Materie „hat keine Freiheit, von diesem Plane der Vollkommenheit abzuweichen“ (NTH AA 01: 228). Die Anziehungs- und Abstoßungskräfte der Materie genügt somit für die Erklärung „der Einrichtung des Weltsystems“ (NTH AA 01: 230). Die Gesetze der Anziehung der Körper und auch die weiteren Gesetze, die die Ordnung und Schönheit der Natur produzieren, sind „einer weisen Absicht“, nämlich der Absicht Gottes als des Urhebers der Welt, unterworfen, „und es ist ein Gott eben deswegen, weil die Natur auch selbst im Chaos nicht anders als regelmäßig und ordentlich verfahren kann“ (NTH AA 01: 228). Abgesehen von der Tatsache, dass Kant später den physisch-teleologischen Beweis der Existenz Gottes zurückweist, ist an dieser Stelle von Relevanz, dass bei der Vorstellung eines „höchstweisen Urwesen[s]“ der Streit zwischen der mechanistischen und der teleologischen Konzeption der Natur und damit zwischen den Verteidigern der Religion und den Naturalisten beigelegt wird. Der Beilegungs- bzw. Versöhnungsversuch zwischen der mechanischen und der te-

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leologischen Naturordnung in einem moralischen Naturganzen prägt die ganze kritische Philosophie, von der KrV bis zum Opus Postumum über die Kritik der Urteilskraft hinweg.630 Nun ist das in der Allgemeine Naturgeschichte „vorgetragene System […] das einzige Mittel unter allen möglichen, beiderseitigen Gründen [scil. des „mechanischen Lehrbegriff“ und der „unmittelbaren göttlichen Anordnung“ – D. K. T.] ein Genüge zu leisten“ (NTH AA 01: 240; vgl. auch NTH AA 01: 363–364). Wie bei den Gedanken ist auch hier die Idee eines „Dritten“ oder eines „Mittelweg[s]“ maßgeblich – weder die blinde Atomistik noch eine unwissenschaftliche Theologie steht am Ende, sondern eine auf der höchsten Weisheit des Schöpfers der Materie basierende „innere Teleologie“. Kant stellt daher nicht ohne Grund den Streit zwischen den Verteidigern der Religion und den Naturalisten als einen Gerichtshof vor, in dem jede Partei (der „Sachwalter“ des Glaubens und der „Sachwalter“ der Naturerkenntnis) ihre Gründe vor einem „billigen Richter“ darstellt, der seinerseits als „unparteiischer Kampfrichter“ die Argumente anhört und ein Verdikt ausspricht. Die von Kant verteidigte Lehre über den gemeinschaftlichen Ursprung von Mechanismus und Theologie stellt einen Mittelweg dar, wie dies schon in den Gedanken die Vorstellung eines neuen Gesetzes zur Kräfteschätzung war, der Cartesianer und Leibnizianer zu vereinigen vermag. Die Lehre über den gemeinschaftlichen Ursprung der mechanistischen und der teleologischen Erklärung der Natur ist demnach die Grundlage, auf die sich das Verdikt des Richters stützen muss; sie dient als ein „wahre[r] Begriff des Systems“, der die „dem Scheine nach wider einander streitenden Gründe vereinigt“. Man sieht bei unparteiischer Erwägung: daß die Gründe hier von beiden Seiten gleich stark und beide einer völligen Gewißheit gleich zu schätzen sind. Es ist aber eben so klar, daß ein Begriff sein müsse, in welchem diese dem Scheine nach wider einander streitende Gründe vereinigt werden können und sollen, und daß in diesem Begriffe das wahre System zu suchen sei (NTH AA 01: 262).

5.2.2 Nova dilucidatio Die Nova dilucidatio (1755) stellt eine Neuformulierung des Satzes vom zureichenden Grund als Satz des bestimmenden Grundes (ratio determinans) oder des „dem Bestimmten“ und dessen Dasein vorgängig bestimmenden Grundes (ratio antecedenter) (Gegensatz zwischen ratio veritatis und ratio existentiae)631 dar (PND AA 01: 391–410). Im zweiten Abschnitt skizziert Kant bekanntlich zum ersten Mal den späteren dritten kosmologischen Widerstreit der Vernunft, nämlich die Gegenüberstellung zwischen Determinismus und Freiheit. In der Nova dilucidatio richtet er sich nicht nur gegen den Fatalismus, der beansprucht, dass alle Handlungen durch vorgängig bestimmende Gründe bestimmt werden, sondern auch gegen die Lehre der Freiheit als Gleichgültigkeit, die wiederum beansprucht, dass 630

631

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Vgl. z. B. KU AA 05: 412: „Nun ist aber das gemeinschaftliche Princip der mechanischen einerseits und der teleologischen Ableitung andrerseits das Übersinnliche, welches wir der Natur als Phänomen unterlegen müssen“. Dazu Campo, M. La Genesi del Criticismo Kantiano, a. a. O., S. 128; Schmucker, J. Die Ontotheologie des vorkritischen Kant, a. a. O.

eine Handlung genau dann frei genannt werden darf, wenn sie absolut keinen Grund hat. Während der Fatalist „alle Freiheit und Moralität zunichtet“ (PND AA 01: 389), ist die Lehre der Freiheit als Gleichgültigkeit unhaltbar, weil sie nicht begreift, dass auch eine freie Handlung einen Grund haben muss (PND AA 01: 406). Kants Lösung beruht auf einer Grundlage, die zugleich auch die Basis der Antinomie zu sein scheint: Man muss annehmen, dass die freien Handlungen einen Grund haben und demnach ein Naturereignis bzw. eine Naturwirkung sind; jedoch muss man zugleich auch annehmen, dass diese Handlungen einen „inneren Grund“ (fast wie der spätere „intelligible Charakter“) haben, der aber von der natürlichen Determination ausgenommen ist. Crusius’ Zweifel an der Möglichkeit einer freien Handlung unter der Voraussetzung einer allgemeinen Gültigkeit des Satzes vom zureichenden Grund war vielleicht der Anlass für einen solchen Mittelweg bei Kant. In § 126 des Entwurfes der nothwendigen Vernunft-Wahrheiten bezweifelt Crusius, dass man dadurch, dass der moralischen Zurechnung eine hypothetische statt einer absoluten Notwendigkeit zugewiesen wird, die Möglichkeit einer freien und somit zurechenbaren Handlung retten könnte.632 Die Darstellung Kants am Ende des zweiten Abschnittes der Nova dilucidatio nimmt implizit Bezug auf Crusius und weist auf die Notwendigkeit hin, die Gültigkeit des principium rationis mit der Möglichkeit einer zurechenbaren, da freien Handlung und a fortiori mit der Moral in Zusammenhang zu bringen.633 Der Fatalist gründet seinen Beweis auf den folgenden Satz: „[W]enn alles, was geschieht, nur geschehen kann, wenn es einen vorgängig bestimmenden Grund hat, so folgt, dass alles, was nicht geschieht, auch nicht geschehen kann, weil offenbar kein Grund vorhanden ist“ (PND AA 01: 399). Die Schlussfolgerung des auf den Satz vom zureichenden Grund beruhenden Fatalismus ist daher relativ einfach: Die freie Handlung setzt voraus, dass ihr Gegenteil hätte geschehen können. Da aber alles, was geschieht, nur geschehen kann, weil es einen vorgängig bestimmenden Grund hat, konnte das, was nicht geschieht, nicht geschehen, weil es notwendig geschehen wäre, wenn es einen vorgängig bestimmenden Grund gegeben hätte. Daraus folgt, dass alles, was geschieht, absolut notwendig geschehen muss – auch die „freie“ Handlung (PND AA 01: 399). Kant legt Crusius’ Argument gegen den Fatalismus folgendermaßen dar: Wenn nun jede Handlung durch den Satz vom zureichenden Grund bestimmt wird, dann reicht der Grund dieser Handlung durch eine „unbiegsame Kette von Begebenheiten“ bis zu seinen ersten Gründen bei dem „ersten Zustand der Welt“ (primo mundi statu) zurück, „der unmittelbar Gott als den Urheber kundgibt“ 632 633

Crusius, C. A. Entwurf der nothwendigen Vernunft-Wahrheiten. Leipzig, 1766, S. 208–211. Rx 3860 AA 17: 315–316 (1764–1768, 1769). „Zur Freyheit ist 1. spontaneitas simpliciter talis (automaton) (g independentia a causis subiective necessitantibus (stimulis)) nothig, damit […] die bestimmungen dem subiect als seine Handlung können attribuirt werden. 2. Das Vermögen des arbitrii intellectualis, daß es ihm als ein factum könne imputirt werden. Weil alles, was geschieht, nach Gesetzen des Begehrungsvermögens ein wohlgefallen voraus setzt, so muß die complacentia, welche independent ist von der subiectiven necessitation, intellectual seyn, und setzt iene also diese voraus. Die größte Schwierigkeit stekt darin: wie eine subiectiv unbedingte Willkühr könne gedacht werden (g est obiective hypotheticum) in (g nach) dem nexu causarum efficientium sive determinantium oder, wenn man davon abgeht, wie die imputabilitaet der Handlungen möglich sey“.

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(PND AA 01: 399) (das heißt, Kant nimmt hier eine Gleichsetzung von Grund und Ursache, ratio und causa, an). Daher ist alles, was geschieht (als freie Handlung oder „Naturbegebenheit“), schon von Gott vorhergesehen, sodass die Folgen nicht anders sein können als diejenigen, die wirklich stattgefunden haben. „Also betrifft uns eine Zurechnung unserer Taten nicht“ (Ergo imputatio factorum nostrorum ad nos non pertinet) (PND AA 01: 399). Ohne Zurechnung gibt es aber auch keine Moralität. Wie könnte Gott die Tugendhaften belohnen und die Sünder für ihre Sünden bestrafen, wenn „schon vom ersten Ursprung der Welt an vorgesehen war, dass sie sie ausführen müssten?“ (PND AA 01: 399-400) Kant antwortet auf Crusius, indem er den Unterschied zwischen der absoluten und der hypothetischen Notwendigkeit uminterpretiert. Auf dem Spiel steht nicht die Frage, wie notwendig, ob absolut oder hypothetisch, eine bestimmte Begebenheit ist, sondern vielmehr, woher solch eine Notwendigkeit kommt. Es gibt nun eine „hypothetische, besonders moralische Notwendigkeit“, die von einer besonderen Art von Gründen, den „Beweggründen“ (motiva) oder besser den „an den Willen herangebrachten Beweggründen des Verstandes“ (motiva intellectus voluntati applicata) (PND AA 01: 400), herrührt. Solche Beweggründe als Gründe oder bestimmende Gründe einer freien Handlung (einer Begebenheit, die hätte geschehen können oder nicht) „neigen das Wollen und Begehrens hin“ (volitionum appetituumque propensione) und bestimmen die Handlung nach einer „zwar gewissen, aber freiwilligen Verknüpfung nach einem feststehenden Gesetz“ (nexu, certissimo illo quidem, at voluntario, actiones stabili lege determinantur) (PND AA 01: 400). Wie frei man ist, hängt davon ab, wie sehr man dem Gesetz unterworfen ist, das wiederum durch das Vermögen des Verstandes (intellectus), den Willen durch die ihn anlockenden Vorstellungen „anzutreiben“, erklärt wird. Kant lehnt sich dabei eindeutig an den Intellektualismus von Wolff an. Die Möglichkeit einer freien Handlung beruht auf inneren intellektuellen Gründen, den „an den Willen herangebrachten Beweggründen des Verstandes“. Frei ist diejenige Handlung, die durch eine bestimmte (deutliche) Vorstellung des Verstandes ausgeführt wird, die unausweichlich den Willen bewegt, das heißt als motivum gilt.634 Auf dieser Grundlage kritisiert Kant die Lehre der Freiheit als Gleichgültigkeit. Den Fatalisten zu widerlegen bedeutet jedoch nicht, dass eine Handlung genau dann frei sei, wenn sie keinen Grund hat. Frei ist vielmehr die Handlung, deren Grund ein „innerer Grund“, ein „Beweggrund des Verstandes“ ist (PND AA 01: 401). Der zweite Abschnitt der Nova dilucidatio stellt daher einen eindeutigen Streit dar. Dabei wird der Versuch gemacht, diesen Streit zwischen Fatalismus und der Freiheit als Gleichgültigkeit durch einen Mittelweg bzw. einen „dritten Lehrbegriff“ beizulegen, nämlich die Möglichkeit der Freiheit aus einem intellektuellen Grund. Neben dem Streit zwischen Fatalismus und Freiheit als Gleichgültigkeit deutet Kant im dritten Abschnitt der Nova dilucidatio, in dem die Sätze der Aufeinanderfolge und des Zugleichseins dargestellt werden, einen weiteren Versuch an, einen Streit beizulegen, nämlich den Streit zwischen Idealismus und Materia634

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„Das Streben des eingepflanzten Begehrens nach weiteren Wahrnehmungen läßt die Erkenntniskraft nicht lange in demselben Zustand verharren. Ändert sich demnach der Zustand der inneren Vorstellungen, so muss sich die Erkenntniskraft (mentem) irgendwohin neigen“ (PND AA 01: 406).

lismus. Im Rahmen der Diskussion über die Beziehung zwischen Körper und Seele behauptet Kant, dass nach dem Satz der Aufeinanderfolge die inneren Veränderungen der Seele einen äußeren Grund bzw. eine äußere Ursache haben, solche Veränderungen also auf die Körper zurückzuführen sind. Die Körper wiederum können nur durch eine vorherige vorstellende Tätigkeit der Seele empfunden werden. Daraus wird ersichtlich, dass Kant sich weder an einen radikalen Idealismus, der die Wirklichkeit der Körper leugnet, noch an einen radikalen Materialismus, der die Möglichkeit und die Existenz der Seele leugnet, anlehnt (PND AA 01: 412). Wie aber die Gemeinschaft der einfachen und der komplexen Substanzen genau zu begreifen sei, erklärt Kant nur oberflächlich. Da die wechselseitige Wirkung der Substanzen nicht durch die isolierten, „endlichen“ Substanzen eingesehen werden könne – die Setzung einer Substanz bringt nicht die Setzung einer anderen Substanz oder ihrer Prädikate mit sich –, hängt die wirkliche Gemeinschaft der Substanzen von „dem gemeinsamen Grund ihres Daseins ab, nämlich dem göttlichen Verstand“ (divino intellectu) (PND AA 01: 412-3) oder dem „Schema des göttlichen Verstandes“ (intellectus divini schema) (PND AA 01: 414). Daraus ergibt sich, dass der Raum und die mechanischen und dynamischen Gesetze der Natur „äußere Erscheinung“ (phaenomenon externum) einer ursprünglichen Gemeinschaft im göttlichen Verstand sind (PND AA 01: 415). Das Schema des göttlichen Verstandes ist den Substanzen als actus perdurabilis und nicht als causas occasionales immanent.635 Die Lösung Kants weist direkt auf die Polemik zwischen der vorherbestimmten Harmonie Leibniz’, der Lehre der Gelegenheitsursachen (oder Okkasionalismus) Malebranches und dem physischen Einfluss hin.636 Daraus lässt sich ersehen, dass Kant hier, wie auch im Fall der Definition und Begründung der Kategorie der Gemeinschaft (Wechselwirkung) aus dem disjunktiven Urteil, Begründungsschwierigkeiten begegnet. Aufschlussreich ist aber die Suche Kants nach einer Beilegung zwischen der Monadologie Leibniz und einem atheistischen Materialismus, das heißt nach einem „Mittelweg“, der den Streit zwischen den Parteien aufhebt und ihnen bestimmte Geltungsbereiche zuweist. Kant unternimmt hier insofern den Versuch, der demjenigen der Allgemeinen Naturgeschichte ähnlich ist, zwischen den Verteidigern der Religion und den Naturalisten einen Mittelweg in Form des göttlichen Verstandes bzw. eines „gemeinschaftlichen Ursprungs“ ausfindig zu machen.

635

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„È come se lo schema divino non fosse soltanto come il progetto dell’ingegnere, ma come la cascata che fornisce incessantemente l’energia al macchinario : e cioè non soltanto la creasse, ma la contituisse intrinsecamente, ne fosse cioè egli stesso l’actus“. Campo, M. La Genesi del Criticismo Kantiano, a. a. O., S. 110. „Tale schema divino, non solo idea, ma actus (creativo) e actus perdurabilis (della conservazione del creato), non soltanto prevede e sceglie e coordina, ma anche ‘sostiene’“. Ebd., S. 111. „In fondo, Kant presentemente sottolinea, contro l’armonia prestabilita e l’occasionalismo, la realtà del nexus, l’efficacia della dependentia, dell’actio e reaction tra le sostanze. Contro il Systema causarum efficientium, quale viene presentato dai sostenitori dell’influxus physicus (si ricordi Knutzen), egli fa valere che l’actio è un se respicere, una relatio, fondada sullo schema divino, e che l’attractio (e l’urto) sono un phaenomenon sul piano dello spazio“. Campo, M. La Genesi del Criticismo Kantiano, a. a. O., S. 112.

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5.2.3 Monadologia physica Während in den Gedanken von einem Streit zwischen Metaphysik und Mathematik sowie zwischen Leibniz und Descartes, in der Allgemeine Naturgeschichte von einem Konflikt zwischen den Verteidigern der Religion und den Naturalisten und in der Nova dilucidatio von einem Streit zwischen Fatalismus und Freiheit als Gleichgültigkeit sowie zwischen Idealismus und Materialismus die Rede ist, verweist Kant in einer weiteren Schrift der 1750er Jahre, der Monadologia physica (1756), auf eine Gegenüberstellung von Transzendentalphilosophie und Geometrie hin (MonPh AA 01: 475). „Transzendentalphilosophie“ ist hier nicht in seiner kritischen, sondern vielmehr in einer kosmologischen Bedeutung zu verstehen, die kurz vorher Wolff eingeführt hatte (Cosmologia transcendentalis oder generalis).637 Wie schon in den Gedanken versteht Kant hier unter Transzendentalphilosophie die „Metaphysik“ oder die „metaphysische Betrachtung“ im Gegensatz zur „Mathematik“ oder „mathematischen Betrachtung“.638 Dieser Streit nimmt den zweiten kosmologischen Widerstreit der Vernunft in der KrV vorweg. Es geht dabei um den Widerstreit zwischen den verschiedenen Vorstellungen vom Raum, die die Geometrie einerseits und die Transzendentalphilosophie andererseits voraussetzen müssen: Denn während jene [Transzendentalphilosophie] schroff verneint, dass der Raum ins unendliche teilbar ist, behauptet es diese [Geometrie] mit ihrer gewohnten Gewißheit und Strenge […]. Diese [Geometrie] versichert nachdrücklich, dass der leere Raum zu freien Bewegungen notwendig sei, jene [transzendentale Philosophie] weist es zurück. Diese zeigt aufs genaueste, dass die Anziehung oder allgemeine Schwere aus mechanischen Ursachen kaum zu erklären sei, sondern von innewohnenden Kräften der Körper ausgehe, die in der Ruhe und in die Ferne tätig sind, jene rechnet es unter die leeren Spielereien der Einbildung (MonPh AA 01: 475–476).

Kant verfolgt mit dieser kleinen Schrift das Ziel, „diesen Streit (litem) beizulegen [oder] wenigstens einige Mühe darauf zu verwenden“ (MonPh AA 01: 476). Die Polemik zwischen den Wolffianern und den Newtonianern um die geometrischen Raumlehren (die unendliche Teilbarkeit des Raumes, den leeren Raum und die mechanisch nicht einzusehende gravitas universalis) hat Kant wahrscheinlich dazu geführt, die Beziehungen zwischen Metaphysik und Mathematik eingehender zu problematisieren und sich von der leibnizisch-wolffischen Raumlehre zu distanzieren. Was die Schrift vielleicht am deutlichsten prägt, ist die „Wende“ Kants hin zu einem „radikalen Dynamismus“: Als wesentliche Kraft der Körper gilt nun eine vis motrix (Anziehungs- und Zurückstoßungskraft, Undurchdringlichkeit) neben der vis inertiae (Trägheitskraft) (MonPh AA 01: 483– 485) und nicht mehr, wie noch in den Gedanken, eine vis activam bzw. eine „wirkende Kraft“ (GSK AA 01: 18–23).639 Daher distanziert Kant sich hier von 637 638 639

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Vgl. Hinske, N. Kants Weg zur Transzendentalphilosophie, a. a. O., S. 42ff. Für einen ausdrücklichen Hinweis auf die „metaphysische“ und die „mathematische Betrachtung der Zeit und der Bewegung“ vgl. ND AA 02: 168. „Man wird also die Kraft eines Körpers viel eher eine vim activam überhaupt, als eine vim motricem nennen sollen“ (GSK AA 01: 18). In der ersten Auflage der Schrift steht irrefüh-

Leibniz und nähert sich zugleich Newton an, auch wenn er sich noch an die leibnizianische Lehre von den „einfachen Elementen“, denen eine Grundkraft innewohnt, hält. Folglich kommt Kant zu einer physischen (Newton) Monadologie (Leibniz). Im Lehrsatz des fünften Satzes verwendet Kant „einige Mühe“ darauf, den „Widerstreit“ zwischen Geometrie und Transzendentalphilosophie unter der Voraussetzung eines Versöhnungsversuchs zwischen newtonischem Mechanizismus und leibnizianischem Vitalismus beizulegen. Jedes einfache Element eines Körpers oder jede Monade ist nicht nur im Raum, sondern erfüllt einen Raum „unbeschadet nichtsdestoweniger seiner Einfachheit“ (MonPh AA 01: 480). Jeder im Raum und den Raum erfüllender Körper besteht als ein substanzielles Zusammengesetztes aus einer endlichen Anzahl von Teilen; jedoch ist er unendlich teilbar, sofern er im Raum ist und jeder Raum ins Unendlich teilbar ist. Jeder Teil eines Körpers erfüllt zwar einen Raum, der weiter teilbar ist; weil aber die Teilbarkeit des Raumes keine Teilung dessen, „bei dem das eine ohne andere ein eigenes und für sich zureichendes Dasein hat“, sondern vielmehr die Teilung dessen, was „eine gewisse Mehrzahl oder Menge im äußeren Verhältnis verrät“, bedeutet, folgt daraus, dass es keine entsprechende Mehrzahl substantieller Teile gibt. Kant schließt daraus, dass die Teilbarkeit des Raums „der Einfachheit der Monade nicht widerstrebt“ (MonPh AA 01: 480).640 In der Erläuterung zu demselben Satz wirft Kant einem „Vorurteil“ oder einer praeconcepta […] non satis examinata opinio den Fehler vor, auf dem die angebliche Unmöglichkeit der Beilegung des Streites beruht, nämlich die Annahme, dass aus der Teilbarkeit des von einem Element erfüllten Raums die Teilbarkeit dieses Elements selber zwangläufig folgt. Bei Untersuchung der Elemente hat gewiß kein anderer Satz einer Vermählung (connubio) der Geometrie mit der Metaphysik mehr im Wege gestanden als jene vorgefaßte, obgleich nicht genügend geprüfte Meinung, als wenn die Teilbarkeit des Raumes, den ein Element einnimmt, auch die Teilung des Elements selber in substantielle Teile verriete (MonPh A 01: 480).

Die Versöhnung zwischen Metaphysik und Geometrie setzt die Überprüfung dieser „nicht genügend geprüften Meinung“ voraus, die Teilbarkeit des Raumes bringe die Teilbarkeit des in einem Raum eingenommenen Elements mit sich. Dies ist die „falsche Voraussetzung“, auf die sich die Verteidiger der Monaden

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rend vim motricem statt vim activam als Überschrift des Absatzes. Kant nimmt von Leibniz den Begriff einer vis activa. In Specimen dynamicum schreibt er: „Duplex autem es Vis Activa (quam cum nonullis non male Virtutem appelles)“ (GP, I, 236). Wolff bezieht sich auch auf diesen Begriff und gibt ihm in der Cosmologia generalis sogar, so Arana, eine „mechanistische Wende“ (giro mecanicista). Kant, I. Pensamientos sobre la verdadera estimación de las fuerzas vivas, a. a. O., S. 334. Vgl. Wolff, C. Cosmologia generalis: „vis corporum activa es principium mutationum“ (§ 136); „vis illa corporum dicitur vis motrix, quia nempre motui locali adhaeret“ (§ 137). Vgl. Kant, I. Pensamientos sobre la verdadera estimación de las fuerzas vivas. Ebd. Ebenso ist festzustellen, dass M. Knutzen sich an Wolffs Lehre der vis activam angelehnt hat. „La geometria ci ha condotti alla divisibilità infinita dello spazio, la metafisica alle monadi inestese e di numero finito. Come conciliare una cosa con l’altra“. Campo, M. La Genesi del Criticismo Kantiano, a. a. O., S. 154.

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ebenso wie die Verteidiger der unendlichen Teilbarkeit des Raumes und der Körper stützen. Beide gehen irrtümlicherweise davon aus, dass die Teilbarkeit eines Elements, insofern es Raum einnimmt, die Teilbarkeit des Elements selbst in substanzielle Teile mit sich bringt.641 Diese falsche Voraussetzung bzw. dieses Vorurteil führt dazu, dass die Verteidiger der unendlichen Teilbarkeit des Raums (die „Geometer“) die Lehre der Monaden als Hirngespinst betrachten, während umgekehrt die Verteidiger der Einfachheit der Teile eines Zusammengesetzten (die „Metaphysiker“) die „Eigenschaften des geometrischen Raumes für eingebildet halten“ (MonPh AA 01: 480). Keiner, so Kant, weder Geometer noch Metaphysiker, „täuscht sich“ (falli); was täuscht, ist die „Meinung“ (opinio), dass „ein Element, das in Ansehung seiner Substanz unbedingt einfach ist, unbeschadet seiner Einfachheit keinen Raum erfüllen“ kann (Mon Ph AA 01: 480). Es leuchtet ein, dass der Schlüssel zur Beilegung des Streits im Begriff von Raum liegt. Der Raum ist keine Substanz, sondern „eine Art Erscheinung der äußeren Verhältnisse von Substanzen (quoddam externae substantiarum relationis phaenomenon)“(MonPh AA 01: 480). Daraus folgt, dass eine einfache und unteilbare Substanz äußere Verhältnis haben kann, die wiederum unendlich teilbar sind. In dem Neuen Lehrbegriff der Bewegung und Ruhe (1758) bestätigt Kant diese Lehre: Der Raum ist „nur das äußere Phaenomenon dessen, was unmittelbar zwischen ihnen [den bewegenden Körpern] vorgegangen ist“ (NLBR AA 02: 24). Die Entdeckung der falschen Voraussetzung und des Vorurteils und ein neuer Begriff von Raum vereinigen die streitenden Parteien, Geometrie und Metaphysik, Newton und Leibniz.642 Das in den früheren Schriften der 1750er Jahren vorfindbare Schema zur Beilegung des Streits ist, wie deutlich geworden ist, auch hier vorhanden.

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Vgl. Hinske, N. Zwischen Aufklärung und Vernunftkritik, a. a. O., S. 120. Vgl. Hinske, N. Kants Weg zur Transzendentalphilosophie, a. a. O., S. 42.

6

Skeptisch-polemische Methode

Die im letzten Kapitel bereits dargestellte, aber noch erklärungsbedürftige „Methode“ zur Beilegung der Streitigkeiten bedarf einer begrifflichen Abgrenzung. Dabei gelangt man zu der zweiten Etappe der Problematik des Gerichtshofs und der Gesetzgebung der Vernunft. Es geht um die Entwicklungen der zetetischen, skeptischen, polemischen, antinomischen oder ganz allgemein „skeptisch-polemischen Methode“, die die vorkritische Periode auf verschiedene Weise durchläuft, um über eine mit der Vorstellung des Gerichtshofs der Vernunft eng verbundene komplexe Konstellation zur KrV zu gelangen. An einer Reflexion der Phase κ expliziert Kant diesen komplizierten Zusammenhang, indem er zwei Philosophien der reinen Vernunft einander gegenüberstellt, eine dogmatische und eine „critisch[e], mithin subiectiv[e]. Sie ist zetetisch, sceptisch, problematisch“ (Rx 3957 AA 17: 366; dazu auch Rx 4455 AA 17: 557–558). Eine der vielen Schwierigkeiten bei der entwicklungsgeschichtlichen und systematischen Interpretation der „skeptischen Methode“ der KrV liegt darin, dass dieser Begriff in der KrV neben anderen Begriffen verwendet wird, deren systematische und entwicklungsgeschichtliche Bedeutung jener der skeptischen Methode sehr ähnelt, wie z. B. der antinomische Widerstreit und der polemische Gebrauch der Vernunft. Außerdem unterscheidet sich auch der Begriff „Skeptizismus“ trotz einiger terminologischer Überschneidungen von den anderen Begriffen. Die Komplexität steigt zudem, wenn ein weiterer Begriff in Betracht gezogen wird, der in der KrV nicht erwähnt wird, aber mit den oben besprochenen zusammenhängt, nämlich „zetetisch“. Im Folgenden wird versucht, diese begriffliche Verwicklung aufzulösen (6.1), wobei auch auf die möglichen Quellen und die direkten oder indirekten Einflüsse auf Kant eingegangen wird, etwa auf die Humes (6.3). Die Grundlage für das nächste Kapitel wird dadurch geschaffen, dass die hier besprochene „skeptisch-polemische Methode“ mit jener Methode in Zusammenhang gebracht wird, die die anderen umfasst und darüber hinaus einen Leitfaden zur Untersuchung ihrer Unterschiede und Ähnlichkeiten liefert, sprich mit der juridischen Methode eines Richters. Damit wird die dritte Etappe der Problematik des Gerichtshofs und der Gesetzgebung der Vernunft erreicht. 6.1

Begriffserklärung

6.1.1

Skeptizismus und skeptische Methode

Kant weist im Zusammenhang der Antinomie der reinen Vernunft ausdrücklich auf die skeptische Methode als den Weg zur Entdeckung des Irrtums oder der transzendentalen Illusion, auf der alle Trugschlüsse in der Philosophie beruhen, hin. Darüber hinaus – und dies ist hier von besonderem Interesse – setzt Kant die skeptische Methode mit der eines „weisen Gesetzgebers“ gleich, dem es gelingt, „aus der Verlegenheit der Richter bei Rechtshändeln für sich selbst Belehrung von dem Mangelhaften und nicht genau Bestimmten in ihren Gesetzen zu ziehen“ (A 423–424/B 451). Diese richterliche Tätigkeit bei einer schwer zu entscheidenden Rechtssache, wie den Antinomien, sei daher „der beste Prüfungsversuch der Nomothetik“. Man könnte in entwicklungsgeschichtlicher Hinsicht behaupten, dass Kant genau dieser „weise Gesetzgeber“ war, der aus

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der Verlegenheit der Vernunft bei ihren Rechtshändeln Lehren zu deren Auflösung gezogen und somit eine neue „Nomothetik der Vernunft“ aufgestellt hat, wie wir im nächsten Kapitel noch sehen werden. An dieser Stelle der KrV und ganz allgemein in der zu der kritischen Philosophie führenden Entwicklung hat Kant die skeptische mit der juridischen Methode explizit gleichgesetzt. Die skeptische Methode ist jedoch nur eine Gestalt oder ein Teil des in der kritischen Philosophie angenommenen Verfahrens des Richters; man betrachtet sie im Sinne einer zetetischen oder polemischen Methode. In den Kapiteln 8 bis 10 wird die systematische Bedeutung all dieser Begriffe für die juridische Verfassung der KrV erörtert; hier gilt es hingegen zunächst, die entwicklungsgeschichtliche Bedeutung der skeptischen, zetetischen oder polemischen Methode zur Bildung der juridischen Verfassung und Fragestellung der KrV aufzuzeigen. Kant selbst scheint oftmals anzuerkennen, dass der „skeptische Zweifel“ oder epoché entscheidend für den Aufbruch der kritischen Philosophie war. In den Fortschritten643 z. B. liest man, dass der „sceptische Stillstand“ in der Metaphysik „sehr wohlthätig“ war, weil „wir [ohne ihn] die größeste Angelegenheit des Menschen, womit die Metaphysik als ihrem Endzweck umgeht, entweder [hätten] aufgeben und unsern Vernunftgebrauch blos aufs Sinnliche einschränken, oder den Forscher mit unhaltbaren Vorspiegelungen von Einsicht, wie so lange geschehen ist, hinhalten müssen“ (FM AA 20: 329; vgl. Log AA 09: 084). Die „Alten“ hatten „schon eingesehn“, liest man in der Philosophischen Enzyklopädie, „daß hier [scil in ‚eine[m] Theil der Erkenntniße, die einen großen Schein der Wahrheit haben und dahero für dogmatisch gehalten werden‘ – D. K. T.] eine sceptische Methode Zweck ist: die Kritik“ (PhilEnz AA 29: 27–28).644 Allerdings zeigt Kant auch die Grenzen des Skeptizismus auf. Im Antinomie-Kapitel, in dem er die Wichtigkeit der skeptischen Methode betont, setzt Kant die Kritik nicht nur dem „dogmatischen Trotz“, sondern auch der „skeptischen Hoffnungslosigkeit“ entgegen (A 407/B 433–434). Die skeptische Hoffnungslosigkeit, so die Fortschritte, setzt die Vernunft „in eine Verzweiflung […] an sich selbst, allen Anspruch auf Gewißheit aufzugeben“ (FM AA 20: 327). Kurz gesagt darf die Vernunft nicht lange in dem anfangs nützlichen skeptischen Stillstand bleiben. Obwohl die Kritik sich also der skeptischen Methode bedient, ist sie kein

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„Dieser sceptische Stillstand, der keinen Scepticism, d. i. keine Verzichtthuung auf Gewißheit in Erweiterung unserer Vernunfterkenntniß über die Grenze möglicher Erfahrung enthält, ist nun sehr wohlthätig; denn ohne diese hätten wir die größeste Angelegenheit des Menschen, womit die Metaphysik als ihrem Endzweck umgeht, entweder aufgeben und unsern Vernunftgebrauch blos aufs Sinnliche einschränken, oder den Forscher mit unhaltbaren Vorspiegelungen von Einsicht, wie so lange geschehen ist, hinhalten müssen: wäre nicht die Kritik der reinen Vernunft dazwischen gekommen, welche durch die Theilung der gesetzgebenden Metaphysik in zwey Kammern, sowohl dem Despotism des Empirism, als dem anarchischen Unfug der unbegrenzten Philodoxie abgeholfen hat“ (FM AA 20: 329). „Es giebt einen Theil der Erkenntniße, die einen großen Schein der Wahrheit haben und dahero für dogmatisch gehalten werden. Allein die Alten haben schon eingesehn, daß hier eine sceptische Methode Zweck ist: die Kritik. Wir können in diesen Erkenntnißen keine Gewißheit erlangen, wenn wir ihnen nicht Wiedersprüche vorlegen“ (PhilEnz AA 29: 27– 28).

Skeptizismus.645 So wie ein Richter nicht auf die Gesetzgebung verzichten darf, nur weil er bei der Anwendung der Gesetze in Verlegenheit gerät, muss auch die Kritik die Rechte der Vernunft ungeachtet der Schwierigkeiten schützen, anstatt sie auf eine skeptische Weise aufzugeben. Die doppelte Feststellung, dass die skeptische Methode eine kritische Bedeutung hat und der Skeptizismus kritisch abgelehnt werden muss, macht es uns zur vorrangigen Aufgabe, eine genaue begriffliche Abgrenzung vorzunehmen, bevor wir imstande sind, auf die Rolle der skeptisch-polemischen Methode bei der Entstehung der kritischen Philosophie und der Problematik des Gerichtshofs und der Gesetzgebung der Vernunft einzugehen. Im Werdegang Kants lassen sich fünf wesentliche Merkmale der skeptischpolemischen Methode herausarbeiten, die zunächst folgendermaßen dargestellt werden können: a) die Gegenüberstellung von Sätzen und ihrem Gegenteil; b) die billige und unparteiische Bewertung der Argumente der streitenden Parteien; c) die Suspension des Urteils, soweit man sie als das Aufschieben des Urteils und das Misstrauen in sich selbst und in seine eigenen Einsichten versteht; d) der direkte oder indirekte Hinweis auf die Grenzen der menschlichen Erkenntnisse. Ziel ist schließlich e) die Entdeckung der Quelle des Irrtums und demzufolge die Wahrheit, nicht der Zweifel per se.646 Während a) und b) sich klar und eindeutig schon in den im letzten Kapitel diskutierten Schriften finden, wird c) ab dem Jahr 1758 ausdrücklich formuliert, und d) und e) werden in den Schriften der 1760er Jahre explizit thematisiert. Man kann behaupten, dass das Besondere der Unterscheidung zwischen der skeptisch-polemischen Methode und dem von Kant abgelehnten Skeptizismus am Punkt e) einsichtiger wird. Der positive, nicht bloß negative Charakter der skeptischen Methode liegt für Kant genau darin, dass sie grundsätzlich nach der Wahrheit strebt. Um aber zu dem richtigen Verständnis des Wertes und der Tragweite des Zweifels und der suspensio iudicii zu gelangen, ist zunächst einmal der Skeptizismus von der skeptischen Methode bzw. der dogmatischen(z. B. V-Lo/Philippi AA 24: 337; V-Lo/Blomberg AA 24: 208–209) oder absolute Skeptizismus Log AA 09: 84) von dem gemäßigten, problematischen (V-Lo/Blomberg AA 24: 214) oder kritischen Skeptizismus (Rx 4164 AA 17: 440) gründlich zu unterscheiden.647 Diese Unterscheidung ist in der bekannten Reflexion über „das große Licht von 1769“ vorausgesetzt. Ich versuchte es gantz ernstlich, Satze zu beweisen und ihr Gegentheil, nicht um eine Zweifellehre zu errichten, sondern weil ich eine illusion des Verstandes vermuthete, zu entdecken, worin sie stäke (Rx 5037 AA 18: 69 (1776–1778)).

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Kant bezeichnet den dogmatischen Skeptizismus sogar als eine „Anticritik“ neben dem Dogmatismus: „Die Anticritik ist entweder sceptisch oder dogmatisch. Die erste Verwirft alle [philosophische] Erweiterung der Erkentnis durch reine Begriffe und zugleich die Untersuchung dieser Vernunft selbst. Die zweyte behauptet die erstere und verwirft blos die letztere. Die erste ist misologie, die zweyte ignava ratio“ (Rx 5623 AA 18: 259–260 (1778– 1781)). Vgl. Weber, L. Distinktionsverfahren, a. a. O., S. 88–105. Kant nennt weitere Einteilungen des Skeptizismus, nämlich den logischen, physischen, moralischen und geschichtlichen Skeptizismus. V-Lo/Blomberg AA 24: 215–216.

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Die durch das Gegeneinander von „Sätze[n] […] und ihr[em] Gegenteil“ charakterisierte skeptische Methode dient nicht dazu, „eine Zweifellehre zu errichten“. Das wäre das Ergebnis eines dogmatischen, auf den Weg zur Wahrheit verzichtenden Skeptizismus. Vielmehr geht es ihr um die Unterscheidung zwischen dem Subjektiven und dem Objektiven bei der menschlichen Erkenntnis und damit um die Entdeckung der „Illusion des Verstandes“. Durch diese auf die Wahrheit abzielende skeptische Methode würden sich die Ansprüche der Metaphysik als unbefugte entpuppen und diese würde folglich in eine „Wissenschaft von den Grenzen der menschlichen Vernunft“ umgedeutet werden (TG AA 02: 368). In den wahrscheinlich zwischen 1764 und 1770 geschriebenen Bemerkungen648 bringt Kant diese Idee zum Ausdruck, wenn er zwei Arten von Zweifeln unterscheidet, den dogmatischen Zweifel und den „Zweifel des Aufschubs“ (Bemerkungen AA 20: 175). Der Zweifel des Aufschubs bedeutet keinen Verzicht auf die Wahrheit, wie es der dogmatische Zweifel verlangt, sondern ein bloßes „In-Klammern-Setzen“, das die aufmerksame Prüfung der von jeder Partei erhobenen Gründe bzw. Argumente als eine notwendige Vorstufe der Wahrheitssuche voraussetzt. Der Skeptiker wäre in diesem Sinne ein „zetetischer“ bzw. ein Sucher, der den Dogmatiker mit einem non liquet antwortet; das non liquet kann jedoch auch dogmatisch werden, wie Kant mit Blick auf Pirro schreibt (V-Lo/Blomberg AA 24: 36).649 Daraus lässt sich ersehen, dass der klassische Skeptizismus bei der kritischen Philosophie eine bedeutsame Verschiebung erfährt. Statt des epoché spricht sich Kant für einen Aufschub des Urteils aus; die Suspension des Urteils ist dabei nicht endgültig, sondern bloß provisorisch und vorläufig, insofern sie als eine Etappe bei der Entdeckung des Irrtums und der Wahrheitsfindung gilt. Der „Skeptizismus“ ist folglich zugleich eine Etappe auf dem Weg zur Kritik und ein negativer Teil seiner Methode, der wiederum als ein die spekulative und „moralische“ Wahrheit vorbereitender Teil auch einen positiven Wert hat.

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Über die Datierung der Bemerkungen siehe die Einleitung von Brigitte Geonget zu ihrer französischen Übersetzung (Remarques touchant les Observations sur le Sentiment du Beau et du Sublime. Paris: Vrin, 1994) und auch Clemens Schwaiger. Kategorische und andere Imperative. Zur Entwicklung von Kants praktischer Philosophie bis 1785. Stuttgart-Bad Cannstatt: Frommann-Holzboog, 1995, S. 67–71. Schwaiger zufolge ist ein großer Teil des Textes, vor allem die lateinischen Notizen, nach 1766 geschrieben worden. Im Rahmen des Kant-Indexes behaupten seine Herausgeber, die lateinischen Notizen seien sogar auf 1770 zu datieren. „So zeigen z. B. die verschiedenartigsten Sprachphänomene, daß die zahllosen Bemerkungen in Kants Handexemplar seiner Beobachtungen über das Gefühl des Schönen und Erhabenen nicht etwa auf die Jahre 1764/65 zurückgehen, sondern in einem sehr viel längeren Zeitraum entstanden sind (vgl. Bd. 24.1, S. XII–XXI). Bei den vielen lateinischen Notizen des Handexemplars handelt es sich dementsprechend vermutlich um Vorarbeiten für eine lateinische Dissertation im Bereich der Moralphilosophie, die in die ersten Monate des Jahres 1770 fallen“. „Pyrrho war ein Mann von großen Einsichten. er hatte das Sprichwort: non liquet. welches er den dreisten Sophisten zu Dämpfung ihres Stolzes beständig zurief, er war der Stifter der Scepticer, die sich auch Zetetici nanndten. Diese Secte aber trieb endlich das Zweifelen so weit, und schweifte so aus, daß sie endlich an allem, ja selbst an den Mathematischen Sätzen zu zweifelen anfing“ (V-Lo/Blomberg AA 24: 36).

6.1.2 Skeptische Methode als juridische Methode Eine vorherige und grundlegendere Begriffserklärung drängt sich auf, die dem Ziel dient, die skeptische und die juridische Methode miteinander zu vergleichen. Außer auf den schon diskutierten Unterschied zwischen dogmatischem und kritischem Skeptizismus weist Kant auf weitere damit verbundene und in unterschiedlichen Momenten seines Werdegangs ans Licht gekommene Begriffe hin: i) dialectica eristica, disputatio oder Distinktionsverfahren; ii) polemische Methode oder polemisches Verfahren; und iii) Antithetik oder antinomischer Widerstreit. Neben der skeptischen Methode lassen sich alle diese Begriffe unter dem umfassenderen Begriff der „forschenden, zetetischen Verfahrensweise“ subsumieren, die wiederum zu dem gehört, was Kant, wie im nächsten Kapitel zu zeigen ist, als das Verfahren eines Richters bei einer Rechtssache (V-Lo/Blomberg AA 24: 210) bezeichnet. Entwicklungsgeschichtlich gesehen, verwendet Kant bis Mitte der 1760er Jahre nie das Wort „skeptisch“ zur expliziten Bezeichnung seiner eigenen Methode bzw. Vorgehensweise, sondern spricht vielmehr von „polemisch“ (NLG AA 02: 25), „zetetisch“ oder „forschend“ (NEV AA 02: 307).650 Obwohl Kant seine Vorgehensweise in der Philosophie erst im Jahr 1766 erstmals explizit als „skeptisch“ bezeichnet (Brief an Mendelssohn AA 10: 70–71), bedeutet das keineswegs, dass der Begriff der Sache nach nicht schon davor zu finden war. Das explizite Aufkommen des Wortes scheint eher das Endprodukt eines langen begrifflichen Prozesses gewesen zu sein, der sich bis in die kritische Periode hinein fortsetzte. Die skeptisch-polemische Methode tritt zuerst als disputatio auf. Sie gilt dabei der Entdeckung von Fehlern in Argumenten und dient daher der Wahrheitsfindung (Kapitel 6.3.1). Kant greift danach wahrscheinlich unter dem Einfluss der Philosophischen Versuche von Hume die skeptisch-polemische Methode gezielter auf. Sie fordert die gründliche und unparteiische Überprüfung der gegeneinander streitenden Gründe und vor allem einen der Untersuchung selbst vorhergehenden gemäßigten skeptischen Zweifel. Die Stelle des Neueren Lehrbegriffs der Bewegung und Ruhe von 1758 über den „cartesianischen Zweifel“ ist ein entscheidender Beleg für die in dieser Zeit in Gang gekommenen Wende (Kapitel 6.3.2). Der Terminus „skeptisch“ tritt in diesem Moment noch nicht auf, sondern erst im Laufe der 1760er, wenn der gemäßigte skeptische Zweifel sich auf die Möglichkeit einer metaphysischen Erkenntnis selbst erstreckt und die Metaphysik sich als die Wissenschaft von den Grenzen der menschlichen Erkenntnis definieren lässt. Der bescheidene und gemäßigte „Skeptizismus“ bezieht sich in diesem Zusammenhang auf einen „negativen“, jedoch zugleich „positiven“ vorbereitenden Nutzen, wie es auch in den 1770er Jahren und in der KrV selbst, vor allem in deren Disziplin-Kapitel,651 der Fall ist (Kapitel 6.3.3). Wie sich somit zeigt, hat Kant Anfang der 1770er Jahre die Idee eines gemäßigten, der Untersuchung vorhergehenden und die Wahrheitsfindung vorbereitenden skeptischen Zweifels, das heißt, er hat eine „skeptisch-zetetische“, zugleich negative und positive Haltung eingenommen. Dies bedeutet aber nicht, 650 651

Weber, L. Distinktionsverfahren, a. a. O., S. 78. Vgl. Tonelli, G. „Kant und die antiken Skeptiker“. In: Heimsoeth, H. et al. (Hrsg.). Studien zu Kants philosophischer Entwicklung, a. a. O. Vgl. unten Kapitel 8.

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dass der Dogmatismus ein für alle Mal ausgeschlossen ist, wie man am Beispiel der Dissertatio eindeutig sehen kann. Die Besonderheit der skeptisch-polemischen Methode in den 1770er Jahren besteht darin, dass sie fortan an die Idee der Kritik gebunden wurde. In dieser letzten Etappe der skeptisch-polemischen Methode zeigt sich ihre „Verrechtlichung“ zur Beilegung bzw. Schlichtung von Streitigkeiten. Das „Dritte“ der disputatio (Magister) oder der „skeptische Dritte“ verwandeln sich in einen Richter des Gerichtshofs der Vernunft. 6.2

Status quaestionis und Quellen. Eklektik als ein möglicher Vorläufer des Kritizismus?

Die Definition, der Zweck, die Funktion, die Quellen und die Genealogie der skeptisch-polemischen Methode sind übliche Gegenstände der Kant-Forschung. Klaus Reich schreibt z. B., dass die skeptische Methode in der Entwicklungsgeschichte der kritischen Philosophie als ein „ganz allgemeines heuristisches Prinzip“ gelte.652 Das ist auch die Auffassung Gerhard Lehmanns, der behauptet, dass die skeptische Methode zunächst als eine „zetetische Methode“ erscheint und insofern der Ursprung der Kritik auf eine „aporetische Vorgehensweise“ zurückgeht.653 Beide Autoren kommen zu durchaus richtigen Schlüssen, irren sich aber im Ausgangspunkt: die heuristische, zetetische oder aporetische „Methode“ ist zwar ein Grundimpuls oder kritisches Grundmotiv, aber sie reicht nicht bloß in die 1760er Jahre, sondern bis in die 1740er Jahre zurück.654 Wie schon im letzten Kapitel gezeigt wurde und im vorliegenden Kapitel noch eingehender erörtert wird, gibt es eindeutige Vorformen der späteren skeptischen Methode im Sinne einer allgemeinen skeptisch-polemischen Methode in den Schriften der 1750er Jahre und sogar früher in den Gedanken. Andere Autoren haben sich eingehender mit diesem Thema auseinandergesetzt und sind daher von größerem Interesse – nicht zuletzt wegen ihrer interpretativen Fehler. Michael Forster unterscheidet drei Arten von Skeptizismus bei Kant: einen a) „veil of perception“-Skeptizismus, der sich auf „existence and character of a mind-external world“ bezieht; einen b) „Humean“-Skeptizismus, der „the existence of concepts not derivable from corresponding sensible impressions (in Kant’s idiom: a priori concepts), and knowledge of propositions neither true 652

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Vgl. Reich, K. „Über das Verhältnis der Dissertation und der Kritik der reinen Vernunft“, a. a. O., S. xii. Kants Rede von einer Gegenüberstellung von Sätzen in der Reflexion über das große Licht von 1769 sei ein Hinweis auf die „skeptische Methode als ein ganz allgemeines heuristisches Prinzip in Sachen der Metaphysik überhaupt“. „Die Grenzproblematik [der Träume – D. K. T.] ist aporetisch, die Differenzierung und Gegenüberstellung der ‚Regionen‘ ist systematisch. Jene gehört wesentlich der zetetischen Methode an, die sich zur eigentlich kritischen entwickelt“. Lehmann, G. „Kritizismus und kritisches Motiv“, a. a. O., S. 40. Erdmann begeht den gleichen Fehler. Er weist darauf hin, das skeptische Verfahren sei erst in dem Beweisgrund vorhanden und werde dann in den anderen Schriften der Zeit, der Beobachtung und den Träumen, angewandt. Erdmann, B. „Die Entwicklungsperioden von Kants theoretischer Philosophie“, a. a. O., S. xliii–iv. Erdmann räumt dabei ein, dass die skeptische Methode umfassender als die Antinomienproblematik ist. „Der Umfang der Probleme ist ferner jetzt in charakteristischer Weise für die ursprünglich ganz allgemeine Bedeutung der Methode nicht wie später auf die kosmologischen und rationatheologischen beschränkt“. Ebd., S. xliv-–xlv.

simply in virtue of logical law nor known from experience (in Kant’s idiom: synthetic a priori knowledge)“ betrifft; und schließlich einen c) „Pyrrhonian“-Skeptizismus, der die „suspension of judgment by establishing a balance of opposing arguments“ angeht.655 Forster behauptet, die erste Art des Skeptizismus habe keinen Einfluss auf die Entstehung der kritischen Philosophie gehabt, während der „Humean“-Skeptizismus erst ab 1772 auf Kant gewirkt habe. Die letzte Art des Skeptizismus, der pyrrhonische, sei diejenige gewesen, die „first really shook Kant’s faith in the precritical discipline of metaphysics, namely in the mid-1760s, and thence eventually led to the reform of metaphysics undertaken by the critical philosophy“.656 Die Untersuchung von Forster ist jedoch problematisch. Im Gegensatz zu seiner Auffassung hat ein Aspekt des „Humean“-Skeptizismus nicht erst in den 1770er Jahren, sondern früher, schon am Ende der 1750 Jahre mit den Philosophischen Versuchen Einfluss auf Kant ausgeübt. Außerdem ist die These, Kant habe direkten Kontakt mit dem pyrrhonischen Skeptizismus gehabt, irreführend – die wahrscheinlichste Quelle der kantischen Idee bzw. der Vorstellung von dem pyrrhonischen oder akademischen Skeptizismus ist, wie noch gezeigt wird, Jakob Brücker, was auch für die Platon-Auffassung Kants der Fall ist. In dieser Hinsicht ist die Untersuchung von Giorgio Tonelli etwas gründlicher. Tonelli lässt eine größere philologische Sorgfalt walten und weist den effektiven Einfluss des ursprünglichen Skeptizismus als echte historische Lehre zur Formulierung der kritischen Fragestellung zurück.657 Er erkennt die ersten Züge des skeptischen Zweifels in den Träumen, wo sie als „Züge“ der vielleicht von Hume beeinflussten „zetetischen Einstellung“ auftauchen, ohne dass sie aber bereits eine wirkliche skeptische Methode bilden.658 Allerdings, so Tonnelli, „darf Kant doch nicht in jener Zeit als ein Anhänger des gemäßigten (um so weniger des radikalen) Skeptizismus, der herkömmlichen Bedeutung dieser Bezeichnung nach, betrachtet werden, genau so wenig, wie er damals als Empirist gelten dürfte“.659 Das Motiv der Begrenzung der menschlichen Erkenntnis, das in der Sekundärliteratur normalerweise als eine Folge von Kants Rezeption des gemäßigten Skeptizismus angesehen wird, gehe daher dem Einfluss des Skeptizismus voraus; im Gegensatz zu diesem habe Kant außerdem „immer noch“ geglaubt, „einige metaphysische Wahrheiten von absoluter, und nicht bloß von empirisch-allgemeiner Gültigkeit, erreichen zu können; seine Stellung gehört also zum Problemkreis der Grenzen des menschlichen Verstandes, und nicht zu dem klassischen Problemkreis des Skeptizismus […]. Kants Einstellung darf deshalb nicht als eine skeptische im eigentlichen Sinne betrachtet werden“.660 Tonelli setzt den Einfluss der empirisch-skeptischen mit dem der scholastisch-dogmatischen Philosophie bei der Entstehung der Kritik gleich. Diese Entstehung als

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Forster, M. Kant and the Skepticism. Princeton & Oxford: Princeton University Press, 2008, S. 4–5. Ebd., S. 5. Tonelli, G. „Kant und die antiken Skeptiker“, a. a. O. Ebd., S. 110. Ebd. Ebd.

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eine „schöpferische Synthesis“ des Neuen und des Alten sei sowohl dem Dogmatismus als auch dem Skeptizismus zu verdanken.661 Trotz ihrer philologischen und terminologischen Genauigkeit weist die Untersuchung von Tonelli doch einige Probleme auf. Er übersieht völlig die skeptisch-polemischen Züge in den ersten Schriften Kants, ignoriert den Einfluss Humes und von dessen gemäßigtem Skeptizismus bei der Fragestellung zur Bestimmung der Grenzen der menschlichen Erkenntnis in Kants Werdegang und spielt die systematisch und entwicklungsgeschichtlich kritische Bedeutung der skeptisch-polemischen Methode als juridische Methode zur Entdeckung des Irrtums und zur Streitschlichtung bei der Entstehung der KrV herunter. Wie im Folgenden gezeigt wird, ist die Kritik zudem (absichtlich oder nicht) Nachfolger einer Tradition, der Eklektik, die sich selbst (selbst-)bewusst als skeptisch bezeichnet, ohne sich dadurch an den klassischen Skeptizismus anzulehnen – d. i. eine skeptische Eklektik.662 Die Zurückweisung aller Dogmatismen ist das, was beiden, Kritik und Eklektik, wesentlich gemeinsam ist. C. Thomasius und seine philosophia eclectica als „Mittelweg“ zwischen Cartesianismus und Aristotelismus663 können zwar mit gutem Grund als ein Vorläufer der kritischen Philosophie als via media zwischen Skeptizismus und Dogmatismus betrachtet werden. In diesem Sinne erweisen sie sich als eine mögliche Grundlage, um das Verhältnis Kants zum Skeptizismus und zu der skeptischen Methode zu verstehen. So wie bei Kant der Zweifel des Aufschubs eine wesentliche Bedeutung für die Formulierung der kritischen Fragestellung hatte, obwohl man sie nicht darauf beschränken kann, so lehnt auch Thomasius den akademischen Skeptizismus und seine dubitatio cetica ab. Zugleich erkennt er die grundlegende Bedeutung des Zweifels für die Philosophie als eine nützliche dubitatio eclectiva, die auf dem Weg zur Wahrheit die Vorurteile angreift.664 [E]ine Zweiffelung ist entweder eine Sceptische oder Ecletische […]; jene zweiffelt deswegen, damit sie die Warheit ganz verloren gebe und in einer stäts währenden Ungewißheit und Zweiffelung bleibt; diese aber, damit sie desto besser hinter die Wahrheit und Gewißheit kommen könne, und nur die Praejudicia erronea von den wahren Urtheilen desto besser absondern könne. Es ist außerdem notwendig, dass der Mensch zum wenigsten auf eine Zeitlang die Warheit aller seiner Meynung in Zweiffel ziehen müsse.665

Die dubitatio sceptica bleibt „in einer stäts währenden Ungewißheit“, die dubitatio eclectica dagegen „analysiert vernünftig und […]wählt [aus]“.666 Der von den Phi661

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„Wie gesehen, war die Kritik dogmatisch, ohne zum Dogmatismus zu führen; und sie ist jetzt auch skeptisch, ohne zum Skeptizismus zu führen. Die Kritik ist schließlich ein tertium zwischen Dogmatismus und Skeptizismus, welches das Gute beider Denkarten aufnimmt und das Schlechte ausschließt“. Ebd., S. 96. Vgl. Brandt, R. Universität zwischen Selbst- und Fremdbestimmung: Kants ‚Streit der Fakultäten‘. Berlin: Akademie Verlag, 2003, S. 103: „Zetetik, Selbstdenken, Freiheit der Philosophie: Mit diesen Stichworten ist eine europäische Tradition aufgerufen […]: Die skeptische Eklektik“. Vgl. Kapitel 2. Über das Vorurteil siehe Schneiders, W. Aufklärung und Vorurteilskritik, a. a. O. Thomasius, C. Einleitung zur Hof-Philosophie, a. a. O., S. 150. Ebd.

losophen aufzunehmende Zweifel solle nicht der cartesianische Zweifel, der alles „für falsch“ halte, sondern vielmehr derjenige Zweifel sein, der nicht auf die Suche nach der Wahrheit verzichte und der daher als „die Voraussetzung und der oberste Probierstein dieser Prüfung“667 gelte. Der Zweifel enthülle zwar eine „Unvollkommenheit des Menschen“, sei aber zugleich ein „Nothwendigübel, weil man ohne ihn nicht leicht zu einer „gewissen Erkenntnis der Wahrheit kommen kann“.668 In der Ausübung der Vernunftlehre verwendet Thomasius Begriffe, die sich der späteren Dichotomie Kants zwischen skeptischem und dogmatischem Zweifel annähern, aber ungekehrt.669 Der skeptische Zweifel schließt die Möglichkeit der Wahrheitsfindung aus, während der dogmatische bzw. eklektische Zweifel, den Thomasius aufgegriffen zu haben behauptet, die Wahrheit wie ein postulatum670 voraussetzt: Zweiffeln heißt entweder in seinem Verstande wancken oder fragen, ob etwas in der Welt wahr oder falsch, oder ob nicht vielmehr alles nur zweiffelhafft, oder auffs höchste nur wahrscheinlich uder unwahrscheinlich sey: oder aber es heißt: fragen, welches denn, und ob dieses oder jenes wahr oder falsch, wahrscheinlich oder unwahrscheinlich sey Zu desto besserer Entscheidung wollen wir jenes ein dubium Scepticum, dieses aber ein dogmaticum nennen, weil die Sceptici sich einer Art zu zweiffeln bedient, und alle die andern Philosophi, die denen Scepticis widersprochen mit einen gemeinen Nahmen pflegen Dogmatici gennent zu werden671.

Es lässt sich daraus schließen, dass Thomasius mit der Gegenüberstellung von dubitatio sceptica und dubitatio ecletica bzw. skeptischem und dogmatischeklektischem Zweifel als ein Vorläufer von Kants Unterscheidung zwischen einem gemäßigten und einem dogmatischen Skeptizismus gelten kann. Der eklektische Skeptizismus von Thomasius ähnelt der skeptischen Methode von Kant in einem weiteren Punkt, nämlich in dem Nutzen des Zweifels für die philosophische Bildung und Wahrheitsfindung. Der Zweifel hat bei Thomasius auch die Bedeutung eines Misstrauens gegenüber den eigenen Einsichten und bildet die Voraussetzung zur unparteiischen Überprüfung einer philosophischen Strei667 668

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Ebd. „Die Zweiffelhafftigen praesupponieren eune Unvollkommenheit des Menschen in seinem gegenwärtigen Zustande; aber sie sind doch gleichsam ein Nothwendigübel, weil man ohne sie nicht leichte zu einer gewißen Erkänntniß der Wahrheit kommen kann“. Thomasius, C. Einleitung zu der Vernunfft-Lehre. Halle 1691, Repr., Bd. 8. der Ausgewählten Werke von Christian Thomasius. Hildesheim [u. a.]: Olms, 1998, Cap. 3, § 73. „Einen solchen vernünftigen Zweifel nennt Thomasius dann in der Ausübung der Vernunftlehre, offensichtlich um sich noch deutlicher vom Skeptizismus abzusetzen, einen dogmatischen Zweifel. Es gibt einen skeptischen Zweifel (dubium scepticum), der an der Wahrheit überhaupt zweifelt, und einen dogmatischen Zweifel (dubium dogmaticum), der die Existenz der Wahrheit voraussetzt“. Schneiders, W. „Vernünftiger Zweifel und wahre Eklektik. Zur Entstehung des modernen Kritikbegriffes“. Studia Leibnitiana, Bd. 17, H. 2, 1985, S. 147. Kant weist ausdrücklich darauf hin, dass der „absolute“ Skeptizismus sich selbst widerspricht, denn er setzt die Erkenntnis der Wahrheit, die er doch zugleich leugnet. Vgl. Log AA 09: 84. Thomasius, C. Ausübung der Vernunft-Lehre. a. a. O., S. 16-17.

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tigkeit. In der Vorrede zu den Institutionen, die als eine kurze selbstbiographische Schrift gilt, schildert Thomasius, wie er bei seiner eigenen philosophischen Ausbildung alle „vorgefaßte[n] Meinungen“ und „sectirische[n] Philosophien“ in Zweifel ziehen musste, um zu derjenigen libertas philosophandi zu gelangen, mit der er allein seine spätere, von ihm „Eclectische“ genannte Philosophie672 formulieren konnte: That derhalben die Augen meines Gemüths zu, damit sie der Glanz menschliches Ansehens nicht verblenden solte, und gedachte nicht mehr, wer, oder wie ein großer vornehmer Mann es sey, der dieses oder jenes geschrieben, sondern überlegte nur die Beweisthümer auff beyden Seiten, und betrachtete, was dieser vorgab, jener aber widerstritte, und was der eine behauptete, der ander aber beantwortete. Vor allen Dingen bildete ich mir den Statum controversiae […] ein.673

Zum näheren Verständnis der Beziehungen zwischen Skeptizismus und Eklektik sowie zwischen Skeptizismus und Dogmatismus sei auch auf Jakob Brucker, den großen Historiker der Philosophie im 18. Jahrhundert, verwiesen, an dessen Historia critica philosophia sich Kant in seinen in den Vorlesungen über Logik zu findenden Darstellungen über die Geschichte der Philosophie angelehnt hat.674 Brucker definiert die Eklektik anhand der Grundzüge des Skeptizismus und sieht sie wie Thomasius als einen Kampf gegen Vorurteile: Nur derjenige ist für mich ein eklektischer Philosoph, der, nachdem er jedes Vorurteil der Autorität, der Würde, des Altertums, der Sekte (oder ähnliches) ausgeschaltet hat, bloß der Richtschnur der angeborenen Vernunft (rationis connatae) folgt und aus der Natur, Eigenart und den wesentlichen Eigenschaften der Dinge, die er zu betrachtet vorhat, klare und evidente Grundsätze schöpft, aus denen er, indem er die richtigen Gesetze des Schließen gebraucht, sodann Schlußfolgerungen bezüglichen der philosophischen Probleme ableitet. Wenn diese Regel aber feststeht, 672

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Vgl. Thomasius, C. Einleitung zur Hofphilosophie, a. a. O., § 90. „Ich nenne aber eine Eclectische Philosophie eine solche, welche da erfordert, daß man von dem Munde eines einzigen Philosophe allein nicht dependieren, oder denen Worten eines einzigen Lehr-Meister sich mit einem Eyde verpflichten soll, sondern aus dem Munde und Schriften allerley Lehrer, alles und jedes was wahr und gut ist, in die Schatz-Kammer seines Verstandes sammlen müßte, und nicht so wohl auf die Autorität des Lehrers Reflexion mache, sondern ob dieser und jener Lehr-Punct wohl gegrüdnet sey, selbst untersuche, auch von dem Seinigen etwas hinzu thue, und also vielmehr mit seinen eigenen Augen als mit den anderern sehe“. Vgl. auch Thomasius, C. Drey Bücher der Göttlichen Rechtsgelehrtheit. Halle, 1709, repr., Bd. 4 der Ausgewählten Werke von Christian Thomasius. Hildesheim [u. a.]: Olms, 2001, Vorrede, § 33: „[…] wenn man nicht nötig hat alles mit fremden Augen zu sehen, sondern durch eigenes Nachdenken, dasjenige was andere übersehen und vorbey gegangen entdecket, und was andere unrecht gesetzt verbessert. Und solches geschieht nur allein in der Philosophie Eclectica, mit welcher ichs auch halte“. Thomasius, C. Drey Bücher der Göttlichen Rechtsgelahrheit, a. a. O., Vorrede, § 11, S. 6. Longo, M. „All’origine della nozione kantiana di ‘idea’: il confronto con Johann Jakob Brucker“. In: Philosophical Readings, No. 3, 2011. Gerhard Mollowitz hat Kants Kenntnis der Historia critica philosophiae Bruckers nachgewiesen und gezeigt, wie Kant sich an den Stellen, an denen er Plato erörtert, nicht auf die platonischen Dialoge selbst, sondern auf den von Brucker dargestellten Plato bezieht. Vgl. Mollowitz, G. „Kants Platoauffassung“. In: Kant-Studien, 30, 1935.

‚rezipiert‘ er beim Lesen der Überlegungen anderer Philosophen und beim Erwägen und Prüfen der Lehrgebäude nichts, was nicht der Strenge der Gründe und der Härte des Beweises Genüge leistet.675

Für Brucker ähnelt der Skeptizismus insofern der Eklektik, als beide dem Dogmatismus entgegenstehen und daher die Vernunft vom Starrsinn und von der sektierischen Denkweise befreien.676 Beide, der Skeptizismus und die Eklektik, verlangen auf ihre Art und Weise eine „geistige Freiheit“ des Denkers.677 Im Gegensatz zum akademischen Skeptizismus, der sich auf die Suche nach Fehlern in den philosophischen Lehren beschränkt und deshalb den „Gebrauch der Vernunft zunichtemachte“,678 geht es der Eklektik darum, „in jeder Philosophie etwas Wahres zu suchen, um es mit dem Wahren der anderen philosophischen Richtungen neu zusammenzusetzen“.679 Wie die Wiedergeburt der Philosophie am Anfang der Neuzeit, vor allem mit Bacon, Bruno, Thomasius u. a., zeige, sei „der Zweck der Philosophie“, so Brucker, „die ursprüngliche, in verschiedene Richtungen und Schulen verstreute Einheit wieder herzustellen“.680 Dieser Zweck ist analog zu dem Kants, einen „Mittelweg“ zwischen den streitenden Schulen ausfindig zu machen und der versöhnlichen Funktion der Vernunft recht zu geben. Die Ähnlichkeiten zwischen skeptischer Methode und Eklektik (im Gegensatz zum bloßen Synkretismus) im Hinblick auf Kants kritische Philosophie wurde schon von M. Albrecht hervorgehoben. Albrecht behauptet, dass sich „Kants Methode, den gemeinsamen Irrtum beider Seiten aufzufinden, […] aufs deutlichste vom klassischen Synkretismus“ unterscheidet.681 Der „Versöhnungsimpuls“ Kants sei mit der Bewegung hin zur Denkfreiheit und zur Unabhängigkeit von allen Schulen und mit dem „menschlichen Ansehen“ der deutschen Frühaufklärung eng verwandt, wenn nicht direkt davon beeinflusst. Kants Prinzip des Selbstdenkens als die Freiheit vom „Zwang der Schule“ (Anth AA 07: 139) sei insofern ein direkter Nachfolger der Eklektik.682 In der Logik Jäsche lobt Kant die Eklektiker als „Selbstdenker“, die „die Wahrheit suchten und annahmen, wo sie sie fanden“. Diese scholastische Methode des After-Philosophirens wurde zur Zeit der Reformation verdrängt, und nun gab es Eklektiker in der Philosophie, d. i. solche Selbstdenker, die sich zu keiner Schule bekannten, sondern die Wahrheit suchten und annahmen, wo sie sie fanden (Log AA 09: 31). 675

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Brucker, J. J. Historia critica philosophiae. Bd. IV, Teil 2. Leipzig, 1743, S. 4. Übers. Albrecht, M. Eklektik: Eine Begriffsgeschichte mit Hinweisen auf die Philosophie- und Wissenschaftsgeschichte. Stuttgart-Bad Cannstatt: Frommann-Holzboog, 1994, S. 546–547. Siehe Brucker, J. J. Historia critica philosophiae. Bd. I, a. a. O., S. 19. Vgl. Tomasoni, F. Christian Thomasius. Geist und kulturelle Identität an der Schwelle zur europäischen Aufklärung. Münster, New York, Müchen & Berlin: Waxmann, 2009, S. 17–19. Ebd., S. 17. Ebd., S. 18. Ebd. Ebd. Albrecht, M. Eklektik, a. a. O., S. 598. Ebd., S. 599. Vgl. auch Brandt, R. Universität zwischen Selbst- und Fremdbestimmung: Kants ‚Streit der Fakultäten‘, a. a. O.

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Albrecht behauptet, dass das Wort „Eklektik“ nur drei Mal im Kant-Korpus auftauche.683 Tatsächlich trifft dies nur für den deutschen Terminus „Eklektik“, nicht aber für den lateinischen eclectici zu. Dieser taucht z. B. in der Logik Wiener auf, in der Kant von jenen Philosophen spricht, die nach der Überwindung der Scholastiker durch die Skeptiker zu Beginn der Neuzeit (Bayle, später Hume) „keiner Sekte besonders anhingen“ und als eine „Verbesserung“ im Vergleich zu ihren Vorgänger galten. „Diese Verbeßerung ist keinem Umstande mehr beyzumeßen, als dem Studio der Natur, womit man Mathematik verband. Hierdurch ward die Ordnung im Denken befördert“ (V-Lo/Wiener AA 24: 804). Für Kant zählt zu diesen Eklektikern nicht ohne Grund Bacon.684 Dementsprechend misst er in einer von Albrecht nicht erwähnten Reflexion den eklektischen Philosophen den großen Wert bei, „frei vom Joch der Schulen“ philosophiert zu haben, wenngleich sie „einer allgemeinen Seichtigkeit“ ausgesetzt waren, nachdem sie sich von „Schulen und gelehrten Gesellschaften“ befreit und dem „Publikum“ den Ton überlassen hatten. Auf universitaeten allein regirten die theologen und subtilitaeten. Scholastici. Aristoteles. (g Ende alles Geschmaks und Gesunder Vernunft. litteratur.) Die Weltweisen, welche frey vom Joch der schulen philosophirten, haben die eclectische Art aufgebracht. Bis, wenn endlich ausser Schulen und gelehrten Gesellschaften das publicum den ton giebt, eine allgemeine Seichtigkeit überhand nimmt (Rx 1636 AA 16: 60).685

Fest steht, dass Kant in seinen veröffentlichten Schriften dem Begriff der Eklektik keine besondere Aufmerksamkeit widmet – er lehnt sich dabei an Brucker an und bezeichnet die Eklektik als ein „Thema der Vergangenheit“, das wie die anderen philosophischen Lehren und Schulen durch die kritische Philosophie und die Idee des Selbstdenkens als eine ganze neue Denkungsart überwunden werden müsse.686 Daraus ist nun aber keineswegs zu schließen, dass die frühneuzeitliche Diskussion um die Beziehungen zwischen Skeptizismus und Eklektik keine begriffliche Kontinuität in Kants Spätaufklärung findet. Vielleicht kann die skeptisch-polemische Methode als ein gewisses systematisches Pendant der „alten“ Eklektiklehre gesehen werden. So ruft die geschichtliche Stellung der Eklektiker nach den Scholastikern und den Skeptikern die analoge Stellung des kritischen Philosophen nach dem Dogmatiker und dem Skeptiker-Empiristen in Erinnerung (vgl. KrV B 884). In beiden Fällen ist der skeptische Zweifel, der den philosophischen Untersuchungen als Vorbedingung zur Wahrheitsfindung vorangeht, eine Grundvoraussetzung. Um die genaue Entstehung dieser neuen, der Eklektik verwandten „kritischen Denkungsart“ zu untersuchen, muss man

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Außer der Stelle der Log. Jäsche auch WDO AA 08: 144 und V-Met-L1/Pölitz AA 28: 539. Jacon Brucker sieht Bacon als einen „eklektischen Philosophen“, der zur Reformbewegung der Frühneuzeit gehörte. Vgl. Kim, S.-H. Bacon und Kant, a. a. O., S. 15. Über die philosophische „Befreiung“ vom „Joch der Schule“ vgl. u. a. Thomasius, C. Drey Bücher der Göttlichen Rechtsgelehrheit, a. a. O., Vorrede, § 13. Albrecht ist hier zutreffend. Die Eklektik sei „für Kant ein Thema der Vergangenheit, Selbstdenken ein Thema der Gegenwart, das über ältere Wurzeln verfügt“. Albrecht, M. Eklektik, a. a. O., S. 599.

sich den gleichfalls verwandten Begriffen von Skeptizismus bzw. skeptischer Methode im Laufe ihrer oben erwähnten drei Formen zuwenden. 6.3

Etappen der skeptisch-polemischen Methode

6.3.1 Polemische Vorgehensweise als disputatio oder dialectica eristica In der KrV definiert Kant den polemischen Gebrauch der reinen Vernunft als „die Vertheidigung ihrer Sätze gegen die dogmatischen Verneinungen derselben“ (A 739/B 767). Wie skeptische und polemische Methoden sich unterscheiden oder einander ähneln, wird später thematisiert. Hier gilt es, der engen Verwandtschaft zwischen den beiden im Hinblick auf ihre kritisch-juridischen Züge nachzugehen. Die polemische Vorgehensweise findet sein nicht transzendentales Pendant und seinen historischen Ursprung in einer im Mittelalter gewohnten akademischen Übung, die in der Frühneuzeit beibehalten wurde und in der polemischen Theologie weit verbreitet war, nämlich in der disputatio.687 N. Hinske, A. Winter und L. Kreimendahl haben nachgewiesen, wie die in den ersten Schriften Kants, vor allem in den Gedanken, vorzufindende polemische Vorgehensweise in der teologia controversa ihren Ursprung hat. Sie stammt wahrscheinlich aus der Lehre von Franz Albert Schultz, einer Hauptfigur des Pietismus in Königsberg, und wurde Kant durch M. Knutzen, seinen „verehrten Lehrer“,688 vermittelt. Die Theologia thetico-antithetica von Schultz sei durch ihre „typische Behandlungsart der Probleme in Satz und Gegensatz“ geprägt und insoweit, so diese Interpreten, die echte Quelle von Kants Begriff der Antithetik.689 Die Beziehung zwischen den Begriffen Antinomie und Antithetik und die Erwiderung in Bezug auf den angeblichen theologischen Ursprung von Kants Antinomienbegriff in der KrV wurden schon in Kapitel 3 erörtert. Hier geht es nun um die nähere Bearbeitung der Quellen der polemischen Methode Kants in der ersten Phase seines Werdegangs. A. Winter legt dar, wie die in der neuzeitlichen teologia controversa gebrauchte polemische Verfahrensweise einer scholastischen Umformung der platonischen Dialektik entspricht und sich des Distinktionsverfahrens und der Regeln der neuzeitlichen disputatio, einer Unterrichts- und Darstellungsform, deren Höhepunkt schon im Mittelalter erreicht wurde, bedient.690 687

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A. Winter erkennt die Wurzeln von Kants polemischer Methode in der konfessionellen Kontroversliteratur. „Der Begriff der polemischen Methode (lat. methodus polemica von griech. πολεμικός = kriegerisch) gehört in den Bereich der konfessionellen Kontroversliteratur, die sich im 17. und 18. Jh. bevorzugt als «Theologia polemica» oder ‚elenc(h)tica‘ (griech. ἐ λεγκτικός, zum Überführen, Widerlegen oder Tadeln dienlich) verstand, insofern sie das eigene Lehrgebäude gegen die Einwürfe der Gegner zu verteidigen und die entgegenstehenden Lehren zu entkräften trachtete“. Winter, A. „Polemische Methode“ In: Historisches Wörterbuch der Philosophie. Bd. 5, a. a. O., S. 1365. Kreimendahl, L. Kant – der Durchbruch von 1769, a. a. O., S. 170. „[Knutzen war ein] von Kant sehr geschätzte[r] Dozent, mit dem er auch persönlich in Verbindung stand“. Vgl. Winter, A. „Seele als Problem in der Transzendentalphilosophie Kants“. In: Seele: ihre Wirklichkeit, ihr Verhältnis zum Leib und zur menschlichen Person, a. a. O., S. 101. Hinske, N. „Kants Begriff der Antithetik“, a. a. O., S. 56. Weijers, O. „The various kinds of disputation in the faculty of arts, theology and law (c. 1200–1400)“. In: Gindhart, M. & Kundert, U. (Hrsg.). Disputatio 1200–1800: Form,

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Die damit [der platonischen Dialektik] gegebene grundsätzliche Offenheit, sich einer auf diesem Wege erlangten Erkenntnis zu beugen, blieb in der aus dieser Dialektik (und der darauf aufbauenden ‚disputatio in forma‘) sich entwickelnden scholastischen Methode, die der polemischen Theologie zur Verfügung stand – es gab auch eine ‚protestantische Scholastik‘ – im Prinzip erhalten, da sie gerade zwischen den Gegensätzen der quaestio, der propositio oder der thesis einerseits und der sententia contraria, der objectio oder (bes. im prot. Sprachgebrauch) der antithesis andererseits durch Auffinden einer den berechtigten Ansprüchen beider Seiten genügenden dritten Position zu vermitteln suchte, z. B. unter Zuhilfenahme des Distinktionsverfahrens.691

In den Gedanken nimmt Kant explizit Bezug auf das Distinktionsverfahren der neuzeitlichen disputatio und auf einen seiner Verteidiger, Georg Bernhard Bilfinger. Er hält insofern Abstand zu Bilfinger, als er es ablehnt, wie dieser die streitenden Teile zu vereinigen zu versuchen, nämlich durch Distinktionen oder Unterscheidungen: „Unsere Methode beugt den Unterscheidungen des Herrn Bülfingers vor“ (GSK AA 01: 100). Kant greift die „metaphysischen Unterscheidungen“ von Bilfinger nicht auf, weil sie mit den „mathematischen Beweisen“ kaum zusammenstimmen. Zugleich aber gibt Kant zu, dass „die metaphysische Unterscheidung, deren sich dieser Philosoph bedient hat, zwar vielleicht etwas darbieten [können], woraus eine fortgesetzte philosophische Erwägung einige Gründe zum Vortheile der lebendigen Kräfte ziehen würde“ (GSK AA 01: 100). Die Vorbeugung oder die Bedenken Kants gegen das Distinktionsverfahren finden sich in den Schriften der kritischen Periode. In der KrV tadelt Kant die „subtilen, obzwar ohnmächtigen Unterscheidungen“ von dem „unbiegsamsten Dogmatiker“ (B xxxii; vgl. V-Lo/Philippi AA 24: 335). L. Weber hat gezeigt, dass Kant trotz der Vorwürfe gegen das Distinktionsverfahren sich in den Gedanken und an vielen weiteren Stellen stillschweigend seiner bediente.692 Die skeptisch-polemische Methode Kants weise z. B. Züge des Distinktionsverfahrens auf, dessen Ziel es sei, „in möglichst umfassender Weise verschiedenen Positionen je ihren Anteil an Wahrheit zuzubilligen, um so zu einem abschließen-

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Funktion und Wirkung eines Leitmediums universitärer Wissenskultur. Berlin [u. a.]: De Gruyter, 2010; Felipe, D. L. Post Medieval Ars Disputandi. University of Texas doctoral dissertation, 1991, verfügbar unter: https://disputatioproject.files.wordpress.com/2011/01/post-medi eval-ars-disputandi.pdf. Winter, A. „Polemische Methode“, a. a. O., S. 1366. Weber, L. Das Distinktionsverfahren, a. a. O., S. 95ff. Vgl. auch Hinske, N. „Kants Auflösung der Freiheitsantinomie oder Der unantastbare Kern des Gewissens“. In: Yousefi, H. R. (Hrsg.). Interkulturelle Orientierung: Grundlegung des Toleranz-Dialogs. 1. Methoden und Konzeptionen. Nordhausen: Bautz, 2004, S. 617. Weber argumentiert, dass die kantische Antithetik eher dem Distinktionsverfahren als dem Skeptizismus selbst zu verdanken sei: „Die Antithetik in der KrV ist in der Endgültigkeit ihrer jeweiligen, wenn auch negativen Urteilsbildung, weniger von der Methode der Skeptiker, die immer in der Suspension des Urteils verharren, als vom mittelalterlichen Distinktionsverfahren beeinflusst. Der Kritizismus geht aber über dieses hinaus, insofern das Gegeneinander der Positionen dort als dem Gesetz des menschlichen Erkennens entspringend ausgewiesen wird“. Weber, L. Das Distinktionsverfahren, a. a. O., S. 4. Die Besonderheit der kritischen Philosophie sei, so Weber, die Verinnerlichung des Streits im Subjekt. Die disputatio findet demnach im Subjekt statt, genauer in der Vernunft. Das „Dritte“, der Magister der disputatio, ist die Vernunft selbst. Weber, L. Das Distinktionsverfahren, a. a. O., S. 3.

den Urteil zu gelangen“.693 Darüber hinaus haben beide eine trichotomische Grundstruktur: So wie in den Distinktionen es außer den Argumenten pro und contra noch einen „Magister, also eine[…] 3. Person gegenüber Opponens und Defendens“694 gibt, so findet man auch in der skeptisch-polemischen Methode Kants die gegeneinander streitenden Parteien und ein „Drittes“, dem wir uns später zuwenden. Die in der disputatio neben dem Rekurs auf die Distinktionen verwendete polemische Verfahrensweise wird von Meier in seinem Auszug und auch von Kant in einigen Vorlesungen erörtert. Sie besteht grundsätzlich in der Verteidigung eines affirmativen Satzes gegen einen verneinenden Satz durch eine refutatio oder Widerlegung.695 Das ganze Verfahren wird von einem „Dritten“, dem Magister, vermittelt und umfasst außerdem einen Opponens und einen Respondens. Meier definiert die disputatio als eine Art von „gelehrter Streitigkeit (controversia), [die] aus der Widerlegung und Vertheidigung einer Meinung [besteht]“.696 Im Gegensatz zu den weiteren gelehrten Streitigkeiten liegt die Besonderheit der disputatio darin, dass sie „mündlich und in Gegenwart beider Partheien geschieht“.697 Der Opponens muss zuerst „die Streitfrage bestimmen“, dann „den Respondenten […] angreifen und endlich, „der Kürze und Deutlichkeit wegen, seine Beweise in förmlichen Schlussreden vortragen“.698 In der Folge nimmt der Respondent das Argument an (assumere argumentum), wenn er den Einwurf des Opponenten wiederholt, und das ist nützlich, um denselben recht zu überlegen, damit er ihn tüchtig beantworten könne. Um der Kürze willen muss der Respondente weiter nichts thun, als zeigen, wo der Opponente entweder in der Materie, oder in der Form seines Beweises einen Fehler begangen, und da muss er verlangen, dass der Opponente entweder seinen Vernunftschluss ändere, oder den Vordersatz beweise, der dem Respondenten falsch oder ungewiss zu sein scheint.699

Zum besseren Verständnis der genetischen und systematischen Bedeutung der disputatio für die skeptisch-polemische Methode Kants müssen einige Ähnlichkeiten und Unterschiede zwischen beiden Verfahren hervorgehoben werden. So weist eine Stelle der Logik Philippi darauf hin, dass die polemische Methode als disputatio der Entdeckung des Irrtums und der Wahrheitsfindung „durch Einigung“ diene.700 Kant präsentiert hier die Idee, die in dem Disziplin-Kapitel der KrV wieder aufgenommen wird: Mit der Absicht, die Wahrheit „herauszubrin693 694 695 696 697 698 699 700

Ebd. Ebd., S. 4. Felipe, D. L. Post Medieval Ars Disputandi, a. a. O., S. 41–45. Vgl. Zedler, J. H. „Polemische Demonstration“. In: Großes vollständiges Universal-Lexicon. Bd. 28, a. a. O., S. 1079. Meier, G. F. Auszug aus der Vernunftlehre, a. a. O., § 499. Ebd., § 514. Ebd., § 515. Ebd., § 516. Vgl. auch Logik Blomberg: „Eine Formelle Disputation ist die Handelung, wo man in Gegenwart gelährter Leute einige Sätze preiß giebt sie wieder alle Einwendungen zu vertheidigen. Es könnte das Disputiren großen Nutzen schaffen, wenn es nicht ein Certamen Personarum wäre. und wenn man nicht durch Streit, sonderen durch Einigung die Wahrheit aufsuchen wollte“ (V-Lo/Blomberg AA 24: 296).

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gen“, muss der Streit nicht durch die Vernichtung des Gegners, sondern durch eine amicabilis compositio gelöst werden: Hier wird gefragt, welche Methode man gebrauchen muß um einen zu widerlegen. Es ist unterschieden einem eine Meynung beybringen und eines Meynung widerlegen. Im ersten Fall ist das Subject leer, in dem andern aber muß ich es entleeren. Vor aller Belehrung muß ich erst die Data haben worinn der andre irrt. Jeder Irrthum ist als ein Phänomenon anzusehen welches einer Erklärung würdig ist. Ich muß erst aufsuchen wie er zu dem Irrthum hat kommen können. […]. Bey allen gelehrten Streitigkeiten soll der Zweck seyn die Wahrheit herauszubringen. Es ist wiedersinnig, daß sie durch Streit soll herausgebracht werden; nur durch die Einigkeit die etwa durch den Streit vermittelt wird, wird sie herausgebracht. Modus litem finiendi est amicabilis compositio (V-Lo/Philippi AA 24: 489).

In diesem Zusammenhang gilt die refutatio als eine Art von Verteidigung im Rahmen einer disputatio, die in diesem Fall von Kant als dialectica eristica bezeichnet wird. Die angegriffene Partei muss sich verteidigen und mit „Retorsion, Argumentation, Questionieren“ erwidern. Kant fügt hinzu, dass die disputatio eine größere Nützlichkeit hätte, wenn sie nicht ein „certamen personarum“ wäre und man dabei „nicht durch Streit, sondern durch Einigung die Wahrheit aufsuchen wollte“: Eine formelle Disputation ist die Handlung wo man in Gegenwart gelehrter Leute einige Säzze Preiß giebt sie wider alle Einwendungen zu vertheidigen. Es könnte das Disputiren grossen Nuzzen schaffen, wenn es nicht ein certamen personarum wäre und wenn man nicht durch Streit sondern durch Einigung die Wahrheit aufsuchen wollte. Den Opponenten muß man beym Disputieren von dem statu controuersiae nicht abgleiten lassen. Denn sonst geräth man in Nebensachen. Man kann den Opponenten durch Retorsion, Argumentation, Questioniren daß er sich erläutern solle und durch Distinctionen bald verwirrt machen. Der Opponent kann praeparirt seyn auf die möglichen Fragen und Antworten. […]. Die Alten nannten die Disputirkunst Dialecticam eristicam, die kämpfende Dialectik (V-Lo/Philippi AA 24: 490).

Wie die Gedanken und die anderen Schriften der 1750er Jahre belegen, lehnt sich Kants polemische Methode an die der disputatio und der dialectica eristica eigentümliche Verfahrensweise an, noch bevor Kant mit dem Skeptizismus vertraut war und die Antithetik der Vernunft eingesehen hatte. Es lässt sich deshalb behaupten, dass Kant eine Vorstellung von der dialectica eristica lange vor der Transzendentalen Dialektik hatte. Die disputatio hat also einen großen Nutzen für die Philosophie, sogar für die spätere transzendentale Philosophie, wenn sie „nicht ein certamen personarum“ ist und „nicht durch Streit, sondern durch Einigung die Wahrheit aufsuchen“ will, d. i. wenn sie zu einer skeptisch-polemischen Methode umgeformt wird. Kant hat daher nicht ohne Grund die Idee einer polemischen Streitigkeit durch Retorsionen bzw. Widerlegungen im Disziplin-Kapitel ausdrücklich erörtert, wie in Kapitel 8 noch gezeigt wird. Die Retorsionen dienen dabei nicht dazu, die Wahrheit einige Sätze ostensiv zu begründen, sondern „den Opponenten […] verwirrt“ zu machen. Trotz der großen Zeitspanne zwischen der Erörterung der disputatio bzw. der dialectica eristica und der KrV behält

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Kant die Idee bei, dass die refutatio eine mögliche kritische (negative) Beweisart ausmacht. Obwohl die disputatio der theologica controversa angehörte, war sie keineswegs nur in dieser Lehre vorzufinden. Sie hatte ihren Ursprung in denjenigen Lehren, die nicht imstande waren, eine völlige Deutlichkeit durch eine strikte logischmathematische Demonstration zu erlangen. Die Grundstruktur der disputatio im 16., 17. und 18. Jahrhundert machte das methodologische Gerüst derjenigen Lehren aus, die in der aristotelischen Tradition als „praktisch“ betrachtet wurden, also jener, in denen es nicht möglich war, apodiktische Gewissheit zu erreichen, und die daher ein „Wissensgebiet“, jedoch keine Wissenschaft waren. Dazu zählten die Politik und das Recht.701 C. Thomasius ist in diesem Kontext von Belang. Hanspeter Marti hat gezeigt, wie Thomasius in Halle die herkömmliche, mittelalterliche disputatio in ihre neuzeitliche Gestalt brachte, vor allem durch die Einführung der „sokratischen Methode“ und ihr „elektisches Verfahren“.702 Die sokratische Mäeutik sei, so Thomasius, das geeignete Mittel „gegen die Vorherrschaft der praeiudicia auctoritatis“,703 und in Form einer ars disputatio könne sie

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„On the other hand, in the Protestant universities of the German territories, the legal and political literature of the late sixteenth century abandoned the strict form of the medieval quaestio, but maintained nevertheless the general pattern of the summa. In works written in this context we can find a typical sequence of topics and problems, which reflects the old division in quaestiones and articula, even if the discussion of the single points does not follow the three canonical steps (pro et contra, arguitur, responditur). So, practical disciplines remained an architecture of questions and arguments organised in topological patterns, which were sometimes called commonplaces“. Scattola, M. „Dialectics, topology and practical philosophy in early modern times“, a. a. O., S. 186–187. Scattola erklärt folgendermaßen die Verfahrensweise der disputatio in der Frühneuzeit: „Contributing to this persistence of ancient schemes in the academic literature of early modern times was without doubt the practice of the disputatio in many universities, especially in the Holy Roman Empire. In the German territories most genres of academic literature were built upon the disputation. The use was that the newly appointed professor in a philosophical field (logic, physics, metaphysics, politics or ethics) divided his teaching in a series of topics, which were like chapters of an ideal book. Then he gave each of these topics to a student, who had to defend the positions of the teacher in an academic exercise or in a public discussion in order to attain an academic degree. After the discussion, the real dialectical play, the text of the disputation, which was mostly written by the professor himself, was published in various forms. Sometimes each dissertation was edited separately, but the single chapters were almost edited together like a collective book, which had a single title and went then under the name of the professor“. Ebd., S. 187. Vgl. auch: „Le disputazioni e i manuali sono i due generi più importanti della disciplina politica universitaria e a esse corrispondono particolari consuetudini di produzione letteraria e determinati obblighi, anche di natura giuridica, nei confronti dell’instituzione accademica. I professori lavoravano spesso in serie: dividevano l’esposizione della loro materia in argomenti bem delimiatati che assegnavano ai logo studienti li discutessero nei loro collegia“. Scattola, M. Dalla virtù alla scienza. La fondazione e la trasformazione della disciplina politica nell’età moderna. Milano: Franco Angeli, 2003, S. 22. Marti, H. „Kommunikationsnormen der Disputation. Die Universität Halle und Christian Thomasius als Paradigmen des Wandels“. In: Schneider, U. J. (Hrsg.). Kultur der Kommunikation. Wiesbaden: Harrassowitz [u. a.], 2005. Ebd., S. 325.

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auch als „Widerlegungskunst“ angesehen werden.704 Infolge der sokratischen Prägung der neuen thomasianischen „Disputationskunst“ verliert die logischmathematische Demonstration ihren bisherigen Rang. In der disputationstheoretischen Darstellung der Introductio in philosophiam aulicam (Einleitung zur Hof-Philosophie) „steht also der formallogische, vor allem vom Syllogismus getragene Argumentationsgang des herkömmlichen processus disputandi dem sokratischen Dialog als heuristischem Instrument innovativer Wahrheitsfindung beziehungslos gegenüber“.705 Die disputatio bei Thomasius dient nicht so sehr dem direkten und ostensiven Beweis der Wahrheit eines Satzes als vielmehr der Erkenntnis bzw. Entdeckung des „Brunnquelles ihres [scil. einer Lehre] Irrthums“.706 Die disputatio ist somit als eine der Grundlagen für die erste Etappe der Problematik des Gerichtshofs und der Gesetzgebung der Vernunft anzusehen. Allerdings muss sie wegen des Risikos des Dogmatismus, wie die Logik Philippi andeutet, durch den „Skeptizismus“ aufgehoben werden, der wiederum ohne den „kritischen Zwang“ Gefahr läuft, selbst dem Dogmatismus zu verfallen.707 6.3.2 Hume und der gemäßigte Skeptizismus Bis zur endgültigen Umformung der disputatio in eine in der Antithetik und an anderer Stelle angewandte polemische oder skeptische Verfahrensweise – wobei es die juridische Prägung dieser Beweisart bei Kant eindeutig darzulegen gilt –, müssen noch einige Etappen durchlaufen werden. Eine ist sicherlich Kants Rezeption von Hume und des Skeptizismus im Allgemeinen. Noch um die Mitte der 1750er Jahre scheint Kant eine eher vage Vorstellung vom Skeptizismus mit einer der disputatio entstammenden polemischen Argumentationsweise zu verbinden. Einige Reflexionen der 1750er Jahre deuten darauf hin, dass Kant damals im (noch nicht in einen dogmatischen und einen gemäßigten unterteilten) skeptischen Zweifel insofern einen indirekten Nutzen bei der Wahrheitsfindung sah, als man von der Wahrheit des Gegenteils abstrahiert und es „hernach wi-

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„Wenn wir also geurtheilet haben, daß ein Scriptor von der Wahrheit verfehlt hat, so geschieht es auch nachgehends, daß wir demselben wiedersprechen und ihn widerlegen, indem wir einem solchen die Falschheit seiner Lehren, die von ihm sind vorgebracht worden, vor Augen legen. Solches geschieht entweder vermittelst einer mündlichen Rede, oder in Schrifften. Was das erste anbelanget, weilen dergleichen Widerlegung eine Disputation genennet zu werden pfleget“. Thomasius, C. Einleitung zur Hof-Philosophie, a. a. O., S. 282. Marti, H. „Kommunikationsnormen der Disputation“, a. a. O., S. 326. Thomasius, C. Einleitung zur Hof-Philosophie, a. a. O., S. 253. Marti zeigt ferner, wie Thomasius diese neue Auffassung von der ars disputatio durch Reformen an der Universität Halle und in zahlreichen Dissertationen in die Praxis umgesetzt hat. Die in Halle verfasste und veröffentliche Vernunftlehre von Meier verrät den Einfluss der ars disputatio des Thomasius. „Anstatt eine Logic oder eine Wissenschafft zur Erkenntniß der Vernunft zu geben, sagten sie [die Skeptiker – D. K. T.] es wäre gar keine Erkenntniß zu erlangen. Sie dienten indessen den Stolz der entscheidenden und schwätzenden Dogmatiker zurückzuhalten durch ihr non liquet. Anstatt dieses bescheidenen Zweifels wodurch sie die Dogmatiker gleichsam beim Ermel zupften, nahmen sie hernach ein dogmatisches Zweifeln, welches ein Unding ist, an“ (V-Lo/Philippi AA 24: 337).

derlegt“. Darauf erfolge die Entdeckung des „falschen Scheins“.708 Kant weist aber zugleich darauf hin, dass der „vernünftige Pyrrhonismus“, der sich aus dem „Zwiespalt der Meinungen“ ergibt, der „Zweifelsucht“ erliegt und dadurch sich für die Moral und die Theologie als „schädlich“ erweist.709 Tatsächlich bezieht sich Kant erst am Ende der 1750er Jahre auf die Notwendigkeit, einen Zweifel wie den cartesianischen aufzunehmen. In der 1758 veröffentlichten Schrift Neuer Lehrbegriff der Bewegung und Ruhe und der als Anhang zu diesem Werk erschienenen Kolleganzeige lässt sich ein merkwürdiger Übergang zu der „neuen“ skeptischen Methode finden. In der Vorrede zu dieser Schrift bringt Kant etwas zum Ausdruck, das schon mit Blick auf die vorherigen Schriften aufgezeigt wurde: die Selbständigkeit gegenüber dem Zwang der Schulen, der Appell an die „gesunde Vernunft“ als Probierstein der Wahrheit und als Begründung des polemischen Tons der Schrift, mit dem der Leser überzeugt werden soll – in einem Wort: das kritische Motiv des Selbstdenkens. Kant schreibt mit erkennbar juridischen Begriffen, das angebliche Gesetz über das „Recht [eines] unangefochtenen Besitz[es] in den Lehrbüchern der Weltweisen“ müsse bestritten werden. Es lohnt sich hier, die ganze Stelle, die in der Kant-Forschung nicht gerade oft beachtet wird, zu zitierten: Wenn in einer philosophischen Frage das einstimmige Urtheil der Weltweisen ein Wall wäre, über welchen zu schreiten, es für ein gleich sträfliches Verbrechen mit demjenigen, welches Remus beging, müßte gehalten werden, so würde ich mir den Vorwitz wohl vergehen lassen, meinen Einfällen wider das entscheidende Gutachten des ehrwürdigen großen Haufens diejenige Freiheit zu erlauben, die durch nichts weiter als durch die gesunde Vernunft gerechtfertigt ist. Ich würde, wenn es mir einfiele, ein Gesetz zu bestreiten, welches nach dem Rechte des Herkommens einen unangefochtenen Besitz in den Lehrbüchern der Weltweisen schon seit Jahrhunderten her behauptet hat, mich selbst bald bescheiden, daß ich entweder hätte eher kommen oder damit zurück bleiben sollen. Nun ich aber eine große Menge solcher unternehmenden Köpfe um mich erblicke, die mit dem Gesetze des Ansehens nichts wollen zu schaffen haben, und gegen die man doch so viel Nachsicht hat ihre Meinungen wohl gar zu prüfen und ihnen nachzudenken, so wage ich es auf ein gleich günstiges Schicksal mich unter sie zu mengen und die Begriffe der Bewegung und der Ruhe, imgleichen der mit der letztern verbundenen 708

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„Zu dieser Beantwortung [des Zweifels] gehört, daß man die Zweifel in ihrer gantzen Stärke vorträgt und von der Warheit des Gegentheils so lange abstrahirt und hernach wiederlegt. Den Zweifel aus dem Grunde hebt, in dem Man entdekt den falschen Schein. Dafür tragen Zweifel indirecte etwas zur Gewißheit der Erkentniß bey. Der in einer sache, wieder welche zweifel könen gemacht werden, niemals einigen von Anfang an gehabt hat, der hat ihr nicht genug nachgedacht. In einer Sache, wo es die Regeln der Klugheit erfodern, nach Warscheinlichkeit zu handeln, soll man sich die Zweifel am wenigsten aufhalten laßen“ (Rx 2656 AA 16: 453 (1752–1756)). „Von der Zweifelsucht […]. Dogmatici, Sceptici. Pyrrho. non liqvet. Leugnete die gewisheit der dogmatum, nicht der Erfahrung […].Schädlichkeit des Scepticismus in der Moral. Theologie […]. Gründe, die zum Scepticismus Anlaß geben. Zwiespalt der Meinungen. Vom vernünftigen Pyrrhonismus. Grundregel nach ihm: wo nicht die Regeln der Klugheit es erfodern, nach gewißen Regeln zu handeln, muß man sein entscheidend Urtheil aufsteken, so lange noch deutliche Gegengründe vorhanden seyn“ (Rx 2660 AA 16: 456–457 (1752–1756)).

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Trägheitskraft zu untersuchen und zu verwerfen; ob ich gleich weiß, daß diejenige Herren, welche gewohnt sind, alle Gedanken als Spreu wegzuwerfen, die nicht auf die Zwangmühle des Wolffischen oder eines andern berühmten Lehrgebäudes aufgeschüttet worden, bei dem ersten Anblick die Mühe der Prüfung für unnöthig und die ganze Betrachtung für unrichtig erklären werden (NLBR AA 02: 15).

Der Streit gegen seit langem als wahr betrachtete Meinungen angeblicher Autoritäten und die Berufung auf die libertas philosophandi sind Motive, die wie gesehen bereits in den frühen Schriften Kants zum Ausdruck kommen. Die thematische Kontinuität des Neuen Lehrbegriffs im Werdegang Kants macht aber auf ein Element aufmerksam, das für uns von besonderem Interesse ist: die Beziehung zwischen den kritischen Motiven und einem ausdrücklichen, wenngleich noch unbestimmten Sinn von Skeptizismus als polemischer Methode bzw. Verfahrensweise. In der folgenden Passage bittet Kant den Leser um dieselbe „Verfassung des Gemüts“, die Descartes „für so unumgänglich nöthig zur Erlangung richtiger Einsichten hält“710 und in der Kant sich befindet. Diese „Verfassung des Gemüts“ sei eine Version des cartesianischen Zweifels: Ich wünsche, daß sich meine Leser auf einen Augenblick in diejenige Verfassung des Gemüths versetzen könnten, welche Cartes für so unumgänglich nöthig zur Erlangung richtiger Einsichten hält, und worin ich mich jetzt befinde, nämlich sich so lange, als diese Betrachtung währt, aller erlernten Begriffe vergessen zu machen und den Weg zur Wahrheit ohne einen andern Führer als die bloße gesunde Vernunft von selber anzutreten (NLBR AA 02: 06, Hervorh. d. Verf.).

Der Bezug auf Descartes und auf den methodischen Zweifel, der Kant selbst einnahm und den er dem Leser empfiehlt, ist ein eindeutiger Beleg für den Einfluss der skeptischen Tradition auf Kant, auch wenn er sich hier nur im Ansatz zeigt. Nicht nur Brucker, sondern auch Hume bringen Descartes mit einem extremen im Gegensatz zu dem wahrscheinlich von Kant noch nicht in Betracht gezogenen gemäßigten Skeptizismus in Verbindung. Es ist außerdem bemerkenswert, dass Kant in der Kolleganzeige am Ende der Schrift die polemische Me710

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Siehe z. B. Descartes’ „quatre précepts“ in Discours de la méthode: „Le premier était de ne recevoir jamais aucune chose pour vraie, que je ne la connusse évidemment être telle: c’està-dire, d’éviter soigneusement la Précipitation, & la Prévention; & de ne comprendre rien de plus en mes jugements, que ce qui se présenterait si clairement & si distinctement à mon esprit, que je n’eusse aucune occasion de le mettre en doute“. „Die erste war, niemals irgendetwas als wahr anzunehmen, von dem ich nicht evident erkannte, dass es wahr ist. Das heißt: Übereilung und Voreingenommenheit sorgfältig zu vermeiden, und nur noch das in meine Urteile einzubeziehen, was sich meinem Geist so klar und deutlich präsentierte, dass ich keinen Anlaß hätte, es in Zweifel zu ziehen“ Descartes, R. Discours de la méthode: französisch-deutsch. Übers. und hrsg. von Christian Wohlers. Hamburg: Meiner, 2011, S. 33. „Pour ce qu’alors je désirais vaquer seulement à la recherce de la vérité, je pensait qu’il fallait que […] je rejetasse, comme absolument faux, tout ce en quoi je pourrais imaginer le moindre doute, afin de voir s’il ne resterait point, après cela, quelque chose en ma créance, qui fut entièrement indubitable“. „Da ich aber allein der Erforschung der Wahrheit nachzugehen wünschte, dachte ich, es wäre angemessen, wenn ich […] alles als absolut falsch zurückwiese, in dem ich mir auch nur den geringsten Zweifel vorstellen konnte, um zu sehen, ob danach von meinen Überzeugungen überhaupt etwas übrig bliebe, das völlig unbezweifelbar wäre“. Ebd., S. 57.

thode bzw. Vorgehensweise als das beste Mittel beschreibt, um genau zu derjenigen Einsicht zu gelangen, die er einige Seiten davor als Folge des cartesianischen Zweifels dargelegt hat. In einer Mittwochs= und Sonnabendsstunde werde ich die in den vorigen Tagen abgehandelte Sätze polemisch betrachten, welches meiner Meinung nach eins der vorzüglichsten Mittel ist zu gründlichen Einsichten zu gelangen (NLBR AA 02: 25).

Dass die polemische und die skeptische Methode ähnliche Ziele haben, liegt auf der Hand. Sowohl der methodische Zweifel Descartes’ als auch die polemische Vorgehensweise der disputatio setzen dieselbe „Verfassung des Gemüts“ voraus, in der alle Gewissheiten des Subjekts in Frage gestellt werden müssen, um eine gründliche Einsicht erreichen und den Weg zur Wahrheit beschreiten zu können. Die Gedanken und die anderen Schriften der Periode wenden diese methodologischen Vorschriften bereits an. Die explizite Bezugnahme auf den cartesianischen Zweifel und zugleich auf die polemische Vorgehensweise dürfte jedoch ein Hinweis sein, dass es sich dabei um einen Wendepunkt zwischen der polemischen Behandlung und der zukünftigen skeptischen Methode handelt. Bei näherem Hinsehen lässt sich sogar vermuten, dass Kants anfängliche Annäherung an den skeptischen Zweifel in einem weiteren Sinn, nämlich dem des methodischen Zweifels von Descartes, den Einfluss Humes in einem Moment der Entwicklung von Kants Denken verrät, dem die Kant-Forschung bisher kaum Beachtung geschenkt hat: den Jahren zwischen 1755 und 1758.711 In der Enquiry concerning human understanding, deren erste deutsche Fassung im Jahr 1755 unter dem Titel Philosophische Versuche als zweiter Teil einer Sammlung von 711

Nur L. Robinson ist der Auffassung, dass Humes Einfluss auf Kant möglicherweise bereits in den 1750er Jahren mit der Veröffentlichung der Philosophischen Versuche im Jahr 1755 begonnen hat. Vgl. Robinson, L. „Contributions a l’histoire de l’evolution philosophique de Kant“. In: Revue de Métaphysique et de Morale, T. 31, No. 2, 1924, S. 269–353. Es handelt sich dabei aber um eine Ausnahme in der Kant-Forschung. Kreimendahl erkennt vier mögliche Datierungen für die zeitliche Einordnung eines solchen Einflusses: a) zwischen 1762 und 1763, b) um 1769, c) zwischen 1771 und 1772 oder d) ab 1772. Kreimendahl, L. Kant – der Durchbruch von 1769, a. a. O., S. 28–50. Siehe auch Rivero, G. Zur Bedeutung des Begriffs Ontologie bei Kant, a. a. O., S. 97–100. Den möglichen Einfluss von Hume „um 1757“ lehnt Kreimendahl wegen der „großen zeitlichen Entfernung“ zur KrV ab. Kreimendahl, L. Kant - der Durchbruch von 1769, a. a. O., S. 26. Dies lässt sich dadurch erklären, dass er nur das Moment des Erweckens durch Hume suchen will – Kreimendahl schließt ausdrücklich die Möglichkeit eines „Erweckungsprozesses“ statt eines „momentanen Ereignisses“ aus (ebd., S. 27) – im Gegensatz zu der These von E. Cassirer (Das Erkenntnisproblem in der Philosophie und Wissenschaft der neueren Zeit. Bd. II. Reprint der 3. Aufl. New Haven/Conn., 1922. Darmstadt: WBG, 1974, S. 609), M. Campo (La Genesi del Criticismo Kantiano, a. a. O., S. 374–375) und R. Brandt („Einführung“. In: Brandt, R. & Klemme, H. (Hrsg.). David Hume in Deutschland. Marburg, 1989, S. 9, 14). Diese letzte These, dass es sich um einen „Erweckungsprozess“ statt um ein „momentanes Ereignis“ gehandelt hat, scheint jedoch überzeugender. Wie bereits in der Einleitung zu dem vorliegenden Teil erklärt, ist die kritische Philosophie weniger als Ergebnis einer einem einzigen Autor bzw. Lehrstück zuzuweisenden abrupten „Entdeckung“ zu verstehen, sondern vielmehr als die langsame Entfaltung einiger kritischer Motive – das heißt, „una azione lenta e continua, magari com varie e succesive manifestazione“. Campo, M. La Genesi del Criticismo Kantiano, a. a. O., S. 274.

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Schriften Humes, die Kant besaß, erschienen ist, findet sich eine Diskussion zum Skeptizismus, die mit gutem Grund auf Kants Verhältnis zu diesem sowie zur skeptischen Methode gewirkt haben dürfte. Man kann zu Recht annehmen, dass Kant die Philosophischen Versuche noch in den 1750er Jahren „bald nach der Veröffentlichung jener Übersetzung gelesen habe“.712 In einem Brief an Kant von 1759 erwähnt Hamann den „attischen Philosophe[n], Hume“,713 und Borowski, der seit Kants erster Vorlesung im Juni 1755 sein Schüler war,714 schreibt: „[I]n den Jahren, da ich zu seinen Schülern gehörte, waren ihm Hutcheson und Hume, jener im Fache der Moral, dieser in seinen tiefen, philosophischen Untersuchungen ausnehmend wert. Durch Hume besonders bekam seine Denkkraft einen ganz neuen Schwung“.715 Aus diesen Belegen geht hervor, dass die Idee eines aus der philosophischen Untersuchung selbst hervorgehenden Skeptizismus von diesem ersten Kontakt Kants mit der Philosophie von Hume herrührt. Dies soll im Folgenden näher betrachtet werden. Im letzten Versuch der Schrift, „Von der akademischen oder sceptischen Weltweisheit, oder von der Secte die an allem zweifeln“, stellt Hume zwei allgemeine Arten von „allgemeinem Zweifel“ einander gegenüber: einen Zweifel, der „aller Untersuchung und Weltweisheit vorher geht“, und einen Zweifel, der „auf die Wissenschaft und Untersuchung folget“.716 Der vorhergehende Skeptizismus sei etwa von Descartes als das „bewährteste Mittel wider Irrthümer und übereilte Urtheile“ aufgenommen worden. Es giebt eine Art des allgemeinen Zweifels, welcher vor aller Untersuchung und Weltweisheit vorher geht, und welchen Des Cartes, und andre sehr einschärfen, als das bewährteste Mittel wider Irrthümer und übereilte Urtheile. Dieser Scepticismus empfehlt uns einen algemeinen Zweifel, nicht allein in Ansehung aller unserer vorigen Meynungen, sondern auch gar in Ansehung unserer Kräfte und Fähigkeiten, von deren Wahrhaftigkeit, wie sie sagen, wir uns selbst durch eine Kette von Vernunftschlüssen versichern müssen, die aus einigem ursprünglichen Grundsatze hergeleitet sind, welcher nicht falsch oder betrieglich sein kann.717

Da es aber keinen „ursprünglichen Grundsatz“ gebe, der absolut klar und deutlich sei und also kein Misstrauen erwecke, wäre der cartesianische Zweifel „ganz und gar unheilbar, wenn ein Mensch zu ihm wirklich gelangen könnte“. Im Gegensatz zum radikalen und dogmatischen Zweifel Descartes’ schlägt Hume ei712

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„[Das] gibt die naheliegende Annahme, […] daß Kant die Essays bald nach der Veröffentlichung jener Übersetzung gelesen habe“. Erdmann, B. „Kant und Hume um 1762. Teile I–II“. In: Archiv für Geschichte der Philosophie, 1, 1888, S. 62–77, 68, 216–230. Hamann, J. G. Hamann’s Schriften. Hrsg. von Friedrich Roth. 9 Bde. Berlin & Leipzig: Reimer, 1821–1843. Bd. 1, 1821, S. 442. Vgl. Erdmann, B. „Kant und Hume um 1762. Teil I“, a. a. O., S. 67. Kuhn, M. Kant: Eine Biographie, a. a. O., S. 131; Robinson, L. „Contributions a l’histoire de l’evolution philosophique de Kant“, a. a. O., S. 280; Erdmann, B. „Kant und Hume um 1762. Teil I“, a. a. O., S. 67–68. Hoffmann, A. (Hrsg.). Immanuel Kant. Ein Lebensbild nach Darstellungen seiner Zeitgenossen. Jachmann, Borowski. Wasianski, a. a. O., S. 252. Hume, D. Philosophische Versuche. In: Klemme, H. (Hrsg.). Reception of the Scottish enlightenment in Germany: six significant translations, 1755–1782, a. a. O., S. 344. Ebd., S. 342–343.

nen „gemäßigten und bescheidenen“ Skeptizismus vor, der „vernunftigen Sinn“ besitzt und folglich als eine „nothwendige Vorbereitung zu der Erlernung der Weltweisheit“ gilt. Der gemäßigte Skeptizismus zeichne sich dabei durch die Beachtung der Unparteilichkeit und die Zurückweisung aller von „der Erziehung oder von einer übereilten Meynung eingezogenen“ Vorurteile aus. Doch muss man gestehen, dass diese Art des Scepticismus, wenn er bescheidener und gemäßigter ist, in einem gar vernünftigen Sinne verstanden werden kann, und eine nothwendige Vorbereitung zu der Erlernung der Weltweisheit ist; indem er in unsern Urtheilen eine richtige Unparteylichkeit unterhält, und unser Gemüthe von allen denjenigen Vorurtheilen entwöhnet, die wir von der Erziehung oder von einer übereilten Meynung eingezogen haben. Bey klaren und an sich selbst deutlichen Grundsätzen anfangen; mit furchtsamen aber sichern Schritten fortgehen; unsere Schlüsse öfters wieder übersehen, und alle Folgen derselben genau untersuchen; das ist die einzige Art und Weise, dadurch wir hoffen können, zur Wahrheit zu gelangen, und eine beständige Gewißheit in unsern Entscheidungen zu erreichen; ob wir schon durch diese Mittel beydes nur langsame und kurze Schritte in unsern Lehrgebäuden thun können.718

Was aber den Skeptizismus betrifft, der auf alle philosophischen Untersuchungen folge, stellt Hume gleichfalls zwei mögliche Arten einander gegenüber. Es gebe einen „übertriebenen Skeptizismus“719, der voraussetze, dass die Menschen „entweder die gänzliche Betrieglichkeit ihrer Gemühtsfähigkeiten, oder ihre Ungeschicklichkeit entdecket [haben], zu einigen gewissen und festgesetzten Bestimmungen“. Dieser Skeptizismus bezweifle nicht nur die „Schlüsse der Metaphysik und Gottesgelahrheit“, sondern sogar „unsere Sinnen selbst“ und „die Grundregeln des gemeinen Lebens“.720 Hume lehnt diesen übertriebenen Skeptizismus ab, wie auch den cartesianischen Zweifel.721 So wie man den radikalen cartesianischen Zweifel nicht annehmen könne, werde auch die Möglichkeit eines solchen übertriebenen Skeptizismus durch den gesunden Menschenverstand geleugnet. Der andere Skeptizismus, der auf die Wissenschaft und die philosophische Untersuchung folgt, ist Hume zufolge eine „gemäßigtere und gelindere Art“ des Skeptizismus, der durch die „Überlegungen und Betrachtungen des gemeinen Lebens“722 geprüft und beurteilt werde und demnach die „gemäßigte und gelinderte sceptische Weltweisheit“723 heiße. Beide Arten des gemäßigten Skeptizismus, der der Untersuchung und der Philosophie vorhergehenden Skeptizismus und die gemäßigte und gelinderte skeptische Weltweisheit, setzten voraus, dass die Menschen auf ihre Neigung, „ihre Meinungen mit Hartnäckigkeit zu behaupten“ und Grundsätze „übereilt einzunehmen“, verzichten und die Gegenstände „von den entgegen stehenden Gründen“ betrachten, statt sie nur „von einer Seite“ anzusehen.724 Wenn daher 718 719 720 721 722 723 724

Ebd., S. 343–344. Ebd., S. 364. Ebd., S. 344. Ebd., S. 364. Ebd., S. 367. Ebd., S. 365. „Es gibt aber in der That auch eine gemäßigtere und gelindere Art der sceptischen oder akademischen Weltweisheit, welche sowol dauerhaft, als nützlich, und zum Theile die

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solchen Menschen, die so hartnäckigt an ihren Meynungen hangen, die ungemeinen Schwachheiten des menschlichen Verstandes, auch selbst, wenn er in seinem vollkommensten Stande, und in seinen Entscheidungen und Bestimmungen am sorgfältigsten und behutsamsten ist, begrifflich [gemacht werden]: so würde ihnen diese Ueberlegung mehr Bescheidenheit und Zurückhaltung einflößen, und ihre thörichte hohe Meynung von sich selbst, und ihre Vorurtheile wider ihre Gegner mindern. 725

Der gemäßigte und „vernünftige“ Skeptizismus wäre dann genau derjenige, der eine „Einschränkung unserer Untersuchungen und Betrachtungen auf solche Vorwürfe [ist, und] welcher sich für die enge Fähigkeit des menschlichen Verstandes am besten schickt“.726 Hume verbindet daher im letzten Versuch der Philosophischen Versuche zwei Begriffe von Skeptizismus oder skeptischem Zweifel, einen den philosophischen Untersuchungen vorangehenden und einen auf die Philosophie und Wissenschaft folgenden Skeptizismus (welcher der „gemäßigten und gelinderten sceptischen Weltweisheit“ entspricht). Diese Unterscheidung Humes und auch die zwischen einem „extremen“ und einem „gemäßigten“ Skeptizismus entspricht exakt derjenigen zwischen einem „dogmatischen“ und einem „eklektischen“ bzw. „kritischen“ Zweifel, wie man sie auch bei Brucker, Thomasius und nicht zuletzt bei Kant findet. Darüber hinaus finden sich in den angeführten Stellen der Philosophischen Versuche fast alle bislang diskutierten kritischen Motive: Unparteilichkeit, Entgegensetzung von Gründen, Kampf gegen Vorurteile und Begrenzung der menschlichen Erkenntnis. Die Grundzüge der zwei Arten von gemäßigtem Skeptizismus scheinen Kant beeinflusst zu haben, nämlich der Kampf gegen Vorurteile und die Unparteilichkeit (der Philosophie vorangehender Skeptizismus) sowie die Begrenzung der menschlichen Erkenntnis (auf die Philosophie folgender Skeptizismus). Wie die oben zitierte Stelle des Neuen Lehrbegriffs belegt, knüpft Kant in dieser Phase seiner Denkentwicklung jedoch vor allem an die Motive des der Philosophie vorangehenden Skeptizismus an. Entsprechend gilt es zu zeigen, wie der Begriff dieses Skeptizismus selbst noch der späteren Idee der Kritik als einer propädeutischen Disziplin, die der Metaphysik vorangeht, zugrunde liegt. 6.3.3 Kants gemäßigter Skeptizismus im Verhältnis zur Metaphysik In den Schriften der 1760er Jahre kommen deutliche Grundzüge der skeptischen Prägung zum Vorschein, die die neue Etappe der Methode zur Beilegung

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Frucht des Pyrrhonismus oder des übertriebenen Scepticismus sein kann, wenn dessen ohne Unterschied angebrachte Zweifel durch den gesunden Verstand und durch das Nachdenken gewißer Maaße verbessert werden. Die meisten Menschen sind von Natur geneigt, ihre Meinungen mit Hartnäckigkeit zu behaupten; und weil sie die Gegenstände von einer Seite ansehen, und von den entgegen stehenden Gründen keinen Begriff haben: so lassen sich sich selbst von denjenigen Grundsätzen übereilt einnehmen, zu welchen sie geneigt sind; und sie haben keine Nachsicht gegen diejenigen, welche andere und entgegen gesetzte Gesinnungen und Meynungen hegen […]“. Ebd., S. 364. Ebd., S. 365. Ebd., S. 366. Der gemäßigte Skeptizismus vermeidet außerdem „alle entfernte und hohe Erforschung, schränket sich selbst auf das gemeine Leben und auf solche Vorwürfe ein, welche uns die tägliche Ausübung und Erfahrung vor Augen stellet“. Ebd.

von Streitigkeiten bestimmt. Angesichts des (im Gegensatz zu Hume noch positiven) Bezugs auf Descartes im Neuen Lehrbegriff steht zu vermuten, dass der erste Einfluss Humes auf Kant zwar in die zweite Hälfte der 1750er Jahre zurückreicht, aber bis um die Mitte der 1760er Jahre nicht besonders stark war. Kants Lektüre der Philosophischen Versuche führten ihn daher dazu, zunächst die Konzeption eines der Philosophie vorangehenden gemäßigten Skeptizismus und erst danach, im Laufe seiner Denkentwicklung, die Idee von der Begrenzung der menschlichen Erkenntnis aufzunehmen. Anders formuliert: Die anfängliche Annahme eines vorangehenden Skeptizismus, der Unparteilichkeit, eine gründliche Überprüfung aller Argumente und den Kampf gegen Vorurteile voraussetzt, hatte später die Lehre von den Grenzen der menschlichen Erkenntnis und des menschlichen Vermögens zum (systematischen und auch entwicklungsgeschichtlichen) Ergebnis. Genau bei dieser Entwicklung sind die Interpreten sich weitgehend uneinig.727 Dem „sceptischen Zweifel, in Ansehung der Wirkungen des Verstandes“, bei Hume728 entspricht sicherlich ein Zweifel, der auf die philosophische Untersuchung und auf das Bewusstsein der Grenzen der menschlichen Erkenntnis folgt. Genau dieser Zweifel hat erhebliche Folgen für den späteren Werdegang der kantischen Philosophie, vor allem angesichts der kausalen Verknüpfung und in Bezug auf die objektive Gültigkeit der Begriffe a priori. In der in Frage stehenden Etappe der Entwicklung von Kants Denken bringt die Idee von den Grenzen der menschlichen Erkenntnis eine methodologische Überlegung mit sich, die teilweise mit dem Verdacht bzw. der Skepsis gegenüber der Möglichkeit der Metaphysik als Wissenschaft zusammenhängt. In den Schriften der 1760er Jahre treten die gleichen kritischen Motive auf. Kant schreibt in der Vorrede zu Der einzig mögliche Beweisgrund zu einer Demonstration des Daseins Gottes (1762): Wenn man die Urtheile der unverstellten Vernunft in verschiedenen denkenden Personen mit der Aufrichtigkeit eines unbestochenen Sachwalters prüfte, der von zwei strittigen Theilen die Gründe so abwiegt, daß er sich in Gedanken in die Stelle derer, die sie vorbringen, selbst versetzt, um sie so stark zu finden, als sie nur immer werden können, und dann allererst auszumachen, welchem Theile er sich widmen wolle, so würde viel weniger Uneinigkeit in den Meinungen der Philosophen sein, und eine ungheuchelte Billigkeit, sich selbst der Sache des Gegentheils in 727

728

Kreimendahl erkennt in der Sekundärliteratur grundsätzlich folgende mögliche Deutungen des „Hume’schen Problems“: a) „die Humesche Behandlung des Kausalitätsproblems“ und im Allgemeinen die „Humesche Metaphysikkritik [und auch] der Seelensubstanz“; b) ein „erkenntnistheoretisches Problem“, genauer das Problem der Objektivität der Vorstellungen, das zu der Deduktion der Kategorien geführt habe; c) ein „methodologisches Problem“, genauer die „skeptische Methode, die Kant an Hume faszinierte“; und endlich d) die Interpretation von Kreimendahl selbst, nämlich das „antinomische Problem“, das am Ende des ersten Buches von Humes Treatise behandelt werde und auf das Kant noch im Jahr 1769 Zugriff gehabt habe. Vgl. Kreimendahl, L. Kant – der Durchbruch von 1769, a. a. O., S. 21–24. Siehe auch Rivero, G. Zur Bedeutung des Begriffs Ontologie bei Kant, a. a. O., S. 97ff. Diese vier von Kreimendahl dargestellten „Hume’schen Probleme“ umfassen aber nicht den Unterschied zwischen dem der philosophischen Untersuchung vorangehenden und dem auf sie folgenden Skeptizismus. Vgl. Klemme, H. „Die Aufhebung von ‚Humes Zweifel‘“. In: Lyre, H. & Schliemann, O. (Hrsg.): Kants Prolegomena. Ein kooperativer Kommentar. Frankfurt a. M., 2012, S. 178.

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dem Grade anzunehmen, als es möglich ist, würde bald die forschende Köpfe auf einem Wege vereinigen (BDG AA 02: 67–68).

Die juridischen Termini weisen auf die Grundzüge der skeptisch-polemischen Methode hin, die sich mit der juridischen Problematik der späteren KrV verbinden lassen. Die Grundfrage Kants zu dieser Zeit war allerdings noch die methodologische Frage nach der Möglichkeit einer metaphysischen Erkenntnis. In der 1762 verfassten, aber erst 1764 veröffentlichten Untersuchung über die Deutlichkeit der Grundsätze der natürlichen Theologie und der Moral, der sogenannten Preisschrift, bezieht Kant sich noch einmal auf das Motiv der Vereinigung der „forschenden Köpfe“ durch eine neue Methode in der Philosophie. Er betont, die von der Königlichen Akademie der Wissenschaften gestellte Frage 729 sei derart wichtig, dass durch ihre gründliche Beantwortung „die höhere Philosophie […] eine bestimmte Gestalt bekommen muß“ und somit der „ewige Unbestand der Meinungen und Schulsecten“ aufgehoben werden könnte: Wenn die Methode fest steht, nach der die höchstmögliche Gewißheit in dieser Art der Erkenntnis kann erlangt werden, und die Natur dieser Überzeugung wohl eingesehen wird, so muß an statt des ewigen Unbestands der Meinungen und Schulsecten eine unwandelbare Vorschrift der Lehrart die denkende Köpfe zu einerlei Bemühungen vereinbaren (UD AA 02: 275).

In der Philosophie soll man, so Kant, die analytische Methode anwenden, das heißt die Methode der Zergliederung gegebener Begriffe (UD AA 02: 276ff). Dass die „neue“ Methode der Philosophie keine Nachahmung der mathematische Methode sein soll, die ja grundsätzlich in einer Synthesis von Begriffen besteht, ist dabei ein kritisches Motiv, auf das Kant schon in den 1750er Jahren hingewiesen hatte und das, wenn auch mit Änderungen, bis zur KrV bestehen bleibt. Festzuhalten ist, dass Kants Skepsis gegenüber der Möglichkeit der Metaphysik als Wissenschaft im Laufe der 1760er Jahre zunimmt. In Schriften wie dem Beweisgrund, der Untersuchung und dem Versuch den Begriff der negativen Größen in die Weltweisheit einzuführen (1763) in der ersten Hälfte der 1760er Jahre verbindet sich der Verdacht oder die Skepsis gegenüber der Möglichkeit der Metaphysik als Wissenschaft mit einem gewissen Optimismus, mit einer neuen Methode die fehlende Deutlichkeit in der Metaphysik erreichen zu können. Alle diese Schriften thematisieren Probleme der herkömmlichen Metaphysik, die in der KrV erneut vorkommen, so die Möglichkeit der ontologischen, kosmologischen und physikotheologischen Gottbeweise im Beweisgrund (BDG AA 02: 116ff), das Verhältnis zwischen dem logischen und dem Realgrund als Frage nach der Kausalität in den Negativen Größen (NG AA 02: 203-204) usw. Daneben gibt es auch Skizzen zu einer möglichen sicheren Methode in der Philosophie bzw. Metaphy729

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„Man will wissen: ob die Metaphysischen Wahrheiten überhaupt, und besonders die ersten Grundsätze der Theologiae naturalis und der Moral, eben der deutlichen Beweise fähig sind als die geometrischen Wahrheiten, und welches, wenn sie besagter Beweise nicht fähig sind, die eigentliche Natur ihrer Gewißheit ist, zu was vor einem Grade man gemeldete Gewißheit bringen kann, und ob dieser Grad zur völligen Überzeugung zureichend ist?“ (AA 02: 493).

sik. In der schon erwähnten Untersuchung schreibt Kant, die „ächte Methode der Metaphysik“ wäre die „Aufsuchung […] sicherer innerer Erfahrung“ (UD AA 02: 286). Es geht also um gewisse „materiale Grundsätze der menschlichen Vernunft“ (UD AA 02: 295), die wie „erste Data“ (UD AA 02: 296; 281) den „Stoff zu Erklärungen“ bieten und als „die Data woraus sicher geschlossen werden kann, wenn man auch keine Erklärung hat“, dienen (UD AA 02: 295; vgl. BDG AA 02: 77–78). Solche ersten materialen Grundsätze der menschlichen Vernunft dürfen zwar nicht als die Grundlage einer logisch-mathematischen Folgerung, d. i. „nicht im Sinne von höchsten Axiomen einer synthetischen Theorie, sondern im Sinne einer Garantie der Basis eines nur analytischen Wissens“ gelten.730 Neben der schon in den Gedanken gefundenen „skeptisch-polemischen“ Methode bzw. Verfahrensweise weist Kant ferner darauf hin, dass man in der Philosophie eine Methode erwartet könnte, die aus „ersten materialen [und nicht formalen – D. K. T.] Grundsätzen der menschlichen Vernunft“, die, „wie Crusius mit Recht sagt, die Grundlage und Festigkeit der menschlichen Vernunft ausmachen“ (UD AA 02: 295), eine klare und deutliche Erkenntnis in der Metaphysik zu schaffen vermag. Man könnte behaupten, dass Kant hier genau das verteidigt, worauf Hume mit seinem der Philosophie vorangehenden gemäßigten Skeptizismus verweist, nämlich „bey klaren und an sich selbst deutlichen Grundsätzen anfangen; mit furchtsamen aber sichern Schritten fortgehen; unsere Schlüße öfters wieder überlegen, und alle Folgen derselben genau untersuchen“.731 Ein etwas radikalerer, wenngleich nicht „übertriebener“ bzw. dogmatischer Skeptizismus gegenüber der Möglichkeit einer metaphysischen Erkenntnis nimmt jedoch in der zweiten Hälfte der 1760er Jahre Gestalt an. Die Träume eines Geistersehers, erläutert durch Träume der Metaphysik (1766) sind ein Nachweis dafür. Kant bringt in dieser Schrift noch einmal diejenigen kritischen Motive zum Ausdruck, die schon in den Gedanken zu finden waren, nämlich die Unparteilichkeit, die Notwendigkeit einer gründlichen Überprüfung usw. Das Spezifikum der Träume liegt darin, dass Kant nun die daraus folgende Begrenzung der menschlichen Erkenntnis hervorhebt. Kant schreibt, dass er den „Weg der Aufrichtigkeit“ betreten habe, nachdem er die „Seele von Vorurtheilen gereinigt“ habe (TG AA 02: 348–349). Der „Weg der Aufrichtigkeit“, der die in der KrV vertretene Idee eines Bedürfnisses nach Aufrichtigkeit als Bedingung für den Fortschritt der Metaphysik (A 748/B 775) vorwegnimmt, setzt aber voraus, dass man „allerlei Gründe“, sogar wenn sie „meine [eigenen] Gründe widerlegen“, in Betracht ziehen und daher sich „in die Stelle einer fremden und äußeren Vernunft“ setzen muss. Der erreichte Standpunkt ist der des „allgemeinen menschlichen Verstand[es]“ (TG AA 02: 349).732 730

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Henrich, D. „Kants Denken 1762/3. Über den Ursprung der Unterscheidung analytischer und syntetischer Urteile“. In: Gueroult, M. et al. (Hrsg.). Studien zu Kants philosophischer Entwicklung, a. a. O., S. 16. Hume, D. Philosophische Versuche, a. a. O., S. 344. „Die Trüglichkeit einer Wage, die nach bürgerlichen Gesetzen ein Maß der Handlung sein soll, wird entdeckt, wenn man Waare und Gewichte ihre Schalen vertauschen läßt, und die Parteilichkeit der Verstandeswage offenbart sich durch eben denselben Kunstgriff, ohne welchen man auch in philosophischen Urtheilen nimmermehr ein einstimmiges Facit aus den verglichenen Abwiegungen herausbekommen kann. Ich habe meine Seele von Vor-

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Das Neue der Träume ist die Neudefinition der Metaphysik als eine negative, aber die positive vorbereitende Wissenschaft.733 Am Ende der Schrift stellt Kant dar, was die Nützlichkeit einer bloß negativen Untersuchung der Metaphysik ausmacht, nämlich die Metaphysik als „eine Wissenschaft von den Grenzen der menschlichen Vernunft“ (TG AA 02: 368; vgl. auch 369) zu bestimmen und somit „den Wahn und das eitele Wissen“ zu vertilgen, „welches den Verstand aufbläht und in seinem engen Raume den Platz ausfüllt, den die Lehren der Weisheit und der nützlichen Unterweisung einnehmen könnten“ (TG AA 02: 368). Die Idee, dass die negative Funktion der Metaphysik eine „positive“ Folge hat, nämlich „die Lehren der Weisheit und der nützlichen Unterweisung“ zu ermöglichen, entspricht genau der späteren Vorstellung der Kritik im Sinne einer „negativen/positiven“ Disziplin, die einen bestimmten (spekulativen) Gebrauch der Vernunft einschränkt, um einen anderen (moralischen) zu ermöglichen. Kant scheint darüber hinaus hier der Absicht der „gemäßigten und gelinderten sceptischen Weltweisheit“ Humes, die philosophische Untersuchung auf die „enge Fähigkeit des menschlichen Verstandes“ zu beschränken, näher zu sein. Er schreibt, dass man das „menschliche Unvermögen“ und die daraus folgende bewusste Grenzziehung der menschlichen Erkenntnis nicht grundsätzlich bedauern, sondern sich vielmehr sogar daran erfreuen solle, weil „unter unzähligen Aufgaben, die sich selbst darbieten, diejenige aus[zu]wählen, deren Auflösung dem Menschen angelegen ist, das Verdienst der Weisheit [ist]“. Mit der Grenzziehung der Erkenntnis verzichtet man so auf unnütze, weil unlösbare Fragen. Bei diesem „bescheidenen Mißtrauen“ verknüpft sich die stolze Metaphysik mit dem bescheidenen Sokrates: „Aber die durch Erfahrung gereifte Vernunft, welche zur Weisheit wird, spricht in dem Munde des Sokrates mitten unter den Waaren eines Jahrmarkts mit heiterer Seele: Wie viel Dinge giebt es doch, die ich alle nicht brauche!“ (TG AA 02: 369) 734 Das Wissen soll sich auf

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urtheilen gereinigt, ich habe eine jede blinde Ergebenheit vertilgt, welche sich jemals einschlich, um manchem eingebildeten Wissen in mir Eingang zu verschaffen. Jetzt ist mir nichts angelegen, nichts ehrwürdig, als was durch den Weg der Aufrichtigkeit in einem ruhigen und für alle Gründe zugänglichen Gemüthe Platz nimmt; es mag mein voriges Urtheil bestätigen oder aufheben, mich bestimmen oder unentschieden lassen. Wo ich etwas antreffe, das mich belehrt, da eigne ich es mir zu. Das Urtheil desjenigen, der meine Gründe widerlegt, ist mein Urtheil, nachdem ich es vorerst gegen die Schale der Selbstliebe und nachher in derselben gegen meine vermeintliche Gründe abgewogen und in ihm einen größeren Gehalt gefunden habe. Sonst betrachtete ich den allgemeinen menschlichen Verstand blos aus dem Standpunkte des meinigen: jetzt setze ich mich in die Stelle einer fremden und äußeren Vernunft und beobachte meine Urtheile sammt ihren geheimsten Anlässen aus dem Gesichtspunkte anderer. Die Vergleichung beider Beobachtungen giebt zwar starke Parallaxen, aber sie ist auch das einzige Mittel, den optischen Betrug zu verhüten und die Begriffe an die wahre Stellen zu setzen, darin sie in Ansehung der Erkenntnißvermögen der menschlichen Natur stehen“ (TG AA 02: 348–349). Vgl. Rivero, G. Zur Bedeutung des Begriffs Ontologie bei Kant, a. a. O., S. 86–96. Vgl. Rx 4457 AA 17: 558 (1772). „In der metaphysica applicata ist vieles dogmatisch. (g in der transscendentalen alles critisch; kann wohl durch die metaphysik was erfunden werden? Ja, in Ansehung des subiects, aber nicht des obiects.) [Allein] Als critick hat sie Nutzen. Wenn gleich Religion und Tugend sich nicht auf sie gründen, sondern andre Qvellen haben, so dient sie die Hindernisse wegzuschaffen. Critick der Wissenschaft und Organon* der Weisheit (g welche mehr aufs entbehren als erwerben ankommt. Socrates). [Die Qvaest] Sie ist nothwendig; die qvaestiones sind ihr durch Gesunde Vernunft und sittliche

den „niedrigen Boden der Erfahrung und des gemeinen Verstandes“ stützen (TG AA 02: 368); jede spekulative Untersuchung über (dem kritischen Kant zufolge) übersinnliche Gegenstände, wie „die Fragen von der geistigen Natur, von der Freiheit und Vorherbestimmung, dem künftigen Zustande“, dient nichtsdestotrotz dazu, „alle Kräfte des Verstandes in Bewegung“ zu setzen und die Grenzen des menschlichen Verstandes zu ziehen (TG AA 02: 369–370). Die Lösung Kants für die Sackgasse, in die die übersinnlichen Gegenstände führen, nähert sich hier bereits jener der kritischen Periode an: moralischer Glaube statt „Spitzfindigkeit des Vernünftelns“. Der Zweifel an der Möglichkeit einer metaphysischen Erkenntnis führt zu der skeptischen Zurückweisung bzw. Suspendierung des spekulativen Urteils über die übersinnlichen Gegenstände und ermöglicht so einen moralischen bzw. praktischen Gebrauch derselben, der den Menschen „zu seinen wahren Zwecken“ führen könnte.735 Die zu Beginn des vorliegenden Kapitels zitierte Stelle der Bemerkungen, an die wahrscheinlich in den Träumen angeknüpft wird, weist darauf hin, dass der Zweifel Kants gegenüber der Möglichkeit der Metaphysik ein „Zweifel des Aufschubs“, wie der eines Suchers oder der Zetetici, war: Der Zweifel den ich annehme ist nicht dogmatisch sondern ein Zweifel des Aufschubs. Zetetici (zhteîn) Sucher. Ich werde die Gründe von beyden seiten erhöhen. Es ist wunderlich daß man davon gefahr besorgt. Die Speculation ist nicht eine sache der nothdurft. Die Kentnisse in ansehung der letztern sind sicher. Die Methode des Zweifels ist dadurch nützlich daß sie das Gemüth praeservirt nicht nach Speculation sondern dem Gesunden Verstande u. Sentiment zu handeln (Bemerkungen AA 20: 175).

Die Idee eines doppelten Nutzens, nämlich eines negativen und eines positiven Nutzens, von denen der eine die Begrenzung der menschlichen Erkenntnis und der andere die Ermöglichung eines anderen Gebrauchs des „Verstandes“ betrifft, ist dem gemäßigten Skeptizismus als einer „zetetischen Methode“ eigentümlich. Dies wird deutlich in den Briefen an Lambert und Mendelssohn zu dieser Zeit, in denen Kant von dem Methodenproblem berichtet. Im Brief an Lambert vom 21. Dezember 1765 schreibt Kant, dass alle seine Bestrebungen in den früheren Schriften auf die „eigenthümliche Methode der Metaphysick und vermittelst derselben auch der gesammten Philosophie hinausliefen“. Ich habe verschiedene Iahre hindurch meine philosophische Erwägungen auf alle erdenkliche Seiten gekehrt, und bin nach so mancherley Umkippungen, bey welchen ich jederzeit die Qvellen des Irrthums oder der Einsicht in der Art des Verfahrens suchte, endlich dahin gelangt, daß ich mich der Methode versichert halte, die man beobachten muß, wenn man demjenigen Blendwerk des Wissens entgehen will, was da macht, daß man alle Augenblicke glaubt zur Entscheidung gelangt zu seyn, aber

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Angelegenheiten aufgegeben. Sie ist unentbehrlich. * (g eine propaedevtic derselben; die moral ist ein organon.)“ „So ist auch der moralische Glaube bewandt, dessen Einfalt mancher Spitzfindigkeit des Vernünftelns überhoben sein kann, und welcher einzig und allein dem Menschen in jeglichem Zustande angemessen ist, indem er ihn ohne Umschweif zu seinen wahren Zwecken führt“ (TG AA 02: 373).

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eben so oft seinen Weg wieder zurücknehmen muß, und woraus auch die zerstöhrende Uneinigkeit der vermeinten Philosophen entspringt; weil gar kein gemeines Richtmaas da ist ihre Bemühungen einstimmig zu machen (AA 10: 55–56).

Etwa fünf Monate später schreibt Kant an Mendelssohn am 8. April 1766 und wiederholt die Idee von einem „eigentlichen Richtmaß“ für die Metaphysik. Dieses sei erst dann zu finden, wenn man „das dogmatische Kleid“ abgezogen und die „vorgegebenen Einsichten sceptisch zu behandeln“ angefangen hat. Der Nutzen eines solchen Verfahrens sei zuerst negativ, letztlich „aber [eine notwendige Vorbereitung] zum positiven“: Was aber den Vorrath vom Wissen betrift der in dieser Art öffentlich feil steht so ist es kein leichtsinniger Unbestand sondern die Wirkung einer langen Untersuchung daß ich in Ansehung desselben nichts rathsamer finde als ihm das dogmatische Kleid abzuziehen und die vorgegebenen Einsichten sceptisch zu behandeln wovon der Nutze freylich nur negativ ist (stultitia caruisse) aber zum positiven vorbereitet; denn die Einfalt eines gesunden aber ununterwiesenen Verstandes bedarf um zur Einsicht zu gelangen nur ein organon; die Scheineinsicht aber eines verderbten Kopfs zuerst ein catarcticon. Wenn es erlaubt ist etwas von meinen eigenen Bemühungen in diesem Betracht zu erwähnen, so glaube ich seit der Zeit, als ich keine Ausarbeitungen dieser Art geliefert habe, zu wichtigen Einsichten in dieser disciplin gelangt zu seyn, welche ihr Verfahren festsetzen und nicht blos in allgemeinen Aussichten bestehen sondern in der Anwendung als das eigentliche Richtmaas brauchbar sind (AA 10: 70– 71).

Obwohl Kant erst in diesem Brief den skeptischen Ansatz mit seiner eigenen methodologischen Einstellung in Zusammenhang bringt, war ein solcher Skeptizismus der Sache nach schon früher vorhanden. In der Fortsetzung seiner Denkentwicklung ist dieser grundlegende skeptische Ansatz ständigen Veränderungen unterworfen, vor allem was das Methodenproblem betrifft. Nicht ohne Grund werden Begriffe wie „Sachverwalter“, „Besitz“ usw. durch den bis dahin allenfalls angedeuteten juridischen Hintergrund dieser Denkweise deutlicher werden.

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Die Nomothetik der Vernunft

In diesem Kapitel wird die dritte Etappe der Problematik des Gerichtshofs und der Gesetzgebung der Vernunft dargestellt. Es geht dabei vornehmlich um die Judifizierung bzw. Verrechtlichung der skeptisch-polemischen Methode in Gestalt eines Gerichtshofs und einer Gesetzgebung der Vernunft im Subjekt selbst. In dieser Etappe der Problematik der Metaphorik der KrV tauchen zwischen 1773 und 1775 nicht ohne Grund die aus der Jurisprudenz entlehnten termini technici „Antinomie“ als Widerstreit der Gesetze der Vernunft und „Deduktion“ als Begründungsverfahren der Ansprüche auf die objektive Gültigkeit der Vorstellungen auf. Im Vergleich mit der vorigen Etappe erfolgen hier die „Verinnerlichung“ der zetetischen bzw. skeptischen Untersuchung und die Bezeichnungen der neuen Konzeption der Kritik wie „Untersuchung des Subjekts“ oder „Kritik des Subjekts“ als propädeutische Etappe hin zu der Ermöglichung der Metaphysik als Wissenschaft (Kapitel 7.1). Es ist jedoch kein Zufall, dass die Subjektivierung bzw. Verinnerlichung der skeptisch-polemischen Prüfung mit der Juridifizierung der von Kant verwendeten Bilder zur Bezeichnung einiger methodologischer Grundzüge seiner Philosophie einhergeht, vor allem die Idee eines Richters bei der Suche nach den Irrtümern der Metaphysik (Kapitel 7.2) und einer Gesetzgebung bzw. Nomothetik der Vernunft (Kapitel 7.4). Dabei sind die Juridifizierung des Gewissens und die damit verbundene Idee eines idealen Richters am inneren Gerichtshof wesentlich. Es ist anzunehmen, dass Kants Rezeption der Gewissenslehre der Aufklärung, etwa der von Baumgarten, aber vor allem von A. Smith am Anfang der 1770er Jahre, dabei keine geringe Rolle spielte (Kapitel 7.3). Nachdem alle Grundzüge der juridischen Metaphorik schon in der zweiten Hälfte der 1770er Jahre aufgestellt worden waren, unter anderem der Antinomien-, der Gesetzgebungs- und der Deduktionsbegriff, konnte Kant die kritischen Motive, die schon in seiner Erstlingsschrift vorhanden waren, in diesem neuen juristischen Rahmen zusammenstellen und die KrV als den Gerichtshof und die Gesetzgebung der Vernunft bestimmen. 7.1

Die Dissertatio und die Subjektivierung des Widerstreits

7.1.1

Die Dissertatio

Die Dissertatio von 1770 wird im Folgenden vom Standpunkt der Werke, Briefe und Reflexionen der zweiten Hälfte der 1760er Jahre aus erörtert, in denen das Methodenproblem im Mittelpunkt steht. Einerseits gibt sie Anlass zu völlig entgegengesetzten Deutungen hinsichtlich der Frage, ob es sich hier um einen Rückfall in den Dogmatismus, den Auftakt zum Kritizismus oder sogar eine eigenständige Entwicklungsphase geht.736 Andererseits stellt sich das Methodenprob736

„Die Kritik der reinen Vernunft ist der Inauguraldissertation eng verwandt und zugleich sehr fremd“ (Lehmann, G. „Kritizismus und kritisches Motiv“, a. a. O., S. 40). Die Grundschwierigkeit, die Dissertatio in Bezug auf die Entwicklung der kritischen Philosophie zu deuten, besteht darin, „nachzuweisen, wie Kant von den Fragestellungen der Dissertation zu denen der Vernunftkritik gelangte“ (ebd., S. 41). In der Sekundärliteratur wurde die Dissertatio sowohl als „l’écrit le plus dogmatique de Kant“ (Vleeschauwer, H. J. La Déduction Transcendentale dans l’Oeuvre de Kant. Bd. 1, a. a. O., S. 154), in der „la possibilité

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lem als ein relativ unstrittiger Übergang zwischen den zwei großen Momenten, dem vorkritischen und dem kritischen, dar, was die Problematik des Gerichtshofs und der Gesetzgebung der Vernunft betrifft. In dieser Hinsicht sind die Lehren Kants über die „Nichtübereinstimmung zwischen sinnlichem und intellektuellem Vermögen (dissensus inter facultatem sensitivam et intellectualem)“ (MSI AA 02: 389) bzw. zwischen den sinnlichen und intellektuellen Erkenntnissen (MSI AA 02: 413ff.) und über die „Erörterung der Gesetze der reinen Vernunft“ (expositio legum rationis purae) (MSI AA 02: 411) als elenktischer bzw. negativer Nutzen der „Verstandeserkenntnisse“ (intellectualium)“ (MSI AA 02: 395) im Rahmen von Kants Werdegang von besonderem methodologischen Interesse. Kant behauptet in der Dissertatio, dass in der Philosophie die Methode der Untersuchung selbst vorausgehen muss. Das heißt, der negative Teil geht dem positiven voraus. Dies entspricht unverkennbar dem skeptischen bzw. „urskeptischen“ Ansatz, der aus der kantischen Rezeption Humes gegen Ende der 1750er Jahre hervorging. Bevor man zu der „eigentlichen“ bzw. „positiven“ Metaphysik als der Wissenschaft der „ersten Grundsätze des Gebrauches des reinen Verstandes“ (principi usus intellectus puri) (MSI AA 02: 395) kommt, muss allerdings eine propädeutisch-methodologische Untersuchung im Sinne der Hume’schen „nothwendigen Vorbereitung zu der Erlernung der Weltweisheit“737 stattfinden, die die Grenzen zieht und ein Richtmaß zu aller zukünftigen Metaphysik aufstellt. Die Ähnlichkeit mit der Idee der Kritik als ein Prolegomenon „zu einer jeden künftigen Metaphysik, die als Wissenschaft wird auftreten können“, ist sicherlich nicht zufällig. Im fünften Abschnitt der Dissertatio, der samt der Abschnitte 2 und 3 nicht „übergangen werden“ sollte,738 weist Kant ausdrücklich auf das Methodenproblem hin. Im Gegensatz zu Mathematik und Physik muss die Methode bei der Philosophie dem jeweiligen Gebrauch des Verstandes vorausgehen, wie schon der gemäßigte Skeptizismus Humes und Kants herausgestellt hatten. Im zweiten Abschnitt setzt Kant Sinnlichkeit und Verstand sowie den realen und logischen Gebrauch des Verstandes einander entgegen. Dabei beharrt er darauf, dass der Metaphysik ei-

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d’une métaphysique transcendente est affirmè“ (ebd., S. 163), als auch als Zurückweisung der dogmatischen Metaphysik betrachtet, sofern in der Schrift der Unterschied zwischen sinnlicher und intellektueller Erkenntnis, die erste Skizze des „kritischen“ Problems der Antinomie sowie die Bestimmung eines empirischen Gebrauchs der Verstandesbegriffe gesehen werden. Vgl. Licht dos Santos, P. R. „O conceito de mundo e conceito na Dissertação de 1770. Primeira e segunda partes“. In: Analytica, Vol. 11, 2007, und Vol. 12, 2008; Kreimendahl, L. Kant – der Durchbruch von 1769, a. a. O., S. 213–246; Sala, G. „Der ,reale Verstandesgebrauch‘ in der Inauguraldissertation Kants von 1770“. In: Kant-Studien, 69, 1978, S. 1–16. Eine eingehende Untersuchung der entwicklungsgeschichtlichen Bedeutung der Dissertatio würde jedoch den Rahmen dieser Arbeit sprengen. Siehe dazu Rivero, G. Zur Bedeutung des Begriffs Ontologie bei Kant, a. a. O., S. 139–148; Kreimendahl, L. Kant – der Durchbruch von 1769, a. a. O., S. 213–218. Hume, D. Philosophische Versuche, a. a. O., S. 343–344. Vgl. Briefe an Lambert 02.09.1770, AA 10: 98. „Die erste u. vierte section können als unerheblich übergangen werden, aber in der zweyten dritten und fünften, ob ich solche zwar wegen meiner Unpäslichkeit gar nicht zu meiner Befriedigung ausgearbeitet habe, scheint mir eine Materie zu liegen welche wohl einer sorgfältigern und weitläuftigeren Ausführung würdig wäre“ (AA 10: 98). Später bekundet Kant gegenüber Lambert, dass die Abschnitte 1 und 4 „übergangen werden“ sollten, weil die dogmatischen Züge, die es zu überwinden gelte, wahrscheinlich darin enthalten seien.

ne Wissenschaft vorausgehen müsse, die „ihr zur Vorübung dient [und die] den Unterschied der sinnlichen von der Verstandeserkenntnis lehrt (Scientia vero illi propaedeutica est, quae discrimen docet sensitivae cognitionis ab intellectuali); wovon wir in dieser unserer Abhandlung eine Probe liefern“ (MSI AA 02: 395). Kant nennt in diesem Zusammenhang zwei „Zwecke“ der Verstandeserkenntnisse bzw. intellectualium: einen dogmatischen Zweck, der die allgemeinen Grundsätze des Verstandes betrifft, nämlich die Ontologie, die rationale Psychologie und die weiteren Disziplinen der herkömmlichen Metaphysik sowie die Moral; und einen elenktischen Zweck, dessen Nutzen lediglich negativ ist, sofern er das, was sinnlich erfasst wurde, von den Noumena, d. i. den Gegenständen des realen Gebrauchs des Verstandes, fernhält und dadurch die Metaphysik von den Fehlern befreit, die von der „Einwirkung de[r] sinnlichen Erkenntnis auf die des Verstandes“ (MSI AA 02: 395–396) herrühren. In demselben Kontext eines elenktischen Zwecks des Verstandes bzw. intellectum behandelt Kant im fünften Abschnitt das Methodenproblem in der Metaphysik. In allen Wissenschaften, in denen die Grundsätze bzw. Begriffe anschaulich gegeben werden können, wie in der Naturwissenschaft und Mathematik, „gibt der Gebrauch die Methode“ vor. Hier ist dieser Gebrauch des Verstandes ein bloß logischer, also „ein solcher, durch den wir Erkenntnisse in Ansehung der Allgemeinheit, in Übereinstimmung mit dem Satz des Widerspruches, nur einander unterordnen“ (MSI AA 02: 410–411). In der reinen Philosophie aber, wie der Metaphysik, ist „der Gebrauch des Verstandes in Bezug auf die Grundsätze real, d. i die angestammten Begriffe der Dinge und Verhältnisse und die Axiome selber werden durch den reinen Verstand selber ihrer Abstammung nach gegeben“ (MSI AA 02: 411). Anders gesagt sind die Begriffe durch den Verstand selbst ihrem Ursprung nach gegeben.739 Da in der reinen Philosophie die Begriffe, Grundsätze und folglich die Gegenstände nicht anschaulich, das heißt in concreto gegeben werden können, hat man keinen konkreten, anschaulichen Maßstab gegen aufkommende Fehler. Aufgrund dessen „geht die Methode vor aller Wissenschaft vorher“, und „die Erörterung der Gesetze der reinen Vernunft [ist] die Entstehung selber der Wissenschaft“ (expositio legum rationis purae est ipsa scientiae genesis) (MSI AA 02: 411). Anders gesagt, geht in der Metaphysik der negative (elenktische) Teil dem positiven (dogmatischen) Teil voran. Diesem Unterschied entspricht in der KrV die Differenz zwischen Disziplin und Doktrin. Darauf wird im nächsten Kapitel noch einzugehen sein. Kant will im fünften Abschnitt einen „nicht zu verachtenden Teil dieser Methode“ der Metaphysik darstellen, nämlich die „Einwirkung der sinnlichen Erkenntnis auf die des Verstandes, nicht sofern sie sich bloß bei Unbehutsamen in der Anwendung von Grundsätzen einschleicht, sondern sofern sie selbst unechte Grundsätze unter dem Schein von Axiomen erdichtet (principia spuria sub 739

Zu Kants Ablehnung der rationalistischen Lehre über die Deutlichkeit bzw. Undeutlichkeit einer Vorstellung als Indiz des Unterschieds zwischen Begriff (bzw. intellektueller Vorstellung) und Anschauung (bzw. sinnlicher Vorstellung) siehe MSI AA 02: 394–395. Die Sinnlichkeit unterscheidet sich von dem Verstand bzw. intellectus nicht dadurch, dass ihre Vorstellungen „dunkle“ und „verworren“ sind, sondern vielmehr dadurch, dass sie einen radikal verschiedenen Ursprung bzw. eine radikal verschiedene Quelle haben als die Vorstellungen des intellectus.

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specie axiomatum)“ (MSI AA 02: 411). Als Konsequenz daraus beschränkt Kant die ganze Methode der Metaphysik „in Bezug auf das Sinnliche und das Intellektuelle“ (circa sensitiva atque intellectualia) auf die folgende Vorschrift: „dass die einheimischen Grundsätze der sinnlichen Erkenntnis nicht ihre Grenzen überschreiten und das Intellektuelle affizieren“, weil andernfalls ein dissensus inter facultatem sensitivam et intellectualem (MSI AA 02: 389) entsteht. Bei der Verwendung von sinnlichen und intellektuellen Begriffen in der Philosophie soll man einem sinnlichen Begriff (conceptus sensitivus) keine Eigenschaft zuschreiben, die nur den intelligiblen Begriffen zukommen kann, wenn man von den Gegenständen dieser Begriffe etwas objektiv (und nicht nur „subjektiv“) erkennen will. Wird diese Vorschrift nicht beachtet, entsteht ein „Fehler der Erschleichung“ (vitium subreptionis), woraus sich wiederum die Fehler bzw. Irrtümer ergeben, denen sich die reine Philosophie bzw. Metaphysik ausgesetzt sieht, wie z. B. die „leeren Fragen nach den Örten der unstofflichen Substanzen in der Körperwelt“, nach „dem Sitz der Seele“ und der „örtlichen Gegenwart Gottes“, bei denen man „das Sinnliche mit dem Intellektuelle[n], wie das Viereckige mit dem Runden, unschichkich vermischt“ (MSI AA 02: 413–414). Weil man aber die Blendwerke des Verstandes durch Vorspiegelung eines sinnlichen Begriffs als eines Verstandesmerkmals einen Fehler der Erschleichung nennen kann (nach analogie der überkommenden Bedeutung), wird die Vertauschung des Intellektuellen und Sinnlichen der metaphysische Fehler der Erschleichung sein (ein intellektuiertes Phaenomenon, wenn der barbarische Ausdruck erlaubt ist), und so nenne ich ein solches bastardartiges (hybridum) Axiom, welches das Sinnliche als etwas dem Verstandesbegriff notwendig Anhängendes ausbietet, ein erschlichenes Axiom (MSI AA 02: 412).

Ein erschlichenes Axiom740 ist daher jenes Axiom, das dem Gegenstand eines intellektuellen Begriffs ein Merkmal zuschreiben will, das jedoch nur einem sinnlichen Gegenstand zukommt – z. B. wenn man der Seele als einem bloß intellektuellen und nicht sinnlichen Gegenstand eine räumliche Bestimmung zuweisen will. Solche Axiome sind „[a]us diesen unechten Grundsätzen hervorgegangen, die den Verstand täuschen und in der ganzen Metaphysik auf übelste umherschwärmen“ (MSI AA 02: 412). Alle Blendwerke (praestigiae) der sinnlichen Erkenntnis „unter dem Schein“ (sub specie) von intellektuellen Erkenntnissen, woraus die erschlichenen Axiome entstehen, können auf einen „Grundsatz der Rückführung“ (principium reductionis) verwiesen werden: [W]enn von irgendeinem beliebigen Verstandesbegriff etwas allgemein ausgesagt wird, was zu den Beziehungen des Raumes und der Zeit gehört: so darf es nicht objektiv ausgesagt werden und bezeichnet nur die 740

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Zum Begriff von vitium subreptionis vgl. Birken-Bertsch, H. Subreption und Dialektik bei Kant. Der Begriff des Fehlers der Erschleichung in der Philosophie des 18. Jahrhunderts. Stuttgart-Bad Cannstatt: Frommann-Holzboog, 2006. Die Autorin stellt die Entstehungsgeschichte dieses Begriffes dar und analysiert seine Bedeutung in der kantischen Philosophie. Es ist bemerkenswert, dass das vitium subreptionis einen juridischen Ursprung hat (ebd., S. 27-34), der aber in der Zeit Kants im Gegensatz zu „Deduktion“ und „Antinomie“ schon in die Vergessenheit geraten war. Das zehnte Kapitel wird sich systematisch mit dem Begriff des vitium subreptionis im Dialektik-Kapitel der KrV beschäftigen.

Bedingung ohne die der gegebene Begriff nicht sinnlich erkennbar ist (MSI AA 02: 412–413).

Der Fehler oder das Blendwerk besteht darin, diese bloß negative Bedingung nicht zu erfüllen und deshalb das Subjekt des Urteils, also das, was dem Gegenstand zukommt, intellektuell und das Prädikat des Urteils, sofern es um Bestimmungen geht, die nur in Raum und Zeit möglich sind, sinnlich zu begreifen. Daraus folgt genau „ein intellektuiertes Phaenomenon“. Es handelt sich hier um eine Vorform des transzendentalen Scheins, der von dem Richter des Gerichtshofs der Vernunft in der KrV als eine Bedingung der Versöhnung der Vernunft mit sich selbst ermittelt und aufgedeckt werden muss. Es gebe, so Kant, drei „Arten“ von Blendwerken, auf die sich die erschlichenen Axiome gründen: 1) Dieselbe sinnliche Bedingung, unter der allein die Anschauung eines Gegenstandes möglich ist, ist die Bedingung der Möglichkeit des Gegenstandes selber; 2) Dieselbe sinnliche Bedingung, unter der allein das Gegebene miteinander verglichen werden kann, um einen Verstandesbegriff von einem Gegenstand (conceptum obiecti intellectualem) zu bilden, ist auch die Bedingung der Möglichkeit des Gegenstandes selber; 3) Dieselbe sinnliche Bedingung, unter der die Subsumtion irgendeines vorkommenden Gegenstandes unter einen gegebenen Verstandesbegriff allein möglich ist, ist auch die Bedingung der Möglichkeit des Gegenstandes selber (MSI AA 02: 413).

Es handelt sich dabei um Fehler, die durch die methodologischen Vorschriften zur Vermeidung der „Einwirkung“ (contagium) der sinnlichen Erkenntnis auf die des Verstandes, woraus die Blendwerke entstehen, zu beheben sind. Zur Verdeutlichung solch einer „täuschenden Einwirkung“ verweist Kant auf ein Beispiel aus der zweiten Art von erschlichenen Axiomen, bei der die „Vorurteile (praeiudicia) sich noch mehr verbergen“ (MSI AA 02: 415). Kant beschäftigt sich dabei mit einem Thema, das dem nahekommt, was in der KrV als der Grundfehler der Vernunft in der Antinomie thematisiert wird: „[D]en Schranken unseres Verstandes gemäß“ (secundum intellectus nostri limites) ist eine unendliche Reihe von Beigeordnetem (als Merkmale eines Begriffes oder als Vorstellungen in Raum und Zeit) kaum begreiflich, weil man dabei das, was von den „Gesetzen des reinen Verstandes“ (leges intellectus puri) erfordert wird (die Endlichkeit bzw. die Begrenzung der Reihe von Verursachtem in einer causa sui bzw. Ursache seiner selbst als Gesetz der „Abhängigkeit des Ganzen“), mit dem verwechselt, was von den „Gesetzen der Sinnlichkeit“ (leges sensitivas) erfordert wird (Endlichkeit bzw. Begrenzung der Reihe von Beigeordnetem in einem räumlich-zeitlichen Anfang als Gesetz der Messbarkeit der Reihe). [D]ass eine unendliche Reihe von Beigeordnetem den Schranken unseres Verstandes gemäß nicht deutlich begriffen werden kann und so durch den Fehler der Erschleichung als unmöglich erscheint. Nach Gesetzen des reinen Verstandes nämlich hat eine jede Reihe von Verursachtem einen Grund ihrer selbst, d. i. es gibt keinen Rückgang in der Reihe des Verursachten ohne Grenzen; nach sinnlichen Gesetzen aber hat eine jede Reihe von Beigeordnetem einen anzeigbaren Anfang ihrer selbst; diese Sätze, von denen der letztere die Meßbarkeit der Reihe, der erstere die

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Abhängigkeit des Ganzen einschließt, werden fälschlich für identisch gehalten (MSI AA 02: 415).

Eine ausführliche Bearbeitung des dissensus inter facultatem sensitivam et intellectualem und der erschlichenen Axiome würde den Rahmen dieser Arbeit sprengen. Daher müssen diejenigen Aspekte der Dissertation in Betracht gezogen werden, die sich für die Diskussion der Entwicklung der künftigen juridischen Verfassung der KrV als relevant erweisen. Die „negative“ Methode, die der „positiven“ Behandlung der Metaphysik vorangeht, betrifft die Entdeckung der „Blendwerke“ und der Fehler, indem die Gesetze der Sinnlichkeit und die Gesetze des reinen Verstandes ausführlich differenziert werden und folglich der Geltungsbereich jedes dieser Gesetze bestimmt wird. Ungeachtet der Veränderungen, die dieser Ansatz Kants in dem „schweigenden Jahrzehnt“ bis zu seiner kritischen Form erfuhr und die im nächsten Kapitel über die Disziplin der reinen Vernunft behandelt werden, bleibt die Grundidee dieselbe: Man braucht eine vorgängige methodologische Wissenschaft, um die Quelle des Irrtums anzugreifen und so den Ursprung der Uneinigkeit unter den Philosophen und den Grund des Misstrauens gegen die vernünftige Wissenschaft par excellence, die Metaphysik, zu entdecken. Die Lösung des Streits, den es um der Vereinigung der philosophischen Bemühungen willen zu schlichten gilt, beruht auf der Beilegung bzw. Versöhnung der „Nichtübereinstimmung (dissensus) zwischen sinnlichem und intellektuellem Vermögen“. Kant sieht den Ort eines solchen Grundstreits noch nicht innerhalb der Gesetzgebung der Vernunft und vor dem Gerichtshof der Vernunft, wie im Falle der Antinomie der reinen Vernunft. Die weitere Denkentwicklung Kants vollzieht aber die Juridifizierung dieser Fragestellung und eröffnet die dritte Etappe der Problematik der juridischen Verfassung der KrV. 7.1.2 Die Subjektivierung des Streits und der Kritik als negative Metaphysik – Von 1769 bis 1772 Vor der „Verinnerlichung“ des Streits in der Vernunft und damit einhergehend vor seiner Erscheinung oder Formulierung als antinomischer Widerstreit von Gesetzen in der Gesetzgebung der Vernunft und vor einem Gerichtshof der Vernunft musste eine „subjektive Wende der Metaphysik“ erfolgen.741 Das wiederum führte nicht zu einer „grundsätzlichen Neubesinnung über die Methode“,742 sondern vielmehr zu einer grundsätzlichen und gründlichen Bearbeitung derselben Methode, die im weiteren Sinne schon in den 1760er Jahren oder sogar früher vorhanden war und in der Dissertatio bereits dargestellt worden war. Das Neue dieser Phase nach der Dissertatio ist die Gleichsetzung der Kritik mit einer „Kritik des Subjekts“ oder mit einer „negativen Metaphysik“, deren Methode vorwiegend ein skeptisches Gegeneinander von Sätzen sein soll. Gegen 741 742

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Rivero, G. Zur Bedeutung des Begriffs Ontologie bei Kant, a. a. O., S. 79ff. Kreimendahl, L. Kant – der Durchbruch von 1769, a. a. O., S. 150–151. Kreimendahl erkennt diese Subjektivierung der Metaphysik im Jahr 1769 als Konsequenz von Kants Lektüre der Hamman’schen Übersetzung von Humes Treatise 1, 4, 7. Diese These wurde schon mehrmals diskutiert und kritisiert. Vgl. z. B. Brandt, R. „Rezension zu Lothar Kreimendahl, Kant – Der Durchbruch von 1769“, a. a. O; Hinske, N. „Prolegomena zu einer Entwicklungsgeschichte“, a. a. O.; Klemme, H. Kants Philosophie des Subjekts, a. a. O., S. 38–46.

Ende der 1760er Jahre und Anfang der 1770er Jahre lässt sich in der Tat eine Gleichsetzung der zukünftigen KrV oder der Transzendentalphilosophie als „Philosophie des Subjekts“ von propädeutischer Bedeutung mit der „Metaphysik als negativer Wissenschaft“ feststellen. Dabei werden die schon in der Dissertatio vorzufindenden Ideen über den elenktischen oder negativen Zweck des Gebrauchs des Verstandes als Vorbereitung zu dem dogmatischen bzw. positiven Zweck und in diesem Zusammenhang auch die Vorstellungen über den Vorrang der Methode vor dem realen oder „dogmatischen“ Gebrauch des Verstandes bearbeitet und erweitert. Anders formuliert führt Kant die begriffliche Gleichsetzung von Kritik und Disziplin, wenn auch noch nicht als eine Disziplin der Vernunft, ein, der wir uns im nächsten Kapitel zuwenden. Kant verleiht der skeptischen Methode in diesem Kontext ausdrücklich eine propädeutische Bedeutung. Die gleichzeitige Subjektivierung bzw. Verinnerlichung der Methode zur Beilegung von Konflikten führt zu der Konzeption eines Widerstreits der Vernunft selbst und zu der Idee einer (negativen und positiven) Gesetzgebung der Vernunft. In der Gruppe von Reflexionen aus der Phase κ (1769)743 entwickelt Kant die Idee einer negativen und einer positiven Metaphysik. In der Reflexion 3943 (AA 17: 358) weist er auf einen positiven oder „objektiven“ und auf einen negativen oder „subjektiven“ Nutzen der Metaphysik hin. Der positiv-objektive Nutzen besteht darin, „die Einsicht zu vermehren“, und der negativ-subjektive darin, „die falsche metaphysic zu verhindern“ und die „Schranken des Erkenntnisses zu kennen“. Die Reflexion 3946 (AA 17: 359–360) gibt weitere Hinweise über den Gebrauch der Metaphysik, indem diese der Logik gegenübergestellt wird. Die Logik „enthält nur die unterordnung der Begriffe unter die sphaeram der anderen, entweder unmittelbar: in Urtheilen, oder mittelbar: in schlüssen“, und lässt unbestimmt, woher diese Begriffe kommen und ob sie sinnlich oder intellektuell sind; die Metaphysik wäre hingegen die Wissenschaft „von den Grundbegriffen und Grundsätzen der Menschlichen Vernunft, und nicht überhaupt der Menschlichen Erkenntnis, darin viel empirisches und sinnliches ist“.744 In der Reflexion 3948 (AA 17: 360–361) erkennt Kant bei dieser Wissenschaft der Gesetze und Begriffe der Vernunft eine „wissenschaft des subiects“, sofern die Metaphysik untersucht, „welche Verhältnisse wirklich zum ersten Grunde allgemeiner Regeln liegen“. Die Reflexion 3952 (AA 17: 362–363) verknüpft die zwei besprochenen Merkmale der Metaphysik als negative Wissenschaft: „Die Metaphysik ist eine Wissenschaft von den Gesetzen der reinen Menschlichen Vernunft und also subiectiv“. In der Reflexion 4007 (AA 17: 383) bezieht sich Kant darüber hinaus auf einen „Streit subiectiver Gesetze“ der Vernunft, der nach der Reflexion 3936 (AA 17: 354–355) genau dann entsteht, wenn „die principia subiectiva [als] obiectiv erwogen werden“.745 Es geht dabei um die schon in der Dis743 744 745

Zu den Schwierigkeiten bei dieser besonderen Gruppe von Reflexionen vgl. Hinske, N. „Prolegomena zu einer Entwicklungsgeschichte“, a. a. O. Vgl. auch Rx 3946 AA 17: 359. Vgl. Rx 3976 AA 17: 373: „Es ist nach dem subiectiven Gesetz der Vernunft nothwendig, eine erste handlung anzunehmen, wodurch das übrige alles folge; es ist aber eben so wohl nothwendig, einen Grund überhaupt von ieder handlung und also kein erstes anzunehmen“. Siehe auch Rx 3928, 4001, 4008, 4013, 4039, 4058.

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sertatio diskutierte Idee eines dissensus inter facultatem sensitivam et intellectualem, wobei aber die Konzeption der Metaphysik als eine positiv-objektive sowie eine negativ-subjektive Wissenschaft hinzukommt. Außerdem setzt Kant in der schon am Anfang dieses Kapitels zitierten Reflexion 3957 (AA 17: 364–366) einerseits die positiv-objektive Metaphysik mit einer dogmatischen Philosophie und andererseits die negativ-subjektive Metaphysik mit einer kritischen, skeptischen, zetetischen, problematischen Philosophie gleich: „[D]ie dogmatische reine philosophie ist die theoretische Logik, die theoretische Moral und die allgemeine Naturwissenschaft. Zweitens ist sie critisch, mithin subiectiv. Sie ist zetetisch, sceptisch, problematisch“. In der Gruppe von Reflexionen aus der Phase λ (1769–1771) diskutiert Kant weiter die Konflikte zwischen den „Gesetzen des Verstandes“, den „Regeln der Vernunft“ (Rx 4375 AA 17: 524–525) oder einfach den „Sätzen“ (Rx 4336 AA 17: 509–510) bzw. einen Konflikt zwischen dem „Felde der Erfahrung“ und dem „Felde der Vernunft“ (Rx 4336 AA 17: 509–510). In allen Fällen aber besteht ein vitium subreptionis in der Form, dass man „von einem sensitivum auf ein intellectuale“ schließt (Rx 4306 AA 17: 501). Bei dieser hier nur ansatzweise gegebenen Beschreibung der Streitfälle in der reinen Philosophie, die aber zur Grenzziehung der Grundsätze und Begriffe der Vernunft führen,746 stellt Kant dem Skeptizismus die skeptische Methode gegenüber. Er setzt ausdrücklich die methodus sceptica mit der der „critic des subjects“ eigentümlichen Methode als „methode der Vernunft“ gleich, um die „opositionem der subjektiven Gesetze der Vernunft“ durch die antithesis subiectiva zu entdecken. Antithesis: Eine methode der Vernunft, die oppositionem der subiectiven Gesetze zu entdecken, welche, wenn sie per vitium subreptionis vor obiectiv gehalten wird, scepticismus (in sensu obiectivo) ist; ist er aber nur eine [critic des subiects] propaedeutic, so ists methodus sceptica Zur Bestimmung der subiectiven Gesetze der Vernunft. Antithesis subiectiva. (Rx 4275 AA 17: 491–492).

Nach der Reflexion 4360 (AA 17: 519) wäre diese Kritik des Subjekts eine „kritische Metaphysik“ im Gegensatz zu der dogmatischen Metaphysik, insofern sie eine „critick ist nicht blos der Sätze, sondern der menschlichen Vernunft, folglich auch des Gegentheils“. Der „Kritik der menschlichen Vernunft“ ist daher eigentümlich, dass sie nicht eine bloße „Kritik der Sätze“ wie die Logik, sondern auch und vor allem eine Kritik der menschlichen Vernunft und demzufolge der Gegensätze darstellt. Sie zeichnet sich demnach dadurch aus, dass sie sich als ein der skeptisch-polemischen Methode eigenes Gegeneinander von entgegengesetzten Sätzen erklären lässt. In der Reflexion 4164 (AA 17: 440) setzt Kant tat746

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Kant weist auf die Grenzen hin, wenn es darum geht, die Freiheit als ein „absolutes Erstes“ zu begreifen. „Die Begriffe und Sätze der Vernunft, welche in concreto in Ansehung der Gegenstande der Welt oder der Sinne richtig sind, so wohl der Wirklichen als Moglichen, führen uns, wenn man zurükgeht, auf Grentzen, die nicht nach eben diesen Regeln begreiflich seyn könen; denn ihre Brauchbarkeit gilt nur innerhalb diesen Grentzen. Gleichwohl könen wir uns [von] der [Beschaffenheit] Erkentnis dessen, was diese Grenzen setzt, [keine andern] so fern nicht entbrechen, als es nach Regeln unsrer concreten Vernunft das, was innerhalb der Grentzen ist, zu erklären und zu bestätigen dienet. Das übrige ist unnütz. So ist bey der Freyheit das erste unbegreiflich“ (Rx 4379 AA 17: 526).

sächlich die Kritik als metaphysica oder organon intellectus puri mit einem scepticismus criticus im Gegensatz zum Dogmatischen gleich. In der Gruppe von Reflexionen aus der Phase ξ (1772) scheint Kant die noch in der Dissertatio und in einigen Reflexionen vertretene Auffassung über einen möglichen dogmatisch-positiven Gebrauch der Vernunft bzw. des intellectus im theoretischen Bereich nach dem Erfolg der „kritisch-negativen Metaphysik“ aufzugeben. Die Reflexion 4445 (AA 17: 552–553) ist hier recht deutlich: Ihr zufolge gibt es einen positiv-dogmatischen Gebrauch der Metaphysik nur in der Moral,747 während es im theoretischen Bereich nur einen bloßen negativen Gebrauch derselben gibt: „Der Gebrauch der metaphysic in Ansehung des theoretischen ist blos negativ; sie eröfnet nicht die Erkenntnis der Dinge und ist nicht dogmatisch; denn wo sollte sie die [Erkenntnis der Dinge] ohne Sinnen hernehmen“. Hinsichtlich der „Speculation“ ist die Metaphysik, so fährt Kant fort, bloß „catharctisch“, sofern sie „den falschen Gebrauch der Vernunft, die aus ihren Schranken tritt und die intellectualia als obiecten betrachtet“, verhütet. Zusammenfassend will „die metaphysic eben der Vernunft in ihrem reinen Gebrauch schranken setzen“. Nach der Reflexion 4454 wäre die beste Methode in dieser bloß negativen Wissenschaft bzw. „Kritik der Metaphysik“ die skeptisch-polemische Methode, das heißt, die Sätze und ihre Gegensätze zu „opponieren“, weil die „Speculation“ dem „vitium subreptionis“ ausgesetzt ist. In der Critik der Metaphysik kan man sich zweyerley methoden bedienen. Die erste ist: die Beweise zu examiniren und ihre paralogismos oder petitiones principii aufzusuchen. Die zweyte: einem Beweise einen andern und zwar eben so überzeugenden des Gegentheils zu opponiren. Diese letzte methode ist die beste. Denn weil die Fehler der metaphysischen Schlüße hauptsächlich darin bestehen, daß, was lediglich von den Bedingungen der sinnlichen Erkenntnis gilt, vom Obiect enunciirt wird, so kan ein Beweis so strenge scheinen, daß man schwerlich eines fehlers gewahr wird, den man am besten durch eine demonstratio oppositi entdeket (Rx 4454 AA 17: 557).

Der Irrtum ist in der Metaphysik schwer zu entdecken. Aufgrund des vitium subreptionis scheinen die metaphysischen Beweise gründlich und unwiderlegbar. Die Idee, dass der Metaphysik als Transzendentalphilosophie 748 die Aufgabe zukommt, eine subjektive Untersuchung über die Quelle des Irrtums durch eine skeptisch-polemische Betrachtung der Streitigkeiten vorzunehmen, ist in der Reflexion 4455 eindeutig: Die Transzendentalphilosophie ist Kritik bzw. Disziplin der reinen Vernunft, das heißt ein „studium des subiects“ und der Verwechslung des Subjektiven mit dem Objektiven, des Verstandes mit der Sinnlichkeit: (g Sie ist disciplin der reinen Vernunft. Aesthetik: Critic des Geschmaks.) idee der metaphysik: Ist sie eine Critick oder doctrin: ist ihr verfahren ze747 748

„Die reine Vernunft ist nur in Ansehung der Obiecte des Willens dogmatisch“. Vgl. Rx 4457 AA 17: 558. „In der metaphysica applicata ist vieles dogmatisch. (g in der transscendentalen alles critisch; kann wohl durch die metaphysik was erfunden werden? Ja, in Ansehung des subiects, aber nicht des obiects.) [Allein] Als critick hat sie Nutzen. Wenn gleich Religion und Tugend sich nicht auf sie gründen, sondern andre Qvellen haben, so dient sie die Hindernisse wegzuschaffen. Critick der Wissenschaft und Organon* der Weisheit (g welche mehr aufs entbehren als erwerben ankommt. Socrates)“.

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tetisch oder dogmatisch? Es ist die Frage: was kann man [ohne] durch blosse Vernunft ohne alle Erfahrung erkennen (mathematik, Moral)? welches sind die Qvellen, die Bedingungen und grentzen. Die transscendentalphilosophie ist critick der reinen Vernunft. studium des subiects, Verwechselung des subiectiven mit obiectivem, Verhütung (Rx 4455 AA 17: 557–558).

Das Studium des Subjekts bzw. die „Kritik der reinen Vernunft“ sei eine „Vorübung zur Metaphysik“ (Rx 4466 AA 17: 562). „Sie ist die demarcation der reinen Vernunft und die Grentzwache, um zu verhüten, daß sie nicht, indem sie über ihre Grentzen ausschweift, sich selbst verwirre und Religion und Sitten mit ihren Chimären beunruhige“ (Rx 4464 AA 17: 562). Es fehlt aber noch in dieser Zeit die Grundidee der Transzendentalen Dialektik und der KrV, dass der Sitz der „Blendwerke“, genauer des transzendentalen Scheins und des Irrtums, in der Vernunft selbst und ihrer Gesetzgebung liegt.749 Dieser weitere Schritt lässt sich im Folgenden anhand eines Hinweises erklären, der in einer schon zitierten Reflexion gegeben wird und der das juridische Verfahren der Kritik als ein zetetisches Verfahren betrifft. 7.2

Der Skeptiker als Richter

Man kann behaupten, dass die Zuspitzung der zetetischen bzw. skeptisch-polemischen Methode zu der Konzeption einer Kritik der menschlichen Vernunft als Gerichtshof und zur Stellung der Vernunft selbst als Richterin und Gesetzgeberin führte, deren Hauptfunktion die Erforschung, Rechtsprechung und Entscheidung über das menschliche Wissen ist. Zur Begründung müssen jedoch einige Stelle der Logik Blomberg herangezogen werden, die vermutlich zu Beginn der 1770er Jahre niedergeschrieben worden ist.750 Kant setzt hier die Rolle des Skeptikers bei der der Wahrheitsfindung eigentümlichen Untersuchung mit der des Richters bei den juridischen Vorgängen an einem Gerichtshof gleich. Kant stellt zunächst den dogmatischen und den skeptischen Zweifel einander gegenüber. Jener ist der „Zweifel der Entscheidung“ und dieser der „Zweifel der Retardation, des Aufschubs“. Aus Ersterem entsteht eine freilich künstliche Gewissheit, man könne nicht zu der Erkenntnis gelangen, und deshalb wird die Suche nach der Wahrheit „verworfen“. Aus der Zweiten ergibt sich wiederum eine „nähere untersuchung und Nachforschung, um dadurch einmahl zur rechten, und ungezweifelten Gewisheit der Erkenntniß zu gelangen“ (V-Lo/Blomberg, AA 24: 205).751 Die „Methodus Dogmatica Philosophiae“ erreicht paradoxerweise das Gegenteil von dem, was sie will, nämlich statt der Gewissheit 749

750 751

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Vgl. Log Bauch (zwischen 1770 und 1775): „Irrthum ist eine effectio hyeridas theils aus der höheren Sinnlichkeit theils aus dem Verstand vermischt mit der Sinnlichkeit entsprungen. Wenn wir einen reinen Verstand hätten, unvermischt mit der Sinnlichkeit; so würden wir nicht irren“. Es kommt noch nicht die Idee vor, dass die Vernunft selbst dialektisch ist und zum Irrtum führt. Vgl. Kant-Index. Hrsg. von Norbert Hinske. Bd. 3.1, Stellenindex und Konkordanz zur „Logik Blomberg“. Stuttgart-Bad Cannstatt: Frommann-Holzboog, 1989, S. xxvi. „Der Zweifel aber bey der Problematischen Art zu Philosophiren ist entweder ein Sceptischer, ein Forschender, untersuchender, prüfender, oder aber ein dogmatischer ausmachender, und entscheidender Zweifel“ (V-Lo/Blomberg AA 24: 212).

den Irrtum. Zur Verdeutlichung dieser Idee verwendet Kant das Bild des RichterStuhls der Vernunft: [M]an [setzt] sich Bey derselben [Methodus Dogmatica Philosophiae] gleichsam auf den Richter-Stuhl der menschlichen Vernunft, und den Ausspruch thut: daß von dieser, oder jener Erkenntniß gantz und gar keine Gewisheit zu erlangen sey, alle Nachforschung also doch nur immer gantz vergeblich angewendet werde. so, und auf diese weise sezet man dem menschlichen Verstande gleichsam Grentzen, und Schrancken. Alles Nachdencken, alle Bemühungen sich eine wahre gewisheit wovon zu verschaffen, und zur Überzeugung zu gelangen, wird dadurch gäntzlich entfernet, und was kann hieraus wohl anders als Unwißenheit ja so gar wohl Irrthum entstehen? (V-Lo/Blomberg AA 24: 206, Hervorh. d. Verf.)

Bemerkenswert ist, dass der dogmatisch-skeptische Richterstuhl der menschlichen Vernunft dem „menschlichen Verstand“ Grenzen und Schranken setzt, die ganz anders als diejenigen sind, die der echte Gerichtshof der Vernunft setzen soll. Der skeptische Dogmatiker setzt nämlich aller „näheren Untersuchung und Nachforschung“ Grenzen, die die Möglichkeit der Wahrheitsfindung und der Gewissheit völlig verhindern. Kant zufolge waren die Dogmatiker die historischen Gegner der Skeptiker als „Sucher, Forscher, Speculatores der wahrheit“ verstanden (V-Lo/Blomberg AA 24: 207). Unter „Dogmatikern“ versteht Kant dabei sowohl die „Intellectual Philosophen“ (Platonismus) als auch die „Sensual Philosophen“ (Epikureismus),752 von denen die einen behaupten, dass alle gewisse Erkenntnis eine Einsicht der Vernunft ist, die anderen hingegen, dass durch eine Einsicht der Vernunft eigentlich nichts erkannt werden kann.753 Der nicht dogmatische Skeptiker als Anhänger eines „förmlichen Scepticismus“ wäre dann der „Dritte“, der wie Sokrates den Streit beilegt und die streitenden Parteien zu einer Einigung bringt. Hierauf aber kam ein Dritter, und machte zwischen diesen beiden 2 hitzigen streittigen Partheyen Friede, indem er ausrief: ‚Ich glaube Beiden gleich wenig oder gar nichts‘. Weder das Intellectuale, noch das Sensitive hat gewisheit. alles ist im menschlichen Verstand nichts als Verwirrung‘. Und daraus entstand denn der förmliche Scepticismus, der sich von einem so berühmten, und überaus hochzuschätzenden Manne als Socrates ist, zu originiren scheinet (V-Lo/Blomberg AA 24: 207).

752

753

„Ferner gab es Intellectual Philosophen: unter welchen Plato sagte: ‚alles das jenige, was wir gutes erkennen, und recht einsehen wollen, das muß a priori durch die Vernunft blos und allein geschehen. Die Sinne allein enthalten Lauter Blendwerck‘ […]. Die Sensual Philosophen hingegen, unter denen man den Epicurus als den vornehmsten rechnete, sagten hinwiederum: ‚Alles das, was wir a priori durch die Vernunft zu erkennen im Stande sind, ist nichts als chimärisch. Die Sinne allein geben die rechte wahre gewisheit‘“ (V-Lo/Blomberg AA 24: 207). Diese Entgegenstellung von Platonismus und Epikureismus findet man auch in der KrV. Vgl. unten Kapitel 10.

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Der förmliche Skeptizismus mit seiner „Methode des Sceptischen Zweifels“ ist daher ein „Kathartikon, [d. i.] das Beste Reinigungs-Mittel der Vernunft“.754 In diesem Sinne haben die Skeptiker „der Philosophie in gewiser Art noch weit mehr Nutzen geschaffet, als die Stoltzen Dogmaticer“ (V-Lo/Blomberg AA 24: 208), insofern sie Irrtümer verhüteten, die Menschen „zu mehrerer Nachforschung“ führten und sie „nicht auf ein mahl, und plötzlich, sonderen Langsam, und allmählig durch eine mehrere, und nahere Prüfung gelangenen Weg zur Wahrheit der Sache“ (V-Lo/Blomberg AA 24: 208) brachten. „In den neueren Zeiten“, so fährt Kant fort, komme den förmlichen Skeptikern dieselbe Aufgabe zu, die sie anfänglich mit Sokrates hatten. Indem sie die dogmatische Philosophie in Frage stellten, ihre Lehren anfechteten und ihre Fehler und Irrtümer aufdeckten, „hatten sie sich die freye Denckungs Art Bey vielen Nationen eingeschlichen“ (V-Lo/Blomberg AA 24: 217). Kant erkennt in Hume den Philosophen, der am besten den skeptischen Geist verkörpert, nämlich die unparteiische und unvoreingenommene Erwägung und freie Denkungsart. Kant empfiehlt seinen Schülern daher die Schriften Humes, die im letzten Kapitel diskutiert wurden, die Philosophischen Versuche und die Vermischten Schriften, in denen sich „eine sanfte, gelaßene, und vorurtheilsfreye Prüfung“ befinde (VLo/Blomberg AA 24: 217).755 „Mit dem besten Redner-Styl“ versuche Hume, „die andere Seite vor[zunehmen], dieselbe gleichfals gantz unparteyisch zur Beurtheilung dar[zustellen], [und] alle gegengründe widerum mit eben der beredsamkeit“ vorzutragen (ebd.). Für Kant aber begeht Hume wie die pyrrhonische Schule auch den Fehler des dogmatischen Skeptizismus in Form des Grundsatzes, „an allem zu zweifeln“: Er wäre aber gewiß einer von den besten und leßenswürdigsten Autoren, wofern er nur nicht den Überwiegenden hang hätte an allem zu zweifeln, sonderen vermittelst der Prüfung und Untersuchung der Erkenntniße zu einer wahren Gewisheit zu gelangen suchen möchte (V-Lo/Blomberg AA 24: 217).

Der Skeptiker soll nicht die Wahrheit und die Gewissheit aus den Augen verlieren, ohne dabei aber den kritischen Aspekt seines Zweifels zu verlieren. Der nicht dogmatische Zweifel, also der „Zweifel der Retardation, des Aufschubs“, erweist sich in diesem Kontext als ein Merkmal der „Reife der Vernunft“, wie es dann auch später in der Vorrede A der KrV heißt.756 Wenn der skeptische Zweifel seinen kritischen Gehalt bewahrt, wird ihm seine juridische Bedeutung zugesprochen. Kant stellt eine solche nicht dogmatische skeptische Vorgehensweise 754

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756

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Kant vergleicht einige Seiten später den Skeptizismus mit einem „Purganz“ der menschlichen Vernunft: „[D]as war wircklich eine art von Purganz vor die menschliche Vernunft, welche von der Beschaffenheit war, daß sie, nachdem sie unsern Verstand völlig von allen Unreinigkeiten, d. i. von allem Falschen Wahn, Vorurtheilen, unrichtigen Urtheilen, gantz und gar gereiniget hat, sich selbst wieder ausführte“ (V-Lo/Blomberg AA 24: 210). Dazu siehe Klemme, H. Philosophie des Subjekts, a. a. O., S. 43–44. Klemme weist auf diese Stelle der Logik Blomberg zur Widerlegung von Kreimendahls These über das „Erwecken“ Kants durch Humes Treatise. „Der Zweifel des Aufschubs ist daher wircklich ein sicherers Merckmahl der Reife der Vernunft, und der Erfahrung in der Wahrheit der Erkenntniß“ (V-Lo/Blomberg AA 24: 207–208).

mit der eines Richters gleich. Der Richter sucht, erforscht, verhört usw., stets mit der Absicht, eine Entscheidung zu treffen, ein Verdikt auszusprechen und damit zur Wahrheit zu gelangen. Der Ursprung des Ausdruckes Scepticismus ist eigentlich folgender σκέπτομαι. Dieses wort heißet im griechischen: Nachforschen, Scrutari, investigare, indagare. Der Scepticus Forschet also stets nach, er prüfet und untersuchet, er sezet in alles ein Mißtrauen, aber niemals ohne Grund. Er gleichet also hierinn einem Richter, der die gründe so wohl vor, als wieder die Sache erweget, und so wohl den Kläger, als auch den Beklagten anhöret, ehe, und Bevor er die Sache decidiret, und ein Urtheil fället. Er schiebet sein Endurtheil sehr Lang auf bis er es wagt, etwas völlig auszumachen. Dieses waren die alten, und reinen Eigenschaften des Scepticismi, und eines unverfälschten Scepticers (V-Lo/Blomberg AA 24: 209–210).

Der Skeptiker ist genau wie der Richter: Bevor er ein Urteil fällt und damit eine bestimmte philosophische Streitigkeit beilegt, muss er ermitteln, nachforschen, nachdenken, die Parteien hören usw., getragen von der Absicht, die beste und vorurteilsfreiste Entscheidung zu treffen. Auch sollen die guten Richter ebenso wie die guten Metaphysiker keine ungeprüfte Behauptung äußern, sondern stattdessen immer zu beweisende Hypothesen aufstellen.757 Wenn der Richter alle diese Vorschriften beachtet, ist sein Verdikt unanfechtbar und daher eine „ausgemachte Wahrheit“, deren Genauigkeit so streng ist wie die der iustitia commutativa: Ausgemachte Wahrheiten sind diejenige Wahrheiten wieder welche ferner kein Einwurf gemacht werden kann. Dahin gehören z. E. die Res judicatae das ist, durch ein Rechtskräftiges Urtheil abgemachte Sachen in foro z. E. so ist es nach vollendetem Proceß eine ausgemachte Sache, daß wenn der Richter einen Spruch getroffen hat, nach demselben dieser, oder jener jenem oder diesem z. E. eine Angewiesene Gewiße Geldes-Summe bezahlen muß (V-Lo/Blomberg AA 24: 203).

Mit der Gleichsetzung von Richter und skeptischem Dritten erreicht Kant eine neue Etappe bei der Problematik der juridischen Verfassung der KrV. 7.3

Das Gewissen als forum rationis

Hier stellt sich nun die Frage: Wie ist Kant zu der endgültigen und vollkommenen Vorstellung von der Kritik als dem Gerichtshof der Vernunft gelangt? Ab757

„In der Metaphysica sind viele Hypothesen. Der Beweis vom Daseyn Gottes ist zu erst eine Hypothese. man nimt ein Wesen an, das das vollkommenste unter allen anderen ist, und untersuchet als denn, ob daraus Erklärungs Gründe desselben hergeleitet werden können, deßen uns die Natur, die Erfahrung, und die geschöpfe, die auf der Erde sind, belehren. Plato, und Malebranche nahmen es als eine Hypothese an, daß die Menschen mit der Gottheit in einer gantz besonderen Verbindung stünden, und sahen, ob sie daraus die Folgen, die sie einsahen, würden erklären können. Hypothesen aber haben wircklich einen sehr grosen Nutzen, und können niemahls völlig aus der menschlichen Erkenntniß verbannet werden. alle Richter machen Hypothesen, die sie oft Bey Beßerer Untersuchung wider verwerfen. Die Hypothesen sind der Weg zur Theorie, und ofters zu einer ihr gantz entgegengesezten Wahrheit“ (V-Lo/Blomberg AA 24: 222).

217

gesehen von den schon erwähnten begrifflichen Entwicklungen (der Unterscheidung von Vernunft und Verstand, der Problemstellung der Deduktion, der Gegenüberstellung von Analytik und Dialektik usw.) wird im Folgenden eine Hypothese über die näheren Gründe aufgestellt, die zu der endgültigen und bewussten Aufnahme der Termini „Gerichtshof“ und „Gesetzgebung“ geführt haben, sprich zur Konzeption eines forum rationis und der Vernunft als Richterin bei Erkenntnisansprüchen. In diesem Zusammenhang liegt der Neuformulierung des kantischen Gewissensbegriffs als forum rationis, dessen Richter als ideal gedacht ist, die Rezeption der Morallehre Adam Smiths in der ersten Hälfte der 1770er Jahre zugrunde. Kants Gewissensbegriff als forum rationis internum, in dem Gott als der ideale Richter darstellt wird, ist die erste konkrete Vorstellung eines Gerichtshofs der Vernunft in Kants Werdegang.758 Dabei spielt nicht nur die Gewissenslehre von Baumgarten, sondern auch und vor allem Smiths Konzeption eines „unparteiischen Zuschauer[s]“ bzw. „unparteiischen Richters“ im forum conscientiae eine Rolle. Dies wird im Folgenden erörtert. In einem Brief vom 9. Juli 1771 schreibt Marcus Herz über eine Begegnung mit David Friedländer, bei der dieser ihm mitgeteilt hatte, was Kants damalige Lektüre war: Über den Engländer Smith, der, wie Herr Friedländer mir sagt, Ihr Liebling ist, habe ich verschiedene Remarken zu machen. Auch mich hat dieser Mann ungemein belustigt, aber gleichwohl setze ich ihn dem ersten Theile von Home Kritik bey weiten nach (AA 10: 126).

Das von Marcus Herz erwähnte Werk von Henry Home sind die Elements of Criticism, die 1763, ein Jahr nach der ursprünglichen Veröffentlichung, ins Deutsche als Grundsätze der Kritik übersetzt und mit großem Interesse in Deutschland aufgenommen worden waren.759 Das Werk von Smith, das Kants Aufmerksamkeit erregte und aus dem „Engländer [sic!] Smith“ seinen „Liebling“ machte, ist seinerseits sicherlich die Theory of Moral Sentiments (TMS), die im Jahr 1770 in dritter Auflage auf Deutsch als Theorie der moralischen Empfindungen760 in Christian Gün758

759

760

218

Vgl. Brandt, R. Bestimmung des Menschen, a. a. O., S. 286; Walch, J. G. Philosophisches Lexicon, Leipzig 1740, S. 103–104: „Denn das Gewissen ist nicht anders, als ein Urteil der Vernunft von der Vernunft- und Unvernunftmäßigkeit unserer Verrichtungen […]. Denn es wird so zu reden hier ein ordentliches Gericht, ein Prozess angestellt. Der Beklagte ist der Mensch; der Gegenpart, oder der Ankläger die Vernunft, sofern sie erkennt, wie unvernünftig gehandelt worden; der Richter ist die Vernunft abermal, sofern sie nach der Anklage, nach der Erkenntnis, wie die Tat unrecht sei, das Urteil erteilt“. Trotz ihrer Ähnlichkeiten setzt Brandt den Gerichtshof des Gewissens dem Gerichtshof der Kritik entgegen. Jener sei „natürlich“, „ursprünglich“, dieser im Gegensatz dazu „eine künstliche, erst in einer bestimmten Phase der Vernunftgeschichte mögliche ‚Institution‘ (A 751)“ (Brandt, R. Bestimmung des Menschen, a. a. O., S. 286). Obwohl diese Unterscheidung zutrifft, spricht aber nichts dagegen, dass der künstliche Gerichtshof der reinen Vernunft sich entwicklungsgeschichtlich an den natürlichen Gerichtshof des Gewissens anlehnt. Zu den verschiedenen deutschen Übersetzungen, Rezensionen und Rezeption des Werks in Deutschland vgl. Bachleitner, N. „Die Rezeption von Henry Homes Elements of Criticism in Deutschland 1763–1793“. In: arcadia, 20, 1985. Smith, A. Theorie der moralischen Empfindungen. Braunschweig 1771. Übers. Christian Gunther Rautenberg. Rep. In: Klemme, H. (Hrsg.). Reception of the Scottisch Enlightenment in Germany: Six Significant Translations, 1755–1782. Bd. 4, a. a. O.

ther Rautenbergs Übersetzung der ursprünglich im Jahr 1759 erschienenen englischen Fassung veröffentlicht wurde.761 Beeinflusst hat Smith nicht nur Kants Konzeption des kategorischen Imperativs als ein aus Achtung für das Sittengesetz eingenommener unparteiischer Standpunkt zur moralischen Beurteilung.762 Auch darüber hinaus hat Smiths Philosophie bei Kant Spuren hinterlassen, die durch Smiths Lehre von dem Gewissen als einem Gerichthof, in dem der Mensch sich verdoppelt und vor einem unparteiischen Richter erscheint, über den Bereich der Moralphilosophie bis zur Idee der Kritik als Gerichtshof der Vernunft hinausreichen. In der Tat nimmt Kant an Stellen, an denen er eine These oder Idee der TMS erwähnt oder diskutiert, ausdrücklich nur einmal Bezug auf Smith. Der Name „Smith“ kommt in Kants veröffentlichten Werken zweimal vor, wobei er sich auf Wealth of the Nations763 bezieht, und zudem in einer Reflexion, in der 761

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Außer dem Brief von Herz, wobei Kants Antwort nicht mehr erhalten ist, gibt es weitere Belege für den Einfluss der TMS auf Kant, ein Werk, das Smith noch vor der 1776 erfolgten Veröffentlichung seines berühmtesten Werks, An Inquiry into the Nature and Causes of the Wealth of Nations, publiziert hatte. Die TMS erfuhr in Smiths Leben sechs Auflagen, und die letzte, im Jahr 1790 veröffentlichte Auflage wurde von Smith stark verändert. Da Kant aber nur die dritte Auflage in der Übersetzung Rautenbergs zugänglich war, sind hier alle Zitate der TMS aus dieser Auflage und Übersetzung entnommen. Zu den verschiedenen Auflagen der TMS vgl. Eckstein, W. „Einleitung“: In: Smith, A. Theorie der ethischen Gefühle. Übers. mit Einl., Anm. und Reg. von W. Eckstein. Hamburg: Meiner, 1926, S. xxxiv–lii; MacFie, A. L. & Raphael, D. D. „Introduction“. In: The Theory of Moral Sentiments. The Glasgow Edition of the Works and Correspondence of Adam Smith. Bd. I. Indianapolis: Liberty Fund, 1984; Rep. Oxford: Clarendon Press, 1976. Zu der Rezeption der TMS in Deutschland durch Lessing und Herder vgl. Ballestrem, K. G. Adam Smith. München: Beck, 2001; Eckstein, W. „Einleitung“, a. a. O., S. xxxii ff.; MacFie, A. L. & Raphael, D. D. „Introduction“, a. a. O., S. 30–31; Klemme, H. „Introduction“ to Theorie der moralischen Empfindungen. In: Klemme, H. (Hrsg.). Reception of the Scottisch Enlightenment in Germany, a. a. O., S. vi. Was den Einfluss Smiths auf Kant betrifft, nennt Heiner Klemme vier mögliche Punkte: „(1) Kant war schlicht von der Materialfülle, von den sorgfältigen Beobachtungen und scharfsinnigen Analysen des Autors der Theorie beeindruckt, auch wenn diese nicht zum Bereich der reinen Moralphilosophie gehören. (2) Bei Smith finden sich wichtige Hinweise zur Problematik der moralischen Motivation. (3) Smith hat mit seiner Theorie des unparteiischen Zuschauers und seine Ausführung zum ‚Sense of Duty‘ Kant wichtige Anregungen für seine Formulierung des kategorischen Imperativs gegeben […] (4) Smith hat Kant in terminologischer Hinsicht angeregt“. Klemme, H. „Rezension von Clemens Schwaiger, Kategorische und andere Imperative. Zur Entwicklung von Kants praktischer Philosophie bis 1785. Stuttgart-Bad Cannstatt 1999“. in: Journal of the History of Philosophy, 38, 2000, S. 445. S. Fleischacker nennt noch drei weitere Punkte: 5) Smiths Lehre über die Achtung bzw. Ehrfurcht vor dem Gesetz als Pflichtgefühl steht der kantischen sehr nahe, und manchmal scheinen beide fast wörtlich übereinzustimmen. (6) Smiths Lehre über den natürlichen und unvermeidlichen „Selbstbetrug“ des Menschen bei der Beurteilung seines eigenen Verhaltens entspricht der von Kant betonten Unmöglichkeit einer Einsicht in die wahren Motive der menschlichen Handlung. Schließlich (7) verteidigen beide Autoren die Idee einer doppelten Persönlichkeit im Gewissen. Vgl. Fleischacker, S. „Philosophy in Moral Practice: Kant and Adam Smith“. In: Kant-Studien, 82, 1991, S. 249–269. Vgl. auch Ballestrem, K. G. Adam Smith, a. a. O., S. 181; Krause, J. P. Immanuel Kant und Adam Smith. Präsenz, Wirkung und Geltung der ‚Theory of Moral Sentiments‘ in Kants Werk. InauguralDissertation zur Erlangung des Doktorgrades der Philosophischen Fakultät der Universität zu Köln, 1997. MdS AA 06: 289; Anth AA 07: 209.

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Kant Smiths Stil bei der Behandlung der „moralische[n] Kenntnis des Menschen“ lobt764 – hier hatte Kant zweifellos die TMS im Blick. Abgesehen von der Tugendlehre, die im Folgenden erörtert wird, werden aber in vielen Reflexionen und sogar am Anfang des ersten Abschnittes der GMS765 Thesen der TMS der Sache nach diskutiert und in Frage gestellt. Dabei nimmt Kant auf den „unparteiischen Zuschauer“ bzw. „unparteiischen Richter“766 Bezug, ein Begriff, der bei der TMS im Kontext des Gewissens auftaucht. Kant bezieht sich ausdrücklich auf Smith und – wie es oft in der deutschen Übersetzung der TMS geschieht – verwechselt den „unparteiischen Zuchauer“ mit dem „unparteiischen Richter“ in der Reflexion 6864, die sich am Rand des § 201 von Baumgartens Initia philosophiae practicae primae, die Kant ab 1760 mitsamt der Ethica Philosophica als Kompendium bei seinen Vorlesungen zur Moralphilosophie diente,767 befindet. Baumgarten beschäftigt sich in diesem Absatz ausgerechnet mit dem Gewissen, dem forum internum der Zurechnung der Handlungen. Daher macht es Sinn, wenn wir uns im Folgenden der Gewissenslehre Baumgartens zuwenden, bevor die von Smith zum zentralen Thema wird. Unter forum versteht Baumgarten den „Zustand einer Person“ (status personae), in dem „Taten und Gesetze“ zugerechnet werden.768 Er unterscheidet zunächst zwischen einem äußeren Gerichtshof, der äußere Taten äußeren Gesetzen subsumiert, und einem inneren Gerichtshof, der innere Taten inneren Gesetzen subsumiert.769 Es gibt noch eine weitere Unterscheidung, nämlich zwischen dem 1) menschlichen Gerichtshof und dem 2) göttlichen Gerichtshof.770 Der menschliche Gerichtshof unterscheidet sich dabei in dreifacher Weise: a) Im weiten Sinne bezeichnet er den Gerichtshof des Gewissens, den Gerichtshof, der die inneren Taten des Subjekts selbst nach inneren Gesetzen prüft und beurteilt.771 764

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Rx 1355 AA 15: 592 (1773–1775) (1776–1778) (1772–1773). „Man rühmt, daß in Deutschland der Geschmak in schönen Künsten zugenommen hat. Aber wo ist der [Geschichtschreib] Schriftsteller, der die Geschichte und die trokensten philosophische Gegenstande mit Verstand und tiefer einsicht doch so schön abhandelt als hume oder die moralische Kentnis des Menschen wie Smith. Hievon muß man den Anfang machen, indem wir die muster des spielenden Geistes schon vor uns haben. Die, so die Bewegungen der Einbildungskraft und das Bildliche sowohl als Gefühlvolle allenthalben einführen, schwächen den Einflus des Verstandes und bringen uns wieder zurük in die phantaseyvolle, aber blos schimmernde DenkungsArt der Morgenländer“. „Mit den Glücksgaben ist es eben so bewandt. Macht, Reichthum, Ehre, selbst Gesundheit und das ganze Wohlbefinden und Zufriedenheit mit seinem Zustande unter dem Namen der Glückseligkeit machen Muth und hiedurch öfters auch Übermuth, wo nicht ein guter Wille da ist, der den Einfluß derselben aufs Gemüth und hiemit auch das ganze Princip zu handeln berichtige und allgemein-zweckmäßig mache; ohne zu erwähnen, daß ein vernünftiger unparteiischer Zuschauer sogar am Anblicke eines ununterbrochenen Wohlergehens eines Wesens, das kein Zug eines reinen und guten Willens ziert, nimmermehr ein Wohlgefallen haben kann, und so der gute Wille die unerlaßliche Bedingung selbst der Würdigkeit glücklich zu sein auszumachen scheint“. GMS AA 04: 393. Vgl. Rx 6628 AA 19: 117: „unpartheische Zuschauer“. Die Datierung von Adickes, 1770, scheint irreführend, weil Kant mit der TMS erst im Jahr 1771 vertraut war. Vgl. Schwaiger, C. Kategorische und andere Imperative, a. a. O., S. 34–38. Baumgarten, A. G. Initia philosophiae practicae primae, a. a. O., § 180. Ebd., § 180. Ebd., § 182, 185. Ebd., § 182.

b) Im engen Sinne bezeichnet er den menschlichen Gerichtshof, der die äußeren Taten anderer Menschen nach äußeren Zwangsgesetzen und auch nach inneren Gesetzen und Beratungen (suadentibus)772 prüft und beurteilt. c) Im noch engeren Sinne schließlich bezeichnet er den menschlichen Gerichtshof, der die äußeren Taten der anderen Menschen nur nach äußeren Zwangsgesetzen 773 beurteilt. Im a) weiten und b) engen Sinne ist der menschliche Gerichtshof ein Gerichtshof der Vernunft (forum rationis), das heißt „der Zustand der Menschen, in dem sich die von der Vernunft ohne den Glauben erkannten Taten unter den von der Vernunft und ohne den Glauben erkannten Gesetzen subsumieren lassen“.774 Wenn er mit a) übereinstimmt, dann ist der Gerichtshof der Vernunft der innere Gerichtshof der Vernunft; wenn er aber mit b) übereinstimmt, dann ist er der äußere Gerichtshof der Vernunft.775 Daraus ergibt sich, dass der Gerichtshof der Vernunft im weiten Sinne mit dem Gerichtshof des Naturrechts im engen Sinne (iurisprudentiae naturalis stricte dictae) zusammenfällt776 und daher umfassender ist als der Gerichtshof des Gewissens, sofern er sowohl die inneren als auch die äußeren Taten des Subjekts selbst sowie die äußeren Taten der anderen Menschen beurteilt. Der 2) göttliche Gerichtshof ist seinerseits i) die Allweisheit Gottes, „sofern sie alle Taten, sogar die innersten, von allen Personen unter allen Gesetzen in der deutlichsten und möglichst gerechten Weise zurechnen kann“;777 oder ii) die inneren Gerichtshöfe der Vernunft und des Gewissens, und in diesem Maße ist der göttliche Gerichtshof ein innerer; oder endlich iii) „alle Gerichtshöfe, sofern sie letztendlich von Gott abhängen“.778 Es gibt für Baumgarten daher drei verschiedene Begriffe oder Stufen des inneren Gerichtshofs: das Gewissen, die Vernunft (der menschliche Gerichtshof im weiten und engen Sinne) und Gott, wobei dieser letzte innere Gerichtshof, die göttliche Allwissenheit, alle anderen umfasst, ohne dass er mit ihnen verwechselt werden darf. Daraus ergibt sich, dass es für Baumgarten keine völlige Übereinstimmung oder Gleichsetzung zwischen dem Gerichtshof der Vernunft und dem göttlichen Gerichtshof oder zwischen dem göttlichen Gerichtshof und dem Gerichtshof des Gewissens gibt. Gilt dasselbe auch für Smiths Gewissenslehre? Es ist kein Zufall, dass Smith gerade im Rahmen der Gewissenslehre die Rolle des unparteiischen Zuschauers bzw. Richters in seiner Moralphilosophie betont und die juridischen Bilder verwendet. Es handelt sich bei dem Gewissen um den „höheren Richterstuhl“779 des moralischen Verhaltens, vor dem die Pflicht als „Selbstbilligung“ und „Zusammenstimmung mit sich selbst“ verstanden wird und wo das moralische Urteil, wie bei einer Gerichtsverhandlung, auch mit Verteidigern und Anklägern gefällt 772 773 774 775 776 777

778 779

Ebd., § 183. Ebd., § 184. Ebd., § 182. „FORUM RATIONIS est status hominum, in quo legibus per rationem sine fide cognoscendis facta per rationem itidem cognita subsumi valide possunt“. Ebd., § 183. Ebd., §§ 65, 183. Ebd., § 185. „Omniscientia divina, quatenus omnium personarum, omniumque factorum, etiam intimorum, M. §. 869, nexum omnem possibilem, M. §. 872, cum omnibus, quotquot sunt et esse possunt, legibus distinctissime, M. §. 889, hinc rectissime imputare potest“. Ebd., „Omnia fora, quatenus ultimato a deo dependent“. TMS, S. 279.

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wird. „Conscience“ oder „Gewissen“ ist das Thema des dritten Teils der TMS, „Von dem Grunde unserer Urteile, die unsere eigenen Empfindungen und Aufführung (Conduct) betreffen, und von dem Gefühl der Pflicht“, genauer des zweiten Abschnittes, „Auf welche Art sich unsere eigene Urteile auf das beziehen, was die Urteile anderer sein müssen: wie auch von dem Ursprunge allgemeiner Regel“. Der dritte Teil der TMS wurde mit dem Zusatz bzw. der Weglassung von Kapiteln in der sechsten und endgültigen Auflage des Werks nachhaltig verändert.780 Da es hier aber nicht um eine Interpretation von Smiths Moralphilosophie geht, sondern um die Erforschung der Einflüsse auf Kant, ist für unsere Analyse der dritte Teil der TMS gemäß der dritten Auflage des Werks relevant. Smith behandelt hier die moralische Selbstbeurteilung, die Gründe der Selbstbilligung bzw. Selbstmissbilligung, das Pflichtgefühl und zuletzt das Gewissen als den wahren Gerichtshof bei der Beurteilung des moralischen Werts unserer Handlungen. In diesem Kapitel der TMS führt Smith den unparteiischen Zuschauer ein und bestimmt seine systematische Stellung als „unparteiischer Richter“, der die Handlungen des Subjekts einschätzt, beurteilt und endlich ein Verdikt ausspricht. Der unparteiische Zuschauer kommt zum ersten Mal im Kontext des Urteils über Lob und Tadel bezüglich des Verhaltens des Menschen vor. Vom Standpunkt eines unparteiischen Zuschauers aus beurteilen wir die Richtig- oder Unrichtigkeit unseres Verhaltens. Der unparteiische Zuschauer dient also vor allem zur moralischen Selbstbeurteilung.781 Wenn wir uns in seine Position hineinversetzen und den Bewegungsgründen und Gefühlen, die uns zur Handlung geführt haben, zustimmen, dann billigen wir die Handlung „aus Sympathie mit der Billigung dieses angenommenen unpartheischen Richters“; im entgegengesetzten Fall missbilligen wir die Handlung. Es ist also eine Art von Verdoppelung unserer moralischen Persönlichkeit: Wir stellen uns zum einen als interessierte und darin verwickelte Handelnde und zum anderen als interessenslose und distanzierte Zuschauer-Richter vor, reflektieren die Bewegungsgründe und Gefühle, die uns zur Handlung geführt haben, und fällen letztendlich einen Urteilsspruch über das Lob oder den Tadel, der uns als Folge der Entscheidung zukommt: Wenn ich mich bemühe, mein eigenes Verhalten zu untersuchen, wenn ich mich bemühe, ein Urteil darüber zu sprechen, und es entweder zu 780 781

222

Zu den von Smith für die sechste Auflage der TMS durchgeführten Veränderungen, Zusätzen und Weglassungen siehe Eckstein, W. „Einleitung“, a. a. O., xxxiv–lii. Vgl. Raphael, D. D. The Impartial Spectator. Oxford: Oxford University Press, 2007. Raphael behauptet, dass das Novum des Smith’schen unparteiischen Zuschauers im Vergleich zu ähnlichen Begriffen bei Shaftesbury, Hutcheson und Hume in der Verinnerlichung der Vorstellung des moralischen Beobachters um der moralischen Selbstbeurteilung willen liegt: „What is original in Adam Smith is the development of the concept so as to explain the judgements of conscience made by an agent about his own actions. A spectator theory accounts most easily for judgements made in the third person (judgements about ‘him’, ‘her’, or ‘them’) and well enough for second-person judgements (those about ‘you’); but it is apt to be in difficulties with judgements made in the first person (about ‘me’ or ‘us’). A spectator theory is also more comfortable with passing verdicts on what has been done in the past than with considering and deciding what should be done in the future“. Ebd., S. 31.

billigen oder zu verdammen, so ist es augenscheinlich, dass ich in allen solchen Fällen mich selbst, gleichsam in zwei Personen theile, und dass ich, der Untersucher und der Richter, einen ganz andern Character vorstelle als der andere; Ich, die Person, deren Verhalten untersuchet und gerichtet wird. Die erste ist die Zuschauer, in dessen Empfindungen ich in Absicht auf mein eigenes Verhalten einzudringen suche, indem ich mich selbst in seinen Platz stelle und erwäge, wie es mir vorkommen würde, wenn ich es aus diesem besondern Gesichts-Puncte sähe, die andere ist die handelnde Person, derjenige, den ich eigentlich mich selbst nenne, von dessen Verhalten ich unter dem angenommenen Character des Zuschauers ein Urteil zu fällen mich bestrebte.782

Der Mensch wird unter der Perspektive des Gerichtshofs des Gewissens als ein „moralisches Wesen“ betrachtet, das „Gott und den anderen Menschen Rechenschaft schuldig sein soll“.783 Wie man leicht sieht, tritt dadurch die herkömmliche Vorstellung des Gewissens als des fori divini in seiner ganzen Kraft in den Vordergrund, in dem Gott die Rolle eines unparteiischen Richters einnimmt: Der grosse Richter der Welt hat aus den weisesten Ursachen gut gefunden, den Thron seiner ewigen Gerechtigkeit vor dem schwachen Auge der menschlichen Vernunft in eine gewisse Dunkelheit und Finterniss zu verhüllen, die zwar diesen grossen Richterstuhl (Tribunal) vor den Blicken der Menschen nicht völlig verbirgt.784

Da der Handelnde zuerst seinen Mitmenschen Rechenschaft geben soll und seine Handlungen vor deren Augen als lobens- oder tadelnswert gepriesen bzw. verdammt werden sollen, sind die anderen Menschen der unmittelbare Stellvertreter dieses verinnerlichten und sich in ihren Urteilen und Gefühlen widerspiegelnden göttlichen Gerichtshofs.785 Als den „Urteilsspruch eines Untergerichts“ betrachtet, darf die Verurteilung bzw. Freisprechung der Mitmenschen nicht die letzte Gerichtsinstanz sein; der Mensch soll sich im Gegenteil letztlich auf das Urteil Gottes als des unparteiischen Richters des Obergerichts des Gewissens verlassen.786 Die Billigung oder Missbilligung des Gewissens ist also der natürliche und endgültige Maßstab der Billigung oder Missbilligung, des Lobes oder Tadels menschlichen Verhaltens. 782 783 784 785

786

TMS, S. 276. TMS, S. 277–278. TMS, S. 278. „Damit die Menschen indessen weder ohne einer Richtschnur sein möchten, die ihre Aufführung regieren, noch ohne einem Richter, der die Beobachtung derselben einschärfen konnte, so hat der Urheber der Natur den Menschen zum unmittelbaren Richter des Menschen gemacht, und ihn auch in diesem Betracht, so wie in vielen andern nach seinem Bilde erschaffen, und ihn als einen Ausseher über das Verhalten seiner Brüder zu seinem Stellvertreter verordnet“ (TMS, S. 279). „So gros aber das Ansehen dieses Untergerichts sein mag, das ihnen beständig vor Augen ist, so darf es doch nie denen Grundsätzen und Regeln zuwieder, die die Natur zur Absatzung seiner Urteilsprüche festgesetzt hat, entscheiden, ohne dass die Menschen gleich fülen sollten, dass die von dieser ungerechten Entscheidung appelieren, und sich auf einen höhern Richterstuhl, auf den, der in ihrem eigenen Herzen aufgerichtet ist, berufen können, um die Ungerechtigkeit dieses schwachen und partheiischen Auspruches zu verbessern“ (TMS, S. 279–280).

223

So verhält es sich aber nicht mit demjenigen, der sich bei allen Gelegenheiten gewöhnt hat, zu dem Richter in seinem Herzen seine Zuflucht zu nehmen, und nicht sowohl darauf zu sehen, was die Welt lobet oder tadelt, sondern vielmehr darauf, was in den Augen dieses unpartheiischen Zuschauer der natürliche und eigentliche Gegenstand der Billigung oder Missbilligung ist. Das Urteil dieses höchsten Schieds-Richters seines Verhaltens, das ist der Beifall, um welchen er vornehmlich sich zu bewerben, das ist der Tadel, welchen er vornehmlich zu fürchten gewohnt ist. In Vergleichung mit diesen entscheidenden Richterspruche scheinen ihm die Urteile aller Menschen zwar nicht ganz gleichgültig, aber doch von sehr geringem Werthe […].787

Smith zufolge erweist sich die Vorstellung des Gewissens als eine innere Instanz, in der der Handelnde einen „ganz unparteiischen und billigen Menschen“ in sich selbst vorstellt, der unser Verhalten mit eben der Gleichgültigkeit betrachtet, mit der wir das Verhalten von den anderen betrachten,788 in einem Wort einen gottähnlichen Richter: „[…] den innerlichen Richter […]. Dieser Einwohner ihres Herzenns, dieser abstracte Mensch, der Stellvertreter der Menschen, und der Statthalter der Gottheit, den die Natur zum obersten Richter aller ihrer Handlungen verordnet hat […].“789 Es gibt bei Smith somit ein völliges Zusammentreffen zwischen der Unparteilichkeit und der Vernünftigkeit des göttlichen Richters beim Gerichtshof des Gewissens.790 Die Vorstellung eines natürlichen inneren Gerichtshofs, in dem Gott als Richter und der Mensch als sich verdoppelnde Person, als Handelnder und zugleich als Richter, auftritt, ist analog zu derjenigen, die Kant in der Tugendlehre darstellt. Es gibt tatsächlich eine fast wörtliche Übereinstimmung zwischen beiden Philosophen.791 Wir haben schon oben die Stelle der TMS zitiert, wo Smith die doppelte Persönlichkeit des Handelnden im Gerichtshof des Gewissens einführt. Kant schreibt seinerseits in der Tugendlehre:

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789 790

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TMS, S. 285–286. „Wir stellen uns vor, dass wir unter den Augen eines ganz unpartheiischen und billigen Menschen unsere Handlungen verrichten, eines Menschen, der weder mit uns, noch mit denen, deren Vorteile in unserm Bezeigen mit vermittellt sind, in einer besondern Verbindung stehet, der für sie und für uns weder Vater, noch Bruder, noch Freund, sondern bloss Mensch überhaupt, und ein unpartheiischer Zuschauer ist, der unser Verhalten mit eben der Gleichgültigkeit betrachtet, womit wir das Verhalten anderer betrachten“ (TMS, S. 283–284). TMS, S. 284–285. Smith setzt die Vernunft mit dem Gewissen gleich: „Vernunft ist es, Grund-Trieb, Gewissen, der Einwohner unsers Herzens, der Mensch in uns, der große Regent und ScheidsRichter unsers Verhalten“ (TMS, S. 291). Bereits Onckel wies darauf hin: „Es ist geradezu überraschend, wie identisch die Gewissenlehre im Einzelnen sich herausstellt. Wenn der britische Moralphilosoph die Selbstverantwortung genau nach dem Vorbilde einer öffentlichen Gerichtsverhandlung schildert, von einem Angeschuldigten und einem Richter spricht, welche beide in der getheilt gedachten Persönlichkeit vereinigt seien, so lautet die Darstellung des deutschen Philosophen fast wörtlich ebenso“. Onckel, A. Adam Smith und Immanuel Kant. Der Einklang und das Wechselverhältnis ihrer Lehren über Sitte, Staat und Wirtschaft. Leipzig: Duncker & Humblot, 1877, S. 93. Vgl. auch Ishikawa, F. „Das Gerichtshof-Modell des Gewissens“. In: Aufklärung, 1992, S. 47: „Eine textgemäße Übertragung von Adam Smith […].“

Die zweifache Persönlichkeit, in welcher der Mensch, der sich im Gewissen anklagt und richtet, sich selbst denken muß: dieses doppelte Selbst, einerseits vor den Schranken eines Gerichtshofes, der doch ihm selbst anvertraut ist, zitternd stehen zu müssen, anderseits aber das Richteramt aus angeborener Autorität selbst in Händen zu haben, bedarf einer Erläuterung, damit nicht die Vernunft mit sich selbst gar in Widerspruch gerate. – Ich, der Kläger und doch auch Angeklagter, bin eben derselbe Mensch (numero idem), aber, als Subjekt der moralischen, von dem Begriffe der Freiheit ausgehenden, Gesetzgebung, wo der Mensch einem Gesetz Untertan ist, das er sich selbst gibt (homo noumenon), ist er als ein anderer als der mit Vernunft begabte Sinnenmensch (specie diversus), aber nur in praktischer Rücksicht, zu betrachten – denn über das KausalVerhältnis des Intelligibelen zum Sensibelen gibt es keine Theorie – und diese spezifische Verschiedenheit ist die der Fakultäten des Menschen (der oberen und unteren), die ihn charakterisieren. Der erstere ist der Ankläger, dem entgegen ein rechtlicher Beistand des Verklagten (Sachwalter desselben) bewilligt ist. Nach Schließung der Akten tut der innere Richter, als machthabende Person, den Ausspruch über Glückseligkeit oder Elend, als moralische Folgen der Tat; in welcher Qualität wir dieser ihre Macht (als Weltherrschers) durch unsere Vernunft nicht weiter verfolgen, sondern nur das unbedingte iubeo oder veto verehren können (MdS AA 06: 439).

Bei Kant teilt sich der Mensch vor dem Gewissen „gleichsam in zwei Personen“ auf und stellt sich in einer „verdoppelten Persönlichkeit“ vor. Damit die Vernunft sich dem Widerspruch mit sich selbst entziehen kann, muss man, so Kant, annehmen, dass derselbe Mensch zugleich Angeklagter und Ankläger ist, das heißt, zugleich homo phaenomenon, ein „mit Vernunft begabte[s]“ Wesen, und homo noumenon, das Subjekt der moralischen Gesetzgebung, der jener unterworfen ist. Bei Smith kann man den Menschen zugleich als Handelnden, Untersucher und Richter betrachten, das heißt zugleich als den Zuschauer, der untersucht und unterteilt, und das handelnde Subjekt, dessen Verhalten beurteilt und untersucht wird. Darüber hinaus nimmt Kant wie Smith Gott als die Vorstellung eines idealen Richters an (vgl. MdS AA 06: 439), der aber anders als bei Smith die Stelle eines „Dritten“ neben Verteidiger und Ankläger einnimmt und nicht als die Entfaltung der doppelten Persönlichkeit des Menschen betrachtet werden kann. Die Gewissenslehre kommt mit allen diesen Eigenschaften nur bei Kant und Smith vor. Einige Merkmale des Gewissens, die bei Kant auftauchen, sind zwar schon bei Wolff zu finden, so z. B. die Verbindung zwischen Gewissen und Vernunft,792 aber es fehlt dabei völlig die Vorstellung des Gewissens als eines inneren Gerichtshofs.793 Crusius definiert seinerseits das forum conscientiae wie

792 793

Vgl. V-MS/Vigil AA 27: 616. Wolff, C. Vernünftige Gedanken von der Menschen Thun und Lassen. Frankfurt & Leipzig 1736. § 90: „Das Gewissen ist das Urtheil, welches der Mensch von den Handlungen fället, ob sie gut oder böse sind (§ 73). Ob die Handlungen gut oder böse sind, wird daraus beurteilt, was sie in unserem innerlichen und äußerlichen Zustande, oder auch in dem innerlichen und äußerlichen Zustand anderer Menschen […]. Derowegen da die Vernunft in der Einsicht in den Zusammenhang der Wahrheiten besteht […]; so kommet das Gewissen aus der Vernunft. Der Mensch hat ein Gewissen, weil er Vernunft hat“.

225

Kant794 als einen „Gewissenstrieb“, das heißt als einen „natürlichen Grundtrieb“ des menschlichen Willens, „ein göttliches moralisches Gesetz zu erkennen“, bzw. als eine „Neigung über die Moralität, das ist, über die Gerechtigkeit oder Ungerechtigkeit seiner Thaten zu urteilen“.795 Aber auch wie bei Wolff gibt es keinen Hinweis auf das Bild des Gerichtshofs. Bei Baumgarten wird das Gewissen wiederum zwar als forum internum charakterisiert, in dem die menschlichen Handlungen erst zurechenbar werden; es gibt aber keine völlige Übereinstimmung zwischen dem Gerichtshof des Gewissens und dem göttlichen Gerichtshof. Außerdem kommt die für Kant wichtige Verdoppelung der menschlichen Persönlichkeit beim forum conscientiae nicht zu Wort.796 Nun ist die bei Smith zu findende Verinnerlichung der Vorstellung von der Verdoppelung der menschlichen Natur unter der Gestalt streitender Parteien und eines unparteiischen und vernünftigen Richters, der den Streit beilegt, entscheidend zur Bildung der Idee eines Gerichtshofs der Vernunft, also jenes Gerichtshofs, in dem der antinomische Streit der Vernunft mit sich selbst beigelegt wird und der rechtliche Akt der Erwerbung und der gerecht- bzw. ungerechtfertigte Gebrauch von Begriffen bzw. Grundsätzen, als imputatio facti, imputatio legis ad factum und imputatio iuris verstanden, geurteilt und deduziert werden.797 Hierin liegt also ein Schlüsselelement für die Entstehungsgeschichte nicht nur der kritischen Moralphilosophie, sondern auch der Kritik der reinen Vernunft und der in ihr vorhandenen politisch-rechtlichen Bilder. Wir führen als weiteren Beleg dafür, dass Smiths Gewissenslehre den Anstoß für die Verinnerlichung des unparteiischen Richters bei Kant darstellte, die folgende Stelle der Praktischen Philosophie Herder an, die sich auf die im Gewissen vorkommende moralische Selbstbeurteilung bezieht: Wenn wir Menschen hier in der Welt, nicht stets in Leidenschaften sind, sind wir doch in Trieben; in einem Temperament, das die Leidenschaft hat von Sachen zu urteilen; so ist das Urteil im ganzen leben nicht vollig unpartheyisch: – Er ist selbst Richter über sich; – Verbannt nach dem Tode die Leidenschaft, so sind wir unpartheyische Richter über uns selbst; über unsere Moral; da wird das Urteil über unser Leben weit lebhafter und wahrer seyn; wir werden die Abscheulichkeit noch klarer einsehen. – bliebe sie aber die Leidenschaft so wird das Urteil noch partheyischer (V-PP/Herder AA 27: 43).

Kant scheint in den Jahren 1765/1766798 davon auszugehen, dass das unparteiische Urteil über unsere eigenen Handlungen nicht bei der conscientia consequens, die die Handlungen beurteilt, nachdem sie durchgeführt wurden, sondern erst 794 795 796

797 798

226

V-PP/Powalski AA 27: 162; V-Mo/Collins, AA 27: 351. Crusius, C. A. Anweisung, vernünftig zu leben. Leipzig 1767, § 132. Baumgarten setzt nämlich das forum humanum dem forum divinum entgegen. Eine vollkommene Identität zwischen forum divinum und forum conscientiae wäre nur der Fall, wenn diese mit dem forum rationis völlig übereinstimmten, das ist aber aufgrund der radikalen Fehleranfälligkeit der im Gewissen zu fällenden Urteile unmöglich. Vgl. Aichele, A. „Die Ungewißheit des Gewissens. Alexander Gottlieb Baumgartens forensische Aufklärung der Aufklärungsethik“. In: Jahrbuch für Recht und Ethik, 13, 2005, S. 26–27. Vgl. oben Kapitel 3 und unten Kapitel 9. Zur genaueren Datierung der Praktischen Philosophie Herder vgl. Schwaiger, C. „Die Vorlesungsnachschriften zu Kants praktischer Philosophie in der Akademie-Ausgabe“. In: KantStudien, 91, 2000.

nach dem Tod mit der völligen Verbannung unserer Leidenschaften bzw. Triebe möglich ist. Solange wir leben, das heißt, solange die Selbstbetrachtung unserer Handlungen und ihrer Folgen durch die Leidenschaften bestimmt werden, ist es uns unmöglich, unparteiisch, also objektiv zu urteilen. Es ist zu bemerken, dass Kant hier die These Baumgartens über die absolute objektive Ungewissheit bei der moralischen Selbstbeurteilung vertritt, dass also der Hinweis auf die Verdoppelung des Menschen vor dem forum conscientiae ganz fehlt. Bereits in der zur r-Phase (1773– 1775) gehörenden Reflexion 6815, die sich am Rand der das forum externum betreffenden §§ 198–199 der Initia befindet, kommt zum ersten Mal die ausdrückliche Verdoppelung des Subjekts vor einem Gerichtshof vor. Das Subjekt wird zwar noch nicht als Kläger und Angeklagter vorgestellt, seine Vermögen werden aber, wie es auch bei der Tugendlehre der Fall ist,799 in diejenigen Parteien unterteilt, die an dem im Gewissen geführten Prozess beteiligt sind. Gewissen ist das Bewustseyn der Pflicht, in der Zurechnung seiner eigenen That aufrichtig zu seyn. Aufrichtig ist, der das Bekentnis seines Urtheils jederzeit dem Bewustseyn desselben gemäs fällt. – Das Gewissen ist also ein Gerichtshof, in dem der Verstand der Gesetzgeber, die Urtheilskraft der Ankläger und Sachwalter, die Vernunft aber der Richter ist. In der zweyten Instanz wird aufrichtigkeit verlangt (Rx 6815 AA 19: 170 (1773–1775).

Man kann bei dieser Reflexion die anfängliche Einteilung der Erkenntnisvermögen bei Kant erkennen, es fehlt aber noch die Verdoppelung des Menschen selbst als Kläger und Angeklagter im forum conscientiae, wie es Kant in der Tugendlehre darstellt. Es ist jedoch bedeutsam, dass die Rede über „Gesetzgebung“, „Sachwalter“, „Ankläger“, „Richter“ mitsamt der Unterscheidung von Vernunft, Verstand und Urteilskraft im Zusammenhang mit der Gewissenslehre und sicherlich nach Kants Lektüre der TMS vorkommt. Im Folgenden wird erörtert, wie die Juridifizierung der im Gewissen stattfindenden moralischen Beurteilung einer gleichzeitigen Juridifizierung des Erkenntnisprozesses entspricht. 7.4

Der Gerichtshof der Vernunft im Erkenntnisprozess

Die Vorstellung eines inneren Gerichtshofs, in dem der Mensch sich als verdoppelt betrachtet und an seiner Vernunft einen zu überwindenden Bruch feststellt, scheint um die Mitte der 1770er Jahre für Kant entscheidend gewesen zu sein. Genau in diesem Moment seines Werdegangs war der systematische Auf799

„Ein jeder Pflichtbegriff enthält objektive Nötigung durchs Gesetz (als moralischen unsere Freiheit einschränkenden Imperativ) und gehört dem praktischen Verstande zu, der die Regel gibt; die innere Zurechnung aber einer Tat, als eines unter dem Gesetz stehenden Falles (in meritum aut demeritum) gehört zur Urteilskraft (iudicium), welche, als das subjektive Prinzip der Zurechnung der Handlung, ob sie als Tat (unter einem Gesetz stehende Handlung) geschehen sei oder nicht, rechtskräftig urteilt; worauf denn der Schluß der Vernunft (die Sentenz), d. i. die Verknüpfung der rechtlichen Wirkung mit der Handlung (die Verurteilung oder Lossprechung) folgt: welches alles vor Gericht (coram iudicio), als einer dem Gesetz Effekt verschaffenden moralischen Person, Gerichtshof (forum) genannt, geschiehet. – Das Bewußtsein eines inneren Gerichtshofes im Menschen (‚vor welchem sich seine Gedanken einander verklagen oder entschuldigen‘) ist das Gewissen“ (MdS AA 06: 437– 438).

227

bau der zukünftigen KrV schon nahezu fertiggestellt, zumindest was ihre Haupteinteilungen betrifft.800 Es ist daher kein Zufall, dass der Begriff „Antinomie“, dessen Gebrauch, wie schon gesehen, ursprünglich juridisch ist, in einem spekulativen Zusammenhang zum ersten Mal in einer Reflexion über Metaphysik aus jener Zeit, genauer zwischen 1773–1775, auftaucht.801 Der Begriff „Antinomie“ zur Bezeichnung des Streits zwischen Sätzen kommt nun genau dann vor, wenn der in der Dissertatio besprochene dissensus inter facultatem sensitivam et intellectualem ein Widerstreit von Gesetzen innerhalb der Gesetzgebung der Vernunft und vor ihrem Gerichtshof wird. Anders gesagt wird die skeptische, polemische oder zetetische Überprüfung von gegeneinander streitenden Gründen bzw. Sätzen dann und erst dann um die Antithetik der Vernunft bereichert. In diesem Moment der Denkentwicklung Kants kommt auch nicht ohne Grund der Beitrag der juridischen Terminologie explizit und konsequenterweise vor. Es bleibt zu zeigen, wie die Struktur des forum rationis bzw. des Gewissens, das im Prinzip nur die Moralphilosophie und die Zurechnung bzw. Beurteilung der Taten betrifft, auf die theoretische Philosophie bzw. auf den Erkenntnisprozess übertragen wird. In der Anthropologie Parow (WS 1772/3) wird der Erkenntnisprozess als ein Rechtsprozess erörtert, in dem Advokaten, Parteien und ein Richter vorhanden sind. Bey Untersuchung [Unterscheidung – Ham] des Wahren und Falschem geht in uns ein ordentlicher Process vor, der Verstand ist der Richter, die beyden Urtheile sind die streitenden Partheyen und die Criteria, die ein jedes Urtheil für sich anführt, sind die Advocaten. Als denn hört der Verstand beyde Partheyen ab, allein es finden sich of Wiedersprecher, die das bey dem Verstand durch die Gunst [Kunst – Euc] zu erlangen suchen, was sie durch den Proceß nicht erlangen würden. Jedoch weil der Verstand etwas nicht gerne lange in Zweifel laßen mag: so schließt er bald die Acten und entscheidet, und denn geschieht es oft, wie bey weltlichen Gerichten, dass die schwächere Parthey bloß deshalb sieget, weil die stärkere auf ihr Recht so stoltz thut und trozet, denn der Mensch ist 800

801

228

In dem schon erwähnten Brief an Herz vom 24.11.1776 bringt Kant einen konkreten Entwurf der zukünftigen KrV zum Ausdruck: „Sie wissen: daß das Feld der, von allen empirischen Principien unabhängig urtheilenden, d. i. reinen Vernunft müsse übersehen werden können, weil es in uns selbst a priori liegt und keine Eröfnungen von der Erfahrung erwarten darf. Um nun den ganzen Umfang desselben, die Abtheilungen, die Grenzen, den ganzen Inhalt desselben nach sicheren principien zu verzeichnen und die Marksteine so zu legen, daß man künftig mit Sicherheit wissen könne, ob man auf dem Boden der Vernunft, oder der Vernünfteley sich befinde, dazu gehören: eine Critik, eine Disciplin, ein Canon und eine Architektonik der reinen Vernunft, mithin eine förmliche Wissenschaft, zu der man von denenienigen, die schon vorhanden sind, nichts brauchen kan und die zu ihrer Grundlegung sogar ganz eigener technischer Ausdrücke bedarf“ (AA 10: 199). „In den Erscheinungen ist kein absolut Erstes anzutreffen. Aber in der synthesis des Verstandes wohl. Also ist zwar kein erster Anfang, aber wohl erste Ursache, Theil [etc], Handlung etc etc. Ein erstes als phaenomenon würde als Grenze vom nichts erscheinen. Die antinomie der Vernunft ist also nichts anders als die Verschiedenheit der Vernunftprincipien, so fern die data sinnlich, d.i. abhangig von obiecten, oder intellectuel, d.i. aus dem Gemüth selbst gegeben werden, welche zwar in Ansehung (g einzelner) moglicher Erfahrungen, aber nicht des Ganzen derselben zusammenstimmen. Daher a posteriori betrachtet alle Handlungen der Menschen empirisch bestimmt sind, a priori unbestimmt und frey“ (Rx 4742 AA 17: 694).

immer geneigt demjenigen, der auf sein Recht trotzig ist, zu wiedersprechen, weil nun der Verstand so eilig mit seiner Entscheidung ist, so heißt es oft: und der Dieb ging schnell zum Strick, denn die Richter wolten eßen (V-Anth/Parow AA 25: 268, WS 1772/1773).802

Weitere Vorlesungen über Anthropologie zur gleichen Zeit803 oder später, wie die Menschenkunde,804 wiederholen dieselbe Idee, ebenso eine Reflexion über Logik, in der die Tätigkeit des Verstandes als Richter mit dem Kampf gegen Vorurteile verknüpft wird.805 Es ergibt sich daraus, dass sich die in der Logik Blomberg von 1771 bezeichnete Gleichsetzung von Skeptiker und Richter und die zwischen 1771 und 1772 durchgeführte Diskussion über das Gewissen als forum rationis, in dem es einen unfehlbaren Richter gibt, in diesem Moment von Kants Werdegang, nämlich 1772/73, auf die Vorstellung eines inneren Gerichtshofs des Erkenntnisvermögens des Subjekts hinausläuft. Kant macht hier aber noch keinen eindeutigen Unterschied zwischen Vernunft und Verstand, wie die oben zitierte Stelle der Anthropologie Parow zeigt. 802

803 804

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Es gibt eine Reflexion, in der eine sehr ähnliche Idee wiedergegeben wird: Rx 198 AA 15: 75–76. Vgl. auch Erdmann, B. Reflexionen zur Anthropologie. In: Reflexionen Kants zur kritischen Philosophie, a. a. O. Reflexion N. 218, S. 110–111: „Überzeugung, überredung, Hang zum Beyfall (s zum Zweifel und Aufschub). Subiectiv ist Überredung und Überzeugung nicht unterschieden, als dem Grade nach. (s Der, nachdem er wovon sich überzeugt hat, nicht leicht davon abzubringen ist, oder der leicht sich was ausreden läßt.) Entschiedener Beyfall. Unentschiedene Beypflichtung. Der Verstand ist richter, und die Sachen mit ihren Gruüden sind rechtende Theile; sie haben ihre advokaten, Sachwalter und auch Fürsprecher“. Die Datierung von Adickes, 1769 oder 1764–1768, scheint völlig irreführend. In keinem anderen Fragment aus dieser Zeit konzipiert Kant den Erkenntnisprozess als einen Gerichtshof und ebenso wenig Baumgarten in dem Abschnitt der Metaphysica, an dessen Rand sich die Reflexion befindet (§ 531). Anth Brauer, S. 16, Gruppe 1772/1773. „Was bestimmt den Werth in Ansehung der Ueberzeugung und Ueberredung? Der Verstand ist der Richter; aber wir haben auch Advocaten unserer Sache, wo wir zwei Partheien gemacht haben. Die zweckmäßige Beurtheilung einer Sache ist dem Verstand aufbehalten, wir haben aber auch Partheien unserer Neigungen, die uns bald auf die eine, bald auf die andre Seite ziehen, und unserm Verstand widersprechen und ihm Einwürfe machen. So geht es mit System zu (Ein System ist ein gegliedertes Ganze unserer Erkenntnisse.) Wenn ein Gelehrter ein System gemacht oder von Andern angenommen hat, so bekommt er eine Vorliebe dafür und da scheint es ihm unmöglich zu sein, etwas anzutreffen, das noch nicht in das Ganze unserer Erkenntniß verkettet ist. Wenn Einer über Sachen nachdenkt, so muß er deshalb im gemachten Systeme nicht sich selbst blos hören, sondern auch Andern überlassen zu prüfen, weil der zu starke Anhang am System macht, daß man sich durch die stärksten Gründe nicht bewegen läßt, davon abzulassen. Systeme zu Stande zu bringen, dazu wird lange Zeit und ein Mann von Talent erfordert: was der Eine darin nicht leisten kann, das leistet das Andere, die Nachkommen mit eingeschlossen. Alle wichtigen Dinge, die sich in einem Systeme gepaart haben, bringen eine Festigkeit hervor, und im Gemüthe nehmen sie einen großen Platz ein“ (Menschenkunde AA 25: 904–905, WS 1781–1782). Die letzte Schreibphase scheint die wahrscheinlichste: Rx 2521 AA 16: 403–404 (γ? η? κλ? (ν-ξ?) – 1760–1764? 1764–1768? 1769–1770? 1770–1771?). „Wir urtheilen nur durch Verstand. Bey einem Vorurtheil muß also vor dem Urtheil, d. i. der Vergleichung mit dem Verstande, etwas vorhergehen, was den Grund enthalt, die Handlung des Verstandes zu lenken, so wie partheyische Richter, noch ehe sie die Gründe gehört haben, wissen, was sie sprechen sollen“.

229

Es ist ebenfalls kein Zufall, dass Kant fortan mehrmals auf die Vorstellung des Philosophen als Gesetzgeber der Vernunft und nicht bloß als „Vernunftkünstler“ hinweist.806 Die Reflexion 1652 weist der „Weltweisheit“ im Gegensatz zu der „Weltwissenschaft“ die „Kentnis von der Bestimmung des Menschen nach Verstand und Wille [d. i.] Metaphysik und Moral“ zu. Daraus geht also hervor, dass dem echten Philosophen die Rolle des „Gesetzkundigers“ statt eines bloßen „Vernunftkünstlers“ zukommt. Man könte Weltwissenschaft und Weltweisheit unterscheiden; die erste ist Gelehrsamkeit, die Zweyte Kentnis von der Bestimmung des Menschen* nach Verstand und Wille. Metaphysik und Moral. so ist Hume der größte Weltweise. (g Mit andern worten. philosophische Wissenschaft (g Gelehrsamkeit) und philosophische Weisheit.) […]. s Der philosoph ist entweder Vernunftkünstler oder der Gesetzkundige der Menschlichen Vernunft. Es ist ein Vortrag der philosophie, davon die Wirkung so fort in der Schule gespührt wird; aber aller Einflus derselben hört im männlichen Gebrauch seiner Vernunft auf. Die andre hat in der Schule keine eigenthümliche Wirkung, aber desto mehr im Leben. Zum ersteren gehört mechanismus, zum zweyten Cultur des Genie (Rx 1652 AA 16: 67, zwischen 1760 und 1775).

Die wie auch im späteren Architektonik-Kapitel (A 839/ B 867) beschriebene Vorstellung des Philosophen als eines Gesetzgebers der Vernunft im Gegensatz zu einem bloßen Vernunftkünstler wiederholt sich in weiteren Reflexionen über Logik und Metaphysik der gleichen Zeit.807 Darüber hinaus verwendet Kant in einem zur gleichen Zeit niedergeschriebenen Kollegentwurf über Anthropologie ein aus der klassischen trias politica (Exekutive, Legislative und Judikative) stammendes Bild zur Bezeichnung der gesetzgeberischen Tätigkeit der Vernunft an-

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R. Pozzo diskutiert die Reflexionen über Logik, in denen die Entgegensetzung von Vernunftkunst und Gesetzgebung der Vernunft vorkommt, und behauptet erstaunlicherweise, dass sie „offensichtlich in Anlehnung an Reimarus“ erfolgt seien. Er gibt aber kurz danach zu, dass „die von Kant gemeinte Entgegensetzung somit klar wird: auf der einen Seite stehen Logik, Metaphysik [sic!], Mathematik, Physik usw., auf der anderen die ‚Weisheitslehre‘, ‚die Wissenschaft von Endzwecke der Menschlichen Vernunft‘“. Pozzo, R. Kant und das Problem einer Einleitung der Logik, a. a. O., S. 69. Pozzo übersieht völlig den juridischpolitischen Ursprung dieser Entgegensetzung. „[Die spekulation] Die Vernunftgelehrsamkeit und Vernunftweisheit: die erste ist spekulativ und [gehet darauf] ist eine geschiklichkeit, die quaestionen der Vernunft aufzulosen; die zweyte eine Bestimmung des Werths dieser Ausübungen des Verstandes und ihrer Grentzen. Die philosophie enthält jenes; der philosoph, welcher den Zwek der philosophie in sich enthalt, ist das letztere. Er ist nicht ein Vernunftkünstler, sondern ein Gesetzgeber der Menschlichen Vernunft (Rx 1694 AA 16: 85–86 (etwa 1773–1777)). „Die philosophie, so fern sie Gegenstände betrachtet, Gehört unter die Reihe aller andern Wissenschaften und unterscheidet sich nur der Form nach: nemlich ihre Erkenntnis ist eine Vernunfterkenntnis aus Begriffen. Die philosophie, so fern sie das Erkentnis der Gegenstände überhaupt betrachtet, ist die oberste aller Erkenntnis und die Gesetzgebung des Verstandes und der Vernunft. Logik. […]“ (Rx 4467 AA 17: 562 (etwa 1772)). Vgl. auch V-Lo/Blomberg AA 24: 52: „Es giebt Gelahrte, die sind eigentlich nichts als Vernunft-Künstler, und dergleichen nachahmende Philosophen sind gemeinhin sehr hartnäckig auf Beybehaltung ihrer einmahl gefaßten Meinungen. Andere Gelahrte aber hingegen sind wiederum gleichsahm so zu sagen die Meister und Gesetzgeber der Vernunft“.

stelle einer bloßen Ausübung exekutiver Gewalt.808 Die Rede von einer „Gesetzgebung“ der Vernunft im Gegensatz zu einer „Vernunftkunst“ wird nun in der zweiten Hälfte der 1770er Jahre, nachdem die zwei Abteilungen der Transzendentalen Logik, Analytik und Dialektik, sowie die Deduktion und die Antinomienbegriffe schon bestimmt worden sind,809 aufgegriffen und verwendet. Daraus wird ersichtlich, dass sich die Idee einer Nomothetik der Vernunft in der Philosophie ausbildet. Kant definiert in dieser Zeit die Philosophie als die Wissenschaft der Gesetzgebung der Vernunft, das heißt als die Nomothetik der reinen Vernunft.810 Kant bringt diese Idee in drei Reflexionen von 1778 zum Ausdruck: Philosophie ist die Gesetzgebung (nomothetic) der menschlichen Vernunft. Die Vernunftkunst ist die Lehre der Geschiklichkeit der Vernunft nach Regeln (nicht Gesetzen). Der philosoph ist im Erkenntnisse eben so ein ideal, wie der Weise in dem Gebrauche seines freyen Willens. Er ist das Muster alles Vernunftgebrauchs (Rx 4925 AA 18: 30 (1778)). Die philosophie ist die Gesetzkunde der Menschlichen Vernunft. Der Vernunftkünstler bedarf Regeln, der Vernunftlehrer Gesetze. leguleius. Est nomothetica rationis humanae. Scientia regularum Rationis Humanae est Logica. (Rx 5007 AA 18: 58 (1778)).

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„Vernunft ist das Vermögen, zu den besonderen Verstandeserkentnissen die regel zu finden, worunter sie enthalten sind. Also das Vermögen der principien oder maximen im Gebrauch des Verstandes. *(s dirigirt den Verstandesgebrauch nach principien (nicht empirischen Regeln). Gesetzgebende und executive Vernunft“ (Rx 1486 AA 15: 714 (etwa 1775– 1777)). „Die philosophie ist die Gesetzgebung der Vernunft; der philosoph wirft oft die subtilste speculation weg. Gesetze und Regeln der Ausübung; das Genie steht unter Gesetzen, imgleichen die Geschiklichkeit. Geschiklichkeit und Weisheit. subiective Gesetze (g Maxime ist ein subiectiv Gesetze), so fern sie mit den obiectiven stimmen, sind Maximen. Gesetze gebieten categorisch, Regeln hypothetisch (unter problematischer Bedingung)“ (Rx 1663 AA 16: 69–70 (1776)). „Die philosophie der Weg zur Weisheit. […] Die Vernunftkunst und die Gesetzgebung der Vernunft sind im Werthe sehr unterschieden. In der ersten ist die mathematic das Vornemste; im Zweyten ist viel philosophisches, welches zur Geschiklichkeit des Verstandes gehort“ (Rx 1667 AA 16: 71 (1776–1783) (1773–1775) (1764– 1768)). „Es sind alle Erkenntnisse philosophisch, d. i. zur philosophie als materialien gehorig, welche Erkenntnisse sind aus Begriffen. Die philosophie selbst aber als die Gesetzgebung der Menschlichen Vernunft besteht aus Metaphysik und Moral. Das andre gehört zur gelehrsamkeit“ (Rx 4902 AA 18: 23–24 (etwa 1776–1778)). „Ein Mensch der sich der Vernunft bedienet und sich mit derselben abgiebt kann betrachtet werden 1. als ein Vernunfts Künstler; 2. als ein Gesetzgeber der Vernunft, das ist, der nicht Normen, sondern Maximen ohnangesehen des Gegenstandes lehrt. Ein Vernunft Künstler ist derjenige der bloß speculirt. Der Mathematicus ist ein wahrer Vernunft Künstler und zwar im höchsten Grad, ein rechter Tausend Künstler. Der Philosoph kann auch einen Künstler vorstellen, allein sein Werk ist nicht so dauerhaft als des Mathematikers. Wenn der Philosoph sein Gebäude recht künstlich aufgerichtet zu haben glaubt, so kommt ein anderer, der noch künstlicher ist, und wirft es um. Allein die Philosophie kann den hohen Grad, eine Gesetz Geberin der menschlichen Vernunft zu seyn, erreichen. Als eine solche ist sie Lehre der Weißheit und hat den Rang über alle menschliche Erkenntniße“ (PhilEnz AA 29: 7–8 (1777–1782)). „Die Wißenschaft von der Gesezzgebung nennt man Nomothetica“ (V-PP/Powalski AA 27: 147).

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Eine Wissenschaft der Gesetzgebung muss, wie schon gesehen, zwei Momente umfassen, ein negatives und ein positives bzw. ein beschränkendes und ein erweiterndes Moment. Bereits in diesem Kontext kommt der Unterschied zwischen bloßer philodoxia und Philosophie im eigentlichen Sinne zum Vorschein. Die Reflexion 4970 nimmt den § 83 der KU mit der Darstellung eines breiten Begriffs von „Kultur“ vorweg, der eine im Sinne der späteren Kultur der Geschicklichkeit bei der KU verstandene Kultur der Vernunft zu „allerley Zweken“ sowie eine „Kultur der Zucht (Disziplin)“ umfasst. Gemeint ist also eine Kultur, die die Menschen vorbereitet, jeweils der „letzte Zweck“ und der „Endzweck“ der Natur zu sein (KU AA 05: 429–435). Der Reflexion 4970 zufolge darf der Philosoph kein philodoxo sein. Er muss vielmehr der Gesetzgeber der menschlichen Vernunft sein und daher diejenigen Gesetze erlassen, die die „Anmaßungen der Vernunft auf den Zweck der Menschheit einschränken“. Anders formuliert zeigt sich hier die Idee einer negativen Gesetzgebung als „einschränkende Disziplin“, die die „Gründung der obersten Maximen des spekulativen sowohl als practischen Gebrauchs der Vernunft“ ermöglicht. Die philosophie ist die Wissenschaft der Angemessenheit aller Erkentnisse mit der Bestimung des Menschen. Dazu gehort erstlich philodoxie als die cultur und instruction aller talente, d. i. die angemessenheit der Erkentnisse mit allerley Zweken. Zweytens die Angemessenheit derselben mit dem erweiterten Gebrauch der Vernunft. Drittens die Gründung der obersten Maximen des spekulativen sowohl als practischen Gebrauchs der Vernunft; hier fällt große Gelehrsamkeit, ja gar Vernunftkunst berühmter Männer weg und ist ohne philosophie. metaphysik und moral, beyde architectonisch, sind die zwey Thürangel der philosophie. Der philosoph ist kein misologe, aber ein Gesetzkundiger der menschlichen Vernunft, und die vornehmsten Gesetze sind die, welche die Anmaßungen der Vernunft auf den Zweck der Menschheit einschränken (Rx 4970 AA 18: 44–45 (1778)).811

In diesem Moment der Denkentwicklung Kants finden sich somit entwicklungsgeschichtliche Belege für die in dieser Arbeit aufgestellte systematische Hypothese. Die Reflexionen der zweiten Hälfte der 1770er Jahre weisen ebenfalls auf die Gesetzgebung bzw. Nomothetik (als Wissenschaft der Gesetzgebung) der Vernunft hin, die ihrerseits zwei Teilen hat, nämlich einen negativen und einen positiven, einen den Vernunftgebrauch einschränkenden und einen den Vernunftgebrauch erweiternden Teil – mit anderen Worten eine Disziplin und einen Kanon der reinen Vernunft: Abtheilung. Die Gesetze Nomothetic (Gesetzgebung) der reinen Vernunft: 1. negativer Theil, disciplin; 2. positiver Theil, Canon. Zuletzt Ar-

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Die Reflexion geht so weiter: „Zuerst ausgebreitete historische und Vernunfterkentnis, so wie vor einen Gesetzgeber erstlich vielheit der Bürger und der Künste. Man muß, um der Vernunft gesetze vorzuschreiben, sie kennen. Aber nur in den maximen der Vernunft stekt philosophie; die andere Erkenntnisse sind philosophisch, d.i. zu iener gehorig […]. Geschichte und Beschreibung müssen zuvorderst der Vernunft angemessen behandelt werden (nachdem sie vorher blos der wisbegierde adaeqvat waren). Nachher ihr Zusammenhang nach Maximen der Vernunft; denn ihr System nach der Gesetzgebenden idee der Vernunft“.

chitectonic. 1. transscendentale philosophie. 2. Metaphysic. Organon (Rx 5039 AA 18, (1778)).

Der auf den ersten Blick bloß juridische Begriff von Nomothetik erweist sich demnach auch als ein der Philosophie zugehöriger Begriff. Die Vernunft als Richterin und die Gesetzgebung der reinen Vernunft erfordern begriffsimmanent, dass jede Rechtssache friedlich beigelegt wird. Die Vernunft ist eine vollkommene Einheit, ein zusammenhängendes Ganzes, das daher nicht zulässt, dass es innere Widersprüche oder interne Unruhen gibt (A xiii).812 Es ist eben eine „Bedingung, überhaupt Vernunft zu haben“, dafür, dass die „Prinzipien und Behauptungen derselben einander nicht widersprechen“ (KpV AA 05: 120). Außerdem müssen die Gesetzgebung der KrV sowie die die negative und die positive Freiheit gewährende Gesetzgebung auch einen positiven und einen negativen Teil813 haben. Der folgende Abschnitt der vorliegenden Arbeit setzt sich genau mit diesem Punkt auseinander.

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Vgl. dazu Vorrede A: „[I]ch erkühne mich zu sagen, dass nicht eine einzige metaphysische Aufgabe sein müsse, die hier nicht aufgelöst, oder zu deren Auflösung nicht wenigstens der Schlüssel dargereicht worden. In der Tat ist auch reine Vernunft eine […] vollkommene Einheit“ (A xiii). Vgl. unten Kapitel 8.1.3.

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TEIL III DIE SYSTEMATISCHE UNTERSUCHUNG DER JURIDISCHEN METAPHORIK DER KRITIK DER REINEN VERNUNFT Im dritten Teil der vorliegenden Arbeit wird schließlich der eigentlich systematische Moment der Interpretation der juridischen Verfassung der KrV erreicht. Ausgehend von den in den vorangehenden Teilen durchgeführten historischen und entwicklungsgeschichtlichen Untersuchungen wird der Versuch unternommen, die KrV systematisch als Gerichtshof und Gesetzgebung der Vernunft auszulegen. Im achten Kapitel wird dargestellt, wie im Disziplin-Kapitel der KrV der negative und positive Charakter der Gesetzgebung der Vernunft sowie die prüfende und richterliche Vernunft methodologisch zum Vorschein kommen. Die „Disziplin der reinen Vernunft im dogmatischen Gebrauche“ begründet systematisch die Zurückweisung einer Nachahmung der mathematischen Methode in der Philosophie und setzt Grenzen, die von einem direkten und ostensiven Beweis in der Transzendentalphilosophie beachtet werden müssen. Die Disziplin der reinen Vernunft in Ansehung ihres polemischen Gebrauchs, ihrer Hypothesen und ihrer Beweise legt ihrerseits die weiteren Beweismittel dar, die der Vernunft zur Verteidigung ihrer Sätze zur Verfügung stehen. Daraus entsteht ein umfassenderes Bild über die Art und Weise, wie die Vernunft ihre negative und positive Gesetzgebung durchsetzen kann. Im neunten Kapitel wird das juridische Deduktionsmodell der KrV entwickelt. Gemäß dem historischen Begriff der juridischen Deduktion gilt die metaphysische Deduktion als Feststellung der quaestio facti der ursprünglichen Erwerbung der Kategorien und der Ideen. Die transzendentale Deduktion gilt hingegen als Formulierung und Entscheidung der quaestio iuris über die Rechtfertigung gewisser Gebräuche der Verstandes- und Vernunftbegriffe. Das juridische Deduktionsmodell erweist sich daher als ein komplexes Verfahren der Rechtfertigung, das die der Gültigkeit der Sätze der Transzendentalphilosophie gesetzten Grenzen respektiert und folglich auf eine andere Weise den doppelten Charakter der Gesetzgebung der reinen Vernunft aufweist. Im zehnten und letzten Kapitel werden die Transzendentale Dialektik und insbesondere die Antinomie der reinen Vernunft angesichts der umfassenden und vollständigen Gesetzgebung der Vernunft dargestellt. Im Kontext der doppelten Gesetzgebung der Vernunft lassen sich die Ansprüche der reinen Vernunft hinsichtlich ihrer Gegenstände (Gott, Seele und Welt) mit den Ansprüchen auf einen immanenten Gebrauch der transzendentalen Sätze in der Erfahrung vereinigen. Anstelle einer pauschalen Ablehnung der Ansprüche der reinen Vernunft ermöglicht das von der Gesetzgebung der Vernunft vorgesehene rechtfertigende und polemische Verfahren das Zusammenbestehen oder das „Verhältnis der Gleichheit“ der verschiedenen Vernunftgebräuche, dabei vor allem des praktisch-moralischen Vernunftgebrauchs.

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Die Disziplin der reinen Vernunft – Die negative und die positive Gesetzgebung der Vernunft

Kant hebt am Ende der Einleitung des Disziplin-Kapitels hervor, dass es bei diesem Teil der KrV nicht um den Inhalt, das Thema der Transzendentalen Elementarlehre, sondern um die Methode der Erkenntnis aus der reinen Vernunft geht (A 711/B 739). Es geht also nicht um den Stoff, nicht um die die „Materialien“ des Gebäudes der „reinen und spekulativen Vernunft“ (vgl. A 62–63/ B 87–88; A 707/B 735), sondern um die Form desselben. Dies ist genau der Gegenstand der Transzendentalen Methodenlehre, in die das Disziplin-Kapitel eingebettet ist. Kant definiert die Transzendentale Methodenlehre als transzendentales Gegenstück der praktischen Logik, also als das transzendentale Pendant dieses Teils der allgemeinen Logik (A 708/B 736).814 Es handelt sich dabei um einen schwer zu erklärenden Begriff, wie kürzlich in der Kant-Forschung bereits betont wurde.815 Die Transzendentale Methodenlehre ist für Kant grob gesprochen eine Mischung aus praktischer Logik (allgemeine Methodenlehre), besonderer Logik (die einem besonderen Verstandesgebrauch bzw. einer besonderen Wissenschaft gehörige Logik) und zuletzt und vor allem aus dem, was den der „Lehrart der gelehrten Erkenntnis“ gewidmeten Teil von Meiers Vernunftlehre816 ausmacht.817 Meier schreibt jeder einzelnen Wissenschaft eine besondere prakti814

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Vgl. u. a. Rx 3332 AA 16: 783; Rx 3333 AA 16: 784; Rx 3325 AA 16: 781; V-Lo/Busolt, AA 24: 682. Die Erkenntnis einer allgemeinen Methodenlehre als Teil der praktischen Logik hängt außerdem mit dem Aufbau der herkömmlichen Logik zusammen, der auch eine Begriffs-, eine Urteils- und eine Schlusslehre umfasst. Vgl. Brandt, R. The Table of Judgments: Critique of Pure Reason A 67-76; B 92-101. Atascadero: Ridgeview Publishing Company, 1995, S. 67–110; Capozzi, M. Kant e la Logica. Vol. I. Napoli: Bibliopolis, 2002, S. 271–310. Abgesehen von den die Begriffe, Urteile und Schlussfolgerungen jeweils betreffenden operationes mentis lehnt sich Kant an seine Vorläufer an und fügt der allgemeinen Logik noch eine Methodenlehre hinzu, die, wie die Modalität der Urteile, nicht mit dem Inhalt der Erkenntnis, sondern nur mit ihrem „Wert“ zu tun hat. Brandt bedient sich dieser quellengeschichtlichen Feststellung, um die „pragmatische Gewißheit“ (vgl. Capozzi, M. Kant e la Logica. Vol. I, a. a. O., S. 301) der Vollständigkeit der kantischen Urteilstafel nachzuweisen: „For the table of judgments, with its four headings, actually formulates the essential elements of the doctrines of concepts, judgments, inferences, and method, and it thus instantiates in a completely novel way the structure of more recent Aristotelian logic (especially since the Port Royal Logic) with its tet-books divided into four parts; And the Critique itself, with its categories (concepts), principles (judgments), dialectic (syllogisms), and finally the Doctrine of Method, takes on the four-fold structure of the table of judgments“. Brandt, R. The Table of Judgments, a. a. O., S. 7. Im Folgenden wird jedoch argumentiert werden, dass der „logische Ursprung“ der Transzendentalen Methodenlehre für das Verständnis des Aufbaus und der Ziele dieses Teils der KrV nicht ausreicht, ja nicht einmal wesentlich dafür ist. Vgl. Rivero, G. Zur Bedeutung des Begriffs Ontologie bei Kant, a. a. O., S. 16. Meier, G. F. Vernunftlehre. Halle 1752, §§ 449ff.; Meier, G. F. Auszug aus der Vernunftlehre, a. a. O., §§ 414ff. La Rocca zufolge liegt die Schwierigkeit, die Transzendentale Methodenlehre mit den entsprechenden Lehren der herkömmlichen Logik (praktische Logik, allgemeine Methodenlehre usw.) eindeutig zu verknüpfen, darin, dass für Kant das Methodenproblem stets mit der Frage nach der systematischen Anordnung der Erkenntnis zusammenhängt. Anders als z. B. bei Wolff und Meier, „il metodo diventa [bei Kant] in primo luogo quello di

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sche Logik818 zu, in deren Rahmen die „Disziplin“ als Vorschrift zur Vermeidung von Fehlern einen der Bestandteile der wissenschaftlichen Methode ausmacht.819 Wenn man nun in Betracht zieht, dass Kant die KrV als „Traktat von der Methode“ konzipiert (B xxii), ist es gewiss überraschend, dass dieses entscheidende Kapitel zum methodologischen Aufbau der KrV so wenig Aufmerksamkeit in der Kant-Forschung erweckt hat. Die Transzendentale Methodenlehre ist nicht nur die „Eingangstür“ zum Gebäude der KrV, sondern auch ihr „erster theoretischer Kern“,820 genauer gesagt ihr methodologischer Kern. Die Auseinandersetzung mit der Transzendentalen Analytik und Dialektik setzt freilich die Einsicht in die Lehre über die Einschränkung der Gültigkeit der mathematischen Methode in der reinen Philosophie, die Anweisungen zu dem polemischen Gebrauch der Vernunft, die Rolle der Hypothesen, die Eigenart der transzendentalen Beweise der reinen Vernunft und weitere Lehrstücke voraus, die aber lediglich im Disziplin-Kapitel ausführlich behandelt werden. Aus diesem Grund wird in der vorliegenden Arbeit das Disziplin-Kapitel eingehend untersucht, bevor die Antinomie und die Deduktion zum Thema gemacht werden. Wie bereits gesagt, bezieht sich die Sekundärliteratur nicht so oft auf die Disziplin-Kapitel wie auf andere Teile der KrV. Giorgio Tonelli ist hier eine Ausnahme. Er versuchte die KrV im Rahmen der Logiktradition des 18. Jahrhunderts zu interpretieren und hat damit die Bedeutung des Disziplin-Kapitels hervorgehoben. Dennoch hat auch er auf eine eingehende Untersuchung der „relationship between the Transcendental Dialectic as a discipline of reason, and the Discipline of Reason in the Theory of Method“ verzichtet, weil eine solche

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construzione – e non solo di espozione o di perfezionamento“. La Rocca, C. „Instruzione per construire. L’ Dottrina del metodo nella prima Critica“. In: Soggetto e mondo. Studi su Kant. Venezia: Marsilio, 2003, S. 196. Vgl. auch Stuhlmann-Laeisz, R. Kants Logik. Eine Interpretation auf der Grundlage von Vorlesungen, veröffentlichten Werken und Nachlaβ. Berlin & New York: De Gruyter, 1976, S. 10; Brandt, R. The Table of Judgments, a. a. O.; Capozzi, M. Kant e la Logica, a. a. O.; Pozzo, R. Kant und das Problem einer Einleitung in die Logik, a. a. O.; Tonelli, G. Kant’s Critique Within Modern Logic, a. a. O.; Riedel, M. Urteilskraft und Vernunft. Kants ursprüngliche Fragestellung. Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 1989. Meier, G. F. Vernunftlehre, a. a. O., § 451: „Die Ordnung und ihre Beschaffenheit [der Lehrart] hänget von der Natur der Sachen ab […]. So viele Arten der Erkenntnis es demnach gibt, so viele Lehrarten gibt es auch“. Zu den Einteilungen der Logik und zu Kants Abrücken von der Wolff’schen Einteilung in theoretische und praktische Logik vgl. Rumore, P. „Logica e Metodo. La presenza di Georg Friedrich Meier nella ‘Disciplina della Ragion Pura’“. In: Studi Kantiani, 24, 2011, S. 94. Rumore argumentiert, es sei Meier und nicht Baumgarten gewesen, der die praktische Logik mit Methodenfragen explizit und vehement verbunden habe; ebd., S. 95. Für Meier war in der Tat die praktische Logik eine „ausübende Vernunftlehre“. Meier, G. F. Vernunftlehre, a. a. O., § 13. „Man theilt auch die Vernunftlehre ein, in die theoretische und practische, oder die lehrende und ausübende Vernunftlehre. In jener werden die Regeln der gelehrten Erkenntnis und des gelehrten Vortrags dargestalt abgehandelt, daß die nicht auf besondere Arten des Erkenntnis und des Vortrags angewendet werden, und dieses letzte geschieht in der practischen Vernunftlehre“. „Pertanto, a dispetto del disinteresse dimostrato da una lunghissima tradizione esegetica, la Methodenlehre non rappresenterebbe solo – come si è voluto di recente sostenere – la ‘porta d’ingresso’ nell’edificio della Critica, ma addirittura il suo primo nucleo teorico“. Rumore, P. „Logica e Metodo“, a. a. O., S. 93.

Untersuchung zu „many far-reaching and difficult problems“ Anlass gäben.821 Es wäre nicht übertrieben zu behaupten, dass fast alle Interpreten Tonellis Urteil implizit folgen und die Beziehung zwischen dem Disziplin-Kapitel und der Transzendentalen Logik übersehen. Das Ziel des vorliegenden Kapitels ist es, diese „far-reaching and difficult problems“ anzugehen und damit die Grundlagen für eine Auseinandersetzung damit zu schaffen, wie das Disziplin-Kapitel mit der Transzendentalen Logik zusammenhängt. Ohne eine gründliche und eingehende Untersuchung dieses bedeutenden Kapitels der Transzendentalen Methodenlehre ist es nicht möglich, den doppelten Zweck Kants in der KrV umfassend zu verstehen, nämlich den spekulativen Vernunftgebrauch zu disziplinieren und damit den praktischen Vernunftgebrauch zu ermöglichen, anders gesagt die negative und die positive Gesetzgebung der reinen Vernunft in ihr Recht zu setzen. Anders als bei der neuen Literatur zur Transzendentalen Methodenlehre, genauer zur Disziplin der reinen Vernunft,822 wird das Disziplin-Kapitel nicht grundsätzlich in Bezug auf seine Verankerung in der Logiktradition, sondern als Voraussetzung für das Verständnis der juridischen Verfassung der KrV analysiert. Es ist kein Zufall, dass von allen Haupteilen der KrV im Disziplin-Kapitel die juridischen Metaphern am häufigsten vorkommen. Die im zweiten Teil der vorliegenden Arbeit bereits entwicklungsgeschichtlich dargestellten zwei Momente der Gesetzgebung der reinen Vernunft, das negative und das positive, werden nun systematisch artikuliert. Dazu bedarf es eines besonderen juridischen Jargons. 8.1

Die Disziplin der reinen Vernunft als negative Gesetzgebung

8.1.1

Die (Selbst-)Disziplin der Vernunft

Kant hebt mehrmals hervor, dass die Irrtümer der herkömmlichen Metaphysik sich daraus ergeben, dass die „Warnungen“ (A 295–296/B 352) bzw. die „Zügelung“ (vgl. A 877/B 849) der Kritik übersehen werden. Wie Kant am Anfang des Disziplin-Kapitels deutlich macht, haben die negativen Urteile in der Tat einen Nutzen und ein „eigentümliches Geschäft“, nämlich „den Irrtum abzuhalten“ (A 709/B 737). Dieses Geschäft ist sehr dringend, weil man feststellt, dass die menschliche Erkenntnis in engen Grenzen eingeschlossen ist und als „sehr betrüglichen“ Schein bezeichnet werden kann. Der Hinweis auf die transzendentale Dialektik ist eindeutig. Wenn daher der Irrtum durchaus üblich und sogar natürlich ist, wird der „negativen Unterweisung“ eine größere Bedeutung beigemessen als der „positiven Belehrung“, die trotz ihres Zwecks Anlass dazu geben kann, die Erkenntnis zu erweitern und zu neuen und weiteren Irrtümern zu gelangen. Wo aber die Schranken unserer möglichen Erkenntniß sehr enge, der Anreiz zum Urtheilen groß, der Schein, der sich darbietet, sehr betrüglich und der Nachtheil aus dem Irrthum erheblich ist, da hat das Negati-

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Tonelli, G. Kant’s Critique Within Modern Logic, a. a. O., S. 101. Es ist hier vor allem Pozzo, Rumore, Tonelli und Brandt zu nennen. Vgl. die Fußnoten oben.

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ve der Unterweisung, welches bloß dazu dient, um uns vor Irrthümern zu verwahren, noch mehr Wichtigkeit, als manche positive Belehrung, dadurch unsere Erkenntniß Zuwachs bekommen könnte (A 709/B 737).

Kant nennt die „Disziplin“ diesen „Zwang“, „wodurch der beständige Hang von gewissen Regeln abzuweichen eingeschränkt und endlich vertilgt wird“ (ebd.). Dass die Vernunft einer Disziplin bedarf, die „ihren Hang zur Erweiterung über die engen Grenzen möglicher Erfahrung bändige und sie von Ausschweifung und Irrthum abhalte“ (A 711/B 739; vgl. A 795/B 823), ist etwas, so Kant, das die Vernunft „demütigt“ (A 710/B 738). Deshalb muss sie selbst die schwierige Aufgabe der Selbstbeschränkung und Selbstzensur bei ihrem spekulativen – nicht bei ihrem empirischen – Gebrauch übernehmen. Kurz gesagt: Die reine Vernunft bedarf bei ihrem spekulativen Gebrauch einer Kritik. In den einzelnen Wissenschaften wie der Mathematik und der Naturwissenschaft, in denen nur gelegentlich Irrtümer begangen werden, benötigt man zwar keine „Disziplin“, weil hier entweder die Erfahrung oder die sinnliche Darstellung der Begriffe in der reinen Anschauung als „Probierstein“ der Wahrheit gilt. In der Wissenschaft der reinen Vernunft aber, in der die Begriffe sich nicht anschaulich konstruieren lassen, bedarf es unausweichlich einer Kritik, die, anders als eine bloße Zensur, die „Ursachen“ der Irrtümer aufspürt (A 711/ B 739).823 In der Idee einer Kritik als Disziplin ist also auch die der negativen Gesetzgebung der Vernunft inbegriffen, bei welcher die Vernunft dem ihrem spekulativen und auch praktischen Gebrauch drohenden „System von Täuschungen und Blendwerken“ vorbeugt und es durch ein „System der Vorsicht und Selbstprüfung“ ersetzt. Wo aber, wie in der reinen Vernunft, ein ganzes System von Täuschungen und Blendwerken angetroffen wird, die unter sich wohl verbunden und unter gemeinschaftlichen Principien vereinigt sind, da scheint eine ganz eigene und zwar negative Gesetzgebung erforderlich zu sein, welche unter dem Namen einer Disciplin aus der Natur der Vernunft und der Gegenstände ihres reinen Gebrauchs gleichsam ein System der Vorsicht und Selbstprüfung errichte, vor welchem kein falscher vernünftelnder Schein bestehen kann, sondern sich sofort unerachtet aller Gründe seiner Beschönigung verrathen muß (A 711/B 739; Hervorh. d. Verf.).

Die Selbstdisziplin der Vernunft als Kritik und negative Gesetzgebung geht die Ursachen bzw. die Quellen der Irrtümer an und deckt folglich die Wurzeln des transzendentalen Scheins auf. Wie die Transzendentale Dialektik verdeutlicht, geht die Selbstdisziplin der Vernunft zuerst die Ansprüche der Metaphysik auf 823

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Über die Unterscheidungen zwischen „Zensur“ und „Disziplin“ bzw. „Kritik“ vgl. A 760– 761/B 788-789. Eine Zensur ist ein Verfahren, das „die Facta der Vernunft der Prüfung und nach Befinden dem Tadel“ unterwirft (A 760/B 788). Bei der Disziplin bzw. Kritik ist dagegen das Prüfungsobjekt nicht die Facta der Vernunft, sondern „die Vernunft selbst nach ihrem ganzen Vermögen und Tauglichkeit zu reinen Erkenntnissen a priori […], wodurch nicht bloß Schranken, sondern die bestimmten Grenzen derselben, nicht bloß Unwissenheit an einem oder anderen Theil, sondern in Ansehung aller möglichen Fragen von einer gewissen Art und zwar nicht etwa nur vermuthet, sondern aus Principien bewiesen wird“ (A 761/B 789). An derselben Stelle versteht Kant Hume und den dogmatischen Skeptiker als Zensoren, nicht als Kritiker bzw. Gesetzgeber der Vernunft (A 767/B 795).

eine synthetische Erkenntnis a priori an, also ihren Anspruch, eine echte Wissenschaft der Vernunft zu sein. Dies ist der negative Nutzen der Kritik, die eigentliche Funktion einer negativen Gesetzgebung. Das Bild von Kant als „Allzermalmer der Metaphyik“ würde daher zutreffen, wenn die Aufgabe der Kritik nur darin bestünde; aber im Anschluss an diese negative Aufgabe der „Läuterung“ (A 11/B 25)824 übernimmt die Kritik auch eine positive Funktion, offenbart sie ihre positive Gesetzgebung. Am Anfang des Kanon-Kapitels, auf das das Disziplin-Kapitel folgt, erläutert Kant diese doppelte Rolle der Gesetzgebung der Vernunft. Mit der Aufdeckung der Quelle des Irrtums weist die Kritik als Selbstdisziplin der Vernunft die Ansprüche der reinen spekulativen Vernunft in ihre Grenzen, und zugleich schränkt sie die „vernünftelnden Anmaßungen“ desjenigen ein, der die Möglichkeit eines synthetischen und erweiternden Gebrauchs der reinen Vernunft überhaupt vollständig zurückweist. Die Kritik als negative Gesetzgebung stellt damit die Vernunft „gegen alle Angriffe sicher“. Es ist demüthigend für die menschliche Vernunft, daß sie in ihrem reinen Gebrauche nichts ausrichtet und sogar noch einer Disciplin bedarf, um ihre Ausschweifungen zu bändigen und die Blendwerke, die ihr daherkommen, zu verhüten. Allein andererseits erhebt es sie wiederum und giebt ihr ein Zutrauen zu sich selbst, daß sie diese Disciplin selbst ausüben kann und muß, ohne eine andere Censur über sich zu gestatten, imgleichen daß die Grenzen, die sie ihrem speculativen Gebrauche zu setzen genöthigt ist, zugleich die vernünftelnde Anmaßungen jedes Gegners einschränken, und mithin alles, was ihr noch von ihren vorher übertriebenen Forderungen übrig bleiben möchte, gegen alle Angriffe sicher stellen könne (A 795/B 823).

Der „größte und vielleicht einzige Nutzen aller Philosophie der reinen Vernunft“, so fährt Kant fort, „ist also wohl negativ“, „da sie nämlich nicht als Organon zur Erweiterung, sondern als Disciplin zur Grenzbestimmung dient und, anstatt Wahrheit zu entdecken, nur das stille Verdienst hat, Irrthümer zu verhüten“ (ebd.). Als notwendiges Pendant zur negativen Aufgabe einer Grenzbestimmung der Ansprüche der spekulativen Vernunft müssen aber die Gegner einer Philosophie der reinen Vernunft überhaupt ihre Ansprüche einschränken. Zwar erweisen diese sich zunächst hinsichtlich der Unmöglichkeit einer spekulativen Erkenntnis der reinen Vernunft als berechtigt, aber sie entpuppen sich insofern als maßlos, als sie eine solche Unmöglichkeit demonstrieren und davon auf die Unmöglichkeit jeglichen synthetischen Vernunftgebrauchs a priori schließen. Die disziplinäre Einschränkung der spekulativen Vernunft, die sowohl ihr als auch ihren Gegnern Grenzen setzt, begründet und legitimiert daher den praktischen Gebrauch der reinen Vernunft. Dadurch, dass er die „Freiheit“ der Vernunft im spekulativen Bereich einschränkt, ermöglicht der Gerichtshof der Vernunft zugleich die Erweiterung ihrer Freiheit im praktischen Bereich. Anders gesagt: Die Kritik ist eine Disziplin im eigentlichen Sinne eines negativen Wissens, aber zu824

„Eine solche würde nicht eine Doctrin, sondern nur Kritik der reinen Vernunft heißen müssen, und ihr Nutzen würde in Ansehung der Speculation wirklich nur negativ sein, nicht zur Erweiterung, sondern nur zur Läuterung unserer Vernunft dienen und sie von Irrthümern frei halten, welches schon sehr viel gewonnen ist“ (A 11/B 25). Es ist bedeutsam, dass der Textbereich „in Ansehung der Speculation“ ein Zusatz von B ist.

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gleich im Sinne des positiven Gegenstücks einer Ermöglichung bzw. Erweiterung des Vernunftgebrauchs jenseits des spekulativen Bereichs.825 Am Ende des Disziplin-Kapitels bringt Kant dies zum Ausdruck: Die Kritik wird den dogmatischen Schein leicht entdecken, und die reine Vernunft nötigen, ihre zu hoch getriebene Anmaßungen im spekulativen Gebrauch aufzugeben, und sich innerhalb die Grenzen ihres eigentümlichen Bodens, nämlich praktischer Grundsätze, zurückzuziehen (A 794/ B 822).

Auf die spekulative Vernunft kommt die negative, sprich die „nicht erweiternde, sondern läuternde“ Aufgabe (KpV AA 05: 135),826 die darin besteht, die „zu hoch getriebenen Anmaßungen“ der Vernunft in ihrem spekulativen Gebrauch einzuschränken und dadurch ihren positiven Gebrauch in einem anderen Bereich zu ermöglichen, nämlich in jenem der Moral. 8.1.2 Die Kritik als Disziplin. Die Quelle des Disziplinbegriffs in der Logik Die ersten Hinweise Kants auf das Begriffspaar „Disziplin/Doktrin“ um die Mitte der 1760er Jahre sind im Allgemeinen unklar und unbestimmt.827 Im Laufe der Herausbildung der späteren kritischen Philosophie gegen Ende der 1760er Jahre sowie Anfang und Mitte der 1770er Jahre bekommen jedoch beide Begriffe einen genaueren Sinn, der dem der kritischen Periode nähersteht. Er hängt mit den Begriffen zusammen, die Kant im Rahmen der negativ-skeptischen Vorbereitung zu der „positiven“ Metaphysik in der zweiten Hälfte der

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Tonelli erkennt die Gleichsetzung zwischen der Kritik und einer negativen Disziplin, ohne aber auf das „positive“ (deswegen aber nicht „doktrinale“) Gegenstück aufmerksam zu machen: „Discipline is a term belonging to methodology, and it is also applied to some elemental sections of the Critique. In fact, the whole of transcendental logic, in conection with the speculative use of pure reason, is a discipline. But it seems that the discipline of transcendental logic centers on transcendental dialectic. Philosophy is not an organon for extending knowledge, but it is basically a discipline for the limitation of pure reason. Sometimes the terms discipline and censure seem to be synonyms“. Tonelli, G. Kant’s Critique of Pure Reason Within Modern Logic, a. a. O., S. 116f.; vgl. auch S. 100f. Die Unmöglichkeit Tonellis, ein positives Gegenstück zu der Disziplin zu finden, erklärt sich aus seiner völligen Vernachlässigung der juridischen Verfassung der KrV. „Ist aber die Vernunft einmal im Besitze dieses Zuwachses, so wird sie als speculative Vernunft (eigentlich nur zur Sicherung ihres praktischen Gebrauchs) negativ, d. i. nicht erweiternd, sondern läuternd, mit jenen Ideen zu Werke gehen, um einerseits den Anthropomorphism als den Quell der Superstition, oder scheinbare Erweiterung jener Begriffe durch vermeinte Erfahrung, andererseits den Fanaticism, der sie durch übersinnliche Anschauung oder dergleichen Gefühle verspricht, abzuhalten; welches alles Hindernisse des praktischen Gebrauchs der reinen Vernunft sind, deren Abwehrung also zu der Erweiterung unserer Erkenntniß in praktischer Absicht allerdings gehört, ohne daß es dieser widerspricht, zugleich zu gestehen, daß die Vernunft in speculativer Absicht dadurch im mindesten nichts gewonnen habe“ (KpV AA 05: 135–136). NEV AA 02: 307, 310; AA 10: 70. Tonelli argumentiert, dass Kant die Begriffe von Disziplin und Doktrin ursprünglich als Synonyme von „Wissenschaft“ verwendet. Aus den genannten Stellen lässt sich dieser Schluss allerdings nicht bestätigen. Tonelli, G. Kant’s Critique of Pure Reason Within Modern Logic, a. a. O., S. 38.

1760er Jahre formuliert hatte.828 Die Reflexionen 3388829, 1579830, 4455831 u. a. belegen, dass seit Kants ersten Überlegungen zu diesem Thema die Idee einer Kritik der reinen Vernunft mit einer „Disziplin“, einer „negativen Lehre“ bzw. einem bloßen Kanon zum richtigen Gebrauch der Vernunft, jedoch nicht mit einer „Doktrin“, einer positiven Lehre bzw. einem Organon des reinen Vernunftgebrauches verknüpft wird.832 Kants Idee, dass die Disziplin der Doktrin voranzugehen habe, ist eine radikale Umkehrung der besonders von Baumgarten 833 und Meier vertretenen „gelehrte zusammengesetzte Lehrart“. Meier erhebt eindeutig den Anspruch, dass die Doktrin vor der Disziplin kommen muss: Eine Doctrin, eine Lehre (doctrina) ist ein Inbegriff dogmatischer Wahrheiten, welche einen und eben denselben Gegenstand haben. Eine Disciplin (disciplina) ist eine Lehre in so ferne sie methodisch erkannt wird. Eine demonstrirte Disciplin ist eine Wissenschaft (scientia obiective spectata). Die ge828

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Vgl. Brief an Mendelssohn von 1766: „Was aber den Vorrath vom Wissen betrifft der in dieser Art öffentlich feil steht so ist es kein leichtsinniger Unbestand sondern die Wirkung einer langen Untersuchung, daß ich in Ansehung desselben nichts rathsamer finde als ihm das dogmatische Kleid abzuziehen und die vorgegebene Einsichten sceptisch zu behandeln wovon der Nutze freylich nur negativ ist (stultitia caruisse) aber zum positiven vorbereitet; denn die Einfalt eines gesunden aber ununterwiesenen Verstandes bedarf um zur Einsicht zu gelangen nur ein organon; die Scheineinsicht aber eines verderbten Kopfs zuerst ein catarcticon“ (AA 10: 70–71). Rx 3388 AA 16: 809 (1770–1776): „Die institution ist entweder doctrin (positiv) oder disciplin (negativ). Das organon der letzteren ist critik“. Rx 1579 AA 16: 21 (1760–1775): „Critik (disciplin) […]; Als Catarcticon ist sie am nützlichsten; als critick (disciplin)“. Rx 4455 AA 17: 557–558 (1772): „(g) Sie ist disciplin der reinen Vernunft. Aesthetik: Critic des Geschmaks.) idee der metaphysik: Ist sie eine Critick oder doctrin: ist ihr verfahren zetetisch oder dogmatisch? Es ist die Frage: was kann man [ohne] durch blosse Vernunft ohne alle Erfahrung erkennen (mathematik, Moral)? welches sind die Qvellen, die Bedingungen und grentzen. Die transscendentalphilosophie ist critick der reinen Vernunft. studium des subiects, Verwechselung des subiectiven mit obiectivem, Verhütung“. Tonelli, G. Kant’s Critique of Pure Reason Within Modern Logic, a. a. O., S. 37–59, insb. S. 41: „Thus, it seems that in fact within philosophy [for Kant around 1770] three different levels are distinguished: (1) propaedeutics or the science of method, which ist merely refutatory or negative, and which is occasionally called a discipline; (2) metaphysics as an organon for intellectual knowledge, containing the first principles of the pure use of the understanding, and corresponding to ontology and rational psychology, and (3) a dogmatic science of God and of morals“. Siehe Baumgarten, A. G. Acroasis logica in Christianum L. B. De Wolff. Halle 1761; Nachdruck Hildesheim: Olms, 1973. Diese Schrift ist ein Kommentar der lateinischen Logik Wolffs, den Baumgarten in seinen Vorlesungen an der Universität von Halle benutzte. Vgl. § 356: „Doctrina methodice proposita, in formam disciplinae* – et disciplina demonstrata in formam scientiae redigitur** – *eine Lehre wird ordentlich vorgetragen **bekommt die Gestalt einer Wissenschaft“. In der 1773 in Halle von Johann Gottliebt Töllner herausgegebenen Edition der Acroasis liest man in § 513: „Propositio ex characteribus veritatis internis cognoscibilis dogma* dicitur: unde omnis propositio communis dogma est. Complexus dogmatum eiusdem subiecti aut obiecti doctrina** est: quae si methodice proponitur, in formam disciplinae*** redigitur. Disciplina demonstrata sit scientia**** (obiective sumta). Complexus doctrinarum ad unum totum connexarum systema***** est – * eine Lehr-Wahrheit, oder ein gemeiner Satz, **“. P. Rumore bemerkt, dass der Begriff „Disziplin“ in den aeta wolffiana völlig ausbleibt. Rumore, P. „Logica e Metodo“, a. a. O., S. 97.

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lehrte Erkenntnis ist immer im Anfange eine Doctrin, alsdenn giebt man ihr die Gestalt einer Disciplin, und endlich die Gestalt einer Wissenschaft, und alsdenn hat sie ihre grösste Vollkommenheit erreicht.834

Wenn man eine streng deduktive und als scientia objective spectata verstandene Wissenschaft835 aufbauen will, dann muss dem ein Inbegriff dogmatischer Wahrheiten der Disziplin als methodische, nach bestimmten Regeln ausgeführte Anordnung solcher dogmatischen Wahrheiten vorangehen. Erst dann kann man die Wissenschaft als „demonstrierte Disziplin“ aufbauen. Bei Meier ist die Disziplin daher die methodische Anordnung, die der Wissenschaft vorhergeht, und niemals eine Vorübung bzw. Propädeutik zu einer Doktrin oder ein nicht dogmatisches oder kritisches Wissen. Bei Kant hingegen, der nicht die dogmatische Methode, sondern den Dogmatismus ablehnt (vgl. B xl–xli), muss die Disziplin der Doktrin vorangehen. Das bedeutet, dass die Kritik kommt vor der Metaphysik im „positiven“ Sinne einer Wissenschaft bzw. Doktrin, so wie die negative Gesetzgebung vor der positiven Gesetzgebung kommt.836 Wie schon gezeigt wurde, findet sich diese Idee bereits im fünften Abschnitt der Dissertatio, in dem Kant die Besonderheit der Metaphysik gegenüber der Mathematik und den Naturwissenschaft darin sieht, dass die Methode dem Verstandesgebrauch (usus intellectus) vorangeht (MSI, AA 02: 410–411) oder dass der (negative) elenktische Zweck des Verstandes einem möglichen (positiven) dogmatischen Zweck des834 835 836

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Meier, G. F. Auszug aus der Vernunftlehre, a. a. O., § 434, Hervorh. d. Verf. Die Werke von C. Wolff sind in dieser Hinsicht paradigmatisch. Vgl. Arndt, H. W. Methodo scientifica pertractatum. a. a. O. In der vermutlich Anfang der 1780er Jahre niedergeschriebenen Logik Pölitz findet man eine kritische Anmerkung Kants zu dieser Stelle des Auszugs. Kant lehnt die Definition der Wissenschaft als demonstrierte Disziplin (oder Doktrin) ab. Stattdessen verwendet er den Begriff „Kritik“ zur Bezeichnung einer der Doktrin und der Disziplin vorangehenden „Lehre“ zur Verhütung von Fehlern: „Man muß unterscheiden doctrin und disciplin. Jede Institution kann negativ seyn d. h. vor Irtümern bewahren, denn ist sie disciplin, oder positiv d. h. Erkenntniße erweitern, denn ist sie doctrin. – Kritik ist das, was vorhergeht ehe ich Erkenntniße als Doctrin oder disciplin vortrage. Sie ist das Nachforschen der Quellen, woraus die Erkenntniß entspringt, das ist aber für den Lehrer. Wißenschaft sagt der Autor ist demonstrirte Disciplin, das ist falsch, sie kann doctrin seyn, und kann Wißenschaft sein ohne Demonstration wie z. E. Historie“ (V-Lo Pölitz AA 24: 600). Es ist bezeichnend, dass es in der früheren Logik Blomberg (1771) eine Anmerkung zu derselben Stelle des Auszugs gibt, in welcher der Begriff von „Kritik“ als vorangehende Lehre noch nicht auftaucht. Die Disziplin wird hier außerdem im Sinne einer methodischen Doktrin, wie bei Meier, erläutert (vgl. V-Lo/Blomberg AA 24: 293). In der vermutlich in der ersten Hälfte der 1770er Jahre und nach der Logik Blomberg niedergeschriebenen Logik Bauch kommt jedoch der bereits „kritische“ Unterschied zwischen Disziplin und Doktrin vor. Kant weist sogar darauf hin, dass es einer „Disziplin der reinen Vernunft“ bedarf, ohne aber „Kritik“ und „Disziplin“ gleichzusetzen. „Jede Ganze von Erkentnis kann eine Doctrin oder Disciplin seyn. Es giebt Wissenschaften, wo keine Doctrin, sondern nur lauter Disciplin ist. Alle Disciplin ist eine Art von Bildung des Subjects; so fern ihm ein gewisser Zwang angethan wird. Eine Disciplin dient dazu, um zu verhindern, daß unsre Erkentnisse nicht ausschweifen. Sie ist jederzeit negativ […]. Das Vermögen der Vernunft aus der Erfahrung bedarf wenig Disciplin; aber die reine Vernunft, wo wir über die Gränzen der Vernunft urtheilen, braucht eine Disciplin der menschlichen Vernunft“. Kant, I. Logik Bauch. In: Logik Vorlesung. Hrsg. von Tillmann Pinder. Hamburg: Meiner, 1998, S. 208. Vgl. Rumore, P. „Logica e Metodo“, a. a. O., S. 101f.

selben vorangeht (MSI, AA 02: 395–396).837 Die kritische Philosophie stellt somit die schulphilosophische Lehre auf den Kopf: Was Doktrin war, muss fortan als Disziplin betrachtet werden. Was anfänglich vor einer doctrin der reinen Vernunft gehalten wurde, ist ietzt ihre disciplin, d. i. ihre Zucht und animadversion. Die disciplin ist eine Einschränkung der Gemüthskraften oder Neigungen in ihre geziemende Schranken. Die disciplin ist negativ. Nicht dogmatisch. Der Geist muß nicht allein unterwiesen werden: institution, sondern disciplinirt werden, d. i. seine Unarten ihm abgewöhnt werden (Rx 5044 AA 18: 71 (1776)).

Die Idee einer Disziplin der reinen Vernunft ist mit der im letzten Kapitel diskutierten Konzeption einer negativen Metaphysik eng verknüpft. Die ursprüngliche Auffassung der Kritik als propädeutische Lehre zur positiv-dogmatischen Metaphysik erweist sich als Korrelat der späteren Bezeichnung der Kritik als Selbstdisziplin und als die positiv vorbereitende negative Gesetzgebung der Vernunft.838 Die Disziplin weist ebenso auf einen weiteren Begriff hin, den Kant in den 1770er Jahren mit dem Begriff des transzendentalen Scheins verbindet, nämlich die phaenomologia generalis. Kant erwähnt diesen Begriff in dem Brief an Lambert vom 2. September 1770 (AA 10: 98) und auch später in dem Brief an Herz vom Februar 1772 (AA 10: 129). Im Brief an Lambert beschreibt Kant die phaenomologia generalis als „ganz besondere, obzwar blos negative Wissenschaft [die] der Metaphysic vorher gehen […] müsse, darinn denen principien der Sinnlichkeit ihre Gültigkeit und Schranken bestimmt werden, damit sie nicht die Urtheile über Gegenstände der reinen Vernunft verwirren, wie bis daher fast immer geschehen ist“ (AA 10: 98; vgl. Rx 4163 AA 17: 440 (1769-1770)). Im gleichen Brief schreibt Kant, dass er einen „Abriss“ der Metaphysik vorbereitet habe, „so ferne er die Natur derselben, die ersten Quellen aller ihrer Urteile und die Methode enthält“ (AA 10: 97). Die phaenomologia generalis wäre daher rückblickend gesehen nicht nur die im zweiten Abschnitt der Dissertatio dargestellte „Lehre der Sinnlichkeit“, sondern auch die Lehre des negativen, namentlich elenktischen Zwecks des Verstandes, die alle Wissenschaft der reinen Vernunft „vor der Ansteckung mit Irrthümern“ schützt (ab errorum contagio immunem), also die für die

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Vgl. oben Kapitel 7. Die Idee der Kritik als propädeutische Wissenschaft zu dem „wahren System der reinen Vernunft“ und als Kanon für die Grundsätze, durch die die reinen Erkenntnisse a priori „erworben“ werden können, wird in vielen Passagen der KrV erörtert, z. B.: „[S]o können wir eine Wissenschaft der bloßen Beurteilung der reinen Vernunft, ihrer Quellen und Grenzen, als die Propädeutik zum System der reinen Vernunft ansehen. Eine solche würde nicht eine Doktrin, sondern nur Kritik der reinen Vernunft heißen müssen“ (B 25). Kant erklärt anschließend, dass der Nutzen einer solchen Propädeutik „in Ansehung der Spekulation“ immer negativ sein kann. Das bedeutet, sie dient nicht zur Erweiterung, sondern nur zur „Läuterung unserer Vernunft“, indem sie „von Irrtümern frei“ hält. Die Idee eines negativen Nutzens der Kritik steht der Bedeutung der „Disziplin“ als negativer Gesetzgebung sehr nahe.

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Metaphysik propädeutische Lehre (propedeutica) (MSI AA 02: 395).839 Prospektiv wäre diese propädeutische Lehre deshalb nicht nur die Transzendentale Ästhetik, sondern auch die Disziplin im engeren Sinne.840 Es ist aber sicher, dass sich Kant bereits vor 1770, wie im sechsten und siebten Kapitel gezeigt wurde, der Unvermeidlichkeit einer propädeutischen, negativen Lehre im späteren Sinne einer Disziplin völlig bewusst war, wenn auch noch nicht einer Selbstdisziplin der Vernunft. Wenn er eine phaenomenologia generalis erwähnt, deutet Kant darüber hinaus implizit auf die spätere Scheinlehre hin, wenngleich in dieser Zeit ihre systematische Stellung und ihr methodischer Aufbau noch nicht grundsätzlich bestimmt waren. Zur Erklärung des impliziten Hinweises auf eine Scheinlehre muss jedoch ein kurzer Blick auf die phaenomenologia von Lambert geworfen werden. In Neues Organon oder Gedanken über die Erforschung und Bezeichnung des Wahren und dessen Unterscheidung von Irrthum und Schein (1764) widmet Lambert ein Kapitel mit der Überschrift „Phänomenologie oder Lehre von dem Schein“ den verschiedenen Arten des Scheins, denen die „höhern Erkenntniskräfte“, Vernunft und Verstand, ausgesetzt seien, wenngleich sie selbst nicht der Ursprung solchen Scheins sind: Die höhern Erkenntniskräfte, der Verstand und die Vernunft, sollen uns eigentlich keine Quellen des Scheins geben, weil sie es sind, die durch jedes Blendwerk des Scheins durchbringen, und weil man in der That, auch nur in so ferne Verstand und Vernunft hat, in so ferne man genau und richtig denkt und schließt.841

Lambert unterscheidet sechs Arten von Schein:842 a) pathologischer Schein (wenn die Dinge abwesend sind, wie bei einem Delirium); b) physischer Schein („weil der Eindruck in der That physisch ist, und der Begriff, den die Empfindung veranlaßt, die Sache nicht so faßt, wie sie an sich ist, sondern nur, wie wir sie empfinden, vorstellt“843); c) idealisticsher Schein (wie z. B. die Verwechselung von Traum und Wirklichkeit); d) psychologischer Schein (wie z. B. Chimären und Hirngespins839

840

841 842 843

244

„Philosophia autem prima continens principia usus intellectus puri est METAPHYSICA. Scientia vero illi propaedeutica est, quae discrimen docet sensitivae cognitionis ab intellectuali; cuius in hac nostra dissertatione specimen exhibemus“. Vgl. Hinske, N. „Terminologie“, a. a. O., S. 70, Fn. 6. Lewis White Beck behauptet, dass die phaenomenologia lediglich eine „theory of appearance“ sei. Vgl. Beck, L. W. A Commentary on Kant’s Critique of Practical Reason. Chicago [u. a.]: Univ. of Chicago Press, 1966, S. 8. Derselben Auffassung ist E. W. Orth: Die phaenomenologia könne man „wörtlich […] als Erscheinungslehre“ bezeichnen. Vgl. „Der Terminus Phänomenologie bei Kant und Lambert und seine Verbindbarkeit mit Husserls Phänomenologiebegriff“. In: Archiv für Begriffsgeschichte, 1982, S. 236–237. Es wird hier argumentiert, dass ein solcher Sinn der besprochenen phaenomenologia ihre eigentliche Bedeutung nicht erschöpft. Wie bei Lambert gezeigt wird, ist auch die phaenomenologia eine „Lehre des Scheins“, wobei man unter phaenomenologia nicht nur die spätere Transzendentale Ästhetik, sondern auch eine Disziplin als „negative Lehre“ verstehen muss. Lambert, J. H. Neues Organon oder Gedanken über die Erforschung und Bezeichnung des Wahren und dessen Unterscheidung von Irrthum und Schein. Leipzig 1764, Bd. II, S. 228, § 19. Vgl. Orth, E. W. „Der Terminus Phänomenologie bei Kant und Lambert“, a. a. O., S. 245–246. Es ist bemerkenswert, dass Lambert hier weit entfernt vom späteren Kant steht. Lambert zufolge ist es irgendwie möglich, das „Ding an sich“ zu erfassen, im Sinne der „scheinbaren Sache“, die durch die Wahrnehmung das Subjekt affiziert.

te, „wenn nichts wahres noch reales dabei zum Grunde liegt“); e) moralischer Schein (der durch die Leidenschaften und Affekten verursachte Schein); f) hermeneutischer oder semiotischer Schein (der „erste bey Auslegung der Zeichen, Reden und Schriften anderer; letzterer aber in Ansehung des Gebrauchs der Zeichen überhaupt“; der andere „in Ansehung des Gebrauches der Zeichen überhaupt. Allegorien, Metaphern, Mißverstand, Vieldeutigkeit, etc., sind Quellen und Anläße zu solchem Schein“).844 Man stellt fest, dass aus der Perspektive der kantischen Disziplin jeder Schein oder Betrug ein empirischer, bestenfalls logischer Schein und kein natürlicher, genauer gesagt transzendentaler Schein ist (A 295/B 351–352), dessen Sitz oder „Ursprung“, anders als bei Lamberts Scheinlehre, in der Vernunft selbst liegt. Wie Kant selbst behauptet, besteht sein „Verdienst“ darin, den transzendentalen Schein entdeckt zu haben, für dessen Beseitigung oder besser Entkräftung eine Kritik bzw. Selbstdisziplin der Vernunft vonnöten ist. Zur Zeit des Briefs an Lambert, in dem Kant die phaenomologia erwähnt, war der Schein, der entdeckt und angegangen werde sollte, sicherlich noch das vitium subreptionis, das heißt die Verwechslung zwischen Sinnlichkeit und Verstand. Außerdem war die phaenomologia noch die im fünften Abschnitt der Dissertatio behandelte negative Lehre, die der positiv-dogmatischen Metaphysik vorhergehen musste.845 Damit diese negative und propädeutische Lehre eine echte negative Legislation der Vernunft wurde, musste Kant zuvor die Kritik als die Gesetzgebung und den Gerichtshof der Vernunft konzipieren, was jedoch am Anfang der 1770er Jahre noch nicht geschehen war. 8.1.3 Disziplin als Unterweisung und negative, die positive vorbereitende Gesetzgebung. Der Ursprung des kantischen Disziplinbegriffs bei Rousseau War diese „logische“ Quelle des kantischen Disziplinbegriffs bei Meier, Baumgarten und Lambert die einzige oder zumindest die entscheidende? Woher stammt der Impuls zur Umgestaltung der schulphilosophischen Lehre hinsichtlich der Disziplin? Die Studien über dieses Thema scheinen alle anderen Quellen außer der Logiktradition auszuschließen.846 Bei näherem Hinsehen gelangt man 844 845

846

Ebd., S. 236. In der Menschenkunde-Vorlesung benutzt Kant den Ausdruck „die Sinnlichkeit zu disziplinieren“ in einem Sinne, der der methodologischen Vorschrift der Dissertatio nahesteht, das sensitivae cognotionis cum intellectuali contagium zu vermeiden (MSI, AA 02: 411). „Hier ist also ein gemeinschaftlicher Vertrag zwischen beiden Kräften, und die Eine kann ohne die Andere nicht gebraucht werden. […]. Dies sieht man daraus, daß in der Wissenschaft, wo die Sinnlichkeit gar nicht gebraucht wird, z. E. in der abstracten Philosophie es die äußerste Schwierigkeit kostet, etwas zu erforschen. Die Sinnlichkeit ist also etwas, was dadurch, daß sie nicht disciplinirt ist, dem Verstande zufälliger Weise zuwider seyn kann“ (Menschenkunde, P 41). Im Folgenden wird der sozusagen „anthropologische“ Ursprung des Disziplinbegriffs erörtert. Vgl. Rumore, P. „Logica e Metodo“, a. a. O., S. 102: „La riflessione decennale sulla distinzione di Meier tra le nozioni di dottrina e di disciplina e l’esigenza di sottolineare in maniera più stringente la natura prescrittiva delle regole del metodo ha verosimilmente rappresentato per Kant l’occasione di elaborare un significato completamente nuovo della ‘disciplina’, fino a trasformarlo in uno dei termini tecnici della nuova filosofia critica“.

245

jedoch zu der Einsicht, dass, wie auf anderen Gebieten der kantischen Philosophie auch,847 Rousseau als entscheidende Quelle herangezogen werden muss, um den Ursprung und die systematische Funktion der Disziplin im Rahmen des Aufbaus und der Zwecke der Kritik zu verstehen. Kant verweist in der Anthropologie Dohna vom Wintersemester 1772/73 auf das Verhältnis zwischen negativer und positiver Gesetzgebung und das Bedürfnis nach einer Disziplin als „warnender Negativlehre“ (A 712/B 740; vgl. KpV, AA 05: 107). Er nimmt hier explizit Bezug auf Rousseau, wenn er die doppelte Rolle der Gesetzgebung diskutiert. Daher lässt sich vermuten, dass Kant von Rousseau den Begriff der Disziplin als negative, aber die positive vorbereitende Gesetzgebung übernommen hat. Kant deutet Rousseaus Erziehungslehre als aus zwei großen Teilen bestehend: aus einem negativen Teil im Sinne einer Unterweisung zum richtigen Gebrauch der Vermögen des Kindes, dann aber auch im Anschluss aus einem positiven Teil, in dem der Lehrling selbst Erkenntnisse erlangen und erweitern kann. Rousseau sagt: 1. Die Erziehung muß negativ sein. Auch dieses handelt er in seinem schon genannten Buche – Emil – ab. 2. Gesetzgebung muß negativ und positiv sein. 3. Die Religionsunterweisung muß auch negativ sein (Anth. Dohna Ko 373).

Daraus ergibt sich, dass auch in Kants eigener Erziehungslehre, die sich stark an Rousseaus Émile anlehnt,848 der Disziplinbegriff zentral ist. In Kants Erziehungslehre ist die „Kunst der Belehrung“ zweifach, nämlich „negativ und positiv“ bzw. „abzuhalten und hinzuzusetzen“. Der negative Aspekt der Erziehung besteht in der Verhütung, dass „sich nicht Irrthümer einschleichen“, und der positive darin, dass „was mehreres von Kenntnißen hinzugesezt werde“. Daraus folgt, dass „das negative sowohl der Bildung als Belehrung des Geschöpfs die Disciplin [und] das positive der Belehrung die doctrin [ist]“, sodass „die disciplin vor der doctrin vorausgehen [muss]“. Die Disziplin oder auch „Zucht“ zielt darauf ab, „die regellose Freyheit“ einzuschränken und folglich den Lehrling auf einen mündigen Gebrauch seiner Freiheit vorzubereiten.849 847

848

849

246

Vgl. Ferrari, J. Les Sources Françaises de la Philosophie de Kant, a. a. O.; Brandt, R. „Einführung“. In: Brandt, R. & Klemme, H. (Hrsg.). David Hume in Deutschland, a. a. O.; Velkley, R. Freedom and the End of Reason, a. a. O. „Disciplin verhütet, daß der Mensch nicht durch seine thierischen Antriebe von seiner Bestimmung, der Menschheit, abweiche. Sie muß ihn z. E einschränken, daß er sich nicht wild und unbesonnen in Gefahren begebe. Zucht ist also blos negativ, nämlich die Handlung, wodurch man dem Menschen die Wildheit benimmt. Unterweisung hingegen ist der positive Theil der Erziehung“ (Päd, AA 09: 442). Kant versteht unter „Bildung“ die Erziehung, die Disziplin enthält, d. i. Zucht und Unterweisung; vgl. Päd, AA 09: 443. Zu Kants Erziehungslehre siehe u. a. Santos, R. Moralität und Erziehung bei Immanuel Kant. Diss., Kassel: Kassel University Press, 2007. „Die Kunst der Belehrung kann 2fach seyn, negativ und positiv abzuhalten und hinzuzusetzen, das negative der Belehrung ist, daß sich nicht Irrthümer einschleichen, zu verhüten; das positive, daß was mehreres von Kenntnißen hinzugesezt werde. Das negative sowohl der Bildung als Belehrung des Geschöpfs ist die Disciplin. Das positive der Belehrung ist die doctrin. Die disciplin muß vor der doctrin vorausgehen, durch die disciplin kann das Temperament und das Hertz gebildet werden. Der Charakter wird aber mehr durch die doctrin gebildet. Disciplin heißt so viel als Zucht, durch die Zucht aber wird

Kant weist auf den doppelten, nämlich negativen und positiven Aspekt des Erkenntnisprozesses in der Anthropologie Dohna hin und erwähnt in diesem Zusammenhang Rousseau und Sokrates: Die Erkenntniß ist 1.) positiv, wenn sie erweitert wird. Bei dieser Erweiterung können sich wohl auch Irrthümer einschleichen. 2.) negativ, wenn man blos darauf sieht Irrthümern zu wehren. Eine solche negative Erziehung, die blos im vertreiben des Uebels besteht, empfiehlt Rousseau (auch Socrates) (Anth Dohna, P 18).

Auch in der vermutlich auf 1772 zu datierenden Reflexion 4468 verbindet Kant die Vernunft mit dem Bedürfnis nach einer „Zucht“, durch die sie „governiert“ werden könnte und ohne die sie wiederum mit der „Religion“ und den „Sitten“ nicht zusammenstimmen würde. Daß die Vernunft einer Zucht bedürfe. Daß, wenn sie nicht gezogen ist, sondern wild ihre Zweige ausbreitet, sie Blüthen ohne Früchte bringe. Daß also ein Meister der Zucht nöthig sey (nicht Zuchtmeister), welcher sie gouvernirt. Daß sie ohne diese Zucht mit religion und sitten nicht zusammenstimme, das große Wort führe und, indem sie sich selbst nicht kennt, den Gesunden und an Erfahrungen geübten Verstand verwirre (Rx 4468 AA 17: 562–563 (1772)).

Genau in dieser Hinsicht ist Kants Warnung im Disziplin-Kapitel vor dem schulphilosophischen Missbrauch des Disziplinbegriffs zu verstehen (A 710/ B 738). Anders als bei der Schulsprache gibt Kant dem Disziplinbegriff nur eine negative Bedeutung im Sinne von „Zucht“, nicht aber eine positive Bedeutung im Sinne von „Belehrung“. Lediglich dem Begriff „Kultur“ kommt eine positive Bedeutung als Belehrung zu. Kultur bezeichnet für Kant trotz aller mit diesem Begriff in Kants Philosophie verbundenen Zweideutigkeiten (vgl. KU AA 05: 429–434) grundsätzlich die kritisch-positive Erwerbung einer Fähigkeit und Ausübung eines Vermögens, ohne dass sich damit die dogmatisch-positive Bedeutung einer Doktrin verbinden ließe. Daraus lässt sich die auf den ersten Blick irreführende, aber für die Kritik entscheidende Bedeutung von Kultur als positive, aber nicht doktrinale Gesetzgebung besser erklären. In Anlehnung an Rousseau hebt Kant hervor, dass die Disziplin eine Voraussetzung zum richtigen Gebrauch der Vernunft und der Freiheit ist. Diese negative Disziplin hat aber nicht nur eine ausschließlich erzieherische Absicht als negative Bedingung zum richtigen Gebrauch der Talente, sondern auch eine breitere Bedeutung als negative Bildung des Bürgers zum richtigen Gebrauch seiner Freiheit und als negative religiöse Unterweisung zur autonomen Frömmigkeit. Kant bringt dies in einem Collegentwurf zur Anthropologie aus den 1780er Jahren zum Ausdruck. Er verknüpft mit der Erziehung, der Politik und der Religion jeweils eine Unmündigkeit, nämlich die häusliche, die bürgerliche und die fromme Unmündigkeit. Die Voraussetzung zum richtigen Vernunftgebrauch ist jeweils eine Disziplin, die die Irrtümer behebt und die Vorurteile bekämpft. Hier lohnt es sich, die entsprechende Stelle umfassend zu zitieren:

dem Kind nichts Neues gelehrt, sondern die regellose Freyheit eingeschränkt“ (V-Mo/ Mron AA 27: 1579).

247

Die Mittel der Verbesserung sind Erziehung (g Cultivirung), Gesetzgebung (g Civilisirung) und Religion (g moral). Alle drey öffentlich, damit das Ganze in Vollkommenheit zunehme. Alle drey frey, weil [alles] nichts erzwungenes Bestand hat. Alle drey der Natur angemessen, folglich negativ. 1. Die negative Erziehung setzt voraus, daß der Mensch als Kind gut sey, daß wir vorzüglich darauf sehen müssen, ihm nicht seine Talente durch Nachahmung, seine Neigung und Wahl durch Zwang und seine Sitten nicht durch Beyspiele und Anreitzungen zu verderben. 2. Die negative Gesetzgebung sucht nicht gleichsam Kinder passiv zu erhalten [und vor sie zu sorgen] […], sondern […] besorgt nur ihre Freyheit unter einfachen und aus der natürlichen Vernunft geschöpften Gesetzen. Vornemlich solchen, die Sittlichkeit befördern. 3. Die negative Religion bringt alles auf den einfaltigen Begrif eines gott wohlgefälligen Lebenswandels zurük. Hebt die Priester auf und läßt nur die Geistlichen. Nimmt die Satzungen weg und läßt nur die Vorschrift der Vernunft übrig und ist dem Einfältigsten eben so klar als dem gelehrtesten […]. Wir sind in einer dreyfachen Unmündigkeit: 1. der häuslichen als Kinder und werden so erzogen, [daß] als wenn wir Zeitlebens unmündig bleiben sollen, nicht selbst zu denken, sondern [all] anderer Urtheile Folge zu leisten, nicht selbst zu wählen, sondern nach Beyspielen (nicht durchs Urtheil unseres eigenen Gewissens, sondern durch die Sententz der Geistlichen verurtheilt oder losgesprochen zu werden.) 2. in einer bürgerlichen. Wir [sollen] werden nach Gesetzen gerichtet, die wir nicht alle kennen können, und nach Büchern, die wir nicht verstehen würden. Unsere Freyheit und Eigenthum ist unter der Wilkühr derjenigen Macht, die doch nur darum da ist, um die Freyheit zu erhalten und sie nur durchs Gesetz einstimig zu machen. Wir sind dadurch so unmündig geworden, daß, wenn dieser Zwang auch aufhörete, wir uns doch selbst nicht regiren könten. 3. in einer frommen Unmündigkeit. Andere, welche die Sprache der heiligen Urkunden verstehen, sagen uns, was wir glauben sollen; wir selbst haben kein Urtheil. An die Stelle des natürlichen Gewissens tritt ein künstliches, welches sich nach der sententz der Gelehrten richtet. und an die Stelle der Sitten und Tugend treten observanzen. Die Bedingung einer allgemeinen Verbesserung ist Freyheit der Erziehung, bürgerliche Freyheit und Religionsfreyheit, aber noch sind wir ihrer nicht susceptibel (AA 15: 898–899).

Kant wendet hier zwar den Ausdruck „negative Gesetzgebung“ auf den politisch-bürgerlichen Bereich an; der Sache nach aber lässt sich die Idee von Disziplin als einer negativen Gesetzgebung, die die positive vorbereitet, auf alle anderen Bereiche übertragen. Die negative Erziehung soll die Talente und die natürlichen Vermögen des Kindes fördern, damit es zu der positiven Fähigkeit, sich selbst zu denken, gelangt. Die bürgerliche negative Gesetzgebung schränkt die wilde Freiheit ein, damit die Bürger für sich selbst ihre positive bzw. bürgerliche Freiheit genießen. Die negative Religion hebt alle weltlichen Vermittler zu der wahren Frömmigkeit auf und verweist alle Geistlichkeit auf die autonome Vernunft des Gläubigen. Dasselbe Schema lässt sich nun auf die KrV übertragen. Die „transzendentale“ Disziplin der reinen Vernunft muss von der Ver-

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nunft selbst als Voraussetzung zu ihrem mündigen Gebrauch geübt werden. Anders formuliert: Die Begrenzung der spekulativen Ansprüche (negative Gesetzgebung) ist die Voraussetzung für die Gültigkeit ihrer Ansprüche auf ihren praktischen, moralischen Gebrauch (positive Gesetzgebung). Die Freiheit liegt allen negativ-positiven Tätigkeiten der Vernunft zugrunde, sei es der Erziehung, der Gesetzgebung, der Religion und auch der transzendentalen Selbstdisziplin der reinen Vernunft. Auf der Freiheit beruht „die Existenz der Vernunft“ (A 738/B 766). Weitere Belege deuten darauf hin, dass Kants Zielsetzung mit Blick auf die Disziplin der reinen Vernunft nach dem Begriffsschema „negativ-positive Gesetzgebung“ zu erklären ist.850 In der schon zitierten Reflexion 5039 aus dem Jahr 1778851 teilt Kant die Gesetzgebung der Vernunft in zwei Teile, nämlich in einen negativen, die Disziplin betreffenden Teil und einen positiven, den Kanon der reinen Vernunft betreffenden Teil: Abtheilung. Die Gesetze Nomothetic (Gesetzgebung) der reinen Vernunft: 1. negativer Theil, disciplin; 2. positiver Theil, Canon. Zuletzt Architectonic. 1. transscendentale philosophie. 2. Metaphysic. Organon (Rx 5039 AA 18: 70 (1778)).

Es handelt sich dabei um den Aufbau der „Verwirklichung der Selbstbestimmung“ oder um den der positiven Gesetzgebung der Vernunft, das heißt ihre Selbstdisziplin,852 die aus einer negativen Lehre zur Verhütung von Irrtümern, von Schein und Blendwerken besteht. Als Voraussetzung zur Inkraftsetzung ihrer positiven, den praktisch-moralischen Gebrauch betreffenden Gesetzgebung muss die Vernunft vorher „den Boden zu jenen majestätischen sittlichen Gebäuden eben und baufest […] machen“ (A 319/B 375–6; vgl. A 794/B 822). Diese Idee wird in der Vorrede B noch expliziter. Kant verweist dabei auf den negativen Nutzen der KrV, nämlich sich „mit der speculativen Vernunft niemals über die Erfahrungsgrenze hinaus zu wagen“ (B xxiv), und zugleich auf den positiven Nutzen, der aus der „Negativlehre“ folgt. Während die Grundsätze der reinen spekulativen Vernunft keine gültige Erweiterung der Erkenntnis ermöglichen, erlauben sie dennoch deren „Verengung“, die wiederum eine ganz andere Erweiterung zur Konsequenz hat, nämlich die Ermöglichung eines „schlechterdings nothwendigen praktischen Gebrauch[s] der reinen Vernunft (de[s] moralischen)“.

850

851 852

Die Idee einer Disziplin als Vorbereitung zum Übergang von einem Wissensbereich zu einem anderen wird im Opus Postumum deutlich. Disziplin ist als Übergang von der reinen Rechtslehre zur empirischen (vgl. OP AA 21: 178) und von der reinen Physik zu der empirischen zu betrachten: „Die Lehre vom Übergange von der Metaph. zur Physik ist das Princip mit Begriffen a priori der bewegenden Kräfte der Materie systematisch zum empirischen Erkenntnis der Natur zu schreiten ist eine besondere und propädevtische Disciplin, um die Physik als System der empirischen so wohl als rationalen Naturkunde zu Stande zu bringen. Nur durch jene Präliminarbegriffe zur Physik wird man in stand gesetzt methodisch einem System der Physik nachzuforschen“ (OP AA 22: 265, Hervorh. d. Verf). Vgl. oben Kapitel 7.4. Vgl. Gerhardt, V. „Die Disziplin der reinen Vernunft, 2. bis 4. Abschnitt (A 738/B 766 – A 794/B 822). Die Selbstdisziplin der Vernunft“. In: Mohr, G. & Willaschek, M. (Hrsg.). Kritik der reinen Vernunft. Klassiker Auslegen. Berlin: Akademie Verlag, 1998, S. 574.

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Daher ist eine Kritik, welche die erstere [spekulative Vernunft] einschränkt, so fern zwar negativ, aber, indem sie dadurch zugleich ein Hindernis, welches den letzten Gebrauch [des reinen (praktischen) Vernunftgebrauchs] einschränkt, oder gar zu vernichten droht, aufhebt, in der Tat von positivem und sehr wichtigem Nutzen, so bald man überzeugt wird, daß es einen schlechterdings nothwendigen praktischen Gebrauch der reinen Vernunft (den moralischen) gebe (B xxv).

Es ist daher kein Zufall, dass aus dem Disziplin-Kapitel der Kanon, die Architektonik und die Geschichte der reinen Vernunft folgen, in denen Kant (wenigstens in der KrV) das positive Pendant der negativen Gesetzgebung der Vernunft darstellt. Kant weist ganz am Ende des Architektonik-Kapitels darauf hin, dass die Kritik als Propädeutik der Metaphysik diese auf ihre Rolle als „Vollendung aller Kultur der menschlichen Vernunft“ vorbereitet. Das bedeutet, dass die Kritik zuerst die Ansprüche der Metaphysik in ihren spekulativen Anmaßungen einschränkt und daraufhin insofern erweitert, als dadurch der moralische Vernunftgebrauch ermöglicht wird. In diesem Kontext verwendet Kant eine unverkennbar juridische Metapher, weist er doch der Kritik die Aufgabe eines „Zensoramts“ im wissenschaftlich gemeinen Wesen zur Sicherung der „allgemeinen Ordnung und Eintracht, ja [des] Wohlstand[es]“ zu, damit man den „Hauptzweck“, nämlich die „allgemeine Glückseligkeit“ oder, spekulativ gesehen, die Philosophie als „ganze Bestimmung des Menschen“ (A 840/B 868) nicht übersieht. Eben deswegen ist Metaphysik auch die Vollendung aller Cultur der menschlichen Vernunft, die unentbehrlich ist, wenn man gleich ihren Einfluß als Wissenschaft auf gewisse bestimmte Zwecke bei Seite setzt. Denn sie betrachtet die Vernunft nach ihren Elementen und obersten Maximen, die selbst der Möglichkeit einiger Wissenschaften und dem Gebrauche aller zum Grunde liegen müssen. Daß sie als bloße Speculation mehr dazu dient, Irrthümer abzuhalten, als Erkenntniß zu erweitern, thut ihrem Werthe keinen Abbruch, sondern giebt ihr vielmehr Würde und Ansehen durch das Censoramt, welches die allgemeine Ordnung und Eintracht, ja den Wohlstand des wissenschaftlichen gemeinen Wesens sichert und dessen muthige und fruchtbare Bearbeitungen abhält, sich nicht von dem Hauptzwecke, der allgemeinen Glückseligkeit, zu entfernen (A 850/B 878).

Auch in der Vorrede B setzt Kant den sich aus dem negativen ergebenden positiven Nutzen der Kritik mit der Funktion der Polizei gleich, welche die bürgerliche Ordnung dadurch aufrechterhält, dass sie „der Gewalttätigkeit, welche Bürger von Bürgern zu besorgen haben, einen Riegel“ vorschiebt (B xxv). Dies ist jedoch weniger mit Blick auf das staatliche Gewaltmonopol, sondern eher juridisch zu verstehen. Jede Gesetzgebung, die die Freiheit einschränkt, hat als Gegenstück eine Erweiterung bzw. Ermöglichung der „echten“, bürgerlichen Freiheit; die regellose, anarchische Freiheit wird durch eine geregelte, wohlgeordnete Freiheit ersetzt. Daraus ergibt sich, dass sich die Vernunft metaphorisch als „bürgerlicher Zustand“ der Metaphysik erklären lässt. Im Rechtstaat der Kritik findet man diejenige Kombination, die die vollkommene bürgerliche Verfassung unter den Menschen, die Republik, ausmacht, nämlich „Gewalt mit Freiheit und Gesetz“ (Anth AA 07: 330–331).

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8.1.4 Die Einteilung des Disziplin-Kapitels Nach der Erörterung des Begriffs und des Ziels der Disziplin der reinen Vernunft sind die Einteilung und die einzelnen Abschnitte des Disziplin-Kapitels ins Auge zu fassen. Im Enzyklopädischen Wörterbuch der kritischen Philosophie stellt Mellin ein interessantes und nützliches Schema zu den Beweisarten der kritischen Philosophie auf. Die Beweise seien 1) ihrer logischen Beschaffenheit nach entweder ostensive oder apagogische; 2) ihrer metaphysischen Beschaffenheit nach discursive, acroamatische, auch dogmatische oder intuitive, und die ersten entweder acroamatische Erfahrungsbeweise oder Beweise a priori (apodictische), und dieser letztere wieder entweder metaphysische oder transcendentale, die auch Deductionen heißen; 3) ihrer transcendentalen Beschaffenheit nach entweder dogmatische oder kritische, welche auch Deductionen heißen.853

Wie im Folgenden erläutert wird, nimmt Kant in der Transzendentalphilosophie zum Beweis der Wahrheit eines transzendentalen Satzes nur diskursiv-akroamatischostensive Beweise a priori vor, das heißt metaphysische und transzendentale Deduktionen. Die Diskussion über die akroamatischen Beweise und die Besonderheit der Deduktion als philosophischer Beweis im Gegensatz zu den mathematischen Demonstrationen gehören zum Abschnitt „Disziplin der reinen Vernunft im dogmatischen Gebrauche“, in dem Kant die Philosophie und die Mathematik unterscheidet und einander gegenüberstellt. Zum Beweis nicht der spekulativen Wahrheit, sondern der Möglichkeit eines Satzes, dessen Wahrheit weder direkt, akroamatisch und diskursiv, noch aus der Falschheit eines anderen Satzes bewiesen werden kann, erkennt Kant auch die Widerlegung oder Retorsion des entgegengesetzten Satzes als gültigen Beweis an. Es kommt folglich zu einer Verteidigung des Satzes, ohne die direkte oder indirekte Demonstration der Wahrheit bzw. Wirklichkeit des Gegenstandes zu beanspruchen. Der Begriff der Retorsion und Verteidigung hat nicht ohne Grund einen juridischen Ursprung. Zur Verdeutlichung dieser Art von Beweis wird der vierte antinomische Widerstreit der reinen Vernunft herangezogen. In dessen Auflösung wird die unbedingte Existenz bzw. Nicht-Existenz eines schlechthin notwendigen Wesens außerhalb der Welt als deren Ursache weder ostensiv noch indirekt bewiesen; es wird vielmehr nur gezeigt, wie wir die Vernunft einschränken, daß sie nicht den Faden der empirischen Bedingungen verlasse und sich in transscendente und keiner Darstellung in concreto fähige Erklärungsgründe verlaufe, also auch andererseits das Gesetz des bloß empirischen Verstandesgebrauchs dahin einzuschränken, daß es nicht über die Möglichkeit der Dinge überhaupt entscheide und das Intelligibele, ob es gleich von uns zur Erklärung der Erscheinungen nicht zu gebrauchen ist, darum nicht für unmöglich erkläre (A 562/B 590, Hervorh. d. Verf.).

853

Mellin, G. S. A. Encyclopädisches Wörterbuch der Kritischen Philosophie. Bd. I, Abteil. II, a. a. O., S. 668.

251

In ähnlicher Weise führt Kant in der GMS mit Blick auf den „Beweis“ der Möglichkeit der transzendentalen Freiheit an, wo aber Bestimmung nach Naturgesetzen aufhört, da hört auch alle Erklärung auf, und es bleibt nichts übrig als Vertheidigung, d. i. Abtreibung der Einwürfe derer, die tiefer in das Wesen der Dinge geschaut zu haben vorgeben und darum die Freiheit dreist für unmöglich erklären (GMS AA 04: 459).

Es geht dabei um eine, wenn man so will, „negative Deduktion“, die nicht die Wahrheit eines Satzes begründet, sondern vielmehr lediglich die Befugnis zu einem bestimmten Gebrauch, dessen Möglichkeit überhaupt bereits gerechtfertigt ist, gegen illegitime Gegensätze verteidigt.854 Wie im nächsten Kapitel erklärt wird, bedeutet dies im Fall der reinen Begriffe des Verstandes und der Vernunft, dass die metaphysische Deduktion ihre Möglichkeit überhaupt rechtfertigt und die transzendentale Deduktion ihre objektive Realität beweist bzw. ihr einen bestimmten Gültigkeitsbereich zuweist (den Kategorien den konstitutiven Gebrauch und den Ideen den regulativen Gebrauch in der Erfahrung). Das Ziel der weiteren Abschnitte des Disziplin-Kapitels – der „Disziplin der reinen Vernunft in Ansehung ihres polemischen Gebrauches“, „in Ansehung der Hypothesen“ und „in Ansehung ihrer Beweise“ – steht in engem Zusammenhang mit der oben zitierten Stelle der GMS: Es handelt sich dabei um die Verteidigung der Ansprüche der transzendentalen Ideen der Vernunft gegen dogmatische Gegenansprüche. Dadurch wird ein anderer als der spekulative Gebrauch der Vernunft ermöglicht, wenngleich noch nicht gerechtfertigt, nämlich der praktische Gebrauch der reinen Vernunft. Den zwei gültigen Beweisarten der Transzendentalphilosophie entsprechen somit zwei Instanzen der juridischen Verfassung des Gerichtshofs der Vernunft: a) die metaphysische Deduktion als Rechtfertigung der Rechtmäßigkeit eines bestimmten Anspruchs überhaupt und die transzendentale Deduktion als Rechtfertigung der Anwendung oder Zuweisung dieses Anspruchs an einen bestimmten Gültigkeitsbereich; b) die Wiederlegung bzw. Retorsion eines Gegenanspruchs, indem dessen Unrechtmäßigkeit aufgezeigt und damit der eigene Anspruch verteidigt wird. Diese zwei Beweisarten gehören nicht ohne Grund zu den zwei Teilen der KrV, mit denen sich die vorliegende Arbeit beschäftigt und aus denen die juridische Verfassung der KrV grundsätzlich besteht: zur Deduk-

854

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„Eine negative oder indirekte Deduktion hat zum Ziel, Einwände gegen einen faktisch erhobenen und in einem gewissen Rahmen bereits gerechtfertigten Anspruch abzuweisen. Die zuvor durchgeführte positive Deduktion wäre ohne die negative Deduktion also unvollständig, weil letztere Einwände gegen die positive Deduktion ausräumt, die erstere aus bestimmten Gründen nicht zurückweisen kann“. Klemme, H. „Freiheit oder Fatalismus? Kants positive und negative Deduktion der Idee der Freiheit in der Grundlegung (und seine Kritik an Christian Garves Antithetik von Freiheit und Notwendigkeit)“. In: Puls, H. (Hrsg.). Kants Rechtfertigung des Sittengesetzes in Grundlegung III: Deduktion oder Faktum? Berlin: De Gruyter, 2014. M. Wolff versteht die Verteidigung als Abwehr von Einwänden, das heißt eine „schwache“ Deduktion als Erklärung (und keine Einsicht) der Möglichkeit einer Erkenntnis a priori. Vgl. Wolff, M. „Warum das Faktum der Vernunft ein Faktum ist“, a. a. O., S. 541ff.

tion und zur Antinomie. Beide machen somit die zwei Momente, den negativen und den positiven, der Gesetzgebung der Vernunft aus. 8.2

Die „Disziplin der reinen Vernunft im dogmatischen Gebrauche“

8.2.1 Kants Verhältnis zur Mathematik Die „Disziplin der reinen Vernunft im dogmatischen Gebrauche“ gilt als die erste echte kritische Darstellung, in der Kant die mathematische Methode in der Philosophie ablehnt. Das Ergebnis des Abschnitts ist gemäß der „warnenden Negativlehre“ grundsätzlich negativ: Die Philosophie darf nicht die mathematische Methode nachahmen und mit ihr dogmatische Erkenntnisse zu erwerben beanspruchen. Daraus ergibt sich, dass der Anspruch, die Philosophie sei eine gründliche, auf einem logisch-deduktiven Verfahren basierende demonstrierende Wissenschaft, aufgegeben werden muss. Anders gesagt: Kant weist die identitas methodi philosophicae et mathematicae, die Wolff und ein bedeutender Teil der neuzeitlichen Philosophie behaupten, zurück.855 Stattdessen sei nur ein aus der Rechtswissenschaft entlehntes Beweisverfahren gültig, das sich darauf beschränkt, Ansprüche aufgrund eines gültigen Vernunft- bzw. Verstandesgebrauchs zu rechtfertigen und die entgegengesetzten „vernünftelnden Anmaßungen“ zu widerlegen. Kants Zurückweisung der identitas methodi philosophicae et mathematicae tritt aber nicht plötzlich in der KrV auf; sie ist eher das Ergebnis einer langen Auseinandersetzung Kants mit der Mathematik, deren Anfänge, wie schon gezeigt, bis in Kants Erstlingsschrift zurückreichen und die bis zum Opus Postumum fortläuft.856 Von den Gedanken bis zum Anfang der 1760er Jahre suchte Kant nach einer „Vereinigung“ bzw. Versöhnung von Mathematik und Philosophie als Wissenschaften, die, wenngleich unterschiedlich, sich gegenseitig gleichberechtigt helfen könnten.857 Wie im fünften Kapitel der vorliegenden Arbeit bereits ge855

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Wolff, C. Einleitende Abhandlung über Philosophie im allgemeinen, a. a. O., § 139: „Die Regeln der philosophischen Methode sind dieselben wie die der mathematischen. Denn bei der philosophischen Methode dürfen keine Ausdrücke verwendet werden, die nicht durch genaue Definition erklärt sind, auch wird nichts als wahr zugelassen, was nicht zureichend bewiesen ist, in Lehrsätzen wird das Prädikat ebenso wie das Subjekt genaue bestimmt, und alles wird so geordnet, daß dasjenige vorausgeschickt wird, wodurch das Folgende verstanden und erwiesen wird“. „Dieser prinzipiellen Bedeutung entsprechend, die Kant der Mathematik für die erkenntniskritischen Untersuchungen zuspricht, nehmen denn auch mathematische und verwandte Studien in seinem Entwicklungsgang, mathematische Erörterungen in seinen Schriften einen so breiten Raum ein, wie kaum bei einem andern Philosophen selbst jenes Zeitalters der klassischen Mechanik. Von der Schrift über die Kräfteschätzung und jenem kosmogonischen Versuch über das Newtonsche Weltsystem an, bis in die hohen neunziger Jahre hinein, wo der Greis mit dem vornehmen philosophischen Ton Abrechnung hielt, haben ihn mathematische Fragen eindringlich beschäftigt“. Menzer, A. Die Stellung der Mathematik in Kants vorkritischer Philosophie. Halle a. S.: Hofbuchdruckerei C. A. Kaeramerer & Co, 1911, S. 3. Dazu und im Allgemeinen zum Verhältnis des vorkritischen Kants in Auseinandersetzung mit der Mathematik vgl. Tonelli, G. „La Disputa sul Metodo Matematico“. In: Da Leibniz a Kant: saggi sul pensiero del Settecento. Napoli: Prismi, 1988; Wolff-Metternich, B.-S. Die Überwindung des mathematischen Erkenntnisideals: Kants Grenzbestimmung von Mathematik und Phi-

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zeigt wurde, findet sich in den Gedanken eine schon relativ weit entwickelte Überlegung zu den Gründen und zu einer Methode für die Auflösung des „Streits“ zwischen dem mathematischen modus cognoscendi und dem metaphysischen modus cognoscendi bei dem Problem der Beschaffenheit und Schätzung der lebendigen Kräfte. Kant macht hierbei auf den Unterschied zwischen dem mathematischen und dem physischen Begriff des Körpers aufmerksam. Er weist auf die Unzulänglichkeit des erstgenannten hin, betont aber zugleich, dass die Metaphysik zu der gleichen Deutlichkeit und Gründlichkeit wie die Mathematik gelangen sollte (GSK AA 01: 60, 94–95, 168). In den Schriften der 1750er Jahre, etwa der Allgemeinen Naturgeschichte, der Monadologia physica und der Nova Dilucidatio, verweist Kant auf die Gründlichkeit der Mathematik. In der Allgemeinen Naturgeschichte beispielsweise beschreibt er die Mathematik als eine Wissenschaft, die der Methode eines „strengen Beweises“ fähig ist, und lobt die „größte geometrische Schärfe und mathematische Unfehlbarkeit“ (NTH AA 01: 235). Im Beweisgrund aus dem Jahr 1762 erwähnt Kant die „Schärfe einer Demonstration“, die nur in der Mathematik möglich sei. Zugleich gibt es in derselben Schrift jedoch bereits eindeutige Hinweise, dass er eine Nachahmung der mathematischen Methode in der Philosophie zurückweist. In der im selben Jahr verfassten Preisschrift verweist Kant dann auf die Unmöglichkeit einer solchen Nachahmung infolge des wesentlichen Unterschieds zwischen den Methoden der beiden Wissenschaften. Die Philosophie könne, so Kant, die mathematische, namentlich deren synthetische Methode nicht anwenden, weil sie ihre Begriffe noch nicht ausführlich analysiert, sprich zergliedert habe. Die Philosophie werde sich daher von der Mathematik dadurch unterschieden, dass sie die analytische, die Mathematik hingegen die synthetische Methode verwende. In den 1760er und 1770er Jahren wird die Unterscheidung zwischen Philosophie und Mathematik dann weiter vertieft. Das „Neue bei Kant“858 liegt, wie schon erwähnt, weniger darin, dass er sich auf das Methodenproblem konzentriert, sondern vielmehr darin, dass er nun die Übertragung der mathematischen Methode auf die Philosophie angesichts der „Schädlichkeit der mathematischen Methode“ (Rx 2659 AA 16: 454– 455) definitiv zurückweist.859 Dies ist das Resultat der langen Auseinandersetzung Kants mit der Mathematik.

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losophie. Berlin [u. a.]: De Gruyter, 1995; Menzer, A. Die Stellung der Mathematik in Kants vorkritischer Philosophie, a. a. O. Vaihinger, H. Commentar. Bd. I, a. a. O., S. 26. Engfer. H.-J. Philosophie als Analysis, a. a. O., S. 62f. Tonelli erkennt in Crusius einen „entscheidenden Einfluss“ auf Kants Einstellung gegenüber der Mathematik ab den 1760er Jahren. Bei Crusius sind die mathematischen Begriffe willkürlich und bildlich. Anders als in der Philosophie ist es bei der Mathematik möglich, aus der Abstraktion eines einzigen Beispiels die Definition eines mathematischen Gegenstandes zu erhalten. Die Mathematik schließt ferner jede moralische Betrachtung der Ursachen aus, die wiederum in der Philosophie wesentlich ist. Darüber hinaus liegt der Mathematik der Satz vom Widerspruch zugrunde, während die Philosophie weitere Grundsätze benötigt. Schließlich benutzt die Mathematik nur Syllogismen, die Philosophie bedient sich dagegen weiterer Beweismittel wie des analogischen und des induktiven Beweises. Vgl. Crusius, C. A. Entwurf der notwendigen Vernunft-Wahrheiten. Leipzig [1745] 1766, § 115ff. Daraus ergibt sich, dass für Crusius die Mathematik auf die Philosophie nur in bestimmten Fällen anwendbar ist. Vgl. Crusius, C. A. Weg zur Gewissheit und Zuverlässigkeit der menschlichen Erkenntnis. Leipzig [1747] 1762, § 10; Tonelli, G. „La Disputa sul Metodo Matematico“, a. a. O., S. 88.

Die Schriften, die für das Verständnis von Kants Zurückweisung der identitas methodi philosophicae et mathematicae wesentlich sind, sind folgende: die Preisschrift, die Dissertatio und die „Disziplin der reinen Vernunft im dogmatischen Gebrauche“. In der Preisschrift fasst Kant das mathematische Verfahren als synthetisch zusammen (US AA 02: 308). Dies kann aber dazu führen, dass man die mathematische Lehre der Preisschrift mit dem synthetischen Modell Wolffs, das heißt mit der systematischen Ordnung von Definitionen, Axiomen, Postulaten usw., irreführend verwechselt. H.-J. Engfer zufolge liegt der Schwerpunkt von Kants Kritik eigentlich in dem synthetischen Charakter der mathematischen Sätze, vor allem in der Definition, und nicht in der synthetischen Verknüpfung in einem deduktiven System. Engfer argumentiert, dass die Gründlichkeit und „Schärfe“ der mathematischen Methode tatsächlich nie definitiv von Kant abgelehnt wurde, sondern nur ihre bestimmte Verfahrensweise aufgrund der Beschaffenheit ihres Gegenstandes.860 Während die mathematischen Gegenstände durch eine willkürliche Begriffsverknüpfung (Linien, Flächen usw.) synthetisch konstruiert werden, sind die Gegenstände der Philosophie „gegeben“, ohne dass man von ihnen eine Definition liefern könnte. Somit ist die Zergliederung eines Begriffs, um ihn weniger „verwirrt“ zu machen, die erste und notwendige Etappe der philosophischen Methode, die dabei gegebenenfalls nach der gleichen Gründlichkeit wie die mathematische Methode streben kann. In der Dissertatio kommen die Bedingungen für die Bildung der mathematischen Begriffe zum Ausdruck: Es geht nicht um die willkürliche Verknüpfung von Begriffen, sondern um ihre Darstellung in der reinen Anschauung. Dem synthetischen Charakter der mathematischen Sätze liegt die Möglichkeit ihrer Darstellung in concreto in der reinen räumlichen Anschauung zugrunde (MSI AA 02: 402). Diese Eigentümlichkeit der mathematischen Methode unterscheidet sie einerseits von der Naturwissenschaft, deren Grundsätze in der empirischen Anschauung dargestellt werden, und andererseits von der Philosophie, deren Grundsätze aus dem „realen Gebrauch des Verstandes“ herrühren und daher in keiner Anschauung direkt dargestellt werden können (MSI AA 02: 410ff).861 Obwohl hier die Grenzbestimmung zwischen Mathematik und Philosophie bereits weitgehend etabliert ist, wird die Eigentümlichkeit der philosophischen Methode noch nicht klar, vor allem was die transzendentalen, diskursiven Grundsätze betrifft. Die dritte und letzte Schrift, der Abschnitt „Disziplin der reinen Vernunft im dogmatischen Gebrauche“ in der KrV, wird nachfolgend erläutert.

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Engfer kritisiert Wolff-Metternich, weil sie Kants relative Abhängigkeit von der Mathematik bei seinem „Wissenschaftsideal“ sogar nach der Zurückweisung der Anwendbarkeit der mathematischen Methode in der Philosophie nicht erkennt. Engfer. H.-J. Philosophie als Analysis, a. a. O., S. 63. Ebd., S. 65

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8.2.2 Die „Disziplin der reinen Vernunft im dogmatischen Gebrauche“ – Philosophie als diskursive Wissenschaft Im Disziplin-Kapitel wird die Eigentümlichkeit der Mathematik dadurch erklärt, dass sie ihren Gegenstand durch eine Darstellung in der reinen Anschauung „konstruiert“. Die mathematische Konstruktion von Begriffen verbindet zwei untereinander verschiedene Momente, nämlich eine nicht empirische Anschauung und ein einzelnes Objekt, dessen Erkenntnis dennoch allgemeingültig ist (A 713– 714/B 741–742). Die Philosophie kann aber durch bloße Begriffe oder durch die Konstruktion ihrer Begriffe in der reinen oder empirischen Anschauung keine synthetische Erkenntnis a priori von ihren Gegenständen erlangen. Wenn sie dennoch durch die Nachahmung der mathematischen Methode aus der Konstruktion von Begriffen zu synthetischen Erkenntnissen zu gelangen versucht, ergeben sich daraus Dogmata, das heißt angebliche „direktsynthetische Sätze aus Begriffen“ (A 737/B 765). Die Mathematik ist nun eine anschauliche synthetische Erkenntnis, die Philosophie demgegenüber eine diskursive synthetische Erkenntnis. Genau darin besteht die Eigentümlichkeit des philosophischen Beweisverfahrens, mit dem sie die Wahrheit ihrer Sätze begründen kann. Bei der Philosophie hängen die Gewissheit und die Deutlichkeit ihrer Grundsätze gewissermaßen nicht von deren Stichhaltigkeit und logischen Korrektheit ab, sondern sie erfordern den Verweis auf ein äußeres Element, nämlich die mögliche Erfahrung. Anders als die Mathematik konstruiert oder produziert die Philosophie ihren Gegenstand nicht für sich selbst, sondern nur die Bedingungen der Möglichkeit der Objektivität überhaupt. Kant hebt daher den wesentlichen Unterschied zwischen diesen zwei Erkenntnissen aus der reinen Vernunft hervor. Obwohl sie bei bestimmten Wissensbereichen, wie der rationalen Physik, zusammenarbeiten können (vgl. MAN AA 04: 471), müssen sie sich doch gründlich voneinander unterscheiden. Die Philosophie ist keine mathesis universalis. Die Befolgung der mathematischen Methode in dieser Art Erkenntnis [der philosophischen] [könne] nicht den mindesten Vorteil schaffen, es müßte denn der sein, die Blößen ihrer selbst desto deutlicher aufzudecken, daß Meßkunst und Philosophie zwei ganz verschiedene Dinge seien, ob sie sich zwar in der Naturwissenschaft einander die Hand bieten, mithin das Verfahren des einen niemals von dem andern nachgeahmt werden könne (A 726/B 754).

Aus dem wesentlichen Unterschied zwischen Mathematik und Philosophie – und daneben auch aus der Unzulänglichkeit der allgemeinen Logik zur Konstitution der Objektivität der Erkenntnis – ergibt sich der Vorrang der Rechtswissenschaft als des in der kritischen Philosophie zu befolgenden methodologischen Modells, wie in den weiteren Abschnitten des Disziplin-Kapitels gezeigt wird. Im Folgenden wird die „Disziplin der reinen Vernunft im dogmatischen Gebrauche“ eingehender untersucht. Man kann den Abschnitt in drei Teile untergliedern:862 a) Zuerst wird der Unterschied zwischen Mathematik und Philo862

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Vgl. Rohr, P. „Die Disziplin der reinen Vernunft, 1. Abschnitt (A 707/B 735–A 738/ B 766)“. In: Mohr, G. & Willaschek, M. (Hrsg.). Kritik der reinen Vernunft. Klassiker Auslegen, a. a. O.

sophie festgestellt (A 712–717/B 740–745); b) dann ist den Ursachen dieses Unterschieds nachzugehen (A 717–726/B 745–754); c) zuletzt werden die wesentlichen Merkmale der mathematischen Methode, nämlich die Definitionen, Axiome und Demonstrationen, und die der philosophischen Methode, nämlich die Expositionen, Deduktionen und akroamatischen Beweise, erörtert (A 726–738/ B 754–766). a) „Die Mathematik“, so Kant, „gibt das glänzendste Beispiel, einer sich, ohne Beihülfe der Erfahrung, von sich glücklich erweiternden reinen Vernunft“ (A 712/B 740; vgl. B x–xi). Aufgrund dessen versuchten die Philosophen ständig, ihre Methode auf andere „transzendentale Gebrauche“ anzuwenden und demzufolge dieselbe mathematische Gründlichkeit in der Philosophie zu schaffen. Die Methode, die in der Philosophie zur selben „apodiktischen Gewissheit“ der Metaphysik gelangen will, ist dogmatisch.863 Abgesehen davon, dass beide eine Vernunfterkenntnis sind (A 714/B 742), kommt den dogmatischen Philosophen „der spezifische Unterschied des einen Vernunftgebrauchs [des philosophischen] von dem andern [dem mathematischen] gar nicht in Sinn und Gedanken“ (A 725/B 753). Der besprochene spezifische Unterschied liegt darin, dass die Mathematik die Vernunfterkenntnis aus der Konstruktion der Begriffe ist und die Philosophie die Vernunfterkenntnis aus bloßen Begriffen. In der Mathematik wird der Gegenstand durch seine Konstruktion insofern gegeben, als die ihm korrespondierende Anschauung in dem Akt selbst von der Konstruktion a priori dargestellt wird; in der Philosophie wiederum kommt der Gegenstand ihres Begriffs von anderswoher als von der Darstellung der ihm korrespondierenden Anschauung, nämlich von einer nur durch die Erfahrung möglichen empirischen Anschauung. Aus dem wesentlichen, wenngleich bloß „formalen“, nicht „materialen“ Unterschied (A 714–715/B 742–743) zwischen Mathematik und Philosophie erfolgt eine völlig unterschiedliche Betrachtungsweise der jeweiligen Gegenstände: „[D]ie philosophische Erkenntnis betrachtet […] das Besondere nur im Allgemeinen, die mathematische das Allgemeine im Besonderen, ja gar im Einzelnen“ (A 714/B 742). Während nun in der Mathematik der Begriff (wie der des Dreiecks) und auch folglich sein Gegenstand (das Allgemeine im Besonderen) bei der Darstellung der reinen Anschauung selbst konstruiert wird, geht der Begriff in der Philosophie der Anschauung, bei der ein Gegenstand (das Besondere bzw. Einzelne im Allgemeinen) ihm korrespondiert, voraus. Daraus ergibt sich, dass das Allgemeine von der Mathematik in concreto (in der einzelnen Anschauung) und von der Philosophie in abstracto (durch Begriffe) betrachtet wird (A 734/B 762). Die Mathematik hat daher nur das zum Gegenstand, was sich in einer reinen sinnlichen Anschauung konstruieren lässt, nämlich den Begriff von Größe (vgl. A 162/B 203, A 168/B 210, B 201 Anm.); die Philosophie hat ihrerseits nur das als eigenen Gegenstand, was in einer Anschauung jenseits seiner Konstruktion a priori gegeben werden kann, nämlich etwas Qualitatives bzw. Reales, das in einer möglichen Erfahrung gegeben wird. 863

Kant will überprüfen, „ob die Methode, zur apodiktischen Gewißheit zu gelangen, die man in der letzteren Wissenschaft mathematisch nennt, mit derjenigen einerlei sei, womit man eben dieselbe Gewißheit in der Philosophie sucht, und die daselbst dogmatisch genannt werden müßte“ (A 713/B 741).

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Daher kann eine Vernunfterkenntniß derselben [der Qualitäten] nur durch Begriffe möglich sein. So kann niemand eine dem Begriff der Realität correspondirende Anschauung anders woher, als aus der Erfahrung nehmen, niemals aber a priori aus sich selbst und vor dem empirischen Bewußtsein derselben theilhaftig werden (A 715/B 743).

b) Aus der bloßen Feststellung, dass die Philosophie ihren Gegenstand nur jenseits der Begriffe erhalten kann, lässt sich aber nicht erklären, wie sie dies zu tun vermag. Nimmt man etwa den Begriff der Ursache, der ein Verhältnis zwischen Qualitäten bzw. Realitäten betrifft, so lässt er sich nicht anders als durch ein Beispiel in der sinnlichen Anschauung darstellen, das die Erfahrung gibt und das eine dem Begriff hinzukommende synthetische Bestimmung a priori vorstellt. Bei der Philosophie geht es daher um eine „transzendentale Synthesis aus lauter Begriffen“ (A 719/B 747), welche die Existenz des durch solche Begriffe bezeichneten Gegenstands betrifft. Dem Philosophen geht es beim Begriff der Ursache nicht um eine bloße Zergliederung, die zu allen darin enthaltenen Merkmalen gelangt und durch die die Erkenntnis eines solchen Begriffs eigentlich nicht erweitert, sondern lediglich aufgeklärt wird. Vielmehr geht es ihm um die synthetische Erkenntnis a priori der Ursache als etwas Reales, das heißt um eine synthetische Erkenntnis a priori des durch den Begriff der Ursache bezeichneten Gegenstands als eines realen, wirklichen oder existierenden Gegenstands: „Aber in den mathematischen Aufgaben ist hiervon und überhaupt von der Existenz gar nicht die Frage, sondern von den Eigenschaften der Gegenstände an sich selbst, lediglich so fern diese mit dem Begriffe derselben verbunden sind“ (A 719/B 747). Die mathematische und die philosophische Erkenntnis geht daher die gleichen Elemente an, aber auf umgekehrte Weise.864 Da die Philosophie ihren Gegenstand nicht in der reinen Anschauung darzustellen vermag, sind ihre Begriffe bloße Regeln zur „Synthesis möglicher Anschauungen, die a priori nicht gegeben sind“ (A 719/B 747). Sie sind bloße Regeln der „Synthesis der empirischen Anschauung“ (A 722/B 750; A 723/B 751) oder auch der „Synthesis möglicher Empfindungen, sofern sie zur Einheit der Apperzeption (in einer möglichen Erfahrung)“ (A 723/B 751) gehören. Genau darin liegt der Grund des Unterschieds zwischen der diskursiven philosophischen Erkenntnis und der anschaulichen mathematischen Erkenntnis. Während die Philosophie als Diskurs sich mit Begriffen als Regeln zur Synthesis möglicher empirischer Anschauung (als etwas Allgemeines, das nicht direkt im Einzelnen instanziiert wird) beschäftigt, geht es der Mathematik um Begriffe als anschauliche Darstellungen a priori von Gegenständen (von besonderen, die zugleich allgemeine sind). Der Philosophie kommen nur „transzendentale Sätze“ (A 721/ B 749) bzw. „Grundsätze zur Synthesis möglicher empirischer Anschauungen“ zu, die als Regeln der Synthesis die Bedingungen der Objektivität eines be864

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„So gibt es denn einen doppelten Vernunftgebrauch, der, unerachtet der Allgemeinheit der Erkenntnis und ihrer Erzeugung a priori, welche sie gemein haben, dennoch im Fortgang sehr verschieden ist, und zwar darum, weil in der Erscheinung, als wodurch uns alle Gegenstände gegeben werden, zwei Stücke sind: die Form der Anschauung (Raum und Zeit), die völlig a priori erkannt und bestimmt werden kann, und die Materie (das Physische) oder der Gehalt, welche ein Etwa bedeutet, das im Raum und der Zeit angetroffen wird, mithin ein Dasein enthält und der Empfindung korrespondiert“ (A 723/B 752).

stimmten Mannigfaltigen nennen, das andernorts als durch diese Sätze gegeben bzw. gesucht werden muss. Synthetische Sätze, die auf Dinge überhaupt, deren Anschauung sich a priori gar nicht geben läßt, gehen, sind transscendental. Demnach lassen sich transscendentale Sätze niemals durch Construction der Begriffe, sondern nur nach Begriffen a priori geben. Sie enthalten bloß die Regel, nach der eine gewisse synthetische Einheit desjenigen, was nicht a priori anschaulich vorgestellt werden kann (der Wahrnehmungen), empirisch gesucht werden soll (A 720–721/B 748–749).

Der transzendentale Grundsatz ermöglicht daher eine „synthetische Vernunfterkenntnis aus bloßen Begriffen“ und ist folglich immer ein diskursiver, nicht anschaulicher Grundsatz. Die Begriffe, mit denen die Philosophie sich beschäftigt, machen die synthetische Einheit der empirischen Erkenntnis möglich, aber produzieren niemals die Anschauung, die den ihr korrespondierenden Gegenstand darstellt (A 722/B 750).865 Daraus folgt, dass die Philosophie andernorts die Bestimmung ihrer Begriffe suchen muss, nämlich bei „etwas Anderem“866 bzw. bei einem „Dritten“867. Die „Äußerlichkeit“ des Gegenstands der Philosophie in Bezug auf die Grundsätze, durch die er erkannt wird, führt zwangsläufig zu der Untersuchung der Grenzen, die der synthetischen Erkenntnis der spekulativen Vernunft gesetzt sind. Kant definiert die Grenzbestimmung der „reinen Vernunft im transzendentalen Gebrauche“ sogar als eine „Pflicht“ (A 726/B 754). Statt der irreführenden Anwendung der mathematischen Methode auf ihre Gegenstände, wodurch die Philosophen mit dem Titel „Meister über die Natur“ (A 725/ B 753) prahlen und unbemerkt „von dem Felde der Sinnlichkeit auf den unsicheren Boden reiner und selbst transzendentaler Begriffe [geraten]“ (A 725– 726/B 753–755), soll die Philosophie eine Erforschung des „Ursprung[s] reiner Verstandesbegriffe, und hiermit auch [des] Umfang[es] ihrer Gültigkeit“ (A 725/ B 753), vorantreiben. Der Philosophie stellt sich damit die Aufgabe, durch eine Untersuchung über den Ursprung ihrer Begriffe den Geltungsbereich der synthetischen Regeln zu bestimmen, durch die man den immanenten (und deshalb objektiven) Gebrauch eines bestimmten Begriffs als synthetische Einheit eines Mannigfaltigen rechtfertigt. Anders formuliert: Der Philosophie kommen eine metaphysische (Erforschung des Ursprungs) und eine transzendentale (Erfor865

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Ein Verstand, der seine eigenen Gegenstände produzieren würde, heißt göttlicher Verstand. Vgl. u. a. B 145; KU 405–406. Über die Eigentümlichkeit des menschlichen Verstandes im Vergleich mit einem anderen vollstellbaren Verstand siehe unten Kapitel 9. „Alles, was da ist (ein Ding im Raum oder der Zeit), zu erwägen, ob und wie fern es ein Quantum ist oder nicht, daß ein Dasein in demselben oder Mangel vorgestellt werden müsse, wie fern dieses Etwas (welches Raum oder Zeit erfüllt) ein erstes Substratum, oder bloße Bestimmung sei, eine Beziehung seines Dasein auf etwas Anderes, als Ursache oder Wirkung, habe, und endlich isoliert oder in wechselseitiger Abhängigkeit mit andern in Ansehung des Dasein stehe, die Möglichkeit dieses Dasein, die Wirklichkeit und Notwendigkeit, oder die Gegenteile derselben zu erwägen: dieses alles gehöret zum Vernunfterkenntnis aus Begriffen, welches philosophisch genannt wird“ (A 724/B 752). „Nun läßt sich nicht ein Begriff mit dem anderen synthetisch und doch unmittelbar verbinden, weil, damit wir über einen Begriff hinausgehen können, ein drittes vermittelndes Erkenntnis nötig ist“ (A 732/B 760).

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schung der Gültigkeit) Deduktion zu, damit sie den „Umfang der Gültigkeit“ ihrer Begriffe bestimmen kann. Wie schon erwähnt, tritt das Recht anstelle der Mathematik auf. c) Nach der Erklärung der Besonderheit der philosophischen und der mathematischen Erkenntnis und der Darlegung des wesentlichen Unterschieds zwischen den beiden wendet sich Kant der Erörterung der jeweiligen methodologischen Grundsteine zu. Die „Gründlichkeit der Mathematik“ beruht, so Kant, auf ihren drei methodologischen Grundelementen, nämlich auf den Definitionen, den Axiomen und den Demonstrationen. Keines von ihnen darf jedoch in der Philosophie verwendet werden, wenigstens nicht „in dem Sinne, darin sie der Mathematiker nimmt“ (A 726/B 754). Stattdessen spricht Kant mit Blick auf die Philosophie von Expositionen, Deduktionen und akroamatischen Beweisen. Was die Definition betrifft, erkennt Kant einen Oberbegriff, der sie und die weiteren damit verbundenen und im Folgenden darzustellenden Begriffe umfasst, nämlich die Erklärung (A 730/B 758). Es gibt Kant zufolge zwei mögliche Erklärungen: analytische und synthetische (Log AA 09: 141).868 Die analytischen Erklärungen sind diejenigen, die entweder a posteriori (wie der Begriff des Goldes) oder a priori (wie die Begriffe „Subtanz, Ursache, Recht, Billigkeit“) gegebene Begriffe erklären (A 728/B 756). Sie sind daher besser als Explikation und Exposition zu bezeichnen (A 730/B 758). Die synthetischen Erklärungen sind wiederum solche, die entweder die a posteriori (wie der Begriff der „Schiffsuhr“) (A 729/B 757) oder die a priori (wie der Begriff des Dreiecks) gemachten Begriffe erklären. Sie sind daher als Deklaration und Definition zu bezeichnen (A 730/B 758). Die Definition im eigentlichen Sinne bezeichnet somit nur die a priori gemachten Begriffe, das heißt die Begriffe, die in einer reinen Anschauung konstruiert, sprich „gemacht“ werden – mit anderen Worten: nur die mathema-

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Kant nennt auch eine weitere Einteilung, nämlich die zwischen Nominal- und Real-Definition bzw. Namen-Erklärung und Sach-Erklärung (vgl. Log, AA 09: 142–143). Die Nominal-Definitionen „I) contain the meaning arbitrarly given to a certain name, i.e, give a ‘conventional meaning’ to a name […] (II) are those whose concept sufficiently indicates all that one subjectively knows of a certain thing; (III) indicate only the logical essence (logische Wesen) of the concepts they define“. Die Real-Definitionen dagegen „(I) like all definitions perform the primary function of ‘giving a name’ to concepts in order to distinguish them one from the other […]; (II) are capable of expressing all that objectively belongs to the defined concepts; (III) contain the real essence (Realwesen) of the defined concepts and are sufficient for the knowledge of the object (Object) according to its internal determinations (Bestimmungen) insofar as they exhibit the possibility of the object (Gegenstand) on the basis of its internal characteristics (Merkmale) alone“. Capozzi, M. „Kant on Mathematical Definition“. In: Chiara, M. L. D. (Hrsg.). Italian Studies in the Philosophy of Science. Dordrecht: Springer, 1981, S. 426. Dementsprechend behauptet Kant, dass man für gegebene Begriffe nur eine Nominal-Definition geben kann, weil man weder bei empirisch gegebenen Begriffen noch bei a priori gegebenen Begriffe wissen kann, ob die in der Definition gegebenen Merkmale das Realwesen des Begriffs ausmachen. Bei den a priori gemachten Begriffen kann man dagegen zu einer Real-Definition gelangen, weil die Definition des Begriffs mit seiner Konstruktion, durch die seine wesentlichen Merkmale bestimmt bzw. „hergestellt“ werden, zusammenfällt. Zu einer eingehenden Diskussion über die Arten von Definitionen bei Kant vgl. u. a. Beck, L. W. „Kant’s Theory of Definition“. In: The Philosophical Review, Vol. 65, No. 2, 1956, S. 179–191.

tischen, nicht die philosophischen Begriffe.869 Tatsächlich genügen lediglich die mathematischen Begriffe wie der des Dreiecks dem Sinn von „Definieren“, insofern „definieren […], wie es der Ausdruck selbst gibt, eigentlich nur so viel bedeuten [soll], als, den ausführlichen Begriff eines Dinges innerhalb seiner Grenzen ursprünglich darstellen“ (A 727/B 755). Dies zeigt, dass nur in einer Definition die Beschreibung aller dem Begriff zugehörigen Merkmale und die vollkommene Beschreibung des Gegenstands koinzidieren. In einer Deklaration fehlt demgegenüber etwas Wesentliches, nämlich dass durch sie „der Gegenstand und dessen Möglichkeit […] noch nicht gegeben [wird]“ (A 729/B 757). In einer Explikation kann es immer sein, dass der empirische Begriff weitere, aktuelle oder im Laufe der empirischen Forschung noch aufzudeckende Merkmale hat, die ihr wesentlich angehören (A 728/ B 756). In der der reinen Philosophie eigentümlichen Erklärungsart, nämlich in der Exposition, „kann ich niemals sicher sein, daß die deutliche Vorstellung eines (noch verworren) gegebenen Begriffs ausführlich entwickelt worden, als wenn ich weiß, daß dieselbe dem Gegenstande adäquat sei“ (A 728/B 756). Dies bedeutet, dass in der Exposition die synthetische Bestimmung, die dem Begriff Wirklichkeit verschafft, immer ausbleibt. Bei der Exposition muss daher stets diese synthetische Bestimmung von anderswoher kommen als von der Erklärung oder von dem Akt der Produktion des Gegenstands selbst, wie dies bei der Mathematik der Fall ist. Anders gesagt: Nur in der Mathematik fallen das logische Wesen und das Realwesen zusammen (vgl. z. B. V-Lo/Blomberg AA 24: 269). Auch dabei wird der Unterschied zwischen der philosophischen Erkenntnis aus Vernunfterkenntnis von bloßen Begriffen und der mathematischen Erkenntnis als Vernunfterkenntnis aus der Konstruktion der Begriffe deutlich. Die Philosophie soll, so Kant, auf den Anspruch verzichten, auf gleiche Weise wie die Mathematik ihre Begriffe zu definieren; stattdessen soll sie sich damit zufriedengeben, die Begriffe zu „exponieren“, das heißt sie „analytisch durch Zergliederung (deren Vollständigkeit nicht apodiktisch gewiß ist)“ zu erklären (A 730/ B 758).870 Daraus ergibt sich, dass die Erklärungen bzw. Expositionen der reinen philosophischen Begriffe entweder unvollständig sein können, insofern man sich nie der Vollständigkeit der Zergliederung gewiss sein kann, oder sie können sogar irrtümlich sein, insofern darin Merkmale enthalten sind, die dem Begriff nicht angehören (A 732/B 760). Kant schließt daraus, dass die Philosophie am Anfang der Untersuchung Erklärungen als „bloße Versuche“ (A 730/B 759) benutzt, um die anfänglich angenommenen Begriffe erst im Laufe der Untersuchung näher zu erklären bzw. zu bestimmen.871 Zusammenfassend muss „in der

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Wolff hingegen versteht die Definitionen in der Philosophie als Ausgangpunkt und erkennt sie nicht als Ergebnis der Untersuchung. Vgl. Wolff, C. Einleitende Abhandlung über Philosophie im allgemeinen, a. a. O., § 119. Zu einem Versuch, diese Vorschriften auf die „Vernunftkritik“ anzuwenden, siehe Caimi, M. „Application of the Doctrine of Methode in the critical examination of reason“. In: Studia Kantiana, 13, 2012. „Denn, da sie [scil. die ‚Definitionen‘ in der Philosophie] Zergliederungen gegebener Begriffe sind, so gehen diese Begriffe, obzwar nur noch verworren, voran, und die unvollständige Exposition geht vor der vollständigen“ (A 730/B 758). Als Beispiel kann die Bestimmung der „Vernunftgesetze“ in der Dialektik genannt werden. Wie im zehnten Kapi-

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Philosophie die Definition, als abgemessene Deutlichkeit, das Werk eher schließen, als anfangen“ (A 731/B 759). Kants Kritik an dem mos geometricus ist hier unverkennbar. Was die Axiome betrifft, erklärt Kant diese als synthetische Grundsätze a priori, „sofern sie unmittelbar gewiß sind“ (A 732/B 760). Da nun die Philosophie die synthetische Erkenntnis a priori aus bloßen Begriffen ist, kann sie auf keinen Fall unmittelbar gewiss sein. Zur synthetischen Verknüpfung von Begriffen muss man „über einen Begriff hinausgehen“ und folglich „eine dritte vermittelnde Erkenntnis“ annehmen (A 732/B 760). Die Mathematik kann wiederum unmittelbar gewisse Grundsätze haben, weil sie ihre Begriffe in der reinen Anschauung konstruiert und demzufolge mit einem gemachten bzw. konstruierten Begriff eine synthetische Bestimmung a priori verknüpft, wie z. B. in dem Satz: Die Summe der Innenwinkel in einem Dreieck beträgt immer 180 Grad. Infolgedessen sind die Axiome in der Mathematik möglich. In der Philosophie ist die Verknüpfung jedoch immer auf ein „Etwas“ angewiesen, das außerhalb der verknüpften Begriffe liegt, wie z. B. in dem Satz: Alles was geschieht, hat eine Ursache. Dieser Satz kann nie unmittelbar gewiss sein, „da ich mich nach einem Dritten herumsehen muß, nämlich der Bedingung der Zeitbestimmung in einer Erfahrung“ (A 733/B 761). Die mögliche Erfahrung bzw. eine empirische Anschauung bleibt das „Dritte“, das die synthetische Verknüpfung zwischen den Begriffen und folglich die Erweiterung der Erkenntnis ermöglicht. Statt Axiome hat die Philosophie Grundsätze, zu deren Begründung man aber einer Deduktion bedarf. Die Philosophie hat also keine Axiome und darf niemals ihre Grundsätze a priori so schlechthin gebieten, sondern muß sich dazu bequemem, ihre Befugnis wegen derselben durch gründliche Deduktion zu rechtfertigen (A 733–734/B 761–762).

Was schließlich die Demonstrationen betrifft, weist Kant darauf hin, dass nur ein apodiktischer anschaulicher Beweis a priori, also einer, der nicht auf empirischen Anschauungen beruht, diese Bezeichnung verdient (A 734/B 762). Daraus folgt, dass aus bloßen Begriffen a priori keine „anschauende Gewißheit“ und daher keine „Evidenz“ gewonnen werden kann; diese sind lediglich in einer Konstruktion von Begriffen in der reinen Anschauung möglich. Anders gesagt: Demonstrationen sind nur in der Mathematik möglich, nicht in der Philosophie. In dieser kann es nur akroamatische (diskursive) Beweise geben.872 Solche Beweise lassen sich

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tel gezeigt wird, kommt die Definition der Vernunftgesetze erst im Laufe der Exposition der Transzendentalen Dialektik zustande. „Akroamatisch“ bezeichnete die „zum Hören bestimmte“ Darstellung: „‚Akroamatisch‘ (ἀ κροματικό ς) nennt man in der Spätantike ‚zum Hören bestimmte‘ oder aus Vorträgen (ἀ κροά σεις) entstandene Lehrschriften (so vor allem die des Aristoteles); dagegen meint ‚erotematisch‘ (ἐ ρωτηματικό ς) eine ‚fragende‘, d. h. dialogische Lehrweise“. Waldenfels, B. „Akroamatisch/eromatisch“. In: Historisches Wörterbuch der Philosophie. Bd. 1, a. a. O., S. 128. In den Vorlesungen über Logik und in der Tugendlehre stellt Kant tatsächlich den akroamatischen dem eromatischen Vortrag entgegen. Letzterer umfasst die dialogische sowie die katechetische Lehrart (MdS, AA 06: 478). Die eromatisch-dialogische Lehrart ist die „sokratische Lehrart“, die akroamatische Lehrart dagegen die „platonische Lehrart“ (vgl. V-Lo/Dohna AA 24: 780). Kant sah sich als derjenige, der zum ersten Mal den Be-

durch „lauter Wörter (den Gegenstand in Gedanken)“ und nie durch den Akt einer „anschaulichen“ Konstruktion des Gegenstands, dessen Existenz und objektive Realität man beweisen will, durchführen.873 Die angeblichen „direktsynthetischen“ Sätze a priori aus bloßen Begriffen sind daher dogmata im Gegensatz zu den mathemata, den direktsynthetischen Sätzen a priori aus der Konstruktion von Begriffen. Anders als bei der Mathematik aber „enthält die ganze reine Vernunft in ihrem bloß spekulativen Gebrauche nicht ein einziges direktsynthetisches Urteil aus Begriffen“ (A 736/B 764). Denn mit Blick auf die transzendentalen Ideen gibt es keinen synthetischen Satz a priori mit objektiver Realität, und hinsichtlich der Kategorien lassen sich alle „sicheren Grundsätze“ nur indirekt beweisen bzw. bestätigen, nämlich durch die „Beziehung […] auf etwas ganz Zufälliges, nämlich mögliche Erfahrung“ (A 737/B 765).874 Das Prinzip der Kausalität z. B. lässt sich nicht durch eine bloße Zergliederung der Begriffe von Ursachen oder Wirkungen „einsehen“, sondern bedarf zur Bestätigung ihrer objektiven Realität einer empirischen Anschauung. Daher, so Kant, ist es „kein Dogma“, sondern ein Grundsatz im Sinne einer Regel zur Synthesis von empirischen Anschauungen, folglich ein „Lehrsatz“. Die Dogmen oder Lehrsprüche sind die künstlichen und trügerischen Mittel, mit denen die Philosophen die mathematische Methode nachzuahmen versuchen, statt eine kritische Untersuchung durchzuführen, deren Ziel es sein soll, „die Blendwerke einer ihre Grenzen verkennenden Vernunft zu entdecken und vermittelst hinreichender Aufklärung unserer Begriffe den Eigendünkel der Speculation auf das bescheidene, aber gründliche Selbsterkenntniß zurückzuführen“ (A 735/B 763). Alle Philosophen, die eine „dogmatische Methode“ (A 737–738/B 765–766) annehmen und sich keiner Disziplin des dogmatischen Gebrauchs der reinen Vernunft unterwerfen, gehen daher in die Irre. Den möglichen und gültigen Beweisen in der Philosophie der reinen Vernunft wendet sich Kant in den weiteren Abschnitten des Disziplin-Kapitels zu. Als Fazit der „Disziplin der reinen Vernunft im dogmatischen Gebrauche“ kann festgehalten werden, dass Kant mit der Zurückweisung der Nachahmung der mathematischen Methode in der Philosophie und mit der daraus folgenden Ersetzung der Definitionen, Axiome und Demonstrationen durch Expositionen, Deduktionen und akroamatische Beweise mit einem großen und bedeutenden Teil der Schulphilosophie und mit der neuzeitlichen Philosophie im Allgemeinen radikal bricht. Mit der Charakterisierung der Mathematik als anschauliche Wissenschaft und der Philosophie als diskursive Wissenschaft erkennt Kant, dass es in der Philosophie prinzipiell unmöglich ist, durch den Gegenstand bezeichnete Symbole überhaupt (also allgemeine Vorstellungen), Gedanken und Dinge ursprünglich miteinander in Übereinstimmung zu bringen. J. H. Lambert bei-

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griff des Akroamatischen im Gegensatz zu dem des Anschaulichen bzw. des Axiomatischen in der Philosophie benutzt hat. „Dieser Unterschied in axiomata und acroamata ist noch nie in der Logik gemacht als von Professor Kant“ (V-Lo Pölitz AA 24: 582). „Intuitive und discursive Grundsätze: Axiome und Akroame. Grundsätze sind entweder intuitive oder discursive. Die erstern können in der Anschauung dargestellt werden und heißen Axiome (axiomata), die letztern lassen sich nur durch Begriffe ausdrücken und können Akroame (acroamata) genannt werden“ (Log AA 09: 110). Vgl. unten Kapitel 9.3.

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spielsweise, an dessen Versuch einer methodologischen Neugründung der Philosophie Kant in den 1760er Jahren teilhatte, erhebt den Anspruch, dass in der Mathematik als characteristica „die Theorie der Sache und die Theorie ihrer Zeichen mit einander [derart] verwechselt werden können“, sodass sich erstere auf die zweite reduzieren lässt.875 Da die Philosophie eine diskursive und keine anschauliche Wissenschaft ist, ist die Identität zwischen Begriff und Gegenstand und die daraus folgende Reduktion von Symbol und Ding dem Menschen nicht möglich, weil er, anders als Gott mit seinem anschaulichen Verstand, einen diskursiven Verstand hat.876 In diesem Kontext ist Kants Versuch zu sehen, Übergänge oder vermittelnde Elemente, wie das Schema, vorzuschlagen, um die radikale Ungleichartigkeit der „zwei Grundquellen des Gemüts“, Sinnlichkeit und Verstand, Rezeptivität und Spontaneität (A 50/B 74), überwinden zu können. Das Bedürfnis nach einer solchen Versöhnung oder Vereinigung, um zu objektiver Erkenntnis zu gelangen, deutet zugleich den Verzicht auf das Ideal einer apodiktisch-intuitiven Deutlichkeit der Mathematik an. An dessen Stelle kommt ein kritisches, eher bescheidenes Begründungsverfahren zur Geltung, dessen Ursprung im Recht liegt, wie im nächsten Kapitel gezeigt wird.877 8.3

Die Disziplin der reinen Vernunft in Ansehung ihres polemischen Gebrauchs, der Hypothesen und ihrer Beweise

Ein Zitat von H. Heimsoeth kann als eine zutreffende Einleitung zu den weiteren Abschnitten des Disziplin-Kapitels dienen, die zweifellos zu den bislang in der Sekundärliteratur kaum untersuchten Teilen der KrV zählen, obwohl sie für das Verständnis der kritischen Methode Kants zentral sind: Wie die Methodenlehren der Logik sich als ‚praktische‘ (Praxis der Wissenschaften) verstanden, so nimmt Kants transzendentale Methodenlehre hier im Thema des ‚polemischen‘ Vernunft-Gebrauchs eine Wendung zur Praxis des gesellschaftlichen Lebens – im Sinne der für ‚Aufklärung‘ zu fordernden Freiheit denkerischer Äußerung und Diskussion. Auf sol-

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„Die Zeichnen der Begriffe und Dinge sind ferner im engeren Verstande wissenschaftlich, wenn die nicht nur überhaupt die Begriffe oder Dinge vorstellen, sondern auch solche Verhältnisse anzeigen, daß die Theorie der Sache und die Theorie ihrer Zeichen mit einander verwechselt werden können“. Lambert, J. H. Neues Organon, a. a. O., S. 16; vgl. ebd., S. 25ff.; Simon, J. Kant: die fremde Vernunft und die Sprache der Philosophie. Berlin [u. a.]: De Gruyter, 2003, S. 568–569. Lambert steht hier Leibniz und der Idee, nur der göttliche Verstand könne eine schlechterdings klare und deutliche Erkenntnis haben, nahe. Vgl. Leibniz, G. W. Nouveaux essais sur l’entendement humain, a. a. O., Buch 4, Kap. XVII, § 15. M. Riedel zufolge bezieht sich Kants Gebrauch des Begriffs „akroamatisch“ zur Bezeichnung der eigentümlich philosophischen Beweisart auf das Fazit der Kritik, das „Kant unter dem Titel einer ‚Disziplin der reinen Vernunft im dogmatischen Gebrauche‘ mitteilt, ein Fazit, das die Form eines Urteils in dem von Kant konnotierten Sinne einer juridisch abschließenden Beurteilung oder Sentenz der Vernunft besitzt“. Riedel, M. Urteilskraft und Vernunft, a. a. O., S. 11. Die Disziplin der reinen Vernunft ersetzt das „Verfahren der a priori begründenden Vernunft“, das in der „betrüglichen“ Nachahmung der mathematischen Methode in der Philosophie zum Ausdruck kommt, durch das Ideal der „a priori urteilenden Vernunft“, das wiederum mit den juridischen Verfahren der Disziplin zum Ausdruck gebracht wird. Ebd., S. 17.

cher Freiheit beruht die ‚Existenz‘ und mögliche Wirksamkeit der Vernunft in uns als ‚Bürgern‘ eines Daseinszusammenhangs in Wechselbezügen, wo es um ‚Einstimmung‘ aus Einsicht geht. Jeder Denker muß seine ‚Bedenklichkeiten‘ oder auch das ‚Veto‘ von der Art jener Verneinungssätze äußern können. In allen, auch den höchsten Unternehmungen, muß Vernunft unter Menschen sich der Kritik einer prüfenden Durchmusterung der Sätze und Argumentationen unterwerfen.878

Die weiteren Abschnitte des Disziplin-Kapitels bilden tatsächlich eine harmonische Einheit. Sie stellen den juridisch-polemischen Vernunftgebrauch dar, den die Vernunft nach der disziplinären Einschränkung der mathematischen Methode in der Philosophie zur spekulativen Verteidigung ihrer Grundsätze übrig lässt. Die Vernunft darf demnach ihre transzendentale „Hypothese“ insofern verteidigen, als sie in einem öffentlichen, freien und der Vernunft aller Menschen geöffneten Raum ihre Gegner anficht und deren Einwände zurückweist. Da das grundlegende Ziel der Disziplin der reinen Vernunft letztendlich die Ermöglichung des praktischen Vernunftgebrauchs ist, erfüllen die weiteren Abschnitte des Disziplin-Kapitels eine nicht zu vernachlässigende Funktion. Wie in den folgenden Abschnitten der vorliegenden Arbeit erörtert wird, scheitern zwar in der Transzendentalen Dialektik die noch zu untersuchenden ostensiven und apagogischen Beweisarten bei der Rechtfertigung des spekulativen Vernunftgebrauchs; die Legitimität des Besitzes und des Gebrauchs der reinen Vernunftbegriffe überhaupt kann jedoch nicht aus diesem Grund dogmatisch widergelegt werden. Das bedeutet, dass ihre Unmöglichkeit nicht durch ostensive oder apagogische Beweise nachgewiesen werden kann. Ein solches Beweisverfahren gilt nicht nur für die kosmologischen Ideen, sondern auch für die weiteren Objekte der reinen Vernunft, Gott und Seele, hinsichtlich derer die Vernunft in keine Antinomie gerät. Was die spekulativen Ansprüche auf die Erkenntnis solcher Gegenstände angeht, ist das Entscheidende, den transzendentalen Schein oder das vitium subreptionis, dem sie ausgesetzt sind, zu verstehen. Ein solcher Schein führt dazu, dass sich bei dem Nachweis der Wahrheit des zu beweisenden Satzes bzw. Begriffs alle direkten, ostensiven Beweise als unmöglich bzw. ungültig und die indirekten, apagogischen Beweise (beide modus tollens und modus ponens) als ungültig entpuppen. Bei dem Beweis der Sätze der reinen Vernunft bleibt dem Transzendentalphilosophen nur ein polemischer Gebrauch der Vernunft selbst übrig, der gegen den dogmatischen Hochmut seines Gegners provisorisch eine Hypothese annimmt und durch Widerlegungen bzw. Retorsionen die Möglichkeit eines besonderen Gebrauchs der Ideen der Vernunft verteidigt. Solche Hypothesen, Widerlegungen und Retorsionen beschränken sich lediglich darauf, die Unmöglichkeit, die Existenz oder Nicht-Existenz der Objekte der reinen Vernunft endgültig und kategorisch nachzuweisen, indirekt und negativ zu „beweisen“. Das Ziel des zweiten Abschnitts des Disziplin-Kapitels, der „Disziplin der reinen Vernunft in Ansehung ihres polemischen Gebrauchs“, „besteht darin, sich gegen die dogmatische Verneinung metaphysischer Urteile (v. a. über Gott,

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Heimsoeth, H. Transzendentale Dialektik. Ein Kommentar zu Kants Kritik der reinen Vernunft. Bd. IV. Berlin: De Gruyter, 1971, S. 691.

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Freiheit und die Unsterblichkeit der Seele) zur Wehr zu setzen“.879 Wie Kant bereits im Antinomie-Kapitel schreibt, darf die Vernunft weder „einer skeptischen Hoffnungslosigkeit überlassen“ werden noch „einen dogmatischen Trotz annehmen“ (A 407/B 434). Im dritten Abschnitt des Disziplin-Kapitels, „Disziplin der reinen Vernunft in Ansehung der Hypothesen“, geht es um den Nachweis, dass, anders als in der Naturwissenschaft, die Hypothese in der Metaphysik bzw. in der reinen Vernunft nicht als „Erklärung“ (A 772/B 800), sondern als Widerlegung von trügerischen dogmatischen Beweisen und somit als Widerstand gegen „entgegengesetzte transzendente Anmaßungen“ (A 781/B 809) gilt. Im vierten Abschnitt des Disziplin-Kapitels, „Disziplin der reinen Vernunft in Ansehung ihrer Beweise“, kehrt das schon im ersten Abschnitt über die „Disziplin der reinen Vernunft im dogmatischen Gebrauche“ besprochene Problem der Beweise in der Philosophie zurück. Kant weist erneut darauf hin, dass sich die diskursiven Beweise der reinen Vernunft auf die synthetischen Bedingungen der Möglichkeit des zu Beweisenden beziehen, was wiederum Gelegenheit für einen Streit über Gründe und Gegengründe vor dem Gerichtshof der Vernunft schafft. Kant stellt in dieser Hinsicht drei Regel einer „Disziplin der Enthaltsamkeit“ auf (A 786ff/B 814ff): 1) Die Überlegung über die Quellen der zu beweisenden Grundsätze. 2) Es gibt nur einen Beweis für jeden transzendentalen Grundsatz und nur eine sinnliche oder reine Anschauung oder Beziehung auf die mögliche Erfahrung. 3) Der Beweis muss zur Begründung der Wahrheit des Satzes bzw. der Existenz des Gegenstands nicht apagogisch (indirekt), sondern ostensiv (direkt) ausgeführt werden. Auf diese disziplinären Maßnahmen der reinen Vernunft erfolgt dann jedoch ein kritischer, wenngleich provisorischer Gebrauch der indirekten Beweisart zur Verteidigung der Möglichkeit und nicht der Existenz der Gegenstände der reinen Vernunft. 8.3.1 Die „Disziplin der reinen Vernunft in Ansehung ihres polemischen Gebrauchs“ Die Vorstellung der doppelten Funktion der Vernunft beim Gerichtshof der Kritik kommt hier besonders zu Geltung, nämlich eine prüfende und eine richterliche Vernunft zu sein. Entsprechend finden sich die juridischen Metaphern in diesem Kapitel überall. Einige wurden bereits im ersten Kapitel der vorliegenden Arbeit erläutert. Die doppelte Rolle des Richters im forum internum bzw. forum rationis, nämlich die Parteien zu prüfen und sie unparteilich zu beurteilen, zeigt sich nun deutlich. Auf den Richter trifft die entscheidende Aufgabe zu, den Irrtum, auf den die Parteien ihre Argumente stützen, aufzudecken und so den Widerstreit der Vernunft mit sich selbst als illusorisch und als Schein zu enthüllen. Dazu gilt es jedoch, den Parteien die größtmögliche Freiheit zu erlauben, damit sie versuchen können, ihre Gründe vorzubringen und zu begründen, die des Gegners hingegen zu widerlegen. Mit Blick auf die die weiteren Gegenstände der reinen Vernunft betreffenden Sätze muss man den polemischen Gebrauch der Vernunft (im Sinne des griechischen Terminus polemos, Krieg, Streitigkeit) in Anspruch nehmen, also eine Verteidigung dieser Sätze gegen die entgegengesetzten dogmatischen Behauptungen vornehmen. 879

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Gerhardt, V. „Die Disziplin der reinen Vernunft“, a. a. O., S. 576.

Wie bereits im sechsten Kapitel gezeigt wurde, hat die skeptisch-polemische Methode im Aufbau der KrV die Bedeutung eines zetetisch-gerichtlichen Verfahrens. Daraus folgt, dass es bei der Disziplin der reinen Vernunft nicht um den Beweis der Wahrheit solcher transzendentalen Sätze geht, sondern um den Nachweis, dass ihr Gegenteil nie mit Gewissheit demonstriert werden kann. Bei den Gegenständen bzw. reinen Begriffen der Vernunft hat man einen Besitz, dessen „Titel“ zwar unzureichend ist, aber dessen Unrechtmäßigkeit überhaupt weder bewiesen noch demonstriert werden kann. Kant unterscheidet darüber hinaus den Widerstreit der Vernunft mit sich selbst im Hinblick auf die Kosmologie, die Antinomie der reinen Vernunft im eigentlichen Sinne, und die Streitigkeiten der Vernunft in Bezug auf die Theologie und die rationale Psychologie, die keinen echten Streit der Vernunft mit sich selbst bzw. keine angebliche Antinomie der reinen Vernunft darstellt. In dem kosmologischen Widerstreit ist die Vernunft sozusagen einem zweiseitigen Schein unterworfen, der die Verteidiger sowohl der Thesis als auch der Antithesis angeht; was aber die Gegenstände der Theologie und der rationalen Psychologie betrifft, herrscht nur ein einseitiger Schein, der wiederum die Anhänger des spekulativen Beweises der Existenz solcher Gegenstände angeht (A 406/B 433). So wie bei dem kosmologischen Widerstreit der Widerspruch der Vernunft mit sich selbst als angeblich oder scheinbar enthüllt wird, gibt es keinen echten Streit der Vernunft, auch nicht bei den Fragen nach der Existenz Gottes und der Seele. Beide Parteien können von dem kritischen Richter vereint werden, indem er den Geltungsbereich der Ansprüche jeder der beiden Parteien bestimmt. Die prüfende Vernunft wird schon am Anfang des Abschnitts angekündigt, nämlich an einer Stelle, die dem in der Vorrede A befindlichen Hinweis auf das Zeitalter der Kritik ähnelt. Die Vernunft muß sich in allen ihren Unternehmungen der Kritik unterwerfen, und kann der Freiheit derselben durch kein Verbot Abbruch tun, ohne sich selbst zu schaden und einen ihr nachteiligen Verdacht auf sich zu ziehen. Da ist nun nichts so wichtig, in Ansehung des Nutzens, nichts so heilig, das sich dieser prüfenden und musternden Durchsuchung, die kein Ansehen der Person kennt, entziehen dürfte. Auf dieser Freiheit beruht sogar die Existenz der Vernunft, die kein diktatorisches Ansehen hat, sondern deren Ausspruch jederzeit nichts als die Einstimmung freier Bürger ist, deren jeglicher seine Bedenklichkeiten, ja sogar sein Veto, ohne Zurückhalten muß äußern können (A 738–739/B 767).

Kant bezieht sich zwar nicht auf die Vernunft, sondern nur auf die Kritik als eine prüfende Durchsuchung; der Sache nach aber kommt der Vernunft die Aufgabe der Prüfung und Erforschung zu. Dafür ist ihr die größtmögliche Freiheit zu gewähren. Alle Hindernisse zur kritischen Durchsuchung – sei es die unbestreitbare Autorität irgendeiner Lehre, sei es die Unverletzlichkeit eines Themas – laufen auf den spekulativen Tod der Vernunft hinaus. Die „Existenz der Vernunft“ beruht eigentlich auf „dieser Freiheit“. Damit ist die Freiheit dieser Durchsuchung, die Forschungsfreiheit, anders gesagt die „Einstimmung freier Bürger“ gemeint. Diese Idee hängt mit Kants Hinweis auf die „Euthanasie der reinen Vernunft“ zusammen, die eine echte Antinomie der Vernunft und das daraus folgende Dilemma zwischen einer „skeptischen Hoffnungslosigkeit“ und einem

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„dogmatischen Trotz“ verursachen würde (A 407/B 434).880 Die Zensur oder die Einschränkung der Kritik bedeutet nun den Tod „von außen“, den Verlust der Freiheit, auf der die „Existenz der Vernunft“ beruht; die Antinomie der Vernunft bedeutet den Tod „von innen“, die Ohnmacht der Vernunft gegenüber ihren eigenen Widersprüchen. Der Gesetzgebung der Vernunft droht in beiden Fällen Gefahr: Die einander widersprechenden Gesetze bedeuten ihre Ungültigkeit, und die Zensur bedeutet den „Depotism“ (V-Anth/Mron AA 25: 129) oder die „Tyranei“ (V-Anth/Dohna AA 25: 323).881 Nach der „prüfenden Durchsuchung“ der Vernunft bei ihrem Gerichtshof wird die Entscheidung, das Verdikt gefällt. Die Idee einer kritisch-richterlichen Vernunft kommt hier eindeutig zur Geltung. Die Vernunft kann sich zwar „der Kritik vielmals verweigern“, aber sie hat „nicht jederzeit Ursache, sie zu scheuen“ (A 739/B 767).882 Aber die reine Vernunft in ihrem dogmatischen (nicht mathematischen) Gebrauche ist sich nicht so sehr der genauesten Beobachtung ihrer obersten Gesetze bewußt, daß sie nicht mit Blödigkeit, ja mit gänzlicher Ablegung alles angemaßten dogmatischen Ansehens vor dem kritischen Auge einer höheren und richterlichen Vernunft erscheinen müßte (A 739/B 767).

Gegen die „Zensur des Richters“ zu kämpfen, ist aber nicht dasselbe, als sich gegen die „Ansprüche des Mitbürgers“ zu verteidigen. Wenn sie sowohl im Bejahen als auch im Verneinen dogmatisch sind, also entweder dogmatische Rationalisten oder dogmatische Skeptiker, dann beruht die Verteidigung in einer „ad hominem Rechtfertigung“, sodass der „titulierte Besitz […] wider alle Beeinträchtigung“ gesichert wird und „keine fremden Anmaßungen scheuen“ darf, obwohl man seine Wahrheit nicht „hinreichend“ beweisen kann. Kant weist dabei auf den Zweck und die Grenzen des polemischen Gebrauchs der reinen Vernunft hin. Der polemische Gebrauch der reinen Vernunft schützt deren Endzwecke, nämlich 880

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Kant weist ferner auf weitere „Todesfälle“ der Vernunft hin. In der Anthropologie DohnaWundlacken sagt er, dass die Nachahmung, sprich die unkritische Anlehnung an eine Lehre, den „Tod der gesunden Vernunft“ bedeutet (Ko, 152). In der Religionsschrift schreibt Kant wiederum, dass „der schwärmerische Religionswahn der moralische Tod der Vernunft“ ist (RGV AA 06: 175). Kant weist bereits Anfang der 1770er Jahre darauf hin, dass die Denkfreiheit zum Fortschritt der menschlichen Erkenntnis unausweichlich ist: „Die Freyheit der Mittheilung seiner Gedancken, Urtheile, Kenntniße aber ist gewiß das einzige sichereste Mittel seine Kenntniße recht zu prüfen, und zu verificiren. und wer diese Freyheit wegnimmt, der ist als der argeste Feind der Ausbreitung der menschlichen Erkenntniße ja der Menschen selbst anzusehen […]. Die Beraubung der Freyheit Ungezwungen zu dencken, und diese seine Gedancken ans Licht zu bringen, ist wircklich eine Beraubung der ersten Rechte der größten Vorzüge des menschlichen Geschlechtes, und besonders des menschlichen Verstandes. Die Menschen sind gleichsahm dazu berufen, ihre Vernunft gemeinschaftlich zu gebrauchen, und sich ihrer zu bedienen. Eben also die zeitlichen Güter dieses Lebens“ (V-Lo/Blomberg AA 24: 150–151, Hervorh. d. Verf.). Siehe auch V-Lo/Philippi AA 24: 391 (SS 1772); Rx 2566 AA 16: 419– 420 (1769–1776); Hinske, N. „Das starke Kriterium der Wahrheit“. In: Zwischen Aufklärung und Vernunftkritik, a. a. O. Ein weiteres dem Gerichtshof des Gewissens angehörendes Motiv kommt hier zum Ausdruck: Kant behauptet, dass man das Gewissen nicht vermeiden und sein Urteil nicht fürchten soll. Vgl. MdS AA 06: 438; auch V-Mo/Collins AA: 27: 356.

die moralischen Zwecke, gegen die „dogmatischen Angriffe eines speculativen Gegners“ (A 383), der sich nicht damit begnügt, die Unmöglichkeit der Erkenntnis bzw. des spekulativen Gebrauchs der reinen Vernunft bezüglich ihrer Gegenstände zu behaupten, sondern vielmehr den Anspruch erhebt, man könne in spekulativer Hinsicht die Unmöglichkeit solcher Gegenstände überhaupt und schlechterdings beweisen bzw. demonstrieren. Der Vernunft kommt daher die polemische Verteidigung gegen solche unberechtigten Angriffe zu: Unter dem polemischen Gebrauche der reinen Vernunft verstehe ich nun die Vertheidigung ihrer Sätze gegen die dogmatischen Verneinungen derselben. Hier kommt es nun nicht darauf an, ob ihre Behauptungen nicht vielleicht auch falsch sein möchten, sondern nur, daß niemand das Gegentheil jemals mit apodiktischer Gewißheit (ja auch nur mit größerem Scheine) behaupten könne. Denn wir sind alsdann doch nicht bittweise in unserem Besitz, wenn wir einen, obzwar nicht hinreichenden Titel derselben vor uns haben, und es völlig gewiß ist, daß niemand die Unrechtmäßigkeit dieses Besitzes jemals beweisen könne (A 739-740/ B 767-768).

Der juridische Jargon ist offensichtlich. Der Besitztitel (der reinen Vernunftbegriffe) ist zwar nicht spekulativ gerechtfertigt, aber dies bedeutet nicht, dass die Unrechtmäßigkeit eines solchen Besitztitels ein für alle Mal erwiesen werden kann. Anders gesagt: Obwohl man die reinen Vernunftbegriffe nicht transzendental deduzieren kann, beweist die metaphysische Deduktion derselben doch, dass sie kein Blendwerk sind und folglich die Unmöglichkeit ihres Gebrauchs überhaupt nicht bewiesen bzw. gerechtfertigt werden kann. Darauf wird in den folgenden Kapiteln noch näher eingegangen. Im Abschnitt über den polemischen Gebrauch der Vernunft nimmt Kant Bezug auf die Antithetik der Vernunft und deren kosmologischen Widerstreit zur Erläuterung eines solchen polemischen Gebrauchs. „Es ist“, so Kant, „etwas Bekümmerndes und Niederschlagendes, dass es überhaupt eine Antithetik der Vernunft geben“ und diese „mit sich selbst in Streit geraten soll“; aber die reine Vernunft, so fährt Kant fort, stellt „den obersten Gerichtshof über alle Streitigkeiten“ (A 740/B 769). In der Dialektik wurde gezeigt, dass die Antithetik der Vernunft auf „einem Mißverstande“ beruht, nämlich einem „Vorurteil“, demgemäß man „Erscheinungen für Sachen an sich selbst“ nimmt. Folglich gibt es in der Kosmologie „keinen wirklichen Widerspruch der Vernunft mit ihr selbst“. Ein solcher „Mißverstand“ bzw. ein solches Vorurteil kann aber „nicht vorgewandet und dadurch der Streit der Vernunft beigelegt werden“, wenn die anderen Gegenstände der Vernunft, nämlich Gott und die Seele, ins Spiel kommen. Wenn nämlich theistische und atheistische Behauptungen über die Existenz Gottes in der rationalen Theologie oder Ansprüche auf die Einfachheit und Unsterblichkeit der Seele in der rationalen Psychologie einander entgegengesetzt sind, dann kommt ein solches Vorurteil nicht zum Tragen. Hier ist „der Gegenstand der Frage“, nämlich Gott und die Seele „vor allem Fremdartigen, das seiner Natur widerspricht“, frei (A 741/B 769). Das bedeutet, dass man in der rationalen Theologie und der rationalen Psychologie nur „mit Sachen an sich selbst“ zu tun hat. Es gibt hierbei keinen Widerspruch und folglich keine Antinomie der reinen Vernunft, weil die reine Vernunft „auf der verneinenden Seite“ nichts zu

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sagen hat. Das dogmatische Bejahen („Gott existiert“, „die Seele ist absolut einfach und unsterblich“) kann kritisiert werden, ohne dass man aber dadurch diese Behauptungen aufgeben müsste, weil sie „wenigstens das Interesse der Vernunft für sich haben, darauf sich der Gegner gar nicht berufen kann“ (A 742/B 769). Entgegen den Ansichten des „vortrefflichen und nachdenkenden Mannes“ J. G. Sulzer behauptet Kant, dass wir die „zweien Kardinalsätze unserer Vernunft“, nämlich „es ist ein Gotte, es ist ein künftiges Leben“, trotz aller Fortschritte der Wissenschaften und vor allem trotz der Philosophie niemals „evident zu demonstrieren“ hoffen können (A 741–742/B 769–770).883 Diese Unmöglichkeit beruht nicht auf einem zu behebenden Mangel, sondern sozusagen vielmehr auf einer strukturellen Begrenzung des intuitiven menschlichen Verstandes. Der Mensch braucht zur Erkenntnis eines Gegenstands eine mögliche sinnliche Anschauung, die es aber im Fall der Gegenstände der reinen Vernunft nie geben kann. Es ist aber zugleich „auch apodiktisch gewiß, daß niemals irgend ein Mensch auftreten werde, der das Gegenteil mit dem mindesten Scheine, geschweige dogmatisch behaupten könne“ (A 742/B 770). Dies ist wohl das wichtigste Ergebnis der Kritik mit Blick auf die Metaphysik, insofern es nicht nur ein negatives Ergebnis ist, das darin besteht, dass man die Unmöglichkeit einer spekulativen Erkenntnis der Gegenstände der Vernunft als absolut ausgeschlossen beweist. Vielmehr ist es unter dem Standpunkt des moralischen Vernunftgebrauchs auch ein positives Ergebnis, weil man zugleich beweist, dass eine Demonstration der Unmöglichkeit solcher Gegenstände überhaupt und demzufolge eine Demonstration der Unmöglichkeit, von denselben einen anderen als spekulativen Gebrauch zu machen, absolut ausgeschlossen ist. Für den Gegner der Metaphysik also, (der hier nicht bloß als Kritiker betrachtet werden muß)[,] haben wir unser non liquet in Bereitschaft, welches ihn unfehlbar verwirren muß, indessen daß wir die Retorsion desselben auf uns nicht weigern, indem wir die subjective Maxime der Vernunft beständig im Rückhalte haben, die dem Gegner nothwendig fehlt, und unter deren Schutz wir alle seine Luftstreiche mit Ruhe und Gleichgültigkeit ansehen können (A 742–743/ B 770-771).

Wie auch an anderen Stellen der KrV verweist Kant auf den im sechsten Kapitel diskutierten doppelten Sinn von „Skeptizismus“. Nach der Widerlegung des dogmatischen Skeptikers, der den unberechtigten Anspruch auf die Unmöglichkeit der Gegenstände der reinen Vernunft erhebt, wendet sich Kant noch einmal dem Nutzen des gemäßigten Skeptizismus zu, der die dogmatischen Ansprüche der reinen Vernunft zurückweist und damit dieser ihren echten und ursprünglichen Bereich zuweist, nämlich den praktischen. Kants Argument ist hierbei teleo883

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Vgl. Sulzer, J. G. „Gedanken über einige Eigenschaften der Seele, in sofern sie mit den Eigenschaften der Materie eine Ähnlichkeit haben, zur Prüfung des Systems des Materialismus“. In: Vermischte philosophische Schriften. Leipzig 1773, S. 349: „Zwo der allerwichtigsten Wahrheiten sind […]: das Daseyn Gottes und die Unsterblichkeit der Seele. Es ist ausgemacht, daß der gesunde Verstand hinreicht, diese beyden Wahrheiten zu erkennen […]. Und man kann hoffen, die Philosophie dereinst auf einer höhern Stufe der Vollkommenheit zu sehen, wo sie uns dann für diese Wahrheiten eben so einleuchtende Beweise geben wird, als die Geometrie in ihrer vollkommensten Evidenz“.

logisch: „[A]lles, was die Natur selbst anordnet, ist zu irgend einer Absicht gut“. So wie Gifte dazu dienen, Heilmittel herzustellen, müssen auch die „Einwürfe wider die Überredungen und den Eigendünkel unserer bloß spekulativen Vernunft […] ihre gute Bestimmung und Absicht haben“ (A 743/B 771). Die skeptischen, sogar die dogmatisch-skeptischen Einwände gegen die dogmatischen Behauptungen hinsichtlich der Gegenstände der Vernunft haben daher eine „gute Absicht und Bestimmung“, nämlich die Selbstprüfung der reinen Vernunft. Wenn nun aber sogar der dogmatische Skeptizismus einem guten Zweck dient, gilt es, „die forschende sowohl, als prüfende Vernunft in völlige Freiheit zu versetzen, damit sie ungehindert ihr eigen Interesse besorgen könne“ (A 744/B 772). Die Vorstellung einer negativen und einer positiven Gesetzgebung der Vernunft kommt hier noch einmal zum Ausdruck. Sogar die negative Aufgabe der Kritik, Grenzen zu setzen, dient einem positiven Zweck, nämlich den moralischen Gebrauch der Vernunft zu ermöglichen. Insofern die Kritik der Vernunft „Schranken setzt“, lenkt sie die Vernunft zurück zu ihrem „natürlichen Gang“ (A 744/ B 772). Der polemische Gebrauch der reinen Vernunft hat einen weiteren, damit verbundenen und in der Idee einer Disziplin bzw. Kultur der Vernunft enthaltenen Nutzen.884 Kant fordert, dass der Gegner der Metaphysik nur mit „Waffen der Vernunft“ kämpfe. Wer Vernunft bei einer Argumentation zeige, der helfe damit dieser Vernunft (A 746/B 774). Wenn daher der Gegner der Metaphysik so handelt, „kultiviert“ er die Vernunft „durch Betrachtung ihres Gegenstandes auf zwei Seiten und berichtigt ihr Urteil dadurch, daß er solches einschränkt“ (A 744–745/B 772–773). Die Vernunft bedarf eines solchen freien Streits, und „es wäre zu wünschen, daß er eher und mit uneingeschränkter öffentlicher Erlaubnis wäre geführt worden“, weil dann umso früher eine „reife Kritik“ hätte zustande kommen können, denn die „Streitenden [hätten] ihre Verblendung und Vorurteile, welche sie veruneinigt haben, einsehen lernen“ (A 747/B 775). Die Kultur der Vernunft legt den streitenden Parteien den gemeinsamen Irrtum offen und enthüllt das Interesse, aus dem heraus beide kämpfen. Bei den skeptischen Angriffen gegen die Religion und die Moral, wie denen von Hume und Priestley (A 745/B 773), ist Kant zufolge keine Gefahr für das gemeine Wohl zu befürchten (A 746/B 774). Angesichts des Nutzens des Streits für eine „zwangslose Vernunft“ steht nicht in Frage, ob die einander widerstreitenden Argumente „gefährlich“ sind, also was dem gemeinen Besten hierunter vortheilhaft oder nachtheilig sei, sondern nur, wie weit die Vernunft es wohl in ihrer von allem Interesse abstrahirenden Speculation bringen könne, und ob man auf diese über-

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Die Idee einer Kultur der Vernunft wird auch im Kontext der „alten Griechen“ erwähnt: „Die alten Griechen (g kleine Staaten) (g chineser) philosophirten vor die Gesetzgebung und den Staat. Imgleichen Beredsamkeit, Künste, und vor den Gerichtshof in processen […] / [hatten die] Griechen keine hohen Schulen. Die Griechen trugen die philosophie nicht als eine Schulunterweisung vor, sondern als eine bloße Cultur der Vernunft; daher, da sie nicht hohe Schulen hatten, so fehlete ihrer philosophie die disciplinale Genauigkeit, Methode. Zum vortheil der Sachwalter und Redner dialectic keine Beobachtungen“ (Rx 1639 AA 16: 62 (1760–1764, 1764–1768, 1769–1770, 1773–1778)).

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haupt etwas rechnen, oder sie lieber gegen das Praktische gar aufgeben müsse (A 747/B 775).

Da der polemische Gebrauch der Vernunft letztendlich die Verteidigung des praktischen Gebrauchs der Vernunft gegen die spekulativen Anmaßungen zum Ziel hat, ist es kein Zufall, dass Kant hier auf viele auf den ersten Blick nur der praktischen Philosophie angehörenden Begriffe verweist. Er spricht z. B. über die „Unlauterkeit“ der menschlichen Natur, die dazu dient, den „Menschen aus der Rohigkeit zu bringen“, ihn zu „zivilisieren“ und dadurch wenigstens die Hoffnung auf seine „Moralisierung“ zu wecken (A 748/B 775). Kant beklagt sich, dass man dieselbe „Unlauterkeit, Verstellung und Heuchlei“ auch in den „Äußerungen der spekulativen Denkungsart“ finde, in welcher die Menschen sich im Prinzip nicht schwer damit tun, ihre wahren Gedanken zu äußern. Dies verhindert den Fortschritt der Erkenntnis, sofern die innerlich für falsch gehaltenen Gedanken öffentlich bekannt gemacht werden.885 Eine gewisse „Privateitelkeit“, so Kant, hindere den Menschen aber, die Zweifel, die er hinsichtlich seiner Überzeugungen und Ideen hat, öffentlich zum Ausdruck zu bringen. Insofern man aber der Eitelkeit anderer „mit öffentlicher Genehmigung“ widerstehe, kann man erwarten, dass „die Sachen zuletzt dahin [kommen], wo die lauterste Gesinnung und Aufrichtigkeit, obgleich weit früher, sie hingebracht haben würde“ (A 749/ B 777). Es solle daher eine gänzliche Veränderung oder Revolution der Denkungsart stattfinden (vgl. A 748–751/B 775–779).886 Kant wendet sich hier implizit gegen die dogmatischen Rationalisten, die „der guten Sache“, das heißt den Gegen885

886

272

Vgl. Rx 5028 AA 18: 65–66 (1776): „Unsre Methode befordert auch sehr die Aufrichtigkeit. Sonst muste man die Schwierigkeiten gegen wichtige Glaubenssatze der philosophie verheelen und blos das Vortheilhafte anführen. Ein paradoxer Autor konnte leicht wiederlegt werden, denn er durfte nicht mehr antworten. Der, so der Gemeinen Meinung anhing, behielt den Platz allein. Jtzt ist iedem Gedanken durch die sceptische Methode freyes Thor erofnet, und es dient selbst sein Einwurf mit der retorsion dazu, um die Schranken des Verstandes besser zu bestimmen. Das ist auch eine fallacia ignorationis elenchi, von der Schädlichkeit eines Satzes anzufangen, wenn man seine Richtigkeit untersuchen soll. Wann werden wir einmal diesen großen rest einer barbarischen Verfassung ablegen, der Vernunft, die doch das einzige ist, was uns leiten kann, den weg gebieterisch vorzuzeichnen. Der hat in solchen Streitigkeiten immer Recht, der das letzte Wort hat. Der aber hat iederzeit das letzte wort, der den orthodoxen satz behauptet. Denn entweder der [Buchhändler] Verleger ist schon in fiscalischer Untersuchung etc. etc.“. Neben dem sehr bekannten Bild einer „Revolution“, wie der von Kopernikus (B xv–xvi), verweist Kant auch auf eine „Revolution in der Gesinnung im Menschen“, „eine Art von Wiedergeburt“, „gleich als durch eine neue Schöpfung“ (RGV AA 06: 47). Zum Bedarf nach Aufrichtigkeit, die für den Erfolg einer solchen „Revolution der Denkungsart“ erforderlich ist, siehe auch Verkündigung des nahen Abschlusses eines Tractats zum ewigen Frieden in der Philosophie: „Das Gebot: du sollst (und wenn es auch in der frömmsten Absicht wäre) nicht lügen, zum Grundsatz in die Philosophie als eine Weisheitslehre innigst aufgenommen, würde allein den ewigen Frieden in ihr nicht nur bewirken, sondern auch in alle Zukunft sichern können“ (VNAEF AA 08: 422; vgl. auch Santos, L. R. „Da Linguagem Jurídica da Filosofia Crítica à Arqueologia da Razão Prática“, a. a. O.). Schließlich ist auch zu erwähnen, dass Kant in seiner schriftstellerischen Tätigkeit eine Funktion sah, eine solche Revolution zu initiieren: „[D]a kann meine Schrift [die KrV] sie mag stehen oder fallen nicht anders als eine gänzliche Veränderung der Denkungsart in diesem uns so innigst angelegenen Theile menschlicher Erkenntnisse hervorbringen“, nämlich die Metaphysik. Brief an Herz, 11.05.1781, AA 10: 269.

ständen der reinen Vernunft, „eher durch Scheingründe zu Hülfe kommen“ (A 749/B 77). Wenn die Philosophen bei den spekulativen Streitigkeiten aufrichtig gewesen wären, dann wären die wichtigsten Fragen der Vernunft über Seele, Gott und Freiheit längst gelöst worden – oder wenigstens im Begriff, es zu werden. Kant ist hier eindeutig: Die Kultur der Vernunft, ihre Kultivierung oder progressive Zivilisierung kann nur unter der Bedingung der Aufrichtigkeit aller Beteiligten, sprich alle vernunftbegabten Wesen, die die Gründe des Gegners aufrichtig und skeptisch aufnehmen und die Vernunft polemisch verteidigen, gefördert werden. Im Kontext der Kultur der Vernunft kommen die negativen und positiven Aspekte der Gesetzgebung der Vernunft deutlicher zur Geltung. Damit hängt auch die am Anfang der vorliegenden Arbeit zitierte Stelle aus dem Abschnitt über den polemischen Gebrauch der Vernunft zum Gerichtshof der Vernunft zusammen: Man kann die Kritik der reinen Vernunft als den wahren Gerichtshof für alle Streitigkeiten derselben ansehen; denn sie ist in die letzteren, als welche auf Objekte unmittelbar gehen, nicht mit verwickelt, sondern ist dazu gesetzt, die Rechtsame der Vernunft überhaupt nach den Grundsätzen ihrer ersten Institution zu bestimmen und zu beurteilen (A 751/ B 779).

Bemerkenswerterweise betont Kant ausdrücklich, dass die Vernunft in einen Streit gerät, der nicht unmittelbar die „Objekte“ (also ob Gott existiert, ob die Seele unsterblich ist und ob der Mensch frei ist usw.), sondern vielmehr die Rechtsamen hinsichtlich des legitimen oder illegitimen Gebrauchs solcher Objekte bzw. ihrer Begriffe betrifft. Diese Rechtsame sind durch die gesetzgebende Vernunft bestimmt und werden durch die gerichtliche Vernunft gewährt. Unter Rechtsame der Vernunft versteht Kant gemäß dem juridischen Jargon der Zeit nicht die „Rechte“ im eigentlichen Sinne, sondern die auf Rechten oder Gesetzen beruhenden Befugnisse.887 Der Begriff „Befugnis“ wiederum ist seinerseits mit dem der „Deduktion“ eng verknüpft.888 Die Deduktion prüft nun die Befugnisse, Rechtsame bzw. Gerechtsame zum rechtmäßigen Gebrauch eines Gegenstands bzw. zu einer Ausübung eines Rechts (vgl. Prol AA 04: 371). Einen weiteren Beleg dazu findet man in den Fortschritten. Kant spricht hier von einer „Deduktion der Rechtsame der Vernunft zur Bestimmung a priori“ (FM AA 20: 319–320), das heißt einer 887

888

Im Grammatisch-Kritischen Wörterbuch der Hochdeutschen Mundart von Adelung liest man: „Die Gerêchtsame, plur. die -n, die in einem Rechte oder Gesetze gegründete Befugniß. Eines Gerechtsamen kränken. Eine Stadt, welche viele Gerechtsamen hat. Anm. Im Oberdeutschen nur Rechtsame. In eben dieser Mundart hat man auch das Bey- und Nebenwort gerechtsam für rechtmäßig, und Gerechtsamkeit für die Gerechtsame. Es ist unbegründet, wenn einige behaupten Gerechtsamen habe keinen Singular. Indessen kommt der Plural freylich häufiger vor“. Adelung, J. C. Verbete. „Gerechtsame“, Grammatisch-Kritisches Wörterbuch der Hochdeutschen Mundart, a. a. O., Bd. 2, S. 582. Vgl. auch Zedler: „Rechtsame oder Gerechtsame sind so viel, als die gewissen Personen zustehenden besondern Rechte und Gerechtlichkeiten, oder Befugnisse“. Zedler, J. H. Großes vollständiges Universal-Lexicon, Bd. 30, S. 1423. „Die Deductiōn, plur. die -en, aus dem Lat. deductio, eine Schrift, worin die Ansprüche und darauf gegründeten Gerechtsame einer streitenden Partey untersucht werden“. Ebd., Bd. 1, S. 1433.

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Deduktion der Befugnisse zur Bestimmung a priori oder zum „Besitz“ und „Gebrauch“ gewisser Begriffe a priori.889 Die KrV ist daher der Gerichtshof, in dem über die Befugnisse der reinen Vernunft hinsichtlich ihres spekulativen und praktischen Gebrauchs geurteilt wird. Da keine transzendentale Deduktion des spekulativ-konstitutiven Gebrauchs der transzendentalen Ideen möglich ist, bleibt für die Vernunft nur ein polemischer Gebrauch übrig, der gegen die skeptischdogmatischen spekulativen Anmaßungen die Befugnis eines praktischen Gebrauchs der Gegenstände der reinen Vernunft verteidigt. Wie eine solche Verteidigung erfolgt, ist das Thema der weiteren Abschnitte des Disziplin-Kapitels. 8.3.2 Die „Disziplin der reinen Vernunft in Ansehung der Hypothese“ Hat man mit der Kritik die sokratische Lehre gelernt, dass man im reinen und spekulativen Gebrauch der reinen Vernunft eigentlich nichts weiß, stellt sich Kant zufolge die Frage: „[S]ollte sie [die Kritik] nicht ein desto weiteres Feld zu Hypothesen eröffnen, da es wenigstens vergönnt ist, zu dichten und zu meinen, wenn gleich nicht zu behaupten“? (A 769/B 798) Kant weist dies zurück und legt zwei Grundbedingungen fest, die eine Hypothese erfüllen muss, damit sie verifiziert werden kann: a) Sie soll nicht das „Feld der Erfahrung“ überschreiten (A 771– 774/B 799–802). b) Die angenommene Hypothese muss darüber hinaus geeignet sein, „daraus a priori die Folgen, welche gegeben sind, zu bestimmen“ (A 774–775/B 802–803). Eine transzendentale Hypothese, also eine solche, die auf einer Idee der Vernunft beruht, erfüllt beide Bedingungen nicht. a) Alle Ideen überschreiten das Feld der möglichen Erfahrung und können nichts empirisch bestimmen. b) Die transzendentale Hypothese erfordert ferner weitere transzendentale Hypothesen, die ihrerseits einer Rechtfertigung bedürfen – etwa wie bei der Epizykeltheorie von Ptolemäus. Kant schließt daraus nun aber nicht, dass die transzendentalen Hypothesen unmöglich oder unberechtigt sind, sondern nur, dass sie im Vergleich zu den „physischen“ Hypothesen begrenzt werden müssen. Im polemischen Gebrauch der Vernunft sind die Hypothesen nicht zur Erweiterung der Erkenntnis der spekulativen Vernunft zugelassen, sondern zur Verteidigung gegen dogmatische Einwendungen gegen die Gegenstände der reinen Vernunft. Die transzendentalen Hypothesen gelten daher nicht für die „Erklärung wirklicher Erscheinungen“ (A 771/B 799), wie in der Physik, sondern nur, im Einklang mit dem problematischen und bloß heuristischen Charakter der Ideen, zur Verteidigung eines Satzes. Das bedeutet, sie haben keine Geltung bei einem induktiven Beweis im dogmatischen Gebrauch der Vernunft, sondern nur hinsichtlich der Befugnis einer Möglichkeit (nämlich der Möglichkeit eines bestimmten Vernunftgebrauchs) im polemischen Gebrauch der Vernunft. Die im polemischen Gebrauch der Vernunft im Hinblick auf ihre Hypothese vorausgesetzte Verteidigung eines Satzes impliziert nicht dessen direkten Beweis, sondern nur die Wiederlegung des Gegensatzes: „Ich verstehe aber unter Vertheidigung nicht die Vermehrung der Beweisgründe seiner Behauptung, sondern die bloße Vereitelung der Scheineinsichten des Gegners, welche unserem behaupteten Satze Abbruch thun sollen“ (A 776/B 804). Die Eigentüm889

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Vgl. unten Kapitel 9.

lichkeit der transzendentalen Sätze der reinen Vernunft besteht tatsächlich darin, dass man sie auf einem spekulativen Standpunkt weder endgültig beweisen noch ein für alle Mal widerlegen kann. „Diese Gleichheit des Looses der menschlichen Vernunft begünstigt nun zwar im speculativen Erkenntnisse keinen von beiden, und da ist auch der rechte Kampfplatz nimmer beizulegender Fehden“ (A 776/B 804). Statt zu demonstrieren oder sogar „nur“ zu beweisen, kann man hier lediglich verteidigen. Was aber den praktischen Vernunftgebrauch betrifft, hat die Vernunft ein „Recht“, „etwas anzunehmen, was […] [sie] auf keine Weise im Felde der bloßen Spekulation, ohne hinreichende Beweisgründe, vorauszusetzen befügt wäre“. Der Mangel der spekulativen Rechtfertigung tut jedoch dem praktischen Vernunftgebrauch keinen Abbruch. Es geht bei den Ideen von Gott, Seele und Freiheit um „praktische nothwendige Voraussetzungen“, über die die spekulative Vernunft wenig zu sagen hat. Die Vernunft ist hier in einem Besitze, dessen Rechtmäßigkeit sie nicht beweisen darf, und wovon sie in der That den Beweis auch nicht führen könnte. Der Gegner soll also beweisen. Da dieser aber eben so wenig etwas von dem bezweifelten Gegenstande weiß, um dessen Nichtsein darzuthun, als der erstere, der dessen Wirklichkeit behauptet: so zeigt sich hier ein Vortheil auf der Seite desjenigen, der etwas als praktisch nothwendige Voraussetzung behauptet (melior est conditio possidentis) (A 777/B 805).

Dies bedeutet, dass die Beweislast auf der Seite dessen liegt, der die Möglichkeit der Gegenstände der Vernunft überhaupt bestreitet. Er müsste diese angebliche Unmöglichkeit spekulativ beweisen und folglich der Vernunft die Befugnis zum Gebrauch solcher Voraussetzungen entziehen. Das heißt, es gilt hier die schon in den Digesta befindliche juridische Maxime: melior est conditio possidentis.890 Der auf der Verwendung von transzendentalen Hypothesen beruhende polemische Gebrauch der Vernunft im Gerichtshof der Kritik setzt sich für die Interessen der Vernunft ein, sofern man die Befugnis, die sich auf das Recht der Vernunft, die transzendentalen Ideen zu ihrem praktischen Gebrauch vorauszusetzen, stützt, im spekulativen Bereich und mit den Waffen der spekulativen Vernunft verteidigt. Die Verwendung von transzendentalen Hypothesen ist somit dadurch legitimiert, dass man keinen Beweis der objektiven Realität der Gegenstände der reinen Vernunft zu führen, sondern vielmehr „nur zu zeigen [versucht], dass der Gegner viel zu wenig von dem Gegenstand des Streites verstehe, als daß er sich eines Vortheils der speculativen Einsicht in Ansehung unserer schmeicheln könne“ (A 777/B 805). Die transzendentalen Hypothesen der reinen Vernunft sind zusammenfassend Kriegswaffen: Hypothesen sind also im Felde der reinen Vernunft nur als Kriegswaffen erlaubt, nicht um darauf ein Recht zu gründen, sondern nur es zu vertheidigen. Den Gegner aber müssen wir hier jederzeit in uns selbst suchen. Denn speculative Vernunft in ihrem transscendentalen Gebrauche ist an sich dialektisch. Die Einwürfe, die zu fürchten sein möchten, liegen in uns selbst. Wir müssen sie gleich halten, aber niemals verjähren890

D. 50, 17, 128: „in pari causa possessor portior haberi debet“. D. 50, 17, 154: „cum par delictum est duorum, semper onertur petitor et melior habetur possessoris causa“.

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den Ansprüchen hervorsuchen, um einen ewigen Frieden auf deren Vernichtigung zu gründen. Äußere Ruhe ist nur scheinbar. Der Keim der Anfechtungen, der in der Natur der Menschenvernunft liegt, muß ausgerottet werden; wie können wir ihn aber ausrotten, wenn wir ihm nicht Freiheit, ja selbst Nahrung geben, Kraut auszuschießen, um sich dadurch zu entdecken, und es nachher mit der Wurzel zu vertilgen? Sinnet demnach selbst auf Einwürfe, auf die noch kein Gegner gefallen ist, und leihet ihm sogar Waffen, oder räumt ihm den günstigsten Platz ein, den er sich nur wünschen kann! Es ist hiebei gar nichts zu fürchten, wohl aber zu hoffen, nämlich daß ihr euch einen in alle Zukunft niemals mehr anzufechtenden Besitz verschaffen werdet (A 777–778/B 805–806).

Die transzendentalen Hypothesen sind Kriegswaffen, weil sie nicht als Begründung (im Sinne der Deduktion, der Legitimierung eines Anspruchs), sondern als Verteidigung (im Sinne des Nachweises der Unrechtmäßigkeit der Anfechtung eines Besitzes) fungieren. Die oben zitierte Passage ist außerdem von Interesse, weil dabei noch weitere kritische Motive zum Ausdruck kommen: a) Der Gegner und seine Gegengründe befinden sich in uns selbst – es geht um die Hauptvorschrift der skeptischen Methode, die „Subjektivierung“, „Verinnerlichung“ des Streits im Subjekt selbst und daher in seiner Vernunft. b) Die reine Vernunft in ihrem spekulativen Gebrauch ist dialektisch. Das bedeutet, die Gründe und Gegengründe in allen ihre Gegenstände betreffenden Streitigkeiten sind aus dem Aufbau der Vernunft zu erklären und können daher bei der „philosophierenden“ Geschichte der Philosophie und bei der Geschichte der reinen Vernunft als äußeres Zeichen einer solchen natürlichen „Dialektizität“ der Vernunft nachverfolgt werden. c) Als Voraussetzung des ewigen Friedens in der Philosophie gilt die Erforschung des Ursprungs des Irrtums in der Vernunft selbst. Man rottet damit „den Keim der Anfechtungen“ aus und sichert folglich einen „in alle Zukunft niemals mehr anzufechtenden Besitz“. d) Ein solcher Besitz betrifft eigentlich die transzendentalen Ideen, deren berechtigter Titel nur in dem praktischen Vernunftgebrauch zur Geltung kommt. Aus einem weiteren Merkmal der transzendentalen Hypothesen lässt sich erklären, warum diese Kriegswaffen sind. Sie sind zwar nur „Gegenmittel“, deren Wirkung begrenzt ist. Sobald nämlich der Gegner auf seinen „dogmatischen Eigendünkel“ verzichtet hat, muss auch der Transzendentalphilosoph seine transzendentale Hypothese aufgeben. Der solche hypothetische Gegenmittel wider die Anmaßungen des dreist verneinenden Gegners vorkehrt, muß nicht dafür gehalten werden, als wolle er sie sich als seine wahren Meinungen eigen machen. Er verläßt sie, sobald er den dogmatischen Eigendünkel des Gegners abgefertigt hat. Denn so bescheiden und gemäßigt es auch anzusehen ist, wenn jemand sich in Ansehung fremder Behauptungen bloß weigernd und verneinend verhält, so ist doch jederzeit, sobald er diese seine Einwürfe als Beweise des Gegentheils geltend machen will, der Anspruch nicht weniger stolz und eingebildet, als ob er die bejahende Partei und deren Behauptung ergriffen hätte (A 780–781/B 808–809).

Daraus ergibt sich, dass die transzendentalen Hypothesen im spekulativen Gebrauch keine Gültigkeit für sich selbst haben, sei es als „Privatmeinungen“ (A 781–782/B 809–810), sei es als apodiktischer Beweis, durch den man eine

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„absolute Gültigkeit“ erlangt (A 782/B 810). Stattdessen sind sie nur „problematische Urteile“, die allein in Bezug auf „entgegengesetzte transzendente Anmaßungen“ gelten können. Solche Anmaßungen sind leicht zu widerlegen, weil die „Ausdehnung der Prinzipien möglicher Erfahrung auf die Möglichkeit der Dinge überhaupt […] eben sowohl transzendent, als die Behauptung der objektiven Realität solcher Begriffe“ (A 781/B 809) der reinen Vernunft ist. Während indessen der dogmatische Rationalist dadurch widerlegt ist, dass man die Unmöglichkeit einer transzendentalen Deduktion der transzendentalen Ideen nachweist, werden die Ansprüche des Skeptikers bzw. Empiristen durch Retorsionen und Widerlegungen im polemischen Gebrauch der reinen Vernunft zurückgewiesen. 8.3.3 Die „Disziplin der reinen Vernunft in Ansehung ihrer Beweise“ Wie bereits im Abschnitt über den dogmatischen Gebrauch der reinen Vernunft kurz erörtert wurde, liegt die Besonderheit der Beweise in der Philosophie im Vergleich zu den Beweisen in den anderen Vernunftwissenschaften wie der Mathematik darin, dass die Philosophie sich nicht „direkt an den Gegenstand wenden darf, sondern zuvor die objektive Gültigkeit der Begriffe und die Möglichkeit der Synthesis derselben a priori dartun muß“ (A 781/B 810). Damit ist das wesentliche Merkmal der akroamatischen Beweise genannt. Was aber speziell die Beweise der Sätze der reinen Vernunft betrifft (A 784–785/B 812–813), so dürfen sie sich nicht direkt an das zu beweisende Prädikat (z. B. die Einfachheit der Seele, ob nämlich diese Eigenschaft aus dem Begriff der Seele oder aus einer deduktiven Kette sich schließen lässt) wenden, sondern nur indirekt. Sie müssen nämlich „vermittelst eines Prinzips der Möglichkeit, unseren gegebenen Begriff a priori bis zu den Ideen […] erweitern, und diese […] realisieren“ (A 785/ B 813). Muss sich der transzendentale Beweis zuerst an die Bedingungen der Möglichkeit einer Erkenntnis wenden, so zeigt sich hier die von Kant so benannte „Disziplin der Enthaltsamkeit“ der reinen Vernunft. Sie bedeutet, dass man von der Vernunft nicht die Erkenntnis dessen, was sie nicht zu erkennen vermag, fordern soll. Wenn diese Behutsamkeit immer gebraucht wird, wenn man, ehe der Beweis noch versucht wird, zuvor weislich bei sich zu Rathe geht, wie und mit welchem Grunde der Hoffnung man wohl eine solche Erweiterung durch reine Vernunft erwarten könne, und woher man in dergleichen Falle diese Einsichten, die nicht aus Begriffen entwickelt und auch nicht in Beziehung auf mögliche Erfahrung anticipirt werden können, denn hernehmen wolle: so kann man sich viel schwere und dennoch fruchtlose Bemühungen ersparen, indem man der Vernunft nichts zumuthet, was offenbar über ihr Vermögen geht, oder vielmehr sie, die bei Anwandlungen ihrer speculativen Erweiterungssucht sich nicht gerne einschränken läßt, der Disciplin der Enthaltsamkeit unterwirft (A 785– 786/B 813–814).

Die Disziplin der Enthaltsamkeit der reinen Vernunft hat drei Grundregeln: a) „Die erste Regel ist also diese: keine transscendentalen Beweise zu versuchen, ohne zuvor überlegt und sich desfalls gerechtfertigt zu haben, woher man die Grundsätze nehmen wolle, auf welche man sie zu errichten gedenkt, und mit

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welchem Rechte man von ihnen den guten Erfolg der Schlüsse erwarten könne (A 786/B 814, Hervorh. d. Verf.). Wie schon der darin verwendete Begriff von „Überlegung“ erkennen lässt, handelt es sich bei einer solchen Regel um die transzendentale Topik (A 268/B 324), auf die im zehnten Kapitel eingegangen wird. Die Bestimmung des „transzendentalen Orts“ eines Begriffs, um das vitium subreptionis und somit den transzendentalen Schein zu vermeiden, ist eine Voraussetzung dafür, dass der Beweis eines transzendentalen Satzes Erfolg haben kann, sei es hinsichtlich des reinen Verstandes (System aller Grundsätze des reinen Verstandes), sei es hinsichtlich der spekulativen reinen Vernunft (System der transzendentalen Ideen). Während aber bei den transzendentalen Sätzen des reinen Verstandes, etwa dem Grundsatz der Kausalität, ein ostensiver Beweis nicht nur möglich, sondern sogar wirklich vorhanden ist, nämlich die transzendentale Deduktion der reinen Verstandesbegriffe, ist ein solcher Beweis bei den transzendentalen Ideen unmöglich. Der kritische Philosoph als Richter des Gerichtshofs der reinen Vernunft kann stets der trüglichen Überzeugung das non liquet [seiner] gereiften Urtheilskraft entgegen[setzen]; und ob [er] gleich das Blendwerk derselben noch nicht durchdringen k[ann], so [hat er] doch völliges Recht, die Deduction der darin gebrauchten Grundsätze zu verlangen, welche, wenn sie aus bloßer Vernunft entsprungen sein sollen, [ihm] niemals geschafft werden kann (A 786–787/B 814–815).

Neben der transzendentalen Topik dient die transzendentale Überlegung (vgl. A 295/B 351) zur Berichtigung des irreführenden Einflusses der Sinnlichkeit auf den Verstand und somit zur Bekämpfung des transzendentalen Scheins und der Widerlegung „am Gerichtshofe einer kritischen Vernunft“ aller „an Kunstgriffen unerschöpflichen Dialektik […] in ganzen Haufen“ (A 787/B 815). Die transzendentale Überlegung hilft daher bei der Aufdeckung der falschen Voraussetzung (Erscheinungen seien Dinge an sich), worauf die Parteien am Gerichtshof ihre Argumente gestützt haben, und dadurch verweist man auf die Unmöglichkeit (transzendentale Idee) oder Möglichkeit (Kategorien) eines ostensiven Beweises. b) „Die zweite Eigenthümlichkeit transscendentaler Beweise ist diese: daß zu jedem transscendentalen Satze nur ein einziger Beweis gefunden werden könne“ (A 787/B 815). Es gibt nur einen einzigen Beweis für jeden transzendentalen Satz, denn seine Wahrheit hängt von der Existenz bzw. objektiven Realität des Gegenstands ab, auf den er sich bezieht, und dieser Gegenstand wird nur in einer reinen bzw. empirischen Anschauung oder in Bezug auf die mögliche Erfahrung gegeben. In der Philosophie ist ein aus bloßen Begriffen geführter Beweis immer betrügerisch, so z. B. der ontologische Beweis der Einfachheit der Seele oder der schlechterdings notwendigen Existenz Gottes oder der aus bloßen Begriffen (wie dem Begriff von Zufälligkeit) geführte Beweis der Notwendigkeit und objektiven Realität einer kausalen Verknüpfung von Naturgegebenheiten. Kant nennt als Beispiel den in der transzendentalen Analytik bewiesene Grundsatz der Kausalität. Dort wurde dieser Grundsatz „aus der einzigen Bedingung der objektiven Möglichkeit eines Begriffs, von dem, was überhaupt geschieht, gezogen, [nämlich] dass die Bestimmung einer Begebenheit in der Zeit, mithin diese (Begebenheit) als zur Erfahrung gehörig, ohne unter einer

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solchen synamischen Regel zu stehen, unmöglich wäre“ (A 788/B 816). Statt diese Regel der Enthaltsamkeit zu beachten, versucht der Dogmatiker seine Behauptungen mit „zehn Beweisen“ zu demonstrieren bzw. zu beweisen. Wenn er dies so macht, betrügt er eigentlich den Gegner, statt ihn aufrichtig zu überzeugen. Er handelt wie die „Parlamentadvokaten“, die auf die „Schwächen ihrer Richtern“ gestützt „ein Argument für diesen, das andere für jenen“ anführen (A 789/B 817). Das heißt, der Dogmatiker als „Parlamentadvokat“ ist mit einem böswilligen Rhetoriker zu vergleichen, der die Redekunst zu schlechten Zwecken missbraucht.891 Dabei deutet Kant darauf hin, dass dem Verdikt der Vernunft nur ein einziger direkter Beweis zugrunde liegen darf. Der Advocat, der mit viel Gründen angezogen kommt, die seine Behauptung bewähren sollen, erschwert dem Richter sehr seine Sentenz, weil er selbst nur herumtappt; weiß er aber nach der Erklärung dessen, was er will, den Punkt zu treffen (denn der ist nur ein einziger), worauf es ankommt, so ist es kurz abgemacht, und der Spruch der Vernunft folgt von selbst (Anth AA 07: 228).

Kant nimmt an dieser Stelle des Disziplin-Kapitels wieder Bezug auf den bereits in der Anmerkung zur ersten Antinomie erwähnten schädlichen Charakter der „Advokatenbeweise“. Er nennt hier jedoch einen weiteren Verdachtsgrund: Die Advokatenbeweise suchen stets „Blendwerke“, bedienen sich der „Unbehutsamkeit des Gegners zu seinem Vortheile“ und berufen sich auf ein „mißverstandenes Gesetz“, um durch bloße „refutationes“ ihre eigenen „unrechtmäßigen Ansprüche“ zu begründen. Ich habe bei diesen einander widerstreitenden Argumenten nicht Blendwerke gesucht, um etwa (wie man sagt) einen Advocatenbeweis zu führen, welcher sich der Unbehutsamkeit des Gegners zu seinem Vortheile 891

In den als Anthropologie Mrongovius überlieferten Vorlesungen weist Kant auf die Sophisterei der „Parlamentadvokaten“ hin: „Nur in einer Democratie blüht Beredsamkeit wo alles unordentlich ist und das Volk Recht spricht, welches durch die Blendwerke der Beredsamkeit nicht durch schauen kann. Im englischen und französischen Parlamente ist Beredsamkeit noch gebräuchlich. Im Französischen Parlament halten die Advocaten vor Gericht lange Reden. Als ein solcher auch einmal redete so rief ihn der Praesident des Parlaments Harley zu sich und sagte ihm: Sie haben auch lauter schwache Argumente und so gar einige Sophistische angebracht. Er antwortete: Eins ist für diesen das andere für ienen. Als es hierauf zum votiren kam gewan der Advocat und der Praesident sagte zu ihm: Mein Herr ihre Pakete sind alle richtig an den rechten Mann gekommen – Auf Kanzeln ist Beredsamkeit höchst schädlich“ (V-Anth/Mron AA 25: 45). In den als Anthropologie Dohna bekannten Vorlesungen wird es deutlicher: „Beredsamkeit bezieht sich auf Täuschung und ist die Kunst seine Zuhörer nicht durch Wahrheit, sondern durch allerlei Kunstgriffe zu seinem Vorteil zu bewegen. [Sie gehört daher nur für Advokaten, nicht für die Würde der Religion aber und |für| Philosophie schickt sie sich gar nicht]“ (V-Anth/Dohna AA 25: 119). Die Scheingründe der Advokaten werden auch im Kontext des Gewissens und des von Selbstliebe verursachten Selbstbetrugs des Menschen bei der moralischen Selbstbeurteilung genannt: „Es giebt Sophisterey in dem menschlichen Moralischen Gerichtshoff, welche die Eigenliebe anrichtet. Dieser Advocat, wenn er die Gesetze zu seinem Vortheil sceptisch erklährt, ist ein Rabulist, auf der andern Seite aber ist es auch betrügerisch, das factum zu leugnen. Allein der Mensch findet doch, daß sein Advocat, obgleich er noch so sophistisch ist, bey ihm im schlechten Credit stehet, er sieht ihn vielmehr als einen Rechtsverdreher an“ (V-Mo/Mron AA 28: 1494).

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bedient und seine Berufung auf ein mißverstandenes Gesetz gerne gelten läßt, um seine eigenen, unrechtmäßigen Ansprüche auf die Widerlegung desselben zu bauen. Jeder dieser Beweise ist aus der Sache Natur gezogen und der Vortheil bei Seite gesetzt worden, den uns die Fehlschlüsse der Dogmatiker von beiden Theilen geben könnten (A 430/B 458).

Die Vorstellung, dass man durch bloße „refutationes“ die Wahrheit eines transzendentalen Satzes nicht beweisen kann, wird in der folgenden Regel der Disziplin der Enthaltsamkeit erläutert. c) Somit lautet „die dritte eigenthümliche Regel der reinen Vernunft, wenn sie in Ansehung transscendentaler Beweise einer Disciplin unterworfen wird: daß ihre Beweise niemals apagogisch, sondern jederzeit ostensiv sein müssen“ (A 790/B 818). Die apagogische Beweisart versucht, die Wahrheit oder Falschheit eines bestimmten Satzes indirekt zu beweisen. Sie ist somit eine bloße „Nothilfe“, niemals aber ein echtes Begründungsverfahren für die reine Vernunft. Sie hat aber vor der ostensiven Beweisart den Vorteil, mehr „Evidenz“ zu verschaffen, indem der Widerspruch mehr „Klarheit“ bei sich führt als die beste „Verknüpfung“, sprich eine syllogistische Kette. Die apagogische Beweisart nähert sich deswegen, zumindest im Prinzip, dem „Anschaulichen einer Demonstration“ im mathematischen Sinne (A 790/B 818) an. Jedoch muss man zur Begründung der Wahrheit eines Satzes und dadurch zur Erlangung des sichersten und höchsten Gewissheitsgrads eine „Einsicht in die Quelle derselben [= der Wahrheit – D. K. T.]“ haben (A 789/B 817). Allein die ostensive Beweisart kann zu einer solchen Einsicht gelangen. „[D]ie positiven [Beweise] zeigen mir nicht nur die Sache, sondern auch die Quellen der Wahrheit“ (Log Pölitz, AA 24: 561). Das bedeutet, der apodiktische, direkte Beweis verbindet mit der Darlegung der Wahrheit die „Einsicht in die Quellen derselben“. Die ostensive Beweisart weist direkt nach, dass ein gewisser Satz wahr ist. Demgegenüber zeigt die apagogische Beweisart, dass ein Satz falsch ist, um dadurch auf die Wahrheit (oder Falschheit) eines anderen Satzes zu schließen – die Wahrheit eines Satzes wird hier also indirekt und ad negativum bewiesen.892 Da aber der apagogischen Beweisart eine kritische Funktion beim polemischen Gebrauch der reinen Vernunft zukommt, erläutert Kant sie ebenso wie die ostensive Beweisart. Die apagogische Beweisart wird in der Philosophie infolge der häufigen Schwierigkeit verwendet, in die Quellen bzw. Gründe einer bestimmten Erkenntnis zurückzureichen. Dementsprechend will man nicht aus ihren Quellen bzw. Gründen, sondern aus ihren Folgen auf ihre Wahrheit apagogisch schließen. 892

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„Der Beweis ist ein directer, d. i. ein positiver Beweis, oder er ist apagogisch, d. i. negativ. Der directe zeigt, daß der Satz wahr sey, der apagogische, daß das Gegentheil nicht wahr sey. Er refutirt bloß das Gegentheil. In der mathematic ist er sehr einleuchtend, aber in der philosophie muß man ihn sehr sparsam gebrauchen. Denn der apagogische thut nie so viel, als der directe Beweis. Dieser geht auch auf die Quellen zurück, woraus ein Satz herkommet. Der apagogische aber zeigt mir nur einen Fehler, und daß ich auf eine Ungereimtheit stossen würde, wenn ich den Satz nicht annähme. Ich habe den Satz dadurch wohl bewiesen, aber nicht begriffen. Sie sind in der philosophie aber auch deswegen nicht zu nehmen, weil ich meinen Gegner oft [Textlücke] widerlegen kann, indem wir deshalb beyde [Textlücke; AA: falsch] urtheilen. Wir haben Beyde Unrecht, und wenn ich den Andern widerlegt habe, kann er mich eben auch so gut ohne allen Widerspruch apagogice widerlegen, und keiner kann seinen Satz dadurch beweisen“ (V-Lo/Wiener AA 24: 893).

Kant nennt zwei mögliche apagogische Beweisarten: den modus ponens, der „auf die Wahrheit einer Erkenntnis aus der Wahrheit ihrer Folgen“ schließt, und den modus tollens, der aus der Falschheit einer einzigen Folge aus einem bestimmten Satz auf die Wahrheit des kontradiktorischen Gegensatzes schließt (A 790–791/ B 818–819).893 Kant weist den modus ponens vehement zurück. Er wäre nur möglich, wenn man bestimmen könnte, dass alle möglichen Folgen einer Erkenntnis wahr sind; dies sei aber „untunlich“, weil „es über unsere Kräfte geht, alle möglichen Folgen von irgend einem angenommenen Satze einzusehen“. Der modus ponens kann nur eine Hypothese bieten, „indem man den Schluß nach der Analogie einräumt“ (A 790/B 818; Log, AA 09: 84–85): Wenn einige Folgen wahr sind, dann kann man annehmen, dass die weiteren Folgen auch wahr sind und demzufolge der zu beweisende Satz, woraus diese Folgen geschlossen worden sind, auch wahr ist. Der modus tollens, der nicht auf der Wahrheit, sondern auf der Falschheit der Folgen beruht, ist wiederum eine sicherere Beweisart. Auf sie stützt sich z. B. die reductio ad absurdum. Wenn sich daher aus einer angenommenen Erkenntnis bzw. aus einem angenommenen Satz eine einzige falsche Folge schließen lässt, dann ist die angenommene Erkenntnis bzw. der angenommene Satz falsch und demzufolge der kontradiktorische Gegensatz wahr.894 Kurz gesagt: Mit der apagogischen Beweisart will man durch den Beweis der Falschheit bzw. der Unmöglichkeit einer Erkenntnis oder eines Satzes eine bestimmte Erkenntnis bzw. einen bestimmten Satz begründen.895 Trotz der Vorteile der apagogischen Beweisart setzt Kant der Verwendung solcher Beweisführungen enge Grenze. Der apagogische Beweis sei nur in denjenigen Wissenschaften unbegrenzt gültig, in denen kein vitium subreptionis vorliegt:

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895

Vgl. Grandjean, A. Critique et réflexion: essai sur le discours kantien. Paris: Vrin, 2009, S. 138ff. „Anstatt nun die ganze Reihe der Gründe in einem ostensiven Beweise durchzulaufen, die auf die Wahrheit einer Erkenntniß vermittelst der vollständigen Einsicht in ihre Möglichkeit führen kann, darf man nur unter den aus dem Gegentheil derselben fließenden Folgen eine einzige falsch finden, so ist dieses Gegentheil auch falsch, mithin die Erkenntniß, welche man zu beweisen hatte, wahr“ (A 791/B 819). Zum Ursprung der apagogischen Beweisart, vor allem im aristotelischen Corpus (Anal. Pr. I, 6, 28 b 21; I, 23, 41 a 23ff.) und in der Logiktradition, vgl. Grandjean, A. Critique et réflexion, a. a. O., S. 139ff. Dazu auch Lorenz, K. „Beweis“. In: Historisches Wörterbuch der Philosophie, a. a. O., Bd. 1, S. 884: „Eine methodisch besondere Rolle spielen die indirekten (= apagogischen) Beweise (ἀ παγωγὴ εἰ ς τὸ ἀ δύ νατον) eines Satzes A, bei denen aus der Annahme des kontradiktorischen Gegenteils von A, also der Negation ¬ A, ein Widerspruch, d. h. irgendeine falsche Aussage (Falsum, ἀ δύ νατον), logisch gefolgert wird. Wenn der zu beweisende Satz A nicht selbst schon eine Negation ist, so hängt die Gültigkeit des indirekten Beweises von der Gültigkeit des tertium non datur A ∨ ¬ A (A oder nicht-A) ab, die nicht allgemein, sondern nur für wertdefinite (entscheidbar wahre oder falsche) Aussagen gesichert ist. Den indirekten Beweisen stehen die übrigen unproblematischen direkten (= ostensiven, δεικτικῶς) Beweise gegenüber“. Auch Wolff erwähnt den apagogischen Beweis; Wolff, C. Philosophia rationalis sive logica. Bd. 1. Nachdr. d. Ausg. Frankfurt & Leipzig 1740. repr. Hildesheim [u. a.]: Olms, 1983, § 556: „Demonstratio apapogica seu indirecta est, qua, posito contrario eius, quod probari debet, tanquam vero colligitur; quod propositioni verae, vel notioni subiecti contradicit“. Im Folgenden wird die wahrscheinlichste Quelle der apagogischen Beweisart für Kant erörtert, nämlich Meier.

281

Die apagogische Beweisart kann aber nur in den Wissenschaften erlaubt sein, wo es unmöglich ist, das Subjective unserer Vorstellungen dem Objectiven, nämlich der Erkenntniß desjenigen, was am Gegenstande ist, unterzuschieben. Wo dieses letztere aber herrschend ist, da muß es sich häufig zutragen, daß das Gegentheil eines gewissen Satzes entweder bloß den subjectiven Bedingungen des Denkens widerspricht, aber nicht dem Gegenstande, oder daß beide Sätze nur unter einer subjectiven Bedingung, die fälschlich für objectiv gehalten, einander widersprechen und, da die Bedingung falsch ist, alle beide falsch sein können, ohne daß von der Falschheit des einen auf die Wahrheit des andern geschlossen werden kann (A 791/B 819, Hervorh. d. Verf.).

Wie im zehnten Kapitel gezeigt wird, erzeugen die transzendentalen Sätze, die die Gegenstände der reinen Vernunft betreffen, ein vitium subreptionis und daher einen transzendentalen Schein. Das heißt, die Bedingungen der Möglichkeit des Gegenstands der Erfahrung werden den Bedingungen der Möglichkeit des Dinges selbst bzw. das Subjektive unserer Erkenntnisse wird dem Objektiven „untergeschoben“. Daraus ergibt sich, dass die apagogische Beweisart in der reinen Philosophie zur Begründung der Wahrheit eines Satzes nicht verwendet werden kann: Aus der Falschheit eines transzendentalen Satzes lässt sich hier nicht auf die Wahrheit des kontradiktorischen Satzes schließen. „Hier nun kann es, was synthetische Sätze betrifft, gar nicht erlaubt werden, seine Behauptungen dadurch zu rechtfertigen, daß man das Gegenteil widerlegt“ (A 792/B 820). Das beste Beispiel dafür bieten die kosmologischen Ideen. Da die Thesis sowie die Antithesis in jedem der vier antinomischen Widerstreite der reinen Vernunft keine kontradiktorischen, sondern konträre Sätze bilden, lässt sich nicht aus der Falschheit der Thesis bzw. Antithesis auf die Wahrheit der Antithesis bzw. Thesis schließen, denn beide können zugleich entweder wahr oder falsch sein. In der Antinomie der reinen Vernunft darf man daher die apagogische Beweisart nicht anwenden, wenigstens nicht für den Beweis der Wahrheit von Thesis oder Antithesis.896 Die apagogische Beweisart dient deshalb in der Metaphysik und der reinen Philosophie897 nicht der Begründung der Wahrheit eines Satzes aus der Widerlegung des kontradiktorischen Gegensatzes. Dennoch weist Kant der apagogischen Beweisart einen kritischen Nutzen zu, nämlich, durch Widerlegungen und Retorsionen nachzuweisen, dass ein bestimmter Satz falsch ist und demzufolge andere Sätze überhaupt möglich sind. Der Nutzen der apagogischen, indirekten Beweisart ist daher ein negativer, sofern man durch die Widerlegung des kontradiktorischen Gegenteils eines Satzes lediglich die Möglichkeit eines solchen Satzes

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Wie unten im zehnten Kapitel noch erläutert wird, wäre der apagogische Beweis wohlbegründet und nicht trügerisch, wenn die Voraussetzung, die Welt sei ein für sich selbst bestehendes Ganzes und die Erscheinungen seien Dinge an sich, wirklich wahr wäre. Kant nimmt den Gebrauch von apagogischen Beweisen in anderen Wissenschaften an. In der Mathematik gilt der apagogische Beweis, weil diese ihren Gegenstand produziert und dabei folglich das Subjektive mit dem Objektiven übereinstimmt. Und in der Naturwissenschaft gilt er, weil sie zum Nachweis der objektiven Realität ihrer Gegenstände stets eine empirische Anschauung hat und dadurch „jene Erschleichung durch viel verglichene Beobachtungen zwar mehrentheils verhütet werden kann“ (A 792/B 820).

verteidigt.898 In der kritischen Philosophie zeigt sich der negative Nutzen des apagogischen Beweises insbesondere bei dem auf transzendentalen Hypothesen beruhenden polemischen Gebrauch der reinen Vernunft. Gegen seine Gegner kann der kritische Philosoph den modus tollens verwenden und dabei die Falschheit des konträren Gegensatzes beweisen, ohne dass man daraus auf die Wahrheit des eigenen Satzes schließen darf. Die apagogische Beweisart erkennt daher in der Transzendentalphilosophie eine Einschränkung gegenüber den weiteren Wissenschaften: Aufgrund des vitium subreptionis darf der Transzendentalphilosoph keine Wahrheiten indirekt ableiten, sondern nur Falschheiten anzeigen bzw. enthüllen und dadurch Möglichkeiten verteidigen.899 Dementsprechend sind die apagogischen Widerlegungen in den „Geschäften“ der reinen Vernunft nichts anderes als entweder 1) „die bloße Vorstellung des Widerstreits der entgegengesetzten Meinung mit den subjectiven Bedingungen der Begreiflichkeit durch unsere Vernunft“ (A 792/B 820). Dabei wird nichts über die Möglichkeit des Gegenstands selbst, sondern nur über die Möglichkeit von dessen Erkenntnis und Einsicht gesagt. Genau dies ist der Fall bei den Paralogismen und dem Ideal der reinen Vernunft: [S]o wie z. B. die unbedingte Nothwendigkeit im Dasein eines Wesens schlechterdings von uns nicht begriffen werden kann und sich daher subjectiv jedem speculativen Beweise eines nothwendigen obersten Wesens mit Recht, der Möglichkeit eines solchen Urwesens aber an sich selbst mit Unrecht widersetzt (A 792/B 820).

Die Widerlegung des Gegenteils und dadurch die Verteidigung des eigenen Satzes setzt den Begriff eines von der entgegengesetzten Partei nicht angenommenen Gegenstands (Erscheinung und Ding an sich) voraus. Oder 2) beide, sowohl der behauptende als der verneinende Theil, legen, durch den transscendentalen Schein betrogen, einen unmöglichen Begriff vom Gegenstande zum Grunde, und da gilt die Regel: non entis nulla sunt praedicata, d. i. sowohl was man bejahend, als was man verneinend von dem Gegenstande behauptete, ist beides unrichtig, und man kann nicht apagogisch durch die Widerlegung des Gegentheils zur Erkenntniß der Wahrheit gelangen (A 792–793/B 820–821).

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Vgl. Rx 2178 AA 16: 260: „Aus der Folge laßt sich zwar auf einen Grund schließen, aber ohne ihn zu bestimmen; aber aus dem Inbegrif aller Folgen allein auf einen bestimmten Grund, daß dieser der wahre Grund sey. Diese allheit laßt sich nicht apodictisch erkennen. Durch den Satz des Wiederspruchs kan ich positiv die Moglichkeit der Erkenntnis (nicht der Sachen), negativ die Unmoglichkeit der Erkenntnis und sachen, indirect die nothwendigkeit der Erkenntnis und sachen schließen. Als negativ princip ist es allgemein, als positiv so wohl direct als indirect nicht zum criterio der Warheit hinreichend“. In diesem Zusammenhang nimmt Kant tatsächlich ein glissement terminologique vor (Grandjean, A. Critique et réflexion, a. a. O., S. 142), sofern er in der Logik Jäsche nur den modus tollens als apagogische Beweisart benennt, während der modus ponens eine „positive und directe Schlußart“ ist (Log AA 09: 52). Jedoch – und hier schweigt Grandjean – weist Kant eindeutig darauf hin, dass der modus tollens als apagogische Beweisart in anderen Wissenschaften, wie der Geometrie, Wahrheiten ableiten kann, was aber in der Transzendentalphilosophie nicht erlaubt ist.

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Dies ist der Fall bei den vier kosmologischen Widerstreiten der reinen Vernunft.900 In allen Geschäften der reinen Vernunft hat die apagogische Beweisart daher einen negativen und zugleich positiven Nutzen: Indem man einen Satz widerlegt, lässt sich zwar nicht eine Wahrheit ableiten, aber doch eine Möglichkeit verteidigen. Zur näheren Bestimmung des negativen Nutzens des apagogischen Beweises als Widerlegung oder Verteidigung beim polemischen Gebrauch der reinen Vernunft lassen sich im Folgenden die bislang erzielten Ergebnisse zusammenfassen: Kant unterscheidet grundsätzlich zwei mögliche Beweisarten in der Transzendentalphilosophie bzw. reinen Philosophie, die einem transzendentalen Schein ausgesetzt ist und deren Beweise a priori sein müssen: a) einen ostensiven Beweis, der durch eine metaphysische und transzendentale Deduktion erhalten wird; und b) eine Widerlegung oder Retorsion des Gegenteils, die zwar nicht die Wahrheit eines Satzes beweist, aber die Unmöglichkeit des Beweises bzw. der Demonstration des Gegensatzes nachweist (A 792/B 820). Es geht dabei um einen positiven bzw. direkten und einen negativen bzw. indirekten Beweis.901 Die von Kant vertretenen möglichen Beweisarten finden im § 196 des Auszugs der Vernunftlehre von Meier eine Entsprechung. Meier unterscheidet hierbei zwei mögliche Arten von Demonstrationen bzw. von der „demonstratio“ der Wahrheit einer Sache und zwei mögliche Arten der Widerlegung bzw. „refutatio“, sprich der Demonstration der Falschheit einer Sache: Durch eine Demonstration suchen wir entweder gewiss zu werden, dass etwas wahr, oder dass etwas falsch sei […]. In dem ersten Falle kann man eine Wahrheit auf eine zweifache Art demonstriren: 1) unmittelbarer Weise (demonstratio directa, ostensiva), wenn wir die Wahrheit aus ihren Kennzeichen herleiten; 2) mittelbarer Weise (demonstratio indirecta, apagogica, deductio ad absurdum), wenn wir die Unrichtigkeit ihres Gegentheils de900

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Kant nennt als Beispiel den ersten antinomischen Widerstreit der reinen Vernunft: „So zum Beispiel, wenn vorausgesetzt wird, daß die Sinnenwelt an sich selbst ihrer Totalität nach gegeben sei, so ist es falsch, daß sie entweder unendlich dem Raume nach, oder endlich und begrenzt sein müsse, darum weil beides falsch ist. Denn Erscheinungen (als bloße Vorstellungen), die doch an sich selbst (als Objecte) gegeben wären, sind etwas Unmögliches, und die Unendlichkeit dieses eingebildeten Ganzen würde zwar unbedingt sein, widerspräche aber (weil alles an Erscheinungen bedingt ist) der unbedingten Größenbestimmung, die doch im Begriffe vorausgesetzt wird“ (A 793/B 821). Dadurch, dass man die gültige, kritische Verwendung der apagogischen Beweisart lediglich als Retorsion, das heißt als Verteidigung eines Satzes gegen dogmatische Anmaßungen, deutet, vermeidet man es, Kant selbst zu widersprechen, anders als A. Grandjean: „[L]es preuves transcendantales ont bien une structure apagogique (em modus tollens), et ce même si Kant doit ici se contradire“. Grandjean, A. Critique et réflexion, a. a. O. S. 148. Der apagogische Beweis ist nicht der einzige Beweis der „reflektierenden Zirkularität des Transzendentalen“, sondern ein bloßes Beweismittel mit einem spezifischen Geltungsbereich. Mit der hier vertretenen Interpretation vermeidet man ebenso, unpassende Schlussfolgerungen ohne textliche Unterstützung über „le transcendental être sans pourquoi“ (ebd., S. 178ff.). Aus dem juridischen Deduktionsmodell lässt sich erklären, wie die Deduktion als ostensive Beweisart zu deuten ist. Sie geht zwar von Fakten aus, um sich dadurch zu rechtfertigen und ihre Geltungsbereiche zu bestimmen; aber anders als Grandjeans Auffassung ist es nicht nötig, nach „le pourquoi“ oder dem Grund des Grundes zu fragen. Der Versuch, Kant eine Antwort auf die Frage abzuverlangen, wäre eine kaum begründete hermeneutische Gewalt, wie im folgenden Kapitel (9.4) gezeigt wird.

monstriren, und daraus ihre Wahrheit schliessen. Eben so kann man demonstriren, dass etwas falsch sei, oder es widerlegen (refutatio), a) mittelbarer Weise (refutatio mediata), wenn wir die Wahrheit seines Gegentheils demonstriren; b) unmittelbarer Weise (refutatio immediata), wenn wir die Unrichtigkeit desselben aus ihren Kennzeichen herleiten. Man kann aber beweisen, dass etwas falsch sei: a) wenn wir beweisen, dass es unmöglich und ungegründet, b) dass es andern unleugbaren Wahrheiten zuwider sei, und c) dass aus ihm was Falsches folge.902

In einer Reflexion der 1770er Jahre beschäftigt sich Kant mit diesem Paragraph des Auszugs vom Standpunkt der Antinomie der reinen Vernunft aus und lehnt die These Meiers ab, man könne auf die Wahrheit eines Satzes aus der Unrichtigkeit seines Gegenteils schließen.903 Der apagogische Beweis (das heißt die „demonstratio, indirecta, apagogica, deductio ad absurdum“) ist nur gültig, wenn es um die contradictoria opposita geht, das heißt A und Nicht-A (die „analytische Opposition“ im Antinomie-Kapitel). Er ist aber ungültig, wenn es wiederum um konträre Gegensätze oder um Sätze geht, die untereinander gar keine logische Beziehung haben, also A und B (die „dialektische Opposition“ im Antinomie-Kapitel). In diesem letzten Fall, in dem eine „falsche Idee“ zugrunde liegt, nämlich dass die Sinnenwelt entweder endlich oder unendlich ist, „machen“ es die Parteien „gut“, wenn sie sich darauf beschränken, das Gegenteil zu „widerlegen“, ohne dadurch eine Demonstration ihres eigenen Satzes zu beanspruchen. Jede Partei „überführt [sich] des Irrthums“, ohne dabei einen Beweis anführen zu wollen. Statt als Beweis für die Wahrheit eines Satzes betrachtet Kant den apagogischen Beweis (als indirekter Beweis) daher als eine bloße „refutatio“, als einen Beweis der Falschheit einer bestimmten Erkenntnis. [Es f]indet nur statt [Adickes: bei der demonstratio indireta], wo wirklich die Satze contradictorie opposita seyn. (s A und non A, nicht aber A und B, welches nicht A ist. Denn da kan es ein Mittleres geben: Daß beydes nämlich unmöglich ist.). Wenn von zween (g wiedersprechenden) ein ieder den Satz des andern wiederlegen, aber keiner den seinigen direct beweisen kan: so haben beyde ihre Sache gut gemacht; sie haben sich beyde des Irrthums überführt, aber keiner hat seinen Satz dadurch bewiesen. Denn es liegt eine falsche Idee zum Grunde, die, wenn sie angenommen wird, nothwendig wiederspruch erzeugt. e.g. Die Sinnenwelt (als absolutes Ganze) ist entweder unendlich oder endlich; beydes ist falsch, weil es kein absolutes Ganze als Gegenstand der sinne und keine Erscheinung, die absolut und an sich selbst stattfinde, giebt (Rx 2731 AA 16: 489–490 (1776–1779?) (1775–1777?), Hervorh. d. Verf.).

In einer wahrscheinlich späteren Reflexion setzt Kant im Kontext der transzendentalen Hypothesen die „refutatio“ mit einer aus der Rechtswissenschaft stammenden Beweisart bzw. einem Argumentationsverfahren gleich, nämlich der Retorsion oder Verteidigung.904 Die Verwendung von Hypothesen anhand von Wi902 903 904

Meier, G. F. Auszug aus der Vernunftlehre, a. a. O., § 196. Vgl. dazu im zehnten Kapitel. Zum juridischen Sinn von „retorsio“ vgl. „Retorsion“. In: Zedler, J. H. Großes vollständiges Universal-Lexicon, a. a. O., Bd. 31, S. 848: „Retorsion, retorsio, retorsio Injuriarum, die abgedrungene Ehren-Rettung, die Heimschiebung, Zurückgebung der Schmäh-Worte, die Wiederscheltung, Gegenschimpffung, oder eine Defension und Vertheidigung, welche entweder mit Worten oder in Schrifften geschieht, und wodurch ein Geschmäheter dem

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derlegungen bzw. Retorsionen hat zum Ziel, „die practischen Vernunftsätze gegen die usurpationen der dogmatischen speculation zu sichern“.905 In einer weiteren Reflexion der 1770er Jahre zählt Kant den Beweis durch die refutatio zu den Aufgaben der Gesetzgebung der Vernunft, wie auch im Disziplin-Kapitel (A 742–743/B 770–771). Die Philosophie wird dadurch erklärt, dass sie der Weg zur Weisheit (wie auch beim Bezug auf Sokrates in den Träumen und bei weiteren bereits zitierten Stellen) und die Gesetzgebung der Vernunft ist. Der Gesetzgebung der Philosophie fällt die Aufgabe zu, die Unmöglichkeit eines synthetischen Beweises der „unmoglichkeiten der obiecte der reinen Vernunft“, das heißt „Dinge probabiliter [zu] setzen“, nachzuweisen. Die falsche Probabilität muss daher „durch retorsion“ eingeschränkt werden, denn die Vernunft „wird iederzeit […] mit ihren Muthmaßungen die Schranken der Erfahrungen überschreiten“. Dem Philosophen als Gesetzgeber der Vernunft kommt daher die Aufgabe zu, durch Retorsionen „die Philosophie […], zu verhindern, daß sie nicht zum Schaden der gesunden Vernunft die hochsten Absichten Verwirre“: Die philosophie der Weg zur Weisheit. Von dem probabilismus der reinen Vernunft. e.g. in Wesen von gantz anderer Art als denen der [W] Sinenwelt. Erklarung einer solchen Scheinbarkeit. Man kan nicht synthetisch unmoglichkeiten der obiecte der reinen Vernunft beweisen, also Dinge probabiliter setzen. Diese falsche probabilitaet durch retorsion einzuschranken. So lange man in der Welt noch denken wird, so wird iederzeit die Vernunft mit ihren Muthmaßungen die Schranken der Erfahrungen überschreiten, [aber die Philosophie muß dagegen wohl gewafne] und es wird keine Moglichkeit seyn, diese Anmaßung, die in der Natur selbst liegt, abzuschaffen. Aber dagegen muß die Philosophie auf ihrer Hut seyn, zu verhindern, daß sie nicht zum Schaden der gesunden Vernunft die hochsten Absichten Verwirre. Die Vernunftkunst und die Gesetzgebung der Vernunft sind im Werthe sehr unterschieden. In der ersten ist die mathematic das Vornemste; im Zweyten ist viel philosophisches, welches zur Geschiklichkeit des Verstandes gehort (Rx 1667 AA 16: 71 (1776–1783) (1773–1775) (1764– 1768)).

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Schmäh-Worte wieder in seinen Busen zurück schiebet, oder in den Hals, daraus sie gefahren und ausgespien worden, einzuschlucken, anheim giebt. Daher Retorsionis Jus, Retorsio Juris, oder Retorquendi Jus, das Retorsions-Recht, das Wiedervergeltungs-Rechts, oder das Recht, einer Provinz, Staat und Orte, oder dererselben Einwohnern und Unterthanen, dergleichen wiederfahren zu lassen, was sie unsern Unterthanen gethan haben“. Der gewöhnliche Sinn von „retorsio“ als „Retorsions-Recht“ oder „WiedervergeltungsRecht“ wird von Kant in der RL im Sinne eines Kriegs- bzw. Vergeltungsrechts gebraucht. Vgl. MdS AA 06: 346. „Alle metaphysische axiomen, die nicht apprehendent (exemplar) sind, heissen petitionen und sind hypotheses der reinen Vernunft, welche an sich selbst keinen Grund haben. Denn alle hypothesen sind physiologisch, nemlich das datum ihrer Moglichkeit ist gegeben, aber nur die Annehmung desselben in casu wird postulirt. Dennoch kann ich transscendente hypothesen machen, um ebenso schwindelnden etwas entgegenzusetzen, damit petitiones denen petitionen die Waage halten. z. E. Vielleicht sind die reine Geistige Naturen das einzige wahre in der Welt. Dieses gehöret alles zu den negativen Mitteln, die practische Vernunftsätze gegen die usurpationen der dogmatischen speculation zu sichern; es sind retorsionen oder refutationen nach analogie“ (Rx 4928 AA 18: 30–31 (1776–1778).

Da es nicht möglich ist, die Unmöglichkeit überhaupt der Gegenstände der reinen Vernunft, das heißt Gott, Seele und Welt, synthetisch zu beweisen, hat die Retorsion oder Widerlegung einen indirekt spekulativen Nutzen, nämlich zu zeigen, dass die die Möglichkeit der Gegenstände der reinen Vernunft verneinenden Sätze falsch sind, und dadurch die Vernunft gewissermaßen abzuschirmen. Eine solche „Verteidigung“ der Vernunft gehört, wie Kant klar betont, zu der Gesetzgebung der Vernunft in der Metaphysik und daher zu der Kritik. In der Metaphysik Mrongovius wird darauf hingewiesen: In keiner Wissenschaft ist der negative Nutzen so groß als in der Metaphysic, denn in keiner sind die Irrthümer so groß und gefährlich. In keiner Wissenschaft ist also Critic so nöthig als hier, denn hier hat alles negativen Nutzen. Wir können zeigen, daß solche Principien, mit welchen der Gegner wieder mich argumentirt, und den Glauben an Gott und eine andre Welt wankend machen will, gar nicht in der Vernunft gegründet sind – also das Unvermögen der Vernunft, der Religion was anzuhaben (V-Met/Mron AA 29: 780).

Auf dem doppelten Nutzen der Kritik, einzuschränken und zu ermöglichen, beruht die doppelte Funktion, die negative und die positive, der Gesetzgebung der Vernunft und ihres polemischen Gebrauchs.906 Die Retorsion bzw. Widerlegung hat mit der skeptischen Methode auffällige Ähnlichkeiten. Beide haben einen zugleich negativen und positiven Nutzen, nämlich an etwas zu zweifeln bzw. etwas zu widerlegen (negativ), um dadurch zu der Wahrheit bzw. zu der Ermöglichung eines Satzes in einem anderen Geltungsbereich (positiv) zu gelangen. Darüber hinaus sind die Retorsionen und Widerlegungen Mittel der skeptischen Methode. Die sceptische Methode ist die beste und einzige, die Einwürfe durch retorsion zurückzutreiben. Entspringt Daraus denn ein allgemeiner Zweifel? Nein, sondern die Anmaßungen der reinen Vernunft in Ansehung der Bedingungen der Moglichkeit aller Dinge werden dadurch zurükgetrieben. Dadurch bekommen alle Urtheile der Gesunden Vernunft in Ansehung der Welt und des practischen ihr großes ansehen. Die gesunde Vernunft oder die practische Wird sich niemals überreden lassen, daß kein Gott sey, wenn nur nicht die subtile ihr den Rang abzugewinnen trachtet (Rx 4469 AA 17: 562 (1772)).907

Sowohl die skeptische Methode als auch der polemische Gebrauch der Vernunft waren entscheidend bei der Aufdeckung der Quelle des Irrtums und bei der 906

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Als Beispiel für den polemischen Gebrauch der Retorsion nennt Kant den Streit zwischen Anhängern und Gegnern des absoluten Raums und der Zeit; vgl. Rx 3892 AA 17: 330 (1766–1788): „Ob es ein spatium absolutum oder tempus absolutum gebe, würde so viel sagen wollen, ob man zwischen zwey Dingen im Raume alles [andere] dazwischen liegende vernichten könne und doch die bestimte leere Lücke bleiben würde, und ob, wenn [zwischen dem Anfang] ein gantzes Jahr Bewegungen und veränderungen überhaupt aufhöreten, nicht das folgende Anheben könne, so daß ein leeres zwischen Jahr verlaufen wäre. Wir lösen diese Schwierigkeiten nicht auf, sondern antworten unsern Gegnern durch die retorsion, weil ihre Auffassung eben diese Schwierigkeiten hat“. Vgl. auch Rx 5028 AA 18: 65f. (1776): „Itzt ist iedem Gedanken durch die sceptische Methode freyes Thor erofnet, und es dient selbst sein Einwurf mit der retorsion dazu, um die Schranken des Verstandes besser zu bestimmen“.

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Schwächung der spekulativen Ansprüche der reinen Vernunft. Zugleich aber zeigten beide, dass die Vernunft in der Moral und bei ihrem praktischen Gebrauch ihren „natürlichen Bereich“ hat. Es lässt sich daher nun die oben im fünften Kapitel vertretene These über die entwicklungsgeschichtliche Verwandtschaft zwischen skeptischer und polemischer Methode bei der Herausbildung der juridischen Verfassung der KrV systematisch bestätigen. Trotz der kritischen Erlaubnis zum Gebrauch der negativen apagogischen Beweise hebt Kant unmissverständlich hervor, dass die Verwendung von Retorsionen, wie die von Hypothesen, in der reinen Philosophie begrenzt sein muss. Sobald nämlich der Gegner auf seinen „dogmatischen Eigendünkel“ verzichtet hat, muss auch der Transzendentalphilosoph seine Retorsionen aufgeben. Kant trägt dabei dem möglichen Missbrauch der apagogischen Beweisart Rechnung. Deren unkritische Verwendung in der reinen Philosophie, sprich dann, wenn man Wahrheiten herleiten und nicht nur Falschheiten feststellen will, ist eine der Ursachen des Dogmatismus, sei es des rationalistischen, sei es des skeptischen Dogmatismus. Wird der apagogische Beweis ohne kritische Behutsamkeit verwendet, ist er das eigentliche Blendwerke, womit die Bewunderer der Gründlichkeit unserer dogmatischen Vernünftler jederzeit hingehalten worden […]. Die Zuschauer, indem sie sehen, daß ein jeder in seiner Reihe bald Sieger ist, bald unterliegt, nehmen oftmals daraus Anlaß, das Object des Streits selbst sceptisch zu bezweifeln (A 794/B 822).

Nach der Entlarvung des dogmatischen Skeptizismus und Rationalismus durch diese skeptisch-kritischen Zuschauer bedarf es aber einer Beweisart, die den angefochtenen Besitztitel direkt nachweist und damit den Frieden ermöglicht. Kant erklärt an dieser Stelle, was mithilfe juridischer Bilder gerade erörtert wurde: Wie die transzendentalen Hypothesen sind die Retorsionen Kriegswaffen,908 die aufgegeben werden sollen, sobald der bürgerliche Zustand in der Philosophie erreicht worden ist. Die Retorsionen und die transzendentalen Hypothesen sind provisorische, niemals peremptorische Hilfsmittel für die reine Vernunft. Im Rahmen der Rechtslehre Kants lässt sich so erklären, dass die transzendentalen Hypothesen und die Retorsionen einer auf der lex permissiva der praktischen Vernunft beruhenden possessio putativa ähneln (vgl. z. B. VAZeF AA 23: 157; ZeF AA 08: 347; MdS AA 06: 267). So wie die lex permissiva z. B. einen unrechtmäßigen Besitz im Naturzustand angesichts des Erreichens des bürgerlichen Zustands temporär erlaubt,909 sind auch die transzendentalen Hypothesen und die Retorsionen als 908

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„Ehe ein Krieg anfängt, sind Mißhelligkeiten. Einer sieht einige Actus des andern als Laesion an, da satisfacirt sich ein Staat selbst, wenn er dasselbe thut. Das sind Represalien, es geschieht zur Ersetzung des Schadens. Retorsion ist, wenn ich mich bloß räche. Jus in bellum und ad bellum“ (V-NR/Feyerabend AA 27: 1393). Vgl. Achenwall, A. Iuris naturalis pars posterior, a. a. O., § 261. „Das Erlaubnisgesetz würde so lauten: der Unrechtmäßige Besitz einer Sache (oder Rechts) im gesetzlosen Zustande (statu naturali) kann so lange als putativer Besitz fortdauern als dieser währt (weil in ihm selbst diejenige rechtliche Autorität fehlt, die zur Verurtheilung desselben als eines unrechtmäßigen Besitzes erfordert wird) die Besitznehmung solcher Art aber muß ein Überschritt aus jenem Zustande (der Völker) in den Zustand eines herrschenden Völkerrechts (welcher nach dem Vernunftgesetz exeundum esse et statu

Kriegswaffen temporär zugelassen, um den bürgerlichen Zustand in der reinen Philosophie erreichen zu können. Im Rahmen der KrV bedarf es für jeden endgültigen Beweis einer transzendentalen Deduktion, sprich eines direkten, ostensiven Beweises, damit man aus den Bedingungen der Möglichkeit des Gegenstands selbst die objektive Realität eines bestimmten Begriffs und damit die Legitimität der daraus abgeleiteten Erkenntnis peremptorisch beweisen kann. Erst wenn alle Ansprüche der reinen Vernunft bzw. des reinen Verstandes transzendental deduziert und somit peremptorisch gesichert sind, kann man einen bürgerlichen Zustand errichten und dadurch zum ewigen Frieden in der reinen Philosophie gelangen. So kommt Kant zu dem Schluss, der auf das schon mehrmals erwähnte „sokratische“ Motiv hindeutet: Die Vernunft muss ihre spekulativen Anmaßungen aufgeben und sich dem Bereich zuwenden, in dem sie ihren „richtigen Gebrauch“ findet, nämlich der Moral: Ein jeder muß seine Sache vermittelst eines durch transscendentale Deduction der Beweisgründe geführten rechtlichen Beweises, d. i. direct, führen, damit man sehe, was seine Vernunftansprüche für sich selbst anzuführen haben. Denn fußt sich sein Gegner auf subjective Gründe, so ist er freilich leicht zu widerlegen, aber ohne Vortheil für den Dogmatiker, der gemeiniglich eben so den subjectiven Ursachen des Urtheils anhängt und gleicher gestalt von seinem Gegner in die Enge getrieben werden kann. Verfahren aber beide Theile bloß direct, so werden sie entweder die Schwierigkeit, ja Unmöglichkeit, den Titel ihrer Behauptungen auszufinden, von selbst bemerken und sich zuletzt nur auf Verjährung berufen können, oder die Kritik wird den dogmatischen Schein leicht entdecken und die reine Vernunft nöthigen, ihre zu hoch getriebene Anmaßungen im speculativen Gebrauch aufzugeben und sich innerhalb die Grenzen ihres eigenthümlichen Bodens, nämlich praktischer Grundsätze, zurückzuziehen (A 794/B 822, Hervorh. d. Verf.).

Die Vorstellung der Disziplin als negative Gesetzgebung der Vernunft, die wiederum die Kultur der reinen Vernunft bzw. die positive Gesetzgebung der Vernunft vorbereitet, lässt sich daher bestätigen. Die Gesetzgebung oder der positive Gebrauch der transzendentalen Ideen erfolgt nur auf einem moralischen Standpunkt als Erweiterung des (praktischen, nicht des spekulativen) Vernunftgebrauchs angesichts der Bestimmung des Menschen. Die Postulatenlehre der KpV zeigt z. B., wie man aus einem Bedürfnis der praktischen Vernunft, nämlich der Förderung und Verwirklichung des höchsten Gutes als der „unbedingten Totalität des Gegenstandes der reinen praktischen Vernunft“ (KpV AA 05: 108), das heißt der zureichenden Verknüpfung der Glückseligkeit mit der Tugend in der Welt (KpV AA 05: 113), die objektive Realität der Gegenstände der reinen Vernunft annehmen muss. In einer bloß praktischen Hinsicht werden die Gegenstände der transzendentalen Ideen (Seele, Gott und die Freiheit als positive Kausalität) auch spekulativ „rehabilitiert“ (KpV AA 05: 132ff). Wie Kant in der KpV behauptet, hat die spekulative Einschränkung der reinen Vernunft als naturali eben so für Staaten im Verhältnis gegen einander als für einzelne Menschen nothwendig ist) fernerhin aufhören“ (VAZeF, AA 23: 157). Vgl. auch MdS, AA 06: 247; Brandt, R. „Das Erlaubnisgesetz in den Metaphysischen Anfangsgründe der Rechtslehre“, a. a. O.

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Gegenstück ihre praktische Erweiterung; dadurch wird ferner die Vernunft „in dasjenige Verhältniß der Gleichheit [gebracht], worin [sie] überhaupt zweckmäßig gebraucht werden kann“. Speculative Einschränkung der reinen Vernunft und praktische Erweiterung derselben bringen dieselbe allererst in dasjenige Verhältniß der Gleichheit, worin Vernunft überhaupt zweckmäßig gebraucht werden kann, und dieses Beispiel beweiset besser als sonst eines, daß der Weg zur Weisheit, wenn er gesichert und nicht ungangbar oder irreleitend werden soll, bei uns Menschen unvermeidlich durch die Wissenschaft durchgehen müsse, wovon man aber, daß diese zu jenem Ziele führe, nur nach Vollendung derselben überzeugt werden kann (KpV AA 05: 141).

Es bleibt nun in den folgenden Kapiteln zu untersuchen, wie Kant den direkten Beweis in der Transzendentalen Analytik und den indirekten Beweis in der Transzendentalen Dialektik in die Praxis umsetzt. Erst nach all diesen Etappen lässt sich besser beurteilen, wie die Vernunft „mit sich selbst zusammenstimmt“ (A 516/B 544) und wie sie jenes „Verhältnis der Gleichheit“ zwischen jedem Gebrauch, dem spekulativen und dem praktischen, und auch zwischen den Aspekten ihrer Gesetzgebung, dem negativen und dem positiven, erlangt.

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Die juridische Deduktion in der Kritik der reinen Vernunft

Wurde im dritten Kapitel das juridische Modell der Deduktion behandelt, so gilt es nun, auf dessen Grundlage das deduktive Verfahren der zweiten Auflage der KrV zu untersuchen. Die Einschränkungen der vorliegenden Untersuchung lassen sich dadurch rechtfertigen, dass die Auseinandersetzung mit den Deduktionen in der KrV gemäß dem juridischen Deduktionsmodell nicht mit anderen in der Sekundärliteratur vorfindlichen Deutungen konkurriert. Das betrifft sowohl solche der metaphysischen Deduktion, wo es um ihre Angemessenheit, Vollständigkeit usw. geht,910 aber auch Studien zur transzendentalen Deduktion (über die Deduktion A und die Unterschiede zwischen den Deduktionen A und B, über den Beweisgang, das Ziel und den Erfolg einer jeden Deduktion usw.)911 der Kategorien und der transzendentalen Ideen. Stattdessen wird hier der Anspruch erhoben, die Ergebnisse der Untersuchung über das historische Modell der juridischen Deduktion aufzunehmen und sie auf die KrV, genauer auf den methodologischen Aufbau der Deduktionen der Kategorien und der transzendentalen Ideen anzuwenden. Diese Ergebnisse, die im Laufe des Kapitels bestätigt und besser begründet werden, lassen sich folgendermaßen zusammenfassen: Die Deduktion in der KrV folgt keinem logisch-mathematischen Modell a more geometrico, wonach man aus als wahr angenommenen oder demonstrierten Sätzen und gemäß Schlussfolgerungen gültige Schlüsse herleitet. Stattdessen folgt sie einem juridischen Deduktionsmodell, wonach aus normativen bzw. rechtlichen Gründen und aus historischen, faktischen oder einfach genetischen Umständen Rechte bzw. Befugnisse legitimiert bzw. gerechtfertigt werden. Diese Grundstruktur wird im Folgenden anhand der beiden besprochenen Deduktionen näher erläutert.

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Für einen Überblick vgl. Brandt, R. The Table of Judgments: Critique of Pure Reason A 67–76; B 92–101, a. a. O.; Caimi, M. „Einige Bemerkungen über die Metaphysische Deduktion in der Kritik der reinen Vernunft“. In: Kant-Studien, 91, 2000; ders. „Zur metaphysischen Deduktion der Ideen in der Kritik der reinen Vernunft“. In: Methodus, 7, 2013; Longuenesse, B. Kant and the Capacity to Judge – Sensibility and Discursivity in the Transcendental Analytic of the Critique of Pure Reason. Princeton: Princeton University Press, 1998; Malter, R. „Der Ursprung der Metaphysik in der reinen Vernunft. Systematische Überlegungen zu Kants Ideenlehre“, in: Kopper, J. & Marx, W. (Hrsg.): 200 Jahre Kritik der reinen Vernunft. Hildesheim, Gerstenberg, 1981; Reich, K. „Die Vollständigkeit der kantischen Urteilstafel“. In: Gesammelte Schriften. Hamburg: Meiner, 2001; Wolff, M. Die Vollständigkeit der kantischen Urteilstafel. Frankfurt a. M.: Klostermann, 1995. Unter der Vielfalt an Sekundärliteratur vgl. Allison, H. Kant’s Transcendental Idealism. An Interpretation and Defense. Revised and Enlarged Edition. New Haven & London: Yale University Press, 2004; Baum, M. Deduktion und Beweis in Kants Transzendentalphilosophie, a. a. O.; ders. Die Transzendentale Deduktion in Kants Kritiken. Interpretationen zur kritischen Philosophie. Köln, Univ. Diss., 1975; Caimi, M. „Zum Problem des Zieles einer transzendentalen Deduktion“. In: Gerhardt, V. (Hrsg.). Kant und die Berliner Aufklärung. Akten des Kant-Kongresses Berlin. Bd. 1. Berlin [u. a.]: De Gruyter, 2001, S. 48–65; ders. Kant’s B Deduction, a. a. O.; Klemme, H. Kants Philosophie des Subjektes, a. a. O.; Henrich, D. Identität und Objektivität. a. a. O.; ders. „The Proof Structure of Kant’s Transcendental Deduction“. In: Review of Metaphysics, 22, 1969; Longuenesse, B. Kant and the Capacity to Judge, a. a. O.; Vleeschauwer, H. J. La Déduction Transcendentale dans l’Oeuvre de Kant, a. a. O.

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Für Kant bedarf der Gebrauch gewisser Begriffe einer Rechtfertigung. Eine Deduktion setzt sich daher zum Ziel, die „Rechtsame“ bzw. die Befugnis zum Gebrauch eines bestimmten Begriffs angesichts eines bestimmten Zwecks in einem bestimmten Bereich zu rechtfertigen – z. B. die Befugnis zum „immanenten“ Gebrauch bzw. zum Erfahrungsgebrauch der Kategorien und zum regulativen Gebrauch der Ideen. In diesem Kontext verbindet Kant wiederholt den Gebrauch eines Begriffs mit einem „Titel“ (z. B. A 501/B 529; A 740/B 767). „Titel“ hatte seinerzeit die Bedeutung einer Legitimation oder Befugnis zum Gebrauch einer bestimmten Sache, die durch „Kauff oder Verkauff, Schenckung, Pfand, Tausch, usw.“ erworben wurde.912 Kant selbst verwendet in der RL Rechtsgrund als Synonym von titulus (MdS AA 06: 260) oder titulus possessionis (MdS AA 06: 251–252),913 das heißt eine Befugnis zum Gebrauch von etwas, dessen Erwerbung als legitim nachgewiesen wurde. Wie kann man jedoch entscheiden, ob ein Titel legitim ist? Hier kommt die Deduktion zur Geltung. Titel oder Rechtsgründe bedürfen einer Deduktion, um ihre Rechtmäßigkeit beweisen zu können, ebenso wie der Gebrauch gewisser Begriffe des direkten Beweises ihrer objektiven Realität und dadurch der Rechtmäßigkeit ihres Besitzes und somit ihres Gebrauchs bedarf. Kant weist mehrmals darauf hin, dass eine solche rechtfertigende Aufgabe beim Begriffsgebrauch für das „kritische Geschäft“ im Ganzen wesentlich ist. So äußert er sich etwa in den Fortschritten sehr klar in diesem Sinne. Gegen die radikalen Skeptiker, die die Kompetenz der Vernunft bei der Erwerbung von Erkenntnissen a priori anfechten, trägt die Deduktion zur „genauen und ausführlichen Kritik“ dadurch bei, dass sie die Rechtsame, sprich die Befugnisse „der Vernunft zu Bestimmung a priori“ nachweist. Wider dieses Unheil [den unbegrenzten Skeptizismus] gibt es nun kein Mittel, als daß die reine Vernunft selbst, d. i. das Vermögen, überhaupt a priori etwas zu erkennen, einer genauen und ausführlichen Kritik unterworfen werde, und zwar so, daß die Möglichkeit einer reellen Erweiterung der Erkenntnis durch dieselbe in Ansehung des Sinnlichen und ebendieselbe oder auch, wenn sie hier nicht möglich sein sollte, die Begrenzung derselben in Ansehung des Übersinnlichen eingesehen wird, was das letztere als den Zweck der Metaphysik betrifft, dieser der Besitz, dessen sie fähig ist, nicht durch gerade Beweise die so oft trüglich befunden werden, sondern durch Deduktion der Rechtsame der Vernunft zu Bestimmungen a priori gesichert werde (FM AA 20: 320, Hervorh. d. Verf.).

Kant leistet an dieser Stelle eine stillschweigende Erweiterung des Zwecks einer Deduktion im Rahmen des „kritischen Geschäfts“, das gemäß der Idee einer negativen und positiven Gesetzgebung interpretiert wird. Die Deduktion zielt darauf ab, nicht nur den Titel der reinen Verstandesbegriffe zu rechtfertigen, 912

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„Possessionis titulus ist in denen Rechten so viel, als der Titel, unter welchem jemand zu dem Besitze einer gewißen Sache gelanget, z. B., Kauff oder Verkauff, Schenckung, Pfand, Tausch, u.s.w.“ Zedler, J. H. Großes vollständiges Universal-Lexicon, a. a. O., Bd. 28, S. 1767. Vgl. Achenwall, G. & Pütter, J. S. Anfangsgründe des Naturrechts. Elementa Iuris Naturae. Hrsg. und übers. v. Jan Schröder. Frankfurt a. M. & Leipzig: Insel, 1995, § 299: „Die Rechtmäßigkeit der Erwerbungsart heißt Titel (Iustitia modi adquiriendi vocatur titulus)“. „Die erste Besitznehmung hat also einen Rechtsgrund (titulus possessionis) für sich, welcher der ursprünglich gemeinsame Besitz ist“. MdS AA 06: 251f.

sondern auch dadurch die „Bestimmungen a priori“ der Vernunft, einschließlich eines gewissen „Besitzes […] in Ansehung des Übersinnlichen“, zu sichern. Die Kompetenz der Deduktion im Allgemeinen als Verfahren, das den Besitz von gewissen Begriffen und Vernunftgebräuchen, sei es ein praktischer, sei es ein spekulativer Gebrauch, rechtfertigt, wird dadurch allem Anschein nach auf alle Geschäfte der Kritik ausgedehnt. Dementsprechend soll hier eine systematische Darstellung erfolgen, wie Kant auf der Grundlage seines juridischen Deduktionsmodells die Rechtmäßigkeit des Gebrauchs der reinen Verstandesbegriffe, der Kategorien, und der reinen Vernunftbegriffe, der transzendentalen Ideen, in Frage stellt. Man erkennt jeweils das juridische Deduktionsmodell als Feststellung der Tatsache, woraus ein ius controversum entsteht (quid facti – metaphysische Deduktion), und als Rechtsprüfung der Rechtmäßigkeit der Befugnisse, die aus einer solchen festgestellten Tatsache hervorgeht (quid iuris – transzendentale Deduktion). Beabsichtigt wird auch der Nachweis, dass das juridische Deduktionsmodell wesentlich zur Bestimmung des negativen und des positiven Moments der Gesetzgebung der Vernunft beiträgt. Kant hebt bekanntlich in der KpV die „höchste Notwendigkeit“ der Deduktion der Kategorien nicht nur für die Bestimmung der Möglichkeit einer spekulativen Erkenntnis der Natur, sondern auch – und vielleicht vor allem – für die Moral und die Theologie hervor. Durch die Bestimmung der Deduktion der Kategorien als ursprünglich erworbene Begriffe und nicht (wie etwa bei Plato) als angeborene oder (wie etwa bei Epikur) als empirisch erworbene Begriffe gilt es, „überschwängliche Anmaßungen mit Theorien des Übersinnlichen“ sowie die Beschränkung der Gültigkeit der reinen Verstandesbegriffe bloß „auf Gegenstände und Bestimmungsgründe der Sinne“ (KpV AA 05: 141) zu vermeiden.914 Kant spielt hier auf eine Idee an, die im Folgenden behandelt wird: Als nicht angeborene oder empirische, sondern ursprünglich erworbene Begriffe erlauben die Kategorien – und damit die transzendentalen Ideen als geschlossene Begriffe – einen legitimen praktischen Vernunftgebrauch. Auf der Grundlage der juridischen Verfassung der KrV erweisen sich die metaphysische und die transzendentale Deduktion als zwar indirekte, aber ausschlaggebende Bestandteile der positiven Gesetzgebung der Vernunft. 9.1

Die metaphysische und die transzendentale Deduktion in der KrV

Es soll hier eine noch vorläufige, aber im Laufe des vorliegenden Kapitels weiter zu entwickelnde Definition über den Aufbau und die Ziele der metaphysischen und der transzendentalen Deduktion der Kategorien sowie der transzendentalen Ideen geliefert werden. In der Vorrede zur ersten Auflage der KrV erklärt Kant 914

„Aus diesen Erinnerungen wird der Leser der Kritik der reinen speculativen Vernunft sich vollkommen überzeugen: wie höchstnöthig, wie ersprießlich für Theologie und Moral jene mühsame Deduction der Kategorien war. Denn dadurch allein kann verhütet werden, sie, wenn man sie im reinen Verstande setzt, mit Plato für angeboren zu halten und darauf überschwengliche Anmaßungen mit Theorien des Übersinnlichen, wovon man kein Ende absieht, zu gründen, dadurch aber die Theologie zur Zauberlaterne von Hirngespenstern zu machen; wenn man sie aber für erworben hält, zu verhüten, daß man nicht mit Epikur allen und jeden Gebrauch derselben, selbst den in praktischer Absicht, blos auf Gegenstände und Bestimmungsgründe der Sinne einschränke“ (KpV AA 05: 141).

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die transzendentale Deduktion der Kategorien als die wichtigste Untersuchung „zu[r] Ergründung des Vermögens, welches wir Verstand nennen, und zugleich zu[r] Bestimmung der Regeln und Grenzen seines Gebrauchs“ (A xvi). Es handelt sich also um eine Untersuchung „von großer Wichtigkeit […] in Ansehung [des] Hauptzwecks“ der KrV (A xvii). In der Vorrede zu den Metaphysischen Anfangsgründen der Naturwissenschaft macht Kant deutlicher, was dieser Hauptzweck der Kritik ist und welche Rolle die Deduktion der Kategorien dabei spielt. Kant antwortet hier auf einen Rezensenten der KrV, der den Einwand erhoben hatte, dass „ohne eine ganz klare und genugthuende Deduction der Kategorien das System der Kritik der reinen Vernunft in seinem Fundamente wanke“ (MAN, AA 04: 474). Die erwünschte Deutlichkeit und die „Vollendung“ seien nicht erreicht, weil die transzendentale Deduktion der A-Auflage der KrV der „Theil der Kritik“ ist, „welcher gerade der hellste sein müßte, [aber] am meisten dunkel“ ist (MAN AA 04: 474). Kant erwidert, dass die vollständige Deutlichkeit und Vollkommenheit bei der Darstellung der Deduktion in der Tat „verdienstlich“, nicht aber per se notwendig ist für eine mit „apodiktischer Gewißheit“ gegebene Begründung des Satzes, auf dem das „System der Kritik […] erbautet ist“, nämlich „daß der ganze speculative Gebrauch unserer Vernunft niemals weiter als auf Gegenstände möglicher Erfahrung reiche“ (MAN AA 04: 474). Im Hinblick auf diesen Zweck, so Kant, reicht die mangelhafte Darstellung der Deduktion aus. Die Deduktion hat ihr Ziel durch den Nachweis erreicht, daß gedachte Kategorien nichts anders als bloße Formen der Urtheile sind, so fern sie auf Anschauungen (die bei uns immer nur sinnlich sind) angewandt werden, dadurch aber allererst Objecte bekommen und Erkenntnisse werden: weil dieses schon hinreicht, das ganze System der eigentlichen Kritik darauf mit völliger Sicherheit zu gründen (MAN AA 04: 474).

Die Bezeichnung einer „metaphysischen“ Deduktion der Kategorien wird ihrerseits von Kant nur in der B-Auflage der KrV explizit erwähnt. Sie besteht darin, „[den] Ursprung der Kategorien a priori überhaupt durch ihre völlige Zusammentreffung mit den allgemeinen logischen Funktionen des Denkens dar[zutun]“ (B 159). Dadurch, dass die metaphysische Deduktion nachweist, dass die Kategorien „nichts anders als bloße Formen der Urtheile“ sind, leistet sie einen wesentlichen Beitrag für den Zweck, den die transzendentale Deduktion und a fortiori die KrV erreichen muss. Was die transzendentalen Ideen betrifft, verweist Kant zwar auf die Unmöglichkeit einer transzendentalen bzw. objektiven Deduktion915 der Ideen hinsichtlich ihres konstitutiven (immanenten), also erkenntnisstiftenden Gebrauchs, „so wie wir sie von den Kategorien liefern konnten“ (A 336/B 393). Zugleich aber findet sich eine „transscendentale Deduction aller Ideen der speculativen Vernunft […] als regulativer Principien der systematischen Einheit des Mannigfaltigen der empirischen Erkenntniß überhaupt“ (A 671/B 699).

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In Kapitel 9.4 wird die Gleichstellung zwischen objektiver und transzendentaler Deduktion sowie die zwischen subjektiver und metaphysischer Deduktion erläutert.

In Bezug auf eine mögliche metaphysische bzw. subjektive Deduktion der Ideen deutet Kant auf etwas, das dem ähnlich ist, wenn er sich auf eine „subjektive Ableitung derselben aus der Natur unserer Vernunft“ (A 336/B 393) bezieht, die die „transzendentale (subjektive) Realität der reinen Vernunftbegriffe“ dartut. Dementsprechend beweist sie, dass die transzendentalen Ideen auf einem „notwendigen Vernunftschluß“ (A 339/B 397) beruhen, so wie die Kategorien auf den logischen Funktionen bzw. auf den Funktionen des Denkens als ihrem subjektiven Ursprung beruhen. In den Prolegomena bringt Kant dies deutlicher zum Ausdruck: „[D]ie Vernunft [enthält] in sich den Grund zu Ideen […]. Die letzteren sind ebensowohl in der Natur der Vernunft als die ersteren [scil. die Kategorien] in der Natur des Verstandes gelegen“ (Prol AA 04: 328). Die transzendentalen Ideen, vor allem die der Seele, die von Gott und die der Freiheit, sind für die Bestimmung des Menschen und für den Endzweck der Vernunft sowie a fortiori für die Verwirklichung der positiven Gesetzgebung der Vernunft wesentlich. In Anbetracht dessen ist es nicht verwunderlich, dass eine solche subjektive Ableitung bzw. Deduktion916 der transzendentalen Ideen aus der „Natur der Vernunft“ eine genauso wichtige – oder sogar wichtigere – Rolle wie die der Kategorien spielt. All diese Fragen werden erst im Laufe des Kapitels beantwortet. An dieser Stelle gilt es, folgendes Problem zu betrachten: Wie kann man alle oben zitierten Stellen über die Zwecke und die Funktion der metaphysischen und der transzendentalen Deduktion mit dem juridischen Deduktionsmodell in Einklang bringen? Im dritten Kapitel wurde gezeigt, dass Kant nicht die logisch-mathematische, sondern die juridische Bedeutung des Deduktionsbegriffs aufgreift. Aus der quellengeschichtlichen Untersuchung ging ein juridisches Deduktionsmodell hervor, wonach aus normativen bzw. rechtlichen Gründen und aus geschichtlichen, faktischen oder einfach genetischen Umständen Befugnisse legitimiert bzw. gerechtfertigt werden können. Für Kant geht es bei der juridischen Deduktion um quid iuris oder die quaestio iuris hinsichtlich des Gebrauchs eines bestimmten Begriffs und auch um quid facti oder die quaestio facti hinsichtlich seines Besitzes und dessen, wie er faktisch erworben wurde.917 Anders gesagt geht es einerseits um die Rechtsprüfung und andererseits um die Feststellung des Tatbestands eines Besitzes.918 Quaestio facti ist, auf welche Art man sich zuerst in den Besitz eines Begriffs gesetzt habe; qvaestio iuris, mit welchem Recht man dies denselben besitze und ihn brauche (Rx 5636 AA 18: 267 (1780–1783)).

Damit meint Kant, dass eine juridische Deduktion sowohl von „GeschichtsUmstände[n]“ (res facti, quid facti, quaestio facti) als auch von „Rechts-Puncten“ (quid iuris, quaestio iuris) zur Rechtfertigung eines bestimmten Rechts bzw. einer 916 917

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Über die Gleichsetzung zwischen Ableitung und Deduktion siehe oben Kapitel 3. „Quaestio facti, ist, wenn man nach den Umständen der Sache fraget, ob sich ein Ding also verhalte oder nicht. Quaestio Juris, eine Rechts-Frage ist, wenn man nach Untersuchung der Umstände fraget, was in einem Fall recht sey oder nicht“. Oberländer, S. Lex. juridicum Romano-Teutonicum. Nürnberg 1723, S. 583. Vgl. Kaulbach, F. „Die rechtsphilosophische Version der Transzendentalen Deduktion“, a. a. O., S. 35, Fn. 39.

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bestimmten Befugnis ausgeht. Dass Kant verschiedene Ausdrücke und Begriffe zur Bezeichnung derselben Idee (res facti, quid facti, quid iuris, quaestio facti usw.) verwendet, erklärt sich aus der relativ großen terminologischen Freiheit, die sich die Autoren der Deduktionsschriften, so etwa Pütter, einräumen.919 Was jedoch hier von besonderem Interesse ist, ist der notwendige Bezug auf die res facti bei einer juridischen Deduktion. Als Schriften, „worinn zu einem juristischen Endzweck etwas vorgetragen wird“, enthalten die Deduktionen immer und in jedem Fall „Geschichts-Umstände (res facti)“.920 Daraus ergibt sich, dass eine Deduktion nicht ausschließlich die Bestimmung dessen betrachtet, was recht ist (quid iuris), sondern auch die Erläuterung oder den Hinweis auf die facta impliziert oder voraussetzt, die als „Geschichts-Umstände“ das Vorliegen eines ius controversum überhaupt determinieren. Im achten Kapitel wurde darüber hinaus gezeigt, wie Kant in der Transzendentalphilosophie lediglich direkte Beweisarten zur Begründung der Wahrheit eines Satzes zulässt. Um also die Gültigkeit eines Satzes begründen oder die Rechtmäßigkeit des Gebrauchs eines gewissen Begriffs rechtfertigen zu können, reicht es nicht aus, einfach den Gegensatz zu widerlegen oder denjenigen, der die Rechtmäßigkeit eines Begriffs bestreitet, geradezu zurückzuweisen. Mit anderen Worten, die apagogische Beweisart gilt nicht als Beweis der Wahrheit bzw. als Begründung eines Satzes, sondern vielmehr nur als „Kriegswaffe“ zur Delegitimierung der entgegengesetzten Ansprüche, ohne dadurch aber die zu rechtfertigenden Ansprüche zu legitimieren. Denn zu einer solchen Legitimation ist bis zu den „Quellen“ der Erkenntnis zurückzugehen (A 789/B 817; V-Lo/Pölitz AA 24: 561) oder ein „durch transzendentale Deduktion der Beweisgründe geführte[r] rechtliche[r] Beweis, d. i. [ein] direkt[er] Beweis“ erforderlich (A 794/B 822). Kants Auffassung über den direkten Beweis findet auch, wie schon gezeigt wurde, eine Entsprechung im juridischen Deduktionsbegriff. Eine Deduktion kann sich mit der „direkten“ Verteidigung der Rechtmäßigkeit eines bestimmten Anspruchs begnügen, ohne die Gegenansprüche widerlegen zu müssen.921 Der Verweis des Anspruchs auf seinen faktischen Ursprung bzw. auf seine „Quellen“ (res facti) und die direkte Auseinandersetzung mit den rechtlichen Aspekten zur Unterstützung der vertretenen Position (quaestio iuris) genügen für die Rechtfertigung der Rechtmäßigkeit des Rechts bzw. der Befugnis angesichts eines strittigen Rechtsgrundes bzw. Titels. Dies ist exakt Kants deduktives Verfahren. Eine kurze Auseinandersetzung mit D. Henrich hilft bei der Erläuterung der hier vertretenen Interpretation. Henrichs Verständnis des juridischen Deduktionsverfahrens kann folgendermaßen zusammengefasst werden: Die quaestio iuris betrifft den Rechtsgrund eines Besitzes, sei es von Sachen, von Ansprüchen oder schließlich von „functions and privileges“; durch eine Deduktion, genauer gesagt durch „eine transzendentale Herleitung“ will man zu dem Ursprung bzw. zu der Quelle einer Erkenntnis kommen, deren Anspruch oder Besitz angefochten wurde. „In diesem Sinne ist die Antwort auf eine quaestio juris des Erkennens eine Deduktion aus dem Ursprung einer Erkenntnis als der Bedingung ihrer

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Vgl. oben Kapitel 3.3. Pütter, J. S. Anleitung zur juristischen Praxi, a. a. O., § 77. Ebd., §§ 124ff.

Möglichkeit“.922 Henrich deutet den „Ursprung einer Erkenntnis“, der durch eine „transzendentale Herleitung“ erreicht wird, auf der Grundlage der facta der Juristen. Es geht dabei, wie im Folgenden gezeigt wird, um gewisse „innere Tätigkeiten“ der Erkenntnisvermögen, die als datum betrachten werden müssen.923 Als Ergebnis rechtfertigt „die Deduktion im Rekurs auf seinen Ursprung die Rechtmäßigkeit eines Anspruches, sei es auf eine Erkenntnis, sei es auf einen Besitz“.924 Da der Anlass der Deduktion die Anfechtung eines Rechtsgrundes ist, beabsichtigt sie nicht die Erweiterung, sondern die Rechtfertigung einer gegebenen Erkenntnis. Henrich deutet daher auf die Begrenzung der Deduktion als Beweismittel hin: Wo kein Beweis möglich ist, kann „doch wenigstens eine Deduktion der Rechtmäßigkeit seiner [scil. eines Satzes] Behauptung unnachlaßlich hinzugefügt werden“ (A 233/B 286).925 In diesem Sinne wäre die Deduktion ein Surrogat für den logisch-mathematischen Beweis: „So ist also die Deduktion für einen Rechtsanspruch ebenso zwingend wie ein Beweis für einen Satz. Die Deduktion leistet, was auch der Beweis zu leisten hat: Durch beide wird von Sätzen dargetan, daß ihre Annahme unabweisbar ist“.926 Henrich dehnt bekanntlich die Gültigkeit des in der transzendentalen Deduktion der Kategorien beobachteten juridischen Deduktionsmodells auf alle weiteren Deduktionen der Transzendentalphilosophie aus, einschließlich auf die Deduktion des Sittengesetzes.927 Zur Begründung einer solchen Deutung gebraucht Henrich außer dem Unterschied zwischen „Beweis“ und „Deduktion“, wodurch die juridische Deduktion ihre eigene Bedeutung erhält, noch eine weitere Unterscheidung, nämlich die zwischen einer „schwachen“ und einer „starken“ Deduktion: Deduktionen nach der starken Form leiten Prinzipien der Erkenntnis aus ihren Ursprüngen in der Vernunft ab, ohne dass zuvor diese Prinzipien

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Henrich, D. „Die Deduktion des Sittengesetzes“, a. a. O., S. 78. Henrich, D. „Kant’s Notion of a Deduction“, a. a. O., S. 37. Henrich, D. „Die Deduktion des Sittengesetzes“, a. a. O., S. 78. Ebd., S. 76–81. Vleeschauwer und Vaihinger problematisieren den Unterschied zwischen „beweisen“ und „erklären“ in Zusammenhang mit einer Deduktion. Kant scheint beide Begriffe als untereinander austauschbar zu verwenden. Außer ihnen gebraucht er ebenso „begrifflich machen“, „darthun“, „einsehen“, „rechtfertigen“ usw. Für alle Stellen und weitere Hinweise vgl. Vleeschauwer, H. J. La Déduction Transcendentale dans l’Oeuvre de Kant. Bd. 1, a. a. O., S. 147, N. 3. Vaihinger ist der Auffassung, Kant hätte beide Begriffe gründlicher unterscheiden sollen. Einer Deduktion sei nur das Verb „beweisen“ angemessen. Vgl. Vaihinger, H. Commentar. Bd. 1, a. a. O., S. 398f. Kant verfährt hier in der Tat nicht besonders sorgfältig; es ist aber auf seinen Zweck in den jeweiligen Deduktionen und auf die ihm jeweils zur Verfügung stehenden Beweismittel aufmerksam zu machen. Wenn man „Beweis“ im Sinne einer Demonstration versteht, dann wird aus dem Disziplin-Kapitel klar, dass Kant dabei keine Deduktion meint. Wenn man dagegen „Beweis“ im Sinne einer „Rechtfertigung“ bzw. „Begründung“ der Gültigkeit eines bestimmen Begriffs in einem bestimmten Kontext (möglicher Erfahrung, der Moral usw.) versteht, dann kann man mit Recht behaupten, dass eine Deduktion als „Beweis“ gilt. Henrich, D. „Die Deduktion des Sittengesetzes“, a. a. O., S. 79. Solche „andere[n] transzendentale[n] Deduktionen gelten de[n] Ideen (B 697–8), dem reinen ästhetischen Urteil (KU AA 05: 279), der Idee der Zweckmäßigkeit in der Natur (KU AA 05: 181–6), der Erwerbung durch Vertrag (MdS AA 06: 272), etc.“. Henrich, D. „Die Deduktion des Sittengesetzes“, a. a. O., S. 81, Fn. 18.

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und Erkenntnisse selber schon in irgendeiner Form glaubhaft oder auch nur bekannt sein müssten. Eine schwache Deduktion geht von einer gegebenen Erkenntnis aus, die man entweder als bekannt oder sogar als unbestritten in Ansatz bringen kann. Sie stellt deren Ursprung in der Vernunft selber dar.928

Während Kant in der transzendentalen Deduktion der reinen Verstandesbegriffe in beiden Auflagen der KrV eine „starke Deduktion“ im strengen Sinne durchführe,929 sei unter den weiteren Deduktionen der Transzendentalphilosophie eher die „schwache“ Bedeutung des Begriffs zu verstehen, nämlich eine „normale Vorstellung der Rechtfertigung von Erkenntnisansprüchen aus Ursprungserkenntnis“.930 Es gibt jedoch, so Henrich, noch eine „schwächere“ Bedeutung von Deduktion. Die „schwächste Deduktion“ wäre diejenige, die eine gewisse Erkenntnis bis zu ihrem Ursprung zurückverfolgt, um dadurch weitere Erkenntnisse lediglich zu „verteidigen“ und nicht zu rechtfertigen.931 Beispielsweise setzt Kant diese „schwächste Deduktion“ in den Prolegomena voraus, wenn eine „transzendentale Deduktion“ der Begriffe des Raums und der Zeit (Prol AA 04: 285; vgl. B 120–121) erwähnt wird, weil eine solche Deduktion sich darauf beschränkt, die Möglichkeit der reinen Mathematik zu „verteidigen“.932 Eine Deduktion kann hier nicht die „Rechtfertigung einer Anmaßung“ bedeuten, sondern sie „macht [lediglich] verständlich, was außer Zweifel steht. So sichert sie es gegen Mißbrauch und erlaubt eine Aufklärung über Ursprünge von Erkenntnis in ihrem ganzen Zusammenhang“.933 Henrich zufolge hat diese „schwächste Bedeutung“ von Deduktion als bloße „Erklärung“ und nicht als Legitimation die Deduktionsauffassung der GMS und der KpV geprägt – die Deduktion des Sittengesetzes (oder des Freiheitsbegriffs) sei gemäß der „schwachen“, nicht der „starken Bedeutung“ von Deduktion konzipiert.934

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Ebd., S. 82. Ebd., S. 83. Henrich meint sogar, dass die Deduktion der Kategorien in beiden Auflagen der KrV mehr leistet als das, was eine juridische Deduktion zu beanspruchen berechtigt ist, nämlich einen Anspruch nicht nur auf Rechtmäßigkeit, sondern auch auf Vollständigkeit. Ebd. Ebd., S. 80. „Also liegen doch wirklich der Mathematik reine Anschauungen a priori zum Grunde, welche ihre synthetische und apodiktisch geltende Sätze möglich machen; und daher erklärt unsere transscendentale Deduction der Begriffe im Raum und Zeit zugleich die Möglichkeit einer reinen Mathematik, die ohne eine solche Deduction, und ohne daß wir annehmen, ‚alles, was unsern Sinnen gegeben werden mag (den äußeren im Raume, dem inneren in der Zeit), werde von uns nur angeschauet, wie es uns erscheint, nicht wie es an sich selbst ist zwar eingeräumt, aber keineswegs eingesehen werden könnte“ (Prol, AA 04: 285). Henrich, D. „Die Deduktion des Sittengesetzes“, a. a. O., S. 81. Ebd., S. 86. Laut Henrich gibt es einen grundsätzlichen Unterschied zwischen der transzendentalen Deduktion der Kategorien und der Deduktion in der GMS. In dieser letzten „wird der Terminus ‚Deduktion‘ im normalen Sinne“, also ohne die Verwicklungen einer transzendentalen, im starken Sinne verstandenen Deduktion verwendet (ebd., S. 83). In der GMS verwendet Kant den „schwache[n]“, das heißt den „intermediären“ Sinn von Deduktion. Die „Hypothese“ der Idee der Freiheit wird auf ihren Ursprung in der Vernunft zurückverwiesen, um die moralischen Grundsätzen zu verteidigen. „Ist aber die Idee

Für Henrichs Deutung spricht die beachtenswerte Tatsache, dass er der erste Kant-Forscher war, der auf das juridische Deduktionsmodell in der Transzendentalphilosophie aufmerksam machte. Gegen seine Auffassung spricht das, was Aichele kritisierte, nämlich dass Henrich keine eingehende Untersuchung über die Deduktionsschriften durchführt.935 Hinzugefügt werden kann, dass Henrich auch die Rechtswissenschaft zur Zeit Kants wenig in Betracht zieht. Auf der Grundlage des juridischen Deduktionsmodells und der Untersuchung der Beweisarten bei Kant scheint es nicht zwingend oder sogar begrifflich richtig, einen angeblichen Unterschied zwischen einer „starken“, einer „schwachen“ und einer „schwächeren“ Deduktion herauszuarbeiten. Das Unterscheidungsmerkmal einer „starken Deduktion“ gegenüber den anderen, nämlich „Prinzipien der Erkenntnis aus ihren Ursprüngen in der Vernunft [abzuleiten], ohne dass zuvor diese Prinzipien und Erkenntnisse selber schon in irgendeiner Form glaubhaft oder auch nur bekannt sein müssten“,936 macht keinen Sinn im Rahmen des Deduktionsmodells der Deduktionsschriften. Die Feststellung, sprich das quid facti bzw. die res facti, ist ein Bestandteil der juridischen Deduktion in dem Sinne, dass alle Deduktionen von einem Ursprung ausgehen, der noch besser „bekannt“ und genauer festgestellt werden muss. Außerdem ist das von Henrich beanspruchte Unterscheidungsmerkmal einer „schwächeren Deduktion“, nämlich eine Erkenntnis zu verteidigen, in allen Deduktionen vorzufinden, die rationes decidendi und rationes dubitandi enthalten, ohne dass sie allein dadurch als „schwächere“ bezeichnet werden müssten – sie entsprächen stattdessen einer Deduktion, die als ein unparteiisches rechtliches Bedenken betrachtet wird.937 Eine Verteidigung ist darüber hinaus da möglich, wo keine vollständige Deduktion, das heißt kein direkter Beweis der Rechtmäßigkeit der Ansprüche, zu liefern ist, nämlich da, wo man sich darauf beschränkt, die Gegengründe zu delegitimieren, ohne dabei die eigenen Gründe legitimieren zu wollen.938

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der Freiheit als notwendig erwiesen, so ist damit eo ipso eine transzendentale Rechtfertigung für das Sittengesetz erreicht“. Ebd., S. 84. „Es muß […] darauf hingewiesen werden, daß Henrichs Beobachtung bezüglich des Begriffsgebrauchs zwar durchaus zutrifft, seine – allerdings ganz auf die Interpretation des kantischen Verfahrens gerichteten – Überlegungen aber nicht recht geeignet sind, um einen einigermaßen präzisen Begriff einer juristischen Deduktion herauszuarbeiten“. Aichele, A. „Metaphysisches oder logisches Systemprinzip“, a. a. O., S. 126, Fn. 72. Henrich, D. „Die Deduktion des Sittengesetzes“, a. a. O., S. 82. Vgl. Kapitel 3. M. Wolff beachtet nicht den Unterschied zwischen der der Deduktion innewohnenden Verteidigung zugunsten eines direkten Beweises eines Anspruchs einerseits und der Verteidigung als Retorsion andererseits, das heißt nicht als eine (immer direkt geführte) Deduktion, sondern als die bloße Widerlegung eines Gegners, aber nicht zugunsten eines direkten Beweises eines Anspruchs, vielmehr als indirekter „Beweis“, der keinen Anspruch begründet, sondern ihn lediglich verteidigt. „Die Rechtsfertigungsaufgabe des Deduktionsabschnitts der zweiten Kritik ist damit klar umrissen: Sie besteht darin, den mit dem Geltungsanspruch des praktischen Grundgesetzes verbundenen Gebrauch der Begriffe der Freiheit und der reinen willensbestimmenden Vernunft als zulässiger Begriffe zu vertheidigen (KpV AA 05 46. 14–15; u. 48. 26–29). Das Ziel dieser Verteidigung besteht in der Abwehr des Einwandes, mit diesen Begriffen werde durch die Aufstellung des moralischen Gesetzes ein transzendenter Vernunftgebrauch gemacht“. Wolff, M. „Warum das Faktum der Vernunft ein Faktum ist“, a. a. O., S. 543.

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Hier soll nun das juridische Deduktionsmodell zum Ausdruck gebracht werden, das sich im Laufe des Kapitels als interpretatives Schema zur Erläuterung des Aufbaus und des Zwecks der Deduktionen in der KrV anwenden lässt.939 Das hier angenommene Deduktionsmodell besteht grundsätzlich aus zwei Etappen: (1) Die metaphysische Deduktion leitet zunächst aus dem Nachweis des Ursprungs (B 159) von dem als Faktum (res facti) angenommenen datum die Gültigkeit überhaupt bzw. die „transzendentale (subjektive) Realität“ (A 339/B 397) als subjektive Gültigkeit überhaupt eines bestimmten Begriffes ab. (2) Die transzendentale Deduktion soll dann die objektive Gültigkeit und die objektive Realität940 eines solchen Begriffs dartun, sprich, sie soll nicht die subjektive Gültigkeit überhaupt eines solchen Begriffs, sondern seinen bestimmten Geltungsbereich festlegen. Anders gesagt soll sie die Rechtmäßigkeit des Titels bzw. Rechtsgrundes eines gewissen Begriffs in einem bestimmten Geltungsbereich (z. B. der möglichen Erfahrung) oder hinsichtlich eines Gebrauchs (z. B. des immanenten, konstitutiven, regulativen, praktischen Gebrauchs usw.) von diesem Begriff rechtfertigen. Ein solches interpretatives Schema wird im Folgenden zur Deutung der Deduktion der Kategorien sowie der Deduktion der 939

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Wenigstens hier ist ein Autor zu erwähnen, dessen Deutung der hier vorgestellten nahesteht, obwohl gegen ihn grundsätzlich erwidert werden kann, dass er keine nähere Untersuchung über die rechtlichen Quellen des juridischen Deduktionsmodells vornimmt. Ishikawa argumentiert, dass die rechtlichen Schriften zur Begründung von Ansprüchen den Namen „Deduktionen“ als Abkürzung von „deductio ad absurdum“ erhielten: In diesen Schriften wurde die Rechtmäßigkeit eines Besitzes durch den Beweis der Unmöglichkeit des Gegenteils nachgewiesen (wie, so Ishikawa, in der Vernunftlehre des Reimarus, § 319). Daraus erklärt sich, warum in der transzendentalen Deduktion zwei philosophische Positionen („Empirismus“ und „Rationalismus“) dargestellt werden, die als kontradiktorische (vgl. A 92–93/B 124–125 – „entweder – oder“) und nicht, wie bei der Antinomie der reinen Vernunft, als konträre Gegensätze gelten. Genau deswegen, so Ishikawa, erhalten die Antinomien nicht den Namen einer „Deduktion“. Vgl. Ishikawa, F. „Zum GerichtshofModell der Kategorien-Deduktion“, a. a. O., S. 18f. In einem späteren Aufsatz ist aber Ishikawa der Auffassung, dass das antinomische „Weder-noch-Denken“ auch in der Deduktion zu spüren ist, nämlich nach der Behandlung des quid facti der Kategorien. Die Kategorien sind demnach weder empirisch noch angeboren, rühren also weder von den Gegenständen selbst her, noch stammen sie bloß aus der Vernunft; die Kategorien sind daher, wie im Folgenden erklärt wird, ursprünglich erworbene Vorstellungen. Dies ist das „Dritte“, der „Mittelweg“, den Ishikawa in der Transzendentalen Analytik sucht. (Zur Interpretation Ishikawas über das „Dritte“ in der Transzendentalen Dialektik vgl. oben, Einleitung). Daraus folgen drei allgemeine Vorschriften, die in der Transzendentalen Deduktion der Kategorien beachtet werden müssen: 1) Die quaestio facti (species facti) gehört zur weiteren Bedeutung der Deduktion, nämlich im Sinne der metaphysischen Deduktion. 2) Erörterung und Deduktion müssen als Synonyme gelten, wie bei der metaphysischen und transzendentalen Erörterung von Raum und Zeit in der Transzendentalen Ästhetik abzulesen ist. 3) Die Darstellung der Rechtssache soll gemäß dem Modell „vel – vel“, „weder – noch“ oder „entweder – oder“, und nicht als eine „Zwei-Glieder-Opposition“, wie etwa bei der Antinomie, geschehen. Vgl. Ishikawa, F. „Grundmotive des GerichtshofModells der Kategorien-Deduktion“, a. a. O. Die Kritiken und Vorbehalte gegen Ishikawas Interpretation werden im Gang der hier vorliegenden Argumentation deutlich. Die Unterscheidung zwischen objektiver Gültigkeit und objektiver Realität bei der transzendentalen Deduktion der Kategorien wird im nächsten Abschnitt erläutert. Vgl. dazu Allison, H. Kant’s Transcendental Idealism. a. a. O. Caimi, M. „Zum Problem des Zieles einer transzendentalen Deduktion“. a. a. O.

transzendentalen Ideen verwendet. Den zwei Momenten des juridischen Deduktionsmodells, dem metaphysischen und dem transzendentalen, entsprechen beim Deduktionsmodell Pütters jeweils die „Geschichts-Erzählung“ und die „Erörterung der Rechts-Punkte“ bzw. das quid facti und das quid iuris. Beide Momente machen das von Pütter beschriebene juridische Deduktionsmodell aus, so wie die metaphysische Deduktion und die transzendentale Deduktion das kantische Deduktionsmodell als an die Rechtswissenschaft angelehnten direkten Beweis ausmachen.941 Man kann sogar behaupten, dass beide Momente die kritische Untersuchung als Ganzes als eine feststellende und prüfende Untersuchung über die facta, „wie wir zur Erkenntnis kommen“, charakterisieren. Beide Aufgaben sind, wie schon gesagt, die zwei Hauptaufgaben eines Richters bei einem Gerichtshof. Eine Untersuchung des facti, wie wir zur Erkenntniß kommen, ob aus Erfahrung oder durch pure Vernunft. – Locke hat hierin viel geleistet, und dieses kann auch so Nutzen haben, ist aber doch nicht so sehr nöthig und auch wohl kaum möglich – besser frägt man, wie viel sind Reine Vernunft Begriffe, was haben sie für Bedeutung, d. h. auf welche Gegenstände können sie gehn, wie können sie gebraucht werden, und in welchen Gränzen müßen sie sich halten? Das ist eine Critic der Reinen Vernunft. Wir sehen hier, mit welchem Recht wir uns der Begriffe ohne Erfahrung bedienen, ob wir dieses nicht unrechtmäßig thun. Durch Critic gelange ich nicht zur Gewißheit der Fragen, insoferne sie dogmatisch beantwortet werden sollen, sondern dessen, was die Vernunft in Ansehung aller Metaphysischen Fragen ausrichten kann. Eine solche Critic ist noch nie herausgegeben als vom H. Professor Kant Riga 1781. (V-Met/Mron AA 29: 781–782).

9.2

Res facti in der KrV

9.2.1 Gibt es ein Faktum in der KrV? Ein in der Sekundärliteratur zwar häufig vorkommender, jedoch durch Kants eigene terminologische Unsicherheiten verursachter Fehler bei der Interpretation des Hinweises auf die quaestio facti in § 13 der Transzendentalen Analytik muss vorab korrigiert werden. Kant bezieht sich hier auf eine schon in den Digesta vorliegende Idee,942 nämlich die Unterscheidung zwischen dem quid iuris, das heißt der Frage danach, was recht ist, einerseits und dem quid facti, das heißt der Frage nach der „Tatsache“, andererseits (A 84/B 116). Dass es ein quid iuris 941

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Daher contra Ian Proops, der der Auffassung ist, dass nur das quid iuris oder die transzendentale Deduktion dem juridischen Beweismodel bei Kant angehört. Proops zufolge ist die metaphysische Deduktion im Sinne einer „Ableitung“ ein „Überrest“ des alten logisch-mathematischen Beweismodells. Vgl. Proops, I. „Kant’s Legal Metaphor and the Nature of a Deduction“, a. a. O., S. 216. Man kann auf Proops’ Deutung das erwidern, was auch gegen Henrich spricht, nämlich dass es ihm um eine nähere Untersuchung der juridischen Quellen des Deduktionsmodells geht. Eine solche Untersuchung zeigt eindeutig, dass das quid facti dem Aufbau der juridischen Deduktion angehört; es wird darüber hinaus ersichtlich, dass eine juridische Deduktion eine syllogistische Struktur haben kann, ohne dass sie sich dadurch mit ihrem logischen Aufbau verwechseln lässt. D, 1, 5, 16: „Ulpianus libro sexto disputationum. Idem erit, si eadem Arescusa primo duo pepererat, postea geminos ediderat: dicendum est enim non posse dici utrumque ingenuum nasci, sed eum qui posterior nascitur. quaestio ergo facti potius est, non iuris“.

301

bzw. eine quaestio iuris in der Kritik gibt, steht auch für die Zeitgenossen Kants, etwa Maïmon,943 außer Frage. Dass es aber auch ein quid facti bzw. eine quaestio facti in der Kritik gibt, ist nicht ohne weiteres einleuchtend. Man muss jedoch unter der quaestio facti nicht nur die von dem „berühmten Locke“ gestellte Frage nach einer „physiologischen Ableitung“ der reinen Verstandesbegriffe (A 86– 87/B 119) verstehen, wie Kant selbst an dieser Stelle der KrV zu suggerieren scheint. Die oben zitierte Passage aus der Metaphysik Mrongovius weist eindeutig auf eine andere Deutungsmöglichkeit hin. Bei der Bestimmung der facti geht es nicht nur um eine empirische Untersuchung darüber, wie man zum Besitz gewisser Begriffe gelangt, sprich um eine physiologische Ableitung in der Art und Weise der historical plain method von Locke und daher um eine bloß psychologische Untersuchung, die sicherlich von jeder transzendentalen Reflexion über die ersten Gründe der Möglichkeit der Erkenntnis a priori ausgeschlossen werden muss. Vielmehr geht es bei der quaestio facti auch um die mit dem Zweck der KrV eng verwandte Untersuchung über den Ursprung, den Umfang und die Grenzen des Gebrauchs der Vernunft- bzw. Verstandesbegriffe. Die Frage nach der „Tatsache“ kann somit nicht nur als eine empirische, sondern auch als eine transzendentale Untersuchung interpretiert werden – besser gesagt als eine „metaphysische“ Untersuchung, die den nicht empirischen Ursprung einer Erkenntnis analysiert, um dadurch ihren Umfang und ihre Grenzen zu bestimmen.944 Kant bringt die Idee einer der transzendentalen Deduktion vorangehenden „metaphysischen“ Untersuchung über den nicht empirischen Ursprung der „angenommenen Gründe der Möglichkeit“ einer Erkenntnis folgendermaßen zum Ausdruck: Wir können von unseren Vorstellungen eine psychologische Deduction versuchen da wir sie als Wirkungen betrachten die ihre Ursache im Gemüthe in Verbindung mit andern Dingen haben betrachten oder auch eine transscendentale da wenn wir Gründe haben anzunehmen sie seyen nicht empirischen Ursprungs wir blos die Gründe der Möglichkeit aufsuchen wie sie a priori doch obiective Realität haben (Brief an Kosmann, September 1789, AA 11: 81–82, Hervorh. d. Verf.).

Die so interpretierte quaestio facti ist daher die Bestimmung bzw. Feststellung des Ursprungs des nicht empirischen Faktums, das vom in der transzendentalen Untersuchung vorausgesetzten transzendentalen datum herrührt („subjektive Realität“ – quaestio facti). Obwohl ein solches datum vorausgesetzt wird, bedarf es einer Rechtfertigung bzw. Legitimierung („objektive Realität“ – quaestio iuris). Es ist 943

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Es ist bekannt, dass Maïmon beanspruchte, das quid iuris „konsequenter“ als Kant beantwortet zu haben. Dem quid iuris gehörten, so Maïmon, die Grundfragen der Metaphysik an. „Wollen wir die Sache genauer betrachten, so werden wir finden, daß die Frage quid iuris? mit der wichtigen Frage die alle Philosophen von jeher beschäftigt hat, nämlich die Erklärung der Gemeinschaft zwischen Seele und Körper, oder auch mit dieser, die Erklärung von Entstehung der Welt (ihrer Materie nach) von einem Intelligenz; einerlei ist“. Maïmon, S. Versuch über die Transzendentalphilosophie, a. a. O., S. 62. Wie deutlich zu erkennen ist, geht es dabei um ein völlig anderes Verständnis des quid iuris. Vgl. Frank, M. „Unendliche Annäherung“, a. a. O., S. 114–132; Bondeli, M. Apperzeption und Erfahrung, a. a. O. „Es sind also so viel categorien als Momente des Verstandes beym Urtheilen. Wir haben durch diese Tabelle den Vortheil, daß wir den Ursprung derselben einsehen. – Die Logic handelt von Verknüpfungen der Begriffe, die Metaphysic vom Ursprunge derselben“ (V-Lo/Mron AA 29: 802).

daher in diesem „metaphysischen“ Sinne, dass man die quaestio facti oder res facti der Deduktion (und a fortiori der Kritik) verstehen muss, um sie mit der Rolle der metaphysischen Deduktion als Nachweis des Ursprungs gewisser Begriffe zu verknüpfen.945 Wie bei den Deduktionen von Pütter setzt die kantische Deduktion eine Untersuchung über das Faktum voraus, woraus sich das ius controversum und das quid iuris der in der Deduktion vertretenen Position formulieren lassen. Von der Feststellung des factums eines gegebenen Besitzes (die metaphysische Deduktion) her stellt sich die Frage nach dessen Rechtmäßigkeit (die transzendentale Deduktion); oder in den Ausdrücken der kantischen Deduktionen formuliert: Von der Feststellung des Faktums des menschlichen, diskursiven Verstandes bzw. von dem Faktum des Sittengesetzes her stellt sich die Frage nach dem quid iuris. Zur Begründung dieser Interpretation muss man aber die quaestio facti oder res facti im wörtlichen Sinn begreifen, nämlich als die Feststellung der Tatsache, des factum bzw. Faktums, von dem die Frage nach seiner Rechtmäßigkeit (quid iuris, quaestio iuris) ausgeht. Etymologisch betrachtet war der Begriff „Tatsache“ im 18. Jahrhundert ein aus der Rechtswissenschaft entnommener Neologismus und wurde als deutsches Korrelat zu factum oder res facti verwendet.946 Er wurde zum ersten Mal 1756 in einer Übersetzung von Spalding („matter of fact“) gebraucht und schnell in theologischen Debatten verbreitet.947 Es fällt auf, dass ein 945

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Diese Deutung steht der von Alois Riehl sehr nahe. Vgl. Der philosophische Kritizismus. Bd. 1, a. a. O., S. 340ff. Riehl betrachtet die „Erkenntnis a priori“ als ein factum, das sich in zwei weitere aufteilt, nämlich in die Tatsache bzw. das Faktum der reinen Anschauungsformen und in die Tatsache bzw. das Faktum der reinen Verstandesbegriffe. Riehl teilt ferner den kantischen Beweisgang in zwei Etappen auf: „[W]ie die Gültigkeit einer formalen Anschauung und wie die der reinen Begriffe bewiesen wird? Kant selbst hat beide Fragen bestimmt gesondert; er nennt die Untersuchung der Thatsache die metaphysische Erörterung und metaphysische Deduction, die Demonstration der Gültigkeit den transcendentalen Beweis“. Ebd., S. 402. Riehl verweist dabei jedoch lediglich auf die chemische Metapher einer „Zergliederung“, um die „Analytik“ unseres Erkenntnisvermögens zu charaktersisieren, und übersieht völlig die in den Begriffen „Faktum“ und „Deduktion“ enthaltene juridische Bedeutung. Er übersieht damit außerdem den juridischen Zusammenhang der Deduktion und die Konsequenzen für die kritische Philosophie, die man daraus ziehen kann. Vgl. Ebd., S. 403ff. „THATSACHE, f. res facti, factum. ‚das wörtlein thatsache ist noch so jung. ich weisz mich der zeit ganz wohl zu erinnern, da es noch in niemands munde war. aber aus wessen munde oder feder es zuerst gekommen, das weisz ich nicht (nach Heynatz 2, 467 hat zuerst J. J. Spalding in der übersetzung eines Buttlerschen werkes vom j. 1756 das wort thatsache für res facti, nicht gerade für factum gebraucht). noch weniger weisz ich, wie es gekommen sein mag, dasz dieses neue wörtlein ganz wider das gewöhnliche schicksal neuer wörter in kurzer zeit ein so gewaltiges glück gemacht hat; noch, wodurch es eine so allgemeine aufnahme verdient hat, da man in gewissen schriften kein blatt umschlagen kann, ohne auf eine thatsache zu stoszen‘.“ [Lessing „Über das Wörtlein Tatsache“. In: Werke. Hildesheim & New York: Olms, 1970, Bd. XVII: 45;] Grimm, J. Deutsches Wörterbuch. Bd. 21, S. 322. „Vor Spaldings Wortprägung entspricht dem Englischen matter of fact bzw. fact im Deutschen das auch späterhin stets geläufige, im 16. Jh. aus dem Lateinischen eingebürgerte Fremdwort Faktum; zunächst vornehmlich in juristischem Kontext gebräuchlich, findet sich Faktum seit dem 18. Jh. auch in Wendungen wie ‚historisches Faktum‘. In der lateinischen Literatur vermag factum schon in frühester Zeit substantivische Funktion zu übernehmen: als Tat in neutralem Sinne, sehr oft aber auch im Sinne eines Delikts, gele-

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Synonym von „Tatsache“ der ältere Begriff „Tathandlung“ war,948 der von Fichte „rehabilitiert“ wurde, nachdem er außer Gebrauch gekommen war.949 In diesem präzisen Sinne bezeichnet „Tatsache“ oder „Factum“ eine Tat, was keine bloße „Gegebenheit“ bzw. kein datum meint, sondern eine freie, zurechenbare und in der Erfahrung stattgefundene Handlung. Kant ist sich sicherlich dieses etymologischen Zusammenhangs bewusst, wenn er die Begriffe „Faktum“, „res facti“, „factum“ und „Tatsache“ als Synonyme verwendet.950 In diesem Kontext ist die Richtigstellung bezeichnend, die Kant in der KU hinsichtlich der „gewöhnlichen Bedeutung“ des „Begriffes einer Tatsache“ vornimmt, wobei er sich weigert, „diesen Ausdruck bloß auf die wirkliche Erfahrung einzuschränken, wenn von dem Verhältnisse der Dinge zu unseren Erkenntnißvermögen die Rede ist“ (KU AA 05: 468).951 Nicht ohne Grund verwendet Kant an dieser Stelle der KU „res facti“ und „Tatsache“ als Synonyme und erklärt sie als Gegenstände für Begriffe, deren objective Realität (es sei durch reine Vernunft, oder durch Erfahrung und im ersteren Falle aus theoretischen oder praktischen Datis derselben, in allen Fällen aber vermittelst einer ihnen correspondirenden Anschauung) bewiesen werden kann“ (KU AA 05: 468).

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gentlich auch als ‚Ereignis‘“. Halbfass, W. „Tatsache“. In: Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 10, a. a. O., S. 910f. „Die Thatsache, plur. die -n, ein von einigen Neuern versuchtes Wort, das Lat. Factum, eine geschehene Sache, eine gewirkte Veränderung außer sich zu bezeichnen. Das sind Thatsachen, sind wirklich geschehene Dinge, Begebenheiten. Die herrlichste Offenbahrung Gottes erscheint dir jeden Morgen als Thatsache, Herd. Andere gebrauchen dafür Thathandlung. Beyde Wörter sind nicht nur unschicklich und wider die Analogie zusammen gesetzt, sondern auch der Mißdeutung unterworfen, indem ein Oberdeutscher sich bey Thathandlung und Thatsache bey dem ersten Anblicke vermuthlich nichts anders als eine Gewaltthätigkeit, eine Thätlichkeit gedenken wird, welches das erstere daselbst wirklich bedeutet“. Adelung, J. C. „Thatsache“. In: Grammatisch-Kritisches Wörterbuch der Hochdeutschen Mundart, Bd. 4, a. a. O., S. 567. Dierse, U. „Tathandlung“. In: Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 10, a. a. O., S. 908; Franks, P. „Freedom, Tatsache and Tathandlung in the Development of Fichte’s Jena Wissenschaftslehre“. In: Archiv für Geschichte der Philosophie, 79, 1997, S. 318ff. Dies steht der Auffassung M. Wolffs entgegen, wonach „Tatsache“ grundsätzlich etwas Anderes als „Faktum“ oder „Tat“ bedeutet. „Hauptsächlich handelt es sich um zwei Meinungen, von denen die eine das Wort ‚Factum‘ im Sinne von ‚Tatsache‘ versteht, während die andere an eine alte juristische Terminologie erinnert, nach der einer der beiden Hauptverhandlungsgegenstände eines strafgerichtlichen Prozesses als factum bezeichnet wird, factum im Sinne des lateinischen Wortes für ‚Tat‘, die feststellbare und zurechenbare Handlung, auf die sich eine Anklage beziehen kann, wohingegen der andere Verhandlungsgegenstand das Recht (ius) ist, nach dem die Tat zu beurteilen und im Falle ihrer Rechtswidrigkeit zu ahnden ist“. Wolff, M. „Warum das Faktum der Vernunft ein Faktum ist“, a. a. O., S. 511. Systematisch und etymologisch gesehen, geht es bei der von Wolff erwähnten Opposition tatsächlich um eine illusorische Opposition. „Ich erweitere hier, wie mich dünkt, mit Recht, den Begriff einer Thatsache über die gewöhnliche Bedeutung dieses Worts. Denn es ist nicht nöthig, ja nicht einmal thunlich, diesen Ausdruck bloß auf die wirkliche Erfahrung einzuschränken, wenn von dem Verhältnisse der Dinge zu unseren Erkenntnißvermögen die Rede ist, da eine bloß mögliche Erfahrung schon hinreichend ist, um von ihnen bloß als Gegenstände einer bestimmten Erkenntnißart zu reden“ (KU AA 05: 468).

Als res facti bzw. Tatsachen werden daher die mathematischen Gegenstände, die Gegenstände der Verstandesbegriffe und sogar die Freiheit (KU AA 05: 468), sofern sie in einer „bloß möglichen Erfahrung“ dargestellt werden kann, nämlich durch eine Tat, definiert. Selbst die Idee von Freiheit, „deren Realität als einer besondern Art von Causalität (von welcher der Begriff in theoretischem Betracht überschwenglich sein würde) sich durch praktische Gesetze der reinen Vernunft und diesen gemäß in wirklichen Handlungen, mithin in der Erfahrung darthun läßt“ (KU AA 05: 468), wird von Kant als Tatsache (KU AA 05: 468), res facti (KU AA 05: 468; VATL AA 23: 377–378) oder Faktum (KpV AA 05: 06, 31 usw.)952 bezeichnet. In diesem bestimmten Zusammenhang können daher Tatsache, factum, res facti und Faktum als Synonyme betrachten werden. Zum besseren Verständnis dieses begrifflichen Kontextes sind Kants Vorlesungen über die praktische Philosophie nützlich. In der Moral Mrongovius wird Faktum als „eine Handlung[,] die unter einem Gesetz, eigentlich unter einem moralischen Gesetz steht“ (V-Mo/Mron II AA 29: 641), definiert. Faktum ist daher ein Synonym von Tat im Sinne einer Handlung, „sofern sie unter Gesetzen der Verbindlichkeit steht“ (MdS AA 06: 223), insofern also ein Synonym für zurechenbare Handlung, nicht für factum brutum.953 Während diese Erklärung, die später behandelt wird, mit der Idee der Freiheit als Faktum, Tatsache, Tat, facta oder res facti, also als freie Handlung (die „Realität der Freiheit“), die sich „durch die praktischen Gesetze der reinen Vernunft […] darthun läßt“ (KU AA 05: 468), ohne größere Probleme zusammenhängt, ist sie mit den weiteren oben erwähnten facta, sprich den weiteren Gegenständen, „deren objective Realität […] bewiesen werden kann“, auf den ersten Blick kaum vereinbar. Das Faktum der praktischen Vernunft muss im Sinne einer Tat der Freiheit sowohl als „Tätigkeit der Vernunft“ als auch als das „Ergebnis“ einer solchen Tätigkeit, das heißt sowohl als Tat der Selbstbestimmung der Vernunft nach einem Gesetz als auch als durch eine solche Tat verursachte und in der Erfahrung verwirklichte Handlung betrachtet werden.954 Damit stellt sich folgende Frage: Wie kann man die Ge952

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Es ist hierbei zu bemerken, dass eine eingehende Untersuchung zur Lehre des Faktums der praktischen Vernunft (ob damit das Bewusstsein des Gesetzes oder das Gesetz selbst gemeint ist usw.) nicht zur Absicht der vorliegenden Arbeit gehört. Die Hinweise auf das Faktum des Sittengesetzes beschränken sich darauf, seine methodologische Rolle im Rahmen des quid iuris herauszustellen, wie es bei den weiteren Deduktionen der kritischen Philosophie der Fall ist. „That heißt eine Handlung, sofern sie unter Gesetzen der Verbindlichkeit steht“ (MdS AA 06: 223). „Wenn etwas als eine freye Handlung, die nach moralischen Gesetzen nicht necessitirt ist, angesehen werden kan, so ist es ein factum“ (Rx 6783 AA 19: 159, (1772?; 1764–1768?). Vgl. Willaschek, M. Praktische Vernunft: Handlungstheorie und Moralbegründung bei Kant. Stuttgart [u. a.]: Metzler, 1992, S. 179ff., ders. „Die Tat der Vernunft. Zur Bedeutung der Kantischen These vom ‚Factum der Vernunft‘“. In: Akten des VII. Internationalen Kant-Kongresses Mainz 1990. Hrsg. von G. Funke. Bd. II.1, Bonn 1991, S. 456–466. Wie M. Wolff bemerkt, „es ist ein Verdienst Marcus Willascheks, dass er in seinem Buch Praktische Vernunft […] auf Kants Gebrauch des Ausdrucks ‚Factum‘ im Sinne von ‚Tat‘ hingewiesen hat“. Wolff, M. „Warum das Faktum der Vernunft ein Faktum ist“, a. a. O., S. 537, Fn. 44. Für weitere Stelle, in denen „Faktum“ und „Tat“ als Synonyme betrachtet werden, vgl. MpVT AA 08: 255; RGV AA 06: 31. Diese begriffliche Schwierigkeit wird von weiteren Interpreten, etwa M. Willaschek, angemerkt, wie unten in Kapitel 9.3 noch behandelt wird.

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genstände und die Begriffe der Mathematik sowie die weiteren Gegenstände und Begriffe des Verstandes und der Vernunft als facta und demzufolge als „unter Gesetzen der Verbindlichkeit“ stehende Handlungen sowie als Gegenstände solcher Handlungen erklären? Wie kann man ferner solche facta, als res facti verstanden, mit der metaphysischen Deduktion und der transzendentalen Deduktion, vor allem in der KrV, in Verbindung bringen? Zusammenfassend formuliert: Gibt es auch in der KrV ein Faktum? In der Sekundärliteratur herrscht Uneinigkeit bei der Beantwortung dieser Frage. Manche bestreiten, dass es ein Faktum in der KrV gibt.955 Dieser falsche Schluss beruht jedoch auf einem eingeschränkten Verständnis des Faktums. J. Timmermann z. B. deutet factum im strikten Sinne des Faktums der Vernunft in der KpV, das heißt „either the ‘deed of reason’ or the ‘product’ of such a deed“,956 oder in dem von Kant in den Prolegomena gemeinten Sinne einer Erkenntnis a priori, die wie bei der Mathematik und der Physik (Prol AA 04: 274) als wahr und wirklich vorausgesetzt wird, oder zuletzt im Sinne der Voraussetzung des Faktums der möglichen Erfahrung (vgl. A 737/B 765).957 Wie schon gezeigt wurde, verwendet Kant den Begriff des Faktums in einer weiteren Bedeutung. Der Begriff umfasst weitere „deeds“ als die der Vernunft bei der „Selbstzurechnung“ einer Tat unter dem Sittengesetz und lässt sich darüber hinaus nicht mit einem factum brutum oder einem in der kritischen Untersuchung vorausgesetzten datum verwechseln. A. Aichele wiederum deutet „Faktum“ oder species facti, ein weiteres Synonym von Faktum,958 als den empirischen Untersatz eines deduktiven Syllogismus in der Rechtswissenschaft: Das Deduktionsverfahren besteht folglich darin zu zeigen, daß eine empirisch gewonnene Aussage [scil. Untersatz oder species facti], die aus ebensolchen Begriffen besteht – d. h. der jeweilige Untersatz – extensional im Antezedens des Obersatzes enthalten ist, der selbst kein empirischer Satz ist. Da eine entsprechende Beschreibung bereits vorliegen

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Vgl. Timmermann, J. „Reversal or retreat? Kant’s deductions of freedom and morality“. In: Reath, A. & Timmermann, J. (Hrsg.), Kant’s Critique of Practical Reason: A Critical Guide. Cambridge: Cambridge University Press, 2010, S. 82, Fn. 15. Ebd. Zu dieser möglichen Deutung des „Faktums synthetischer Urteile a priori“ vgl. Bondeli, M. Apperzeption und Erfahrung, a. a. O., S. 198–206. Bei der Annahme des Faktums einer wirklich synthetischen Erkenntnis a priori (Mathematik, reine Naturwissenschaft) und des Gegenstands einer möglichen Erfahrung taucht erneut die Aporie auf, die schon Timmenmann und weiteren Interpreten in Bezug auf das Faktum der Vernunft als zugleich Tätigkeit und Ergebnis einer solchen Tätigkeit begreiflich gemacht haben. Auch im Fall der Erkenntnis a priori erkennt man die doppelte Bedeutung von Faktum: Sowohl das Ergebnis (die mögliche Erfahrung, die synthetische Erkenntnis a priori) als auch die Tätigkeit, die es produziert (die Erkenntnisvermögen, die Diskursivität der Erkenntnis), vermischen sich, was den Beweisgang betrifft. Das Ergebnis lässt sich nun nicht ohne die Tätigkeit, die es produziert, verstehen, so wie die Tätigkeit in ihrer Wirklichkeit nicht ohne ihr Ergebnis begriffen werden kann. Dieses Problem wird in Kapitel 9.3 wieder aufgegriffen. Vgl. unten Kapitel 9.3.

muß, damit die Rechtsfrage überhaupt gestellt werden kann, hat sich die Deduktion mit einer Untersuchung der Fallbeschreibung zu befassen.959

Aichele besteht indes zu sehr auf dem syllogistischen Aspekt des Deduktionsverfahrens, der bereits im dritten Kapitel der vorliegenden Arbeit diskutiert wurde. Die in einer juridischen Deduktion als faktisch gegeben zu betrachtende Handlung muss tatsächlich eine empirische, in Raum und Zeit durchgeführte Handlung sein. In Kants „transzendentalem“ juridischen Deduktionsmodell muss jedoch die als Faktum betrachtete faktische Handlung nicht etwas sein, das nur empirisch gegeben wird, weil ansonsten aus einem solchen Faktum keine transzendentale Deduktion möglich wäre, sprich eine Deduktion, die gerade die strikte Notwendigkeit der reinen Verstandesbegriffe als die Erfahrung a priori ermöglichende Begriffe dartun muss. Laut M. Wolff hat Kant mit dem Adjektiv „metaphysisch“ im Begriff der metaphysischen Deduktion (Ableitung der Kategorien aus den logischen Urteilsformen) gemeint, dass es dabei um eine dogmatische Annahme geht, nämlich dass der menschliche Verstand diskursiv ist. Eine solche dogmatische Annahme würde jedoch dogmatisch bleiben und sich deshalb als illegitim verraten, wenn die transzendentale Deduktion sie nicht rechtfertige. [Die metaphysische Deduktion] beruht jedenfalls auf einer Beweismethode, die in ihren Grundzügen dem dogmatischen Verfahren, wie Kant es beschreibt, entspricht. Ausgangspunkt des Beweises ist […] die ‚ZweiStämme-Lehre‘. Mit ihr wird ein bestimmter Begriff des Verstandes als gegeben vorausgesetzt. Dieser Begriff des (reinen) Verstandes als eines diskursiven, nicht-sinnlichen Vermögens ist traditionell und insofern ein gutes Beispiel für Vorstellungen, die ‚die Vernunft längst im Gebrauch hat‘. Aus diesem Begriff wird dann durch eine Reihe von Schlüssen die These von den vier Einheitsfunktionen des Verstandes hergeleitet, aus deren ‚Darstellung‘ zuletzt die ‚reine Erkenntnis‘ folgen soll, daß die Daten der Urteils- und Kategorientafel apriorische Daten sind. Der zu dieser reinen Erkenntnis verhelfende Beweis würde sich in Kants Augen freilich von Beweisen des metaphysischen Dogmatismus durch nichts unterscheiden, würde nicht im Anschluß an das Leitfadenkapitel ein transzendentales Verfahren durchgeführt werden, das den Gebrauch, den die metaphysische Deduktion vom Begriff des Verstandes macht, rechtfertigt.960

Wolff wird einige Seiten später noch expliziter. Kant setzte in seinem deduktiven Verfahren dogmatisch voraus, dass der menschliche Verstand diskursiv ist und der Mensch zwei Anschauungsformen, Raum und Zeit, hat. Diese mit der Zwei-Stämme-Lehre verbundenen Annahmen seien daher „Prämissen“, für die man „keine weitere Begründung geben“ könne.961 Wie im Folgenden argumen959 960 961

Aichele, A. „Metaphysisches oder logisches Systemprinzip“, a. a. O., S. 129. Wolff, M. Die Vollständigkeit der kantischen Urteilstafel, a. a. O., S. 118. „Die Auslegung des ersten Leitfadenabschnittes hatte ja gezeigt, daß die in der Urteilstafel aufgezählten zwölf Verstandesfunktionen aus einer bestimmten, an die ‚Zwei-StämmeLehre‘ gebundenen Annahme über die Eigentümlichkeit des menschlichen Verstandes, ein ‚diskursiver Verstand‘ zu sein, hergeleitet werden. Die ‚metaphysische Deduktion‘ konnte für diese Annahme keine weitere Begründung geben, sondern mußte sie als Prämisse ‚dogmatisch‘ voraussetzen. Wir hatten uns klargemacht, daß es Aufgabe der ‚transzenden-

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tiert wird, trifft die Grundannahme Wolffs zu, aber er täuscht sich, wenn er eine solche „transzendentale Prämisse“ nur im Rahmen eines logischen Deduktionsmodells deutet. Die Vorstellung einer res facti bleibt jedoch außerhalb des juridischen Deduktionsmodells völlig unbegreiflich. Nun ist ein solches Faktum oder eine solche „Prämisse“ kein dogmatisch angenommenes Axiom, das durch eine „Reihe von Schlüssen“ bewiesen werden müsste, sondern der faktische, historische oder genetische Moment, der das Faktum feststellt, von dem das rechtfertigende, transzendentale Verfahren ausgehen muss. Vleeschauwer vertritt eine Auffassung, die der von Wolff zwar nahesteht, jedoch gegenüber dieser einen Vorteil hat: Vleeschauwer bezieht sich explizit auf das juridische Verständnis der Deduktion und versucht beide Deduktionen, die metaphysische und die juridische, gemäß dem juridischen Verständnis von Deduktion zu paraphrasieren. Kant explique le concept de la déduction au moyen d’une analogie avec la science du droit. Les juristes distinguent la question de fait, établissant la matérialité d’un fait, de la question de droit, qui subordonne le fait à un principe de droit, et appellent déduction l’exposition de la ‘quaestio iuris’ […]. La ‘quaestio facti’ ou la matérialité des catégories ne peut consister que dans la démonstration de l’existence des fonctions à priori, intellectuelles. La déduction métaphysique vient de la fournir. La justification ou l’appréciation de ce fait au moyen d’un principe, s’appelant la déduction transcendentale, doit avoir pour tâche de subordonner les catégories à un principe supérieur, qui en démontre l’apriorité.962

Die metaphysische Deduktion soll die quaestio facti bestimmen, und die transzendentale Deduktion, von diesem „fait“ ausgehend, stellt die quaestio iuris und rechtfertigt das zuvor festgestellte factum. Vleeschauwer erklärt dieses Verfahren jedoch als „zwecklos“: „[J]ustifier l’existence d’un à priori intellectuel après l’avoir constaté paraît être, en effet, inutile“.963 Selbst wenn man demgegenüber annimmt, dass die quaestio iuris nicht die „Existenz“ überhaupt, sondern vielmehr die spezifische Rolle der „fonctions à priori, intellectuelles“ rechtfertigt, beansprucht Vleeschauwer, dass in diesem Fall die metaphysische Deduktion ihre Funktion, ein solches intellektuelles Apriori zu entdecken, eigentlich nicht erfüllt, sofern sie bloß einen Weg zur Untersuchung der Anzahl der Kategorien aufweist, ohne aber zu bestimmen, ob sie wirklich vorliegen. Zur Erwiderung auf Vleeschauwers erstes Argument einer „Zwecklosigkeit“ der metaphysischen Deduktion reicht die Anmerkung, dass er die Funktion der res facti bei einer juridischen Deduktion völlig übersieht. Ohne die Bestimmung eines juridischen Faktums bleibt in der Tat jede Rechtsfrage sinnlos. Was das zweite Argument Vleeschauwers über die Nicht-Entdeckung der Kategorien betrifft, scheint Vleeschauwer die Feststellung, dass der Verstand de facto reine Begriffe hat (metaphysische Deduktion), mit der Rechtsprüfung zu verwechseln, dass solche Begriffe nicht leer sind, das heißt, dass sie einen legitimen Gebrauch in der möglichen

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talen Deduktion‘ ist, eben diese zunächst nur dogmatisch eingeführte Prämisse weiter zu fundieren“. Ebd. Vleeschauwer, H. J. La déduction transcendentale dans l’oeuvre de Kant, Bd. 2, a. a. O., S. 144. Ebd., S. 145.

Erfahrung haben (transzendentale Deduktion). Auch hier trägt das juridische Deduktionsmodell zum Verständnis des kantischen Beweisganges bei. Wie schon oben gezeigt wurde, ist D. Henrich derjenige, der einer umfassenden und kohärenten Deutung der quaestio facti auf der Grundlage einer juridischen Deduktion am nächsten kommt. Nach Henrichs Auffassung vollzieht das menschliche Erkenntnisvermögen „Urhandlungen“, die die Erkenntnis ermöglichen und aufgrund ihrer Ursprünglichkeit im juridischen Sinne von facta verstanden werden müssen: Operations that are facta (therefore actions in the juridical sense) imply factual elements that cannot be explained by virtue of actions we can always perform. Most of the origins from which Kant’s deductions are derived exhibit clearly this additional factual element. The features shared by the unity of apperception, the consciousness of space and time as such, and the moral law as a fact of reason illustrate this common feature of the principles according to which Kant’s deductions have been designed.964

Henrich setzt aber zugleich die quaestio facti oder species facti mit einer „Physiologie der Vernunft“ nach der Art Lockes gleich. Wie jedoch schon gezeigt wurde, ist die quaestio facti der transzendentalen Deduktion eigentlich die metaphysische Deduktion, und das Faktum ist keine bloß empirische, sondern eine sozusagen „transzendentale“ Tatsache. Wie bereits erwähnt, mangelt es Henrichs Deutung trotz all ihrer Verdienste an einer ausführlicheren Konzeption der juridischen Deduktion. Bis hier wurde lediglich erklärt, dass es ein Faktum in der KrV gibt, auf das die Deduktionen eingehen. Es muss aber noch erörtert werden, um welches Faktum es sich dabei handelt. Bevor diese Frage im nächsten Abschnitt erörtert wird, soll noch der Weg, den es dabei zu beschreiten gilt, aufgewiesen werden. Wie bereits erwähnt, definiert Kant ein Faktum als „eine Handlung die unter einem Gesetz, eigentlich unter einem moralischen Gesetz steht“ (V-Mo/ Mron II AA 29: 641). Zum Verständnis des Faktums in der spekulativen Philosophie bedarf es neben einer kleinen konzeptuellen Verschiebung (die darin besteht, dass unter „Gesetz“ nicht nur das Sittengesetz, sondern auch ein Vernunftgrundsatz oder ein Gesetz überhaupt verstanden wird) auch einer Bezugnahme auf die 1770er Jahre. Im Brief an M. Herz vom Februar 1772, in dem Kant zum ersten Mal das Grundproblem der transzendentalen Deduktion eindeutig zum Ausdruck bringt,965 fragt Kant nach dem Verhältnis zwischen der „innern Thätigkeit“, die die intellektuellen Vorstellungen (Begriffe) hervorbringt, und den Gegenständen, das heißt den sinnlichen Vorstellungen, auf die sich jene intellektuellen Vorstellungen beziehen: [W]enn solche intellectuale Vorstellungen auf unsrer innern Thätigkeit beruhen, woher komt die Übereinstimmung die sie mit Gegenständen haben sollen, die doch dadurch nicht etwa hervorgebracht werden und die axiomata der reinen Vernunft über diese Gegenstände, woher stimmen 964 965

Henrich, D. „Kant’s Notion of a Deduction“, a. a. O., S. 37. „[A]uf welchem Grunde beruhet die Beziehung desjenigen, was man in uns Vorstellung nennt, auf den Gegenstand?“ (AA 10: 131).

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sie mit diesen überein, ohne daß diese Übereinstimmung von der Erfahrung hat dürfen Hülfe entlehnen (AA 10: 131).

Zwei Jahren zuvor hatte Kant in der Dissertatio einen realen Gebrauch des Verstandes angenommen. Durch einen solchen realen Gebrauch würden die Gegenstände, die Begriffe und die Beziehungen zwischen ihnen vom reinen Verstand nach ihrem Ursprung selbst gegeben (MSI AA 02: 394). Im Brief an Herz scheint Kant aber die noch in der Dissertatio sehr deutliche Möglichkeit auszuschließen, dass durch einen solchen realen Gebrauch des Verstandes nur Begriffe von intelligiblen Gegenständen, nämlich noumena, hervorgebracht werden.966 Aus dem ganzen Zusammenhang des Briefs967 lässt sich schließen, dass Kant auch die Möglichkeit in Betracht zieht, dass der Verstand ursprünglich und „real“ Begriffe hervorbringt, die sich aus einer „innern Tätigkeit“ auf empirische, in der Erfahrung gegebene Gegenstände beziehen: Allein im Verhältnisse der qvalitaeten, wie mein Verstand gäntzlich a priori sich selbst Begriffe von Dingen bilden soll, mit denen nothwendig die Sachen einstimmen sollen, wie er reale Grundsätze über ihre Möglichkeit entwerfen soll, mit denen die Erfahrung getreu einstimmen muß und die doch von ihr unabhängig sind diese Frage hinterläßt immer eine Dunckelheit in Ansehung unsres Verstandesvermögens woher ihm diese Einstimmung mit den Dingen selbst komme (AA 10: 131, Hervorh. d. Verf.).

Die „reinen Verstandesbegriffe“ seien weder von den Empfindungen der Sinne abstrahiert noch auf „die Empfänglichkeit der Vorstellungen durch Sinne“ beschränkt, sondern hätten vielmehr „in der Natur der Seele […] ihre Quellen“ (AA 10: 130). Da solche reinen Verstandesbegriffe ihre Quelle oder ihren Ursprung gänzlich in einer Tätigkeit der „Seele“ a priori haben, kann man vermuten, dass sie die Leistung einer solchen acquisitio originaria sind, über die Kant zwei Jahre früher in der Dissertatio geschrieben hatte. Bezieht man dies auf den Brief an Herz, dann ergibt sich daraus, dass die auf empirische Gegenstände bezogenen, aber von dem reinen Verstand gänzlich a priori hervorgebrachten Begriffe „aus den der Erkenntniskraft eingepflanzten Gesetzen (legibus menti insitis)“ abgezogen bzw. abstrahiert werden: Da man demnach in der Metaphysik keine empirischen Grundsätzen antrifft: so sind die in ihr vorkommenden Begriffe nicht in den Sinnen zu suchen, sondern in der Natur selber des reinen Verstandes, nicht als an966

967

310

Es handelt sich dabei um einen strittigen Punkt in der Sekundärliteratur. Vgl. zur Forschungsliteratur Mensch, J. „The Key to all Metaphysics. Kant’s Letter to Herz, 1772“. In: Kantian Review, Vol. 12, Issue 02, 2007, S. 109–127. Beck und Vleeschauwer argumentieren z. B., dass Kant noch im Brief an Herz damit nur die noumena, nicht die Kategorien meint. Beck, L. W. „Two ways of Reading Kant’s Letter to Herz: Comments on Carl, W. ‚Kant’s First Draft of the Deduction of the Categories‘“. In: Förster, E. (Hrsg.). Kant’s Transcendental Deductions, a. a. O., S. 23; Vleeschauwer, H. J. L’Évolution de la pensée kantienne, a. a. O., S. 59. Im Gegensatz dazu interpretieren Caimi und Mensch die Hinweise Kants auf die „intellektuellen Vorstellungen“ bzw. „Verstandesvorstellungen“ als ursprüngliche Ankündigung der späteren Kategorien. Vgl. Caimi, M. „Zum Problem des Zieles einer transzendentalen Deduktion“, a. a. O., S. 52f.; Mensch, J. „The Key to all Metaphysics“, a. a. O., S. 116f. Vgl. auch Kapitel 9.2.2.

geborene Begriffe, sondern als solche, die aus den der Erkenntniskraft eingepflanzten Gesetzen (dadurch, daß man auf ihre Handlungen bei Gelegenheit der Erfahrung achtet) abgezogen (abstracti) und folglich erworben sind (MSI AA 02: 395).

Es kann argumentiert werden, dass Kant an dieser Stelle der mit dem realen Gebrauch des Verstandes verbundenen Idee einer acquisitio originaria nur den Ursprung der noumena und nicht den der anderen Gegenstände zuweist. Eine Stelle der Streitschrift gegen Eberhard berichtigt jedoch dieses Urteil. Dort weist Kant eindeutig darauf hin, dass ein „realer“, ja kritischer Gebrauch des Verstandes die Kategorien als ursprünglich erworbene Begriffe hervorbringt. Diese Bedeutung von acquisitio originaria liegt – mit Änderungen – im Brief an Herz und auch in der KrV vor.968 Die juridischen Begriffe der ursprünglichen und abgeleiteten Erwerbung werden hier zur Bezeichnung der Art verwendet, wie der Verstand seine Begriffe erhält. Die Kritik nimmt die der reinen Anschauung und dem reinen Verstand zugehörigen Vorstellungen als ursprünglich erworbene an, „wie die Lehrer des Naturrechts sich ausdrücken“, und nicht als „anerschaffene oder angeborne“. Angeboren sind in der Tat die „Gründe“ für solche Vorstellungen, nämlich – wie im Folgenden gezeigt wird – Sinnlichkeit und Verstand sowie Rezeptivität und Spontaneität. Die Kritik erlaubt schlechterdings keine anerschaffenen oder angebornen Vorstellungen; alle insgesammt, sie mögen zur Anschauung oder zu Verstandesbegriffen gehören, nimmt sie als erworben an. Es giebt aber auch eine ursprüngliche Erwerbung (wie die Lehrer des Naturrechts sich ausdrücken), folglich auch dessen, was vorher gar noch nicht existirt, mithin keiner Sache vor dieser Handlung angehört hat. Dergleichen ist, wie die Kritik behauptet, erstlich die Form der Dinge im Raum und der Zeit, zweitens die synthetische Einheit des Mannigfaltigen in Begriffen; denn keine von beiden nimmt unser Erkenntnißvermögen von den Objecten, als in ihnen an sich selbst gegeben, her, sondern bringt sie aus sich selbst a priori zu Stande. Es muß aber doch ein Grund dazu im Subjecte sein, der es möglich macht, daß die gedachten Vorstellungen so und nicht anders entstehen und noch dazu auf Objecte, die noch nicht gegeben sind, bezogen werden können, und dieser Grund wenigstens ist angeboren (ÜE AA 08: 221–222).

Die reinen Verstandesbegriffe (als „die synthetische Einheit des Mannigfaltigen in Begriffen“969) und die reinen Anschauungen von Raum und Zeit (als die „Form der [sinnlichen] Dinge“) sind ursprünglich erworbene Vorstellungen. Dies bedeutet, dass solche Vorstellungen von unserem Erkenntnisvermögen gänzlich a priori aus angeborenen Gründen hervorgebracht werden, in denen, als 968

969

Vgl. Caimi, M. „Zum Problem des Zieles einer transzendentalen Deduktion“, a. a. O.; Oberhausen, M. Das neue Apriori: Kants Lehre von einer ‚ursprünglichen Erwerbung‘ apriorischer Vorstellungen. Stuttgart-Bad Cannstatt: Frommann-Holzboog, 1997. Wie schon oben in Kapitel 8 gezeigt, setzt Kant mehrmals die Kategorien mit Regeln der „Synthesis möglicher Anschauungen, die a priori nicht gegeben sind“ (A 719/B 747), oder mit Regeln der „Synthesis der empirischen Anschauung“ (A 722/B 750; A 723/B 751) oder auch der „Synthesis möglicher Empfindungen, sofern sie zur Einheit der Apperzeption (in einer möglichen Erfahrung)“ (A 723/B 751) gehören, gleich. Im Folgenden wird noch einmal darauf eingegangen.

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Grundvermögen des Gemüts verstanden, solche Vorstellungen ihren Grund oder Ursprung finden. Im Wortlaut des Briefs an Herz und in dem der Dissertatio sind die Kategorien und die reinen Anschauungsformen von Raum und Zeit die Leistung einer „innern Tätigkeit“, oder sie sind aus „den der Erkenntniskraft eingepflanzten Gesetzen“, die solchen angeborenen Gründen entspringen, abgezogen bzw. abstrahiert und demzufolge ursprünglich erworben. Die Gründe des Gemüts als Grundlage der synthetischen Einheit des Mannigfaltigen in Begriffen und der Formen der Dinge in Raum und Zeit sind demgegenüber nicht ursprünglich erworben, sondern angeboren. Diese Gründe werden daher als gegeben und als Sitz der inneren Tätigkeit des Verstandes bzw. der Vernunft oder der der Erkenntniskraft eingepflanzten Gesetze vorausgesetzt. Aus dem oben Gesagten und mit besonderer Aufmerksamkeit auf die von Kant verwendeten juridischen Begriffe kann man einen neuen Blick auf das juridische Deduktionsmodell in der KrV werfen, vor allem in Bezug auf die metaphysische Deduktion und das Faktum der KrV. Der Nachweis oder die Festlegung des Hervorbringens der Kategorien gehört zu der metaphysischen Deduktion, durch die sich die acquisitio originaria des Titels der reinen Verstandesbegriffe aus einer Tat bzw. Tätigkeit des Verstandes als angeborener Grund bzw. Ursprung erklären lässt.970 Dass wir solche Begriffe haben, ist ein Faktum. Sie sind die Leistung einer inneren oder ursprünglichen Tätigkeit des Verstandes, die als gegeben vorausgesetzt wird – so, wie bei der praktischen Vernunft das Faktum sowohl die Tätigkeit als auch das Ergebnis einer solchen Tätigkeit ist. Die metaphysische Deduktion als quaestio facti hat daher das Ziel, den Titel bzw. den Rechtsgrund in seinem Ursprung zurückzuverfolgen und die im Faktum implizierten Elemente aufzuzählen.971 Anders formuliert, muss die metaphysische 970

971

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„Die Begriffe, die 1770 als bloße Ergebnisse eines nicht näher erläuterten realen Verstandesgebrauchs vorgestellt wurden, erscheinen 1781 als die reinen Verstandesbegriffe, deren Ursprung a priori in der ‚metaphysischen Deduktion‘ bewiesen wurde. Letzte ist nichts Anderes, als der Beweis dafür, dass die dem Verstand eigene Tätigkeit (das Urteilen) aus sich selbst heraus Begriffe a priori hervorbringt“. Caimi, M. „Zum Problem des Zieles einer transzendentalen Deduktion“, a. a. O., S. 53. M. Oberhausen bringt die Idee einer ursprünglichen Erwerbung mit der Deduktion in Zusammenhang. „Rückt der Begriff der acquisitio originaria durch eine unmittelbare Verbindung mit dem ebenfalls juristischen Begriff der Deduktion das zentrale Problem des Objektbezugs ursprünglich erworbener Vorstellungen ins Blickfeld: So wie es im juristischen Fall einer Erwerbung um das Besitzrecht an einer Sache geht, die quaestio facti der Art der Erwerbung also mit einer quaestio iuris nach dem Rechtsanspruch auf die erworbene Sache verbunden ist, so ist auch im erkenntnistheoretischen Fall der Erwerbung einer Vorstellung die Frage nach der Gültigkeit dieser Vorstellung zu stellen“. Oberhausen, M. Das neue Apriori, a. a. O., S. 128. Oberhausen geht aber weder systematisch noch historisch-genetisch auf diesen juridischen Zusammenhang ein. Wie kann man die Lehre des „Neuen Apriori“ als acquisitio originaria bezeichnen, ohne eine eingehende Untersuchung über den offenkundigen juridischen Hintergrund eines solchen Begriffs vorzunehmen? Hier zeigt sich ein Mangel in Oberhausens ansonsten gründlichem und lehrreichem Beitrag. Caimi schweigt ebenso zu der angesprochenen Problematik. U. Seeberg ist der einzige Interpret, der die juridische Bedeutung eines solchen Begriffs ernst nimmt. Wie erwähnt, interpretiert Seeberg aber die Idee einer ursprünglichen Erwerbung der Kategorien in der KrV auf der Grundlage der RL, ohne auf den begrifflichen und zeitlichen Abstand zwischen beiden Werken Bezug zu nehmen. „Indagationes variorum facti sunt QUAESTIONES FACTI“. Baumgarten, A. Initia philosophiae practicae, a. a. O., § 128. „Bei der Erforschung der Tatmomente geht es um die

Deduktion die „Geschichts-Erzählung“ vorstellen, woraus das Problem einer transzendentalen Deduktion als das quis iuris des so festgestellten Faktums erörtert und entwickelt werden kann. Die Rechtmäßigkeit des Gebrauchs der reinen Verstandesbegriffe kann nur von einem factum ausgehend erfragt werden. 9.2.2 Was ist das Faktum in der KrV? Zur näheren Bestimmung der „Prämissen“ oder der facta, in denen die Deduktionen in der KrV ihren Ausgangspunkt nehmen, ist erneut auf die Passage der Streitschrift gegen Eberhard hinzuweisen, in der Kant die reinen Vorstellungen des Verstandes und der Sinnlichkeit als ursprünglich erworben erörtert. Wie erwähnt, werden die angeborenen Gründe der Erkenntnis in Verbindung mit jenen „zwei Grundquellen des Gemüts“ gebracht, welche Kant zu Beginn der Transzendentalen Logik der KrV erörtert und „deren die erste […] die Vorstellungen zu empfangen […], die zweite das Vermögen, durch diese Vorstellungen einen Gegenstand zu erkennen, [ist]“ (A 51/B 75), nämlich die Rezeptivität und die Spontaneität. Der Grund der Möglichkeit der sinnlichen Anschauung ist […] die bloße eigenthümliche Receptivität des Gemüths, wenn es von etwas (in der Empfindung) afficirt wird, seiner subjectiven Beschaffenheit gemäß eine Vorstellung zu bekommen. Dieser erste formale Grund z. B. der Möglichkeit einer Raumesanschauung ist allein angeboren, nicht die Raumvorstellung selbst. Denn es bedarf immer Eindrücke, um das Erkenntnißvermögen zuerst zu der Vorstellung eines Objects (die jederzeit eine eigene Handlung ist) zu bestimmen. So entspringt die formale Anschauung, die man Raum nennt, als ursprünglich erworbene Vorstellung (der Form äußerer Gegenstände überhaupt), deren Grund gleichwohl (als bloße Receptivität) angeboren ist, und deren Erwerbung lange vor dem bestimmten Begriffe von Dingen, die dieser Form gemäß sind, vorhergeht; die Erwerbung der letzteren ist acquisitio derivativa, indem sie schon allgemeine transscendentale Verstandesbegriffe voraussetzt, die eben so wohl nicht angeboren, sondern erworben sind, deren acquisitio aber wie jene des Raumes, eben so wohl originaria ist und nichts Angebornes, als die subjectiven Bedingungen der Spontaneität des Denkens (Gemäßheit mit der Einheit der Apperception) voraussetzt. Über diese Bedeutung des Grundes der Möglichkeit einer reinen sinnlichen Anschauung kann niemand zweifelhaft sein als der, welcher die Kritik etwa mit Hülfe eines Wörterbuchs durchstreift, aber nicht durchdacht hat (ÜE AA 08: 222–223, Hervorh. d. Verf.).

Die Rezeptivität der Eindrücke und die Spontaneität der Begriffe (A 51/B 75) sind die angeborenen Gründe der Erkenntnis, aus denen jeweils die reinen (formalen) Anschauungen von Raum und Zeit und die reinen Verstandes- und Vernunftbegriffe „jederzeit [durch] eine eigene Handlung“ ursprünglich erworben werden. Aus diesen angeborenen Gründen werden außerdem die weiteren „Begriffe von Dingen“ abgeleitet und erworben, die daher die „allgemeine[n] transsendentale[n] Verstandesbegriffe“ voraussetzen. Die beiden angeborenen Gründe maquaestio facti“. Übersetzung von Hruschka, J. „Die species facti“, a. a. O., S. 207. Mehr dazu in Kapitel 9.3.

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chen zusammen das wesentliche Merkmal der menschlichen Erkenntnis aus, nämlich ihre Diskursivität. Wie schon bei der Diskussion über das DisziplinKapitel gezeigt wurde, liegt darin auch die Besonderheit der transzendentalen Beweise. Es muss lediglich noch die Diskursivität der menschlichen Erkenntnis als datum oder Prämisse bestimmt werden, damit die reinen Begriffe des Verstandes und der Vernunft durch Deduktionen als facta festgestellt und somit gerechtfertigt werden können. Im bereits besprochenen Brief an Herz vom Februar 1772 erklärt Kant die Deduktion der reinen Verstandesbegriffe als Fragestellung, die aus einem unausweichlichen, ja unerklärlichen datum resultiert: aus der Besonderheit der menschlichen Erkenntnis als gleichseitiger Zusammenhang zwischen Rezeptivität und Spontaneität des Erkenntnisvermögens.972 Enthält die Vorstellung nur die Art, wie das subiect von dem Gegenstande afficirt wird, so ists leicht einzusehen, wie er diesem als eine Wirkung seiner Ursache gemäß sey und wie diese Bestimmung unsres Gemüths etwas vorstellen, d. i. einen Gegenstand haben könne […] wenn das, was in uns Vorstellung heißt, in Ansehung des obiects activ wäre, d. i. wenn dadurch selbst der Gegenstand hervorgebracht würde, wie man sich die Göttlichen Erkenntnisse als die Urbilder der Sachen vorstellet, so würde auch die Conformitaet derselben mit den obiecten verstanden werden können. Es ist also die Möglichkeit so wohl des intellectus archetypi, auf dessen Anschauung die Sachen selbst sich gründen, als des intellectus ectypi, der die data seiner logischen Behandlung aus der sinnlichen Anschauung der Sachen schöpft, zum wenigsten verständlich. Allein unser Verstand ist durch seine Vorstellungen weder die Ursache des Gegenstandes, (außer in der Moral von den guten Zwecken) noch der Gegenstand die Ursache der Verstandesvorstellungen (in sensu reali). Die reinen Verstandesbegriffe müssen also nicht von den Empfindungen der Sinne abstrahirt seyn, noch die Empfänglichkeit der Vorstellungen durch Sinne ausdrücken, sondern in der Natur der Seele zwar ihre Qvellen haben, aber doch weder in so ferne sie vom Obiect gewirkt werden, noch das obiect selbst hervorbringen (AA 10: 130, Herhorv. d. Verf.).

Unter der Voraussetzung, dass entweder das Subjekt durchaus passiv ist, dass also die Vorstellung „nur die Art, wie das subiect von dem Gegenstande afficirt wird, enthält“, oder das Subjekt durchaus aktiv ist, dass also der Gegenstand durch die Vorstellung hervorgebracht wird, wäre völlig begreiflich, wie der Gegenstand der Vorstellung korrespondiert. Allerdings ist, so Kant, „unser Verstand […] durch seine Vorstellungen weder die Ursache des Gegenstandes, (außer in der Moral von den guten Zwecken) noch der Gegenstand die Ursache der Verstandesvorstellungen (in sensu reali)“ (AA 10: 130). Das bedeutet, der Mensch ist weder durchweg passiv noch durchweg aktiv, er hat nicht entweder nur Sinnlichkeit oder nur Verstand, sondern beides. Nur unter einer solchen auf den ersten Blick widersinnigen Voraussetzung einer gleichzeitigen Passivität und Aktivität unseres Erkenntnisvermögens kann die Beziehung zwischen intellektuellen Vorstellungen und Gegenständen (Diskursivität) problematisiert werden. Die Dis972

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Vgl. V-Met Pölitz AA 28: 606. Kant verteidigt hier die Auffassung, dass Rezeptivität und Spontaneität zwei Seiten unseres Erkenntnisvermögens sind.

kursivität wird daher zu einem datum, das berücksichtigt und auch „deduziert“ werden muss.973 An derselben Stelle erkennt Kant, dass sich die Besonderheit des menschlichen Intellekts als intellectus ectypi erklären lässt. Unter intellectus ectypi wird verstanden, dass der Mensch die data der Erkenntnis nicht aus sich selbst bzw. aus einem spontanen Vermögen erhält, das die zu erkennenden Gegenstände hervorbringen würde, sondern von anderswoher, nämlich aus der Sinnlichkeit. Genau darin liegt der Unterschied zwischen dem menschlichen und dem göttlichen Verstand. Dieser ist der intellectus archetypi, der für sich selbst den Gegenstand in der Anschauung hervorbringt. Der Grund, warum der Mensch zugleich spontan und rezeptiv und deswegen unsere Erkenntnis diskursiv ist, lässt sich nicht einsehen. Die 1772 zum Ausdruck gebrachte Unergründlichkeit der Eigentümlichkeit der menschlichen Erkenntnis behält Kant in der KrV bei. Die Eigentümlichkeit des menschlichen Verstandes wird hier erneut durch einen Vergleich mit der (logisch) möglichen Vorstellung eines göttlichen Verstandes formuliert. Da der menschliche Verstand seinen Gegenstand nicht unmittelbar und für sich selbst hervorbringen kann, muss er als Vermögen der Synthesis eines von anderswoher gegebenen Mannigfaltigen begriffen werden. In dem mit „Anmerkung“ überschriebenen § 21 der B-Deduktion spricht Kant davon, dass die Kategorien nur für einen diskursiven Verstand Bedeutung haben, weil er die data für seine Begriffe von anderswoher erhält: von der Sinnlichkeit. Allein von einem Stücke konnte ich im obigen Beweise [scil. der ersten Etappe des Beweisganges der B-Deduktion – D. K. T.974] doch nicht abstrahiren, nämlich davon, daß das Mannigfaltige für die Anschauung noch vor der Synthesis des Verstandes und unabhängig von ihr gegeben sein müsse; wie aber, bleibt hier unbestimmt. Denn wollte ich mir einen Verstand denken, der selbst anschauete (wie etwa einen göttlichen, der nicht gegebene Gegenstände sich vorstellte, sondern durch dessen Vorstellung die Gegenstände selbst zugleich gegeben oder hervorgebracht würden), so würden die Kategorien in Ansehung eines solchen Erkenntnisses gar keine Bedeutung haben. Sie sind nur Regeln für einen Verstand, dessen ganzes Vermögen im Denken besteht, d. i. in der Handlung, die Synthesis des Mannigfaltigen, welches ihm anderweitig in der Anschauung gegeben worden, zur Einheit der Apperception zu bringen, der also für sich gar nichts erkennt, sondern nur den Stoff zum Erkenntniß, die Anschauung, die ihm durchs 973

974

W. Busch erkennt im gleichen Jahr, 1772, die ersten Formulierungen eines kritischen Freiheitsbegriffs. Dieser bestehe darin, den Menschen zugleich als Natur- und Vernunftwesen zu betrachten, das heißt als ein in der sinnlichen Welt Handelnder, dessen Bestimmungsgrund und Ursache aber nicht in dieser sinnlichen Welt liegen. Es geht dabei, allgemein gesagt, um die im dritten kosmologischen Widerstreit der Vernunft vorliegende Formulierung und Auflösung des Problems der Freiheit als Spontaneität – sprich um die Vorstellung vom Menschen als einer freien Ursache, die in der Erfahrung handelt. Vgl. Busch, W. Die Entstehung der kritischen Rechtsphilosophie, a. a. O., S. 70ff. Es ist bemerkenswert, dass Kant im gleichen Jahr das Problem der menschlichen Freiheit in seiner „kritischen“ Gestaltung auf der Grundlage einer solchen „Spaltung“ konzipiert, nämlich auf der für den menschlichen Erkenntnisprozess maßgeblichen Spaltung zwischen Rezeptivität und Spontaneität. Über die zwei Teile bzw. zwei Etappen des Beweisgangs der B-Deduktion vgl. Kapitel 9.4.2.

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Object gegeben werden muß, verbindet und ordnet (B 145, Hervor. d. Verf.).

Dementsprechend ist der Unterschied zwischen dem menschlichen, diskursiven Verstand und dem göttlichen, anschauenden Verstand dafür geeignet, die Eigentümlichkeit der menschlichen Erkenntnisvermögen zu bestimmen und zu präzisieren. Es geht dabei gewissermaßen um die transzendentale Voraussetzung, von der jede Untersuchung über das Erkenntnisvermögen ausgeht, insofern es zugleich rezeptiv und spontan ist, das heißt getrennte Quellen der Erkenntnis – Sinnlichkeit und Verstand – hat, wie dies beim Menschen der Fall ist. Er hat keine andere Wahl, als sich in die der Kluft zwischen Sinnlichkeit und Verstand entsprungenen Einschränkungen zu fügen. Von dieser Eigentümlichkeit der menschlichen Erkenntnis kann man eigentlich „doch nicht abstrahiren“. In dem schwierigen § 77 der KU erklärt Kant näher, worin der Unterschied zwischen dem menschlichen und dem göttlichen Verstand besteht.975 Während der menschliche, diskursive Verstand (intellectus ectypus) eines bestimmten Gegebenen (des Mannigfaltigen der Anschauung) zu dessen Bestimmung und also zur Erkenntnis gemäß allgemeinen Begriffen bedarf, wäre der göttliche, anschauliche Verstand (intellectus archetypus), wenigstens nach einer „Dagegenhaltung“ (KU AA 05: 408), sprich negativ, analogisch976 und indirekt977, ein Verstand, der aus dem Allgemeinen (einem unmittelbar gegebenen Ganzen) auf das Besondere (einen als eine bestimmte Einschränkung des Ganzen erkannten Einzelnen) unmittelbar schließt (KU AA 05: 405–406). Ohne näher darauf einzugehen, sei hier lediglich darauf verwiesen, dass die Vorstellung eines göttlichen Verstandes dazu dient, eine „gewisse Zufälligkeit der Beschaffenheit des unsrigen“ Verstandes zu bestimmen und „diese Eigenthümlichkeit unseres Verstandes zum Unterschiede von anderen möglichen anzumerken“ (KU AA 05: 406). 975

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„Es ist auch nicht nöthig, daß wir die Anschauungsart in Raum und Zeit auf die Sinnlichkeit des Menschen einschränken; es mag sein, daß alles endliche denkende Wesen hierin mit dem Menschen nothwendig übereinkommen müsse (wiewohl wir dieses nicht entscheiden können), so hört sie um dieser Allgemeingültigkeit willen doch nicht auf Sinnlichkeit zu sein, eben darum weil sie abgeleitet (intuitus derivativus), nicht ursprünglich (intuitus originarius), mithin nicht intellectuelle Anschauung ist, als welche aus dem eben angeführten Grunde allein dem Urwesen, niemals aber einem seinem Dasein sowohl als seiner Anschauung nach (die sein Dasein in Beziehung auf gegebene Objecte bestimmt) abhängigen Wesen zuzukommen scheint; wiewohl die letztere Bemerkung zu unserer ästhetischen Theorie nur als Erläuterung, nicht als Beweisgrund gezählt werden muß“ (B 72). „Das göttliche Erkenntnißvermögen ist nicht discursiv, so fern es dem intuitiven entgegengesezt ist. Der göttliche Verstand muß den Grund aller Dinge enthalten, und ist der Urgrund der Möglichkeit der Gegenstände, in so fern können wir ihn nennen intellectus archetypus. Gott erkennt die Dinge wie sie sind, Menschen aber nur, wie sie erscheinen. Unsere Erkenntniß von Gott ist nicht so, wie er sich selbst erkennt, nicht durch conceptus archetypos sondern ectypos, d. h. nach der Analogie. Wir können nicht einmal ein einziges Ding in der Welt so erkennen, wie er es erkennt“ (V-Met Pölitz AA 28: 607). „Unsere Anschauung aber dieser göttlichen Ideen (denn eine Anschauung a priori mußten wir doch haben, wenn wir uns das Vermögen synthetischer Sätze a priori in der reinen Mathematik begreiflich machen wollten) sei uns nur indirect, als der Nachbilder (ectypa), gleichsam der Schattenbilder aller Dinge, die wir a priori synthetisch erkennen“ (VAVT AA 08: 391).

Von dieser Eigentümlichkeit des menschlichen Verstandes, wie Kant in der B-Deduktion herausstellt, kann man bei der transzendentalen Deduktion „nicht abstrahieren“. Für den Umstand, dass nur durch Kategorien die Einheit der Apperzeption zustande gebracht werden kann oder dass Raum und Zeit die einzigen Anschauungsformen des Menschen sind, lässt sich jedoch kein weiteres Fundament, kein weiterer Grund angeben. Von der Eigenthümlichkeit unsers Verstandes aber, nur vermittelst der Kategorien und nur gerade durch diese Art und Zahl derselben Einheit der Apperception a priori zu Stande zu bringen, läßt sich eben so wenig ferner ein Grund angeben, als warum wir gerade diese und keine andere Functionen zu Urtheilen haben, oder warum Zeit und Raum die einzigen Formen unserer möglichen Anschauung sind (B 145–146, Hervor. d. Verf.).

So, wie man keinen weiteren Grund dafür angeben kann, dass Raum und Zeit die einzigen Anschauungsformen sind, lässt sich auch kein weiterer Grund für die Kategorien angeben als ihr Zusammentreffen mit den logischen Funktionen in den Urteilen als Formen des diskursiven Denkens.978 Zur Fragestellung über die Rechtmäßigkeit des Besitzes der Kategorien als ursprünglich erworbene Vorstellungen und a fortiori zur Fragestellung der transzendentalen Deduktion genügt es aber, zu den angeborenen und „ohne weitere“ Gründe der möglichen diskursiven Erkenntnis gegebenen Kategorien zu gelangen und sie zu bestimmen. Mit Blick darauf, dass es unmöglich ist, die Freiheit des Willens einzusehen, drückt Kant etwas Ähnliches aus. Es genügt dabei festzustellen, dass wir frei sind. Man darf sich aber nicht anmaßen, einzusehen, wie die Freiheit möglich ist. Die bloße Feststellung, dass wir ein Bewusstsein unserer eigenen Freiheit haben, leistet den Forderungen der Deduktion Genüge (vgl. z. B. GMS AA 04: 457–459). In einem Brief an Herz aus dem Jahr 1789 erklärt Kant, dass man auch im Fall der Sinnlichkeit und des Verstandes nicht über den Tatbestand der Diskursivität der menschlichen Erkenntnis hinausgehen darf. Auch hier reicht die Feststellung („dass“), und es fehlt die Erklärung bzw. das Einsehen hinsichtlich der angeborenen Gründe der Erkenntnis („wie“). Wie aber eine solche sinnliche Anschauung (als Raum und Zeit) Form unserer Sinnlichkeit oder solche Functionen des Verstandes, als deren die Logik aus ihm entwickelt, selbst möglich sey, oder wie es zugehe, daß eine Form mit der Andern zu einem möglichen Erkentnis zusammenstimme, das ist uns schlechterdings unmöglich weiter zu erklären, weil wir sonst noch eine andere Anschauungsart, als die uns eigen ist und einen anderen Verstand, mit dem wir unseren Verstand vergleichen könnten und deren jeder die Dinge an sich selbst bestimmt darstellete, haben müßten: wir können aber allen Verstand nur durch unseren Verstand und so auch alle Anschauung nur durch die unsrige beurtheilen. Aber diese Frage zu beantworten ist auch gar nicht nöthig (Brief an M. Herz vom 26.05.1789, AA 11: 51, Hervor. d. Verf.).979 978

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In den Reflexionen im Handexemplar der Kritik der reinen Vernunft schreibt Kant, „die Unbegreiflichkeit der Categorien kommt daher, weil die synthetische Einheit der Apperception nicht eingesehen werden kann“ (AA 23: 27). Vgl. auch die Prolegomena: „Wie aber diese eigenthümliche Eigenschaft unsrer Sinnlichkeit selbst, oder die unseres Verstandes und der ihm und allem Denken zum Grunde liegen-

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So, wie es nicht nötig ist, die Möglichkeit der Freiheit des Willens oder ihren Grund („wie“) in endlichen Wesen zu erklären, um einen Rechtsgrund aus dem Bewusstsein unserer Freiheit von sinnlichen Triebfedern („dass“) legitim begründen zu können,980 so reicht es auch mit Blick auf die Diskursivität der menschlichen Erkenntnis (Spontaneität und Rezeptivität), die Ableitung der Kategorien als Regeln der Synthesis eines von anderswoher gegebenen Mannigfaltigen aus den logischen Funktionen der Urteile als Funktionen des diskursiven Denkens (A 70/B 95) festzustellen. Eine solche Feststellung kommt, wie bereits gesagt, der metaphysischen Deduktion zu.981 Dies ist das Faktum oder die res facti, von der die transzendentale Deduktion ausgeht, um zu prüfen, ob die daraus resultierenden Begriffe legitim sind, sprich ob aus dieser subjektiven Notwendigkeit auch eine „objektive“ Notwendigkeit folgt. 9.3

Der Zirkel oder die „Dialektik“ des Faktums – eine Inkonsistenz der Transzendentalphilosophie oder ein weiteres juridisches Grundmerkmal der KrV?

Die bis dahin skizzierte juridische Interpretation der Deduktion hat einen weiteren, nicht zu vernachlässigenden Nutzen. Einige frühe sowie spätere Kritiker

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den nothwendigen Apperception möglich sei, läßt sich nicht weiter auflösen und beantworten, weil wir ihrer zu aller Beantwortung und zu allem Denken der Gegenstände immer wieder nöthig haben“ (Prol AA 04: 318). D. Henrich kritisiert den Versuch Heideggers, in der Einbildungskraft die „unbekannte Wurzel“ von Sinnlichkeit und Verstand zu finden und dadurch die Möglichkeit eines Einsehens der menschlichen Endlichkeit zu eröffnen. Henrich argumentiert, dass ein solches Erklärungsbedürfnis, der Bedarf nach einem „weiteren Grund“ der menschlichen Endlichkeit, keinen Halt bei Kant selbst findet. Die Feststellung nämlich, dass unser Erkenntnisvermögen so ist, reicht für Kants Beweisgang aus. Das Problem einer gemeinschaftlichen Wurzel entspricht, so Henrich, der Problematik des herkömmlichen Rationalismus beispielsweise von Wolff bezüglich der vis repraesentativa universi, worin alle Vermögen und Kräfte des Gemüts zusammengelegt werden. Einen „weiteren Grund“ dafür, die Einheit von Sinnlichkeit und Verstand zu suchen, wäre für Kant ein falsches Problem oder genauer gesagt ein unauflösbares Problem. Vgl. Henrich, D. „On the unity of subjectivity“. In: The Unity of Reason. Essays on Kant’s Philosophy. Hrsg. von R. Velkley. Cambridge & London: Harvard University Press, 1994, S. 20ff. „Der Rechtsanspruch aber selbst der gemeinen Menschenvernunft auf Freiheit des Willens gründet sich auf das Bewußtsein und die zugestandene Voraussetzung der Unabhängigkeit der Vernunft von bloß subjectiv bestimmenden Ursachen, die insgesammt das ausmachen, was bloß zur Empfindung, mithin unter die allgemeine Benennung der Sinnlichkeit gehört“ (GMS AA 04: 457). M. Frank kommt zwar zu einem ähnlichen Schluss, der aber für die Deutung des Faktums in der KrV im Rahmen des juridischen Problems nur von begrenzter Tragweite ist. Er erkennt lediglich die „Einheit der Apperzeption“ als Faktum. Dabei geht es jedoch, wie schon gesehen, nur um eine Seite der Problematik des Faktums in der KrV. „Im 18. Jahrhundert, wieder (aber diesmal in einem modifizierten Sinne) nach Christian Wolff, erfolgten juristische Deduktionen gewöhnlich unter Verweis auf eine Tatsache, ein Faktum oder ein Datum – so wurde z. B. der Nachweis der Rechtmäßigkeit eines Besitzes oder einer Erbschaft ‚deduziert‘ unter Rückgriff auf die Tatsache einer Kaufurkunde oder eines letzten Willens (eines Testaments). Bei Kant tritt an die Stelle eines solchen empirischen Faktums (in der Deduktion des kategorischen Imperativs) ‚das Faktum der Vernunft‘ und in der theoretischen Philosophie die Tatsache der Apperzeption. (Die Apperzeption ist ein Faktum, denn sie wird durch den ‚empirischen Satz: Ich denke‘ ausgedrückt: KrV B 422ff)“. Frank, M. Unendliche Annäherung, a. a. O., S. 159.

der Transzendentalphilosophie haben sich bekanntlich über die „Unbegründbarkeit des Transzendentalen“ oder des Faktums in der KrV beklagt. Maïmon z. B. deutet das quid iuris grundsätzlich als einen Erklärungs-, nicht als Rechtfertigungsanspruch. Er sucht den Grund, die ratio des Transzendentalen, über die Kant geschwiegen hat.982 Für Reinhold ist das „Fundament der Kritik der r. V.“, nämlich die „Möglichkeit der Erfahrung und von der Natur und Wirklichkeit synthetischer Urtheile a priori […,] weder allgemein […] noch auch fest genug“.983 In diesem Zusammenhang könnte man die nachkantische Philosophie von Schulze bis Hegel und die neuesten phänomenologischen Rezeptionen wie bei Heidegger als einen großen Versuch bezeichnen, den „Skeptizismus“ zu überwinden oder ihn wenigstens zu thematisierten, vor den sich die Transzendentalphilosophie Kants, so diese Autoren, bei der Frage nach dem Grund des Grundes gestellt sieht. Bei der Frage nach ihrem tiefen Fundament würde die Transzendentalphilosophie in einen „Dogmatismus“ geraten, der den kritischen Einwand wiederbelebte.984 Daraus ergibt sich, dass es im Fundament der Transzendentalphilosophie jeweils ein solches angenommenes, aber unbegründetes 982

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„Comprenant le quid iuris comme demande d’explication par une raison sufissante, et non comme exigence de validation, Maïmon exige en quelque sorte le droit du droit lui-même, c’est-à-dire la raison et du fait de la possibilité de l’expérience et du fait qu’est le transcendental“. Grandjean, A. Critique et réflexion, a. a. O., S. 179. Man kann mit gutem Grund bei Maïmon die erste wohlstrukturierte nachkantische Reaktion auf die „Bescheidenheit“ des kantischen Beweisgangs erkennen. Die nachkantische Philosophie bei der Zuspitzung der Idee eines Rechtsgrundes der Gewissheit im Selbstbewusstsein belebt prinzipiell wieder die anspruchsvolle Forderung des logisch-mathematischen Beweismodells nach einer strengen Demonstration statt den bescheidenen Anspruch des juridischen Deduktionsmodells auf eine bloße Rechtfertigung. R. Bübner zufolge machte das „Scheitern“ des nachkantischen Idealismus Platz für die Sprache als systematisches, oberstes Prinzip. Daraus ergaben sich die Wiederkehr der „transzendentalen Argumente“ und die Wiederstärkung der juridischen Praxis bei den „strittigen Beweisfragen“. Vgl. Bübner, R. „Selbstbezüglichkeit als Struktur transzendentaler Argumente“, a. a. O., S. 309. Reinhold, K. L. Ueber das Fundament des philosophischen Wissens. Jena, 1791, S. 129f. Vgl. auch: „Die Formen der sinnlichen Vorstellungen, und der Vorstellungen des Verstandes sind als konstitutive, die Formen der Ideen als regulative Prinzipien der Erfahrung, deduziert. Die Erfahrung ist daher der eigentliche letzte Grund, das Fundament, über welchem das herrliche Lehrgebäude der Kr. d. r. V. aufgeführt ist. Die Vorstellung der Wahrnehmung in einem gesetzmäßigen, notwendig bestimmten Zusammenhang als ein Faktum angenommen, von welchem Kant wohl voraussetzen konnte, daß es ihm eingestanden werden würde, ist die Basis des Kantischen Systems“. Reinhold, K. L. „Über das Verhältnis der Theorie des Vorstellungsvermögens zur Kritik der reinen Vernunft“. In: Beiträge zur Berichtigung bisheriger Missverständnisse der Philosophen – erster Band. Hamburg: Meiner, 2003, S. 193. An dieser Stelle ist auch J. S. Beck zu erwähnen, der das Faktum der KrV als „Factus des Bewusstseins“ auslegt, das „keines Beweises bedarf“, das heißt als das Faktum, dass unsere subjektiven Vorstellungen ein „Objekt“ haben: „Dass wir aber Vorstellungen haben, die wir auf Objecte beziehen, und die von Empfindungen, als lediglich subjectiven Vorstellungen, verschieden sind: das ist ein Factum des Bewusstseyns, das keines Beweises bedarf“. Beck, J. S. Eläuternder Auszug aus den kritischen Schriften, Bd. 1, a. a. O. (nicht nummeriert). Vgl. Grandjean, A. Critique et réflexion, a. a. O., S. 25; Bondeli, M. Apperzeption und Erfahrung, a. a. O. Bondeli rekonstruiert genauer und unparteiischer als Grandjean die Polemik der Kritiker der ersten Stunde, wie Schulze, Maïmon, Reinhold und Fichte, hinsichtlich des „Zirkels“ der Transzendentalphilosophie, vor allem was das „Prinzip“ einer Kritik der Vernunft und die Voraussetzung der Möglichkeit der Erfahrung in der transzendentalen Deduktion betrifft.

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„Unvernünftiges“ gibt, sei es die logischen Formen des Urteils (Hegel),985 die Apperzeption als freie Selbsttätigkeit bzw. Selbstsetzung (Fichte)986 oder die „gemeinschaftliche, aber uns unbekannte Wurzel“ von Sinnlichkeit und Verstand (A 15/B 29) (Heidegger).987 Zur Beantwortung dieser Einwände gegen den Zusammenhalt des Prinzips der Transzendentalphilosophie bedarf es keiner Annahme einer „reflektierenden Faktizität des Transzendentalen“, die keine konzeptuelle oder terminologische Unterstützung bei Kant oder in der philosophischen Tradition seiner Zeit findet. Eine solche Deutung spitzt letztendlich die Aporien der kantischen Philosophie zu einer metaphysischen Lektüre über ein „In-der-Welt-Wohnen“ von Heidegger’schem Ursprung zu, anstatt sie zu lösen.988 Stattdessen muss dazu le985

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„In der sonst gewöhnlichen Abhandlung der Logik kommen mancherlei Eintheilungen und Arten von Begriffen vor. Es fällt sogleich die Inkonsequenz daran in die Augen, daß die Arten so eingeführt werden: Es giebt der Quantität, Qualität u. s. f. nach folgende Begriffe. Es giebt, drückt keine andere Berechtigung aus, als die, daß man solche Arten vorfindet und sie sich nach der Erfahrung zeigen. Man erhält auf diese Weise eine empirische Logik, – eine sonderbare Wissenschaft, eine irrationelle Erkenntniß des Rationellen […]. Die kantische Philosophie begeht hierin eine weitere Inkonsequenz, sie entlehnt für die transcendentale Logik die Kategorien als sogenannte Stammbegriffe aus der subjektiven Logik, in welcher sie empirisch aufgenommen werden. Da sie Letzteres zugiebt, so ist nicht abzusehen, warum die transcendentale Logik sich zum Entlehnen aus solcher Wissenschaft entschließt, und nicht gleich selbst empirisch zugreift“. Hegel, G. W. F. Wissenschaft der Logik. Bd. 2: Die subjektive Logik (1816). In: Gesammelte Werke. Hrsg. von Friedrich Hogemann. Hamburg: Meiner, 1981, S. 42f. Siehe auch: „Die Vielheit der Kategorien aber auf irgendeine Weise wieder als einen Fund, zum Beyspiel aus den Urtheilen, aufnehmen, und sich dieselben so gefallen lassen, ist in der That als eine Schmach der Wissenschaft anzusehen; wo sollte noch der Verstand eine Nothwendigkeit aufzuzeigen vermögen, wenn er dieß an ihm selbst, der reinen Nothwendigkeit, nicht vermag“. Hegel, G. W. F. Phänomenologie des Geistes. Hamburg: Meiner, 1980, S. 135. Vgl. Reich, K. Die Vollständigkeit der kantischen Urteilstafel. a. a. O. Vgl. z. B. „Nur durch dieses Medium des SittenGesetzes erblicke ich mich, und erblicke ich mich dadurch, so erblicke ich mich nothwendig, als selbstthätig; […]. Die intellectuelle Anschauung ist der einzige feste Standpunkt für alle Philosophie. Von ihm aus lässt sich alles, was im Bewusstseyn vorkommt, erklären; aber auch nur von ihm aus. Ohne SelbstBewusstseyn ist überhaupt kein Bewusstseyn; das SebstBewusstseyn ist aber nur möglich auf die angezeigte Weise: ich bin nur thätig“. Fichte, J. G. Zweite Einleitung in die Wissenschaftslehre. In: Fichtes Werke. Hrsg. von I. H. Fichte. Bd. I, Berlin: De Gruyter, 1971, S. 466, 219. Vgl. z. B: „[D]ie transzendentale Einbildungskraft ist nicht nur ein äußeres Band, das zwei Enden zusammenknüpft. Sie ist ursprünglich einigend, d. h. sie als eigenes Vermögen bildet die Einheit der beiden anderen, die selbst zu ihr einen wesenhaften strukturalen Bezug haben“. Heidegger, M. Kant und das Problem der Metaphysik. Frankfurt a. M.: Klostermann, 1991, S. 137. Die gemeinschaftliche Wurzel wäre das Zeichnen der grundsätzlichen „Endlichkeit des Menschen“ und also des „metaphysische[n] Urfaktums“, das „darin bestehet, daß das Endlichste in seiner Endlichkeit zwar bekannt, aber gleichwohl nicht begriffen ist“. Ebd., S. 233. Hier ist explizit Grandjean gemeint, für dessen Fragestellung die Kant-Deutung Heideggers explizit und implizit als Ausgangspunkt dient (wie im Übrigen virtuell bei jeder französischen Kant-Forschung). Vielleicht schweigt Grandjean nicht ohne Grund über die juridische Verfassung der KrV, durch die sich der Grund der Kritik leichter erklären lässt. Stattdessen verwendet Grandjean die Metapher über das „Wohnen“ und die „göttliche Stimme“ usw. als „Bilder des systematischen Charakters der Endlichkeit“. Grandjean, A.

diglich die Kritik gemäß ihrer juridischen Verfassung gedeutet werden. Damit wird man den kantischen Metaphern und Kants methodologischen Einflüssen weit mehr gerecht. Den Autoren, die wie Hegel und vielleicht auch Heidegger Kant die Unbegründbarkeit der der Transzendentalphilosophie zugrundliegenden Tatsache zum Vorwurf machen, könnte man erwidern, dass es dabei nicht um ein dogmatisches factum brutum, sondern um ein zurechenbares factum geht. Den Autoren, die wie Reinhold, Maïmon und Fichte von Kant ein deutliches oberstes Prinzip aller Transzendentalphilosophie fordern, lässt sich wiederum entgegenhalten, dass die kantische Deduktion keine logisch-mathematische Deduktion ist und demnach das angenommene Faktum nicht als Axiom oder selbstevidenter Satz, sondern als res facti des quid iuris, als die transzendentale, nicht empirische genetische Bedingung der Rechtmäßigkeit aller objektiven Erkenntnis gilt. In allen Fällen aber wäre die allgemeine Erwiderung genug, dass im Fundament der transzendentalen Fragestellung die Feststellung eines nicht weiter zu erklärenden Grundes989 liegt. In Übereinstimmung mit der Bescheidenheit der Juristen ist nichts anderes möglich, als einen solchen Grund anzunehmen und davon ausgehend die Probleme zu identifizieren und die Fragen zu stellen, die man beantworten kann und deren Beantwortung lohnend ist. Das oben Gesagte kann anders formuliert werden und dadurch zur Beantwortung eines weiteren, aber mit den vorherigen verwandten Einwands gegen den kantischen Beweisgang dienen. Anstatt eine Art von Dialektik der Endlichkeit des Menschen oder einfach eine petitio principii zu sein, bezieht sich die Unbegreiflichkeit dessen, was die praktischen und theoretischen facta der Transzendentalphilosophie sind, auf ein geschichtlich festgelegtes Problem der Rechtswissenschaft, nämlich auf den „Zirkel bei der Konstitution des Rechtsfalles“.990 Im Grunde wird ein solcher Zirkel folgendermaßen charakterisiert: Um zu bestimmen, wie sich eine empirische Gegebenheit als eine als rechtlich relevant betrachtete Handlung bzw. als eine Tat qualifizieren lässt, ist zuvor das Gesetz in Betracht zu ziehen, welches bestimmt, dass eine solche empirische Gegebenheit eine rechtlich relevante Handlung bzw. eine Tat ist. Eine Tat wird nun dann zur Tat erklärt, wenn sie unter einem Gesetz subsumiert wird. Das bedeutet, sie ist nicht mehr eine bloße Handlung (eine bloße empirische Gegebenheit), sondern wird eine Tat (eine ebenso praktisch-moralische, juridische Gegebenheit), wenn sie unter einem Gesetz subsumiert ist. Um das Gesetz zu bestimmen, welches anzuwenden ist, muss allerdings die Tat bereits als Tat, das heißt als eine unter dem Gesetz subsumierte Handlung, bestimmt werden. Hier zeigt sich also bei Kant ein Zirkel. Zu dessen näherer Betrachtung ist zuerst ein Blick auf eine Reflexion zu werfen, in der Kant das Problem der zirkulären Bestimmung eines Faktums und die Entscheidung über seine Rechtmäßigkeit als eine von einem Richter durchgeführte Rechtssache zusammenfasst.

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Critique et réflexion, a. a. O., S. 27. Dies sind nur kleine, aber bedeutsame Beispiele dafür, wie die einfallsreiche Interpretation Grandjeans unter dem dauerhaften und schädlichen Einfluss Heideggers bei der französischen Kant-Forschung leidet. Vgl. Kapitel 9.2.2. Hruschka, J. „Die species facti“, a. a. O.; Aichele, A. „Enthymematik und Wahrscheinlichkeit“, a. a. O.

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Der Richter soll 1. als inqvirent analytisch verfahren, um [zuerst] aus allen momentis in facto eine Idee vom Facto zu bekommen. Da aber vieles in demselben in Ansehung des strittigen Rechts gleichgültig seyn kann, wenigstens iuridisch, so muß er alle varia Facti mit dem iure (cuiusvis partis) controverso vergleichen, um die momenta Facti aus denselben zu wählen. Also muß er doch das ius praetensum vorher erwägen, um a priori zu bestimmen, was dazu erforderlich ist […]. Dieses muß vorher allgemein beym Richter ausgemacht seyn, und die parten müssen entweder darüber an die Gesetzgebungscommission appelliren oder nun sich einlassen, nach allen diesen momentis in iure die momenta in facto beyzubringen. 2. als Richter muß er synthetisch verfahren: nach der iustitia distributiva diejenige praestanda991 anzeigen, die ein jeder der Streitenden nach dem Rechte des andern leisten oder davor satisfaction leisten muß (Rx 3357 AA 16: 797).992

Wie bereits H. Kiefner gezeigt hat, demonstriert Kant in dieser und weiteren merkwürdigerweise nicht zu den Erläuterungen Kants zu Baumgartens oder Achenwalls Lehrbüchern gehörenden Reflexionen, wie der Reflexion 454,993 eine bemerkenswerte Erkenntnis über die „Eigenart zivilistischen Denkens“. Kiefner zufolge besteht der von Kant in Anspruch genommene Zivilprozess grundsätzlich aus zwei Etappen: Erstens muss der Richter als ein Inquirent zur Feststellung des Sachverhalts (quaestio facti) analytisch verfahren. Um eine Entscheidung zu treffen und sein Verdikt zu begründen (quaestio iuris), muss der Richter zweitens synthetisch verfahren. Im Folgenden wird auf dieses Verfahren näher eingegangen. Die quaestio facti wird nicht unmittelbar durch die „Kenntnis der Fülle der von den Parteien vorgetragenen Tatsachen“ 994 festgestellt. Zuvor muss der Richter a) das ius praetensum in Erwägung ziehen und dazu aber prüfen, ob die von den Parteien eingereichte Klage tatsächlich als Rechtssache anzusehen ist, das heißt, ob „die konkrete Rechtsfolge, die mit dem Klagebegehren geltend gemacht wird, abstrakt im Gesetz […] vorgesehen ist“995. b) Nachdem das ius praetensum so bestimmt worden ist, betrachtet der Richter die Bedingungen bzw. Voraussetzungen, unter denen sich das Gesetz in der anstehenden Rechtssache anwenden lässt. Solche Bedingungen bzw. Voraussetzungen sind die momenta in 991

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In der MdS definiert Kant die praestatio als eine Art äußerer Gegenstand meiner Willkür: „die Willkür eines anderen zu einer bestimmten That (praestatio)“ (MdS AA 06: 247), das heißt als die Leistung einer anderen Willkür, die mir als Besitz gehört (MdS AA 06: 248). „Der Besitz der Willkür eines Anderen, als Vermögen sie durch die meine nach Freiheitsgesetzen zu einer gewissen That zu bestimmen“ (MdS AA 06: 271). Kiefner setzt als terminus a quo 1781 und als terminus ad quem 1783–1785 fest angesichts der Hinweise Kants auf die erst 1781 in Kraft getretene preußische Zivilprozessordnung. Kiefner, H. „Ius Praetensum“, a. a. O. Vgl. auch Marcos, M. H. La Crítica de la razón pura como proceso civil, a. a. O., S. 435ff. „[E]s geht hier [bei der Frage nach den Wundern – D. K. T.] so wie mit einer Rechts Sache vor Gericht. Die erste Frage ist: ob es überhaupt eine Rechtssache sey, d. i. unter Gesetzen stehe und wie fern. 2. Das Factum durch einstimmung der Zeugen. 3. Die Zusammenstimung des Richters mit sich selbst in Ansehung der praeiudicata und postiudicanda […]“ (Rx 454 AA 15: 186–188 (1785–1787)). Kiefner, H. „Ius Praetensum“, a. a. O., S. 300f. Ebd., S. 302.

iure, die das rechtlich relevante Faktum ausmachen, an das man sich beim Verfahren halten muss. Unter einem solchen rechtlich relevanten Faktum lassen sich alle „konkreten Sachverhalte“ subsumieren, aus denen sich die momenta in iure zusammensetzen.996 Daraus folgt, dass jedem momentum in facto ein momentum in iure entspricht. „Gelingt diese Subsumtion, dann steht dem Kläger (Widerkläger) das konkrete ius praetensum zu; fehlt es an einem momentum in facto, ist die Klage (Widerklage) abzuweisen“.997 Bei der Gegenüberstellung mit den momenta in iuri erhalten die die quaestio facti ausmachenden momenta in facto ihre wesentliche Bestimmung. Das heißt, sie sind rechtlich relevant und daher ein Faktum, genau wenn sie mit den momenta in iure zusammenfallen. Die momenta in iuri bilden ihrerseits die „systematische Einheit des rechtlichen Tatbestandes“.998 Die Feststellung der momenta in facto aus den momenta in iure erweist sich daher als der „Schritt der richterlichen Vermittlung zwischen Empirie und Recht auf der untersten Stufe“ oder, anders formuliert, als der „Anwendungsmoment“, als casus datae legis. Dies setzt daher zwei weitere Momente voraus, nämlich a) die Definition der Regel bzw. des Gesetzes und b) die Bestimmung (a priori), ob ein Fall unter dem Gesetz steht. „Insoweit ist der rechtliche Verstand in Bewegung, die Vermittlung zwischen Empirie und Rechtsregel durch Tatbestands- und Sachverhaltsbildung vorbereitend“.999 Bei dem synthetischen Moment der Anwendung bzw. Vermittlung zwischen dem Empirischen (den die empirische Gegebenheit als eine Tat bestimmenden empirischen Momenten) und dem Rechten (den die Sache als eine Rechtssache bestimmenden rechtlichen Momenten) und demzufolge bei der Entscheidung des Richters nach der Verteilungsgerechtigkeit „sieht Kant den Übergang zwischen positivem [Recht] und Naturrecht“.1000 Wie bei Pütters juridischen Deduktionen, so wird hier ersichtlich, setzt das Gerichtsurteil (quid iuris) voraus, dass das Faktum bereits bestimmt (quid facti) ist. Bei der Bestimmung des Ausgangspunkts der Rechtssache jedoch, nämlich bei der Feststellung der quaestio facti oder der „Idee vom Faktum“, schleicht sich nun ein Zirkel ein. Die Bestimmung der quaestio facti als Frage nach einem rechtlich relevanten Ereignis, das heißt die Feststellung eines Faktums, setzt die quaestio iuris voraus, die wiederum erst dann formuliert werden kann, wenn das Faktum als Faktum bestimmt worden ist. Kiefner erwähnt aber nicht den Zirkel, der in 996

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„Diese Voraussetzungen sind die ‚momenta in iure‘, die zusammen den gesetzlichen Tatbestand bilden, an dessen Vorliegen die Rechtsfolgeanordnung geknüpft ist. Unter den Tatbestand ist dann der konkrete Sachverhalt zu subsumieren, der sich aus den ‚momenta in facto‘ zusammensetzt“. Ebd., S. 302. Ebd., S. 303. Das momentum in iure hat „den (rechts)logischen Vorrang vor dem momentum in facto“. Der Richter hat dabei eine begrenzte Funktion; den Parteien kommt die Aufgabe zu, dem Richter die „nothwendige Tatsache“ vorzustellen und gelegentlich die „Belehrung […] über die momenta in iure und den richterlichen Hinweis auf [einen] lückenhaft[en] Tatsachenvortrag [vorzunehmen]“. Ebd., S. 305–306. Ebd., S. 313. Ebd., S. 314. „Letzten Endes erweist sich damit dann auch die Idealisierung des Faktischen in Gestalt des Sachverhalts als systematisierende Tätigkeit des Richters […] sieht Kant den Übergang zwischen positivem [Recht] und Naturrecht im vermittelnden Richterspruch“. Ebd., S. 317.

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der „Vermittlung zwischen Empirie und Rechtsregel durch Tatbestands- und Sachverhaltsbildung“, sprich in dem casus datae legis vorliegt. J. Hruschka ist derjenige, der auf einen solchen Zirkel im Rahmen der kantischen Rechtsphilosophie aufmerksam gemacht hat. Der Zirkel bei der Konstitution des Rechtsfalls wird an einer Stelle in Vigilantius Nachschrift von Kants Metaphysik der Sitten eklatant dargestellt: Es beruht also die quaestio facti auf der indagatione momentorum in facto. Diese würde auch, sowie ein error et ignorantia in Ansehung derselben, essentialis seyn, und essentialia betreffen, indem essentialia facti und momenta in facto einerley sind, und das Gegentheil oder die extraessentialia alles dasjenige betreffen, was die quaestionem in facto selbst nicht angeht, und dabey nicht als momentum angesehen werden kann. Hieraus entspringt nun die species facti, oder die enumeratio omnium momentorum in facto, sowie in delictis das corpus delicti oder 1) die Gewißheit der Existenz eines delicti und 2) die äußeren Zeichen, die es darthun, daß ein delictum geschehen sey. Jedoch ist der Begriff der species facti weiter als der Begriff des corpus delicti. Bey Ausmittelung der circumstantiarium in facto ist es, um die momenta in facto zu finden, schon nöthig, auf das Gesetz Rücksicht zu nehmen, da, wenngleich hier das Gesetz noch nicht imputirt wird, es doch zur völligeren Bestimmung des facti selbst beyträgt (V-MS/Vigi AA 27: 563).1001

Laut Hruschka ist Kant – wie auch Baumgarten1002 – der Auffassung, dass sich die quaestio iuris nur durch die species facti beantworten lässt. Die species facti soll wiederum nicht im Sinne von „Gattung“ (genus), sondern als ein „Bild“ (imago) der Tat verstanden werden, also als die Beschreibung oder Darstellung der Tat oder ihrer wesentlichen Elemente bzw. momenta,1003 die sie als eine Tat bestimmen.1004 1001 1002 1003

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Vgl. auch V-PP/Powalski AA 27: 156; V-Mo/Collins, AA 27: 288f. Vgl. Baumgarten, A. G. Initiae philosophiae practicae, a. a. O., § 128. In der Anmerkung zur Reflexion 40 (AA 14: 122–128) weist Adickes darauf hin, dass Kant „Moment“ in sieben verschiedenen Bedeutungen gebraucht, von denen die meisten die Naturwissenschaft betreffen (wie z. B. „Moment der Acceleration“ – MAN AA 04: 551f.). Die Bedeutungen, die für die vorliegende Absicht von Belang sind, gehören jedoch der Rechtswissenschaft an. Außer den momenta in facto bezieht sich Kant in der RL auf die „Momente (attendenda) der ursprünglichen Erwerbung“ eines äußeren Gegenstands meiner Willkür, nämlich als Apprehension des Gegenstands, die Bezeichnung (declaratio) des Besitzes und schließlich „die Zueignung (approbatio) als Act eines äußerlich allgemein gesetzgebenden Willens (in der Idee)“ (MdS AA 06: 258–259). Es handelt sich dabei also um die momenta in facto des (physischen) Aktes der ursprünglichen Inbesitznahme, die ihn wesentlich als (praktisch-moralischen, juridischen) Akt definieren. Man könnte dies auf die Transzendentale Analytik anwenden. Kant spricht bei der metaphysischen Deduktion der reinen Verstandesbegriffe als ursprünglich erworbene Begriffe von einer „vollständigen Tafel der Momente des Denkens“ (A 71/B 96) und einer „transzendentalen Tafel aller Momente des Denkens in den Urteilen“ (A 73/B 98). Die quaestio facti der Rechtmäßigkeit des reinen Verstandesgebrauchs beruht daher auf dem Ursprung der Kategorien als Funktionen zur Verbindung eines Mannigfaltigen, und die momenta facti sind die als Tafel der „Funktionen des Denkens“ (A 70/B 95) dargestellten logischen Funktionen des Urteils. Dazu im Folgenden mehr. Ebd., § 128. Vgl. Hruschka, J. „Die species facti“, a. a. O., S. 204–207. Hruschka erkennt in Darjes den ersten Hinweis auf den Begriff von species facti.

Die species facti ist daher ein Synonym zu Faktum.1005 Ohne vorherige Feststellung der wesentlichen Momente, die die Tat als Tat bestimmen (also der Momente, die bestimmen, dass eine physische, empirische Handlung eine praktischmoralische, juridische Tat ist), kann man nun nicht bestimmen, ob eine solche Tat wirklich ausgeführt worden ist, und die quaestio facti bleibt in diesem Fall unbestimmt.1006 Die species facti ist also selbst die Beschreibung der Tat und damit des Rechtsfalls.1007 Man stellt sich dennoch folgende Frage: Wie kann man die momenta in facto erkennen, die die wesentlichen Momenten der Tat sind, bzw. wie kann man die momenta bestimmen, die die „Idee vom Faktum“ ausmachen? Der Reflexion 3357 zufolge ist die quaestio facti erst dann wesentlich, wenn sie sich auf die momenta facti bezieht, die ihrerseits den momenta iuris entsprechen müssen; der Metaphysik der Sitten Vigilantius zufolge muss man nun vor der Bestimmung der momenta in facto „auf das Gesetz Rücksicht nehmen, wenngleich hier das Gesetz noch nicht imputiert wird“. Daraus ergibt sich, dass das Unterscheidungsmerkmal der Tat (das, was sie nicht mehr als bloße „Handlung“, sondern eine Tat, nicht mehr als etwas bloß Physisches, sondern auch Juridisches bestimmt) ihre Subsumierung unter einem Gesetz ist; dies erfordert aber, dass die Tat bereits als Tat, als eine unter einem Gesetz stehende Handlung bestimmt ist (casus datae legis). Wenn jedoch dabei von der Bestimmung des Falls, in dem das Gesetz auf das Faktum angewandt wird, die Rede ist, wie kann man voraussetzen, dass das anzuwendende Gesetz vor der Bestimmung des Falles schon bestimmt wurde?1008 Dieser Zirkel lässt sich auch in einem syllogismus practicus als Zurechnungsurteil formulieren, wie Kant es selbst tut.1009 Für den allgemeinen Fall im Obersatz (Gesetz, Regel) ist das wesentlich, was dem konkreten Fall im Untersatz (Faktum) angehört, und für den konkreten Fall im Untersatz (Faktum) ist das wesentlich, was dem allgemeinen Fall im Obersatz (Gesetz, Regel) angehört.1010 Es entsteht also zwangsläufig ein Teufelskreis. Man kann den gleichen Zirkel in der Bestimmung des Faktums in der KrV und im kantischen Beweisgang bei der Deduktion erkennen. In den Prolegomena und im Disziplin-Kapitel liest man, dass zum Erfolg der transzendentalen Beweise die mögliche Erfahrung vorausgesetzt werden muss (Prol, AA 04: 274; A 737/B 765) – aber die transzendentalen Beweise sollen die Möglichkeit der möglichen Erfahrung a priori dartun! In der transzendentalen Deduktion der 1005 1006 1007

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„Facta schlechthin nennt man auch die species facti“ (V-PP Powalski AA 27: 156). Hruschka, J. „Die species facti“, a. a. O., S. 208. „‚Species facti‘ meint die Besprechung dieser Tatsachen. Die species facti ist die sprachliche Darstellung der Tat und der maßgeblichen Tatumstände, sie ist die Beschreibung des Rechtsfalles“. Ebd., S. 209. „Das Gesetz ist schon bei der enumeratio momentorum in facti, d. i. bei der species facti und damit vor aller applicatio legis ad factum zu berücksichtigen“. Ebd., S. 213. „Factum ist eine Handlung die unter einem Gesetz, eigentlich unter einem moralischen Gesetz steht. Imputatio moralis ist Subsumtion eines facti unter ein moralisches Gesetz. Gesetz ist maior propositio, factum ist minor propositio, d. i. subsumtio quod certum factum sit casus datae legis. Conclusio ist die Handlung, muß auch das factum legis tragen. Imputatio ist application des Gesetzes aufs factum“ (Mo/Mron II AA 29: 641). V-MS/Vigi AA 27: 562. A. Aichele entwickelt das Zirkel-Paradox bei der Bestimmung des Rechtsfalls Kants und Baumgartens in Hinsicht auf seinen syllogistischen Aufbau. Siehe Aichele, A. „Metaphysisches oder logisches Systemprinzip“. a. a. O.

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KrV muss man desgleichen die Spontaneität und die Rezeptivität als Bedingungen der objektiven Erkenntnis voraussetzen, damit man sie als Grundbedingungen der objektiven Erkenntnis begründen kann. Das Faktum (der Gegenstand der möglichen Erfahrung, die innere Tätigkeiten des Erkenntnisvermögens) setzt zu seiner Bestimmung die Gesetze voraus, die es selbst paradoxerweise als die auf den konkreten Fall anzuwendenden Gesetze bestimmen muss. Es scheint schwierig, sich einem solchen Zirkel zu entziehen.1011 Kant selbst bezieht sich am Beginn der Analytik der Grundsätze in der „Einleitung von der Transzendentalen Urteilskraft überhaupt“ explizit auf den Zirkel bei der Konstitution eines unter Regeln stehenden Falls (casus datae legis): „Wenn der Verstand überhaupt als das Vermögen der Regeln erklärt wird, so ist Urtheilskraft das Vermögen unter Regeln zu subsumiren, d. i. zu unterscheiden, ob etwas unter einer gegebenen Regel (casus datae legis) stehe, oder nicht“ (A 132/B 171). Es würde in einen regressus ad infinitum führen, wenn man eine Regel zur Anwendung der Regeln bräuchte. Anstelle einer neuen Unterweisung der Urteilskraft bedarf es eines „besondere[n] Talent[s] […], welches gar nicht belehrt, sondern nur geübt sein“ muss (A 133/B 172). Kant bringt ein für unsere Untersuchung bezeichnendes Beispiel, um den betreffenden Zirkel zu erläutern: Ein Richter kann zwar „viel schöne […] juristische Regeln im Kopfe haben“, aber zugleich nicht wissen, ob „ein Fall in concreto“ unter dem Gesetz steht – das heißt, er kann zwar die Gesetze kennen, aber nicht die facta bestimmen. Wollte sie [scil. die allgemeine Logik] nun allgemein zeigen, wie man unter diese Regeln subsumiren, d. i. unterscheiden sollte, ob etwas darunter stehe oder nicht, so könnte dieses nicht anders, als wieder durch eine Regel geschehen. Diese aber erfordert eben darum, weil sie eine Regel ist, aufs neue eine Unterweisung der Urtheilskraft; und so zeigt sich, daß zwar der Verstand einer Belehrung und Ausrüstung durch Regeln fähig, Urtheilskraft aber ein besonderes Talent sei, welches gar nicht belehrt, sondern nur geübt sein will. Daher ist diese auch das Specifische des so genannten Mutterwitzes, dessen Mangel keine Schule ersetzen kann; denn ob diese gleich einem eingeschränkten Verstande Regeln vollauf, von fremder Einsicht entlehnt, darreichen und gleichsam einpfropfen kann: so muß doch das Vermögen, sich ihrer richtig zu bedienen, dem Lehrlinge selbst angehören, und keine Regel, die man ihm in dieser Absicht vorschreiben möchte, ist in Ermangelung einer solchen Naturgabe vor Mißbrauch sicher. Ein Arzt daher, ein Richter oder ein Staatskundiger kann viel schöne pathologische, juristische oder politische Regeln im Kopfe haben in dem Grade, daß er selbst darin ein gründlicher Lehrer werden kann, und wird dennoch in der Anwendung derselben leicht verstoßen, entweder, weil es ihm an natürlicher Urtheilskraft (obgleich nicht am Verstande) mangelt, und er zwar das Allgemeine in abstracto einsehen, aber ob ein Fall in concreto darunter gehöre, nicht unterscheiden kann, oder auch darum, weil er nicht genug durch Beispiele und wirkli-

1011

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Hruschka erkennt bei der Konstitution des Rechtsfalls eher einen „hermeneutischen Zirkel“ als einen „Teufelskreis“. Hruschka, J. „Die species facti“, a. a. O., S. 213f. Aichele sieht in dem Zirkel-Problem ein Beispiel dafür, wie schwierig es ist, das Einzelne in der Logik der Hochaufklärung zu bestimmen. Vgl. Aichele, A. „Enthymematik und Wahrscheinlichkeit“, a. a. O.

che Geschäfte zu diesem Urtheile abgerichtet worden [ist] (A 133–334/ B 172–173).

Die Unbegreiflichkeit des natürlichen Talents bei der Anwendung einer Regel entspricht der Unbegreiflichkeit des Anwendungsmoments (empirisch und normativ, faktisch und empirisch) bei der Bestimmung des Faktums.1012 Eine eingehende Untersuchung über diese konzeptuelle Aporie bei der Grundlage der KrV und bei der Bestimmung des Faktums der KrV wäre durchaus aufschlussreich; gemäß der juridischen Methode begnügt sich Kant jedoch damit, allein einen solchen Zirkel auch als „Faktum“ anzuerkennen und nicht vergeblich nach seinem „letzten Grund“ zu fragen. Aus diesem Grund mag dies auch für die vorliegende Untersuchung gelten. 9.4

Die metaphysische und transzendentale Deduktion der Kategorien

Das juridische Deduktionsmodell bei der Deduktion der reinen Verstandesbegriffe besteht, wie bislang erörtert wurde, grundsätzlich aus zwei Grundmomenten. Die metaphysische Deduktion geht erstens von der Eigentümlichkeit des menschlichen Erkenntnisvermögens und von dessen zwei Gründen (Spontaneität und Rezeptivität) aus und stellt das quid facti der ursprünglichen Erwerbung der Kategorien fest, bestimmt also ihren Ursprung, ihre Zahl und ihren systematischen Zusammenhang. Kant leistet die „Entdeckung aller reinen Verstandesbegriffe“ (A 66/B 91), wenn er die transzendentale mit der logischen Urteilskraft als „Vermögen[, diskursiv] zu denken“ (A 69/B 94), in Zusammenhang bringt. Die transzendentale Deduktion entscheidet zweitens über das quid iuris des Titels solcher Begriffe als „Funktionen des [diskursiven] Denkens“ (A 70/ B 95), wobei sie zeigen muss, dass solche Begriffe nicht „leer“ und „ohne Bedeutung“ sind (A 90/B 123), sprich, dass sie gegenstandsbezogene Vorstellungen sind und daher objektive Gültigkeit und Realität haben. Im Folgenden wird auf den Beweisgang einer jeden Deduktion eingegangen, wenngleich – wie schon am Anfang des vorliegenden Kapitels erwähnt – auf eine bis ins Einzelne gehende Argumentation verzichtet wird. 9.4.1 Die metaphysische Deduktion der reinen Verstandesbegriffe Zur Formulierung und Lösung des quid facti der Deduktion nimmt Kant als „gegebene“ Voraussetzung oder „gegebenen“ Grund die Unterscheidung der zwei angeborenen Gründe der Erkenntnis an, nämlich die Teilung der Grundstämme 1012

Ein solcher scheinbarer Widerspruch zwischen der Forderung nach einer empirischen Erkenntnis für die Bestimmung des Normativen ist in der Metaphysik der Sitten des Vigilantius erwähnt: „Eine juris peritia scheint eine contradiction zu seyn, da der Begriff des Rechts allein aus der Vernunft erkannt werden kann, sich aber nicht erfahren läßt. Sie kann sich daher auch nicht auf Kenntniß der Gesetze einschränken, muß sie vielmehr voraussetzen: außerdem aber ist für einen praktischen Juristen erforderlich, mit der Rechtstheorie eine Kenntniß von der Anwendung der Gesetze zu verbinden: diese beruht auf der Geschicklichkeit, den casum datae legis und inwiefern der casus unter dem Gesetz begriffen sey, zu unterscheiden. Diese wird nur durch häufige Anwendung der Theorie auf die so unendliche Verschiedenheit der Fälle erlangt, und dies ist ein empirisches Experiment“ (V-MS/Vigilantius AA 27: 534).

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der menschlichen Erkenntnis in Sinnlichkeit bzw. Rezeptivität und Verstand bzw. Spontaneität.1013 Die Sinnlichkeit ist die Rezeptivität, die uns affizierenden Vorstellungen zu empfangen, und der Verstand ist die Spontaneität, „die Vorstellungen selbst hervorzubringen [oder] den Gegenstand sinnlicher Anschauung zu denken“ (A 75/B 51). Beim Erkenntnisverfahren ist „keine dieser Eigenschaften […] der anderen vorzuziehen. Ohne Sinnlichkeit würde uns kein Gegenstand gegeben, und ohne Verstand keiner gedacht werden. Gedanken ohne Inhalt sind leer, Anschauungen ohne Begriffe sind blind“ (A 75/B 51). Diese zwei Grundquellen des Gemüts und ihr Verhältnis definieren also die Eigentümlichkeit der diskursiven menschlichen Erkenntnis.1014 Aus der „Aufgabenteilung“ der Erkenntnisvermögen beim Erkenntnisverfahren ergibt sich die Einteilung der Transzendentalen Elementarlehre in eine transzendentale Ästhetik (Sinnlichkeit) und in eine transzendentale Logik (Spontaneität).1015 Wie die Bezeichnung dieses Hauptteiles der Kritik erkennen lässt, geht es bei der Transzendentalen Elementarlehre um die Darstellung, Analyse und Prüfung des spontanen und des rezeptiven Elements unserer Erkenntnisvermögen. So wie daher in der Transzendentalen Ästhetik Raum und Zeit als die zwei einzigen Formen der Sinnlichkeit, das heißt als die zwei einzigen und legitimen Arten, wie uns ein Gegenstand in der Sinnlichkeit gegeben werden kann (Rezeptivität), bewiesen und „deduziert“ (Prol AA 04: 285; vgl. B 120–121) wurden, so muss auch in der Transzendentalen Analytik, genauer in der Analytik der Begriffe, bewiesen werden, wie die Gegenstände durch die Handlungen bzw. Tätigkeiten des Verstandes (Funktion, Synthesis, Verknüpfung) gedacht werden können, das heißt, wie das Mannigfaltige der Anschauung unter die Einheit von Begriffen (Spontaneität, actus der Apperzeption) gebracht werden kann. Die Transzendentale Analytik ist der Teil der Transzendentalen Logik, der den „wenigstens negative[n] Probierstein der Wahrheit“ (A 60/B 84) darstellt. Er charakterisiert sich als „Zergliederung unseres gesamten Erkenntnisses a pri1013

1014

1015

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„Auf welche Art und durch welche Mittel sich auch immer eine Erkenntniß auf Gegenstände beziehen mag, so ist doch diejenige, wodurch sie sich auf dieselbe unmittelbar bezieht, und worauf alles Denken als Mittel abzweckt, die Anschauung. Diese findet aber nur statt, sofern uns der Gegenstand gegeben wird; dieses aber ist wiederum uns Menschen wenigstens nur dadurch möglich, daß er das Gemüth auf gewisse Weise afficire. Die Fähigkeit (Receptivität), Vorstellungen durch die Art, wie wir von Gegenständen afficirt werden, zu bekommen, heißt Sinnlichkeit. Vermittelst der Sinnlichkeit also werden uns Gegenstände gegeben, und sie allein liefert uns Anschauungen; durch den Verstand aber werden sie gedacht, und von ihm entspringen Begriffe. Alles Denken aber muß sich, es sei geradezu (directe), oder im Umschweife (indirecte), vermittelst gewisser Merkmale zuletzt auf Anschauungen, mithin bei uns auf Sinnlichkeit beziehen, weil uns auf andere Weise kein Gegenstand gegeben werden kann“ (A 19/B 33). „Was […] den Menschen betrifft, so besteht ein jedes Erkenntniß desselben aus Begriff und Anschauung. Jedes von diesen beyden ist zwar Vorstellung, aber noch nicht Erkenntniß. Etwas sich durch Begriffe, d. i. im Allgemeinen vorstellen, heißt denken, und das Vermögen zu denken, der Verstand. Die unmittelbare Vorstellung des Einzelnen ist die Anschauung. Das Erkenntniß durch Begriffe heißt discursiv, das in der Anschauung intuitiv“ (FM AA 20: 325). „Daher unterscheiden wir die Wissenschaft der Regeln der Sinnlichkeit überhaupt, d. i. Ästhetik, von der Wissenschaft der Verstandesregeln überhaupt, d. i. der Logik“ (A 52/ B 76).

ori in die Elemente der reinen Verstandeserkenntnis“ (A 64/B 89). Das hat zur Folge, dass die in der Transzendentalen Analytik der Begriffe zu deduzierenden Begriffe als 1) reine, nicht empirische, 2) dem Denken und dem Verstand, nicht der Anschauung angehörende, 3) ursprüngliche, nicht abgeleitete, und schließlich 4) vollständig aufgezählte Begriffe definiert werden können, sodass sie „das ganze Feld des reinen Verstandes“ bilden und eine „Idee des Ganzen“ (A 64/ B 89) ausmachen. Das entspricht jeweils einem Grundzug der Kategorien: Sie sind nämlich 1) Begriffe des reinen, nicht empirischen Verstandes. 2) Sie gehören dem Verstand, nicht der Sinnlichkeit an; das bedeutet, sie sind Elemente der Spontaneität, nicht der Rezeptivität. 3) Sie sind ursprünglich erworbene, nicht angeborene oder abgeleitete Begriffe. 4) Schließlich, als Bausteine des spontanen Vermögens verstanden, kann das System der spekulativen Erkenntnis von den Kategorien her aufgebaut werden. In diesem Kontext muss die metaphysische Deduktion den Ursprung der Kategorien bis zu den Urhandlungen bzw. Urtätigkeiten des Verstandes, verstanden als Vermögen zu denken bzw. als Vermögen der Spontaneität, zurückverfolgen und feststellen. Dazu muss die metaphysische Deduktion bestimmen, welches die Urhandlungen des Verstandes in seinem logischen sowie – gemäß dem Wortlaut der Dissertatio (MSI AA 02: 393) und, wie bald deutlich wird, der Transzendentalen Dialektik hinsichtlich des Vernunftgebrauchs der Transzendentalen Ideen (A 305/B 362) – in seinem realen Gebrauch sind,1016 wodurch der Verstand selbst eine Quelle der Vorstellungen bzw. Begriffe als facta ist. Im ersten Abschnitt des Hauptstücks über den Leitfaden zur Entdeckung der reinen Verstandesbegriffe mit der Überschrift „Von dem logischen Verstandesgebrauches überhaupt“ beginnt Kant mit der ersten Aufgabe oder dem ersten Moment der metaphysischen Deduktion der Kategorien, nämlich mit der Bestimmung der Urhandlungen des Verstandes in seinem logischen Gebrauch.1017 Kant erklärt dabei den Verstand nicht mehr „bloß negativ“ als das „nichtsinnliche Erkenntnisvermögen“ und deswegen als kein „Vermögen der Anschauung“ (A 68–69/B 92), sondern positiv als das Erkenntnisvermögen durch Begriffe. Es handelt sich dabei um die Erklärung des menschlichen Verstandes als diskursiver Verstand: „Es giebt aber außer der Anschauung keine andere Art zu erkennen, als durch Begriffe. Also ist die Erkenntniß eines jeden, wenigstens des menschli1016

1017

Dazu und im Allgemeinen zu der metaphysischen Deduktion als Darstellung der Urhandlungen des Verstandes siehe Caimi, M. „Einige Bemerkungen über die Metaphysische Deduktion“, a. a. O. Wie in Kapitel 9.5.2 noch gezeigt wird, verweist Kant auf einen allgemeineren Begriff des Verstandes, der seinen logischen und realen Gebrauch umfasst, nämlich des Verstandes als „Vermögen der Einheit der Erscheinungen vermittelst der Regel“ (A 302/B 359). Man könnte daraus schließen, dass der Verstand als Vermögen der Einheit der Erscheinungen der „vollständige“ Begriff des Verstandes ist, weil er sowohl den logischen als auch den realen Gebrauch des Verstandes bezeichnet. Ein solch allgemeiner Begriff des Verstandes und der Vernunft ist wichtig für die Erklärung der metaphysischen und transzendentalen Deduktion der Kategorien und der Ideen. Eine Unterteilung des Arguments in zwei Aufgaben bzw. Etappen, nämlich in die Feststellung der Urhandlungen des Verstandes in seinen logischen und realen Gebrauch, wendet sich z. B. gegen Horstmann und lehnt sich an Caimi an. Vgl. Horstmann, R. P. „Die metaphysische Deduktion in Kants ‚Kritik der reinen Vernunft‘“. In: Tuschling, B. (Hrsg.). Probleme der ‚Kritik der reinen Vernunft‘. Kant-Tagung Marburg 1981, a. a. O.; Caimi, M. „Einige Bemerkungen“, a. a. O.

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chen Verstandes eine Erkenntniß durch Begriffe, nicht intuitiv, sondern discursiv“ (A 69/B 92–93). Kant erklärt weiter das datum, von dem die ursprüngliche Erwerbung der Kategorien und folglich das Faktum ausgehen und um dessen quid iuris es bei der transzendentalen Deduktion geht. Während die Anschauungen, das heißt die Rezeptivität, auf Affektionen beruhen, beruhen die Begriffe, also die Spontaneität, auf Funktionen. Durch die Anschauung affektieren die Gegenstände das Subjekt, das sie daher als singuläre Vorstellungen empfängt; im Gegensatz dazu werden durch die Begriffe die Gegenstände unter allgemeine Vorstellungen gebracht. Die Funktionen sind daher „die Einheit der Handlung, verschiedene Vorstellungen unter einer gemeinschaftlichen zu ordnen“ (A 69/ B 93). Eine solche gemeinschaftliche oder allgemeine Vorstellung ist der Begriff.1018 Daraus folgt, dass die der Funktion eigentümliche Handlung, Vorstellungen unter allgemeinere Vorstellungen zu bringen, ein Merkmal der Spontaneität ist: „Begriffe gründen sich also auf der Spontaneität des Denkens, wie sinnliche Anschauung auf der Rezeptivität der Eindrücke“ (A 68/B 93). 1018

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In der vorliegenden Arbeit kann nicht näher auf den Unterschied zwischen Begriff als allgemeine Vorstellung (representatio discursiva oder representatio per notas communes) und Anschauung als einzelne Vorstellung (representatio singularis) eingegangen werden. Vgl. dazu Codato, L. „Lógica Formal e Transcendental: Kant e a questão das relações entre intuição e conceito no juízo“. In: Analytica, Vol. 10, N. 2, 2006; Prien, B. Kants Logik der Begriffe. Die Begriffslehre der formalen und transzendentalen Logik Kants. Berlin [u. a.]: De Gruyter, 2006, S. 51f. Das diskursive Denken wird als die Erkenntnis durch Begriffe, das heißt cognitio discursiva, definiert. Vgl. Log, AA 09: 91: „Alle Erkenntnisse, das heißt: alle mit Bewußtsein auf ein Object bezogene Vorstellungen sind entweder Anschauungen oder Begriffe. Die Anschauung ist eine einzelne Vorstellung (repraesentatio singularis), der Begriff eine allgemeine (repraesentatio per notas communes) oder reflectirte Vorstellung (repraesentatio discursiva). Die Erkenntniß durch Begriffe heißt das Denken (cognitio discursiva)“. Siehe auch A 320/B 376–377. Während die Anschauung uns einen einzelnen Gegenstand liefert und dem Subjekt eine in Raum und Zeit gegebene, einzelne Sache vorstellt, stellt der Begriff seinen Gegenstand auf eine allgemeine Weise vor. Das heißt, er denkt einen solchen Gegenstand durch die Vorstellung von etwas Allgemeinem, das vielen Sachen zukommt, und bezieht sich damit indirekt, nämlich durch Merkmale, auf den in Raum und Zeit gegebenen Gegenstand. In der Transzendentalen Ästhetik bestimmt Kant die Eigentümlichkeit des Begriffs, indem er ihn und den Raum als reine Anschauungsform einander gegenüberstellt (A 25/B 39–40). Anders als die reine Raumvorstellung als reine Form der Sinnlichkeit wird der Begriff dadurch definiert, dass er eine Vorstellung ist, die in einer Menge von Gegenständen enthalten ist, welche demnach unter einem solchen Begriff enthalten sind, der demzufolge als eine allgemeine Vorstellung betrachtet wird. Die von Kant erwähnte Begrenzung, dass man keinen Begriff als Vorstellung denken kann, die eine unendliche Menge von Vorstellungen in sich enthält, bringt eigentlich ihren allgemeinen Charakter als für viele andere Vorstellungen gültige Vorstellung zum Ausdruck. Außer den reinen Anschauungsformen kann nur ein Gegenstand in sich und nicht unter sich eine unendliche Anzahl von Vorstellungen haben. Ein solcher Gegenstand wäre durchgängig bestimmt, das heißt ein einzelnes Ding, das in sich das „All der Realität“ enthielte. Dies ist bekanntlich das „Transzendentale Ideal“ (A 571–573/B 599–601). Im Gegensatz zu der Anschauung betrifft das transzendentale Ideal die transzendentale Bedingung des „Inhalts“, nicht der „Form“ aller möglichen Vorstellungen. Ironischerweise hängt der allgemeine Charakter des Begriffs als allgemeine Vorstellung von dieser ihm eigentümlichen Begrenzung ab, nämlich eine Vorstellung zu sein, die ihrem „Gehalt“ nach eine begrenzte und endliche Menge von anderen Vorstellungen ist. Es wird daher ersichtlich, dass sich auch in Bezug auf die Definition von „Begriff“ und „Anschauung“ als Vorstellungen die radikale Kluft zwischen Rezeptivität und Spontaneität wiederfindet.

Nach der positiven Erklärung der (logischen) Eigentümlichkeit des spontanen Erkenntnisvermögens als Einheit der Handlung, Vorstellungen unter allgemeinere Vorstellungen zu bringen, und daher als Vermögen der Begriffe erörtert Kant den logischen Gebrauch des Verstandes als ein Vermögen zu urteilen. Da die Anschauung auf der Affektion beruht, bezieht sie sich unmittelbar auf einen Gegenstand; der Begriff beruht hingegen auf Funktionen, weshalb er sich nur mittelbar auf einen Gegenstand bezieht, nämlich durch weitere allgemeine Vorstellungen. „Das Urteil ist also die mittelbare Erkenntnis eines Gegenstandes, mithin die Vorstellung einer Vorstellung desselben“ (A 68/B 94). Die Urteile sind daher „Funktionen der Einheit unter unsern Vorstellungen“ (A 69/B 94) und folglich Handlungen der Einheit von verschiedenen allgemeinen Vorstellungen unter allgemeineren Vorstellungen. Da man, so Kant, „alle Handlungen des Verstandes auf Urteile zurückführen“ kann, wird „der Verstand überhaupt als ein Vermögen zu urteilen“ vorgestellt (A 69/B 94). Auf dieser Grundlage nimmt er die in der Einleitung zur Transzendentalen Logik dargestellte, noch negative Definition des Verstandes als Vermögen zu denken (A 51/B 76) wieder auf und erörtert bereits auf positive Weise, was das Denken als wesentliches Merkmal des Verstandes für einen bloß logischen Standpunkt bedeutet. Wenn nun der Verstand Urteil ist und Urteil die Erkenntnis durch Begriffe, dann ist „Denken d[ie] Erkenntnis durch Begriffe“ (A 69/B 94). Daraus ergibt sich, wie Kant im zweiten Abschnitt des Leitfaden-Kapitels zu tun beansprucht, dass auf die Entdeckung aller Funktionen des Verstandes in seinem logischen Gebrauch die Entdeckung aller Funktionen der Einheit in Urteilen erfolgt, das heißt die Entdeckung aller Urhandlungen, die das logische Verhältnis zwischen Begriffen bestimmen und a fortiori das Denken als Erkenntnis durch Begriffe erklären. Diese „logische[n] Funktionen des Verstandes in Urteilen“ (A 70/B 95) sind bekannt1019 – sie bilden die Tafel, in der die „Funktionen des Denkens“ als „Tafel der Funktionen (Urhandlungen) des Verstandes“1020 vorgestellt werden. Solche bloß logischen Funktionen des Verstandes bzw. der Urteile werden in Abstraktion von jedem Inhalt des Denkens, sprich von aller Beziehung mit der Sinnlichkeit bzw. Rezeptivität dargestellt. Die logischen Funktionen des Urteils sind also die Urhandlungen des logischen, noch abstrakten Verstandesgebrauchs. Die erste Aufgabe bzw. der erste Moment der metaphysischen Deduktion kommt damit zu seinem Ende.1021 Diese erste Aufgabe beschränkt sich darauf, die Urhandlungen des logischen Gebrauchs des Verstandes darzustellen. Die Feststellung der Funktionen des Denkens als reine Verstandesbegriffe in einem noch unbestimmten Zusammenhang mit einem möglichen Mannigfaltigen der Anschauung ist Aufgabe des dritten Abschnittes des Leitfaden-Kapitels, der sich nicht mit dem bloß logischen, sondern auch mit dem realen Verstandesgebrauch beschäftigt. Nach der Bestimmung der logischen Urhandlungen des Verstandes 1019

1020 1021

Nämlich 1) Quantität, 2) Qualität, 3) Relation und 4) Modalität. Diese vier Titel sind jeweils in drei weitere Momente geteilt: in 1a) allgemeine, 1b) besondere und 1c) einzelne; 2a) bejahende, 2b) verneinende und 2c) unendliche; 3a) kategorische, 3b) hypothetische und 3c) disjunktive; und schließlich 4a) problematische, 4b) assertorische und 4c) apodiktische. Vgl. A 70/B 95. Vgl. Caimi, M. „Einige Bemerkungen“, a. a. O., S. 267. Ebd.

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muss in diesem Moment der metaphysischen Deduktion ihre zweite Aufgabe erfüllt werden, nämlich die Urhandlungen des Verstandes in dessen realem Gebrauch zu bestimmen.1022 Dabei lassen sich die Kategorien als ursprünglich erworbene Begriffe erklären. Im Gegensatz zu dem logischen Verstandesgebrauch, der sich mit der Unterordnung von Vorstellungen unter allgemeinere Vorstellungen begnügt, soll der reale Verstandesgebrauch ein Mannigfaltiges der Sinnlichkeit a priori aufnehmen, „um zu den reinen Verstandesbegriffen einen Stoff zu geben“, einen Inhalt, „ohne den sie […] völlig leer sein würden“ (A 77/B 102). Dafür ist jedoch eine andere Handlung des Verstandes erforderlich, nämlich die Synthesis: „Die Spontaneität unseres Denkens erfordert es, dass dieses Mannigfaltige zuerst auf gewisse Weise durchgegangen, aufgenommen, und verbunden werde, um daraus eine Erkenntnis zu machen. Diese Handlung nenne ich Synthesis“ (A 77/B 102). Die Synthesis des Verstandes „in der allgemeinsten Bedeutung“ ist also diejenige Handlung, die „verschiedene Vorstellungen zu einander hinzu[tut] und ihre Mannigfaltigkeit in einer Erkenntnis [begreift]“ (A 77/ B 103). Die Synthesis des Verstandes ist das transzendentale bzw. reale Korrelat der logischen Funktion als Handlung der bloß logischen Unterordnung von Begriffen. Während die Funktion die Urhandlung des logischen Verstandesbegriffs ist, ist die Synthesis die Urhandlung des transzendental-realen Verstandesgebrauchs, durch den der Verstand „uns Erkenntnis in eigentlicher Bedeutung verschafft“ (A 78/B 103). Mit der Feststellung aller Urhandlungen des realen Gebrauchs des Verstandes und demzufolge der zwölf Kategorien erfüllt die metaphysische Deduktion ihre zweite und letzte Aufgabe. Die metaphysische Deduktion der Kategorien ist die Untersuchung über das quid facti der Kategorien als ursprünglich erworbene Begriffe aus dem Grund des spontanen Elements des menschlichen Erkenntnisvermögens. Kant schreibt in § 26 der B-Deduktion, dass „in der metaphysischen Deduktion der Ursprung der Kategorien a priori überhaupt durch ihre völlige Zusammentreffung mit den allgemeinen logischen Funktionen des Denken dargetan [wird]“ (B 159). Die Kategorien haben ihren Ursprung in derselben Handlung bzw. werden ursprünglich durch dieselbe Handlung erworben, die auf einem logischen Standpunkt Begriffe als allgemeine Vorstellungen, die mit einer „Menge“ von anderen allgemeinen Vorstellungen in Zusammenhang stehen, und auf einem transzendental-realen Standpunkt reine (Ur-)Begriffe als allgemeine Vorstellungen, die sich aber auf eine andere Art von „Menge“, nämlich auf das Mannigfaltige der Sinnlichkeit beziehen, hervorbringt. Dieselbe Funktion, welche den verschiedenen Vorstellungen in einem Urteile Einheit gibt, die gibt sich auch der bloßen Synthesis verschiedener Vorstellungen in einer Anschauung Einheit, welche, allgemein ausgedrückt, der reine Verstandesbegriff heißt (A 79/B 104).

Derselbe Verstand, dieselbe Spontaneität, welche die Einheit der Begriffe nach der Form eines Urteils (logischer Verstandesgebrauch) hervorbringt, bringt auch die Einheit des Mannigfaltigen in der Anschauung überhaupt und folglich einen „transzendentalen Inhalt“ (A 79/B 105) für ihre Vorstellungen hervor (transzendental-realer Verstandesgebrauch). Da diese zwei Tätigkeiten „durch diesel1022

332

Ebd., S. 264.

ben Handlungen“ (A 79/B 104–105) geleistet werden, gibt es sozusagen eine Homologie zwischen Urteil und Kategorie, Funktion und Synthesis, logischem und transzendental-realem Verstandesgebrauch. Zum näheren Verständnis einer solchen einheitsstiftenden Handlung, die der Funktion und der Synthesis vorhergeht, bedarf es eines Blicks auf den Beweisgang der transzendentalen Deduktion sowie der Darstellung der transzendentalen Apperzeption als eines „Uraktes“, der die Einheit aller Vorstellungen des Subjekts stiftet (Vgl. B 131–133), wie im Folgenden gezeigt wird. Für Kants gegenwärtige Absicht in der metaphysischen Deduktion muss der Hinweis genügen, dass die Urteile und die Kategorien, der logische und der transzendental-reale Verstandesgebrauch auf ein und demselben Urakt des Gemüts gründen. Es entstehen so viele reine Verstandesbegriffe, sprich aus Angeborensein des Verstandes als Vermögen des Denkens durch Begriffe ursprünglich erworbenen Begriffe, wie es logische Funktionen als Urhandlungen des logischen Verstandesgebrauchs gibt. Es handelt sich hierbei um die bekannte Tafel der Kategorien (A 80/B 106),1023 mit der die zweite und wichtigste Aufgabe der metaphysischen Deduktion einhergeht, nämlich die Feststellung der Kategorien als Grundformen des Urteils bzw. Denkens von Gegenständen. Hierbei wird das Faktum festgestellt, dass die Kategorien die einzige Möglichkeit zum Denken von Gegenständen für einen diskursiven Verstand sind. Dabei geht es um einen Verstand, der ein von anderswoher gegebenes Mannigfaltiges vereinigen muss.1024 Die transzendentale Deduktion soll wiederum die Rechtmäßigkeit des hier erhobenen und bezüglich seines Ursprungs untersuchten bzw. festgestellten Anspruchs prüfen und eine Entscheidung treffen. Die Kategorien sind daher das Faktum, von dem die transzendentale Deduktion ausgehen muss. Sie sind durch die Urhandlungen des Verstandes als (spontanes) Vermögen zum Denken ursprünglich erworbene Begriffe. Außerdem lassen sie sich insofern als Faktum erklären, als sie zugleich das Ergebnis einer Tätigkeit des Verstandes sind, nämlich die (logischen) Urteile und die (transzendentalen) Kategorien, und die Tätigkeit selbst, nämlich die (logische) Funktion oder (transzendentale) Synthesis als Urhandlungen oder Acta der Spontaneität (B 132). Als Ergebnis der Tätigkeit sind die Kategorien die reine Vorstellung des Verstandes, die auf diese transzendental-reale Urhandlung erfolgen; als die Tätigkeit selbst sind sie die Regel der „Synthesis möglicher Anschauungen, die a priori nicht gegeben sind“ (A 719/B 747), oder Regeln der „Synthesis der em1023

1024

Nämlich, 1) Quantität, 2) Qualität, 3) Relation und 4) Modalität. Diese vier Titel werden jeweils in drei Momente geteilt: 1a) Einheit, 1b) Vielheit und 1c) Allheit; 2a) Realität, 2b) Negation und 2c) Limitation; 3a) Inhärenz und Subsistenz (substantia et accidens), 3b) Kausalität und Dependenz (Ursache und Wirkung) sowie 3c) Gemeinschaft (Wechselwirkung zwischen dem Handelnden und Leidenden); und schließlich 4a) Möglichkeit – Unmöglichkeit, 4b) Dasein – Nichtsein und 4c) Notwendigkeit – Zufälligkeit. Vgl. A 80/ B 106. „Der Verstand ist das Vermögen zu Urtheilen und selbst alle unsre Begriffe sind nur zum Behuf möglicher Urtheile. Urtheilen ist die Handlung des Verstandes; alle reinen Verstandesbegriffe werden also im Grunde nichts andres seyn, als Bestimmungen a priori wie wir über Gegenstände Urtheilen […]. Wenn ich mir nun ein Ding so denke, daß das Mannigfaltige der Anschauung in einem Bewustseyn des Objects gedacht wird, so heißt diese Handlung ein reiner Verstandesbegriff und diese reinen Verstandsbegriffe nennt man Categorien“ (V-Met/Schön AA 28: 480).

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pirischen Anschauung“ (A 722/B 750; A 723/B 751) bzw. der „Synthesis möglicher Empfindungen, sofern sie zur Einheit der Apperzeption (in einer möglichen Erfahrung)“ (A 723/B 751) gehören. Insoweit sind die Kategorien die Grundbestimmung des Verstandes als Erkenntnis durch Begriffe. Es wird hier ersichtlich, dass die gleiche Zweideutigkeit des Faktums der praktischen Vernunft als Tätigkeit („deed“) und Ergebnis einer solchen Tätigkeit („product of such deed“) auch im Fall der Feststellung des Faktums der spekulativen Vernunft mit Blick auf die reinen Verstandesbegriffe gilt. 9.4.2 Die transzendentale Deduktion der reinen Verstandesbegriffe Nach der Feststellung, dass die Kategorien ursprünglich durch den Verstand erworbene Begriffe sind (quid facti), ist es nun zwingend, die Rechtmäßigkeit der von diesen Begriffen erhobenen Ansprüche zu prüfen. Es ist demnach zu untersuchen, ob sie sich auf einen Gegenstand a priori beziehen, das heißt, ob sie in der Tat die Einheit eines in einer Anschauung von Raum und Zeit gegebenen, empirischen Mannigfaltigen stiften und dadurch die Bedingungen der Möglichkeit der Erfahrung sind (quid iuris). So formuliert, stellt sich die Frage nach den Kategorien als reinen, die Erfahrung ermöglichenden Begriffen und als ein noch zu prüfendes ius controversum.1025 In einem Zusatz zu § 14 der B-Deduktion stellt Kant dar, wie Locke und Hume die Möglichkeit jener Begriffe a priori behandelt haben, die ihrerseits wieder die Erfahrung ermöglichen. Locke hat demnach die „reinen Begriffe des Verstandes in der Erfahrung“ gesucht und „sie von der Erfahrung abgeleitet“, sodass er die Grenzen ihre Möglichkeit völlig übersah, wenngleich er die Möglichkeit einer Erkenntnis aus reinen Begriffen annahm. Er wagte stattdessen „Versuche zu[r] Erkenntnis“, „die weit über die Erfahrungsgrenze hinausgehen“ (B 127). Obwohl Hume wiederum den Beweis des apriorischen Ursprungs der reinen Verstandesbegriffe als Nachweis der Begrenzung der Erkenntnis auf den Bereich der möglichen Erfahrung erkannte, konnte er allerdings nicht erklären, wie es möglich sei, daß der Verstand Begriffe, die an sich im Verstande nicht verbunden sind, doch als im Gegenstande notwendig verbunden denken müsse, und darauf nicht verfiel, daß vielleicht der Verstand durch diese Begriffe selbst Urheber der Erfahrung […] sein könne (B 127).

Dies hat, so Kant, Hume zur Ablehnung der die Erfahrung ermöglichenden Begriffe geführt. Folglich hat Locke der „Schwärmerei Tür und Tor geöffnet“, die Erkenntnis über die Erfahrungsgrenze hinaus zu erweitern, während Hume sich dem „Skeptizism“ gegen die Möglichkeit aller Erkenntnis a priori überhaupt ge1025

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Henrich teilt das ius controversum der transzendentalen Deduktion in zwei verschiedene Anfechtungen: Erstens gebe es keine Grundsätze a priori, das heißt, es gebe keine der Erfahrung vorausgehenden Grundsätze. Selbst wenn es diese Grundsätze gäbe, wären sie zweitens nicht aus dem Selbstbewusstsein erklärbar. Vgl. Henrich, D. Identität und Objektivität, a. a. O., S. 16. Die Rekonstruktion des Arguments der Deduktion muss daher der Reihenfolge solcher Anfechtungen folgen. Man geht zuerst von einer Analyse der Objektivität aus und schreitet danach zu der Untersuchung der Identität des Selbstbewusstseins. Eine solche Teilung entspricht der wirklichen Teilung des Beweisganges der B-Deduktion.

widmet hat. Mit Blick auf dieses ius controversum über die Rechtmäßigkeit und Grenzen der Kategorien als reine Begriffe (gegen Locke), die die Erfahrung zunächst ermöglichen (gegen Hume), ficht Kant die „empiristische“ Position an und verteidigt (provisorisch) die für die Kategorien günstige „rationalistische“ Position.1026 Kant will in der Tat die menschliche Vernunft zwischen diesen beiden Klippen [scil. Schwärmerei und Skeptizism] glücklich durchbringen, ihr bestimmte Grenzen anweisen und dennoch das ganze Feld ihrer zweckmäßigen Thätigkeit für sie geöffnet erhalten können (B 128).

Man könnte sich fragen, ob die metaphysische Deduktion nicht dazu ausreiche, Locke und Hume zurückzuweisen und auf diese Weise das quid iuris aufzulösen. Kant verneint dies, und der § 13 der B-Deduktion macht den Grund dafür deutlich. Im Gegensatz zu den Begriffen des Raums und der Zeit, deren „transzendentale Deduktion“ ihre „objektive Gültigkeit a priori erklärt und bestimmt“ (A 87/B 119–120), „zeigt sich eine Schwierigkeit“ beim spontanen Teil unserer Erkenntnisvermögen, die wir im Felde der Sinnlichkeit nicht antrafen, wie nämlich subjective Bedingungen des Denkens sollten objective Gültigkeit haben, d. i. Bedingungen der Möglichkeit aller Erkenntniß der Gegenstände abgeben: denn ohne Functionen des Verstandes können allerdings Erscheinungen in der Anschauung gegeben werden (A 89–90/B 122, Hervorh. d. Verf.).

Daraus ergibt sich, dass sich aus dem Nachweis der subjektiven Gültigkeit der Kategorien als notwendige, subjektive Bedingungen des diskursiven Denkens (die metaphysische Deduktion als Nachweis der „transzendentalen (subjektiven) Realität“ der Kategorien) nicht automatisch der Nachweis der objektiven Gültigkeit und Realität der Kategorien, das heißt ihrer Beziehung a priori auf Gegenstände der möglichen Erfahrung, ergibt. Es geht um dieselbe Frage, die sich Kant im Februar 1772 in einem Brief an Herz bereits stellte, nämlich darum, wie die subjektiven Bedingungen des Denkens (Begriffe, Urteile) objektive Gültigkeit, sprich eine Beziehung auf Gegenstände haben können, wenn der Mensch passiv und aktiv ist, also einen diskursiven Verstand hat, dessen Urhandlungen nicht zur unmittelbaren Hervorbringung des Gegenstandes dienen, sondern nur vermittelst der Synthesis eines Mannigfaltigen. Dass es nun Gegenstände der möglichen Erfahrung und Begriffe, durch die wir jene erkennen, gibt, bedeutet noch nicht, dass solche Begriffe rein, a priori und die Bedingung der Möglichkeit solcher Gegenstände sind. Selbst wenn man eine reine Synthesis des Versandes a priori (das heißt etwas subjektiv Notwendiges) annimmt, beweist man damit nicht, dass eine solche Synthesis aller Erfahrung als Bedingung ihrer Möglichkeit vorangeht. Das bedeutet, dass die reine Synthesis des Verstandes die Bedingung der Objektivität des Denkens ist.1027 Es kann sein, dass die Synthesis sich darauf be1026

1027

„Ob sie [die Erkenntnis] aber auch allein von der Erfahrung, als dem obersten Erkenntnißgrunde, abzuleiten sey, dies ist eine quaestio iuris, deren bejahende Beantwortung den Empirism der Transscendentalphilosophie, die Verneinung den Rationalism derselben einführen würde“. FM AA 20: 275. Vgl. Brandt, R. Die Bestimmung des Menschen bei Kant, a. a. O., S. 275. Vgl. Henrich, D. Objektivität und Identität, a. a. O., S. 23ff.

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schränkt, Regelmäßigkeiten zu erkennen und verstreute Einheiten von Erfahrungselementen zu stiften. In diesem Fall wäre sie lediglich empirisch bedingt, wie etwa, so Kant laut § 13 (A 90–92/B 122–124), bei Hume. Man kann also zu dem Schluss gelangen, dass die bloße Feststellung, es gebe reine Verstandesbegriffe, kein Beweis dafür ist, dass diese „also [nicht] ganz leer, nichtig und ohne Bedeutung wäre[n]“ (A 90/B 123). Dies läuft darauf hinaus, dass man bei der Begründung der Möglichkeit der Erfahrung aus den reinen Verstandesbegriffen über die metaphysische Deduktion hinausgehen muss. Anders gesagt: Die Feststellung des Faktums bei dem quid facti reicht nicht aus, um die Frage nach dem quid iuris zu stellen und aufzulösen. Was also ist das Ziel der transzendentalen Deduktion und wie will Kant es erreichen?1028 Die metaphysische Deduktion hat festgestellt, dass die Kategorien ursprünglich vom Verstand durch seine Urhandlungen erworbene Begriffe sind, die „der bloßen Synthesis verschiedener Vorstellungen in einer Anschauung Einheit“ geben (A 79/B 104–105). Wenn dem so ist, dann muss die transzendentale Deduktion den Anspruch der Kategorien auf eine Gegenstandesbezogenheit a priori prüfen (A 85/B 117), das heißt untersuchen, ob sie wirklich „als Bedingungen der Möglichkeit der Erfahrung a priori erkannt werden müssen“ (A 94/B 126) bzw. ob sie nicht „ganz leer, nichtig und ohne Bedeutung“ sind (A 90/B 123). Dazu sind im Beweisgang der B-Deduktion zwei Etappen erforderlich. Erstens muss bewiesen werden, dass man allein durch die Kategorien und die darin enthaltenen Regeln der Synthesis des Verstandes die Einheit irgendeines sinnlichen Mannigfaltigen einer Anschauung überhaupt stiften und demzufolge allein durch die Kategorien zu der Objektivität des Denkens bei einem diskursiven Verstand, der seinen Gegenstand nicht aus sich selbst erzeugt, gelangen kann.1029 Erst danach erreicht die transzendentale Deduktion zweitens ihr vollständiges Ziel, nämlich den Beweis, dass man allein durch die Kategorien die Einheit eines durch die zwei reinen Anschauungsformen des Menschen (sei es Raum und Zeit als „Formen der sinnlichen Anschauung“ oder als Anschauungen selbst, „die ein Mannigfaltiges enthalten“; B 160–161) gegebenen empirischen Mannigfaltigen stiften und demzufolge die mögliche Erfahrung als wohlgeordnete Inbegriffe verknüpfter Wahrnehmungen ermöglichen kann (B 163). Den zwei Etappen der B-Deduktion entspricht die Zweiteilung ihres Beweisganges in zwei verschiedene, aber zusammenhängende Beweise, nämlich den Beweis der objektiven (nicht mehr nur subjektiven) Gültigkeit (§ 15–20) und den Beweis der objektiven (nicht mehr nur subjektiven) Realität der Kategorien (§ 21–27).1030 1028

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Über die Schwierigkeiten, den „inhaltlichen Zweck“ der transzendentalen Deduktion genau zu bestimmen, siehe Caimi, M. „Zum Problem des Zieles einer transzendentalen Deduktion“, a. a. O. In diesem Sinne sind die Kategorien selbst die Bedingung der Objektivität. Das bedeutet, sie sind Regeln der Synthesis eines Gegenstands überhaupt. „Sie sind Begriffe von einem Gegenstande überhaupt, dadurch dessen Anschauung in Ansehung einer der logischen Funktionen zu Urteilen als bestimmt angesehen wird“ (B 128). Die Kategorien bestimmen die Funktion, die die in einem Urteil verwendeten Begriffe spielen (B 129) (z. B. ob ein Körper, der in einer sinnlichen Anschauung gegeben wird, als Substanz oder Akzidenz gilt). Vgl. Henrich, D. Objektivität und Identität, a. a. O., S. 25–34. Vgl. u. a. Caimi, M. „Zum Problem des Zieles einer transzendentalen Deduktion“, a. a. O.; Allison, H. Kant’s Transcendental Idealism, a. a. O.; Henrich, D. „The Proof Structure of

In der ersten Etappe der B-Deduktion beweist Kant, dass jedes in der Sinnlichkeit gegebene Mannigfaltige als das „Mannigfaltige Einer Anschauung“1031 (B 144) betrachtet werden muss und daher ein Gegenstand überhaupt ist, sofern er unter der synthetischen Einheit der transzendentalen Apperzeption steht und dadurch als einem Bewußtsein eines Subjekts angehörend vorgestellt wird. Der Hintergrund des kantischen Arguments ist auch hier die Dualität zwischen Sinnlichkeit und Verstand, Rezeptivität und Spontaneität. In § 15 führt Kant den Begriff der Verbindung des Mannigfaltigen einer Anschauung überhaupt als das ein, was kein Erzeugnis der Sinne sein kann und deshalb ein wesentliches Merkmal der Spontaneität des Verstandes ist. Die Verbindung oder auch conjunctio eines Mannigfaltigen überhaupt (oder von „mancherlei Begriffe[n]“; B 130) ist ein „Actus der Spontaneität der Vorstellungskraft“ oder ein „Actus seiner [scil. des Subjekts] Selbstätigkeit“ und folglich einer „Verstandeshandlung“ (B 129–130). Es geht dabei darum, mit der Beantwortung der in der metaphysischen Deduktion offen gebliebenen Frage nach einem Oberbegriff der Urhandlungen des Verstandes, unter welchem sowohl die Funktion in den Urteilen als auch die Synthesis in den Kategorien als ursprünglich erworbene Begriffe stehen, zu beginnen. Allerdings nimmt Kant außer der Funktion und der Synthesis noch einen höheren Begriff der Urhandlungen des Verstandes an. Der Begriff der Verbindung umfasst nun den der Einheit insofern, als er die Vorstellung einer synthetischen Einheit des Mannigfaltigen selbst bezeichnet (B 130–131). Jedes Mannigfaltige, das als Ein Mannigfaltiges vorgestellt wird, bringt als seine Bedingung den Begriff von Einheit mit sich. Die Vorstellung einer solchen Einheit kann aber nicht aus der Vorstellung der Verbindung selbst entstehen, denn die Vorstellung der Einheit selbst, genauer der qualitativen Einheit als „Einheit der Zusammenfassung des Mannigfaltigen der Erkenntnisse“, macht den Begriff der Verbindung „allererst möglich“ (B 131). In § 16 erklärt Kant, was der „Grund der Einheit“ sowohl der Begriffe in einem Urteil (Funktion) als auch eines Mannigfaltigen in einer Anschauung (Synthesis) und demzufolge der „Möglichkeit des Verstandes“ (B 131) ist. Dies ist bekanntlich die „reine Apperzeption“ bzw. die „ursprüngliche Apperzeption“ (B 132). Die transzendentale Apperzeption ist der Garant des apriorischen Charakters jeder in allen Urhandlungen des Verstandes in seinem logischen und transzendentalen Gebrauch vorausgesetzten und mitbestimmten Einheit. Die anschauliche Vorstellung wird als „Eine“ Vorstellung begriffen. Das bedeutet, das in einer Anschauung überhaupt gegebene Mannigfaltige wird als einheitli-

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Kant’s Transcendental Deduction“, a. a. O. Carl fasst die zwei Etappen der B-Deduktion folgendermaßen zusammen: „[D]er Gedankengang, der mit § 20 endet, soll zeigen, daß die Kategorien für alles, worauf sich gegebene Anschauungen beziehen, gelten sollen (vgl. B 143), während die zweite Überlegung den Nachweis der Gültigkeit der Kategorien für alle Gegenstände der Erfahrung in Raum und Zeit erbringen soll (vgl. B 160f)“. Carl, W. „Die transzendentale Deduktion in der zweiten Auflage“. In: Mohr, G. & Willaschek, M. (Hrsg.). Kritik der reinen Vernunft. Klassiker Auslegen, a. a. O., S. 189f. Zur Sekundärliteratur vgl. u. a. ebd., S. 208–211. Der Großbuchstabe in „Einer“ weist darauf hin, so D. Heinrich, dass Kant in der ersten Etappe der Deduktion in B die Betonung auf die grundlegende Einheit des Verstandes liegt. Vgl. Henrich, D. „The Proof Structure of Kant’s Transcendental Deduction“, a. a. O.

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ches Mannigfaltiges („ein gegebenes Mannigfaltiges Einer Anschauung“; B 144) betrachtet, sofern es von der transzendentalen Apperzeption vereinheitlicht und demnach eine meiner Vorstellungen wird („Das: Ich denke, muß alle meine Vorstellungen begleiten können“; B 131). Erst wenn das Mannigfaltige der Anschauung vereinheitlicht wird, kann man sich überhaupt einen Gegenstand vorstellen. Auf der Grundlage einer solchen Konzeption des Selbstbewusstseins als ein die Objektivität einer Vorstellung einheitsstiftendes Grundvermögen erfolgt die Erklärung des Verstandes als „das Vermögen, a priori zu verbinden und das Mannigfaltige gegebener Vorstellungen unter Einheit der Apperception zu bringen, welcher Grundsatz der oberste im ganzen menschlichen Erkenntniß ist“ (B 135). Dadurch wird die Strategie Kants bei der ersten Etappe der transzendentalen Deduktion deutlicher. Aus der Diskursivität des menschlichen Verstandes ergibt sich ein Erfordernis, von dem man „nicht abstrahieren“ kann (B 145) und das besagt, dass der Gegenstand sich für uns nur insofern bildet, als ein Mannigfaltiges von anderswoher (von der Anschauung überhaupt) gegeben und dann durch den Verstand in einen Begriff von Gegenstand gebunden wird. „[E]in Verstand, in welchen durch das Selbstbewußtsein zugleich alles Mannigfaltige gegeben würde, würde anschauen“ (B 135) und nicht denken, wie der menschliche Verstand es tut. Aus der Eigentümlichkeit des menschlichen Verstandes folgt daher „der oberste Grundsatz aller Anschauung in Beziehung auf den Verstand“, nämlich „dass alles Mannigfaltige der Anschauung unter Bedingungen der ursprünglich-synthetischen Einheit der Apperzeption stehe“ (B 136), wie der Titel von § 17 besagt. Die ursprünglich-synthetische Einheit der Apperzeption ist also nicht der Grundsatz eines jeden möglichen Verstandes, wie etwa des göttlich-intuitiven Verstandes, sondern vielmehr eines menschlich-diskursiven Verstandes, eines Verstandes also, „durch dessen reine Apperzeption in der Vorstellung: Ich bin, noch gar nichts Mannigfaltiges gegeben ist“ (B 138, Hervor. d. Verf.). Für den Menschen reicht daher die synthetische Einheit der Apperzeption zur Konstitution eines Gegenstandes nicht; er bedarf noch eines von anderswoher, genauer von einem rezeptiven Vermögen gegebenen Mannigfaltigen. In § 18 wird der Unterschied zwischen objektiver (transzendentaler) und subjektiver (empirischer) Einheit der Apperzeption dargestellt, anhand dessen Kant in § 19 das Zustandekommen der logischen Form aller Urteile als Leistung der Apperzeption – genauer der objektiven Einheit derselben – erklärt. Indem er so die Wirkung der Leistung der transzendentalen Apperzeption bis zum Urteil, sprich bis zu den Funktionen, die die Urhandlung des logischen Verstandesgebrauchs ausmachen, erweitert, durchläuft Kant die erste Etappe der B-Deduktion: Es wurde bewiesen, dass „das Mannigfaltige in einer gegebenen Anschauung notwendig unter Kategorien [steht], als Bedingungen, unter denen allein das Mannigfaltige derselben in ein Bewußtsein zusammenkommen kann“ (B 143). Die zweite Etappe der B-Deduktion wird ausdrücklich in § 21 angekündigt. Kant schreibt hier, dass bis dahin nur bewiesen wurde, dass „ein Mannigfaltiges, das in einer Anschauung, die ich die meinige nenne, enthalten ist, durch die Synthesis des Verstandes, als zur notwendigen Einheit des Selbstbewußtseins gehörig vorgestellt [wird], und dieses geschieht durch die Kategorien“ (B 144). Dies be-

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deutet, dass allein gezeigt wurde, wie die Kategorien die Bedingung der Einheit eines Mannigfaltigen in einer sinnlichen Anschauung überhaupt und daher die Bedingung der Objektivität für einen diskursiven Verstand, dessen Stoff von anderswoher kommt, sind. Damit hat man nur, so Kant, den „Anfang einer Deduktion der reinen Verstandesbegriffe“ (B 144). In der zweiten Etappe der B-Deduktion darf man nicht mehr „die Kategorien unabhängig von Sinnlichkeit“ in Betracht ziehen. Damit meint Kant, dass man bei der Betrachtung der Kategorien nicht mehr „von der Art, wie das Mannigfaltige zu einer empirischen Anschauung gegeben w[ird]“, abstrahieren darf; man soll demgegenüber der „Art, wie in der Sinnlichkeit die empirische Anschauung gegeben wird“ (B 144–145), Rechnung tragen. Erst mit dem Beweis von „ihre[r] [scil. der Kategorien] Gültigkeit a priori in Ansehung aller Gegenstände unserer Sinne [wird] die Absicht der Deduktion allererst völlig erreicht“ (B 145, Hervor. d. Verf.). Dazu wendet sich Kant den Arten der Synthesen zu, die bei der Konstitution eines Gegenstands der möglichen Erfahrung für den menschlichen Verstand wirksam sind. In der zweiten Etappe der B-Deduktion geht es daher darum, den Gebrauch der Kategorien auf die Gegenstände einer möglichen Erfahrung (§§ 22– 23)1032 zu beschränken, indem gezeigt wird, dass die in den Kategorien enthaltene Synthesis eines gegebenen Mannigfaltigen überhaupt nur die Synthesis eines in Raum und Zeit gegebenen Mannigfaltigen betrifft. Allein im Rahmen eines solchen Ziels werden die Einführung der transzendentalen Synthesis der Einbildungskraft in § 24 (B 151) als figürliche Synthesis (synthesis speciosa) des Mannigfaltigen der sinnlichen Anschauung1033 sowie die Rede von den Beziehungen zwischen der Apperzeption und der empirischen Selbsterkenntnis am Ende von § 24 und in § 25 (B 153–159) ersichtlich. Der letzte Schritt der zweiten Etappe der B-Deduktion erfolgt in § 26 mit dem Beweis, dass das Mannigfaltige einer empirischen Anschauung unter den Kategorien vereinheitlicht wird und demnach die Wahrnehmung nur durch sie möglich ist. Es wird daher dargelegt, dass durch die Kategorien die Gegenstände nicht nur „der Form ihrer Anschauung, sondern den Gesetzen ihrer Verbindung nach“ (B 159) a priori erkannt werden. Kant muss in diesem Kontext zeigen, dass den Kategorien und der transzendentalen Apperzeption nicht nur die figürliche Synthesis, sondern auch die Synthesis der Apprehension (B 160) unterstellt wird, durch welche sich Raum und Zeit den Kategorien nicht nur „bloß als Formen der sinnlichen Anschauung, sondern als Anschauungen selbst (die ein Mannigfaltiges enthalten)“ (B 160) unterziehen. Kant will damit beweisen, dass

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Wie Caimi entgegen Henrich schreibt, geht es bei der zweiten Etappe der B-Deduktion um eine „Beschränkung des gültigen Anwendungsbereichs der Kategorien“ und nicht, wie Henrich meint, um seine „Erweiterung“. Caimi, M. „Zum Problem des Zieles einer transzendentalen Deduktion“, a. a. O., S. 62. Caimi zufolge ist die Teilung der B-Deduktion in zwei Etappen nur unter der Voraussetzung verständlich, dass das Ziel der Deduktion der Beweis ist, dass die Kategorien keine leeren Begriffe sind. Dieser Zweck wird erst in der zweiten Etappe und unter einer solchen „Beschränkung des gültigen Anwendungsbereichs der Kategorien“ erreicht. „[D]ie transzendentale Synthesis der Einbildungskraft [ist] eine Wirkung des Verstandes auf die Sinnlichkeit und die erste Anwendung desselben (zugleich der Grund aller übrigen) auf Gegenstände der uns möglichen Anschauung“ (B 152).

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alle Synthesis, wodurch selbst Wahrnehmung möglich wird, unter den Kategorien [steht]; und da Erfahrung Erkenntniß durch verknüpfte Wahrnehmungen ist, so sind die Kategorien Bedingungen der Möglichkeit der Erfahrung und gelten also a priori auch von allen Gegenständen der Erfahrung (B 161).

Mit dem Beweis, dass die Kategorien die Bedingungen der Möglichkeit der Erfahrung sind, erreicht Kant die Absicht der transzendentalen Deduktion. Gemäß der Gewohnheit der juridischen Deduktionen 1034 fügt er eine Zusammenfassung, genauer ein „Resultat dieser Deduktion der Verstandesbegriffe“ in der Gestalt eines Syllogismus ein: Wir können uns keinen Gegenstand denken, ohne durch Kategorien; wir können keinen gedachten Gegenstand erkennen, ohne durch Anschauungen, die jenen Begriffen entsprechen. Nun sind alle unsere Anschauungen sinnlich, und diese Erkenntniß, so fern der Gegenstand derselben gegeben ist, ist empirisch. Empirische Erkenntniß aber ist Erfahrung. Folglich ist uns keine Erkenntniß a priori möglich, als lediglich von Gegenständen möglicher Erfahrung (B 165–166).

Kant will auf diese Weise das quid iuris der Gültigkeit der Kategorien a priori entschieden haben. Die Kategorien gelten in der Tat als die Bedingung der Möglichkeit der Erfahrung a priori, und zwar als die einzige Möglichkeit für den Menschen, überhaupt etwas zu erkennen. Deswegen ist „uns keine Erkenntniß a priori möglich, als lediglich von Gegenständen möglicher Erfahrung“. Der in der metaphysischen Deduktion erhobene Anspruch auf den Gebrauch der Kategorien wird legitimiert, jedoch nur in der möglichen Erfahrung. Die Rechtmäßigkeit der Kategorien wird damit auf einen bestimmten Geltungsbereich beschränkt, nämlich auf den der Erfahrung. Kant bringt dies positiv in einer Fußnote zu der gerade zitierten Stelle zum Ausdruck. Durch das vorgestellte Resultat der Deduktion wird lediglich bewiesen, dass die Kategorien nur im „Erkennen dessen, was wir uns denken, [nämlich dem] Bestimmen des Objekts“, der Anschauung bedürfen; im Denken sind sie demgegenüber nicht „durch die Bedingungen unserer sinnlich Anschauung […] eingeschränkt, sondern [haben] ein unbegrenztes Feld“ (B 166). Das heißt, außerhalb der Beziehung mit der Sinnlichkeit, sprich als bloße Formen des Denkens, haben die Kategorien „transscendentale Bedeutung, […] aber [keinen] transscendentalen Gebrauch“ (B 305, Hervor. d. Verf.).1035 Zur Rechtfertigung eines solchen transzendentalen, nicht mehr immanenten, die Erfahrung konstituierenden Gebrauchs – vielleicht durch die „Befreiung“ der Kategorien 1034 1035

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Vgl. oben Kapitel 3.3. „Es kann daher rathsam sein, sich also auszudrücken: die reinen Kategorien ohne formale Bedingungen der Sinnlichkeit haben bloß transscendentale Bedeutung, sind aber von keinem transscendentalen Gebrauch, weil dieser an sich selbst unmöglich ist, indem ihnen alle Bedingungen irgend eines Gebrauchs (in Urtheilen) abgehen, nämlich die formalen Bedingungen der Subsumtion irgend eines angeblichen Gegenstandes unter diese Begriffe. Da sie also (als bloß reine Kategorien) nicht von empirischem Gebrauche sein sollen und von transscendentalem nicht sein können, so sind sie von gar keinem Gebrauche, wenn man sie von aller Sinnlichkeit absondert, d. i. sie können auf gar keinen angeblichen Gegenstand angewandt werden; vielmehr sind sie bloß die reine Form des Verstandesgebrauchs in Ansehung der Gegenstände überhaupt und des Denkens, ohne doch durch sie allein irgend ein Object denken oder bestimmen zu können“ (B 305).

in den transzendentalen Ideen1036 – bedarf es unbedingt einer weiteren transzendentalen Deduktion, die die Befugnisse eines solchen weiteren Gebrauchs in einer neuen quaestio iuris beurteilt. Als Voraussetzung für jeden weiteren Gebrauch der Kategorien bzw. des Verstandes gilt aber die Auffassung, dass die Kategorien nicht angeboren sind, wie etwa bei Plato (KpV AA 05: 141; AA 10: 131) und Leibniz (V-Met/Mron AA 29: 763), oder empirisch erworben sind, wie etwa bei Epikur (KpV AA 05: 141) und Locke (A 86/B 119; B 127), sondern dass es sich vielmehr um ursprünglich erworbene Begriffe handelt. Nur auf diese Weise umschifft man die beiden „Klippen“ der Schwärmerei und des Skeptizismus. 9.5

Die metaphysische und transzendentale Deduktion der transzendentalen Ideen

Wie zu Beginn des vorliegenden Kapitels diskutiert wurde, muss ein in der ganzen KrV vorliegendes juridisches Deduktionsmodell auch auf die Vernunftbegriffe angewandt werden, damit man beurteilen kann, wie und ob Kant den titulus bzw. die Befugnisse und die Rechtsame der transzendentalen Ideen der Vernunft rechtfertigt und ihnen einen bestimmten Geltungsbereich zuweist. Kant muss daher direkt, ostensiv beweisen, dass die transzendentalen Ideen a) eine allgemeine Gültigkeit als ursprünglich erworbene Begriffe (metaphysische Deduktion) und b) im Erfahrungsbereich eine besondere Gültigkeit als regulative Prinzipien (transzendentale Deduktion der Ideen als regulative Prinzipien) haben. Darüber hinaus müssen sie sich als Begriffe erweisen, die c) im Bereich der Moral die moralische Handlung überhaupt („Deduktion“ der Freiheit) und d) den „ganzen Gegenstand einer reinen praktischen Vernunft“, also das höchste Gut (KpV AA 05: 109) (Gott und Seele als Postulate), ermöglichen. Es handelt sich dabei – der rechtlichen Funktion der KrV zufolge – um die Zuweisung von bestimmten Geltungsbereichen für die Vernunftbegriffe. Die Auffassung der Kategorien und damit der Ideen als ursprünglich erworbene Begriffe gilt jeweils als Garantie gegen die Schwärmerei von „überschwengliche[n] Anmaßungen mit Theorien des Übersinnlichen“ (KpV AA 05: 141). Außerdem wendet sie sich gegen den Skeptizismus einer „Hoffnungslosigkeit“ (A 407/B 434), was die Möglichkeit einer „praktischen Erweiterung“ der reinen Vernunft betrifft (KpV, AA 05: 141). Von den oben erwähnten Punkten werden in diesem Abschnitt nur die Punkte a) und b) behandelt, welche die direkten Beweise (also nicht die indirekten in Bezug auf Retorsionen) betreffen. Im Gang der Transzendentalen Dialektik muss Kant auf der Grundlage des Unterschieds zwischen Vernunft und Verstand eine metaphysische Deduktion der Ideen vornehmen und gegen eine transzendentale Deduktion bezüglich ihres konstitutiven Gebrauchs, aber doch für eine transzendentale Deduktion bezüglich ihres regulativen Gebrauchs im spekulativen Bereich argumentieren. In diesem Zu1036

„Wir müssen Erstlich bemerken, daß nur der Verstand es sei, aus welchem reine und transzendentale Begriffe entspringen könne, daß die Vernunft eigentlich gar keinen Begriff erzeuge, sondern allenfalls nur den Verstandesbegriff, von den unvermeindlichen Einschränkungen einer möglichen Erfahrung frei mache“ (A 408–409/B 435). Darauf wird im nächsten Kapitel eingegangen.

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sammenhang erhält die metaphysische Deduktion eine nicht zu vernachlässigende Bedeutung. Kant will die transzendentalen Ideen „metaphysisch“ deduzieren bzw. ableiten, um nachzuweisen, dass sie nicht an sich selbst, sondern nur infolge eines Missbrauchs dialektisch und trügerisch sind. Der Beweis der inneren „Unbetrüglichkeit“ der transzendentalen Ideen erfolgt durch den Nachweis, dass sie in der „Natur der Vernunft“ gelegen sind und dieser entspringen. Dies bedeutet, dass sie den Anspruch erheben, überhaupt gültig zu sein, welcher Anspruch nur wegen des im nächsten Kapitel zu diskutierenden Missbrauchs illegitim wird. Es ist daher nicht übertrieben zu sagen, dass ohne die metaphysische Deduktion der transzendentalen Ideen kein Gebrauch der Vernunftbegriffe überhaupt möglich wäre, den praktischen Vernunftgebrauch eingeschlossen.1037 Der Fehler der Verteidiger der Metaphysik, die die transzendentalen Ideen zu erkennen glauben, tritt erst bei der Anwendung oder „Auslegung“ des durch die Ideen anfänglich erhobenen legitimen Anspruchs auf. Die herkömmlichen Metaphysiker beanspruchen nämlich, dass die Ideen einen Gegenstand im spekulativen Bereich bilden. Vor einem solchen transzendentalen Schein warnt Kant, wie im nächsten Kapitel zu sehen sein wird. 9.5.1 Ähnlichkeiten und Unterschiede zwischen Vernunft und Verstand – Versuch eines Prinzips der metaphysischen Deduktion der transzendentalen Ideen Eine der größten Neuerungen der Transzendentalen Dialektik im Vergleich zur Dissertatio und im Allgemeinen zu den vorkritischen Schriften ist zweifellos die genauere Definition und begriffliche Abgrenzung von Vernunft und Verstand.1038 In der Einleitung zur Transzendentalen Dialektik stellt Kant die Unterschiedsmerkmale und die Affinitäten zwischen Vernunft und Verstand dar, indem er den logischen, transzendentalen und „allgemeinen“ Gebrauch dieser Vermögen vergleicht. Auf den Affinitäten zwischen den beiden beruht die Möglichkeit einer metaphysischen Deduktion der Vernunftbegriffe; auf den Unterschieden beruhen wiederum die Besonderheit der transzendentalen Ideen als „geschlossene“ und nicht „reflektierende Begriffe“ (A 310/B 366–367) und die Unmöglichkeit einer transzendentalen Deduktion eines konstitutiven Gebrauchs der transzendentalen Idee hinsichtlich der Erfahrung, das heißt die Unmöglichkeit einer für

1037 1038

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Vgl. Licht dos Santos, P. „Algumas observações sobre a Dialética Transcendental: o fim da Crítica da razão pura“. In: Studia Kantiana, 6/7, 2008, S. 135–179. M. Grier behauptet, dass der Unterschied zwischen Vernunft und Verstand „is clearly prefigured in Kant’s early thought“. Als Beleg weist sie auf DfS, AA 02: 58–59 hin. „This distinction between the two ‘capacities’ is further elaborated and deepened in the period between the Inaugural Dissertation and the publication of the Critique“. Grier, M. Kant’s Doctrine of Transcendental Illusion. Cambridge [u. a.]: Cambridge University Press, 2001, S. 109f. Obwohl man bei einer großzügigen Auslegung an manchen Stellen der vorkritischen Periode diese „prefiguration“ des kritischen Unterschieds zwischen Vernunft und Verstand (vor allem im spekulativen Bereich) erkennen kann, ist doch unverkennbar, dass die beiden Begriffe hier noch zum großen Teil begrifflich unscharf und austauschbar verwendet werden. Erst um die Mitte der 1770er Jahre, genauer in der KrV, werden beide Begriffe als zwei unterschiedliche und begrifflich bestimmte „Vermögen“ konzipiert. Vgl. Baum, M. „Kritischer Rationalismus“, a. a. O.

die spekulative Vernunft günstigen Entscheidung bei dem quid iuris der spekulativen Erkenntnis der Ideen. Der Reflexion 2853 zufolge sind die Ideen Begriffe, auf die die Vernunft auf natürlichem Wege schließt: Begriffe sind entweder gegeben oder gemacht; jene vel a posteriori vel a priori. Diese entweder [willkürlich oder natürlich] durch Vernunft geschlossene Begriffe: ideen. oder willkürlich gedichtete (Rx 2853 AA 16: 547 (1771–1775)).

Anders als die empirischen, a posteriori gegebenen Begriffe und die reinen, reflektierten und a priori gegebenen Verstandesbegriffe sind die transzendentalen Ideen „für Kant natürlich geschlossene Begriffe, deren Existenz auf die besondere Naturanlage der Vernunft zurückgeführt wird: natürlich (a priori) gemachte Vernunftbegriffe“.1039 Auf dieser Grundlage soll der Darstellung über die Vernunft als Erkenntnisvermögen und der Besonderheit einer subjektiven bzw. metaphysischen Deduktion der Ideen nachgegangen werden. In der Einleitung zur Transzendentalen Dialektik unterscheidet Kant drei verschiedene Begriffe bzw. drei verschiedene Arten des Gebrauchs der Vernunft: a) ein logischer als „Vermögen mittelbar zu schließen“, das von jedem Inhalt der Erkenntnis abstrahiert; b) ein realer bzw. transzendentaler, durch den die Vernunft für sich selbst eine Quelle von Begriffen und Grundsätzen ist (A 299/ B 255); c) schließlich – und schwieriger zu merken – ein „allgemeiner Begriff von dem Vernunftvermögen“ als der „Einheit der Verstandesregeln unter Prinzipien“, das heißt ein Oberbegriff von Vernunft, der, indem die Vernunft als das Vermögen der Prinzipien bezeichnet wird, den logischen und den transzendental-realen Begriff der Vernunft umfasst, so wie der Oberbegriff des Verstandes als „Einheit des Mannigfaltigen der Anschauung unter Regeln“ bzw. als „Vermögen der Regel“ (A 132/B 171) gilt.1040 Der logische Gebrauch der Vernunft begreift die Vernunft als „das Vermögen, mittelbar zu schließen“. Die Schlüsse aus einer einzigen Prämisse, wie die Subalternation,1041 sind unmittelbare Schlüsse und, so Kant, Verstandesschlüsse. Die Schlüsse aus zwei oder mehr Prämissen, wie der kategorische, der hypothetische oder der disjunktive Syllogismus, sind wiederum mittelbare Schlüsse und, so Kant, Vernunftschlüsse, wobei die Vernunft als logisches Vermögen charakterisiert wird (A 303–304/B 359–360). Der transzendental-reale Gebrauch der Ver1039

1040

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Klimmek, N. Kants System der transzendentalen Ideen. New York [u. a.]: De Gruyter, 2005, S. 10. Vgl. auch Seebohm, T. M. „Reine Logik, systematische Konstruktion des Prinzips der Vernunft“. In: Fulda, H. & Stolzenberg, J. (Hrsg.). Architektonik und System in der Philosophie Kants, a. a. O., S. 209f. Gegen Seebohm, für den die Ideen irrtümlich geschlossene Begriffe sind, kann man argumentieren, dass die metaphysische Deduktion der Ideen die Richtigkeit des Schlusses der Vernunft gewährleistet. Es ist die Unmöglichkeit, eine objektive Deduktion der Ideen vorzunehmen, welche die Möglichkeit eines Irrtums bezüglich des Ge- bzw. Missbrauchs der Ideen erlaubt. „Da nun hier eine Einteilung der Vernunft in ein logisches und transzendentales Vermögen vorkommt, so muß ein höherer Begriff von dieser Erkenntnisquelle gesucht werden, welcher beide Begriffe unter sich befaßt, indessen wir nach der Analogie mit den Verstandesbegriffen erwarten können“ (A 299/B 355–356, Hervor. d. Verf.). Kant nennt sie iudicia subalternata. Vgl. z. B. V-Lo/Philippi AA 24: 469.

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nunft kann seinerseits durch die Erklärung der Vernunft als logisches Vermögen nicht eingesehen werden. Er bezeichnet die Vernunft als „Transzendentales Vermögen“ (A 299/B 355–356), das heißt als „eigenen Quell von Begriffen und Urteilen“ (A 305/B 362), so wie der Verstand eine eigene Quelle von reinen Begriffen, den Kategorien, ist. Durch den transzendental-realen Gebrauch bildet die Vernunft jedoch keine synthetische Einheit von Gegenständen,1042 sondern sie bringt vielmehr ursprünglich Begriffe und Grundsätze hervor, so wie auch der Verstand seine eigenen hervorbringt. Man kann dies mit Blick auf den allgemeinen Begriff der Vernunft und noch einmal anhand der Analogie zwischen Verstand und Vernunft besser einsehen. Wenn der Verstand das „Vermögen der Einheit der Erscheinungen vermittelst der Regel“ ist, dann ist die Vernunft „das Vermögen der Einheit der Verstandesregeln unter Prinzipien“ (A 302/B 359). Die Vernunft bezieht sich „zunächst“ nicht auf die Erfahrung oder auf einen Gegenstand der Sinne, sondern auf den Verstand und seine Regel, um den „mannigfaltigen Erkenntnisse[n] [eine] Einheit a priori durch Begriffe“ zu geben (A 302/B 359). Diese Einheit ist die „Vernunfteinheit“, auf der daher der „allgemeine Begriff von dem Vernunftvermögen“ beruht.1043 Im spekulativen Bereich bringt die Vernunft keinen Gegenstand unmittelbar hervor; stattdessen wirkt sie in der Erfahrung immer vermittelst des Verstandes. Daraus erklärt sich, warum Kant ganz am Anfang des Antinomie-Kapitels behauptet, dass „die Vernunft eigentlich gar keinen Begriff erzeuge, sondern allenfalls nur den Verstandesbegriff, von den unvermeindlichen Einschränkungen einer möglichen Erfahrung, frei mache“ (A 409/ B 435, Hervorh. d. Verf.). Der Begriff einer vernünftigen, vollständigen Einheit der Erfahrung, die von den Einschränkungen befreit ist, denen der Verstand und seine Einheit unterworfen sind, ist daher der Oberbegriff der Vernunft als „Quelle von Erkenntnissen“. Aus dieser Quelle lässt sich nach Analogie der Urhandlungen des Verstandes ein Prinzip der Deduktion der transzendentalen Ideen als aus den Verstandesbegriffen geschlossene Begriffe gewinnen: [W]ir [können] nach der Analogie mit den Verstandesbegriffen erwarten […], daß der logische Begriff zugleich den Schlüssel zum transzendentalen, und die Tafel der Funktionen der ersteren zugleich die Stammleiter der Vernunftbegriffe an die Hand geben werde (A 299/B 356, Hervorh. d. Verf.).

Im Begriff eines „Stammleiters“ ist die Idee eines „Leitfadens“ (A 76/B 102) zur metaphysischen Deduktion der Ideen enthalten. „Die Tafel der Funktionen“ (A 70/B 95) des logischen Gebrauchs des Verstandes und der Vernunft gilt jeweils als roter Faden der Deduktion der Verstandes- bzw. Vernunftbegriffe. Das Prinzip der subjektiven bzw. metaphysischen Deduktion der transzendentalen Ideen soll daher in dem allgemeinen Begriff der Vernunft als Vermögen der Prinzipen bzw. der „unbedingte[n] synthetische[n] Einheit aller Bedingungen

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Zu diesem Unterschied, der im Übrigen ein wesentlicher Unterschied des Kritizismus im Vergleich zur vorkritischen Lehre über den usus realis des Verstandes als Hervorbringen von noumena ist, vgl. Caimi, M. „Zur metaphysischen Deduktion“, a. a. O. „Vernunft ist das Vermögen der absoluten Einheit unserer Erkenntnisse“ (FM AA 20: 471).

überhaupt“ (A 334/B 391) gesucht werden, wobei dieser Begriff seinen logischen und transzendental-realen Sinn mit umfasst.1044 Auf der Grundlage der Vernunftgebräuche wird der Unterschied zwischen den Vernunftbegriffen als geschlossenen Begriffen und den Verstandesbegriffen als reflektierten Begriffen deutlicher. Die Verstandesbegriffe enthalten nichts als „die Einheit der Reflexion über die Erscheinungen“, sofern sie zu einem „möglichen empirischen Bewußtseins“ gehören, und stellen daher den „Stoff zum Schließen“ dar (A 310/B 367). Weil solche Begriffe mit dem Stoff der Schlüsse in unmittelbarer Verbindung stehen, ist die von ihnen verschaffte Einheit immer bedingt. Sie dienen also jederzeit als „komparative Prinzipien“, niemals aber als „schlechthin[nige] Prinzipien“ (A 301/B 358). Die Vernunft ist wiederum das „Vermögen der Prinzipien“ und bietet Begriffe an, die ihrerseits ein Unbedingtes „enthalten“, welches „etwas betrifft, worunter alle Erfahrung gehört, [das aber] niemals [selbst] ein Gegenstand der Erfahrung ist“ (A 311/B 367). Dies ist etwas, wozu die Vernunft in ihren Schlüssen aus der Erfahrung gelangt, das heißt aus dem Verstand und seinen bedingten Regeln, aber das niemals ein Glied in der empirischen Synthesis der Erscheinungen sein kann. Wie im Folgenden deutlicher wird, bezeichnen die Vernunftbegriffe das Ganze der Erfahrung – einen nicht empirisch bedingten Gegenstand. „Vernunftbegriffe dienen zum Begreifen, wie Verstandesbegriffe zum Verstehen (der Wahrnehmungen)“ (A 311/ B 367). Sie müssen als solche, sprich als subjektive, aus den aus der Natur der Vernunft stammenden Prinzipien des Begreifens des Ganzen der Erfahrung deduziert werden. Der legitime Gebrauch, den man von solchen Prinzipien machen kann, muss daher durch eine transzendentale Deduktion untersucht werden. 9.5.2 Subjektive Ableitung oder objektive Deduktion? Einige Begriffserklärungen Nach der Gegenüberstellung von Vernunft und Verstand geht Kant auf das Problem der objektiven Realität der Vernunftbegriffe ein. Wenn sie einen Gegenstand haben, der, anders als der der Kategorien, niemals in einer möglichen Erfahrung gegeben werden kann, wie könnte man dann seine objektive Realität begreifen? Kant stellt diese Frage tatsächlich als Konditionalsatz: Haben dergleichen Begriffe […] objektive Gültigkeit, so können sie conceptus ratiocinati (richtig geschlossene Begriffe) heißen; wo nicht, so sind sie wenigstens durch einen Schein des Schließens erschlichen, und mögen conceptus ratiocinantes (vernünftelnde Begriffe) genannt werden (A 311/ B 368).

Die entsprechende Untersuchung ist das eigentliche Thema des zweiten Buches der Transzendentalen Dialektik: die dialektischen Schlüsse der reinen Vernunft. Eine vollständige Beantwortung der Frage findet zwar erst im Anhang zur Transzendentalen Dialektik statt, aber ihre Formulierung erfolgt bereits im ers1044

Vgl. Caimi, M. „Zur metaphysischen Deduktion“, a. a. O.: „Die Erklärung der Vernunft als ‚Vermögen der Prinzipien‘ umfasst also sowohl die logische Tätigkeit der Vernunft, durch die sie mittelbare Schlüsse hervorbringt, als auch die Erzeugung von Ideen auf Grund von Prosyllogismen“.

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ten Buch der Transzendentalen Dialektik, dem über die Begriffe der reinen Vernunft. Kant muss hierbei zeigen, dass die transzendentalen Ideen, wenngleich sie keine objektive Realität als konstitutive Grundsätze der Erfahrung haben, das heißt, wenngleich sie keinen Gegenstand in der Erfahrung unmittelbar hervorbringen, dennoch einen „legitimen“ Ursprung haben, sprich „ihre Realität haben und keinesweges bloße Hirngespinste sind“ (A 314/B 371). Die metaphysische Deduktion muss daher nachweisen, dass die „Realität“ der Ideen sich als Begriffe erweist, die aus den logischen Formen der Urteile richtig geschlossen und demzufolge durch den transzendental-realen Gebrauch der Vernunft ursprünglich erworben worden sind.1045 Es gibt ein logisches Bedürfnis, solche Begriffe zu denken und zu konzipieren, und ein metaphysisches Bedürfnis, ihnen objektive Realität zu verleihen. Der wahre Irrtum der herkömmlichen Metaphysik besteht nicht darin, die Vernunftbegriffe zu denken und ihnen eine gewisse „subjektive Realität“ zu verleihen, sondern vielmehr darin, deren spekulative Erkenntnis zu beanspruchen und ihnen somit objektive Realität zu verleihen. Anders gesagt besteht der Irrtum nicht in dem rechtmäßigen Anspruch, die in den Ideen unbedingte Einheit bloß zu denken, sondern vielmehr in dem unrechtmäßigten Anspruch, durch solche Einheit einen Gegenstand hervorzubringen und damit einen „gründlichen Titel“ im Feld der Spekulation (A 501/B 529) zu begründen. Der Kritik kommt die Aufgabe zu, den Ursprung der Ideen zu erforschen und den Schein zu entdecken, der sie aufgrund eines gewissen Missbrauchs trügerisch macht. Worin genau besteht aber die metaphysische Deduktion der transzendentalen Ideen? Die Gegenüberstellung mit einer anderen von Kant ausdrücklich erwähnten Deduktion der Ideen bringt Licht in dieses Problem. An einer Stelle zu Beginn des zweiten Teils des Anhangs zur Transzendentalen Dialektik weist Kant auf die Notwendigkeit hin, die transzendentalen Ideen zu „deduzieren“, um beweisen zu können, dass sie „nicht bloß leere Gedankendinge“ sind. Die Ideen der reinen Vernunft verstatten zwar keine Deduction von der Art, als die Kategorien; sollen sie aber im mindesten einige, wenn auch nur unbestimmte, objective Gültigkeit haben und nicht bloß leere Gedankendinge (entia rationis ratiocinantis) vorstellen, so muß durchaus eine Deduction derselben möglich sein, gesetzt daß sie auch von derjenigen weit abweiche, die man mit den Kategorien vornehmen kann (A 669– 670/B 697–698).

Kant suggeriert nicht nur, dass eine andere Deduktion der Ideen möglich sei, sondern erhebt den Anspruch, im Anhang zur Transzendentalen Dialektik eine solche Deduktion durchgeführt zu haben. Dabei handelt es sich bekanntlich um „die transzendentale Deduktion aller Ideen der spekulativen Ideen […] als regulativer Prinzipien der systematischen Einheit des Mannigfaltigen der empirischen Erkenntnis“ (A 671/B 699). Die unterschiedlichen Aussagen sind schwer zu interpretieren und miteinander in Einklang zu bringen. Wie konnte Kant erst in diesem Moment des Beweisgangs der Transzendentalen Dialektik eine Deduktion der Ideen durchführen, wenn er im dritten Hauptstückt des ersten Buchs 1045

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Oberhausen, M. Das neue Apriori, a. a. O., S. 223ff.; Caimi, M. „Einige Bemerkungen“, a. a. O.

der Transzendentalen Dialektik, im „System der transzendentalen Ideen“, darauf hinweist, dass zwar keine „objektive Deduktion“ der Ideen möglich ist, aber doch eine „subjektive Ableitung […] aus der Natur unserer Vernunft“, welche in jenem Kapitel angeblich bereits vorgenommen wurde? Von diesen transscendentalen Ideen ist eigentlich keine objective Deduction möglich, so wie wir sie von den Kategorien liefern konnten. Denn in der That haben sie keine Beziehung auf irgend ein Object, was ihnen congruent gegeben werden könnte, eben darum weil sie nur Ideen sind. Aber eine subjective Ableitung derselben aus der Natur unserer Vernunft konnten wir unternehmen; und die ist im gegenwärtigen Hauptstücke auch geleistet worden (A 336/B 393, Hervorh. d. Verf.).

Daher scheint, dass Kant einerseits die subjektive Ableitung der Ideen aus der „Natur der Vernunft“ und andererseits den im Anhang vorgenommenen Nachweis der „objektive[n], aber unbestimmte[n] Realität“ (A 663/B 691) der Ideen in ihrem Gebrauch als die „größte systematische Einheit im empirischen Gebrauche unserer Vernunft“ (A 670/B 698) nicht als gleichbedeutend versteht. Eine mögliche Erklärung und Auflösung des besprochenen Problems kann wie folgt lauten: Die subjektive Ableitung der transzendentalen Ideen aus der Natur der Vernunft ist die metaphysische Deduktion, und die objektive Deduktion, „so wie wir sie von den Kategorien liefern konnten“, ist die „transzendentale Deduktion aller Ideen der spekulativen Vernunft […] als konstitutiver Prinzipien der systematischen Einheit des Mannigfaltigen der empirischen Erkenntnis überhaupt“ (A 671/ B 699). Daneben gibt es noch eine transzendentale, aber nicht völlig „objektive“ Deduktion1046 der transzendentalen Ideen als „regulativer Prinzipien der systematischen Einheit des Mannigfaltigen der empirischen Erkenntnis“ (A 671/ B 699). Daraus ergibt sich, dass Kant drei mögliche Deduktionen der Ideen zulässt: a) eine metaphysische oder subjektive Deduktion, die den Ursprung der Ideen aus der Natur der Vernunft feststellt und ihnen eine gewisse „transzendentale (subjektive) Realität“ sichert; b) eine transzendentale, aber nicht völlig objektive Deduktion der Ideen als regulative Prinzipien der systematischen Einheit, welche ihnen jedoch eine „objektive, aber unbestimmte Realität“ (A 663/B 691) verleiht; c) schließlich eine transzendentale und völlig objektive Deduktion der Ideen (A 336/ B 393) als konstitutive Prinzipien der Erfahrung. Von diesen drei möglichen spekulativen Deduktionen der Ideen hält Kant nur a) und b) für möglich.1047 Dies beantwortet die Grundfrage aber nicht: Liefert die im ersten Buch der Transzendentalen Dialektik durchgeführte subjektive bzw. metaphysische Deduktion der Ideen keinen Beweis, dass die Ideen keine leeren Gedankendinge oder bloße Hirngespinste sind? Ist der Nachweis, dass die Ideen „problematische Begriffe“ (A 339/B 397), aber nicht bloß „möglich“ im Sinne von nicht widersprüchlich,1048 sondern vielmehr subjektiv notwendig sind, nicht das Ziel der metaphysi1046

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R. Malter spricht in diesem Kontext von einer „quasi-objektiven“ oder „analog-objektiven Ideendeduktion“. Malter, R. „Der Ursprung der Metaphysik in der reinen Vernunft. Systematische Überlegungen zu Kants Ideenlehre“. S. 189-204. Licht unterscheidet nicht diese drei möglichen Deduktionen der Ideen. Vgl. Licht dos Santos, P. „Algumas observações sobre a Dialética Transcendental“, a. a. O., insb. S. 140. „Nihil ist das, was sich selbst widerspricht, und wovon auch so gar der Begriff unmöglich ist; dieses wird auch nihil negativum genannt. Ens imaginarium ist ein bloßes Hirngespinst,

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schen Deduktion? Kant setzt oft den Nachweis der Rechtmäßigkeit des regulativen Gebrauchs der Ideen mit dem Nachweis, dass sie keine „bloßen Hirngespinste“ sind (z. B. A 569–570/B 597–598), gleich, sodass die Frage nach der genauen Funktion der subjektiven bzw. metaphysischen Deduktion der Ideen bislang unbeantwortet geblieben ist.1049 9.5.3 Über die subjektive Ableitung oder metaphysische Deduktion der Ideen – die Bestimmung der Gültigkeit der Vernunftbegriffe überhaupt Im dritten Abschnitt des ersten Buches der Transzendentalen Dialektik, „System der transzendentalen Ideen“, weist Kant explizit darauf hin, dass er eine „subjektive Ableitung“ der Ideen vorgenommen hat. Dass eine solche subjektive Ableitung die metaphysische Deduktion der Idee ist, bestreiten die meisten Interpreten zwar nicht, aber sie bezweifeln, dass Kant bei dieser systematischen Aufgabe erfolgreich war.1050 Als Beleg für die Gleichsetzung von „subjektiver Ableitung“ und „metaphysischer Deduktion“ sollen im Folgenden drei Parallelen zwischen der metaphysischen Deduktion der Kategorien und der subjektiven Ableitung der transzendentalen Ideen aufgestellt werden, nämlich a) terminologische, b) inhaltliche und c) systematische Parallelen. Was den (a) terminologischen Aspekt betrifft, versteht Kant die metaphysische Deduktion der Kategorien auch als eine „subjektive“ Deduktion derselben. Der

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wovon aber doch der Gedanke möglich ist. Was sich nicht widerspricht, ist logisch möglich; das heißt, der Begriff ist zwar möglich, aber es ist keine Realität da. Von dem Begriff heißt es also: er hat keine objective Realität“ (V-Met-L1/Pölitz AA 28: 23). Caimi erwähnt die hier gestellte Frage nicht und unterscheidet stattdessen zwei Deduktionen im Anhang zur Transzendentalen Dialektik, nämlich die Deduktion des logischen und die Deduktion des transzendentalen Gebrauchs der Begriffe einer systematischen Einheit der Natur. Vgl. Caimi, M. „Über eine wenig beachtete Deduktion der transzendentalen Ideen“. In: Kant-Studien, 86, 1995. Wie auch bei der Diskussion über die metaphysische Deduktion der Ideen gehört die eingehende Darstellung der Probleme und angeblichen Mängel des kantischen Arguments nicht zu den Absichten der vorliegenden Arbeit. Das Ziel besteht hier vielmehr darin, die Rolle der metaphysischen Deduktion für die juridische Verfassung der KrV zu prüfen. Zur Diskussion in der Sekundärliteratur siehe Caimi, M. „Zur metaphysischen Deduktion“, a. a. O. Zu den Interpreten, die den Erfolg der metaphysischen Deduktion der Ideen bestreiten, zählen Malzkorn, W. Kants Kosmologie-Kritik, a. a. O., sowie Schmucker, J. Das Weltproblem in Kants Kritik der reinen Vernunft, a. a. O., S. 53ff. Zu den Interpreten, die dagegen die metaphysische Deduktion der Ideen für erfolgreich halten, gehören außer Caimi auch Licht, P. „Algumas observações sobre a Dialética Transcendental“, a. a. O., und Gier, M. Kant’s Doctrine of Transcendental, a. a. O., S. 132–139. Nikolai Klimmek nimmt eine mittlere Position ein. Er bestreitet, dass Kant eine metaphysische Deduktion der Ideen vorgenommen hat, weil diese Ideen „natürlich (a priori) gemachte Vernunftbegriffe“ sind und nur gegebene Begriffe deduziert werden könnten. Vgl. Klimmek, N. Kants System der transzendentalen Ideen, a. a. O., S. 7ff., insb. S. 11. Klimmek zufolge gibt es eine „Deduktion“ im Sinne einer subjektiven, aus den logischen Formen des Urteils erfolgten „Ableitung“. Er übersieht aber, dass die „Ableitung“ der „Deduktion“ in der metaphysischen Deduktion jener der Kategorien entspricht. Um seine These zu begründen, müsste Klimmek daher bestreiten, dass es eine metaphysische Deduktion der Kategorien gibt; dies tut er jedoch nicht. Ebd., S. 12–17.

Vorrede A zufolge1051 hat die „Deduktion der reinen Verstandesbegriffe“ zwei „Seiten“, nämlich eine subjektive und eine objektive (A xvi).1052 Die objektive Seite betrifft die „Gegenstände des reinen Verstandes“ und „soll die objektive Gültigkeit eines Begriffes a priori dartun und begreiflich machen“; die subjektive Seite geht demgegenüber „darauf aus, den reinen Verstand selbst, nach seiner Möglichkeit und den Erkenntniskräften, auf denen er selbst beruht, mithin in subjektiver Beziehung zu betrachten“ (A xvi-xvii). Diese letzte „Seite“ der Deduktion ist die „subjektive Deduktion“ der Kategorien (A xvii). Unter „subjektiv“ ist nun nicht die Untersuchung über die „psychologischen Bedingungen der Verstandeserkenntnis“1053 zu verstehen, sondern, wie Mellin erklärt, die Untersuchung über den Ursprung der Kategorien aus der Natur unserer Erkenntnisvermögen, das heißt unserer „Erkenntniskräfte, auf denen er [scil. der Verstand] selbst beruht, mithin in subjektiver Beziehung“.1054 Nach dem Wortlaut des juridischen Deduktionsmodells geht es bei der subjektiven Deduktion um die Untersuchung der res facti oder quaestio facti, was den Besitz der reinen Verstandesbegriffe im Hinblick auf den Grund unseres Erkenntnisvermögens betrifft. Als weiterer Beleg einer solchen Deutung ist eine schon zitierte Stelle des Abschnitts über das System der transzendentalen Ideen anzuführen, in der Kant die objektive Deduktion und die subjektive Ableitung der Ideen aus der Natur unserer Vernunft (A 336/B 493) als Nachweis der „transzendentalen (subjektiven) Realität der reinen Vernunftbegriffe“ (A 339/B 397) einander gegenüberstellt. Die subjektive bzw. metaphysische Ableitung bzw. Deduktion muss daher beweisen, dass ein gewisser Begriff seinen Ursprung im Subjekt bzw. in der „Natur der Vernunft“ hat und demzufolge eine „transzendentale (subjektive) Realität“ besitzt. Die transzendentale bzw. objektive Deduktion muss demnach beweisen, dass sich ein solcher Begriff auf einen Gegenstand bezieht und daher objektive Realität hat. Mit Blick auf (b) den inhaltlichen Aspekt erfüllt die subjektive Ableitung dieselbe Funktion der metaphysischen Deduktion. Sie soll die „transzendentale (subjektive) Realität der reinen Vernunftbegriffe“ belegen, indem sie nachweist, dass solche Begriffe auf einem „notwendigen Vernunftschluß“ (A 339/B 397) beruhen bzw. „ganz notwendig in der Vernunft nach ihren ursprünglichen Gesetzen erzeug[t]“ werden (A 338/B 396). Es gibt, so Kant, eine „natürliche Beziehung“ zwischen dem „transzendentalen Gebrauch unserer Erkenntnis, sowohl in Schlüssen als Urteilen“, und dem logischen Gebrauch derselben (A 333/B 390). Daraus entsteht eine Parallelität zwischen dem logischen und dem transzendental-realen Vernunftgebrauch aufgrund ihres gemeinschaftlichen Ur1051 1052 1053 1054

Hierbei ist Moledo, F. „Über die Bedeutung der objektiven und der subjektiven Deduktion der Kategorien“ (Manuskript) zu folgen Vgl. Henrich, D. „The Proof Structure of Kant’s Transcendental Deduction“, a. a. O. Erdmann, B. Kants Criticismus in der ersten und zweiten Auflage der Kritik der reinen Vernunft, a. a. O., S. 23. „Es kommt noch eine Eintheilung der Deductionen in der Critik der reinen Vernunft vor, nehmlich die in die objective und in die subjective Deduction. Die objective Deduction bestehet nehmlich darin, daß gezeigt wird, ein Begriff oder synthetischer Satz habe wirklich ein Object oder einen Gegenstand, durch den er in concreto dargestellt wird, so daß er nicht ein bloß leerer Gedanke bleibt. Die subjective Deduction bestehet hingegen darin, daß der Begriff oder Satz aus der Natur unsrer Vernunft abgeleitet wird“. Mellin, G. S. A. Enziclopädisches Wörterbuch der kritischen Philosophie, a. a. O., S. 41ff.

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sprungs in einer Grundhandlung des allgemeinen Begriffs von Vernunft als der unbedingten Einheit von Vorstellungen, genauer von Begriffen und Regeln des Verstandes. Die metaphysische Deduktion der Kategorien ist, wie schon gezeigt, der Nachweis des „Ursprung[s] der Kategorien a priori überhaupt durch ihre völlige Zusammentreffung mit den allgemeinen logischen Funktionen des Denkens“ (B 159) und demnach der Nachweis des Ursprungs der Kategorien in der Natur des Verstandes. Sie ist daher der Nachweis, dass die Kategorien aus den Urhandlungen des Verstandes stammen und damit ursprünglich erworben sind. Die Parallelität zwischen Verstand und Vernunft bei der subjektiven Deduktion wurde von Kant in der Transzendentalen Dialektik und in weiteren Kontexten herausgestellt. Zu Beginn des zweiten Abschnitts des ersten Buchs der Transzendentalen Dialektik verweist Kant auf die Analogie zwischen den Ideen und den Kategorien hinsichtlich ihres Ursprungs als „bloße logische Formen“: Die transzendentale Analytik gibt uns ein Beispiel, wie die bloße logische Form unserer Erkenntnis den Ursprung von reinen Begriffen a priori enthalten könne […]. Die Form der Urteile (in einen Begriff von der Synthesis der Anschauungen verwandelt) brachte Kategorien hervor, welche allen Verstandesgebrauch in der Erfahrung leiten. Eben so können wir erwarten, daß die Form der Vernunftschlüsse, wenn man sie auf die synthetische Einheit der Anschauungen, nach Maßgebung der Kategorien, anwendet, den Ursprung besonderer Begriffe a priori enthalten werde, welche wir die reinen Vernunftbegriffe, oder transzendentalen Ideen nennen können (A 321/B 377–378).

Die Transzendentale Analytik zeigt, wie die bloße logische Form unserer Erkenntnis (das heißt die Funktionen) den reinen Ursprung von Begriffen hervorbringen kann. Die Kategorien sind aus der „Natur des Verstandes“ und aus seinen Urhandlungen ursprünglich erworben. In den Prolegomena deutet Kant etwas Ähnliches an. Er schreibt, dass „die Vernunft in sich den Grund zu Ideen enthält. Die letzteren sind ebensowohl in der Natur der Vernunft als die ersteren [scil. die Kategorien] in der Natur des Verstandes gelegen“ (Prol, AA 04: 328). So wie in der Transzendentalen Analytik dieselbe Funktion, die den verschiedenen Vorstellungen in einem Urteil Einheit gibt, auch den verschiedenen Vorstellungen in einer Anschauung Einheit gibt, so bestimmt auch in der Transzendentalen Dialektik „dieselbe Funktion“, die die Beziehung, die „unsere Vorstellungen haben können“ (A 333/B 390–391), bestimmt, auch „die unbedingte synthetische Einheit aller Bedingungen überhaupt“ (A 334/B 391). Kant will daher beweisen, „wie die Vernunft lediglich durch den synthetischen Gebrauch eben derselben Funktion, deren sie sich zum kategorischen Vernunftschlusse bedient, notwendiger Weise auf den Begriff der absoluten Einheit des denkenden Subjekts kommen müsse“ (A 335/B 392). Dasselbe gilt für die weiteren Vernunftschlüsse. Daraus folgt, dass wie bei der metaphysischen Deduktion der Kategorien der logische Vernunftgebrauch als Leitfaden der metaphysischen Deduktion der transzendentalen Ideen gilt.1055 1055

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Caimi, M. „Zur metaphysischen Deduktion“, a. a. O.: „[E]benso wie der logische Gebrauch des Verstandes (die logische Aussage von Urteilen) uns den Leitfaden zur Entdeckung der reinen Verstandesbegriffe in ihrem vollständigen System lieferte, ebenso dürfen

Auch hinsichtlich der (c) systematischen Ziele stimmt die subjektive Deduktion der transzendentalen Ideen mit der metaphysischen Deduktion der Kategorien überein. Das Ziel der Deduktion der Ideen besteht, wie bei den Kategorien (B 109–110, 159), darin, einen „Ursprung“ festzustellen, dadurch ihre „Zahl“ zu bestimmen und sie in einen „systematischen „Zusammenhang“ zu bringen (A 338/B 396).1056 Mit dem Nachweis, dass die transzendentalen Ideen eine „transzendentale (subjektive) Realität“ haben, will Kant auf eine spekulative Perspektive1057 hinweisen. Dieser zufolge sind die transzendentalen Ideen keine „bloßen Hirngespinste“ (A 314/B 371), sondern stellen vielmehr Objekte systematisch vor, von denen man einen zwar möglichen, aber problematischen Begriff (A 339/B 397) hat und die „in der Vernunft nach ihren ursprünglichen Gesetzen erzeugt“ werden (A 338/B 396). Kant deklariert die Ideen daher als ursprünglich erworbenes bzw. hervorgebrachtes Faktum. Er will damit beweisen, dass die Ideen vor dem „oberste[n] Gerichtshof aller Rechte und Ansprüche unserer Spekulation“ (A 669/B 697) einen allgemein gültigen, weil subjektiv, transzendental notwendigen Anspruch erheben. Nach der metaphysischen Deduktion als Feststellung des Faktums der transzendentalen Ideen muss eine transzendentale Deduktion Aufschluss darüber geben, in welchem Bereich ein solcher Anspruch als gültig verwirklicht werden kann und in welchem er sich demgegenüber als illegitim erweist. Kant bringt dies im zweiten Teil des Anhangs zur Transzendentalen Dialektik zum Ausdruck, indem er deutlich davon spricht, dass die Ideen an sich selbst „nimmermehr“ dialektisch und trügerisch sind. Sie sind außerdem keine leeren Begriffe oder ein „Gedankending (ens rationis), welches nur willkürlich gedacht, und nicht durch die Vernunft notwendig vorausgesetzt wird“ (A 337/B 394). Die metaphysische Deduktion der transzendentalen Ideen zeigt, dass sich der damit verbundene „trügliche Schein“ bloß aus einem Missbrauch erklären lässt. Dies wird noch einmal anhand des juridischen Zusammenhangs ersichtlich: „[D]ieser oberste Gerichtshof aller Rechte und Ansprüche unserer Spekulation kann unmöglich selbst ursprüngliche Täuschungen und Blendwerke enthalten“ (A 669/ B 697). Was den Beweisgang der metaphysischen Deduktion der Ideen betrifft, erfolgt dieser grundsätzlich in zwei Etappen.1058 Kant bestimmt erstens die drei

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wir erwarten, dass der logische Gebrauch der Vernunft uns die Aufstellung eines vollständigen Verzeichnisses der reinen Vernunftbegriffe ermöglicht“. Caimi erkennt im systematischen Zusammenhang das Ziel, die Anzahl der Ideen zu bestimmen. „Eigentlich hat eine solche Deduktion zwei Aufgaben, nämlich erstens soll sie den Ursprung der Ideen in der reinen Vernunft ans Licht bringen; zweitens soll sie auf Grund dieses apriorischen Ursprungs das vollständige Verzeichnis der Ideen vorlegen. Wenn wir den Ursprung der Ideen in den drei Formen des Vernunftschlusses erklärt haben, so wird mit einem Schlag auch die zweite Aufgabe gelöst; denn es gibt nur drei Arten des Verhältnisses vom Bedingten zu seiner Bedingung, welche in den Vordersätzen der Vernunftschlüsse zum Ausdruck kommen; dementsprechend werden nur drei die Ideen sein, die sich aus den Formen des Syllogismen ableiten lassen“. Ebd. In einer moralischen Perspektive konnte man aber für den Nutzen der Ideen im praktischen Gebrauch der Vernunft argumentieren. Vgl. Malter, R. „Der Ursprung der Metaphysik in der reinen Vernunft. Systematische Überlegungen zu Kants Ideenlehre“, a. a. O., S. 169–210, hier S. 185. Vgl. Caimi, M. „Zur metaphysischen Deduktion“, a. a. O.

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einzigen Arten, wie die Vorstellungen als Beziehungen zwischen möglichen Urteilen im logischen Vernunftgebrauch miteinander zusammenhängen (A 333–334/ B 390–391). Die „Allgemeinen aller Beziehung“, die die Vorstellungen in einem Urteile haben können, sind die folgenden: 1) Beziehung auf ein Subjekt; 2) Beziehung auf Objekte; 3) Beziehung zu allen Dingen überhaupt (A 333–334/ B 390-391). Es geht dabei um die Vorbereitung der Bestimmung der drei Gegenstände der transzendentalen Ideen (Seele, Welt und Gott). Kant muss zweitens zeigen, wie dieselbe Funktion, die die bedingte synthetische Einheit (im empirischen Verstandesgebrauch) herstellt, auch „die unbedingte synthetische Einheit aller Bedingungen überhaupt“ (im transzendental-realen Vernunftgebrauch) stiftet. Da es sich um Vernunftbegriffe, sprich um ein indirektes Prinzip der Synthesis eines in den Verstandesbegriffen gegebenen Mannigfaltigen handelt, werden bei der Anwendung der drei oben besprochenen Beziehungen auf eine unbedingte synthetische Einheit der Vorstellung „alle transzendentalen Ideen […] unter drei Klassen [gebracht], davon die erste die absolute (unbedingte) Einheit des denkenden Subjekts, die zweite die absolute Einheit der Reihe der Bedingungen der Erscheinung, die dritte die absolute Einheit der Bedingung aller Gegenstände des Denkens überhaupt enthält“ (A 334/B 391).1059 Das denkende Subjekt ist der Gegenstand der Psychologie; der Inbegriff aller Erscheinungen, die Welt, ist Gegenstand der Kosmologie; und schließlich ist „das Ding“, das die „oberste Bedingung der Möglichkeit von allem, was gedacht werden kann, enthält“, der Gegenstand der Theologie (A 334/B 391–392). Jedem Gegenstand der transzendentalen Ideen entspricht daher eine Lehre der herkömmlichen Metaphysik, nämlich der transzendentalen Seelenlehre (psychologia rationalis), der transzendentalen Weltwissenschaft (cosmologia rationalis) und schließlich der transzendentalen Gotteserkenntnis (theologia transcendentalis). „Der bloße Entwurf“ dieser Wissenschaften ist nicht vom Verstand gemacht, „sondern [er] ist lediglich ein reines und echtes Produkt oder Problem der reinen Vernunft“ (A 335/B 392).1060 Es sollte nicht unerwähnt bleiben, dass in diesem Moment der Transzendentalen Dialektik der trügerische Charakter dieser Wissenschaften oder Vernunftschlüsse noch nicht im Mittelpunkt steht. ihm wendet sich Kant erst im zweiten Buch der Transzendentalen Dialektik zu (A 339–340/B 397–398), das von den dialektischen, nicht den natürlichen und notwendigen Schlüssen der reinen Vernunft handelt, durch die sie zu allen transzendentalen Ideen als richtig geschlossenen Begriffen gelangt. Kant betont, dass die Ideen nur von ihrem „Resultat“ her als vernünftelnde Schlüsse bezeichnet werden dürfen, nämlich aufgrund der trügerischen Wissenschaften der reinen Vernunft, die ihren Gegenstand hyposta1059

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Caimi fast folgendermaßen das Argument von Malter zusammen: „Rudolf Malter hat in diesem Vorgang zwei Schritte unterschieden; beim ersten Schritt wird festgelegt, dass die Prämissen und die Schlusssätze im Syllogismus Urteile sind; das aber heißt, sie bestehen aus Vorstellungen, die durch die in B 391 erwähnten drei Arten der Relation miteinander verknüpft sind. Beim zweiten Schritt der metaphysischen Deduktion wird auf diese Verhältnisse das Vernunftprinzip angewandt, das Prinzip nämlich, die unbedingte synthetische Einheit aller Bedingungen zu finden. Daraus ergibt sich das ‚System der transzendentalen Ideen‘“. Caimi, M. „Zur metaphysischen Deduktion der Ideen“, a. a. O. Zur metaphysischen Deduktion der Ideen aus den Prosyllogismen im Hinblick auf jede Art von transzendentalen Ideen siehe Caimi, M. „Zur metaphysischen Deduktion“, a. a. O.

sieren und ihm von einem spekulativen Standpunkt aus objektive Realität zu verleihen suchen. In ihrem Ursprung sind es durchaus richtige Vernunftschlüsse und als solche nicht „erdichtet, oder zufällig entstanden, sondern aus der Natur der Vernunft entsprungen“ (A 339/B 398). Die Ideen sind nicht per se erdichtete und trügerische Begriffe, sondern nur infolge des Gebrauchs, den man von ihnen in der Erfahrung macht, nämlich infolge eines konstitutiven oder regulativen Gebrauchs.1061 Genau in diesem Sinne ist auch die transzendentale Deduktion der Ideen als regulative Prinzipien zu verstehen. Sie dienen als „notwendige Maxime“, als subjektive Grundsätze zur Leitung des Verstandes bei der Naturforschung, niemals aber als konstitutive Prinzipien für die unmittelbare Bestimmung von Naturdingen. Der Irrtum der herkömmlichen Metaphysik liegt daran, die „subjektive Gültigkeit“ der Ideen für eine „objektive Gültigkeit“ zu halten, eine „subjektive Deduktion“ mit einer „objektiven Deduktion“ zu verwechseln und auf dem Standpunkt des Anhangs zur Transzendentalen Dialektik eine mögliche transzendentale Deduktion der Ideen als regulative Prinzipien und eine durchaus unmögliche transzendentale Deduktion der Ideen als konstitutive Prinzipien nicht zu unterscheiden (A 671/B 699). Es ist „merkwürdig“, dass die Prinzipien der Vernunft bei ihrem spekulativen Gebrauch „transzendental zu sein scheinen“. Dies führt dazu, dass man sie, obwohl sie „bloße Ideen zur Befolgung des empirischen Gebrauchs der Vernunft“ (A 663/B 691) sind, als synthetische Sätze zur Erweiterung eines solchen Gebrauchs ansieht. Nun haben sie aber, wie Kant im Anhang behauptet, eine „objektive, aber unbestimmte Gültigkeit“ (A 663/B 691; vgl. auch A 669/B 697), ohne dass man jedoch eine „transzendentale Deduktion derselben zu Stande bringen kann“ (A 663–664/ B 691–692),1062 das heißt, ohne dass man beweisen kann, dass ihnen einen Gegenstand in der Erfahrung entspricht. All dies muss im Anhang zur Transzendentalen Dialektik nachgewiesen werden, nachdem die metaphysische Deduktion der Ideen ihre transzendentale, subjektive Realität bewiesen hat.1063 Dieser Zusammenhang lässt sich gemäß dem juridischen Deduktionsmodell folgendermaßen wiedergeben: Im ersten Buch der Transzendentalen Dialektik beschränkt sich Kant darauf, die Ideen metaphysisch zu deduzieren, das heißt ihre res facti in der Natur der Vernunft zurückzuverfolgen und sie daher als reine Begriffe zu erklären, die ursprünglich nach denselben Funktionen, durch die der Verstand seine eigenen reinen Begriffen erlangt, von der Vernunft erworben wurden. Der Beweis, dass man diese transzendentale subjektive Realität 1061

1062 1063

„Nur die trügerische Zuschreibung des Daseins zu ihrem Gegenstand beraubt sie [die Ideen] ihrer Legitimität“. Ebd. Genau in diesem Sinne muss man die transzendentale Deduktion der Ideen als regulative Prinzipien verstehen. Außer der metaphysischen bzw. subjektiven Deduktion, deren Ziel der Beweis des Ursprungs der Ideen in der Natur der Vernunft ist, muss die transzendentale Deduktion der Ideen als regulative Prinzipien beweisen, dass die Ideen eine legitime und begründete Funktion bei dem empirischen Gebrauch der Vernunft haben, nämlich als regulative Prinzipien der systematischen Einheit der Erscheinungen. Eine solche transzendentale Deduktion betrifft daher anders als die metaphysische Deduktion einen bestimmten Gebrauch der Vernunft. „Die Ideen der reinen Vernunft verstatten zwar keine Deduktion von der Art, als die Kategorien“. A 669/B 697. Zur transzendentalen Deduktion der Ideen als regulative Prinzipien vgl. Caimi, M. „Über eine wenig beachtete Deduktion der transzendentalen Ideen“, a. a. O.

353

nicht mit einer objektiven Realität verwechseln darf, wird im zweiten Buch der Transzendentalen Dialektik, „Von den dialektischen Schlüssen der reinen Vernunft“, ausgeführt. Die metaphysische Deduktion der Ideen im Allgemeinen ist für die juridische Verfassung der KrV von entscheidender Bedeutung, weil sie nicht direkt einen besonderen Gebrauch der Vernunftbegriffe betrifft, sondern auf eine direkte Weise die Möglichkeit eines Gebrauchs überhaupt rechtfertigt, sei es des praktischen, des regulativen oder des konstitutiven Gebrauchs. Die transzendentalen Deduktionen müssen daher prüfen und entscheiden, um welchen legitimen Gebrauch der Ideen es sich handelt. Anders gesagt: Allen Rechtsfragen über einen rechtmäßigen Vernunftgebrauch entspricht ein verschiedenes quid iuris, das jeweils durch eine transzendentale Deduktion beantwortet werden muss. Es gibt darüber hinaus einen indirekten Beweis der Ideen, nämlich die Verteidigung eines bestimmten Vernunftgebrauches: des praktischen. Für diese Verteidigung ist, wie schon im achten Kapitel diskutiert wurde, der polemische Gebrauch der reinen Vernunft zuständig, bei dem die reine Vernunft Hypothesen, Retorsionen und negative apagogische Beweise heranzieht, um die spekulative Möglichkeit der Ideen überhaupt gegen skeptisch-dogmatische Versuche, ihre Unmöglichkeit zu demonstrieren, verteidigt. Kant gesteht nun in der KpV eine legitime Erweiterung der transzendentalen Ideen und demzufolge der spekulativen Vernunft über die mögliche Erfahrung zu. Er tut dies aber nicht in Bezug auf den spekulativen Bereich, in dem eine solche Erweiterung immer eine negative Bedeutung hat, sondern nur in Bezug auf den praktischen Bereich, in dem die transzendentalen Ideen „objektive Realität“ erhalten (vgl. KpV AA 05: 134ff.). Die Erweiterung der Gültigkeit der transzendentalen Ideen geschieht jedoch nicht in einem einzigen Schritt und erfolgt auch nicht allein von der praktischen Vernunft aus. Vielmehr bedarf es davor jener „kritischen Abschirmung“ der transzendentalen Ideen gegen Missbrauch und gegen die skeptisch-dogmatischen Angriffe, die bislang dargestellt wurde und im zweiten Buch der Transzendentalen Dialektik fortgesetzt wird. Die Erläuterungen zum Begriff der Freiheit als das „erkennbare Übersinnliche“ (FM AA 20: 311), der als „Schlußstein von dem ganzen Gebäude eines Systems der reinen, selbst der speculativen Vernunft“ (KpV AA 05: 3–4) gilt, spielen hier sicherlich eine Rolle. Im Rahmen des Gerichtshofs der Vernunft und ihrer Instrumente zur Entscheidungsfindung lässt sich eine Vielfalt von Mitteln erkennen, die Rechtmäßigkeit der Ideen zu prüfen und ihnen besondere Geltungsbereiche zuzuweisen, wobei es stets darum geht, die negative und die positive Gesetzgebung der reinen Vernunft zu schützen und zu fördern. Der Beweis der praktisch-objektiven Realität der Idee der Freiheit aus dem Faktum des Sittengesetzes und als Folge daraus der Beweis der praktisch-objektiven Realität der weiteren Ideen, Gott und Seele, als notwendige Postulate zur Verwirklichung des „ganzen Gegenstands einer reinen praktischen Vernunft“, nämlich des höchsten Gutes (KpV, AA 05: 109), bedürfen einer nicht zu vernachlässigenden juridischen Vorbereitung, wie die Vorrede zur KpV ins Gedächtnis ruft. Der Nachweis, dass die Freiheitsidee in ihrer grundsätzlichen Bedeutung als transzendentale Freiheit durchaus denkbar und keinesfalls widersprüchlich ist, 1064 bewahrt 1064

354

Vgl. Klemme, H. „Freiheit oder Fatalismus?“, a. a. O.

die Vernunft davor, „in einen Abgrund des Scepticisms gestürzt zu werden“.1065 Einen solchen kritischen Rechtsschutz zu gewährleisten ist die Rolle der im ersten Buch der Transzendentalen Dialektik durchgeführten metaphysischen Deduktion der Ideen, aber auch, wie im nächsten Kapitel gezeigt wird, die des zweiten Buchs der Transzendentalen Dialektik.

1065

„Mit diesem Vermögen steht auch die transcendentale Freiheit nunmehr fest, und zwar in derjenigen absoluten Bedeutung genommen, worin die speculative Vernunft beim Gebrauche des Begriffs der Causalität sie bedurfte, um sich wider die Antinomie zu retten, darin sie unvermeidlich geräth, wenn sie in der Reihe der Causalverbindung sich das Unbedingte denken will, welchen Begriff sie aber nur problematisch, als nicht unmöglich zu denken, aufstellen konnte, ohne ihm seine objective Realität zu sichern, sondern allein um nicht durch vorgebliche Unmöglichkeit dessen, was sie doch wenigstens als denkbar gelten lassen muß, in ihrem Wesen angefochten und in einen Abgrund des Scepticisms gestürzt zu werden“ (KpV AA 05: 03).

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10 Der Gerichtshof der Vernunft in der Transzendentalen Dialektik Als methodologisches Prinzip der Transzendentalen Dialektik gilt diejenige Argumentationsart, die Kant im Gegensatz zu den dogmatischen und skeptischen Einwürfen als „kritisch“ bezeichnet. Bei einer solchen kritische Argumentation wird nicht so verfahren, dass das Gegenteil eines Satzes (Dogmatismus) oder ein Satz und sein Gegensatz (Skeptizismus) angegriffen wird, um dadurch, auf eine angebliche „Einsicht in die Beschaffenheit der Natur des Gegenstandes“ gestützt, die Falschheit der angegriffenen Sätze nachzuweisen. Die kritischen Einwürfe müssen sich vielmehr „wider den Beweis eines Satzes“ richten, um dadurch dessen Unbegründetheit aufzuzeigen (A 388–389).1066 Wie bereits bei der Darstellung des Disziplin-Kapitels gezeigt wurde, handelt es sich dabei um die Eigentümlichkeit der kritischen Beweisart, nämlich darum, sich nicht direkt nach dem Gegenstand, sondern nach den Bedingungen und den Grenzen der Erkenntnis eines solchen Gegenstands zu richten. Der kritische Philosoph beweist nicht einfach, dass die Sätze der streitenden Parteien „falsch“ sind, sondern dass beide ihre Argumente auf eine „grundlose Voraussetzung“ (A 485/B 513) stützen, unter der allein „jeder dieser Sätze gelten sollte“ (A 503/B 531). Sobald diese falsche und trügerische Bedingung entdeckt und damit für ungültig erklärt worden ist, wird auch die „Betrüglichkeit“ der streitenden Argumente entdeckt und werden beide für ungültig erklärt. Die Ungültigkeit der Argumente erfordert jedoch eine erneute Entscheidung des Gerichtshofs der Kritik, die die in diesem bestimmten Geltungsbereich für ungültig erklärten Ansprüche der streitenden Parteien einem anderen, nicht anfechtbaren Geltungsbereich zuweist. Die Transzendentale Dialektik stellt nun den Kampfplatz der Metaphysik dar, bietet aber auch die Möglichkeit, den Streit vor dem Gerichtshof der Vernunft zu schlichten. Sie enthält Kants Kritik an der herkömmlichen Metaphysik, genauer an den drei Lehren der metaphysica specialis, nämlich der Seelenlehre, der Kosmologie und der rationalen Theologie. Diese Lehren treten vor dem Gerichtshof der reinen Vernunft auf, und ihre „grundlosen Anmaßungen“ (A xi–xii) werden für ungültig erklärt, weil sie auf einem transzendentalen Schein beruhen. In diesem Zuge zeigt sich, wie alle von Kant im Gang der Transzendentalen Dialektik erwähnten und im Folgenden vorzustellenden philosophischen Positionen (Spiritualismus und Materialismus; Epikureismus und Platonismus; Empirismus und 1066

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„Alle Einwürfe können in dogmatische, kritische und skeptische eingeteilt werden. Der dogmatische Einwurf ist, der wider einen Satz, der kritische, der wider den Beweis eines Satzes gerichtet ist. Der erstere bedarf einer Einsicht in die Beschaffenheit der Natur des Gegenstandes, um das Gegenteil von demjenigen behaupten zu können, was der Satz von diesem Gegenstande vorgibt, er ist daher selbst dogmatisch und gibt vor, die Beschaffenheit, von der die Rede, ist, besser zu kennen, als der Gegenteil. Der kritische Einwurf, weil er den Satz in seinem Werte oder Unwerte unangetastet läßt, und nur den Beweis anficht, bedarf gar nicht den Gegenstand besser zu kennen, oder sich einer besseren Kenntnis desselben anzumaßen; er zeigt nur, daß die Behauptung grundlos, nicht, daß sie unrichtig sei. Der skeptische stellt Satz und Gegensatz wechselseitig gegeneinander, als Einwürfe von gleicher Erheblichkeit, einen jeden derselben wechselweise als Dogma und den anderen als dessen Einwurf, ist also auf zwei entgegengesetzten Seiten dem Scheine nach dogmatisch, um alles Urteil über den Gegenstand gänzlich zu vernichten“ (A 388).

Rationalismus; Skeptizismus und Dogmatismus; Atomistik und Monadologie) in der Geschichte der Philosophie deutlich erkennbar aufgetreten sind.1067 Für Kant gilt es jedoch zu beweisen, dass all diese philosophischen Positionen – und ihre Fehler – nicht gelegentlich und künstlich sind, sondern in der reinen Vernunft selbst ihren Sitz, ja gewissermaßen ihren transzendentalen Grund finden. Genau in diesem Sinne ist die Transzendentale Dialektik zu verstehen. Sie ist keine bloße „ars sophistica, disputatoria“ oder „Disputirkunst“ (Log AA 09: 17), keine bloße „sophistische dialectic“, verstanden als „Kunst des Scheins“, sondern eine echte „Wissenschaft der Auflösung des Scheins“, die die „Quellen des Scheins“, der die menschliche Vernunft natürlich und unvermeidlich unterworfen ist, angeht. Aus einem solchen natürlichen Schein lässt sich erklären, warum die Metaphysik trotz aller ihrer Undeutlichkeit und Unwissenschaftlichkeit immer noch als die Wissenschaft gilt, die von größtem Interesse für den Menschen ist. Sogar nachdem die Transzendentale Analytik „mit völliger Gewißheit“ bewiesen hat, dass die menschliche Erkenntnis nicht über die Grenzen der möglichen Erfahrung hinausgehen kann, besteht das Bedürfnis einer solchen Transzendentalen Dialektik weiterhin, da „doch des Redens kein Ende wird, wenn man nicht hinter die wahre Ursache des Scheins kommt“ (A 703/B 732).1068 Die auf die Enthüllung des Scheins erfolgte Grenzziehung jeder Gerichtsbarkeit der Vernunft, der praktischen und der spekulativen, ist die Absicht der Transzendentalen Dialektik. Darauf können anschließend der bürgerliche Zustand in der Metaphysik und der ewige Frieden in der Philosophie folgen.

1067

1068

Vgl. Kreimendahl, L. Kant – der Durchbruch von 1769, a. a. O., S. 159–169. Kreimendahl diskutiert die Interpreten, die die geschichtlichen Wurzeln der Antinomie der reinen Vernunft an den Tag zu bringen versuchten, vor allem Heimsoeth (Heimsoeth, H. Atom, Seele, Monade, a. a. O.), aber auch Vaihinger, Cassirer, Robinson, Wundt, Vleeschauwer usw. Dabei wird Heimsoeth kritisiert, weil er die in den Antinomien enthaltenen metaphysischen Themen nach einer „geistgeschichtlichen Manier“ vorgestellt habe, anstatt sie nach ihren „philologischen Manifestationen“ zu untersuchen. Es fehlt bei Heimsoeth, so Kreimendahl, die „Kärrnerarbeit der empirischen Ermittlung“. Kreimendahl, L. Kant – der Durchbruch von 1769, a. a. O., S. 162–163, Fn. 43. Trotz aller Probleme sei die These Heimsoeths über die „historische Verankerung“ der Antinomie korrekt. Kreimendahl argumentiert schließlich, dass die in den Antinomien behandelten metaphysischen Themen in ihrer systematischen Reinheit dargestellt werden, woraus sich der Mangel an genaueren historischen Hinweisen im Antinomie-Kapitel erklären lässt. In der Reflexion 2649 spricht Kant von einer „Prüfung“ und „Deduktion“ des Titels des Scheins als dessen Auflösung und Erklärung. Ein solches Verfahren wäre sozusagen mit einer „gesünderen“ Widerlegung der streitenden Partei verbunden, wobei die „Rechte der gemeinen Menschenvernunft“ respektiert würden. „Wenn der Schein nicht aufgeloset und erklärt ist (g sein titel geprüft und deducirt ist), so ist der Irrthum nicht aus dem Grunde geheilt. Denn der Schein kan noch in andern fällen betriegen, und man weiß auch nicht, ob die Wiederlegung nicht selbst auf dem Schein beruhe. Es müssen die subiectiven Ursachen entwikelt werden, die leichtlich vor obiective gehalten werden, ungeacht einer sonst hellsehenden Vernunft. Wiederlegen muß immer mit einer satisfaction gegen die Rechte der gemeinen Menschenvernunft angestellt werden. Nicht argumentum ab odio, damit die Gemüther in ansehung der Warheit nicht getrennet werden“ (Rx 2649 AA 16: 449 (1780– 83?) (1778–1779?)).

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Bei genauerem Hinsehen kommt man daher zu der Einsicht, dass die Transzendentale Dialektik auch als Disziplin oder Kritik1069 im Sinne einer im Disziplin-Kapitel angesprochenen Negativlehre zur Verhütung von Irrtümern und zur Grenzbestimmung des Vernunftgebrauchs verstanden werden kann. Eine solche Negativlehre hat jedoch einen positiven Nutzen, nämlich den Missbrauch der Vernunftgrundsätze aufzudecken und zu regeln, indem sie ihn als einen auf einem transzendentalen Schein beruhenden Missbrauch erklärt.1070 Kant betont, dass die Streitigkeiten um die Gegenstände der reinen Vernunft dadurch geschlichtet werden können, dass man auf die „Ursache“ bzw. „Quelle“ des Irrtums achtet, der den Menschen dazu führt, von einem spekulativen Standpunkt aus den transzendentalen Ideen Wirklichkeit und objektive Realität zu verleihen. Wie im letzten Kapitel bereits erwähnt wurde, sind die Ideen wegen ihrer transzendentalen subjektiven Realität für sich selbst und ursprünglich nicht dialektisch, sondern nur aufgrund eines Missbrauchs, der wegen des transzendentalen Scheins begangen wird. Die Ideen der reinen Vernunft können nimmermehr an sich selbst dialektisch sein, sondern ihr bloßer Missbrauch muß es allein machen, daß uns von ihnen ein trüglicher Schein entspringt; denn sie sind uns durch die Natur unserer Vernunft aufgegeben, und dieser oberste Gerichtshof aller Rechte und Ansprüche unserer Speculation kann unmöglich selbst ursprüngliche Täuschungen und Blendwerke enthalten. Vermuthlich werden sie also ihre gute und zweckmäßige Bestimmung in der Naturanlage unserer Vernunft haben (A 669/B 697, Hervor. d. Verf.).

Die zweckmäßige Bestimmung der transzendentalen Ideen beruht in ihrer Funktion als ermöglichende Bedingungen des vollständigen und zweckmäßigen moralischen Gebrauchs der Vernunft. Eine der Grundaufgaben des Gerichtshofs der Vernunft ist daher, die Sätze und Gegensätze mit Blick auf die transzendentalen Ideen kri1069 1070

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„Analytic (g gehört zur doctrin; dialectic zur Critic). Momente des Verstandes und Vernunft (unbestimmt in ansehung der obiecte)“ (Rx 1675 AA 16: 74). Heimsoeth erkennt in diesem Sinn von „Dialektik“ den „tiefen Sinn“ von Kritik: „Dialektik als ‚Kritik‘ des Mißbrauchs von an sich notwendigen Grundsätzen, des Mißbrauchs in Erschließungs- und Erweiterungsansprüchen der Metaphysik, und wie derselbe nicht durch Philosophenwillkür, sondern jeweils durch eine Weise des ‚transzendentalen Scheins‘ (gespeist dieser aus tief verborgenen Quellen der Vernunft selbst) bedingt ist – diese Kritik wird alle drei Themenbereiche ausführlich zu durchforschen haben“. Heimsoeth, H. Transzendentale Dialektik, a. a. O. Bd. 1, S. 25. Heimsoeth zufolge ist „der Dialektik-Teil des Werkes […] recht eigentlich, wegen dessen das ganze Unternehmen den Titel Kritik der reinen Vernunft erhielt, während transzendentale Ästhetik und Analytik, die ihm vorausgehen, eine positive ‚Doktrin‘ bezüglich unserer in ‚Grundsätzen‘ fundierten Erkenntnis auf dem Boden der Erfahrung geben“ (ebd., S. 1f.). „Mit transzendentaler Dialektik bezeichnet Kant eine aller vorausgegangenen Philosophie gegenüber neue und nur seiner Vernunftkritik eigene Theorie und Aufgabe“ (ebd., S. 3). Wie bereits darauf hingewiesen wurde, teilen diese Auffassung diejenigen Interpreten, die in der Antinomieproblematik den „systeminitiierenden Impuls der Transzendentalphilosophie“ erkennen. Vgl. dazu auch Röttges, H. Dialektik als Grund der Kritik: Grundlegung einer Neuinterpretation der Kritik der reinen Vernunft durch Nachweis der Dialektik von Bedeutung und Gebrauch als Voraussetzung der Analytik. Königstein/Ts.: Hain, 1981, S. 9: „[D]ie nicht bloß logische, sondern transzendentale Dialektik ist zumindest insofern Voraussetzung der Kritik überhaupt und damit der Analytik im besonderen, als sie allererst den Anstoß bedeutet für alle Kritik“.

tisch zu prüfen; der kritische Philosoph verfährt wie ein Richter, der diesen bestimmten Rechtsfall erforscht und letztendlich entscheidet, wie der praktischmoralische Gebrauch der Vernunft ermöglicht werden kann. All dies setzt jedoch die Entdeckung des Scheins, die Ablehnung einer konstitutiven Objektivität der Ideen im Rahmen der möglichen Erfahrung und die Erwiderung auf diejenigen voraus, die ihre rechtmäßigen Ansprüche auf eine empirische Erkenntnis unrechtmäßig dahingehend extrapolieren, dass sie die Möglichkeit der transzendentalen Ideen überhaupt verneinen. Der Gerichtshof begrenzt (negativer Nutzen) und erweitert (positiver Nutzen) zugleich den rechtmäßigen Gebrauch der transzendentalen Ideen. Um dieses Ziel zu erreichen, muss Kant jedoch zwei Bedingungen erfüllen. Erstens gilt es, nachdem die metaphysische Deduktion bereits nachgewiesen hat, dass die Ideen keine „bloßen Hirngespinste“ sind, die „falsche“ bzw. „grundlose“ Voraussetzung, von der die streitenden Parteien ausgehen, zu entlarven. Exakt eine solche Voraussetzung macht die Vernunftschlüsse dialektisch und trügerisch. Das skeptische „Dritte“ bzw. der kritische Richter nimmt den einzigen Standpunkt ein, von dem aus der gemeinschaftliche Irrtum der streitenden Parteien aufgedeckt und erklärt werden kann. Zweitens muss Kant die dogmatische Position ausschließen, die von der prinzipiellen Unmöglichkeit einer spekulativ-konstitutiven Erkenntnis der Gegenstände der transzendentalen Ideen auf die Unmöglichkeit solcher Ideen überhaupt schließt. Aus diesem Grund muss er die unrechtmäßige Erweiterung des im Prinzip rechtmäßigen Anspruchs der Gegner der Metaphysik auf eine empirische Erkenntnis einschränken. Dies ist aus den im Disziplin-Kapitel dargestellten Beweismitteln der Transzendentalphilosophie, nämlich den ostensiven und den apagogischen Beweisen sowie der Widerlegung und Retorsion als Verteidigungsmitteln, zu ersehen. Aus dem im Disziplin-Kapitel Dargestellten ergibt sich, dass Kant in der ganzen Transzendentalen Dialektik die Möglichkeit von ostensiven und apagogischen Beweisen ausschließt. Bei den ostensiven Beweisen erklärt sich dies aus der Eigentümlichkeit der transzendentalen Ideen: Anders als die reinen Verstandesbegriffe gestatten sie keine transzendentale Deduktion, das heißt, durch einen direkten Beweis kann nicht ihre objektive Realität, sondern lediglich ihre „transzendentale (subjektive) Realität“ nachgewiesen werden. Aufgrund des transzendentalen Scheins ist ein apagogischer Beweis ebenso wenig möglich, weil er nur da erlaubt ist, wo sich das Subjektive der Erkenntnis mit dem Objektiven nicht verwechseln lässt. Dem „kritischen“ Verteidiger der Gegenstände der Metaphysik bleibt nur die Widerlegung bzw. Refutation des Gegners übrig. Indem er den Mangel an Beweismitteln zum spekulativen Nachweis seiner eigenen Sätze „kritisch“ anerkennt, weist er zugleich die skeptischdogmatischen Extrapolationen des Gegners zurück. Eine solche auf den ersten Blick paradoxal wirkende „erweiternde Begrenzung“ der reinen Vernunft liegt jedoch ihrer Gesetzgebung zugrunde.1071 1071

J. Pissis verweist nicht nur hinsichtlich der Ästhetik oder der Analytik, sondern auch der Dialektik auf die Notwendigkeit, den positiven Charakter der Kritik zu erkennen. Pissis ist zuzustimmen, dass der positive Charakter der Dialektik im Beweis der Möglichkeit eines regulativen Gebrauchs der Ideen und auch in der Ermöglichung des praktischen Vernunftgebrauchs durch die Einschränkungen und Widerlegungen des rationalistischen so-

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10.1

Der transzendentale Schein und die Transzendentale Dialektik

10.1.1 Der transzendentale Schein, das vitium subreptionis und der Widerstreit von Gesetzen vor dem Gerichtshof der Vernunft Der transzendentale Schein ist ein unausweichliches Thema bei allen Untersuchungen über die Transzendentale Dialektik. Es wurde schon darauf hingewiesen, wie der Begriff einer „falschen Voraussetzung“ bzw. eines „Grundvorurteils“ zwar bereits in den vorkritischen Schriften auftaucht, aber nur in der KrV wird eine solche falsche Voraussetzung zu einem transzendentalen Schein, dem die menschliche Erkenntnis unterworfen ist. Erst in der KrV erkennt Kant außerdem die reine Vernunft als „Sitze des transzendentalen Scheins“ (A 298/B 355). Es ist der transzendentale Schein, der den Missbrauch der Ideen verursacht. Dieser Missbrauch führt dazu, dass die ursprünglich aus der Natur der Vernunft richtig geschlossenen Begriffe zu dialektischen Begriffen werden, dass also die transzendental-subjektive Gültigkeit der Ideen heimlich zu einer unrechtmäßigen objektiven Gültigkeit wird. Die Besonderheit des transzendentalen Scheins ist, dass der durch ihn verursachte Missbrauch nicht zufällig, künstlich oder vermeidbar, sondern vielmehr notwendig, natürlich und unvermeidbar ist. Kant definiert die Dialektik als Logik des Scheins im Gegensatz zu einer Logik der Wahrscheinlichkeit, die eine durch „unzureichende Gründe erkannte“ Wahrheit bezeichnet und in der folglich die Erkenntnis bloß mangelhaft, nicht trügerisch ist. Ebenso wenig darf man Schein mit Erscheinung verwechseln. Die Erscheinung meint in diesem Zusammenhang „Wahrheit empirischer Erkenntnis“, nicht Wahrscheinlichkeit oder Irrtum und Betrug. Sowohl die Wahrheit als auch der Schein sind nicht in den Gegenständen, sofern diese angeschaut werden, sondern vielmehr im „Urteil über [die]selben, so fern [sie] gedacht [werden]“ (A 293/B 350). Demzufolge werden Wahrheit sowie Fehler – und damit auch der Schein – nur im Urteil gefunden, sprich nicht im Gegenstand selbst, sondern im Verhältnis des Gegenstands zu unserem Erkenntnisvermögen. Kant nimmt diese Lehre über den Irrtum im Anhang zur Transzendentalen Dialektik wieder auf. Der Irrtum im Hinblick auf die Ideen entsteht nun nicht in den Ideen selbst, sondern im Urteil über sie und im Gebrauch, den man von ihnen macht. Während ein immanenter Gebrauch der Ideen als regulative Prinzipien in der Erfahrung berechtigt und „wahr“ ist, ist ein transzendenter Gebrauch derselben als konstitutives Prinzip der Erfahrung unberechtigt und trügerisch. Kant weist dabei auf den Missbrauch der Ideen hin. Wie im Folgenden erklärt wird, ist der Grundfehler ein „Fehler der Subreption“ (auch: „Fehler der Erschleichung“; vgl. MdS AA 06: 297) bzw. eine „transzendentale Subreption“, die dazu führt, dass man die subjektiven Bedingungen der Erkenntnis für objektiv hält. Aufgrund der transzendentalen Subreption hält man die Bedingungen, die die Objektivität eines Gegenstands der möglichen Erfahrung (Erscheinung) bestimmen, für die Bedingungen, die die Konstitution der Dinge an sich (Noumwie empiristischen Dogmatismus besteht. Anders als bei Pissis wird hier jedoch die Auffassung vertreten, dass der doppelte Charakter der Dialektik, der positive und der negative, ohne Bezug auf den juridischen Begriff einer Gesetzgebung der Vernunft nicht richtig verstanden werden kann. Pissis, J. Kants transzendentale Dialektik. Zu ihrer systematischen Bedeutung. Berlin [u. a.]: De Gruyter, 2012.

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enon) bestimmen. Der Fehler der Subreption wird einem „Mangel der Urteilskraft, niemals aber dem Verstand oder der Vernunft“ zugeschrieben (A 643/ B 671). Auf einem solchen Mangel der Urteilskraft beruht der Grundfehler der Metaphysik. Woraus genau aber lassen sich der Schein und damit der Irrtum, aus dem der Missbrauch der Ideen resultiert, erklären? Der Irrtum steht der Wahrheit als „durchgängige Zusammenstimmung“ einer Erkenntnis mit den Verstandesgesetzen bzw. mit Gesetzen der Sinnlichkeit entgegen. Der Grund des Fehlers liegt also weder im Verstand noch in der Sinnlichkeit, sondern in einem unbemerkten Einfluss, einer Verleitung. Zur Verdeutlichung dieses Gedankens verwendet Kant ein physisches bzw. teleologisches Argument, dessen er sich auch in anderen Schriften bedient (vgl. GMS AA 04: 395–396): Keine Naturkraft (im Sinne einer „Naturanlage“) kann von ihren Gesetzen abweichen, es sei denn, dass ein äußerer Einfluss sie dazu zwingt. In einer Vorstellung der Sinne ist (weil sie gar kein Urtheil enthält) auch kein Irrthum. Keine Kraft der Natur kann aber von selbst von ihren eigenen Gesetzen abweichen. Daher würden weder der Verstand für sich allein (ohne Einfluß einer andern Ursache), noch die Sinne für sich irren (A 293/B 350).

Weder der Verstand noch die Sinnlichkeit irren sich für sich selbst. Wenn der Verstand nach seinen Gesetzen handelt, dann stimmt die „Wirkung (das Urteil)“ mit ihnen überein, und genau darin besteht, so Kant, „das Formale aller Wahrheit“ („Übereinstimmung mit den Gesetzen des Verstandes“). Was die Sinnlichkeit betrifft, kann sie nicht beurteilen, deswegen gibt es bei ihr weder Irrtum noch Wahrheit. Daraus ergibt sich, dass dem Irrtum ein „unbemerkter Einfluß der Sinnlichkeit auf den Verstand“ zugrunde liegt, durch den das Subjektive der Erkenntnis mit dem Objektiven „zusammenfließt“ und Letzteres von seiner „Bestimmung“ abweicht. Weil wir nun außer diesen beiden Erkenntnißquellen keine andere haben, so folgt: daß der Irrthum nur durch den unbemerkten Einfluß der Sinnlichkeit auf den Verstand bewirkt werde, wodurch es geschieht, daß die subjectiven Gründe des Urtheils mit den objectiven zusammenfließen und diese von ihrer Bestimmung abweichend machen (A 294/B 350–351, Hervor. d. Verf.).

Die Sinnlichkeit ist die Quelle der realen Erkenntnis und zugleich, sofern sie auf die „Verstandeshandlung […] einfließt“, der „Grund des Irrtums“.1072 Aus einem solchen unbemerkten Einfluss der Sinnlichkeit auf die Verstandeshandlung entsteht das oben erwähnte vitium subreptionis oder der Fehler der Erschleichung, den Kant im Allgemeinen als Vertauschung des Intellektuellen und des Sinnlichen begreift.1073 1072

1073

„Gefahr des Irrtums entsteht, wenn ‚subjektive Gründe‘ sinnlich-anschaulicher Gegebenheit und Vorstellungsweise […] die Sachauffassung, also die ‚objektiven‘ Gründe des Urteils unvermerkt beeinflussen“. Heimsoeth, H. Transzendentale Dialektik. Bd. 1, a. a. O., S. 9. Zum Verhältnis zwischen dem transzendentalen Schein und dem vitium subreptionis siehe Birken-Bertsch, H. Subreption und Dialektik bei Kant, a. a. O. Der Begriff des vitium subreptio-

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Kant scheint sich hierbei innerhalb des begrifflichen Rahmens der Dissertatio zu bewegen. Bei der Dissertatio ist jedoch, wie schon gesehen, von einem Einfluss der Gesetze der Sinnlichkeit auf die Verstandesgesetze die Rede; bei der Transzendentalen Dialektik müsste es sich stattdessen um einen Einfluss der Sinnlichkeit auf die Vernunftgesetze handeln. Kant drückt sich in dieser Hinsicht jedoch nicht deutlich aus. In der Logik Blomberg (1771) erklärt er das vitium subreptionis als eine Vermischung der Erfahrungs- und Vernunftbegriffe. Wir müßen uns hauptsächlich bemühen, Erfahrungs-Begrife von Vernunft-Begrifen zu unterscheiden. Was nicht in die Sinne fällt, gehet nicht vor die Erfahrung. Aus der Vermischung der Erfahrungs- und Vernunft-Begrife entstehet das vitium Subreptionis, davon in der Metaphysica die Rede ist. Recht, und Unrecht sind keine Erfahrungs, sonderen reine Vernunft Begrife, sie wären aber Erfahrungs-Begrife, wenn das Unrecht wäre, was nicht gewohnlich ist, was die Menschen nicht thuen (V-Lo/Blomberg AA 24: 254 (1771), Hervorh. d. Verf.).

Der Beweisgang der Dialektik lässt sich unter Heranziehung dieser Stelle der Logik Blomberg besser verstehen. Der transzendentale Schein, „davon in der Metaphysik die Rede ist“, entsteht aus einem vitium subreptionis, das die „Vermischung von Vernunftbegriffen und Erfahrungsbegriffen“ betrifft. Man könnte dies auch anders formulieren: Der transzendentale Schein entsteht aus der Vermischung der Vernunftgesetze und der Gesetze der Sinnlichkeit bzw. der Vernunft- und Verstandesgesetze. Eine weitere Deutungsmöglichkeit könnte von der folgenden Voraussetzung ausgehen: Die Begriffe und die Schlüsse der Vernunft bezeichnen nicht selbständige Begriffe der Vernunft, sondern eigentlich eine Erweiterung und „Befreiung“ der Verstandesbegriffe. Wie schon erwähnt, deutet Kant zu Beginn des ersten Abschnitts des Antinomie-Kapitels darauf hin, dass die Vernunft „gar keinen Begriff erzeugt“, sondern sich lediglich darauf beschränkt, die Verstandesbegriffe „von den unvermeindlichen Einschränkungen einer möglichen Erfahrung“ frei zu machen: [Wir] müssen Erstlich bemerken, daß nur der Verstand es sei, aus welchem reine und transzendentale Begriffe entspringen könne, daß die Vernunft eigentlich gar keinen Begriff erzeuge, sondern allenfalls nur den Verstandesbegriff, von den unvermeindlichen Einschränkungen einer möglichen Erfahrung frei mache (A 408–409/B 435, Hervorh. d. Verf.).

Auf dieser Grundlage wird verständlich, wie Kant von einem Einfluss der Gesetze der Sinnlichkeit auf die Verstandesgesetze reden kann, sofern die Vernunft die Verstandesgesetze von ihren rechtmäßigen Grenzen, in denen sie als Gesetze der Sinnlichkeit und demnach der möglichen Erfahrung gelten, frei macht. Anders als in der Dissertatio, in der Kant zum ersten Mal so etwas wie einen Widerstreit zwischen den Gesetzen des Intellekts und den Gesetzen der Sinnlichkeit zum Ausdruck bringt, kann der erst nach der Dissertatio herausgearbeitete Unternis bzw. des Fehlers der Erschleichung ist in der Regel umfassender als jener des transzendentalen Scheins und lässt sich auch in anderen Bereichen der kantischen Philosophie anwenden (ebd., S. 122–141). Der transzendentale Schein hat einen systematischen Vorrang in der kritischen Periode; entstehungsgeschichtlich gesehen hat aber der Fehler der Erschleichung Vorrang, wie im Folgenden gezeigt wird.

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schied zwischen Vernunft und Verstand erklären, wie Kant den Widerstreit und den damit verbundenen Schein als Widerstreit bzw. Verwechslung von Gerichtsbarkeiten begreift, die von der Vernunft aufgehoben werden muss.1074 Auf dieses Problem wird erneut bei der Diskussion um die Antinomie der reinen Vernunft eingegangen. Aller terminologischen Schwierigkeiten zum Trotz kann man mit Sicherheit behaupten, dass in allen Fällen das vitium subreptionis die Vernunft und den Verstand ihres „Rechts“, sich einen Geltungsbereich für ihre Begriffe zu verschaffen, „beraubt“ (Rx 241 AA 15: 92). Der Gerichtshof der Vernunft bei der Transzendentalen Deduktion hat die Aufgabe, eine solche „Beraubung von Rechten“ zu vermeiden. Zur Berichtigung eines solchen unbemerkten Einflusses weist Kant auf die Rolle der transzendentalen Überlegung hin. Durch diese wird „jeder Vorstellung ihre Stelle in der ihr angemessenen Erkenntniskraft angewiesen, mithin [wird] auch der Einfluß der letzteren auf jene unterschieden“ (A 295/B 351). Im Anhang zur Transzendentalen Analytik hat Kant bekanntlich der transzendentalen Überlegung die Aufgabe zugeschrieben, den transzendentalen Ort der Gegenstände zu bestimmen, nämlich ob sie dem reinen Verstand oder der Sinnlichkeit angehören, um so die Verwechslung von Sinnlichkeit und Verstand vermeiden und folglich einen „sicheren Gebrauch“ dieser Begriffe erreichen zu können: Ohne diese Überlegung mache ich einen sehr unsicheren Gebrauch von diesen Begriffen, und es entspringen vermeinte synthetische Grundsätze, welche die kritische Vernunft nicht anerkennen kann, und die sich lediglich auf einer transscendentalen Amphibolie, d. i. einer Verwechselung des reinen Verstandesobjects mit der Erscheinung, gründen (A 269– 270/B 325–326).

Die transzendentale Überlegung als Hilfsmittel zur Bestimmung des transzendentalen Orts eines jeden Begriffs und zur Vermeidung der Verwechselung der Gerichtsbarkeiten der Vernunft dient daher dazu, den transzendentalen Schein zu „stillen“ und ihm Grenzen zu setzen. Nicht ohne Grund kommt hierbei ein weiterer eng mit der Rechtswissenschaft verbundener Begriff zur Geltung, nämlich die „transzendentale Topik“. Diese ist eine Lehre, die vor Erschleichungen des reinen Verstandes und daraus entspringenden Blendwerken gründlich bewahren würde, indem sie jederzeit unterschiede, welcher Erkenntnißkraft die Begriffe eigentlich angehören (A 268/B 324).

Die transzendentale Überlegung dient der transzendentalen Topik, sofern sie den transzendentalen Ort der Gegenstände eines jeden Erkenntnisvermögens bestimmt und daher „vor Erschleichungen des reinen Verstandes und daraus 1074

M. Baum schreibt, nachdem er die Stelle über die Freimachung der Verstandesbegriffe durch die Ideen zitiert hat: „Aus dieser Abhängigkeit der Vernunftbegriffe von den Verstandesbegriffen folgt schon die kritische Umkehrung des platonisierenden Idealismus und seine Reduktion auf die Rolle der Formgebung bei der Konstitution einer Erkenntnis, deren Gegenstand in einer sinnlichen Anschauung gegeben werden können muss, um für sie Wahrheit beanspruchen zu können“. Baum, M. „Kants kritischer Rationalismus“, a. a. O., S. 196.

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entspringenden Blendwerken gründlich“ bewahrt. Dies bedeutet, dass sie zur Festlegung des Geltungsbereichs eines jeden Begriffs und seines Gebrauchs beiträgt und insoweit dem Gerichtshof der Vernunft als Mittel des kritischen Richters dient.1075 Kant erläutert weiter den transzendentalen Schein, indem er ihm den empirischen Schein gegenüberstellt. Der empirische Schein besteht in einer Abweichung des richtigen empirischen Verstandesgebrauchs durch den Einfluss der Einbildung. Der transzendentale Schein betrifft wiederum Grundsätze, „deren Gebrauch nicht einmal auf Erfahrung angelegt ist“ und die folglich „wider alle[r] Warnungen der Kritik gänzlich über den empirischen Gebrauch der Kategorien“ wegführen und „uns mit dem Blendwerke einer Erweiterung des reinen Verstandes“ hinhalten (A 295/B 352). Während der empirische Schein mit einer gelegentlichen Abweichung des richtigen empirischen Verstandesgebrauchs zu tun hat, ist der transzendentale Schein eine prinzipielle Abweichung des richtigen empirischen Verstandesgebrauchs überhaupt infolge einer unrechtmäßigen Erweiterung des reinen Verstandes über alle Grenzen der möglichen Erfahrung hinaus. Insoweit hat er einen transzendentalen Grund und läuft auf einen transzendentalen Missbrauch der Verstandesbegriffe und daher auf die Entartung des zweckmäßigen Verstandesgebrauchs und seiner Bestimmung hinaus. Zur Erläuterung der Grundsätze, Begriffe und Gebräuche des Verstandes, um die es hier geht, greift Kant auf eine Reihe von Begriffserklärungen zurück, die entscheidende Termini wie „immanent“, „transzendent“ und „transzendental“ betreffen.1076 Kant unterscheidet einerseits immanente und transzendente 1075

1076

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Die Topik ist nichts anders als eine „Rezension aller Titteln und argumentae worunter die Gegenstände betrachtet werden können; wie wir z. E. eine Sache aus verschiedenen Gesichtspunkte betrachtet können“ (V-Lo/Busolt AA 24: 681; vgl. auch V-Lo/Pölitz AA 24: 596–597). Die Erklärung der Topik als Wissenschaft der Rezension und Betrachtung aller Gegenstände aus verschiedenen Gesichtspunkten steht sicherlich im Zusammenhang mit der Auflösung der Antinomie und auch mit dem methodologischen Prinzip der skeptischen Methode. Auf die transzendentale Topik, deren juridischer Ursprung, wie im vierten Kapitel gezeigt wurde, eindeutig ist, kann in der vorliegenden Arbeit leider nicht näher eingegangen werden. Vgl. dazu Leitner, H. Systematische Topik: Methode und Argumentation in Kants kritischer Philosophie. Würzburg: Königshausen & Neumann, 1994. Hinske argumentiert, dass Kant an dieser Stelle der KrV den „alten“, der Wolff’schen Tradition angehörenden, also vorkritischen Sinn von „transcendental“ als cosmologia transcendentalis stillschweigend annimmt. Die alte und vorkritische sowie die neue, kritische und „eigentlich kantische“ Bedeutung von Transzendentalphilosophie stehen in der kritischen Philosophie bewusst und absichtlich nebeneinander. Daraus ergeben sich die Schwankungen des Begriffs „transzendental“ im Gang der kritischen Philosophie – wie z. B. die von Kant in der zweiten Auflage der KrV eingeführten Änderungen bei der Einleitung zur KrV (A 11–12/B 25). Vgl. Hinske, N. Kants Weg zur Transzendentalphilosophie, a. a. O., S. 27–39. Man kann auch Kants Schwankungen im Lichte der „patchwork theory“ von Kemp, Smith, Adickes, Erdmann, Vaihinger usw. sehen. Ihr zufolge finden „sich in der KrV Passagen, bei denen es sich tatsächlich um alte Schriftstücke Kants handelt, die er bei der Niederschrift der KrV in diese eingebaut habe“ (Buchenau, S., Hogan, D. & Schönecker, D. Kants Begriff transzendentaler und praktischer Freiheit. Eine entwicklungsgeschichtliche Studie. Berlin [u. a.]: De Gruyter, 2005, S. 97. Vgl. Kemp Smith, N. A. Commentary to Kant’s Critique of Pure Reason, a. a. O., S. xix–xxv). Es handelt sich um zwei mögliche Wege, die Rede von „Widersprüchen“ im kantischen Text zu vermeiden (anstatt diese durch eine genetische oder historische Untersuchung zu erklären).

Grundsätze des Verstandes voneinander und andererseits einen empirischen von einem transzendentalen Gebrauch des Verstandes. Der Missbrauch der Verstandesbegriffe besteht darin, den empirischen Gebrauch der Kategorien für einen transzendentalen Gebrauch zu halten. Im Gegensatz zum empirischen Gebrauch, der sich „ganz und gar in den Schranken möglicher Erfahrung hält“ (A 295–296/ B 352), wird der transzendentale Gebrauch der Kategorien von Kant als „über die Erfahrungsgrenze hinausreichende[r] Gebrauch“ definiert und daher eigenartigerweise mit dem „Missbrauch“ der Kategorien gleichgesetzt (A 296/ B 352).1077 Ein solcher transzendentaler Gebrauch der Kategorien ist, so Kant, „ein bloßer Fehler der nicht gehörig durch Kritik gezügelten Urteilskraft“ (A 296/B 352) und sollte nicht mit einem transzendenten Grundsatz verwechselt werden. Ein transzendenter Grundsatz nimmt die Schranke der Erfahrung weg, „ja [gebietet] gar sie zu überschreiten“. Während daher der transzendentale Gebrauch des Verstandes nur auf „die Grenze des Bodens, worauf allein dem reinen Verstande sein Spiel erlaubt ist“, nicht „genug Acht hat“, wollen solche transzendenten Grundsätze „alle jene Grenzpfähle niederreißen, und [maßen] sich einen ganz neuen Boden, der überall keine Demarkation erkennt, [an]“ (A 296/B 352). Zum Verständnis des oben Gesagten ist ein kurzer Blick auf den Anhang der Transzendentalen Analytik zu werfen. Hier erklärt Kant, dass der transzendentale Gebrauch eines Begriffs sich „in irgend einem Grundsatze“ auf „Dinge überhaupt und an sich selbst“, nicht aber auf Erscheinungen (B 298) bezieht und damit einen „Begriff von Dingen überhaupt“ voraussetzt (A 242). Ein solcher transzendentaler Gebrauch des Verstandes ist ein „bloßer Fehler“. Dieser besteht darin, den „transzendentalen Gegenstand“ nicht nur als ein „Etwas = X“ bloß zu denken, sondern ihm eine „positive Bedeutung“ zu verleihen und ihn als ein „Noumenon“, ein Ding an sich, positiv zu bestimmen (vgl. z. B. A 270– 271/B 326–327).1078 Ein solcher Fehler der „Urteilskraft“ kann, so Kant, durch eine „Kritik dieses reinen Verstandes“ leicht aufgehoben werden.1079 1077

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„Eigenartigerweise“, weil ein solcher Sinn von „transzendental“ nicht derjenige ist, der in der in B 25 gegebenen Definition von „transzendental“ zu finden ist. Man kann diese Schwankung auf der Grundlage der Auffassung Hinskes verstehen (vgl. vorherige Fußnote). Einen weiteren Erklärungsvorschlag für den besprochenen „transzendentalen Missbrauch“ der Kategorien gibt Heimsoeht. Er nennt als Beispiel eines transzendentalen Missbrauchs der Kategorien den Satz vom Grunde im Sinne eines ontologischen Prinzips der Kausalität – das heißt, wenn man das Prinzip der Kausalität über den „Boden der Erfahrung“ hinaus anwendet. Vgl. Heimsoeth, H. Transzendentale Dialektik, Bd. 1, a. a. O., S. 12. M. Willaschek fasst die möglichen Bedeutungen von „transzendentalem Gegenstand“ bei Kant folgendermaßen zusammen: „(1) die durch die reinen (unschematisierten) Kategorien bestimmte Struktur eines ‚Gegenstandes überhaupt‘, (2) das für alle Erscheinungen identische ‚Etwas = x‘ und (3) den für unterschiedliche jeweils spezifischen, uns aber unbekannten transzendentalen ‚Grund‘“. Willaschek, M. „Phaenomena/Noumena und die Amphibolie der Reflexionsbegriffe“. In: Mohr, G. & Willaschek, M. (Hrsg.). Kants Kritik der reinen Vernunft, a. a. O., S. 334. „Die Kritik dieses reinen Verstandes erlaubt es also nicht, sich ein neues Feld von Gegenständen außer denen, die ihm als Erscheinungen vorkommen können, zu schaffen und in intelligible Welten, sogar nicht einmal in ihren Begriff auszuschweifen. Der Fehler, welcher hierzu auf die allerscheinbarste Art verleitet und allerdings entschuldigt, obgleich

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Mit einem transzendenten Grundsatz verhält es sich ganz anders. Solche Grundsätze sind nicht das Ergebnis eines „Versehens“ der Urteilskraft, sondern sind in der Natur der menschlichen Vernunft verwurzelt. Die Berichtigung des transzendentalen Missbrauchs der Kategorien erweist sich daher als eine einfachere Aufgabe als die Berichtigung des transzendentalen Missbrauchs der Kategorien, sofern sie zu transzendentalen Ideen verwandelt werden, woraus solche transzendenten Grundsätze entstehen. Der spekulativ-transzendentale Gebrauch der reinen Vernunft bzw. der reinen Vernunftbegriffe (A 319/B 376) soll daher einer strengen Kritik unterwerfen werden. Anders als bei dem Missbrauch der Kategorien wird jedoch der Missbrauch der Ideen durch einen transzendentalen Schein verursacht, der nicht „aufhört, ob man ihn schon aufdecket und seine Nichtigkeit durch die transzendentale Kritik deutlich eingesehen hat“, wie z. B. der Schein, der in diesem Satz versteckt ist: „Die Welt muss der Zeit nach einen Anfang haben“ (A 297/B 353). Der Grund davon ist, daß in unserer [d. h. der menschlichen] Vernunft (subjektiv als ein menschliches Erkenntnisvermögen betrachtet) Grundregeln und Maximen ihres Gebrauchs liegen, welche gänzlich das Ansehen objektiver Grundsätze haben, und wodurch es geschieht, daß die subjektive Notwendigkeit einer gewissen Verknüpfung unserer Begriffe, zu Gunsten des Verstandes, für eine objektive Notwendigkeit, der Bestimmung der Dinge an sich selbst, gehalten wird (A 297/B 353).

Man kann die Gegenüberstellung von „subjektiv“ und „objektiv“ auf zweierlei Arten verstehen. Zum einen kann sie den Unterschied zwischen metaphysischer und transzendentaler Deduktion bezeichnen, nämlich den Unterschied zwischen einer subjektiven und einer objektiven Deduktion bzw. einer Deduktion, die die transzendental-subjektive Realität der Ideen festlegt, und einer Deduktion, die die objektive Realität der Ideen als konstitutive Prinzipien beweist. Zum anderen kann man eine solche Gegenüberstellung auch im Sinne des Unterschieds zwischen Maxime und Gesetz oder subjektivem und objektivem Grundsatz verstehen. Die Rede von „Maximen“ und „Grundregeln“ statt „Gesetzen“, wie etwa bei den „Gesetzen“ des Verstandes für die Natur (vgl. z. B. B 163–165), verweist nun auf den grundsätzlich subjektiven Charakter der Vernunftgrundsätze im spekulativen Bereich. Anhand von Termini, die auf die Moralphilosophie verweisen, erklärt Kant, dass man unbemerkt die subjektiven Grundsätze für objektive, im Sinne von konstitutiven Grundsätzen, hält. Es geht dabei um den Schein, subjektive Grundsätze der Überlegung und Anordnung von Erscheinungen für objektive Grundsätze der Konstitution von Dingen an sich selbst zu halten. Anders gesagt besteht dieser Schein darin, zu erwägen, dass die Dinge an sich dem Raum und der Zeit untergeordnet sind, und umgekehrt, dass Raum und Zeit die einzigen Bedingungen sind, denen alle möglichen Sachen untergeordnet sind.1080 Dieser Schein ist so unentbehrlich, wie der empirische Schein, der bei

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nicht gerechtfertigt werden kann, liegt darin: daß der Gebrauch des Verstandes wider seine Bestimmung transscendental gemacht, und die Gegenstände, d.i. mögliche Anschauungen, sich nach Begriffen, nicht aber Begriffe sich nach möglichen Anschauungen (als auf denen allein ihre objective Gültigkeit beruht) richten müssen“ (B 345). „Der ‚Schein transzendentaler Urteile‘ […] beruht also auf einer unwillkürlichen ‚Unterschiebung‘ (subreptio, alter Terminus der Logik); Maximen des Vernunftgebrauchs wer-

den Astronomen verhindert, „dass ihm der Mond im Aufgange nicht größer scheine“, obwohl er anders als beim transzendentalen Schein „durch diesen Schein nicht betrogen wird“ (A 297/B 354). Der transzendentale Schein ist unvermeidlich, aber nicht unvermeidbar trügerisch. Das Ziel der Transzendentalen Dialektik ist lediglich, diesen Schein „aufzudecken“ und zugleich dafür zu sorgen, dass „er nicht betrügt“ (A 297/ B 354). Es lässt sich jedoch nicht erreichen, dass er „ein Schein zu sein aufhöre“, denn wir haben es mit einer natürlichen und unvermeidlichen Illusion zu tun, die selbst auf subjektiven Grundsätzen beruht, und sie als objektive unterschiebt, anstatt daß die logische Dialektik in Auflösung der Trugschlüsse es nur mit einem Fehler, in Befolgung der Grundsätze, oder mit einem gekünstelten Scheine, in Nachahmung derselben, zu tun hat. Es gibt also eine natürliche und unvermeidliche Dialektik der reinen Vernunft, nicht eine, in die sich etwa ein Stümper, durch Mangel an Kenntnissen, selbst verwickelt, oder die irgend ein Sophist, um vernünftige Leute zu verwirren, künstlich ersonnen hat, sondern die der menschlichen Vernunft unhintertreiblich anhängt, und selbst, nachdem wir ihr Blendwerk aufgedeckt haben, dennoch nicht aufhören wird, ihr vorzugaukeln, und sie unablässig in augenblickliche Verirrungen zu stoßen, die jederzeit gehoben zu werden bedürfen (A 297–298/B 354).

Der transzendentale Schein beruht auf der Natur der Vernunft selbst. Folglich hinterlässt er Spuren in allen Schlüssen, die die Vernunft macht. Die menschliche Vernunft ist natürlich und zwangläufig dazu verleitet, Erscheinungen mit den Dingen an sich, genauer gesagt die subjektiven Bedingungen der menschlichen Erkenntnis mit der objektiven Struktur der Dinge an sich selbst zu verwechseln. Genau auf diesem Schein beruht der Hauptgrund des „Kampfplatz[es] dieser endlosen Streitigkeiten“, der die Metaphysik kennzeichnet, und aus ihm ergeben sich auch die Fragen, die „die menschliche Vernunft belästig[en]“, genau weil sie über die Fähigkeit der Vernunft, sie zu beantworten, weit hinausgehen. Die sich daraus ergebende transzendentale Dialektik ist also keine Sophisterei, die ihr Entstehen einer Kampfbegierde verdankt, und ebenso wenig ist sie das Ergebnis einer logisch-kognitiven Insuffizienz des Menschen, die aufgehoben werden könnte; ganz im Gegenteil hat die transzendentale Dialektik ihren Grund und ihre ratio fiendi in der Vernunft selbst. Daraus lässt sich erklären, warum Kant den Nutzen und die Unvermeidlichkeit einer Transzendentalen Dialektik als Untersuchung über den Ursprung und Umfang des transzendentalen Scheins hervorhebt, sogar nachdem die Transzendentale Analytik die Ansprüche der spekulativen Vernunft auf eine Erkenntnis der möglichen Erfahrung direkt bewiesen und damit den Geltungsbereich ihrer konstitutiven Prinzipien begrenzt hat. Die folgende Stelle der Logik Jäsches bringt dies vortrefflich zum Ausdruck: Um Irrthümer zu vermeiden, muß man die Quelle derselben, den Schein, zu entdecken und zu erklären suchen. Das haben aber die wenigsten Phi-

den für Prinzipien von gegenständlich-ontologischer Aussagekraft genommen“. Heimsoeth, H. Transzendentale Dialektik. Bd. 1, a. a. O., S. 14.

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losophen gethan. Sie haben nur die Irrthümer selbst zu widerlegen gesucht, ohne den Schein anzugeben, woraus sie entspringen. Diese Aufdeckung und Auflösung des Scheines ist aber ein weit größeres Verdienst um die Wahrheit als die directe Widerlegung der Irrthümer selbst, wodurch man die Quelle derselben nicht verstopfen und es nicht verhüten kann, daß nicht der nämliche Schein, weil man ihn nicht kennt, in andern Fällen wiederum zu Irrthümern verleite (Log AA 09: 56).

Die Transzendentale Dialektik hat also nicht zum Ziel, die „innere Falschheit“ der Metaphysik, sondern vielmehr den „Missbrauch“ der Vernunftbegriffe zu berichtigen, indem sie den Schein enthüllt, auf dem ein solcher Missbrauch beruht, und dadurch den Irrtum der streitenden Parteien im Kampfplatz der Metaphysik offenlegt und Auflösungs- bzw. Schlichtungsmöglichkeiten vorstellt. Dazu muss aber der kritische Richter zum Vorschein kommen. Er muss dem Grund der Streitigkeit nachgehen, um durch die Zuweisung von rechtmäßigen Geltungsbereichen für die streitenden Ansprüche den Streit beizulegen. 10.1.2 Die dialektischen Vernunftschlüsse der Vernunft – Die Entstehung des Scheins und des Irrtums Im letzten Kapitel wurde dargelegt, wie die metaphysische bzw. subjektive Deduktion nachweist, dass die Ideen richtig geschlossene Begriffe sind. Die transzendental-subjektive Realität der Ideen wird dadurch festgestellt, dass sie in der Natur der Vernunft ihren Sitz haben. Damit wurde aber noch nicht bewiesen, welcher bestimmte Gebrauch von den transzendentalen Ideen gerechtfertigt und berechtigt ist. Dies bedeutet, dass auch die objektive Realität der Ideen nicht bewiesen ist, da sie dadurch nicht transzendental deduziert sind. Die transzendental-subjektive Realität der Ideen gerät daher bei ihrem Missbrauch durch einen unvermeidlichen Schein in eine scheinbare, irreführende und trügerische objektive Realität. Der Grundirrtum der metaphysica specialis kommt also genau hierbei auf: nicht in ihrem Hervorbringen, sondern in ihrem Missbrauch. „Wenigstens die transzendentale (subjektive) Realität der reinen Vernunftbegriffe“ beruht nun darauf, dass „wir durch einen notwendigen Vernunftschluß auf solche Ideen gebracht werden“ (A 339/B 397). Obwohl „die gleichen Schlüsse in Ansehung ihres Resultats also eher vernünftelnde, als Vernunftschlüsse zu nennen [sind]“, sind sie an sich selbst jedoch nicht dialektisch, „weil sie doch nicht erdichtet oder zufällig entstanden, sondern aus der Natur der Vernunft entsprungen [sind]“ (A 339/B 397). Die transzendentalen Ideen sind also keine „Sophistikationen“ der Menschen, sondern solche der Vernunft selbst. Kant unterscheidet drei Arten oder Klassen von dialektischen Vernunftschlüssen, das heißt Schlüssen, die die transzendentalen Ideen trügerisch machen. 1) Man schließt „von dem transzendentalen Begriffe des Subjekts, der nichts Mannigfaltiges enthält, auf die absolute Einheit dieses Subjekts selber, von welchem ich auf diese Weise gar keinen Begriff habe“ (A 340/B 297–298). Daraus entsteht ein transzendentaler Paralogismus, der sich als rationale Psychologie, als rationale Seelenlehre herausbildet. 2) Man schließt „von der unbedingt synthetischen Einheit der Reihe auf einer Seite, [von der ich] jederzeit einen sich selbst widersprechenden Begriff habe, auf die Richtigkeit der entgegenstehenden Einheit, wovon ich gleichwohl auch keinen Begriff habe“ (A 340/B 398). Dies

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führt zu einer Antinomie der reinen Vernunft, die sich als rationale Kosmologie, als rationale Weltlehre herausbildet. 3) Schließlich schließt man „von der Totalität der Bedingungen, Gegenstände überhaupt, so fern sie mir gegeben werden können, zu denken, auf die absolute synthetische Einheit aller Bedingungen der Möglichkeit der Dinge überhaupt“ (A 340/B 398). Daraus ergibt sich ein Ideal der reinen Vernunft, die sich als eine rationale Theologie, als rationale Gotteslehre herausbildet. Die Ideen werden erst trügerisch und die Schlüsse, durch die man zu ihnen gelangt, dialektisch, wenn man aus einem Vernunftgrundsatz, der, wie im Gang des Kapitels noch erläutert wird, nur regulativ sein kann, ein konstitutives Prinzip macht und dadurch die Erkenntnis des Gegenstands der Ideen beansprucht. Im Folgenden wird das Gerichtshofmodell der Einfachheit halber nur in den Paralogismen nach der B-Auflage und vor allem in der Antinomie dargestellt, in der die Nomothetik am deutlichsten zum Vorschein kommt. 10.2

Die Paralogismen der reinen Vernunft

Das Paralogismen-Kapitel hat die Dekonstruktion der rationalen Psychologie als rationale Lehre, das heißt eine Lehre, die synthetische Grundsätze a priori über die Natur der Seele enthält, zum Thema. Der vom rationalen Psychologen begangene Fehler besteht hauptsächlich darin, von einem empirisch unbestimmten Satz, vom „Ich denke“, auszugehen und durch Schlussfolgerungen eine synthetische Erkenntnis a priori über die Natur der Seele anzustreben.1081 Der logische Paralogismus besteht in der Falschheit eines Vernunftschlusses, ungeachtet des Inhalts, nach seiner Form; der transzendentale Paralogismus, den die rationale Psychologie begeht, hat wiederum einen „transzendentalen Grund: der Form nach falsch zu schließen“ (A 341/B 399). Ein solcher Paralogismus beruht auf der „Natur der Menschenvernunft“ und „führt bei sich […] eine unvermeidliche, obzwar nicht unauflösliche, Illusion“ (A 341/B 399), nämlich das letzte Subjekt eines kategorischen Urteils als eine an sich selbst existierende Substanz zu sein. Der transzendentale Paralogismus lässt sich ganz allgemein folgendermaßen formulieren: Das „Ich denke“, das logische oder transzendentale Subjekt (rationale Psychologie) bzw. das Subjekt des inneren Sinnes (empirische Psychologie), wird als transzendentaler Gegenstand betrachtet, das heißt als eine Substanz, der (transzendentale) Prädikate wie Immaterialität, Inkorruptibilität, Personalität und endlich Immortalität zugesprochen werden (A 345/B 404). Man hält kurz gesagt das bloß Logische oder Empirische für etwas Metaphysisches, sprich für etwas, das außerhalb aller materialen Bestimmtheit bestehen könnte:

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„Die rationale Psychologie wird im ersten Hauptstück der transzendentalen Dialektik als eine Disziplin vorgestellt, die aus dem empirisch unbestimmten Satz ‚Ich denke‘ mittels eines syllogistischen Schlusses zu einer Erweiterung unserer Selbsterkenntnis beitragen will. Im Ausgang vom reinen Selbstbewußtsein sollen das Wesen und die Natur unserer Seele als derjenigen Substanz, die Träger dieses Selbstbewußtseins und Gegenstand des inneren Sinnes ist, bewiesen werden. Gemäß der Interpretation der syllogistischen Beweismethode in der Wolffschule soll diese auf eine Erweiterung unserer Erkenntnis, also auf synthetische Urteile a priori, führen“. Klemme, H. Kants Philosophie des Subjekts, a. a. O., S. 293.

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„Die logische Erörterung des Denkens überhaupt wird fälschlich für eine metaphysische Bestimmung des Objekts gehalten“ (B 409). Was die rationale Psychologie betrifft, herrscht in dieser „angeblichen Wissenschaft“ ein bestimmter Paralogismus, das heißt ein Fehlschluss, der aus dem logischen oder transzendentalen Subjekt des Denkens auf die Substantialität des Ichs schließt, von dem man aber keinen Begriff hat und das „keinen Gegenstand, mithin mich selbst auch nicht als Gegenstand, zu erkennen“ vermag (B 407). Der Paralogismus, der „in dem Verfahren der rationalen Psychologie herrscht“, ist der folgende: Was nicht anders als Subjekt gedacht werden kann, existiert auch nicht anders als Subjekt, und ist also Substanz. Nun kann ein denkendes Wesen, bloß als ein solches betrachtet, nicht anders als Subjekt gedacht werden. Also existiert es auch nur als ein solches, d. i. als Substanz (B 410).

Der Vernunftschluss ist ungültig, weil das Subjekt im Obersatz und im Untersatz nicht auf die gleiche Weise betrachtet wird. Im Untersatz betrachtet man das Subjekt als bloßes Denken (logisches Ich) und im Obersatz als Ding (substantielles Ich). Im Obersatz [scil. Was nicht anders als Subjekt gedacht werden kann, existiert auch nicht anders als Subjekt, und ist also Substanz] wird von einem Wesen geredet, das überhaupt in jeder Absicht, folglich auch so wie es in der Anschauung gegeben werden mag, gedacht werden kann. Im Untersatz [scil. Nun kann ein denkendes Wesen, bloß als ein solches betrachtet, nicht anders als Subjekt gedacht werden] aber ist nur von demselben die Rede, so es sich selbst, als Subjekt, nur relativ auf das Denken und die Einheit des Bewußtseins, nicht aber zugleich in Beziehung auf die Anschauung, wodurch die als Objekt zum Denken gegeben wird, betrachtet. Also wird per Sophisma figurae dictionis, mithin durch einen Trugschluß die Konklusion [scil. Also existiert es auch nur als ein solches, d. i. als Substanz] gefolgert (B 411).1082

In dem Ich als Denken fehlt die wesentliche Bedingung, etwas als Substanz zu begreifen, nämlich eine „beharrliche Anschauung“ (B 412–413). Ohne diese gibt es eigentlich keine objektive Realität und deswegen keine Substantialität.1083 Die 1082

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„Here it is clearly the case that a transcendentally motivated subreption occurs, although not one with an empirical conclusion. But there is in this fallacy a move in the premisses from a transcendental to an empirical meaning (and so a kind of per sophisma figurae dictionis), involving an ambiguity which Kant describes accurately: ‘Thought’ is taken in the two premisses in totally different senses: in the major premiss, as relating to an object in general and therefore to an object as it may be given in intuition; in the minor premiss, only as it consists in relation to self-consciousness’ (B 411 n.). That is, in my selfconsciousness whenever I consider myself merely as thinking, I can’t help but represent myself as subject. Yet that doesn’t mean I really am substance, for to be such I would have to be representable only as subject no matter how I am ‘thought’, i.e., represented (this is the transcendental major premiss), and thus no matter how any beings might intuit me“. Ameriks, K. Kant’s Theory of Mind: an analysis of the paralogisms of pure reason. New ed., reprinted. Oxford: Clarendon Press, 2007, S. 70. „Nun haben wir aber in der inneren Anschauung gar nichts Beharrliches, denn das Ich ist nur das Bewußtsein meines Denkens; also fehlt es uns auch, wenn wir bloß beim Denken

Einheit des Bewusstseins, die den Kategorien zugrunde liegt, wird irrtümlich als Anschauung des Subjekts als Objekt genommen, wodurch die Kategorie der Substanz trügerisch angewandt wird (B 421–422). In den Paralogismen der reinen Vernunft herrscht wie bei der Antinomie der reinen Vernunft (vgl. A 499/B 528) ein Trugschluss, der dabei einen transzendentalen Charakter erhält, nämlich ein sophisma figurae dictionis. Er ist eine Art Trugschluss, der darin besteht, den medius terminus in verschiedenen Bedeutungen zu nehmen.1084 Sowohl im logischen als auch im transzendentalen Paralogismus sind die Prämissen wahr; der Irrtum entsteht genau dann, wenn der als medius terminus fungierende Begriff falsch ausgelegt wird. Man nimmt ihn unvermerkt in zwei verschiedenen Bedeutungen, aber anders als beim logischen Paralogismus, der sich aus einem logischen Schein ergibt und in dem durch die Berücksichtigung der bloßen „Begriffslehre“ der Fehler entdeckt und behoben werden kann, beruht die Verwechslung der Bedeutungen im transzendentalen Paralogismus auf einem transzendentalen, also unvermeidlichen Schein, der nur im Rahmen einer transzendentalen, nicht allgemeinen Logik festzustellen und aufzuheben ist. Die transzendentalen und empirischen Bedeutungen von dem Satz „Ich denke“ werden miteinander verwechselt, ohne dass man eine solche Konfusion vermeiden kann.1085 Daraus erklärt sich, dass der Fehler, auf dem der Paralogismus beruht, ein Fehler der Interpretation der im Vernunftschluss verwendeten Begriffe ist. Die Bedeutung der Begriffe ist hier nicht eindeutig, und derjenige, der den Trugschluss begeht, ist sich des interpretativen Fehlers gar nicht bewusst.1086 Wie bei der Darstellung der Antinomie der reinen Vernunft eingehend gezeigt wurde, kann nur ein „unparteiisches Dritte“, der Richter, oder die „kritische Vernunft“ einen solchen interpretativen Fehler enthüllen. Anders als bei der Antinomie, in welcher der Thesis und der Antithesis der Fehler unterläuft, indem beide Parteien das sophisma figurae dictionis begehen (A 499–500/

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stehen bleiben, an der notwendigen Bedingung, den Begriff der Substanz, d.i eines für sich bestehenden Subjekts, auf sich selbst als denkendes Wesen anzuwenden, und die damit verbundene Einfachheit der Substanz fällt mit der objektiven Realität dieses Begriffs gänzlich weg“ (B 413). „Trugschluß – Paralogismus – Sophisma/ Ein Vernunftschluß, welcher der Form nach falsch ist, ob er gleich den Schein eines richtigen Schlusses für sich hat, heißt ein Trugschluß (fallacia). Ein solcher Schluß ist ein Paralogismus, in so fern man sich selbst dadurch hintergeht, ein Sophisma, sofern man Andre dadurch mit Absicht zu hintergehen sucht. Anmerkung. Die Alten beschäftigten sich sehr mit der Kunst, dergleichen Sophismen zu machen. Daher sind viele von der Art aufgekommen; z. B. das Sophisma figurae dictionis, worin der medius terminus in verschiedener Bedeutung genommen wird – fallacia a dicto secundum quid ad dictum simpliciter, sophisma heterozeteseos, elenchi, ignorationis u.dgl.m“ (Log AA 09: 134-135). Vgl. auch V-Lo/Pölitz AA 24: 595: „Daher sind verschiedene [Sophismen] aufgekommen z. E. sophisma figurae dictionis wo der terminus medius in verschiedener Bedeutung genommen wird“. „Die Falschheit des Schlusses beruht auf einem transzendentalen Grund, der Form nach falsch zu schließen, den nur die transzendentale Logik erkennen kann. Die Äquivokation besteht nämlich darin, daß in der Major des Schlusses von der Kategorie ein transzendentaler, im Mittelsatz und in der Konklusion aber ein empirischer Gebrauch gemacht wird“. Klemme, H. Kants Philosophie des Subjekts, a. a. O., S. 295. „[E]in solcher Schluß ist ein Paralogismus, in so fern man sich selbst dadurch hintergeht, ein Sophisma, sofern man Andre dadurch mit Absicht zu hintergehen sucht […]“ (Log AA 09: 134–135).

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B 527–528),1087 irrt sich im transzendentalen Paralogismus nur der rationale Psychologe. Dies erklärt sich dadurch, dass der transzendentale Schein im transzendentalen Paralogismus (und im Übrigen im Ideal der reinen Vernunft) lediglich einseitig und wiederum in der Antinomie zweiseitig ist: Es ist aber merkwürdig, daß der transzendentale Paralogism einen bloß einseitigen Schein, in Ansehung der Idee von dem Subjekte unseres Denkens, bewirkte, und zur Behauptung des Gegenteils sich nicht der mindeste Schein aus Vernunft vorfinden will (A 406/B 433, Hervorh. d. Verf.).

Während in der Antinomie der reinen Vernunft, wie noch zu zeigen ist, „beide streitenden Teile mit Recht, als solche, die ihre Forderung auf keinen gründlichen Titel gründen, abgewiesen werden“ können (A 501/B 529), so kann im transzendentalen Paralogismus nur der auf dem spekulativen Standpunkt begründete Titel des rationalen Psychologen abgewiesen werden, weil er die Erkenntnis der Natur der Seele und ihrer Unsterblichkeit aus eingebildeten Eigenschaften eines denkenden Wesens überhaupt beansprucht: Der dialektische Schein in der rationalen Psychologie beruht auf der Verwechselung einer Idee der Vernunft (einer reinen Intelligenz) mit dem in allen Stücken unbestimmten Begriffe eines denkenden Wesens überhaupt […]. Folglich verwechsele ich die mögliche Abstraktion von meiner empirisch bestimmten Existenz mit dem vermeinten Bewußtsein einer abgesondert möglichen Existenz meines denkenden Selbst, und glaube das Substantiale in mir als das transzendentale Subjekt zu erkennen, indem ich bloß die Einheit des Bewußtseins, welche allem Bestimmen, als der bloßen Form der Erkenntnis, zum Grunde liegt, in Gedanken habe (B 427, Hervorh. d. Verf.).

Der Fehler besteht genauer in dem Anspruch, das Ich als ein denkendes Wesen zu erkennen, es als eine einfache Substanz zu bestimmen, und nicht lediglich als eine bloße synthetische Tätigkeit des Verbindend des in einer möglichen empirischen Anschauung gegebenen Mannigfaltigen. So vorgestellt ist das Subjekt des Bewusstseins nie eine Erscheinung, weil man dazu eine entsprechende Anschauung bräuchte.1088 Im reinen Denken stelle ich mich nicht vor, wie ich bin oder wie ich erscheine, sondern als ein von aller Anschauungsform abstrahiertes Objekt überhaupt (B 429). Wenn ich mich aber als Objekt überhaupt vorstelle, stelle ich mich nicht als „Subjekt der Gedanken“ oder als „Grund des Denkens“ vor. Die Vorstellung des Ichs als Objekt überhaupt ist daher die Vorstellung von etwas, das aller Erfahrung vorausgeht und außerhalb aller Bestimmung durch eine Kategorie und deswegen außerhalb aller objektiven Bestimmtheit steht. Anders gesagt, das Ich als Objekt ist die Vorstellung von etwas, das nicht erkannt werden kann. Wenn ich

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Wie im dritten Kapitel gezeigt wurde, ist die Antinomie nach der „alten“ Rhetorik gewöhnlich ein „doppelter“ Paralogismus oder eine „doppelte“ Amphibolie. „Das Denken, für sich genommen, ist bloß die logische Funktion, mithin lauter Spontaneität der Verbindung des Mannigfaltigen einer bloß möglichen Anschauung, und stellet das Subjekt des Bewußtseins keinesweges als Erscheinung dar, bloß darum, weil es gar keine Rücksicht auf die Art der Anschauung nimmt, ob sie sinnlich oder intellektuell sei“ (B 428).

mich also als denkendes Subjekt vorstelle, stelle ich mich außerhalb der Grenzen der möglichen Erfahrung und außerhalb alles menschlichen Erkennens vor (B 428). Kant versucht im Paralogismus-Kapitel zwar die Ansprüche der rationalen Psychologie auf die Erkenntnis der denkenden Substanz als einfache und unsterbliche Substanz zu delegitimieren. Wie aber in der metaphysischen Deduktion festgestellt wird, ist der Begriff eines „Unbedingte[n] der kategorischen Synthesis in einem Subjekt“ (A 323/B 379) als „ absolute (unbedingte) Einheit des denkenden Subjekts“ (A 334/B 391) kein unmöglicher Begriff oder kein bloßes Hirngespinst, sondern vielmehr ein notwendiger Vernunftbegriff. Der Gerichtshof der Kritik delegitimiert nur den Anspruch darauf, eine solche transzendentale Idee zu erkennen und ihr objektive Realität von einem spekulativen Standpunkt aus zu verleihen. Dass diese transzendentale Idee „möglich“ ist und folglich für einen anderen als den spekulativen Gebrauch der Vernunft rechtmäßig sein kann, legt der Gerichtshof der Vernunft mit der metaphysischen Deduktion fest. Die Verteidiger der Möglichkeit der Idee der Seele müssen aber auf ihren Anspruch verzichten, eine rationale Psychologie als Wissenschaft zu begründen. Dieses Ergebnis ist die Konsequenz der jeweils negativen und positiven Funktion der Kritik als Gerichtshof der Vernunft Die positive/negative Grenzbestimmung, die die Kritik als Gerichtshof der rationalen Psychologie aufdrängt, zeigt sich deutlich an weiteren Stellen des Paralogismus-Kapitels, an denen sich die Struktur des Gerichtshofs der Vernunft abzeichnet. Kant unterscheidet als Anhänger der streitenden philosophischen Position mit Blick auf die Existenz der Seele Rationalisten (B 415–418)1089 bzw. Verteidiger des Spiritualismus (B 420)1090 und Materialisten. Während die Rationalisten bzw. Spiritualisten die Beschaffenheit der Seele als „für sich bestehendes Wesen“ (B 417)1091 spekulativ zu erkennen beanspruchen, lehnen die Materialisten jede Möglichkeit eines absolut einfachen Wesens ab und betrachten

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„Wenn aber der Rationalist aus dem bloßen Denkungsvermögen, ohne irgend eine beharrliche Anschauung, dadurch ein Gegenstand gegeben würde, ein für sich bestehendes Wesen zu machen kühn genug ist, bloß weil die Einheit der Apperzeption im Denken ihm keine Erklärung aus dem Zusammengesetzten erlaubt, statt daß er besser tun würde, zu gestehen, er wisse die Möglichkeit einer denkenden Natur nicht zu erklären, warum soll der Materialist, ob er gleich eben so wenig zum Behuf seiner Möglichkeiten Erfahrung anführen kann, nicht zu gleicher Kühnheit berechtigt sein, sich seines Grundsatzes, mit Beibehaltung der formalen Einheit des ersteren, zum entgegengesetzten Gebrauche zu bedienen?“ (B 417–418, Fn.). „Also, wenn der Materialism zur Erklärungsart meines Daseins untauglich ist, so ist der Spiritualism zu derselben eben sowohl unzureichend, und die Schlußfolge ist, daß wir auf keine Art, welche es auch sei, von der Beschaffenheit unserer Seele, die die Möglichkeit ihrer abgesonderten Existenz überhaupt betrifft, irgend etwas erkennen können“ (B 420). Vgl. auch folgende Passage: „So erklärt der dogmatische Spiritualist die durch allen Wechsel der Zustände unverändert bestehende Einheit der Person aus der Einheit der denkenden Substanz, die er in dem Ich unmittelbar wahrzunehmen glaubt, das Interesse, was wir an Dingen nehmen, die sich allererst nach unserem Tode zutragen sollen, aus dem Bewußtsein der immateriellen Natur unseres denkenden Subjects etc. und überhebt sich aller Naturuntersuchung der Ursache dieser unserer inneren Erscheinungen aus physischen Erklärungsgründen, indem er gleichsam durch den Machtspruch einer transscendenten Vernunft die immanenten Erkenntnißquellen der Erfahrung zum Behuf seiner Gemächlichkeit, aber mit Einbuße aller Einsicht vorbeigeht“ (B 718, Hervorh. d. Verf.).

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stattdessen alles in der Natur als Materie und demnach als Zusammengesetztes. Allerdings irren sich beide Parteien in ihren Ansprüchen. Spiritualisten sowie Materialisten gehen von einer falschen Voraussetzung aus: Sie glauben, dass Erscheinungen Dinge an sich sind. Wenn aber der Psycholog Erscheinungen für Dinge an sich selbst nimmt, so mag er als Materialist einzig und allein Materie, oder als Spiritualist blos denkende Wesen (nämlich nach der Form unsers innern Sinnes), oder als Dualist beide als für sich existirende Dinge in seinen Lehrbegriff aufnehmen: so ist er doch immer durch Mißverstand hingehalten über die Art zu vernünfteln, wie dasjenige an sich selbst existiren möge, was doch kein Ding an sich, sondern nur die Erscheinung eines Dinges überhaupt ist (A 380).

Die Konsequenzen, die sich aus dem Fehler des Spiritualisten und dem Fehler des Materialisten ergeben, sind unterschiedlich. Während der Anspruch des Spiritualisten auf die Erkenntnis der Seele als einfache und unsterbliche Substanz irreführend ist, weil eine solche Erkenntnis spekulativ unbeweisbar ist, irrt sich der Materialist mit der Behauptung, dass eine einfache und unsterbliche Substanz schlechterdings unmöglich ist, weil man sie spekulativ nicht einsehen kann.1092 Beide behaupten mehr, als sie begründen können, jedoch in verschiedenen Bereichen: Der Spiritualist behauptet etwas, das im spekulativen Bereich unrechtmäßig ist, und der Materialist behauptet etwas, das unrechtmäßige Konsequenzen im praktischen Bereich mit sich bringt. Der gemeinsame Fehler besteht darin, dass sie Erscheinungen und Dinge an sich als gleichbedeutend betrachten. Aus diesem Grund müssen die Ansprüche beider abgelehnt werden. „Daß aber der Metaphysiker dadurch weder in Ansehung des Materialisms noch Spiritualisms etwas gewinnen oder verlieren könne davon kann man völlig gewiß seyn“ (Vorarbeit zu „Aus Sömmering: Über das Organ der Seele“, AA 13: 404). Hier wird ersichtlich, warum die rationale Psychologie keine Doktrin, also keine Wissenschaft ist, die das Dasein und die Natur der denkenden Substanz bestimmt und die Selbsterkenntnis des Ichs ermöglicht. Sie ist vielmehr eine Disziplin, die einerseits den „seelenlosen Materialism“ und andererseits den

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In der B-Auflage der KrV stützt Kant sein Argument über ein „einfaches Wesen“, obwohl es nicht in der Sinnenwelt gegeben werden kann, auf die Einfachheit der „absoluten Einheit der Apperzeption“. Da es nun im Raum nichts absolut Einfaches geben kann, „folgt daraus die Unmöglichkeit einer Erklärung meiner, als bloß denkenden Subjekts, Beschaffenheit aus Gründen des Materialisms“; der Materialism erweist sich daher als „untauglich“ „zur Erklärungsart meines Daseins [als eines einfachen Selbstbewußtseins]“ (B 420). In den Forschritten ist Kant noch expliziter bei der Ablehnung des Materialismus aus dem Faktum der Einheit der Apperzeption. „Daß er nicht ganz und gar blos Körper sey, läßt sich, wenn diese Erscheinung als Sache an sich selbst betrachtet wird, strenge beweisen, weil die Einheit des Bewußtseyns, die in jedem Erkenntniß (mithin auch in dem seiner selbst) nothwendig angetroffen werden muß, es unmöglich macht, daß Vorstellungen, unter viele Subjecte vertheilt, Einheit des Gedankens ausmachen sollten; daher kann der Materialism nie zum Erklärungsprinzip der Natur unsrer Seele gebraucht werden“ (FM AA 20: 308). Die Metaphysik Vigilantius weist auch auf die Möglichkeit eines „geistigen Lebens“ gegen den Materialismus hin: „Indeß scheint es sich doch behaupten zu laßen, daß man ein geistiges Leben, d. i. ein lebendes princip ohne Verbindung mit dem Körper, anehmen könne“ (V-Met/Vigilantius AA 29: 1034).

„grundlosen Spiritualism“ zurückweist und folglich statt einer „fruchtlosen überschwenglichen Spekulation“ einem „fruchtbaren praktischen Gebrauche“ Platz macht. Es gibt also keine rationale Psychologie als Doktrin, die uns einen Zusatz zu unserer Selbsterkenntnis verschaffte, sondern nur als Disziplin, welche der spekulativen Vernunft in diesem Felde unüberschreitbare Grenzen setzt, einerseits um sich nicht dem seelenlosen Materialism in den Schoß zu werfen, andererseits sich nicht in dem, für uns im Leben, grundlosen Spiritualism herumschwärmend zu verlieren, sondern uns vielmehr erinnert, diese Weigerung unserer Vernunft, den neugierigen über dieses Leben hinausreichenden Fragen befriedigende Antwort zu geben, als einen Wink derselben anzusehen, unser Selbsterkenntnis von der fruchtlosen überschwenglichen Spekulation zum fruchtbaren praktischen Gebrauche anzuwenden, welches, wenn es gleich auch nur immer auf Gegenstände der Erfahrung gerichtet ist, seine Prinzipien doch höher hernimmt, und das Verhalten so bestimmt, als ob unsere Bestimmung unendlich weit über die Erfahrung, mithin über dieses Leben hinaus reiche (B 421, Hervorh. d. Verf.).

Die „Strenge der Kritik“ als Disziplin ist dann erwiesen, wenn die Ansprüche der spekulativen Vernunft auf die Erkenntnis der Seele und dadurch auch die Ansprüche auf die Unmöglichkeit eines solchen Gegenstands überhaupt, dessen Erkenntnis geleugnet wurde, delegitimiert werden. Die Kritik als Disziplin bzw. negative Gesetzgebung macht sich das „höchste Interesse der Menschheit“ zunutze, auf dem die positive Gesetzgebung der Vernunft beruht. So verschwindet denn ein über die Grenzen möglicher Erfahrung hinaus versuchtes und doch zum höchsten Interesse der Menschheit gehöriges Erkenntniß, so weit es der speculativen Philosophie verdankt werden soll, in getäuschte Erwartung; wobei gleichwohl die Strenge der Kritik dadurch, daß sie zugleich die Unmöglichkeit beweiset, von einem Gegenstande der Erfahrung über die Erfahrungsgrenze hinaus etwas dogmatisch auszumachen, der Vernunft bei diesem ihrem Interesse den ihr nicht unwichtigen Dienst thut, sie eben sowohl wider alle mögliche Behauptungen des Gegentheils in Sicherheit zu stellen; welches nicht anders geschehen kann, als so, daß man entweder seinen Satz apodiktisch beweiset, oder, wenn dieses nicht gelingt, die Quellen dieses Unvermögens aufsucht, welche, wenn sie in den nothwendigen Schranken unserer Vernunft liegen, alsdann jeden Gegner gerade demselben Gesetze der Entsagung aller Ansprüche auf dogmatische Behauptung unterwerfen müssen (B 423–424, Hervorh. d. Verf.).

Kant wendet hier die im Disziplin-Kapitel dargestellten Vorschriften zum polemischen Gebrauch der Vernunft an, nämlich den Nachweis, dass ein Beweis des Gegensatzes unmöglich ist. Angesichts des Mangels direkter Beweise der anstehenden Sätze kommen die Aufsuchung „der Quelle dieses Unvermögen[s] […], welche in den nothwendigen Schranken unserer Vernunft lieg[t]“, und der daraus folgende Verzicht auf dogmatische Behauptungen sowohl des Spiritualismus als auch des Materialismus, sowohl des dogmatischen Rationalismus als auch des dogmatischen Skeptizismus in Bezug auf die Moral zur Geltung. Die von dem Gerichtshof auferlegten Einschränkungen betreffen direkt die (dogmatischen)

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Ansprüche einer jeden Partei und die genaue Bestimmung des Geltungs- und Anwendungsbereichs der anstehenden Gesetze. Kant bereitet auf diese Weise den Boden für den praktischen Gebrauch der Idee der Seele als notwendiges Postulat zur Verwirklichung des Sittengesetzes – die Kritik als Disziplin bzw. negative Gesetzgebung bereitet den Boden für die Verwirklichung der positiven Gesetzgebung der Vernunft. Dies heißt, dass die Begrenzung der spekulativen Erkenntnis der Natur mit der „Befugniß, ja gar [der] Nothwendigkeit der Annehmung eines künftigen Lebens nach Grundsätzen des mit dem speculativen verbundenen praktischen Vernunftgebrauchs“ (B 424) einhergeht. Eine solche „Befugniß, ja gar die Nothwendigkeit“ wird durch den Nachweis der Unmöglichkeit der Erkenntnis des künftigen Lebens „nicht das mindeste“ beeinträchtigt. Durch die „Abstellung jener dogmatischen Anmaßungen“ gewinnen die Beweise über das künftige Leben ganz im Gegenteil „Klarheit und ungekünstelte Überzeugung“, indem man die Vernunft „in ihr eigenthümliches Gebiet, nämlich die Ordnung der Zwecke, die doch zugleich eine Ordnung der Natur ist, versetz[t]“ (B 425). Die rechtliche Tätigkeit der KrV weist also der reinen Vernunft ihr „eigentümliches Gebiet“, nämlich das praktische, zu; zugleich weist sie der spekulativen Vernunft bzw. dem reinen Verstand ihr eigentümliches Gebiet, nämlich die mögliche Erfahrung, zu. Kant nimmt hier eine eindeutige Bestimmung von Gerichtsbarkeiten und Geltungsbereichen vor. Wie die Idee einer rationalen Psychologie als „Disziplin“ (B 421) bereits zu erkennen gibt, weist die negative Gesetzgebung, welche die Delegitimierung der spekulativen Ansprüche auf die Erkenntnis der Seele betrifft, auf ihr positives Gegenstück hin. Fände sich, so Kant, in der Folge nicht in der Erfahrung, sondern in gewissen (nicht bloß logischen Regeln, sondern) a priori feststehenden, unsere Existenz betreffenden Gesetzen des reinen Vernunftgebrauchs Veranlassung, uns völlig a priori in Ansehung unseres eigenen Daseins als gesetzgebend und diese Existenz auch selbst bestimmend vorauszusetzen: so würde sich dadurch eine Spontaneität entdecken, wodurch unsere Wirklichkeit bestimmbar wäre, ohne dazu der Bedingungen der empirischen Anschauung zu bedürfen; und hier würden wir inne werden, daß im Bewußtsein unseres Daseins a priori etwas enthalten sei, was unsere nur sinnlich durchgängig bestimmbare Existenz doch in Ansehung eines gewissen inneren Vermögens in Beziehung auf eine intelligibele (freilich nur gedachte) Welt zu bestimmen dienen kann (B 430– 431, Hervor. d. Verf.).

Ein solches „inneres Vermögen“ wird uns durch das „Bewußtsein des moralischen Gesetzes allererst offenbar[t]“ und wird uns „in der rationalen Psychologie nicht im mindesten weiter bringen“ (B 431). Diese Aussage, die sich in der B-Auflage findet und daher sicherlich nach der Abfassung der GMS und wahrscheinlich kurz vor der Abfassung der KpV1093 geschrieben wurde, deutet unverkennbar auf die Lehre über das Bewusstsein des Sittengesetzes als „Beweis“ der prakti-

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Vgl. Klemme, H. „The origin and aim of Kant’s Critique of Practical Reason“. In: Reath, A. & Timmermann, J. (Hrsg.) Kant’s Critique of Practical Reason. A Critical Guide. Cambridge: Cambridge University Press, 2010, S. 13f.

schen, objektiven Realität der Freiheit des Willens hin. Hierauf kann jedoch an dieser Stelle nicht weiter eingegangen werden. 10.3

Die Antinomie der reinen Vernunft

Kant hat bekanntlich mehrmals die systematische und entstehungsgeschichtliche Bedeutung der Antinomie der reinen Vernunft betont.1094 Einer möglichen Interpretation über die Entstehung der kritischen Philosophie zufolge hat der „Skandal“ des Widerstreits der Vernunft mit sich selbst den Anlass für die reife Formulierung des transzendentalen Idealismus und letztendlich für die Idee einer Kritik der Vernunft selbst gegeben. Die Antinomie der reinen Vernunft ermöglicht zudem auf einer systematischen Ebene einen „indirekten Beweis“ des transzendentalen Idealismus als einziger Weg zur Aufhebung des Widerstreits der Vernunft mit sich selbst. Daher hat sie als Bestätigung des „Experimentes der Vernunft mit sich selbst“ einen „kritischen und doktrinalen Nutzen“ für die transzendentale Idealität der Erscheinungen (A 506–507/B 534–535). Die Antinomie hat somit eine zentrale Funktion für den Zweck der gesamten KrV. Sie muss die Möglichkeit des Grundbegriffs der positiven Gesetzgebung der Vernunft sicherstellen, nämlich des Freiheitsbegriffs als „erkennbares Übersinnliches“: Nun ist es mit der Metaphysik wirklich so bewandt, wenn die Vernunftkritik auf alle ihre Schritte sorgfältig Acht hat, und, wohin sie zuletzt führen, in Betrachtung zieht. Es sind nämlich zwey Angeln, um welche sie sich dreht: Erstlich die Lehre von der Idealität des Raumes und der Zeit, welche in Ansehung der theoretischen Prinzipien aufs Übersinnliche, aber für uns Unerkennbare, blos hinweiset, indessen daß sie auf ihrem Wege zu diesem Ziel, wo sie es mit der Erkenntniß a priori der Gegenstände der Sinne zu thun hat, theoretisch-dogmatisch ist; zweytens, die Lehre von der Realität des Freyheitsbegriffes, als Begriffes eines erkennbaren Übersinnlichen, wobei die Metaphysik doch nur praktisch-dogmatisch ist. Beyde Angeln aber sind gleichsam in dem Pfosten des Vernunftbegriffes von dem Unbedingten in der Totalität aller einander untergeordneter Bedingungen eingesenkt, wo der Schein weggeschafft werden soll, der eine Antinomie der reinen Vernunft, durch Verwechselung der Erscheinungen mit den Dingen an sich selbst bewirkt, und in dieser Dialektik selbst Anleitung zum Übergange vom Sinnlichen zum Übersinnlichen enthält (FM AA 20: 311, Hervor. d. Ver.).

Die Antinomie der reinen Vernunft, insbesondere die dritte, der kosmologische Widerstreit der reinen Vernunft mit Blick auf die Möglichkeit der transzendentalen Freiheit, gewinnt in diesem besonderen Sinn eine systematisch größere Bedeutung, als ein bloß indirekter Beweis des Transzendentalen Idealismus zu sein. Kant weist in weiteren Momenten seiner Schriften auf die Idee der Freiheit als „erkennbares Übersinnliches“ hin. Die Idee der Freiheit wird oft als Idee der 1094

Zu einer kurzen Darstellung der Verflechtung der systematischen und der entstehungsgeschichtlichen Bedeutungen der Antinomie der reinen Vernunft siehe Kreimendahl, L. „Die Antinomie der reinen Vernunft, 1. und 2. Abschnitt (A 405/B 432–A 461/B 489)“. In: Mohr, G. & Willaschek, M. (Hrsg.). Kritik der reinen Vernunft. Klassiker Auslegen, a. a. O., S. 414f.

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Vernunft konzipiert, die eine gewisse objektive Realität in der Erfahrung hat, sei es als ein Unbedingtes, das irgendwie in der empirischen Reihe der Bedingungen gegeben wird (A 561/B 589), sei es als eine „Idee der praktischen Vernunft“, die „jederzeit wirklich, möglicherweise nur zum Teil, in concreto gegeben werden“ kann (A 328/B 385) und die in einem „praktischen“ Sinne in der Erfahrung gegeben wird, wie etwa im Kanon-Kapitel (A 801–802/B 829–830) und zu Beginn der Auflösung der dritten Antinomie (A 533–534/B 561–562), oder sei es zuletzt als Tatsache oder res facti (KU AA 05: 468). Wie auch immer die Freiheit als etwas „Wirkliches“ in der Erfahrung (eine res facti, das Bewusstsein eines Gesetzes) zu begreifen und demnach als ein deduzierbarer Begriff zu erfassen ist, es muss auf jeden Fall eine vorbereitende Etappe geben, nämlich die Verteidigung bzw. Widerlegung der spekulativen Gegensätze, die beabsichtigt, „die Unmöglichkeit eines Unmöglichkeitsbeweises der Idee der Freiheit in ihrem praktischen Gebrauche nachzuweisen“.1095 Wie schon im achten Kapitel gezeigt, handelt es sich dabei um eine Strategie des polemischen Gebrauchs der reinen Vernunft, der durch Retorsionen die Unmöglichkeit eines spekulativen Beweises der Unmöglichkeit der Freiheit und der weiteren transzendentalen Ideen nachzuweisen und damit deren Möglichkeit zu verteidigen versucht. Eine solche grundlegende, vorbereitende und polemische Etappe des „kritischen Geschäfts“ hängt mit der doppelten Gesetzgebung der Vernunft zusammen und wird musterhaft in dem Antinomie-Kapitel dargestellt. Aufgrund der entscheidenden systematischen Bedeutung der Antinomie der reinen Vernunft bedarf ihre Auflösung einer sorgfältigeren begrifflichen Vorbereitung als die des transzendentalen Paralogismus. Da es in der Antinomie der reinen Vernunft nicht einen einseitigen, wie bei dem Paralogismus der reinen Vernunft, sondern einen zweiseitigen transzendentalen Schein gibt,1096 dem sowohl die „Platoniker“ als auch die „Epikureer“ (A 471/B 499) unterworfen sind und der die „Verlegenheit“ der Vernunft bei der Anwendung ihrer Gesetze verrät, verläuft die Entdeckung des Irrtums und die Auflösung des Widerstreits der Vernunft mit sich selbst über mehr Etappen hinweg als die weiteren Teile der Transzendentalen Dialektik. Auf der Grundlage der Gerichtshofstruktur der Vernunft lassen sich vier Etappen bei der Auflösung des Widerstreits unterscheiden, nachdem die metaphysische Deduktion die Rechtmäßigkeit jeder der streitenden Parteien bewiesen hat. (a) Man muss den Parteien zuerst die größtmögliche Freiheit geben, sodass sie ihre Argumente ungehindert ins Feld führen können. Das ist die Antithetik der Vernunft (10.3.1). (b) Danach muss man den Streit skeptisch, wie ein „Dritter“ bzw. unparteiischer Richter, betrachten (10.3.2). (c) Aus einer neuen Interpretation der von den Parteien verwendeten Termini gilt es dann, die „falsche Voraussetzung“, auf die sich die Argumente der Parteien stützen, zu entdecken (10.3.3). (d) Schließlich wird die Gültigkeit der Sätze und der Gegensätze 1095 1096

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Klemme, H. „Freiheit oder Fatalismus“, a. a. O., S. 26 (Manuskript). „Denn der Gegenstand der Frage [scil. bei der Psychologie und der Theologie] ist hier von allem Fremdartigen, das seiner Natur widerspricht, frei, und der Verstand hat es nur mit Sachen an sich selbst und nicht mit Erscheinungen zu tun. Es würde also hier freilich ein wahrer Widerstreit anzutreffen sein, wenn nur die reine Vernunft auf der verneinenden Seite etwas zu sagen hätte“ (A 741/B 769).

nur eingeschränkt und nicht gänzlich aufgehoben, da sie keine Blendwerke sind. Daraus ergibt sich die Bestimmung des „Sinnes, in welcher [die Vernunft] mit sich selbst zusammenstimmt“ (A 516–517/B 544–545), nämlich durch die Unterscheidung eines konstitutiven und eines regulativen Prinzips der spekulativen Vernunft. Das Verdikt des Gerichtshofs schränkt nun die streitenden Ansprüche durch Widerlegungen und Retorsionen ein, wobei die scheinbare Antinomie der reinen Vernunft aufgehoben wird (10.3.4).1097 Jeder Etappe entspricht jeweils eine Eigenschaft, die Kant der Vernunft als Richterin zuweist, nämlich die Überprüfung und Enthüllung des Irrtums (prüfende Vernunft), die Entscheidung sowie das Verdikt (richtende Vernunft) und als Voraussetzung die Freiheit, auf der die „Existenz der Vernunft“ beruht (A 738/B 766). Anhand eines solchen kritischen Verfahrens gelangt der Gerichtshof dazu, die Ansprüche der Verteidiger und Gegner der Metaphysik gleichzeitig einzuschränken und zu rechtfertigen. Anders gesagt gilt hier die im Disziplin-Kapitel zur Geltung gebrachte negative und positive Gesetzgebung der Vernunft. 10.3.1 Die Antithetik der reinen Vernunft – Das freie Spiel der Argumente der reinen Vernunft Im vierten Kapitel sahen wir bereits, dass die Antinomie der Widerstreit der Gesetze innerhalb einer bestimmten Gesetzgebung ist. Wenn dem so ist, dann muss man die Gesetze bestimmen, die in der Antinomie der reinen Vernunft in Widerstreit zueinander stehen. Sind die damit gemeinten Gesetze die Gesetze des Verstandes und die der Sinnlichkeit, die Gesetze des Verstandes und die der Vernunft oder endlich die Gesetze der Vernunft und die der Sinnlichkeit? Am Beginn des vorliegenden Kapitels wurde auf Kants Ungenauigkeit in dieser Frage verwiesen. Kant äußert sich hier undeutlich und schwankt bei der genauen Bezeichnung. Allerdings muss der Widerstreit der Sache nach ein Widerstreit der Gesetze der Vernunft als Gesetzgeberin sein.1098 Tatsache ist, dass die anstehenden Gesetze im Laufe des Antinomie-Kapitels näher bestimmt werden. In der Einleitung zu der Transzendentalen Dialektik, bevor der reale Gebrauch der Vernunft als Quelle von Begriffen dargestellt wird, ist von „Gesetzen der Sinnlichkeit“ und von „Gesetzen des Verstandes“ bzw. „Verstandesgesetzen“ die Rede (A 293–294/B 350–351). Nachdem aber die Gültigkeit der Grundsätze der Vernunft und die mögliche Erfahrung bereits eingeschränkt sind, wird der Wider1097

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Schematisch ausgedrückt wird die erste Etappe im 2. Abschnitt des Antinomie-Kapitels dargestellt, die zweite Etappe im 3. bis 5. Abschnitt, die dritte Etappe im 6. und 7. Abschnitt und zuletzt die vierte Etappe im 8. und 9. Abschnitt. Die Schwankungen Kants lassen sich vielleicht auch aus der Unklarheit der Bestimmung von „Vernunft“ selbst in der KrV erklären. R. Brandt zufolge müssen die KrV von 1781 und jene von 1787 nicht so sehr im Sinne einer Kritik der reinen Vernunft als vielmehr im Sinne einer Kritik des reinen Verstandes oder auch als einer Kritik der spekulativen Vernunft genommen werden. Brandt, R. Die Bestimmung der Menschen bei Kant, a. a. O., S. 498. Was auch immer der echte Sinn der KrV in der kritischen Philosophie sein mag, der antinomische Streit in der Gesetzgebung der Vernunft betrifft den spekulativen und den praktischen Sinn der Vernunft. Die Vernunft muss nun als Erkenntnisvermögen alle Fragen beantworten. Der Widerstreit der Vernunft mit sich selbst verhindert außerdem den praktischen Gebrauch der Vernunft. Im Folgenden wird dieser Punkt behandelt.

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streit als Widerstreit der Gesetze der Vernunft beim empirischen Gebrauch des Verstandes formuliert (vgl. A 558/B 586).1099 In der Frage, was die genaue Bestimmung des Widerstreits ist, ist die Definition der Antinomie der reinen Vernunft eindeutig: Es geht um einen „Widerstreit der Gesetze der reinen Vernunft“ (A 407/B 434), wobei die Antithetik die Untersuchung über einen solchen Widerstreit der Gesetze der reinen Vernunft ist. Kant versteht unter einer Antithetik nicht die „dogmatischen Behauptungen des Gegenteils“ bei einem „Inbegriff dogmatischer Lehren“ (Thetik), „sondern den Widerstreit[,] der dem Scheine nach [eine] dogmatische Erkenntnis (thesin cum antithesi)“ ist, ohne dass man also einer Erkenntnis vor der anderen „einen vorzüglichen Anspruch auf Beifall beilegt“ (A 420/B 448). Damit sind schon implizit nicht nur die skeptische Methode und die Forderung nach Unparteilichkeit gemeint, sondern auch die am Anfang des vorliegenden Kapitels erwähnte kritische Argumentationsart, die sich gegen den „Beweis eines Satzes“ richtet, um dadurch seine Unbegründetheit zu rechtfertigen (A 388–389). Die Sonderstellung der Antithetik erklärt sich aber aus der Besonderheit der Antinomie der reinen Vernunft im Vergleich mit den anderen dialektischen Vernunftschlüssen. Während der Paralogismus und das Ideal der reinen Vernunft „einseitige Behauptungen“ der Vernunft zum Gegenstand haben, betrachtet die Antithetik wiederum „allgemeine Erkenntnisse der Vernunft nur nach dem Widerstreite derselben unter einander und den Ursachen desselben“ (A 421/ B 448). Dies bedeutet, dass die Vernunft in ihrer Antinomie auf beiden Seiten stichhaltige Argumente hat. Der transzendentalen Antithetik kommt daher die Aufgabe zu, den Widerstreit zwischen den „allgemeinen Erkenntnissen“ der Vernunft zu analysieren und dessen Ursache zu entdecken. Sie ist folglich eine „Untersuchung über die Antinomie der reinen Vernunft, die Ursachen und das Resultat derselben“ (A 421/B 448), das heißt eine Untersuchung über den scheinbar antinomischen „Zustand der Vernunft“ (A 340/B 398). Zur Erfüllung einer solchen Aufgabe braucht die Antithetik die skeptische Methode, wie im Folgenden erläutert wird. Wenn die Vernunft es wagt, die Grenzen der Erfahrung zu überschreiten, entstehen „vernünftelnde Lehrsätze“, die in der Erfahrung „weder Bestätigung hoffen, noch Widerlegung fürchten dürfen“. Solche Lehrsätze, obwohl sie nicht von „Widersprüchen“ frei sind, finden in der „Natur der Vernunft Bedingungen [ihrer] Notwendigkeit“. Dasselbe gilt aber für ihre Gegensätze, für die man „eben so gültige und notwendige Gründe der Behauptung auf [ihrer] Seite hat“ (A 421/B 449). Kant nennt einige Eigenschaften eines „dialektischen Lehrsatz[es] der reinen Vernunft“: 1) Im Gegensatz zu einem einfachen Sophismus, der von einer willkürlichen oder zufälligen Frage handelt, sind die dialektischen Lehrsätze der 1099

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Die weiteren Hinweise Kants auf die streitenden Gesetze sind: a) Gesetze der Sinnlichkeit – zweite Antinomie, Anmerkung zur Thesis (A 441/B 469); vierte Antinomie, Anmerkung zur Thesis – im Zusammenhang mit dem „möglichen empirischen Verstandesgebrauch“ (A 458/B 486); b) Erfahrungsgesetze (A 484/B 512) – im Kontext der „Amphibolie“ der Dogmatiker, die den Gegenstand der Idee als einen Gegenstand der möglichen Erfahrung nehmen; c) empirische Gesetze (A 495/B 523) – im Abschnitt über den transzendentalen Idealismus als Schlüssel zur Auflösung der kosmologischen Dialektik; d) Gesetz der Teilbarkeit des Raumes (A 525/B 553) – im Kontext der Idee der Totalität der Teilung eines in der Anschauung gegebenen Ganzen.

Vernunft Fragen, „auf die jede menschliche Vernunft in ihrem Fortgange notwendig stoßen muß“ (A 421–422/B 450). 2) Der Lehrsatz und sein Gegensatz bringen keinen „gekünstelten Schein“ mit sich, der verschwindet, sobald man ihn entdeckt und „einsieht“, sondern vielmehr bringen sie einen „natürlichen und unvermeidlichen Schein“, der „täuscht, obschon nicht betrügt“, sogar nachdem man ihn enthüllt hat und „nicht mehr durch ihn hintergangen“ wird. Das heißt, dass ein solcher transzendentaler Schein „zwar unschädlich gemacht, aber niemals vertilgt werden kann“ (A 422/B 450). Die rationale Kosmologie ist daher eine illusorische, aber notwendige Wissenschaft für die menschliche Vernunft. Bei der kosmologisch „dialektischen Lehre“ geht es nicht um die „Verstandeseinheit in Erfahrungsbegriffen“, sondern um die „Vernunfteinheit in bloßen Ideen“ (A 422/B 450). Der Widerstreit entsteht folgendermaßen: Die Bedingungen der Ideen müssen zuerst als „Synthesis nach Regeln“ mit dem Verstand und doch zugleich als „absolute Einheit“ mit der Vernunft „kongruieren“. Im ersten Fall sind sie „zu klein“ für die Vernunft und im zweiten Fall „zu groß“ für den Verstand (A 422/B 450). Es wird ersichtlich, dass Kant den Widerstreit hier noch als Widerstreit zwischen Verstand und Vernunft begreift. Der Widerstreit entsteht nun, wenn die in den Ideen enthaltene Synthesis entweder zu klein für die Vernunft ist, wenn sie mit den Bedingungen des Verstandes übereinstimmt (mit dem Bedingten), oder zu groß für den Verstand ist, wenn sie mit den Bedingungen der Vernunft übereinstimmt (mit dem Unbedingten). Die transzendentale Idee erfordert aber die absolute Unbedingtheit der synthetischen Einheit des Verstandes. Sie erbringt eine „Vernunfteinheit“ in den Erscheinungen durch eine unbedingte Erweiterung der empirischen Synthesis des Verstandes. Der objektive Gebrauch der transzendentalen Idee ist, wie schon erläutert, immer transzendent, weil in der Erfahrung nichts unbedingt ist und nichts mit der Idee „kongruent“ ist. Die Vernunft muss sich sogar bei einer solchen Unmöglichkeit auf den Verstand beziehen. Die Vernunfteinheit der Erscheinungen ist nun die bis zu dem „Schlechthinunbedingten“ hinausgeführte Verstandeseinheit (A 326/B 383). „Die reine Vernunft überläßt alles dem Verstande“, sofern er sich auf die Gegenstände der Anschauung „oder vielmehr [auf] deren Synthesis in der Einbildungskraft bezieht“ (A 326/B 382–383). Genau in diesem Sinne ist die Vernunfteinheit als Verstandeseinheit zu bezeichnen. „So bezieht sich demnach die Vernunft nur auf den Verstandesgebrauch“ (A 326/ B 383). Der Widerstreit der reinen Vernunft mit sich selbst erweist sich daher als Widerstreit von unterschiedlichen Gerichtsbarkeiten der Vernunft selbst, die sich in der Gesetzgebung der reinen Vernunft im spekulativen Bereich, genauer auf dem Boden der Erfahrung wiederfinden. Es bedarf einerseits einer unbedingten und andererseits einer bedingten Einheit der Erscheinungen. Die Auflösung eines solchen Streits von gleichermaßen stichhaltigen, aber anscheinend untereinander widersprüchlichen Ansprüchen ist der Zweck des Antinomie-Kapitels. Bevor die kritische Philosophie den Widerstreit als illusorisch entlarvt, hat man einen echten „dialektischen Kampfplatz“, in dem beide Partien die Rechtmäßigkeit ihrer Ansprüche nicht rechtfertigen können und deshalb auf Gewalt zurückgreifen müssen:

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Diese vernünftelnden Behauptungen eröffnen also einen dialektischen Kampfplatz, wo jeder Teil die Oberhand behält, der die Erlaubnis hat, den Angriff zu tun, und derjenige gewiß unterliegt, der bloß verteidigungsweise zu verfahren genötigt ist (A 422–423/B 450).

Wie im Disziplin-Kapitel diskutiert wird, gewinnt bei diesem dialektischen, noch nicht durch die Kritik vermittelten Kampf derjenige den Streit, der den letzten Schlag führt. Es ist ganz zufällig, wenn der letzte Schlag vom Verteidiger der „guten Sache“ kommt. In Ermangelung eines zuständigen Richters, sprich ohne einen „Probierstein der Wahrheit“,1100 sind die Gewalt und die Willkürlichkeit die einzigen Lösungen für den Konflikt. Es geht dabei um den von Kant in der Vorrede A und im Disziplin-Kapitel erwähnten Naturzustand in der Philosophie, in dem es keinen unparteiischen Richter zur Vermittlung und Entscheidung des Streits gibt (A ix; A 747/B 775; A 751–752/B 779-780). Der kritische Richter muss sich wie ein „unparteiischer Kampfrichter“ benehmen, dem gleichgültig ist, ob die Parteien für die „gute oder die schlimme Sache“ kämpfen, wie im dritten Abschnitt des Antinomie-Kapitels deutlich wird. Die skeptische Methode ist die geeignetste Methode für den Richter, wie im zweiten Teil der vorliegenden Arbeit erörtert wurde. Sie besteht darin, den Widerstreit von Sätzen und Gegensätzen zu fördern, nicht aber mit dem Ziel, eine Entscheidung für eine Partei zu treffen, sondern vielmehr, die Quelle oder den „Gegenstand“ des Streits in seinem Kern aufzudecken. Diese Methode, einem Streit der Behauptungen zuzusehen, oder vielmehr ihn selbst zu veranlassen, nicht, um endlich zum Vorurteile des einen oder des andern Teils zu entscheiden, sondern, um zu untersuchen, ob der Gegenstand desselben nicht vielleicht ein bloßes Blendwerken sei[.] […] [D]ieses Verfahren […] kann man skeptische Methode nennen“ (A 423–424/B 451).

Anders als der Skeptizismus, das heißt die „kunstmäßige und szientifische Unwissenheit, welche die Grundlagen aller Erkenntnis untergräbt“ (A 424/B 451), zweifelt die skeptische Methode nicht um des Zweifels, sondern um der Wahrheit willen. Der schon diskutierte gemäßigte Skeptiker handelt wie ein „weißer Gesetzgeber“, der „aus der Verlegenheit der Richter […] für sich selbst Belehrungen“ zieht, um aus den Unklarheiten eines Gesetzes bei seiner Anwendung auf einen „hard case“ Vorschriften für Verbesserungen der Gesetzgebung und eine bessere Bestimmung der Gerichtsbarkeiten zu gewinnen: Denn die skeptische Methode geht auf Gewißheit, dadurch, daß sie in einem solchen, auf beiden Seiten redlich gemeinten und mit Verstande geführten Streite, den Punkt des Mißverständnisses zu entdecken sucht, um, wie weise Gesetzgeber tun, aus der Verlegenheit der Richter bei Rechtshändeln für sich selbst Belehrung, von dem Mangelhaften und

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„Die transscendentale philosophie in ihrem Theile von den Sätzen derselben ist dialectisch, weil, da sie ohne Critik keinen andern Probirstein der Warheit bei sich führen, sie problematisch, mithin auch mit Beybehaltung ihrer Gegentheile müssen betrachtet werden, und können nur nach der Uebereinstimung mit dem canon dogmatisch werden“ (Rx 5004 AA 18: 57 (1778)).

nicht genau Bestimmten in ihren Gesetzen, zu ziehen (A 424/B 451– 452).

Dadurch, dass die Antinomie die Unzulänglichkeiten der Gesetze in der Gesetzgebung der Vernunft und die Grenzen der Gültigkeit solcher Gesetze zum Vorschein bringt, dient sie als „bester Prüfungsversuch der Nomothetik“ der reinen Vernunft. Dies ist der positive und negative Charakter der Gesetzgebung der reinen Vernunft. Die Antinomie zeigt der Vernunft ihre „Fehltritte“ in ihrem spekulativen Gebrauch: Die Antinomie, die sich in der Anwendung der Gesetze offenbaret, ist bei unserer eingeschränkten Weisheit der beste Prüfungsversuch der Nomothetik, um die Vernunft, die in abstrakter Spekultation ihre Fehltritte nicht leicht gewahr wird, daduch auf die Momente in Bestimmung ihrer Grundsätze aufmerksam zu machen (A 424/B 452).

Wenn die Antinomie der reinen Vernunft in ihrer vollen Tragweite nicht vorgestellt würde, müsste der zu dem Missbrauch der Vernunftprinzipien führende transzendentale Schein „auf ewig verborgen sein“ (Prol AA 04: 340). Der Richter des Gerichtshofs kann die Verbesserungen der Gesetzgebung erst zustande bringen, wenn dabei eine Antinomie zu finden ist. Erst mit der Antinomie der Vernunft erweist sich folglich die Grenzbestimmung der Vernunftgebräuche mit voller Klarheit als notwendige und dringende Aufgabe. Die skeptische Methode, die Kant als die dem Richter eigentümliche Methode bezeichnet, ist die geeignetste Methode zur Untersuchung eines solchen „Erbfehlers“ der Gesetzgebung der Vernunft (A 406/B 433). „Diese skeptische Methode ist aber“, so Kant, „nur der Transzendentalphilosophie allein wesentlich eigen“ (A 424/B 452). Die Gründe dafür sind von zweierlei Art. Zum einen ist die Transzendentalphilosophie als Philosophie der reinen Vernunft dem transzendentalen Schein bzw. der transzendentalen Subreption unterworfen, sprich der Verwechselung von Subjektivem und Objektivem. Zum anderen kann die Transzendentalphilosophie anders als die Mathematik und die Physik ihren Gegenstand nicht in concreto darstellen, also nicht in einer reinen oder empirischen Anschauung, die als das „letzte Mittel der Entscheidung des Zwistes“ gilt (A 425/B 453). Dementsprechend hat die „transzendentale Vernunft“ keinen anderen Probierstein, als den Versuch der Vereinigung ihrer Behauptungen unter sich selbst und mithin zuvor des freien und ungehinderten Wettstreits derselben unter einander, und diesen wollen wir anjetzt anstellen (A 425/B 453, Hervorh. d. Verf.).

Die vier Widerstreite der transzendentalen Ideen, von Kant „Antinomien“ genannt (A 425/B 453, Fn.), sind wohlbekannt und bereits viel diskutiert und erforscht, sodass auf eine ausführliche Bearbeitung hier verzichtet werden kann. Betrachten wir daher lediglich die jeweilige Thesis und Antithesis und die in dem jeweiligen Widerstreit vorhandene argumentative Grundstruktur: Erster Widerstreit der transzendentalen Ideen: Thesis: „Die Welt hat einen Anfang in der Zeit und ist dem Raum nach auch in Grenzen eingeschlossen“ (A 426/B 454).

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Antithesis: „Die Welt hat keinen Anfang und keine Grenzen im Raume, sondern ist sowohl in Ansehung der Zeit als des Raums unendlich“ (A 427/ B 455). Zweiter Widerstreit der transzendentalen Ideen: Thesis: „Eine jede zusammengesetzte Substanz in der Welt besteht aus einfachen Theilen, und es existirt überall nichts als das Einfache, oder das, was aus diesem zusammengesetzt ist“ (A 434/B 462). Antithesis: „Kein zusammengesetztes Ding in der Welt besteht aus einfachen Theilen, und es existirt überall nichts Einfaches in derselben“ (A 435/ B 463). Dritter Widerstreit der transzendentalen Ideen: Thesis: „Die Causalität nach Gesetzen der Natur ist nicht die einzige, aus welcher die Erscheinungen der Welt insgesamt abgeleitet werden können. Es ist noch eine Causalität durch Freiheit zu Erklärung derselben anzunehmen nothwendig“ (A 444/B 472). Antithesis: „Es ist keine Freiheit, sondern alles in der Welt geschieht lediglich nach Gesetzen der Natur“ (A 445/B 473). Vierter Widerstreit der transzendentalen Ideen: Thesis: „Zu der Welt gehört etwas, das entweder als ihr Theil, oder ihre Ursache ein schlechthin nothwendiges Wesen ist“ (A 452/B 480). Antithesis: „Es existirt überall kein schlechthin nothwendiges Wesen weder in der Welt, noch außer der Welt als ihre Ursache“ (A 453/B 481). Jeder antinomische Widerstreit der reinen Vernunft hat eine ähnliche argumentative Struktur. Die Beweise von Thesis und Antithesis sind eine reductio ad absurdum, die der apagogischen Beweisart, das heißt einem indirekten Beweis im modus tollens, eigentümlich ist. Man nimmt das Gegenteil an und zieht daraus einen falschen Schluss, um daraus die Wahrheit des eigenen Satzes herzuleiten.1101 Bei der Anmerkung zu jeder Thesis und Antithesis verfährt Kant unterschiedlich. In den Anmerkungen zu den Thesen erfolgt ein Beweis des angenommenen Satzes aus ontologischen (vgl. A 456/B 484: vierter Widerstreit) oder transzendentalen (vgl. A 448/B 476: dritter Widerstreit) Argumenten. Das bedeutet, man sucht vergeblich einen direkten Beweis. In den Anmerkungen zu den Antithesen wird dagegen der Versuch unternommen, den in der Anmerkung zu der Thesis geführten Beweis anhand weiterer apagogischer Beweise im modus tollens zu widerlegen, die die Wahrheit der Antithesis indirekt aus einem Beweis der Falschheit der in der Anmerkung zu der Thesis geführten direkten Beweise zu schließen versuchen.1102

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Jeder Beweis von Thesis und Antithesis fängt folgendermaßen an: „denn man setze“ (z. B. A 427/B 455), „man nehme an“ oder „denn, nehmet an“ (A 434/B 462). Die Ausnahme ist die Thesis des vierten kosmologischen Widerstreits. Vgl. Gillespie, M. A. „Philosophy and Rhetoric in Kant’s Third Antinomy“. In: Political Science Reviewer, Vol. 30, 2001, S. 7–33; Kreimendahl, L. „Die Antinomie der reinen Vernunft“, a. a. O., S. 424ff.

10.3.2 Die skeptische Methode – die Bestimmung der streitenden Parteien und die Rolle des unparteiischen Richters Die Antithetik der reinen Vernunft bietet die „die glänzenden Anmaßungen der ihr Gebiet über alle Grenzen der Erfahrung erweiternden Vernunft nur in trockenen Formeln, welche bloß den Grund ihrer rechtlichen Ansprüche enthalten“, dar (A 462–463/B 490–491, Hervorh. d. Verf.). In der Erweiterung der Vernunft über alle Grenzen der Erfahrung zeigt sich, so Kant, die „Würde“ der Philosophie, welche „den Wert aller anderen menschlichen Wissenschaft weit unter sich lassen würde“ (A 463/B 491). Die Philosophie versucht nun für die den Endzweck der Vernunft betreffende Frage eine Antwort zu liefern. Genau hierauf scheint für Kant die „Würde“ der Gesetzgebung der Vernunft zu beruhen. Die Vernunft ist nicht in der Lage, den Widerstreit als „bloßes Spielgefecht“ gleichgültig zu betrachten. Ebenso wenig vermag sie einen künstlichen Frieden, einen Waffenstillstand anzubieten. Es bleibt ihr „nichts weiter übrig […], als über den Ursprung dieser Vereinigung der Vernunft mit sich selbst nachzusinnen, ob nicht etwa ein bloßer Mißverstand daran Schuld sei“ (A 464/B 493). Ein solcher „Missverstand“ ist die falsche Voraussetzung, auf der die streitenden Parteien ihre „Gründe und Gegengründe“ stützen. Sollte aber die falsche Voraussetzung enthüllt werden, würde „ein dauerhaft ruhiges Regiment der Vernunft über Verstand und Sinn seinen Anfang nehmen“ (A 464–465/B 492–493). Das Regiment bzw. die Regierung der Vernunft1103 wird also den Widerstreit der Gesetze in der Gesetzgebung derselben aufheben und einen „ewigen“, durch einen „Prozeß“ statt durch einen Krieg ermöglichten Frieden (vgl. A 751/B 779) mit sich bringen. Dazu bedarf es jedoch zunächst eines unparteiischen, aber deswegen nicht gleichgültigen Richters. Kant hält in erster Linien nicht direkt ein Plädoyer für oder gegen die in der Thesis und der Antithesis geführten Argumente, sondern für oder gegen die darin beteiligten philosophischen Parteien und ihre Grundanliegen. Die grundlegende Frage lautet: Wie kann man angesichts des Mangels einer „vorzügliche[n] Einsicht des Gegenstandes“ eine Partei wählen und für eine Seite kämpfen? Wenn nun der „logische Probierstein der Wahrheit“ fehlt, müssen wir „unser Interesse“ befragen, ob die „zelotische Hitze des einen“, nämlich des Verteidigers der Thesen, oder die „kalte Behauptung des andern Teils“, nämlich des Verteidigers der Antithesen, vorzuziehen sei (A 465/B 493). Aus welchem Grund und aus welchem Interesse ließe sich die Möglichkeit der Freiheit oder im Gegenteil die Unmöglichkeit einer unverursachten Ursache verteidigen? Eine solche hier von Kant vorgeschlagene Untersuchung kann zwar über das ius controversum nichts Endgültiges entscheiden, aber sie hat den Nutzen, die grundliegenden Motive der in der Antinomie der reinen Vernunft potenziellen Beteiligten zu verdeutlichen und damit die darin verwickelten streitenden Parteien zu bestimmen. Durch die „Vergleichung der Prinzipien, von denen beide Teile ausgehen“, bemerkt man, dass die vier Antithesen Prinzipien des „reinen Empirismus“ bzw. des „Epikureisms“ und wiederum die vier Thesen Prinzipien des „Dogmatism der 1103

Im Großen vollständigen Universal-Lexicon wird Regiment als Synonym von Regierung betrachtet. Zedler, J. H. „Regierung“. In: Großes vollständiges Universal-Lexicon, a. a. O., Bd. 30, S. 1793.

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reinen Vernunft“ bzw. des „Platonismus“ darstellen (A 466/B 494; A 471/ B 499).1104 Es geht dabei, wenn man so will, um die philosophische Opposition, die Kant selbst erlebt hat und die er, wie schon gezeigt wurde, in der Logik Blomberg zum Ausdruck bringt. Kant erwähnt hierbei den Skeptiker als das Dritte, das bloß um der Wahrheit willen die zwei streitenden Parteien anzweifelt (vgl. V-Lo/Blomberg AA 24: 207). Vor der skeptischen Überprüfung selbst kann man aber immer die Frage nach den expliziten oder impliziten Interessen einer jeden idealisierten philosophischen Partei stellen. Dies ist genau die bewusste Einstellung Kants im Werdegang seiner Philosophie als Versuch, den Mittelweg zu finden, sowie die systematische Stellung der kritischen Philosophie als Gerichtshof der Vernunft, der gerade einen solchen Streit der oben beschriebenen philosophischen Idealtypen beilegen muss. Es gibt zunächst ein praktisches Interesse. Die Thesen stellen die „Grundsteine der Moral und der Religion“ vor, nämlich, dass die Welt einen Anfang hat, dass das „denkende Subjekt einfach und daher unverweslicher Natur“ ist, dass die Handlungen der Menschen frei und nicht nur dem „Naturzwang“ unterworfen sind, und dass die Welt aus einem Urwesen abstammt, „von welchem alles seine Einheit und zweckmäßige Verknüpfung entlehnt“ (A 466/B 494). Es gibt außerdem ein spekulatives Interesse. Die Thesen formulieren einen Anfang der bedingten Naturgegebenheit in dem Unbedingten und befriedigen dadurch einen spekulativen Bedarf der Vernunft nach Vollständigkeit, dem der Empirismus der Antithesen nicht genügen könnte, weil er stets nach einer weiteren Bedingung des Bedingten fragt (A 466/B 494). Es gibt schließlich ein Interesse der Popularität. Der „gemeine Verstand findet in den Ideen des unbedingten Anfangs aller Synthesis nicht die mindeste Schwierigkeit“ (A 467/B 495). Er hat sogar darin eine „Gemächlichkeit“, denn er findet im Begriff eines absoluten Ersten einen Boden, auf dem er „seine Schritte fortsetzen kann“ (A 467/B 495). Der Dogmatismus hat in allen oben beschriebenen Interessen den Vorzug. Was besonders das praktische Interesse betrifft, schwächt der Empirismus den Einfluss von Moral und Religion. Wenn nun die Welt keinen Anfang hat, unser denkendes Subjekt nicht einfach ist, wir nicht frei sind und es keine ursprüngliche Weltursache gibt, dann „verlieren auch die moralischen Ideen und Grundsätze alle Gültigkeit, und fallen mit den transzendentalen Ideen, welche ihre theoretische Stütze ausmachen“ (A 468/B 496). Der Empirismus hat allerdings auch einige Vorteile. Für ihn ist der Verstand immer auf dem ihm „eigentümlichen Boden“, nämlich im „Felde von lauter möglichen Erfahrungen“. Er arbeitet auf eine unendliche Erweiterung der Erkenntnis der Erfahrung hin; es ist ihm unmöglich, den Boden der Erfahrung sowie die Beobachtung und Erforschung der Natur zu verlassen, um dadurch im „Gebiete der idealisierenden Vernunft“ und mit „transzendenten Begriffen“ den Schluss seiner Befragungen zu finden. Der Empirist darf anders als bei den Thesen kein „absolutes Erstes“ annehmen. Der Nutzen des Empirismus, seinem gemäßigten Begriff entsprechend („Mäßigung in Ansprüchen“; „Beschei1104

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Vgl. auch B 470. Kant erwähnt im zweiten kosmologischen Widerstreit der reinen Vernunft den Streit zwischen „Atomistik“ und „Monadologie“. Über den „Epikureism“ und eine mögliche mechanizistische Erklärung der Entstehung der Welt und der Entfaltung der Naturformen vgl. Kapitel 5.

denheit in Behauptungen“) (A 470/B 498), liegt darin, dass er die Vernunft auf ihre „wahre Bestimmung“ zurückführt, indem er auf ihre Unmöglichkeit, die spekulative Erkenntnis über die mögliche Erfahrung hinaus zu erweitern, hindeutet. Über seinen Kampf gegen die Religion und sein Misstrauen gegenüber der reinen Moral hinaus kann der Empirismus demnach mit seinen Grundsätzen zur Grenzbestimmung der Territorien der Vernunft dienen, nämlich Wissen und Glaube gründlich zu unterscheiden (A 470–471/B 498–499). Darüber hinaus brandmarkt der Empirismus die „faule Vernunft“, die sich in einen Ruhezustand versetzt, sobald sie glaubt, zu einer endgültigen „Erkenntnis“ des Gegenstands der transzendentalen Ideen gelangt zu sein.1105 In diesem Sinne ist es möglich, eine Parallele zwischen dem gemäßigten Empirismus und dem schon besprochenen gemäßigten Skeptizismus aufzuweisen. Wie der Skeptizismus kann auch der Empirismus dogmatisch werden, indem er „dreist verneint, was über der Sphäre seiner anschauenden Erkenntnis ist […]. [E]r selbst [fällt] in den Fehler der Unbescheidenheit“ (A 471/B 499). Gegen einen solchen dogmatischen Empirismus lassen sich, wie in der vierten Etappe der Auflösung des kosmologischen Widerstreits diskutiert wird, Retorsionen und Widerlegungen anbringen. Die Exzesse des Empirismus sind tadelhafter als die des Dogmatismus, weil „dadurch dem praktischen Interesse der Vernunft ein unersetzlicher Nachteil verursachet wird“ (A 471/B 499). Die Kritik als Selbstdisziplin der Vernunft richtet sich jedoch gegen alle Formen des Dogmatismus. Eine kritische Einstellung setzt neben einer Gleichgültigkeit im Sinne der temporären Vernachlässigung der Interessen im Spiel auch die Unparteilichkeit voraus. Weil es aber doch einem nachdenkenden und forschenden Wesen anständig ist, gewisse Zeiten lediglich der Prüfung seiner eigenen Vernunft zu widmen, hierbei aber alle Parteilichkeit ganz auszuziehen, und so seine Bemerkungen anderen zur Beurteilung öffentlich mitzuteilen (A 475/ B 503).

Es geht dabei um die von Kant schon in den 1760er Jahren auch als zetetisch bzw. „forschend“ bezeichnete, einem Richter eigentümliche skeptische Einstellung, die im Laufe seiner Denkentwicklung auf das Selbstverständnis der Kritik als Selbstdisziplin der reinen Vernunft hinausläuft. Die Notwendigkeit, eine friedliche und endgültige Lösung für den Konflikt zu finden, statt ihn unentschieden ausgehen zu lassen, beruht auf einer „Eigentümlichkeit“ der Transzendentalphilosophie als Philosophie der reinen Vernunft. Im vierten Abschnitt des Antinomie-Kapitels behauptet Kant, dass „gar keine Frage, welche einen der reinen Vernunft gegebenen Gegenstand betrifft, für eben dieselbe menschliche Vernunft unauflöslich sei“ (A 477/B 505). Man trifft hier auf einen unleugbaren Beleg für den Einfluss der im vierten Kapitel der 1105

Es geht dabei um den „ersten Fehler“, der aus der Verwechslung zwischen konstitutiven und regulativen Prinzipien entsteht: „Der erste Fehler, der daraus entspringt, daß man die Idee eines höchsten Wesens nicht bloß regulativ, sondern (welches der Natur einer Idee zuwider ist) constitutiv braucht, ist die faule Vernunft (ignava ratio). Man kann jeden Grundsatz so nennen, welcher macht, daß man seine Naturuntersuchung, wo es auch sei, für schlechthin vollendet ansieht, und die Vernunft sich also zur Ruhe begiebt, als ob sie ihr Geschäfte völlig ausgerichtet habe“ (A 689–690/B 717–718).

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vorliegenden Arbeit geführten Diskussion über das ius completissimum auf die KrV und Kants Verständnis der Vernunft sowie ihrer Gesetzgebung. So, wie bei den Fragen nach „Recht und Unrecht“ eine Entscheidung getroffen werden muss, weil „es unsere Verbindlichkeit betrifft, und wir zu dem, was wir nicht wissen können, auch keine Verbindlichkeit haben“ (A 476/B 504), müssen auch bei der Transzendentalphilosophie alle Fragen, die die Gegenstände der reinen Vernunft angehen, beantwortet werden. Die Tatsache, dass die Gegenstände der kosmologischen Ideen die „Schranken unserer Vernunft“ überschreiten, kann nicht zum Vorwand genommen werden, um der „Verbindlichkeit einer wenigstens kritischen Auflösung der vorgelegten Vernunftfragen“ auszuweichen (A 481/B 509). Ebenso wenig ist es gestattet, eine Frage nicht zu beantworten, nur weil sie „schlechthin ungewiß“ sei. Sogar bei der Seelenlehre erklärt Kant, „keine Antwort sei auch eine Antwort“ (A 478/B 506). Die transzendentalen Ideen betreffen Gegenstände, die in „unseren Gedanken“ liegen, folglich muss die Ursache der Ungewissheit in „unseren Ideen selbst“ gesucht werden. Die Lösung der Aufgaben der reinen Vernunft hinsichtlich der transzendentalen Ideen wird nicht durch die Erfahrung, sondern von der Vernunft selbst gegeben. Dies ist der Grund, warum sie nicht ungelöst bleiben sollten. Die dogmatische Lösung sollte nicht deswegen abgelehnt werden, weil sie unzulänglich ist, sondern vielmehr deshalb, weil sie sich als unmöglich erweist. Die kritische Lösung betrachtet die Frage wiederum nicht „objektiv“, sondern „subjektiv“ nach den „Fundamenten der Erkenntnis“, auf denen sie beruht, weshalb sie fähig ist, alle Fragen der reinen Vernunft zu beantworten. Der kritischen Lösung liegt daher die Besonderheit der Kritik als Untersuchung oder Selbstprüfung des Subjekts mit Blick auf die „Fundamente der Erkenntnis“ und ihre Quellen, Grenzen und ihren Umfang zugrunde. Durch die gründliche Prüfung der Fundamente der menschlichen Erkenntnis vermeidet man „die Amphibolie […], die […] [die] Idee zu einer vermeintlichen Vorstellung eines empirisch Gegebenen, und also auch nach Erfahrungsgesetzen zu [einem] erkennenden Objekt[…] macht“ (A 484/B 512). Die kritische Betrachtung der Fundamente der menschlichen Erkenntnis ermöglicht demnach die Unterscheidung von zwei Arten von Gegenständen, den Erscheinungen und den Dingen an sich. Folglich lassen sich der angebliche Widerspruch der Vernunft mit sich selbst und auch die weiteren Aufgaben der reinen Vernunft in Bezug auf ihre weiteren Gegenstände auflösen – wenngleich nur ex negativo. Die genaue Definition des „Gegenstands“, auf den sich Thesis und Antithesis sowie „Dogmatiker“ und „Empiristen“ berufen, setzt die „skeptische Vorstellung der kosmologischen Fragen“, das Thema des fünften Abschnitts des Antinomie-Kapitels, voraus. Eine solche skeptische Vorstellung nimmt die sinnliche Erfahrung als „Richtmaß“ der Angemessenheit bzw. Denkbarkeit der Gegenstände der Ideen (A 489/B 517). Der Gegenstand der Ideen ist für die skeptische Vorstellung entweder „zu groß“ oder „zu klein“: zu groß, weil sie erfordert, dass die empirische Reihe sich ins Unendliche fortsetzen solle (Antithesis), oder „zu klein“, weil sie erfordert, dass die empirische Reihe in einem Unbedingten aufhören solle (Thesis) (A 487–489/B 515–517). Daraus ergibt sich, dass der Dogmatismus, sei es der dogmatische Rationalismus (Thesis) oder der dogmatische Empirismus (Antithesis), bei den kosmologischen Fragen, in denen

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sich sowohl die Behauptung als auch die Gegenbehauptung, „Sinnleeres (Nonsens)“, befinden, in Widerspruch zu sich selbst gerät. Die Forderung, „unsere Frage selbst kritisch zu untersuchen, und zu sehen: ob sie nicht selbst auf einer grundlosen Voraussetzung beruhe“ (A 485/B 513), kommt hier zur Geltung. Als Bedingung für den Verzicht auf die dogmatische Verfahrensweise und für die Aufnahme der kritischen gilt die Ausübung der skeptischen Art der Behandlung der Frage der reinen Vernunft. Wie Kant mehrmals betont, dient sie dazu, von „ein[em] großen dogmatischen Wust[…]“ zu befreien und anstelle dessen „eine nüchterne Kritik zu setzen“: Das ist der große Nutzen, den die skeptische Art hat, die Fragen zu behandeln, welche reine Vernunft an reine Vernunft tut, und wodurch man eines großen dogmatischen Wustes mit wenig Aufwand überhoben sein kann, um an dessen Statt eine nüchterne Kritik zu setzen, die als ein wahres Kathartikon, den Wahn zusamt seinem Gefolge, der Vielwisserei, glücklich abführen wird (A 486/B 514).

Die auf einer skeptischen Art zur Behandlung der Frage der reinen Vernunft beruhende kritische Verfahrensweise ist also die Aufgabe der „prüfenden Vernunft“, die die geführten Beweise unparteiisch prüft, bevor sie ihre Entscheidung trifft. Nach der skeptisch-kritischen Prüfung der streitenden Parteien, wobei sie als philosophische Idealtypen zu erkennen und ihre expliziten oder impliziten Interessen in Betracht zu ziehen sind, weist Kant auf das Folgende hin: Wir sind also wenigstens auf den gegründeten Verdacht gebracht: daß die kosmologischen Ideen und mit ihnen alle unter einander in Streit gesetzte vernünftelnde Behauptungen vielleicht einen leeren und bloß eingebildeten Begriff von der Art, wie uns der Gegenstand dieser Ideen gegeben wird, zum Grunde liegen haben (A 490/B 518).

Von einem solchen „Verdacht“ ausgehend setzt Kant die Argumentation fort und erreicht die zweite Etappe des Rechtsstreits der Antinomien der reinen Vernunft, nämlich die Entdeckung des Irrtums bzw. der „grundlosen Voraussetzung“, auf denen die Rechtsansprüche der streitenden Parteien beruhen. 10.3.3 Die Lösung des Streites – Die Entdeckung der „grundlosen Voraussetzung“ und der transzendentale Idealismus Im sechsten und siebten Abschnitt des Antinomie-Kapitels, in „[d]em transzendentale[n] Idealism als de[m] Schlüssel zu[r] Auflösung der kosmologischen Dialektik“ und der „Kritische[n] Entscheidung des kosmologischen Streits der Vernunft mit sich selbst“, stellt Kant den „Schlüssel“ zur Beilegung des kosmologischen Widerstreits der reinen Vernunft dar: die Lehre vom transzendentalen Idealismus. Demgemäß sind etwas „Wirkliches“ nur Erscheinungen, also Gegenstände, wie sie uns in Raum und Zeit gegeben werden. Eine empirische „Bedeutung“ erhalten nur Begriffe von Gegenständen einer möglichen Erfahrung, sofern eine Wahrnehmung ihnen unmittelbar oder nach den „Gesetzen des empirischen Fortgangs“ (A 493/B 521) entspricht. Keine Bedeutung und folglich keine objektive Realität im empirischen, genauer im spekulativ-konstitutiven Sinne können Dinge an sich selbst erhalten, das heißt Gegenstände, wie sie an sich,

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abgesehen von den Bedingungen der möglichen Erfahrung für den Menschen, sind. Kant stellt den transzendentalen Idealismus und den transzendentalen Realismus einander gegenüber. Ersterer erhebt den Anspruch, dass Erscheinungen die Gegenstände sind, die in Raum und Zeit angeschaut, also in einer uns möglichen Erfahrung gegeben werden (das heißt, wir erkennen nur Vorstellungen, die „außer unseren Gedanken keine an sich gegründete Existenz haben“; A 491/ B 519). Demgegenüber behauptet der transzendentale Realismus, dass die Veränderungen unserer Sinnlichkeit „an sich subsistierende Dinge“ sind, und macht daher „bloße Vorstellungen zu[r] Sache an sich selbst“ (A 491/B 519). Kant hält sich nicht lang mit der Erklärung des transzendentalen Idealismus auf, weil dieser schon in der Transzendentalen Ästhetik „hinreichend bewiesen“ wurde (A 490/B 518). Das Ziel der Transzendentalen Dialektik besteht eher in dem Nachweis, dass der kosmologische Widerstreit der reinen Vernunft – der laut dem vorherigen Abschnitt gelöst werden muss – auf der Grundlage des transzendentalen Realismus nicht gelöst werden kann. Wenn nun, wie die Transzendentale Ästhetik bewiesen hat, nur wirklich und folglich eine Erscheinung ist, was ein Gegenstand der gegenwärtigen oder einer in einem möglichen empirischen Fortgang gegebenen Wahrnehmung sein kann, so sind die Dinge an sich, die an sich und deshalb ohne Beziehung auf unsere Sinne und auf die mögliche Erfahrung existieren (A 494/B 522), keine möglichen Gegenstände. Folglich werden sie in keiner empirischen Reihe bzw. in keinem empirischen Fortgang nach den Gesetzen der möglichen Erfahrung gegeben. Das „dialektische Argument“, auf dem die Antinomie der reinen Vernunft beruht und das den transzendentalen Realismus unwiderruflich für ungültig erklärt, wird im siebten Abschnitt dargestellt und diskutiert. Es lautet: „Wenn das Bedingte gegeben ist, so ist auch die ganze Reihe aller Bedingungen desselben gegeben; nun sind uns Gegenstände der Sinne als bedingt gegeben; folglich [ist auch die ganze Reihe aller Bedingungen desselben gegeben]“ (A 497/B 525). Bei diesem Vernunftschluss, der „die Vernunft unvermeidlich in Widerstreit mit sich selbst“ versetzt, scheint der Obersatz wahr zu sein, tatsächlich ist er jedoch trügerisch. Bevor aber das Trügerische eines solchen dialektischen Arguments enthüllt wird, muss eine subtile Begriffserklärung erfolgen. Ist das Bedingte eine Erscheinung, wird die Reihe aller ihrer Bedingungen (als Erscheinungen) nicht einfach „gegeben“, sondern „aufgegeben“. Das bedeutet, sie wird als Aufgabe bzw. „Problem“ für den Verstand (A 508/B 536) gegeben. Wenn aber wiederum das Bedingte als Ding an sich betrachtet wird, dann wird die Reihe aller ihrer Bedingungen (als Ding an sich) nicht aufgegeben, sondern tatsächlich gegeben. Demnach herrscht hier derselbe logische Fehler, der im transzendentalen Paralogismus begangen wird, nämlich das „sophisma figurae dictionis“.1106 Ein solcher Sophismus lautet: Das Bedingte und die Reihe der Bedingungen sind im Obersatz als Dinge an sich und im Untersatz als Erscheinungen zu betrachten. Im Obersatz gilt die allgemeine Logik 1106

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„Hieraus erhellt, daß der Obersatz des kosmologischen Vernunftschlusses das Bedingte in transzendentaler Bedeutung einer reinen Kategorie, der Untersatz aber in empirischer Bedeutung eines auf bloße Erscheinungen angewandten Verstandesbegriffs nehmen, folglich derjenige dialektische Betrug darin angetroffen werden, den man Sophisma figurae dictionis nennt“ (A 499/B 527–528).

und die logische Forderung, dass dann, wenn der Schluss (das Bedingte) gegeben wird, zugleich auch der Inbegriff seiner Prämissen (die Reihe der Bedingungen) gegeben wird; im Untersatz gilt dahingegen die transzendentale Logik und der transzendentale Grundsatz, dass dann, wenn der Gegenstand (das Bedingte) gegeben wird, der Inbegriff seiner empirischen Synthesen (die Reihe der Bedingungen) nicht zugleich gegeben, sondern nur aufgegeben wird – und das heißt als Problem bzw. Aufgabe für die Vernunft gegeben wird. Nur im Untersatz gilt also der empirische Fortgang, weil nur dabei die raumzeitlichen Bedingungen gelten. Ein solcher Trugschluss ist eine „ganz natürliche Täuschung der gemeinen Vernunft“ (A 500/B 528). Im Obersatz wird unvermerkt vorausgesetzt, dass, wenn etwas als Bedingtes gegeben wird, auch seine Bedingungen gegeben werden. Dies ist die logische Forderung, die Vollständigkeit der Prämissen für einen Schluss anzunehmen, die nur für Gegenstände als Dinge an sich gelten (A 498/ B 526; A 500/B 528). Das hier vorausgesetzte Verhältnis zwischen Bedingtem und Bedingung schließt jede zeitliche Beziehung aus. „Sie [scil. Bedingtes und Bedingung] werden an sich, als zugleich gegeben, vorausgesetzt“ (A 500/B 528). Dementsprechend ist es für die „gemeine Vernunft“ natürlich, die Erscheinungen auch im Untersatz als Dinge an sich anzusehen. Nach der oben dargestellten Begriffserklärung wird aber deutlich, dass im Obersatz die Synthesis des Bedingten und der vollständigen Reihe seiner Bedingungen aller zeitlichen Umstände entbehrt und nicht einmal als Regressus betrachtet werden kann; zugleich ist aber die Synthesis des Bedingten und der vollständigen Reihe seiner Bedingungen im Untersatz zwangsläufig zeitbedingt und regressiv, sodass anders als beim Obersatz hier die „absolute Totalität der Synthesis und der dadurch vorgestellten Reihe“ (A 500/B 528–529) nicht als gegeben, sondern vielmehr als aufgegeben vorausgesetzt werden kann. Die juridischen Termini, die Kant hier zur Beschreibung des Fehlers und der Unrechtmäßigkeit des Verfahrens gebraucht, rufen den Gerichtshof der Vernunft in Erinnerung. Der Richter weist darauf hin, dass die Argumente der streitenden Parteien unter einem gemeinschaftlichen Fehler leiden, sodass beide „mit Recht, als solche, die ihre Forderung auf keinen gründlichen Titel gründen, abgewiesen werden“ (A 501/B 529). Dadurch wird der Streit jedoch noch nicht geschlichtet. Es ist noch nicht bewiesen, ob beide oder nur ein Teil „in der Sache selbst, die er behauptet (im Schlußsatze) Unrecht [hat], wenn er sie gleich nicht auf tüchtige Beweisgründe zu bauen wußte“ (A 501/B 529). Man kommt natürlich nicht umhin, zu denken, dass einer der Teile Recht haben müsse. Ist aber dieses, so ist es, weil die Klarheit auf beiden Seiten gleich ist, doch unmöglich, jemals auszumitteln, auf welcher Seite das Recht sei; und der Streit dauert nach wie vor, wenn die Parteien gleich bei dem Gerichtshofe der Vernunft zur Ruhe verwiesen worden. Es bleibt also kein Mittel übrig, den Streit gründlich und zur Zufriedenheit beider Theile zu endigen, als daß, da sie einander doch so schön widerlegen können, sie endlich überführt werden, daß sie um Nichts streiten, und ein gewisser transscendentaler Schein ihnen da eine Wirklichkeit vorgemalt habe, wo keine anzutreffen ist. Diesen Weg der Beilegung eines nicht abzuurtheilenden Streits wollen wir jetzt einschlagen (A 501–502/B 529–530, Hervorh. d. Ver.).

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Dieser Weg der Beilegung setzt voraus, dass die „unstatthafte[…] Bedingung“, auf der die Argumente beider Parteien beruhen, ungültig gemacht wird. Die Enthüllung der falschen Voraussetzung oder der vorausgesetzten „unstatthaften Bedingung“ demontiert die entgegengesetzten Behauptungen, insofern die Bedingung ausfällt, unter der sie allein gültig werden können. Daraus folgt, dass beide zugleich falsch und/oder wahr sein können. Wenn zwei einander entgegengesetzte Urtheile eine unstatthafte Bedingung voraussetzen, so fallen sie unerachtet ihres Widerstreits (der gleichwohl kein eigentlicher Widerspruch ist) alle beide weg, weil die Bedingung wegfällt, unter der allein jeder dieser Sätze gelten sollte (A 502– 503/B 531).

Bei der Enthüllung der falschen Voraussetzung bezieht sich Kant auf die Vorstellung eines „Dritten“, von dessen Standpunkt aus sich die Bedingung als „unstatthaft“1107 entpuppt. Wie schon im siebten Kapitel diskutiert wurde, ist das Dritte der Richter, der das Gesetz und die Streitsache (res controversa) auslegt und somit den Fehler entdeckt, den die streitenden Teile begehen, wenn sie sich zum Behuf der Rechtfertigung ihrer Ansprüche auf das Gesetz beziehen. Durch die Enthüllung des Irrtums (der Verwechslung von Dingen an sich und den Erscheinungen beim kosmologischen Vernunftschluss) erklärt der Richter die Teile und gibt eine Lösungsmöglichkeit an. Kant greift hierbei auf die Logik zur Erklärung des Schlichtungsverfahrens zurück. Es gibt eine analytische Opposition (Opposition von kontradiktorischen Urteilen; contradictoria opposita) und eine dialektische Opposition (Opposition von konträren Urteilen; contraria opposita).1108 In der analytischen, aus kontradiktorischen Gegensätzen bestehenden Opposition muss ein Satz falsch und der andere wahr sein; in der dialektischen, aus konträren Gegensätzen bestehenden Opposition können dagegen beide Sätze entweder falsch oder wahr sein. Kant erklärt dies anhand der unendlichen Urteile.1109 In der analytischen Opposition von affirmativen Urteilen bringt die Falschheit eines Satzes die Setzung des Gegensatzes und die Wahrheit die Aufhebung dessen 1107

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„Wenn jemand sagte, ein jeder Körper riecht entweder gut, oder er riecht nicht gut, so findet ein Drittes statt, nämlich, daß er gar nicht rieche (ausdufte) und so können beide widerstreitende Sätze falsch sein“ (A 503/B 531). „Verstandesschlüsse per judicia contradictorie opposita. In Verstandesschlüssen durch Urtheile, die einander contradictorisch entgegengesetzt sind und als solche die ächte, reine Opposition ausmachen, wird die Wahrheit des einen der contradictorisch entgegengesetzten Urtheile aus der Falschheit des andern gefolgert und umgekehrt. Denn die ächte Opposition, die hier stattfindet, enthält nicht mehr noch weniger als was zur Entgegensetzung gehört. Dem Princip des ausschließenden Dritten zufolge können daher nicht beide widersprechende Urtheile wahr, aber auch eben so wenig können sie beide falsch sein. Wenn daher das eine wahr ist, so ist das andre falsch und umgekehrt. b. Verstandesschlüsse per judicia contrarie opposita. Conträre oder widerstreitende Urtheile (judicia contrarie opposita) sind Urtheile, von denen das eine allgemein bejahend, das andre allgemein verneinend ist. Da nun eines derselben mehr aussagt, als das andre, und in dem Überflüssigen, das es außer der bloßen Verneinung des andern noch mehr aussagt, die Falschheit liegen kann: so können sie zwar nicht beide wahr, aber sie können beide falsch sein. In Ansehung dieser Urtheile gilt daher nur der Schluß von der Wahrheit des einen auf die Falschheit des andern, aber nicht umgekehrt“ (Log AA 09: 116–117). Vgl. Ishikawa, F. Kants Denken von einem Dritten, a. a. O.

zwangsläufig mit sich. In der analytischen Opposition von einem affirmativen oder negativen und einem unendlichen Urteil bringt demgegenüber die Falschheit bzw. die Wahrheit eines Satzes nicht die Setzung bzw. Aufhebung des Gegensatzes mit sich.1110 Das heißt, die Wirklichkeit bzw. Nicht-Wirklichkeit von etwas wird dadurch nicht zugleich und zwangsläufig behauptet.1111 Das von Kant gegebene Beispiel ist bildhaft: Angenommen wird die folgende (analytische) Opposition: „[D]ie Welt ist dem Raume nach entweder unendlich, oder sie ist nicht unendlich (non est infinitus)“ (A 503/B 531). Ist der erste Satz falsch, muss der kontradiktorische Gegensatz wahr sein. Dies bedeutet aber nicht, dass „ich [dadurch] nur eine unendliche Welt aufheben“ und „eine andere Welt, nämlich eine endliche Welt setzen“ würde. Nimmt man wiederum die folgende (dialektische) Opposition an: „[D]ie Welt ist entweder unendlich, oder endlich (nichtunendlich), so könnten beide [Sätze] falsch sein“ (A 504/B 532). Wenn man nun die folgenden Sätze „Die Welt ist der Größe nach unendlich“ und „Die Welt ist der Größe nach endlich“ als kontradiktorisch annimmt, dann wird dabei vorausgesetzt, dass die Welt (sprich alle Reihen von Erscheinungen) ein Ding an sich ist, „denn sie bleibt, ich mag den unendlichen oder endlichen Regressus in der Reihe ihrer Erscheinungen aufheben“ (A 504/B 532). Wenn ich demgegenüber „diese Vorrausetzung, oder diesen transzendentalen Schein“ wegnehme, dann wird die analytische Opposition eine dialektische Opposition, in der beide Sätze falsch sein können. Da nun die Welt nichts an sich selbst ist, das heißt unabhängig von der regressiven Reihe der empirischen Synthesis der Bedingungen, handelt es sich tatsächlich um eine dialektische Opposition. Die Welt ist nämlich weder unendlich noch endlich, weder ein an sich unendliches noch ein an sich endliches Ganzes.1112 Als Bedingung zur oben beschriebenen Auflösung der Antinomie gilt jedoch die Annahme des transzendentalen Idealismus, der in der Transzendentalen Ästhetik „direkt“, sprich durch einen direkten, ostensiven Beweis, bewiesen worden ist.1113 Der transzendentale Idealismus muss daher als einziger Weg zur Auflö1110

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„Position ist die Setzung eines bestimmten Sachverhaltes, Negation die Aufhebung der Setzung eines Sachverhaltes“. Engelhard, K. Das Einfache und die Materie: Untersuchungen zu Kants Antinomie der Teilung. Berlin [u. a.]: De Gruyter, 2005, S. 328. Vgl. z. B. Rx 3034 AA 16: 626 (1760–1769): „omnes propositiones vel sunt positionis aut remotionis absolutae (Es ist ein Gott, es ist nicht) vel relativae: praedicati ad subiectum (alias logicae)“. Dasselbe gilt für die weiteren transzendentalen Ideen: „Die Reihe der Bedingungen ist nur in der regressiven Synthesis selbst, nicht aber nach sich in der Erscheinung, als einem eigenen vor allem Regressus gegebenen Dinge, anzutreffen“ (A 505/B 533). Das heißt, dasselbe lässt sich auf die „Reihe der untergeordneten Vorstellungen“, die nur als „dynamischer Regressus“ zu begreifen ist, anwenden. Vgl. dazu und auch zum Verhältnis dieses Gedankens zum unendlichen Urteil Ishiwaka, F. Kants Denken von einem Dritten, a. a. O. Wie bereits im letzten Kapitel diskutiert wurde, nimmt Kant eine „Deduktion“ von Raum und Zeit als reine Anschauungsform vor (z. B. „Transzendentale Erörterung der Begriffe von Raum und Zeit“, B 40–41, B 48–49 – das bedeutet, sie macht die „Erklärung der Möglichkeit der Geometrie als einer synthetischen Erkenntnis a priori begreiflich“ (B 41); oder „Deduktion der Begriffe im Raum und Zeit“, Prol AA 04: 285). „Also liegen doch wirklich der Mathematik reine Anschauungen a priori zum Grunde, welche ihre synthetischen und apodiktisch geltenden Sätze möglich machen; und daher erklärt unsere transscendentale Deduction der Begriffe im Raum und Zeit zugleich die Möglichkeit einer reinen Mathematik, die ohne eine solche Deduction, und ohne daß wir annehmen, ‚alles, was

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sung der Antinomie, des „Scandal[s] des scheinbaren Wiederspruchs der Vernunft mit ihr selbst“ (Brief an Garve, 21.09.1798, AA, 12: 258), vorausgesetzt werden. Aus der auf der Besonderheit der Transzendentalphilosophie als Philosophie der reinen Vernunft beruhenden Notwendigkeit, jeden Widerstreit der Vernunft zu schlichten und all ihre Fragen zu beantworten, ergibt sich daher die Notwendigkeit der Annahme des transzendentalen Idealismus. In diesem Kontext behauptet Kant, dass die Antinomie ein indirekter, apagogischer Beweis der Wahrheit des transzendentalen Idealismus ist.1114 Die Antinomie der reinen Vernunft erhält damit einen „wahren, zwar nicht dogmatischen, aber doch kritischen und doktrinalen Nutzen“: So wird demnach die Antinomie der reinen Vernunft bei ihren kosmologischen Ideen gehoben, dadurch, daß gezeigt wird, sie sei bloß dialektisch und ein Widerstreit eines Scheins, der daher entspringt, daß man die Idee der absoluten Totalität, welche nur als eine Bedingung der Dinge an sich selbst gilt, auf Erscheinungen angewandt hat (A 506/B 534).

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unsern Sinnen gegeben werden mag (den äußeren im Raume, dem inneren in der Zeit), werde von uns nur angeschauet, wie es uns erscheint, nicht wie es an sich selbst ist‘, zwar eingeräumt, aber keineswegs eingesehen werden könnte“ (Prol, AA 04: 285). In der Streitschrift verbindet Kant eine Deduktion mit der „Erörterung der Nachforschung der Elemente unserer Erkenntniß a priori und des Grundes ihrer Gültigkeit in Ansehung der Objecte vor aller Erfahrung, mithin der Deduction ihrer objectiven Realität (als langwierigen und schweren Bemühungen) mit guter Manier auszuweichen und wo möglich durch einen Federzug die Kritik zu vernichten, zugleich aber für einen unbegrenzten Dogmatism der reinen Vernunft Platz zu machen. Denn bekanntlich fängt die Kritik des reinen Verstandes von dieser Nachforschung an, welche die Auflösung der allgemeinen Frage zum Zwecke hat: wie sind synthetische Sätze a priori möglich? und nur nach einer mühvollen Erörterung aller dazu erforderlichen Be|dingungen kann sie zu dem entscheidenden Schlußsatze gelangen: daß keinem Begriffe seine objective Realität anders gesichert werden könne, als so fern er in einer ihm correspondirenden Anschauung (die für uns jederzeit sinnlich ist) dargestellt werden kann, mithin über die Grenze der Sinnlichkeit, folglich auch der möglichen Erfahrung hinaus es schlechterdings keine Erkenntniß, d. i. keine Begriffe, von denen man sicher ist, daß sie nicht leer sind, geben könne“ (ÜE, AA 08: 188–189; vgl. dazu auch A xvi–ii). In den Fortschritten liest man: „Zum Beweise des erstern Satzes [nämlich ‚daß die Vernunft, als Vermögen der Erkenntniß der Dinge a priori, sich auf Gegenstände der Sinne erstrecke‘] gehört auch die Erörterung, wie von Gegenständen der Sinne ein Erkenntniß a priori möglich sey, weil wir ohne das nicht recht sicher seyn würden, ob die Urtheile über jene Gegenstände auch in der That Erkenntnisse seien; was aber die Beschaffenheit derselben, Urtheile a priori zu seyn, betrifft, so kündiget sie die von selbst durch das Bewußtseyn ihrer Nothwendigkeit an“ (FM AA 20: 273). Der apagogische bzw. indirekte Beweis des transzendentalen Idealismus lässt sich folgendermaßen formulieren: Wenn man annimmt, dass die Welt ein für sich selbst bestehendes Ganzes ist, dann ist sie entweder endlich oder unendlich. Allerdings, wie Thesis und Antithesis nachweisen, kann man nicht behaupten, dass die Welt entweder endlich oder unendlich ist. Daraus folgt, dass die Welt („der Inbegriff aller Erscheinungen“) kein für sich selbst bestehendes Ganze ist, und somit, dass die Welt aus Erscheinungen besteht, aus Dingen, die außerhalb unserer Vorstellungen nichts sind. Der modus operandi des apagogischen modus tollens kommt hierbei zur Geltung: Es ist der Prämisse, aus der eine oder mehrere falsche Folgen hervorgehen, zu widersprechen, weshalb das kontradiktorische Gegenteil der verneinten Prämisse zu behaupten ist. Wie im achten Kapitel gezeigt wurde, ist der apagogische Beweis ein bloßes Hilfsmittel in der Transzendentalphilosophie; zur Begründung des „gründlichen Titels“ der Annahme des transzendentalen Idealismus braucht man den direkten, in der Transzendentalen Ästhetik geführten Beweis.

Anzumerken ist auch, dass die Beweise der Thesis und Antithesis bei jedem kosmologischen Widerstreit apagogisch sind und, als solche, grundlegend voraussetzen, dass die Begriffe im Ober- und Untersatz in ein und derselben Bedeutung genommen werden. Allerdings sind solche Beweise aufgrund der falschen Voraussetzung, dass die Erscheinungen Dinge an sich sind, also aufgrund der transzendentalen Subreption ungültig. Wenn die Welt ein an sich bestehendes Ganzes, das heißt ein „transzendentales Objekt“, wäre, dann wären die Behauptungen der Thesis und Antithesis kontradiktorisch einander entgegengesetzt und demzufolge wäre der apagogische Beweis der Falschheit der Prämissen aus der Falschheit der Folgen und folglich der Wahrheit des kontradiktorischen Gegensatzes gültig. Anders formuliert: Nur unter der Voraussetzung des transzendentalen Realismus wäre die apagogische Beweisart prinzipiell statthaft und könnten sich Thesis und Antithesis so einen gründlichen, nicht trügerischen Beweis anmaßen.1115 Die Wichtigkeit des Disziplin-Kapitels für den methodologischen Aufbau der KrV kommt hier deutlich zum Vorschein. In diesem Kontext zeigt sich darüber hinaus der Nutzen der skeptischen Methode zur „Berechtigung unseres Urteils“. Implizit weist Kant nicht nur systematisch, sondern auch werkgenetisch darauf hin, dass die skeptische Prüfung der rationalistisch-dogmatischen und der empiristisch-dogmatischen Sätze auf die „Entdeckung der wahren Beschaffenheit der Dinge, als Gegenstände der Sinne“, hinausläuft. Die Transzendentale Dialektik tut also keinesweges dem Skeptizism einigen Vorschub, wohl aber der skeptischen Methode, welche an ihr ein Beispiel ihres großen Nutzens aufweisen kann, wenn man die Argumente der Vernunft in ihrer größten Freiheit gegen einander auftreten läßt, die, ob sie gleich zuletzt nicht dasjenige, was man suchte, dennoch jederzeit etwas Nützliches und zur Berechtigung unserer Urteil Dienliches, liefern werden (A 507/B 535).

Unter der Voraussetzung des transzendentalen Realismus und auf einem bloß logischen Standpunkt sind daher die apagogischen Beweise der Antinomien keine „Blendwerke“, sondern als „gründlich“ zu bezeichnen. Unter der Voraussetzung des transzendentalen Idealismus und auf einem kritischen Standpunkt sind sie jedoch dialektisch und trügerisch. Nur der kritische, skeptische Richter des Gerichtshofs der Kritik kann die apagogische Beweisart als das „eigentliche Blendwerk, womit die Bewunderer der Gründlichkeit unserer dogmatischen Vernünftler jederzeit hingehalten worden [sind]“ (A 793/B 821), entlarven. Ohne die skeptische Methode würde der transzendentale Schein weiter betrügen und die Beweise der Thesis und der Antithesis würden weiterhin fälschlich als „gründlich“ gelten. Kant betont, dass diese Anmerkung „von Wichtigkeit‘ ist. Viele Interpreten sehen hier einen stillschweigenden Beleg für den vermutlichen Werdegang der kritischen Philosophie: zuerst die Enthüllung des Widerstreits (die skeptische Methode, die Antinomie) und im Anschluss daran die Untersuchung und 1115

H. Allison deutet bekanntlich das Antinomie-Kapitel lediglich als einen indirekten Beweis des transzendentalen Idealismus und folglich als eine Widerlegung des transzendentalen Realismus. Vgl. Allison, H. Kant’s Transcendental Idealism, a. a. O., S. 35ff. Bei einer solchen einseitigen Deutung des Antinomie-Kapitels werden die schon erwähnten „positiven“ Momente der positiven Gesetzgebung der Vernunft, die dabei zu erkennen sind, völlig übersehen.

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der Aufweis, wie die Dinge als Gegenstände der Sinne in Wahrheit beschaffen sind (der transzendentale Idealismus, die Transzendentale Ästhetik): „Der Widerstreit der daraus gezogenen Sätze entdeckt aber, daß in der Voraussetzung eine Falschheit liege, und bringt uns dadurch zu einer Entdeckung der wahren Beschaffenheit der Dinge, als Gegenstände der Sinne“ (A 507/B 535, Hervorh. d. Verf.). Abgesehen von den schon diskutierten werkgenetischen Schlussfolgerungen zum Werdegang der kritischen Philosophie wird hier auf die von Kant betonte Wichtigkeit des transzendentalen Scheins und die Entlarvung der „Trüglichkeit“ des von allen – skeptischen wie rationalistischen – Dogmatikern verwendeten apagogischen Beweises bei den „Geschäften der reinen Vernunft“ hingewiesen. 10.3.4 „Der Sinn, in welchem die Vernunft mit sich selbst zusammenstimmt“ Obwohl es so scheint, als wäre der Streit der Vernunft mit sich selbst durch die Enthüllung der falschen Voraussetzung schon aufgehoben, muss der Streit vollständig zu Ende geführt werden. Damit ist nicht nur die „durch kritische Auflösung“ ermöglichte Aufhebung des Scheins, der die Vernunft „mit sich selbst entzweiete“, gemeint, sondern auch der „Aufschluss“ des Sinnes, „in welchem die Vernunft mit sich selbst zusammenstimmt und dessen Mißdeutung allein den Streit veranlaßte“ (A 516/B 544, Hervorh. d. Verf.). Es fehlt also die Bestimmung der „Gültigkeit des Vernunftprinzips“ als „Regel der Fortsetzung und Größe einer möglichen Erfahrung“ in jedem kosmologischen Widerstreit; eine solche Gültigkeit überhaupt des Vernunftprinzips bleibt, sogar nachdem ihre „Ungültigkeit als eines konstitutiven Grundsatzes der Erscheinungen an sich selbst […] hinlänglich dargetan“ wurde (A 516/B 544). Dadurch wird ein „sonst dialektische[r] Grundsatz in einen doktrinalen“ (A 516/B 544) verwandelt, dessen genauer Sinn noch bestimmt werden muss. Es geht dabei um den Unterschied zwischen einem konstitutiven und einem regulativen Vernunftprinzip als legitimem Gebrauch der transzendentalen Ideen im spekulativen Bereich. Auf das Verdikt des Gerichtshofs erfolgt die genaue Grenzbestimmung des Geltungsbereichs eines jeden möglichen spekulativen Gebrauchs der Ideen. Durch den „kosmologischen Grundsatz der Totalität“ wird nicht ein „Maximum der Reihe von Bedingungen in einer Sinnenwelt“ gegeben, sondern nur aufgegeben (A 508/B 536). Ein solcher Grundsatz hat jedoch nicht als Axiom eine „gute Gültigkeit“, „die Totalität im Objekt als wirklich zu denken“, sondern vielmehr als ein „Problem für den Verstand“, das heißt für das „Subjekt, um der Vollständigkeit in der Idee gemäß den Regressus in der Reihe der Bedingungen zu einem gegebenen Bedingten anzustellen und fortzusetzen“ (A 508/B 536). Der kosmologische Grundsatz der Totalität soll daher als „Regel“ der Vernunft gelten, sprich als ein bloß „subjektiver“ und nicht objektiver, das „Schlechthinunbedingte“ konstituierender Grundsatz der Vernunft Der Grundsatz der Vernunft also ist eigentlich nur eine Regel, welche in der Reihe der Bedingungen gegebener Erscheinungen einen Regressus

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gebietet,1116 dem es niemals erlaubt ist, bei einem Schlechthinunbedingten stehen zu bleiben (A 509/B 537).

Das Gebot, die empirische Reihe der Bedingungen in indefinitum fortzusetzen (sprich der „Grundsatz der größtmöglichen Fortsetzung und Erweiterung der Erfahrung“ – A 509/B 537), als „Principium der Vernunft“ ist kein Grundsatz der Möglichkeit der Vernunft, also kein konstitutiver Grundsatz, sondern ein bloßes regulatives Prinzip der Vernunft. Er besteht nicht darin, zu antizipieren, „was im Objekte vor allem Regressus an sich gegeben ist“ (A 509/B 537), weil in diesem Fall der Gegenstand als Ding an sich betrachtet werden müsste. Stattdessen muss er „postulier[en], was von uns im Regressus geschehen soll“, wie den Regressus und den Gegenstand zu begreifen uns aufgegeben ist. Kant betont an dieser Stelle, dass die Verwechslung von beiden Sinnen des kosmologischen Grundsatzes der Totalität das Ergebnis einer „transzendentalen Subreption“ ist, durch die man einer bloß subjektiven Regel objektive Realität verleiht und so den Unterschied zwischen einem konstitutiven und einem regulativen Grundsatz völlig außer Kraft setzt (A 509/B 537). Der kosmologische Grundsatz der Totalität als Regel der Vernunft sagt nichts über den Gegenstand (das „Objektive“) aus, sondern nur darüber, wie die empirische Reihe der Bedingungen fortgesetzt werden muss (das „Subjektive), um dadurch zu „dem vollständigen Begriffe des Objekts“ zu gelangen, nämlich dem Unbedingten, das aber nie durch eine solche Reihe erreicht werden kann: Die Vernunftidee wird also nur der regressiven Synthesis in der Reihe der Bedingungen eine Regel vorschreiben, nach welcher sie vom Bedingten, vermittelst aller einander untergeordneten Bedingungen, zum Unbedingten fortgeht, obgleich dieses niemals erreicht wird (A 510/B 538).

Man muss also die Synthesis einer nie vervollständigbaren Reihe näher bestimmen. Kant stellt progressus in infinitum und progressus in indefinitum einander gegenüber. Anders als beim progressus in infinitum benötigt die Vernunft beim progressus in indefinitum „niemals absolute Totalität der Reihe, weil sie solche nicht als Bedingung und wie gegeben (datum) voraus[…]setzt, sondern nur als was Bedingtes, das nur angeblich (dabile) ist, und ohne Ende hinzugesetzt wird“ (A 512/ B 540). Die Totalität wird daher entweder als „gegeben (datum)“, also als Ding an sich, oder als etwas betrachtet, was gegeben werden kann, also als Problem oder Aufgabe (dabile) – kurz gesagt als Erscheinung. Zur Unterscheidung zwischen mathematischen und dynamischen kosmologischen Ideen (nämlich einerseits zwischen der ersten und der zweiten, andererseits zwischen der dritten und der vierten kosmologischen Idee) und zwischen den zwei Schlichtungsmöglichkeiten des Streits der Vernunft mit sich selbst (nämlich der Entscheidung, ob beide Parteien falsch oder wahr sind) muss man zuerst in Erwägung ziehen, ob das „Ganze“ in der empirischen Anschauung gegeben wird. Ist dies der Fall, dann läuft der Regressus ins Unendliche (in infinitum) fort (wie im Fall der mathematischen Ideen). Ist es nicht der Fall, dann wird nur ein Glied der Reihe in einer bestimmten empirischen Anschauung ge-

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Kant nimmt in diesem Kontext „gebieten“ als Synonym von „aufgeben“, „zur Aufgabe machen“.

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geben, „von welchem der Regressus zur absoluten Totalität allererst fortgehen soll“ (A 512/B 540). Somit läuft der Regressus in unbestimmte Weite (in indefinitum) fort (wie im Fall der dynamischen Ideen) (A 512–513/B 540–541). Der zweite und der dritte kosmologische Widerstreit können hier als Beispiele herangezogen werden. Die Teilung der Materie geht ins Unendliche, weil der zu teilende Körper ein in der empirischen Anschauung gegebenes Ganzes ist und folglich der Regressus der Dekomposition in allen seinen kleinesten Teilen in infinitum geschieht. Bei einer Reihe der Ursachen einer bestimmten Naturgegebenheit geht der Regressus dagegen in „unbestimmte Weite“ fort (A 513/B 541), weil lediglich die bestimmte Naturgegebenheit in der gegenwärtigen empirischen Anschauung gegeben wird, während die ganze Reihe ihrer Ursachen nur im Regressus selbst „vor“ der gegenwärtigen empirischen Anschauung gegeben wird. In keinem der beiden Fälle wird die Reihe der Bedingungen als (weder in infinitum noch in indefinitum) „unendlich im Objekt gegeben angesehen“ (A 514/B 542). Das heißt, die Bedingungen des Bedingten und das angeblich gesuchte Unbedingte sind niemals Dinge an sich, sondern vielmehr nur Erscheinungen. Bei der vom Richter des Gerichtshofs der Vernunft neu formulierten Frage geht es nicht um die Entscheidung, ob die Reihe an sich unendlich oder unbestimmt ist, sondern vielmehr darum, wie der empirische Regressus zu begreifen und wie weit dabei fortzuschreiten ist. Der Unterschied zwischen einem konstitutiven und einem regulativen Prinzip lässt sich aus dem bisher Gesagten besser verstehen. Während das konstitutive Prinzip nach der Bestimmung und der Erkenntnis des Unbedingten als Gegenstand und des Inbegriffs seiner Bedingungen als etwas, das vor dem Regressus selbst gegeben wird, trachtet, lautet der „Grund des regulativen Prinzips der Vernunft“ wie folgt: „[I]m empirischen Regressus [könne] keine Erfahrung von einer absoluten Grenze, mithin von keiner Bedingung, als einer solchen, die empirisch schlechthin unbedingt sei, angetroffen werden“ (A 517/B 545). Die Frage ist also demnach, ob man im empirischen Regressus zu einer Bedingung gelangen kann, die absolut unbedingt, aber nicht empirisch gegeben ist. Im ersten und zweiten kosmologischen Widerstreit lehnt Kant dies ab. Sowohl bei der Begrenzung des Raums und der Zeit als auch bei der Teilung der Materie ist das gesuchte unbedingte Glied immer ein empirischer, also bedingter Teil der Reihe selbst. Anders gesagt: In den mathematischen Ideen sind die Bedingungen der Reihe immer homogen. Die Bedingung ist stets ein Teil der Reihe, weil diese einen Zusammenhang der Teile mit einem Ganzen (erste Antinomie) oder die Zerteilung eines Ganzen in seine Teile (zweite Antinomie) bildet. In den dynamischen Ideen kann das unbedingte Glied jedoch als Problem oder Aufgabe in der empirischen Reihe selbst (dritte Antinomie) oder außer der empirischen Reihe selbst (vierte Antinomie), aber niemals als ein empirisch gegebenes Glied derselben angetroffen werden. Anders gesagt: In den dynamischen Ideen sind die Bedingungen heterogen. Es geht nicht um die „Möglichkeit eines unbedingten Ganzen aus gegebenen Teilen“ oder um die „eines unbedingten Teils zu einem gegebenen Ganzen, sondern um die Ableitung eines Zustandes von seiner Ursache“ (dritte Antinomie) oder um die „des zufälligen Daseins der Substanz selbst von der notwendigen“ (vierte Antinomie) (A 560/B 588). In den dynamischen Ideen darf daher „die Bedingung nicht eben notwendig mit dem Bedingten eine empirische Reihe ausmachen“

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(A 560/B 588). Da man in den mathematischen Ideen niemals zu einem absolut unbedingten Glied gelangen kann, sind die Thesis sowie die Antithesis des ersten und des zweiten kosmologischen Widerstreits der Vernunft beide falsch; da man aber in den dynamischen Ideen der Vernunft durchaus zu einem absolut unbedingten Glied gelangen kann, können die Thesis sowie die Antithesis des dritten und des vierten kosmologischen Widerstreits beide wahr sein. Die dynamische Antinomie eröffnet uns eine ganz neue Aussicht in Ansehung des Streitshandeln, darin die Vernunft verflochten ist, und welcher, da er vorher, als auf beiderseitige falsche Voraussetzung gebauet, abgewiesen worden, jetzt, da vielleicht in der dynamischen Antinomie eine solche Voraussetzung stattfindet, die mit der Prätension der Vernunft zusammen bestehen kann, aus diesem Gesichtspunkte, und, da der Richter den Mangel der Rechtsgründe, die man beiderseits verkannt hatte, ergänzt, zu beider Teile Genugtuung verglichen werden kann, welches sich bei dem Streite in der mathematischen Antinomie nicht tun ließ (A 529–530/B 557–558, Hervorh. d. Verf.).

In der „mathematischen Verknüpfung der Reihen der Erscheinungen“ gibt es nur sinnliche Bedingungen; die dynamische Verknüpfung der Reihe sinnlicher Bedingungen lässt dagegen eine heterogene, „ungleichartige Bedingung“ zu, die nicht wirklicher Teil der empirischen Reihe ist, sondern, „als bloß intelligibele, außer der Reihe liegt“ (A 530/B 558). Der Vernunft, genauer der „Prätension der Vernunft“ darauf, „das Unbedingte den Erscheinungen“ vorzusetzen, ohne dabei die empirische Reihe „zu verwirren und, den Verstandesgrundsätzen zuwider, abzubrechen“, wird dadurch „ein Genüge getan“ (A 531/B 559). Daraus ergibt sich – vielleicht paradoxerweise –, dass in den dynamischen Antinomien, anders als in den mathematischen, das Unbedingte angenommen werden und mit der „Prätension“ des Verstandes zusammen bestehen kann, wodurch eine ganz „neue Aussicht in Ansehung des Streitshandeln“ der reinen Vernunft und damit ein neuer Weg zur Auflösung der Antinomie eröffnet werden kann. Der Richter kann „den Mangel der Rechtsgründe“ bzw. des Titels (auf die Rechtmäßigkeit des Gebrauchs eines bestimmten Begriffs) der reinen Vernunft ergänzen, wodurch „zu beider Teile Genugtuung verglichen werden“ kann, sofern beide, Unbedingtes und Bedingtes, angenommen werden. Der Richter muss also den Streit durch die Rechtsprüfung der von beiden Parteien vorgebrachten Titel beilegen. Mit Blick auf den dritten kosmologischen Widerstreit der Vernunft, der Freiheit und Determinismus einander gegenüberstellt, bemerkt Kant, dass sowohl die Behauptungen der Thesis als auch die der Antithesis wahr sein können. Indem man annimmt, dass das Bedingte sowie das Unbedingte als sich nicht gegenseitig ausschließende Glieder der Reihe der Bedingungen bei der Erklärung eines bestimmten Ereignisses (nämlich der freien Handlung in der Sinnenwelt) verstanden werden können, lässt sich diese Antinomie durch den Beweis auflösen, dass es keinen Widerstreit zwischen den Freiheitsgesetzen und den Naturgesetzen innerhalb der Gesetzgebung der reinen Vernunft gibt. Die Gesetze der Freiheit „affizieren“ nicht die Gesetze der Natur (A 557/B 585). Das heißt, beide können zusammen bestehen, die Geltungsbereiche solcher Ideen schließen sich nicht aus und die Gerichtsbarkeiten überschneiden sich nicht. Die Grenzen einer solchen Auflösung sind jedoch deutlich: Man kann „bis an die intelligibele Ursache, aber

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nicht über dieselbe hinaus kommen“ (A 557/B 585). Ich weiß, dass aufgrund einer solchen intelligiblen Ursache eine Handlung frei ist; ich kann aber nicht einsehen, warum sie frei ist. Ich habe keine Einsicht in eine solche intelligible Ursache – denn diese Einsicht „überschreitet so weit alles Vermögen unserer Vernunft“. Die Frage nach dem Grund der intelligiblen Ursache entspricht der Frage danach, „woher der transzendentale Gegenstand unserer äußeren sinnlichen Anschauung gerade nur Anschauung im Raume und nicht irgend eine andere gebe“ (A 557/B 585). Diese Grenzbestimmung hat jedoch keine besondere Relevanz für die zu Beginn gestellte „Aufgabe“, nämlich zu bestimmen, ob die Kausalität aus Freiheit und die Kausalität aus Natur sich in derselben Handlung widerstreiten. Diese Aufgabe wurde laut Kant erfüllt. Die Naturgesetze „affizieren“ nicht die Freiheitsgesetze, weshalb beide unabhängig voneinander „stattfinden“ können. Es gibt zusammenfassend keinen Widerspruch zwischen den Vernunftgesetzen innerhalb der Gesetzgebung der Vernunft: Daß nun diese Antinomie auf einem bloßen Scheine beruhe, und, daß Natur der Kausalität aus Freiheit wenigstens nicht widerstreite, das war das einzige, was wir leisten konnten, und woran es uns auch einzig und allein gelegen war (A 558/B 586).

Was den vierten kosmologischen Widerstreit der Vernunft betrifft, nämlich ob ein schlechthin notwendiges Wesen in der Welt als deren Ursache existiert, so bleibt „noch ein Ausweg offen“, nämlich ob „von der ganzen Reihe, auch eine nichtempirische Bedingung, d. i. ein unbedingtnotwendiges Wesen stattfinde“ (A 560/B 588). Die nichtempirische Bedingung wäre kein Glied der empirischen Reihe, sondern würde „die ganze Sinnenwelt in ihrem durch alle Glieder gehenden empirischbedingten Dasein lassen“ (A 561/B 589). Anders als bei der dritten Antinomie, in der die nichtempirische Bedingung, als Ursache oder „substantia phaenomenon“, „in die Reihe der Bedingungen gehörete, und nur [ihre] Kausalität als intelligibel gedacht wurde“, müsste in der vierten Antinomie „das notwendige Wesen ganz außer der Reihe der Sinnenwelt (als ens extramundanum) und bloß intelligibel gedacht werden“ (A 561/B 589), sodass es den „Gesetze[n] der Zufälligkeit und Abhängigkeit“ der Erscheinungen nicht unterworfen ist. Der Streit wird geschlichtet, indem man den kosmologischen Grundsatz der Totalität der Bedingungen als bloß regulatives Prinzip der Vernunft betrachtet. Die Vernunft gelangt aus der Sackgasse, wenn sie die Forderung der Antithesis, dass alles in der Sinnenwelt eine „empirischbedingte“ Existenz habe, mit dem Anspruch der Thesis, dass „die ganze Reihe in irgend einem intelligibelen Wesen (welches darum von aller empirischen Bedingung frei ist, und vielmehr den Grund der Möglichkeit aller dieser Erscheinungen enthält), gegründet sein könne“ (A 562/B 590), in Einklang zu bringen versucht. Beide Sätze können wahr sein, denn jeder hat seine Gültigkeit in einem bestimmten Bereich der Gesetzgebung der reinen Vernunft. Wie bei der dritten Antinomie beansprucht Kant mit der Beilegung des Streits, zur Erkenntnis eines solchen ens extramundanum gelangt zu sein, und ebenso wenig, „das unbedingtnotwendige Dasein eines Wesens zu beweisen“ oder die Möglichkeit einer intelligiblen Bedingung der Sinnenwelt zu begründen,

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sondern nur eben so, wie wir die Vernunft einschränken, daß sie nicht den Faden der empirischen Bedingungen verlasse, und sich in transzendente und keiner Darstellung in concreto fähige Erklärungsgründe verlaufe also auch, anderseits, das Gesetz des bloß empirischen Verstandesgebrauchs dahin einzuschränken, daß es nicht über die Möglichkeit der Dinge überhaupt entscheide, und das Intelligibele, ob es gleich von uns zur Erklärung der Erscheinungen nicht zu gebrauchen ist, darum nicht für unmöglich erkläre (A 562/B 590, Hervorh. d. Verf.).

Die positive und die negative Gesetzgebung der reinen Vernunft kommen hierbei eindeutig zur Geltung. Einerseits muss man „die Vernunft einschränken“, damit sie „sich [nicht] in transzendente […] Erklärungsgründe verlaufe“, andererseits ist aber auch das „Gesetz des bloß empirischen Verstandesgebrauches“ in seine Schranken zu weisen, damit „es nicht über die Möglichkeit der Dinge überhaupt entscheide“. Eine solche negative Leistung der KrV hat als positives Pendant die Ermöglichung des praktischen Vernunftgebrauchs und damit des einzigen Gebrauchs, in dem die Vernunftprinzipien einen immanenten und konstitutiven Sinn erhalten können (vgl. KpV AA 05: 135).1117 Kant weist bei der Auflösung des vierten kosmologischen Widerstreits klar darauf hin: Der empirische Gebrauch der Vernunft (in Ansehung der Bedingungen des Daseins in der Sinnenwelt) wird durch die Einräumung eines bloß intelligibelen Wesens nicht afficirt, sondern geht nach dem Princip der durchgängigen Zufälligkeit von empirischen Bedingungen zu höheren, die immer eben sowohl empirisch sind. Eben so wenig schließt aber auch dieser regulative Grundsatz die Annehmung einer intelligibelen Ursache, die nicht in der Reihe ist, aus, wenn es um den reinen Gebrauch der Vernunft (in Ansehung der Zwecke) zu thun ist (A 564/B 592).

Die Lösung des antinomischen Widerstreits der Vernunft erfolgt daher nicht durch die absolute Vernichtung oder Leugnung der streitenden Parteien und ihrer Gründe, sondern vielmehr durch eine Begrenzung der Anwendungs- bzw. Geltungsbereiche der Vernunftgesetze. Eine solche Begrenzung geschieht außerdem durch eine refutatio oder retorsio: Im Fall der vierten Antinomie kann bewiesen werden, dass es unmöglich ist, die Unmöglichkeit eines „unbedingtnotwendigen“ Wesens zu beweisen. Das heißt dann aber auch, dass der Satz über die Möglichkeit überhaupt eines „unbedingtnotwendigen“ Wesens überhaupt verteidigt wird durch den Beweis, dass es unmöglich ist, die Unmöglichkeit eines solchen Wesens zu beweisen. Daraus ergibt sich, dass es keinen wahren Widerspruch in der reinen Vernunft gibt und beide, Thesis und Antithesis, „zusammen bestehen“ und deshalb „beiderseits wahr sein können“ (A 529–530/B 557– 558). Obwohl die Thesis und die Antithesis des dritten und des vierten Widerstreits der Vernunft zugleich wahr sein können, bedeutet dies nicht, dass sie in 1117

„Hier werden sie [scil. die Gegenstände der reinen Vernunft] immanent und constitutiv, indem sie Gründe der Möglichkeit sind, das nothwendige Object der reinen praktischen Vernunft (das höchste Gut) wirklich zu machen, da sie ohne dies transscendent und blos regulative Principien der speculativen Vernunft sind, die ihr nicht ein neues Object über die Erfahrung hinaus anzunehmen, sondern nur ihren Gebrauch in der Erfahrung der Vollständigkeit zu näheren auferlegen“ (KpV AA 05: 135, Hervorh. d. Verf.).

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der Tat wahr sind. Um die Wahrheit der Thesis beider Widerstreite zu beweisen, braucht es mehr. Kant leistet hier nur die „kritische Abschirmung“ der reinen Vernunft, von der in der vorliegenden Arbeit die Rede war. Der Beweis der Wahrheit und folglich der objektiven Realität der Freiheit sowie der weiteren Gegenstände der reinen Vernunft kann nicht durch die Spekulation erbracht, sondern muss in dem der Vernunft eigentümlichen Bereich gesucht werden, nämlich in der Moral.

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Schlusswort Nach den historischen, werkgenetischen und systematischen Untersuchungen kann ein vollständigeres und umfassenderes Bild der juridischen Metaphorik in der KrV gezeichnet werden. Die Hauptaufgabe des Gerichtshofs der Vernunft ist die Prüfung und Entscheidung über die Titel der Begriffe der Vernunft und des Verstandes, um dadurch den Streit zu schlichten, der aus den jeweiligen Ansprüchen auf den möglichen Gebrauch solcher Begriffe entsteht. Dazu muss sich die KrV historisch zu verortender Begriffe und Termini bedienen, die nicht ohne Grund der Jurisprudenz entlehnt werden. Die Rechtswissenschaft erweist sich in diesem Kontext als wertvolles Hilfsmittel für die Formulierung und Beantwortung eines methodologischen Problems, das sich im Werdegang der kritischen Philosophie herausgebildet hat und in seinen großen Linien den Versuch der deutschen philosophischen Tradition, einen Mittelweg für die Streitigkeiten zwischen den Schulen zu finden, widerspiegelt. In der juridischen Metaphorik der kritischen Philosophie entspricht dies der Errichtung eines bürgerlichen Zustands in der Philosophie, den der Gerichtshof der Vernunft sicherstellen muss. Die Gesetzgebung der Vernunft in ihren negativen und vor allem in ihren positiven Aspekten wird dadurch gesichert, dass der Gerichtshof der Vernunft die Vernunftgebräuche zugleich begrenzt und ermöglicht, insbesondere was den einzigen möglichen legitimen Gebrauch der reinen Vernunft betrifft, nämlich den praktischen. Die folgende Stelle des Kanon-Kapitels ist in diesem Zusammenhang musterhaft: Sie [scil. die Vernunft] tritt den Weg der bloßen Speculation an, um sich ihnen [scil. den Gegenständen, die ein großes Interesse für die Vernunft bei sich führen] zu nähern; aber diese fliehen vor ihr. Vermuthlich wird auf dem einzigen Wege, der ihr noch übrig ist, nämlich dem des praktischen Gebrauchs, besseres Glück für sie zu hoffen sein (A 796/B 824, Hervorh. d. Verf.).

Ein erneutes Anzeichen der ungeheuren Dynamik in Kants Denken zeigt sich in einer späteren Formulierung darüber, wie die Probleme der positiven Gesetzgebung der reinen Vernunft bei der Prüfung und Entscheidung über die Titel der Begriffe und den Streit zwischen Grundsätzen zu konzipieren seien. Der systematische Ort und die genauen Umrisse des praktischen und des spekulativen Gebrauchs der Vernunft sowie ihr Verhältnis zum Verstand und zu den weiteren Vermögen des Gemüts waren Gegenstände intensiver Untersuchungen und wichtiger Veränderungen bei Kant auch im Gang der kritischen Periode. Die Schwierigkeiten, das Kanon-Kapitel mit den späteren Schriften Kants über die praktische Philosophie in Einklang zu bringen, aber auch die Vorrede sowie die Einleitung der KU sind eindeutige Belege dafür.1118 Eine bis ins Einzelne gehende 1118

Wie im zehnten Kapitel erwähnt, hat Kant nach R. Brandts Deutung die systematische Bedeutung der KrV zwischen 1781 und 1787 geändert. Im Jahr 1787 verstand Kant die KrV nicht mehr als Kritik der reinen Vernunft, sondern eher als Kritik des reinen Verstandes bzw. der spekulativen Vernunft: „Es war 1781 ein falscher Titel, denn das damals gemeinte gesetzgebende Vermögen ist nicht die reine Vernunft, sondern der reine Verstand“. Brandt, R. Die Bestimmung der Menschen bei Kant, a. a. O, S. 498. Brandt argumentiert

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Untersuchung über die gesamte Denkentwicklung Kants, also auch nach der KrV, war nicht Ziel der vorliegenden Arbeit, deren Schwerpunkt in der kantischen Philosophie vor und in der KrV lag. Diese zeitlichen Begrenzungen beeinträchtigen das Hauptanliegen indes nicht: Sogar nach der KrV bewahrt die juridische Metaphorik, wenn auch mit Änderungen, ihre methodologische Bedeutung und wirkt so weiter als eine der historisch-genetischen Grundlagen. Nicht nur die Deduktion und die Antinomie bleiben zwei Grundbegriffe im systematischen Aufbau der kritischen Philosophie. Vielmehr hält Kant sich auch in der KU, um nur ein Beispiel zu nennen, an die Idee einer Gesetzgebung des Verstandes bei der spekulativen Philosophie und einer Gesetzgebung der Vernunft bei der praktischen Philosophie (KU AA 05: 174–175).1119 Allerdings bringt die Fortsetzung der juridischen Metaphorik nicht die strikte Kontinuität der von ihr ausgezeichneten systematischen Elemente mit sich. Beispielsweise lässt Kant in der KU eine Gesetzgebung der Vernunft nur in der praktischen, nicht in der spekulativen Philosophie zu. Außerdem wird in der KU behauptet, die Rolle der KrV im System der kritischen Philosophie sei es gewesen, nicht die Gesetzgebung der Vernunft oder des Verstandes darzustellen, sondern vielmehr zu zeigen, wie die Gesetzgebung des Verstandes und die Gesetzgebung der Vernunft auf dem „Boden der Erfahrung“ zusammenzustimmen: Verstand und Vernunft haben also zwei verschiedene Gesetzgebungen auf einem und demselben Boden der Erfahrung, ohne daß eine der anderen Eintrag thun darf. Denn so wenig der Naturbegriff auf die Gesetz-

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weiter, dass die „Berichtigung“ der Bedeutung der KrV innerhalb der kritischen Philosophie Anlass zur Möglichkeit einer „vierten“ Kritik gebe. Diese vierte Kritik wäre dann die echte „Kritik der reinen Vernunft“ und würde als eine „Kritik der reinen Erkenntnisvermögen überhaupt“, nämlich des Verstandes (Erkenntnisvermögen), der Vernunft (Begehrungsvermögen) und Urteilskraft (Gefühl der Lust und Unlust), fungieren. Die echte „Kritik der reinen Vernunft“ hätte so die Aufgabe, die wahre Einheit der Vernunft durch einen Versuch zu stiften, der von einer im Übersinnlichen teleologisch vereinheitlichten Vernunft unternommen wird, die Dichotomien der Transzendentalphilosophie (Sinnlichkeit und Verstand; Natur und Freiheit usw.) aufzuheben (ebd., S. 514f.). Die vierte Kritik hätte also die teleologische Natur der menschlichen Vernunft zum Gegenstand, wobei sie die von der KU offengelassenen Lücken ausfüllen würde. „Die neue Kritik wird als synthetische Einheit von den drei Kritiken vorausgesetzt. Dazu noch folgende ergänzende Überlegung. Die KrV spricht von einer ‚teleologia rationis humanae‘ (A 839); das Thema wird in der KpV aufgegriffen unter dem Titel ‚Von der der praktischen Bestimmung des Menschen weislich angemessenen Proportion seiner Erkenntnisvermögen‘ (KpV AA 05: 146), und die KU bestimmt die Anlage des menschlichen Gemüts als eines Teils der Natur (KU AA 05: 409) als zweckmäßig für unsere moralische Bestimmung. Hiermit tritt neben die theoretisch-formale Notwendigkeit der drei Vermögen eine finale Notwendigkeit. Zu den Aufgaben einer auszuführenden Vierten Kritik dürfte die Reflektion über das Verhältnis von theoretischer und praktischer, formaler und finaler Bestimmung in der vollständigen ‚ratio humana‘ gehören“ (ebd., S. 519). Im Kontext der vorliegenden Arbeit liegt das größte Problem der Interpretation Brandts an seinem Verzicht auf die juridische Verfassung der Vernunft zur Erklärung der kritischen Philosophie als Gesetzgebung der Vernunft und als Wissenschaft der teleologia rationis humanae. „Die Gesetzgebung durch Naturbegriffe geschieht durch den Verstand und ist theoretisch. Die Gesetzgebung durch den Freiheitsbegriff geschieht von der Vernunft und ist bloß praktisch“ (KU AA 05: 174).

gebung durch den Freiheitsbegriff Einfluß hat, eben so wenig stört dieser die Gesetzgebung der Natur. – Die Möglichkeit, das Zusammenbestehen beider Gesetzgebungen und der dazu gehörigen Vermögen in demselben Subject sich wenigstens ohne Widerspruch zu denken, bewies die Kritik der reinen Vernunft, indem sie die Einwürfe dawider durch Aufdeckung des dialektischen Scheins in denselben vernichtete (KU AA 05: 175).

Trotz der späteren Änderungen und Entwicklungen erweist sich die kritische Philosophie letztendlich als eine Verteidigung der Philosophie als „Weisheit“, das heißt als die Wissenschaft der wahren Zwecke des Menschen und der Vernunft, die in der Idee einer positiven Gesetzgebung der Vernunft und in der Idee des Philosophen als Gesetzgeber der Vernunft (A 839/B 867) enthalten sind. Das „Verhältnis der Gleichheit“, das im kritischen Ansatz von Einschränkung und Erweiterung – Begrenzung der spekulativen Ansprüche der Vernunft zugunsten einer praktischen Erweiterung derselben – beinhaltet ist, steht in Einklang mit der mehrmals von Kant zum Ausdruck gebrachten sokratischen Belehrung1120 über die notwendige Anerkennung unserer „spekulativen“ Ungewissheit, damit die Vernunft endlich den Weg zu ihrem eigentümlichen Gebiet, nämlich zur Moral, finden kann. Kant bringt einen solchen sokratischen Ansatz mit Hume und Rousseau in Zusammenhang: mit Hume, weil er einen gemäßigten Skeptizismus vorschlägt, der unsere tief verwurzelten spekulativen Überzeugungen in Zweifel zieht und dadurch die praktische Lebensführung fördert; mit Rousseau, weil er zeigt, wie der autonomen und mündigen Erweiterung des Wissens und des politischen und religiösen Bewusstseins eine Disziplin der Zurückhaltung zur Verhütung von Fehlern vorhergehen muss. Vielleicht mehr als alle anderen Autoren, die in der vorliegenden Arbeit diskutiert wurden, sind Hume, Rousseau und die historische Figur des Sokrates entscheidend für das Verständnis dieses Grundziels der KrV. Es lässt sich nicht leugnen, dass Kant diese begriffliche Konstellation anhand juridischer Metaphern verdeutlicht. Die Gesetzgebung und der Gerichtshof der Vernunft verleihen all diesen kantischen Konzeptionen ihre juridische Prägung und verschaffen ihnen einen in diesem Bild zum Ausdruck kommenden Zusammenhang. Es ist kein Zufall, dass Kant seine Zwecke, den moralischen Gebrauch der Vernunft zu ermöglichen, die Bestimmung des Menschen zu erklären und die Philosophie als Wissenschaft der teleologia rationis humanae zu definieren, nicht mithilfe einer theoretischen Wissenschaft wie der Mathematik, der Naturwissenschaft oder der Logik, sondern vielmehr mithilfe einer praktischen Wissenschaft erläutert, nämlich mit der Rechtswissenschaft.

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So z. B. „Critick der Wissenschaft und Organon der Weisheit (g welche mehr aufs entbehren als erwerben ankommt. Socrates)“ (Rx 4457 AA 17: 558 (1772)). Über Sokrates siehe oben Kapitel 6.

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