Beobachtung des Wissens - Das Wissen des Beobachters: Annäherung an eine systemische Hermeneutik 9783763964291, 3763964290

Der Band versammelt Beiträge, die aus der Perspektive verschiedener Wissenschaften die Beziehungen von System, Beobachte

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Beobachtung des Wissens - Das Wissen des Beobachters: Annäherung an eine systemische Hermeneutik
 9783763964291, 3763964290

Table of contents :
Frontmatter
Cover
Impressum
Inhalt
Einleitung
Vom Verstehen zur Veränderung Grundlinien einer Systemischen Hermeneutik
The metaphysical bend of hermeneutics
Zur Hermeneutik der Leiblichkeit. Zum Verständnis des Leibes in Zeiten der Transformation des menschlichen Körpers
Der menschliche Beobachter in der Wissensgesellschaft
Wissen - System und Subjekt
Beobachter in der Kosmologie
Ethical Reflections Robots, living systems and human beings
Ein System in statu nascendi. Auf dem Weg zum pädagogisch organisierten System des lebenslangen Lernens?
Backmatter
Autorinnen und Autoren
Backcover

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Rolf Arnold und Wolfgang Neuser (Hrsg.)

Beobachtung des Wissens Das Wissen des Beobachters: Annäherung an eine system ische Hermeneutik

systhemia - Systemische Pädagogik Herausgegeben von Ralf Arnold

Band 15

Beobachtung des Wissens Das Wissen des Beobachters: Annäherung an eine systemische Hermeneutik

Herausgegeben von Ralf Ar nold und Wolfgang Neuser

Schneider Verlag Hohengehren GmbH

Umschlag:

Gabriele Majer, Aichwald

Leider ist es uns nicht gelungen, die Rechteinhaber aller Texte und Abbildun­ gen zu ermitteln bzw. mit ihnen in Kontakt zu kommen. Berechtigte Ansprüche werden selbstverständlich im Rahmen der üblichen Vereinbarungen abgegolten.

Nähere Informationen unter: www.isct.net www.systhemia.com Gedruckt auf umweltfreundlichem Papier (chlor- und säurefrei hergestellt).

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über .http://dnb.d-nb.de. abrufbar.

ISBN: 978-3-8340-1 688-1 Schneider Verlag Hohengehren, Wilhelmstr. 13, D-73666 Baltmannsweiler Homepage: www.paedagogik.de

Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schrift­ lichen Einwilligung des Verlages. Hinweis zu § 52a UrhG: Weder das Werk noch seine Teile dürfen ohne vorherige schriftliche Einwilligung des Verlages öffentlich zugänglich gemacht werden. Dies gilt auch bei einer entsprechen­ den Nutzung fü r Unterrichtszwecke !

© Schneider Verlag Hohengehren, 73666 Baltmannsweiler 2017 Printed in Germany - Druck: WolfMediaPress, D-71404 Korb

Inhalt RolfArnold und Wolfgang Neuser Einleitung

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RolfArnold ........................

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Vom Verstehen zur Veränderung Grundlinien einer Systemischen Hermeneutik Jean Grondin The metaphysical bend of hermeneutics

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Klaus Wiegerling Zur Hermeneutik der Leiblichkeit Zum Verständnis des Leibes in Zeiten der Transformation des menschlichen Körpers

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Wolfgang Neuser ............................................................

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Der menschliche Beobachter in der Wissensgesellschaft Hans-Georg Flickinger Wissen - System und Subjekt Martin Bojowald Beobachter in der Kosmologie

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Humberto Maturana Rosemin, Ximena Davila Yaiies und Siman Ramirez Muiioz Ethical Reflections Robots, living systems and human beings

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Dieter Nittel Ein System in statu nascendi. Auf dem Weg zum pädagogisch organisierten System ......................................................................................................

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des lebenslangen Lernens? Autorinnen und Autoren

ROLF ARNOLD UND WOLFGANG NEUSER

Einleitung

Der Band versammelt Beiträge, die aus der Perspektive verschiedener Wissen­ schaften die Beziehungen von System, Beobachter und Hermeneutik diskutieren. Im Sinne der modernen Systemtheorien wird man in einer ersten Annäherung an die begriffliche Vorstellung unter einem System die Existenzbedingungen einer umfassenden Struktur verstehen, die aus ihren Elementen und deren Beziehun­ gen so konstituiert wird, dass sowohl die einzelnen Elemente als auch deren Zu­ sammenschluss wechselseitig jederzeit in ihrer Existenz und in dem Sos ein ihrer Existenz voneinander abhängen. System und seine Komponenten konstituieren sich durch einen prozessualen Verlauf selbst. Dabei spielt eine besondere Rolle, wie in dem jeweiligen System die Beziehung des Systems zu seiner Umwelt ge­ dacht wird. Diese dynamische Beziehung macht etwa den Unterschied zwischen dem systemischen Ansatz von Maturana oder Luhmann. Welche Rolle spielt nun in biologischen, physikalischen oder sozialen Systemen der Mensch? Ist er bloß ein von außen auf das System und seine Umwelt schau­ ender, ansonsten unbeteiligter Beobachter? Oder konstituieren das System und seine Elemente überhaupt erst das, was den Beobachter ausmacht? Diesen Fra­ gen gehen die Autoren dieses Bandes nach - jeweils aus ihrer spezifischen Auf­ fassung dessen, was ein System ist. In allen Fällen bedarf der Beobachter eines methodischen Rüstzeugs, das ihm er­ laubt, seinen Ort im System zu verstehen. Implizit oder explizit sind dies die Me­ thoden und das Verständnis der Hermeneutik. Dabei ist Hermeneutik nicht bloß eine äußerliche Technik der Interpretation, sondern (im Sinne von Gadamer, Ricoeur oder Derrida) ein Konstitutionsverfahren in dem Prozess, das eigene Sein des Menschen zu verstehen. Es ist nicht trivial zu verstehen, was das Sein des Menschen ausmacht. Gadamer versteht unter Hermeneutik etwa die Seinsbe­ gründung des Menschen in der Absicht, das Falsche zu vermeiden. Derrida hinge­ gen sieht in der Hermeneutik ein Verfahren positiver Seins begründung, das Spu­ ren des Seins in der sprachlichen Fassung der Existenz des Menschen aufleuchten lässt. Für Ricoeur wird der Sinn des Menschen sekundär in seinen kulturellen Werten dokumentiert und sichtbar. Wie wir unser Selbstverständnis formulieren, lässt nur sekundär aufscheinen, was wir sind. Zwischen diesen Interpretationen von Hermeneutik gibt es zahlreiche Varianten - auch solche, die die metaphysi-

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ROlFÄRNOLD UND WOLFGANG NEUSER

sehe Wendung von Hermeneutik ablehnen. Die Hermeneutik als Verstehenskon­ zept eines Systems ist nicht zwingend vorgegeben. Die Autoren des vorliegenden Bandes sind auf jeweils unterschiedliche Weise da­ rum bemüht, den verstehenden Beobachter in seinem System zu beschreiben und ihn ihrerseits zu verstehen. Rolf Arnold spürt in seinem Beitrag den Grundlinien einer systemischen Herme­ neutik nach. Ausgehend von Max Weber. Wilhelm Ditthey und Niklas Luhmann diskutiert Arnold die methodologischen Möglichkeiten sowie die praktische Kon­ sequenz des "Hineinversetzens", "Nachbildens" und "Nacherlebens" (im Sinne von Ditthey) im Kontext eines selbsteinschließenden Skeptizismus. Für die systemi­ sehe Hermeneutik ist nach Arnold ein Authentizitätsanliegen leitend, welches sich der Rekonstruktion wirksamer Bedeutungszuschreibungen verpflichtet weiß, aber auch Grundlagen für eine systemische Technologie der Selbstreflexion und Selbsttransformation zu markieren vermag. Martin Bojowald untersucht in seinem Beitrag den Aufstieg des Beobachters in den Bereichen des Makro- und Mikroskopischen. Für ihn ist der Beobachter keine objektive Instanz, wohl aber eine Art Gralshüter der Konsistenz, der Interpretati­ onen und Deutungen von Beobachtungen, ganz gleich, ob diese der Kosmologie der Quantenmechanik oder Theorie zuzuordnen sind. Bojowald beleuchtet die Grenzen und Beschreibungen der kosmologischen Beobachtung, die es mit Phä­ nomenen zu tun hat, die theoretisch noch nicht angemessen erklärt werden kön­ nen. Es können auch keine Experimente oder Messwiederholungen stattfinden, wie dies in der quantenmechanischen Beobachtung möglich ist. Menschen lassen sich nicht - so Bojowalds Quintessenz - von ihren Messverfahren trennen und ihre eigene Beobachterposition ist stets Teil ihrer Theorien - auch in den ver­ meintlich exakten Wissenschaften können sich "Beobachter nirgendwo niederlas­ sen".

geht zunächst der philosophischen Kernfrage nach, wie es dem Denken gelingen kann, über sich selbst nachzudenken, ohne in eine zirku­ läre Argumentationsschleife zu geraten. Diese Frage führt ihn zu einer substanzi­ ellen Bestimmung von Wissen. Ausgehend von der Neuser'schen Rekonstruktion des Wissens begriffs verabschiedet auch Flickinger das Subjekt als wissensbe­ gründende Instanz, da die technolgiegestützte Erzeugung des Wissens autopoe­ tisch erfolgt. Im Vordergrund stehen die Menschen im Schnittbereich von Wis­ sensgenerierung und Wissensnutzung: "Die Individuen sind in ein komplexes Sys­ tem des Wissens eingebunden, an dem sie nur teilhaben." Auch Biografien etc. verdanken sich in diesem Sinne nicht allein der eigenen Deutung, wobei Flickin­ ger durchaus skeptisch mit der These umgeht. das Subjekt als Zentrum der Wis­ senskonstruktion aufzulösen. Hans-Georg Flickinger

EINLEITUNG

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untersucht das (Selbst-)Verständnis der Hermeneutik. Im Kontext postmoderner Philosophie entwickelt sich auch ein Verständnis von Hermeneu­ tik, das antimetaphysisch ist: Hermeneutik wird gleichsam als eine besondere Form der Interpretation verstanden. Dem setzt Grondin, einer der bedeutendsten Schüler Gadamers, entgegen, dass insbesondere bei Hans-Georg Gadamer und Paul Ricoeur Hermeneutik immer metaphysisch gedacht wird, als Verstehens­ konzept der eigenen Existenz des Menschen. Grondin beendet seine Überlegung­ en mit: "What Gadamer thus renders thinkable, or thinkable aga in, is the idea that there is sense to the world itself. It is this sense of the world that we strive to grasp and to guess in our modest and hesitating attempts at understanding. The world is intelligible and it is this intelligibility of the world that our understand­ ing seeks to reach. The only thing that is incomprehensible, said Einstein, is that the world is comprehensible. Meaning, sense, purpose and finality are already there in the world, and one just has to raise one's gaze to discover and admire its beauty." Damit gibt er einer Metaphysik im Sinne von Gadamer, Ricoeur und an­ deren einen Ort, der Metaphysik anschluss fähig macht für Reflexionen über eine metaphysische Betrachtung der modernen Welt. lean Grondin

In ihren ethischen Reflexionen befassen sich Humberto Maturana u.a. mit sechs Fragestellungen: Was für eine Art von Systemen sind Roboter? Um was für eine Art von Systemen handelt es sich bei lebendigen Systemen? Wie operiert das Nervensystem? Wie handeln wir als Wesen, die ihrer selbst bewusst sind? Was ist künstliche Intelligenz? Und was möchten wir mit Robotern (gemeinsam) tun? Maturana u.a. sehen in unserer Offenheit im Blick auf unsere zukünftigen Mög­ lichkeiten sowie unser Selbstbewusstsein wichtige Alleinstellungsmerkmale des Menschlichen. Angesichts der Fülle der Lebensformen und -umstände halten sie es für kaum denkbar, selbstbewusste Roboter als kontextkohärente Wesen zu schaffen. Zu solcher Skepsis muss gelangen, wer die komplexen Interdependen­ zen des Aufwachsens wahrnimmt, in denen der Mensch erst die Fähigkeiten er­ wirbt, als liebender Mensch zu leben. Der Mensch ist das Produkt seiner Einge­ bundenheit in die menschliche - biologisch-kulturelle - Praxis, während Roboter - auch in ihrer Selbstreflexions- und Selbstproduktionslogik - nur zu dem in der Lage sind, wofür sie designt wurden. Menschen hingegen folgen und verändern ihre Struktur durch Reflexion und Lernen; sie sind auch in der Lage, die Welt zu verändern, der sie ihre Anfangsausstattung verdanken. Sie sind nicht designt, sondern "historische Wesen", wie Maturana u.a. sagen. Und sie verfügen über menschliche Intelligenz, die Maturana u.a. als "the behavioral plasticity in a chan­ ging word" definieren. Roboter hingegen verfügen über eine solche Intelligenz nicht; sie sind "designed to imitate us". verweist darauf, dass in der modernen Wissens gesellschaft die Funktion der logischen Letztbegründung und Validierung von Verstehen und

Wolfgang Neuser

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ROlFÄRNOLD UND WOLFGANG NEUSER

Wissen nicht mehr einzelnen Subjekten zugeschrieben werden kann - und schon gar nicht einem menschlichen Individuum. Vielmehr sind es die äußeren Gege­ benheiten in einer Kultur und insbesondere die informatischen Techniken, die ein Allgemeinwissen konstituieren und validieren. An diesem Allgemeinwissen hat das Individuum zwar einen partizipativen, aber allenfalls sehr beschränkten oder auch gar keinen konstitutiven Anteil. Die informatischen Techniken bilden in der Wissensgesellschaft eine intelligente Umwelt, die konstitutiv für das partizipie­ rende Individuum ist. Als Beobachter ist das Individuum Teilnehmer des Systems, aber nicht ein Beobachter (etwa im Sinne von Maturana), von dem und durch den das System gegründet würde. Die intelligente Umwelt unterscheidet sich dabei vollständig von der natürlichen Umwelt, wie sie Jakob Johann von Uexküll als na­ türlichen Lebensraum beschrieben hat. Die intelligente Umwelt ist einerseits Le­ bens- und Existenzbedingung für die Menschen; aber andererseits entwickelt sich diese Welt in rationaler Autonomie und Selbstbezüglichkeit durch einen systemi­ schen Prozess der selbstkonstitutiven Selbstorganisation. Die intelligente Umwelt stellt das aktive, sich ständig mit unglaublicher Geschwindigkeit ergänzende und korrigierende Wissen bereit. Der Beobachter ist in diesem System kein Subjekt, sondern partizipiert in seiner Interaktion mit der intelligenten Umwelt am All­ gemeinwissen. Allenfalls konfiguriert der Beobachter sein persönliches, privates Wissen. Eine Begründung einer Ethik kann unter diesen Bedingungen nicht aus einem Subjekt hergeleitet werden, sondern bedarf anderer Legitimitätsstrategien, als sie in der subjekttheoretischen Metaphysik der Neuzeit entwickelt wurden. Dieter Nittel spürt in seiner gründlichen Analyse der Frage nach, welche "neue Stufe der Evolution des Pädagogischen" sich im Kontext des Lebenslangen Ler­ nens herausbildet und wie sich die Funktionen und Besonderheiten dieser Stufe begrifflich angemessen erfassen und beschreiben lassen. Dies ist eine hermeneu­ tische Leistung der besonderen Art: Nittel setzt rekonstruierend, nicht nur sys­ temtheoretisch zuordnend an - auch, um dem Vorwurf zu entgehen, gegenüber den systemischen Dimensionen des Sozialen blind zu sein. Sein Ansatzpunkt ist die Universalisierung und Entgrenzung des Pädagogischen in der Postmoderne, die auch mit einer Verschiebung der Bildungs- und Erziehungsansprüche einher­ geht: Auch Erwachsene sehen sich zunehmend grundlegenden Eingriffen in ihre Denk- und Handlungsformen ausgesetzt, während Kinder und Jugendliche zu­ nehmend zur Selbstbildung angeleitet werden. Nittel zeichnet penibel die Funkti­ onen und Funktionsverschiebungen im Bildungssystem nach, bricht diese an den biografischen Suchbewegungen der Erwachsenen, lotet die Grenzen des pädago­ gisch organisierten Systems des Lebenslangen Lernens aus und betrachtet dessen "offene Flanken" und Inklusionswirkungen. Die Ergebnisse seiner Untersuchung sind anregend und vielfältig. Nittel bündelt diese zu abschließenden Thesen - mit

EINLEITUNG

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überraschend provokativen Anregungen (z.8. zur offensiven Wahrnehmung der Selektions funktion). geht der Frage nach, wie sich unsere Leiberfahrung unter den Bedingungen informatischer Techniken und der Implantation von Steuersyste­ men in den menschlichen Körper zu therapeutischen Zwecken (Prothesen und Servonen) oder zur Ergänzung und Verbesserung der menschlichen Fähigkeiten (Gedächtnis) verändert. Steht der Mensch diesen Implantaten als ein technischer Außenbeobachter entgegen, oder interpretiert er die technischen Geräte als Teil seiner selbst - als sich selbst. Die in den Organismus implantierten Techniken entwickeln sich zu Teilen biologischer Systeme, mit der Folge, dass in der Wis­ sensgesellschaft die biologische Evolution auch des Menschen durch die techni­ sche Evolution der Implantate beziehungsweise der von außen steuernden in­ formatischen Systemen zunehmend geprägt und sogar dominiert wird. Die Histo­ rizität, die für die Leiberfahrung des Menschen wesentlich ist, ist freilich bei tech­ nischen Geräten eine andere als bei biologischen Systemen. Wiegerling stellt her­ aus, dass die Technik ihre Geschichte nicht mehr an ihren Erscheinungsformen zeigt und kein Gedächtnis für ihre eigenen Veränderungen im Verlauf der Zeit kennt. Der Mensch wird zu einem Teil dieser neuen Form von Evolution und be­ zieht seine Leiberfahrung aus diesem technisch-biologischen Konstrukt. Die Hermeneutik der Leiberfahrung ergibt sich dann als Verfahren zur Grenzbestim­ mung des Menschen, u. a. seiner wissenschaftlichen Welterfahrung, seiner eige­ nen Historizität u. a. Klaus Wiegerling

ROLF ARNOLD

Vom Verstehen zur Veränderung Grundlinien einer Systemischen Hermeneutik

"Was man versuchen muss zu begreifen, ist die Gesamtfunktionsweise des Menschen." (Valety 2016, S. 11)

Zusammenfassung

Das Verstehen markiert nicht bloß eine zentrale Dimension gelingender Kommu­ nikation, es eröffnet auch eine Methodologie zur Erhellung der motivationalen und perspektivenabhängigen Begründungen sozialen HandeIns. Damit ist Verste­ hen eine Annäherungsform an die subjektiven und kollektiven Muster geteilter Bedeutungen, die unterschiedlich und vielfach spezifisch sind. In der Geschichte der Sozialforschung stellen sowohl die Verstehende Soziologie Max Webers (1864-1920), als auch der hermeneutische Dreischritt von Wilhelm Dilthey (1833-1911) erste Annäherungen an die Besonderheiten des "sinnhaft motivier­ ten HandeIns" (Weber 1968, S. 1 ff. u. 5 ff.) dar. Während Max Weber die Evidenz sozialen HandeIns durch einen Nachvollzug der Bedeutungsverleihung durch die Handelnden selbst "restlos und durchsichtig intellektuell" oder durch ein Nacher­ leben des "Gefühlszusammenhangs" zu verstehen trachtet (Weber 1976, S. 8), geht es der Lebensphilosophie Wilhelm Diltheys um die Rekonstruktion des Zu­ sammenhangs zwischen Erleben, Ausdruck und Verstehen. Für ihn zeichnen sich die Geisteswissenschaften durch das methodisch kontrollierte Bemühen aus zu verstehen, was geschieht, wenn , ( . ) menschliche Zustände erlebt werden, sofern sie in Lebensäußerungen zum Ausdruck gelangen und sofern Ausdrücke verstanden werden" (Dilthey 1968, S. 98).

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Dieses Verstehen vollzieht sich bei Dilthey im Wesentlichen durch "Hineinverset­ zen", "Nachbilden" und "Nacherleben" (ebd., S. 235), was dadurch möglich ist, dass die "Grundlagen der allgemeinen Menschennatur" (ebd.) es erlauben, von sich - dem eigenen Verstehen - auf das Deuten und Handeln anderer zu schlie­ ßen. Konkret heißt dies, dass Menschen strukturell ähnlich agieren: Sie deuten z. B. neuartige Situationen auf der Basis ihrer bisherigen Erfahrungen und Routi­ nen und handeln so in gewisser Hinsicht "strukturdeterminiert", wie die Kon­ struktivisten diesen erfahrungsabhängigen Umgang mit der Welt nennen. Für

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ROLFÄRNOLD

Humberto Maturana erfahren "strukturdeterminierte Systeme ausschließlich Veränderungen, die durch ihre Organisati­ on und Struktur determiniert sind" (Maturana et al. 1990, S. 17) -

ein Hinweis auf die Kontinuität des Bewusstseins und die Persistenz einmal ge­ wonnener Weltsichten, der insbesondere die Pädagogik grundlegend herausfor­ dert. Diese "lebt" nämlich von dem Glauben an die Kraft der Selbstreflexion und die aufklärende Wirkung des besseren Arguments - eine Zuversicht, die nicht aufgegeben, aber überzeugender begründet werden muss. Dies fällt nicht leicht, zumal Niklas Luhmann (1927-1998), der große Adept der biologischen Erkennt­ nistheorie Humberto Maturanas, uns mit der These konfrontiert, dass die Vorstel­ lung des Verstehens deren Unmöglichkeit voraussetzt. Verstehen steht demzufol­ ge für eine Bemühung, nicht jedoch für ein Gelingen. Verstehen markiert eine "Quasi-Unmöglichkeit" (Luhmann 1982, S. 213). In seinem Opus magnum wird Luhmann noch deutlicher, wenn er schreibt: "Sie (die Kommunikation; R. A.) schließt überdies mit den Bedingungen ihres eigenen Funktionierens aus, dass die Bewusstseinssysteme den jeweils aktuellen Innenzustand des oder der anderen kennen können, und zwar bei mündlicher Kommunikation, weil die Be­ teiligten mitteilend/verstehend gleichzeitig mitwirken, und bei schriftlicher Kommunika­ tion, weil sie abwesend mitwirken" (Luhmann 1997a, S. 81 f.).

Diese Hinweise auf die Unmöglichkeit des Verstehens wirken ernüchternd. Auch ein rekonstruierender Beobachter bleibt letztlich seiner eigenen strukturellen Koppelung ausgeliefert und kann ihr letztlich kaum entkommen. Er kann jedoch deren Funktionsmechanismen nüchtern betrachten und begreifen und sich des­ halb dem Gegenüber immer und immer wieder zuwenden, indem er sich mehrfach durch die sich ihm bietenden Lesarten durcharbeitet, diese selbstreflexiv im Sinne einer Beobachtung zweiter Ordnung hinterfragt (Fra­ ge: "Was ruft mir diese Lesart über mich in Erinnerung?") (vgl. Luhmann 1997b, S. 766), beim Gegenüber zurückfragt und sich um eine kommunikative Validierung bemüht oder absichtsvoll gegensätzliche Deutungen erprobt, um dem eigenen blinden Fleck nicht nur "auf die Spur zu kommen", sondern

, ( . ) die eigene und die fremde Blindheit und auch das Fundamentalphänomen der Blind­ heit für die eigene und die fremde Blindheit mit dem Ziel neuer Offenheit systematisch zu studieren" (Pörksen 2015, S. 265). ,

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Diese Ansatzpunkte charakterisieren m. E. die Besonderheiten einer systemi­ schen Hermeneutik, die als Erkenntnisprogramm konstruktivistischen Beobach­ tungstheorien zugrunde liegt. Wissenschaftstheoretisch sowie methodologisch sind diese noch wenig präzisiert, obgleich sich zahlreiche Bewegungen und Vor­ arbeiten in diese Richtung feststellen lassen. Es ist das Ziel des vorliegenden Bei-

VOM VERSTEHEN ZUR VERÄNDERUNG. GRUNDLINIEN EINER SYSTEMISCHEN HERMENEUTIK

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trags, die Besonderheiten dieser Annäherungen an eine systemische Hermeneu­ tik im Sinne des erwähnten Dreischritts von W. Dilthey - "Hineinversetzen", "Nachbilden" und "Nacherleben" (Dilthey 1968, S. 235) - nachzuzeichnen und hinsichtlich ihrer lmplikationen für Erkennen (Theorie) und Handeln (Praxis) auszuloten.

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Hineinversetzen

Bei der Systemischen Hermeneutik handelt es sich um eine professionelle Ver­ stehensstrategie, der die eingangs skizzierten Dimensionen bewusst sind. Diese Verstehensstrategie ist für das Erkennen und die Gestaltung systemischer Wir­ kungszusammenhänge gleichermaßen bedeutsam; sie führt nicht nur zu einer gewandelten Gegenstandsorientierung, sondern auch zu gewandelten Professio­ nalitätsmustern. Für beide ist die Ambition des Hineinversetzens leitend. Doch wie versetzt man sich in einen Wirkungszusammenhang hinein, wenn wir dessen As­ pekte nur zu unseren eigenen Bedingungen (z. B. Deutungsmustern, Wahrneh­ mungsroutinen) zu konstruieren vermögen? Eine erste Konsequenz ist die der doppelten Beobachtungsperspektive: a) Einerseits nutzen wir zur Erkenntnis und Beobachtung eines Zusammenhangs das, was wir im Umgang mit strukturähnlichen Zusammenhängen erlebt und gelernt haben. So kann ein deutscher Bildungsforscher letztlich nicht wirklich von seiner eigenen Bildungsgeschichte abstrahieren, und es ist ihm auch so gut wie unmög­ lich, sich von überlieferten Bildungsvorstellungen, Leithypothesen oder liebge­ wonnenen Vorstellungen zu distanzieren, um neu und weniger kulturzentrisch und erfahrungsdeterminiert über die möglichen Muster des begleiteten Nach­ wachsens in einer Gesellschaft nachzudenken. Im Extremfall führt diese kultur­ zentrische Trübung des Blickes auch zu einer nahezu völligen Erblindung - mit dem Ergebnis, nicht mehr zu sehen, was man nicht kennt. Die europäische Debatte über die Kompetenzorientierung liefert ebenso zahlreiche Belege für diese Blind­ heit des Beobachtens, wie die internationalen Bemühungen um eine nachhaltige Entwicklungszusammenarbeit. Was im ersten Fall die Bildungsmetaphysik, ist im zweiten Fall ein Entwicklungsbegriff, der durch europäische Fortschritts- und Mo­ dernisierungsbilder kontaminiert ist. Es ist das Sokratische Ich weiß, dass ich nicht weiß, sondern eigentlich bloß wiedererkenne, rekonstelliere und dadurch für Wie­ derholung. nicht für Angepasstheit und tiefes Verstehen sorge. b) Andererseits ist eine Systemische Hermeneutik dadurch gekennzeichnet, dass sie das Missverstehen dadurch zu vermeiden sucht, dass sie sich prinzipiell lesartkri­ tisch bewegt - selbst dann, wenn die herrschende oder naheliegende Lesart plau­ sibel zu sein scheint. Sie sucht nach anderen - alternativen - Lesarten, prüft diese wertschätzend und nutzt sie kreativ-pragmatisch für ihre Interpretation und Deu­ tungsarbeit. Die zweite Beobachtungsperspektive einer Systemischen Hermeneu­ tik ist deshalb die der Unterschiedsorientierung. Diese ist getragen von einer prin­ zipiellen - möglichst sogar vorauseilenden - Wertschätzung des Anderen, Unter­ schiedlichen oder gar Unsichtbaren - nicht nur in seiner Möglichkeit, sondern auch in seiner eigenen Vernünftigkeit. Es ist diese Kontingenzunterstellung eines "Es

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ROLFÄRNOLD

könnte auch ganz anders sein" (vgl. Sagebiel & Vanhoefer 2006), welches die her­ meneutische Verstehensbewegung leitet, die deshalb auch nicht nur als Zirkel (Stichwort "hermeneutischer Zirkel"), sondern vielmehr als Schleife einer "selbst­ einschließenden Reflexion" (Varela et al. 1992, S. 52) zu gestalten ist - die nicht bloß das Ausgangsverständnis des Gegenstandes zyklisch differenziert und erwei­ tert, sondern auch die bevorzugte Form des Konzeptionalisierens durch den Be­ obachter erkenntniskritisch hinterfragt und zu erweiterten Formen des Umgangs mit der Wirklichkeit befahigt.

Francisco J. Varela et a1. schreiben zur "Zirkularität im Geist des Wissenschaft­ lers": "Der menschliche Geist erwacht in einer Welt. Wir haben unsere Welt nicht entvvorfen, sondern fanden uns damit vor; wir erwachten nicht nur zu uns selbst, sondern auch zu der Welt, in der wir leben. Wachsend und lebend, reflektieren wir schließlich über eine Welt, die nicht geschaffen, sondern vorgefunden ist, und doch befähigt uns auch unsere Struk­ tur, über diese Welt nachzudenken. In der Reflexion finden wir uns also in einem Zirkel: Wir leben in einer Welt, die der Reflexion vorauszugehen scheint, aber nicht von uns ge­ trennt ist" (Varela et al. 1992, S. 19).

Diese eingebettete Lage des reflektierenden Bewusstseins kann zwar nicht über­ wunden, wohl aber in Rechnung gestellt werden. Wo diese Bemühung bei den eigenen Erkenntnisbewegungen mitschwingt, begegnen wir einem selbstein­ schließenden Skeptizismus, welcher von der Gewissheit durchdrungen ist, dass Gewissheit nicht zu haben ist, sondern allenfalls Kohärenz. Diese unterstellt der Stimmigkeit eines Aussagesystems einen größeren Wahrheitsgehalt (vgl. Seifert 2009, S. 166 ff.) als dem Musterbruch (vgl. Wüthrich et al. 2009), welcher aber anregend und weiterführend sein kann, zumal so manche Muster sprachlichen oder verhaltensmäßigen Routinen entstammen und die Kohärenz zu einem Und­ so-weiter verkommen lassen. Dieser Musterbruch kann auch Irritation, Nachgrü­ beln und Schweigen bedeuten, wie dies Gregory Bateson anregte und vorlebte. Einem seiner Schüler sagte er nach einem gemeinsamen Unterricht: "Sie Affe! Ich hatte gerade so ein schönes saftiges Schweigen am Köcheln, und Sie müssen mit ihren dicken Latschen mitten hinein trampeln" (Nachmanovitch 1983, S. 252).

Es war Gregory Bateson, der fest davon überzeugt war, dass "unsere Sprache ge­ nerell den Trugschluss einer verfehlten Konkretheit (nährt)" (ebd., S. 255), und er wusste, dass wir uns dem Verstehen bloß im Zuge einer Kontextualisierung des­ sen, was wir wahrnehmen, nähern können. Er schreibt: "Die große Erleuchtung kommt, wenn du plötzlich erkennst, dass das ganze Zeug Beschreibung ist" (Bate­ son 1977, S. 146)

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ein Hinweis darauf, dass wir uns eigentlich nur in eine Gege­

benheit, einen Gegenstand oder einen anderen Menschen "hineinversetzen" kön­ nen, wenn es uns gelingt, unserer eigenen Trance der Beschreibung zu entschlüp­ fen, um die Phänomene aus ihrem Kontext heraus auf uns wirken zu lassen. Diese

VOM VERSTEHEN ZUR VERÄNDERUNG. GRUNDLINIEN EINER SYSTEMISCHEN HERMENEUTIK

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Verstehensbewegung gelingt nicht ohne Weiteres und auf Anhieb. Sie setzt eine reflektierte Beziehung zum Phänomen voraus - getragen von einer systemisch­ phänomenologischen Haltung, die von dem tiefen Bewusstsein durchdrungen ist, , ( . ) dass es grundsätzlich niemals der Inhalt der Phänomene selbst sein kann, der ange­ nehme oder unangenehme Wirkungen mit sich bringt, auch wenn uns das subjektiv in un­ serer üblichen bewussten Wahrnehmung so erscheint Der zentrale Wirkfaktor sind viel­ mehr immer die Position, aus der heraus ich die Phänomene wahrnehme (wozu auch mei­ ne Haltung dabei gehört), und die Nähe oder Distanz, die ich zu den beobachteten Phäno­ menen herstelle" (Schmidt 200S, S. 36).

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Das "Hineinversetzen" beginnt deshalb mit der Fähigkeit zur Selbstreflexion und zur schweigend-achtsamen Beobachtung. Diese Fähigkeit versucht die verbin­ denden Muster zu erfassen, ohne diese durch eigene linear-mechanistische oder kausale Interpretationsroutinen selbst zu erzeugen oder dadurch den spezifi­ schen Kontext mit seinen komplexen und interdependenten Wirkungszusam­ menhängen auszublenden. Dabei ist es u. a. entscheidend, ob der Sachverhalt, um den es geht, tatsächlich als defizitär empfunden wird und von wem und wie die Richtung der angestrebten Veränderung definiert werden kann. Geht man von den Planspiel-Ergebnissen von Dietrich Dörner aus (vgl. Dörner 1989), so zeigt sich, dass Lösungen nicht nur Probleme bewältigen, sondern neue schaffen - eine nahezu unvermeidbare Wirkungskette, die keineswegs automatisch zu Fort­ schritt oder Heilung führt und am Ende bisweilen die Frage aufwirft, ob der vor­ herige - labile oder fragile - Zustand zwar weniger zufriedenstellend, aber im­ merhin ausbalancierter gewesen sein mag. Was würde Hineinversetzen in Anbetracht des Failed State, der nach dem von vie­ len zu Recht ersehnten Sturzes des irakisehen Diktators entstanden ist? Welche Vorschläge kommen uns in den Sinn, wenn wir die von Dörner beschriebene Ver­ elendung marokkanischer Nomaden nach den wohlgemeinten Interventionen der Entwicklungshilfe beobachten? Oder: Wie berät man gekonnt und erfolgreich ei­ nen Menschen, dessen Biografie der subjektiven Logik zu folgen scheint, das ei­ gene Gelingen zu verhindern? Fragen über Fragen, welche uns deutlich die Gren­ zen dieses Bemühens vor Augen führen. Im Kern geht es um ein Denken, welches in der Lage ist, ein "unablässiges Durchstreichen" vorzunehmen, wie es der fran­ zösische Philosoph Valery (1993, S. 551) beschrieb. Sich in Anderes oder Andere hineinzuversetzen setzt eine epistemologische Selbstreflexion voraus, die einen in die Lage versetzt, die Festlegungen der eigenen Muster des Bezeichnens und Bewertens hinter sich zu lassen. Eine solche "selbsteinschließende Beobachtung" (Arnold 2014, S. 15) stellt sich folgende Fragen:

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Tab. 1:

ROLFÄRNOLD

Fragen einer selbsteinschließenden Reflexion des Beobachters

Selbsteinschließende Beobachtung

Erwartu ngserwartu ng

Was erwarte ich vom Gegenstand? Welche meiner Hypothesen sind Ausdruck

(sensu Luhmann)

gewohnheitsmäßiger Vermutungen? Inwieweit unterstellen meine Hypothesen

Nichtreaktivität

Gebe ich dem GegenLibersystem ausreichend Zeit, sich in dem, was es eigentlich

dem GegenLi bersystem bereits bestimmte Erwartungen?

meint, zu zeigen? Sind meine Interpretationen vorschnelle Reaktionen, mit de­ nen ich das Beobachtete einschränke und festlege? Transformation

Welche Veränderungen kann ich bereits erreichen, indem ich in anderer Weise fokussiere und interpretiere? Welchen Beitrag leistet meine Interpretation zur Veränderung dessen, was sich zeigt?

Zirkularität

Berücksichtigt meine Beobachtung in ausreichendem Maße zirkulare Wechsel­ wirkungen? Zoomt mein beobachtender Blick auf die Zusammenhange, deren Wechselwirkungen das Beobachtete ausdruckt?

Unterschiedserprobung

Gehe ich bewusst in den Unterschied, indem ich nach ganz anderen Lesarten und Erklärungen der Zusammenhange suche? Freunde ich mich mit dem Unterschied an?

Gewissheitsvermeidung

Kam pfe ich u m die Wahrheit oder trage ich Sorge u m die Vielfalt und Tragfähig­ keit der möglichen Bedeutungen? Gehe ich wertschatzend mit Kritikern um, indem ich anerkenne, dass auch sie Recht haben können?

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Nachbilden

Die Wissenschaft greift in der Regel zur Sprache, um Phänomene zu durchdrin­ gen, zu bezeichnen und zu konservieren, kurz: sprachlich nachzubilden. Herme­ neutik zielt dabei auf eine anschlussfähige Auslegung sprachlicher Äußerungen schriftlicher und mündlicher Art, wobei die Anschlussfähigkeit sich sowohl auf die Urheber als auch auf die deutende Gemeinschaft beziehen kann. Hermeneuti­ sches Verstehen setzt somit "an der essenziellen Sprachlichkeit aller menschli­ chen Welterfahrung" (Gadamer 1980, S. 57) an - eine Engführung für die vieles spricht, die aber die handlungsbegründende Kraft vorsprachlicher oder emotio­ naler Gewissheiten ausblendet. Wahr ist demzufolge eine hermeneutische Ausle­ gung dann, wenn sie entweder die diskursive Zustimmung derer erfährt, deren Äußerungen gedeutet werden (kommunikative Validierung), oder die Zustim­ mung derjenigen, die sich ebenfalls und unabhängig um eine angemessene Deu­ tung der Intentionen und Begründungen der Akteure sozialen Handelns nach al­ len Regeln der Kunst bemühen. Dies kann im Idealfall zu einer Vervielfältigung der Lesarten führen, die den Eindruck der Kontingenz von Handlungsbegründun­ gen dokumentieren (vgl. Arnold et al. 1998) oder gar Spuren objektiver Muster identifizieren, die sich zwar subjektiv artikulieren, aber gleichwohl - hinter dem Rücken der Akteure - vorgeordnete strukturelle Formen der gesellschaftlichen Wirklichkeitskonstruktion reproduzieren (vgl. Oevermann 1996).

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Die Systemische Hermeneutik ist weniger von einem Objektivitätsanspruch ge­ tragen als vielmehr von einem Authentizitätsanliegen. Dieses entspringt, wie auch der forschende Zugriff eines Beobachters, einem "Modus von Wechselwir­ kungen" (Koncsik 2011, S. 10), welche ihrerseits beobachtet werden müssen und deren nachbildende Wirkung man in Rechnung stellen muss, da sich in dieser stets mehr abbildet als bloß ein so und nicht anders emergierender Gegenstand: "Insofern Wechselwirkungen wiederum das, was wirklich ist, überhaupt erst ausmachen und konstituieren, ist der Gegenstand der Systemtheorie die gesamte Wirklichkeit, inso­ fern sie eben durch Wechselwirkungen konstituiert wird. Eine synergetische Systemtheo­ rie erlaubt uns daher einen entscheidenden Aufschluss über die Wirklichkeit kraft eines Rückschlusses auf sie aus ihrer systemischen Wirkung: Die Systemtheorie ist ein herme­ neutischer, d. h. naturphilosophischer Deutungsschlüssel der Wirklichkeit Um Wirklich­ keit zu verstehen und sie auch technologisch umzusetzen, ist eine synergetisch­ systemische Hermeneutik ausschlaggebend: Sie weist uns den Pfad zur nächsten techno­ logischen Evolutionsstufe" (ebd.).

Diese Stufe löst sich endgültig von jeglichen Abbild- oder Korrespondenztheorien der Wahrheit und beschränkt sich auf das tiefere Verstehen der Mechanismen, mit denen Menschen sich über die Gründe und Begründungen sozialen HandeIns zu verständigen suchen - wissend, dass diese handgemacht sind und bleiben, in lebensweltlicher Interdependenz gleichwohl - objektiv - wirksam werden. Ist es deshalb wirklich verwunderlich, dass es die Stimmungen und nicht die Tatsachen und Argumente zu sein scheinen, die unser gesellschaftliches Zusammenleben sowie unsere Politik bestimmen (vgl. Bude 2016)7 Jeder agiert eingebettet in symbolische Ausdrucksformen, wie bereits die Symbolischen Interaktionisten des letzten Jahrhunderts wussten: "If men define situations as real, they are real in their consequences" (Thomas & Thomas 1928, S. 572). Es sind diese tragenden Konstruktionen der eigenen sowie gemeinsamen Wirklichkeit, die als "real" emp­ funden werden, weshalb - so die Quintessenz aller systemischen Veränderungs­ konzepte der letzten Jahre - die Aufklärung, kreative, "frische" oder auch kriti­ sche Weiterentwicklungen der überlieferten Deutungsmuster wichtige Ansatz­ punkte für eine "soziale Technologie" (vgl. Scharmer 2009) zu sein versprechen. Gleichzeitig wandeln sich die Veränderungskonzepte von Interventions- zu Lern­ konzepten, da die Veränderungsforscher mehr und mehr erkennen, dass Wirk­ samkeit nicht von der Gründlichkeit und Granularität der Nachbildungen bzw. Diagnosen, sondern von ihrer selbstreflexiven und prinzipiell wertschätzenden Adressierung abzuhängen scheint. Nur eine solche Technologie der Selbstreflexi­ on und Selbsttransformation scheint auch in der Lage zu sein, die "systemischen Risiken, die aus einer Akteursperspektive kaum greifbar sind" (Willke 2014, S. 152), minimieren, wenn nicht gar vermeiden zu können. Es geht einer solchermaßen justierten Systemischen Hermeneutik somit um eine

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möglichst projektionsfreie Identifizierung von Handlungsbegründungen in For­ schung und Praxis. Was die Forschung anbelangt, so bemühen sich ihre Ansätze um eine möglichst kontinuierliche Einbeziehung der "selbsteinschließenden Re­ flexion" (Varela et al. 1992), d. h. um eine beobachtungstheoretische Basierung des Umgangs mit Hypothesen, Begriffen und den Formen des Verdichtens und Schlussfolgerns, um den "methodologischen Fallstricken der,(un)heimlichen Pe­ netranz der Plausibilität', eines ,sich selbst erfüllenden Forschens' sowie der ,Sprachgebundenheit des Arguments' zu entrinnen" (Arnold 2012, S. 134). Wo­ rauf dabei im Einzelnen geachtet werden sollte, verdeutlicht folgende Übersicht: Tab. 2:

Hinweise fur die Forschungspraxis (nach" ebd )

Worauf bei der Durchführung systemischer Forschungsarbeiten zu achten ist: Selbstprüfungs- und Selbstreflexions(an)fragen

Die (un)heimliche Penetranz der Plausibi lität

- Was genau erwartest du bereits (Basisannahmen, Hypothesen, Folgerungen) vor jeglichem Feldkontakt? - Welche Ergebnisse könntest du nicht aushalten? - Welche (drei) wichtigen Interessen verbindest du mit deiner Untersuchung (auch soziale, berufliche etc.)?

Sich

selbst

erfüllendes

Forschen

- Wie stellst du sicher, dass alles auch ganz anders sein " darf", als es dir erscheint? - Erm ittle verschiedene Perspe ktive n auf de n Gegenstand! - Befasse dich wertschätzend, indem du ein eigenes Plädoyer verfasst mit einer dir besonders abwegig erscheinenden Perspektive!

Die Sprachge bundenheit des Arguments

- Kläre deine Begriffe und nimm sie als das, was sie sind: Bezeichnungen einer Wirklichkeit, nicht die Wirklichkeit selbst! - Arbeite mit Such-, nicht mit Findebegriffen! - Frage, durch welche Festlegungen, Verstehenstendenzen und mitschwingende n Wertungen de ine Begriffe bereits kontaminiert si nd!

Die unbeabsichtigten, aber verzerrend wirksamen Einflüsse des forschenden Be­ obachters, der die Deutung des Sozialen nachbildet, müssen selbstreflexiv ge­ wendet werden. Dadurch werden sie selbst der Beobachtung zugänglich und können gewissermaßen von den ersten Eindrücken, Hypothesen und Interpreta­ tionen in Abzug gebracht werden. Diese Einflüsse konstituieren nämlich keine Gegebenheiten, sondern Erwartungen. Eine selbstreflexive Beobachtung dient deshalb einer ideologiekritischen Entschlackung in eigener Sache, indem sie das eigene Begriffsbesteck als Ausdruck letztlich emotionaler und sprachlicher Ge­ wohnheiten entlarvt. Hinzu treten muss jedoch unbedingt auch eine ideologiekri­ tische Entschlackung im Interesse des zu Verstehenden - dies kann eine inner­ menschliche Systemik oder eine des kooperativen oder konfliktiven Miteinanders sein. Nicht alles, was uns hier der Fall zu sein scheint, entspringt einer wirklich peniblen Bemühung um Evidenz. Oftmals lassen wir auch bloß in Erscheinung treten, was wir vermuten und gerade deshalb auch erkennen können. Ähnlich

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wirkt der gesellschaftliche Zusammenhang, die So-und-nicht-anders-Wirklichkeit, selektiv: Wir bewegen uns mit unseren Evidenzbasierungen in den totalen Wir­ kungszusammenhängen der immer schon vorausgesetzten Welt des Sozialen, die nicht allein deshalb gut sind, weil es sie schon immer gab. Doch solange wir dabei bleiben, die Welt zu unseren eigenen Bedingungen und Möglichkeiten zu verste­ hen, stehen wir nicht in einer wirklichen Verbindung mit den Bedingungen und Möglichkeiten der Systeme, die wir bei ihrer Transformation begleiten (wollen). Unsere Treue gilt dann in Wahrheit unseren eigenen Interpretationen, nicht un­ seren Klienten, Schülern oder Mitarbeitern. Deshalb lautet der Leitsatz einer sys­ temischen Hermeneutik: Lasse das Gegenübersystem zum Ausdruck gelangen, indem du ihm nicht dazwi­ schenredest! Verstehen ist nämlich die Voraussetzung einer gelingenden Verän­ derung, welche in der Lage ist, in Resonanz mit den Bedingungen und M öglichkei­ ten des anderen einen Unterschied zu gestalten. Beispiele zur (un)heimlichen Penetranz des Eigenen

Paul Watzlawick hat verschiedentlich darauf hingewiesen, dass wir uns bevorzugt in Wiederholungsschleifen durch das Leben bewegen: Obgleich wir die Grenzen ei­ ner liebgewonnenen Interpretation bereits schon mehrfach durchlitten haben, hal­ ten wir an ihr fest, indem wir auf die Strategie "Mehr-Desselben" setzen. Wir über­ sehen dabei, dass "Mehr-Desselben" von "keine Wirkung" weiterhin "keine Wirkung" bleibt und nicht plötzlich zur Wirksamkeit mutiert Diese Strategie lässt sich im Alltag vielfach beobachten: So wissen Eltern eigentlich, dass Ermahnungen oder gar Standpauken wenig bewir­ ken: Das Gegenüber weiß meist schon, was wieder einmal auf es zukommt, und "stellt die Ohren auf Durchzug': Dieses wiederum hält es davon ab, einen anderen Zungen­ schlag oder gar ein Verhandlungsangebot überhaupt zu hören, weil man ganz in den Bildern aus der Vergangenheitfesthängt und buchstäblich nicht zu erkennen vermag, was augenblicklich der Fall ist. Ähnlich auch die Eltern, die einem tief in ihnen veran­ kerten Impuls zum Ausdruck verhelfen, ohne zu erkennen, dass dieser einer Welt der mechanistisch-linearen Wirkungsillusionen entstammt, die längst untergegangen ist. Ist sie wirklich untergegangen? Oder lebt sie noch fort in der {Un-)Heimlichkeit unse­ rer penetranten "inneren Bilder" (Hüther 2008) über Erziehung, Erziehbarkeit und Erzogenheit? Ähnlich "penetrant" halten sich auch die Bilder einer Ins truk tionsdidaktik. Diese ent­ stammen auch einer versinkenden Welt, nämlich der Welt der Inputsteuerung. Diese ist durchdrungen von der Vorstellung, dass es möglich und sinnvoll sei, Lernprozesse anderer gezielt zu steuern und auf ein Ergebnis hin auszurichten. Im Zentrum des er­ folgreichen Gelingens dieser Steuerung s teht dabei der Input, d. h. die Unterrichts­ vorbereitung mit klaren Zielen, methodischer Kreativität, gründlichen Lehrunterla­ gen und "lehrenden" Lehrkräften. Wirkungslos prallen an diesen Inputdidaktiken die Zwischenrufe von Hirn-, Kompetenzforschern und Sys temforschern ab, denen zufolge

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"Vermittlung" nicht möglich sei. Vielmehr handele es sich bei einer gelingenden Kom­ petenzreijung um das Ergebnis komplexer Aneignungsprozesse, welche begleitet und unterstützt, aber kaum wirksam gesteuert werden können. Da moderne Gesellschaf­ ten gleichwohl auf berechenbare Wirk ungen angewiesen seien (z. B. s tandardisierte Kompetenzprojile), muss deshalb neu nachgedacht werden über die Formen und Möglichkeiten einer zielerreichenden Kontextsteuerung. Solche Hinweise zielen auf eine Outcomesteuerung, d. h. auf die detaillierte Beobachtung der Prozesse, das fle­ xible Arrangement didaktischer Infrastrukturen sowie eine situative Planung der nächsten - individuell angepassten - Schritte. Auch die Didaktik steht auf der Schwel­ le zum Singularitätsparadigma mit ihren Bemühungen um eine granulare Rekon­ struktion der jeweils spezifischen Mechanismen des Subjek tiven und Sozialen (vgl. Kurzweil 2005). Schließlich halten sich auch in Hochschulen und Universitäten vielerorts die überlie­ ferten Formen der Wissensvermittlung - getragen von der vielfach unbewiesenen und auch eher abwegigen Erwartung, Lernenden etwas zu sagen würde quasi gewähr­ leisten, dass diese es hernach wissen und zu nutzen vermögen. Erst allmählich und behutsam öffnen sich Hochschulen und Universitäten gegenüber den Konzepten eines angeleiteten Selbstlernens als der Lernform, welche für den Menschen als dem lern­ fähigen Tier bereits immer die einzige nachhaltige Weise der Umweltgestaltung be­ zeichnete. Sie erkennen mehr und mehr, dass Vermitteln eine zwar vielfach ge­ wünschte, aber wenig evidenzbasierte Vors tellung über das Z usammenwirken von Lehren und Lernen darstellt Wir s tehen ers t am Anfang einer "realistischen" Wende, die das Lernen der Menschen als das zu konzeprualisieren und zu didaktisieren weiß, was es ist: eine selbstorganisierte Form der Auseinandersetzung, Suche und Kompe­ tenzreijung (vg!. Amold & Erpenbeck 2014).

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Nacherleben

Ein wesentliches Charakteristikum des systemischen Denkens sind die epistemo­ logischen Zweifel und Selbstdemontagen, denn: "Alles, was gesagt wird, (wird) von einem Beobachter gesagt!" (Sirnon 2008, S. 122). Diese rückrudernde Be­ scheidenheit finden wir bereits bei Gregory Bateson in dem zitierten Hinweis auf die erleuchtende Wirkung der plötzlichen Einsicht, "dass das ganze Zeug Be­ schreibung ist" (Bateson 1977, S. 146). Damit scheint alles, was wir wissen kön­ nen, sprachlich induziert zu sein, d. h. nicht nur abhängig von den begrifflichen Möglichkeiten der Sprache, sondern auch von der Frage, ob uns unsere Sprache und unsere Sprechgewohnheiten bevorzugt zu einem "Problem Talk" oder einem "Solution Talk" verführen (de Shazer 2012). Dieser Linguistic Turn in den Sozial­ wissenschaften wurde ursprünglich von der Sprachphilosophie im Anschluss an Ludwig Wittgenstein angeregt, rasch aber wieder aufgegeben - man glitt vieler­ orts zurück in die zur Evidenz aufgerüsteten Beschreibungen. Der Linguistic Re­ Turn erfolgt seit den 1990er Jahren - ausgelöst und getragen von der emotions­ theoretischen Einsicht, dass Sprache zwar aus volitiven Emotionen verstehbare Gedanken und Motive werden lässt, doch keineswegs alles, was volitive Wirkun­ gen entfaltet, auch diese Hürde vom Gefühl zum Gedanken zu nehmen vermag.

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Deshalb greifen systemische Verstehensbemühungen auch häufig zu Skulptur­ oder Aufstellungsansätzen, um sichtbar werden zu lassen, was selbst (noch) kei­ nen Ausdruck zu finden vermag, weil es noch vorbewusst (:: vorsprachlich) bleibt, obgleich es doch die subjektiven Möglichkeiten bestimmt. Die systemische Hermeneutik transzendiert die Engführung der philosophischen Hermeneutik auf das sprachvermittelte Verstehen, bleibt aber Phänomenologie im ursprünglich ganzheitlichen Sinne als genaue und detaillierte Beobachtung wissend, dass dem Beobachter im Außen nur das in Erscheinung zu treten ver­ mag, was in seinem Inneren (als Deutungsmöglichkeit) bereits vorhanden ist. Mit dem Beobachteten hängen wir somit selbst schier unauflösbar zusammen, und wir erzeugen durch unsere Beobachtung erst das, was uns gegeben zu sein scheint. Sicherlich: Die systemische Phänomenologie hat - noch - nicht den methodologi­ schen Reflexionsstand der philosophischen Reflexionen der Lebensweltphäno­ menologie eines Edmund Husserl (1859-1938) oder eines Hans Blumenberg (1920-1996) erreicht. Vielfach wird - vor allem in ihrer therapeutischen Anwen­ dung - zu kurzschlüssig das Artikulierte oder Kommentierte mit den eigentlichen Wirkungskräften gleichgesetzt. Doch ist sie geöffnet gegenüber den subtilen Wir­ kungen einer "Emotionale(n) Konstruktion der Wirklichkeit" (Arnold 2005). Ob und inwieweit dabei auch spiegelneuronale Mechanismen zur Wirkung gelangen, indem Menschen innerlich miterleben, was sie bei anderen sehen, spüren und hören, ist bislang noch nicht zur genaueren Erklärung und Prüfung dieses Phä­ nomens herangezogen worden, obgleich die spektakulären Ausdrucksformen dieses Phänomens mehrfach wissenschaftlich untersucht und dokumentiert wor­ den sind (vgl. u. a. Kohlhauser & Assländer 2005). Es geht der systemischen Hermeneutik somit auch um die emotionale Positionie­ rung zum Gegenstand bzw. Kontext des Verstehens. Beide stehen nämlich nicht einfach dem Beobachter gegenüber, sondern werden überlagert, durchwirkt und verzerrt durch eigene Erinnerungen, Ähnlichkeitsmutmaßungen und andere Po­ sitionen, wie man sie transparent in einer Problemaufstellung inszenieren kann. Das Empfinden "Mein Chef behandelt mich ungerecht" kann man zwar beschrei­ ben, aber man kann nicht verstehen, welch eine rekonstellierende Kraft der Ge­ fühle sich in dieser beurteilenden Sicht der Dinge ausdrückt. Es gilt: Ein Bild (hier: die Skulptur) sagt mehr als tausend Worte. Dies gilt für die Beteiligten allemal, aber auch die Unbeteiligten (z. B. die übrigen Teilnehmer in einem Aufstellungs­ seminar) werden oft tief berührt, wie erfahrene Aufsteller zu berichten wissen: So empfinden Repräsentanten in einer Situation, die nicht die ihre ist, deren

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Struktur sie sich aber aussetzen, nicht nur die Gefühle, die Menschen in solchen Lagen empfinden, sie erleben auch gewissermaßen stellvertretend, die unter­ schiedlichen Bedeutungsdimensionen, welche die Situation überlagern. Deshalb können sie dazu beitragen, dass Perspektiven zutage treten, die sich in der Realsi­ tuation nicht zeigen, obgleich sie wirken. Dadurch kann die systemische Aufstel­ lungsarbeit einen Lern- bzw. Veränderungsprozess auslösen, indem weitere Per­ spektiven, die eine Heilung bzw. Veränderung von Lebenswelt und Lebenspraxis auszulösen vermögen, in die Deutung und das Verstehen aufgenommen werden. Die systemischen Theorien sprechen in diesem Zusammenhang von einem "wis­ senden Feld" (vgl. Mahr 2003) - ein Begriff, der alles andere als präzise ist und dessen wissenschaftliche Begründung zu Recht hinterfragt und auch angezweifelt wird. Gleichwohl sind Resonanzfeldphänomene auch den seriöseren Skulpturar­ beitern vertraut: So spüren z.

B.

Lehrerinnen und Lehrer in sehr ähnlicher Weise, wie sich ein Schüler

oder eine Schülerin fühlt, die von einem aufstellenden Lehrer am Rande des Gesche­ hens positioniert wurde. Sie spüren "am eigenen Leib", welche Ansprachen und ln­ tegrationsbemühungen bei dieser Person "resanieren" und welche nicht Durch die­ ses Erleben verändern sie das Bild der bislang als "schwierig" empfundenen Person und spüren die Berechtigung und emotionale Nachvollziehbarkeit ihrer Verschlos­ senheit oder gar Auffälligkeit Dieses durchspürte Wissen kann ihnen Möglichkeiten des Umgangs eröffnen, die nicht von der eigenen Beurteilung der Lage getragen werden, sondern der nüchternen Beobachtung darüber folgen, was "geht" und was nicht

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Fazit

Systemisches Verstehen kann zu passenderen, weil wirksameren Handlungen anleiten, aufweIche man durch bloßes Nachdenken nur schwer gekommen wäre. Systemaufstellungen in diesem Sinne zur Perspektivenerweiterung zu nutzen, markiert die neueren Formen des Umgangs mit der These vom wissenden Feld, welches kein "alles wissendes Feld" sein kann und will (vgl. Weber et al. 2013), sondern bloß eine systemische Rekonstruktionsmethode neben anderen dar­ stellt. Mit ihrer Hilfe können mögliche Wirkkräfte identifiziert und quasi als Lö­ sungsperspektiven thematisiert werden, wobei es den Akteuren vorbehalten bleibt zu spüren, ob und inwieweit dadurch tatsächlich gangbare - neue - Deu­ tungen zur Bewältigung ihrer Lage in den Blick treten. Dabei geht es nicht um die Identifizierung "objektiver" Kausalitäten, sondern um die Erarbeitung "via bIer" Lösungen im Sinne von Ernst von Glasersfeld:

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"Handlungen, Begriffe und begriffliche Operationen sind dann viabel, wenn sie zu den Zwecken oder Beschreibungen passen, für die wir sie benutzen" (von Glasersfeld 1997, S. 43).

Diese nacherlebende Bemühung der Systemischen Hermeneutik zielt somit auf ein Verstehen des Singulären, welches zumeist anderen Maßgaben folgt als sol­ chen, die mit statistischen Durchschnittswerten oder Korrelationsberechnungen zutage gefördert werden. Letztere zielen auf Häufigkeiten und meinen, mit diesen auch Zusammenhänge aufzeigen zu können. Diese Bemühungen sind nicht sämt­ lich bedeutungslos, sie bleiben nur meist oberflächlich, wenn es um die Frage der Handlungsbegründungen geht. und entfalten selbst systemische N ebenwirkun­ gen, deren negative Folgen oft das Kind mit dem Bade ausschütten und zu "tief­ greifenden Verstörungen" neuer Art führen, wie u. a. die Vor-Ort-Erfahrungen mit den Schulvergleichstests zeigen: "Die Öffentlichkeit hat sich angewöhnt, auf das Ranking zu schauen und die Qualität des Bildungswesens dort zu suchen" (Tenorth 2016, S. 22),

wo sie nicht zu finden ist. Möchte man z. B. verstehen, was Bildung ist, wie sie ge­ lingt oder an was sie scheitert, so kommt man nicht umhin, den Einzelfall nachzu­ empfinden. Nur an ihm zeigen sich die volitionalen und emotionalen "inneren Bilder", die komplexe Aneignungs- und Reflexionsleistungen gelingen oder miss­ lingen lassen. Und nur in der Singularität von Ermutigungs- oder Entmutigungs­ biografien lassen sich auch die Strukturdeterminiertheiten ertasten, welche im Einzelfall Öffnung oder Verschließung der persönlichen Entwicklung bestimmen. Nun können Lehr- oder Beratungskräfte diese Strukturdeterminiertheiten nicht intentional beeinflussen, sie können aber andere - verstehende - Kontexte ent­ stehen lassen, welche eine anschließende Bewegung des Subjektes ermöglichen, d. h. erleichtern und wahrscheinlicher werden lassen. Eine wesentliche Einsicht der systemischen Veränderungsstrategien ist in diesem Zusammenhang die The­ se, dass es die wertschätzenden und ressourcenstärkenden Kontexte sind, die solche Veränderungsbewegungen und mithin Bildung zu unterstützen vermögen. Die Systemische Hermeneutik öffnet in diesem Zusammenhang Türen zu einer energievolleren (Re-)Konstruktion des Gegenübers, um dessen Entwicklung es im konkreten Fall geht. Literatur Arnold, R. (2014): Begriffe sind Fenster. System ische Padagogik von A bis Z. Antworten, Algorithmen und Akronyme. Baltmannsweiler: Schneider Verlag Hohengehren. Arnold, R. (2012): syste mische Bild u ngsforschu ng - Anmerku nge n z u r erziehu ngswisse nschaftliche n Erzeugu ng von Veranderungswissen. In: Ochs, M. & Schweitzer, J. ( H rsg.): Handbuch Forschung fur systemiker. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 5. 123 - 136. Arnold, R. (2005): Die emotionale Konstruktion der Wirklichkeit: Beitrage zur emotionspadagogischen

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JEAN G RONDIN

The metaphysical bend of hermeneutics

Abstract

Hermeneutics and metaphysics are two disciplines that one is not used to seeing together. Indeed, one often sees in hermeneutics a post-metaphysical form of thinking. This is claimed not only because metaphysics would belong to a bygone age of philosophy, but also because hermeneutics would contain or imply a repu­ diation of metaphysics (as is evident in the work of Heidegger, für instance). Un­ like his teacher Heidegger, and some of his followers like Gianni Vattimo or Rich­ ard Rorty, Hans-Georg Gadamer never says that his thinking wants to overcome metaphysics. He even claims that it "leads us back into the problems of classical metaphysics" (Gadamer 1986. p. 464; 1996. p. 485). This study aims to sort out some of the features of this metaphysical dimension of hermeneutics. Hermeneutics and metaphysics are two disciplines one is not used to seeing to­ gether. Indeed, one often sees in hermeneutics a post-metaphysical form of think­ ing. This is claimed not only because metaphysics would belong to a bygone age of philosophy, but also because hermeneutics would contain or imply a repudia­ tion of metaphysics (as appears evident in the work of Heidegger, for instance). Hermeneutics likes to highlight, it seems, our interpretative relation to the world: to say that our world-experience is hermeneutical would mean that it is governed by world-views, frameworks and interpretations that would impose themselves upon reality and make it impossible to speak of the things as they are in them­ selves. If for hermeneutics everything is a matter of interpretation, which is a way of renewing the universality claim of classical philosophy under hermeneutical auspices, there would be no access to Being, much less an ultimate account of be­ ing, which would signify the end of metaphysics, understood as a reflection on being and its ultimate principles. This is a non- or even antimetaphysical reading of hermeneutics that was pro­ moted by postmodern authors and readers of Gadamer such as Gianni Vattimo or Richard Rorty. It is striking to note however that the most important representa­ tives of hermeneutical thought, Hans-Georg Gadamer and Paul Ricoeur, never claimed that their thinking wanted to overcome metaphysics. On the contrary, they at times discretely underlined the metaphysical bend of their thinking. This

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JEAN GRONDIN

is particularly evident in the ca se of Gadamer, on whom I will concentrate here.

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Two revealing testimonies of Gadamer to start with

At the end of Truth and Method, Gadamer unfolds his grand thesis on our rela­ tionship to Being that would happen through language and which is summed up in his famous albeit ambiguous dictum: Being that can be understood is language. It is in this context that he writes that hermeneutics "leads us back into the prob­ lem dimension of classical metaphysics" (führt uns in die Problemdimension der klassischen Dimension der Hermeneutik zurück) (Gadamer 1986, p. 464; 1989, p. 460). This passage was sei dom discussed or thought to its end in Gadamer schol­ arship. It does suggest that in the eyes of Gadamer hermeneutics doesn't lead us beyond metaphysics, but on the contrary back into it. I would like to suggest here how this is the case by developing some ofthese overseen and underplayed met­ aphysical elements ofhis thought'. The other passage comes from a less well-known text titled Phenomenology, her­ meneutics, metaphysics from 1983. Gadamer writes in the last senten ce, which always enjoys a particular hermeneutical significance, of this text: "Phenomenol­ ogy, hermeneutics and metaphysics are not three different philosophical points of views, but philosophy itself' (Gadamer 1995, p. 105)'. This affirmation is worth pondering for it says essential things and goes against the grain of some of the conventional wisdom, which is not always wise, regarding phenomenology and hermeneutics. It certainly does not present metaphysics as something that one should overcome at all cost. On the contrary, it says that it corresponds to the act of philosophizing itself (Gadamer uses the verbal expression Philosophieren, which is perhaps reminiscent of Kant's bon mot at the end of his Critique that one cannot leam philosophy, only to philosophize). It remains to be seen in what sense this is the ca se. I would like to give an idea of this sense by scrutinizing the metaphysical import and consequences of certain central tenets of Truth and Method. I speak ofthe metaphysical import and consequences, because Gadamer appears very discreet when he alludes to this metaphysical dimension of his thought, as he obviously does. This discretion is perhaps attributable to the shad­ ow that his master Heidegger cast on hirn. This is why I prefer to speak of the metaphysical dimension of Gadamer's hermeneutics, which is real, albeit often disregarded. See also my Du sens des choses. L'idee de fa metaphysique, Paris: PUF, 2013. Hermeneutik und Metaphysik sind nicht drei verschiedene philosophische Standpunkte, sondern Philosophieren selber; French translation in: L'hermeneutique en retrospective, Paris: Vrin, 2005, p. 141.

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The metaphysics in the title «Truth and Method»

By its own admission, Gadamer's book wants to account for the truth experience of the sciences of the spirit (to translate literally the term Geisteswissenschaften, which correspond to the humanities). Gadamer hopes to free them from the pure­ Iy methodologieal and methodieal understanding they have of themselves. It is a noble project, all the more so considering the fact that this methodocentrist ten­ deney has only aeeeierated sinee 1960, when the book was first published. Many of its analyses remain very actual in this regard. But the mere fact that Gadamer likes to speak of an experience of truth in the sci­ ences ofthe spirit is not insignificant for an inquiry into the metaphysical dimen­ sion of this thought. Truth (irrespeetive of the alphabetieal order in German where Method would normally preeede Wahrheit or truth) is the very first word in its title. Gadamer ean thus hardly be lumped together with the postmodern writers who are eager to bid farewell to the notion of truth and precisely because they judge it to be too metaphysieal (see Vattimo 2011). Quite on the eontrary, Gadamer seeks to reconquer or rediscover an experience of truth that a purely methodological understanding of knowledge would recover. Gadamer insistingly speaks of an experience of truth in the strong sense to underline the fact that it transforms the one who experiences it. There is something metaphysical, and courageous, in this attempt to give back to the humanities, the sciences of the spir­ it, their truth density: they are not only concerned with historical or psychological accounts of cultural artefacts, they provide us with hard truths. Didn't Aristotle say that first philosophy was a "seienee of aletheia" (Met. 993 b 20)7 This remains true of Gadamer's metaphysics. This truth pertains more particularly to those sciences that the German tongue has the genius of calling the sciences of the spirit, the Geisteswissenschaften. To be sure, this is the eonventional term, used without thinking (always a bad thing), to characterize what we would call the humanities or the sodal sciences. The his­ tory of the German term reveals however that the notion sterns at least in part from the Hegelian distinction of the real sciences between those of nature and of spirit (Geist). Gadamer never wanted to amputate the humanities of their spiritu­ al dimension3, quite on the opposite, as illustrated by his life-Iong goal of doing justice to their truth experience. Heidegger, for his part, was quite allergie tothese notions ofspirit and culture to speak ofthe humanities. In a lette rto his wife of June 20, 1932 (Heidegger 2005, p. 180), he wrote: " it is true that the Nazis force us to pinch our nose, but it is still better than the creeping poisoning with the catchwords of 'culture' and 'spirit' which we had to endure over the last years" (so viel Ü berwindung einem die Nazis abfordern, es ist immer noch besser, als diese schleichende Vergif­ tung, der wir in den letzten Jahren unter dem Schlagwort 'Kultur' und 'Geist' ausgesetzt waren).

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The truth of art: a metaphysical experience

The starting point ofthis rediscovery ofthe truth experience in the humanities is provided, as is weIl known, by the experience of art. Gadamer's main argument in this opening section is ripe with metaphysical undertones. His basic idea is that art is not the matter of a simple subjective play or entertainment which would distract us from the seriousness of life. Gadamer sees in this wide-spread view of art as subjective play and entertainment a trivialization of the experience of art. This is why he presents, on the contrary, art as an experience of truth, better still as a revelation about the essen ce of things. This is so much the case that Gadamer speaks of a play o[ art that is almost autonomous since it is the things themselves that come to present themselves in it in a form of epiphany, as if the artist had no say in the matter (one can regret Gadamer's omission of the point of view of the artist, but it is not a real fault of Gadamer's analysis since his task is not to ac­ count for the conditions of the production of a work of art, but to describe the truth experience that takes place in it). What is revealed (sich kundtut. offenbart sich, manifestiert sich, ereignet sich, geschieht, etc. are Gadamer's favorite ex­ pressions in this regard) in art, is for Gadamer what remains, the essence of things. Every art work is an illustration ofthis. but l like to think in this respect of Goya's picture of May

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(because it is while contemplating it that I understood

Gadamer) which presents poor Spanish peasants fired upon at point blank range by Napoleon's soldiers: that was the occupation of Spain in 1808, indeed that is the essence of all occupation! All the same, Picasso's Guernica teIls us what hap­ pened, as does Leonardo's Annunciation, Proust's A la recherche du temps perdu, Milo's Venus de Milo or The Times They are A Changing of Bob Dylan. The art work, says Gadamer, confers an increase in Being (Seins zuwachs) to that which it brings to the fore: it calls attention to the true Being that comes to be presented in the work, so much so that this Being cannot be distinguished from its transfor­ mation into a work of art (Verwandlung ins Gebilde). Gadamer insists in this re­ gard as much on the ontological as weIl as on the cognitive import ofthe work of art. He emphasizes its ontological dimension to counter the tendency to relegate the artwork in the realm of illusion or appearance, and its cognitive import to protest against the exclusion of art from the realm of knowledge. One will note in this respect that when Gadamer speaks of truth, Being, knowledge and even of essence, he never attempts, as did Heidegger, to rede fine these terms. He takes them as they can be found in common parlance and never wants to modify their meaning. Nowhere does he claim for instance that the notion of truth as corre­ spondence (adaequatio) is derivative or must be overcome. This approach of art displays strong metaphysical traits that are impossible to

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overlook: l.)It puts the emphasis on what Gadamer likes to call the transcendence of art4. By this he means that the artwork speaks to us from a certain height: it elevates our gaze and makes us participants in an experience of truth that overvvhelms uso If the artwork distracts us from our daily routine, it is to invite us to dwell in it in order to experience a form of truth that we could not othervvise experiment (the artwork, Gadamer often says, resists any attempt to translate it into another medium than its own). This sojourn in the vicinity and height of the work, which is at the same time an encounter with ourselves, leads us to a new perspective on the essence of things. Art thus provides for a gathering, an elevation, to the altitude of the work. 2.)It is as important to observe that what the artwork has to say from its height or transcendence is at the same time something that addresses us directly, in the middle of our situated finitude as it were. Every artwork, insists Gadamer, says to me: you must change your life! The formula, which is taken from a verse of Rilke (Du mußt Dein Leben ändern, in his poem on The archaic torso of Apollon), but also from the Don Giovanni finale, stresses that the artwork has something spiritual in that it induces a metamorphosis of the one who dwells in it: the one who has read Kafka's Castle or Waiting for Godot will not see life with the same eyes. The truth of the artwork lets us discover the essence and also the sense (following the felicitous assonance) of things and often much more forcefully than the truth assured by method alone. Methodical truth is most honourable, it is indispensable and Gada­ mer does not want to criticize it (which would be ludicrous), but the truth of art carries with it another metaphysical stature. The grand lesson of art is to make us discover another experience of truth than that of science, where the implication of the spectator or the participant-to use a Platonician term-is not a catastrophe, fol­ lowing Gadamer's image of a fusion of horizons, where the horizons of the work and the interpreter are fused into one another.

Gadamer suggests by this that the implication of the spectator or the interpreter in what she understands doesn't lead to relativism, since the interpreter experi­ ences a superior truth that has something irrecusably. This notion will bear fruit in the second section of his opus.

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The metaphysical truth of the humanities

The purpose of the second section of Truth and Method is to rediscover (wiedergewinnen) an experience of truth which has been lost, one can say a lost metaphysical experience, that ofthe humanities. For Gadamer, the humanities do not deliver a barrage of information on the world-views of culture and society that could be considered as forms of knowledge because they are methodically verifiable and stand the test of mathematical and objective criteria. Far more than (Zur Transzendenz der Kunst) is indeed the title of an i mportant section of essays that can be found in Gad­ amer's last book (2000, p. 143-191). The following section (p. 193-223) is plainly entitled Aletheia.

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that, they teach us truths and real life lessons, in the sense that history used to be seen as a magistra vitae. The main argument ofthis second part is precisely to teach that the truth offered by the humanities is more akin to the metaphysical experience of art (where truth happens as a revelation and an increase in Being), which implies the spectator in its play, than to that of the exact sciences, which rests on the exclusion of the standpoint ofthe spectator. The truth ofthe humanities is furthermore an experi­ ence that resists any historical relativization, whereas the truth of science can itself be relativized by history and always iso It is important to recall this because Gadamer is often perceived as a proponent of relativism on the grounds that the second part of his work promises to elevate historicity to the rank o[ a principleS• It has often been thought that Gadamer defends resolutely historieist theses in this second part, and some of its catchphrases have ins pi red Gadamer's postmod­ ern heirs ("we do not understand better, only differently", "meaning always goes beyond its author"). But when one reads hirn more carefully, it be comes clear that his main goal is, on the contrary, to overcome this historicism: 1.) In a key chapter of the second part, Gadamer famously calls attention to works that transcend their time and that are called for that reason classics. One could thus speak of the metaphysical character of what has been elevated to the status of a classic. This topic raised heated debates in the 60s, with the literary critic Hans Robert Jauss for instance, when the assault against the classics (and all that reeked of tradition) was the order of the day. This chapter only recalled an evidence, namely that in the humanities there are works and references that stand out and that therefore merit to be called classics (a distinction which is already obvious in the works, among the millions that would be available, we choose to read and to teach; in fact, according to Gadamer, this choice is not really ours since it is by and large the work of history, which is also accurate). One only needs to think of the important works of art, of the past as well as of the present, of the interpretations of them that have become standard or influentiat, of the philosophical masterpiec­ es of Plato, Aristotle, Thomas, Descartes, Kant, Heget, Heidegger or Levinas. Willy nilly, philosophy and the humanities thrive on these works. What is classical, ar­ gues Gadamer, is that which transcends history, while obviously remaining a fruit of history. It is precisely this mystery, this fusion of past and present, that fasci­ nates Gadamer in the example of the classical: the classics don't fall from the sky, they have a genesis, they are the expression of their time, captured in those works (in the sense that Hegel could say that philosophy is its time captured by thought), but to which they cannot be reduced, because they can be read and studied today as if they were written for our time. Their truth transcends the context of their epoch (which is not the case of the works that history forgets, at times wrongfully, Following the title ofthe determining section of (Gadamer 1989a, p. 265) on "The elevation ofthe historicity of unde rstandi ng to the status of a he rmeneutical princi pie" .

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but in this case it is because one deerns they should be or become again classics: history teaches that these renaissances are the stuff history is made of). There is here an important metaphysical idea about history: the undoubtable historicity of works and spiritual productions does not have to lead one to relativism. Quite on the opposite: all the works produced by history are not of equal value. Some stand out because they help us to better understand the sense of things and of what we are. That's why we call them classics, Le. inescapable milestones of our humanity, however their estimation may and must vary. It goes without saying that their canon will also vary because the present always has a say in that, whether it is con­ scious of this or not. Some authors who were once very highly regarded and con­ sidered as classics-one could think of Cicero or Bergson, for instance-are read much less today (but they could become again widely read classics). 2.) Far from calling into question the idea of truth, which is often viewed as the obvi­ ous consequence of historicism, historicity is thus what permits in the eyes of Gad­ amer to distinguish what remains, what is fruitful from what is less so. It is the purpose of what Gadamer calls the work oj history (Wirkungsgeschichte) to help us distinguish the prejudices of understanding that don't hold up from those that are really illuminating. Gadamer's metaphysical insight here is that history does not dissolve everything into the same oblivion (all is vanity, omnia transit), it remem­ bers things. Gadamer likes to insist on the orientation that history provides us in the selection of prejudices (or avenues of interpretation) that are fertile (and who does not depend on them when one seeks to orient oneself in the field of philoso­ phy, art history or history?). Many believe that he goes too far, decrying his his tori­ cal optimism by recalling that history can also be responsible of a cover-up and that it is often written by the winners (Benjamin). This criticism is not totally unwar­ ranted. Yet one must recall that it is possible to write history from the point of view of the victims: one can indeed speak of the Spanish Civil war from the vantage point of the Republicans, who lost; and who is really interested today in this history from the point of view of Franco? But is a historical pessimism on the whole pref­ erable to Gadamer's relative optimism? It would be far more demobilizing. Gada­ mer has unquestionable hope in history, but what is there to gain from not sharing that hope? 3.) Gadamer also teaches us to respect the works we study in the humanities and the history that has handed them down to uso This might sound old-fashioned, but the first attitude towards works of the spirit is for hirn one of openness to what they have to say. Critique, deconstruction and mistrust are not excluded-and can never be as long as we remain thinking reeds (Pascal)-, but they are not primary. The works that history and its present have handed down to us are works with which we have to engage and to dialogue with. This openness to the sense of the works, instead of their genesis and structural organization, which interest other concep­ tions of the humanities that have their merits (source critique is absolutely indis­ pensable), has a metaphysical ring to it. This is so much the case, claims Gadamer in this context, that when we try to un­ derstand works we do so out of an anticipation oj perjection. It means "that only

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" what constitutes a unity of meaning is intelligible (Gadamer 1986, p. 299; 1989a, p. 294)6. I can only read or understand something by supposing. charitably per­ haps, that what is said farms a perfectly coherent and intelligible sense. "So when " we read a text we always [!] assume this perfection 7. Ta be sure, this expectation will more often than not be deceived. It is then, and only in those situations, claims Gadamer, that we have to rely on more suspicious types of reading, of genetical, psychological or sociological nature like those that are favoured by the depths hermeneutics of ideology critique or psychoanalysis. However, for Gadamer, this type of reading is not primary because it doesn't let the works speak for them­ selves, Le. say what it is they have to say. For the reader who lets the works speak and even seeks to make their point stronger, instead of forcing them into the strait­ jacket of an ideological reading. the expectation of perfection is the regulatory ide­ al. One often says that perfection is not of this world, but a thinker of human finitude, such as Gadamer, who is not afraid to state that it is at the root of every understanding effort. There is no need to recall in this context the metaphysical or­ igins and underpinnings of this notion of perjection. 4.) Finally, Gadamer's analysis of the humanities courageously recalls that historical truths are truths in which we partake and that respond to our quest for meaning. We study the works of the spirit because they enrich our understanding of mean­ ing and of a meaning in which we recognize ourselves. The truth of the humanities, claims Gadamer, is geared toward its meaningful application in our lives: it is al­ ways understood out of our questions and essential concerns, that it in turn helps to broaden. In this type of truth, it is not the distance of the scientist to its object that offers the sole guarantee of knowledge. As, if not more important is the partic­ ipation of the scholar in her object that speaks anew for our time, thanks to her translation, which remains all the more successful in that this translation or appli­ cation remains unnoticed. Historical truth transcends here its time: stemming from the past, it addresses a present that recognizes itself in it. This truth enlarges our horizons, contributes to our humanity, to our humanization, and carries to this ex­ tent a metaphysical trust. 5

The ontological bend of hermeneutics

The metaphysical import of Truth and Method is obviously more prominent in its third part, since it evokes the discipline of general metaphysics, or ontology, when speaking in its title of an ontological turn of hermeneutics. It is true that the meaning of this turn remains somewhat enigmatic and hidden. Assuredly, Gada­ mer does not develop in this section a full-fledged ontology, like those that can be found in textbooks nobody reads anymore. He speaks more modestly of an ontowhich translates Vorgriff der Vollkommenheit by the "fore-conception of completeness"

7 Ibid. (the English translation uses again completeness instead of perfection). On the proximity of hermeneu­ tics to Leibniz see my essays L'heritage possible de la metaphysique de Leibniz en hermeneutique. (Grondin 2015, p. 170-182; 2000, p. 3-16)

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logical turn (Wendel. In what does it consist? On a more formal level, one can say that what is at stake is a philosophical en­ largement of hermeneutics. It signifies that hermeneutics can be something else and more than a simple methodology of the human sciences, in the sense of Dilthey, a sense which remained current when Gadamer published Truth and Method: "By seeing that language is the universal medium of this mediation [between the past and the present], we were able to expand our inquiry from its starting point, the critiques of aesthetic and historical consciousness and the hermeneutics that would replace them, and give hermeneutics a universal scope. For man's relation to the world happens absolutely and fundamentally through language and understanding. Thus hermeneutics is, as we have seen, a universal aspect of philosophy, and not just the methodological basis of the so-called human sciences" [the emphasis is ours]. (Gadamer 1986, S. 479; 1989a, p. 475476)

We all know that it is not a methodology Gadamer wanted to deliver. His proposi­ tion is that of a more universal and ontological hermeneutics. But in what does this ontological turn consist of more positively? We recognize that we are not dealing with a metaphysics or an ontology that would be devel­ oped in a systematic way. But what is its ultimate point? Are we only dealing, as is widely assumed, with a general ontology of our historical condition? This com­ mon answer is not entirely off the mark, but it has the inconvenience of overlook­ ing Gadamer's expressed intention that is to overcome the problematic of histori­ cism. In order to grasp this ontological shift, one has to start with the famous dictum that crystallizes so many debates, and misunderstandings, about hermeneutics: Being that can be understood is language. We know how Richard Rorty and Gianni Vattimo understood this principle (see Rorty 2000. p. 23-2; Vattimo. 2000. p. 499513). They saw and celebrated in it the expression of Gadamer's historicism and nominalism (disregarding the fact that Gadamer was expressively criticizing nominalism in those sections of his book). They pressed upon Gadamer-in what has to be described as an unfelicitous fusion of horizons8-their own understand­ ings of history and language according to which it would be impossible for us to transcend our linguistic, historical and cultural frameworks. Being that can be un­ derstood is language would basically mean-contrary to what the dictum expres­ sively states-that we would have no access whatsoever to Being (!), since all dis­ course on Being would be just that, discourse (an argument reminiscent by the way of Gorgias' treatise on Non-Being). This mediating linguistic component 8

One the fusion ofhorizons that can degenerate into a confusion des horizons, see Grondin 2005,

418.

p. 401-

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would serve as a screen or frame to Being, deemed unaccessible. Rorty draws from this a nominalist pragmatism (some descriptions appear more useful than others, but none is ever verifiable) and Vattimo a nihilist ontology (für which Be­ ing is nothing). I have discussed Vattimo's perspective elsewhere, which I find consequent für a nihilist, but of which I fear it fails to do justice to hermeneutics (Grondin 2007, p. 203-216). What I would like to do here is to suggest a more metaphysical reading of Gada­ mer's dictum. In this adage Being that can be understood is language, it is striking that the first word in it is ... Being. It is thus a saying on Being, out of Being. What does it say about Being? It states first and justly that it can be understood. If this banality has its importance, it is because it is often alleged that according to Gad­ amer Being could not be understood, say, in itself, since it could only be grasped through language or our cultural frameworks. This is not what the saying says at all. It states that we are very weIl able to understand what is (we can of course also misrepresent it, but this misunderstanding presupposes that understanding is possible): mutual understanding is possible, we can also understand the world, the functioning of a human heart, of a flower, historical events, just as we under­ stand what we are reading and what it is about, we (generally) can sort out what is a matter of fact from what is a matter of opinion, etc. In short, and it is almost painful to have to say this triviality in a world where the incomprehensibility of all things is so much celebrated, we can understand the world and Being, even if our projects of understanding are at times lacking or incomplete. It remains that it is Being that we understand and Gadamer's dictum (re )states it usefully. After that, it specifies that it is in language (is language) that we understand the world. We are perhaps again dealing with a banality, but Gadamer wants to stress by this that our world understanding unfolds in the linguistic medium. When we understand others, history, the world, texts, news of the world, this und erstand­ ing is language. For Gadamer, language (which remains a very vague term) char­ acterizes here the objet (Gegenstand) as weIl as the unfolding (Vollzug) of under­ standing: understanding insofar as it affirms that all understanding unfolds in the linguistic medium. But does that mean that all understanding must be expressed in words? What about the limits of language to express our understanding (I can't find the words). Gadamer sees precisely in this failure of language a confirmation ofhis thesis: "The failure of language (das Versagen der Sprache) testifies to its capacity to search ex­ pression for everything (bezeugt ihr Vermögen, für alles Ausdruck zu suchen) -so that it is also a way of expression to say that we can't find words-and furthermore a way of expres­ sion with which one doesn't stop, but one starts to speak." (Gadamer 1993, p. 18S)

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The only way to refute Gadamer on this count would be to show that there are modes of understanding that are not necessarily linguistic. I believe this is not impossible, there is the understanding of emotions, of the he art (gen. subj.) for instance, to say nothing about the understanding of newborn infants or of the deaf and mute, but it is difficult to refute Gadamer or to invoke a counterexample against hirn without using language. 6

Back into classical metaphysics

Gadamer's dictum also contains a thesis on Being in the sense that it poses that it is the Being ofthe things themselves that comes to be articulated in language (it is this metaphysical thesis, on Being and not only on the linguistic nature of under­ standing, that I wish to develop). By this, Gadamer recalls that the discourse we hold on Being is not a simple construction or a mere invention on the all­ pervading basis of our [rameworks. No, the language we hold on Being is from, or comes from, Being itself. To use a Platonic image Gadamer is found of in the last section of his book, it emanates from it. This for us curious idea of an emanation of Being in language is the least well understood portion of Gadamer's hermeneu­ tics, perhaps because it is its most metaphysical element. It is nonetheless of the highest importance since it is formulated after all in what is for all intents and purposes the conclusion of the book. It has everything to do with an understand­ ing of language that Gadamer sketches more than he truly develops. But its out­ lines are recognizable enough to allow one to draw valuable lessons. As is often the case in philosophy, it is easier to identify the conception which Gadamer wishes to oppose. Throughout the last section of Truth and Method, he takes issue namely with the notion that language could be described as a simple sign of thinking and the things to which it refers. This nominalist understanding (words are mere nouns, conventional nomina we would use to describe things) is widespread, and as such honourable, but Gadamer detects in it a certain instru­ mentalism: it views the words of language as instruments of a sovereign thinking which would itself be independent of language, thus presupposing that our mind could relate to things before they present themselves in language. We do have the ability to create new words for new things (an iPod, globalization, etc.), and one can say that those signs function as instruments of thinking, but they all presup­ pose, following Gadamer, that Being has already presented itselfin Being and that lingusticality is the element, the dough of all thought. To this nominalistic and instrumental understanding of language as a sign, Gada­ mer discreetly opposes another conception for which the word is less a sign than

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an image (Bild, whieh also means pieture) of the thing. The difficulty here, which is relative, is that this understanding of language as Bild owes a lot to the notion of (artistic) image Gadamer developed in the first part of Truth and Method and ofwhieh he underseored the "ontologieal import (Seinsvalenz)" (Gadamer 1989a, p. 134-144)9. By ontological valence, one has to understand the idea that the image (or artistic presentation) bestows upon what it represents - an increase in Being - by letting appear it in all its truth: "Hence presentation (Darstellung) remains essentially tied to the original represented in it. But it is more than a copy. That the presentation is a picture-and not the original itself­ does not mean anything negative, any mere diminution of being, but rather an autono­ mous reality. So the relation of the pieture to the original is basically quite different than in the case ofa copy. It is no langer a one-sided relationship. Thatthe picture has its own reali­ ty means the reverse for what is pictured, namely that it comes to presentation in the rep­ resentation. It presents itself in person. ( . ) But if it presents itself in this vvay, this is no longer any incidental event but belong to its own being. Every such presentation is an on­ tological event and bestows upon what is represented its ontological dignity. Through this representation, it experiences as it were an increase in Being. The proper content of the picture is ontologically defined as an emanation of the original." (Gadamer 1989a, p. 140; mod. 1986, p. 145) .

.

The image or the pieture (Bild) doesn't have less being than what it (re)presents and ofwhieh it is the image (Abbild), it has more. It ean even be seen, says Gada­ mer, following and adopting neoplatonician terminology, as an "emanation of its model (Urbild)" (Gadamer 1989a, p. 140; 1986, p. 145). The true image proceeds from its model or the original, but also lets it emerge in its truth, as if for the first time. One could say that it is more real than the things themselves insofar as it is the image that remains and that imposes itself because it conveys the essence of what iso This is so true that the image becomes unseparable from the thing: who can separate for instance the Last Supper from its depiction by Leonardo or the personality of Descartes from the portrait of Franz Hals? It is in an analogous sense that one has to think the being of language for Gada­ mer, as an emanation of the things and not of thinking. It is the things themselves, and their essence, that become manifest in language. This manifestation of things is to be understood in the subjective sense ofthe genitive as a self-manifestation of the things thanks to the present or light that language bestows upon them. Language even confers them an increase in Being, claims Gadamer, because it is by being presented in language that the things reveal their Being, their reality and their presence: all reality is the reality that becomes present in language. The ac­ cent doesn't lie in Gadamer on the framing of reality that our thinking would ac9

The ontological valence ofthe picture (Bild)

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complish by schematizing the real in this or that way. Gadamer takes issue with this widespread view of language as a framework or a mere way of seeing things, as in Cassirer's conception of language as a symbolic form, influenced by Kant's idea that it is our mi nd that introduces order into things. Rather, Gadamer puts the emphasis on the ontologieal revelation provided by language, on the self­ manifestation of things in language. Language does not stand in a position of ex­ teriority toward Being, it is inherent to it to the extent that it is in it that the sense ofthings comes to be deployed. It is with this idea, says Gadamer, that hermeneutics "leads us back in the dimen­ sion of problems of classieal metaphysics" (Gadamer 1989a, p. 460; 1986, p. 464). The allusion is again somewhat general, but the meaning is clear out of the con­ text. The classical metaphysics Gadamer is here thinking of is the Platonic tradi­ tion that saw in the transcendental predicates of the One, the Beautiful, the True and the Good first and foremost traits of Being and not only of the thinking that stands in front of Being. What this metaphysics (whose main defenders besides Plato will not be named) saw very clearly is what Gadamer calls the insertion of thought into Being, the intimate and primordial link between Being and thinking. It did not see in the relation of Being and language a face-to-face (as in the object­ subject distinction), but an original unity. aAs was to be expected [!], we penetrate by this in a realm of questions with which philos­ ophy has long been familiar. In metaphysics [the reference is again obvious], belongingness (Zugehörigkeit) signifies the transcendental relation between Being and truth, that con­ ceives knowledge as an element of Being itself and not primarily an activity of the subject. This insertion (Einbezogenheit) of knowledge into Being is the presupposition of ancient and medieval thinking." (Gadamer 1989a, p. 458; 1986, p. 462)10

Gadamer speaks here of an "integration (Einbezogenheit) of knowledge into Be­ ing" as the common "presupposition of Ancient and Medieval thinking", which his hermeneutics obviously wants to rediscover and renew by focussing on language. Language appears here primarily as the language of Being which corresponds to the sense of things. This essential thesis forms the metaphysical conclusion of Truth and Method.

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Traces of metaphysics in Gadamer's later debates: the lost sheep in the

died-out pastures of metaphysics?

It is a strong thesis of Gadamer who however did not speak a lot of it after Truth 10

On the i m portance of this notion of belongingness for Truth and Method and its roots i n medieval meta­ physics see the outstanding work of M. 5CRAlRE (2015) Laisser s'imposer I'etre. Appartenance et metaphy­ sique des transcendantaux. In: H.G. Gadamer Write et methode. Ph.D. dissertation, Universite de Montreal.

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and Method. The debates sparked by his oeuvre. most notably with the more methodologically inclined conception of hermeneutics of Emilio Betti and with the militant ideology critique of Jürgen Habermas drew hirn in other directions, and his critics were not very familiar with the (not very popular either) tradition of classical metaphysicsll. Yet Gadamer's closeness to this metaphysical tradition shines through in his im­ portant essay of 1968 on "Heidegger and the language of metaphysics" (Gadamer 1987. p. 229-237; 2007. p. 346-355). It is of course Heidegger who famously spoke of this language o[ metaphysics in his Letter on Humanism of 1946. and elsewhere, as an obstacle that his book Being and Time had not yet overcome. Metaphysics. understood as the urge to explain beings with the help of the in Heidegger's eyes inherently calculating principle of sufficient reason, would have led directly to the dominion of technology which would smother any attempt to think Being (or Beying for Seyn) for itself as sheer emergence and unfolding (Ereignis. Seyn. physis) that his thinking was clearly after. The simple question Gadamer asks Heidegger is whether there is such a thing as a closed language of metaphysics that would limit from the outset the possibilities of thinking (and of thinking. of all things. Being). Isn't language always able to overcome its own barriers and develop new ways of expression for that which strives to be said? Assuredly, the linguistic predeterminations of thinking are real and numerous, but these can come to be recognized as such, with the aid of an­ other effort of language that would do more justice to Being itself: it is thus pos si­ ble to identify these (pre)schematizing forms of expression as such and to over­ come them with other ways of saying. "But is there no rising above such a pre­ schematizing of thought?" (Gadamer 1987, p. 237; 2007, p. 355). The very idea of a language o[ metaphysics already testifies to this since it seeks to overcome a predetermination of thought that is deemed fatal because it would not do justice to what iso The only language Gadamer knows is the one we all speak and that is always capable to rise above the sclerotic expressions that have ceased to speak to us and to what needs to be said. There is no need for this to overcome meta­ physics, only to pay attention to the things themselves (phenomenology has no other task) and our ways of saying and thinking which can always be enlarged, nuanced and remain open to new insights. By this, Gadamer confirms that his re­ lationship to metaphysics is less fraught and obdurate than that of Heidegger, master he venerated but did not always follow. But Heidegger himself, as we ar11

It is to be noted howeverthat Habermas very pertinently evoked metaphysics in the title ( ! ) ofthe tribute he wrote for the 100th anniversary of Gadamer on February 11, 200, which originally appeared in the Neue Zü­ rcher Zeitung.

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gued elsewhere (see Grondin 2013, p. 13-20), eannot but defend some form of metaphysics: if the "language of metaphysics" constitutes for hirn a roadblock, it is because he has another discourse on Being to put forward, thus a better meta­ physics. Indeed, he cannot express this other way of approaching Being without using (and by playing on the sense 01) terms that stern from the vast repertoire of metaphysies: aletheia, logos, phusis, ground (Grund), essenee (Wesen), to say nothing of Dasein, thinking (Denken), Being or time. In this respect, it is no coincidence that the theme of metaphysics played such a key role in Gadamer's later debate with Jacques Derrida. Derrida's obsession with the language o[ metaphysics, which he inherited from Heidegger, is weil known, and we have just reealled that it was not shared by Gadamer. Central to the de­ bate between Derrida and Gadamer (if one can speak of a debate, because their dialogue was difficult12) was the issue whether there was be such a thing as a closed conception of metaphysics that we would need to overcome or at least de­ construct. Derrida suspected in Gadamer's good will to understand a relapse into metaphysics. With my hermeneutics, am I, confessed Gadamer in a remarkable retrospective text, nothing but "the lost sheep in the dried up pastures of meta­ physies"? (Gadamer 1995, p. 139; 1989b, p. 94) Gadamer meant by this that he could not recognize his thinking, nor his willingness to dialogue with Derrida, in the metaphysics of fixed presence that Derrida was stigmatizing in his decon­ struction (which pays far more attention to the play of signs than to the sense and meaning of words). This obsession with sheer presence he could not find in the history of metaphysics either which offers infinitely diversed and nuanced ways of speaking of Being. The idea of a metaphysics of presence is in his eyes a con­ struction or a fetish of deconstruction that blinds thinking more than it illumi­ nates it on the possibilities of metaphysics.

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Conclusion

If Gadamer did not present hirnself as a card-carrying advocate of metaphysics, we see that he did not want to overcome it either and that in a few precious in­ stances he was weIl aware of the metaphysical elements of his thinking and pointed them out expressively. He certainly spoke less of metaphysics than of on­ tology, but that was natural for a pupil of Heidegger who knew that his teaeher could read his book with a critical eye: ontology was in some ways acceptable if one wanted to reawaken the sense for Being (Heidegger had used the term pro12

5ee Grondin, J. (2012): Le dialogue toujours differe de Gadamer et Derrid, In: Les Temps modernes 67, n° 669/670, p. 357-375.

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fusely in Being and Time), but the notion of metaphysics had its pitfalls. Nonetheless, Heidegger is one of the rare authors who noticed very clearly the metaphysical inspiration of Gadamer. In a letter he wrote to the late Otto Pöggeler on January 11, 1962, he wrote after having read, or perused, Truth and Method: alt is also quite odd (merkwürdig) to see how Gadamer takes up without further ada at the end of his baok the metaphysics of Being that sees in language a transcendental determi­ nation of Being."13

This passage eertainly re fleets the perplexity of Heidegger, but it demonstrates that he was an excellent reader of Gadamer. Gadamer's modest, perhaps too modest metaphysics resides primarily in his onto­ logical understanding of language: language is not a mere system of signs think­ ing would invent to refer to a meaningless reality, it is the expression of Being itself (in the subjeetive sense of the genitive). One can say, following the voeabu­ lary of classical metaphysics, that Gadamer's thesis is situated on the level of on­ tology or metaphysica generalis. It does not venture much into the field of meta­ physica specialis or theologia, which was widely abandoned, on the surface, by the thinkers of the 20th Century, at least until Levinas. Gadamer was less preoc­ cupied by theological or religious matters than Heidegger was and did not receive the thomistic education his teacher had. He certainly did recognize in the theolog­ ical quest an expression of the mystery and the question that existence is for it­ self, but for hirn it was more in the realm of art and poetry, whieh he liked to eall the religion ofinteriority, that this quest expressed itself. Nevertheless, it is not impossible to draw from Gadamer's ontological oeuvre teachings for the problems of metaphysica specialis, even if Gadamer himself re­ frained, out of Socratic docta ignorantia, to do so. We can claim this because his hermeneutics develops an understanding of Being which breaks de facto with the nominalism of modern thought: for it, Being has no meaning in itself, all the realm of meaning is but a projection of thinking which would inject its general concepts into the world (out of the blue?) whieh would only be eomprised of individual physical masses devoid of any meaning and purpose. What Gadamer shows is that this nomina list understanding is an abstraction since the sense that we artic­ ulate in language is not for the most part a pure creation of our mind, but the sense of things themselves. What Gadamer thus renders thinkable, or thinkable 13 Unpublished letter of Martin Heidegger to Otto Pöggeler from January 11, 1962 (quoted following Martin Heidegger/Otto Pöggeler BriejwechseI 1957-1976, herausgegeben von Kathrin Busch und Christoph Jamme, forthcoming): "Merkwürdig ist ja auch, wie Gadamer am Schluss seines Buches die Seinsmetaphysik unge­ prüft aufgreift, die Sprache als eine transzendentale Bestimmung des Seins fasst". On this text and a few others that document Heidegger's distance toward his pupil, see Grondin 2010, p. 92-110.

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aga in, is the idea that there is sense to the world itself. It is this sense of the world that we strive to grasp and to guess in our modest and hesitating attempts at un­ derstanding. The world is intelligible and it is this intelligibility ofthe world that our understanding seeks to re ach. The only thing that is incomprehensible, said Einstein, is that the world is comprehensible. Meaning, sense, purpose and finality are alreadythere in the world, and one just has to raise one's gaze to discover and admire its beauty. For classical metaphysics, this was a sign that the world was not a product of blind happenstance and that human existence was perhaps something more than a useless passion. Literature Busch, K. & Jamme, C. (eds.): Letter to Otto Pöggeler, January 11, 1962, In: Heidegger, M. & Pöggeler, Briefwechsel 1957-1976.

0.:

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11:

Wahrheit und Methode: Ergänzun­

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KLAUS WIEGERLING

Zur Hermeneutik der Leiblichkeit Zum Verständnis des Leibes in Zeiten der Transformation des menschlichen Körpers

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Einleitung - Zum Problem einer Hermeneutik der Leibl ichkeit

Giambattista Vico hat in seinem Hauptwerk Scienza nuove prima (Vico 1725) dar­ gelegt, dass der Mensch nur verstehen kann, was er selbst hervorgebracht hat, nämlich die Geschichte, nicht aber die Natur, die der Mensch nur zu erklären vermag. Er eröffnete mit dieser Unterscheidung die bis in die Gegenwart reichen­ de Debatte über erklärende und verstehende Wissenschaften. Die erklärende Tä­ tigkeit wird dabei den Naturwissenschaften, die verstehende seit Dilthey den his­ torischen Geisteswissenschaften zugewiesen. Wir erleben heute allerdings, dass der Gegensatz von Natur und Kultur aufweicht und mithin Modelle des Erklärens in das Feld der Geisteswissenschaften dringen. Umgekehrt werden Verstehensan­ sprüche auch von technischen Disziplinen erhoben. Zwar ist die Übernahme von Methoden und Modellen anderer Disziplinen kein Schaden für eine Disziplin, problematisch wird es aber, wenn quantitative Analysen die verstehende oder auslegende Tätigkeit zu substituieren drohen. Natur wird wie in der synthetischen Biologie zunehmend auf einen hyletischen Rest von physiko-chemischen Grundbausteinen reduziert, mit deren Hilfe sie Le­ ben im wahrsten Sinne des Wortes herzustellen versucht und sich selbst dabei zur technischen Disziplin umgestaltet (vgl. Vriend 2006, S. 26 f.). Naturwissenschaft wird damit zu einer Disziplin, in der sich der Forscher nicht nur als kritischer Be­ obachter des Naturprozesses, sondern auch als Herstellender bzw. technisch Ge­ staltender artikuliert. Er fokussiert Naturprozesse zunehmend als technische Ab­ läufe, die zu bestimmten Zweckrealisierungen, wie der organischen Verbesserung des Menschen, führen. Die Zweckrealisierung ist allerdings ein Ergebnis kulturel­ ler Präferenzen, an denen der einzelne Forscher teilhat. Der Blick auf die Natur ist sozusagen Zweckfragen unterstellt. Reine Naturerkenntnis scheint nur noch in Teilen moderner naturwissenschaftlicher Forschung im Zentrum zu stehen, in der Astrophysik etwa, die nur schwer ökonomisch verwertbare Ergebnisse lie­ fern kann. Peter Janichs Überlegung, dass Chemie und Biologie eine nichtwissen­ schaftliche Vorgeschichte haben und im Zusammenhang mit einer Herstellungs-

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bzw. Züchtungspraxis zu sehen sind, ist nicht von der Hand zu weisen (vgl. Janich 2006, S. 311 ff. u. S. 330 ff.). Die Aufweichung des klassischen Gegensatzes von Natur und Kultur ist nun an sich noch kein Ausdruck eines Obsiegens naturwissenschaftlich-kalkulierenden Denkens. Dies ist schon deshalb nicht der Fall, weil derzeit Anwendungsaspekte und damit eine Bewertung der Natur unter pragmatischen Präferenzen die Wis­ senschaft dominieren. Als Problem erweist sich aber, dass sich in der verbreite­ ten Annahme eines Obsiegens des naturwissenschaftlich-kalkulierenden Denkens ein spezifisches Vergessen metaphysischer Voraussetzungen der modernen Wis­ senschaft artikuliert. Technisches Kalkül dringt in klassische Felder der Geisteswissenschaften, wenn etwa Kontexte verstehende Systeme entwickelt werden. Tatsächlich können sol­ che Systeme Kontexte nur verstehen, wenn sie zu Dekontextualisierungsleistun­ gen imstande sind, also Sachverhalte aus historischen Zusammenhängen heraus­ lösen und situieren (vgl. Wiegerling 2011, S. 90 ff.). Das, was Heidegger unter ei­ nem stellenden Denken verstand und was für ihn Ausdruck einer letzten Stufe der Metaphysik ist, die alles beherrschen, alles einem Kalkül unterziehen und das Er­ eignishafte aus dem Leben bannen will, scheint nun auch den menschlichen Or­ ganismus zu erreichen, wenn mithilfe von bio- und informationstechnologischen Mitteln unser Körper kolonialisiert wird. Die Konvergenz von Bio- und Informati­ onstechnologie und die Parallelisierung intra- und extrakorporaler Vorgänge ist ein Ziel moderner medizinischer Technik und trans humanistischer Fantasien zur Verbesserung der organischen Disposition des Menschen. Nun markiert die Unterscheidung zwischen dem älteren Begriff des Leibes und dem erst spät ins Deutsche eingedrungenen Begriff des Körpers die Wegscheide zwischen dem Begriff des Verstehens und dem des Erklärens. Der in der Dritten­ Person-Perspektive fassbare und skalierbare Körper ist Gegenstand naturwissen­ schaftlichen und technischen Denkens und damit ein Gegenstand, dessen Funkti­ onalität sich erklären lässt. Der Leib dagegen ist zwar intuitiv in der teilhabenden bzw. vollziehenden Ersten-Person-Perspektive zugänglich, weist aber keineswegs nur subjektive Bestände auf. Er ist als kultiviertes NatursWck oder naturalisiertes KultursW ck auch als historischer Ausdruck zu fassen, der nicht nur eine Individu­ algeschichte, sondern auch eine kollektive Geschichte hat. Der Leib ist in einem expliziten Sinne eine Vermittlungskategorie, die zwischen Individuum und Welt, zwischen Individuum und Individuum, aber auch zwischen den einzelnen Orga­ nen und dem körperlichen Vermögen vermittelt. Dies heißt, dass das, was gerade über eine intuitive Zugänglichkeit des Leibes gesagt wurde, differenziert werden muss. Als Limesgestalt, die weder ganz der Natur, noch ganz der Kultur zuge-

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schlagen werden kann, artikuliert sich in ihm ein Nexus, der jenseits von kausalis­ tischem oder stochastischem Denken angesiedelt ist. Er geht weder in seiner his­ torischen, noch in seiner körperlich-organischen Disposition auf. Der Leib spielt nun insofern eine besondere Rolle, als er nicht nur unser Tor zur Welt ist, sondern auch in seiner rezipierend-rezipierten Doppelgestalt quasi selbstreflexive Züge aufweist, etwa, wenn wir mit den Fingerspitzen unsere Handinnenflächen berühren und ihn durch eine Einstellungsänderung jeweils als wahrnehmenden oder wahrgenommenen identifizieren. Als historische Gege­ benheit entzieht er sich der Skalierbarkeit, ist vielmehr auch ereignishaft gege­ ben. Demzufolge ist er entsprechend der Zeitläufte immer wieder aufs Neue aus­ zulegen. Die Leiberfahrung eines modernen Mitteleuropäers deckt sich nicht mit der eines spätmittelalterlichen Menschen oder synchron mit der eines Angehöri­ gen eines Naturvolkes. Der Leib ist ein Geschehen, an dem wir selbst beteiligt sind. Wenn wir über ihn sprechen, sprechen wir zugleich über unser Selbst- und Weltverständnis. Die Transformation des menschlichen Körpers in eine Art Cyborg, die wir durch die Fortentwicklung von intelligenten Implantaten und Prothesen erleben, führt zu einem neuen Leibverständnis, das sich nicht mehr aus dem von der Natur Vor­ gegebenen und Selbstverständlichen speist. Die Möglichkeit bio- und informati­ onstechnologischer Manipulationen unseres Körpers verändert unser Verhältnis zu ihm und zeitigt ein neues Leibverständnis. Hier erscheint die Rede von einer Sekundären Leiblichkeit sinnvoll, die besagt, dass wir uns leiblich als etwas erfah­ ren, das in seinem Sosein keine Akzeptanz mehr erfahren muss und Ausgangsma­ terial für eine technische Gestaltung bzw. Umgestaltung ist. Leibliches Spüren und leiblich Gespürtes können nun Produkte einer technischen Vermittlung sein. Sekundäre Leiblichkeit ist in gewisser Weise an der Grenze reiner Körperlichkeit angesiedelt, markiert aber noch die Möglichkeit eines Selbstverhältnisses, d. h. markiert den Punkt, an dem der skalierbare Körper transzendiert wird. Wollen wir den menschlichen Leib in Zeiten der Transformation des menschli­ chen Körpers verstehen, müssen die körperliche Gestaltbarkeit und Wandelbar­ keit in dieses Verstehen eingeschlossen sein. Dabei stehen wir dem Leib aber nicht wie ein naturwissenschaftlicher Beobachter gegenüber, der ein Stellvertre­ ter der Menschheit ohne eigene Geschichte und personale Identität ist. In Verste­ hensprozessen befinden wir uns in einer Teilnehmerposition. Und im Falle des Leibverstehens können wir verschärfend hinzufügen: wir sind in einer notwendi­ gen, nicht frei bestimmten Teilnehmerposition. Wir sind, was wir zum Gegen­ stand machen, und sind es zugleich nicht, insofern die Besonderheit dieses Leibes

so

KLAUS WIEGERLING

allgemeine Bestände aufvveist - die historisch-kulturelle Disposition nämlich, aus der wir nicht heraustreten können. In Zeiten der technischen Transformation des menschlichen Körpers ist das Ver­ stehen des Leibes in besonderer Weise herausgefordert, da über Verbesserungs­ technologien Historizität in die organische Disposition dringt; Technik ist ja selbst ein historischer Ausdruck. Verstehen ist eine Tätigkeit, die eine Selbstposi­ tionierung, einen Vorgriff und eine Verweisung im Sinne einer relationalen Be­ stimmung einschließt. So gehört zum Verstehen eines verbesserten Körpers, dass wir auch die Intention und die Potenziale der Verbesserung verstehen. Dieses Verstehen transzendiert das Körperliche. Beim Verstehen des Leibes in Zeiten der Transformation des menschlichen Kör­ pers muss beachtet werden, dass Ermöglichungstechnologien nur vage und exemplarisch bestimmt sind und wir sie nur verstehen können, wenn wir auch ihre Visionen kennen. Das Leibverstehen fokussiert auch längerfristige Auswir­ kungen des Technologieeinsatzes auf den individuellen Organismus, unsere Per­ sonalität und die Gesellschaft. Ein Problem stellt dar, dass wir von einem Status der Gesellschaft ausgehen, der mehr oder weniger dem gegenwärtigen entspricht, also ähnliche Wertvorstellungen und politische Institutionen hat. Es ändert sich aber nicht nur die Technik und ihre Anwendung, sondern die gesamte Gesell­ schaft, ihre Werthierarchien, Präferenzen und Institutionen. Szenarien werden nach Erwartbarkeiten bzw. Wahrscheinlichkeiten entwickelt, aber natürlich kann alles ganz anders kommen. Wir können kaum Aussagen über eine Gesellschaft machen, die durch Naturkatastrophen oder außergewöhnliche historische Ereig­ nisse radikal neue Voraussetzungen des Zusammenlebens und der individuellen Lebensgestaltung bekommt. Ein deutscher Salafist zeigte sich in einem Interview davon überzeugt, dass Deutschland in 30 Jahren ein islamischer Staat sein wird mit der Scharia als Grundlage des Zusammenlebens. Wer kann garantieren, dass dies nicht der Fall sein wird? Wer kann garantieren, dass Terror, Totalüberwa­ chung, Indoktrination, Ö konomisierung aller Lebensbereiche und soziale Isolati­ on diese Gesellschaft nicht in ihrer Substanz verändern werden? Die Rede über die Zukunft bzw. über mögliche Zukün!te ist nach Armin Grunwald immer eine Rede über die Gegenwart (vgl. Grunwald 2012, S. 121 ff.). In ihr findet eine Ver­ ständigung über die Entwicklungsrichtung und Steuerung von Technologien statt. In diesem Sinne lässt sich sagen, dass über die Welt von morgen heute entschie­ den wird. Technik fällt nicht vom Himmel, ist kein Naturereignis, sondern wird gemacht. Es werden in ihrer Entwicklung Intentionen verfolgt, es gibt beabsich­ tigte und unbeabsichtigte Wirkungen - Wirkungen, die für beherrschbar, und sol­ che, die für vernachlässigbar gehalten werden.

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Jede Form des Verstehens impliziert einen Vorgriff auf die Zukunft. Wir bewerten das Künftige vor dem Hintergrund gegenwärtiger Prämissen. Von entscheidender Bedeutung ist dabei, dass der Bewertende nicht über den Dingen steht, sondern selbst in sie verstrickt ist, als jemand, der selbst Ausdruck seiner Zeit, ihrer Wert­ haltungen und Präferenzen ist, selbst dann, wenn er ihnen kritisch gegenüber­ steht. Es gibt keine Auslegung von Potenzialen, ohne dass der Auslegende zu den fokussierten Sachverhalten Stellung nimmt. Selbstverortung und Verortung der Sachverhalte stehen in einem korrelativen Verhältnis. Beim Leibverstehen er­ langt die Selbstpositionierung einen besonderen Status. Es geht dabei um die Ein­ sicht in ein mediales Verhältnis, das weder natural noch kulturell gefasst werden kann. Verstehen ist eine Vermittlungs leistung, in der Relationen sichtbar werden. Der Verstehende ist nicht nur an einem Sinngeschehen beteiligt, insofern er es ist, der die Relevanz eines Sachverhaltes für sein eigenes Leben herstellen muss, er ist zudem auch zu einem Vorgriff in die Zukunft genötigt. Die Auslegung berück­ sichtigt auch die Potenziale einer Technik. Welche davon berücksichtigt werden, hängt vom Erfahrungshorizont ab. Krankheits- und Behinderungserfahrung, die Frage, was ein Mensch körperlich aushalten muss, um in der Gemeinschaft beste­ hen zu können, Fragen, die die Gestaltung des Körpers durch Training oder ver­ meintliche Schönheitskorrekturen betreffen, Erwartungen an die Körperbeherr­ schung usw.: All das steckt die Grenzen der Reflexion auf körperliche Potenziale ab. Verstehen erfordert mehr als ein Konstatieren des Bestehenden. Es hat eine Zukunfts- sowie eine Orientierungsdimension - und damit auch eine pragmati­ sche Dimension. Es gibt kein Verstehen ohne Bewertung und Selbstpositionierung. Die auslegende Tätigkeit ist nicht distanzierend wie die erklärende. Naturgesetze haben den An­ spruch einer überzeitlichen Geltung, die der ausdrücklichen Anerkennung des Einzelnen nicht bedürfen. Der Auslegende dagegen ist weder ein neutraler Be­ obachter noch ein beliebig ersetzbares Element. Im Folgenden sollen nun die Notwendigkeit und die Art und Weise der Auslegung von Leiblichkeit in Zeiten der Transformation des menschlichen Körpers fokus­ siert werden.

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Die Leitdifferenz von Leib und Körper

Der Leib ist im Gegensatz zum Körper 1) intuitiv zugänglich, d. h., er ist als der meine gespürt, er ist 2) in einer rezipierend-rezipierten Doppelgestalt gegeben, d. h., er ist zugleich Wahrnehmendes und Wahrgenommenes, und 3) ist er ein his-

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KLAUS WIEGERLING

torisches bzw. kulturelles Phänomen. In seiner konkreten Gestalt ist er nicht nur Ausdruck einer Evolution der Natur, sondern auch einer spezifischen kulturellen Prägung. Schmerz ist zwar eine subjektive Erfahrung, aber eine Erfahrung, die eine kulturelle Disposition aufweist. Jagdvölker gehen anders mit Schmerzen um als normale Mitteleuropäer. Der Leib ist Ausdruck unseres existenziellen Ortes in der Welt, und zugleich steht er für unser Vermögen, die Welt zu erschließen und in ihr zu handeln. Der Körper dagegen ist eine Abstraktion vom fundamentaleren Begriff des Leibes. Als historische Entität ist der Leib nicht nur Ausdruck einer speziellen räumlichen Perspektive auf die Welt, sondern zugleich für eine beson­ dere historisch-kulturelle Perspektive, die ich mit vielen teile. Als naturalisiertes Kulturstück bzw. kultiviertes Naturstück ist er eine Vermittlungsinstanz zwischen Kultur und Natur (vgl. Küchenhoff & Wiegerling 2008, S. 7 ff.). Der Leib ist durch eine doppelte Intentionalität ausgezeichnet. Er transzendiert seine organische Disposition. Intentionalität ist einmal in dem klassischen Sinne des arabischen Aristotelismus zu verstehen, als eine Form der Gerichtetheit, die von Trieben, Angst und Begehren geprägt ist (Avicenna 1972, S. 99 ff.). Er ist so­ mit auch etwas, was sich der Selbstbestimmung entzieht, ist Jagd- und Fluchtver­ halten, Schutzhaltung und Reflex. Er ist zum Zweiten aber auch etwas, das histo­ risch disponiert ist (Plessner 1975, S. 321 ff.). Die animalische Gerichtetheit ist kulturell unterwandert. Es sei hier an Plessners zweites anthropologisches Grundgesetz von der vermittelten Unmittelbarkeit erinnert, das besagt, dass der Mensch nie in einem unvermittelten Naturprozess steht, sondern in seinem Welt­ verhalten und -verständnis immer schon kulturell disponiert ist. Auch das Anima­ lische im Menschen ist schon kulturell unterwandert. Es gibt kein prius oder pos­ terius im Verhältnis von Natur und Kultur, wenn wir vom Menschen sprechen. Wir sprechen in seinem Fall immer schon von einem kulturvermittelten Wesen. Nicht zuletzt im menschlichen Sexualverhalten wird dies sichtbar. Von dem, was wir Erotik nennen, bis hin zu pervertierten Formen sexueller Praxis wird sicht­ bar, dass hier etwas anderes vorliegt als animalische Paarung. Es gibt keinen Weg zurück in die animalische Unmittelbarkeit.

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Zum Wandel unserer körperlichen Disposition und unserer Leiberfah­ rung

Fokussieren wir den anthropologischen Status des Menschen, der sich möglich­ erweise durch intelligente Implantate und Prothesen einerseits und durch bio­ technologische Optionen andererseits in ein posthumanes Wesen transformiert, das andere körperliche Dispositionen als der heutige Mensch aufweist. Dieser Status zeitigt neue Aspekte für die leibliche Vermittlungsfähigkeit und damit auch

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eine neue Sicht auf den Leib als Vermittlungskategorie. Ohne Frage würde ein aufgerüsteter Körper neue Möglichkeiten für eine syn­ chrone Vermittlung eröffnen. So ist vorstellbar, dass wir mehr Interaktionen mit einer komplexer werdenden intelligenten Umgebung haben werden, die nicht hirn-, sondern implantatgesteuert sind. Wie aber ist eine gesteigerte Wahrneh­ mung mit dem Gesamtorganismus vermittelt? Diese Frage betrifft nicht nur die personale Identität eines aufgerüsteten Menschen, sondern generell die Funktio­ nalität des Organismus. So ist schwer vorstellbar, dass wir wie ein gesunder Hund hören, ohne dass dies Auswirkungen auf unseren psychischen Zustand hätte. Weiterhin ist denkbar, dass Informationen über Umweltbedingungen, die infor­ mationstechnologisch in den Körper eingespeist werden, Modifikationen organi­ scher Funktionen bewirken. So wären auch multifunktionale Organe vorstellbar, die nicht nur den Verlust eines Organs ersetzen oder Fehlfunktionen kompensie­ ren, sondern organische Funktionen ökonomischer gestalten durch die Kombina­ tion von Funktionen unterschiedlicher Organe. Regulierungen körperlicher Funk­ tionen könnten unter dem Einfluss lokaler Daten automatisiert erfolgen. Dies könnte zu Entlastungen führen. Bereits heute scheint der Mensch an die Grenzen seiner Aufmerksamkeit zu gelangen. Eine Steigerung von perzeptiven bzw. orga­ nischen Fähigkeiten ist also vorstellbar - und insofern auch neuartige synchrone Vermittlungs- und Integrationsleistungen. Ein kaum lösbares Problem wird die diachrone Vermittlung sein. Wir können uns keine Identität eines menschlichen oder menschenähnlichen Wesens ohne sie vorstellen. Die erste Bedingung für die personale Identität ist die Kontinuität der Selbsterfahrung im Wandel der Zeit. Ohne sie gibt es keine Möglichkeit der Zu­ schreibung von Handlungen, und insofern auch keine Verantwortung. Diachrone Vermittlung hat aber noch eine andere, die Subjektzentrierung in gewisser Weise transzendierende Seite. Historizität vermittelt zwischen Besonderheit und Allge­ meinheit. Unsere individuelle Geschichte ist nicht jenseits einer intersubjektiven angesiedelt, sie geht allerdings in ihr auch nicht auf. Historizität impliziert Ereig­ nishaftigkeit. also etwas. das sich der menschlichen Verfügbarkeit und Kalkulier­ barkeit entzieht. Wie nun lässt sich die Kontinuität eines transformierten Körpers denken? Im­ plantate und Prothesen haben keine Geschichte in dem Sinne, dass Erinnerung ein Charakteristikum belebter Materie ist (vgl. Hering 1876). Eine Einschreibung in Implantate und Prothesen kann nicht in gleicher Weise erfolgen wie in einen Organismus. Trotz unterschiedlicher Belastungen von Organen altert der Orga­ nismus als ganzer, nicht nur in Teilen. Implantate und Prothesen haben einen an-

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deren Alterungszyklus als organische Materie. Ein Körper, der sich quasi in einen Apparat transformiert hat, würde permanente Wartung benötigen. Es müssten Teile ersetzt und Funktionen, veränderten Umwelt- und Lebensbedingungen ent­ sprechend, immer wieder neu angepasst werden. Alterungsprozesse finden nicht in einem biologischen Sinne statt. Die Frage ist nun, wie wir Historizität als eine beständige selektive Prägung, die ein Individuum charakterisiert, im Falle eines posthumanen Wesens bewahren können. Schließlich ist ein verantwortliches und mit dem alten Menschen kompa­ tibles Wesen ohne diese Prägung nicht vorstellbar. Nun könnte sich ein intelligen­ tes Implantat durchaus seiner Belastungen und seiner Funktionsausführungen erinnern - bei Herzschrittmachern ist das schon der Fall. Das Implantat wird die­ se Erinnerungsleistung erbringen, um seinen Verschleiß anzuzeigen und rechtzei­ tig ein Arrangement für die Wartung zu treffen. Eine ganz andere Frage ist aber, nach welchen Kriterien es Erfahrungen aufzeichnet. Unser Organismus erinnert sich ja nicht an alles. Im Leibgedächtnis erhalten bleiben nur bestimmte Erfah­ rungen, etwa solche, die uns vorsichtig machen und Vorkehrmaßnahmen initiie­ ren. Das Verstehen des Leibes ist etwas anderes als das Verstehen der organisch­ apparativen Dispositionen eines transformierten posthumanen Wesens. Nichtor­ ganische Materie würde historische Spuren nur im Sinne von Werkzeugen haben, die Gebrauchsspuren aufweisen. Die Frage ist aber, ob ein transformierter Körper wirklich eine historische Vermittlung leisten kann. In diesem Falle würden Ver­ letzungen nicht notwendigerweise physiologische Spuren hinterlassen, defekte Teile würden wohl komplett ersetzt werden und somit keine Nachwirkungen zei­ tigen. Ein aufgerüsteter Körper würde nur in einem technischen Sinne Vermitt­ lungen leisten, nicht aber in einem historischen Sinne. Erläutern wir diesen Sach­ verhalt an Merleau-Pontys Begriff der Zwischenleiblichkeit. Dieser bezeichnet eine spezielle Prägung des Leibes durch die unmittelbare Nähe anderer Leiber etwa in der Mutter-Säuglings-Beziehung - aufgrund einer besonderen Gerichtet­ heit (vgI. Merleau-Ponty 1966. S. 297 ff.). Zwischenleiblichkeit würde aber nicht die gleiche Rolle bei einem technisch transformierten posthumanen Wesen spie­ len. Bewegungsstile und kulturelle Rhythmen werden in diesem Falle eher an all­ gemeine soziale und ökonomische Anforderungen adaptiert als an besondere Be­ zugspersonen. Ein technisch aufgerüstetes posthumanes Wesen könnte für un­ terschiedliche kulturelle Sphären adaptiert bzw. programmiert werden. Dies ist aber keine Adaption aufgrund von Gewöhnung, Lerneffekten oder Akklimatisie­ rung. Ein Leibgedächtnis als implizites Wissen ist im Falle eines posthumanen Wesens

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schwer vorstellbar. Wie sollte sich Historizität in intelligenten Implantaten und Prothesen sedimentieren? Technische Funktionalität äußert sich vor allem in der exakten Wiederholung von Prozessen. Dies wäre bei einem Pianisten kontrapro­ duktiv, er wäre dann eine Spiel maschine. Der Handwerker würde zu einem robo­ tischen System transformieren, der nur tut, was in einem Schema explizit ge­ macht und auf einem Template ab gespeichert wurde. Ein granulares und adapti­ ves Gestalten ist die Artikulation eines Zusammenspiels von intuitiver Wahrneh­ mung und eines speziellen Handlungswissens unter bestimmten Umweltbedin­ gungen und materiellen Bedingungen. Implizites Wissen ist wie die Alltagsspra­ che durch eine gewisse Unschärfe ausgezeichnet. Es ist eine Artikulation von Ver­ leiblichung, nicht von Verkörperung. Implizites Wissen ist ein grundsätzlich vari­ ierbares Handlungsschema. Um bei einem posthumanen Wesen wirksam zu sein, wäre es aber notwendig, dieses Wissen explizit zu machen. Explizites Wissen ist aber eine Reduktion des impliziten Wissens und von diesem wesentlich unter­ schieden. Auch die Frage nach einer intrakorporalen Adaption kann nicht in der Weise ei­ ner normalen Adaption behandelt werden. Zwar ist der Mensch an die Technolo­ gie adaptiert, mit der er tagtäglich Umgang hat. Aber von einer Internalisierung zu sprechen, erscheint bei einer intrakorporalen Adaption unangemessen. Wir gehen eben nicht mit intelligenten Implantaten um, sondern adaptieren uns an ihre Wirkungen. Bei der normalen Adaption spielen Gewöhnung, perspektivische Wahrnehmung und Einbettungen der Umgangsweisen eine zentrale Rolle. In die­ sem Sinne können wir aber intrakorporal nicht von einer Adaption sprechen. So wäre die diachronische Vermittlung bei einem technisch aufgerüsteten post­ humanen Wesen letztlich wohl auf eine synchronische Vermittlung herunterge­ brochen. Das posthumane Wesen wäre - ganz im Sinne von Günther Anders - ein Jetztgenosse, kein Zeitgenosse (vgl. Anders 1956) und deshalb in einem expliziten Sinne auch ein posthistorisches Wesen. Wir sehen, dass die Prägung, Interaktion und Einbettung eines durch Implantate und Prothesen aufgerüsteten posthumanen Wesens ganz verschieden von der Prägung, Interaktion und Einbettung eines Menschen ist. Und es gibt keinen Grund anzunehmen, dass die Selbsterfahrung dieses Wesens die gleiche sein würde wie die des Menschen heutzutage. Zuletzt ergeben sich aus den Dispositionen eines posthumanen Wesens Probleme für den ethischen Diskurs, und zwar solche, die das Verhältnis von Mittel und Zweck betreffen. In Zeiten der Transformation des menschlichen Körpers gerät der Mensch in einen Prozess der Entindividualisierung. Implantate und Prothe-

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sen werden nicht wie klassische Kunstwerke als Unikate hergestellt, sondern als Artefakte, die Möglichkeiten für individuelle Justierungen bieten. Ein Herz­ schrittmacher ist nicht dasselbe wie ein Organ, das Teil des Organismus ist. Es geht hier vielmehr um die Artikulation einer bestimmten Funktion. Jedes Implan­ tat artikuliert Funktionen, denen Desartikulationen anderer Funktionen korres­ pondieren. Dies gilt auch bei biotechnologischen Verfahren. Jedes Erkenntnisob­ jekt kann bis in die Unendlichkeit ausdifferenziert werden. Es gibt kein Double eines Organs, sondern eine Substitution oder Unterstützung bestimmter Funktio­ nen. Es findet eine Reduktion des Organs in einem Modell statt. Jede Substitution oder Verbesserung basiert auf einer Einschätzung des Organs und seiner Funkti­ onen. Nicht jedes Datum hat dabei die gleiche Bedeutung. Es wird vielmehr eine Hierarchie der Daten hergestellt. So können wir Organe differenzieren in Hinblick auf die Verbesserung bestimmter Funktionen oder in Hinblick auf die Stabilisie­ rung des Gesamtorganismus. Aber es besteht keine Möglichkeit einen Organismus an sich zu verbessern. Ein Implantat basiert auf einem Modell, das bestimmte Funktionen akzentuiert. Wie bei der Beschreibung eines physikalischen Versuchs, vernachlässigen wir Faktoren, die wir als irrelevant einschätzen. Wir produzieren jedenfalls nichts, was identisch mit einem Organ ist, sondern etwas, das in Bezug auf als wesentlich eingeschätzte Prozesse in analoger Weise funktioniert. Es ist offenkundig, dass es im Post-Humanismus darum geht, den menschlichen Körper, der in Krankheit, Schwäche und Verletzung außer Kontrolle gerät, ver­ fügbar zu machen. Verfügbarkeit soll durch die Reduzierung des Leibes auf reine Körperlichkeit hergestellt werden. Insbesondere soll die Historizität des mensch­ lichen Leibes aus dem wissenschaftlichen Diskurs eliminiert werden, weil sie sich dem Kalkül, dem modellierenden Blick und damit der HersteIlbarkeit entzieht. Durch die fortschreitende Konvergenz von Bio- und Informationstechnologien, die Vernetzung des aufgerüsteten Körpers mit einer intelligenten Umgebung, die organische Funktionen überwacht und steuert, wird der biologische Rhythmus des Körpers in eine technische Taktung transformiert. So könnte der Biorhyth­ mus an Arbeitserfordernisse angepasst werden. Der Körper eines posthumanen Lebewesens und seine Lebenswelt, die von informatischen Systemen durchdrun­ gen ist, weisen dann eine gemeinsame technische Disposition und Standardisie­ rung auf. In diesem Falle können wir aber nicht mehr von Leib sprechen, da Leib und Lebenswelt keine Phänomene sind, die wir aus einer Dritten-Person­ Perspektive erfassen können. Beide sind historisch und kulturell vermittelte Phä­ nomene und können nur in einer Teilnehmerperspektive gefasst werden. Ein posthumanes Wesen wäre aber wesentlich jenseits dieser Verstrickung angesie­ delt, die Leib und Lebenswelt charakterisiert.

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Eine Entindividualisierung findet auch statt, wenn der Körper räumlich verteilt gedacht wird. Warum sollte es undenkbar sein, dass ein menschenähnliches We­ sen einen räumlich getrennten Arm besitzt, aus einer speziellen Hardware für den Umgang mit gefährlichen Substanzen, der unmittelbar neuronal gesteuert wird? Und warum sollte er nicht ein quasitaktiles Feedback geben (vgl. Nicolelis 2001)7 In diesem Falle aber ist die Einzigartigkeit und die Einheit eines Individu­ ums nicht im Sinne des klassischen Individuationsprinzips, das uns einen be­ stimmten Ort in Raum und Zeit zuweist, zu fassen, sondern nur durch eine spezi­ elle Leistung der Integration und Vermittlung, also durch eine besondere Form der Synthesis. Vielleicht benötigt diese Leistung kein organisches Zentrum wie das Gehirn mehr. Vielleicht wird das posthumane Wesen unterschiedliche, quasi parallel geschaltete Synthesen erbringen, die seine Funktionalität ohne eine zent­ rale Vermittlungsinstanz garantieren. Die Einheit des posthumanen Wesens wäre dann vielleicht nur noch situativ bzw. aktionsabhängig gefordert, was seinen mo­ ralischen Status verändern würde. Wenn der Mensch Teil einer technischen und nicht nur einer biologischen Evolu­ tion ist, dann haben wir nach dem Punkt zu fragen, an dem ein menschliches In­ dividuum seine Einzigartigkeit und damit Selbstzweckhaftigkeit verliert. Wenn der Mensch in seiner organischen Substanz substituierbar ist, dann haben wir eine Transformation in ein posthumanes Wesen zu konstatieren, das nur noch in eingeschränkter Weise mit dem Menschen, wie wir ihn bisher kennen, etwas zu tun hat. Die Frage, die wir zu stellen haben, ähnelt der, wie lange wir zu einer flüssigen Substanz noch Wasser sagen können. Warum sollen wir zu schwer ver­ schmutztem Wasser Wasser sagen und zu einer anderen Flüssigkeit Pepsi Cola, obwohl sie weit mehr Wasser enthält (vgl. Putnam 2004, S. 40 ff.). Das hier zu er­ örternde Problem ist aber nicht nur logischer und erkenntnistheoretischer Natur. Es geht nicht nur um die Frage, wie lange wir zu einem Menschen noch Mensch sagen können, sondern auch darum, ab wann die technische Transformation des Menschen ethische Normen suspendiert, die heute noch als fundamental angese­ hen werden. Ist es vorstellbar, dass ein posthumanes Wesen noch in der gleichen Weise Einzigartigkeit beanspruchen kann wie ein Mensch heute? Kann es behan­ delt werden wie ein Wesen, in dem sich das alte Individuationsprinzip artiku­ liert? Die Würde eines Menschen hängt unter anderem von seiner Einzigartigkeit ab, denn nur ein Wesen, das eine Artikulation des Individuationsprinzips ist, kann Kants kategorischen Imperativ in Raum und Zeit realisieren. Wenn der Mensch herstellbar geworden, also der menschlichen Verfügbarkeit unterstellt ist, ist auch die Frage der Selbstzweckhaftigkeit neu zu stellen. Die Einzigartigkeit und Individualität des Menschen steht zur Disposition, wenn seine organische Dispo-

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sition weitgehend substituiert ist. Was bedeutet dies nun bei einem posthumanen Wesen? Haben sich in ihm die Mittel von ihren Zwecken befreit? Der Mensch ist in einem technischen Sinne wandelbar geworden. Vielleicht wird sein Körper demnächst eine Apparatur, d. h. eine Zurüstung ohne Anbindung an einen identischen Kern sein. Die Zurüstung wäre dann in gewisser Weise abgekoppelt und möglicherweise in einem be­ stimmten Rahmen autonom. Sie würde vielleicht das vermeintlich Beste für die­ ses Wesen tun, aber nicht notwendigerweise in dessen Sinne agieren. Wir müssen davon ausgehen, dass ein aufgerüstetes und vernetztes posthumanes Wesen in seinem körperlichen Fundament und Selbstempfinden gegenüber dem heutigen Menschen fundamental verändert ist.

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Leibverstehen, Sel bstverstehen und Weltverstehen

Gernot Böhme sieht den Gründungsakt der Unterscheidung von Leib und Körper in Descartes ontologischer Unterscheidung von res cogitans und res extensa. In diesem Ereignis findet s. E. die Entdeckung des eigenen Leibes als der eines ande­ ren statt, den man von der Distanz her begreift. Der Leib ist damit ein Körperding, das ganz dem forschenden Blick des Arztes preisgegeben ist. Der eigene Leib wird zum objektiven Körper transformiert, womit eine Verdrängung des Leibes als be­ seelte und eigenständige Entität stattfindet (vgl. Böhme 1985, S. 114 ff.). Der Leib wird also zu etwas transformiert, das sich aus der Vollzugsperspektive löst. Diese kann aber aus Verstehensprozessen prinzipiell nicht herausgelöst werden, wes­ wegen der Körper etwas ist, das in einem strengen Sinne im Verstehensprozess nicht vorkommt. Dies ist in einem doppelten Sinne zu verstehen. Wir müssen zum einen jede Sinnanmutung selbst vollziehen. Keine Verstehensleistung kann uns abgenommen werden. Zum anderen erbringen wir beim Verstehen auch eine Ori­ entierungsleistung, denn etwas verstehen heißt, es in orientierender Hinsicht zu überschreiten, allerdings nicht in beliebiger Weise. Wir verstehen eine Kultur, wenn wir ihren Gang fortzeichnen und uns zu ihr positionieren. Entscheidend für die Orientierung ist die Bestimmung des eigenen Standorts. Ich kann etwas nur verstehen, wenn ich mich meines eigenen Standorts versichert habe bzw. wenn dieser Standort im Verstehensprozess einen Ausdruck findet. Verstehende Hand­ lungen sind Beteiligungshandlungen. Verstehensleistungen haben projektive Anteile. Diese sind aber verknüpfbar mit dem eigenen und dem zu verstehenden Lebenshorizont. Verstehensleistungen benötigen zwar Spielräume, sind aber keine spontanen Schöpfungsleistungen. Sie stehen immer in enger Anbindung an das zu Verstehende und müssen auch tech-

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nische oder naturwissenschaftliche Erklärungen zur Kenntnis nehmen. Es wäre ein Missverständnis zu glauben, dass erklärende Prozesse aus Verstehensprozes­ sen ausgeblendet werden könnten. Es ist allerdings notwendig, dass man sie auch als historische versteht. Die Erklärung physikalischer Prozesse mithilfe des Äthers als ein Medium für die Lichtausbreitung, war - wenngleich die Existenz des Äthers widerlegt wurde - als Erklärungshypothese durchaus sinnvoll. Auch die moderne Wissenschaft operiert mit ähnlichen, allerdings meist metaphorisch verstandenen, Begriffen (Schwarze Löcher). Wissenschaft ist selbst ein geschicht­ liches Geschehen, in dem es zu Neuerungen, Erneuerungen, zu paradigmatischen Perspektivenwechseln und Systemzusammenbrüchen kommt. Dass Verstehen keine beliebige Konstruktion ist, zeigt sich u. a. darin, dass Ver­ stehensleistungen nicht jenseits anderer Verstehensleistungen erbracht werden können. Auch wenn es nicht das richtige Verstehen geben mag im Sinne einer al­ lein gültigen Sicht von Zusammenhängen, so gibt es sehr wohl ein Falschverste­ hen. Verstehen ist an Vorgegebenes gebunden. Immer haben wir im Verstehen eine Referenz sichtbar zu machen. Und schon in der Sichtbarmachung artikuliert sich ein Vermittlungsproblem, das eine willkürliche Konstruktion begrenzt. Zuletzt werden Konstruktionen durch das Moment der Widerständigkeit einer Sache verhindert. Wir können einen Sachverhalt nicht beliebig konstruieren, weil er unserem Formwillen Widerstand bietet. Die Dinge und Sachverhalte sind nicht so, wie wir wünschen. Aus diesem Grunde lernen wir und aus diesem Grunde müssen wir uns auf die Dinge einlassen. Verstehen heißt insofern immer auch Widerständigkeit und Grenzen erfahren. Grenzen der Konstruktion werden nicht zuletzt in sozial historischen Fügungen sichtbar. So sind landsmannschaftliche Prägungen oft historischen Zufällen ge­ schuldet, etwa der Einbettung von Regionen in einen Herrschaftsbereich, der die­ se Regionen zu gemeinsamen Erfahrungen zwingt. Dennoch sind Mentalitäten nicht beliebig konstruierbar. Es spielen Lebensformen, Sprache, historische Son­ dererfahrungen, religiöse Dispositionen usw. eine Rolle. Es gibt Faktoren, die eine eigene Widerständigkeit bzw. Trägheit besitzen, die weder eliminiert, noch um­ gangen werden können. Projektive Momente werden also von der Gravität oder Widerständigkeit anderer Momente gebremst. Dies bedeutet nicht, dass man die klassische Unterscheidung von Bona-fide-Objekten und Fiat-Objekten zur Grund­ lage der Differenz von konstruktiven und nichtkonstruktiven Momenten machen kann. So sind nicht nur die durch menschliche Akte eingeführten Fiat-Objekte Ausdruck von Konzeptualisierungen, sondern auch die als von menschlichen Ak­ ten vermeintlich unabhängigen Bona-fide-Objekte. Wir können grundsätzlich fra-

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gen, ob es Bona-fide-Objekte in einem strengen Sinne überhaupt gibt, da die ver­ meintliche Unabhängigkeit solcher Objekte aufgrund von Abstraktionen und per­ spektivischen Reduzierungen gewonnen wird. Widerständigkeit und Gravität von Objekten ist keineswegs nur eine Frage hyletischer Unverfügbarkeit, sie kann auch an soziale, psychologische, logische oder ideelle Faktoren gebunden sein. Die Erfahrung, dass sich die Dinge unseren Wünschen nicht fügen, machen wir im praktischen Alltag wie in der Mathematik und nicht zuletzt in unserer leiblichen Erfahrung. Mein Leib entlässt mich nicht, er ermöglicht mir Weltzugriffe und In­ teraktionen, und verweigert sie mir zugleich. Auch wenn wir danach streben, un­ seren Leib in unsere Verfügbarkeit zu bringen, bedeutet dies nicht, dass wir ihn für beliebige Zwecke gestalten können. Er ist keine Universalmaschine. Wir kön­ nen ihn immer nur in bestimmten Hinsichten optimieren. Es kommt darauf an, welche Präferenzen wir setzen. Muskeln, die bei einem Sprinter zu Leistungsstei­ gerungen führen, würden bei einem Marathonläufer Leistungseinbrüche bewir­ ken. Widerstandserfahrung ist eine elementare Bedingung unserer intellektuellen und organischen Existenz, die uns zugleich herausfordert und begrenzt. Die Ausbil­ dung der eigenen personalen Identität hängt in elementarer Weise mit ihr zu­ sammen. In dieser Erfahrung, die Willens impulse hemmt und uns zum Lernen nötigt, findet jeder Konstruktivismus seine Grenze. Zunächst ist Verstehen an die Vermittlung unserer Sinne gebunden, aber natür­ lich auch an intrakorporale Vermittlungsleistungen. Wir sehen bekanntlich nicht nur mit dem Auge, sondern sozusagen auch mit unseren Beinen. Die Funktionali­ tät der Sinne hängt auch von Bewegungsleistungen ab. Ein erstarrtes Auge sieht nichts. Wahrnehmungen sind wiederum von kulturellen Präferenzen abhängig. Wir nehmen die Welt durch eine kulturelle Brille wahr. Erst durch ein symboli­ sches Schema erlangen Sinneseindrücke Bedeutung. Cassirer spricht hier von sy mbolischer Prägnanz. Dabei spielen auch Sinnespräferenzen eine Rolle. Es gibt sehende, hörende und tastende Kulturen, also kulturabhängig unterschiedliche sinnliche Präferenzen. Präferenzen gründen in Lebensformen und Überlebens­ notwendigkeiten, die unsere Sinne unterschiedlich formen und uns Weltzusam­ menhänge unterschiedlich erleben lassen. Buschmänner reagieren auf Sinnesein­ drücke anders als wir und nehmen unterschiedliche Verknüpfungen von Sinnes­ eindrücken vor. Weltverstehen ist auch eine Verknüpfungs- bzw. Zuordnungs leis­ tung, die entsprechend der Präferenzen unterschiedlich ausfällt. Ändert sich die eigene organische Beschaffenheit und die kulturelle Prägung, ändert sich auch die Selbst- und Weltwahrnehmung. Für Thomas Fuchs artikuliert sich der Zusammenhang von Selbst- und Weltver-

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stehen in einer dynamischen Interaktion von Gehirn, Körper und Umwelt (vgl. Fuchs 2008). Bezugnehmend auf Überlegungen von Jakob von Uexküll (vgl. Uex­ küll 1928) und von Viktor von Weizsäcker zum Gestaltkreis (vgl. Weizsäcker 1986) legt er dar, dass zwischen Gehirn, Körper und Umwelt eine permanente Vermittlung stattfindet und keines dieser Momente dem anderen über- oder un­ tergeordnet werden kann. Dabei ist die sensomotorische Verknüpfung ein we­ sentliches Moment des Leibgedächtnisses. "Erst der Gestaltkreis von Bemerken und Bewirken, Wahrnehmen und Bewegen erlaubt den geschickten Umgang mit den Dingen" (Fuchs 2008. S. 248). Eine besondere Rolle spielt dabei auch die Zwi­ schenleiblichkeit als "übergreifendes, intersubjektives System, in dem sich von Kindheit an leibliche Interaktionsformen bilden und immer neu aktualisieren" (ebd. S. 89). Gedächtnisleistungen auf neuronale Prozesse zurückzuführen, ist für ihn ein ans Absurde grenzender Reduktionismus. Fuchs hebt den unauflösbaren Verbund von Leib und Lebenswelt hervor. Gedächtnisleistungen können entspre­ chend nicht weltlos durch ein neuronales Paralleluniversum gedacht werden. Jede verstehende Tätigkeit ist ein Überschreiten des nur Gegenwärtigen und eine verknüpfende und bewertende Tätigkeit. Nicht zuletzt heißt Selbstverstehen. sich gegenüber seinen eigenen Dispositionen und Potenzialen positionieren zu kön­ nen. Dies schließt im Falle eines technisch aufgerüsteten Körpers auch das Ver­ stehen technischer Prozesse ein. Diese werden allerdings unter dem Gesichts­ punkt möglicher Effekte fokussiert, denn es geht auch um eine Orientierungsleis­ tung, die auf Künftiges fixiert ist. Die mit dem Verstehen einhergehende Bewer­ tung markiert die Relevanz des zu Verstehenden. Leib-, Welt- und Selbstverstehen sind keine getrennten Verstehensbereiche, son­ dern korrelativ aufeinander bezogen. Der Leib ist ein weltvermittelndes Welt­ stück, zugleich Teil eines physischen und sozialen Systems der Außenwelt und einer psychischen Innenwelt, die nach besonderen Regeln die Welt konstituiert. Weltverstehen heißt einen Horizont herstellen, der die einzelnen, konkret gege­ benen Weltstücke transzendiert, selbst aber kein Ding ist, sondern Dinge zur Er­ scheinung bringt. Welt ist das, was sich nur symbolisch erschließt, eine uner­ reichbare, aber der Orientierung dienende absolute Metapher im Sinne Blumen­ bergs. Selbstauslegung geht zwar nicht in ihr auf, aber sie findet auch nicht unab­ hängig von ihr statt. Zu ihr gehören Reflexions- und Bewertungsleistungen, die den eigenen Standort und die eigene Besonderheit in Differenz zur Welt artikulie­ ren. Zudem setzt Selbstauslegung Präferenzen und Hierarchien, die zwar kulturell disponiert sind, sich aber nicht mit dieser Disposition decken. Als ein Grundproblem des Leib-, Selbst- und Weltverstehens könnte sich erwei-

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sen, dass sich mit der Aufrüstung unseres Körpers auch eine Entindividualisie­ rung vollzieht. Die Individualität des Verstehenden ist aber eine Voraussetzung für den Auslegeprozess. Verstehensleistungen transzendieren das, was wissen­ schaftlich erfass bar ist, weil im Verstehen niemals nur Allgemeines, sondern im­ mer Besonderes erfasst wird, d. h. sich ein besonderes Verhältnis zwischen dem zu Verstehenden und dem, der versteht, artikuliert. Die Erfassung des Besonde­ ren durch die Statuierung einer besonderen Beziehung gehört zum Verstehen. So zeigt sich, dass genau das, was Verstehen auszeichnet, etwas ist, was wissen­ schaftlich nicht vollständig erfasst werden kann. Denn Gegenstand der Wissen­ schaft ist nicht das Besondere: De singularibus non est scientia. Verstehen findet also immer ein Stück jenseits der Wissenschaft statt. Dies heißt nicht, dass Ver­ stehen eine unwissenschaftliche Weise der Welterfassung ist, sondern nur, dass sie nicht in wissenschaftlicher Berechenbarkeit aufgehen kann. Verstehen ist ein Vorgang, der ein Stück weit ungesichert ist, da er immer zu Bewertungen gelan­ gen muss aufgrund von letztlich unvollständigen Datenlagen und von Präferenz­ bildungen, die jederzeit situativ verändert werden können. Als in die Zukunft ge­ richtetes fortwährendes Orientierungsgeschehen weist Verstehen ein Moment der Unsicherheit auf und kann insofern nie als abgeschlossen gelten. Alles Ver­ stehen ist letztlich ein Annähern. Der Verstehende ist damit, wie Gadamer ausge­ führt hat, in ein Wahrheitsgeschehen einbezogen, ja, er ist selbst Teil dieses Ge­ schehens. In Bezug auf das Verstehen des eigenen Leibes heißt dies freilich auch, dass die­ ser in seinem Entstehen und Vergehen, in seinen Potenzialen und Konkretisie­ rungen bis zu seinem Tod sozusagen ein unvollendetes Werk ist. Leibverstehen ist wesentlich unabgeschlossen. In seiner aufgerüsteten Form ist er etwas, das nur verstanden werden kann, wenn uns auch technische und biologische Erklärungen zur Verfügung stehen, die in den Verstehensprozess zu integrieren sind. Die entscheidenden Fragen, die wir als Verstehende zu beantworten haben, werden folgende sein: Wird die techni­ sche Aufrüstung des Leibes zu einer Verkörperung desselben führen? Wird die für den Verstehensprozess notwendige Positionalität des Verstehenden nicht mehr oder nur eingeschränkt gewährleistet werden können? Wird ein posthu­ manes, zum Biofakt und Cyborg transformiertes Wesen überhaupt noch zu Ver­ stehensleistungen imstande sein?

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Hermeneutik als Grenz- und Zukunftswissenschaft

Kommen wir zu abschließenden Überlegungen, die den Status der Hermeneutik

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im Allgemeinen und der Hermeneutik bei der Erfassung einer Sekundären Leib­ lichkeit im Besonderen betreffen. Hermeneutik ist nun eine Grenzwissenschaft in mehrfachem Sinne. Sie markiert 1) die Grenze wissenschaftlicher Welterfassung, da sich in ihr die Grundeinsicht artikuliert, dass die Welt nicht auf Kalküle reduziert werden kann. Reduktionen sind zwar eine Conditio si ne qua non für wissenschaftliche Er­ kenntnis und technische Produktivität, sie können aber eine Sache niemals voll­ ständig erklären. Sie markiert 2) die Grenze der Historizität. Die positive Wissenschaft bleibt in der Gegenwärtigkeit gefangen und thematisiert nicht ihre Voraussetzungen, macht ihre eigene Historizität nicht zum Gegenstand. Natürlich ist sie selbst ein Gebilde, das eine Geschichte hat, die aus Paradigmenwechseln, Erneuerungen und Aufhe­ bungen besteht. Historizität lässt sich aber nicht in Zeitkalkülen darstellen, ist nicht die Ordnung des Nacheinander, sondern permanente Bewertung, Überlage­ rung und Archivierung der Zeit. Grenzwissenschaft ist sie 3) auch in dem Sinn, dass sie sich im Fluss der "Leben­ digen Gegenwart" (Held 1966), also in einer in eine offene Zukunft fließende Ge­ genwart positioniert. Diese ist nie fixierbar. Das Fixierte ist nicht das fließende Jetzt, sondern ein Rückgriff auf Gewesenes. Grenzwissenschaft ist sie 4), weil sie den Punkt markiert, an dem jede distanzier­ te Betrachtung an eine Grenze gelangt. Ich kann mich in einer hermeneutischen Beteiligungshandlung nicht aus dem zu erfassenden Weltzusammenhang heraus­ nehmen, bin vielmehr existenziell am vergangenen und gegenwärtigen Weltge­ schehen beteiligt. Der späte Dilthey, Heidegger, Gadamer u. a. haben Verstehen jenseits eines methodischen Weltzugriffs der Geisteswissenschaften als ein Cha­ rakteristikum eines Wesens begriffen, das sich immer auch zu sich selbst verhält, Hermeneutik also existenzial gewendet. Sie ist also mehr als eine Methode und thematisiert immer auch Lebensbedeutsamkeit. Sie ist 5) insofern eine Grenzwissenschaft, als sie alles Bestehende und Gewesene auf eine offene Zukunft hin überschreitet. Hermeneutik ist transzendierend, the­ matisiert damit Dinge, die noch nicht realisiert sind, aber sozusagen virtuell im Bestehenden und Gewesenen liegen. Als orientierende Wissenschaft trägt sie zur Verständigung über Künftiges in der Gegenwart bei. Armin Grunwald hat im Zusammenhang mit der Bewertung technischer Visionen von der Notwendigkeit eines hermeneutischen Zugriffs gesprochen, der zu kei­ nem Verständnis künftiger Welten führe, sondern zu einem besseren Selbstver-

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ständnis, denn alles Reden über die Zukunft zeige nur, wie wir gegenwärtig über die Zukunft denken und uns ihr gegenüber positionieren (Grunwald 2012, S. 156 f.). Dies trifft zu, wenn es um die Frage eines gesicherten Wissens geht. Den­ noch fokussiert Hermeneutik ein besonderes Verhältnis zwischen uns gegenwär­ tig Auslegenden und - in Bezug auf sich in der Entwicklung befindliche Zukunfts­ technologien - den Potenzialen einer technischen Vision. Dabei geht es nicht zu­ letzt um die Steuerung der Entwicklung. Wir erlangen Einsichten über Hand­ lungsmöglichkeiten, schließlich untersteht Technik menschlichen Zwecksetzun­ gen, die verändert werden können. Friedrich Wilhelm Bouterwek hat bereits in seinem Konzept des absoluten Virtu­ alismus (Bouterwek 1799) betont, dass Virtualität nicht von Realität geschieden werden kann und nichts Anderes als relative Realität ist. Es wirken in und außer­ halb von uns Kräfte, die die Realität als Moment eines virtuellen Ganzen erschei­ nen lassen. Virtualität ist für ihn letztlich absolute Realität, was sie zum Schlüs­ selbegriff der Philosophie prädestiniert. Philosophie ist Möglichkeitswissenschaft, allerdings nicht nur in einem logischen, sondern in einem inhaltlichen, also durch das Gegenwärtige und Gewesene motivierten Sinn. Als solche ist sie auf Künftiges gerichtet. Wir legen Potenziale im Hinblick auf unsere gegenwärtige Existenz aus. Die ausgelegten Potenziale müssen als Momente der Realität gesehen werden, die nicht von letzterer abgezogen werden können. Realität ist selbst im Fluss und kann nicht auf einen gegenwärtigen Istzustand reduziert werden. Hermeneutik kann nun insofern auch als Zukunftswissenschaft bezeichnet wer­ den, als sie in ihrer orientierenden Funktion auf Künftiges gerichtet ist. Sie schafft zwar kein Wissen vom Künftigen, bereitet aber auf Künftiges vor. Wir beurteilen Potenziale mit unseren gegenwärtigen Wertmaßstäben. Allerdings ist auch nur so die Relevanz des Zukünftigen für unser Leben einzusehen. Auslegung kann als Beteiligungshandlung nicht von uns und unserer Lebenssituation losgelöst be­ trachtet werden. Wir erfassen ein Potenzial gegenwärtig, sprechen in der gegen­ wärtigen Sprache darüber und beurteilen es nach gegenwärtigen Maßstäben. Das vermeintlich Defizitäre der Hermeneutik erweist sich aber als eine Stärke: Sie lotet Zukünftiges nach den Maßstäben gegenwärtiger Relevanz aus und belegt dadurch ihre Lebensbedeutsamkeit. Entscheidend ist, dass wir in der Auslegung des künftig Seienden zu einer gegenwärtigen Selbstbestimmung und zum Han­ deln in der Gegenwart genötigt werden. Wenn wir heute unseren Leib auslegen, tun wir das als Angehörige der hochtech­ nisierten ersten Welt, in der der eigene Leib nicht mehr das selbstverständlich Vorgegebene ist, das sich unserem technischen Gestaltungswillen entzieht. Auch wenn die Gestaltung des eigenen Leibes in allen Kulturen eine zentrale Rolle

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spielte und spielt, so hat die technische Gestaltung hier eine andere Qualität als das, was wir aus Trainingsprozessen, Mode oder Schönheitschirurgie kennen. Es geht nicht um Schönheits korrekturen, sondern um die radikale Veränderung körperlicher Potenziale, die uns weniger verletzlich, krank und sterblich machen soll. Das transhumane Wesen, das Gegenstand von Enhancement-Fantasien ist, macht Aussagen über uns, unsere Einstellungen, Hoffnungen und Befürchtungen, aber durchaus auch - so sie denn eine wissenschaftliche Basis haben - über tech­ nische Potenziale. In der Auslegung gegenwärtiger technischer Handlungsoptionen zur Steigerung körperlicher Fähigkeiten muss unterschieden werden zwischen dem, was man verbessern, und dem, was man optimieren nennt. Grunwald führt dazu aus: "Während sich das Verbessern auf die Veränderung eines Ausgangszustands unter dem jeweiligen Kriterium der Verbesserung bezieht, unterliegen Optimieren und Perfektionie­ ren weitergehenden Erfolgsbedingungen. Im Verbessern geht es nur um die Richtung ei­ ner Veränderung, beim Optimieren und Perfektionieren hingegen um die Orientierung an einem vorgestellten End- oder Zielzustand. Verbessern ist zwar richtungsgebunden, aber im Maß offen. Auch eine noch so kleine Verbesserung ist eine Verbesserung. Eine Optimie­ rung hingegen zielt auf einen ,optimalen' oder eben auf einen ,perfekten' Zustand, enthält also eine teleologische Dimension" (Grunwald 2012, S. 143).

Tatsächlich ist in vielen Steigerungsfantasien letztlich das Ziel einer totalen Ver­ fügbarkeit über die eigene Leiblichkeit angestrebt, also die Abkoppelung der ei­ genen Existenz von seinen naturhaften Verstrickungen. Es artikuliert sich hier um es mit Heidegger zu sagen - das stellende metaphysische Denken, das alles Ereignishafte auszuschließen trachtet. Die Verbesserung körperlicher Potenziale gilt seit Kapps Projektionstheorie (vgl. Kapp 1877) als Fundament des techni­ schen HandeIns, mit dessen Hilfe der Mensch seine Mängel kompensiert. Der Un­ terschied zwischen einem Verbessern und einem teleologischen Optimieren scheint nun darin zu liegen, dass es Verbesserungen - wie ausgeführt - immer nur in bestimmten Hinsichten gibt, und dass jede Verbesserung andere Möglich­ keiten beschneidet. Die Veränderung der Lebensweise oder der Intention kann aus der Verbesserung eine Verschlimmbesserung machen. Bei der teleologischen Optimierung geht es aber letztlich um eine völlige Loslösung des Menschen aus der biologischen Evolution bzw. um eine Unterwerfung der biologischen Evoluti­ on unter technische Handlungsoptionen. Sekundäre Leiblichkeit ist nun Ausdruck einer letzten Stufe eines positionalen Selbstverständnisses, bevor die Rede von einem Leib, also von etwas, das sich einer totalen Skalierung entzieht, sinnlos wird. Eine Hermeneutik der Leiblichkeit lotet die Grenzen eines existenziellen Selbstverständnisses aus, das sich jenseits allgemeiner Erfahrungen und wissenschaftlicher Zugriffe positioniert. Die Kolo-

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KLAUS WIEGERLING

nialisierung des Leibes hat begonnen, aber es zeigt sich Widerständigkeit, und zwar technischer, sozialer, ökonomischer und psychischer Art. Die technische Widerständigkeit artikuliert sich auch in Analogie zur Pascal'schen Wissenskugel. Mit jedem gelösten technischen Problem wächst die Zahl der ungelösten Proble­ me. Die technischen Probleme, die mit jeder technischen Lösung wachsen, erwei­ sen sich auch als Probleme des Selbst- und Weltverständnisses, denn sie sind Merkmal der fortwährenden Infragestellung des alten Menschen, der sich der Er­ eignishaftigkeit stellen muss. Fest steht: Solange eine hermeneutische Selbstposi­ tionierung stattfindet, ist das trans humane Wesen noch nicht erreicht. Literatur Anders, G. (1956): Die Antiquie rtheit des Menschen. Band I: Ü ber die Seele im Zeitalter der zweiten industriellen Revolution. M u nchen: CH. Beck. Avicenna, L. (1972): Liber De Anima. Lovain. Bouterwek, F. (1799): Idee einer Apodiktik. Halle: Renger. Böhme, G. (1985): Anthropologie in pragmatischer Hinsicht: Darmstädter Vorlesungen. Frankfurt a.M.: Suhrkamp. de Vriend, H . (2006): Constructing Life . Early social reflections on the emerging field of synthetic biology. The Hague: Rathenau Institute. Fuchs, T. (2008): Das Gehirn - ein Beziehungsorgan. Eine phänomenologisch-ökologische Konzeption. Stuttgart: Kohlhammer. Fuchs, T. (2008): Leib und Lebenswelt: Neue philosophisch-psychiatrische Essays. Kusterdingen: Graue Edition. Grunwald, A. (2012): Technikzukunfte als Medium von Zuku nftsdebatten und Technikgestaltung. Karlsruhe: KI Scientific Publishing. Held, K. (1966): Lebendige Gegenwart: Die Frage nach der Seinsweise des transzendentalen Ich bei Edmund Husserl, entwickelt am Leitfaden der Zeitproblematik. Den Haag: Springer. Janich, P. (2006): Kultur und Methode: Philosophie in einer wissenschaftlich geprägten Welt. Frankfurt a.M.: Suhrkamp Verlag. Hering, E. (1876): Ü ber das Gedächtnis als allgemeine Funktion der organisierten Materie. Wien: Gerold"s Sohn. Kuchenhoff, J. & Wiegerling, K. (2008): Leib und Körper. Philosophie und Psychologie im Dialog. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht. Kapp, E. (1877): Grundlinien einer Philosophie der Technik. Z u r Entstehungsgeschichte der Kultur aus neuen Gesichtspunkten. Braunschweig: Meiner. Merleau-Ponty, M . (1966): Phänomenologie der Wahrnehmung. Berlin: de Gruyter. Nicolelis, M. (2001): Actions from thoughts. In: Nature, 409 (6818), S. 403-407. Plessner, H. (1975): Die Stufen des Organischen und der Mensch. Einleitung in die philosophische Anthropologie. Berlin: de Gruyter. Putnam, H. (2004): Die Bedeutung von ,Bedeutung'. Frankfurt a.M.: Klostermann. Uexkull, J. J. von (1928): Theoretische Biologie. Berlin: Suhrkamp. Vico, G. (1725): Principj di Scienza Nuova d'intorno alla comune Natura delle Nazioni. Neapel. Weizsäcker, V. von (1986): Der Gestaltkreis. Theorie der Einheit von Wahrnehmen und Bewegen. Stuttgart: Georg Thieme Verlag. Wiegerling, K. (2011): Philosophie intelligenter Welten. Munchen: Fink.

WOLFGANG NEUSER

Der menschliche Beobachter in der Wissensgesellschaft

Die Entstehung der Wissensgesellschaft ist von epochaler Bedeutung für die westliche Kultur. Die kulturelle Entwicklung hat dabei informatische Techniken einerseits möglich gemacht, und andererseits sind die informatischen Techniken und ihre Entwicklung aber auch prägend für die Wissensgesellschaft, und zu­ gleich ermöglichen sie die Entstehung dieser neuen Epoche. In fast alle Lebensbe­ reiche ist inzwischen eine ordnende, strukturierende und die Prozesse leitende Technik eingezogen: Datenverarbeitung aller Art, raum- und zeitstrukturierende Prozessorganisationen, Maschinen leitende Abläufe, Dokumentationen in fast al­ len Lebensbereichen, Diagnostizieren von Krankheiten und Therapieplanung, Prothetik, Bereitstellen und Vorhalten von Informationen über alle Gegenstands­ bereiche der Welt, Verlaufsorganisation von Verwaltungsabläufen und deren Kontrolle, Pflege schwerstkranker Menschen, ferngesteuerte Waffen, Organisati­ on und Gestaltung unmittelbarer Lebensbedürfnisse bis zur Erstellung von Nach­ richtenbeiträgen und Versorgungsplänen für jedes Lebensalter und sehr vieles mehr. Die informatischen Techniken bearbeiten nicht, wie die klassischen Techniken, Materialien, wie Werkstücke aus verschiedensten Werkstoffen, sondern sie ver­ arbeiten Algorithmen und Verlaufsprozesse. Arbeitsgegenstand der informati­ schen Techniken ist, was die Organisation von Abläufen bewirkt und ausmacht. Insofern sind die neuen Techniken intelligente Techniken. Sie beruhen auf der Möglichkeit, gedeutete Daten zu speichern, diese wieder abzufragen und auf ihnen basierend Entscheidungsprozesse (maschinell) auszuführen. Im Wechsel­ bezug der unterschiedlichen Daten und deren Verarbeitungen und Prozesssteue­ rungen wird eine intelligente Umwelt geschaffen, die nicht mehr unmittelbar von Menschen gestaltet wird, sondern allenfalls von Menschen und/oder für Men­ schen initiiert wurde. Diese intelligente Umwelt umfasst alles, was durch die Le­ bensgestaltung und die Bedürfnisse der einzelnen Menschen, sowie der gesamten Gesellschaft und ihrer Teile sich ausbildet. Die sich selbst durch vorgegebene Ab­ läufe gestaltende intelligente Umwelt schafft sich in ihren Einzelaktionen selbst aus sich heraus, indem sie sich in ihren Teilbereichen (einschließlich der indivi­ duellen Lebensbereiche einzelner Menschen) auf sich selbst bezieht und ihre ei­ genen Zwecke und Ziele festlegt. In dieser intelligenten Umwelt verhält sich die

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intelligente Technik interaktiv und mitlernend.1 Sie ist kontext- und situationsab­ hängig (vgl. Rammert 2007, S. 128). In der heraufziehenden Wissensgesellschaft wird die intelligente Technik zunehmend autonom und in ihrem Vollzug von Menschen unabhängig. Das deutet darauf hin, dass sich im Algorithmus und in den Prozessen, in denen sich Teilbereiche der intelligenten Umwelt oder andere Aggregate der intelligenten Umwelt aufeinander beziehen, implizit oder explizit Deutungskontexte für Handlungen von Aktoren und Sensoren ergeben, die dann zu weiteren Ausführungen und Prozessen führen, die ihrerseits wieder der intel­ ligenten Umwelt zuzurechnen sind. Die intelligente Technik gründet mit ihren algorithmischen und prozeduralen Verfahren und Deutungen eine neue intelligente Umwelt, die sich vollständig von der natürlichen Umwelt unterscheidet, wie sie Jakob Johann von Uexküll als na­ türlichen Lebensraum beschrieben hat. Die intelligente Umwelt ist einerseits (wie die natürliche Umwelt) Lebens- und Existenzbedingung für die Menschen; aber andererseits entwickelt sich diese Welt (anders als die natürliche Umwelt) in ra­ tionaler Autonomie und Selbstbezüglichkeit. Diese intelligente Umwelt stellt das aktive, sich ständig mit unglaublicher Geschwindigkeit ergänzende und korrigie­ rende Wissen dar. Die Legitimität und Begründung dieser Entwicklung hängt al­ lerdings nicht an den Entscheidungen eines Wissen konstituierenden Subjekts, sondern bildet sich durch die Selbstkonstitution der intelligenten Umwelt. Die Konstitution dieses Wissens in seinem ständigen Wandel lässt sich als ein sich selbst organisierender und sich selbst stabilisierender Prozessverlauf aller Aktio­ nen der Aktoren und aller Filter aller Sensoren verstehen. Was hier Wissen er­ zeugt, sind die sich selbst organisierenden Prozesse, die durch informatische Technik zu einer intelligenten Umwelt beitragen und in ihr gesteuert werden und nicht ein in kritischer Selbstreflexion Wissen schaffendes und begründendes Subjekt. Materiell sind diese sich selbst organisierenden Wissensprozesse der intelligen­ ten Umwelt Zustände von Servern, Datenträgern, Aktoren und Sensoren von Computersystemen, die als physische Träger von Daten oder informatischen Pro­ zessen fungieren und über ihre peripheren Einheiten das Ausführen automati­ sierter Handlungen steuern. Neben solchen Computersystemen und -netzen gibt es autonome Maschinen, die mobil oder stationär sein können. Hinzu kommen Roboter, die als humanoide Roboter ihr Aussehen dem Erscheinungsbild von Menschen angleichen können. Ein weiterer Bestandteil der Wissensprozesse in der intelligenten Umwelt sind Cybugs und Cyborgs, die aus der Kopplung von bio1 Vgl.: https://www.bmbf.de/de/intellige nte-technik-hilft-de n-menschen-1961. html (a bgefragt a m 16.4.2016, 17 Uhr)

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logischen und informationstechnischen Systemen entstehen. Beispiele sind die bloßen Platinen, die auf einem Käfer implantiert werden (Cybugs) oder Prozesso­ reinheiten, die in Menschen und Säugetiere zu therapeutischen Zwecken oder als Informationsspeicher eingepflanzt werden (Cyborgs)2. Alle diese Wissen prozessierenden Systeme stellen einen Teil der intelligenten Umwelt dar und sind keine Subjekte (vgl. Neuser 2013, S. 133 ff.). Selbstverständ­ lich sind auch humanoide Roboter keine Menschimitate, sondern stellen im klas­ sischen Sinne Maschinen dar, die sich freilich der intelligenten Technik bedienen. Auch die "künstliche Intelligenz" ist kein Imitat menschlicher oder tierischer In­ telligenz, sondern eine eigene Art, "informatische Erfahrungen" der Welt zu deu­ ten und daraus ausführbare "Handlungen" in der Welt abzuleiten.3 Die Logik die­ ser Deutung wird bei den informatischen Techniken durch die Programmalgo­ rithmen und deren Verlaufsprozesse bestimmt (vgl. Neuser 2013, S. 278-288). Dabei spezifiziert die selbstorganisierte Stimmigkeit des Interventionsverhaltens informatischer Technik die Deutungsgründe für das intelligente Verhalten der informatisch geschaffenen intelligenten Umwelt. Unter diesen Voraussetzungen kann man nicht mehr davon ausgehen, dass Wis­ sen nur durch Subjekte konstituiert wird, sondern es gibt vielmehr eine Form von Wissens konstrukt, das unabhängig von einem Subjekt funktioniert. Damit ver­ schwindet übrigens das Problem, zwischen künstlicher Intelligenz und natürli­ cher Intelligenz zu unterscheiden. Dieses Problem der grundlegenden Differenz zwischen natürlicher, menschlicher Intelligenz und künstlicher Intelligenz ist ei­ ne Folge des cartesianischen Subjektbegriffs der Neuzeit. Dieses Problem ergibt sich aus der neuzeitlichen Annahme, dass Wissen ist, was in einem Subjekt kon­ stituiert wird, wenn zusätzlich in der Aufklärung behauptet wird, dass ein Subjekt immer ein Mensch ist. Aber "Subjekt" bedeutet nach Descartes' argumentativer Herleitung nur die logische Begründungsstruktur von Wissen in der sich an me­ thodischem skeptischem Zweifel orientierenden Selbstreflexion. Das Subjekt als Konstitutionsfunktion von Wissen hat jedoch bereits Kant (in seinen Kritiken) sorgfältig vom einzelnen Menschen unterschieden, und es ist unter den Bedin­ gungen der intelligenten Techniken nicht mehr haltbar. Künstliche Intelligenz bezeichnet eine spezielle Art und Weise, wie Wissenskon­ zepte entstehen oder verarbeitet werden. Die Informatik unterscheidet zwischen 2 Vgl.:

http://www.spiegel. de/gesu nd heit/d iagnose/q uersch n ittsge laeh mter-ste uert-a rm-m it-chi p-i m-hi rn-a1086927. htm I (a bgefragt am 16.4.2016, 17 Uhr). Dazu gehören motorisie rte ürthessen, robotische Exoskelet­ te und anderes 3 Vgl.: http://www.spiegel.de/a uto/a ktue li/sei bstfah rende-a utos-bu ndesregieru ng-e rwe ite rt-rechtsgru nd lage­ a-1086946.html (abgefragt am 16.4.2016, 17 Uhr). Bei sel bstfahrenden Autos werden danach in Deutschland und schon länger i n den USA "Computer und menschliche Fahrer gleichgestellt"

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einer schwachen Form oder starken Form. Die schwache Form künstlicher Intel­ ligenz enthält das, was man mit einfacher Informatik herstellen kann, und die starke Form läge vor, wenn die Roboter anfangen würden, Gefühle zu entwickeln. Da die Psychologie nicht so genau sagen kann, was Gefühle sind, ist auch die Übersetzung in Maschinenstrukturen schwierig. Intelligenz ist der Ort, an dem Wissen verarbeitet wird. Ursprünglich meint Intelligenz die Leistung, die Intelli­ genztests erfassen. Diese Testverfahren definieren Intelligenz. Bei diesen statis­ tisch validierten Messverfahren wird bewertet, wie bestimmte mentale Leistun­ gen vollzogen werden können und mit welcher Qualität und mit welcher Wir­ kung. Anhand dieser Intelligenztests lassen sich Intelligenzleistungen spezifizie­ ren, die man dann eventuell technisch umsetzen kann. Abhängig von den Intelli­ genztests ergeben sich unterschiedliche Typen (Faktoren) von Intelligenz. Man kann soziale Intelligenz messen oder Leseintelligenz oder anderes. Die grundle­ gende Differenz zwischen dem, was in den Maschinen passiert, und dem, was in einem Gehirn passiert, verschwindet, wenn man die Intelligenzleistung nicht mehr an den Subjektbegriff bindet und stattdessen annimmt, dass Wissen, das zu Intelligenzleistungen befähigt, auf andere Weise als in einem Subjekt zustande kommt. Der entsprechend veränderte Wissensbegriff in der gegenwärtigen Wis­ sensgesellschaft trifft auf die intelligenten, informatischen Techniken ebenso zu wie auf natürliche Intelligenz oder natürliche Wissens konzeption.

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Allgemeinwissen und individuelles Wissen

Eine angemessene Metaphysik der Wissensgesellschaft, die gerade im Entstehen ist, scheint mir angesichts der von informatischen Techniken deutlich geprägten intelligenten Umwelt nur möglich, wenn man Wissen nicht mehr im Sinne der Neuzeit als in einem (empirischen oder auch transzendentalen) Subjekt begrün­ det deutet, sondern die Wissens begründung vielmehr in einem selbstorganisier­ ten Allgemeinwissen begreift, das durch die informatische Technik in einer intel­ ligenten Umwelt mittels der informatischen Prozesse in ständigem Ablauf und in ständiger Korrektur sich selbst etabliert. Diesem Allgemeinwissen, das in der intelligenten Umwelt manifest ist, steht das individuelle Wissen gegenüber, sei es persönliches Wissen eines Menschen oder individuelles Wissen eines einzelnen nichtmenschlichen wissensprozessierenden Systems. Individuelles Wissen einzelner Menschen oder Systeme besteht aus Auszügen aus dem Allgemeinwissen, die in der Regel nicht aktuell sind, sondern individuell zeitversetzt rezipiert wurden und in ein ebenfalls selbstorganisiertes individuelles Wissen integriert sind. Erfahrungen des Individuums werden so

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dadurch gebildet, dass das Individuum Wahrgenommenes vor dem Hintergrund seines eigenen Deutungsrahmens, der durch Begriffsgefüge gebildet wird, zu Er­ fahrenem wandelt, das seinerseits wiederum zu einer Änderung des individuellen Begriffsgefüges führen kann. Aufgrund dieses Begriffsgefüges antizipiert das In­ dividuum seine Handlungsmöglichkeiten. Die Handlungen werden dabei ihrer­ seits wieder als (eigene) Erfahrungen gedeutet (siehe Neuser 2013. S. 67-90). Unter Umständen rezipiert das Individuum auch Wissensbestände aus dem All­ gemeinwissen, um seine eigenen Deutungskonzepte stimmig zu machen. Dazu stehen ihm mobile Datengeräte zur Verfügung. Zum Teil wird das Individuum auch in die vom Allgemeinwissen in der intelligenten Umwelt präformierten Le­ bensabläufe gezwungen und kann nur erfolgreich sein, wenn es das Allgemein­ wissen konsultiert und daran partizipiert. Zum Teil wird das durch Rückgriff auf verbale oder bildliche Wissensbestände geschehen, zum Teil dadurch, dass das Individuum vorgeschriebenen und vorbestimmten Prozessen folgt. Interventionen in das Allgemeinwissen vonseiten des Individuums geschehen dadurch, dass die intelligenten Prozesse der intelligenten Umwelt auch spezielle Prozedere enthalten und eingearbeitet haben, mit deren Hilfe sich sowohl ein er­ folgreicher als auch ein erfolgloser Umgang mit den durch das Allgemeinwissen gegebenen Abläufen registrieren und auswerten lässt. So wird, um ein einfaches Beispiel zu nennen, in intelligenten Wohnungen nicht nur die Heizung oder die Trinkwasserversorgung geregelt, sondern vielmehr jeder Eingriff seitens der in­ telligenten Technik und jeder Eingriff der Bewohner registriert und mit SolIgrö­ ßen verglichen, um gegebenenfalls Abläufe an die Bedürfnisse der Einzelnen an­ zupassen. Dies stellt eine einfache Form der Intervention von Individuen im All­ gemeinwissen dar: die intelligente Umwelt lernt aus Erfahrungen mit dem Ver­ halten des Individuums in ihr. Das Allgemeinwissen lässt sich wie das Individualwissen beschreiben als einen Deutungszusammenhang, der durch Begriffsgefüge zusammen mit Erfahrungs­ und Handlungsräumen gegeben ist. Das Individuum konstituiert durch den Deu­ tungsrahmen, der in seinem Begriffsgefüge vorliegt, seinen eigenen Erfahrungs­ raum, der nichts anderes als die Gesamtheit seiner Einzelerfahrungen ist. Das Be­ griffsgefüge wird aus diskreten Begriffen gebildet. aber der Erfahrungsraum er­ weist sich als ein Kontinuum von Erfahrungen, die durch die Bedeutungen diskre­ ter Begriffe strukturiert werden. Ebenso ist die Gesamtheit der Handlungsmög­ lichkeiten ein Bedeutungskontinuum, das durch diskrete Begriffe geordnet wird. Beim Allgemeinwissen lässt sich der Deutungszusammenhang, der durch Be­ griffsgefüge zusammen mit Erfahrungs- und Handlungsräumen gegeben ist, unter Einbezug der informatischen Technik funktional beschreiben: Algorithmen und

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eine prozessuale Ablaufgestaltung sind ein Bestandteil des im Begriffsgefüge ge­ gebenen Deutungszusammenhangs; entsprechend sind Erfahrungs- und Hand­ lungsraum durch die Sensorik für die Erfahrung bzw. Aktoren für die Ausführun­ gen von Handlungen gegeben. Dem Erfahrungsraum und dem Handlungsraum des Individuums entspricht im Allgemeinwissen die intelligente Umwelt. Der Er­ fahrungsraum ist dabei das rezeptive Verhalten und der Handlungsraum das ak­ tive Verhalten im Allgemeinwissen.

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Intelligente Umwelt, Allgemeinwissen und das Individuum

Die intelligente Umwelt und das Individuum interagieren miteinander. Diese In­ teraktionen können nur als die Wechselbeziehungen des persönlichen Wissens und des Allgemeinwissens verstanden und beschrieben werden. Wie wird aus Allgemeinwissen persönliches Wissen und wie wird aus dem persönlichen Wis­ sen eines Einzelnen Allgemeinwissen? Das Allgemeinwissen konstituiert sich zunächst auf der Basis von Hardware- und Software-Realisation. Diese Konzeption kann inzwischen durch entsprechende Industriecomputer vorgenommen worden sein und muss nicht mehr durch menschliche Ingenieure geschehen. Durch permanente Interaktion des Allge­ meinwissens mit sich selbst wird das Wissenssystem in Aktion gehalten. Teilbe­ reiche interagieren dabei mit anderen Teilen, indem Wissensbezüge zwischen unterschiedlichen Bereichen der Umwelt hergestellt werden. Diese virtuellen Be­ reiche der Realität können durch Sensoren mit nichtvirtuellen Bereichen der Rea­ lität verknüpft sein und so auf diese reagieren und mit ihnen agieren. Das Allgemeinwissen kann auf diese Weise ergänzt und verändert werden. Es nimmt dabei auch menschliche Individuen und seine Aktionen durch Sensoren wahr und kann so individuelles Wissen rezipieren und seinerseits integrieren. Diese Interaktion zwischen den menschlichen Individuen und der intelligenten Umwelt ist aus der Perspektive des Allgemeinwissens eine gewollte Intervention des Individuums, die der Stabilisierung des Allgemeinwissens dient. Zwei Fälle wird man unterscheiden müssen: einen solchen, in dem das Allgemeinwissen er­ weitert wird, indem die intelligente Umwelt gleichsam den Zustand der nichtvir­ tuelIen Umwelt abfragt und darauf seine eigenen Wissensinhalte oder auch deren Verarbeitung verändert. Dabei sind menschliche Individuen nicht intentional be­ teiligt. Im zweiten Fall fragt das Allgemeinwissen Inhalte und Zustände seiner Umgebung ab, die darauf zielen, die Intentionen eines menschlichen Individuums zu erfahren. Diese Intentionen können implizit oder explizit in den Aktionen der Individuen gegeben sein. Das Allgemeinwissen zeichnet sich vor dem der

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menschlichen Individuen dadurch aus, dass es für das menschliche Wissen das Referenzsystem ist, dessen Geltung unhintergehbar ist, weil das Allgemeinwissen die Grundstruktur der intelligenten Umwelt ist. Das menschliche Individuum wird durch diese Umwelt in seiner Entfaltung geführt. Umgekehrt speist das menschliche Individuum sein persönliches Wissen in das Allgemeinwissen ein und gestaltet damit seine intelligente Umwelt, indem das Allgemeinwissen in einer ständigen, möglichen Kopplung zu dem persönlichen Wissen der menschlichen Individuen steht. Das persönliche Wissen der Individu­ en ist seinerseits ein Patchworkwissen in Bezug auf das Allgemeinwissen und na­ turgemäß unvollständig. Individuen nehmen aus dem Allgemeinwissen einzelne Sachverhalte auf und fügen sie ihrem eigenen Wissen zu. Gleichzeitig dient das Allgemeinwissen als Referenzwissen, wobei das Individuum in der Regel sein Wissen im Vergleich zum Allgemeinwissen nicht immer aktualisieren kann. Des­ halb enthält das individuelle Wissen unvermeidlich Inhalte. die aus der Perspek­ tive des Allgemeinwissens längst veraltet sind. Die Wissensbereiche des individu­ ellen Wissens sind mithin nur unter den Lebensbedingungen der einzelnen Per­ son konsistent und angemessen. Das einzelne Individuum macht sein eigenes Wissenssystem nach eigenen inneren Regeln konsistent, und diese Strukturen sind in der Regel nicht unbedingt identisch mit denen des Allgemeinwissens. Sie sind auch kein allgemeines Referenzwissen für andere, sondern gelten nur als Deutungszusammenhang für die individuelle Person. Das persönliche Wissen des Individuums entsteht zudem auch durch Erfahrungen mit der nichtvirtuellen Realität, die auf verschiedene Weise in das Allgemeinwissen einfließen können. Dabei sind die Rahmenbedingungen entscheidend, die sich aus der Perspektive der intelligenten Umwelt und des Individuums im Hinblick auf die Interventionen zwischen Allgemeinwissen und individuellem Wissen ergeben. Aus der Perspektive der intelligenten Umwelt ist das Individuum ein beobachtba­ rer Teil und das Wissen, das sich aus dem beobachtbaren Verhalten dieses Indi­ viduums ergibt, kann in das Allgemeinwissen einfließen, insbesondere dadurch, dass einzelne Systeme der intelligenten Umwelt den Umgang von Individuen mit Teilbereichen der Umwelt abfragen und dem Allgemeinwissen hinzufügen, dass also jedes registrierte Individuum das Allgemeinwissen mitgestaltetfdaran Anteil hat. Wie alle Interventionen führen solche Abfragen über das individuelle Verhal­ ten zu ständigen Veränderungen des Allgemeinwissens, die das Allgemeinwissen ständig stören und es zugleich stabilisieren, sobald sie in dieses sich selbst orga­ nisierende Wissenssystem integriert sind. Diese Interventionen durch die Indivi­ duen werden weitgehend von der intelligenten Umwelt, das heißt von dem All­ gemeinwissen bestimmt. In den meisten Fällen geht es dabei nicht um die Inten-

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tion des durch sein unmittelbares Verhalten intervenierenden Individuums, son­ dern entscheidend ist vielmehr die - durchaus auch unbemerkte - Abfrage durch das Allgemeinwissen. Gleichwohl kann die Intention des Individuums bezüglich seiner eigenen Lebensgestaltung bei solchen Abfragen von Interesse sein und dann in das Allgemeinwissen eingehen. Ein Beispiel ist die Überwachung von per­ sönlichen Emails. Hier will das Individuum ja nicht seine Intentionen an das ab­ fragende System mitteilen, aber dieses System kann gleichwohl versuchen, diese Intention anhand des jeweiligen Deutungszusammenhangs herauszulesen. Das Allgemeinwissen kann aber auch die Intentionen des menschlichen Individuums direkt abfragen. Dann wird das Individuum auch intentional auf das Allgemein­ wissen einwirken (können). Immer dann, wenn die Intentionen des persönlichen Lebensaktes eines Individuums mit dem der intelligenten Umwelt kompatibel sind, wird das Individuum auf das Allgemeinwissen einwirken können, andern­ falls bleibt die Intention der intelligenten Umwelt ausschlaggebend für die Struk­ tur des Allgemeinwissens. Die Intention des Allgemeinwissens und der intelligen­ ten Umwelt ist dabei durch die jeweils implizite oder explizite Zweck- oder Ziel­ setzung gegeben. Da die intelligente Umwelt und das Allgemeinwissen Systeme sind, die selbstor­ ganisiert sind, werden sich auch Ziele und Zwecke ändern. Gleichwohl wird man eine gewisse Kontinuität des Systems erwarten, weil sich die Individuen nur so in der intelligenten Umwelt orientieren können. Kriegssituationen und die durch die Waffensysteme erzeugten Lebensumstände wären etwa Situationen von nicht­ kontinuierlichen intelligenten Umwelten. Sie können von dem Allgemeinwissen intendiert sein. Auf sie kann das Individuum nicht mehr angemessen durch seine individuelle Intervention reagieren - es ist ihnen ausgeliefert. In jedem Fall bildet das Individuum der Wissensgesellschaft sein persönliches Wissen aus seinen Ori­ entierungen in einer nichtvirtuellen Umwelt und auch in der intelligenten Um­ welt. In Bezug auf diese beiden Seiten seiner Umwelt wird das Individuum ein persönliches Wissenssystem aufbauen und weitere Interaktionen gegebenenfalls als neuen Aspekt seines Wissenssystems in sein Wissenssystem integrieren. Die Notwendigkeit einer Orientierung in der intelligenten Umwelt dominiert in der Wissensgesellschaft zunehmend die in der nichtvirtuellen Welt, weil große Teile der Bedürfnisse des Individuums durch die Mittel informatischer Techniken im Hinblick auf die nichtvirtuelle Realität organisiert werden. Das menschliche Indi­ viduum entlehnt nun seinerseits Teile seines persönlichen Wissens aus dem All­ gemeinwissen. Dies geschieht zum einen durch Adaptation und Assimilation des Allgemeinwissens sowie durch Partizipation am Allgemeinwissen. Insgesamt handelt es sich um Prozesse des Lernens, in denen das Individuum das Wissen

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schafft, das ihm individuelle Erfahrungen und Handlungsräume verstehen hilft.

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Lernen durch Adaptation

Die individuelle Adaptation des Allgemeinwissens durch das Individuum führt zu einem persönlichen Wissen (vgl. Neuser 2013, S. 98, 117, 126 & 134). Da dieses individuelle Wissen aber nicht eine Eins-zu-eins-Kopie des Allgemeinwissens ist, ist das Wissen des Individuums sein persönlicher Wissenskosmos, eine ihm eige­ ne Welt. Das Wissen seines Wissenskosmos adaptiert das Individuum in seiner eigenen Kontingenz unter den Bedingungen seiner historischen Existenzkontexte. Die individuellen Adaptationen erfolgen nicht synchron mit den Veränderungen des Allgemeinwissens im jeweiligen Zeitraum der Partizipation am Allgemein­ wissen. Im persönlichen Wissen des Individuums liegt immer eine diachrone Mi­ schung von Teilen des Begriffsgefüges des Allgemeinwissens vor, weil das Indivi­ duum seinen Wissensquellen keinen zeitlich synchronisierten aktuellen Wissens­ stand entnimmt. Dieses Wissen des Individuums ist einerseits kulturell geerbt und wird andererseits von dem Individuum adaptiert und im jeweiligen individu­ ellen Wissenskosmos systematisch entwickelt. Diese Adaptation erfolgt bei allen Elementen des selbstorganisierten individuellen Wissenssystems: seine Deu­ tungskomponente, das sind Begriffe, seine rezeptive Komponente, das ist die Er­ fahrung, und seine expressive Komponente, das sind seine Handlungen (vgl. Neu­ ser 2013, S. 67-90). Diese drei Aspekte stellen selbst Teilsysteme dar, die sich so entwickeln, dass sie in sich stimmig sind. Die drei Teilsysteme sind ihrerseits in sich selbstorganisiert und zugleich miteinander konsistent: Deutungen dürfen sich nicht disjunkt widersprechen, unterschiedliche Erfahrungen nicht ausschlie­ ßen und Handlungen sich nicht gegenseitig verunmöglichen (vgl. ebd., S. 247252). In dieses Wissenssystem des Einzelnen passt das Individuum Allgemein­ wissen durch Adaptation ein. Das Allgemeinwissen ist das, was dem Individuum als Kultur entgegentritt. An dem Wissen der Kultur partizipiert der Einzelne, in­ dem er es für sich adaptiert. Das Einzelwissen kommt zustande, indem Begriffe aus dem allgemeinen Wissenskontext adaptiert werden, um individuelle Erfah­ rungen und Handlungen nachvollziehen zu können. Der Einzelne erprobt für sich die Modifikationen seines Wissens durch die Adaptation und ist dabei an im All­ gemeinwissen vorgegebene Rahmenbedingungen der Selbstorganisation gebun­ den. Mögliche Modifikationen sind immer nur solche Begriffsanpassungen, die im Horizont der Erfahrung und im Hinblick auf künftige oder gegenwärtige Hand­ lungen hin geschehen. Das Individuum adaptiert seine Erfahrungen an ein allge­ meines Deutungsmuster, das es den Begriffsgefügen entnimmt, die das Allge­ meinwissen ausmachen. Dadurch bildet sich das persönliche Wissen des Indivi-

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duums. Wenn in der Interaktion des Individuums Wissenselemente aus dem System des Allgemeinwissens adaptiert werden, geht mit der Interaktion auch eine aktive Veränderung einher, die zur Stabilisierung des individuellen Wissenssystems bei­ trägt. Die Interaktion zwischen Allgemeinwissen und persönlichem Wissen ist insofern selbstisch - Störungen durch das System des Allgemeinwissens führen zur Selbststabilisierung. Das persönliche Wissen eines Individuums ist die Folge einer Adaptation von Teile des Begriffsgefüges im Allgemeinwissen. Assimilation von Wissen aus der intelligenten Umwelt, dem Allgemeinwissen, be­ deutet, dass das Individuum in einer konkreten Situation gelernte Begriffsgefüge mit seinen eigenen persönlichen Erfahrungen verschmilzt und erst dann die Teile des Allgemeinwissens, um die es in diesen Lernsituationen ging, an die individu­ ellen Erfahrungen angleicht, weil diese Teile des Allgemeinwissens erst jetzt als Deutungen von Erfahrungen wirksam werden. In aller Regel erfährt das zunächst nur theoretisch gelernte Allgemeinwissen eine erneute Modifikation innerhalb des persönlichen Wissens eines Individuums, die durch die Selbstorganisations­ bestrebungen des individuellen Wissenssystems geprägt sind (vgl. ebd.. S. 178 & 180 f.). Wenn das Individuum seine Erfahrungen in Handlungen umsetzt und die von ihm vollzogenen Handlungen zu den Ergebnissen führen, die aufgrund der Wissens­ partizipation geplant und vorhergesagt wurden, dann ist diese den Handlungen und Erfahrungen zugrunde liegende Struktur Wissen. Die Verknüpfung allgemei­ ner Begriffe mit konkreten Erfahrungen ist Teil des individuellen Wissens, das durch die Partizipation am Allgemeinwissen gelernt wird (vgl. ebd.. S. 49. 65 & 96). Das Lernen kommt im Zusammenwirken der selbstorganisierten Systeme des individuellen und Allgemeinwissens zustande, durch das sich Handlungs- und Erfahrungsraum zusammen mit Begriffsgefügen für das Individuum als Wissens­ kosmos konstituiert: In der Partizipation am Allgemeinwissen konstruiert das Individuum seinen Anteil an der Umwelt und insbesondere seiner intelligenten Umwelt. Jedes Individuum bildet durch seine Partizipation am Allgemeinwissen durch Adaptation und Assimilation sein persönliches Wissen, das sich vom Wis­ sen anderer Individuen unterscheidet. Das Individuum lernt niemals ohne Wissensvoraussetzungen. Es hat immer schon ein persönliches Wissen verfügbar, wenn es Erfahrungen durch Adaptation und Assimilation macht. Von Geburt an partizipiert ein Mensch direkt oder indirekt bereits am Allgemeinwissen und hat durch persönliche Wahrnehmung einen per­ sönlichen Erfahrungs- und Handlungsraum, der Begreifen und damit den Erwerb

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persönlichen Wissens ermöglicht. Das Individuum muss in der Regel lebenslang nur sein persönliches Wissenssystem modifizieren und erweitern. Es partizipiert an dem Allgemeinwissen, aber es schafft diese Allgemeinwissen nicht; es nutzt es bloß oder bringt eigenes Wissen zur Veränderung des Wissenssystems ein. Partizipation, Assimilation und Adaptation sind Aspekte, wie das menschliche Individuum das Wissen aus dem Allgemeinwissen in sein persönliches Wissen integriert - durch diese Formen des Lernens (vgl. ebd.. S. 192-205). Im Lernpro­ zess nimmt das Individuum Erfahrungen auf, die es durch Wahrnehmungen an seiner Umwelt, der nichtvirtuellen und ebenso der virtuellen, erprobt. Das Indivi­ duum hat immer schon durch sein persönliches Wissen ein Deutungsinstrument, mit dem es diese Wahrnehmungen durch Assimilation seinen Erfahrungen hinzu­ fügt. In diesem Assimilationsprozess wird sich das Wissen des Individuums in einem ständig sich fortsetzenden Prozess als ein konsistentes System etablieren. Die Wahrnehmungen sind dem Individuum zunächst bloß als ein nur vorläufig gedeutetes inneres Bild verfügbar, das aber anhand von Begriffen oder Deu­ tungskonzepten, die das Individuum in seinem Wissen schon als theoretischen Begriff hat, gedeutet und dann in einer Handlung erprobt wird. Dadurch wird aus einem allgemeinen theoretischen Deutungsmuster ein Deutungsmuster mit ei­ nem konkreten Inhalt, der ausgehend vom inneren Bild in einem Begriffszusam­ menhang erfahrbar wird. Der Lernprozess des Individuums wird durch Beobach­ tung initiiert, wobei Beobachtungen in diesem Kontext als jede Form von sensori­ scher Rezeption zu verstehen sind (vgl. ebd.. S. 311). Sie führen immer zu Ände­ rungen oder Stabilisierungen der Deutungsmuster und sind immer Ausdruck von Erfahrung und ermöglichen immer Handlungen. Wahrnehmungen, Experimente, Informationen und Erfahrungen sind dabei Formen von Beobachtungen (vgl. ebd.,

S. 84. 198 f. & 204).

In diesem Prozess ist der Beobachter in der WissensgeseIlschaft kein Subjekt, das durch kritisches Fragen sein Wissen autonom konstituiert, sondern der Beobach­ ter ist Nutzer eines Allgemeinwissens, an dem er qua intelligenter Umwelt als Re­ ferenz partizipieren kann und aus dem er auch das sein eigenes Wissenssystem orientierende persönliche Wissen bezieht.

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Der Mensch als Beobachter und N utzer seiner Umwelt

Der Mensch tritt als Individuum in einer solchen intelligenten Umwelt handelnd als Gestalter des eigenen Lebensraums auf, ist aber zugleich in seinen Handlungs­ und Erfahrungsmöglichkeiten an die Bedingungen gebunden. die durch die intel­ ligente Umwelt gegeben werden. Diese Bedingungen, die Allgemeinwissen dar-

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stellen, lassen sich als ein Wissen von Individuen adaptieren, das die einzelnen Menschen für die Gestaltung ihrer Lebenswelt nutzen, nutzen müssen und nutzen können. Der Metaphysikwandel, der sich mit der Entstehung der Wissensgesellschaft voll­ zieht, führt zu einem tiefgreifenden Wandel der Kultur. Der Wandel von der Neu­ zeit zur Wissensgesellschaft betrifft einerseits das Verständnis des (neuzeitli­ chen) Menschen als Wissen begründendes Subjekt, das wahres Wissen nur auto­ nom in der Freiheit zum kritischen Denken und skeptischen Fragen gewinnen kann; und andererseits erfasst dieser Wandel das Verständnis des Fundaments wahren Wissens in der Rückführung auf den Zusammenhang der Kausalität. So wird auf der Basis der subjekttheoretischen Begründung von Wissen in der Neu­ zeit angenommen, dass die Weltzusammenhänge auf kausalen Beziehungen be­ ruhen. In der Wissensgesellschaft führt aber die allem zugrunde liegende Verknüpfung von Datenbanken dazu, dass die im Ergebnis gedachten Beziehungen zwischen den Parametern nur mehr Korrelationen darstellen. Ob Sachverhalte tatsächlich als kausale Folge eines Handlungsentwurfs persönlichen Wissens zutreffen oder nicht, kann nur noch anhand eines Korrelationszusammenhangs mit einer mehr oder weniger hohen Wahrscheinlichkeit behauptet werden. Da die logisch schwä­ chere Aussage bei Verknüpfungen von Aussagen den Wahrheitsgehalt bestimmt, muss man folgerichtig in der Wissensgesellschaft von Wahrscheinlichkeiten beim Zutreffen von Sachverhalten ausgehen und nicht von wahren Zusammenhängen, wie man sie auf der Grundlage der in der Neuzeit entwickelten Vorstellung kausa­ ler Verknüpfungen annehmen musste. Dieser Wandel in der Geltung von Wirkzu­ sammenhängen ist fundamental für jede Form der Argumentation und der kon­ sensfähigen Normen schlechthin. Das bedeutet nicht, dass die Logik völlig obsolet würde (vgl. ebd., S. 278-288). Die Deutungszusammenhänge in jedem Wissenssystem, sei es individuelles oder All­ gemeinwissen, stabilisieren sich durch Ordnungsstrukturen, die den Konstituti­ onsprozess durch Selbstorganisation steuern und die Logizität der Begriffszu­ sammenhänge bestimmen. Diese Ordnungsstrukturen werden in der selbstischen Stabilisierung deutlich, mit der sich ein solches Wissenssystem auf Intervention durch das jeweils andere stabilisiert. Das Allgemeinwissen bleibt als Struktur stabil, die das individuelle Wissen leitet und dem Einzelnen in seiner Umwelt Ori­ entierung ermöglicht. Die gegenwärtigen Deutungen der Beziehung zwischen in­ formatischer Technik und einzelnem Menschen oszillieren zwischen der Vorstel­ lung, dass Roboter alles können sollten, was Menschen können (von der rationa­ len Entscheidung bis zu den Emotionen, die zu sozialen Entscheidungen führen),

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und der Annahme, dass sich die menschliche Psyche anhand der Funktionsmodel­ le der Computerwissenschaften verstehen lässt. Beides greift zu kurz. Diese Vor­ stellungen sind keine ontologischen Erklärungsmodelle für Mensch und Compu­ ter im Sinne einer Seinsphilosophie, sondern es scheinen eher Versuche zu sein, die Interaktion von Allgemeinwissen und persönlichen Wissen denkbar zu ma­ chen. Cognitive Science und Informatik bezeichnen so ihre jeweiligen Zielvorstel­ lungen. Roboter sind keine Menschenimitate und Menschen sind keine Roboter­ vorbilder. Der Beobachter ist in der Wissensgesellschaft nicht derjenige, der Wissen konsti­ tuiert. Er konstituiert allenfalls sein persönliches Wissen als ein zeitverzerrtes Patchworkwissen aus dem Allgemeinwissen. Der Beobachter tritt vor allem als Nutzer des Allgemeinwissens auf, der partizipierend seine persönliche Welt kon­ struiert und sein eigenes Verhalten an seinem individuellen Wissen orientiert. Da sein Verhalten in seiner intelligenten Umwelt zunehmend registriert wird und so als stabilisierende Störung im Allgemeinwissen interveniert, gewinnt die Ge­ samtheit der Individuen einerseits zunehmenden Einfluss auf die intelligente Umwelt, während der Einzelne andererseits an jenem Handlungseinfluss verliert, wie ihn die Neuzeit dem Subjekt zugeschrieben hat.

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Eine Ethik ohne Subjekt in der Wissensgese llschaft

Die Legitimität von Handlungen begründet sich in der Wissensgesellschaft nun anders. Das Individuum ist nicht mehr autonom im Sinne einer frei seine Hand­ lungen konstituierenden Instanz. Deshalb müssen auch die Legitimierungen der Handlungen nun sowohl der Systeme des Allgemeinwissens4 als auch der Syste­ me individuellen Wissens neu begründet werden. Die aus der Neuzeit entwickelte und hervorgegangene Ethik basiert auf der Vorstellung eines Subjekts, das in un­ mittelbarer Beziehung zum (cartesianischen) denkenden Ich verstanden wird, das wiederum auf fundamentale Weise mit dem Menschen identifiziert wird. Zwar hat bereits Kant vor der Gleichsetzung von dem das zutreffende Wissen be­ gründenden transzendentalen Subjekt mit dem empirischen Subjekt Mensch ge­ warnt, aber das moderne Bild des aufgeklärten Menschen schließt die Autonomie und Freiheit des Denkens und HandeIns als empirisches Subjekt ein. Die Gleich­ setzung von Mensch, Person und Individuum mit Subjekt, das wahres Wissen be4 Probleme der Roboter- bzw, Maschinenethik wären hier zu bedenken, Siehe dazu: Anderson, M, & Anderson, S, L (2011): Machine Ethics, New York: Cambridge U n iversity Press, Dancy, J. (2004): Ethics without Principles New York: Oxford U n iverslty' Press, Dennis, L,; FIsher, M,; Slavkovik, M , & Webster, M. (2016): Formal Verifica­ tion of Ethical Choices in Autonomous Systems, I n : Robotics and Autonomous Systems, 77, S, 1-14, Wallach, W, & Allen, C. (2010): Moral Machines: Teaching Robots Right from Wrong, New York: Oxford U n iversity Press

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gründet, scheitert mit der Wissens gesellschaft. Hier verschwindet das Subjekt als Konstitutionsprinzip des Wissens - und mit ihm verschwinden der Grund und der Begründungszusammenhang von Ethik. Die Wissensgesellschaft bedarf einer neuen und eigenen Begründung für die Legitimität von Handlungen, sowie in Fol­ ge davon für das Gebotensein oder Nicht-geboten-Sein von Handlungen (vgl. Neu­ ser 2014; Lenski 2014, S. 153-171). Die informatischen Techniken konfrontieren uns auf neue Weise mit der alten Grundsatzfrage, nach welchen Kriterien wir an­ gemessen entscheiden (können), ob dieses oder jenes Verhalten von Staat, Orga­ nisationen oder Einzelnem erlaubt oder unerlaubt sein soll. Sollten personenbe­ zogene Daten jedem Einzelnen gehören oder sollten sie zu einem "höheren" Nut­ zen verfügbar sein? Etwa lassen sich bei einer Grippewelle, wie sie jeden Herbst über Europa hinwegzieht, die Google-Abfragen nach Grippemedikamenten in ih­ ren zeitlichen und räumlich auftretenden Verteilungen nutzen, um Rückschlüsse auf die aktuellen Ausbreitungsfronten zu ziehen und im Ausbreitungsgebiet ge­ zielte Schutzmaßnahmen für gefährdete Menschen zu ermöglichen. Um die Such­ abfragen der Internetnutzer nach Grippemedikamenten auswerten zu können, muss man Nutzerdaten (Ort und Zeit) kennen. Allerdings können selbst anonymi­ sierte Daten über ein Datenprofil eindeutig auf die IP-Adresse (Internetprotokoll­ Adresse) des benutzten Computers und damit auf einen eindeutigen Personen­ kreis zurückverfolgt werden und so in den persönlichen Privatbereich eingreifen (Pseudoanonymisierung). Hier bieten die subjekttheoretisch begründeten Werte der neuzeitlichen Ethik keine angemessenen Lösungsperspektiven für die Her­ ausforderungen der Wissensgesellschaft. Werte, die eine Bejahung der Bedürfnisse der Menschen ausdrücken und die mo­ ralischen Regeln einer Gesellschaft begründen, sind in einer Wissensgesellschaft natürlich andere als in der Neuzeit. Moralische Regeln müssen in der Wissensge­ sellschaft darauf zielen, sowohl alle Instanzen, die das Allgemeinwissen tragen, abzusichern, als auch das selbstständige und selbstsichernde Leben des Einzel­ nen sicherzustellen. Im Sinne der Wissensgesellschaft ist so zum Beispiel geboten, dass alle Menschen handhabbaren Zugang zum Allgemeinwissen haben. Alle Da­ ten sind deshalb ein Gut im Sinne des Allgemeinwissens. Ihre Verfügbarkeit und Verwendbarkeit darf sich zugleich nicht gegen die Bedürfnisse des Einzelnen und seiner Person richten. Insofern sind die Werte, die mit jedem Begriff verbunden sind, auch an die Bedürfnisse der einzelnen Personen gebunden, die über ihre Erfahrungen und Handlungen am Allgemeinwissen partizipieren und so gemein­ sam die intelligente Umwelt gestalten. Ein entscheidendes Bedürfnis scheint da­ bei das Streben des Einzelnen nach Existenzsicherung zu sein, das sich an per­ sönlichen Zielsetzungen orientieren kann, und so die Voraussetzungen für allge-

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meine ethische Regeln zu schaffen. Die persönliche Verantwortung eines Indivi­ duums wird in der Wissensgesellschaft nicht mehr mit der Freiheit des Subjekts begründet werden können, sondern die ethischen Handlungsregeln fordern den gebotenen Umgang sowohl des Individuums als auch der informatischen Technik mit den neuen Handlungsoptionen, soweit sie dem Individuum und der intelli­ genten Umwelt eine sichere Existenz bieten. Literatur Anderson, M. & Anderson, S. L. (2011): Machine Ethics, Cambridge New York: University Press. Berres, I. (2016): Chip im Hirn: Gelähmter steuert erstmals Arm mit Gedanken. Erreichbar unter: http://www.spiegel.de/gesund heit/diagnose/q uerschnittsge laehmter-steuert-arm-mit-chip-im-hirn-a1086927.html, [Stand: 16.04.2016]. BMBF (2015): Intelligente Technik hilft den Menschen. Pressemitteilung: 154/2015. Erreichbar unter: https:!/www.bm bf.de/de/i ntelligente-technik-hi tft-den-menschen-1961.html. [Stand: 16.4.2016]. Dancy, J. (2004): Ethics without Principles. New York: Oxford University Press. Dennis, L.; Fisher, M.; slavkovik, M. & Webster, M. (2016): Formal Verification of Ethical Choices i n Autonomous Systems. I n : Robotics and Autonomous Systems, 77, s . 1 - 14. Lenski, W. (2014): Morals, IT-structures and society. In:Zweig, K.; Neuser, W.; Pipek, V.; Rohde, M. & scholtes, I. (Hrsg.): Socioinformatics - The Social lmpact of Interactions between Humans and IT. Heidelberg: Springer International Publishing, s. 153 - 171. Neuser, W. (2013): Wissen begreifen. Wiesbaden, Heidelberg: VS Verlag für Sozialwissenschaften. Neuser, W. (2014): Was ist eine Ethik ohne Su bjekt? In: Journal of New Frantiers i n spatial Concepts, 6, s. 1 1 1 . E rre ichbar u nte r: http://ejou rnal .uvka.de/spatialconcepts/wpconte nt/u ploads/2014/02/spatialconce pts_article_1798.pdf, [Stand : 16.4.2016]. Ramme rt, W. (2007): Technik - Handeln - Wissen: Zu einer pragmatistischen Technik- und sozialtheorie. Wiesbaden, Heidel berg: VS Verlag für Sozialwissenschaften. Spiegel Online (2016): Automatisiertes Fahren: Regierung erweitert Rechtsgrundlage für selbstfahrende Autos. E rreichbar unter: http://www.s piegel .de/auto/aktuel l/sel bstfahrende-autos-bu ndesregie ru ng-erweitert­ rechtsgrund lage-a-1086946.html, [Stand: 16.4.2016]. Wallach, W. & Allen, C. (2010): Moral Machines: Teaching Robots Right from Wrang. New York: Oxford University Press.

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Wissen System und Subjekt

Wer wissen will, was wir unter Wissen verstehen, sieht sich mit einer Verlegen­ heit konfrontiert. Vergleichbar mit der Verständigung über Sprache, die nur im Medium von Sprache möglich ist, kann man über das Wissen nur reden, wenn man sich immer schon in dessen Horizont bewegt. Wie man mit dieser Verlegen­ heit umgehen kann, verrät ein Blick auf die Philosophiegeschichte. Hier war es vor allem Hege!, der in seiner Wissenschaft der Logik (Hegel 1971, S. 66) vor ei­ nem ähnlichen Problem stand und zu dessen Lösung eine gleichermaßen einfache wie überzeugende Lösung fand. Im Falle Hegels ging es um die Frage, wie es dem Denken gelinge, sich über sich selbst zu verständigen, ohne auf die Bestimmungen des Denkens selbst vorzu­ greifen. Es musste ein Weg gefunden werden, in das Denken als Gegenstand des Denkens eindringen zu können. Die Schwierigkeit, den Anfang von der Wissen­ schaft der Logik im Blick auf diese Problematik zu verstehen, ist bis heute Gegen­ stand heftiger Debatten (u. a. Beiträge von Schultz; Tugendhat; Henrich; Fulda). Nimmt man jedoch Hegels Strategie ernst, dann leuchtet die von ihm gewählte Lösung ein. Er begnügte sich damit, das zu sagen, was am Anfang gesagt werden kann, wenn man sich dem Denken zu nähern versucht; er gesteht nämlich ein, dass wir anfangs nicht über die begrifflichen Mittel verfügen, um über den Gegen­ stand, das heißt das Denken, etwas Genaueres zu sagen. Hegel macht aus dieser Not eine Tugend; er beginnt seine Überlegungen mit nur negativen Begriffen. Die Rede von Unbestimmtheit, Unmittelbarkeit oder Abstraktion zeigt das. So heißt es schon im ersten Satz: "Das Sein ist das unbestimmte Unmittelbare; es ist frei von der Bestimmtheit gegen das Wesen [... ]" (HegeI 1971, S. 56). Nun könnte man einwenden, hier handele es sich um nichtssagende Begriffe, die nur ausdrücken, was nicht begriffen ist. Dagegen ist zu sagen, dass die verwendeten negativen Aussagen doch andeuten, worauf Hegel mit dem Verfahren der Wissenschaft der Logik abzielt. Die negativen Bestimmungen des Anfangs kündigen an, dass es um die Entdeckung der Bestimmungen und Vermittlungsformen geht, die dem kon­ kreten Denken eigen sind und es strukturieren. Hegel setzt auf diese Weise einen Prozess in Gang, in dessen Verlauf die Dynamik des Denkens offengelegt wird.

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Die Wissenschaft der Logik ist damit ein Lehrstück im Blick auf die Weise wie die Selbstreferenzialität von Erkenntnisprozessen zum Thema gemacht werden kann, ohne in eine schlechte zirkuläre Argumentation zu verfallen. Man kann nun den von Hegel skizzierten Weg auch beim Versuch einschlagen, sich über das zu verständigen, was Wissen ist und wie es zustande kommt. Die folgenden Überle­ gungen tun das.

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Wissen dient in erster Linie dazu, Orientierungen zu ermöglichen. Das gilt gleich­ ermaßen für die Interpretation von Erfahrungen, für die Verortung im Sozialsys­ tem, für die Entscheidungen, aufgrund derer wir handeln, oder für die Fähigkeit zur Verständigung im Feld der Theorie. Wenn es darum geht, wissen zu wollen, was Wissen ist, dann kann man zunächst, also vor Beantwortung dieser Frage, nur sagen, wir wüssten noch nicht, was Wissen ist; deshalb sei es notwendig, zu Orientierungen zu kommen, die auf dem Weg vom Nichtwissen zum Wissen ge­ wonnen werden. Der Konstitutionsprozess des Wissens selbst enthielte demnach die Momente, die das Wissen ausmachen. In seiner jüngst publizierten Arbeit unter dem Titel "Wissen begreifen" geht Wolfgang Neuser (2013) den Fragen nach, die das Wissen um den Konstitutions­ prozess des Wissens aufwirft. Die Argumentation nimmt die Geschichte des Wis­ sens begriffs zum Ausgangspunkt, um aus ihr eine Prognose hinsichtlich der ab­ sehbaren zukünftigen Verfasstheit des Wissens zu entwickeln. In Anlehnung an Th.

s.

Kuhns Theorie des Paradigmenwechsels werden verschiedene historische

Zugänge zu dem, was Wissen war, unterschieden. Ihnen gemeinsam sei, so die These, dass jeder Epoche eine spezifische Frage zugrunde liege. Die einleuchten­ de Rekonstruktion - mit Bespielen vor allem aus der Renaissance, die als posttra­ ditionelle Phase den Weg zur Neuzeit geebnet hatte - stellt eine Abfolge von Epo­ chen vor, die durch die Stabilisierung von epochengebundenen Wissenskonzepti­ onen und Übergangsphasen zwischen diesen charakterisiert wird; wobei die Übergangsphasen von der Kritik an der jeweils geltenden Tradition und von auf deren Grundlage entwickelten neuen Fragestellungen veranlasst seien. So folgten der Frage der Antike nach dem, was Wissen sei, die nach dessen externer und in­ terner Begründbarkeit - im Mittelalter bzw. in der Neuzeit - und jüngst die der modernen Wissensgesellschaft, die ihr Wissenskonzept als Organisationsfrage verstehe: "Die Frage unserer Epoche ist nicht die nach der Begründung, sondern nach der Organisation von Wissen" (Neuser 2013, S. 222). Es ist diese These, die Neusers Überlegungen rechtfertigen und damit die Spezifik eines neuen, jedoch

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noch nicht konsolidierten Verständnisses des Wissens verteidigen will. Dem Au­ tor geht es darum zu zeigen, wie sehr die aktuelle Entwicklung hin zur Wissens­ gesellschaft das Subjekt als wissensbegründendes Prinzip entmachtet habe. Ge­ sellschaft werde, so die von ihm erwartete und sich stabilisierende Epoche, durch die individuelle Partizipation "an einem sich selbst organisierenden System" cha­ rakterisiert, "das sich in einem dynamischen Prozess ständig selbst aktualisiert" (ebd.. S. 292). Die Begründung der These führt dazu. dass die Organisation unse­ rer Gesellschaft mithilfe der modernen Informationstechnologie nicht mehr der Rechtfertigung durch die Subjekte bedürfe, sondern einer autopoietischen Logik folge. Wenn man sich auf diese These einlässt, dann muss man sich klar sein, dass die These von der systemischen Verfasstheit des modernen Wissens nicht nach dem Warum, also nach Gründen fragt. Aber der systemische Zugang entdeckt die Be­ ziehungen und die Strukturen, die dieses Wissen auszeichnen und zu dem ma­ chen, was es ist. Das verändert zwangsläufig die traditionelle Vorstellung von Wissen. Nicht mehr die objektive, äußere Welt ist Gegenstand des Wissens, son­ dern die Konstruktionslogik der Welt, die sich aus dem Beziehungsgeflecht ihrer Komponenten ablesen lässt. Im Zentrum stehen hier nicht mehr die Menschen als autonom handelnde Subjekte, sondern Menschen, die Teil eines Wissenssystems sind, das nicht von ihnen hergestellt, geschweige denn beherrscht wird. Die Indi­ viduen sind in ein komplexes System des Wissens eingebunden, an dem sie nur teilhaben. Am Beispiel von Wikipedia kann man den Konstruktionsprozess der modernen Wissensproduktion ebenso wie die Problematik der systemisch interpretierten Wissensgesellschaft nachzeichnen. Zu Beginn als dilettantischer Versuch belä­ chelt, unter Beteiligung einer nicht überschaubaren Zahl von Interessierten einen allgemein zugänglichen Wissenspool bereitzustellen, lässt sich dessen Entwick­ lung zu einer ernst zu nehmenden Informationsquelle beobachten. Dabei sind drei Aspekte entscheidend: zum einen die kollektive Erarbeitung von Wissen; des Weiteren der Verzicht auf jede Art von Apodiktizität; und. drittens. die Möglich­ keit der Partizipation aller Interessierten an dem Wissen durch ungehinderten Zugang zu den jeweiligen Wissens beständen. So werden die verschiedenen The­ men nicht vorgegeben, sondern von den jeweils Beitragenden frei gewählt und ausgearbeitet. Jeder weiß, dass andere Personen, die zu denselben Themen etwas sagen wollen, ihrerseits Ergänzungen oder Korrekturen vornehmen können. Es wird kein letztgültiger Wahrheitsanspruch vertreten, sondern jeder Beitrag setzt sich dem Risiko aus, im anonym-öffentlichen Raum kritisiert und verändert zu werden. Es handelt sich um den Fall einer kollektiven Wissensproduktion, deren

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immer nur vorläufige Geltung den prozessualen Charakter der modernen Wis­ senskonzeption zeigt. Die Herstellung der Struktur des Wissens, das uns von Wikipedia angeboten wird, scheint darauf zu deuten, dass es sich hier um ein Wissen handelt, dessen Gel­ tungsanspruch erst aus der Beziehung verschiedener Beiträge zueinander er­ wächst. Es hängt auf den ersten Blick nicht von einzelnen Personen und der Überzeugungs kraft ihrer Argumente ab. Letztere sind bloße Hinsichten, die zu berücksichtigen sind, wenn man sich die eigene Meinung bildet. Hier findet sich eine Analogie zur Sprache. Gleich wie das Kind in die schon bestehende Sprache hineinwachsen muss, um sich mit seiner sozialen Umwelt auszutauschen und sei­ nen Platz innerhalb der Gemeinschaft zu finden, ist der, der etwas wissen will, darauf angewiesen, sich im Gefüge der vorhandenen Wissensbestände zu bewe­ gen. Wie das Kind nicht mit einer erfundenen Privatsprache seine Umwelt ver­ stehen und von dieser verstanden werden kann, führt der Versuch, das schon vorhandene Wissen zu ignorieren, zum Verlust der Orientierung im Erfahrungs­ und Handlungsfeld: "Der Einzelne, der sich in der Welt orientiert, orientiert sich erfolgreich, weil er sein Einzelwissen im Sinne einer Teilhabe am Allgemeinwis­ sen konstituiert," (ebd. S. 125); er muss um seiner selbst willen am kollektiven Wissen teilnehmen. Solchermaßen in einer systemischen Perspektive betrachtet fragt sich aber, ob damit das Subjekt als Instanz seiner Selbstvergewisserung endgültig entmachtet ist. Ist das Subjekt hier verschwunden, vergessen oder nur verdrängt? Einige Beispiele, die nun folgen, fordern die These von der Konstituti­ on des modernen Wissens als ein sich selbst organisierendes System heraus. Es wird um die Rolle der Scientific Community und der Finalisierungstheorie, um den Einfluss von Biografien auf die Interpretation und das Verstehen von Erfahrun­ gen, sowie um das Vergessen bzw. den Verlust von Wissen als konstitutives Ele­ ment des jeweiligen Wissensbestandes gehen.

2

Die Macht der Scientific communities im Wissenschafts betrieb ist nicht zu bestrei­ ten. Sie sind es, die entscheidend an der Bildung von traditionellen Wissensbe­ ständen mitwirken. Und sie sind es auch, die häufig das traditionelle Wissen ge­ gen neue, nicht dessen Rahmen entsprechende Konzepte verteidigen. Ihre Macht beruht darauf, dass es ihnen gelingt, einen zumindest vorläufigen Grundkonsens über die zentralen Orientierungslinien eines Wissensgebietes durchzusetzen. Beim ersten Hinsehen betrifft dieser Sachverhalt zunächst nur den Wissen­ schaftsbetrieb. Es zeigt sich aber, dass nahezu alle Bereiche des Alltags von der

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herrschenden Meinung, die sich auf das jeweilige Wissen beruft, durchdrungen werden. So hat die Charakterisierung der heutigen Gesellschaft als Risikogesell­ schaft (Beck 1986) nicht nur das soziologische Wissen nachhaltig geprägt. son­ dern orientiert heute den ökonomischen Alltag oder die Lebensentwürfe vor al­ lem der jungen Generationen (Beck 1986). Die Scientific community wird so Im­ pulsgeber für die Entwicklung des Selbst- und Weltverständnisses von Mensch und Gesellschaft. Sie setzt das von ihr verteidigte Wissen als ein allgemeines, auf das man sich beziehen muss, wenn man sich in der Gemeinschaft bewegen will. So richtig es ist. darin die Einbindung der Individuen in das System des Allge­ meinwissens zu sehen, bleibt die Frage nach dem Status der Scientific community noch offen. Um ihn zu verstehen, muss man bedenken, dass die Scientific commu­ nity einen bestimmten Bezugsrahmen des Allgemeinwissens festlegt und dabei die Funktion eines kollektiven Subjekts ausübt, das über den jeweiligen Wissens­ bestand entscheidet und die Verantwortung für dessen Geltungsanspruch über­ nimmt. Abweichende Positionen, die nicht minoritär sein müssen, werden als ir­ rational denunziert. Zwar sind es keine einzelnen Subjekte, die das Wissen ver­ briefen; entscheidend ist in unserem Zusammenhang aber, dass das jeweils gel­ tende Wissenssystem sich nicht nur aus sich selbst heraus, sondern aus der Spannung zwischen dem sich stabilisierenden System und externen Impulsen lebt und darin seine Dynamik entfaltet. Das Wissenssystem ist beständig durch die Intervention externer Faktoren, über die es nicht verfügt, infrage gestellt und gefährdet. Vergleichbar mit dem Fall der Scientific community ist die Erfahrung des durch externe Interessen geleiteten Wissenschafts betriebes. Die Finalisierungstheoreti­ ker vom Starnberger See (Krohn; van den Daele

&

Weingart 1979) wiesen schon

in den Siebzigerjahren des vergangenen Jahrhundert nach, wie intensiv nicht nur die Fragestellungen der Wissenschaften, sondern auch die Anerkennung des von diesen erarbeiteten Wissens durch Interessen geleitet werden, die dem Wissen selbst äußerlich sind; genauer: ihm voraus sind oder in dessen Konstitutionspro­ zess immer wieder durch außerwissenschaftliche Direktiven eingreifen. Dieses Problem hat gerade in der Perspektive der Wissensgesellschaft an Bedeutung zu­ genommen (vgl. u. a. Bender 2001). Unter anderem die Verfügung über personel­ le und materielle Ressourcen, der Einfluss politischer Interessen oder der Faktor Zeit spielen eine wichtige Rolle, wenn es um die Ausarbeitung von Wissen geht. Damit ist auch schon klar, in welchem Maße die epochenspezifische Kultur das, was als Wissen gilt. eingrenzt - was auch von Neuser (2013. S. 287) durchaus zu­ gestanden wird: "Unsere Welt ist so, wie unser Wissen von der Welt in unserer Kultur erlaubt, unsere Welt zu verstehen" oder wenn er das Nichtwissen als das

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kennzeichnet, "was im Rahmen von Begriffen und kulturellen Bedingungen nicht gewusst werden kann" (ebd.. S. 112). Wenn wir davon ausgehen. dass die tech­ nisch-kapitalistische Gesellschaft immer stärker der utilitaristischen Ethik ver­ pflichtet ist, dann kann nicht verwundern, wenn sich die in ihr bevorzugten Pa­ rameter der Wissens erzeugung an der Anwendbarkeit dieses Wissens orientieren und dem Kriterium der Nützlichkeit folgen. Auch hier sind wir mit dem Sachver­ halt konfrontiert, dass die Wissens bestände der heutigen Gesellschaft Resultate nicht nur einer endogenen Dynamik, sondern ebenso sehr Entscheidungen exter­ ner Akteure sind. Typisch hierfür sind die forschungspolitischen und bildungs po­ litischen Interventionen, für deren Folgen die jeweiligen Entscheidungsträger Verantwortung zu übernehmen hätten. Als dritter beispielhafter Prüfstein für die These vom sich selbst ständig aktuali­ sierenden Wissensprozess in der Wissensgesellschaft sei der Einfluss biografi­ scher Erfahrungen auf die Interpretation und das Verständnis der sozialen und technischen Umwelt genannt. Zum Kern hermeneutisch-interpretativer Verfah­ ren gehört die Einsicht in die Vorurteilsstruktur des Verstehens. Ohne Vorurteile wäre es nicht einmal möglich, sinnvolle Fragen hinsichtlich desjenigen Sachver­ halts zu formulieren, um den es geht. In Vorurteilen verbergen sich also Erwar­ tungen, die sich aus vorausgegangenen Erfahrungen speisen; Erfahrungen die sich etwa der Sozialisation, der professionellen Orientierung oder institutionellen Verpflichtungen verdanken (Scott 1968. S. 201 fl). Die Neugierde. etwas wissen zu wollen, ist nicht zuletzt von solchen biografischen Erfahrungen geprägt. Sie bilden den unübersteigbaren Horizont, innerhalb dessen sich das Wissen entwi­ ckelt. Das zeigt sich insbesondere bei den Versuchen, Konflikte zwischen ver­ schiedenen biografischen Erfahrungen zu lösen: Es sind individuelle Präferenzen, die darüber entscheiden. So kann niemand dem Arzt im kirchlich geführten Kran­ kenhaus die Entscheidung abnehmen, ob er entgegen der Anweisung des Trägers der Institution die Abtreibung vornimmt, die er aufgrund seines medizinischen Wissens oder seiner in der Sozialisation geprägten ethischen Haltung glaubt vor­ nehmen zu müssen. In dieser Situation kann er sich auf kein noch so anerkanntes Wissen berufen. Er muss sich auf ein Wissen stützen, das durch seine Erfahrung gerechtfertigt ist. Die Griechen benutzten hierfür den auch in der hermeneuti­ schen Diskussion bevorzugten Begriff phronesis. Mit ihm ist ein praktisches Wis­ sen bezeichnet, das nur in und aus der Erfahrung zu gewinnen ist (Gadamer 1986, S. 318 fl). Es ist fraglich. inwiefern dieses Wissen noch unter dem Titel .,Eigen­ schaft einer Gemeinschaftsleistung einer Erfahrungsgemeinschaft" (Ne user 2013, S.67) gefasst werden kann. Wissensprozesse - das der vierte Testfall - verlaufen nicht linear. Der Blick auf

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die Wissenschaftsgeschichte lehrt, dass die Entwicklung von Wissen immer auch vom Vergessen und dem Verlust früheren Wissens geprägt oder erst ermöglicht ist. Dieser Sachverhalt tritt zu der These von dem sich selbst organisierenden Wissenssystem nicht in Widerspruch, geht aber in ihr nicht auf. Der Tod einer für den eigenen Lern- und Lebensweg wichtigen Person zeigt das. Hatten wir wäh­ rend der gemeinsamen Arbeit zu ihren Lebzeiten die Chance, uns im Dialog über Zweifel oder Differenzen hinsichtlich unseres Wissens zu verständigen, bleibt nach dem Tod des Gesprächspartners nur der Versuch, anhand von verschiede­ nen Indikatoren dessen Wissen von der Welt zu rekonstruieren; ein Wissen, das mit dem Tod jedoch endgültig und unwiederbringlich verloren ist. Jeder Versuch seiner Rekonstruktion ist eine neue Konstruktion des verlorenen Wissens. Diese Erfahrung ist deprimierend - man denke etwa an den Verlust der Wissenshori­ zonte eines Karl Löwith, H. G. Gadamer oder C. F. von Weizsäcker -, setzt aber zu­ gleich Impulse frei, mit der Interpretation zu einem eigenen neuen Verständnis zu kommen. Die Spannung zwischen Verlust und Gewinn an Einsichten zeichnet diese Erfahrung aus.

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Zwar gilt. dass .,die Wissensgesellschaft (ist) nicht mit der Vorstellung der sub­ jekttheoretischen Aufklärung zu verstehen" ist (ebd., S. 333), aber ob daraus zu folgern ist, an die Stelle der Freiheit des Subjekts trete "die Freiheit des Wissens­ systems" (ebd., S. 334), ist damit noch nicht gesagt. Die Folgerung wäre nur schlüssig, wenn das Subjekt in der Wissensgesellschaft abgedankt hätte. Die vor­ gestellten Beispiele deuten jedoch darauf hin, dass die Wissensgesellschaft das Subjekt allenfalls zu verdrängen sucht, ohne es verabschieden zu können. Die his­ torische Periodisierung der Wissenskonzepte, auf die sich Neusers (2013) Über­ legungen stützen, ist zur Überprüfung dieser Vermutung hilfreich. Der Bogen vom griechischen Wissenskonzept über die Frage nach der Begrün­ dung des Wissens im Mittelalter und in der Neuzeit ist als Abfolge von Epochen der Stabilisierung einer Denktradition und Übergangsphasen beschrieben, in de­ ren Verlaufsich die Wurzeln einer neuen Tradition ankündigen. Diese strukturel­ le Kontinuität hat einen weiteren gemeinsamen Nenner, der für den hier disku­ tierten Zusammenhang wichtig ist: Die neuen, sich entwickelnden und dann sta­ bilisierenden Wissenskonzepte können sich nicht vollständig von den vorange­ gangenen lösen, sondern tragen deren Erbschaft in sich. Dies auch dort, wo sie sich von ihrer Herkunft radikal zu trennen meinen. So gilt schon im Falle des Übergangs von der griechischen zur mittelalterlichen Wissensvorstellung, wo die

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Frage der Griechen nach dem, was das Wissen sei, durch die nach dessen Be­ gründbarkeit ersetzt wird. Sieht man aber genauer hin, dann weist die Antwort des Mittelalters auf den Mythos der kosmologischen Ordnung zurück. Auch Gott als externem Schöpfer der Welt wird in den Mythen der westlichen Religionen die Rolle einer vorrationalen Ordnungsquelle zugewiesen, wie sie in der griechischen Denktradition im Verhältnis von Mythos und Logos sichtbar ist. Das aristotelische Problem des ersten Bewegers oder Platons These von der Welt unveränderlicher Ideen sind rational ebenso wenig zu begründen, wie die christliche Idee Gottes als Schöpfer der Weltordnung. Auch das mittelalterliche Wissen ist, wie die griechi­ sche Kosmologie, auf einen Mythos als vorrationalen Grund des Wissens um die Weltordnung angewiesen. Wer dies verkennt, findet keinen Zugang zur Bedeu­ tung z. B. des rätselhaften Beginns des Johannes-Evangeliums, wo es heißt: "Im Anfang war das Wort, und das Wort war bei Gott, und Gott war das Wort. Dassel­ be war im Anfang bei Gott" (Luther 1912, Johannes 1, 1-2). Ebenfalls mit der Erbschaft der vorangegangenen Tradition des Wissensver­ ständnisses belastet ist der Übergang vom Mittelalter zur Aufklärung. Das Stich­ wort heißt hier Säkularisierung. "Was in dem als Säkularisierung gedeuteten Vorgang überwiegend [ ...] geschehen ist, lässt sich nicht als Umsetzung authentischer theologischer Gehalte in ihre säkulare Selbstent­ fremdung, sondern als Umbesetzung vakant gewordener Positionen von Antvvorten be­ schreiben, deren zugehörige Fragen nicht eliminiert werden konnten." (Blumenberg 1974, S. 77)

Folgt man der Feststellung Blumenbergs (1974), dann sind zentrale theologische Begriffe wie Schöpfung, Souveränität, Selbst- und Allmacht oder Allwissenheit Indikatoren für Probleme, die jede spätere Ordnung ohne Gott, also jede profane, mit sich schleppen wird. An die Stelle der Instanz Gott tritt eine neue, der die Ei­ genschaften abverlangt werden, die in der mittelalterlichen Tradition Gott zuge­ schrieben sind. Da die Aufklärung der Autonomie der menschlichen Vernunft die Rolle der letztbegründenden Instanz des Wissens zuweist, wird diese die Erbin der göttlichen Eigenschaften und Fähigkeiten. Obwohl gerade gegen den Mythos von der göttlichen Allmacht und Allwissenheit gerichtet, gelingt es der Idee vom aufgeklärten, also rationalen Subjekt nicht, dessen Abhängigkeit von den theolo­ gischen Wurzeln zu vermeiden. Wo sie das dennoch versucht, wird sie selbst zum Mythos. Das seiner selbst gewisse Subjekt ist mit den Aufgaben überfordert, die ehedem der göttlichen Macht vorbehalten waren. Die Rationalität des Mythos mündet hier in den Mythos der Rationalität - eine Einsicht, die in der Dialektik der Aufklärung von Horkheimer/Adorno im Zentrum steht. Auch hier zeigt sich die Falle, mit der der Übergang zu neuen Konzepten des Wissens rechnen muss. Neu entstehende Wissenstraditionen können ihre Herkunft aus der, gegen die sie

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polemisieren, nicht verleugnen oder verdrängen. Aufgrund dieser Diagnose wird die These von der Abdankung des aufgeklärten Subjekts zugunsten eines kontinuierlich sich selbst organisierenden Wissenssys­ tems der modernen Wissensgesellschaft fraglich. Die Vermutung liegt nahe, dass der Versuch einer radikalen Verleugnung des Subjekts, gegen das sich das mo­ derne System des Wissens wendet, scheitert. Sicher ist wichtig, den strukturbil­ denden Systemgedanken für das moderne Wissen gegenüber dem exklusiven Vernunftanspruch des aufgeklärten Subjekts stark zu machen. Darin liegt in der Tat ein charakteristischer Aspekt der Wissensgesellschaft. Das hat aber nicht notwendigerweise zur Folge, nun seinerseits der Idee des sys­ temisch verfassten Wissens, an dem die Individuen nur teilhätten, Exklusivitäts­ status zuzuschreiben. Da die Systemtheorie keine Begründungsfragen behandelt, sondern - wenn auch äußerst erfolgreich - Darstellungen von Beziehungen und Strukturen liefert, bleibt die Frage offen, wer oder was die Entwicklungsdynamik des modernen Wissenssystems mit dessen internen Beziehungen und Strukturen in Gang hält. Die referierten Beispiele zeigen den Bedarf des Systems an externen Impulsen, die das endogene Entwicklungspotenzial dazu reizt, sich selbst einer unablässi­ gen Reformulierung auszusetzen. Die interne Dynamik eines sich selbst organi­ sierenden zukünftigen Wissenskonzepts wird auf das Spannungsfeld zwischen System und Subjekt angewiesen sein, weil der jeweilige Wissensstand aus den Beiträgen der Individuen komponiert ist und damit auf die jeweiligen individuel­ len Perspektiven reagieren muss. Von Letzteren hängt also auch ab, inwieweit sich die Binnenstruktur des Wissens bestandes und die ihm eigenen Beziehungen zwischen "Erfahrung, Begriff und Handlung" neu ordnen müssen. Das ist mehr als die These meint, "an der Wissenskonstitution sind zahlreiche Individuen beteiligt, ohne Verantwortung für die Wahrheit dieses Wissens zu übernehmen" (Neuser 2013, 5.95). Um sich selbst zu entfalten, braucht das Wissenssystem die Freiheit der Subjekte. Wenn Letztere von der modernen Wissensgesellschaft geleugnet wird, bleibt diese blind gegen das Erbe der Aufklärung, aus dem sie ihre Dynamik gewinnt. Weder das System noch die Subjekte allein sind die Garanten des jewei­ ligen Wissens. Das eine kann das andere nicht ersetzen. Es ist das Zusammenspiel der bei den Momente, aus dem das moderne System des Wissens lebt. Ein Sach­ verhalt, der die einzelnen Subjekte von einer Last befreit, die ihnen von der Idee der aufgeklärten Vernunft aufgeladen worden war. Literatur Beck, U. (1986): Risikogesellschaft - auf dem Weg in eine andere Moderne. Frankfurt: Suhrkamp-Verlag.

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HANS-GEORG FLICKINGER

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MARTIN BOJOWALD

Beobachter in der Kosmologie

Zusammenfassung

Im Jahr 1486 schrieb der Renaissance-Philosoph Giovanni Pico della Mirandola in seiner Rede über die Würde des Menschen folgende Passage: "Nirgendwo in der ganzen Welt gab es einen Platz, wo der Beobachter sich hätte niederlassen kön­ nen" (Cassirer 2010). In Picos Argument wird diese Platzlosigkeit zu einer Art Geschenk des Prometheus: Nach der Schöpfung waren allen leblosen Objekten. Pflanzen, Tieren und auch überirdischen Naturen feste Rollen im Kosmos zuge­ wiesen, für den Menschen aber blieb nichts. Stattdessen ist der Mensch frei und schrankenlos, keinen allzu strikten Gesetzen unterworfen. Er ist in der Lage, die Welt zu erkunden, sich zu bilden und durch Wissen im Range der Geschöpfe bis hin zum Göttlichen emporzusteigen. In der Renaissance der Physik seit dem Beginn des letzten Jahrhunderts ist die Rolle des Beobachters auch in dieser Disziplin ins Zentrum mehrerer wichtiger Fragen gerückt. Die moderne Kosmologie gibt Picos Passage eine pragmatische Bedeutung. Als Beobachter sind wir immer Teil des Universums und können uns nicht davon trennen. Wir können uns nicht als isolierte Beobachter niederlassen, um das Universum als Außenstehende betrachten zu können. Die Situation ist verschieden von der üblichen und sehr erfolgreichen in anderen Gebieten der Physik, oder allgemeiner der Naturwissenschaft, in denen man ein eingegrenztes System sorgfältig präparieren und kontrolliert vermessen kann. Im entgegengesetzten Bereich des Mikroskopischen - oder des Bereiches der Mo­ leküle, Atome und Elementarteilchen, in dem die Quantenmechanik essenziell ist - spielt der Beobachter eine weitere und unerwartetere Rolle. Bekannt ist dies vor allem durch das Gedankenexperiment von Schrödingers Katze, über deren Schicksal, wie es scheint, nicht ein deterministisches Gesetz herrscht, sondern der erst durch den Akt des Beobachtens zur Gewissheit werdende Zufall. Wie durch dieses Gedankenexperiment angedeutet sind es nicht nur wirkliche Beobachtungen, sondern immer mehr auch abstrakte Überlegungen, die in der theoriedurchdrungenen modernen Physik die Rolle des Beobachters hinterfra­ gen. Aber Theorien werden selbst beobachtet - dadurch, dass sie von ihren geisti­ gen Eltern sowie kritischen Kollegen in Hinblick auf Konsistenz und Nützlichkeit

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begutachtet werden. Manche Interessen in der Entvvicklung oder Etablierung ei­ ner Theorie bleiben im Dunkeln, weil Theoretiker weniger minutiös (und manchmal vielleicht auch weniger ehrlich) in ihren Protokollen sind, als deren experimentelle Kollegen. Schließlich bestehen Physiker auf der Reproduzierbar­ keit von Experimenten. Jedes Detail sollte festgehalten werden, um im Falle von sich widersprechenden Beobachtungen den schuldigen Unterschied im Experi­ ment finden zu können. Die Reproduzierbarkeit der Theoriebildung verlangt man hingegen nicht, solange die gewonnenen Gleichungen der Theorie nicht fehlerhaft sind. Manchmal, so scheint es trotz allen Erfolgs, verlieren theoretische Physiker den Bezug zur Realität und ersetzen sie durch eine abstrakte Welt, als Spiel im intellektuellen Wettbewerb. Eine theoretische Beobachtung ist weiterhin not­ wendig, um Konsistenz sicherzustellen, ist aber weniger klar definiert als die ex­ perimentelle Beobachtung. Diese drei Bereiche - Kosmologie, Quantenmechanik, Theorie - werden in diesem Beitrag näher diskutiert.

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Kosmologie

In den letzten 20 Jahren haben kosmologische Beobachtungen eine Genauigkeit erreicht, die man bisher nur von irdischen Experimenten gewohnt war. Mehrere Millionen Galaxien sind gesichtet und systematisch vermessen worden, sodass nicht nur deren Positionen am Himmel, sondern auch die Entfernungen von uns sehr genau bekannt sind (vgl. SDSS 2016). Wir haben also eine gute Kenntnis der dreidimensionalen Massenverteilung in einem weiten Bereich um uns herum. Nach der Allgemeinen Relativitätstheorie beeinflussen die Massen die Ausdeh­ nung des Universums, was aus den bekannten Messdaten berechnet und mit an­ deren Beobachtungen verglichen werden kann. Extrapolationen zu vergangenen oder vielleicht auch zukünftigen Stadien des Universums werden immer verläss­ licher. Eine wichtige Klasse von Messungen des längst vergangenen Universums ist die der kosmischen Mikrowellenstrahlung. Diese elektromagnetischen Wellen von winziger Intensität sollen aus einer heißen und extrem dichten Anfangsphase des Universums, des Urknalls, überlebt haben. Sie erfüllen das Universum nahezu homogen, sind aber in ihrer Intensität durch die kosmische Expansion stark ver­ dünnt worden. Dennoch kann man sie nachweisen, weil sie im Gegensatz zu an­ derer Strahlung, wie dem Sternenlicht, nicht nur in bestimmten Blickrichtungen erscheinen. Nach der Urknalltheorie sollen sie das Universum zu jeder Zeit nahe­ zu homogen erfüllen, mit einer Intensität, die man durch die Temperatur der

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Strahlung beschreiben kann. Die Wellen wurden zu einem lange vergangenen Zeitpunkt ausgelöst, als die Ma­ terie nach der heißen Urknall phase zum ersten Mal transparent wurde. Wie man nicht ins Innere der Sonne blicken kann, sondern nur den Rand sieht, an dem die Temperatur auf etwa 5000 Grad Celsius abfällt, so kann man keine elektromagne­ tischen Wellen nachweisen, die aus einer Urphase heißer als etwa 5000 Grad Cel­ sius stammen. Nach der bekannten Materieverteilung kann man mithilfe der All­ gemeinen Relativitätstheorie berechnen, zu welchem Zeitpunkt die Temperatur niedrig genug war - etwa 380.000 Jahre nach dem Urknall. Wiederum mit der bekannten Materieverteilung lässt sich dann abschätzen, auf welche heutige Temperatur die Strahlung von den anfänglichen 5000 Grad Celsius durch kosmi­ sche Expansion gefallen sein sollte. Mithilfe von empfindlichen Detektoren, die zur Eliminierung von Streulicht und atmosphärischen Störungen auf Satelliten positioniert sind, haben Experimente wie WMAP und Planck diese Wellen mitt­ lerweile sehr genau vermessen (vgl. WMAP 2016; PLANCK 2016). Die Eigenschaf­ ten, insbesondere die Temperatur von nur etwas mehr als -271 Grad Celsius, stimmen mit dem überein, was man aus der rückextrapolierten Massenverteilung der Galaxien sowie aus theoretischen Modellen erwartet. Obwohl wir mittlerweile manche Messungen sehr genau ausführen können, selbst wenn die Messobjekte weit von unserem Planeten entfernt sind, hängen wir weiterhin von unserer gegebenen Position im Universum ab. An dieser Stelle tritt die Rolle des Beobachters sehr konkret in Erscheinung, und zwar wie bei Pi­ co in kosmischem Zusammenhang, aber doch viel pragmatischer und auch auf vielfältigere Weise. Zum Beispiel liegt die dreidimensionale Massenverteilung der Galaxien nicht im Raum vor, wie man sie sich vielleicht zunächst vorstellt. Wir messen die galaktischen Koordinaten durch uns erreichendes Licht, und zwar die Position am Himmel durch direkte Sicht sowie die Entfernung über die sogenann­ te Rotverschiebung. Im sich ausdehnenden Universum haben von uns weiter ent­ fernte Galaxien eine größere Geschwindigkeit relativ zu uns. Ausgesandte licht­ wellen werden dabei gedehnt oder im sichtbaren Bereich hin zu roten Farben verschoben. Die Verschiebung ist proportional zur Geschwindigkeit und kann leicht gemessen werden, weil Atome der stellaren Materie (vor allem Wasserstoff und Helium) Licht charakteristischer und bekannter Farben aussenden. Nun ist die Lichtgeschwindigkeit aber endlich, wenn auch sehr groß im Vergleich zu unseren üblichen Bewegungsgeschwindigkeiten. Die Messdaten zu weiter ent­ fernten Galaxien zeigen uns deren Eigenschaften also zu einem früheren Zeit­ punkt im Vergleich zu näheren. Die Entferntesten der erfassten Objekte hatten ihr kürzlich gemessenes Licht vor 12 Milliarden Jahren ausgesandt. Man kann die

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Massenverteilung deshalb nicht als ein Profil im Raum (zu einem festen Zeit­ punkt) ansehen. Stattdessen ist sie auf einem sogenannten Lichtkegel in der vier­ dimensionalen Raum-Zeit realisiert, an dessen Spitze sich unser Planet befindet. Im Diagramm aller Raum- und Zeitkoordinaten, illustriert in Abbildung 1, ist der Lichtkegel die Vereinigungsmenge aller Lichtstrahlen, die den Beobachtungs­ standpunkt zur Beobachtungszeit erreichen. Der feste Wert der Lichtgeschwin­ digkeit bedeutet, dass ein einzelner Lichtstrahl im Diagramm als gerade Linie dargestellt wird. Lichtstrahlen, die aus allen beliebigen Richtungen eintreffen, bilden eine Fläche, die man durch Rotation eines Lichtstrahls um eine vertikale Achse erhält, also einer Kegelfläche als Teilmenge der ganzen Vergangenheit.

t

Xo

x

Abbildung 1: Diagramm über alle Raum- und Zeitkoordinaten

'

Im Gegensatz zu einer Verteilung im Raum spielt die Position unseres Planeten oder unserer Beobachtungsgeräte also weiterhin eine Rolle, auch wenn wir nun über weite Entfernungen hinwegblicken können. Da unsere Distanzmessungen auf Signale wie Licht, oder in der Zukunft vielleicht ähnlich schnelle Boten wie Gravitationswellen oder Neutrinos, zurückgreifen, können wir weder ins Innere noch ins Äußere dieses Lichtkegels blicken. Durch unsere Beobachterposition sind unsere Messergebnisse prinzipiell beschränkt.

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Der Lichtkegel ist die Menge aller vergangenen Punkte in einem Raum-Zeit-Diagramm, die zu einem Beobachtungszeitpunkt to am Beobachtungsort Xo ankommen. In dieser zweidimensionalen Darstellung sieht man nur einen dreiecksförmigen Querschnitt; der ganze Lichtkegel ergibt sich durch Rotation des Dreiecks um die vertikale Achse. Bereiche im Universum, die der Beobachtung zugänglich sind, sind durch zwei Eigenschaften eingeschränkt: Erstens werden entfernte Ereignisse erst nach einer Zeit wahrgenommen, die bei konstanter Lichtgeschwindigkeit proportional zur Entfernung ist. Alle diese Ereignisse liegen auf dem Lichtkegel im Raum-Zeit-Diagramm, stellen also nur einen kleinen Anteil der ganzen Vergangenheit dar. Zweitens war das Universum zu frühen Zeiten sehr heiß und deswegen nicht transparent (schraffiert). Ereignisse in dieser Phase können nur durch indirekte Auswirkungen auf spätere Zeiten gemessen werden. Noch schwieriger ist es, mögliche Ereignisse vor der heißen Phase nachzuweisen.

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Man beruft sich in diesem Zusammenhang oft auf das kosmologische Prinzip, nach dem wir eine typische und nicht speziell ausgezeichnete Position im Weltall einnehmen sollen. Im Inneren oder Äußeren des Lichtkegels sollte dann eine ähn­ liche Materieverteilung vorliegen wie auf der Kegelfläche gemessen. Aber können wir uns dessen sicher sein? Wir können das Prinzip nur dadurch testen, dass wir die Messungen über einen langen Zeitraum immer wieder erneut ausführen. Bei jeder Messung würde sich unsere Position in der Raum-Zeit, und damit der licht­ kegel, leicht verschoben haben, sodass ein anderer Teil der Vergangenheit in die Sicht geraten wäre. Aber jeder Messzeitraum, der heute und in der absehbaren Zukunft infrage kommt, wäre gering im Vergleich zu der Gesamtdauer des licht­ kegels von mehreren Milliarden Jahren, wir könnten also nur eine unwesentlich kleine Umgebung des Lichtkegels auskundschaften. In der Zwischenzeit, bis wir (wenn überhaupt) verlässliche weiträumige Daten haben, wird das kosmologische Prinzip immer wieder hinterfragt, denn nicht alle Details der beobachteten kosmischen Expansion können mit heutigen Theorien zwingend erklärt werden. Das bekannteste Beispiel ist eine anscheinende Be­ schleunigung der Expansion, die man mit dem rätselhaften Begriff der Dunklen Energie nur modellieren, nicht aber erklären kann. Diese unsichtbare Energie­ form soll dafür sorgen, dass die üblicherweise anziehende Gravitation über große Distanzen kompensiert wird, sodass sie die Expansion nicht abbremsen kann. Ei­ ne solche Antigravitation ist noch nie experimentell beobachtet worden, und sie kann selbst in theoretischen Modellen nur schwer und mit vielen Kniffen einge­ baut werden. Als Alternative haben manche Kosmologen vorgeschlagen, dass un­ sere nähere kosmische Umgebung weniger dicht sein sollte als der Gesamtdurch­ schnitt. Materie, die in Form von Galaxien um unsere verdünnte Blase verteilt ist, würde auf nähere Galaxien anziehend wirken, sie also von uns fort ziehen, sodass um uns herum eine scheinbare Beschleunigung der Galaxienbewegung resultier­ te. Kosmologen suchen nach möglichen Hinweisen auf eine Ungleichverteilung in den gemessenen Positionen von Galaxien, die Resultate bleiben aber unklar. Wie durch diese Beispiele angedeutet, ist die besondere Rolle des Beobachters in der Kosmologie keine Ursache von physikalischen Wechselwirkungen, sondern konzeptioneller Natur. Ein kosmologischer Beobachter (oder ein unpersönliches Teleskop) führt sicher nicht zu einer Beeinflussung des ganzen Universums oder des Messsystems. Denn zum einen ist die Masse eines Teleskops zu gering, um sich auf den Lauf der Gestirne auszuwirken. Zum anderen ist alles kosmologisch Beobachtete weit entfernt und damit, wiederum wegen des endlichen Wertes der Lichtgeschwindigkeit, zum Zeitpunkt der Messung schon lange vergangen. Eine Beeinflussung findet also nicht statt, aber auch keine Einflussnahme. Es ist

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nicht möglich, das Universum für eine Messung zu präparieren, oder einige Pa­ rameter zu variieren, um deren Einfluss auf Messgrößen zu analysieren. Man kann Messungen nicht beliebig wiederholen, was ansonsten eine wichtige Proze­ dur zur Reduzierung statistisch verteilter Messfehler ist. Die Interpretation des Beobachteten ist deutlich komplizierter als in anderen Zweigen der Physik, was zu manchen weit diskutierten und umstrittenen Fragen geführt hat. Das erstaun­ lichste Beispiel ist wohl eine mögliche Nord-Süd-Asymmetrie in der Dichtevertei­ Jung der Mikrowellenstrahlung im Universum, die von manchen Kosmologen spaßeshalber Achse des Bösen genannt wird. Nicht alle Kosmologen stimmen in der Frage überein, ob dieses Ungleichgewicht eine statistische Fluktuation (und damit kontingent) oder von fundamentaler Bedeutung in unserer Geschichte des Universums ist.

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Quantenmechanik

In einem gewissen Sinn liegt die entgegengesetzte Situation im Mikroskopischen vor. Wenn man zum Beispiel einzelne Atome untersucht, so erlauben moderne Techniken sehr kontrollierte Experimente sowie nahezu uneingeschränkte Wie­ derholbarkeit. Einige der fundamentalen Parameter. die die Mikrophysik be­ schreiben, gehören zu den am genauesten bekannten Messgrößen. In manchen Fällen stimmen theoretische Vorhersagen und experimentelle Messungen auf bis zu zehn Dezimalstellen überein. Doch auch in diesem Bereich kommt es zu einer wirkungsvollen Rolle von Beobachtern. Die Experimentiergenauigkeit ist so groß, dass ein Beobachter (oder ein Messgerät) das zu vermessende System selbst be­ einflusst. Eine Messung verlangt immer einen Austausch von Signalen und damit von Energie, denn ansonsten könnte es keine Veränderung in der Anzeige des Gerätes geben. Die ausgetauschte Energie kann mit modernen Messverfahren oft minimiert werden, ist bei mikroskopischen Systemen aber dennoch groß genug, um sich auf ein Messobjekt wie ein einziges Atom oder Elementarteilchen auszu­ wirken. Die Messung verändert das Messobjekt, sodass es unmöglich ist, manche Eigenschaften beliebig genau zu vermessen. Quantitativ wird dies durch Heisen­ bergs Unschärferelation gezeigt. Auch hier gibt es ein eindrucksvolles Beispiel. Moderne Gravitationswellendetek­ toren wie LlGO (2016) in den USA oder GE0600 (2016) nahe Hannover versu­ chen, winzige Deformationen der Raum-Zeit nachzuweisen. Bisher ist die direkte experimentelle Bestätigung noch nicht gelungen, wird aber in wenigen Jahren erwartet. Denn kataklysmische Ereignisse im Universum, vor allem ein Kollaps von schweren Sternen in Supernovae oder die Kollision von Schwarzen Löchern,

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sollten nach der Allgemeinen Relativitätstheorie zu Raum-Zeit-Deformationen führen, die sich als Gravitationswellen mit Lichtgeschwindigkeit zu uns bewegen können. Allerdings bewirken diese Wellen nur winzige Verschiebungen, die we­ niger als das Tausendste des Protonenradius betragen (oder weniger als ein Mil­ liardstel eines Milliardstels eines Millimeters). Dennoch liegt eine Messung im Bereich des Möglichen, und zwar mit moderner Interferometertechnologie. Dabei wird ein Laserstrahl viele Male zwischen genau positionierten Spiegeln hin und her reflektiert, und zwar auf zwei unterschiedlichen Wegen. Sollte einer der Wege durch eine sich durch das Interferometer bewegende Gravitationswelle verkürzt oder gedehnt werden, ergeben sich leicht unterschiedliche Lichtintensitäten an den Enden der zwei Wege, die man mit empfindlichen Detektoren nachweisen kann. Allerdings müssen die Spiegel sehr genau positioniert werden, denn wenn man eine Streckenveränderung vom Tausendstel eines Protonenradius nachweisen möchte, sollten die Spiegel nicht weiter von der geplanten Position abweichen. Die Position ist nun aber eine der Größen, die nach der Unschärferelation nicht beliebig genau eingegrenzt werden kann, wenn man auch die Geschwindigkeit minimieren möchte. Man kann also entweder die Position zu einem Zeitpunkt sehr genau festlegen, nicht aber die Geschwindigkeit, sodass sich der Spiegel schnell von der gewollten Position fortbewegen würde. Oder man kann die Ge­ schwindigkeitsunschärfe nahezu Null werden lassen, muss aber eine ungenaue Positions messung in Kauf nehmen. Ein geeignetes Mittelmaß kann zwar erreicht werden, limitiert aber trotzdem die prinzipielle Messgenauigkeit. Selbst bei makroskopischen Spiegeln mit den üblichen Massen von mehreren Ki­ logramm spielt die quantenmechanische Unschärferelation eine große Rolle, wenn man nur genau genug misst. Ein einzelnes Proton - mit der winzigen Masse von weniger als einem Milliardstel eines Milliardstels eines Milligramms - hätte, wenn man es auf ein Tausendstel seines Radius festlegen wollte, eine Geschwin­ digkeit, die man nur mit einer (Un-)Genauigkeit von mehr als einer Milliarde Me­ ter pro Sekunde bestimmen könnte. Praktisch wäre die Position also unmessbar innerhalb der gegebenen Schranken. Ein LlGO-Spiegel mit knapp 40 Kilogramm hätte, bei gleicher Genauigkeit der Positions bestimmung, eine durch die Unschär­ ferelation bedingte minimale Geschwindigkeitsungenauigkeit von etwa einem halben Millimeter in einer Milliarde Jahren. Im Prinzip sollte die verlangte Positi­ onsgenauigkeit also gut möglich sein, nicht nur zum Zeitpunkt einer einzelnen Messung, sondern über einen ausgedehnten Zeitraum. Bei der geringen Ge­ schwindigkeit des unscharfen Spiegels dauert es etwa eine Minute, bis der Spiegel sich um die gewünschte Messgenauigkeit vom Tausendstel des Protonenradius

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verschoben hat. Nach einer Minute könnte man ohne besondere Vorkehrungen, die die Unschärferelation in Betracht ziehen, den Messungen nicht mehr genug Vertrauen schenken. Nun muss man aber sehr lange messen - sicher mehrere Monate, wenn nicht Jahre, denn starke und damit messbare Gravitationswellen erwartet man nicht alle Tage. Bei der gewünschten Genauigkeit gelangt man dann doch an die Grenzen der Unschärferelation. Die Unschärferelation ist nur eine der unerwarteten Konsequenzen der Quan­ tenmechanik, die vor allem (aber nicht nur) zur Beschreibung atomarer oder elementarer Systeme wichtig ist. Diese Theorie führt zu fundamentalem statisti­ schen Verhalten: Im Allgemeinen können nur Wahrscheinlichkeiten für gewisse Messwerte vorhergesagt werden, nicht jedoch ein genau festgelegter Wert, wie man es nach der klassischen Physik zum Beispiel für die Position eines fallenden Balles nach einer gewissen Zeit erwarten würde. Der genaue Zeitpunkt des Zer­ falls eines radioaktiven Atomkerns kann dagegen nicht vorhergesagt werden, man kann lediglich die Zerfallszeit bestimmen, nach der dieses Ereignis am wahr­ scheinlichsten ist. Im konkreten Experiment kann ein einzelner Atomkern aber auch vor oder nach Ablaufen dieser als Mittelwert anzusehenden Zeit zerfallen. Dennoch beobachten wir den Zerfall eines einzelnen Atomkerns als scharfes Er­ eignis. Eine radioaktive Probe enthält immer eine Vielzahl von Kernen, die alle genau gleich gebaut sind und im Mittelwert nach der gleichen Zeit zerfallen sollten, aber statistisch ein unterschiedliches Schicksal haben. Für eine Vielzahl von Kernen stimmt ein Geigerzähler erst leise sein Summen an, bis er zum Zeitpunkt der ge­ mittelten Zerfallszeit die maximale Lautstärke erreicht und dann langsam ver­ stummt. Für ein einzelnes Atom hören wir ein einziges Piepen, das den Zerfall dieses einen Kerns anzeigt. Die Quantenmechanik erlaubt uns nicht, das Anschla­ gen eines Zählers für einen einzelnen Atomkern vorherzusagen, wir erhalten le­ diglich eine Ansammlung von Zahlen, deren Bedeutung die Wahrscheinlichkeit des Zerfalls zu verschiedenen Zeitpunkten ist. Keine andere bekannte Theorie kann die Quantenmechanik übertrumpfen. Wenn wir eine gewisse Anzahl, etwa hundert, getrennte Atomkerne mit jeweils einem eigenen Geigerzähler abhören, so ertönen die Zähler zu verschiedenen Zeiten. Wir können deren Geräusche akustisch überlagern, und erhalten dann das gerade beschriebene Anstimmen und Abflauten, dessen Verlauf durch die Quantenmechanik berechnet werden kann. Das Ertönen eines einzelnen Zählers bleibt hingegen unbestimmt - bis die Messung stattfindet. Das statistische Verhalten ist fundamental und kann nicht auf lediglich unvoll­ ständiges Wissen der Ausgangslage des zu vermessenden Systems zurückgeführt

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werden. Dennoch wird bei einer Messung trotz unscharfer Vorhersagen immer nur ein Messwert realisiert, der bei wiederholten Messungen an ähnlich präpa­ rierten Systemen unter Umständen weit abweichen kann. Der Einfluss einer Mes­ sung ist hier also sehr groß: Wenn keinerlei theoretische Vorhersage möglich ist, so scheint erst die Messung eine Wahl zu treffen; sie selbst (und nicht ein Natur­ gesetz) entscheidet über das Schicksal des Messsystems, wie den Zerfall eines Atomkerns oder im Extremfall über Leben und Tod von Schrödingers Katze. Ein solch starker Einfluss ist unerwartet und wird oft als Kollaps der statistischen Möglichkeiten (oder der quantenmechanischen Wellenfunktion) zu einer einzi­ gen endgültigen Realisierung beschrieben. Im Extremfall makroskopischer Systeme ist der Kollaps unerwartet, bei mikro­ skopischen Systemen verständlich. Der Einfluss einer aus unzähligen Atomen be­ stehenden Messapparatur auf ein einzelnes Messatom erscheint dann überwälti­ gend. Messungen werden letztendlich auf Wechselwirkungen unterschiedlicher Atome zurückgeführt, sodass man in diesem Bild von einem ganzen Schwarm von Beobachtern (den Atomen des Messgerätes) sprechen kann, der das einsame Messatom bedrängt und vielleicht den Kollaps erzwingt. In der Anfangszeit der Quantenmechanik war das Hauptinteresse, Abweichungen dieser neuen Theorie von dem erwarteten klassischen Verhalten zu beschreiben und zu messen. Wie vor allem von Nils Bohr propagiert, konnte man sich dabei auf den Gegensatz be­ rufen, der nun einmal zwischen der Winzigkeit des zu untersuchenden atomaren Systems und dem großen und (im Hinblick auf die Einzelatome) kompliziert ge­ bauten Messgerätes besteht. Der Gegensatz war unvermeidbar, denn wir benöti­ gen immer ein makroskopisches Gerät, um dessen Ausschlagen ablesen zu kön­ nen. Andererseits mussten die Messsysteme klein sein, um das Quantenverhalten einzelner Teilchen bei beschränkter Messgenauigkeit deutlich zeigen zu können. Die Quantenmechanik soll jedoch auch für makroskopische Systeme gültig sein, bei denen das Ungleichgewicht zwischen Messapparat und System weniger ext­ rem ist. In der Tat zeigen Experimente, die heutzutage an immer größeren Mole­ külen ausgeführt werden, dass die Gesetze der Quantenmechanik weiterhin zu­ treffen und nicht auf einzelne Atome oder kleine Moleküle begrenzt sind. Insbe­ sondere wird nicht nur das Messsystem, sondern auch der Messapparat durch die Quantenmechanik beschrieben. Dann kann man aber die Frage nicht lösen, wa­ rum wir den Geigerzähler nur ein einziges Mal hören, anstatt einer (akustischen oder quantenmechanischen) Überlagerung mit Anstimmen und Abflauen. Denn wenn der Geigerzähler, ein Atom überwältigend, zu einem konkreten Zerfallser­ eignis führt, wer überwältigt den Zähler, sodass ein konkretes Piepen ertönt? Ist es ein lauschender Beobachter, der sicher komplizierter gebaut ist als ein Geiger-

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zähler? Aber warum nimmt der Beobachter dann ein konkretes Piepen war, und nicht eine Überlagerung, wenn er nicht von etwas anderem zum Kollaps überwäl­ tigt wird? Dieses Problem ist von Erwin Schrödinger mit seinem katzenfeindli­ ehen Gedankenexperiment, aber auch abstrakt von dem Mathematiker John von Neumann herausgestellt worden. Eine Lösung des Problems ist 1957 von dem Physikdoktoranden Hugh Everett III vorgeschlagen worden. Sie besticht durch ihre logische Einfachheit, ist aber den­ noch zu einem Preis erkauft, der für viele Physiker zu groß ist Everett betont zu­ nächst, dass, wie schon angedeutet, ein Messgerät nur willkürlich eingegrenzt werden kann. Vor allem fragt er, warum man nicht den Beobachter mit in das Ge­ rät einschließt, denn ohne das Ablesen kommt es ja nicht wirklich zur Messung. Bei statistischem Zerfallsverhalten eines Atomkerns sollte es also nicht zu einer akustischen Überlagerung von Geigertönen kommen, sondern zu einer Überlage­ rung von Bewusstseinszuständen, in denen der Beobachter jeweils ein einzelnes Ertönen des Zählers wahrnimmt. Da ein Beobachter jeweils nur eines dieser Be­ wusstseinszustände gewahr wird, scheint es zu einem scharfen Messereignis zu kommen, obwohl alle Möglichkeiten weiterhin parallel realisiert sind. Die Paralle­ len sind einfach nicht mehr zugänglich. Aber auch die Umgrenzung des Beobachters ist willkürlich, wie Everett schnell einsah. Wenn es keine Obergrenze für die Gültigkeit der Quantenmechanik gibt, sollte diese Theorie auch auf das ganze Universum anwendbar sein. Mit dieser Erweiterung gelangt man zur sogenannten Quantenkosmologie. In der Quanten­ kosmologie sind es die Beobachter, die verschwindend klein im Vergleich zum Messsystem sind. Dennoch führen die Gesetze der Quantenmechanik zu statisti­ schem Verhalten von Messwerten. Bei jeder Messung sollte weiterhin ein Kollaps stattfinden, der alle möglichen Messwerte bis auf einen verwirft. Aber was pas­ siert mit den verschiedenen Universen, die vor der Messung noch möglich waren? Es ist wohl leichter, sich mit dem Zerschlagen der bescheidenen Möglichkeiten eines winzigen Atoms abzufinden als mit der Vernichtung der universellen Mög­ lichkeiten einer ganzen Welt. So hat die Erweiterung der Quantenmechanik in die Kosmologie zu einer bizarren, jedoch innerhalb der Quantenmechanik vollkom­ men logischen, Theorie geführt, die als Viele-WeIten-Interpretation bekannt ist. Danach sollte jede Messung anhand der im Prinzip möglichen Resultate das Uni­ versum in alle diese Realisierungen aufteilen, die nebeneinander und isoliert wei­ terexistieren. Schrödingers Katze würde nach der Messung in einer verdoppelten Zahl der Universen bestehen, aber nur in der Hälfte der Fälle lebendig. Bei kom­ plizierteren Messungen mit multiplen möglichen Werten, wie zum Beispiel allen Zahlen, die ein digitales Instrument anzeigen kann, findet eine Aufspaltung um

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viel größere Werte statt. Eine Messung scheint nur zu Kollaps und der Festlegung auf einen Messwert zu führen, weil die anderen Werte in deren Universen nicht mehr zugänglich sind. Selbst eine so unscheinbare Messung wie ein flüchtiger Blick in den Nachthimmel hätte die immense Konsequenz, dass das Universum (oder die Menge aller Nebenuniversen) um einen großen Faktor multipliziert wird. Diese verschwenderische Theorie geht vielen Forschern zu weit, aber sie wird ernsthaft diskutiert und kann nur schwer oder gar nicht ausgeschlossen werden. (Die letztere Tatsache könnte natürlich auch als Argument dienen, um die Theo­ rie aus der Wissenschaft zu verweisen, was der Autor durchaus unterstützen würde.) In der modernen Physik haben theoretische Überlegungen eine unver­ zichtbare Rolle erlangt, denn es ist nicht leicht, ein Experiment zu entwerfen, das zum Beispiel den Kollaps für ein einzelnes Atom zeigen könnte. Man muss zuerst die Konsequenzen theoretisch durchspielen, um den empfindlichsten oder ein­ deutigsten Messprozess zu finden. Experimente kommen also nicht mehr ohne detaillierte Theorien aus, wie ja auch umgekehrt Theorien experimentelle Resul­ tate einerseits als Motivation und andererseits als Existenzberichtigung benöti­ gen. Das Vertrauen in die Theorie kann aber auch übertrieben werden, wie es vielleicht bei der Viele-Welten-Interpretation der Fall ist.

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Theorien

Weite Teile der modernen Physik sind heutzutage sehr theoriebezogen oder gar ausschließlich theoretisch. Nicht nur die bekannten und an Beschleunigern wie dem LHC genau vermessenen Elementarteilchen haben einen weitreichenden theoretischen Unterbau im modernen Verständnis der Physik. Es gibt auch viel­ zählige spekulative Varianten, die mögliche, noch elementarere Bausteine der heutigen Elementarteilchen postulieren. Die Stringtheorie ist das wohl bekanntes­ te Beispiel, nach der Teilchen nicht mehr punktförmig, sondern fadenförmig sein sollen. Allerdings muss die Länge solcher Fäden um viele Größenordnungen klei­ ner sein, als zum Beispiel ein Tausendstel des Protonenradius, was man mit mo­ dernen Beschleunigern gerade noch messen kann. Die Vorhersagen dieser Theo­ rie gehen also weit über das heutzutage Nachprüfbare hinaus. Zudem trifft die Theorie sogar Aussagen über eine elementare Struktur nicht nur der Materie, sondern auch von Raum und Zeit. Hier ist ein Nachweis nicht nur wegen der Winzigkeit der Strukturen schwierig, sondern auch wegen konzeptio­ neller Fragen über die nicht greifbaren Objekte Raum und Zeit. Eine alternative Theorie, die Schleifenquantengravitation postuliert ähnlich erscheinende, aber

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mathematisch gänzlich verschiedene Schleifen als noch kleinere Bausteine von Raum und Zeit. Höchstens indirekte Methoden könnten hier experimentelle Nachweise liefern, zum Beispiel durch winzige Änderungen der Bewegungsge­ schwindigkeit, die hochenergetische Teilchenstrahlen von fernen Sternen in die­ ser strukturierten Raum-Zeit erfahren könnten. Für indirekte Nachweise muss man aber großes Vertrauen in die Theorie haben, was durch deren mathemati­ sche Komplexität erschwert wird. Um der Beliebigkeit vorzubeugen, wird der sonst übliche Test an Beobachtungen durch mathematische Konsistenzbedingungen ersetzt. Mathematische Konsistenz kann durchaus sehr einschränkend wirken, beruht aber immer auf einem Bezug auf gewisse Prinzipien. Bis heute ist es zum Beispiel nicht gelungen, die üblichen Prinzipien der Allgemeinen Relativitätstheorie mit denen der Quantenmechanik konsistent zu verbinden. Wenn eine kombinierte Theorie der Quantengravitation existiert, scheinen ihre möglichen Formulierungen also stark eingeschränkt zu sein. Die Prinzipien mögen wiederum aus vorhergehenden Beobachtungen extra­ hiert sein, wie zum Beispiel der Grundsatz, dass gewisse Parameter wie die licht­ geschwindigkeit zeitlich konstant scheinen. Im Gegensatz zu einem Messwert er­ laubt ein Prinzip aber eine gewisse Wahl in seiner Formulierung, oder man kann zwischen unterschiedlichen Prinzipien die vermeintlich wichtigeren selektieren. Auf Prinzipien beruhende mathematische Konsistenz ist also immer mit einer gewissen Willkür behaftet. Konstruieren wir unsere eigenen Theorien, anstatt sie durch den stetigen Ver­ gleich mit Messungen an die Natur anzugleichen? Moderne Theorien sind so komplex, dass die Annahmen oft schwer erkennbar sind. Sie werden nicht immer explizit im Sprachgebrauch benutzt und manchmal auch vergessen (oder im Falle von Schwachstellen sogar unterdrückt). Nahm zum Beispiel Hugh Everett seine Theorie der vielen Welten vollkommen ernst? Nach der Veröffentlichung seiner Doktorarbeit war er von dem geringen Echo in der Wissenschaft enttäuscht und nahm schnell eine Stelle bei dem vom kalten Krieg geprägten amerikanischen Verteidigungsministerium an. Seine mathematischen Fähigkeiten und Program­ mierkünste erlaubten es ihm, den ersten Computercode zur Optimierung von Atombombenabschüssen zur möglichst schnellen Vernichtung des sowjetischen Gegners zu erstellen (vgl. Byrne 2010). Wenn seine Viele-Welten-Interpretation der Quantenmechanik zutrifft, sind seine Arbeiten für den Tod zahlloser Opfer in noch zahllose ren Paralleluniversen verantwortlich. Die Konstruktion einer komplizierten Theorie und deren erste experimentelle Tests liegen oft Jahrzehnte oder sogar mehrere Lebensalter auseinander. Wäh­ rend sich die Gründer einer Theorie üblicherweise aller Annahmen und Schwä-

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chen bewusst sind, ist dies bei späteren Einsteigern nicht immer der Fall. So kön­ nen Theorien ihr eigenes Leben erlangen und für lange Zeit Arbeitsaufwand und Forschungsgelder absorbieren, selbst wenn sie sich schließlich nicht an der Reali­ tät bestätigen. Wie wir uns als experimentelle Beobachter nicht mehr von allen Messsystemen trennen können, so geht auch ein Teil unserer Beobachterposition in unsere Theorien ein. Ein besseres Theorieprotokoll könnte der Willkür vorbeugen, wenn Theoretiker nicht nur die interessanten Resultate, sondern auch die dazu führenden Gedan­ kengänge genau aufzeichnen und veröffentlichen würden. Wenn man Theorien eine erhöhte Bedeutung zumisst, sollten selbst Theoretiker als Beobachter ange­ sehen werden, nicht direkt an der Natur, sondern an theoretischen Konstruktio­ nen. Wie das übliche Experimentierprotokoll sollte dann ein Theorieprotokoll zum Standardverfahren werden. Ist Picos Freiheit ein Geschenk oder ein Fluch? In der modernen Physik sind wir durch die Möglichkeit von Wissensbildung weit über die Anfänge von Galileis Fal­ lexperimenten hinausgewachsen. Wir sind nicht auf eine konstante Rolle festge­ legt, sondern erstellen unsere eigenen Gesetze - allerdings nicht nur als mensch­ liche Formulierungen von natürlichen Sachverhalten, sondern manchmal, so scheint es, auch als reine Fantasiegebilde. Wenn ein Beobachter sich nirgendwo niederlassen kann, sondern immer ein Teil des Messsystems (oder einer Theorie) bleibt, wird sowohl die Interpretation von Messdaten als auch die Einschätzung von Theorien erheblich erschwert. Literatur Astrophysical Research Consorti u m (ARe) & The Sioan Digital Sky Su rvey (SDSS) Collaboration (2016): The Sioan Digital Sky Su rvey: Mapping the Universe. Erreichbar unter: http://www.sdss.org/, Stand: 12.04.2016. Byrne, P. (2010): The Many Worlds of Hugh Everett 111: Multiple universes, mutual assured destruction, and the meltdown ofa nuclear family. Oxford: Oxford University Press. Cassirer, E. (2010): The Individual and the Cosmos in Renaissance Philosophy. Chicago: The University of Chicago Press. ESA Commu nication Department (2016): Planck. Erreichbar unter: http://www.esa.i nt/Ou r_Activities/Space_Scie nce/Planck, Stand : 12.04.2016. LlGO Caltech (2016): Laser Interferometer Gravitational Wave Observatory. Erreichbar unter: http://www.ligo.caltech.edu/.Stand: 14.04.2016. Max-Planck Gesellschaft München (2016): GE0600. Erreichbar unter: http://www.geo600.org/, Stand: 12.04.2016. National Aeronautics and Space Admi nistration (NASA) (2013): Wilkinson Microwave Anisotropy Probe. Erreichbar unter: http://map.gsfc.nasa.gov/, Stand: 12.04.2016.

HUMBERTO MATURANA ROSEMIN, XIMENA DAvlLA YANES AND SI MON RAMiREZ MUNOZ

Ethical Reflections Robots, living systems and human beings Matriztic School

In these general reflections about robotics we would like to address six questions: What kind of systems are robots? What kind of systems are living systems? How does the nervous system operate? How do we operate as a self-conscious being? What is artificial intelligence? And what do we want to do with robots? Let us begin.

1

Robots and living systems

We do not think that we shall say many new things; in fact we do not aim to say anything new, we just want to guide Dur reflections about the participation of ro­ botics and technology in general in Dur daily living. And we think that this is a matter that concerns us all in Dur cultural present because we are orienting our­ selves mueh in the direetion of designing automatie systems like robots that may replaee us in doing many of the things that we ordinarily do in our domestie, teehnieal, and professional aetivities in general through proeesses that we eall systems of artificial intelligenee. But do indeed those systems replaee us? And, how and in what do they replace

US,

if they replace something in what we do? If

we attend to what we do in our daily living, when we say that a person or an ani­ mal is intelligent we will notiee that we are saying that that person or animal is intelligent when it shows adequate behavioural plasticity when he, she, or it is facing an unexpeeted ehanging environment, and does so in a mann er that we had not expeeted. Are robots intelligent? Is our mobile phone intelligent? Is intelli­ genee a property of the person, of the anima!, or of the meehanical system that we have designed? What are we talking ab out when we speak of artificial intelli­ genee? And if we are aiming to create robots that outlive living beings, that die, what are living beings that die? Are we living beings spontaneous moleeular ro­ bots? Let us eompare robots and living systems: Robots are moleeular systems that have well defined struetures speeified in the proeess through whieh they were designed as discrete singular entities (see Maturana 1970).

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HUMBERTO MATURANA ROSEMIN, XIMENA DAvlLA YAflJES UND SIM6N RAMfREZ MUNOZ

Living beings are molecular entities that have well-defined structures, as singular beings, that differ according to their different manners of living that were not de­ signed, but arose through a process of evolutionary natural drift (see Maturana & Mpodozis 2000) as transformations of the original one that occurred spontaneous­ lyon the earth many millions ofyears aga. As such, living beings are historical enti­ ties. Robots are made to operate in specified circumstances. In fact, when we human be­ ings design a robot, we also design the medium or circumstances in which it will operate. Robots are humanly created entities, and begin to operate in the moment in which the designer decides to start them; as such robots do not exist as histori­ cal entities. Human beings, as living systems, are molecular-autopoietic systems (see Maturana 1975) that have weH defined structures as singular entities and exist only in a me­ dium that is adequate for the realization of their living as dynamic ecological or­ ganism-niche unities, or die. Living systems arose on the earth as spontaneous networks of closed molecular processes that produced themselves as discrete sin­ gular entities, and were not created by some sort of metaphysical designer some three thousand eight hundred million years ago, together with the circumstances that made possible an ecological organism-niche unity; and every living being to­ day is the present of an evolutionary branching history of transformations of man­ ners of living that begun then as a biosphere (see Maturana & Divila 2015). As such, living systems exist as historical singular discrete entities in ecological organ­ ism-niche unities that arise with them. FinaHy, both living systems and robots as molecular entities are structure deter­ mined systems (see Maturana & Varela 1988), that is, whatever happens to them or in them as they operate realizing their different manners of being occurs in them moment after moment, instant after instant, determined by their structure at that instant.

AccordingIy, the difference between living systems and robots, in terms of the origin of the organizational disposition of their moIecuIar components, is: that living systems arose spontaneousIy millions of years ago as seIf-producing histor­ ical moIecuIar-autopoietic entities that exist as autonomous systems (see Maturana 1970) guided in their living by their sensations (sensoriality), and liv­ ing as organism-niche unities formed by the organism and the ecoIogicaI medium that makes it possible and arises with it as it realises its living; and robots are not historical entities in their origin because they are intentionally designed systems that operate in time cera with the purpose that they do the things that their de­ signers want them to do and to not do what the designers do not want them to do, in a medium adequate to it that is designed with it by the designer. We human beings can design robots that do whatever we may want them to do if we can de­ scribe what we want them to do. The great expansion of robot technology is evi­ dent particularly in the growth of the nanotechnology in the period of time that we are presentIy living. In these circumstances, what do we want robots to do? replace us in all that we do?

00

00

we want that robots

we want to design seIf-conscious robots?

00

we

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ETHICAL REFLECTIONS - ROBOTS, LlVING SYSTEMS AND HUMAN BEINGS

want to design self-reproducing robots? Ifwe can describe the pro ces ses that we want the robots to perform, as weIl as the domain in which we want them to op­ erate, we can now design them. Science and technology are instruments that al­ low us to understand and manipulate the coherences ofthe worlds that arise with what we do, as we explain them with the coherences ofwhat we do in the realiza­ tions of our living as human beings (see Maturana

&

Davila 2015). Yet. although

we may know and understand what we do in the continuous present of our living, we cannot specify our future, we can only choose what we want to conserve in our changing present knowing that our future will arise as a transformation of the world around what we conserve.

2 00

Self-consciousness

we want to design self-conscious robots?

00

we want to design self­

reproducing robots? These are fundamental questions because they relate to the fact that the human designer must design both the robot and the circumstances in which it will operate, however sophisticated these might be. Therefore, if we want to design a robot that will operate as a self-conscious being, or even if we want to ask the question whether robots can become self-conscious, we must be able to describe our operation as self-conscious reflective beings and the circum­ stances in which we operate as such, and ifwe can do so then we can design them. There are millions of different manners of living in the biosphere, all of which ex­ ist in operational coherence with the particular circumstances that they inhabit and that are the present of a long evolutionary history of transformation of the ecological dynamic architecture of the biosphere that arose with the operational interrelation of the initial ecological organism-niche unities that constituted its origin with the origin of living beings. Accordingly, in a strict sense, the history of the living systems is the history of the transformation of the dynamic architecture of the biosphere that these integrated through their interactions and relations since their origin constituting a system of interrelated autonomous ecological or­ ganism-niche unities (see Maturana et a1. 2015). And what are we human beings in this history? We are living beings that belong to a lineage of bipedal primates that in its evolutionary drift gave origin to a primeval family that in the intimacy and duration of living in the nearness ofthe biology of love doing its daily chores had the plasticity necessary to generate a living together in co-ordinations of feel­ ings and doings that as it became recursive in the coordination of coordination of feelings and doings became language. This manner of living must have begun some three and half million years ago, and as it was conserved from one genera-

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tion to the next in the learning of the children it became the manner of living to­ gether that defines Dur lineage as Homo sapiens. We have decided to call Dur line­ age Homo sapiens-amans amans (see Maturana

&

Davila 2008) to indicate that

love was the fundamental feeling-emotion that made it possible and sustains us in Dur existing as social reflective ethical persons that live in networks of conversa­ tions as self-conscious beings that can always choose what they want to do. As Dur lineage began in the conservation of a manner of living, it did not begin through some genetic mutation, but the conservation of Dur ontogenetic manner of living guided its evolutionary drift. So although we find now that much of the anatomical and physiological transformation that has occurred in the history of our lineage as loving beings has become genetically supported, our manner of living in language as reflective social beings is still conserved as an epigenetic process. Language did not arise through some genetic mutation, it is a learned manner of living that is conserved as such in our living together in the learning of babies that are born as loving beings in families that care for them; and, moreover, self­ consciousness is not a property of the brain but is a manner of living that begins to be learned in the moment that our mothers asks us, my dear child, da yau see what yau are daing? Humanness is a learned manner of living, and it is not genet­ ically determined. No doubt that in the course ofthe many generations ofthe his­ tory of the genetic drift of our lineage has followed our learned manner of living as self-conscious reflective beings, and now much of our capacity of learning to live as human beings has become genetically facilitated, but we have to learn to become human beings by living with other human beings.

3

Language and humanness

Language is not a way of referring or distinguishing independent entities; lan­ guage is our manner of living together in recursive co-ordinations of consensual doings. feelings and emotions (see Maturana

&

Davila 2015). We are molecular

systems, and anything external that impinges upon us only triggers in us some changes determined in our structure according to the manner that we are made (see Maturana 1978). So. all that happens in a living system or in a robot at any instant, is always determined by its structure at that instant, and occurs as a structural change arising in it either as a result of its own internal dynamics or as a result of structural changes that trigger in it by its encounters with the medium

in which it operates (see Maturana 1978). As observers we refer to this constitu­ tive condition of molecular systems as structural determinism: all that we human

ETHICAL REFLECTIONS - ROBOTS, LlVING SYSTEMS AND HUMAN BEINGS

1U

beings do in the realization our living we do it in our operation as structure de­ termined systems. Accordingly, if we know how to learn to operate as self­ conscious beings, as structure determined systems, we can design robots that can learn to operate as self-conscious systems. What constitutes us as human beings is that we are living systems that exist as biological-cultural (see Maturana

&

Oavila 2015) beings whose ecological niche includes the sensory, operational and relational worlds that they generate as they operate in language as reflective self­ conscious beings.

00

we want to design robots that operate like us, as self­

conscious beings, although they are not living systems?

4

The nervous system

A nervous system operates as a closed network of chan ging relations of activity, between its neuronal components, that give rise to the behaviour ofthe organism that it integrates (see Maturana

&

Varela 1988): dynamics of neuronal relations

of activities that are modulated by the structural changes that trigger in it by the interactions of the organism in its ecological niche. To the extent that we know how the nervous system operates, we can design a robot that operates in the same manner. But, do we want to do so? Self-consciousness is not a property or manner of operation of the nervous system, it is a human learned manner of liv­ ing that has arisen in the evolutionary drift that gave origin to us in an ancestral family lineage, in which language arose and began to be conserved from one gen­ eration to the next. As we have shown, self-consciousness is not a result of the accumulation of information, or of the way it is organized as it is used, self­ consciousness is the result of a particular manner of living in a particular kind of ecological organism-niche unity that has arisen in the evolutionary history of the living systems that operate as self-conscious beings, and we can imitate this. What do we want to do as self-conscious beings that can choose what we want to do?

00

we want that robots replace us?

00 we want the

glory that may come with

the recognition of the fact that we have designed a robot that acts as a self­ conscious being? As structure determined systems, we human beings do not know and cannot know, in the moment that we do what we do, whether we shall later view our doings as a perception, amistake, or as an illusion. This is because, as we have said, nothing external to us can specify what happens in us or to us in our interactions in the ecological organism-niche unity that we integrate in the realization of the kind of molecular being that we are. All this applies to robots also whichever their present or future design. Perception, illusion, and mistake are reflections that we human beings make

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when we are comparing Dur different experiences with what we would be willing to accept or reject as valid in relation to what we are willing to consider valid in the circumstances that we are living (see Maturana 1988). We use the notion of reality as if with it we were referring to something that exists by itself inde­ pendently of what we do when we distinguish it. Accordingly. the best that we can do is to use the notion of reality to refer to the worlds that we generate with Dur living, and say that something is real when it arises in the domain of the sen­ sory and operational coherences of the realization of Dur living that we chose to accept as valid. No doubt we have a nervous system and without Dur nervous sys­ tem we would not be able to do anything, but what it does in the realization of our living does not refer to an extern al independent world, but it is to co ordinate the harmony of the realization of our molecular autopoiesis in the ecological organ­ ism-niche unity that we integrate. The nervous system modulates the changing dynamic of our inner structure while it changes continuously in the realization of our living as we reflect on what we do and our reflections on the realization of our living. That is, in the flow of our recursive reflections on our feelings, doings and reflections, our structure changes and the operational and relational world that we generate as our manner of living changes too. When we say that we walk, we walk by movement of our legs. When we say that we dance, our legs, our arms, our head, our torso and our hips move together in harmony. We dance in a differ­ ent relational space than that in which we walk. But and ifwe say that we are tell­ ing a story with our walking and dancing, we generate a completely different rela­ tional space than that in which our walking and dancing take pI ace. We can make robots that do the same movements that we do, but would they do the same that we do? What would be to do the same?

As

far as walking and dancing. the robot

seems to do the same that we do in terms of movements, but when the matter comes to telling a story, would the robot be doing the same that we do when we dance?

00

robots tell stories? Where would be the difference? The difference

would be in several domains. One is that we human beings are historical beings that have not been designed. We have arisen in a process of coherent transfor­ mation with the medium that makes us possible as loving beings born in a family in which they will learn to be in language and to reflect about what they do and tell stories as aspects oftheir living. Secondly, robots are different from us in that we design them and the circumstance in which they will operate, and they will tell stories ifwe have designed them to do so: ifwe have designed them as histor­ ical beings that will exist in a spontaneous natural drift in which they will exist in conversations of storytelling because we have designed them as self-conscious robots with a nervaus system that we have also designed to operate like our own. We can design robots to perform whatever task we may be willing that they per-

ETHICAL REFLECTIONS - ROBOTS, LlVING SYSTEMS AND HUMAN BEINGS

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form, and we can make them so that they learn whatever we want them to learn if we create the adequate dynamic ecological niche for them to operate as we want them to operate. But, what do we want to happen with them and us as we coexist? But, and this is a great but, do we want to design robots that will operate as self­ conscious beings?

5

What do we want to design?

Robots will not tell us things about reality that we cannot find, without their op­ eration as self-conscious entities: they will not distinguish in the experience of their operation between perception and illusion. What do we want to design in the present adventure of designing all kinds of robotic entities? Do we want ro­ bots to be eternal or self-reproducing? Depending on how we design them, in re­ lation to their reproduction capacities, they will have the possibility of becoming autonomous and have an evolutionary drift oftheir own and generate domains of reality that will belong to the nature of their manner of existing. The capacities for having emotions and having the capa city for philosophical reflection have been imagined already for robots in science fiction. If robots were to operate as self­ conscious beings, they would discover that they have different possible orienta­ tions for actions in different circumstances and that they can choose which path to follow in relation to their inner feelings and emotions, as we do with our own inner feelings and emotions. With ordinary, non self-conscious robots that oper­ ate in the ecological niche where we design them according to what we want them to do, we may have no difficulty in stopping them if we think that they are behaving in a manner that we consider not adequate; a robot that operates as a self-conscious reflective being may object to what we may want to do with them. Science fiction stories are written as an extrapolation ofthe scientific and techno­ logical present that we live. And in the history of their writings this matter has been dealt with in many different ways, but now the question is not a simple mat­ ter of science fiction; we human beings living now have the technological abilities to realize that which we have imagined in the past as science fiction and we have to choose what we want to do now with our technological capacities. Unless we design, as loving beings, the robots that we may design, the self-conscious robots that we might design will follow in their natural drift a path that will have to do with their autonomously generated feelings ofwell-being. The evolution of living systems has no purpose in itself, there is no progress in the history of living beings and there are no more or less advanced organisms. Better or worst are comparative commentaries that we make as observers about

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whatever we observe in relation to what we desire to happen in some particular history of change or transformation. In fact, the different lineage of organisms that we observe now are different manners of living in coherence with the ecolog­ ical ambience ofthe biosphere that has arisen in the interrelations ofthe different ecological organism-niche unities with the different kinds of organism that inte­ grate it in the realization oftheir living. So, the choice that we human beings have to make as humanity, in relation to what to do with Dur capacity of designing any kind of robotic system that we may imagine, depends exclusively on what manner of living we want to conserve. 6

Dur present

We can say that, as molecular systems, living systems are historical molecular robots; we can say that, as molecular autopoietic systems, living systems are or­ ganisms that realize many different manners of living in different forms of ecolog­ ical organism-niche unities; and we can also say that we human beings are organ­ isms living in language as reflective persons that can choose what we want to do and can also reflect on whether we want to do what we say that we want to do: experiencing the freedom of free will, in the full self-consciousness that we are responsible for the worlds that they generate as we live them alone or together. And this is our present, we human beings as human persons are in a moment of our human history in which we are aware that we can do whatever we may imag­ ine ifwe respect the operational-relational coherences of the domain in which we imagine whatever we imagine that we would like to do it. But we do not have to do all that we imagine that we might do. We exist in the present, therefore we choose to do or not to do what we do or not do in the present according to our inner feelings in way in which whatever we think, imagine or reflect about past or future are aspects of our continuously changing present. Many Scientists, technologists, politicians, and philosophers frequently use no­ tions of progress, improvement or success aspects of the process of evolution of living systems, including human evolution. The notions of chaos and order are also used as if theywere aspects or dimensions ofthe processes ofthe realization of the living of living systems. None of those notions refer to aspects of the pro­ ces ses of the realization of the living of living system or of any process that does not involve human intentionality. All those notions belong and apply in the do­ main of human purposeful activities evoking the manners of obtaining some de­ sired result using some particular technologies, but do not refer to the way of op­ eration of the technologies themselves. There is no intent, purpose or finality in

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any non-human process: there is no purpose in the operation of an instrument or of a machine, the purpose is in the human being that uses the instrument or ma­ chine. So, the concern that we may have about how our living will be affected with the expansion ofthe technologies of robotics reveals our legitimate concern about our disposition to become addicted to what gives us pleasure. Let us reflect about the following questions, and the answers that we pro pose. Question: Will our lives be affected by the expansion of the technology of robot­

ics? Answer: Yes! Question: Will robots replace us in many areas of our individual and relation al

activities? Answer: Yes! This is happening already. Question: Will we become dependent on robot for the conservation of our living? Answer: It will depend on what we want to conserve; in many areas of our living

we are already becoming dependent on robotic technology, but it depends on our choices how far we want this dependency to go. We can become dependent of whatever gives us pleasure. Question: Will artificial intelligence replace human intelligence? Answer: Intelligence is the behavioural plasticity in a changing world. What is

peculiar in the domain of Human intelligence is that the human nervous system operates distinguishing configurations of relations in the sensory effectors corre­ lations of an organism that operates in a niche which includes its own operation in language in the recursive generation of transforming domains of operational relations in the organism niche unity that it integrates (see Maturana et a1. 2015). So the biological human intelligence is open to an infinite expansion, and we hu­ man beings would be very stupid if we were to choose to be replaced by robotic entities that are design to imitate uso Part of our problem with the matter of intel­ ligence is that we confuse it with the accumulation of information. Question: Will technology replace our biological-cultural lineage in the cosmic

evolution of reflexive beings? Answer: No lineage of organisms that has become extinct can be replaced be­

cause of its biological historical nature gives it an individual identity that cannot be repeated. No human historical biological-cultural lineage can replace another human historical biological-cultural lineage that has become extinct. Human be­ ings as loving beings, that is, human beings as Homo sapiens-amans amans (see

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Maturana

&

Davila 2008) can be displaced by Homo sapiens-amans arrogans or

Homo sapiens-amans agressans (see Maturana

&

Davila 2008), but cannot be re­

placed; and ifwe are not careful in what we choose to do, we will become extinct. In the course of the natural evolutionary drift of living systems new lineages arise as branching variations of manners of living in the transformations ofthe realiza­ tion of the existing ecological organism-niche unities that integrate the changing present ofthe historical wave front of the dynamic architecture ofthe biosphere. And when a lineage becomes extinct the whole cosmos that its members bring forth in the realization of the ecological organism-niche unity that they integrate in the present of the dynamic architecture of the biosphere, becomes extinct with it.

7

Reflection

Much is spoken about how robots may eventually replace us human beings. This cannot happen, as we have just seen; they may displace us ifwe want this to hap­ pen by making them in a way that they interfere with our possibility of conserv­ ing our identity as ecological self-conscious biological-cultural beings - Homo sa­ piens-amans amans. But this will depend on the choices that we make. What do we want to conserve of what makes us reflective human beings in our evolution­ ary drift? In our human history as biological-cultural beings, situations like these have happened in many occasions in the encounter of mutually excluding cultures that occur as incompatible civilizations. Now the conflict will be between differ­ ent manners of existence, one depending on the other in its origin, in a conflict of interdependency that can be avoided only if we prepare for it now, finding now if we want to conserve in our evolutionary drift - our gift of humanness as Homo sapiens-amans amans - and perhaps become Homo sapiens-amans amans ethi­ cus. Aeknowledgements We want to acknowledge Mark Bishop, Monica Monroe Katerina Koutsantoni and Etienne Roesch for their kind contribution to this article, and also for the invita­ tion to the 50th annual eonvention ofthe soeiety for the study of Artifieial lntelli­ genee and the Simulation of Behaviour (AISB), held at Goldsmiths, University of London (UK), April [1st . ..4th] 2014, that was an inspirational moment for this article.

ETHICAL REFLECTIONS - ROBOTS, LlVING SYSTEMS AND HUMAN BEINGS

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DIETER NIDEL

Ein System in statu nascendi. Auf dem Weg zum pädagogisch organisierten System des lebenslangen Lernens?

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Fragestellung und Arbeitsdefinition

Welches soziale Gebilde meinen wir Pädagogen genau, wenn wir vom Erzie­ hungs- oder vom Bildungssystem sprechen? Welche Positionen und theoreti­ schen Vorannahmen verbergen sich dahinter, wenn Erziehungs- oder andere 50zialwissenschaftler vom schulischen System, Weiterbildungssystem oder vom Sys­ tem der sozialen Arbeit sprechen? Was zeichnet den Kern des Systems aus und was gehört zur Umwelt? Die Frage nach der Identität eines Systems ist bekannt­ lich immer auch eine Frage nach der Bezeichnung. Ohne dabei die strategisch wichtige Bedeutung der Kategorien Erziehung und Bil­ dung für sich in Abrede stellen zu wollen, glauben wir ausreichend viele Anhalts­ punkte gefunden zu haben, die darauf hindeuten, dass die beiden pädagogischen Grundformen Erziehung und Bildung über die rein semantische Ebene hinaus in der Institutionalisierung des lebenslangen Lernens aufzugehen scheinen und eine neue Stufe der Evolution des Pädagogischen konstituieren. Organisationstheore­ tisch betrachtet lenkt das im Entstehen begriffene pädagogisch organisierte Sys­ tem des lebenslangen Lernens den Blick auf einen bestimmten Stand der Institu­ tionalisierung des organisierten Lernens als Einheit des formalen und nonforma­ len Lernens. Das informelle Lernen wird im vorliegenden Text als Umwelt des Systems bewusst abgedunkelt, es wird in diesem Beitrag nicht näher analysiert. Während die meisten ErziehungswissenschaftIer lebenslanges Lernen als Kon­ zept nutzen, um dem flüchtigen weil wenig organisierten Lernen in der Lebens­ praxis grundlagentheoretisch oder empirisch angemessen Rechnung zu tragen, geht es uns um die Markierung einer klareren Trennlinie zwischen einer pädago­ gisch intendierten und verwalteten Lernpraxis einerseits und naturwüchsigen Phänomenen des Lernens in lebensweltlichen Kontexten (Sozialisation) anderer­ seits. Als vorläufige Arbeitsdefinition, die es im weiteren Darstellungsverlauf noch zu präzisieren gilt, wählen wir hier die folgende Bestimmung: Das sich all1 Dieser Beitrag stellt die Kurzfassung eines Arbeitspapiers

des Autors dar. Er bedankt sich ausdrücklich

bei der Hans Böckler Stiftung für die Förderung des Projekts "Die Resonanz des lebenslangen Lernens in den Organisationen des Erziehungs- und Bildungswesens (LOEB)", in dessen Rahmen das Arbeitspapier entstanden ist. Der Text dokumentiert ausschließlich die Position des Autors.

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mählich formierende pädagogisch organisierte System des lebenslangen Lernens wird in Anlehnung an Dieter Lenzen (Lenzen 1997) als arbeitsteilige und zielgerich­ tete Gestaltung der Humanontogenese begriffen. Dieses reagiert auf die Notvvendig­ keit, die heteronome Entwicklung in der Gesellschaft, die Funktionssysteme und so­ zialen Milieus mit der biografischen Entwicklung von Subjektivität abzugleichen und funktional zu synchronisieren. Unter Beteiligung von Organisationen und pä­ dagogischen Praktikern sowie unter Mobilisierung bestimmter Kernaktivitäten und Technologien leistet die arbeitsteilige Gestaltung der Humanontogenese einen Bei­ trag zum Aufbau, Erhalt und zur Veränderung von Identitätsformationen, und zwar unter der Maßgabe einer auf Erziehung, Bildung, Hilfe, Entwicklung und/oder För­ derung ausgerichteten - und damit pädagogisch codierten - Programmatik und deren Zielperspektiven. Das sich im Entwicklungsstadium befindliche System trägt zwei säkularen Entwicklungsschüben Rechnung: einer exorbitanten Expansion des Erziehungs- und Bildungswesens einerseits2 und einer wachsenden Pädago­ gisierung der biografischen Lebensführung andererseits. Mit der hier spezifizier­ ten Kategorie verfügen wir über ein erziehungswissenschaftliches Konzept, das mittels einer Extremtypisierung die Einheit des Erziehungs- und Bildungssystems (vgl. Tippelt 2010) zum einen unter organisations- und professionstheoretischen und zum anderen unter partieller Nutzung biografieanalytischer Begrifflichkeiten zu fassen vermag. Dieses Anliegen geht mit dem Erkenntnisinteresse einher, aus einer interpretativ rekonstruierenden Perspektive einen Gegenstandsbereich zu erschließen, der sonst vor allem vom systemischen Paradigma mit kommunikati­ onstheoretischer Ausrichtung besetzt wird. Manchmal offen, teils verdeckt wird den Verfechtern des interpretativen Paradigmas bekanntlich eine Blindheit ge­ genüber den systemischen Dimensionen der sozialen Welt attestiert. Der vorlie­ gende Text reagiert indirekt auf diese Kritik, ohne sie direkt aufzugreifen.

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Die Versc hränkung von Phylogenese und Ontogenese als Zeichen einer wachsenden Pädagogisierung

Hochentwickelte Gesellschaften des Westens sind vom Standpunkt der Phyloge­ nese wie auch von dem der Ontogenese mit einer historisch noch nie dagewese­ nen Situation konfrontiert. Gattungsgeschichtlich und individualgeschichtlich zeichnet sich diesbezüglich ein komplementär angeordnetes Szenario ab: Wäh2 Diese Ausdehnung wird auch von Vertretern des deutschen Feuilletons registriert: "Seit den sechziger Jahren des 20, Jahrhunderts expandiert das Bildungssystem in historisch singulärer Weise, Gab es i m Jahr 1900 welt­ weit etwa eine halbe Million Studenten, was einem Prozent der Altersgruppe entsprach, so sind es derzeit etwa zwanzig Prozent eines Weitjahrganges, Das gilt über alle nationalen Entwicklungsstadien hinweg, Aigeri­ en beispielsweise hat heute doppelt so viele Studenten wie Deutschland um 1900, Deutschland hat heute siebzig Mal so viele wie damals, im Jahr 1900 gab es in Algerien gar keine U n iversität" (Kaube 2015, S, 7)

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rend auf der Ebene der Phylogenese in keiner anderen historischen Epoche ein so dichtes Geflecht an organisationalen Optionen des nonformalen und formalen Ler­ nens registriert werden kann, ist auf der Ebene der Ontogenese eine dramatische Pädagogisierung der biografischen Lebensführung zu beobachten. Das pädagogisch organisierte System des lebenslangen Lernens absorbiert immer mehr Lebenszeit, inkludiert alle Lebensalter und nistet sich an den Rändern der übrigen Funktions­ systeme nachhaltig ein. Die folgenden Prozesse fungieren gleichzeitig als Katalysa­ toren, die einen zirkulären Prozess speisen, welcher die Suche nach linear­ kausalen Wirkungsketten - was ist die Ursache und was ist die Wirkung? - obso­ let macht: Zum einen kann die Substitution von naturwüchsiger Sozialisation durch organi­ sierte Erziehung und Bildung konstatiert werden. Das kann als Versuch einer zu­ nehmenden sozialen Kontrolle von Prozessen der Individualisierung des Gesell­ schaftsmitglieds und der Vergesellschaftung des Subjekts gewertet werden. Sozia­ lisation bezeichnet das unbeabsichtigte Lernen der Individuen, das durch einschlä­ gige gesellschaftliche Instanzen (Massenmedien, Sport) ausgelöst wird und den Transfer von Kulturgütern und Werten von einer Generation in die nächste sichert. Dem gegenüber kann Erziehung und Bildung in der Regel durch eine institutionell verbürgte und kommunizierte Intentionalität gekennzeichnet werden, die eine be­ stimmte pädagogische Selbstbindung des pädagogischen Personals und der ent­ sprechenden Organisationen voraussetzt und "die sich darum bemüht, Fähigkeiten von Menschen zu entvvickeln und in ihrer sozialen Anschlussfähigkeit zu fördern" (Luhmann 2002, S. 15). Diese Phänomene sind aus erziehungswissenschaftlicher und bildungssoziologischer Sicht am sorgfaltigsten unter dem Label der Entgren­ zung des Pädagogischen (vgl. Lüders, Kade & Hornstein 2010, S. 211 ff.) und später dann unter dem Vorzeichen der Universalisierung des Pädagogischen diskutiert, empirisch erforscht und in entsprechende theoretische Konzepte gegossen worden (vgl. Kade & Seitter 2003a, 2003b). So wird zum Beispiel akribisch beschrieben, wie bestimmte Firmen über ihre Kulturprogramme oder Urlaubsanbieter durch eine Didaktisierung des Reisens zur Verbreitung von genuin pädagogischen Denk-, Argumentations- und Handlungsformen beitragen (vgl. Kade, Lüders & Hornstein 1993). Die zunehmende Digitalisierung der Arbeitswelt (lndustriearbeit 4.0), die Entvvick­ lung in Richtung Wissensgesellschaft (vgl. Bell 1973; Stehr 1994) sowie die Indivi­ dualisierung der Lebensführung (Beck, Giddens & Lash 1994) haben zum anderen weitreichende Folgen mit Blick auf die Gestaltung der Generationsbeziehungen. So sind heute für den Aufbau einer Kohorte mit spezifischen Mentalitätsstrukturen und kollektiven Wissensbeständen (vgl. Mannheim 1928; Stehr 1994) weitaus we­ niger Jahre erforderlich als im Vergleich zur Ära vor der Digitalisierung der Leben­ spraxis und vor der Durchsetzung des Internets als neuem Leitmedium. Der gerin­ gere Generationsabstand trägt zunächst einmal zur Steigerung der Aneignungs­ dichte von neuem Wissen und zu veränderten Zumutungen bei, das Alltagsverhal­ ten fortlaufend zu modifizieren und den neuen Konstellationen anzupassen. Fun­ gierten in früheren Zeiten welthistorische Einschnitte, wie etvva Weltkriege oder große wirtschaftliche Ereigniszusammenhänge (Wiederaufbau nach dem Krieg) als Anknüpfungspunkt für die Generationsbezeichnung (Flakhelfer-Generation vgl. Bude 1987), die skeptische Generation (Schelsky 1957), so dienen heute vermehrt

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technologische Innovationen oder kulturelle Veränderungen als Generationsmar­ kierer (Generation Golf, Baby Boomer). Die Schnelligkeit und Unbedarftheit in der Attribuierung einer Generation und die Flüchtigkeit ihrer Geltungskraft relativiert die hier formulierte These keineswegs, sondern scheint sie sogar noch zu bestäti­ gen. Der Kulturanthropologe Harrison betont, dass bereits fünf oder zehn Jahre Al­ tersunterschied einen unüberbrückbaren "psychologischen, sozialen, sprachlichen, kulturellen Abgrund" zwischen den Generationen formiert (vgl. Harrison 2015, S. 11). Die These, ein verkürzter Generationsabstand könne als Auslöser einer zu­ nehmenden Beschleunigung im Ervverb von Wissen und einer Steigerung in der Vermittlung von Änderungsbereitschaft herangezogen werden, ist in einem zentra­ len Punkt zu ergänzen. Die Neuartigkeit der Situation wird nämlich auch dadurch bestimmt, dass nicht mehr die jüngere Generation von der alten lernt, sondern eine Umkehrung in der Lernrichtung registriert werden kann (z. B. bei der Nutzung neuer Medien). Das lebenslange Lernen macht heute mit Blick auf die altersspezifische Adressie­ rung von Bildungs- und Erziehungsangeboten keinen Unterschied mehr zwischen den verschiedenen Beteiligungsvoraussetzungen. Die Grenzen zwischen Bildung (vorwiegend für Ervvachsene) und Erziehung3 (vorvviegend für Kinder und Jugend­ liehe) verschwimmen somit, ohne dass dadurch die elementare Differenz gänzlich obsolet werden würde. Insbesondere obligatorische Angebote der betrieblichen Bildung und der modernen Personalentwicklung besitzen keineswegs einen echten Optionscharakter im Sinne von Freiwilligkeit der Teilnahme; sie umweht auch nicht der Nimbus der Zweckjreiheit. Die entsprechenden Angebote der Führungs­ kräfteentvvicklung, wie beispielsweise jene zur Entfaltung von Softskills, werden bei der Bewerbung ihrer Vorteile zwar nicht offen als Zumutungen - als verdeckte oder offene Relativierung von Mündigkeit - kommuniziert, sie erweisen sich aber in allerletzter Konsequenz als solche. Auch weisen die tatsächlichen Folgen man­ cher Traineeprogramme und anderer Qualifikationsmaßnahmen (vgl. Wrogemann 2010) mit Blick auf die Vermittlung von personalen Schlüsselqualifikationen eine solche Interventionstiefe auf, dass man sehr wohl - analog zur Erziehung - von der Neukonstitution von Handlungsdispositionen sprechen kann4. Andererseits sind Prozesse in der Elementarpädagogik der Substitution von Erziehung durch Bildung festzustellen: So werden die von staatlicher Seite ratifizierten Rahmenkonzepte zur Kindergartenerziehung in mehreren Bundesländern nicht mehr als Erzie­ hungskonzepte lanciert, sondern als Bildungsprogramme. Pointiert ausgedrückt: Kinder im Vorschulalter ervveisen sich als Adressaten der Bildung, wohingegen Erwachsene erzogen werden. Die lebensaltersbezogene Diversifizierung der Erzie­ hung scheint in der Tat längst das höhere und späte Erwachsenenalter erreicht zu haben. Die Herstellung von "sozialer Anschlussfähigkeit" im Sinne von Luhmann vollzieht sich im Alter insofern mittels Erziehung, wenn beispielsweise der Über­ gang in gänzlich neue sozialräumliche Kontexte vollzogen werden muss - konkre­ ter: wenn eine Einweisung in die Altenwohnanlage, Altersheime oder Hospize stattfindet oder eine medizinische Rehabilitation notwendig ist. In all diesen Fällen 3 Wir folgen hier einer eher konventionellen Vorstellung von Erziehung, welche die Face-to-face-Interaktion unter Anwesenden voraussetzt: Bei der Erziehung "wird üblicherweise eine Kommunikation n u r dann als Er­ ziehung angesehen, wenn sie in einem System der Interaktion unter Anwesenden stattfi ndet, Damit ist garan­ tiert, dass die Erziehung nicht n u r verbale Kommunikation ist, sondern zugleich Immer auch Im Modus der Wahrnehmung des Wahrgenomme n-Werdens abläuft" (Luhmann 2002, S, 56) 4 Das hat in brillanter Weise Christoph Bartmann mit Blick auf das Leben im Büro analysiert (vgl Bartmann 2012, S, 165-270)

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erfolgt eine Vermittlung der in der neuen Umgebung gültigen Regeln im schonen­ den Modus der Anleitung. der Betreuung und der Einweisung, die allerdings nicht von einer kontrafaktischen Idealisierung von Autonomie unter den Bedingungen einer Abhängigkeitsbeziehung absehen können - so, wie wir es bei der Erziehung von Kindern beobachten können. Bestimmte Funktionssysteme - vor allem die Politik, das Gesundheitssystem, das Rechtswesen, die Medizin und die Wissenschaft - neigen in den letzten Jahrzehn­ ten immer mehr dazu, die sich in ihren angestammten Systemkontexten als unlös­ bar ervviesenen Problemlagen im Medium der Pädagogisierung zu bearbeiten und die operative Umsetzung an die Ränder ihrer Systeme in ganz bestimmte Umwel­ ten (Organisationen) zu verschieben. Ein spezifisches oder allgemeines Problem in der Politik, der Wissenschaft, der Religion oder der Massenkommunikation wird aufgegriffen und in eine Herausforderung für Erziehung oder Bildung umdefiniert (vgl. Proske 2001). Nur schwer zu antizipierende - und vor allem als schwer bere­ chenbar dargestellte - Migrationsströme sollen kontrolliert werden (nur, um ein Beispiel aus der Politik zu nehmen), indem Flüchtlinge und Asylsuchende Kurse belegen und ihre Sprachkenntnisse in bestimmten Tests nachweisen müssen. Die staatliche Auswahl von Asylkandidaten wird demnach an pädagogisch flankierte Selektionsprogramme (Deutschtests) gebunden, sodass die Verantvvortung für die von staatlicher Seite betriebene Inklusion bzw. Exklusion wieder an die Betroffe­ nen zurückgegeben werden kann. Um ein Beispiel aus der Wissenschaft zu neh­ men: Mögliche Nachwuchswissenschaftler sollen nach Ablegung eines MA­ Abschlusses nicht sofort mit ihrer Dissertation beginnen, sondern - unter dem Eindruck zahlreicher Probleme (Plagiatsfalle, Heterogenität der Leistungsanforde­ rungen, fehlende Qualität der Arbeiten) zunächst lernen, was es heißt zu promovie­ ren. In dem gleichen Maße, wie das Vertrauen in die naturvvüchsige wissenschaftli­ che Sozialisation schwindet, werden solche Spezialprogramme aufgelegt, welche die implizite Erziehungsfunktion des Wissenschaftssystems explizit machen. Die Wissenschaft entdeckt neben Forschung und Lehre die wissenschaftliche Weiter­ bildung als third mission, als neue - juristisch eigentlich schon längst kodifizierte Aufgabe (vgl. Hochschulrahmengesetz). Im Wirtschaftssystem zeichnet sich eine so enge und stabile Allianz zwischen Personalentwicklung und betrieblicher Weiter­ bildung ab, dass kaum mehr entschieden werden kann, welche Methode und wel­ che Technologie in welchen fachlichen Zuständigkeitsbereich fällt (Kipper 2014). Personalentvvicklung und Weiterbildung bilden so eine hybride Gemengelage. Im Grenzbereich zwischen Recht und Wirtschaft sind ebenfalls analoge Entwicklun­ gen zu beobachten, wie etwa die Aufnahme von Weiterbildungsregelungen in von Gewerkschaften ausgehandelte Tarifverträge. Mit Blick auf das Gesundheitssys­ temJ die Medizin ist festzuhalten, dass die jeweiligen Leistungsrollenträger längst nicht nur diagnostische, kurative, therapeutische und rehabilitierende Funktionen bedienen, sondern immer mehr auch die Modi der Prävention von Erkrankungen in den Mittelpunkt rücken. Seit dieser Umstellung nehmen nicht nur die edukati­ ven Anteile im ärztlichen Handeln zu. Darüber hinaus werden aufwendige Pro­ gramme der Gesundheitserziehung. der medizinischen Aufklärung und Gesund­ heitsberatung aufgelegt Die Umsetzung derartiger Maßnahmen obliegt anderen Berufsgruppen, wie z. B. Sozialpädagogen, Sozialarbeitern und Pflegepädagogen.

Die eben genannten Strukturaspekte - also die Substitution von Sozialisation durch Erziehung und Bildung, die Neujustierung der Generationsbeziehungen, die Vermischung von Erziehung und Bildung unter dem Dach des lebenslangen Ler-

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nens und die Pädagogisierung von Problemen in den großen Funktionssystemen - entbinden uns nicht von der Verpflichtung, nach konkreten Belegen für die In­ stitutionalisierung des lebenslangen Lernens zu suchen. Zahlen und Daten über die Bildungsbeteiligung im Kontext des Lebenslaufs bieten diesbezüglich weitere Hinweise: Die zielgerichtete und arbeitsteilige Gestaltung der Humanontogenese durch die soziale Welt der pädagogisch Tätigen beginnt genau genommen schon vor der Geburt. Man denke hier an die diversen Schwangerschaftskurse, die Angebote der Familienbildungsstätten für werdende Eltern, aber auch an die pränatale Bera­ tung. In diesem Feld liegen allerdings nur wenig genaue Angaben über die Nut­ zungshäufigkeit vor. Das ändert sich dann im elementarpädagogischen Kontext, hier existieren belastbare Zahlen: So werden in Deutschland die Angebote der frühkindlichen Bildung bei 91% aller Kinder von 3 bis 6 jahren in Anspruch ge­ nommen (OECD 2014); die diesbezüglichen Zuwachsraten waren gerade in der Elementarbildung in den letzten 10 Jahren enorm. Die Inklusion in den anschlie­ ßenden Segmenten ist bekanntlich noch größer: Der Anteil der 7- bis unter 15jährigen an allgemeinbildenden Schulen beträgt 100% (Statistisches Bundesamt 2012). Die Studienanfängerquote ist in den letzten jahren kontinuierlich gewach­ sen und liegt bei 53% (OECD 2014). Nicht alle. wohl aber der größte Teil der üb­ rigen Heranwachsenden, absolvieren eine Ausbildung im dualen System der Be­ rufsausbildung. Sofern junge Erwachsene den Hochschulen fernbleiben oder kei­ ne Berufsausbildung absolvieren, sind sie Adressaten von pädagogisch betreuten Integrationsprogrammen. Der Übergang von der Kindheit zur Jugend und vom Jugend- ins Erwachsenenalter scheint ein vollständig von pädagogischen Organi­ sationen, Berufsgruppen und Interventionen überformte Statuspassage zu sein. Die pädagogische Begleitung hört aber im frühen Erwachsenenalter nicht auf. So ist die allgemeine Weiterbildungsbeteiligung bei Erwachsenen in den letzten jahrzehnten kontinuierlich angestiegen; sie liegt bei 49% (BMBF 2013); die Parti­ zipation an der Weiterbildung in Unternehmen beträgt 73% (Statistisches Bun­ desamt 2010). Auf den ersten Blick scheinen die auf Inklusion hinweisenden Zah­ len zu zeigen, dass die Beteiligung am pädagogisch organisierten System lebens­ langen Lernens nach dem Übergang vom Jugend- zum Erwachsenenalter ab­ nimmt. Inwieweit der größte Teil der Gesellschaftsmitglieder vom pädagogisch organisierten System des lebenslangen Lernens erfasst wird, erschließt sich je­ doch nur zum Teil durch statistische Zahlenkolonnen. Im Zuge des Erwachsenen­ alters wird die Beteiligung an formaler Bildung durch funktionale Äquivalente, die eher im nonformalen Bereich angesiedelt sind, kompensiert. So ist der Erwerb von Lizenzen im Freizeitbereich, wie Angler- und Jagdschein, oder die Erlaubnis,

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das Traineramt auszuführen, unweigerlich mit Schulungsprogrammen verbun­ den. Die organisierte Erwachsenenbildung wird von der Bildung des Erwachse­ nen im Modus des nonformalen Lernens ergänzt. Dazu gehören kommerzielle Angebote im Bereich der Kulinarik (Koch- und Weinseminare), der kulturellen Bildung (Ausbildung zum Museumsführer oder zum Chorleiter) und des Reisens (Qualifizierungs maßnahmen zum Reiseführer). Auch der Zugang zu ambitionier­ ten Tätigkeiten des bürgerschaftlichen Engagements wird durch entsprechende pädagogische Seminare und Schulungen gerahmt. Analog zum Rechtssystem, das den möglichen Nutzer (potenzielle Kläger) vorsieht, müsste auch im hier themati­ sierten Systemkontext geklärt werden, ob der potenzielle Teilnehmer nicht auch als vollwertiger Protagonist der Inklusion infrage käme.

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Die Institutionalisierung des lebenslangen Lernens als neuem U n iversa­ lisierungsmechanismus

Nun kann die erziehungswissenschaftliche Zeitdiagnose ihr Geschäft nicht ohne Rekurs auf die soziologische Tradition betreiben. Es stellt sich also die Frage, wie Soziologen die hier angerissenen epochalen Phänomene grundlagentheoretisch einordnen würden. Während aus erziehungswissenschaftlicher Perspektive die weitgehende Institutionalisierung des lebenslangen Lernens mit der Engführung von Phylogenese und Ontogenese zu korrespondieren scheint, könnte die weitge­ hende Diversifizierung des lebenslangen Lernens aus soziologischer Sicht als endgültige Durchsetzung eines für die Moderne neuartigen Universalisierungs­

mechanismus betrachtet werden (vgl. Nittel & Schütz 2010, S. 145). In der Tradi­ tion von Georg Herbert Mead übernehmen Universalisierungsmechanismen zent­ rale Aufgaben der Ermöglichung von Gesellschaft: Sie tragen zur Entstehung und Tradierung von Reziprozitätsbeziehungen und zur Verbindung des sonst Unver­ bundenen bei, indem sie der Subjektivierung des Gesellschaftsmitgliedes und der Individualisierung des Gesellschaftsmitgliedes Geltung verschaffen. Universalisie­ rungsmechanismen haben eine intermediäre Funktion, indem sie die symboli­ schen Medien (Sprache, Geld, Liebe) so zubereiten, dass sie - gemäß ihrem rekur­ siven Charakter - fortlaufend Reziprozitätsfiguren erzeugen können. Die symbo­ lischen Medien haben potenziell die Eigenschaft, dass jede abgeschlossene Rezip­ rozitätsbeziehung für alle beteiligten Interaktionspartner einen Überhang an Möglichkeiten bietet, neue Reziprozitätsbeziehungen mit den bereits involvierten oder mit noch nicht einbezogenen Interaktionsteilnehmern zu erzeugen. Um die­ se Rekursivität im Medium von Endlosschleifen gleichsam am Laufen zu halten,

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benötigt die Gesellschaft nach Mead bestimmte Instrumente und Ressourcen.5 Mead unterscheidet in seiner Protosoziologie zwischen drei Universalisierungs­ mechanismen, nämlich dem Wirtschaftsaustausch, religiösen Brüdergemein­ schaften und der sprachlichen Kommunikation (vgl. Mead 1968, S. 122-130, 188, 260-267). Nun gibt es gute Gründe, in modernen, stark säkularisierten Gesell­ schaften das lebenslange Lernen als vierten Mechanismus in Betracht zu ziehen und die Triade an Universalisierungsmechanismen - Liebe, Glaube, Sprache - um eine weitere Komponente zu ergänzen. Das lebenslange Lernen als Universalisie­ rungsmechanismus generiert eine widersprüchliche Einheit polar angeordneter Relationen und verfügt genau über jene Merkmale, die Mead den übrigen attes­ tiert hat. Er oszilliert zwischen Autonomie (Bildung im Zeichen von Emanzipation und Selbstverwirklichung) und Heteronomie (Bildung unter der Maßgabe von Anpassung an das gesellschaftliche Realitätsprinzip). Zudem trägt er zur Ver­ schränkung orts- und weltgesellschaftlicher Bezüge bei (Lernen vor Ort bzw. im sozialen Nahbereich einerseits und Lernen im Zeichen von Globalisierung und Internationalisierung andererseits). Der Universalisierungsmechanismus des le­ benslangen Lernens sorgt für die Anschlussfähigkeit von Lernprozessen in der Kindheit an jene im hohen Alter und bietet Begründungspotenzial für soziale In­ klusions- und Exklusionsvorgänge ("Wer nicht mitkommt und die Fähigkeiten X nicht erwirbt, ist nicht mehr dabei"). Sofern keine biologischen Beeinträchtigun­ gen vorliegen, hat die Institutionalisierung des lebenslangen Lernens ein großes Potenzial für Rekursivität: Sie schafft Bedingungen, die Reziprozität ermöglichen und trägt dazu bei, dass einerseits abgeschlossene Lernprozesse in neue einmün­ den und andererseits Prozesse der Aneignung von Wissen das Bewusstsein für Nichtwissen schärfen, sodass ein weiterer Anlass für neue Wissensakkumulation besteht. Das lebenslange Lernen trägt als Universalisierungsmechanismus in mo­ dernen Gesellschaften zum einen dazu bei, dass die Kommunikationsfähigkeit nicht versiegt und die Beteiligungsvoraussetzungen für die Mitwirkung in ande­ ren Funktionssystemen erhalten bleiben. Zum anderen wird eine annähernde Synchronisierung zwischen der Dynamik der gesellschaftlichen Entwicklung und der biografischen Erfahrungsaufschichtung möglich gemacht, was auch den Um­ gang mit dem eigenen Leib und die Konfrontation mit dem eigenen Tod als Lern­ herausforderung mit einschließt (vgl. Nittel 2013a). So wie wir im Zuge der De­ batte über die Weltgesellschaft und die drohende ökologische Katastrophe auf­ grund der Erderwärmung gelernt haben, in deutlichen längeren Zeiträumen zu denken und politisch zu handeln, so werden wir zukünftig aufgrund der neuen 5 Ausführlicher erläutert Fritz Schütze die Herku nft und Funktion von U n iversa lisierungsmechanismen (vgl Schütze 1975, Bd, 1, S, 301-310), Dieser Aspekt wird in der in Entste hung begriffe nen Dissertation von Johan­ nes Wahl (2016) genauer behandelt

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Gegebenheiten nicht mehr in konventionellen, eher begrenzten Zeitintervallen Lern- und Bildungsprozesse vermessen, sondern im Horizont der gesamten Le­ bensspanne.

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Vom Erziehungs- und Bildungswesen zur funktionalen Diffe renzierung im pädagogisch organisierten System des lebenslangen Lernens

Lebenslanges Lernen "bedeutet in einer vorläufigen Annäherung, dass sich der moderne Mensch nach Abschluss von Schule und einer ersten beruflichen Qualifikation, z. B. durch ein Studium oder eine Berufsausbildung über die gesamte verbleibende Lebensspanne in einem Gewebe weiteren Hinzulernens sowie ständiger Selbstbildung befindet" (Brödel, Nettke & Schütz 2014, S. 11).

In diesem Zitat klingen schon die Konsequenzen an, die mit der Institutionalisie­ rung des lebenslangen Lernens im Medium der kulturellen Diversifizierung für das Subjekt verbunden sind (Selbstbildung). Neben den Veränderungen in der Sphäre der Bildungs- und Erziehungsorganisationen müssen demnach auch die kollektiv geteilten Veränderungen in der Alltagskultur und den mentalen Orien­ tierungen der Bürger in Rechnung gestellt werden. Die hier thematisierten gesell­ schaftlichen Veränderungen tangieren die Tiefenschicht von Subjektivität und den Eigensinn der Individuen (vgl. Dinkelaker 2014). So wird das Verhältnis von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft im subjektiven Erleben unter der Ägide des lebenslangen Lernens so konfiguriert, dass im Vollzug der Lebenspraxis eine unterstellte Prägung durch die Last der Vergangenheit minimiert und in der bio­ grafischen Lebensführung die kontrafaktische Möglichkeit einer radikalen Zu­ kunftsoffenheit in Aussicht gestellt wird. Die Reversibilität biografischer Prozesse und Entscheidungen, ja die Umkehrbarkeit biologischer Abbauprozesse avanciert zu einer Erwartungserwartung, manchmal allerdings auch zu einem ideologi­ schen Artefakt. Sowohl die eben angedeuteten kulturellen als auch die bereits skizzierten organi­ sationalen Veränderungen im pädagogisch organisierten System des lebenslan­ gen Lernens konfrontieren uns mit einer Lage, deren Konsequenzen aus erzie­ hungswissenschaftlicher Sicht bisher noch nicht hinreichend erkannt worden sind. Die hier genutzte Perspektivität wirft unweigerlich die These auf, dass das sich formierende pädagogisch organisierte System des lebenslangen Lernens in einer spezifischen Hinsicht Merkmale und Eigenschaften des Gesellschaftssys­ tems annimmt und dieses sogar - wenn man an die Inklusionsbestrebungen denkt - kopiert. In dem gleichen Maße, wie dies geschieht, absolviert es einen evolutionären Prozess einer schleichenden Renovierung. Wie kann diese Behauptung begründet werden? Das traditionelle Erziehungssys-

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tem war teils durch die Logik "Zentrum versus Peripherie" (Luhmann 1997, S. 663-667), teils durch "stratifikatorische Differenzierung unter dem Gesichts­ punkt der rangmäßigen Ungleichheit" (ebenda, S. 678 ff.) gekennzeichnet. Wenn man früher vom Erziehungssystem sprach, meinte man in Wirklichkeit die Insti­ tution Schule. Und in der Tat war die Schule der Nukleus des Systems, wohinge­ gen die Berufsbildung und auch die akademische Ausbildung an den Universitä­ ten zum einen als Residualgröße des Wirtschaftssystems und zum anderen als Residualgröße des Wissenschaftssystems betrachtet werden konnten. Gleichzei­ tig war damit eine rangmäßige Ungleichheit verbunden im Sinne von: "Schule rangiert vor den anderen Bildungsbereichen". Parallel dazu wurde das Erzie­ hungs- und Bildungswesen auch als säulenartiges Ordnungsgefüge beschrieben, ohne dass dabei die insgeheim zentrale Stellung der Schule angetastet wurde. Der stratifikatorische Aufbau im Sinne einer Hierarchie reproduzierte sich nicht zu­ letzt im Reputationsgefälle in den erziehungswissenschaftlichen Teildisziplinen. In der Erziehungswissenschaft galt bis in die 1980er Jahre hinein die Schulpäda­ gogik als eine Art Königsdisziplin. Diese bewegte sich allerhöchstens noch mit der allgemeinen Erziehungswissenschaft auf gleicher Augenhöhe, mit der sie im Re­ putationsranking wohl gleichauf lag. Heute kann man von der Deutungshoheit einer einzigen erziehungswissenschaftlichen Sub disziplin als Leitdisziplin nicht mehr sprechen. Eine ähnliche Entwicklung kann auch in den Berufskulturen ver­ zeichnet werden: Längst haben die Gymnasiallehrer ihre in einem Akte der Selbs­ termächtigung beanspruchte Rolle als Leitprofession in der Pädagogik eingebüßt. Die Wachablösung war wohl auch überfällig, da es sich bei den Gymnasiallehrern um eine Gruppe handelt, die sich keineswegs durchgängig als "echte Pädagogen" definierte (vgl. Nittel. Schütz & Tippelt 2014). Die Annahme einer Zentralität be­ ruhte auf gleich mehreren Unterstellungen und impliziten Theorien, von denen hier nur wenige genannt werden können: Gymnasium und Universität galten als Repräsentanten der höheren Bildung und hatten von daher per se einen Wettbe­ werbsvorteil. Die Sonderstellung der Schule leitete sich darüber hinaus aus dem Umstand ihrer Allokationsfunktion ab. Als Institution galt und gilt sie als groß­ formatiger Weichensteller im Lebenslauf und zugleich als Institution, die für die Reproduktion und Weiterentwicklung der modernen Gesellschaft von vitaler Be­ deutung ist. Wenn die Position von der gesellschaftlichen Schlüsselrolle der Schule nicht mehr als zeitgemäß betrachtet wird - wie lässt sich dann die behauptete neue Stufe in der Evolution der Welt pädagogischer Ämter, Berufe und Institutionen in der ge­ botenen Abstraktion beschreiben? Die Herausbildung des pädagogisch organsier­ ten Systems des lebenslangen Lernens geht Hand in Hand mit der Umstellung des

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Zentrums versus Peripherie aufbaus und von der stratifikatorischen Unterteilung in das Stadium der funktionalen Differenzierung. Funktionale Differenzierung muss unter dem Aspekt sowohl der Ungleichheit als auch der Gleichheit der Teil­ systeme gesehen werden; vorher war nur und ausschließlich der Ungleichheits­ modus im Erziehungs- und Bildungswesen dominant. 6 "Funktionssysteme sind in ihrer Ungleichheit gleich. Darin liegt ein Verzicht auf alle ge­ samtgesellschaftlichen Vorgaben für die Beziehungen zwischen ihnen" (Luhmann 1997, S. 613).

Funktionale Differenzierung meint zunächst einmal die Herausbildung von Teil­ systemen, die für das Gesamtsystem EINE bestimmte Funktion erfüllen. Eine Funktion kann nur dieses und kein anderes System leisten; Beobachtungen im Hinblick auf die Gesellschaft werden in der Systemtheorie von Luhmann Funktion genannt, wohingegen Beobachtungen im Hinblick auf Funktionssysteme als Leis­ tung bezeichnet werden. Die Teilsysteme des pädagogisch organisierten System des lebenslangen Lernens sind mit den Segmenten der pädagogischen Berufsar­ beit im Kontext komplementärer Organisationseinheiten nahezu identisch: das Teilsystem der Pädagogik der frühen Kindheit. das der Elementarpädagogik. der Primarstufe. der Sekundarstufe I und

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der Weiterbildung. der beruflichen und

betrieblichen Bildung. des Tertiärbereichs und des weiten Feldes der Sozialpäda­ gogik und der Sozialarbeit seien hier als die wohl wichtigsten genannt. Mit diesen Hinweisen auf die funktionale Differenzierung gelingt es, an die oben genannte Arbeitsdefinition anzuschließen und diese zu präzisieren. In Anlehnung an Luh­ mann

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Schorr (1979) kann die zentrale Funktion des Systems als intendierte

Vermittlung von Lernfähigkeit beschrieben werden, welche die einzelnen Funkti­ onssysteme mit der Leistung versorgt, dass die Ungleichzeitigkeiten, Verwerfun­ gen und Friktionen zwischen der kollektiven Entwicklung der Gesellschaft und deren Teilsystemen einerseits und den biografischen Erfahrungsaufschichtungen der Individuen andererseits synchronisiert, abgeglichen und notfalls kompensiert werden. Hier zeigt sich ein Bezug zur oben erwähnten Ontogenese und der damit verbundenen Arbeitsdefinition. Im Unterschied zum Medizinsystem ist das päda­ gogisch organisierte System des lebenslangen Lernens unter der Maßgabe einer 6 Die Ungleichheit wird zum einen in der unterschiedlichen finanziellen Ausstattung manifest und zum anderen schlägt sie sich i n diskrepanten Anerkennu ngsstrukturen, wie etwa i n Reputationsunterschieden, und der ho­ hen und niedrigen öffentlichen Akzeptanz der pädagogischen Berufsgruppen nieder. Gemessen an den Leis­ tungen für einzelne Funktionssysteme und dem breiten kalendarischen und biologischen Altersspektrum des Erwachsenena lters, erhält die Weiterbildung eine eher geringe finanzielle Förderung durch den Staat; Schulen und U n iversitäten erhalten die stärkste staatliche Alimentierung. In den letzten Jahren zeichnet sich eine Um­ lenkung der Geldströme i n Richtung Ele mentarpädagogik und eine damit verbundene Aufwertung dieses Segments a b

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funktionsfähigen Alltagspraxis nämlich nicht für die körperliche und psychische, sondern für die soziale Integrität der Gesellschaftsmitglieder zuständig. Sollte diese Alltagspraxis durch eine Krise gestört sein, so kann diese durch ausgewie­ sene pädagogische Interventionen restituiert werden. Das pädagogisch organi­ sierte System des lebenslangen Lernens als Summe seiner Teilsysteme sowie sei­ ner Systemelemente (siehe nächsten Abschnitt) ist für die arbeitsteilige und ziel­ gerichtete Gestaltung7 der Humanontogenese verantwortlich und trägt zur Her­ stellung, Veränderung und zum Erhalt von Identitätsformationen bei. Wenn im Zuge der Arbeitsteilung funktionale Differenzierung vorherrscht - wie lässt sich dann die unweigerlich damit verbundene Egalität der Subsysteme be­ gründen? Die Gleichheit der Teilsysteme im pädagogisch organisierten System des lebenslangen Lernens leitet sich in allererster Linie durch den Wechsel vom bisher dominanten Modus der Vorbereitung (Vorbereitung auf den Beruf, auf die Pflichten des Staatsbürgers) hin zur Begleitung im Lebensverlauf ab. Auch Luh­ mann attestiert dem Lebenslauf eine zentrale Rolle im Erziehungssystem. Er irrt aber, wenn er nach wie vor den alten Modus der Vorbereitung stark macht.s Das System verfügt über ein Alleinstellungsmerkmal, an das an dieser Stelle noch einmal unvoreingenommen erinnert werden muss: Pädagogische Organisationen und Berufsgruppen begleiten die Gesellschaftsmitglieder im Wechsel von früher Kindheit, über Jugend, frühes und mittleres Erwachsenenalter bis ins hohe Alter und gestalten die strategisch wichtigen Übergänge im Prozess des Älterwerdens bis zur Lebensendphase (Hof, Meuth & Walther 2014). Über die gesamte Lebens­

spanne sind Einrichtungen mit Erziehungs- oder Bildungsauftrag verteilt. Die da­ rin tätigen pädagogischen Praktiker werden in der Regel immer dann aktiv, wenn sich die objektivierbare Notwendigkeit einer pädagogisch angemessenen Inter­ vention abzeichnet. Fachlich begründet ist eine pädagogische Intervention dann, wenn ein Lern- und Förderbedarf artikuliert wird, der nicht durch autodidakti­ sche Praxis abgedeckt werden kann, oder wenn eine vom sozialen Umfeld nicht zu erbringende Unterstützung oder Hilfsmaßnahme nachgefragt wird. Pädagogi­ sche Dienstleistungen erfolgen nicht immer unter der Bedingung einer Krise, soll­ te es sich dabei allerdings um eine solche handeln, so kann diese nur dann bear­ beitet werden, wenn keine gravierenden krankhaften psychischen oder physi­ schen Störungen oder exorbitante Gesetzesabweichungen vorliegen (vgl. Oever­ mann 1996, S. 91). Neben dem Hilfemandat tritt im pädagogisch organisierten

7 Bei der Rekapitulation der Entwicklung des modernen Erziehu ngssystems meint Luhmann, Anhaltspunkte dafür gefu nden zu haben, dass Arbeitsteilung hier keine Rolle spiele (vgl, Luhmann 2002, S, 17), Wir behaup­ ten: Das Gegenteil ist der Fall 8 "Es geht tatsächlich nur u m Vorbereitung des Einzelmenschen auf sein späteres Leben, u m seinen ,Lebens­ lauf'" (Luhmann 2002, S, 47), Lebenslauf meint unseres Erachtens mehr als nur "Vorbereitung"

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System des lebenslangen Lernens auch zunehmend der Auftrag in den Vorder­ grund, präventiv tätig zu werden, sprich: Rekrutierung von Klienten, selbst wenn "das Kind noch gar nicht in den Brunnen gefallen ist", sich kein akuter Leidens­ druck aufgeschichtet hat und die Alltagspraxis noch intakt ist. Aufgrund der ra­ schen Alterung des Wissens und der Schnelligkeit des Generierens von neuem, können die Schule und die Universität nicht mehr die Sicherheit verbreiten, in einer ausreichenden Weise auf spätere existenzielle Aufgaben in der Alltagspraxis sowie auf Herausforderungen im Beruf vorzubereiten. Die Komplexität der mo­ dernen Gesellschaft ist zu hoch, Innovationen vollziehen sich zu schnell und die Anforderungen in der berufsbiografischen Entwicklung sind so ambitioniert, dass es ungerechtfertigt erscheinen würde, einzelnen Instanzen wie der Schule, der Universität oder der Berufsausbildung die Aufgabe zu überlassen, für den gesam­ ten weiteren Lebensweg ein ausreichendes Kompetenz- und Qualifikationspaket zu vermitteln. Der von Luhmann reklamierte Modus der Vorbereitung (Luhmann 2002. S. 47) funktioniert wie das Aufladen einer Batterie. Schule. Universität und Berufsausbildung führen nach diesem Modell gleichsam Energie zu, sie tragen zur Aufladung bei, und die so konservierte Kraft würde sich dann im Zuge der weite­ ren Berufs- und Lebenspraxis langsam verbrauchen - nur unterbrochen durch Phasen, in denen das autonome Subjekt durch autodidaktisches Selbststudium für die notwendige kompensatorische Nachbesserung an Wissen und Fähigkeiten sorgt. Die Realität des organisierten Lernens über die Lebensspanne setzt den durch die Metapher der Batterie evozierten Modus der Vorbereitung außer Kraft und stellt auf den Modus der Begleitung um. Für manche mag eine systemtheoretisch ansetzende Betrachtungsweise allein nicht ausreichen, um die Behauptung einer funktionalen Differenzierung und die damit verbundene Egalität der Teilsysteme zu belegen. Eine zusätzliche Begrün­ dungslinie knüpft an der genauen Analyse biografischer Entwicklungsprozesse (vgl. Fuchs-Heinritz 2009; Kade

&

Nittel 2013; Marotzki 1990; Nittel 1991) an.

Die Kernthese lautet, dass nicht per se von einer überlegenen Prägekraft eines einzigen Teilsystems - beispielsweise des Elementarbereichs, der Primar- und Sekundarstufen, des Tertiärbereichs - im Zuge des Verstreichens der Lebenszeit und der dabei zum Zuge kommenden Konstruktion einer Identitätsformation ausgegangen werden kann. Die biografische Wirkmächtigkeit von Bildungsprozes­ sen ist, so zeigen eine Vielzahl von qualitativen Untersuchungen, nicht zwingend auf einen ein für alle Mal fixierten Kreis von Organisationen im pädagogisch organisier­ ten System des lebenslangen Lernens gebunden.9 Wie man aus der sorgfältigen Re9 Einen starken Bündnispartner, der die Existenz einer funktionalen Differenzierung im pädagogisch organisier­ ten System des lebenslangen Lernens auf der Ebene der Subjektbildung bestätigen könnte, liefert Jene For-

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konstruktion diverser Bildungsbiografien unschwer erkennen kann, können für die Identitätsentwicklung strategisch wichtige Lernprozesse auch im mittleren und späten Erwachsenenalter, also im Zuge von Weiterbildungskarrieren, aber auch in pädagogisch weniger einschlägigen Einrichtungen (z. B. in pflegepädago­ gischen Rehabilitationseinrichtungen) stattfinden (Nittel 2013b; König

&

Nittel

2016). Die hier vorgebrachte Argumentation gewinnt durch ein Gedankenexpe­ riment an Evidenz: Mit welchem Ergebnis könnte ein großangelegtes For­ schungsprojekt rechnen, wenn man die Identitätsformationen einer beliebigen Menge von Gesellschaftsmitgliedern kurz vor dem Ende des Verstreichens ihrer Lebenszeit minutiös analysieren würde. Zum einen dürfte sich bei einem solchen Gedankenspiel die strategisch wichtige Prägekraft gleich mehrerer institutionel­ ler Ablauf- und Erwartungsmuster mit dezidiert pädagogischer Ausrichtung im Umkreis des formalem Lernens (also Schullaufbahn, Universitätsbildung, Berufs­ ausbildung) als außerordentlich mächtig erweisen. Die Wirkung stellt sich in der Regel als so nachhaltig und groß heraus, dass die eben genannten Karrieremuster nicht nur große Teile des weiteren Lebensschicksals auf der Ebene der rollenge­ bundenen Identität (Staatsbürgerrolle, Berufsrolle) mitbestimmen, sondern auch Spuren in der biografischen Identität - der "Persönlichkeit" - hinterlassen (Nittel 1992). Hier bewahrheitet sich die nur vordergründig triviale These. dass in hoch­ komplexen modernen Gesellschaften das Lebensschicksal unmittelbar mit dem Bildungsschicksal verknüpft ist. Zum anderen würde bei einer solchen groß ange­ legten biografischen Exploration deutlich, dass neben dem formalen Lernen in den klassischen Bildungs- und Erziehungseinrichtungen auch Erfahrungen im Zusammenhang des non formalen Lernens in einem entscheidenden Maße die Identitätsformation im Hier und Jetzt der Lebensendphase prägen. Solche Lern­ prozesse auf der Ebene der Wissensaneignung, der Verhaltensmodifikation und des Umbaus der Identitätsgestalt (Nittel 2013a und 2013b)1O treten beispielswei­ se im Zuge beruflicher Fort- und Zusatzausbildungen auf, in denen der Anteil der Selbsterfahrung besonders groß ist. Den exorbitanten Stellenwert derartiger non­ formaler Lernprozesse könnte man an vielen weiteren Beispielen im Umkreis des organisierten Lernens von Erwachsenen (Wagner 2004; Benedetti 2015) illust­ rieren, wie etwa beim Austritt aus dem Berufsleben (Wagner 2004) oder der Übernahme eines Ehrenamtes (Benedetti 2015). Mitarbeiter aus der beruflichen Weiterbildung mit einem Adressatenkreis, der aus Langzeitarbeitslosen besteht, wissen zu berichten, wie sich ihre Teilnehmer Praktiken im Beherrschen neuer schungsrichtung, zu der sich die moderne Syste mtheorie eher ind ifferent verhalten hat, nämlich die qua lita­ tiv-he rme neutisch orle ntierte BIografieforsch u ng 10 Hier deute ich das in Frankfurt entwickelte differenztheoretische Lernmodell a n : Dabei geht es darum, die längst bekannte Einsicht i n die Poryva lenz und die holistische Struktur des Lernens aus Erfahrung methodolo­ gisch so zu transformieren, dass sie empirisch ansch lussfähig ist (vgl. Nittel 2013a und b)

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Technologien erlernt haben, sich ihr kommunikatives Netzwerk stark zu erwei­ tern begonnen hat und gerade dadurch neue Chancen der beruflichen Wiederein­ gliederung ergeben haben. Insbesondere im Alter und beim Konfrontiertsein mit schweren Erkrankungen stehen die Betroffenen vor neuen Lernanforderungen, die durch sozialpädagogische Beratungs- und Betreuungsaktivitäten angestoßen, begleitet und in anderer Weise kontrolliert werden. Es lohnt sich, die Imagination einer Biografie eines Gesellschaftsmitglieds kurz vor dem Verstreichen seiner Lebenszeit unter dem Fokus der pädagogischen An­ eignung weiterzutreiben. Welches Szenario bekämen Forscher zu Gesicht, wenn sie die Flut von Unterrichtsimpulsen, alle von pädagogischen Fachkräften ausge­ henden Lehraktivitäten, ihre sämtlichen positiven und negativen Sanktionen, die Gesamtheit der Beratungsprozesse, die Summe an spontanen Hilfen und wohl­ überlegten Interventionen, also die Totalität aller an eine bestimmte Person adressierten pädagogisch gerahmten intentionalen Handlungs- und Sprechakte über den gesamten Lebenslauf hinweg beobachten und empirisch minutiös erfas­ sen könnten? Mit dieser rhetorisch gemeinten Frage soll eigentlich nur auf einen einfachen, im gegebenen Kontext aber sehr wichtigen Tatbestand hingewiesen werden: Die hier in den Blick genommene Person

X

wäre eine andere Person,

wenn all diese Anregungen, Interventionen, Impulse, Vermittlungsabsichten, Lehraktivitäten, Hilfen und personenbezogenen Dienstleistungen nicht erfolgt wären. Die Formung der Form "Lebenslauf' unter dem Einfluss des Mediums des lebenslangen Lernens bleibt so gesehen einerseits nicht ausschließlich der Kon­ tingenz überlassen, sie ist andererseits auch nicht das Ergebnis zweckrationaler Planungen, sondern sie ist pädagogisch überformt und damit bestimmt unbe­ stimmt. Das soeben präsentierte fiktive Forschungsvorhaben regt dazu an, vorhandene Daten tatsächlich zum Zwecke einer bildungsbiografischen Gesamtberechnung zu nutzen. Wir legen dabei die statistische Lebenserwartung eines deutschen Bür­ gers zugrunde, was bei Männern 77 Jahre und bei Frauen 82 Jahre bedeutet. Wählt man anschließend einen Bürger aus, der über einen mittleren Bildungsab­ schluss und über eine Berufsausbildung verfügt, ermittelt man danach in einem ersten Schritt die von dieser Person im Erziehungs- und Bildungswesen ver­ brachten Stunden bis zur Erreichung des Erwachsenenstatus, stellt man zudem noch das durchschnittliche Weiterbildungsverhalten dieser Person bis zur Pensi­ onierung in Rechnung, so gelangt man auf circa 176 000 Stunden (Wahl 2012). Das ist eine eher konservative Schätzung. Dieses Zeitkontingent bringt ein durch­ schnittliches Gesellschaftsmitglied von der Geburt bis zum Tod im pädagogisch organisierten System des lebenslangen Lernens auf. Das sind circa 21 Jahre und

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damit eine recht lange Zeitspanne permanenter Reize des organisierten Lehrens, Beratens und Sanktionierens. Das pädagogisch organisierte System des lebens­ langen Lernens erbringt im Verbund mit seinen Subsystemen insofern im Modus der Begleitung eine besondere Leistung, als unter Mobilisierung absolut morali­ scher Maßstäbe die biografische Erfahrungsaufschichtung und Wissensaneignung einerseits und die Entwicklung gesellschaftlicher Funktionssysteme andererseits aufeinander abstimmt wird. Indem damit die Lernbereitschaft des einzelnen von zufälligen Konstellationen unabhängig gemacht und damit gesichert wird, unter­ scheidet sich das hier thematisierte System von allen anderen Funktionssyste­ men" der Gesellschaft. Festzuhalten bleibt daher: Das Bildungsschicksal im Be­ sonderen und das Lebensschicksal im Allgemeinen kann nicht ausschließlich und per se auf die Prägekraft einer einzigen Institution zurückgeführt werden, was im Verbund mit anderen Argumenten - zum Beispiel mit der kulturell verbürgten Gleichheit der Lebensalter - für die Egalität der pädagogischen Handlungsfelder spricht.12

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Das pädagogisch organisierte System des lebenslangen Lernens und seine vier Elemente

Für systemtheoretische Konzepte, die in der Tradition von Max Weber stehen (Talcott Parsons. der frühe Niklas Luhmann) und auf Handlung als Kernkategorie insistieren, besteht eine zentrale Herausforderung darin, die Elemente des Sys­ tems als solche zu identifizieren, diese näher zu beschreiben und die Grenzen des Systems durch belastbare Unterscheidungen zu markieren. Wir gehen von fol11 Ein notorisches Problem ist, wie das System seine Einheit nach innen und außen kommuniziert, Eine Option wurde soeben skizziert, unter Maßgabe eines hypothetischen Lebenslaufs die Totalität pädagogisch flankier­ ter biografischer Prozessstrukturen in den Blick zu nehmen, Eine andere hier aus Platzgründen nur angedeu­ tete Möglichkeit wäre die Einheit über den Mechanismus der Kondensierung partikularer Mandate und LJzen­ zen, Damit würde sich das System von der Kommunikation eines wie auch immer gearteten Partikula rinteres­ ses lösen und die Systemi ntegration über die Funktionsbestimmung für das Gesellschaftssystem vollziehen Im gesellschaftlichen Mandat der einzelnen sozialen Welten der pädagogisch Berufstätigen wird der Akt der intentionalen Beeinflussung der Biografie recht unspezifisch und allgemein kommuniziert C,Vorbere itung auf das Leben") - aber er wird kommuniziert, Die Lage verändert sich allerdings grundlegend, wenn man die be­ reichsspezifischen Mandate und die singulären Lizenzen als serielles und gleichzeitig kontextuelles Phänomen betrachtet, anschließend bündelt und unter dem Fokus der Arbeitsteilung i n einen funktionalen Zusammen­ hang stellt, Damit ginge sehr wohl ein Sprung von der Quantität zur (neuen) Qualität einher, Durch die Bünde­ lung der diversen gesellschaftlichen Aufträge und die Verdichtung der bereichsspezifischen LJzenzen wird das Alleinstellungsmerkmal des pädagogisch organisierten Systems des lebenslangen Lernens gewährle istet, in­ dem die biografischen Gesta ltungsspielräume der Gesellschaftsmitglieder möglichst offen und flexibel gehal­ ten werden, ohne dabei die Tradierung des gesellschaftlichen Status quo z u gefährden, Die Einheit ergibt sich also aus der Generalisierung der Mandate, der Aneignungs- und der Vermittlungsaktivitäten.

12 Die hier dargelegte Argumentation mobilisiert ähnliche Plauslbi litätsstrukturen und Prämissen wie Jene, auf die Luhmann sich gestützt hat: "Wenn Erziehung eine bloße, sich a n ihrem eigenen Aufwand festbeißende Il­ lusion wäre, wäre aber kaum zu erklären, dass Schüler, die 8 Jahre Late inu nterricht erhalten haben, a m Ende besser Latein können als andere Schüler, denen ein solcher Unterricht versagt bleibt" (Luhmann 2002, S, 82)

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genden vier Elementen aus: 1) Organisationen mit einem auf Erziehung und/oder Bildung abzielenden Profil nehmen im System des lebenslangen Lernens einen prominenten Platz ein. 2) Der operative Vollzug pädagogischer Dienstleistungen liegt in den Händen der so­ zialen Welten pädagogisch Tätiger, womit sowohl hauptberuflich tätige Pädagogen als auch frei- und nebenberufliche (Privatdozenten, Honorarprofessoren) sowie ehrenamtlich tätige Praktiker (wie sie beispielsweise in Kirchen tätig sind) ge­ meint sind. Die Akteure und die damit verbundenen Leistungsrollen verfügen über eine Lizenz, sodass sie die Erlaubnis haben, Dinge tun zu dürfen, die Alltagsmen­ schen verwehrt sind. Hierbei handelt es sich auch um Interventionen, mit denen Risiken und Gefahren verbunden sind. 3) Der strategisch wichtigen Bedeutung der Handlungspraxis wird in der Weise Rechnung getragen, dass auch die pädagogischen Kernaktivitäten - das Unterrich­ ten, Begleiten, Beraten, Organisieren und Sanktionieren - und die jeweils zur Gel­ tung kommende Kombination als eigenständige Elemente aufgeführt werden. 4) Die Adressaten und die Zielgruppen (Klientel) pädagogischer Dienstleistungen tauchen in der grundlagentheoretischen Fassung nicht als ganze Personen auf, sondern entweder als Rollenträger oder als Kinder bzw. Jugendliche (d. h. eben nicht als vollständig sozialisierte und handlungs- sowie entscheidungsfahige Sub­ jekte). Pädagogisch Andere - so nennen wir die Teilnehmer, Adressaten und Ziel­ gruppen im pädagogisch organisierten System des lebenslangen Lernens - sind in bestimmte institutionelle Ablauf- und Ervvartungsmuster der Schulkarriere, des Kindergartenaufenthalts oder sozialpädagogischer Integrationsprogramme invol­ viert. 5.2.1 Organisationen des pädagogisch organisierten Systems des lebenslangen Lernens

Zum pädagogisch organisierten System des lebenslangen Lernens rechnen wir einzig und allein jene Einrichtungen und Organisationen13 zu, die einen klar defi­ nierten pädagogischen Handlungsauftrag (Mandat) besitzen und damit gesell­ schaftlich über die Legitimation verfügen, sich in ihrer institutionellen Selbstbe­ schreibung ausdrücklich als Erziehungs- und Bildungsanstalten zu definieren. 13 I n diesem Beitrag Ist die Differenz zwischen I nstitutionen (zu denen wir auch das System des lebenslangen Lernens zählen) und Organisationen (die ein Element des Systems sind) von großer Bedeutung: Institutionen definieren wir als das Ergebnis sinn hafte n Handeins; als objektiviertes Ergebnis von Handlu ngsketten gehen sie auf Routinen und bestimmte Muster der immer wiederkehrenden Problembearbeitung zurück. Institutio­ nen kompensieren den schwach ausgebauten Instinktapparat des Menschen und sie helfen, die Flüchtigkeit und Partikula rität der Alltagserfahrung zu überwinden. Auf diese Weise entstehen feste, reziprok gestaltete Erwartungen, sodass ein hohes Maß an sozialer Kontrolle realisiert werden kann. Wenn diese Erwartungen tradiert und in einem mehrstufigen Prozess legitimiert werden, ist der Gesta ltbildungsprozess einer Instituti­ on abgeschlossen. Dieses Verstä ndnis von Institution geht auf Berger & Luckmann (2010) zurück. Organisatio­ nen begreifen wir als eine Sonderform von Institutionen; sie sind in der Regel visuell präsent. Sie besitzen eine formale Struktur mit bestimmten Hierarchien und Regeln für die Mitgliedschaft, sie gestalten ihr Verhältnis nach innen und gegenüber ihrer U mwelt und sie verfügen uber ein Set a n Gewisshelten und OrIentierungs­ mustern, welches zumeist mit Orga nisationskultur umschrieben wird. Eine prominente Defi nition stammt von Karl E . Weick: "Organisieren heißt, fortlaufende, unabhängige Handlungen z u vernünftigen Folgen zusammen­ fügen, sodass vernünftige Ergebnisse erzielt werden" (Weick 1985, S. 11)

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Pädagogische Organisationen (vgl. Kuper 2001) zeichnen sich dadurch aus, dass sie Ketten von Entscheidungen erzeugen und gerade dadurch eine soziale Struk­ tur bilden, die ein planmäßiges und ziel orientiertes Handeln möglich macht. Wenn wir von Organisationen sprechen, so gilt es, zwischen den Einrichtungen (einzelnen Schulen) und den Trägern, wie etwa dem einem bestimmten Bundes­ land zugeordneten staatlichen Schulamt zu unterscheiden, gleichzeitig aber auch die Verwobenheit zwischen beiden Ebenen in Rechnung zu stellen. Die hier ange­ sprochene Organisationsidentität einer genuinen Erziehungs- und Bildungsinsti­ tution als dominantes Zuordnungskriterium korrespondiert eng mit lebensweltli­ chen Plausibilitätsstrukturen (Alfred Schütz), die dazu beitragen, dass die Öffent­ lichkeit sowie der sogenannte gut informierte Bürger eine mit einem pädagogi­ schen Mandat ausgestattete Institution, wie z. B. eine sozialpädagogisch orientier­ te Frauengesundheitsschule von einer nichtpädagogischen Institution (Kosmetik­ institut) intuitiv unterscheiden können. Dennoch wirft die Zuordnung der vielen Grenzfälle Probleme auf. Um einigermaßen klare Unterscheidungen zu vollziehen und die Grenzen des pädagogisch organisierten Systems des lebenslangen Ler­ nens zu markieren, hat sich die Unterteilung in implizite und explizite Bildungs­ einrichtungen bewährt (Kade, Nittel

&

Seitter 2007). Implizite Erziehungs- und

Bildungsarbeit findet in Einrichtungen statt, die faktisch Bildungsarbeit - wie et­ wa Gesundheitskurse einer Krankenkasse - verrichten, aber im Hauptgeschäft anderen Aufgaben nachgehen. Mit Blick auf die Krankenkasse geht es hier vor allem um das Vorhalten von Versicherungsleistungen im Kontext des Gesund­ heitssystems. Träger der jeweiligen Einrichtungen, welche die Erziehungs- und Bil­ dungsmaßnahmen durchführen, gehören im Falle der impliziten Einrichtungen in den allermeisten Fällen einem anderen gesellschaftlichen Funktionssystem an. Ein wichtiges Entscheidungskriterium, ob derartige Angebote innerhalb oder außer­ halb des Systems zu verorten sind, ist folglich der Organisationszweck. Mit dem hier angedeuteten Beschreibungsschema geraten selbstverständlich nicht nur öffentlich-rechtlich getragene oder finanzierte Einrichtungen, sondern auch pri­ vate Institute, wie Sprachschulen, Kindergärten, kommerzielle Weiterbildungs­ einrichtungen usw., in den Blick und in den Zuständigkeitsbereich des pädago­ gisch organisierten Systems des lebenslangen Lernens. Die institutionellen Selbstbeschreibungen der Organisationen stellen insbesondere bei den expliziten Einrichtungen Bezüge zur Sinnwelt der Pädagogik her; dies geschieht durch Schlüsselbegriffe, wie persönliche Entwicklung, lebenslanges Lernen, Erziehung, Bildung, Integration, Förderung, Hilfe usw. 5.2.2 Die sozialen Welten pädagogisch Tätiger

Im Rahmen ihres Tagesgeschäfts bringen die in den Feldern Erziehung und Bil-

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dung aktiven Einrichtungen didaktisch-methodisch strukturierte Lehr- und Lern­ situationen oder andere pädagogische Settings (Beratung, Begleitung, Betreuung) hervor, kontrollieren sie und verstetigen diese, indem die notwendigen finanziel­ len, personellen, räumlichen und infrastrukturellen Ressourcen bereitgestellt werden. Die hier erforderlichen personenbezogenen Dienstleistungen werden von Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern geplant und operativ umgesetzt, die in der Regel aus den diversen sozialen Welten pädagogisch tätiger Praktiker rekru­ tiert werden. Andere Personengruppen sind nicht zugelassen. Damit tritt das zweite Element im pädagogisch organisierten Feld des lebenslangen Lernens in den Blick, nämlich die Inhaber und Inhaberinnen der Leistungsrollen. Hierbei handelt es sich in der Regel um Angehörige von pädagogischen Berufsgruppen, die entweder haupt- oder freiberuflich tätig sind. Darüber hinaus gibt es aber auch eine beträchtliche Zahl von Personen, die nebenberuflich, manchmal auch ehrenamtlich arbeiten - und somit nicht klassischen Berufsgruppen zugeordnet werden können. In der kirchlichen Erwachsenenbildung und in der Sozialpäda­ gogik finden wir sehr wohl einen Personenkreis, dessen Arbeit unter Maßgabe des Kriteriums der Professionalität beobachtet werden kann - auch wenn die Be­ troffenen, ebenso wie die allermeisten anderen Pädagogen, keinen Status als Pro­ fessionelle beanspruchen können (vgl. Nittel 2000; 2011). Das haupt-, frei- und nebenberuflich sowie ehrenamtlich tätige pädagogische Personal verfügt in der Regel über eine berufliche Erlaubnis, d. h. eine Lizenz14 (Zertifikate oder andere Bescheinigungen über abgeschlossene formale Ausbildungen) oder über Qualifi­ kationen, die ein funktionales Äquivalent darstellen, wie etwa die Dokumentation zahlreicher Praxiserfahrungen, die allerdings einem weiteren Belastungstest aus­ gesetzt werden müssen. Diese formalen und non formalen Lizenzen verschaffen im Verbund mit der Organisationsmitgliedschaft (vgl. Luhmann 2013) eine Legi­ timationsgrundlage, um sich selbst als Pädagogin bzw. Pädagoge definieren zu können. Die Lizenz reicht von der Habilitation im Falle von Hochschullehrern bis hin zur bloßen Bescheinigung bei Jugendlichen im Kontext der außerschulischen Jugendbildung, dass sie als Helfer im Kindergottesdienst einer Kirche eingesetzt werden können. Die Lizenz kann also stark und folglich mit einem hohen gesell­ schaftlichen Ansehen verbunden sein, sie kann aber auch schwach sein, d. h. nur eine begrenzte Erlaubnis implizieren, die keinen nennenswerten gesellschaftli­ chen Statusvorteil einbringt. Wie bereits angedeutet schließt die Lizenz gewöhn­ lich die Erlaubnis ein, außeralltägliche Aktivitäten verrichten und potenziell ris-

14 "Die Lizenz, das Leben zu begleiten, ist eine solche, die an bestimmte Fähigkert:en gebunden wird, wie sie beispielsweise durch ein akademisches Studium erworben und d u rch eine Prüfung beurkundet werden" (Len­ zen 1997, S. 13)

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kante oder gar gefährliche Dinge tun zu dürfen. Lizenz und Mandat stehen per se in einem Spannungsverhältnis zueinander, da der gesellschaftliche Auftrag im beruflichen Feld von Bildung und Erziehung zumeist sehr weit und ambitioniert definiert ist, die Lizenz aber nur ein geringes Machtpotenzial zu mobilisieren vermag, sodass notorisch eine Diskrepanz zwischen dem gesellschaftlichen An­ spruch und der berufspolitischen Wirklichkeit beklagt wird. Mit der Klärung der Zuständigkeit und des Auftrags. die mit dem dialektischen Verhältnis von Mandat und Lizenz in der Regel verbunden ist, geht insofern eine Fixierung auf jene Seg­ mente und Handlungstableaus im gesamten pädagogisch organisierten System des lebenslangen Lernens einher, die in intentionaler und organisierter Weise mit eigens dafür abgestelltem pädagogischem Personal operieren. 5.2.3 Pädagogische Technologien und Kernaktivitäten

Die grundlagentheoretische Definition des Konzepts der sozialen Welt von An­ seIm Strauss (vgl. Strauss 1990) sieht einen weiten Bedeutungshof des Begriffs .,Technologien" (vgl. Strauss 1990. S. 236) vor. Ihm geht es dabei um die Kenn­ zeichnung milieu-spezifischer Handlungsstile und den mehr oder weniger zielge­ richteten Einsatz von Mitteln, um bestimmte Zwecke zu erreichen. Wir applizie­ ren die Kategorie in der Weise, dass wir uns auf die Form der pädagogischen Kommunikation. also den Vermittlungsmodus (Kade

&

Seitter 2003a) konzent­

rieren und die Aufmerksamkeit auf Zwecke richten, die in der Regel in einen pä­ dagogischen Sinnzusammenhang des Lernens, der Entwicklung, Hilfe, Förderung, Bildung und/oder Erziehung eingebettet sind. Pädagogische Technologien sind makrodidaktische Mittel, um mikrodidaktische Zwecke zu bearbeiten und zu rea­ lisieren; sie fungieren damit als Bedingungsbedingungen. Das Konzept der päda­ gogischen Technologien hat, wie das Konzept der sozialen Welt generell, einen stark egalisierenden Effekt, weil damit nicht nur die aus unserer Sicht künstlichen Grenzen zwischen Methodik und Didaktik aufgebrochen werden, sondern auch die wenig instruktive Trennung zwischen sozialen und maschinengestützten Technologien reduziert wird. Eine belastbare Dimensionalisierung pädagogischer Technologien bietet die Unterscheidung in Verfahren und Programme (Füh­ rungskräfteentwicklungsprogramme, Organisationsentwicklung), Arbeits- und Veranstaltungs formen (Übung. Seminar. Vorlesung. Supervision). Methoden (Mo­ deration. Blitzlicht) und Medien (Seminarunterlagen. Feedback-Bögen) (vgl. Kip­ per 2014) an. Ein Blick in den Klassenraum einer modernen Gesamtschule vermittelt ein an­ schauliches Bild von stofflich-materiell-räumlichen Dimensionen pädagogischer Technologien: Es gibt eine Lese- und eine Spielecke, eine Ruhezone und den ei­ gentlichen Unterrichtsbereich mit einem bestimmten Mobiliar. Lehrende und

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Schülerschaft können auf verschiedene Techniken der Visualisierung zurückgrei­ fen wie z. B. Tafel. Overheadprojektor. Flip-Chart. Genaugenommen kann den zentralen Orten des pädagogischen HandeIns (Klassenzimmer, Atelier, Labor, Turnhalle. Außenanlagen) fast immer auch eine spezifische pädagogische Tech­ nologie zugeordnet werden. Doch pädagogische Technologien beziehen sich kei­ neswegs nur auf das, was man sehen und anfassen kann. Auch das handlungs lei­ tende Wissen der Lehrerin gehört dazu, welches sie bei der Entscheidung bezüg­ lich einer geeigneten Sozialform sowie bei der Anwendung unterschiedlicher Lernmethoden nutzt. Unter der Subkategorie Pädagogische Kernaktivitäten verorten wir Unterrichten, Begleiten, Beraten, Organisieren und Sanktionieren. Ganz allgemein betrachtet stellt der Unterricht eine bestimmte Form der zielgerichteten und ritualisierten Kommunikation unter der Bedingung von körperlicher Anwesenheit dar. Dieses betont künstliche Interaktionsformat erfüllt den primären Zweck, Wissensdiffe­ renzen auszugleichen oder zu überbrücken und einer bestimmten Zahl von Un­ terrichtsteilnehmern in möglichst kurzer Zeit möglichst viele Kenntnisse beizu­ bringen. Das Setting ist durch den phasen-spezifischen Gebrauch bestimmter Sprechhandlungen sowie die Nutzung bestimmter Äußerungsformate, wie etwa das Initiations-Response-Feedback-Muster gekennzeichnet (vgl. Lüders 2012. S. 342). Die Kernaktivität des Unterrichtens als Archetyp von pädagogischer Kom­ munikation wird selbst von Pädagoginnen zwar nahezu exklusiv der Schule zuge­ schrieben, darf aus der Sicht der komparativen pädagogischen Berufsgruppenfor­ schung aber keineswegs auf diese Einrichtung begrenzt werden. Es kommt in modifizierter Form auch in vielen anderen Segmenten vor (beispielsweise im Kursgeschehen der Erwachsenenbildung). Die Kernaktivität Begleiten - damit ist z. T. ein punktuelles Mitgehen unter den Bedingungen von Anwesenheit, aber auch virtuelle Präsenz gemeint - zielt auf eher nondirektive Formen der pädagogischen Berufsarbeit im Kontext biografi­ scher Übergänge und Statuspassagen ab. Die minimale Form der Begleitung brin­ gen Pädagogen in der Weise sprachlich auf den Punkt, wenn sie davon sprechen, einem Schüler, einem Studenten, einem Teilnehmer Zeit zu schenken oder schlicht da zu sein. Es wird aber ebenso in weitreichenden und aufwendigen Akutinter­ ventionen manifest, dann etwa, wenn ein nahestehendes Familienmitglied eines pädagogischen Anderen autoaggressiv gehandelt hat und sofortige Hilfe erforder­ lich ist. Die pädagogische Kernaktivität des Begleitens ist als eine Konsequenz davon zu betrachten, dass pädagogische Arbeitsbündnisse eine Interaktion unter Anwesenden darstellen, in der Zeit ablaufen und im Zuge der Interaktionsge­ schichte zwischen Pädagogin und Adressatin bereits auf der Beziehungsebene

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bestimmte Formen der (indirekten) Einflussnahme und des Lernens angelegt sind. Im Mikrobereich spiegelt sich eine Qualität wider, die auch auf der System­ ebene präsent ist. Das Beraten (Schwangerschaftskonfliktberatung, Lernberatung, Bildungsbera­ tung usw.) kann über die Grenzen der einzelnen Bildungsbereiche hinweg als Prototyp einer vorwiegend individuell ausgerichteten Fallarbeit gelten. Unter Standardbedingungen existieren beim Beraten nur zwei Beteiligungsmöglichkei­ ten, nämlich die des Ratsuchenden und die des Ratgebers. Pädagogische Beratung ist eine zielgerichtete Aktivität unter der Bedingung von Freiwilligkeit, die unter der Beteiligung einer Expertin dazu dient, sich von einem begrenzten Problem zu emanzipieren, dieses zu lösen oder eine temporäre Krise zu überwinden (vgl. Nit­ tel 2009, S. 10 f.). Im Zuge einer Beratung wird eine Veränderung des kognitiven und/oder emotionalen Verhältnisses eines Subjekts zur Welt intendiert, wobei die Problemdiagnose und die gedankenexperimentelle Durcharbeitung des Prob­ lems von Ratsuchenden und der Ratgeberin gemeinsam geleistet werden. Das Organisieren rangiert im Relevanzsystem vieler pädagogischer Berufsgrup­ pen möglicherweise deshalb an einer eher untergeordneten Stelle, weil hier nur die Bedingungen für die Möglichkeit einer überexklusiv konnotierten Arbeit mit und am Klientel gelegt werden. Trotz des negativen Beigeschmacks taucht das Organisieren in allen Segmenten als zentrale Kernaktivität auf, sei es als Akten­ führung, als Besuch von Konferenzen, Verschriftlichung von Qualitätsberichten und Akquirierung von Finanzmitteln. Diese Kernaktivität bezieht sich vorder­ gründig zunächst auf alle Aktivitäten, die das Verwaltungshandeln (die Bürokra­ tie) tangieren. Im lexikalischen Verständnis versteht man unter dem Organisieren ein Bewerkstelligen, ein planmäßiges Ordnen. Die Beobachtung des beruflichen Routinehandelns legt es ausgehend von der lexikalischen Definition nahe, neben den Subaktivitäten des Verwaltens, Managens und der Personalführung auch das im Zuge der Adressatenarbeit erforderliche Arrangieren (von Räumlichkeiten, Gerätschaften) sowie das Selbstmanagement (wie das Führen des Terminkalen­ ders und das Ordnen von Dateien) als Varianten des Organisierens gelten zu las­ sen. Das Sanktionieren, also das Missbilligen oder das Billigen des Leistungsverhal­ tens der pädagogischen Adressaten durch die Leistungsrollenträger (Lehrer, Do­ zent usw.) und die Speicherung dieses Tuns in unterschiedlichen Gedächtnissys­ temen bildet die Grundlage für biografisch folgenreiche Entscheidungen der Or­ ganisation im pädagogisch organisierten System des lebenslangen Lernens. Das Sanktionieren wird, insbesondere was die negative Form des Evaluierens, Kon­ trollierens und Bestrafens angeht, in der pädagogischen Literatur gerne entweder

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en passant behandelt oder gar tabuisiert. Es erfolgt über die Mitteilung besser o­ der schlechter, wobei sich der Ernstcharakter dieser Mitteilungen erst dann er­ weist, wenn die situativen Leistungsbeurteilungen in die Zeugnisse einfließen und das Begabungsselbstbild nachhaltig prägen. 5.2.4 Der pädagogisch Andere

Als viertes Element im pädagogisch organisierten System des lebenslangen Ler­ nens bestimmen wir die Adressaten bzw. das Klientel, und zwar nicht als ontolo­ gische oder gar ganzheitliche Größe, sondern von vorneherein als eine flüchtige, veränderungssensible soziale Einheit, kurz: als Subjekte, die räumlich, zeitlich und sozial in bestimmte institutionelle Strukturen eingebunden sind. Damit ist der pädagogisch Andere'5 (Schüler. Student. Teilnehmer. Hilfsbedürftige. Nutze­ rinnen und Nutzer, Kinder und Jugendliche) analog zur Sichtweise der Biografie­ forschung immer in ganz bestimmte institutionalisierte Ablauf- und Erwartungs­ muster eingebunden: in die Karriere eines Grundschülers, eines Schülers der Se­ kundarstufe oder die eines Studenten, in die Laufbahn eines Nutzers sozialpäda­ gogischer Angebote oder eines Adressaten einer Bildungsmaßnahme für ältere Menschen. Seine soziale Identität als pädagogisch Anderer wird unter Maßgabe erwarteter Transitionen im Kontext einer Karriere konstruiert. "Zu den distinguierenden Merkmalen einer Karriere gehört auch das Zusammenwirken von Selbstselektion und Fremdselektion beim Erreichen einer jeden Position, deren Ge­ samtheit die Karriere ausbildet" (Luhmann 2000, S . 103).

Entscheidungsrelevant ist, dass der jeweils erreichte Leistungsstand konditionel­ le Relevanzen mit Blick auf die Zukunft hat, dass der Betroffene mit einem be­ stimmten Stand an Wissen und Können in die Einrichtung eintritt und mit einem Zuwachs an lebenspraktischer Autonomie, Kompetenzen, Wissen oder mit einem geringeren Hilfsbedarf diese Einrichtung wieder verlässt. Der pädagogisch Ande­ re kann dann entweder im Besitz eines offiziellen Zertifikats, eines formlosen Leistungsnachweises oder eines funktionalen Äquivalents (Eintrag in ein Doku­ ment zur Kompetenzfeststellung) sein. Institutionelle Ablauf- und Erwartungs­ muster organisieren mit ihren Interpunktionen und Routinen die Lebenszeit der

15 Pädagogisch Andere sind keine signifikanten Anderen. Signifikante Andere sind aus der Sicht der Wissenssozi­

ologie (Berger & Luckmann) zentrale Personen, die Ego signalisieren, also wie man, was man und wer man ist, und zmr als Person. Die Leistungsrolle im System hat der pädagogisch Tätige (Lehrer, Sozialarbeiter, Jugend­ bildner, Erzieher, Professor, Weite rbildner usw.) inne. Unter der Kategorie Pädagogische Andere subsumieren wir alle soziale Einheiten, die einen Klie ntenstatus haben, also Zielgruppen, Klienten, Adressaten, Schüler, Studenten, Besucher, Teilnehmer, Nutzer, Kinder, Jugendliche. Das wirkt recht redundant zur Uberschnft und i m Hau pttext wird Ja auch noch einmal darauf eingegangen, was zu den pädagogisch Anderen zählt. Wie i n al­ len Arbeitsbündnissen herrscht auch zum pädagogischen Anderen eine widersprüchliche Einheit aus diffuser und spezifischer Beziehu ngsformation vor

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Betroffenen. Sie standardisieren den Lebensablauf der Gesellschaftsmitglieder und besitzen spezifische Sanktionsmöglichkeiten negativer und positiver Art. An dieser Stelle muss aus Platzgründen auf andere Arbeiten zum Thema instituti­ onalisierte Ablauf- und Erwartungsmuster verwiesen werden: "Während die zentralen Phasen und Einschnitte des Lebens- und Familienzyklus als ge­ samtgesellschaftliche und kulturspezifische Institutionalisierungsmuster des Lebensab­ laufs betrachtet werden müssen, handelt es sich bei den Ausbildungs-, Weiterbildungs­ und Berufskarrieren, bei den (ehemaligen) staatsbürgerlich definierten Dienstverpflich­ tungen (Wehrdienst, Zivildienst), Vorruhestandsregelungen sowie anderen durch wohl­ fahrtsstaatliche und/oder privatv.rirtschaftliche Großorganisationen geprägte Phasen und Sequenzen (Führungskräfteentv.ricklung) um zeitliche Interpunktionen und Zäsuren, die durch bestimmte gesellschaftliche Funktionssysteme definiert, durchgesetzt, kontrolliert und verändert werden (Mayer 1990). Nach wie vor ist etv.ra der Lebens- und Familienzyk­ lus als eines der zentralen gesamtgesellschaftlichen Institutionalisierungsmuster des Le­ bensablaufs stark durch religiöse Traditionen und die Kulturgeschichte des Okzidents überformt (Kohli 1985). So werden wichtige Stationen im Prozess des Älterwerdens durch kirchliche Amtshandlungen begleitet, wie etwa Taufe, Konfirmation, Erstkommunion, Ehe­ schließung und das Begräbnis. Insgesamt spielen bei der Institutionalisierung des Le­ bensablaufs die Entwicklung des modernen Wohlfahrtsstaates und der damit verbundene Ausbau von Sicherungssystemen eine große Rolle. Durch institutionalisierte Ablauf- und Erwartungsmuster des Lebensablaufs gewinnen demnach sowohl bestimmte Teilsysteme als auch die ,kulturelle Tradition' unserer Gesellschaft in ihrer Totalität Einfluss über das Lebensschicksal der Biografieträger. Zwischen den allgemein gültigen, in der Regel mora­ lisch konnotierten Idealvorstellungen im Hinblick auf den Vollzug des Lebens- und Famili­ enzyklus sowie der Ausbildungs- und Berufskarrieren auf der einen und ihrem faktischen Vollzug auf der anderen Seite existieren beträchtliche Diskrepanzen. Bis zu einem be­ stimmten Maße werden diese Abweichungen auch toleriert" (Nittel & Seltrecht 2013, S. 145).

Das Besondere an dieser Sichtweise ist, dass nun zwar die Adressaten bzw. das Publikum pädagogischer Einflussnahmen in den Blick gerät, dies aber nicht iso­ liert geschieht. sondern über die Verknüpfung der institutionellen Ablauf- und Erwartungsmuster eine Integration aller anderen bereits genannten Elemente des Systems möglich wird. Das liegt nicht zuletzt an der eigentümlichen Zwi­ schenstellung dieser Kategorie im Grenzbereich von Biografie und Organisation. Das eigentliche Subjekt von institutionalisierten Ablauf- und Erwartungsmustern im pädagogisch organisierten System des lebenslangen Lernens können entwe­ der die eben erwähnten sozialen Identitäten (Schüler, Betriebsangehörige ) bzw. Kinder, Jugendliche und andere nicht vollständig sozialisierte Erwachsene (Men­ schen mit Behinderung) sein. In den Blickpunkt pädagogischer Berufsarbeit kön­ nen - in Analogie zu .,Schule des ungeborenen Lebens" bei Comenius (2000) aber auch "menschliche Wesen" treten, die noch gar nicht geboren sind (van den Bergh 2012). Andererseits können - diese Beachtung macht die Geragogik - ver­ storbene Angehörige im Familiensystem als relevante Interaktionsgegenüber auch lange nach ihrem biologischen Ableben als positive oder negative Vorbilder

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eines langwierigen interaktionsgeschichtlichen Modelllernens fungieren. Die Grenzfälle ergeben sich aus der Berücksichtigung der pränatalen Pädagogik (Schwangerschaftskurse, Schwangerschaftskonfliktberatung,

Familienbildung)

einerseits und durch die soziale Arbeit mit Menschen in der Lebensendphase an­ dererseits. Stark formalisierte, ja teilweise auch juristisch geregelte institutionali­ sierte Ablauf- und Erwartungsmuster wie Schul- und Berufsausbildung sowie aufwendige pädagogische Resozialisierungsprogramme für Strafgefangene ste­ hen eher schwach formalisierten Ablaufmustern gegenüber. Zur eher schwach institutionalisierten Variante rechnen wir Weiterbildungsangebote mit kurzer Laufzeit (Wochenendkurse) oder die Nutzung von Angeboten innerhalb der Frei­ zeitpädagogik (Animation, Outdoortraining) zu. Jedem der institutionalisierten Ablauf- und Erwartungsmuster stehen gewisse Normalformerwartungen gegen­ über ("Wann sollte man mit dem Studium beginnen, in welchem Lebensalter soll­ te man es abschließen?"), die in vielen Fällen keineswegs dem faktischen Nut­ zungsverhalten entsprechen. Ganz grundsätzlich wird die Autonomie des Subjekts durch das Wesen der insti­ tutionalisierten Ablauf- und Erwartungsmuster als solches geschützt, denn von der Programmatik beansprucht das pädagogisch organisierte System des lebens­ langen Lernens keine Zuständigkeit und keine Gestaltungsoption gegenüber an­ deren Prozessstrukturen des Lebenslaufs. Weder kann und darf sich der offizielle Zweck des pädagogisch organisierten Systems des lebenslangen Lernens auf das bloße Vermeiden von Verlaufs kurven des Erleidens reduzieren, noch kann das System mit dem Anspruch antreten, biografische Handlungsschemata zu erzeu­ gen. Die Auslösung von Wandlungsprozessen der Selbstidentität wird zwar als wünschenswert betrachtet, widersetzt sich aber ebenfalls einer professionellen Planung und der organisationalen Steuerung. 6

Die Grenzen des pädagogisch organisierten Systems des lebenslangen Lernens

Aus der Sicht der neuen, vom radikalen Konstruktivismus geprägten Systemtheo­ rie mag es mit Blick auf den hier präsentierten Vorschlag trotz alledem Probleme der Zuordnung geben. Die Systemreferenz sei - so der naheliegende Einwand bei einer kommunikationstheoretischen Theoriearchitektur viel eindeutiger zu bestimmen als bei einer handlungstheoretischen (vgl. Luhmann 1984). Dieser potenzielle Einwand lässt es als notwendig erscheinen, noch einmal auf die Gren­ zen des Systems einzugehen und diese so klar zu markieren. Ganz pauschal können alle formalen und nonformalen Lernkontexte dem pädago-

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gisch organisierten System des lebenslangen Lernens zugeschlagen werden, wohin­ gegen das informelle Lernen zur Umwelt gehört. Damit sind die Systemgrenzen aber bei Weitem nicht befriedigend abgesteckt. Wenn in diesem Abschnitt die Grenzen des Systems sowohl von der Warte anderer Systeme als auch vom Standpunkt der Subjekte her bestimmt werden soll, zeichnet sich in großer Deut­ lichkeit eine Besonderheit des pädagogisch organisierten Systems des lebenslan­ gen Lernens ab: Dieses Merkmal besteht in den offenen Flanken gegenüber ande­ ren Funktionssystemen und gegenüber dem Persönlichkeitssystem. Einige Beispiele mögen diese Durchlässigkeit verdeutlichen. Das pädagogisch or­ ganisierte System des lebenslangen Lernens verfügt in Form von Weiterbildungs­ abteilungen großer Firmen oder in Gestalt institutionalisierter Ablauf- und Er­ wartungsmuster bei Entwicklungsprogrammen von Führungskräften (Wroge­ mann 2010; Kipper 2014) gleichsam auch über Dependancen im Wirtschaftssys­ tem. Auch sind die Grenzen zum Religionssystem fließend, und zwar aufgrund der einschlägigen Träger der konfessionell gebundenen jüdischen, katholischen oder evangelischen Erwachsenenbildung, welche Akademien, Tagungsstätten und/oder Bildungswerke sowie andere Einrichtungen unterhalten. Das pädago­ gisch organisierte System des lebenslangen Lernens scheint aber auch im militä­ rischen Sicherheitssystem verankert, wie man anhand von Führungsakademien, Schulungszentren für Unteroffiziere, vom Militär finanzierten Universitäten und speziellen Organisationseinheiten mit einem ausgewiesenen Bildungszweck (Ausbildungskompanien) zeigen könnte. Gesundheitsschulen. medizinische Auf­ klärungskampagnen, Beratungsangebote für Personen mit großen gesundheitli­ chen Risiken sowie die empirisch nachweisbaren edukativen Anteile im Handeln

der Ärzteschaft (Detka 2011; NitteI. Seifert & Schüssler 2016; Schütze 2013) ver­

weisen auf den Umstand, dass auch im Gesundheitssystem diverse Überschnei­ dungszonen existieren. Das pädagogisch organisierte System des lebenslangen Lernens weist zudem starke Bezüge zum politischen System auf, und zwar unter anderem in Form von einschlägig bekannten Stiftungen der großen Parteien, die an sich schon einen Bildungsauftrag haben und die dieses Mandat in Akademien (Tutzing) umsetzen. Eine strukturelle Koppelung zwischen dem pädagogisch or­ ganisierten System des lebenslangen Lernens und dem Wissenschaftssystem kommt allein schon dadurch zustande, dass die Universitäten ihren Erziehungs­ anspruch gegenüber den Studierenden offen oder verdeckt kommunizieren, etwa durch Appelle, Motivationsprogramme zur Verhinderung von Studienabbrüchen sowie Unterstützungskurse zwecks Kompensation bestimmter Defizite. Operativ tätig ist das pädagogisch organisierte System des lebenslangen Lernens im Wis­ senschaftssystem durch die eigenständig agierenden Abteilungen für wissen-

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schaftliche Weiterbildung an den Fachhochschulen und Universitäten, die sowohl für das eigene Personal als auch für externe Zielgruppen zur Popularisierung von wissenschaftlichem Wissen beitragen. Das pädagogisch organisierte System des lebenslangen Lernens kann seine Gren­ zen in all den eben angedeuteten Beispielen nur dann behaupten, wenn von den Sachwaltern der angesprochenen Funktionssysteme die Legitimität der pädago­ gischen Zwecke anerkannt wird. Relative Autonomie kann demnach nicht allein aus dem Zugeständnis gewisser Entscheidungs- und Handlungsspielräume bezo­ gen werden, sondern sie tangiert auch die Akzeptanz des Eigenrechts einer un­ terschiedlichen Rationalität. Als weitere Kriterien für die Bestimmung der Grenzen bieten sich die vier bereits genannten Systemelemente an: Wir befinden uns dann und nur dann im inneren Bereich des pädagogisch organisierten Systems des lebenslangen Lernens, sofern folgende Bedingungen erfüllt sind: Der Zuständigkeitsbereich wird erstens durch eine explizite Bildungs- und Erziehungsinstitution markiert (dies spiegelt sich in der Regel in der institutionellen Selbstbeschreibung wider); diese verfügt über ein explizites Mandat und kann organisatorisch relativ autonom agieren. Als wei­ terer Bestimmungsfaktor kommt eine Personaldecke hinzu, die mehrheitlich aus Angehörigen der sozialen Welt pädagogisch Tätiger entstammt, was sich auch in der Rekrutierung und Zusammensetzung des Führungspersonals niederschlagen müsste. Das dritte Kriterium ist der Nachweis einer Praxis, die in allererster Linie mit der Semantik pädagogischer Kernaktivitäten und Technologien beschrieben werden kann. Viertens müssen die Ziel- und Adressatengruppen auch tatsächlich von den personenbezogenen Dienstleistungen als pädagogische Andere adres­ siert sein und klar definierte institutionalisierte Ablauf- und Erwartungsmuster der pädagogischen Beeinflussung durchlaufen. Die Klärung der Frage, ob eine vollständig Anwendung der Systemelemente mög­ lich oder unmöglich ist, entscheidet demnach darüber, ob bei der Kontextualisie­ rung einer spezifischen Handlung, der Analyse einer Situation oder der Einord­ nung institutioneller Selbstbeschreibungen eine Zuordnung zum pädagogisch or­ ganisierten System des lebenslangen Lernens erfolgen kann. Bei fast allen der oben genannten Beispielen aus der Wirtschaft, Politik, Wissenschaft dürften un­ ter Maßgabe einer sorgfältigen Überprüfung eher hybride Institutionalisierungs­ formen herauskommen, die eine klare Zuordnung zum System nicht zulassen. Die Grenzen des Systems lassen sich - dies gilt es im weiteren Darstellungsver­ lauf zu begründen - aber nicht nur organisationsbezogen definieren, sondern auch vom Standpunkt des Subjekts. Gesellschaftliche Ordnung und individuelle

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Erwartungssicherheit sind an die Herstellung von bestimmten Regelmäßigkeiten und immer wiederkehrende Interpunktionen im Lebensablauf der Individuen gebunden, die im Zuge der säkularen Entwicklung moderner Gesellschaften we­ niger von kirchlichen als vielmehr von pädagogischen Institutionen gesetzt wer­ den. Aus dieser Sachlogik leitet sich eine weitere Option ab, die Grenzen des pä­ dagogisch organisierten Systems aus subjekttheoretischer Sicht zu bestimmen. Durch die präzise Lokalisierung des Sitzes von pädagogisch gerahmten bzw. überformten institutionellen Ablauf- und Erwartungsmustern in der biografi­ schen Gesamtformung kann die Sphäre der Sozialisation von der Prägung durch Erziehungs- und Bildungsinstanzen abgrenzt werden. Unter der biografischen Gesamtformung16 verstehen wir "die dominante Ordnungsgestalt, die der Lebensablauf im Verstreichen von Lebenszeit für den Biografieträger, seine signi­ fikanten Interaktionspartner, aber auch für dritte Beobachter allmählich annimmt" (Schütze 1981, S. 104).

Jeder Lebensverlaufweist aus der Sicht des Beobachters und damit im Aggregat­ zustand der biografischen Gesamtformung latente und manifeste Spuren der pä­ dagogischen Beeinflussung auf. Eine Lebensgeschichte zu erzählen ist nahezu unmöglich, wenn nicht auch gleichzeitig Mitteilungen über das Erziehungs- und Bildungswesen gemacht und Einblicke in die diesbezügliche Prägekraft vermittelt werden. Das betrifft im Kern auch andere Formen der autobiografischen Selbst­ und Fremdthematisierungen. So gehört es zu den fraglos akzeptierten Selbstver­ ständlichkeiten unserer Kultur, dass der Kindergarten- und Schulbesuch, alle be­ ruflichen und universitären Ausbildungen, ja selbst die Zusatzqualifikationen in jenem schriftlichen Lebenslauf enthalten sind, der Bewerbungen oder vielen an­ deren offiziellen Dokumenten beigelegt werden muss, um die Verlässlichkeit ei­ ner Person oder deren Unverwechselbarkeit zu dokumentieren. Diese Prämisse geht mit der Erwartungserwartung konform, dass die Markierung des So-und­ nicht-anders-Seins einer Person im Modus der Selbstbeschreibung nicht ohne die Berücksichtigung der in den Erziehungs- und Bildungseinrichtungen aufgeschich­ teten Erfahrungen möglich ist. Überkomplexität bei der gesellschaftlichen Orga­ nisation der Lebenszeit und Kontingenz in der biografischen Lebensführung wer­ den in modernen Gesellschaften maßgeblich mittels über die gesamte Lebens­ spanne verteilter pädagogischer Interventionen reduziert. In den biografischen Gesamtformungen einer großen Anzahl von Gesellschaftsmitgliedern (vgl. Schüt16 U m es noch ein wenig genauer auszudrücken: "Die biografische Gesa mtformung ist konstituiert vom Zusam­ menspiel der konkreten Ordnu ngsstrukturen, a n denen sich der Lebensablauf bisher orientiert und abgearbei­ tet hat und an denen er sich gegenwärtig (konform zur Vergangenheit oder im Gegensatz zu ihr) ausrichtet: biografische Entwü rfe und Handlu ngsschemata, lebensgeschichtlich zentrale Verla ufskurven, Entwicklungs­ und Niedergangsprozesse der Persönlichkeit sowie integrierte und systematische Kombinationen dieser Ord­ n u ngsstrukturen" (Schütze 1981, S, 104)

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ze 1981; Nittel 1992), die als Informanten einschlägiger qualitativer Untersu­ chungen autobiographisch-narrative Interviews gegeben haben, kann die Rolle und Funktion der Karrieremuster, der Stellenwert der pädagogisch überformten Prozessstrukturen in der Identitätsformation präzise bestimmt werden. So kann mit den Instrumenten der qualitativen Bildungsforschung geklärt werden, welche Rolle die schulische, berufliche oder universitäre Ausbildung für das weitere Le­ bensschicksal spielt, ob Weiterbildungskarrieren vorhergehende Entscheidungen reversibel gemacht haben, welche Bildungserfahrungen zu biografischen Wand­ lungsprozessen beigetragen haben und welche pädagogischen Praktiker möglich­ erweise als signifikante Andere oder biografische Berater in Erscheinung getre­ ten sind usw. Ergebnissichernd lässt sich sagen, dass die Grenzen des pädagogisch organisier­ ten Systems des lebenslangen Lernens letztlich in vierfacher Weise zu bestimmen sind: 1. durch die ausschließliche Fokussierung auf das nonformale und formale Lernen und die Ausklammerung des informellen Lernens 2. durch die Anerkennung des Eigenrechts eines pädagogischen Zwecks in den Über­ schneidungsbereichen nichtpädagogischer Funktionssysteme 3. durch die konsequente Applikation der Systemelemente - Organisation, soziale Welt pädagogisch Tätiger, Kernaktivitäten und Technologien, pädagogische Ande­ re - auf institutionelle Schlüsselsituationen 4. durch die Lokalisierung genuin pädagogisch ausgerichteter Prozessstrukturen in der biografischen Gesamtformung der Gesellschaftsmitglieder

Um den spezifischen Charakter des hier umrissenen pädagogisch organisierten Systems des lebenslangen Lernens pointiert auszudrücken, böte sich folgende Formulierung an: Angehörige der sozialen Welt der pädagogisch Tätigen verrich­ ten an pädagogisch Andere (Kinder, jugendliche, Schülerinnen und Schüler, Studie­ rende, Auszubildende, Klienten, Teilnehmerinnen und Teilnehmer, Hilfesuchende, Nutzerinnen und Nutzer usw.) adressierte Dienstleistungen der Bildung und der Er­ ziehung in Einrichtungen, die sich selbst als pädagogisch definieren und die über fachgebundene Technologien und pädagogische Kernaktivitäten verfügen. Die Leis­ tung des Systems erstreckt sich auf die Herstellung und Bewahrung der Lernfähig­ keit und Lernbereitschaft über die gesamte Lebensspanne. Dabei findet gesamtge­ sellschaftlich eine Synchronisierung in der beschleunigten Entwicklung der gesell­ schaftlichen Funktionssysteme und sozialer Milieus einerseits und der biografischen Erfahrungs- und Wissensaufschichtung andererseits statt, wobei auf der individuel­ len Ebene der Aufbau, die Veränderung, Restitution und Aufrechterhaltung von Identitätsformationen unter Maßgabe absolut moralischer Maximen und Intentio­ nen realisiert wird.

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Der operative Vollzug des Systems findet im Modus der Arbeitsteilung statt. Und diese bezieht sich sowohl auf die Interaktion zwischen den eben erwähnten Ele­ menten - der Interaktion zwischen situativen Elementen (Kernaktivitäten und Technologien). strukturellen Elementen (Organisation). den zeitlichen Elementen (institutionelle Ablaufmuster) und dem personalen Element (der pädagogisch Andere) - als auch auf die Interaktion der großen Subsysteme (Elementarpäda­ gogik. Schule. Universität) in der Spanne zwischen Geburt und Tod.

7

Die Selektionsfunktion des pädagogisch orga nisierten Systems des le­ benslangen Lernens und die Priorisierung von Inklusion

Im bisherigen Darstellungsverlauf wurde insgeheim vorausgesetzt, dass die so­ zialen Welten der pädagogisch Tätigen und die sie tragenden Organisationen un­ ter Maßgabe einer funktionalen17, also nicht intendierten Arbeitsteilung teilweise synchron, teilweise asynchron an der Konstruktion des Verhältnisses des Sub­ jekts zur Welt und zu sich selbst beteiligt sind. Die hier realisierte Arbeitsteilung vollzieht sich im Stillen und damit invisibel. Der Begriff Arbeitsteilung setzt also keineswegs voraus, dass es sich um relativ transparente Arbeitsvorgänge wie bei der Produktion von Stecknadeln oder Automobilen handelt. Bewusst geplante. durch Organisationsabläufe abgefederte und kontrollierte Varianten der Arbeits­ teilung geschehen unter Maßgabe der Berücksichtigung aller im System inkludi­ erten Personen eher in Ausnahmefällen,18 wie etwa bei Übergängen, wenn Erzie­ herinnen und Lehrerinnen bei der Einschulung, wenn Ausbilder und Berufsschul­ lehrer aufeinandertreffen und sich über den Bildungsverlauf des Betroffenen aus­ tauschen.19 Übergänge absorbieren deshalb so viel Aufmerksamkeit, weil hier die Arbeitsteilung unmittelbar evident wird. Das Thema der Arbeitsteilung kann nicht unabhängig vom in der Pädagogik sehr defensiv behandelten Thema der Selektion2o behandelt werden. Selektion ist

17 Funktionale Arbert:steilung bedeutet, dass die Kooperationsaktivitäten der pädagogischen Praktike rinnen und

18

19

20

Praktiker invisibel sind und die Verschränkung, Kumulation und Synergieeffekte der Lernerfahrungen i n unter­ schiedlichen pädagogischen Kontexten nur retrospektiv aus der ideellen Perspektive der Ide ntitätsformation am Ende des Verstreichens der Lebenszeit erfasst werden können Eind rucksvoll hat Hendrik Trescher in seinem Habi litationsvortrag am 15.12.2015 an der U n i Fran kfu rt die gleichzeitige Inklusion von Menschen m rt: Behinderung in diversen Einrichtungen des Wohlfahrtsstaates auf­ gezeigt (vgl. Trescher 2015) In einer neueren Untersuchung wird die eminent wichtige U nterscheidung zwischen Kooperationen im päda­ gogisch organisierten System des lebenslangen Lernens einerseits und Kooperationen m rt: Organisationen aus anderen Funktionssystemen andererseits i n einer angemessenen Deutlichkeit betont (Schleifenbaum & Walther 2016) Die I ndifferenz und die unentschiedene Haltung gegenüber der nicht hintergeh ba ren Selektionsfunktion ha­ ben dazu geführt, dass andere Funktionssyste me eigene Programme und Ausbildu ngsgänge aufgelegt haben ode r fu nktiona le Aq u iva lente schaffen

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manchmal das Ergebnis von Arbeitsteilung; Arbeitsteilung kann diese aber auch verhindern. Selektion ist - ganz grundsätzlich betrachtet - eine notwendige Be­ gleiterscheinung der funktionalen Arbeitsteilung und die Konsequenz der konti­ nuierlich ablaufenden, sich selbst verstärkenden und kumulativ wirkenden posi­ tiven und negativen Sanktionsprozesse, die sowohl von den Organisationen als auch von der sozialen Welt der pädagogischen Praktiker vollzogen werden. So werden millionenfach tagtäglich Sprechhandlungen ausgeführt, die mit eindeuti­ gem Lob oder vieldeutigem Tadel, der Vergabe von guten und schlechten Noten korrespondieren. Da gibt es die Androhung, dass die Versetzung gefährdet ist, letzte Warnungen angesichts der auffälligen Anhäufung von abweichenden Ver­ haltensweisen und schließlich die Zeugnisvergabe oder funktionale Äquivalente in den diversen Feldern der kulturellen, betrieblichen und allgemeinen Weiter­ bildung. Bei der erziehungswissenschaftlichen Erschließung des Themas Selektion ist der Aspekt von entscheidender Bedeutung, dass sie nämlich immer doppelt auftritt: im pädagogisch organisierten System des lebenslangen Lernens und in der Ge­ sellschaft. Luhmann

&

Schorr sprechen daher zum einen von gesellschaftlicher

bzw. sozialer Selektion und zum anderen von pädagogischer Selektion. "Als pädagogische Selektion soll hier eine Selektion bezeichnet werden, die im Funktions­ system der Erziehung stattfindet, sich nach diesen Kriterien richtet und dessen Positionen bzw. Symbole für Erfolge/Misserfolge zuteilt. Pädagogische Selektion ist unvermeidlich ein grundlegender Vorgang im Erziehungssystem und dies ganz abgesehen von ihren ge­ seIlschaftsweiten Auswirkungen, weil sie die Gruppierungen bildet, in denen erzogen wird, und weil sie den Zugang zu voraussetzungsreicherer Erziehung steuert" (Luhmann & Schorr 1979, S. 252).

Gesellschaftlich wird Selektion darüber hinaus als Leistung für andere Funktions­ systeme realisiert. Positive und negative Sanktionsketten münden im Zuge des institutionellen Ablauf- und Erwartungsmusters der jeweiligen Karrieren in Ab­ schlüsse, Bildungszertifikate und Lizenzen, die eine zentrale Rolle im beruflichen und allgemeinen Berechtigungswesen spielen. Das Berechtigungswesen fungiert als Interpenetrationszone (Richard Münch) zwischen dem pädagogisch organi­ sierten System des lebenslangen Lernens und anderen Funktionssystemen. Diese Abschlüsse, Bildungszertifikate und Lizenzen verschließen manche institutionali­ sierte Ablauf- und Erwartungsmuster innerhalb- und außerhalb der Berufswelt und öffnen andere. In jedem Fall werden sie von anderen Funktionssystemen als wichtige Mitteilungen in die Rekrutierungsmechanismen eingebaut; denn sie er­ möglichen Prognosen und eine Einstufung über die Erfolgswahrscheinlichkeit potenzieller Organisationsmitglieder. Gleichzeitig dienen sie als Entscheidungs­ grundlagen für die Fortsetzung und Dynamisierung beruflicher, politischer und

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DIETER NIDEL

wirtschaftlicher Karrieren. Das pädagogisch organisierte System des lebenslan­ gen Lernens produziert damit als eine wichtige Leistung Bedingungen für die Möglichkeit für anschlussfähige Selektionsprozesse in anderen Funktionssyste­ men. Damit das pädagogisch organisierte System des lebenslangen Lernens für andere Funktionssysteme diese wichtige Leistung realisieren kann, muss es als vorgelagerte Leistung eine binnenspezifische Selektion vollziehen, die von Luh­ mann

&

Schorr als pädagogische Selektion bezeichnet wird. Pädagogische Selek­

tion vollzieht sich in weiten Teilen im Medium der Exklusion/des Ausschlusses oder der Promotion/Förderung im Kernbereich des Systems des lebenslangen Lernens selbst. So finden beispielsweise eine Abstufung von der Realschule in die Hauptschule, Verweise von der Schule oder andere Verlaufskurventransformati­ onen (Nittel 1992. S. 281 ff.) statt. die einen Wechsel von der Einrichtung A in die Einrichtung B zwingend notwendig machen und in der Regel von der betroffenen Person als Statusverlust erlebt werden. Selektion im Sinne von Exklusion findet aber keineswegs nur in der Schule statt. So haben Beratungsstellen, die Personen im Rentenalter für freiwilliges Engagement auswählen und an bestimmte Einrich­ tungen weitervermitteln, eine ganz klare Selektionsfunktion, indem sie etwa Menschen mit einem ausgeprägten Selbstdarstellungsinteresse für ungeeignet einstufen. Mithilfe ritualisierter Cooling-out-Prozesse wird ihnen nahegelegt, ein anderes Betätigungsfeld für ein Ehrenamt zu suchen. Der folgende Gedanke hat eine große Tragweite: Jede Form der pädagogischen und gesellschaftlichen Selektion versetzt das pädagogisch organisierte System des lebenslangen Lernens unter den Zugzwang, an einer anderen Stelle nach ei­ ner alternativen Inklusionsoption zu suchen. Oder anders ausgedrückt: Eine Ex­ klusion im Zuge des Voranschreitens der Bildungsbiografie ist gleichzeitig mit der Inklusion in ein anderes Segment im pädagogisch organisierten System des le­ benslangen Lernens verbunden.21 Inklusion ist ein Modus der Beteiligung und der Berücksichtigung von Personen in Sozialsystemen (vgl. Stichweh 2013). Die Se­ lektionsprozesse im pädagogisch organisierten System des lebenslangen Lernens sind also nicht unweigerlich mit sozialen Exklusionsprozessen verbunden, son­ dern zunächst einmal mit neuen Inklusionsprozessen im System - Prozesse der 21 Es gibt verschiedene Formen der Inklusion und der Exklusion - Je nach dem Typ des sozialen Systems. In ein­ fachen Interaktionssystemen unter Mitwirkung von einem anwesenden Ego und einem Alter Ego ist die nicht daran beteiligte restliche Menschheit einer Exklusion ausgesetzt. Aus der Sicht des Gesellschaftssystems gibt es - i m Gegensatz z u frühen Gesellschaften (M ittelalter, Antike) - keine Exklusion, aus der Sicht der allermeis­ ten Organisationen gehört der allergrößte Teil der Menschheit nicht dazu (nur auf Mitglieder trifft Inklusion

,cl

Exklusion aus d e m pädagogisch organisierten Syste m des lebenslangen Lernens setzt e i n e Krise voraus u n d stellt eher d i e Ausnahme und nicht d i e Regel dar. Exklusion des Individuums aus allen gesellschaftlichen Teil­ systemen ISt dauerhaft nicht möglich

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pädagogischen Selektion (Luhmann

&

151

Schorr) oder in unseren Begriffen ausge­

drückt: Prozesse der Selektion im pädagogisch organisierten System des lebenslan­ gen Lernen tragen nämlich in den seltensten Fällen sofort zur vollständigen Exklu­ sion aus dem pädagogischen System selbst bei. Um beim eben genannten Beispiel aus der Schule zu bleiben: Die Abstufung von der Realschule zur Hauptschule markiert ja nicht den Austritt aus dem Schulsystem und erst recht nicht aus dem pädagogisch organisierten System des lebenslangen Lernens als solchem. Auch bei vordergründig hochdramatisch verlaufenden Negativkarrieren, die in der Re­ gel mit Prozessen des psychischen Erleidens verbunden sind, zeichnet sich ab, dass die Betroffenen sehr wohl im pädagogisch organisierten System des lebens­ langen Lernens verbleiben. Das hypothetische Beispiel der komplexen Ab­ laufstruktur einer Negativkarriere eines Jugendlichen mit dem Hang zu abwei­ chendem Verhalten mag diese Behauptung verdeutlichen: So sind bei einem 16jährigen Schüler. der kleinere Diebstahlsdelikten begangen hat. zunächst wohl­ wollende Interventionen der Schulsozialarbeit oder von Vertrauenslehrern zu erwarten. Sollten gravierende Delikte dazukommen, wird das Jugendamt einge­ schaltet, und es werden schärfere Sanktionen ausgesprochen. Geduldige Integra­ tionsversuche von Sozialpädagogen und Sozialarbeitern oszillieren u. U. mit der Androhung reduzierter Freiheitsrechte. Im Falle einer gewalttätigen Delinquenz des Jugendlichen zeichnet sich im Zuge der Kooperation zwischen Jugendge­ richtshilfe und pädagogischen Einrichtungen eine weitere Eskalationsstufe ab. Es findet die Herausnahme aus der Familie und die Einweisung in eine offene Wohngruppe statt, damit verändert sich die Erziehung des Jugendlichen unter Normalbedingungen zur Aufgabe einer öffentlichen Institution. Die pädagogische Selektion kann dann leicht in eine gesellschaftliche umschlagen, weil im Zuge der hier angedeuteten Programme auch die Beteiligungschancen in anderen Syste­ men (Wirtschaftssystem durch die Kontrolle der finanziellen Ausgaben des Ju­ gendlichen) reduziert werden. Sollten sich die Negativkarriere noch zuspitzen und weitere konstruktive Erziehungsversuche scheitern, kann die Einweisung in ein geschlossenes Heim erfolgen. Die Geduld und die Frustrationstoleranz vieler der beteiligten Pädagogen sind dabei längst aufgebraucht. Die Konstruktion die­ ses sicherlich nur lückenhaft dargelegten Beispiels einer fortlaufenden Exklusion im Falle einer Negativkarriere eines strafunmündigen jugendlichen Delinquenten soll zeigen, dass die Wahrnehmung der für den Betroffenen schmerzhaften Selek­ tionsfunktion das eine ist und selbstverständlich auch der uneingeschränkten Aufmerksamkeit pädagogischer Instanzen bedarf. Dieser hypothetische Fall macht allerdings deutlich, dass eine formale Exklusion aus dem pädagogisch or­ ganisierten System des lebenslangen Lernens ausgesprochen voraussetzungs-

152

DIETER NIDEL

reich und unwahrscheinlich ist und der Vertrauensvorschuss des Systems in die positive Entwicklung der Betroffenen u. U. weitaus größer sein kann als der der einzelnen Berufstätigen und der gewisser Einrichtungen.22 Strukturell setzt das pädagogisch organisierte System des lebenslangen Lernens unter Maßgabe der hier eingenommenen Perspektive im Binnenbereich formal auf die Durchsetzung von Inklusion, auch wenn die Betroffenen die jeweiligen Maßnahmen der Ab- und Rückstufung als schmerzhafte Vorgänge der Stigmati­ sierung und der Ausgrenzung aus der eigentlich gewünschten Einrichtung erle­ ben mögen. Mit diesen Hinweisen auf mögliche Prozesse des individuellen Schei­ terns, ja auch der institutionellen Diskriminierung (Gomolla

&

Radtke 2009) als

verdeckte Variante der formalen Inklusion, sollen keineswegs der Schmerz und das Leid der Betroffenen im Fall einer institutionellen Ab- und Rückstufung in eine weniger angesehene Einrichtung in Abrede gestellt werden. In der Tat wer­ den mit den biografischen Prognosen im Fall einer gravierenden Delinquenz, dem Vollzug mächtiger Stigmatisierungsprozesse und der Kumulation kontraproduk­ tiver Interventionen auch die Voraussetzungen für ein lebenslanges Dasein als Außenseiter geschaffen. Aber dieses Dasein als marginalisierte Person ist kei­ neswegs mit der vollständigen Exklusion aus den zentralen gesellschaftlichen Funktionssystemen gleichzusetzen. Adressaten wohlfahrtsstaatlicher Maßnah­ men sind in der Regel potenzielle Teilnehmer pädagogisch flankierter Integrati­ onsprogramme. Die generelle Neigung zur Inklusion drückt sich auch in bestimm­ ten Handlungsmaximen aus, wie etwa dem Grundsatz: Wir lassen kein Kind zu­ rück. Die auf die Herstellung normaler Identitätsformationen ausgerichtete Stan­ dardoperation des Systems sieht das Herausfallen aus dem pädagogisch organi­ sierten System des lebenslangen Lernens kaum vor. Das System geht - so könnte man ihre Rationalität an dieser Stelle beschreiben - von der kontrafaktischen An­ nahme aus, dass die kontinuierliche Inanspruchnahme von Erziehungs- und Bil­ dungsangeboten eine Art präventive Therapie (Oevermann 1996) darstellt und ein späterer Wiedereintritt möglich ist. Doch was geschieht, wenn eine Abweichung vom soeben angedeuteten Normal­ formmodell tatsächlich eintritt, wenn aufgrund der fortlaufenden Eskalation ei­ ner Krise ein Halten im System unwahrscheinlich oder gar unmöglich wird? In der Tat zeichnen sich idealtypisch betrachtet zwei Weggabelungen ab, zwei Kons­ tellationen, bei denen das pädagogisch organisierte System mit seinen Kapazitä­ ten nicht mehr weiterkommt, überfordert ist und dann schließlich eine systemi22

Das Beispiel wird unter Maßgabe des Wissens gewählt, dass am Negativschicksal vergleichbarer Jugendlicher auch pädagogische Einrichtungen aufgrund institutionalisierter Diskriminierung ihren hohen Anteil haben und die damit verbundenen Stigmatisierungsprozesse auch mit bestimmten Praktiken i n den Institutionen korres­ pondieren

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sche Selektion - und letztlich auch eine Exklusion aus dem pädagogisch organi­ sierten System des lebenslangen Lernens - stattfindet.23 Ein vollständiges Her­ ausfallen aus dem pädagogisch organisierten System des lebenslangen Lernens ist einerseits als Übergang in das Medizinsystem und andererseits im Zuge einer vollständigen Abtretung von Zuständigkeiten an das Rechtssystem möglich und empirisch millionenfach zu beobachten. Die erste Konstellation tritt bei existenzi­ ellen Krisen wie im Falle von sehr schwerwiegenden körperlichen oder geistigen Erkrankungen, dem Verlust der Integrität und Handlungsfähigkeit auf. Im zwei­ ten Fall findet bei gravierenden sozialen Abweichungen eine Einweisung in ge­ schlossene Einrichtungen des Justizwesens statt. Das kann vor dem Hintergrund einer chronischen Erkrankung oder einer exorbitant schweren Straftat entweder in einen Dauerzustand einmünden, das kann aber, so die Logik der diesbezügli­ chen institutionellen Ablauf- und Erwartungsmuster, auch nur ein vorüberge­ hender Zustand, eine Transition sein.24 Für die Persistenz der Inklusionskraft des pädagogisch organisierten Systems spricht der Umstand, dass in den eben skiz­ zierten extremen Krisenkonstellationen sehr häufig pädagogisch flankierte Integ­ rationsprogramme als Mittel der ersten Wahl betrachtet werden, um Langzeitpa­ tienten oder mehrfach verurteilte Straftäter dann sukzessive wieder einen Aus­ tritt aus den totalen Institutionen des Rechts- und Medizinsystems zu ermögli­ chen. Unter dem Eindruck einer schweren, aber dann doch kontrollierbaren chronischen Erkrankung beispielsweise treten Patienten mit Unterstützung der Krankenhaus-Sozialarbeit

oder

mit

der

Hilfe

von

Sozialpädagogin­

nenjSozialpädagogen aus den Wohlfahrtsinstitutionen den Weg vom Kranken­ haus oder der psychiatrischen Einrichtung in die autonome Lebenspraxis wieder an, ohne dabei ganz ihren Patientenstatus abstreifen zu können, und vollziehen im Zuge dieser Integration gesteigerte Prozesse des Um-, Neu- und Verlernens. Andere nehmen im Rahmen von psychischen oder physischen Rehabilitations­ maßnahmen freizeitpädagogische Dienste in Anspruch, besuchen Bildungsveran­ staltungen oder bekommen - wie im Fall von Schlaganfallpatienten - elementare Dispositionen für die Lebensführung vermittelt. Ganz andere Integrationspro­ gramme kommen bei ehemaligen Gefängnisinsassen zum Zuge; diese gelten ins­ besondere dann als resozialisiert, wenn sie Schulabschlüsse nachgeholt, sonstige Bildungszertifikate oder eine Berufsausbildung unter den Bedingungen einer to23 I n der Exklusion aus dem pädagogisch organisierten System des lebenslangen Lernens vollzieht sich sowohl eine strukturelle Koppelung als auch eine Leistung gegenüber dem Gesundheits- und dem Rechtssystem. Das, was für das eine System Zeichen des Scheitems ist, stellt für das andere Bedingung für die Möglichkeit der Rekrutlerungvon Patienten, Insassen und Klienten dar 24 Stichweh (2013) spricht hier auch von inkludierender Exklusion. Stichwehs Diagnose greift bezogen auf das Erziehungssystem zu kurz, weil er nur die Schule im Auge hat und diachrone Prozesse der Inklusion im päda­ gogisch organisierten System des lebenslangen Lernens nicht fassen kann

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talen Institution erworben haben. Im Tatbestand, dass die Übergänge aus juristi­ schen Institutionen der sozialen Kontrolle bzw. der Behandlung von Krankheit pädagogisch gerahmt und begleitet sind, offenbart das pädagogisch organisierte System des lebenslangen Lernens quasi sein wahres Gesicht: Genau besehen ko­ piert es das Gesellschaftssystem, denn trotz der Selektionsfunktion ist Inklusion in das pädagogisch organisierte System des lebenslangen Lernens die Normalität und Exklusion die Ausnahme. Diese Affinität des pädagogisch organisierten Sys­ tem des lebenslangen Lernens gegenüber der Inklusionskraft des Gesellschafts­ systems manifestiert sich nicht zuletzt in der Orientierung an universellen Wer­ ten wie Freiheit und Gleichheit sowie dem hartnäckigen Kampf um mehr Chan­ cengleichheit.

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Politische l m p l ikationen des pädagogisch organisierten Systems des le­ benslangen Lernens

Das sich formierende pädagogisch organisierte System des lebenslangen Lernens ist nicht per se politisch in dem Sinne, dass es Operationen des politischen Sys­ tems gleichsam mitbedient oder gar selbst vollzieht. Erziehung und Bildung sind als solche keine Politik. Politische Relevanz kann das pädagogisch organisierte System des lebenslangen Lernens nur dann beanspruchen, wenn die unweigerli­ che Differenz zwischen dem Funktionssystem der Politik und dem des ange­ stammten Systems respektiert wird und Vermischungen vermieden werden. Die kritische Erziehungswissenschaft (Blankertz, Klafki, Mollenhauer, Giesecke) in der Nachfolge der geisteswissenschaftlichen Pädagogik (Noh!, Flittner, Spran­ ger, Weniger) stand seit jeher offen der für unsere Zwecke recht instruktiven Ar­ gumentationsfigur gegenüber, dass die gesellschaftspolitische Funktion von Er­ ziehung und Bildung per se doppelbödig und widersprüchlich sei. Das breite Spektrum an Erziehungs- und Bildungsinstitutionen und die damit verbundene Pra­ xis inkorporiert in seiner Totalität die widersprüchliche Einheit, einerseits den ge­ sellschaftlichen Status quo zu sichern, andererseits die Bedingungen für die Mög­ lichkeit von gesellschaftlichem Wandel zu schaffen. Wie dieses Pendel ausschlägt, hängt sehr stark von den Kräfte- und Machtverhältnissen sowie von der allge­ meinen Konstitution der jeweiligen Gesellschaft ab, also ob es sich um eine offen demokratische oder um ein hermetisch-statisches mit autoritären Einschlägen entwickeltes Gemeinwesen handelt. Das pädagogisch organisierte System des lebenslangen Lernens in Gesellschaften des Westens folgt insofern diesem basa­ len Funktionsmechanismus, als dass es in seiner demokratischen Ausprägung durch die Bindung an humanitäre Werte und universalistische Maximen dem Ab­ bau von sozialer Ungleichheit verpflichtet ist. Andererseits neigt es aber auch da-

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zu, die Klassen-, Schicht- und Milieuunterschiede gegen die eigenen Absichten und Verlautbarungen zu reproduzieren. In seiner komplexen Ganzheit trägt es einerseits zur Tradierung der bestehenden gesellschaftlichen Strukturen bei, in­ dem es auch unter Maßgabe des Generationswechsels gesellschaftliche Kontinui­ tät erzeugt und andererseits Kompetenzpotenziale generiert, die dann überra­ schende Veränderungen in der evolutionären Entwicklung der Gesellschaft auslö­ sen können oder diese zumindest befördern. Die Erfahrungen der letzten fünfzig Jahre haben gezeigt, dass besonders in jenen Zeiten, in denen sich eine Art Schul­ terschluss zwischen sozialen Bewegungen und Teilen des pädagogisch organi­ sierten Systems des lebenslangen Lernens abzeichnet, nachhaltige Innovations­ schübe eher wahrscheinlich zu sein scheinen als in Zeiten ohne eine solche Alli­ anz. Das kann mit Blick auf die Frauen- und die Friedensbewegung ebenso gut belegt werden wie im Fall der Ö kologiebewegung (Freise 1982; Molitor 2003; Nowak 2010). Ohne die Frauenbewegung gäbe es keine Frauenbildung; ohne Frauenbildung hätte die Frauenbewegung nicht in der Weise reüssieren können; und ohne diese Wechselbezüge gäbe es keinen Fortschritt auf dem Weg zu einer gerechteren Geschlechterordnung. Diese auf den ersten Blick triviale Beobach­ tung offenbart gleichzeitig auch eine gewisse Schwäche des Systems, da es offen­ bar ausschließlich mit Bordmitteln und eigenen Ressourcen nur sehr schwer ge­ sellschaftliche Innovationen anzustoßen vermag. Zu den wenigen unstrittigen Positionen innerhalb der kritisch konstruktiven Er­ ziehungswissenschaft zählt die Gewissheit, dass alle wie auch immer gearteten Bildungskonzepte - also auch die emanzipatorischen Modelle - die Kontingenz zwischen Vermittlung und Aneignung keineswegs kontrollieren oder gar beherr­ schen können: Zwischen dem Pol der pädagogischen Intentionalität, dem der fak­ tischen Handlungspraxis, der Aneignung von Wissen und Normen durch die Ad­ ressaten und dem Pol der gesellschaftspolitischen Funktion dieser Wechselbezü­ ge zeichnet sich keine lineare, logisch verknüpfte und somit kontrollierbare Be­ ziehung ab. Im Prozess der Zivilisation haben die Muster der Herrschaftsaus­ übung zudem starke Wandlungen erfahren. Sie sind weniger als externe Faktoren angeordnet und somit eindeutig zu identifizieren (der autoritäre Lehrer, der böse Chef). Vielmehr haben sie sich in den Innenraum der Subjektivität eingenistet. Formen der sanften Hilfe und der pastoralen Professionalität (Foucault) erweisen sich als die eigentlich effektiven und effizienten Arten der pädagogisch flankier­ ten Herrschaftsausübung unter der trügerischen Fassade einer egalitären Duz­ Kultur. Neue Managementansätze greifen die Figur des pädagogischen Eros auf

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und sprechen heute - keineswegs ironisch - von "liebevoller Führung"25. Pädago­ gische Reformen in emanzipatorischer Absicht, und auch das gehört zum Stan­ dardrepertoire des heutigen Diskurses, können eine Dynamik nicht zu antizipie­ render Folgen auslösen, sodass letztlich pädagogische Instanzen an der Koloniali­ sierung der Lebenswelt mitwirken und überflüssige Herrschaft (Marcuse 1968) verfestigen. Schichtspezifische Selektionsformen, Muster der institutionellen Dis­ kriminierung und die Durchsetzung der kleinen, aber feinen Unterschiede tun dann ihr Übriges, um die soziale Schichtung durch die Reproduktion von sozialer Ungleichheit zu konservieren. Eine gesellschaftspolitisch aufgeklärte Erzie­ hungswissenschaft hat sich seit jeher die Aufgabe gestellt, im Dickicht der verwal­ teten und kulturindustriell überformten Welt die noch verbliebenen Handlungs­ spielräume ausfindig zu machen und diese im Interesse der pädagogischen Ande­ ren zu nutzen. Während auf der Interaktions ebene und in der Sphäre des organi­ sationalen und professionellen HandeIns die Dekonstruktion und Demaskierung solcher Strategien der liebevollen Führung bzw. neuer Techniken des Regierens durchaus möglich erscheinen, ist die diesbezügliche Klärung dynamisierender oder konservierender (vielleicht auch retardierender) Momente von pädagogi­ scher Berufsarbeit auf der gesellschaftlicher Makroebene weitaus schwieriger. Eine gesellschaftspolitisch aufgeklärte Pädagogik legt vor dem Hintergrund der Entzauberung pädagogischer Programmatiken heute eher Zurückhaltung, ja eine deutliche Reserviertheit bei der Durchsetzung des verordneten Reformdauerbe­ triebs (vgl. Kaube 2015) an den Tag. "Fortschritt" im Medium der Bildungsreform hat sich oft als Fortschritt noch engmaschigerer Herrschaftstechniken entpuppt. Reformmaßnahmen sind in der Vergangenheit überstürzt und ohne Sinn und Verstand realisiert worden, ohne die kurz, mittel- und langfristigen Folgen mit zu berücksichtigen (vgl. u. a. Gruschka 2015). Die hier stark gemachte Position evo­ ziert eine gesteigerte Perspektivenübernahme auch der anderen direkt oder indi­ rekt betroffenen Segmente des pädagogisch organisierten Systems des lebenslan­ gen Lernens und fragt nach den Auswirkungen bestimmter Interventionen auch in anderen Bereichen: Was für das eine Segment die Lösung eines Problems dar­ stellt, ist für das andere die Ursache für ein neues (Steigerung der Abiturienten­ zahlen Probleme der Universitäten). Die bisher dominante Organisationsform der lockeren Kopplung (Weick 1985) im pädagogisch organisierten System des lebenslangen Lernens hat weitreichende gesellschaftspolitische Implikationen, aber keineswegs per se die schlechtesten. So trägt dieser Mechanismus dazu bei, dass den pädagogisch Anderen bislang ein 25 So der Präsident der Frankfurt U n iversity of Applied Seien ces bei einem Vortrag bei "Weiterbildung Hessen e,V," im November 2015

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relativ hohes Maß an Autonomie zugestanden wird, und zwar schlicht dadurch, dass die funktionale Arbeitsteilung zwischen den verschiedenen pädagogischen Berufsgruppen und Einrichtungen zu weitgehend geschlossenen Bewusstheits­

kontexten (Glaser & Strauss 1968) führt und so die eine Organisation sehr häufig nicht weiß, was die andere tut. Die Aussage, dass "durch das Nichtzustandekom­ men von noch engerer ,Kooperation' auch nichts falsch gemacht werden kann", offenbart keineswegs Zynismus, sondern ein hohes Maß an Realitätssinn. Eine weitere Verrechtlichung der Kooperationsverhältnisse im pädagogisch organi­ sierten System des lebenslangen Lernens nach dem Modell der engen Kopplung würde unter den Bedingungen des gegenwärtigen gesellschaftlichen Klimas wahrscheinlich mit einem zusätzlichen Schub an Technokratisierung und Kon­

trolle einhergehen (Schleifenbaum & Walther 2015). Die technischen Möglichkei­

ten der Computerkommunikation stünden zur Verfügung, um Daten über päda­ gogische Andere auszutauschen, neue Arten der Akten einzuführen und aufwen­ dig ausgearbeitete Bildungsportfolios über mehrere Segmente des pädagogisch organisierten Systems des lebenslangen Lernens zu erstellen. Vermutlich noch fatalere Folgen dürften der Abgleich und die Kombination von Daten aus der Bil­ dungsbiografie mit anderen Daten, etwa aus dem Gesundheitssystem, haben. Doch im Unterschied zur Utopie eines zukünftigen pädagogisch verfassten Sys­ tems aus einem Guss mit der Tendenz, von der lockeren auf eine feste Kopplung umzustellen, gesinnungsethische Überzeugungen zu verallgemeinern und eben­ falls unrealistische präzise Steuerungen vorzunehmen, erscheint das momentane pädagogisch organisierte System der lebenslangen Bildung eher moderat aufge­ stellt. Das hat Vorteile. Es ist dadurch zu charakterisieren, dass die reale Arbeits­ teilung pädagogischer Teilbereiche durch interorganisationale Kooperation und multiprofessionelle Kommunikation koordiniert wird, sodass hohe Freiheitsgra­ de in der kollektiven und individuellen Mandatsausführung entstehen. Nicht eine rigide Steuerung, neue organisationale Qualitätsstandards und scheinbar präzise Planung sollten die Reformagenda bestimmen. Wichtiger wäre eine Vergewisse­ rung im Sinne einer Selbstaufklärung dessen, was und wie faktisch gearbeitet wird und welche Folgen das für die Akteure hat. Die diesbezüglichen Befunde könnten dann zur Korrektur eingeschliffener Routinen führen. Durch dichte Be­ schreibungen, extensive Feldforschung und die Vitalisierung von Kontaktzonen zwischen Wissenschaft und Praxis sollte ein Bewusstsein dafür geweckt werden, das zweckrational-gestaltende und kommunikative Handeln in pädagogischen Organisationen so miteinander zu kombinieren, dass organisatorische Solidarität und Integration in einer hocharbeitsteiligen Gesellschaft und einem enorm diffe­ renzierten pädagogischen System gestärkt werden. Der Respekt gegenüber der

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Autonomie des pädagogischen Anderen setzt Zonen des Nichtwissens und der Nichteinmischung voraus. Schon die vorhandenen Kooperationsformen evozieren im Rückgriff auf Durkheim die Frage, warum den verschiedenen sozialen Welten der pädagogisch Tätigen nicht ein Wechsel von der mechanischen zur organi­ schen Form der Solidarität gelungen ist. Wir wissen von Durkheim, dass sich die notwendigen bereichsspezifischen Differenzierungen nur in arbeitsteiligen Struk­ turen produktiv weiterentwickeln können, und zwar sowohl auf organisatori­ scher Ebene als auch auf der Ebene des professionellen HandeIns mit Klienten. Es ist und bleibt ein offenes Geheimnis, warum die diversen sozialen Welten päda­ gogisch Tätiger (Berufsgruppen und ehrenamtlich Tätige), die mit dem Vorsatz antreten, andere Menschen organisieren zu wollen, den Gemeinsinn zu fördern, Gruppenkohäsion und soziale Kompetenzen zu stärken, selbst nicht in der Lage sind, sich berufspolitisch besser zu assoziieren. Notwendig ist im pädagogisch organisierten System des lebenslangen Lernens nicht nur eine auf Vertrauen aufbauende Verständigung zwischen Erziehungs­ und Bildungsinstitutionen und eine flachere Hierarchie zwischen pädagogischen Berufen, sondern auch der Aufbau eines Anreizsystems, das diese Praxis der Transparenz materiell großzügiger honoriert. Bislang pflegen pädagogische Or­ ganisationen vorrangig im Modus des strategischen HandeIns zu kooperieren, wobei die Politik ganz im Sinne des neoliberalen Zeitgeistes auf die Steigerung eines wie auch immer gearteten Wettbewerbs setzt. Aus unserer Sicht wäre es an der Zeit, verstärkt auf den Modus des kommunikativen HandeIns einzugehen und die Logik pädagogischer Professionalität stärker zum Zuge kommen zu lassen. Solche Anreizsysteme müssten gerade die durch kommunikative Bezüge abgefe­ derten Kooperationsstrukturen und das hier ausgelöste Innovationspotenzial konsequent mit positiven Sanktionen belegen. Das Verhältnis von beruflichem Mandat (Auftrag) und professioneller Lizenz (be­ ruflicher Erlaubnis) der pädagogischen Berufsgruppen müsste dabei so justiert werden, dass die Verantwortung der Praktiker gegenüber dem Bildungsschicksal der Adressaten im Horizont der Lebenszeit geschärft wird und mit Blick auf die Zukunft der pädagogischen Anderen eine neue Kultur der Anerkennung auch schmerzhafter Entscheidungen geschaffen wird. Dabei kann die Selektionsfunkti­ on nicht weiter tabuisiert, vielmehr muss sie offensiver vertreten werden. Die mit den qualitativen und quantitativen Methoden operierende empirische Bildungs­ forschung liefert sehr wohl das Wissen über die biografische Prägekraft der orga­ nisierten Bildung. Die unvoreingenommene Forschung auf diesem Feld würde den Befund ans Tageslicht befördern, dass negative Selektionsprozesse im päda­ gogischen System keineswegs zur gesellschaftlichen Exklusion führen müssen,

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sondern im Gegenteil heilsame Effekte nach sich ziehen können. In gemeinsamen Planungs- und Handlungsprozessen lassen sich dann auf der Basis solcher Er­ kenntnisse die doch auseinanderstrebenden und sich weiter ausdifferenzieren­ den pädagogischen Institutionen und Berufe koordinieren und aufeinander ab­ stimmen, allerdings nur, wenn der Austausch kommunikativ rational ist, also bü­ rokratische Verkrustungen und Machtstrategien überwunden werden. Angesichts der Kooperationsintensität und Kooperationsdichte zwischen den sozialen Wel­ ten wäre es an der Zeit, dass ein Wechsel von der mechanischen zur organischen Solidarität stattfinden würde. Gelingt ein solcher Fortschritt nicht, dann sind Konkurrenz und Widerstand zu erwarten, die dann - und hier wäre Durkheims Lösung wieder ins Spiel zu bringen - nur durch rechtliche Regelungen und Geset­ ze geordnet werden können. Realpolitisch gedacht ist die rechtliche und politische Sicherung einer minimalen Infrastruktur also letztlich doch notwendig, um die rationale Kommunikation der an Erziehung und Bildung interessierten Institutionen segmentübergreifend mit­ tel- und langfristig zu gewährleisten. Die finanzielle Unterversorgung des Erzie­ hungs- und Bildungswesens schmälert keineswegs die generelle Praktikabilität der hier skizzierten Szenarien - wohl aber die Wahrscheinlichkeit, dass andere Funktionssysteme die fehlende Leistungskraft des pädagogisch organisierten Systems des lebenslangen Lernens nicht mehr klaglos hinnehmen werden.26 9

Zusammenfassende Thesen

a) Die Wendung "arbeitsteilige und intentionale Gestaltung der Humanontogenese" fungierte im hier entfalteten Konzept als Fluchtpunkt, um dem metaphorisch und alltagsweltlich angehauchten Begriff "lebenslanges Lernen" mit einem materialen Kern zu versehen (vgl. Dellori 2016, S. 222-225). Auf diese Weise gelingt es, die absolute Metapher des lebenslangen Lernens (de Haan) zu respezifizieren, sodass das Konzept an den wissenschaftlichen Diskurs anschlussfähig wird. Zugleich wird die professions- und organisationstheoretische Zuständigkeit für das organisierte Lernen betont, die pädagogische Relevanz des informellen Lernens allerdings ab­ gedunkelt und die formale Geschlossenheit jener Realität begründet, die nach wie 26

Das pädagogisch organisierte System übe rschätzt sich (und seine Macht) in weiten Bereichen, es unterschätzt sich in anderen. Hier vielleicht Jeweils Beispiele zu den Uber- und Unterschätzungen? Luhmann hat in seinen organisationstheoretischen Arbeiten etwa darauf h i ngewiesen, dass die Existenz moderner Organisationen vor allem die Leistungen von zwei Funktionssystemen voraussetzt, nämlich der Wirtschaft und der Erziehung (vgl. Luhmann 2000, S. 381). Von daher böte es sich an, die Diskussion auch einmal umzudrehen: nicht mehr die Abhängigkeit der Erziehung und Bildung von Wirtschaft und Politik zu skandalisieren, sondern die Abhän­ gigkeit der Politik und Wirtschaft von Erziehung und Bildung

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vor diffus mit dem Begriff "Erziehungs- und Bildungswesen" belegt wird. Wenn ein Funktionssystem existiert - und wir gehen davon aus, dass dem so ist -, so muss dafür auch ein Begriff reserviert werden und nicht zwei (Bildung/Erziehung)! b) Das sich formierende pädagogisch organisierte System des lebenslangen Lernens reagiert auf die Verschränkung von Phylogenese und Ontogenese: die Pädagogisie­ rung der biografischen Lebensführung und der historisch noch nie dagewesenen Expansion von Erziehungs- und Bildungsinstitutionen. Die Dimensionen dieser sä­ kularen Entw"icklung sind: Substitution von Sozialisation durch organisiertes Ler­ nen, die Veränderung der Generationsbeziehung und die Umkehr der Lernrich­ tung, die zunehmende Erziehung des Ervvachsenen und verstärkte Nutzung päda­ gogischer Interventionen zur Lösung funktionsspezifischer Probleme. c) Die Institutionalisierung des lebenslangen Lernens stellt - soziologisch betrachtet - einen neuen Universalisierungsmechanismus dar (Mead). Dieser trägt zur Gene­ rierung von Reziprozität bei, indem widersprüchliche Konfigurationen (Individua­ lisierung/ Vergesellschaftung; Ortsbezug/ Weltbezug; Tradierung/ Innovation) di­ alektisch aufgehoben werden. d) Die grundlegende Bauform des Erziehungs- und Bildungswesens ändert ihre Ge­ stalt: Es deutet sich die Transformation vom Zentrum-Peripherie-Modus zur funk­ tionalen Differenzierung an. Damit werden auch stratifikatorische Einteilungen obsolet. Von höherer Bildung zu sprechen, macht ebenso wenig Sinn, wie von der Überlegenheit einzelner Segmente auszugehen. Die biografische Wirkmächtigkeit von Bildungsprozessen ist, so zeigen eine Vielzahl von qualitativen Untersuchun­ gen, nicht zwingend auf einen ein für alle Mal fixierten Kreis von Organisationen im pädagogisch organisierten System des lebenslangen Lernens gebunden. Damit geht gleichzeitig die Substitution der systemspezifischen Funktion der Vorberei­ tung auf die der Begleitung einher. e) Die Selektionsfunktion kann auch unter Maßgabe des Umstandes nicht hintergan­ gen oder gar neutralisiert werden, dass das System ein zentrales Stilelement des Gesellschaftssystems kopiert und für sich reklamiert, nämlich das der vollständi­ gen und der (unter Normalbedingungen) dauerhaften sozialen Inklusion. So ist im Falle der pädagogischen Selektionsfunktion mit der Exklusion aus einer Erzie­ hungs- oder Bildungseinrichtung unweigerlich die Inklusion in eine andere Institu­ tion verbunden ("Wer es auf dem Gymnasium nicht schafft, macht den Realschul­ abschluss"). Durch die Unterscheidung von pädagogischer und gesellschaftlicher Selektion und durch ein dosiertes Inklusions- und Exklusionsprogramm sichert das pädagogisch organisierte System des lebenslangen Lernens die Herstellung von gesellschaftlicher Gleichheit und Ungleichheit zugleich. Die universalistischen Werte des Gesellschaftssystems (Freiheit, Gleichheit) und die im System habituali­ sierte Sorge um das Wohl der pädagogischen Anderen versetzen in demokratisch verfassten Gesellschaften das pädagogisch organisierte System des lebenslangen Lernens permanent unter den Zugzwang, die Anstrengungen in Richtung Inklusion und Chancengleichzeit aufrechtzuerhalten, ja sogar zu verstärken. fJ Die gesellschaftspolitischen Konsequenzen eines weiteren Ausbaus des pädago­ gisch organisierten Systems des lebenslangen Lernens sind nicht zu unterschätzen.

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Während die Pädagogisierung der Kindheit und der Jugend durch den Ausbau des vorschulischen Bereichs und die Konsolidierung der Schulerziehung aus systemi­ scher Sicht weitgehend abgeschlossen ist,27 dürfte unter dem Eindruck des demo­ graphischen Wandels eine noch stärkere Diversifizierung des pädagogisch organi­ sierten Systems des lebenslangen Lernens in der späten Phase des Erwachsenenal­ ters nicht ganz unwahrscheinlich sein. Sollte es gelingen, das späte Ervvachsenenal­ ter vor einer weiteren Therapeutisierung zu bewahren und unter Maßgabe der späten Freiheit auch unter den Bedingungen von Krankheit und Gebrechen zu ei­ nem Raum der authentischen Bildung zu machen, würde sich gleichsam die Gestalt des pädagogisch organisierten Systems des lebenslangen Lernens schließen. Das System würde dann in der Tat vom statu nascendi in ein voll entvvickeltes Funkti­ onssystem übergehen. Die "Unterversorgung" des mittleren Ervvachsenenalters mit pädagogischen Dienstleistungen müsste dann aber nicht als Defizit wahrge­ nommen werden, sondern als Indiz für die systemspezifische Sicherung einer au­ tonomen Lebensführung jenseits von Belehrung und Bildung. g) Von vielen Pädagogen wird die Ausdehnung der Erziehung auf das Ervvachsenenal­ ter als hochgradig unerwünscht betrachtet. Es geht bei dieser Diversifizierung von Erziehung allerdings in der Tat um die Vermittlung elementarer Handlungsdisposi­ tionen und die Erzeugung von sozialer Anschlussfähigkeit (Luhmann 2002) nichts anderes ist mit Erziehung gemeint. Die damit verbundene Paradoxie besteht darin, mit Blick auf das Lebensalter und den juristischen Status von autonomen Personen auszugehen, wohingegen die aktuelle Lebenssituation diese auf Selbst­ bestimmung hinzielende Adressatenkonstruktion jedoch fortlaufend dementiert. Hier bedarf es einer umsichtigen und sorgfältigen fachlichen Bearbeitung und Ausbalancierung. Im späten Ervvachsenenalter werden Pädagogen mit multiplen Paradoxien konfrontiert: Erziehungs- und Bildungsaktivitäten sind ganz allgemein auf die Eröffnung von Zukunftshorizonten ausgerichtet. Was aber geschieht, wenn diese Zukunft - wie etvva bei der Betreuung von hochaltrigen oder sterbenden Menschen - außerordentlich begrenzt ist und dennoch biografische (Erkenntnis­ )Arbeit geleistet werden muss? Hier deutet sich ein hoher Bedarf an Professionali­ tät an, eine intensive Reflexion über das vorhandene Wissen und Können, um mit den Widersprüchen und Paradoxien einer sich abzeichnenden Erziehung des Er­ wachsenen umzugehen und diese Spannungsbezüge produktiv werden zu lassen. Wie gelingt es, pädagogische Arbeitsbündnisse zu schaffen, die ohne die Unterstel­ lung von Autonomie auskommen müssen und in denen nur die Optimierung der Lebensqualität im Hier-und-jetzt ansteht? Ihrer gesellschaftspolitischen Verant­ wortung wird die soziale Welt der pädagogisch Tätigen nur dann gerecht, wenn sie die Widersprüchlichkeiten, Dilemmata und Anomien ihrer eigenen Situation nicht leugnet oder gar mit Tabus belegt, sondern wenn sie den Anspruch zu lernen auch dann konsequent und zielgerichtet auf sich selbst anwendet, wenn es sich um höchst schmerzhafte Erkenntnisse handelt. 27 Hier geht es vor allem um die basale J u ristische und institutionelle Infrastruktur, nicht um finanzielle und per­ sonelle Ressourcen. Natürlich ist auch dieser Bereich materiell unterausgestattet

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DIETER NIDEL

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Autorinnen und Autoren

Rolf Arnold ist Professor für Pädagogik (insbesondere Berufs- und Erwach­ senenpädagogik sowie Aufsichtsratsvorsitzender und Wissenschaftlicher Direk­ tor des Distance and Independent Studies Center (DISC) an der TU Kaiserlautern. Seine Arbeitsschwerpunkte sind Führungskräfteentwicklung sowie Bildungssys­ tementwicklung.

ist Professor für Physik an der Pennsylvania State University. In seiner Forschung beschäftigt er sich vor allem mit mathematischen Fragen in den Gebieten der Quantentheorie und Kosmologie. Martin Bojowald

Co-founder, researcher and professor of Matriztica. She studied human and family relations, specializing in work relations. She has devel­ oped the biological-cultural nature of humanness, focused in the domain of pain and suffering. Following this path. she has developed the understanding and praxis ofwhat she calls liberating conversations in the field oftherapy. Ximena Davila Ycinez

ist emeritierter Hochschullehrer für Verwaltungsrechtj­ wissenschaft und Politische Philosophie der Universität Kassel. Seit 1982 arbeitet er auch mit verschiedenen Universitäten in Südbrasilien zusammen. Seine Ar­ beitsschwerpunkte sind Politische Philosophie. Rechtsphilosophie. Kritische The­ orie und Hermeneutik. Hans-Georg Flickinger

Jean Grondin ist seit 1991 Professor am Departement de Philosophie der Uni­ versite de Montreal in Kanada. Von 1982 bis 1990 lehrte er an der Universite La­ val, von 1990 bis 1991 an der Universite d'Ottawa und hatte Gastprofessuren an zahlreichen Universitäten inne, darunter die Universitäten von Lausanne, Minsk, Neapel, Port-au-Prince und San Salvador. Seine Arbeitsschwerpunkte sind Her­ meneutik. Phänomenologie und Metaphysik. Humberto R. Maturana. in Santiago de Chile geboren (1928). leitet dort zusam­ men mit Prof. Davila das Instituto Matriztico. Maturana arbeitet am Institut als Biologe und Philosoph und beschäftigt sich auch in seinen Büchern mit interdis­ ziplinären Themen zwischen Biologie, Philosophie, Psychologie und Soziologie. Er widmet sich weiterhin intensiv der "Biologie der Erkenntnis" und setzt auf diese Weise die Arbeit am Konzept der "Autopoiesis" fort.

researcher, professor and assistant manager of projects of Matriztica. He studied biology. His career as focused as student of Humberto and Ximena in the domain of biology and cultural-biology. And his main preoccu­ pation has been the understating of humanness (observer), evolution (natural drift), and the impact that such comprehension have in the different domains. Simon Ramirez Mufioz

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AUTORINNEN UND ÄUTOREN

ist Professor für Philosophie mit besonderer Berücksichtigung der Philosophie der Naturwissenschaften und Technikwissenschaften an der TU Kaiserslautern. Seit 1992 hat er ständige Gastprofessuren an der PUCRS und UFRGS in Südbrasilien. Arbeitsschwerpunkte sind: Begriffsgeschichte. Metaphy­ sik und Ethik in der Wissensgesellschaft.

Wolfgang Neuser

ist Professor für Erziehungswissenschaft unter besonderer Berück­ sichtigung der Erwachsenenbildung/Weiterbildung; Arbeitsschwerpunkte sind: Qualitative empirische Bildungsforschung, Biografieforschung, erziehungswis­ senschaftliehe Professionstheorie und Organisationsforschung.

Dieter Nittel

ist Professor für Philosophie im Institut für Technikfolgenab­ schätzung und Systemanalyse (ITAS) am KIT Karlsruhe und an der TU Kaiserslau­ tern. Er leitet den Arbeitskreis Ethik beim BMBF-Projekt .,ABIDA" Begleitfor­ schung Big Data. Seine Arbeitsschwerpunkte sind Technik- und Medienphiloso­ phie, Ethik, Kulturphilosophie und Anthropologie. Klaus Wiegerling

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Über den Inhalt: Der Band versammelt Beiträge, die aus der Perspektive verschiedener Wissen­ schaften die Beziehungen von System, Beobachter und Hermeneutik diskutieren. Im Zentrum steht d ie Rolle des Menschen in biologischen, physikal ischen oder sozialen Systemen. Ist er bloß ein von außen auf das System u nd seine Umwelt schauender, ansonsten un beteil igter Beobachter? Oder konstituieren das System und seine Elemente überhaupt erst das, was den Beobachter ausmacht? Die Autoren dieses Bandes betrachten diese Fragen jeweils aus ihrer spezifischen Auffassung dessen, was ein System ist. In allen Fällen bedarf der Beobachter eines methodischen Rüstzeugs, das ihm erlaubt, seinen Ort im System zu verstehen. Implizit oder explizit sind dies die Methoden und das Verständnis der Hermeneutik. Dabei ist Hermeneutik nicht bloß eine äußerliche Technik der Interpretation, sondern (im Sinne von Gadamer, Ricoeur oder Derrida) ein Konstitutionsverfahren in dem Prozess, das eigene Sein des Menschen zu verstehen. Die Autoren des vorliegenden Bandes sind auf jeweils untersch iedliche Weise darum bemüht, den verstehenden Beobachter in seinem System zu beschreiben und ihn ihrerseits zu verstehen. Mit Beiträgen von Rolf Arnold, Martin Bojowald, Hans-Georg Fl ickinger, Jean Grondin, Humberto Maturana, Wolfgang Neuser, Dieter Nittel und Klaus Wiegerling

Die Herausgeber: Rolf Arnold ist Professor für Pädagogik (insbesondere Berufs- und Erwachsenen­ pädagogi k), Wissenschaftl icher Direktor des Distance and Independent Studies Cen­ ter (D ISC) an der Technischen U niversität Kaiserslautern, Sprecher des Virtuellen Campus Rheinland-Pfalz (VCRP). Wolfgang Neuser ist Professor für Philosophie mit besonderer Berücksichtigung der Philosophie der Naturwissenschaften und Tech nikwissenschaften an der TU Kaisers­ lautern. Seit 1 992 hat er ständige Gastprofessuren an der P UCRS und UFRGS in Süd­ brasilien. Arbeitsschwerpunkte sind : Begriffsgeschichte, Metaphysik und Ethik in der Wissensgesellschaft.

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