Baltisches im Finnischen 9525150321

A study on Baltic load-words in Finnish. Mostly deals with etymologies. In German.

564 75 11MB

German Pages 177 Year 1999

Report DMCA / Copyright

DOWNLOAD FILE

Polecaj historie

Baltisches im Finnischen
 9525150321

Citation preview

SUOMALAIS-UGRILAISEN SEURAN TOIMITUKSIA MÉMOIRES DE LA SOCIÉTÉ FINNO-OUGRIENNE *

235 *

Kari Liukkonen

Baltisches im Finnischen

FINNISCH-UGRISCHE GESELLSCHAFT HELSINKI 1999

K ari L iukkonen: B a ltis c h e s im F in n isch en . M é m oires de la S ocié té F inno-O ugrienne 235.

Ü bersetzung u n d V orbereitung zum D ruck: K laas Ph. R uppel

C o p y rig h t © 1999 F in n isch -U g risch e G esellsch aft S o ciété F inn o -O u g rien n e M arian k atu 7, F IN -00170 H E L S IN K I http://w w w .helsinki .fi/jarj/sus/ h ttp://w w w .helsinki.fi/jarj/sus/sust.htm l B estellungen: T iedekirja K irkkokatu 14 F IN -00170 H E L S IN K I F A X + 358 9 635 017 tie d e k ir ja @ p p .k o lu m b u s .fi

IS B N 952-5150-32-1 IS S N 0355-0230

V am m alan K irjapaino Oy, V am m ala 1999

Vorwort Die baltischen Lehnwörter sind die bei weitem am wenigsten untersuchte Lehnwort­ schicht im Finnischen. In der finnischen etymologischen Forschung ist die eigenartige Situation entstanden, dass den baltischen Nachbarsprachen (sic!) nicht die ihnen gebührende Aufmerksamkeit geschenkt wird. Dabei scheint es, dass die Herkunft der meisten der rätselhaftesten finnischen Wörter gerade anhand jener, in erster Linie vom Litauischen ausgehend, zu finden ist (ohne dass die Wörter eben aus dem Litauischen entlehnt sein müssten). Ohne viel Übertreibung kann festgestellt werden, dass nach der berühmten und wegbereitenden Arbeit von Vilhelm Thomsen (T homsen 1890) von keinem einzigen Forscher auf dem Gebiet der baltischen Lehnwörter im Finnischen wesentlich Neues beigetragen wurde. (Es sind natürlich hier und da durchaus gute Etymologien vorgebracht worden und die Zahl der Gleichungen ist stark angewachsen.) Der Grund hierfür dürfte wohl sein, dass sich kein finnischer Sprachforscher mit den baltischen Sprachen, besonders mit dem archaischen Litauischen, das aus vielen Gründen die Schlüsselsprache jedweder Baltologie ist, ausreichend bekannt gemacht hat. Die einzige Ausnahme, Eino Nieminen, lebte zu einer Zeit, als die Lehnwort­ forschung nicht in Mode war. So nahm zum Beispiel J. J. Mikkola, Nieminens berühmter Lehrer, der sich u. a. auf dem Gebiet der alten russischen Lehnwörter im Finnischen große Verdienste erworben hat und der auch mit den baltischen Sprachen gut vertraut war, in seinen späten Schriften eine ablehnende Haltung gegenüber Lehnwörtern ein und zog gute Gleichungen, die er früher aufgestellt hatte, völlig grundlos zurück. Dies dürfte auch auf den sehr kritischen Wissenschaftler Nieminen Einfluss gehabt haben. Das Buch Thomsens ist natürlich schon längst veraltet, aber es existiert kein Werk, das es ersetzte. In der vorhegenden Arbeit zitiere ich in erster Linie die deutsche Fassung seines Buches (T homsen IV), die 1931 als vierter Teil seiner Werke erschien. In dieser Fassung sind auch die Seitenzahlen der dänischen Originalfassung (T homsen 1890) angegeben, die ich ebenfalls wiedergebe. Das Werk Thomsens ist der Ausgangspunkt meiner Forschungen; auf davor liegende Literatur (ausgenommen Wörterbücher und Sprachdenkmäler) verweise ich, sofern es unbedingt nötig ist, im Text selbst (natürlich unter Angabe der nötigen biblio­ graphischen Daten). Diese ältere Literatur wird im Literaturverzeichnis nicht erwähnt. Die Materialsammlung für das vorliegende Buch habe ich ganz selbst vor­ genommen. Recht viele der hier aufgeführten Etymologien habe ich im Laufe der vergangenen Jahre bereits kurz in meinen Vorlesungen oder in Gesprächen erwähnt. Ich habe niemanden um Kommentare gebeten, sodass der Text also ganz von mir stammt und ich dafür ganz einstehe. Nach Veröffentlichung dieses Buches hoffe ich allerdings auf sachverständige Einschätzungen, die mir für die weitere Arbeit hoch­

4

Vorwort

willkommen wären. Es ist nämlich die Zeit gekommen für eine aktuelle zusammen­ fassende Darstellung der baltischen Lehnwörter im Finnischen, bzw. für einen die bisherige Forschungsarbeit darlegenden „Zwischenbericht“, den ich hoffentlich inner­ halb der nächsten Jahre vorlegen kann. Dieses Buch sei eine kleine Vorarbeit dafür. Ich hoffe von ganzem Herzen, dieses vernachlässigte und doch sowohl für die Fennistik als auch für die Baltologie so wichtige Feld findet neue qualifizierte und hingebungsvolle Beackerer. Dazu bestehen jetzt viel bessere Möglichkeiten als früher, da praktischer Sprachunterricht und baltologische Kenntnisse jetzt auch in Finnland gelehrt und vermittelt werden, nachdem in den letzten Jahren an der Universität Helsinki das selbständige und vollgültige Lehrfach Baltische Philologie mit muttersprachlichen Lektoren beider lebenden baltischen Sprachen eingerichtet werden konnte. In Helsinki, wo sogar global gesehen (in den verschiedenen Biblio­ theken der Universität und privat bei mir, zum Teil auch in den Bibliotheken des Forschungszentrums für die Landessprachen Finnlands und der Finnischen Literatur­ gesellschaft) einzigartig gute baltologische Literatur vorhanden ist, bestehen alle äußeren Voraussetzungen für erfolgreiche Forschungsarbeit. Zweifellos ist meine Arbeit stellenweise etwas polemisch, aber das ganze Buch ist zu sehen als eine Gegenreaktion auf die in der finnischen Lehnwortforschung vorherrschende einseitige und einäugige „germanische“ Ausrichtung und Jorma Koivulehtos kühne „Laryngaletymologien“. Vielleicht hätte ich es sein gelassen, mich so in dieser Sache zu engagieren, aber mit den Jahren habe ich mich zu sehr über die Situation ärgern müssen. Es mangelt bei mir nicht an Interesse für andere Forschungsgegenstände, die nun ungetastet bleiben dürften. Während der letzten zwei Jahre habe ich jedoch einige international vielleicht sogar wichtigere For­ schungen ganz zur Seite gelegt und mich völlig dieser meiner Meinung nach national wichtigen Arbeit gewidmet. Polemik macht keinen Spaß, und immer gibt es welche, die sich daran stoßen, aber mitunter ist sie notwendig, um die Diskussion zu eröffnen und das Interesse zu wecken. In dieser Phase meiner Forschungen beschränke ich mich aus Zeitgründen bewußt auf gedruckte Quellen und lasse unveröffentlichtes Archivmaterial unberücksichtigt. Es gehört auch nicht zu meiner Arbeitsweise, Hand-outs von Vorträgen zu zitieren. Ich habe die Hoffnung, mein Buch trägt zu einer vielseitigeren Erforschung der Wurzeln der finnischen Sprache und Kultur bei. Einige von mir vorgebrachte Etymologien geben sicher u. a. Ethnographen und Archäologen und hoffentlich auch der an der finnischen Sprach- und Volksgeschichte interessierten breiten Öffent­ lichkeit neue Denkanstöße. Auch hoffe ich, mein Buch sorgt darüber hinaus für ein größeres Interesse an den baltischen Sprachen (besonders am für die Erforschung der baltischen Lehnwörter im Finnischen besonders wichtigen Litauisch) und den Balten selbst, von denen die Finnen einst so viel empfangen haben. Mit Ausnahme einiger (litauischer) Werke habe ich, um mich endlich auf die Editionsarbeit konzentrieren zu können, die 1998 erschienene Literatur nicht mehr berücksichtigt. Ich bedanke mich bei der Finnisch-Ugrischen Gesellschaft für die

Vorwort

5

Aufnahme meiner Forschung in ihre Reihe „Mémoires de la Société Finno-Ougrienne“. Ebenso bedanke ich mich bei M. A. Klaas Ruppel für seine Übersetzung meiner Arbeit ins Deutsche, der von mir hoch geschätzten traditionellen Wissen­ schaftssprache der Finnougristik und Baltologie.

Helsinki, Sommer 1999 Kari Liukkonen

Abkürzungen ab(ul)g. = altbulgarisch abltd. = ab lautend ai., altind. = altin d isch alb. = albanisch alt. = älter altkirchenslav. = altkirchenslavisch altlit. = altlitauisch a(lt)pr. = altpreußisch a(lt)russ. = altrussisch altung. = altungarisch balt. = b altisch balto-slav. = balto-slavisch bulg. = b u lg arisch čech. = tsch ech isch deskr. = deskripitiv dial. = dialektal dt. = deutsch engl. = englisch estn. = estn isch fern. Fern. = fem in in , F em ininum finn. = fin n isch finn.-perm . = fin n isch -p erm isch finn.-w olg. = finnisch-w olgaisch frühbalt. = frühbaltisch frühurfinn. = frü h u rfinn isch gem einostseefinn. = gem einostseefinnisch G en. = G enitiv germ . = germ an isch got. = gotisch idg. = indogerm anisch In. s. lappIn. indoeur. = indoeuropäisch isl. = isländisch kar. = karelisch klr. = k lein ru ssisch lapp. = lappisch lap p in . = Inari-lappisch lappL u. = L u leå -lappisch lappN . = norw egischlappisch lappR . = ru ssisch lap p isch lappS. = südlappisch lappSchw . = sch w ed isch lap p isch lat. = lateinisch

lett. = lettisch lit. = litauisch liv. = livisch m . A. n. = m ein er A n sich t nach m . a. W. - m it anderen W orten m. E. = m eines E rachtens m . W. = m eines W issens m ask., M ask. = m askulin, M ask u lin u m m ordw . = m ordw inisch m ordw E . = ersam ordw inisch m ordw M . = m okscham ordw inisch N . s. lappN . neutr., N eutr. = neutral, N eutrum ngan. = nganasanisch N om . = N om inativ nsorb. = niedersorbisch osorb. = obersorbisch oss. = ossetisch ostj. = ostjakisch P. = P erson pers. = p ersisch PI. = Plural po ln . = p o ln isch Präs. = Präsens refl. = reflexiv russ. = russisch schriftspr. = schriftsprachlich schw. = schw edisch seit. = selten serbokr., skr. = serbokroatisch Sg. = S ingular slav. = slavisch slk. = slovakisch sloven. = slovenisch tavgisam . = tavgisam ojedisch türk. = türkisch ukr. = ukrainisch um br. = um brisch ung. = u n garisch ural. = uralisch w eps. = w epsisch w og. = w ogulisch žem . = žem aitisch

Inhalt Vorwort............................................................................................................................3 Abkürzungen.................................................................................................................. 6 Inhalt................................................................................................................................7 Einleitung....................................................................................................................... 9 Etymologien................................................................................................................. 15 Zusammenfassung..................................................................................................... 159 Nachwort.................................................................................................................... 163 Literatur...................................................................................................................... 165 Register der etymologisch behandelten Wörter..................................................... 177

Einleitung Das auf Finnisch geschriebene Lehrbuch Jalo Kalimas (K alima 1936) stellt in bestimmter Beziehung sogar im Vergleich mit dem damals schon veralteten Werk Thomsens einen Rückschritt in der Forschung dar. Nachdem es in Finnland gewisser­ maßen den Status eines Handbuches erlangt hatte, hat es mit seinen Fehlem nicht nur in Finnland sondern auch anderswo die spätere Erforschung der baltischen Lehnwörter im Finnischen schädlich beeinflusst. Ohne Gmnd lehnt Kalima viele beachtenswerte und einige ganz richtige Gleichungen Thomsens ab oder erwähnt sie nicht einmal. So konnte die Benutzung von Kalimas Buch als Quelle glauben machen, dass bestimmte Etymologien nie aufgestellt worden sind. Dies gilt auch für die Arbeiten bestimmter anderer bekannter Baltologen. So legte O lli N uutinen vor einigen Jahren eine „neue“ baltische Etymologie für finnisch jä rvi ,See’ vor (Virittäjä 1989,497-501), obwohl diese Gleichung (Einzelheiten, die der Korrektur bedürfen, lasse ich hier unerwähnt) wenigstens seit 1922 unter Baltologen bekannt ist (B ūga II 273-275, s. auch E ndzelīns III: 1, 465). Die Sachlage hätte sich leicht im 1962 als eigener Band („Rodyklės“) erschienenen umfangreichen und detaillierten Register der Werke Būgas nachschlagen lassen. Das Register ist in den wichtigsten finnischen Bibliotheken vorhanden und kann auch von jemandem genutzt werden, der des Litauischen nicht mächtig ist. (Nebenbei sei erwähnt, dass die rich tig e Etymologie von finnisch jä rv i schon 1914 von Eino Nieminen mündlich gegenüber Max Vasmer aufgestellt wurde. B ūga II 235 zitiert einen Brief Vasmers, in dem auf dieses Gespräch Bezug genommen wird.) K alima (1936) erwähnt die Erklärung Būgas nicht und aus diesem Gmnd offenbar auch das SSA nicht, obwohl das Original des Werkes von B ūga („Kalba ir senovė“) bei beiden im Literaturverzeichnis aufgeführt ist. Die Arbeiten B ūgas (namentlich Rinktiniai r a š ta i ,Ausgewählte Werke’) gehören zu den wichtigsten Werken der Baltologie und sind als Quelle fast ebenso wichtig wie zum Beispiel das litauische etymologische Wörterbuch von E rnst F raenkel, sodass Vertrautheit mit ihnen und die Fähigkeit, sie zu benutzen (d. h. das Verstehen litauischer, deutscher und auch russischer Texte), eine Voraussetzung für jeden Forscher auf dem Gebiet der baltischen Lehnwörter im Finnischen ist. Eben Nuutinen hat auch für finnisch hulas , Gebäudeecke, Holz Verbindung; Vordach’ eine eigene baltische Etymologie aufgestellt (Virittäjä 1984, 176-190), obwohl auch diese Zu­ sammenstellung dem Kenner der baltologischen Quellenliteratur lange bekannt ist (J aunius 1972, 239). Die germanischen Lehnwörter im Finnischen waren schon immer ein beliebtes Forschungsfeld der finnischen Sprachwissenschaftler, zum Teil sicher aus dem banalen Gmnd, dass germanische Sprachen schon in der Schule gelernt werden und von daher allgemein bekannt sind, und somit sich auch andere als die eigentlichen Germanisten mit ihnen mehr oder weniger vertraut fühlen. In den vergangenen zwei

10

Einleitung

Jahrzehnten haben diese Forschungen vor allem durch die Arbeiten J o r m a KorvuLEHTOs und seiner Sinnesgenossen einen enormen Aufschwung genommen. Es sind zwar viele unumstrittene Ergebnisse erzielt worden, aber es hat auch klare übers Ziel hinaus schießende Übertreibungen gegeben. Als eine Art Selbstverständlichkeit sieht man hier und da sogar in gedruckter Form, die Finnen seien „Germanen, die ihre Sprache gewechselt haben“. Es ist ein völlig schiefes Bild entstanden. Im Laufe der Jahre bin ich zu der Auffassung gelangt, dass der baltische Einfluss auf das Urostseefinnische im Grunde deutlich stärker als der alte germanische Einfluss war und ganz entscheidend auf die Ausbildung des Urostseefinnischen eingewirkt hat. Es scheint zahlenmäßig mehr baltische als urgermanische Lehnwörter zu geben. Für die Aufklärung der Ethnogenese der Finnen scheint mir außerdem symptomatisch, dass die ganze Zeit u. a. immer mehr Verwandtschaftsbezeichnungen baltischen Ursprungs und andere hierher gehö­ rende aus dem Baltischen entlehnte Termini gefunden werden. Es sei hier kurz erwähnt, dass es möglich ist, für über die Hälfte der sog. gemeinostseefinnischen Wörter (s. dazu H äkkinen 1990, 217-223) eine sichere oder sehr wahrscheinliche baltische Lehnetymologie aufzustellen. Über 25 % der tausend frequentesten finni­ schen Wörter (s. dazu H äkkinen 1987) beruhen auf einem sicheren oder äußerst wahrscheinlichen baltischen Stamm. Im finnischen Wortschatz dürften sich kaum noch neue Wörter mit einer finnisch-ugrischen Etymologie finden lassen und die Zahl der sicheren Etymologien wird mit 295 (K orhonen, Juuret 60) etwas zu hoch angesetzt, da sich unter diesen Wörtern einige sehr wahrscheinliche baltische Ent­ lehnungen, u. a. die weiter unten erwähnten häntä ,Schwanz’ und nainen ,Frau‘, befinden. Die höchstmögliche Anzahl wäre somit 290. Unter den im selben Zusam­ menhang (K orhonen, ibid. 59) erwähnten unsicheren finnisch-ugrischen Etymologien gibt es in Wirklichkeit eine Vielzahl wahrscheinlicher baltischer Lehnwörter, u. a. die von mir behandelten la m p i ,Teich’, lapsi ,Kind’, lintu ,Vogel’, sampi ,Stör’ und suoja ,Schutz’. Ich halte es für meine Pflicht, das Bild, das man sich von der Vorgeschichte des Finnischen gemacht hat, zu korrigieren, obwohl ich weiß, dass meine Zeit und meine Kräfte wohl nicht ausreichen werden. Im Prinzip würde für diese Aufgabe ein kleines, mit den baltischen Sprachen gründlich vertrautes Forscherkollektiv, oder wenigstens ein junger und besonders begabter Sprachwissenschaftler mit solchen Kenntnissen, benötigt, an die man sein Wissen weitergeben könnte und das sich ausreichend finanziert seiner Arbeit widmen könnte. Zum Beispiel ist die sozusagen „schöpferische“ Vertrautheit mit den Möglichkeiten der Wortbildung in den balti­ schen Sprachen, sowohl in synchronischer als auch diachronischer Hinsicht, von zentraler Wichtigkeit. Da sich ein solches Kollektiv für die nächsten Jahre nicht abzeichnet, versuche ich mein Möglichstes zu tun und so viele Etymologien zu veröffentlichen, wie es mir meine Zeit erlaubt. Im Folgenden stelle ich 100 Worterklärungen vor, die nur eine Auswahl aus einer sehr viel größeren Menge darstellen. Ich bin zu der Auffassung gekommen, dass es im Finnischen etwa 550 sich ere baltische Lehnwörter gibt, wobei sich immer noch

Einleitung

11

mehr finden. Nach Erscheinen dieses Buches sind immer noch etwa die Hälfte unveröffentlicht. Interessant ist die Tatsache, dass es somit im Finnischen fast doppelt so viel baltische Lehnwörter als sichere aus der finnisch-ugrischen Grund­ sprache ererbte Grundwörter gibt. Bis heute sind im Finnischen nahezu 200 sichere baltische Lehnwörter identifiziert. Zum Vergleich sei erwähnt, dass Kalima in seinem Lehrbuch nur 110 sichere Entlehnungen aus dem Baltischen nennt, was auch für die damalige Zeit viel zu wenig war. Die Zahl Kalimas wird in der fennistischen und finnougristischen Literatur von Forschergeneration zu Forschergeneration bis in unsere Zeit ständig wiederholt (z. B. K o r h o n e n 1981, 30: „Itämerensuomessa vanhoja balttilaisia lainoja on alun toistasataa.“ ,Es gibt im Ostseefinnischen gut hundert alte baltische Lehnwörter.’). Verglichen mit der von Kalima genannten Zahl ist die Anzahl der sicheren baltischen Lehnwörter fünfmal so hoch. Ich betone dabei, dass ich mich in der vorliegenden Arbeit nur mit den alten baltischen Lehn­ wörtern im Finnischen und nicht mit denen im gesamten Ostseefinnischen beschäftige. In den meisten Fällen braucht hier zwar kein Unterschied gemacht zu werden, da sich für die Lehnwörter im Finnischen Äquivalente auch in anderen ostseefinnischen Sprachen finden, aber es gibt eine gewisse Anzahl baltischer Lehnwörter, die nur im Finnischen, nur im Südestnischen oder nur im Livischen belegt sind und bei denen es unwahrscheinlich ist, dass sie je woanders vorhanden waren. Es hat mehrere Kontaktgebiete gegeben. Indem ich mich auf das baltische Lehngut im Finnischen beschränke, versuche ich auch die sprachlichen Eigenschaften einer begrenzten baltischen Population herauszuarbeiten. Wie einige Ortsnamen zeigen, hat es in Südwestfinnland eine baltische Bevölkerung gegeben. Ein solcher Ortsname ist u. a. Köyliö, der über Zwischenstufen ganz im Einklang mit der finnischen Lautgeschichte auf das baltische Neutrum *Keklija zurückgeführt werden kann, aus dem sich baltischerseits der aus der Geschichte wohl bekannte Name eines großen Kurengebietes Ceklis entwickelte (die Lautform entspricht phonetisch dem späteren Kurisch und auch dem Lettischen). Auch Kalanti könnte sehr wohl ein baltisches Toponym, das sich aus einem Ethnonym entwickelt hat, sein, nämlich < baltisch *Galandä oder *Galinda (finnisch -ti ist auf jeden Fall sekundär). Erstere, zwar seltene aber völlig glaubhafte Variante ist in der Form Galanda belegt (G erullis 1922, 35; T oporov E-H, 138). *Galinda ,die am Rande’ (: litauisch gälas ,Ende’) ist ein aus der Geschichte gut bekanntes baltisches Ethnonym, deren Träger einmal in Preußen, andererseits südwestlich von Moskau wohnten (ansatzweise bereits L iukkonen, Kongresas 1997,89). Träger dieses Ethnonyms haben auch auf finnischem Boden, und damit am äußersten Rand der baltischen Siedlung, siedeln können. Eine gute semantische Parallele hierzu stellt zum Beispiel der etymologisch durchsichtige Name Ukraina (worüber s. V asmer III 180) dar. Auf diese Fragen komme ich in einem späteren Zusammenhang zurück. Bei den Etymologien in diesem Buch handelt es sich zum größten Teil um neue Zusammenstellungen, es befinden sich aber auch einige Präzisierungen alter baltischer Etymologien darunter, die so beschaffen sind, dass auch sie als neu gelten können. Ich möchte daraufhinweisen, dass die vorliegende Auswahl nicht immer die „wichtig-

12

Einleitung

sten’’ Wörter abdeckt, denn ich habe vor, Gruppen von Wörtern mit bestimmten Bedeutungen und einige viel Raum beanspruchende Etymologien in einem anderen Zusammenhang zu veröffentlichen. Außerdem sind viele der „wichtigsten“ Etymo­ logien nicht immer ganz leicht darzulegen; sie verlangen oft jahrelanges, in einigen konkreten Fällen gar jahrzehntelanges Nachdenken, bevor die Eingebung sich einstellt und der notwendige Beweisapparat aufgestellt werden kann. Um ein konkretes Beispiel zu nennen: die Eingebung, die ich für die Entschlüsselung der Etymologie von finnisch ies ,Joch’ vor kurzem bekam, ließ 23 Jahre auf sich warten, wonach aber die Vollendung der Etymologie ein relativ einfaches Unterfangen war. Ich bin der Auffassung, die baltischen Lehnwörter im Finnischen stammen zu­ mindest in überwiegender Zahl nicht aus dem Litauischen, dem Lettischen oder dem Altpreußischen, aus Sprachformen also, die über Sprachdenkmäler verfügen, und auch nicht aus ihren direkten Vorformen. Mit Sicherheit kann festgestellt werden, dass der größte Teil der baltischen Lehnwörter im Finnischen nicht aus dem sog. Urbaltischen stammen kann (s, z. B. S tang 1966, 2). Meiner Meinung nach hat es ein einheitliches Urbaltisch nie gegeben (vgl. ibid., 12), sodass dieser Terminus vermieden werden sollte. An mehreren Stellen hat Eino Nieminen seine Auffassung überzeugend dargelegt, die hauptsächliche Quellensprache der baltischen Lehnwörter im Finnischen sei eine von den oben genannten Sprachen verschiedene altbaltische Sprachform — von ihm Altkurisch genannt — gewesen. Nach heutiger Auffassung war das Kurische, von dem keine Texte überliefert sind und das zu geschichtlicher Zeit im ostbaltischen Lettisch und zum Teil auch im žemaitischen Dialekt des ebenfalls ostbaltischen Litauisch aufgegangen ist, ursprünglich ein nördliches West­ baltisch (M ažiulis, Iž lietuvių etnogenezės 6 , ders., Lietuvių etnogenezė 84), mit anderen Worten eng mit dem westbaltischen Altpreußisch verwandt. Iluč -S vityč (KSIS X L I18-25) verwendet für die Quellensprache der Lehnwörter im Finnischen den Terminus Nordbaltisch. Ganz unabhängig davon, welche Sprache oder Sprachen bzw. Dialekte nun die direkte Quelle der baltischen Lehnwörter im Finnischen bilden, werden die Äquiva­ lente dieser Lehnwörter in der Praxis meist jedoch im archaischen Litauisch an­ getroffen, und mit Belegen aus dem Litauischen muss im Allgemeinen auch operiert werden. Anhand des Litauischen und Lettischen — zweier äußerst eng miteinander verwandter Sprachen, in historischer Perspektive fast identischer ostbaltischer Spra­ chen — wird oft die gesamte baltische Sprachgruppe charakterisiert, was meiner Meinung nach höchst irreführend ist. Die dritte überlieferte Sprache, das Altpreußi­ sche, weicht so stark vom Litauischen und Lettischen ab, dass die Rekonstruktion einer gemeinsamen baltischen Sprachform überhaupt gar nicht möglich ist. Zudem ist es gut möglich, dass die nicht überlieferten baltischen Sprachen, die auf einem sehr ausgedehnten Gebiet (im Osten bis nach Moskau, nach den neuesten Unter­ suchungen von Hydronymen sogar bis nach Nižnij Novgorod, im Süden nahezu bis nach Kiev und im Westen fast bis nach Warschau) gesprochen wurden und über deren Beschaffenheit wir nichts wissen, noch stärker divergierten als die bekannten baltischen Sprachen ( Z i n k e v i č i u s LKI I 237). Es scheint allerdings, die in letzter

Einleitung

13

Zeit bis nach Nižnij Novgorod im Gebiet der Oka gefundenen Hydronyme bekämen durch das ostbaltische Litauisch eine gute Erklärung (O tkupščikov, Kongresas 1997, 105-107). Ich schließe mich den Forschem an, nach denen das TJrslavische relativ jungen Datums ist, als peripherer Dialekt auf baltischer Basis entstand und am ehesten mit dem Altpreußischen und aufgrund bestimmter Kriterien (soweit sie bekannt sind) auch mit dem Altkurischen verwandt ist. Somit haben alte autochthone Wörter in den slavischen Sprachen, die also genetisch eigentlich baltisches Erbe darstellen, in gewissen Fällen auch bezüglich der baltischen Lehnwörter im Finnischen Beweiskraft. Da es sich beim Slavischen um ehemaliges Baltisch handelt, verwende ich in dieser Arbeit in bestimmten Fällen die Termini Baltisch und Balto-Slavisch praktisch synonym. Will man von „Urbaltisch“ sprechen, muss es meiner Auffassung nach als ein Kontinuum balto-slavischer Dialekte, das keineswegs einheitlich war, gesehen werden. So bin ich auch unbedingt der Meinung, dass es im Ostseefinnischen keine urslavischen Lehnwörter gibt. Leider nehmen einige Forscher, die weder Slavisten noch Baltologen sind (T iit-R ein V iitso und nach ihm auch J orma K oivulehto), in letzter Zeit wieder solche Lehnwörter an. Koivulehtos Auffassung zufolge hätten die ostseefinnisch-urslavischen Kontakte vor Beginn unserer Zeitrechnung statt­ gefunden (s. Itämerensuomalaiset kielikontaktit 153). Gehen wir in der Geschichte des Urslavischen so weit zurück, so können wir zumindest in lautlicher Hinsicht von einer baltischen Sprachform ausgehen (vgl. G oląb 1992, 164), und entsprechend wären aus dieser Sprache ins Urfinnische entlehnte Wörter, angenommen es gäbe sie, lautlich als baltische Lehnwörter anzusehen. Die wesentlichen Lautwandel, die die slavischen von den baltischen Sprachen scheiden, gingen nach allgemeiner Auffassung erst nach dem 4. Jahrhundert n. Chr. vor sich (zunächst die 1. Palatalisation und dann in schneller Folge u. a. die Monophthongierung der Diphthonge und die 2. Palatalisation). Eine Entlehnung aus dem Urslavischen wäre auch geographisch äußerst unwahrscheinlich, da die Sprecher des Urslavischen zu Beginn unserer Zeitrechnung und auch davor in einem relativ kleinen Gebiet, offenbar in Wolhynien, in der heutigen West-Ukraine und in Ost-Polen (G oląb 1992, 176-177, 236-239, 300, 310) — und damit weit weg von den Siedlungsgebieten der Ostseefinnen — gewohnt haben. Vergleichen wir hiermit, was der berühmte finnische Slāvist Valentin Kiparsky in seinem Vortrag „Gibt es ein finnougrisches Substrat im Slavischen?“ dazu meint: „Die slavische Urheimat befand sich dagegen ungefähr zwischen Kiev und Krakau, im Süden von den Karpaten, im Norden von den damals viel umfang­ reicheren Rokytno-Sümpfen begrenzt. Erst ca. 500 n. Chr. begannen die Slaven zunächst nach Süden und Westen, dann nach Norden, wo sie ca. 600 n. Chr. die grossen Seen Ilmen und Ladoga erreichten, und schliesslich auch nach Osten vorzu­ dringen’’ (K iparsky, STAEsit. 1968,138, K iparsky 1969,5). Vordem letztgenannten Zeitpunkt sind meiner Ansicht nach sprachliche Kontakte zwischen Slaven und Ostseefinnen nicht denkbar. Zwischen Urslaven und Ostseefinnen befand sich ein Keil von Stämmen, die später als eigentliche Balten identifiziert werden können.

14

Einleitung

Meine Arbeit unterscheidet sich von vielen früheren „Lehnwortuntersuchungen“, in denen seitenweise für die Etymologie sekundäres finnisches Dialektmaterial aufgeführt wird und dann in ein paar Zeilen die (meist falsche) Lehnetymologie erwähnt wird. Bei jedem behandelten Wort bemühe ich mich, den relevanten balti­ schen Fakten, deren unzureichende Behandlung die Schwäche der meisten bisherigen Etymologien ist, umfassende Aufmerksamkeit zu widmen. Besonders gilt dies für die diachronische Beachtung der Wortbildungsverhältnisse im Litauischen, denn anhand derer kann fast immer ein genaues Original für die Entlehnung dingfest gemacht werden. Das Lettische hat lange nicht so großen Nutzen, u. a. da hier die -«-Stämme der Adjektive und andererseits das Neutrum ganz geschwunden sind. Außerdem sind im Lettischen (mit Ausnahme des in der Praxis sehr seltenen u) in den Endsilben die kurzen Vokale apokopiert und es haben sich zahlreiche starke Lautwandel abgespielt. Von der Wortbildung des Altpreußischen kann auch kein Gebrauch gemacht werden, da sie viel zu mangelhaft bekannt ist; ist doch allein schon die Menge der bekannten altpreußischen Wörter sehr beschränkt und zudem philologisch meist sehr mehrdeutig. Mit einem Wort, möglichst gute Kenntnisse des Litauischen sind der Schlüssel für neue etymologische Zusammenstellungen. Für jemanden, der sich der Sache widmen will und die Zeit aufbringt, sich mit den Dingen vertraut zu machen, gibt es auf diesem Feld noch Arbeit genug.

Etymologien 1. ahingas Für ahingas , Fischspeer’ und seine Äquivalente im Estnischen und Livischen (SSA 152) gibt es eine baltische Etymologie. Nach Itkonen 1993,169 ist dieses Dialektwort in West-Uusimaa ein Ergebnis estnischer Kontakte. Das Wort wird hergeleitet aus einer baltischen Form, die durch lit. a k stin a s ,Stachel, Ochsenstecken, Federstachel’ (F raenkel I 5) vertreten wird, s. T homsen IV 267-268 = T homsen 1890, 157, K alima 1936, 86-87 und (skeptisch) SKĘS 1 5. Die Variante ahrinka(s) (SKĘS 1 5) beruht zweifellos (SSA 1 52 „vielleicht“; es wird die Form ahringas aufgeführt) auf Kontamination mit ahrain ,Fischspeer’, das als ein altes urrussisches Lehnwort angesehen wird (P löger 1973, 45). S. zu diesem Wort aber noch unten den Artikel ohut.

Die beschriebene Lehnetymologie stößt auf phonetische Schwierigkeiten, die auch von denen, die die Gleichung aufstellen, gesehen werden. M. A. n. sind die Schwierigkeiten unüberwindbar, u. a. da die Wortausgänge nicht miteinander überein­ stimmen. K alima, ibid. versucht die Entsprechung finn. -h- : balt. -kts- zu retten, doch mit unhaltbaren Argumenten. Das von Kalima als Parallele herangezogene baltische Lehnwort finn. tuhat »tausend’ setzt balt. *tūšamtis, nicht *tūkstantis voraus, s. N ieminen, SbFAW 1956, 189-190. Somit ist die Etymologie m. E. zu verwerfen. Nebenbei sei bemerkt, dass lit. tūkstantis »tausend’ und lett. tükstuotis id., die bei der Behandlung der Herkunft von finn. tuhat regelmäßig erwähnt werden, in diesem Zusammenhang eigentlich aufgegeben werden sollten. Es kann sich bei ihnen m. A. n. keinesfalls um „Varianten“ des baltischen Originals *tūšamtis handeln, sondern es sind wortbildungsmäßig ganz andere Wörter. Gemeinsam haben sie alle nur die Wurzel *tü- ,schwellen’ (vgl. P okorny 1 1080, 1083). Trotz alledem kann es sich bei ahingas um ein baltisches Lehnwort handeln. Phonetisch würde die baltische Form *asingas am besten als Ausgangspunkt für das finnische Wort passen (die Bedeutung wäre ,mit einer Achse ausgerüstet’. Ausgegan­ gen werden muss m. A. n. von dem baltischen Grundwort *asnis, vgl. lit. asnis, ašnis »längere, hervorstehende Haare eines Pelztieres, Roggenschößlinge, Schneide, Schärfe des Sense’ (F raenkel I 18), lett. asns »der hervorbrechende Keim’ (ME I 144), zu deren Etymologie s. T rautmann 1923,15, ME, ibid., S kardžius 1943,220221, F raenkel, ibid. LKŽ1 329 erwähnt das von dem betreffenden litauischen Wort mit dem produktiven Suffix -ingas abgeleitete Adjektiv asningas »spygliuotas’ (»stechend, mit stechenden Nadeln versehen’), dessen alte (offensichtlich ursprüngli­ chere) phonetische Variante *ašningas m. E. als Original für das finnische Wort

16

Etymologien

passt. Das erste n des Wortes wäre dann schon bei der Entlehnung oder erst später durch Dissimilation geschwunden. Die ursprüngliche Bedeutung von ahingas wäre mithin ,mit scharfen Spitzen versehen’ gewesen. Das baltische Wort ist eine der vielen Ableitungen aus der indoeuropäischen Wurzel *ak-, die , scharf’ bedeutet (P okorny I 20); vgl. noch T rautmann 1923, 15, ME I 144. S. das als nächstes zu behandelnde Wort ahven ,Barsch’. Als semantische Parallele sei noch an ein slavisches Wort, das zur selben Wortsippe gehört und im Russischen (o st') ,Spitze, Granne (an Ähren), langes Haar im Pelzwerk’ und im Polnischen (osc) u. a .,Fischspeer’ bedeutet, erinnert (P okorny 122, M oszynski I 81-83, V asmer II 288).

2. ahven Finn. ahven ,Pereä fluviatilis, Barsch’, das in allen ostseefinnischen Sprachen und möglicherweise auch im Lappischen Äquivalente hat (so z. B. SKĘS 1 7, SSA I 56, Itkonen, FUF LIV 243), ist etymologisch noch nicht zufrieden stellend erklärt. V ilkuna 1956,20 stellt die Hypothese auf, das Wort habe ursprünglich im Frühlings­ wind (finn. ahava, ahvä) getrockneten Fisch bedeutet. A riste 1981, 16 meint, es handle sich um ein Substratwort, doch dafür gibt es keine Beweise. Die Substratwörter Aristes haben sich eines nach dem anderen als baltische Entlehnungen entpuppt. (Recht viele werden von mir bereits in dieser Arbeit behandelt und mehr werden folgen.) Der Barsch ist ein Fisch mit stacheligen Flossen („mit scharfen Stacheln ver­ sehen“), und es scheint wahrscheinlich, dass das Wort entlehnt ist und mit der baltischen Wortsippe in Verbindung gebracht werden kann, die im Litauischen durch ašmuo, (gewöhnlich PI.) ašmenys ,Schärfe, Schneide’ (FraenkelI 19) vertreten ist. Dialektal begegnet auch der Plural ašm enaī (Lazūnų žodynas 25). Zur Etymologie s. F raenkel, ibid., O trębski II 140, 176, 263, 274). Das Wort wurde aus der baltischen Grundform *ašmēn in der Gestalt *ašmen ins Frühurfinnische entlehnt. Es ist allerdings sehr gut möglich, dass das Wort aus einer Form entlehnt wurde, die leicht von der baltischen Grundform abweicht, nämlich aus der Ableitung *ašmenā, das in dem litauischen Toponym Ašmena weiterlebt. Diese heute in Weißrussland liegende Stadt wurde nach dem gleichnamigen Fluss benannt (B alčikonis, LP VII 240). Die Ableitung *ašmenā bedeutete ursprünglich ,etwas, das scharf ist oder scharfe Teile hat’ (s. M ažiulis II272), was ausgezeichnet als semantische Motivation für die Etymologie von finn. ahven passt. In der Etymo­ logie von ašmuo geht man im Allgemein von dem uralten indoeuropäischen Klusilwechsel *k : */c aus, sodass es sich bei dem Wort ursprünglich um eine Variante von lit. akmuö ,Stein’ handelt (F raenkel I 5, 19, Z inkevičius LKII 120). Somit wären die litauischen Hydronyme Ašmena und Akmena (V anagas 1970, 59, 131, 145, V anagas 1981, 37, 50) das Resultat einer Namengebung aufgrund der heutigen oder damaligen Steinigkeit der betreffenden Flüsse (V anagas, LKK XXI65, Sabaliauskas

2. ahven

17

1994,24, T oporov, Balto-slavjanskie issledovanija 1988-1996 [1997], 302). Formal würde die finnische Dialektvariante ahvena (SMS 1 86) mit dieser Ableitung zusam­ menpassen, aber nach I tkonen 1993, 32 handelt es sich bei diesem Stammtyp um eine Neuerung. Zu baltischen Ableitungen auf -mena s. B ūga II 402, S kardžius 1943, 232-233, A rumaa, Donum Balticum 25-26, U rbutis, Donum Balticum 549550, A mbrazas 1993, 89, S kardžius IV 8 8 8 . Eine weitere mögliche baltische Aus­ gangsform wäre *ašmeria < *ašmenja, mit der lit. piemenys ,kuris piemeniškai elgiasi’ = jemand, der sich wie ein Hirtenjunge verhält’ (: piemuo ,Hirtenknabe’) < *piemenja verglichen werden kann (zu diesem Wort und seinem Wortbildungstyp s. Skardžius 1943,234—235). Da bei der Flexion des finnischen Wortes in den obliquen Kasus ein Stamm auf -e erscheint (Gen. Sg. ahvene-n), was im Rahmen des heutigen finnischen Flexionsystems an sich ganz normal ist, ist es auch möglich, dass es sich bei dem baltischen Original um eine Ableitung auf *-menē gehandelt hat, nämlich *ašmenē (: lit. ašmuo) wie lit. semenė ,die Saat, Saatzeit’ (K urschat III 2148) : semuö ,der Same, die Saat’ (ibid. 2149). Zu diesem Ableitungstyp s. S kardžius 1943, 237, O trębski II 180-181. M. E. ist finn. ahven statt *ahmen sekundär. Den unterschiedlichen Konsonantis­ mus kann man mit dem Wechsel m : v in den ostseefinnischen Sprachen erklären, der in diesem Fall zur Verallgemeinerung der Variante mit v geführt hat, vgl. z. B. käämi : käävi ,Weberspule’ (in diesem Fall ist die Variante mit v etymologisch primär; es handelt sich um ein sehr altes russisches Lehnwort aus dem Dialekt (im weiten Sinne) von Novgorod), liemen : Heven ,Lammwolle, Woll-, Kindeshaar’, usma : usva ,Nebel, Dunst’. (Zum Wandel m > v in der finnischen Lautgeschichte s. H akulinen 1979,392, zum sporadischen Wandel v> m im Finnischen und Estnischen UEW 1 336 und zum Wechsel m : v im Allgemeinen O jansuu, Virittäjä 1909, 25-29, P aasonen 1917, 5-8, SKĘS VI 1794-1795.) Es sei erwähnt, dass im Estnischen neben hochsprachlich ahven dialektal auch u. a. ahmen begegnet (Väike murdesönastik I 22). Andererseits könnte man in dem Wort vielleicht auch den Einfluss von germ. *ahvö , Wasser’ sehen. Hat meine hier vorgelegte Etymologie von ahven Bestand, dann kann lapp, vuosko ,Barsch’ nicht hierher gehören. L ehtiranta 1989, 156 stellt für das Wort die mittelurlappische Rekonstruktion *vösjjön auf. Die Entsprechung lapp, -rj-: osfinn. -v-/-m- erscheint problematisch, denn meines Wissens gibt es hierfür sichere Beispiele nur in intervokalischer Stellung in bestimmten Wörtern finnisch-ugrischer Provenienz, s. C ollinder 1960, 126-129, C ollinder 1965, 89. In den lappischen Sprachen scheint im Übrigen im Wortinnem -sk- zu stehen und nur im Terlappischen -zv- (L ehtiranta 1989, 156-157, SSA I 56). Zu beachten ist schließlich auch, dass C ollinder 1960, 263, C ollinder 1965, 108 aufgrund von lappS. vuoskonj ein mögliches ural. h am Wortausgang postuliert. Sollte es sich so verhalten, erscheint die Zusammengehörigkeit von ahven — m. A. n. eben ein baltisches Lehnwort — und dem lappischen Wort problematisch. Vgl. weiter A usterlitz, Läänemeresoomlastest neenetsiteni 10. Die baltische Wortsippe gehört zu den Ableitungen der Wurzel *aš- (indoeur. *alc-) ,scharf’. Zur selben Wortsippe gehören auch die baltischen Lehnwörter finn.

18

Etymologien

ohdake ,Distel’ und ohra ,Gerste’ sowie die in dieser Arbeit neu aufgestellten Etymologien für die Wörter ahingas ,Fischspeer’ und ohut ,dünn’ (in Verbindung mit Letzterem auch über a h ra in ,Fischspeer’, einem möglichen baltischen Lehnwort

von demselben Stamm). Von der indoeuropäischen Wurzel *a£- / *oJc- (s. P okorny 1 18-22) sind verschiede­ ne Bezeichnungen für,Barsch’ abgeleitet. Darunter im baltischen Bereich lit. ešerys, dial. ašerys »Barsch’ (s. F raenkel 1 125, P okorny 1 20, S pecht 1947, 31, O trębski I 215,216) und lettisch asaris id. (ME 1 143). Vgl. außerdem B ūga n 295, T rautmann 1923, 14, S kardžius 1943, 305. In diesen Zusammenhang gehören weiterhin mittelhochdt. ag und altschw. aghborre id. (P okorny 118, H ellquist 1 1, Stang 1971,1314). Es ist zudem eine Etymologie aufgestellt worden, nach der die slavische Bezeichnung des Barsches (russ. ökuh usw.) ebenfalls aus dieser Wurzel abgeleitet sei (V asmer II262 = F asmer III132). Dies setzte allerdings einen indoeuropäischen Wechsel k : Jevoraus, aber dafür gibt es ja auch andere Beispiele. Über die Parallelität von * a k -: *aJc- s. F raenkel 1 5. Interessante und m. E. in die richtige Richtung gehende Erörterungen über die mögliche baltische Herkunft von ahven finden sich bereits bei T homsen 1890,147 = T homsen IV 251.

3. aika Das von seiner Frequenz her häufigste Substantiv im Finnischen ist aika ,Zeit‘ (H äkkinen 1987, XXVII). Es hat in allen ostseefinnischen Sprachen Äquivalente (SSA I 57). Die für das Wort aufgestellte germanische Lehnetymologie (got. aiws ,Zeit’ usw.) ist, wie SKĘS I 8 richtig feststellt, phonetisch unmöglich. K oivulehto 1991, 11 hält immer noch an dieser Etymologie fest, und zwar unter der Annahme eines sporadischen Wandels -w- (-v -)> -k- im Ostseefinnischen, was völlig unglaub­ haft ist. SSA, ibid. macht keine sichere Aussage. Das Wort kann m. E. mit guten Gründen als baltisches Lehnwort ausgewiesen werden. Im Litauischen gibt es das allgemein verbreitete Substantiv eigä, das die Bedeutung ,Gang, Verlauf’ trägt (S enn-S alys I 148). Es ist ein uraltes, von dem Verb eiti »gehen’ abgeleitetes Verbalnomen (F raenkel I 119). Als Suffix steht hier das heute völlig unproduktive balt. -gā, das aber in einer Reihe von Wörtern mit Sicherheit nachgewiesen werden kann, s. L eskien 1891, 523, S kardžius 1943, 102, O trębski II296-297, E ndzelīns IV:2,490, A mbrazas 1993, 84. Das Original von aika ist balt. dial. *eiga, das auf die „urbaltische“ Gestalt *eigā zurückgeht. Das Suffix -5 der femininen Substantive ist in der hauptsächlichen Quellensprache der finnischen Baltismen in bestimmten Fällen gekürzt worden (N ieminen, SbFAW 1956, 187-188, Illič-S vityč KSIS 41, 18-21). Es scheint mir, dass der Vokal im Wortauslaut balt. *-a < *-ä ist, wenn die Wurzelsilbe „schweren“ Vokalismus (langen Vokal oder Diphthong) hat, und bei „leichtem“ Vokalismus (kurzer Vokal in der Wurzelsilbe) der Wortausgang auf balt. dial. *-ö < *-ä lautet.

3. aika

19

Natürlich hätte ja in diesem Fall die urbaltische Ausgangsgestalt letztendlich zu demselben Resultat geführt, da das Urfinnische keine langen Vokale in nichterster Silbe kannte. Unabhängig von der Kürzung des Vokals am Wortausgang gebe ich in diesem Buch zumeist die ungekürzte „urbaltische“ Form an. Was den Diphthong finn. ai statt balt. ei betrifft, habe ich mich zu diesem Thema bereits früher geäußert (L iukkonen, Virittäjä 1973,17-25). Es handelt sich hier um genau dasselbe Phänomen wie in dem baltischen Lehnwort finn. taivas ,Himmel’. In beiden Fällen zeigen alle ostseefinnischen Sprachen den Diphthong ai, während das baltische Original den Diphthong ei voraussetzt ( *deivas, *eiga). Bedenkt man allerdings die Tatsache, dass initiales a- und e- in den baltischen Sprachen einem dialektalen Wechsel unterliegen, so existiert andererseits die sehr kleine Möglichkeit, dass finn. aika balt. dial. *aiga widerspiegelt. In den litauischen Dialekten begegnet nämlich atgis ,Gang’ anstatt ei- (B ūga III 326). Dann könnte man das litauische mit at- präfigierte ataigä = ateigä mit diesem Fall vergleichen (K urschat I 158). Nach S kardžius 1943, 102 geht lit. ataiga allerdings auf ält. *ata-eiga zurück, wobei es sich also um eine Kontraktionsform handeln würde, was bei diesem Wort auch die glaubhafteste Erklärung ist. Lapp, ai'ge ,Zeit’ ist höchstwahrscheinlich aus dem Finnischen entlehnt (SKĘS I 8 , L ehtiranta 1989,12). Die semantische Seite der Entlehnung erhellt leicht aus dem Verwendungskontext des litauischen Wortes; als Beispiel diene der Buchtitel ,»Lietuvių ir rusų tautų santykiai istorinio vystymosi eigoje“ (J. Ž iugžda, Kaunas 1964) ,Das Verhältnis zwischen Litauern und Russen im Verlauf der Geschichte od. im Laufe der geschicht­ lichen Entwicklung’ (eigoje ist Lokativ Singular). Vgl. auch kasdieninio bendravimo eigoje »während des alltäglichen Umgangs’ (K araliūnas 1997, 160). Für die hier aufgestellte Etymologie eignet sich dieses Beispiel gut, obwohl es sich hier nach Meinung der litauischen Stilisten nicht um besonders gutes Litauisch handelt. In ähnlichen Kontexten wird der Ersatz des Lokativs eigoje ,im Verlauf’ durch die stilistisch der Sprache angemessenere Instrumentalform metu empfohlen (V ainaus­ kienė, GK 1998:7, 21), die eben die Bedeutung ,während’ (von metas ,Zeit‘) hat. Eine ganz ähnliche Wortverbindung ist istdrinių įvykių eiga (J. P uzinas; zitiert nach Senn II 149) ,der Lauf der geschichtlichen Ereignisse’. Interessanterweise wird in dem neuesten Handbuch über den Gebrauch der litauischen Kasus (Š ukys 1998, 299) der Lokativ eigoje in Kontexten der erwähnten Art nicht als irgendwie stilistisch schlecht angesehen. Viele Zeittermini sind in den indoeuropäischen Sprachen von einem Verb, das ,laufen, gehen’ bedeutet, gebildet. So ist u. a. lat. annus ,Jahr’ vom indoeuropäi­ schen Verb *at-,gehen’ abgeleitet (P okorny 169). Das lateinische Wort hat Entspre­ chungen mit derselben Bedeutung im Oskisch-Umbrischen und im Gotischen (ibid.). Ebenso ist z. B. dt. Jahr vom indoeuropäischen Verb *jē- »gehen’ abgeleitet (P okorny 1 297, vgl. aber K luge-S eebold 338). K ettunen, Virittäjä 1934,223 schlägt mit Vorbehalt vor, finn. aika ,Zeit’ möglicher­ weise mit liv. aiga ,Maß’ zusammenzustellen. Die Bedeutungsentwicklung hätte in diesem Fall den Lauf ,Maß, Menge’ -*• »Zeitmenge, Periode’ »Zeit’ genommen. v

20

Etymologien

S köld 1961, 122-123 und H akulinen 1979, 345 sind der Meinung, Kettunen habe hiermit für aika eine gute sprachinteme Etymologie gefunden. H äkkinen 1987, 3

dagegen meint, die Verbreitung des Wortes weise auf Entlehnung hin. Wenn es sich, wie von mir vorgeschlagen, um eine baltische Entlehnung handelt und das livische Wort hierher gehört, müsste es wohl möglich sein, für das livische Wort eine entgegengesetzte semantische Entwicklung ,Zeit’ - » ,Frist’ - » ,Maß, Menge’ anzu­ nehmen. Dafür, dass die Äquivalente von finn. aika in einigen ostseefinnischen Sprachen (Wepsisch, Estnisch dialektal, Livisch, s. SKĘS I 8 ) auch die Bedeutung , Wetter’ tragen, gibt es in einer Reihe indoeuropäischer Sprachen semantische Parallelen (B uck 70-71, K arulis 1489—490, K araliūnas, Baltistica XXVIII: 1, 6263), z. B. im Albanischen: hohe (Schreibung aktualisiert; KL) ,Zeit, Wetter’ (M eyer 194), vgl. auch mot ,Jahr, Wetter’ (ibid. 263). Auch lett. laiks ,Zeit’ trägt seit dem 17. Jahrhundert zusätzlich die Bedeutung ,Wetter’ (K arulis I 489, II 630). Es ist nicht leicht, über die mögliche gegenseitige semantische Beeinflussung zwischen dem lettischen Wort und den ostseefinnischen Wörtern und die Richtung des Einflus­ ses eine definitive Aussage zu machen. Diese Herleitung von finn. aika habe ich bereits 1993 andernorts kurz erwähnt (L iukkonen, Studia Slavica Finlandensia X 60).

4. a ita Finn. aita ,Zaun‘, das mit Ausnahme des Livischen in allen ostseefinnischen Sprachen Äquivalente hat (SKĘS I 10, SSA I 60), ist m. E. ein baltisches Lehnwort, das mif eben dem litauischen Verb eiti ,gehen’ in Verbindung gebracht werden kann, mit dem oben auch finn. aika ,Zeit’ verbunden wurde. Im Falle aita kann nicht mit Sicherheit entschieden werden, ob das baltische Original den Vökalismus a i oder ei hatte. Als baltische Ausgangsform kommt entweder die feminine — auf urbalt. *aitä / *eitä zurückgehende — gekürzte Form *aita / *eita (über die Gründe der Kürzung s. oben den Artikel aika) oder aber das Neutrum *aita / *eita infrage. Lapp. ai'de ,Zaun’ ist aus dem Finnischen entlehnt (SKĘS 1 10, K orhonen 1981,91,104). Im Litauischen gibt es das in diesen Zusammenhang gehörende maskuline Substan­ tiv äitas ,der Herumtreiber, Landstreicher, Vagabund’ = kas vis eina ir eina (,der immer nur geht und geht’) (K urschat 1 16); anders F raenkel 14. Auch die ursprüng­ liche Bedeutung von aita ist ,der (an etwas entlang, in eine bestimmte Richtung) geht’. Im Litauischen existiert die von demselben Verb e iti ,gehen’ gebildete Ableitung eilė ,Reihe’ (F raenkel I 119). LKŽ II 1061 gibt den Beispielsatz sode yra obelių eilė ,im Garten steht eine Reihe Apfelbäume’. Eine ,Reihe Büsche’ würde praktisch ,Hecke’ bedeuten. Die lettische Entsprechung zu lit. eilė, nämlich iela, bedeutet u. a. ,Straße’ (ME II 35). Auch hier war die Anfangsbedeutung ,der (irgendwo, in irgendeine Richtung) geht’. Zur baltischen Rekonstruktion *aita s. E ndzelin 1923, 678, E ndzelins 1951, 877, T oporov A-D, 67, 196, Schmalstieg 1976, 252-253, M ažiulis I 58-59, H inze, LgB IV 187-188. Zum baltischen Suffix -ta s. S kardžius

5 . angervo

21

1943, 320-322, B ūga 1216, M ažiulis I 130. Auch in einigen anderen indoeuropäi­ schen Sprachen begegnet die entsprechende Ableitung *oito-, wozu s. P okorny I 294—295, W alde-H ofmann II 848, K rähe 1954, 134—135.

5. a n g ervo Der Pflanzenname angervo , Mädesüß, Spierstrauch, Filipendula od. Spiraea’ hat bisher keine Etymologie. In den finnischen Dialekten gibt es zahlreiche Varianten, darunter so abgelegene wie ängelmä (SSA I 75). Aus dem Jahre 1765 ist die Variante angerva (ibid.) belegt, die m. E. als die ursprünglichste anzusehen ist und die SKĘS 1 18 als Lemma des entsprechenden Artikels auswirft. Die Entdeckung der offensichtlichen baltischen Herkunft des Wortes erschwerten auf der einen Seite lautliche Probleme, andererseits die Wortbildung. Die „genaueste“ litauische Entsprechung ist vangarykštė, deren gewöhnlichere Ablautvariante vingio­ rykštė ,Spier-, Rüsterstaude, Mädesüß (filipendula)’ lautet (S enn-S alys V 208, 324). F raenkel II 1223 hinwieder fasst alle Varianten unter der Ablautvariante vengrykštis als Lemma zusammen (ibid. auch zur Etymologie des Wortes). S. auch noch B ūga II 326, ME IV 635. Die Form vangarykštė enthält das unproduktive Suffix -ykštė, das allerdings auch in dem ganz gewöhnlichen vaivorykštė (allgemeiner mit der Betonung vaivorykštė) ,Regenbogen’ begegnet (LKŽ XVII 968, S kardžius 1943, 373, F raenkel II 1185). Das Wort vaivor-ykštė (S kardžius 1943, 404, F raenkel ibid.) ist etymologisch mit dem litauischen Pflanzennamen vaivör-as, vaivör-ai,Rauschbeere, Vaccinium uliginosum’ verwandt (B ūga II 323, S kardžius 1943, 373, 404, F raenkel II 1185), s. unten den Artikel vaivero ,Torfgränke‘. Das baltische Original des finnischen Wortes war mit einem anderen Suffix, dem heute zumindest in Pflanzennamen unproduktiven *-vä, gebildet: *vangar-vä. Mit demselben Suffix ist auch der seit alters her in der finnischen Lehnwortforschung bekannte litauische Pflanzenname viks-vä »Riedgras, Carex’ gebildet (S kardžius 1943, 378), s. vihvilä ,Binse’ (SKĘS VI 1740). Vgl. auch lit. garš-as ~ garš-va »Giersch, Aegopodium podagraria’ (LKZIII145, LBZ 9). Bei der Entlehnung ist auf der Empfangerseite eine Dissimilation vor sich gegangen — von zwei v ist das eine fallen gelassen worden: angerva. Auch steht hier e für ursprüngliches baltisches a vor r (ein baltischer dialektaler Zug). Dasselbe Phänomen ist seit langem in dem baltischen Lehnwort finn. meri ,Meer‘ bekannt; vgl. lit. märe, marės, maria, mariai, marios (LKŽ VII 848, 849, 858 (2 x), 862). S. auch meine neuen Etymologien für perna ,M ilz\ vaivero ,Torfgränke‘. V

V

22

Etymologien

6. aurinko Das Wort aurinko ,Sonne’ begegnet nur im Finnischen. Wie H äkkinen 1987, 18 feststellt, ist sein Ursprung vorerst ungeklärt (s. auch H äkkinen 1990,193-194). Die mit dem Wort zögernd zusammengestellten lappischen und votjakischen Wörter, die ,Hitze’ bzw. ,Flamme’ bedeuten (SKĘS I 29), liegen u. a. semantisch zu weit abseits. SSA I 90 erwähnt das votjakische Wort nicht mehr und gibt auch für die Zusammenstellung mit dem lappischen Wort lautliche Schwierigkeiten zu. Die Verbindung von aurinko und auer »(trockener) Dunst’ (ibid.) ist von der Wortbildung her unglaubhaft. R ėdei, UrLang 361 scheint weiterhin an der Verwandtschaft des finnischen und votjakischen Wortes festzuhalten. T homsen IV 273 = T homsen 1890,160 stellt unser Wort unter starken Vorbehalten mit einer baltischen Wortsippe indoeuropäischen Ursprungs zusammen (s. P okorny I 86-87, T rautmann 1923, 19, F raenkel I 27), die in lit. aušra ,das Frühlicht, der Morgenschein, das Licht des anbrechenden Tages, der Tagesanbruch kurz vor Sonnen­ aufgang; die Morgenröte’ (K urschat I 250), aušrinė ,der Morgenstern, die Venus’ (ibid., 251) und lett. äustra »Morgendämmerung, Morgenröte’ (ME I 229) weiter lebt. Diese Wörter passen jedoch aufgrund ihrer Lautgestalt nicht als Originale für finn. aurinko. M. A. n. zielt Thomsen dennoch in die richtige Richtung, obwohl K alima 1936, 12 die mögliche baltische Herkunft des Wortes völlig abweist. Es muss nur eine passendere Ableitung aus derselben Wortsippe gefunden werden. Schon im Zusammenhang mit ahingas »Fischspeer’ war die Rede von dem produkti­ ven Suffix -ingas, zu dem ausführlicher S kardžius 1943, 106-120. Das mit diesem Suffix aus aušra gebildete Adjektiv Sausringas ,mit Morgenröte’ wäre prinzipiell ein im Litauischen sehr gut mögliches Wort, obgleich es zumindest in der heutigen Sprache faktisch nicht gebraucht wird. Statt dessen ist das nahezu synonyme mit dem Suffix -otas gebildete aušrotas, von der Morgenröte, von der Moigendämmerung beleuchtet’ gebräuchlich (LKŽ1 513). Das Original von finn. aurinko war m. E. das neutrale Adjektiv *aušringa, das als solches in Form eines unpersönlichen Satzes benutzt wurde und die Bedeutung ,(es ist) Morgenröte, (es ist) die Zeit der Morgendämmerung, des Sonnenaufgangs’ hatte. Im Litauischen ist die neutrale Form der Adjektive noch in unpersönlichen Ausdrücken und in bestimmten Fällen als Prädikativ in Gebrauch, und so war es offenbar auch in der Quellensprache der finnischen Baltismen. Im Lettischen ist das Neutrum ganz und im Litauischen in der Substantivdeklination geschwunden. Dage­ gen kannte das Altpreußische das Neutrum als grammatisches Geschlecht, und im Lichte der baltischen Lehnwörter im Finnischen trifft dies auch für die Sprache, aus der entlehnt wurde, zu. Der Gebrauch der Suffixe -ingas und -otas variiert bei Konkreta. Dafür, dass im Litauischen die neutralen Formen auf -inga und -ota (abhängig vom Stammtyp auch -uotą, -eta, -yta) in Kontexten der erwähnten Art praktisch synonym sind, können zahlreiche Beispiele aufgeführt werden. Einerseits heißt es audringa ,(es ist) stür­ misch’ (T ekorienė 1990, 120) : audra ,Sturm’, lietinga ,(es ist) regnerisch’ (ibid.,

6. aurinko

23

121) : lietūs ,Regen‘. VgL lytingas ,regenreich, regnerisch, Regen-’ (K urschat II 1332), von dem in einem Wörterbuchmanuskript vom Ende des 17. Jahrhunderts die neutrale Form lytinga begegnet (Clavis EI 292 = 284, LKŽ VE 593). Andererseits heißt es mit fast synonymem Suffix debesuota ,(es ist) bewölkt’ (T ekorienė, ibid., 120 ): debesis ,Wolke’, m iglota ,(es ist) neblig’ (ibid., 121 ): miglä ,Nebel’, saulėta ,(es ist) sonnig’ (ibid.) : saulė ,Sonne’. Vgl. auch B ūga I 537. Dialektal sind saulingas und saulėtas (beide ,sonnig’) synonym (Druskininkų žodynas 318). Das Adjektiv audringas ,stürmisch’ definiert LKZ I 459 als ,su audromis, audrotas’. Mitunter sagt man sowohl akmenuotas als auch akmeningas laukas ,steiniges Feld’ (S alys I 420). Die Adjektivpaare audringas - audrotas und akmeningas akmenuotas sind untereinander praktisch synonym (S kardžius EI 174). Weiteres /um Verhältnis von -ingas und -otas s. noch besonders bei S kardžius 1943, 350 und aus normativer Sicht im heutigen Litauisch — was natürlich für die Beurteilung der hier aufgestellten Etymologie ohne Belang ist — auch noch J ablonskis RR I 381— 382, P iročkinas 1978, 229-230. Erwähnt werden muss im Übrigen, dass es im Litauischen auch ein seltenes Substantivsuffix -inga gibt (B ūga I 488, E ndzelIns IV: 1, 411, IV:2, 6 6 , S kardžius 1943,121, O trębski E 304, A mbrazas LKK XXXIX 152). Es handelt sich hier aber vielleicht doch um ein substantiviertes feminines Adjektiv, das mit eben dem erwähn­ ten Suffix -ingas abgeleitet ist (S kardžius, ibid.). In der alten finnischen Schriftsprache hat aurinko auch die Bedeutung Sonnen­ schein’ (VKS I 194). Das Beispiel auringon coitto wird m it,aurora’ paraphrasiert. Von »Morgendämmerung, Sonnenaufgang’ ist es semantisch kein langer Weg zu »Sonnenschein’. Diese Bedeutung ist im Lichte der hier aufgestellten Etymologie ursprünglicher als ,Sonne’. Auch heute noch bedeutet olla auringossa oft ,im Sonnenschein sein’ und durchaus nicht »sich auf der Sonne befinden’! Die baltische Form Sausringa würde eigentlich die finnische Form **auhrinka voraussetzen, aber im Verhältnis zu aurinko handelt es sich um einen so kleinen Wandel, dass die Zusammenstellung dadurch nicht infrage gestellt wird. Die Kombi­ nation -hr- begegnet zwar u. a. in einigen Lehnwörtern (ahrain »Fischspeer’, ihra »Fett, Schmalz’, kehrä ,Spinnwirtel; Ring’, ohra »Gerste’, uhri »Opfer’), niemals aber nach einem Diphthong (vgl. T homsen IV 273 = T homsen 1890,160). Wir haben es hier also mit einer Vereinfachung aus phonotaktischen Gründen zu tun. Was das finnische -o statt zu erwartendem -a im Wortausgang betrifft, so ist dies sekundär wie in einigen anderen baltischen Lehnwörtern auch. Offenbar hat hier eine Anglei­ chung an autochthone Wörter mit dem Ausgang -nko stattgefunden, worüber s. H akulinen 1979, 172. Die Frequenz der baltischen Ableitung Sausringas war so gering, dass sie nicht erhalten ist, obgleich ich ja zeigen konnte, dass sie im Litauischen theoretisch möglich ist (und in irgendeinem Dialekt mag sie auch begegnen, obzwar sie aufgrund ihrer Seltenheit von den Feldforschem nicht festgehalten werden konnte). Auf ostseefinnischer Seite hat sich das Wort nur im Finnischen erhalten, ist hier aber dadurch, dass es die Bedeutung eines wichtigen Himmelskörpers bekommen hat, zu

24

Etymologien

einem wichtigen Wort geworden. Bedenkt man den ursprünglichen Charakter des Wortes, so setzt die Entlehnung eines solchen Wortes völlige Zweisprachigkeit oder sogar einen weit vorangeschrittenen Grad sprachlicher Assimilation voraus, was m. E. im Zusammenhang mit den baltischen Lehnwörtern im Finnischen sowieso eine Selbstverständlichkeit ist. Im Grunde handelt es sich gar nicht um ein Lehnwort im eigentlichen Sinne, sondern um ein Erbe, das in gerader Linie auf die zwei­ sprachigen (Baltisch-Frühurfinnisch, teilweise auch -Mittelurfinnisch) Vorfahren der Finnen zurückgeht.

7. eh kä Finn. ehkä vielleicht’ ist nicht sicher etymologisiert (SSA I 100). In den Dialekten Ostfinnlands ist die wichtige Variante ehki belegt, für die es außer im Wepsischen und Livischen, in welchen Sprachen keine der beiden Varianten vorkommt, sichere Entsprechungen in den anderen ostseefinnischen Sprachen gibt. Estn. ehk kann nicht sicher analysiert werden, aber aus Gründen der Wahrscheinlichkeit (s. unten) handelt es sich auch hier um die Variante *ehki, die ich für die ursprünglichste halte. K oivulehto 1991, 72-75, JSFOu LXXXn 171-173, 187-188 stellt eine kühne „Laryngaletymologie“ auf, nach der das Original dieses Wortes die vorbaltische Form von lit. jėga , Kraft, Stärke’ sei. Diese wie auch alle anderen von Koivulehto vorgebrachten „Laryngaletymologien“ sind nicht glaubhaft. Für die Variante ehki hat Koivulehto keine Erklärung. Finn. ehkä, ehki ist m. A. n. ein altes baltisches Lehnwort, das im Altlitauischen durch Ugi verteten ist. In dieser Sprachform ist ižgi als die mit dem ursprünglich hervorhebenden Enklitikum -gi versehene Präposition iž (iš) ,aus, von’ analysierbar. Zur Etymologie s. E ndzelīns 1404, F raenkel 1 188. Zur Zeit der finnisch-baltischen Lehnkontakte war das Wort noch nicht als Präposition oder Präfix anzusehen, da es sich bei diesen um bedeutungsvariierende Partikel handelte, die mit den Kasusformen und besonders mit den Verben zunächst nur locker, später fester verbunden waren. Um eine solche Partikel handelt es sich auch bei dem baltischen Original von finn. etä- (s. den entsprechenden Artikel). Im Altlitauischen war ižg(i), išg(i) äußerst verbreitet, s. H ermann 1926,312-313, F raenkel 1929, 8 8 , LKŽ IV 184, 285, U rbas 154-155, D aukša Kat. 663-664, D aukša Post. I 275, Kruopas, LKK XII 100, 102, S irvydas 501, Pirmasis žodynas 736, J akulis 75. Auch heute kommt es noch in bestimmten peripheren und viele Archaismen verwendenden Dialekten vor (Lazūnų žodynas 95, Druskininkų žodynas 123.) Durch eine slavische Parallele wird der Bildung *izgi hohes Alter bezeugt. Im Altkirchenslavischen kommt das Adverb iždekoni ,von Anfang an’ vor, als dessen balto-slavische Ausgangsform ich *iž-ge-kaneis rekonstruiere. Auf slavischer Seite hat das Wort später alle die für diese Gruppe typischen Lautwandel durchgemacht. Eine Zwischenphase war *iz-dže-koni (oder genauer *iz-dže-kani), wo *-ge- >

8. ensi

25

*-dže- im Rahmen der ersten Palatalisation. Danach gab es sowohl eine Assimilation ( *iždžekoni) als auch eine Dissimilation ( iždekoni). Mit Ausnahme kleiner Details stellt bereits V aillant I 227, 11:2, 707 die Entwicklung in dieser Weise dar (vgl. noch A itzetmüller 1978, 149). Im Balto-Slavischen gab es also neben *H-gi auch *ii-ge. Die in diesen Wörtern auftretenden *-ge und *-gi waren bekanntermaßen sich sehr nahe stehende betonende Partikel. S. z. B. T rautmann 1923,73, F raenkel

1 126. Als Beispiel für ein Syntagma, aus dem finn. ehkä, ehki entlehnt wurde, könnte z. B. altlit. du Ugi mokytinių ,zwei von den Schülern’ (LKZ IV 285) genannt werden, das ganz leicht die neue Bedeutung vielleicht zwei Schüler’ bekommen konnte. Bei mokytinių handelt es sich um einen Genitiv Plural, der in diesem Fall von seiner syntaktischen Verwendung her historisch gesehen partitivisch ist. Im finnischen Wort entspricht e- balt. i-. Balt. i war ein offener Laut, sodass bei der Entlehnung neben i auch eine Substitution durch e möglich war (vgl. E ndzelIns IV: 2, 34). Vor r war die Artikulation besonders offen; ein altbekannter Fall ist das baltische Lehnwort hem e : lit. B m is, s. aber auch meine neuen Etymologien ero & erä, hermo und perho(nen). Auch finn. helle, Gen. helteen : lit. šiltis ist ein bereits bekannter sicherer Fall. Auch bei ehkä, ehki kommt somit eine Substitution bei der Entlehnung infrage. Andererseits besteht auch die Möglichkeit, dass der Wandel *i> *e- erst im Späturfinnischen sporadisch vor h eingetreten ist. Als spätere Parallele vgl. estn. liha > lehä, das in der alten estnischen Schriftsprache weit verbreitet war ( K e t t u n e n 1962, 128). Wie bereits erwähnt, halte ich die Variante ehki für ursprünglicher als ehkä. In der älteren Sprache bedeutet ehkä (wie auch seine Entsprechungen im Wötischen und Estnischen) auch ,obwohl’ (VKS I 277, L önnrot I 58, SKĘS I 34, H äkkinen 1987, 25-26, SSA 1 100). Es scheint, als hätten ehkä und vaikka ,obwohl’ in gegenseitiger Wechselwirkung gestanden. Ursprüngliches ehki wurde durch den Einfluss des synonymen vaikka zu ehkä (möglicherweise, aber nicht zwingend < *ehka). Letztere Variante ist nur im Finnischen sicher belegt (und auch vaikka ist ein rein finnisches Wort!); im Ingrischen ist ehkä mit allergrößter Wahrscheinlichkeit ein Lehnwort aus dem Finnischen (vgl. SSA I 100). Die dialektale Variante vaihka (SKĘS V 1590) von vaikka beruht hinwieder auf dem Einfluss von ehkä. Im Vorübergehen sei bemerkt, dass wahrscheinlich auch vaikka aus dem Baltischen entlehnt ist (< balt. *veik-), vgl. lit. veik ,fast, beinahe’ (S enn-S alys V 242), be-veik id. (ibid., 181). Hierauf komme ich in einem anderen Zusammenhang genauer zurück. V

____

8. en si Das Wort ensi ,erst; nächst’ hat in allen ostseefinnischen Sprachen Äquivalente (SSA I 105). Nach L ehtiranta 1989, 12-13 soll das Wort auch eine Entsprechung im Lappischen haben (vgl. W iklund, MSFOu LXVII 410). I kola, Sananjalka IV

Etymologien

26

33-34 und SSA, ibid. halten es für möglich, dass ensi aus dem Pronominalstamm eund -nie-, dem Suffix für die Bildung von Ordinalzahlen, gebildet wurde. Sollte ensi tatsächlich anhand dieses Suffixes nach den Derivationsregeln im alten finnischen Erbwortschatz abgeleitet sein, so bliebe verwunderlich und unbeantwortet, warum das Wort im Gegensatz zu den Ordnungszahlen (kolmantena vuonna ,im dritten Jahr’) indeklinabel ist (ensi viikolla ,nächste Woche’, ensi vuonna ,nächstes Jahr’). Im Altlitauischen begegnet ein Wort, dass sich sowohl lautlich als auch semantisch hervorragend als Original für ensi eignet. Es handelt sich um das alte feminine Partizip Aktiv Präsens enti des Verbs eiti »gehen, kommen’. Im Finnischen vertritt dieses Wort somit eine der zahlreichen Entlehnungen aus baltischen Partizipien. Wo bekannterweise auch kerta ,Mal, Schicht’ ein baltisches Lehnwort ist (T homsen IV 319-320 = T homsen 1890, 186, SKĘS I 185, UEW II 659; SSA I 348 erwähnt allerdings als Alternative auch ein von K oivulehto vorgebrachtes viel weniger glaubhaftes germanisches Original für die Entlehnung), ist es mehr als wahrscheinlich, dass ensi in der Wortverbindung ensi kerta entlehnt wurde, die ein baltisches Original *entī kerdā mit der Bedeutung »nächstes Mal’ voraussetzt. Im heutigen Litauisch lautet die entsprechende feminine Form des Partizips Präsens Aktiv einanti, eine relativ junge Form (Z inkevičius IG I I 145). Zur eindeutig archaischen altlitauischen Partizipform enti s. Z inkevičius LKI1220, II225-226, III 188, Z inkevičius IG I I 101,146-147, F raenkel 1947,28-29, O trębski III 251, S enn 1295, S tang 1942,205,208, Stang 1966,100, P alionis 1967,141-142, L anszweert 1984, 165, P alionis 1995,60, B irnbaum, LgB IV 19, S kardžius IV 604. Die alte Partizipform (atentis ) — versehen mit dem Präfix at- — wird im Altlitauischen angetroffen (S lavočinskis 1646, 436). Danach ist sie auch noch namentlich in den žemaitischen Dialekten belegt (F raenkel 1947,29). Oft begegnet sie bei D aukantas: atentis (Mask.), -i (Fern.) »būsimas, ateinantis’ = »zukünftig, kommend’ (D aukantas 1760, II821). In seinem Sprachgebrauch hat dieses Partizip auch die Bedeutung lit. ,kitas’ (D aukantas ViS, 466), was u. a. genau dasselbe bedeutet wie finn. ensi, vgl. im heutigen Litauischen kitą savaitę ,nächste Woche’, kitais m ētais , nächstes Jahr’ (L yberis 341). Dasselbe präfigierte Partizip begegnet auch bei anderen žemaitischen Schriftstellern (V alančius 1582) oder Schriftstellern, die von diesen Dialekten beeinflusst sind (V aižgantas V 494: ,ateisiantis, būsimas’, VI 440: , ateinantis, būsimas’). Noch im Jahre 1901 verwendete der letztgenannte Klassiker der litauischen Literatur den Ausdruck atenčiuose metuose ,nächstes Jahr’ (V aižgantas VI 172). Zu dem erwähnten präfigierten Partizip s. noch F raenkel I 119, Z inkevičius 1966, 347, 380, Z inkevičius IG II 147, Z inkevičius LKI II 227, IV 159, Z inkevičius 1996, 161. Das abstrakte Substantiv atentė , ateitis’ = , Zukunft’ (LKZ I 371) ist dagegen ein Neologismus D aukantas’ (S abaliauskas 1990, 289). Es muss betont werden, dass zur Zeit der baltisch-ostseefinnischen Kontakte die heutigen baltischen Präfixe noch nicht fest mit dem Verb verbunden waren, sondern sie waren eigene Wörter, die keinesfalls immer direkt vor dem Verb standen. Die Situation war also vergleichbar mit der im altindischen Vedischen oder im vorklassi­ schen Latein. Indirekt ist die frühere Eigenständigkeit der Präfixe auch im heutigen V

8. ensi

27

L i t a u is c h n o c h d a d u r c h sichtbar, dass das Reflexivzeichen -si- der reflexiven Verben z w i s c h e n V e r b u n d F*räfix steht, z. B. pa-slldyti ,(auf)wärmen; eine Zeitlang (tüchtig) w ä r m e n ’, r e f l e x i v p p t z - s i - s i l d y t i ,sich wärmen; fiir sich wärmen; an sich etwas wärmen’ ( S e n n - S a l y s LL 6 2 7 ) . A n derselben Stelle standen im Altlitauischen die damals noch g e b r ä u c h lic h e n e n k l i t i s c h e n Dativformen m i (1. Sg.), ti (2. Sg.) des Personalprono­ m e n s , z . B . p a - m i - r o d y k ,zeige mir’, das in der modernen Sprache parodyk man la u te n w ü r d e ( Z i n k e v i č i u s LKI ID 188), s. noch P alionis 1995, 56, 158. In einigen a lt e n S p r a c h d e n k m ä l e r n sind diese drei Elemente („Präfix“, enklitischer Dativ und d a s V e r b s e l b s t ) s o g a r noch getrennt in drei Wörtern geschrieben (s. R osinās 1995, IO ). D i e F o r m e n d e s Pronomens jis, die im Altlitauischen die bestimmten Partizip­ f o r m e n k e n n z e i c h n e t e n , standen ebenfalls zwischen Präfix und Partizip, z. B. wisi s n g i e s p a u s t i ( P e t k e v i č i u s 1598, 65) ,alle Bedrückten’ (= visi su-jie-spausti = im h e u t ig e n L i t a u i s c h v i s i su-spaustie-ji ). Zu solchen Partizipfällen im Altlitauischen s. F r a e n e c e l 194-7, 1 5 , F raenkel 1 9 5 0 , 82-83, S enn 1 169, E ndzeuns 13 284, Z inkevičius 1 9 5 7 , 7 —9 , Z e n j c e v t c i x j s 1966, 277, Z inkevičius IG II 31, Z inkevičius LKI II 198, III 1 8 7 , P a l io n i s 1 9 6 7 , 1 2 6 , P alionis 1979, 49, R osinās 1988, 165, O tręnski III 1201 2 1 , 3 5 6 , I v a n o v 1 9 6 5 , 2 3 7 -2 3 8 , S tang 1966,270, K urylowicz, StB X 115. Erwähnt s e i, d a s s n o c h i m h e u tig e n Litauisch das Präfix dialektal in bestimmten Fällen ein e i g e n s t ä n d ig e s W o r t sein kann, u. a. in der Antwort auf eine Frage: A r padirbai? — P a . , H a s t du g e a r b e i t e t ? Ja. Ich habe.’; A r nünesei? — Nü. ,Hast du hingetragen? Ja, ic h h a b e .* ( G r i n a v e c k i s 1991,263). Weitere Beispiele für dieses interessante Phäno­ m e n b r in g e n S e n n I 3 0 5 -3 0 6 , V itkauskas 34, 228, 241, 280, 356, 416. Aus dem O b ig e n k a n n g e s c h l o s s e n werden, dass die endgültige Fixierung des Präfixes ans V e r b i m a u c h b e u t e n o ch sehr archaischen Litauisch in historischer Perspektive eine r e la tiv n eu e T a t s a c h e ist. Auch in lettischen Volksliedern sind Fälle erhalten, in d e n e n d a s P r ä f i x , g e t r e n n t vom Verb steht (E ndzelīns 111:2, 79). F ü r d a s h e u t i g e baltische Verbalsystem sind Präfixe sehr typisch. Es scheint, es g i b t im F i n n i s c h e n a u c h eine recht beachtliche Menge aus dem Baltischen entlehnter V e r b e n , d ie b i s h e r aber so gut wie unbeachtet geblieben sind (darüber in einem a n d e r e n Z u s a m m e n h a n g ) . In keiner einzigen mir bekannten Entlehnung ist jedoch e i n P r ä fix e n t h a l t e n . Eine Ausnahme scheint ativo ,Gast u. Ä .’ (vgl. üt. at-eiva , A n k ö m m li n g , F r e m d l i n g ’, eine Ableitung von dem Verb a t edi ,(herbei)kommen‘) z u s e in , a b e r h i e r handelt es sich um ein Substantiv. Auch in dem baltischen S u b s t a n t iv , a u s d e m finn. sarana ,Scharnier’ entlehnt ist, steht ein Präfix (s. den e n t s p r e c h e n d e n / V r t i k e l weiter unten). A u s e n s i i s t e i n e Vielzahl von Ableitungen gebildet worden, von denen hier die O r d n u n g s z a h l e n s i m m ä i n e n ,1.’ und weiter entinen , vorig, früher’ und ennen ,vorher; v o r ’ ( n a c h Hakulinen 1979, 230 < dialektal und alt ennein ) erwähnt seien, s. noch S K Ę S I 39 ; S S A I 105-106, H äkkinen 1987, 31-33, I kola, Sananjalka IV 30-31. M o r p h o l o g i s c h u n d eigentlich auch semantisch erinnert ennen in dem Maße an eilen » g e ste r n * , d a s s z w i s c h e n diesen Wörtern unbedingt morphologische Wechselwirkung b e s t e h t; a u ß e r d e m gehören sie derselben Formkategorie an, sind aber etymologisch n ic h t m i t e i n a n d e r verwandt. Zu ähnlichen Fällen s. besonders H akulinen, ibid.

28

Etymologien

Gemeinostseefinn. eilen ,gestern’, das bisher ohne Erklärung ist (SSA I 101) und sogar für eine Entlehnung aus einer unbekannten Substratsprache angesehen worden ist (A riste 1981, 18), ist m. A. n. ein autochthones Wort, für das anhand der finnischen Dialekte und der ostseefinnischen Sprachen die Form *eklen rekonstruiert werden kann (so H äkkinen 1987, 27). Diese Form hinwieder geht über den Wandel *-tl- > *-kl- auf *etlen zurück, ein Wandel, wie er auch in den ostseefinnischen Urformen der germanischen Lehnwörter neula ,Nadel’ und seula ,Sieb‘ stattgefun­ den hat. Für die ursprünglichste Rekonstruktionsform sehe ich *etelnä an, in der es dann zur Apokope und einer unregelmäßigen Metathese gekommen ist und die offenbar ursprünglich , vorher, vorherig(en Tags)’ bedeutet hat. In einem oft verwen­ deten Adverb diesen Typs ist eine unregelmäßige Lautentwicklung sehr gut möglich, vgl. die zahlreichen (späteren) dialektalen Varianten von eilen (SSA I 101) und beispielsweise tänäpänä ,heute’ (älterer Stil und volkstümlich, hochsprachlich tä­ nään; NS V I 145) < tänä päivänä ,an diesem Tag’ usw. Aus demselben *etel-nä ist andererseits über regelmäßige Entwicklung edellä entstanden. Kann meine Etymologie für eilen akzeptiert werden, haben wir wieder ein „Sub­ stratwort“ im Sinne Aristes weniger, von denen die meisten in Wirklichkeit baltische Lehnwörter zu sein scheinen. (Eine ganze Reihe dieser Wörter werden bereits in dieser Untersuchung behandelt und weitere sollen noch folgen.)

9. ero & 10. e rä Es handelt sich bei ero ,Unterschied; Trennung’ und erä getrenntes Stück von etw.; (An)teil; Partie; Mal’ um Wörter (oder richtiger Wortsippen), die etymologisch zweifellos zusammengehören, die aber außerhalb des Ostseefinnischen keine Etymo­ logie haben (SSA I 107 erwähnt zwar sicher hierher gehörende lappische Wörter, die aber teilweise im Detail schwer erklärbar sind). SKĘS I 40-41 behandelt die oben erwähnten Wörter in ein und demselben Wortartikel, SSA I 107 dagegen getrennt. Daneben gibt es in der finnischen Hochsprache zahlreiche Ableitungen, von denen viele von ihrer Frequenz her hohe Plätze einnehmen (s. H ä k k i n e n 1987, 34-37: eri verschieden’, erikoinen , besonder’, erilainen , verschieden’, erinomainen , ausge­ zeichnet’, erittäin , besonders’, erityinen , besonder’, ero, erota , sich trennen’, erottaa .trennen’, erä, eräs ,ein(e) gewisse(r/s)’, mithin im Ganzen 11 Wörter, die zu den 1000 häufigsten finnischen Wörtern gehören!). Sind die finnischen Wörter schon ganz allgemein verbreitet, so sind lit. yrä, lett. ir, die 3. Person Präsens des , sein’-Verbs, die in diesem Fall das baltische Original vertreten, sogar noch allgemeiner. Von ihrer Etymologie her sind sie bislang opak, aber gerade das entlehnte finn. erä hilft m. A. n. bei ihrer Herleitung. Zu bisherigen Erklärungsversuchen s. F r a e n k e l I 124, E n d z e l i n 1923, 551, 556, E n d z e u n s 1951, 711-712, 718-719, E n d z e l ī n s IV:2, 556, S t a n g 1966, 412-416, Z i n k e v i č i u s IG II 83, K a r u u s I 158, B a m m e s b e r g e r , Baltistica XXXIL2,231-232, S k a r d ž i u s III 163.

9. ero & 10. erä

29

Suppletivismus ist in den baltischen Sprachen deutlich seltener als in den anderen indoeuropäischen Sprachen, sogar verglichen mit den ganz nahe stehenden slavischen Sprachen ( F r a e n k e l 1950, 103-105), aber in diesem Fall handelt es sich bei den infrage stehenden litauischen und lettischen Verbformen eindeutig um Suppletivismus, um Formen also, die ursprünglich nicht in das Paradigma gehörten und außerdem von ihrer Konjugationform her aus dem Rahmen fallen. Ursprünglich handelt es sich nicht einmal um Verbformen, sondern um Substantive. Etymologisch gesehen ist lit. yrä das vom Verb irti (yrü oder irstu, irau) , aus­ einanderfallen, sich auflösen, sich auftrennen, aufgehen’ ( S e n n - S a l y s 1265) gebildete alte Verbalsubstantiv *īrā. Zur Etymologie des Verbs s. F r a e n k e l 1 15-16. Betreffs des langen Stammvokals des Verbalsubstantivs vgl. andere entsprechende Fälle im Litauischen, wie b ylä ,Gespräch, Prozeß’ : (pra)bilti ,zu sprechen beginnen’ ( F r a e n ­ k e l I 32), gyrä ,Eigenlob, Großtun, Prahlerei’ (ibid. 185) : girti ,rühmen, loben’ (ibid. 186), pylä ,Gießen, (Aus)streuen, Schütten, heftiger Regenguß’ ( F r a e n k e l I 592): p ilti,gießen, (aus)schütten, (aus)füllen’ (ibid.), tylä ,Stille, (Still)schweigen’ ( S e n n - S a l y s IV 6 6 6 ): tilti,verstummen, still (schweigend) werden, zu reden aufhören; (vom Wind, Sturm) sich legen’ (ibid. 6 6 8 ). Lett. ir dagegen geht auf das Verbalsubstantiv *irä mit kurzem Stammvokal zurück. ( E n d z e l I n s IV:2, 556 postuliert die Entwicklung ir < *īr < *īra, was m. E. nicht glaubhaft ist.) Langer Vokal der Endsilbe ist in gedeckter Position in der altlettischen Form irä-g ,ist?‘ (ME I 708), wo -g rogatives Enklitikum ist, noch erhalten. (Im Altlitauischen entspricht dem das Enklitikum -gu; vgl. funktional das finnische rogative Enklitikum -ko/-kö! — S. schon T h o m s e n IV 298 = T h o m s e n 1890, 174.) Lett. ir wurde unregelmäßig gekürzt ( E n d z e l In s 111:2, 569). (Die erwar­ tungsgemäße Gestalt wäre ira, die dialektal auch belegt ist — E n d z e l i n 1923, 556, E n d z e l In s 1951, 718, S t a n g 1966, 412, G ä t e r s 1977, 116.) Zum kurzen Vokal der ersten Silbe vgl. z . B. litauisch skilä ,(Holz)scheit; Splitter, Brocken, Bruchstück’ ( F r a e n k e l II 806) : skilti ,sich (ab)spalten, einen Spalt, einen Riß bekommen, zerspringen’ (ibid.). Besonders illustrativ ist das von dem Verb dürti ,stechen, stoßen’ abgeleitete lit. dura , Brecheisen’ ( F r a e n k e l I 113), neben dem auch die Variante dūra mit langem Vokal belegt ist ( Š l a p e l is 1921, 115). Letzteres repräsentiert das baltische Original für finn. tuura ,Eispickel’. Es sind also die alten Verbalnomen­ varianten dura / dūra : dürti parallel bezeugt, wie es seinerzeit auch bei *iro / *īrā : irti der Fall war. Zu den angesprochenen Ableitungsverhältnissen s. weiter A u g s t k a l n s , ArchPhil V 154, S k a r d ž iu s 1943,38,39,47. Ganz anders (und nicht glaubhaft) erklärt den kurzen Vokal des lettischen Wortes E n d z e l i n 1923, 99, E n d z e l In s 1951, 143-144. Dass es im Lettischen ein Substantiv *irä mit kurzem Vokal gegeben hat, beweist der Lokativ Sg. pusirä (pus-irä) ,halb gelöst, halb auseinandergegangen’ (ME III428). Die Angelegenheit lässt sich durch die Untersuchung eines gewöhnlichen Satzes im heutigen Litauisch beleuchten, z . B.: viename numeryje jų yrä iki 750 ,in einer Nummer gibt es davon (finn. niitä ori) bis z u 750’ (Quelle: Antanas P a k e r y s , Tarptautinių žodžių kirčiavimas. Kaunas 1991, 3). Der Form nach ist jų ein Genitiv

30

Etymologien

Plural, der in diesem Fall Partialsubjekt eines Existenzialsatzes im modernen Li­ tauisch ist, ganz wie im Finnischen der Partitiv Plural (niitä) steht. In einer früheren sprachgeschichtlichen Phase, als yrä noch ein Substantiv war, hatte es die Bedeutung ,(An)zahl, (An)teil, Partie o. Ä .‘. Damals wurde der Satz so aufgefasst, dass jų ein normaler possessiver Genitiv war und der Satz die Bedeutung ,in einem Satz ist ih re A n zah l (finn. niiden määrä on) bis zu 750’ hatte. (NB! Im Litauischen konnte und kann das ,sein’-Verb fehlen, wenn es als Kopula in der 3. P. Präsens steht.) Als yrä seine etymologische Bedeutung allmählich verlor, wurde es in diesem Fall als die 3. P. Präsens des ,sein’-Verbs undjų als Partialsubjekt des Existenzialsatzes interpretiert. Damit hatte der Satz seine heutige Bedeutung erhalten. Als Original für finn. erä eignet sich die kurzvokalische Variante *irä, die im Lettischen weiter lebt. Der lange Endvokal des baltischen Originals wurde bei der Entlehnung ins Frühurfinnische natürlich gekürzt. Im Vokalismus der ersten Silbe wird die Tatsache sichtbar, dass das balt. i besonders vor r so offen ausgesprochen wurde, dass es durch e substituiert werden konnte. Ein altbekanntes Beispiel für diese Substitution ist finn. heme ,Erbse’, und in dieser Veröffentlichung stelle ich baltische Etymologien für zwei weitere finnische Wörter auf, in denen diese Substitu­ tion festgestellt werden kann, nämlich hermo ,Nerv’ und perho ,Schmetterling’ (s. dort). Das Wort erä hatte also im Frühurfinnischen die Gestalt *era. Die Vokal­ kombination e - ä (erä) ist das Resultat späterer Entwicklung. Eben dieselbe Entwicklung hat sich auch in dem im nächsten Artikel zu behandelnden etä- ,fem ‘ (s. da) vollzogen. Über die oben abgehandelten baltologischen Sachverhalte s. auch L i u k k o n e n , Konferencija 1998, 23. Aus eben demselben baltischen Verbstamm wurden auch finn. irta- ,los’ und irstas lasterhaft’ entlehnt (s. den entsprechenden Artikel). Finn. erä und ero gehören also etymologisch zusammen. Trifft meine Etymologie zu, ist erä < *era das ältere Wort. Dann könnte ero eine Ableitung daraus sein (so auch H ä k k i n e n 1987, 36, SSA I 107). Es gibt allerdings auch die (jedoch sicher unwahrscheinlichere) Möglichkeit, dass es sich bei den Wörtern um baltische Ent­ lehnungen verschiedenen Alters handelt. In dem Fall wäre erä < *era < balt. *irā die ältere Entlehnung, aus dem „Urbaltischen“, und ero < balt. *irö (*ira) < *irä ein späteres Lehnwort aus dem „Altkurischen“. Notwendig ist eine derartige Chronologie natürlich nicht, denn wir können es auch mit dialektaler Variation im Baltischen zu tun haben. Leider können wir uns über diese Fragen keine Sicherheit mehr verschaf­ fen, da auch die „altkurischen“ Informanten schon vor mindestens 2000 Jahren gestorben sind. (In dieser Arbeit nehme ich vorerst zu chronologischen Fragen, bei denen es übrigens sehr viel, vielleicht sogar radikal, zu korrigieren gibt, nicht „endgültig“ Stellung.) Nebenbei sei gesagt, dass sich K o i v u l e h t o 1991,106 im Prinzip auf dem richtigen Weg befindet, doch bleibt bei ihm die richtige Zusammenstellung aus, da er mit den zur Verfügung stehenden baltologischen Fakten nicht zu operieren vermag. Interessanterweise gibt es noch eine weitere litauische Verbform für die 3. P. Präsens, die ursprünglich ein Verbalnomen, d. h. ein Substantiv, ist und dessen

11. etä-

31

Geschichte eben durch ein altes baltisches Lehnwort im Finnischen wesentlich einfacher geklärt werden kann. Es handelt sich um lit. reikia ,man muß, es ist nötig’ (S enn-S alys IE 530), das seinem Ursprung nach zum Verb riekti »schneiden’ < *reik- gehört (F raenkel H 714). Zur Wortbildung s. den Artikel raaja. Die semantische Entwicklung des litauischen Wortes vor seinem Wandel in eine Verbform war »Schneiden’ -> , Schnittstelle)’ -> ,Loch (finn. reikä) -» »Leerstelle, Mangel’ -> »Bedarf, Notwendigkeit’. Finn. reikä »Loch’ ist ein altes baltisches Lehnwort! Über die hier angedeuteten Sachverhalte s. genauer L iukkonen, Virittäjä 1973,17-25.

11 . etäMit Ausnahme des Wotischen und Livischen ist finn. etä- »fern’ in allen ostseefinni­ schen Sprachen vertreten (SSA I 109). Die hiermit zweifelnd in Verbindung gesetzten mordwinischen Formen (SSA, ibid. 110; vgl. SKES 1 42) können m. A. n. nicht in diesen Zusammenhang gehören. Dagegen kann für das Wort ein baltisches Original dingfest gemacht werden. Wie in Verbindung mit finn. ensi festgestellt, waren die späteren baltischen Verbpräfixe zur Zeit der finnisch-baltischen Lehnkontakte noch gesonderte Wörter. Um ein solches Wort handelt es sich auch bei dem Original von finn. etä-. Im Litauischen kommt das Präfix at-, ata-, ati- vor, das u. a. die Bedeutung »weg’ hat (F raenkel 1 20). Gewöhnlicher ist im Litauischen zwar die genau entgegengesetzte Bedeutung, wofür als Beispiele die Verben ateiti ,(herbei)kommen’, atvažiuoti »angefahren kommen’, atskristi ,herbeifliegen, herangeflogen kommen’ genannt seien. Doch es liegt hier ein sehr interessanter Fall von Enantiosemie vor. Man beachte, dass das Präfix auch im heutigen Litauisch noch in vielen Dialekten in bestimmten Zusammenhängen als gesondertes Wort Vorkommen kann: A r atvedė arklį? — Ät. »Brachte er das Pferd? — Ja.’ (LKŽ 1 350). Die Variante ata- kommt in alten Texten und heute noch allgemein besonders in den archaischen ostlitauischen Dialekten vor (E ndzelīns 1360-361, F raenkel 1929, 212-213, Z inkevičius 1966, 129, Z inkevičius 1978, 55, Z inkevičius LK! II 164, III 5 6 ,2 72,275IV 26,27,41,43,48,186,194,195,204,221, P alionis 1967,145-146, P alionis 1979,231,295, K azlauskas 1968,62, V aižgantas RR 1486, II475). In der äußerst archaischen Mundart von Lazünai ist es auch als Substantivpräfix belegt (Lazūnų žodynas 25). Auch anderswo kommen solche Fälle vor (LKZ I 350-364 passim). Im Lettischen erscheint diese Variante mitunter als Archaismus in Volksliedern (M E I 147, E ndzelin 1923, 494—495, E ndzelīns 1951, 645, E ndz.f.līns I 359-360, IV: 1,465, IV:2, 601) und in der gesprochenen Sprache im Adverb atastu »entfernt’ (ME 1 148, E ndzelin 1923,471, 494, E ndzelīns 1951,645, E ndzelīns I 360, II 307, IV: 1, 465, IV:2, 601, M E I 148). Auch das Adjektiv atasts , entfernt’ ist bekannt (ME, ibid.). Das Präfix hat auf slavischer Seite die Präpositionsentsprechung o t t ,weg von, aus’, und auch im Lettischen kommt die sehr seltene Präposition at vor

Etymologien

32

1923, 495, E n d z e l ī n s 1951, 646, E n d z e l ī n s I 364, IV: 1, 466, F r a e n k e l I 20). Es erscheint klar, dass es eine gesonderte balto-slavische Partikel *ata gegeben hat ( M a ž i u l i s I 107), aus der später hier eine Präposition, dort ein Präfix geworden ist. Was den initialen Vokalismus betrifft, ist von Wichtigkeit, dass die Entsprechung des Präfixes im Altpreußischen at- oft in der Form et- belegt ist ( T r a u t m a n n 1910, 305, 332-333, E n d z e l ī n s IV: 1, 465, IV:2, 117, 213, 214, S t a n g 1966, 32, T o p o r o v E-H, 63, M a ž i u l i s I 106). M. E. haben wir es hier mit eben der in den baltischen Sprachen und ihren Dialekten belegten Schwankung zwischen a : e zu tun, auf die ich weiter unten unter Erwähnung entsprechender linguistischer Literatur zu sprechen komme (s. den Artikel hevonen). Manche Forscher möchten in den phonetischen Varianten dieses Präfixes verschiedene Ablautstufen oder sogar zwei ganz verschie­ dene Etymologien sehen ( T r a u t m a n n 1910, 108, 332), aber m. A. n. ist es nicht nötig, diese Linie zu verfolgen (ihr schließt sich auch E n d z e l ī n s IV:2,116-117 nicht an). Zur Etymologie vgl. außerdem E n d z e l ī n s I 362-363, T r a u t m a n n 1923, 16, T o p o r o v E-H, 100-103, M a ž i u l i s 1 107, 263. Aus semantischer Sicht ist interessant, dass im Litauischen die aus dem bespro­ chenen Wort mit dem Suffix -ku- gebildete Ableitung atokus, weit entfernt, abgelegen’ vorkommt ( F r a e n k e l I 21, T o p o r o v A -D 139). Der Komparativ atokiau dieses Adverbs bedeutet, weiter weg’ ( L y b e r i s 78). Belegt sind auch die Adjektivableitung atstüs ,fem ’ (LKZ1437, F r a e n k e l 1950, 104) und ihre seltene Variante ätstas mit oStamm (LKZ, ibid. 435). In ihre Wortbildungselemente aufgeteilt stellen sich diese Formen als at-st-ü-s, ät-st-a-s dar. Das Element -st- im Wortinneren ist etymologisch mit lit. stöti ,treten’ verwandt ( F r a e n k e l 1950, 104, F r a e n k e l I 22, T r a u t m a n n 1923, 281). Vgl. atstoti ,sich entfernen, Weggehen’ (ibid.). S. weiter S k a r d ž i u s 1943, 16. Das finn. etü- ist eine von baltischer Seite entlehnte Partikel; andere solche Partikel sind finn. vain ,nur’ (s. da), vielä ,noch’ und das hervorhebende Enklitikum -pa/-pä. Das balt. dial. *eta wurde in genau diesem Gewand im Frühurfinnischen heimisch. Die Vokalkombination e - ä (etä-) ist das Resultat einer späteren Ent­ wicklung. (E

n d z e l in

12. h a a sta a Das finnische Verb haastaa sprechen, erzählen; einladen; herausfordem, verklagen’, das laut SSA I 127 nur im Ingrischen, Karelischen und Estnischen Äquivalente hat, ist ein baltisches Lehnwort (wahrscheinlich < frühurfinn. *šast-). Da bislang die Etymologie des Wortes unbekannt war, wurde seine Bedeutungsentwicklung m. A. n. unrichtig dargestellt ( H a k u l i n e n 1979,406-407). Im Litauischen gibt es sogar zwei Verben, die sich als Repräsentanten des baltischen Originals von finn. haastaa eignen, nämlich iösti und -žasti. Sie sind eng miteinander verwandt.

12. h aastaa

33

Das Verb žosti (žostu, žodau ) ,Worte machen, etwas besprechen, sagen; tadeln, schelten’ ist u. a. mit dem Substantiv ž o d is ,Wort, Rede, Nachricht, Sprache’ verwandt ( F r a e n k e l II 1321). Präfigierte Ableitungen sind p ra -iö sti ,sich äußern, einen Aus­ spruch tun; tüchtig ausschelten’ (ibid.), a p -iö s ti ,ausschelten, einen Verweis erteilen’ ( S e n n - S a l y s 138),,apibarti, barant įspėti, sudrausti’ ( M a s i l iū n a s 1934,52, S k a r d ž iu s I I 152) und das reflexive iš-si-žosti ,sich versprechen, sich verschnappen, unvorsichtig ausplaudem’ ( K u r s c h a t II 907), ,prasitarti, išsitarti’ ( M a s i l i ū n a s 1934, 61). Im Altlitauischen ist das Verbalabstraktum ž o s tis ,šneka (Rede)’ belegt ( B r e t k ū n a s RR 379). Noch heute ist io stė = žosmė ,Rede, Sprache, das Gesprochene’ dialektal anzutreffen ( S e n n - S a l y s V 462). Letztgenannte Form geht auf die Rekonstruktion *žod-smė zurück ( F r a e n k e l II 1321). Das mit dem vorgenannten Verb verwandte Verb - z a s t i hinwieder begegnet in den präfigierten Ableitungen i š - i a s t i ( - ž a n d u , -ž a d a u ) ,ein Wort aussprechen’ ( K u r s c h a t II 951), p r a - i ä s t i ( - ž a n d u , - ž a d a ū ) ,benennen, einen Bei- oder Spottnamen geben’ (ibid., III1962) und in dem reflexiven s u - s i - ž a s t i ,sich verabreden’ ( S e n n - S a l y s IV 419). Die nichtreflexive Form von letzterem, s u - z ä s t i (ibid.), hat dieselbe Bedeutung wie p r a - k a l b t i ,zu reden beginnen, das Schweigen brechen, den Mund zum Reden auftun; gesprächig werden’ (ibid., III 207). Hierher gehörende ehemalige Verbal­ abstrakta sind das heute -7 0 -stämmige p r ā ž a s t i s ,Spottname’ (ibid., III276) und das -/-stämmige p r i e ž a s t i s ,Ursache, Grund; Vorwand’ (ibid., III 332). Verwandt mit - ž a s t i ist u. a. das Substantiv ž a d a s ,Rede, Sprache, Laut, Versprechen; Bewußtsein’ ( F r a e n k e l II 1283). Vgl. noch p a ž a s t a s , Schaden’ ( F r a e n k e l I 560). Zu d e n Etymologien aller vorgenannten litauischen Wörter mehr bei F r a e n k e l I 560, 651, 654, II 1283-1284, 1293, 1321-1322. Ausgehend von dem litauischen Verb mit dem Infinitiv ž o s t i < * ž ā s t i < * ž ā d - t und der 1. R Sg. Präs, ž o s t u < * ž ā s t - < * ž ā d - s t - kommen als Entlehnungsquelle für finn. h a a s t a a sowohl der baltische Infinitiv als auch das baltische Präsens infrage. Ist dagegen das Verb mit dem Infinitiv - ž a s t i < * - ž a d - t - und der 1. P. Sg. Präsens - ž a n d u < * - ž a - n - d - (das - n - des Präsens ist ein sog. Nasalinfix) der Ausgangspunkt, eignet sich nur der Infinitiv als Original. Nach allgemeiner Auffassung hatte das Frühurfinnische noch kein langes ä. Die oben erwähnte erste Alternative würde dann bedeuten, dass baltisches langes ā bei der Entlehnung gekürzt und später wieder gelängt wurde. Bei Annahme der zweiten Alternative wäre das kurze a des baltischen Originals später im Laufe der Entwicklung des Urfinnischen gelängt worden. Oder könnte man annehmen, dass der Konsonantis­ mus im Mittelurfinnischen in diesem Fall noch frühurfinnisch war, langes ā aber in der ersten Silbe schon möglich wurde, und die Entlehnung in dieser Übergangsphase des Urfinnischen stattgefunden hat? Ich verfüge über noch mehr Lehnmaterial dieser Art und ich werde auf dieses Thema in einem anderen Zusammenhang zurückkommen. Interessanterweise war schon B ū g a 1908, 31 — wie auch sein Lehrer J a u n i u s ( J a u n i u s 1972, 232, 299) -— der richtigen Erklärung von finn. h a a s t a a auf der Spur.

34

Etymologien

13. h aitta Finn. haitta , Nachteil, Schaden, Hindernis; Zuhaltung im Schloß, Schlüsselbart’, dial. haitto hat Entsprechungen im Karelischen (KKS I 150) und im Olonetzischen (SKES I 49). Im Wotischen sind haitto = haituz ,häiriniine, takistus’ und das Verb haittaa ,häirida, segeda, tülitada; takistada’ belegt (Vadja keele sönaraamat I 241). Auch im Wotischen von Kukkuzi kommt das Verb haitta , stören’ vor ( P o s t i 1980, 50). Im estnischen Küstendialekt von Kuusalu begegnet ebenfalls das Verb haitma .takistama’ (Väike murdesönastik 127). Dagegen gehört das zögernd hierher gestellte weps. haitta , tadeln’ (SKES I 49) nicht in diesen Zusammenhang, sondern es ist entlehnt aus russ. xäjat' ,tadeln, schelten, rügen’. Sowohl das wotische als auch das estnische Wort können aus dem Finnischen stammen (letzteres sogar höchstwahr­ scheinlich). SKES 1 49 und SSAI 129 etymologisieren das Wort nicht. M. E. kann es auf die frühere baltische Form *žaid-dā zurückgehen, die im heutigen Litauisch in žaizda .Wunde’ weiterlebt ( S e n n - S a l y s V 384). Zum Lautwandel -dd- > -zd- (u. a. *žaiddā > žaizda) s. S k a r d ž i u s 1943, 99,462, V a i l l a n t I 81, B ū g a 1 292, F r a e n k e l II 1285, U r b u t i s , B a l t i s t i c a 1:1, 76, XXIL2, 87, S t a n g 1966, 94, K a r a l i ū n a s LKK XVI 135, Z i n k e v i č i u s IG I 144, U r b u t i s 1981, 105-107, G r i n a v e c k i s 1991, 205, 258. Eine Parallele zu dem Lautverhältnis finn. -tt- : lit. -zd- < -dd- ist finn. -tt- : lit. -st- < -dt-, das zwischen finn. lautta , Fähre, Floß’ und seinem baltischen Original besteht; vgl. lit. plaustas , Fähre’ < neutrales *plaud-ta. (Auf diese Etymologie beabsichtige ich später im Zusammenhang mit der Etymologie von finn. laiva , Schiff’ < *plauja, ebenfalls ein baltisches Neutrum, detaillierter zurückzukommen. Beide werden in SSA I 39, 56, gestützt auf die einseitig „germanisch“ ausgerichtete Lehnwort­ forschung, für germanisch angesehen. Genauso gut können sie baltischer Provenienz sein, doch dazu später.) Lit. žaizda ist aus dem Verbalstamm *žeid- : žeisti (žeidžia, žeidė) , verwunden’ abgeleitet. Zur Etymologie s. F r a e n k e l II 1285, 1296, K a r a l i ū n a s 1987, 37. Wort­ bildungssuffix ist *-dä, worüber s. S k a r d ž i u s 1943, 99, A m b r a z a s 1993, 87. Im älteren Litauisch kam z. B. das mit demselben Suffix von dem genannten Verb abgeleitete, präfigierte įžeizda , Schaden, Verlust; Narbe’ ( P a l i o n i s 1967, 265, 267, LKZ IV 284) vor, das dem finnischen Wort bedeutungsmäßig teilweise sehr nahe steht. Im heutigen Litauisch lauten das entsprechende Verb įžeisti , verletzen, be­ leidigen, kränken’ ( S e n n - S a l y s I 405) und das Verbalsubstantiv įžeidimas , Verlet­ zung, Beleidigung, Kränkung’ (ibid. 404). Auch das litauische Adjektiv įžeidingas .schädlich, schädigend’ hat denselben Stamm (LKŽIV 284, F r a e n k e l II 1296). Die Zusammenstellung von finn. haitta mit der behandelten Wortsippe findet sich bereits bei J a u n i u s 1972, 233, 302 (in diesem Werk wurden seine im Manuskript erhalten gebliebenen etymologischen Wortlisten veröffentlicht, die von der Jahrhun­ dertwende datieren), aber er begründet die Etymologie in keiner Weise und gibt auch nicht die richtige Rekonstruktion. Auch O r r m a n , Virittäjä 1993, 99-100 hat während der Entstehung des vorliegenden Buches (in den Jahren 1990-1998, teilweise

14. haltia

35

mit mehreren Jahren Abstand; die Arbeit an meinem Wortartikel dagegen war bereits 1993 nahezu abgeschlossen) das Wort aus dem Baltischen hergeleitet, jedoch ohne nähere Begründung. Als semantische Parallele aus anderen Sprachen möchte ich slav. *verdb erwähnen, dessen altrussische Entsprechung veredb ,Wunde, Geschwür’ bedeutet, während die altkirchenslavische Form vredb die Bedeutung , Schaden, Leibesschaden’ hat (aus letzterem Wort wurde russ. vred in der Bedeutung ,Schaden’ entlehnt), s. V a s m e r I 186, Š a n s k d 1:3, 194, S a d n i k - A i t z e t m ü l l e r 154. Die etymologische Bedeutung von lit. yda ,der Fehler; der Mangel, das Gebrechen, die Unvollkom­ menheit; der Irrtum; das Laster; der Grund oder Vorwand zum Zank; der Zorn, Ärger’ ( K u r s c h a t 1691) is t,Brandwunde’ ( M a ž i u l i s 1274)! Die Entsprechung von pers. rēš ,Wunde’ im Awestischen, raēša(h)-, hat die Bedeutung ,Schädigung’ ( P o k o r n y I 859, B a r t h o l o m a e 1486-1487, N y b e r g I I 169).

14. h altia Finn. haltia , übernatürliches Wesen, Schutzgeist’ hat mit Ausnahme des Wepsischen und Livischen in allen ostseefinnischen Sprachen Entsprechungen. Es wird allgemein (u. a. SS A I 134) als germanische Entlehnung aufgefasst. Diese Auffassung ist jedoch unrichtig, denn es handelt sich mit Sicherheit um ein altes baltisches Lehnwort. Im Frühurfinnischen hatte das Wort die Form *šaltja, die auf das baltische Neutrum *žaltja < *zaltjan zurückgeht. Nachdem das Neutrum in der Deklination der ostbaltischen Sprachen geschwunden ist, wird die genannte Form durch das litauische Maskulinum žaltys , Ringelnatter (Tropidonotus natrix)’ repräsentiert. In a den lettischen Dialekten ist die lautliche Entsprechung zaltis id. belegt (ME IV 685). Neben den genannten Wörtern begegnen auch Formen mit inlautendem -k-: lit. dial. žalktys, zalktis ( S e n n - S a l y s V 388) und in der lettischen Schriftsprache zalktis (ME IV 684-685). Außerdem sind in bestimmten nordöstlichen Mundarten des Litauischen noch žalektys (žaliaktys), želektys (želiaktys) mit sekundärem -e- belegt ( B ū g a I 383, III 675, F r a e n k e l II 1288, Z i n k e v i č i u s 1966, 138, 195, Z i n k e v i č i u s IG 1 112, 157, V i d u g i r i s , Gaidės ir Rimšės apylinkės 280, LKAIII 57). Das Verhältnis letztgenannter Formen zu den erstgenannten Formen ohne -k- ist unklar. Es sei nebenbei angemerkt, dass auch die Variante *žalktja < *žalktjan als baltisches Original für das finnische Wort genauso gut infrage käme, da -k- hier bei der Entlehnung aus phonotaktischen Gründen auf jeden Fall geschwunden wäre. Zur Etymologie des baltischen Wortes und seiner Varianten s. ME IV 685, F r a e n k e l II 1288, 1297, Z i n k e v i č i u s LKI 334, L a n s z w e e r t 1984, XIV, M a ž i u l i s I 86 , S a b a l i a u s k a s 1990, 154, S a b a l i a u s k a s 1994, 384. Die Substitution der baltischen Sequenz *-tj- ist nicht einheitlich. In diesem Fall blieb sie im Frühurfinnischen unverändert erhalten (*šaltįa < balt. *žaUja oder žalktja). Anders ist die Situation bei dem von mir in dieser Arbeit-ebenfalls aus dem -A

36

Etymologien

Baltischen hergeleiteten finn. virtsa ,Urin’ ( *virca < balt. *virtļā). Wieder anders ist die Sache bei finn. morsian ,Braut’ gelagert. Durch lett. m arša ,des Bruders Weib’ (ME II 585) wird die Rekonstruktion *martjä vorausgesetzt. Auf eine solche Form kann aber das finnische Wort nicht zurückgeführt werden, sondern es muss parallel die baltische Variante *martijä (genauer dial. *mär-) existiert haben. Daraus ergibt sich frühurfinn. *morti(j)a, in dem sich später der regelmäßige Wandel ti > si abgespielt hat. Als Parallele kann lit. deltijä = delčia ,letztes Viertel des Mondes’ angeführt werden (Š lapelis 1921, 97). Letztgenannte Variante geht auf die Form *deltjä zurück. Ich habe die Absicht, auf diese Frage zurückzukommen, sobald mehr Material zur Verfügung steht. Mir ist eine ganze Reihe bisher unveröffent­ lichter baltischer Lehnetymologien bekannt, in denen entweder bei der Substitution oder aber schon auf der lehngebenden Seite eine solche lautliche Schwankung vorkommt. Späturfinn. *haltja hatte haltia zum Ergebnis, ganz wie das aus dem Germa­ nischen entlehnte *hartja zu hartia wurde (H akulinen 1979,46). Da die Etymologie für dieses Wort bisher unbekannt war, wird haltia zusammen mit haltija ,Besitzer’, einem Wort ganz anderen Ursprungs, behandelt (so u. a. SSA I 134). Letzteres ist m. E. eine finnisch-karelische Ableitung von dem aus dem Germanischen entlehnten Verb hallita , (be)herrsehen; regieren; besitzen’, das ebenfalls auf das Finnische und Karelische beschränkt ist (vgl. M ägiste 1267). Zum Ableitungssuffix -ja s. L ehtisalo 1936, 61-62, C ollinder 1960, 264, H akulinen 1979, 195-196. Das aus dem Balti­ schen entlehnte mythologische haltia ist weitaus weiter verbreitet. Ich kann mich noch erinnern, dass die Lehrer zu meinen Schulzeiten in den fünfziger Jahren — sowenig sie sich über die richtige Etymologie des Wortes im Klaren sein konnten — oft betonten, der Name des mythologischen Wesens werde haltia und die Ableitung von dem Verb hallita in der Form haltija geschrieben. So sollte es auch weiterhin geschehen, denn es handelt sich um zwei Wörter ganz verschiedenen Ursprungs. In der Bedeutung mythologisches Wesen’ sind in NS I 344 beide Varianten aufgeführt (haltia und haltija), während PS 1 166 nur noch eine (haltija) erwähnt. Sollte es nicht am Platze sein, sich auf die altbewährte Praxis zu besinnen, nach der dem mythologischen huoneenhaltia ,Zimmergeist’ huoneenhaltija ,Zimmerbesitzer’ und huoneistonhaltija ,Wohnungsbesitzer’ gegenüberstehen? An sich ist dieser orthographische Unterschied sekundär, denn die alte Schriftsprache kennt nur -ia (R apola 1965, 221, R apola 1966, 288, H akulinen 1979,46). Die Ringelnatter (lit. žaltys, lett. zalktis) war für die Balten ein heiliges Tier, das sie verehrten und das seinem Fürsorger etliche Vorteile brachte. Fürwahr ein guter Schutzgeist! „Für was man die Ringelnatter auch halten mag, für die Fürsorgerin der Familie oder den Geist eines Vorfahren, so sorgt sie jedenfalls für das Wohlergehen der Menschen und ihren Hof. Die Ringelnatter ist eine gute Beschützerin des Hofes, die ihn vor Gewitter, Krankheit und Mord bewahrt ... Ringelnattern sorgen nicht nur für ihre Ernährer, sondern auch für deren Tiere, ihre Vieh- und Pferdeställe, das Gedeihen des gesamten Haushaltes“ (S laviūnas, Senoji lietuviška knyga 188). „Jeder Bauer hielt sich in einer Ecke der Stube auf Heu eine Ringelnatter. Dort

15. harm aa

37

wurden ihr Futter gegeben und Opfer dargebracht“ (S laviūnas, Senoji lietuviška knyga 187). „Kinderlose Frauen erbaten sich von ihnen Fruchtbarkeit, indem sie ihnen [den Ringelnattern] Milch zu trinken gaben“ (D aukantas 1935, 152). „Jeder Litauer hatte eine eigene Fürsorgerschlange. Gewöhnlich gab es im Haus so viele Schlangen, wie dort Menschen wohnten. Sie hatten ihren Schlafplatz unter dem Bett jedes einzelnen. Jede Nacht schlängelte sich die Schlange auf den Fußboden und hauchte ihren Schützling an, wodurch er Kraft, aus der Erde kommende Lebens­ kraft, Gesundheit, Mut und Klugheit erhielt“ (D undulienė 1979, 67). „The harmless green snake, the Lithuanian Žaltys , played a prominent part in the sexual sphere. It was a blessing to have a Žaltys in one’s home, under the bed or in some comer, or even in a place of honour at the table. He was thought to bring happiness and prosperity, to ensure fertility of the soil and an increase in the family. Encountering a snake meant either marriage or birth“ (G imbutas 1963, 203). Die Ringelnatter hatte also sogar einen Ehrenplatz an der Festtafel. „Sich auf einem weißen Tuch schlängelnd berührten die Ringelnattern die aufgetischten Speisen, und die Tischgemeinschaft aß die von ihnen angerührten Speisen und sagte Glück für das ganze Jahr voraus’’ (S laviūnas, Senoji lietuviška knyga 191). Mehr über die Anbetung der litauischen zu/rys-Schlange und ihre Bedeutung als Glückbringerin s. bei Slaviūnas, ibid., 167, 168, 172-173, 185-193, LTA 333, MLTE III 866, J urginis 1976, 9, 10, 60, 62, V ėlius 1977, 59, D undulienė 1979, passim, D undulienė 1982, 412, D undulienė 1991, 216, D undulienė 1996, passim, TLEIV 632-633, H arvilahti, Dainojen henki 68-70, Š apoka 1990,35, L aurinkienė, Lituanistica 1995:1, 91, Š liavas 1996, 171, 172. Da sich finn. haltia aus der baltischen Bezeichnung der Ringelnatter herleitet, ist es ganz erwartungsgemäß, dass sich auch in Finnland Spuren einer schützenden Schlange und ihrer Verehrung erhalten haben. „Eine Art Geist, der nur teilweise mit dem Glauben an einen Schutzgeist verbunden war, war die Hausschlange ... Es handelte sich normalerweise um eine Ringelnatter, der man in Südost- und Mittelfinn­ land für das Gedeihen des Viehs Milch zu trinken gab“ (T alve 1979, 207). „Ringel­ nattern, die ihren Bau in Misthaufen haben, werden ebenfalls wie unterirdische Zwerge verehrt und man bringt ihnen Milch und Butter“ (H arva 1948, 285). S. weiter H arvilahti, Dainojen henki 70. Die Zusammenstellung von finn. haltia und lit. žaltys wurde bereits von J aunius 1972, 233-234, jedoch mit falscher Begründung, vorgebracht. V

15. harmaa Dieses außer im Wepsischen und Livischen in allen ostseefinnischen Sprachen belegte Adjektiv wird als sicheres baltisches Lehnwort angesehen (SSAI 143). Ein sicheres baltisches Lehnwort ist es durchaus, die richtige Etymologie aber fehlt bei genauem Hinsehen noch.

Etymologien

38

SS A (ibid.) erwähnt auf baltischer Seite u. a. lit. širmas ,(blau)grau, grauschim­ melig usw.’ (F raenkel II 988) und das damit im Ablautverhältnis stehende seltene šarvas (richtiger šarvas; LKZ XIV 530) ,grau\ Zum ersten Wort ist zu sagen, dass es nicht hierher passt, weil balt. i und finn. a sich keinesfalls phonetisch entsprechen (vgl. SKES 1 59), die Etymologie ist mithin in dieser Form eindeutig falsch. Was das zweite Wort betrifft, so müsste, obzwar in den ostseefinnischen Sprachen der Wechsel m ~ v recht frequent belegt ist, bei einem so stark verbreiteten Wort wenigstens ein Fall mit -v- zur Untermauerung der Etymologie aufgeführt werden können. Einen solchen Fall gibt es aber nicht. Ich gehe anders an die Etymologie heran. Das Finnische hat das sichere baltische Lehnwort härmä ,Reif, dünne Schneeschicht; Bierschaum’. M. A. n. lassen sich harmaa und härmä etymologisch sehr nahe miteinander verbinden. Lit. širmas ,grau‘ ist über Ablaut mit šarma ,Reif, gefrorener Tau’ verwandt (F raenkel II965), in dem das Original für finn. härmä weiter lebt. Zur Etymologie von balt. *šarmā s. F raenkel, ibid., B ūga II 336, 395, ME III 722, S pecht 1947, 179, Sabaliauskas 1990, 69, P ėteraitis 1992, 161. M. E. wurde die Vorstufe von lit. šarma in der Form *šarma, zu dem sich die vordervokalische Variante *šārmā herausbildete, ins Frühurfinnische entlehnt. Diese vordervokalischen Varianten sind bekanntlich in der Regel zumindest in gewissem Umfang affektbehaftet und eignen sich damit natürlich für die Bezeichnung von Naturphänomenen, die in der einen oder anderen Weise als unangenehm empfunden werden. Solche altbekannten baltischen Lehnwörter sind neben härmä auch halla ,Nachtfrost, Reif’ und routa »Bodenfrost; gefrorene Bodenschicht’. Auf die Etymo­ logie des letztgenannten Wortes — an sich ein sicheres baltisches Lehnwort — muss ich später in einem anderen Zusammenhang genauer zurückkommen, da sein Vokalis­ mus bisher falsch erklärt wird. Es wurde entlehnt aus dem baltischen dialektalen Original (Femininum oder Neutrum) *gräuda oder *grouda, das im Litauischen heute durch das Maskulinum gruodas »hartgefrorener Straßenkot’ vertreten ist. Lit. -uo- statt balt. *-au- (> dial. -äu-/-ou~) ist hier sekundär wie in bestimmten anderen litauischen Wörtern auch. Im Zusammenhang mit dem Begriffsfeld Naturphänomene s. außerdem meine neuen Etymologien für huuru und räntä. Der vom Affekt herrührende Vokalwechsel, der mit der Herkunft von harmaa und härmä verbunden ist, ist sich dem Wechsel, auf den z. B. bei härkä (s. da) Bezug genommen wird, sehr ähnlich. Letztere der Varianten *šarma / *šārmā zeitigte finn. härmä. Aus ersterer wurde ein Adjektiv abgeleitet, das im Späturfinnischen die Gestalt *harma-ya hatte und ursprünglich ganz offensichtlich „reiffarben“ bedeutete. Vgl. hallava < *halla-ya < frühurfinn. *šalna-ka, ursprünglich „reiffarben“ (: lit. šalna ,Reif, kleiner Frost’), zu späteren Bedeutungen des Wortes in den finnischen Dialekten und im alten Schriftfinnisch s. K oski 1983, 184—188. Zur Etymologie der Ableitung hallava vgl. K alima 1936, 95, SKES 1 52, Itkonen, SKK 490, SSA I 133. Als semantische Parallelen sind natürlich auch die mit diesem Wort verwandten estnischen Wörter wichtig, einerseits hall (Gen. halli) u. a. ,grau‘ und andererseits hall (Gen. halla ) ,Reif‘ (M ägiste I 272, SSA I 13). V

____

15. harm aa

39

Zur Rekonstruktion *karma-ya und den späteren Formen im Finnischen s. K alima 1936, 79, R apola 1966, 131, 133, H akulinen 1979, 37, 127. Mehr zum Suffix und seiner Entwicklungsgeschichte s. bei L ehtisalo 1936, 340-341, R apola 1966, ibid. 133, 135, H akulinen 1979, ibid. 127, K orhonen 1981, 323, S uhonen, UrLang 303. S. auch meine neue Etymologie für hermo ,Nerv‘, das mit harmaa und härmä verwandtschaftlich in Beziehung steht. Es ist im Übrigen interessant festzustellen, dass noch mehrere weitere Wörter aus verschiedenen baltischen Stämmen mit der Bedeutung ,grau‘ ins Finnische entlehnt wurden, darunter die altbekannten hiiva ,Hefe‘, hirvas ,Rentier-, Elchhirsch’ und hirvi (Gen. hirven ) ,Elch‘. Die beiden letztgenannten sind getrennte Entlehnungen aus dem Baltischen, wo ihre etymologi­ sche Grundbedeutungen ,graues Tier’ (*širvas) und das entsprechende weibliche Tier (*širvē) waren. Zur Etymologie dieser Wörter s. F raenkel II 989 und zu den Ableitungsverhältnissen N ieminen, Virittäjä 1940, 378. Im Zusammenhang mit dem Begriffsfeld ,grau’ s. auch meine neuen Etymologien für hiili ,Kohle’ und hilse ,Blättchen, Häutchen; Schuppe’. Es ist eine äußerst interessante Tatsache, dass die meisten finnischen Farbadjektive aus dem Baltischen stammen. Neben harmaa sind bereits bekannt: halja-kka, dessen Bedeutung sich im Finnischen beträchtlich geändert hat (: lit. žalias ,grün’), und keltainen ,gelb’ < balt. *geltain- (altpr. *geltainan = gelatynan ,gelb’ [Elbinger Vokabular], lett. dzeltains ,gelb‘). Ich möchte betonen, dass finn. kelta ,Gelb‘ aus *geltä, dem baltischen Grundwort des letztgenannten Wortes, gesondert entlehnt wurde; die mögliche baltische Herkunft des finnischen Suffixes -(a)in- (sowie auch die einiger anderer Suffixe) ist einer Untersuchung wert. Vgl. z. B. noch lett. vilnains, villains , wollen, aus Wolle’ (ME IV 594) : finn. villainen id. Im Zusammenhang mit diesem Begriffsfeld s. weiter auch meine neue Etymolo­ gie für m u sta ,schwarz’. Aus dem Baltischen entlehnte Farbadjektive sind außerdem: ruskea ,braun’, dessen baltisches Original in lit. rüdskis ,(rot)braun’ (LKZ XI 877) begegnet, und valkea ,w eiß\ zu dem auch finn. välkkyä »funkeln, schimmern’ und vilkkua »blinken; blinzeln; funkeln’ sowie vilkaista »flüchtig ansehen’ (: balt. *žvalg- : *ivelg- : *žvilg-) gehören. Auf diese beiden Herleitungen, besonders aber letztere, werde ich in einem anderen Zusammenhang ausführlich zurückkommen. Zwar sind schon Vermutungen über die baltische Herkunft von ruskea geäußert worden, aber was den Wortstamm betrifft, konnte bisher ein phonetisch zufrieden stellendes Original nicht vorgewiesen werden. Im Lappischen hat finn. harmaa die interessante Entsprechung lappR. siermag, šerma (sjerm ä ) ,grau’ (SSAI 143). Hier muss in der ersten Silbe ein vorderer Vokal rekonstruiert werden (ibid.) und SKES I 59 stellt die Ausgangsform *serma- auf. Nach SSA, ibid. handelt es sich bei dem finnischen und dem lappischen Wort um Widerspiegelungen zwei verschiedener Ablautstufen des baltischen Originals. M. E. liegt die Sache sehr viel einfacher. Das lappische Wort geht auf die vordervokalische Variante von frühurfinn. *sarma / *särmä zurück, aus der im Finnischen härmä hervorging. Die frühurfinnische Rekonstruktion des lappischen Wortes lautet somit wahrscheinlich *särmä-kä .

40

Etymologien

16. hauki Das gemeinostseefinnische hauki (Gen. hauen, Stamm hauke-) ,Hecht’ hat keine Etymologie, die akzeptiert werden könnte (SSA I 147). A riste 1981, 16 (früher bereits SFU 1971:4, 257) sieht den Ursprungs des Wortes in einer Substratsprache, was nicht glaubhaft ist. In letzter Zeit ist in geradezu phantastischer Weise sogar die Möglichkeit einer Entlehnung aus dem Urslavischen vorgebracht worden, was schon aus geographischen Gründen außerordentlich unwahrscheinlich ist. (Warum in aller Welt sollten die Vörahnen der Finnen diesen Fischnamen weit weg im Siedlungsgebiet der Urslaven in Wolhynien, der heutigen Westukraine und der daran angrenzenden Gebiete Ostpolens, entlehnt haben?) Den Vorschlag einer Entlehnung aus dem (Ur)slavischen haben V iitso, Itämeren­ suomalaiset kielikontaktit 143 (< slāv. *sčeuka oder *ščeuka < urslav. *skeuka) und K oivulehto, ibid., 151 (< urslav. *šč(i)aukā) unterbreitet. Beide Erklärungsvarianten sind in Anbetracht des erwähnten geographisch-historischen Hintergrundes unglaub­ haft. Als die Ostseefinnen aufgrund der slavischen Expansion das erste Mal mit den Slaven in Kontakt kamen (im sechsten nachchristlichen Jahrhundert), hatte das Wort im Slavischen bereits sein heutiges Gewand ščuka. Zu der Zeit kam die Substitution von slāv. š als ostseefinn. h nicht mehr infrage, zudem hatte das slavische Wort gar keinen Diphthong mehr. M. A. n. ist das Original des finnischen Wortes balt. *šaukē, eine Ableitung aus dem alten baltischen Verb Hau-, Dies ist im heutigen Litauisch durch šauti u. a. ,schießen, schnell laufen’ vertreten (F raenkel II969). Dessen lautgesetzliche Entspre­ chung im Lettischen ist saut , schiessen’ (ME III 777). Die Lautgestalt in der lettischen Schriftsprache ist allerdings šaut ,eine schnelle Bewegung nach einer Richtung hin machen, a) schnell schieben oder stossen, b) einen Schlag oder Hieb versetzen, c) (mit einer Schiesswaffe) schiessen, d) rasch zufahren; eilig laufen (gehen)’, Reflexivum -ties ,sich rasch wohin bewegen’ (ibid., IV 9). Im Lettischen wurde (vermutlich durch ostseefinnischen Einfluss) altes š, das sich im Litauischen erhalten hat, zu s . š im heutigen Lettisch ist in diesem Fall eine spätere Entwicklung aus *sj. Es muss also der auf den ersten Blick erstaunliche Wandel *šj- > *sj- > š- angenommen werden. In dem Dialektkontinuum des Spätindoeuropäischen, das dem Balto-Slavischen vorausging, gab es die Verbalwurzel *slceu- / *slciu- ,werfen, schießen, stoßen; (intr.), dahinschießen’ (P okorny 194), auf die lit. šdu-ti zurückgeht. Sichere Entspre­ chung auf slavischer Seite ist der erweiterte Infinitiv s o v -a -ti , werfen, schleudern’. In etwa auf diese Weise wird die Sache dargestellt auch von ME IV 9-10, E ndzelins 111:2, 333, IV: 1, 492, IV:2, 437, F raenkel II 969, V asmer II 686, Pokorny I 954— 955, O trębski 1 303, Stang 1966,73, Stang 1971, 57-58, 85, 86, A rumaa I 126, III 213, 259, ŠrROKOV, Baltistica XX; I, 20, S abaliauskas 1990, 139. Bezüglich Ver­ wandter außerhalb des Balto-Slavischen haben diese Quellen verschiedene Auffas­ sungen (P okorny I 954 stellt ihre Existenz völlig in Abrede), doch hat dies keinerlei Einfluss auf meine Herleitung des finnischen Wortes aus dem Baltischen.

16. hauki

41

Wie erwähnt, stehen sich im Lettischen saūt < *šautei und šaūt < *sjautei < *šjautei gegenüber. Hs handelt sich um eine Parallelität alten Ursprungs, denn beide für das Lettische rekonstruierte Varianten sind auch im Litauischen belegt: šauti und šidu- (F raenkel II 967, 969, B ūga II 349, S kardžius 1943, 478, O trębski II 105, Z inkevičius 1966, 156, Z inkevičius IG I 75, Z inkevičius LKT 1 121, 311, M ažiulis I 120-121, M ažiulis PKP II 75, K araliūnas, LgB II 262). Zwischen den einzelnen Forschem bestehen gewisse Unterschiede in der Interpretation dieser Formen. Ich selbst gehe davon aus, dass der wortinitiale Konsonant tatsächlich š war (allerdings palatal, in genauerer Notation also s) und nicht š, wie von bestimmten Baltologen in letzter Zeit vorgeschlagen. Die etymologische Bedeutung der baltischen Ableitung *šau-kē war also m. E. „schnell (Hervor)schießer“, was semantisch gut passt, denn gerade der Hecht ist bekannt als besonders schneller, plötzlich angreifender und gleichzeitig lange Entfer­ nungen zurücklegender Raubfisch. Etymologisch gehört hierher auch das litauische Adjektiv šaunūs, šaūnas u. a. ,schnell’ (B ūga II 422, 587, S kardžius 1943, 216, 224, F raenkel II968). Balt. *šau-kē ist eine Bildung mit dem Suffix -k-, zu der s. E ndzelin 1923, 262, E ndzelins 1951III115, S pecht 1947, 203, S moczynski 1989,50, G rinaveckis 1991, 211, P ėteraitis 1992,180,208, A mbrazas 1993, 83-84,202-203,221,230, M ažiulis III 251, 294, IV 128. Als Parallelen von zentraler Bedeutung sind natürlich in diesem Zusammenhang die Fälle zu nennen, in denen sich das Suffix -k- direkt an den Verbalstamm anschließt, so lit. spe-kä, spė-kas »(körperliche) Kraft’ (S kardžius 1943, 563, F raenkel II 864) : spe-ti ,Muße haben, schnell genug sein’ (ibid. 866). Aus dem Bereich des Balto-Slavischen bietet sich slav. zna-kb »Zeichen’ : zna-ti »wissen, kennen’ als gutes Beiepiel an (V asmer 1458, V aillant IV 535, SI. prasi. I 89, S moczynski 1989, 50). Auch die Bezeichnungen des Hechtes in den heutigen baltischen Sprachen haben ein Suffix -k-. In der litauischen Standardsprache heißt der Hecht lydeka (S ennS alys II 30), im Lettischen hinwieder līdaka (ME II 477). Etymologisch in diesen Zusammenhang gehören lit. lydys ,Hecht’ (F raenkel I 364, S abaliauskas 1990, 150, A mbrazas, LgB II 51) und m. A. n. auch lydis »Lauf, Sprung’ (vgl. F raenkel, ibid.). (Berücksichtigt man das letztgenannte Wort, so handelt es sich um eine sehr gute semantische Parallele zu der von mir angenommen Form *šaukē.) Zur Wort­ bildung s. weiter S kardžius 1943, 125-126, E ndzelins IV:2, 487, O trębski II 275, T oporov L 225. A mbrazas, ibid., M ažiulis III 58 nehmen an, das in diesen Wörtern stehende Suffiz -k- habe deminutive Bedeutung gehabt. Es ist aber möglich, dass diese Wörter auf die Wurzel *līd- zurückgehen (T oporov L 225-226). Hiermit könnten verglichen werden lit. dial. iš-lėisti »iššauti’ = »(ab)schießen, einen Schuß abfeuem’ (LTTI 39), le i s t i ,bėgti’ = ,laufen, rennen’ (LKT 459), laidinti id. (ibid. 458) und weiter die Ableitung laidokas »didelė lydeka’ = ,großer Hecht’ (LKZ VII 24), die zudem eine gute semantische Parallele für die Ableitung *šaukē darstellen würde.

42

Etymologien

Die slavische Bezeichnung für den Hecht, ščuka, kommt in dieser Form in zahlreichen slavischen Sprachen vor. Als Etymologie wird der Stamm *skeu- mit einem Suffix -k- aufgestellt (V asmer III454, C ernyx II437). Allerdings hat m. A. n. bisher noch niemand die Semantik des slavischen Wortes korrekt dargestellt, von den balto-slavischen Zusammenhängen ganz zu schweigen. P okorny I 954 postuliert neben der von mir erwähnten Verbalwurzel *slceu- / *skēu- die Variante *skeu- / *skēu~. M. E. können im Balto-Slavischen zwei ganz ähnliche Bezeichnungen des Hechtes vorgekommen sein: einerseits *šau-kē und andererseits *skeu-kä. Aus letztgenannter wurde slāv. ščuka (1. Palatalisation *sk- > *sč-, wonach Assimilation *sč- > šč- und schließlich Monophthongierung des Diphthongs). Natürlich ist auch eine Entwicklung *skeukā > *skjaukā > sčiaukā > Ščiauka > ščuka möglich. Vom Endresultat bleibt sich dies gleich. Die erwähnten balto-slavischen Varianten vertreten zwar verschiedene Stammtypen, aber der Wechsel von -a- und -(j)ē- Stamm im selben Wort ist in den baltischen Sprachen ein gut bekanntes Phänomen (B ūga 1 105, 362, I I 138, 247, E ndzelin 1923, 196, E ndzellns 1951,271, E ndzelīns II572, IV: 1,388, IV:2,467, S kardžius 1943,74-75, F raenkel 1950,65, O trębski II48, III 28,29, Z inkevičius 1966,229, A mbrazas 1993,33-34). Auf balto-slavischer Ebene bietet sich als Parallele lit. karvė ,Kuh’ : slav. *korva (genauer *karva) > russ. koröva id. an. (Die traditionellen slavistischen Rekonstruk­ tionen sind historisch belastet — *korva ist bezüglich des Vokalismus ein Anachro­ nismus.) Die Verbalwurzeln, die den Varianten der erwähnten Bezeichnungen des Hechtes zugrunde liegen, unterschieden sich vor der Satemisierung nur im Gutturallaut. Im Bereich des Balto-Slavischen ist (sogar in ein und derselben Sprache) ein daher rührender Wechsel k : š auch sogar innerhalb ein und derselben Wortsippe belegt, š, das auf den indoeuropäischen palatalen Klusil *fc zurückgeht, ist im Übrigen nur im Litauischen erhalten. Anderswo (im Lettischen, Altpreußischen und Slavischen) wurde es — vermutlich aufgrund des Einflusses anderer Sprachen — zu s. Nach dem Zeugnis der baltischen Lehnwörter im Finnischen war š in der hauptsächlichen Quellensprache der finnischen Baltismen, wahrscheinlich dem Altkurischen, noch erhalten. Für den erwähnten Wechsel gibt es im Litauischen deutliche Beispiele, über die s. Z inkevičius IG 1 131, Z inkevičius LKII 65. Es erhebt sich die Frage, ob balt. *šaukē ,Hecht’ womöglich in dem litauischen Flussnamen Šaūk-upis (V anagas 1981, 327), also „Hechtfluss“ (: upė , Strom, Fluss’), erhalten ist.

17. h ellä Das recht weit verbreitete hellä empfindlich, wund; zärtlich, locker; mild (Wetter)’ (mit Ausnahme des Wepsischen und Livischen, die in großem Umfang alten Wort­ schatz eingebüßt haben, ein gemeinostseefinnisches Wort) hat keine Etymologie (SS A 1 153-154). Es handelt sich bei dem Wort jedoch ganz klar um eine Entlehnung

17. hellä

43

aus dem Baltischen, die Entdeckung der Etymologie wurde offenbar durch den initialen Konsonantismus des entsprechenden baltischen Wortes verhindert. Die baltische Entsprechung wird durch das litauische Adjektiv švelnūs , sanft, weich; zärtlich, lieb(evoll), freundlich, angenehm, süß’ (F raenkel I I 1041) vertreten. Es muss darauf hingewiesen werden, dass die litauischen Adjektive mit -«-Stamm im Vergleich mit den älteren -o-Stämmen sehr häufig sekundär sind (s. pilca, schnell-’), sodass erwartet werden kann, dass neben dem genannten Adjektiv eine ursprünglichere Variante mit -o -Stamm existiert; eine solche Variante gibt es tatsäch­ lich: šveīnas (LKŽ XV 478, J akulis I 213). Weiteres hierzu bei S kardžius 1943, 216, 225. Was die Lautentsprechungen angeht, so ist bekannt, dass balt. -ln- im Wortinneren im Finnischen langes -ll- zum Ergebnis hat (halla ,Nachtfrost, Reif’ : lit. šalna, villa , Wolle’ : lit. vilna). Balt. š entspricht im Finnischen h wie z. B. in halla. Nicht ganz unproblematisch ist allerdings die Entsprechung des initialen Konsonantismus in finn. hellä und balt. *švelna-. Da es im Frühurfinnischen am Wortanfang nur einen Konsonanten geben konnte, ist es sehr gut möglich, dass die Substitution für balt. *šv- frühurfinn. *š- war, woraus dann späturfinn. *h- wurde. Ostseefinnischerseits gestalteten sich die Lautwandel also folgendermaßen: frühurfinn. *šelna > späturfinn. *hella > finn. hellä. Balt. *švelna ist eine neutrale Adjektivform. Natürlich käme auch die feminine Form *švelnā als Lehnquelle infrage, da der lange Vokal in nichterster Silbe im Frühurfinnischen automatisch gekürzt worden wäre. Möglich ist allerdings auch, dass der initiale Konsonantismus auf baltischer Seite variierte (also *švelna/*šelna). Leider ist die weitere Etymologie des litauischen Adjektivs nicht bekannt (F raenkel II 1041, vgl. aber L anszweert LgB V-VI 34). Über die Richtung der Entlehnung kann jedoch kein Zweifel bestehen. Es sind viele Fälle bekannt, in denen *šv- und *š- aus irgendwelchen Gründen miteinander variieren. Für einige Fälle wird (mit Recht) Schwund von -v- angenommen. Im Litauischen gibt es zwei Wörter, in denen initiales Š- früheres balt. (= balto-slav.) *iv- voraussetzt, nämlich šeši ,6’ (S moczynski 1989,74) und šešuras ,Schwiegervater’ (ibid. 101). Andererseits ist auch ein Fall mit der Variation šv-/š- am Wortanfang bekannt, nämlich lit. švarkas (normative Gestalt) ,(Herren)rock‘ ~ dial. šarkas. Nach F raenkel II964 ist -v- in diesem Fall sekundär (vgl. auch O trębski 1 380). Lit. šarka ,Krähe’ hat zweierlei slavische Äquivalente, einmal z. B. russ. soröka < *sorka, andererseits z. B. bulg. svräka < *svorka (F raenkel II 964, F asmer III723). Zu beachten ist schließlich, dass es im Baltischen Fälle von s- < *jv- gibt, die stark an š- < *šv- erinnern (s. sana , Wort’). Bei allen diesen Fällen handelt es sich allerdings um sporadische, nicht regelmäßige Verhältnisse. Trotzdem reichen sie als Parallelen aus, wenn man bei der hier vorgestellten Etymologie von einem solchen Wechsel ausgehen möchte.

44

Etymologien

18. h erm o Als ursprünglichste Bedeutung von finn. hermo dürfte ,Muskelfaser; Sehne’ angenom­ men werden. Die heutige Hauptbedeutung ,Nerv‘ ist nach H akulinen 1979,460 seit 1837 belegt. Dieses nur begrenzt verbreitete Wort (Finnisch, Ingrisch, Karelisch, möglicherweise < Finnisch) hat keine Etymologie. Nach SSA 1 158 ist es vielleicht deskriptiver Herkunft. Es fällt mir allerdings schwer, in diesem Wort ein deskriptives Element zu sehen. Dialektal ist auch die Variante hervo belegt, das mit auch hochsprachlich belegtem hervoton , schlaff’ zusammenhängt. Dies kann mit dem in den ostseefinnischen Sprachen recht allgemeinen Wechsel m / v erklärt werden. Unter Beachtung bestimmter lautlicher Parallelen kann für das Wort eine durchaus glaubhafte baltische Lehnetymologie aufgestellt werden. M. E. kann das Wort mit dem litauischen Adjektiv širmas ,grau’ zusammengestellt werden (zu dessen Etymolo­ gie s. F raenkel II989). Balt. i, das offenbar auch ansonsten offen artikuliert wurde, war besonders vor r so offen, dass es bei der Entlehnung durch *e substituiert werden konnte. Eine altbekannte sichere Parallele ist finn. herne , Erbse’ : lit. žirnis. Derselbe Fall liegt in meinen hier neu vorgestellten Etymologien für ero , Unterschied’ & erä ,Stück; Mal; Partie’ und perho , Schmetterling’ (s. dort) vor. Zur Offenheit von balt. *i vgl. noch finn. helle , Hitze’ : lit. šiltis. Trifft die hier aufgestellte Etymologie zu, war die semantische Entwicklung .graue Faser (im Fleisch)’ - » ,Nervenfaser; Sehne’. S. harmaa .

19. h evon en U. a. führt auch SSA I hevonen , Pferd’ nicht als Lemma auf, sondern erwähnt es unter hepo (ibid. 156), das m. E. jedoch eine sekundäre Bildung ist. H äkkinen 1990, 143 z. B. sieht hevonen (ganz wie punainen ,rot’) als Ableitung mit dem Suffix -( i)nen an. U. a. auch ihrer Meinung nach (H äkkinen 1987,50, H äkkinen 1990,218) handelt es sich um eine deminutive Ableitung von hepo . Der Wortstamm hat gemeinostseefinnische Verbreitung (SSA I 156). Das Wort scheint auf baltischer Seite eine gute Entsprechung zu haben, auf die merkwürdigerweise noch kein Forscher aufmerksam geworden ist. Der Grund hierfür besteht sicher zunächst in bestimmten phonetischen Unterschieden, die aber erklärt werden können, und dann natürlich darin, dass die baltischen Sprachen in der etymologischen Erforschung des Finnischen praktisch nicht berücksichtigt werden. Als baltische Ausgangsform kann *es'vainis bzw. noch genauer *esvoinis / *esväinis, mit dialektalem o ( ä ) wie in vielen anderen baltischen Entlehnungen im Finnischen auch, rekonstruiert werden. Vgl. z. B. oinas , Hammel, Schafbock’ < balt. dial. *o ( v)inas / *ä ( v)inas (: lit. avinas). Es kann sich bei diesem Vokal gut um einen zwischen a und o liegenden Vokal handeln, der in der Baltologie oft durch ä wiedergegeben wird und der auf der entlehnenden frühurfinnischen Seite durch o substituiert wurde. Für die rekonstruierte Form *ešvainis gibt es noch heute als

19. hevonen

45

Archaismus eine sehr ähnliche, wenngleich nicht völlig identische Entsprechung in den žemaitischen Dialekten des Litauischen: ašvienis , Arbeitspferd’ (LKZ I 349, LKA I 146, D aukantas 1935, 331, D aukantas 1955, 438, V aižgantas RR I 486, V itkauskas 34). Auch die Form ašvienys ist belegt (LKŽ I 349, O trębski II 213). Bei dem Wort handelt es sich um eine Ableitung aus dem indoeuropäischen Wort für ,Pferd’ (altind. ašva-, lat. equus usw.), das durch ašva (bei B retkūnas in der phonetischen Form e š v a ) ,Stute’ noch im Altlitauischen etymologisch vertreten war (P okorny 1 301, T rautmann 1923, 72, S kardžius 1943, 13, 36, 289, 568, F raenkel 1950, 37, F raenkel 120, A rumaa 1 67, O trębski II37, P alionis 1967, 220, T oporov A-D, 137, Z inkevičius LK II 303, II 78, M ažiulis I 106, S abaliauskas 1990, 27, S abaliauskas 1994, 22, E ckert, Baltistica XXX: 1, 55). Im Altlitauischen (in der Bibelübersetzung von C hylinski) ist von dem Wort auch die Ableitung ašviena , Stute’ belegt (C hylinski II 418, III10, P alionis 1967, 220, S abaliauskas, LKK X 151). Auch die Stammvariante ašvienė ist belegt (LKŽ I 349). Anhand eines litaui­ schen Lehnwort, das im Weißrussischen des 16. Jahrhunderts belegt ist, kann lit. *ašvienykas ,Pferdezüchter’ rekonstruiert werden (Z inkevičius LKI II 125). Vgl. noch ašvis ,Pferd’ (LKŽ I 350). Was die Phonetik betrifft, muss zunächst festgestellt werden, dass das initiale e-, das aus indoeuropäischer Sicht ursprünglich ist, im Laufe der litauischen Sprach­ geschichte (möglicherweise nicht bei B retkūnas; vgl. aber Z inkevičius LKI III73) in diesem Wort durch a ersetzt wurde. Der Wechsel solcher wortinitialen Vokale ist in den baltischen Sprachen allgemein verbreitet und in der Literatur ausführlich behandelt (F raenkel I V, A rumaa 167, A rumaa 1933, 9-13, T rautmann 1910,105109, B ūga, LK I 382, B ūga, LKK XX 63, B ūga II 141-142, 507-508, III 300-301, 326,336,398,410-411,415,780, 852,853-854,859, E ndzelin 1923,36, E ndzelIns 1951, 54, E ndzelIns IV:2, 31, 116-117, E ndzelins, Baltic Linguistics 58, S kardžius II 617-618, IV 889, O trębski I 51, 215-216, S abaliauskas, LKK X 151, Stang V

1966, 31-32, S enn 1 79, S chmalstieg 1976, 142, Z inkevičius 1966,121-124, Z inke­ vičius 1978, 30-31, 38, 40, 108, Z inkevičius IG I 115-117, Z inkevičius LKI III 73, 257, 269, 272, IV, 50, 199, 201, 206, 221, 222, Z inkevičius 1966, 208, P alionis 1967, 97-98, P alionis 1979, 42, P alionis 1995, 49, LKA II 27-29, T oporov E-H, 63, L anszweert 1984, 71, 74, R udzīte 1993, 134, 135, 136, 140, K araliūnas, Baltistica XXVIII: 1, 66, V idugiris 27, P alionis, Baltistica XXXIII: 1, 82, P alionis,

LKK XXXIX 106). Diese Liste strebt keine Vollständigkeit an; ich gebe sie aber trotzdem, da ich glaube, dass sie für den, der sich für das Phänomen interessiert, von großem bibliographischen Nutzen ist. Der in den slavischen Sprachen am Wortanfang vorkommende Wechsel ( j ) e - : o(< früher e- : a-), dessen Erklärung sehr vielen S lavi sten Schwierigkeiten bereitet, ist im Grunde eine Widerspiegelung des beschriebenen Phänomens. (Das Slavische ist ja historisch ehemaliges Baltisch!) Die hauptsächliche Verteilung ostslav. o- : west- und südslav. (j)e- ist das Ergebnis späterer analogischer Ausgleichung, von der es auch Ausnahmen gibt, die ich in diesem Zusammenhang natürlich nicht

46

Etymologien

erörtern kann. Zu den slavischen Fakten s. z. B. O trębski 151, A rumaa I 67, 102, 106, 107, 114, Stang 1970, 102. Die Endung -is der baltischen Maskulinstämme auf -( i)jo - ist im Frühurfinnischen entweder durch *-es oder durch *-es (das im Späturfinnischen zu *-eh wurde) substituiert. Für Ersteres gibt es das Beispiel kirves ,Axt’, für Letzteres u. a. die Beispiele heme ,Erbse’, käärme ,Schlange’, toe ,Damm, Wehr’. Dasselbe trifft für die seltenen maskulinen Stämme auf -i - zu. Als Beispiele seien hier nuode , Schwager’ und viikate , Sense’ erwähnt. Die am ehesten zu erwartende späturfinnische Form unseres Wortes wäre also *ehvoineh . Tatsächlich lautete die Form aber offenbar *hehvoineh , eine Form, die auf dem Wege einer etwas speziellen Assimilation entstand. Sie geht auf frühurfinn. *šešvoineš zurück, dem seinerseits offenbar *ešvoineš zugrunde liegt. Eben dieselbe Assimilation wird in dem für autochthon angesehe­ nen finnischen Wort hiha < *šiša < iša angenommen (SSA I 161, vgl. S aareste 1924, 55, T. Itkonen, Virittäjä 1987, 177). Im Späturfinnischen ist es dann zu der Dissimilation *hehvoi- > *hevoi- gekommen. Diese Erklärung wird durch finn. hehvo ,Färse’ (SKES I 72, T. Itkonen, ibid. 168), die m. E. ursprünglichste der vielen Varianten von finn. hieho , gestützt (vgl. O jansuu, Virittäjä 1908, 33-34). Trotz der skeptischen Haltung der finnischen etymologischen Wörterbücher ist dieses Wort höchstwahrscheinlich ein baltisches Lehnwort (so auch T. Itkonen, ibid. 177), das über die Zwischenformen *šešvo < *ešvo auf die baltische dialektale Form *esvö ,Stute’ zurückgeht (vgl. schon O jansuu, ibid., P ėteraitis 1992, 68). Der Bedeutungsunterschied ist kein Hindernis, denn z. B. lapp. aVdo ,Rentierkuh’ hat die mordwinische Entsprechung efd'e,Stute’ (SKES 172, L ehtiranta 1989,14). Die oft vorgetragene und zweifellos interessante Entsprechung von finn. lehmä ,Kuh’ und mordw. tišme ,Pferd’ muss allerdings offenbar anders erklärt werden (s. härkä ). Da die relative Chronologie der Lautentwicklungen und die Entwicklungsrichtung nicht sicher bestimmt werden können, ist z. B. die Entwicklung *ešvoineš > *ehvoineh > *hehvoineh (Assimilation) usw. ebenso möglich. Man beachte, dass H akulinen 1979,49 eben gerade finn. hiha auf die ältere Form iha (< *iša), die dialektal belegt ist, zurückführt. Das heutige finn. hevonen ist aus hevoinen , das im älteren Finnisch noch belegt ist (J uslenius 100, H akulinen 1979, 124), entstanden; Letzteres hinwieder entstand dadurch, dass das (spät)urfinnische Element -neh volksetymologisch als deminutive Endung gedeutet wurde. Aus diesem Grund hat die Endung auch die normale Form der Deminutive -nen angenommen. Das in den meisten Publikationen als Ausgangs­ form aufgestellte hepo ist eine sekundäre retrograde Bildung, die — kurioserweise — in deminutiver Bedeutung gebraucht wird (H akulinen 1979, 389, KangasmaaM inn, MSFOu CL 154), während sich das scheinbar „richtigere Deminutivum“ (vgl. H äkkinen 1990, 218: „finn. hevonen ist eine deminutive Ableitung von hepo i() in der neutralen Bedeutung eingebürgert hat. Wahrscheinlich lässt dieser Umstand darauf schließen, dass das Lehnwort hevonen, obgleich es sich formal den Deminutīva angeglichen hat, von seiner Bedeutung her nie ein solches gewesen ist. Eigentlich entbehrt das -p - der retrograden Bildung jeder Grundlage, aber diese „starke“ Stufe

19 . hevonen

47

scheint in den verschiedenen Ableitungen des Wortes in den ostseefinnischen Sprachen allgemein zu sein (s. SSA I 156). Interessanterweise ist für dieses Wort und seine Ableitungen in den ostseefinnischen Sprachen die Bedeutung,Stute’ recht allgemein (ibid.). Zu möglichen Gründen dafür s. V ilkuna, Virittäjä 1967, 183-184. Das retrograde hepo steht zu hevo ( i)nen mit seinem ursprünglicheren Konsonantismus in einem ähnlichen Verhältnis wie kärpänen ,Fliege’ zum (ursprünglicheren) kärvä ( i)nen in den westfinnischen Dialekten (dies hinwieder < balt. *kermen -). In alten Wörterbüchern wird allerdings auch hewo angetroffen (G anander 133, L önnrot I 150). Sollte möglicherweise die eben erwähnte Bedeutung ,Stute’ in den ostsee­ finnischen Sprachen auf dem Einfluss des oben erwähnten, aus derselben Quelle entlehnten baltischen Lehnwortes hehvo (spätere, spezialisierte Bedeutung ,Färse’) < balt. dial. *esvo ,Stute’ beruhen? Litauisch ašvienis enthält das Suffix - ienis, das aufgrund der von mir anerkannten Regeln der baltischen historischen Phonetik nur auf die Form *-einis, genauer *-einja - zurückgehen kann (S kardžius 1943, 13). Das -s am Wortende ist Zeichen des Nominativ Singular (in den heutigen baltischen Sprachen nur bei den Maskulina). In der Rekonstruktion *esvainis erscheint das Suffix in der baltischen Ablautvariante *- ainis. Es (bzw. eigentlich *- ainja -) ist im Litauischen recht verbreitet (S kardžius 1943, 286-287). Zu den Ablautvarianten des Suffixes -ain - / - ein - s. T rautmann 1925,167, 170,E ndzeldms IV:2,59, A mbrazas, LKK XXXIX157-159. Im Altpreußi­ schen ist das substantivierte Adjektiv aswinan , Stutenmilch’ mit dem Suffix - in -a belegt (T rautmann, ibid., M ažiulis 1 106). Etwas anders (aber ungenauer) T oporov A-D, 136. Die hier aufgestellte Etymologie könnte für die Bestimmung der Chronologie des Früh- und Späturfinnischen interessant sein, da die Etymologie den Lautwandel š > h, der aus dem Frühurfinnischen ererbte Wörter betrifft, voraussetzt. Andererseits wird auf baltischer Seite dialektales o ( ä ) angenommen, sodass ein „Urbaltisch“ als Quellensprache nicht infrage kommt. Hier wären genaue archäologische Resultate hochwillkommen. Im Laufe der letzten beiden Jahrzehnte ist das Frühurfinnische vielleicht unnötig weit in die Vergangenheit zuriickverlegt worden. Ich bin im Übrigen der Meinung, dass das Frühurfinnische (eine längere Phase, die sprachlich nicht einheitlich war), durchaus auch die frühe Vorstufe des Mordwinischen umfasste. (Vgl. T. Itkonen, FUF LIV 260, nach dem das Ostseefinnische, das Lappische und das Mordwinische innerhalb der finnisch-wolgaischen Sprachen jeweils relativ deutlich abgegrenzte Gruppen bilden, denen das Tscheremissische in einer Sonderstellung gegenübersteht. Die finnisch-lappische Ursprache, mit anderen Worten die traditionell als Frühurfinnisch bezeichnete Sprachstufe, wäre seiner Meinung nach als überflüssig zu verwer­ fen.) Jedenfalls war m. E. das Mordwinische zur Zeit der baltischen Kontakte noch ein Teil dieser Sprachgemeinschaft — wenn auch vielleicht nur ein lose verbundener. Es sei daran erinnert, dass das Lappische nicht sehr viel mehr wirklich altes baltisches Sprachmaterial aufweist als das Mordwinische. (Verglichen mit den zahlreichen baltischen Entlehnungen im Finnischen haben sowohl das Lappische als auch das

48

Etymologien

Mordwinische nur sehr wenige.) Später wurde der größte Teil der finnischen Baltismen weiter ins Lappische entlehnt, eine verwandte und im Ganzen sehr fennisierte Sprache. Von allen ostseefinnischen Sprachen weist das Finnische die meisten alten baltischen Lehnwörter auf.

20 . hiili Finn. hiili, Gen. h iilen , Kohle4ist ein gemeinostseefinnisches Wort, das im Lappischen zwei Entsprechungen verschiedenen Alters hat. Die neuere ist aus dem Ostsee­ finnischen entlehnt, genauer gesagt aus dem Finnischen (SSA I 162). Die frühurfinnische Rekonstruktion des Wortes lautet *šīle. Das Wort geht zurück auf die baltische Form *žīlē, die im Litauischen zylė lautet. A mbrazas 1993, 107 gibt für dieses Wort die Bedeutung ,pražilusi vieta, plikė’ = ,ergraute Stelle, Glatze’. Das litauische Wort ist eine Ableitung aus dem Adjektiv žilas ,grau’ (L yberis 916). Semantisch steht diese Etymologie m. E. über jedem Zweifel. Sehen wir zum Beispiel am Tag nach einem Saunabad in den Saunaofen, so sind dort graue Kohlen zu sehen. Als semantische Parallele bietet sich russ. zolä ,Asche’, das vermutlich etymologisch in diesen Zusammenhang gehört (V asmer I 460), an. Lit. zylė zeugt zwar für die Richtigkeit der von mir vorausgesetzten baltischen Rekonstruktion, was die Möglichkeiten der Wortbildung anbetrifft, aber zur Bedeutung muss ein weiteres Mal betont werden, dass die baltischen Lehnwörter im Finnischen nicht aus dem Litauischen oder einer dem Litauischen vorangegange­ nen Sprachform stammen! Langen Vokal in der Stammsilbe hat auch die litauische -y'o-stämmige Ableitung žylis, für die folgende Bedeutungen gegeben werden: „das Grausein’ des Haares’ (K urschat IV 2752), ,sēdina’ (S ereiskis 1082, L yberis 916), ,siwizna’ (Š lapelis 1940, 6 0 2 ),,žilumas’ (DLK Ž957),,sirmums’ (R yteris 1344). Das Wort hat offenbar bereits im Urfinnischen die ganz natürliche Spezialbedeu­ tung ,glühende Kohle’ entwickelt (so auch im Lappischen dokumentiert). Auf dieser Basis werden u. a. die Weiterentwicklungen, die für die Bedeutung des Wortes im Estnischen und Livischen belegt sind, verständlich (hierzu s. SKES I 73, SSA I 162). Aus derselben baltischen Wortsippe ist offenbar auch finn. hilse ,Häutchen; Schuppe’ entlehnt (s. da).

21 . hiki Das gemeinostseefinn. hiki (Gen. hien, Stamm hike - ) , Schweiß’ hat keine Etymologie (SSA I 163). A riste 1981, 18 führt das Wort auf eine von ihm angenommene Substratsprache zurück, für deren Existenz es keine positiven Belege gibt und auch nicht geben kann. Der größte Teil der von Ariste angenommenen Substratwörter entpuppt sich als baltische Entlehnungen.

21 . hiki

49

Trotz des scheinbar großen Bedeutungsunterschiedes stelle ich für hiki das baltische rekonstruierte Original *šikē auf, das mit dem litauischen Verb šikti , scheißen’ verwandt ist (s. dazu F raenkel II 982, K aukienė, Baltistica XXVIII: 1, 11, 18). Als Ausgangsbedeutung dieser rekonstruierten Form nehme ich , stinkendes Körpersekret’ an, was der Schweiß seinerzeit lange vor Deodorants und den heutigen Möglichkeiten körperlicher Sauberkeit tatsächlich ja war. Mit dem erwähnten litauischen Verb ist höchstwahrscheinlich lit. šeškas ,Iltis, putorius’ (vgl. aber B ūga II618, F raenkel II 977), die baltische Entsprechung von finn. häähkä ,Europäischer Nerz’ (s. den Artikel portim o ), verwandt. Der genannte baltische Tiemame hat also im Lichte dieser Etymologie ursprünglich ,Stinker’ bedeutet. Interessanterweise ist im russi­ schen Dialekt von Pskov (Pleskau) das Verb ši'kat',riechen, stinken’ belegt, das als baltisches Lehnwort angesehen wird (L aučiūtė 1982, 91, Z inkevičius LK! I 273 vergleichen es mit dem eben erwähnten litauischen Verb). Somit kann das an sich alte litauische Verb seine heutige Bedeutung erst relativ spät bekommen haben. Laučiūtė nennt zwar auch für das litauische Verb die zusätzliche Bedeutung,riechen, stinken’, was natürlich leicht verständlich ist, kann doch auch das finnische Verb paskantaa ,scheißen’ in dieser Bedeutung verwendet werden, aber zumindest das mehrbändige litauische Großwörterbuch LKŽ kennt eine solche Bedeutung nicht. Für die oben gegebene Erklärung kann eine gute semantische Parallele aufgezeigt werden. Innerhalb des „albano-balto-slavischen“ spätindoeuropäischen Dialektkonti­ nuums, das ich in einem anderen Zusammenhang untersuche, gibt es mit einem Verbalabstraktionssuffix von dem Verbalstamm *der- gebildete Ableitungen, die sich als Parallele anbieten, nämlich einerseits alb. djersē ,Schweiß’ < *der-tjä und andererseits russ. der-bmö ,Mist, Kot’. Als Ausgangsbedeutung dieser Ableitungen postuliere ich ,Sekret’ (L iukkonen, Studia Slavica Finlandensia X 59). Es sei erwähnt, dass beide genannten Verbalabstraktionssuffixe im Albanischen und im Balto-Slavischen belegt sind, letzteres ist sogar besonders charakteristisch im Litaui­ schen (-imas) und im Albanischen (-im). Zum ersteren s. den Artikel virtsa. Das rekonstruierte *šikē ist im Litauischen als zweiter Teil eines vulgären dialekta­ len Kompositums faktisch belegt. In der Mundart von Druskininkai bedeutet stačiāšikē (Druskininkų žodynas 346) »schnell verrichtete od. zu verrichtende Arbeit’, wörtlich „im Stehen Geschissenes“. Allerdings berechtigt dieses Kompositum noch nicht zur Aufstellung obiger Rekonstruktion, denn es ist nach bestimmten allgemeinen Wort­ bildungsprinzipien im Litauischen gebildet. Als selbständiges Wort ist šikė im Litauischen in der Bedeutung , Arsch’ belegt (LKŽ XIV 757). Es können für die aufgestellte Rekonstruktion Wortbildungsparallelen vorgebracht werden. Eine lautlich sehr nahe liegende Parallele ist das im älteren Litauisch belegte tikė »Glaube, Religion’ (LKŽ XVI 228, S lavočinskis 1646, 522, S kardžius 1943, 72, F raenkel II 1090, P alionis 1967, 257, Z inkevičius III 172, 264), das mit den Verben tikti »taugen, passen, genügen, wohin geraten, sich ereignen; entsprechen’ (F raenkel I I 1092) und tik ėti , glauben’ (ibid., 1090) verwandt ist. Zur Verwandtschaft dieser Verben s. S kardžius 1943, ibid., F raenkel I I 1090-1091,1092-1093, U rbutis 1981, 106.

In den finnischen Dialekten kommt auch die Variante hiko vor (IIakdi ini/•>. 281), die eine Entsprechung im Wepsischen hat (SKES I 75, SSA I 163). I >irn könnte eine (an sich völlig mögliche) baltische dialektale Parallelableitung *$iko *šikā voraussetzen, aber es ist wohl kaum tunlich, diesen Erklärungsweg einzuschla­ gen. Die Variation dürfte eine innerostseefinnische Erklärung haben. In jedem Fall lautet die frühurfinnische Rekonstruktion von hiki *šike (so bereits D ėcsy 1965, 205).

22 . hilse Finn. hilse ,Blättchen, Häutchen; Schuppe’ ist nach SSA I 164 wie eine Reihe ähnlicher Wörter deskriptiven Ursprungs. Aus formalen Gründen und eigentlich auch von der Semantik her könnte es allerdings gut als baltisches Lehnwort angesehen werden. Im Litauischen gibt es das Wort žilis ,Grau, Grausein, Grauheit (des Haares); das graue Haar (auf dem Kopf), Silberhaar’ (S enn-S alys V 428), das als Entsprechung des möglichen baltischen Originals infrage käme. Es ist eine Ableitung von dem Adjektiv žilas ,grauhaarig’ (F raenkel II 1308, wo auch zur Etymologie). Die im Finnischen zu erwartende Gestalt wäre **hiles < frühurfinn. *šiles, vgl. das Verhältnis von lit. kirvis und finn. kirves ,Axt‘. In dem jetzt zu behandelnden Fall ist eine Metathese vor sich gegangen, wonach sich das Wort den Nomen auf -eh oder -ek angeglichen hat (nach H akulinen 1979, 119 handelt es sich um ein Nomen auf -eh, ob es sich lautgeschichtlich tatsächlich so verhält, kann nicht bewiesen werden, da ja bekanntlich die Nomen auf -eh und -ek im Finnischen zusammengefallen sind und finn. hilse keine Entsprechungen in den ostseefinnischen Sprachen hat). Zur Metathese vgl. den Artikel lapsi. Für den skizzierten Prozess kann m. E. eine Parallele aus dem autochthonen Wortschatz des Finnischen ausgewiesen werden. Es handelt sich um gemeinostseefinn. perse , Arsch’, bei dem wir es m. A. n. mit einer alten Ableitung *peres von p erä »hinteres Ende bzw. Teil’ zu tun haben (zögernd wird es bereits in SSA II 341 mit perä zusammengestellt). N ikkilä, Virittäjä 1997, 303 postuliert als Ausgangs­ form *per-sV. T. Itkonen, Juuret 350 definiert das Wort (ohne Aufstellung einer Etymologie) so: „Ableitung oder eine andere sekundäre Bildung“. Es ist ein Nomen auf -ek (L ehtisalo 1936, 334, R apola 1966, 298, H akulinen 1979, 120), das sich nach Metathese an diese Nomina angeglichen hat. An dieses metathetische Wort­ bildungsverhältnis erinnert eine andere wahrscheinliche Ableitung von perä, nämlich finn. p e rh e ,Familie’ < pereh (dialektal und in den anderen ostseefinnischen Sprachen belegt — SSA II 339) < *pereš. Im Falle von perse ist die Metathese allerdings älteren Datums, sicher schon urfinnisch, wie aus dem Lautstand in den ostseefinni­ schen Sprachen geschlossen werden kann (SSA I 341). Die Semantik von hilse macht keine Schwierigkeiten. Es handelt sich um eine recht geringe und gleichzeitig auch lustige Bedeutungsverschiebung. Ist in dem

Haar einen illleteu itunkellmmi^en Menschen (irau zu sehen, muss man meist von Nahem sehmien, oh es sieh um Schuppen oder einzelne graue Haare handelt! (So zumindest Iroher, zu /e ite n schlechterer Hygiene.)

23. him o Finn. himo »Begierde, Lust’ ist ein gemeinostseefinnisches Wort ohne befriedigende Etymologie (SKES I 76, SSA I 164). Aufgrund der Verbreitung könnte man auf baltische Provenienz schließen, da trotz fleißiger Lehnwörterjagd bisher keine auf dem Germanischen aufbauende Etymologie gefunden worden ist. Die baltische Verbalwurzel *žen-/*žin-/*žnā- »wissen, kennen’ ist die Basis einer ganzen Reihe von Lehnwörtern im Finnischen. Von alters her bekannt ist nuode »Schwager’, und hier stelle ich neue Etymologien für hinta »Preis’, ihme »Wunder’ und ihminen »Mensch’ dazu (s. die entsprechenden Artikel). Auch himo könnte sich hier einreihen. Das litauische Substantiv žymė ,Zeichen’ mit -ē-Stamm geht auf die frühere Form *žin-mē zurück (S kardžius 1943, 205, F raenkel II 1309, A rumaa I 128, III 118, K azlauskas 1968,249). Bis auf den Endvokal ist es als Vertreter des baltischen Originals für das finnische Wort geeignet. Im Frühurfinnischen war die Kombination -nm- aus phonotaktischen Gründen im Wortinneren nicht möglich, sodass sie durch -m- substituiert wurde (s. auch ihme). Möglich ist allerdings, dass das baltische Original einen «-Stamm hatte und *žin-mā lautete. Eine sichere Aussage hierüber ist unmöglich, da ostseefinn. -o am Wortausgang auf jeden Fall sekundär ist. Bei einem baltischen Stamm auf -ä wäre es jedoch wahrscheinlicherer, da es andere derartige Fälle gibt. In den baltischen Sprachen ist es ein ganz gewöhnliches Phänomen, dass von einem und demselben Wort sowohl eine Variante auf -ä als auch eine auf -ē existiert (s. B ūga I 362, II 138, B ūga 1908, 60-61, E ndzelin 1923, 196-197, E ndzelēms II 572, IV: 1, 388, IV:2, 467, S kardžius 1943, 74-75, F raenkel 1950,65, O trębski II48, III 28, Z inkevičius 1966, 229, K azlauskas 1968, 190). Andererseits spricht für einen möglichen -ē-Stamm des Originals, dass *-mē genetisch auf das Suffix -men zurückgeführt werden kann (s. Suomi) und nichts von einem Wechsel dieses Suffixes *-me mit dem (an sich seltenen, aber belegten) Suffix *-mä bekannt ist (hierzu s. S kardžius 1943,204). Wegen der Seltenheit des letzterwähnten „reinen“ Suffixes *-mä kann die Frage wohl kaum sicher entschieden werden. Es gibt allerdings gewisse Parallelformen, vgl. lit. glėim a ~ glėim ė ,Schimmel; Schleim’ (LKŽIII408), plotm ä ~ plotm ė ,offener Platz’ (LKŽ X 313), in der älteren Sprache tarmä ~ tarmė »Sprache’ (LKŽ XV 874, 875). Es scheint also, im Frühurfinnischen hat es das baltische Lehnwort *simV »Zeichen’ gegeben. Heißt man die bisherige Darstellung gut, muss die spätere Bedeutungs­ entwicklung des Wortes erklärt werden. Ich halte es für gut möglich, dass die heutigen Ausdrücke osoittaa, tuntea himoa ,Lust zeigen, fühlen’ vor der späturfm-

52

Etymologien

nischen Periode tatsächlich im Sinne der Etymologie die Bedeutung ,Zeichen (der Liebe, Lust) zeigen, fühlen’ trugen.

24. hinta Ein gemeinostseefinnisches Wort, das auch ein Äquivalent im Mordwinischen hat, ist hinta ,Preis’ (SSA I 165, R aun 13). Das Wort hat keine Etymologie, da der Erklärungsversuch von Eeva U otila (Virittäjä 1990, 265-268), nach dem es auf ein baltisches Wort mit der Bedeutung ,hundert’ (lit. šim tas ) zurückgeführt werden kann, semantisch völlig unglaubhaft ist. Baltischer Herkunft ist das Wort allerdings m. A. n. durchaus. Es handelt sich bei diesem Wort um eine der vielen Partizipentlehnungen aus dem Baltischen. Das Original ist das baltische Partizip Präteritum Passiv (Neutrum) *žinta ,bekannt’, das aus einem Verb gebildet ist, das heute in dem präfigierten lit. pažinti ,kennen, bekannt sein mit, erkennen’ vertreten ist (F raenkel II 1310). Interessanterweise sind aus baltischen Wörtern, die von demselben Verbalstamm herstammen, auch die von mir hier neu etymologisierten himo »Begierde, Lust’, ihme »Wunder’ und ihminen , Mensch’ (s. dort) sowie das altbekannte nuode Schwa­ ger’ entlehnt. Hier, wie auch bei vielen anderen baltischen Lehnwörtern im Finnischen, muss beachtet werden, dass zur Zeit der baltischen Kontakte die späteren Präfixe noch nicht fest mit dem Verb verbunden waren, sondern noch selbständige Wörter waren (s. etä-), sodass sie nicht mit den Verbformen mitentlehnt wurden (s. ensi). Die Bedeutung des entlehnten Partizips war ,bekannt’, vielleicht also »bekannter, gängiger Wert’ ,Preis’. Erinnert sei daran, dass der Preis eine „bestimmte, d. h. bekannte Summe“ ist; man denke auch an „preisbewusst’’. Es gibt für diese Hypothese eine sehr gute semantische Parallele. Das in den Sprachen Europas als Internationalismus verbreitete Tarif (eng\. Warenverzeichnis, Preisliste’) stammt aus dem Arabi­ schen, wo das Original ta(r ī f , Bekanntmachung’ der substantivierte 2. Infinitiv des Verbs (arafa ,wissen’ ist (Lokotsch 1927, 160, S kok III444). Geht man von der hier aufgestellten Etymologie aus, kann die frühurfinnische und gleichzeitig protomordwinische Form nur *šinta gewesen sein (vgl. bereits D ėcsy 1965,204). K eresztes 1986,159 wollte sich bezüglich des protomordwinischen anlautenden Konsonanten noch nicht festlegen (entweder *činda oder *sinda) und gibt als finnisch-wolgaische Rekonstruktion *činta/*š-. Die finnisch-wolgaische Rekonstruktion *čanta (UEW II618) ist bestimmt falsch.

25. huuru Für ein deskriptiv gefärbtes, möglicherweise auf Kontamination beruhendes Wort hält SSA 1 195 finn. huuru ,Nebel, Dampf, Reif, sich (am Fenster) niederschlagende

26. häntä

53

Feuchtigkeit’. Im alten Schriftfinnisch hat es die Bedeutung ,Dampf; Nebel’ (VKSI 722), im Karelischen ,Nebel, Dampf’ (SSA, ibid.). Dem Wort stehen die Varianten huura (ibid.) und huuro (L önnrot I 241) zur Seite, von denen ich letztere für die ursprünglichste halte. Der Wortausgang von huura ist sicher durch kuura ,Reif‘ beeinflusst. Es handelt sich um ein baltisches Lehnwort mit einer genauen Entspre­ chung im Litauischen. Lit. suträ hat die Bedeutung , feuchter Dampf’ (S kardžius 1943, 301), ,Dunst, Dampf; heiße, glühende Luft, Hitze’ (F raenkel II 1037). Das Wort ist in den litauischen Dialekten weit verbreitet (LKŽ XV 424, V itkauskas 383). Die lettische Entsprechung lautet sutra ,der Dunst, Dampf’ (ME III1128). Zu Etymologie und Wortbildung des baltischen Wortes s. F raenkel, ibid., E ndzelin 1923, 248, E ndzeldms 1951, 339, T rautmann 1923, 310, O trębski I I 143, A mbrazas 1993, 68. Die Formen huuru und huuro setzen eine baltische dialektale Ausgangsform *sutrö voraus, ganz wie puuro ,Brei‘ (nach SKES III 666 gibt es dialektal u. a. die Varianten putro und putru ) entsprechend die baltische dialektale Form *putrö voraus­ setzt (N ieminen, FUF XXII 42). Das Verhältnis huuru : huuro hat im Finnischen mehrere Parallelen, z. B. kaivo : kaivu, ketto : kettu, peso : pesu, puro : dial. puru (H akulinen 1979, 47, 224). Aufgrund meiner Etymologie sollte man eigentlich im Karelischen eine Form mit -dr- im Wortinneren erwarten, doch gibt es auch andere ähnliche Fälle (O iansuu 1918, 35). Vielleicht könnte das karelische Wort aus dem Finnischen entlehnt sein.

26. h än tä Ein gemeinostseefinnisches Wort ohne sichere Äquivalente in den anderen uralischen Sprachen ist häntä »Schwanz’ (SSA I 208). Offensichtlich unbegründet ist die von SKES I 98 vorgenommene Zusammenstellung mit einem wogulischen und ostjakischen Wort für »Rücken’ (ebenso H akulinen 1979,311, R aun 15, UEW 156; s. auch K orhonen, Juuret 59). Da das Wort keinen deskriptiven Eindruck macht, muss seine Herkunft wegen der Verbreitung des Wortes in den Nachbarsprachen gesucht werden. Es scheint eine Entlehnung aus dem Baltischen sein zu können. Das livische Äquivalent hat die interessanten Bedeutungen , Schlangenzunge; Stachel von Insekten’ (SSA I 208). Die finnische und die livische Bedeutung können m. E. nicht voneinander abgeleitet werden (S aareste 1924, 97 ist allerdings der Meinung, im Livischen hätte sich ein Bedeutungswandel vollzogen), sondern es muss ein Tertium comparationis gefunden werden, aus dem die Bedeutungen in den beiden Sprachen abgeleitet werden können. Am wahrscheinlichsten könnte es ,etwas Herausragendes, Hervorstechendes’ sein. Trifft dies zu, so kann für das Wort m. A. n. das baltische Original *žengta oder *žengtā vorgebracht werden; Formen des Partizip Präteritum Passiv (ersteres ein Neutrum, letzteres ein Femininum) eines Verbes, das im heutigen Litauisch durch žengti , schreiten, gehen, (hinzu)treten, (hinauf- bzw. herunter)steigen’ (F raenkel II 1299) — auch die Bedeutung , vorrücken’ ist belegt

54

Etymologien

(S enn-S alys V 409) — vertreten ist. Auf Polnisch lauten die Hauptbedeutungen ,kroczyc; posuwac się naprzöd’ (O trębski I I 336). Das Wort wurde offenbar gerade

als Partizip in der Bedeutung,herausgestreckt, hervorgeschoben’ ins Frühurfinnische entlehnt. In der frühurfinnischen Form *säntä sind die dem initialen Konsonanten folgenden Laute auf dieselbe Weise substituiert wie in den baltischen Lehnwörtern ilta (vgl. balt. *ilgta ) und räntä (vgl. balt. *drengta). S. dort. Das baltische e war sehr offen, sodass die Substitution durch frühurfinn. ä keinerlei Probleme bereitet. Dasselbe hat sich in vielen anderen baltischen Lehnwörtern im Finnischen auch abgespielt. Aus demselben Wortstamm ist finn. häät entlehnt (s. da).

27. h ärkä Gemeinostseefinn. härkä, Ochse, Stier’ wird zögernd als baltisches Lehnwort betrach­ tet (SSA I 99, SSA I 210). Das in den finnischen etymologischen Wörterbüchern gesetzte Fragezeichen hat seinen guten Grund, denn die aufgestellte Lehnetymo­ logie (: lit. žirgas ,Roß, (Reit)pferd’, lett. zirgs ,Pferd’, altpr. sirgis ,Hengst’) ist unrichtig (wenngleich sie prinzipiell in die richtige Richtung weist), da sich balt. i und finn. ä keinesfalls entsprechen können. Andere derartige mitunter gemachten Zusammenstellungen, u. a. käärme, kärme ,Schlange’ : lit. kirmis, sind gerade in dieser Beziehung alle falsch, aber aus Raumgründen übergehe ich sie an dieser Stelle. Ich möchte jedoch feststellen, dass die Rekonstruktion des oben erwähnten Wortes nur balt. dial. *kermis sein kann (M ažiulis 1 369). Dann bereitet die Substitu­ tion von balt. e bei der Entlehnung keine Probleme, da es sich um einen sehr offenen Vokal gehandelt hat. Finn. dial. kärme mit kurzem Vokal ist ursprünglicher als das jetzt hochsprachliche käärme. Es muss erwähnt werden, dass lit. žirgas in einigen Dialekten (Dieveniškės, Trakai) wie im Altpreußischen die Bedeutung ,Hengst’ trägt. Die lettische Bedeutung ,Pferd’ ist als Innovation zu betrachten (S abaliauskas, LKK X 153). In dem frühesten litauischen Sprachdenkmal (M ažvydas) ist im Übrigen auch die Bedeutung ,arklys’ = ,Pferd’ belegt (U rbas 440). Es ist nicht leicht, zu beurteilen, für wie wichtig dieser Beleg in einem frühen übersetzten Text anzusehen ist. In der erwähnten Lehnetymologie für das finnische Wort ist es auch die Semantik, die Befremden hervorruft, doch weitgehend ohne Grund, da sowohl die Bedeutung des ostseefinni­ schen Wortes als auch die des dafür vorgeschlagenen baltischen Originals sekundär ist (s. unten). Es handelt sich bei unserem Wort aber zweifellos um eine Entlehnung aus dem Baltischen, die Herleitung muss nur etwas anders als bisher vorgenommen werden. Die bisherige Erklärung ist zwar aus phonetischen Gründen falsch (danach würde das Wort im Finnischen natürlich ** hiras, Gen. **hirkaan oder, bei Annahme eines alten Neutrums, ** hirka , Gen. **hiran lauten), aber die richtige Herleitung des Wortes liegt nicht weit entfernt. Bei der Analyse baltischer Wörter muss immer der Ablaut berücksichtigt werden, der besonders im Litauischen bis auf den heutigen Tag lebendig und produktiv ist

27. härkä

55

(sein Auftreten hat sich sogar weit über das ursprüngliche indoeuropäische Verwen­ dungsgebiet hinaus ausgebreitet). Dies ist eines der vielen archaischen Charakteristika des Litauischen, und u. a. in dieser Beziehung befindet sich auch das heutige Litauisch noch auf einem viel ursprünglicheren Stand als z. B. das klassische Latein vor zwei Jahrtausenden, wo der Ablaut bereits vor langer Zeit aufgehört hatte als lebende sprachliche Kategorie zu existieren. Dieselbe Situation herrscht im Slavischen, das ja sonst dem Litauischen und den anderen baltischen Sprachen genetisch sehr nahe steht; hier verschwand der Ablaut nach der Monophthongierung der Diphthonge endgültig vor etwa 1500 Jahren und hinterließ dabei eine große Anzahl von Wortgleichungen, die sich besonders einem mit den baltischen Sprachen vertrau­ ten Etymologen erschließen. Nach einer m. E. richtigen Herleitung (diesen Standpunkt nehmen auch B ūga II 260, 389, III 711, U rbutis, Baltistica VÜI:1,108 ein; zu anderen Erklärungen s. ME IV 727, F raenkel I I 1313, K arulis II564, M ažiulis IV 113) wird das oben erwähnte lit. žirgas mit den Verben žirgti ,(die Beine) spreizen, mit gespreizten Beinen dastehen od. sitzen’ (ibid.), žergti ,seitwärts schreiten, die Beine spreizen’ (ibid. 1301) zusammengestellt. Gestützt auf diese Etymologie ist auch der Gedanke geäußert worden, lit. žirgas hätte ursprünglich möglicherweise ,schnell laufend’ bedeutet (S abaliauskas, LKK X 153, S abaliauskas 1994, 21, S chmalstieg 1976, 282), was ich aber ablehne. Die Primärverben der indoeuropäischen Sprachen alten Typs, zu denen auch das heutige Litauisch noch gehört, zeigen bekanntlich vom Ablaut her die e-Stufe, die von ihnen abgeleiteten Verbalnomen dagegen die o-Stufe (woraus baltisch a). Den erwähnten Verben stand also als eine solche Entsprechung das Verbalnomen *žargā gegenüber, das sich im heutigen Litauisch in dem Kompositum pajödzarga , Wild­ fang, mutwilliger, wilder, ausgelassener Junge oder ebensolches Mädchen, Tauge­ nichts, Galgenstrick’ erhalten hat (F raenkel I 527) = pa-jöt-zarga (B ūga I 215). Auch das Simplex kommt im Litauischen vor: zargä , Spreizen; Schritt; Faulenzer, der mit gespreizten Beinen steht’ (F raenkel I I 1291). Die letztgenannte, sehr seltene Bedeutung stammt aus den Wortschatzaufzeichnungen des bekannten deutschen Baltologen A. B ezzenberger, der um das Ende des 19. Jahrhunderts wirkte (s. S tuderus, ArchPhil 1 136, 144). Jetzt wird diese Bedeutung auch von S enn-S alys V 392 erwähnt: ,Faulenzer(in), der (die) spreizbeinig dasteht’. Eben balt. *žargā ist m. A. n. das Original für finn. härkä. Zur Zeit der Entlehnung ins Frühurfinnische bedeutete das Wort vermutlich u. a. , widerstrebend, mit gespreizten Beinen Wider­ stand leistend’, in Bezug auf ein Tier natürlich ,widerspenstiges Tier’ (vgl. T homsen IV 435-436 = T homsen 1890, 251, Suhonen, UrLang 602). Es gibt hierzu eine interessante Parallele im autochthonen finnischen Wortschatz. Finn. lehmä ,Kuh’ hat ein Äquivalent im Mordwinischen, das von seiner Semantik her oft Verwunderung hervorruft, nämlich mordwE. tišme ,Pferd’; offenbar bedeutete das Wort ursprünglich ,zahmes Tier’ (Rind oder Pferd). Etymologisch hängt es offenbar mit dem Baumnamen lehmus ,Linde’ zusammen, der dann ursprünglich .weiches und leicht zu verarbeitendes Holz’ bedeutet hätte (K ulonen, Virittäjä

56

Etymologien

1986, 334—336, S S A II58). Es ist nicht auszuschließen, dass *lesmä (> lehmä ) und *sarka/*särkä (> härkä ) im Frühurfinnischen in semantischer Wechselwirkung miteinander standen. Balt. *žargā wurde im Frühurfinnischen in der Form *šarka heimisch, wobei sich dazu auch die vordervokalische Variante *särkä, die lautliche Vorstufe von finn. härkä, herausbildete. Als Beispiele für eine derartige Variation, die sowohl im finnischen autochthonen Wortschatz als auch im Lehnwortschatz recht verbreitet ist, sollen die altbekannten finnischen Baltismen ankerias : ankerias ,Aal‘ und rastas : rästäs ,Drossel’ erwähnt werden. Es gibt noch weitere solche Fälle unter den baltischen Lehnwörtern im Finnischen. Bei den vordervokalischen Formen handelt es sich meist— aber nicht unbedingt immer — um affektive Wortvarianten. Affektiven Charakter hatte das finn. härkä zugrunde liegende frühurfinnische Wort ganz sicher. Zu diesem Phänomen s. u. a. S aukkonen, Virittäjä 1962, 342-343.

28. h äät Finn. häät ,Hochzeit’ hat Entsprechungen im Ingrischen, Karelischen und Süd­ estnischen, aber keine darüber hinaus gehende Etymologie (SSA I 213). Da im umfangreichen Maße Terminologie, die mit Hochzeit, dem Verhältnis der Geschlech­ ter zueinander und ihren Folgeerscheinungen zusammenhängt, aus dem Baltischen entlehnt wurde (u. a. morsian ,Braut’ und nuode ,Schwager’ sowie die in diesem Buch neu vorgebrachten ihminen ,Mensch’, lanko »Schwager’, lapsi ,Kind’, nainen ,Frau’, sulhanen , Bräutigam’ und vakahainen , Säugling’), ist es nur konsequent, das Original für finn. häät gleichfalls hier zu suchen. Auch im Finnischen wird der Ausdruck „astua avioon t aviosäätyyn ,in den Stand der Ehe treten’ verwendet. Das litauische Verb žengti , schreiten, gehen, (hinzu)treten, (hinauf- bzw. herunter)steigen‘ (F raenkel II 1299) und seine Ableitun­ gen werden in ähnlicher Weise verwendet. 1913 m. pabaigoje Būga žengė naują Žingsnį savo gyvenime: lapkričio 16 d. Kaune susituokė su Juze Stankūnaite ,Ende des Jahres 1913 „trat“ Būga einen neuen Schritt in seinem Leben: am 16. November heiratete er Juzė Stankūnaitė in Kaunas’ (Z inkevičius 1979, 81-82). Das Wort, das dem baltischen Original von finn. morsian heute im Litauischen entspricht, ist marti .Braut, junge Frau, solange sie noch keine Kinder hat, Schwiegertochter, Sohnesfrau, Schwägerin’ (F raenkel 1412). Als ursprünglichere Bedeutung wird,jauna moteriškos lyties būtybė, žengianti ar jau įžengusi į moterystės luomą (nuotaka)’ = junges weibliches Wesen, das in den Ehestand tritt oder schon getreten ist (Braut)’ angegeben (B uivydienė 1997, 136). In der baltischen Sprachform, aus der finn. häät entlehnt ist, war seine etymologi­ sche Bedeutung eigentlich „(festlicher) Schritt“ oder „Tätigung eines Schrittes“. Es muss nur noch eine passende Ableitung von dem Verb žengti gefunden werden. Es gibt im Litauischen die von diesem Verb abgeleiteten präfigierten alten Verbalnomen pra-žanga , Übertretung, Verstoß’ und pa-žanga , Fortschritt’ (F raenkel II 1300)

29. ies

57

und auch āt-žanga ,Rückschritt’ (S enn-S alys I 65; vielleicht ein Druckfehler, der auf dem Akkusativ Singular beruht; LKŽ1453: at -žanga), {-žanga,Zutritt; Einleitung’ (S enn-S alys, ibid., 404). Zumindest einige dieser Ableitungen sind sehr wahr­ scheinlich — oder sogar sicher — Neologismen, aber sie sind völlig korrekte litauische Bildungen, sodass das Grundwort ohne negative Folgen von ihnen aus­ gehend etymologisiert werden kann. Nur pražanga ist im Altlitauischen belegt (Pirmasis žodynas 177 = 79, 604 - 506, 824). In den Wörterbüchern, die bisher vorliegen, kommt das Simplex zumindest nicht als Lemma vor, und das einsprachige litauische GroßWörterbuch (LKŽ — bisher sind 18 dicke Bände erschienen) ist noch nicht bis zu dem Buchstaben Z fortgeschritten. Doch nach freundlicher Auskunft von Frau Dozentin Regina V enckutė befindet sich in dem Archiv des Wörterbuches die Angabe žanga = žengimas ,Schreiten’: tas žangus arklys, kurio greita žanga ,es ist ein schnellfüßiges Pferd, das einen schnellen Schritt hat’. Zur Wortbildung (žengti : žanga , -žanga) s. L eskien 1891, 212, S kardžius II 617. Zur Etymologie s. F raenkel II 1299-1300, ME IV 741. Die Substitution des baltischen Originals *žangā im Frühurfinnischen lautet in diesem Fall *šarja. Es handelt sich um ein Wort, das leicht affektive Färbung annimmt, sodass ich davon ausgehe, dass es neben der genannten Form auch die vordervökalische Variante *särjä gegeben hat (vgl. u. a. den Artikel härkä). Letzteres eignet sich lautlich als Ausgangsform für finn. hää( t). Ganz wie in vielen finnischen Wörtern uralischen oder finnisch-ugrischen Ursprungs — z. B. pää ,Kopf; Ende’ < *pät]e (UEW1365), pii ,Zahn, Zacke, Zinke’ < *pirje (ibid., 382) — ist auch hier -rjin intervokalischer Stellung geschwunden. Weitere Beispiele aus dem Finnischen s. H akulinen 1979, 39, wo — nebenbei gesagt — auch die unwahrscheinliche Re­ konstruktion häät « *säje - gegeben wird. Finn. häät ist ein Pluraletantum, wie es viele Bezeichnungen für Feste, Feiern und Veranstaltungen im Finnischen sind, z. B. juhlat ,Feier, Fest’, syntymäpäivät ,Geburtstag’, ristiäiset,Taufe’, kihlajaiset, Verlobung’ und hautajaiset »Beerdigung’. Im Singular kommt hää - nur als erster Bestandteil eines Kompositums vor, z. B. hääkakku,Hochzeitskuchen’, häälahja »Hochzeitsgeschenk’, häämatka »Hochzeits­ reise’, häävieras »Hochzeitsgast’, hääyö »Hochzeitsnacht’. S. auch den Artikel häntä .

29. ies Der angenommene slavische Ursprung des im Finnischen, Estnischen und Livischen belegten ies (Gen. ikeen) ,Joch’ ist nicht umstritten (wie SSA I 200 es formuliert), sondern geradezu unmöglich. Aus der chronologisch geordneten Bibliographie zu dem Wort (ibid.) geht interessanterweise hervor, dass sich die führendsten Slavisten Finnlands, M ikkola, K iparsky und N ieminen, gegen den slavischen Ursprung des Wortes ausgesprochen haben, aber auch noch nach ihnen T oivonen, P osti und SKES (= T oivonen) eigensinnig an der Herleitung des Wortes aus dem Slavischen festhalten.

58

Etymologien

Ich betone ausdrücklich, dass es einen angenommenen Stamm der obliquen Kasus *ižes- im Russischen, aus dessen verschiedenen Entwicklungsphasen (einschließlich des Urrussischen ca. 600-1050 n. Chr.) alle slavischen Entlehnungen im Finnischen stammen, nie gegeben hat. Es handelt sich bei der Form um eine späte analogische Bildung im Serbisch-Kirchenslavischen und in slovenischen Dialekten, also in einem Teil des Südslavischen. In einem Teil dieses Gebietes hatten konsonantische Stämme auf -s eine begrenzte Produktivität. Allgemein gesehen stellt die Substantiv­ deklination von Konsonantenstämmen im slavischen Sprachgebiet (wie übrigens auch im Baltischen) eine tendenziell schwindende Kategorie dar. In den heutigen slavischen Sprachen ist dieser Prozess praktisch bereits abgeschlossen. Einen guten Überblick über die Forschungsgeschichte bezüglich finn. ies mit bibliographischen Hinweisen bietet P löger 1973, 316-318. Da in sehr umfangreichem Maße Zugtier- und Anspannterminologie aus dem Baltischen ins Finnische entlehnt wurde (u. a. aisa ,Deichsel’, hihna ,(Leder)riemen‘, rä nget,Kummet’, vehmaro ,Deichsel’, außerdem die in dieser Untersuchung vor­ gestellten hevonen ,Pferd’, härkä ,Ochse, Stier’, juhta , Arbeitstier’ & Jutta Joch­ riemen’, ohja ,Zügel’, rahje ,Riemen, mit dem der Klöppel am Stiel des Dreschflegels befestigt ist; (PI.) Kummet und Deichsel verbindende Riemen im Pferdegeschirr’ sowie die später noch zu behandelnden länget ,Kummet’ und valjaat ,Geschirr’; auch äes ,Egge’ gehört im Grunde in dieses Begriffsfeld), ist es mehr als natürlich, auch die Herkunft von ies in dieser Richtung zu suchen. M. A. n. passt das litauische Verb engti ,würgen, bedrängen, drücken, quälen’ hervorragend in diesen Zusammenhang (F raenkel 110, wo auch Etymologisches). In der Quellensprache der baltischen Lehnwörter im Finnischen hat es von diesem Verb ganz offenbar die -(/)j'ö-stämmige Substantivableitung *ingis gegeben, die sich lautlich gut als Original für finn. ies eignet. Das *-is am Wortende von balt. *ingis wurde im Frühurfinnischen durch *-es substituiert (vgl. dasselbe Verhältnis in finn. kirves und lit. kirvis). Die Substitution für baltisches intervokalisches *-ng - hinwieder war in diesem Fall frühurfinn. * - rj~. Später ist dies wie in vielen finnischen Wörtern uralischer und finnisch-ugrischer Provenienz geschwunden (s. auch den Artikel häät\ z. B. pää ,Kopf; Ende’ < *pärle (UEW I 365), pii ,Zahn, Zacke, Zinke’ < *piije (ibid., 382), hiiri ,Maus’ < *sirlere (ibid., 500). Weitere Beispiele s. H akulinen 1979, 39. Danach ist die Vorform von ies in den Rexionstyp von äes < *äyes : Gen. äkeen < äkehen < *äkezen über­ gegangen. Da der Schwund von -//- nicht wie alten autochthonen Wörtern in einem langen Vokal resultierte (also ** īs, das allein schon als Worttyp schlecht infrage kam; vgl. aber das von seiner Struktur her einmalige mies ,Mann’ < *mēs < balt. *žmēs, auf dessen Etymologie ich in einem anderen Zusammenhang zurückkommen möchte, da sie eine komplizierte und raumgreifende Beweisführung verlangt), ist möglicherweise ein früher sporadischer Wandel *ir}es > *iyes (wonach Angleichung an den Typ *äyes ) anzunehmen. Ein solcher Lauf der Entwicklung ist aus dem Mordwinischen, das sich in seiner Frühphase und damit während der baltischen Kontakte noch nicht vom Ostseefinnischen getrennt hatte, bekannt: urmordw. *jäy

30. ihme

59

,Eis‘ < *järj « finn.-perm. *järje (K eresztes 1986, 37), urmordw. *kuy (*kurj) ,Mond’ « finn.-wolg. * kurie (ibid., 68), urmordw. *pey3 ,Ende‘ < vormordw. *pārļj (ibid., 106). Für das Wortbildungsverhältnis e n g ti : *ingis können im Litauischen nahe hegende Parallelen genannt werden. Es handelt sich um vengti u. a. ,etwas vermeiden’ : -(/Jj'o-stämmiges vingis , Bogen, Krümmung, Windung, Umweg’ (F raenkel I I 1223, 1256-1257), *teng - : -(i)yo-stämmiges tingis ,Trägheit, Schlaffheit’ (S enn-S alys IV 671). Zur Etymologie von letzterem s. F raenkel II 1098. Sehr interessant ist hier, dass im archaischen Litauisch ein ganz nach den Regeln der alten baltischen Wort­ bildung gebildeter -(iJ/o-Stamm belegt ist: ingis ,faule, träge, arbeitsscheue Person; Faulenzer’ (S enn-S alys 1 2 5 6 ),,der Träge, Faulenzer, Tagedieb’ (K urschat II737), auch ,tingumas, nerangumas’ = »Trägheit, Mäßigkeit, Faulheit; Ungelenkigkeit, Ungewandtheit, Unbeholfenheit, Schwerfälligkeit’ (LKŽIV 111). Zur Wortbildung s. O trębski II 30. Von seiner Wortbildung und Etymologie her (s. F raenkel I 10) ist es mit dem baltischen Original für finn. ies identisch, passt aber aus semantischen Gründen nicht. Es zeigt aber, dass die von mir vorgebrachten Wortbildungsverhältnisse zutreffen. In diesem Zusammenhang muss ein weiteres Mal betont werden, dass die baltischen Lehnwörter im Finnischen nicht genau aus dem Litauischen oder einer Vorstufe des Litauischen stammen, sondern aus einer anderen baltischen Sprachform, in der Hauptsache vielleicht aus dem erloschenen Altkurisch. (Vgl. hiermit z. B. finn. hammas ,Zahn’, dessen litauische Entsprechung žambas die alte, ursprüngliche Bedeutung Jeder scharfe, eckige Gegenstand’ bewahrt hat, dessen lettische Entspre­ chung züobs dagegen die neuere Bedeutung ,Zahn’ trägt, die allerdings auch in einigen anderen indoeuropäischen Sprachen, u. a. im Slavischen und im Albanischen, angetroffen wird. S. F raenkel II 1288-1289. Das Litauische eignet sich in diesem Fall also nicht als Quelle der Entlehnung, obschon das litauische Wort, das das Original der Entlehnung vertritt, sich hier in phonetisch idealer, ursprünglicher Form erhalten hat.) Das in der baltischen Quellensprache für finn. ies identifizierte Original *ingis und ingis im heutigen Litauisch beruhen zwar auf denselben Wort­ bildungsprinzipien und bestehen aus demselben Material, sind aber unabhängig voneinander und möglicherweise zu verschiedenen Zeiten und außerdem in verschie­ denen Sprachformen (Dialekten) gebildet. Semantisch dagegen liegen sie weit aus­ einander. Man könnte sie als „semantische Homonyme“ bezeichnen, wie es M ažiulis III 249 im Falle der altkurischen Wörter *pele ,Weihe, Circus’ und *pelē ,Maus’ tut. Zur Semantik des (litauischen) Verbs engti, das den Ableitungen *ingis, lit. ingis zugrunde liegt, s. B ūga I 595.

30. ihme Außer im Wepsischen ist ihme , Wunder’ in allen ostseefinnischen Sprachen belegt. Außerdem hat es ein Äquivalent im Lappischen (SSA I 221). K oivulehto 1991, 81, Congressus Septimus, 1A, 10, JSFOu LXXXIV 178-182, Balto-slavjanskie issledo-

60

Etymologien

vanija 1988-1996 [1997], 162 stellt für das Wort eine kühne vorbaltische (oder vorgermanische) „Laryngaletymologie“ auf. Anhand der ostseefinnischen Sprachen kann geschlossen werden, dass die Dialekt­ variante imeh (SKES I 102, SSA I 221) die ursprünglichste ist. Das allgemein­ sprachliche ihme ist offenbar über den Weg der Metathese (H akulinen 1979, 52, 119, UEW II 688) daraus enstanden. K oivulehto, JSFOu LXXXIV 178-179 gibt eine etwas andere Darstellung. Die Form imeh hinwieder kann leicht auf die frühurfinnische Gestalt *imeš zurückgeführt werden (K orhonen 1981, 80). Baltisches Original des Wortes ist m. E. das -yo-stämmige Substantiv *žin - m - is. Im Wortinneren war -nm - im Frühurfinnischen phonotaktisch unmöglich, sodass es durch - m - substituiert wurde (so auch K oivulehto 1991,81). Das Wortende baltischer -yo-Stämme ist im Frühurfinnischen auf zweierlei Art substituiert worden, normaler­ weise durch -es (wie in diesem Fall) oder dann durch -es (s. ranne). Im Litauischen kommt das -ē-stämmige Simplex žymė ,Merk-, Kennzeichen, Abzeichen, Spur’ (F raenkel II 1309) < *žinmē vor (F raenkel, ibid., B ūga II 407, S kardžius 1943, 205, O trębski I 320, 351, II 156, A rumaa I 128, III 118, K azlauskas 1968, 249, G rinaveckis 1991, 205, 259). S. auch himo . Die Entsprechung im Lettischen lautet zime ,das Zeichen, Mal; das Merkzeichen; die Spur; das Anzeichen, Merkmal’ (ME IV 734—735). Im zweiten Teil einer präfigierten Ableitung ist auch ein -y'o-Stamm belegt: lit. po-žymis , Kennzeichen, Merkmal’ (S enn-S alys ID 186), das allerdings an sich noch kein Nachweis für die Existenz eines Simplexes mit -y'o-Stamm ist, da sich bei der Bildung von präfigierten Ableitungen und Komposita der Stammtyp des an zweiter Stelle stehenden Substantivs nach bestimmten Regeln ändert. Im Litaui­ schen ist bei Simplexen der Wechsel zwischen -ē- und -y'o-Stamm zwar nicht allgemein, kommt aber vor. Als Beispiele seien tamsi ~ tamsis ,dunkle Zeit’ (Druskininkų žodynas 395), eketys ,eketė’ = ,ins Eis gehauenes Loch, Wuhne’ (V itkauskas 85) genannt. Die erwartungsgemäße frühurfinnische Gestalt des Wortes wäre demnach *šimeš. Schon bei der Entlehnung oder kurz danach kam es dann durch Dissimilation zu der Form *imes. Als Ergebnis einer eben solchen Dissimilation lautet das aus dem baltischen Wort für ,Bohne’ (lit. pupa , lett. pupa) entlehnte Lehnwort im Wotischen upa und im Estnischen uba, im Livischen allerdings pubä (K alima 1936, 174). Interessanterweise sind die Originale der heute lautlich so ganz verschiedenen ihme und himo vom Standpunkt der baltischen Morphologie her eigentlich nur Varianten ein und desselben Stammes. Was die Semantik betrifft, stehen sich ,Zeichen’ und , Wunder’ sehr nahe. In den heiligen Schriften zweier nahe miteinander ver­ wandten Religionen, des Christentums und des Islams, wird ein gewöhnlich ,Zeichen’ bedeutendes Wort in der Bedeutung ,Wunder’ verwendet. So an vielen Stellen in der Bibel (z. B. Mattheus 12:38) und auch im Koran. An den entsprechenden Bibelstellen steht im Litauischen ženklas , Zeichen’, im Altkirchenslavischen znamenije id., wobei beides Ableitungen von dem balto-slavischen Verbalstamm *žen -/* žin-/žnā .wissen, kennen’ sind, von dem auch das Original für finn. ihme gebildet ist. Im Kommentar der neuesten litauischen Übersetzung des Neuen Testaments wird ženklas

31. ihminen

61

als , nepaprastas įvykis, stebuklas, rodantis tiesioginį Dievo veikimą’ = ungewöhn­ liches Geschehen, Wunder, das vom direkten Handeln Gottes zeugt’ definiert (Naujasis Testamentas 618). Auch F raenkel II 1300 führt als Bedeutung von lit. ženklas u. a. ,Zeichen; Wunderzeichen’ auf. Eine gute semantische Parallele kann auch darin gesehen werden, dass die finnischen abgeleiteten Adjektive ihmeellinen ( später ihminen (H akulinen 1943, 42, SSA I 221), die mit einem finnischen Suffix versehen ist (s. dazu auch den Artikel nainen ). Vgl. auch das bis in die heutige Sprache erhaltene Adjektiv inhimillinen »menschlich, human’, in dem der Stamm seine alte Form bewahrt hat. Aus semantischer Sicht muss zunächst festgestellt werden, dass das Wort aus der femininen Form eines baltischen Adjektivs entlehnt wurde. Weiter ist es wichtig, festzuhalten, dass sich im Karelischen und Lüdischen offenbar die ursprünglichere Bedeutung erhalten hat: im Karelischen neben »Mensch’ auch ,Frau’, im Lüdischen »weibliche Person, Frau’. Im Wepsischen ist ihehmoi ein Schimpfwort für eine weibliche Person (SSA 1221). Ich stelle also die Behauptung auf, die frühurfinnische Ausgangsbedeutung des Wortes sei »weibliche Bekannte’ gewesen, woraus sich

62

Etymologien

leicht die Bedeutung »weiblicher Lebenspartner, (Ehe)ffau’ und erst später,weibliche Person’ und schließlich,Mensch’ entwickelt haben. Die dem Wort zweifelnd (SSAI 221, vgl. H ä k k i n e n 1987, 60-61) hinzugestellte mordwinische Entsprechung, mordwE. inže, mordwM. indzi »Fremder, Gast’ (SKES 1 102, R aun 18, UEW I I 627 halten diese Zusammenstellung für sicher), könnte — ebenfalls als baltische Entleh­ nung — sehr gut in diesen Zusammenhang gehören. Werden doch auch im Finnischen die vieraat »Gäste’ (etymologisch »Fremde’) des Hauses eigentlich wider alle Logik als tutut, tuttavat ,Bekannte’ bezeichnet! Akzeptiert man diese Herleitung, muss man für die mordwinischen Formen eine gewisse Kürzung annehmen. Die vor­ gebrachte finnisch-wolgaische Rekonstruktion *inse »Mensch’ (UEW II 627) ist weder phonetisch noch semantisch realistisch. Es gibt für die oben vollzogene Herleitung semantische Parallelen. Im Mordwini­ schen gibt es das Wort loman ,Mensch; Fremder, fremd’, eine Entlehnung aus oss. limcen, limcen »Freund, Geliebter’ ( J o k i 1973,278). Das Äquivalent vonruss. čelovėk ,Mensch, Mann’ im Ukrainischen, colovik, hat außerdem die Bedeutung »Gatte’ ( V a s m e r III 312), d. h. »männlicher Lebenspartner’. Eine Ableitung eben dieses Wortes ist russ. dial. čelavėčica ,Gattin’ ( T r u b a č e v 1959, 173). M. A. n. kann die etymologische Bedeutung von lit. žmona ,Frau, weibliche Person, Gattin’ mit »(weibliche) Person’ wiedergegeben werden. Neben diesem -ä-Stamm existierte seinerzeit auch eine Variante mit -ē-Stamm (ein solcher Wechsel des Stammtyps ist in den baltischen Sprachen sehr weit verbreitet). Im heutigen Litauisch hat sich von diesem Wechsel noch der ganz gewöhnliche Plural žmonės »Menschen, Leute’ erhalten, der in der älteren Sprache noch oft ein Femininum war ( F r a e n k e l I I 1319), heute aber nur maskulin ist. S. auch den Artikel nainen .

32. Uta Das außer im Wepsischen und Livischen in allen ostseefinnischen Sprachen belegte ilta ,Abend’ (SSA I 225) lässt sich m. E. aus dem baltischen neutralen Partizip Präteritum Passiv *ilgta herleiten. Das entsprechende lettische Verb lautet ilgt »dauern, währen; sich sehnen’ (ME I 706), das ein Äquivalent in līt. ilgti ,lang werden, sich langweilen’ hat ( E n d z e l i n 1923, 580, F r a e n k e l I 184). Das lettische Adjektiv ilgs trägt die Bedeutung »lang (temporal)’ (ME 1 705). Auf ostseefinnischer Seite wurde das Wort aus phonotaktischen Gründen vereinfacht, weil die Kombina­ tionen - Igt- und - Ikt- im Urfinnischen unbekannt waren (vgl. auch häntä ,Schwanz’ und räntä »Schneeregen’). Die ursprüngliche Bedeutung des baltischen Partizips war offenbar »lang gedauert habend’ und dann im Urfinnischen »spät’. Letztgenannte Bedeutung hat sich im Südestnischen erhalten: ildane ,spätgeschehen’, ilda ,spät’ (SSA 1 225, M ä g i s t e II 499). Es muss beachtet werden, dass das Partizip Präteritum Passiv im Baltischen auch von intransitiven Verben gebildet werden kann, wobei die Form dann keine passivische Bedeutung haben muss (E ndzelIns IV: 1,525).

33. irstas

63

Wie bekannt, gibt es in den ostseefinnischen Sprachen aus dem Baltischen entlehnte Verwandtschaftsterminologie und Bezeichnungen für Körperteile, die sonst nicht leicht entlehnt werden. Das Vorhandensein solcher Entlehnungen zeugt für intensive, ja intime Sprachkontakte. Die einzigartige Intensivität der sprachlichen Kontakte wird auch dadurch deutlich, dass in das Urfinnische baltische Partizipien entlehnt wurden. Neben ilta verweise ich z. B. auf die Artikel ensi ,erst; nächst’, hinta ,Preis’, häntä ,Schwanz’, irstas lasterhaft’, juhta ,Arbeitstier’ & jutta Joch­ riemen’, lyhyt ,kurz‘, musta ,schwarz’, puhdas ,rein, sauber’, riitta ,Stapel’, räntä ,Schneeregen’ in dieser Arbeit. Als baltische Partizipien können dazu auch einige schon früher aus dem Baltischen hergeleiteten Wörter identifiziert werden. So kann finn. juhta ,Arbeitstier’ < *jukta auf das baltische feminine Partizip Präteritum Passiv *jungtä ,ins Joch gespannt’ zurückgeführt werden (vgl. P o s t i , Baltistica 13:1,267). Eine phonetische Parallele bietet sich in finn. siula ,Seitennetz’ < sikla < *tikla an, das aus dem baltischen Neutrum *tinkla stammt (vgl. K o i v u l e h t o , Virittäjä 1979,267-269). Auch das Original von finn. virta , Strom’ ist ein baltisches neutrales Partizip Präteritum Passiv: *virta, dem das litauische Verb virti entspricht (vgl. K o i v u l e h t o , Explanationes Fromm, 152), s. den Artikel virtsa.

33. irstas Es wird schon lange vermutet, dass finn. irstas »lasterhaft’ und das im alten Finnisch belegte *irta, u. a. irras ~ irtas »leichtsinnig, sorglos; eitel; betrügerisch; losgelöst, beweglich; frei’, in irgendeiner Weise zusammengehören. Genaueres zur Semantik der Wörter s. bei S avela, KV XLI 141-156. Nach SSA I 227 besteht zwischen den Wörtern „eine lautlich unklare Beziehung“ (so auch SKES I 108). Die Klärung dieses Knäuels ist m. E. äußerst einfach, wenn man die Gegebenheiten in den baltischen Sprachen kennt. Bei den Wörtern handelt es sich um zwei (verschie­ dene) Partizipformen von ein und demselben baltischen Verb, das im Litauischen durch irti »auseinanderfallen, sich auflösen, sich auftrennen, aufgehen’ ( S e n n - S a k y s I 265) und im Lettischen durch irt ,sich auf-, lostrennen, sich bröckeln’ (ME I 710) vertreten ist. Mit diesem Verb bringen SKES I 108 und SSA I 227 *irta sogar zögernd in Verbindung. Schon T h o m s e n IV 299 = T h o m s e n 1890, 174 hielt diese Gleichung berechtigterweise für sicher. Es bleibt unbegreiflich, warum seiner Her­ leitung kein Glauben geschenkt wird. Die Schuld liegt ganz offenbar bei dem mit den baltischen Sprachen nur oberflächlich vertrauten Jalo K a l i m a , der die von Thomsen angeführte Präsensform des Partizip Aktiv des litauischen Verbs, die von entscheidender Wichtigkeit ist, nicht einmal erwähnt ( K a l i m a 1936, 104), wozu s. unten. Da es sich bei den erwähnten finnischen Wörtern ursprünglich um verschiedene Partizipformen handelt, ist ihre Beziehung letztendlich also nicht „lautlich unklar“, sondern wir haben es mit morphologischen Unterschieden aufseiten der lehngebenden Sprache zu tun. Vom rein finnischen Gesichtspunkt trifft die Charakterisierung

64

Etymologien

natürlich zu, wenn man nämlich nicht weiß, dass es sich um zwei voneinander getrennte, aber aus demselben Wortstamm entlehnte Lehnwörter handelt. Das litauische Verb hat heute im Präsens eine nasalinfigierte Konjugation. Die 3. Person Präsens (sowohl Singular als auch Plural) lautet yra, das in historisierender Schreibweise eigentlich mit dem alten nasalen į in der Form įra geschrieben werden würde (so u. a. T r a u t m a n n 1923, 12, B ū g a II 435). Die Wortbildungsanalyse lässt das alte Nasalinfix erkennbar werden: * i- n -ra. Die entsprechende Schreibweise (mra) kommt im Litauischen faktisch vor (LKŽIV 140). Dialektal ist auch metathetisches ima belegt (LKAIII93). Parallel dazu haben die žemai tischen Dialekte, das ältere Litauisch und das Lettische eine Präsenskonjugation mit dem Suffix -sta -, nach der die 3. Person im Litauischen irsta lautet (ibid., B ū g a II435, 439-440, 455, 463). Die maskuline Form des von diesem Präsensstamm (die 3. Person Präsens ist im Litauischen und Lettischen der reine Verbstamm ohne Personalendung) gebildeten Partizip Aktiv, entweder *irstants oder daraus entstandenes *irstans (litauisch irstąs), ist das Original von finn. irstas. In diesem Wort ist es schon früh zur Entwicklung *irstans > irstas gekommen, vgl. *kolmansi > *kolmans > kolmas (hierzu s. R a p o l a 1965, 219, R a p o l a 1966,269). Geht man von der baltischen Rekonstruktion *irstants aus, so wurde das - t- sicher schon bei der Entlehnung aus phonotaktischen Gründen getilgt. Es ist unmöglich, mit Sicherheit zu entscheiden, ob für das Baltische die Endung *-ants oder *-ans rekonstruiert werden muss (unsicher in dieser Frage ist z. B. S t a n g 1966, 263, 264). Im älteren Finnisch hat irstas ,losgelöst, frei’ bedeutet ( H a k u l i n e n 1979, 136), dialektal und im älteren Finnisch auch ,forsch, heiter’ (ibid. 344), ,munter, forsch, fröhlich’ (ibid. 368), Genaueres s. bei S a v e l a , KV XLI 152-155. Da es sich bei der Ausgangsform um ein baltisches Partizip Präsens handelt, kann die Ausgangs­ bedeutung ,sich unbändig, ungezogen, unbeherrscht aufführend’ gewesen sein, worauf es auch Hinweise in den finnischen Dialekten gibt ( S a v e l a , ibid. 153). Das in der älteren Sprache belegte irras ~ irtas < * irSas, Gen. irtaan setzt dagegen als Ausgangsform die maskuline Form des baltischen Partizips Präteritum Passiv *irtas voraus, das sich unverändert im Litauischen erhalten hat. Das - t- von finn. irtas hat seinen Ursprung auf jeden Fall in den obliquen Kasus (vgl. K e t t u n e n , MSFOu CXXV 219). Finn. *irta könnte als solches auch mit Partizipien anderen Ge­ schlechts, dem Neutrum ( *irta) oder dem Femininum (* irtä ), verbunden werden. S. auch den Artikel ero & erä. Es besteht Grund zu erwähnen, dass T h o m s e n IV 299 = T h o m s e n 1890, 174 der richtigen Lösung bereits ganz nahe war, er aber zu seiner Zeit nicht wissen konnte, dass tatsächlich zahlreiche baltische Partizipien ins Urfinnische entlehnt wurden (von denen ich in dieser Arbeit eine große Zahl vorstelle), und sich somit auch nicht eindeutig für eine „Partiziplösung’’, obschon er sie offenbar erwog, entscheiden konnte. Diese Etymologie habe ich bereits auf dem 6. Internationalen Baitotogenkongress (Vilnius 1991) kurz vorgestellt, veröffentlicht wurde sie 1994 ( L i u k k o n e n , Baltistica. IV priedas, 90).

34. ju h ta & 35. Jutta

65

34. ju h ta & 35. Jutta Finn. juhta ,Arbeitstier’ ist schon seit langem als baltisches Lehnwort identifiziert ( T h o m s e n IV 300-301 = T h o m s e n 1890, 175, J a u n i u s 1972, 242, P o s t i , Kotiseutu 1972,156). Zweifelnd wird die Etymologie von SKES 1 121, S u h o n e n , UrLang 601, SSA I 245 erwähnt. Nach O j a n s u u 1921,8 war Thomsen skeptisch eingestellt, doch ist dies nicht richtig. Er weist nur darauf hin, dass die litauische Entsprechung des Wortes nicht ganz in derselben Bedeutung wie im Finnischen verwendet wird, er macht aber andererseits die sehr wichtige Bemerkung, dass das finnische Wort formal am ehesten einem litauischen Partizip entspricht. Die Bedeutungen stehen aber einander so nahe, dass die Gleichung semantisch nicht infrage gestellt werden kann. Jalo K a l i m a erwähnt das Wort in seinem finnischsprachigen Lehrbuch nicht einmal ( K a l i m a 1936), was sicherlich für die weitere Rezeption der Etymologie von Bedeutung gewesen ist. Finn. juhta < *jukta kann aus dem Neutrum įjungta eines baltischen Partizips Präteritum Passiv hergeleitet werden, dessen verbale Entsprechung im heutigen Litauisch jungti ,ins Joch spannen, verbinden, vereinigen’ lautet (zum Verb s. F r a e n k e l 1950, 89, F r a e n k e l I 196). Eine genauso gut mögliche und sogar wahr­ scheinlichere baltische Ausgangsform ist jedoch das feminine Partizip Präteritum Passiv *jungtä , da das baltische Original *zargä ,* widerspenstig’ des aus dem Baltischen entlehnten härkä ,Ochse, Stier’ trotz seines auf ein Femininum hinwei­ senden Stammes sowohl maskulin als auch feminin sein konnte. Recht wahrscheinlich wurde aus dem Baltischen das ganze Syntagma *jungtā žargā, ursprüngliche etymo­ logische Bedeutung ,ins Joch gespanntes widerspenstiges Tier’, entlehnt, aus dem einerseits juhta und andererseits härkä (s. da) entstanden. Bei der Entlehnung schwand - n - aus phonotaktischen Gründen wie u. a. in den altbekannten baltischen Lehnwörtern lahti, Gen. lahde-n , Bucht’ < frühurfinn. * lakte < balt. *lanktē und siula ,Flügel des Zugnetzes’ < sikla (noch dialektal belegt) < frühurfinn. *tikla < balt. *tinkla. (Bezüglich der Phonotaxis vgl. auch die Artikel häntä , ilta und räntä.) Derselben Wortsippe wie lit. jungti gehört auch jungas ,Joch’ an, zu dem s. F r a e n k e l 1950, 89, F r a e n k e l I 196, S a b a l i a u s k a s 1994, 119. Die urfinnische Ausgangsform von finn. juhta wurde m. A. n. als baltisches Partizip in der Bedeutung ,ins Joch gespannt, angeschlossen’ ins Früh- oder Mittelurfinnische entlehnt (vgl. H e r t z e n , J S F O u LXXII 85). Finn. jutta ,der Riemen ( hihna ), mit dem das Joch ( ies ) an den Hörnern des Ochsen ( härkä ) befestigt wurde’, das nur im Estnischen eine Entsprechung hat (SSA I 252), wird gleichfalls aus dem Baltischen hergeleitet. Interessanterweise kommen in der oben gegebenen Bedeutungserklärung drei baltische Lehnwörter vor (s. meine neuen Herleitungen für ies und härkä ). Nach Lauri P o s t i wurde jutta aus einem hypothetischen balt. *jutas entlehnt (Baltistica XIII: 1, 263-264). Sollte ein solches Maskulinum im Baltischen tatsächlich vorgekommen sein, erwartete man im Finnischen allerdings die Gestalt **judas , Gen.jutaan oder **jutas , Gen. juttaan . Im Finnischen sind die Endungen der baltischen Lehnwörter im Allgemeinen sehr

66

Etymoiogien

gut bewahrt — anders als zum Beispiel im Estnischen. Posti ist offenbar entgangen, dass das baltische Neutrum *j u t a , das als Ausgangsform sehr viel weniger kompliziert wäre, die Quelle der Entlehnung sein könnte. Ganz allgemein hat es den Anschein, dass sich die finnischen Forscher — außer Eino N i e m i n e n — bisher nicht recht über die Existenz des baltischen Neutrums und die Erklärungsmöglichkeiten, die es eröffnet, im Klaren sind. Zwar weckt auch bei der Ausgangsform * j u t a die nicht erwartungsgemäße Geminata des finnischen Wortes Misstrauen, doch sind auch andere solche Fälle bekannt (ein altbekanntes Lehnwort ist z. B. r a t a s ,Rad’, Gen. r a t t a a n , ein von mir hier vorgebrachtes neues baltisches Lehnwort ist r i i t t a , Stapel’). Im Übrigen ist in den finnischen Dialekten auch das eher zu erwartende j u t a belegt (SMS V 412, SSA I 252), eine Form, die P o s t i allerdings als analogisch betrachtet (ibid. 263). Die von Posti vorgeschlagene Form wäre auf jeden Fall mit lit. j a u t i s , Stier, Ochse, Bulle’, dialektal auch j a u č i a s (LKŽIV 295) verwandt. Dieses Wort hinwieder gehört zur indoeuropäischen Wurzel *j e u - , verbinden’, die Anfangsbedeutung wäre somit ,der vor den Wagen gespannte’ ( P o k o r n y I 508). S. auch T r a u t m a n n 1923, 110, S k a r d ž i u s , ArchPhil VII 10 (Anfangsbedeutung ,ins Joch gespannt’), S k a r d ž i u s 1943, 62, F r a e n k e l 1 191, T o p o r o v A -D 162,1-K 26, S a b a l i a u s k a s 1990, 199. Die Rekonstruktion * j u t a s ist ein Partizip Präteritum Passiv, das eine genaue Entsprechung im Altindischen hat: y u t ä - ( P o k o r n y 1 508, P o s t i , ibid. 263-264). Es ist als *j u - t a - s zu analysieren, d. h. vor dem indoeuropäischen Suffix * - t o - (aus dem balt. * - t a - ) steht wie in den alten indoeuropäischen Sprachformen die Schwundstufe der Verbal­ wurzel. In den baltischen Sprachen haben sich davon allerdings keine konkreten Spuren erhalten. In der oben dargestellten modifizierten Weise ist die Erklärung Postis durchaus möglich, aber statt seiner hypothetischen Ausgangsform bringe ich eine konkretere baltische Alternative vor. Original kann eben dasselbe baltische Partizip Präteritum Neutrum į j u n g t a (oder alternativ das Femininum * j u n g t ä ) sein, aus dem auch j u h t a entlehnt wurde. Dann wäre das Wort in zwei phonetisch unterschiedlichen Formen, * j u k t a und *j u t t a , ins Frühurfinnische gewandert. Es gibt unter den baltischen Lehnwörtern im Finnischen weitere ähnlich gelagerte Fälle, von denen die frühurfin­ nische Doppelform * t ü k t ä r (woraus z. B. lappSchw. d a k t a r — SKES V 1463), * t ü t t ä r (woraus finn. t y t ä r ,Tochter’, Gen. t y t t ä r e n ) am nächsten liegt. Dieses Wort ist übrigens erwartungswidrig vordervokalisch, doch auch solche Fälle kommen in den baltischen Lehnwörtern vor (s. l y h y t ) . K o r h o n e n 1981, 31 nimmt für finn. t y t ä r den Wandel * - k t - > * - t t - nach der frühurfinnisehen Periode an. Trifft dies zu, könnte man wohl auch für * j u k t a teilweise (dialektal?) einen solchen Wechsel postulieren, wobei sich die phonetischen Varianten außerdem auch semantisch voneinander entfernt hätten. Geht man von der hier dargestellten alternativen Herleitung aus, muss finn. dial. j u t a als das Ergebnis einer Verallgemeinerung des Stufenwechsels erklärt werden und eben nach Posti als Analogiebildung in bestimmten Dialekten angesehen werden. Eine ganz ähnliche Herleitung bietet bereits O j a n s u u 1921, 8 .

36. kaikki

67

36. kaikki Das mit Ausnahme des Livischen gemeinostseefinn. kaikki ,jede(r/s); alle’ (Gen. kaiken) wird als unsicheres baltisches Lehnwort betrachtet (SSA I 275, SKES 1 141, T h o m s e n IV 321 = T h o m s e n 1890,186, K a l i m a 1936,105). M. A. n. handelt es sich aber um einen sicheren finnischen Baltismus (so auch A l v r e , Studia Fennica XXVin 17), obgleich es ausführlicherer Argumentation in phonetischer und semantischer Beziehung benötigt. Es besteht keinerlei Grund, das Wort als autochthon anzusehen, wie H a k u l i n e n 1979, 323 zu tun scheint. Das Wort ist ein Singular, steht aber, sobald es als Subjekt von der Bedeutung her ein Kollektivum ist, mit einem pluralischen Prädikat, wodurch grammatische Inkongruenz entsteht: kaikki tulivat ,alle kamen’ ( I t k o n e n 1966, 321). Im Litauischen gibt es als Entsprechung zunächst das Adverb kiek ,wieviel; ziemlich viel’ ( F r a e n k e l I 250), mit dem das finnische Wort zu Recht verglichen wird. In alten Texten und dialektal ist ält. Meka (ibid.) belegt, eine alte Form des Nominativ-Akkusativ Neutrum Singular (ME I 392, E n d z e l i n s III: 1, 29, IV: 1, 459, IV:2, 550, O t r ę b s k i III 160, 298, R o s i n ā s 1988, 194). Diese ist weiter rückführbar auf *keika ( R o s i n ā s , Baltistica XX: 1, 53, R o s i n ā s 1988, 215). Zur Etymologie s. R o s i n ā s 1988, 195. Die lettische lautliche Entsprechung ist ciėk = cik ,wieviel’ (ME, ibid.), in der das im Litauischen bewahrte k vor vorderem Vokal assibiliert wurde (dies ist das älteste, wenngleich nur etwa 1400 Jahre alte Charakteristikum, das das Lettische vom Litauischen unterscheidet; zu Zeiten der finnisch-baltischen Lehnkontakte existierte das Lettische noch nicht einmal!). Im Litauischen ist auch das feminine Substantiv kiekä ,welche Menge, wie viel, wie viele?’ ( K u r s c h a t II 1107),, welche Anzahl?; Anzahl, Menge, Quantität, Quantum’ ( S e n n - S a l y s 1472) < *keikä belegt, das genauso gut wie kiek das baltische Original für finn. kaikki vertreten kann. Im Altlitauischen zeigt kiek(a) Verwendungsweisen, die von der Semantik her für finn. kaikki interessant sind, z. B. kiek menuo, kiek m etai Jeden Monat, jedes Jahr’ ( F r a e n k e l 1250). Weitere Beispiele sind zu finden bei F r a e n k e l 1947, 61, P a l i o n i s 1967, 195, P a l i o n i s 1979, 71, Z i n k e v i č i u s , Baltistica XV: 1, 20, B r e t k ū n a s R R 369, U r b a s 189-190, S l a v o č i n s k i s 1646, 465. Praktisch waren kiek und viji ,alle‘ von ihrer Bedeutung her äquivalent ( R o s i n ā s 1988, 194). Vgl. auch noch in einer jüngeren Sprachphase: „Bei Zahlen distributiv: kiek šeštą vakarą Jeden sechsten Abend’, kiek nedėlios rytelį Jeden lieben Sonntagmorgen’“ ( K u r s c h a t II 1107). Bekanntermaßen ist im Wörterbuch Kurschats die litauische Sprachform des früheren Ostpreußens sehr stark vertreten. In der heutigen litauischen Schriftsprache kommt eine Verwendung der geschilderten Art nicht vor ( P a l io n is 1967,196). Das behandelte litauische Wort kommt aber heute noch als erster Teil in dem sehr gebräuchlichen Adjektivkompositum kiekvienas Jeder’ vor ( vienas ,eins‘). S. zu diesem Wort O t r ę b s k i III 160, R o s i n ā s , Baltistica XX: 1, 53, R o s i n ā s 1988, 215. Von seiner Bildung her erinnert lit. kiekvienas stark an finn.joka ainoa ,ein jeder’, das praktisch gleichbedeutend mit jokainen ist. Wird als baltisches Original für finn. kaikki das

68

Etymologien

Substantiv *ke ikä angenommen, muss wohl die Bedeutungsentwicklung ,Menge’ ,große Menge’ - » ,alle’ postuliert werden. Da balt. e offen war, wurde das Femininum *keikä bzw. das Neutrum *keika in diesem Fall bei der Entlehnung durch *käjkkä substituiert. Was die baltische Aus­ gangsform auch gewesen sein mag, das Resultat im Urfinnischen ist auf jeden Fall dasselbe. Die Vokalverhältnisse sind dieselben wie in dem baltischen Lehnwort näivä ,halbtrocken, feucht, zäh’ : lit. neivä = naivä , schwere Krankheit, Siechtum’ (S enn-S alys I I 115,142); eine Etymologie, die von N ieminen, FUF XXII 14 aufgestellt wurde. Es handelt sich allerdings um keine sichere Parallele, weil — wie man sieht — das baltische Wort auch eine Variante (im Litauischen die gewöhnlichere Form) hat, die den Vokalismus -ai- aufweist, und das Wort außerdem eine Bedeutung hat, die finnischerseits zu einem vorderen Vokalismus affektivischen Ursprungs hat führen können, wie es in so vielen finnischen Wörtern, seien sie autochthon oder entlehnt, der Fall ist. Auf die baltologische und teils auch fennistische äußerst schwierige Problematik ai ~ ei komme ich zurück, sobald ich mein neues Material veröffentlicht habe. Dieser Problemkreis ist so komplex und beinhaltet in der jetzigen Forschungsphase so viele Unsicherheitsfaktoren, dass eine endgültige Klä­ rung vielleicht nicht einmal möglich ist. Das rekonstruierte frühurfinn. *käjkkä > *kajkke > kaikki hat genau denselben Wandel in Stammvokalismus und Stammtyp durchgemacht wie zwei finnische Wörter finnisch-ugrischer Herkunft, nämlich s a p p i ,Galle’ < *sappe < *säppä und talvi , Winter’ < *talve < *tälvä (zu diesen Wörtern s. UEW I 435^436, 516). In allen diesen Fällen sind Stämme auf -ä in solche auf -e übergegangen und haben gleichzeitig in der Stammsilbe einen „schwereren“ Vokalismus bekommen (hierüber s. Itkonen, UAJb XLI 81-82 und besonders JSFOu LXXV 5-12). Es gibt unter den wahrscheinlichen baltischen Lehnwörtern im Finnischen noch weitere ganz ähnliche, vom Stammvokalismus allerdings entgegengesetzte Fälle; ich komme auch auf diese Problematik später zurück, sobald ich das entsprechende Material habe veröf­ fentlichen können. In diesem Zusammenhang kann ich vorerst nur auf ein Wort hinweisen, das bereits als sichere baltische Entlehnung identifiziert worden ist, nämlich jä rvi ,See’ < *järve < *jarva oder *järvä < balt. *jaurā. Doch ist gerade dieses Beispiel nicht besonders gut, da a im Litauischen nach j sehr offen ausgespro­ chen wird. Sollte sich dies auch in der Quellensprache der finnischen Baltismen so verhalten haben, stellt die frühurfinnische Rekonstruktion *järvä eine sehr interessante Alternative dar. Es gibt eindeutigere neue Etymologien, auf die ich aber später in einem anderen Zusammenhang zurückkomme. S. aber bereits unten den Artikel särki.

37. kalja Das im Finnischen, Tver-Karelischen, Estnischen und Livischen belegte kalja alko­ holarmes Bier’ ist nicht sicher etymologisiert (SSA I 285). Ich postuliere für dieses

38. kavio

69

Wort, wie auch für einige andere Getränkebezeichnungen (olut ,Bier‘, ebenso piim ä ,Sauermilch’, das ich in einer späteren Veröffentlichung detailliert behandeln will; s. auch den Artikel maito ,Milch’), baltische Herkunft. Das im Litauischen belegte galiä ,Macht, Kraft’ (T rautmann 1923,77, S kardžius 1943, 68, F raenkel I 131) würde lautlich als Nachfolger des Lehnoriginals infrage kommen. Vgl. talja ,Haut, Fell’, das von K oivulehto, Virittäjä 1984, 12 aus dem Baltischen hergeleitet wird (: lit. daliä ,Teil, Anteil, Erbteil, Mitgift, Los, Schicksal’ — F raenkel I 81). Semantisch erscheint die Etymologie Koivulehtos (wie meine auch) auf den ersten Blick gewagt, aber sie ist möglich (s. seine Argumente und meine Artikel raaja und ruho). Die von mir gemachte Herleitung setzt voraus, dass kalja ursprünglich ,Getränk, in dem Kraft steckt, starkes Getränk’, also ,starkes, alkoholisches Getränk’ bedeutet hat. „Das Substantiv väki hat ursprünglich ,Kraft’ bedeutet (vgl. z. B. väkijuoma alkoholisches Getränk’ ...)“ (H äkkinen 1990, 140). Das in der Volksdichtung belegte Kompositum kaljavesi (z. B. Kanteletar 1:79:7: kasakatki kaljavettä) könnte also vielleicht in seiner ursprünglichsten Bedeutung als ,„Kraftwasser’’, Kraftgetränk’ gedeutet werden. Als Kuriosität und humoristische Parallele darf ich vielleicht erwähnen, dass man während des Zweiten Weltkrieges in Finnland Bier der Marke Voima ,Kraft’ trank. (Als konkreter Beweis ist in Lokki ,Möwe’, der Funkzentrale des finnischen Hauptquartiers, die in Mikkeli ausgestellt ist, eine Bierflasche zu sehen.) In diesem Zusammenhang drängt sich ein lettisches Wort auf, das nicht ordentlich etymologisiert ist, nämlich gaļa ,das Fleisch (zum Essen bestimmt)’ (ME 1598). Zu etymologischen Erklärungsversuchen s. ME I 598, K arulis I 285. Möglicherweise ist es etymologisch identisch mit lit. galiä und hat ursprünglich ,kräftiges, kalorien­ reiches Essen’ bedeutet. Dann hätte es eine ähnliche semantische Entwicklung durchgemacht wie das von mir aus dem Baltischen hergeleitete kalja. Als semantische Parallele könnte auch angeführt werden, dass das litauische Adjektiv stipras, das normalerweise die Bedeutung ,kräftig, stark’ hat, in der Mundart von Zietela auch ,nahrhaft, kalorienreich’ bedeutet (V idugiris 624).

38. k a vio Gemeinostseefinn. kavio ,Huf’ ist etymologisch unklar (SSA I 335). Da hevonen ,Pferd’ aus dem Baltischen entlehnt ist (s. den entsprechenden Artikel) und das Pferd ein Huftier ist, liegt es nahe, den Ursprung auch dieses Wortes im Baltischen zu suchen. Auf der Grundlage des früheren Baltisch (= Balto-Slavisch) lässt sich leicht ein Wort finden, das stark an das anzunehmende Original erinnert, nämlich das russische Neutrum kopyto ,Huf’ mit seinen genauen Äquivalenten in weiteren slavischen Sprachen (V asmer I 621). Die balto-slavische Rekonstruktion lautet *kapüta-. In den morphologischen Varianten sind alle drei Geschlechter vertreten: das Neutrum kopyto, das Femininum *kopyta und das Maskulinum *kopytrb (ĖSSJ XI 35-36).

70

Etymologien

Zum Suffix -ūt- (> slāv. -yt~) s. A rumaa, ScSl IX 79, V aillant IV 700. Nach ĖSSJ XI 37 handelt es sich bei *kopyto um eine urslavische lexikalische Innovation, welche Auffassung ich aber ablehne, da -yto im Slavischen nur in zwei Wörtern belegt ist (das andere ist *koryto ,Trog, Mulde’). Dagegen ist das entsprechende baltische Suffix -ūt- allgemein. Eine der Besonderheiten bei der Wortbildung des baltischen (balto-slavischen) Nomens ist, dass das vokalische Element, das z. B. dem Suffix -t- vorausgeht, stark variieren oder sogar fehlen kann. Im Zusammenhang mit der Behandlung des baltischen Originals von finn. lapio »Späten, Schaufel’ führe ich die rekonstruierten Varianten *lāpetā / *lāpitā / *lāptā / *lapātā / Haputā / *laptā auf (s. den Artikel lasta). Somit liegt es ganz im Bereich des Möglichen, dass es im Balto-Slavischen auch die feminine Ableitung *kapitä oder *kapetä gegeben hat, auf die finn. kavio zurückgehen könnte. Zu den Suffixvarianten -et-ä und -it-ä s. S kardžius 1943,340, 354-355. Slav. *kopyto ,Huf’ ist eine Ableitung von dem Verb *kopati, das im Russischen die Bedeutung ,graben, hacken, hauen’ hat und im Polnischen »schlagen, treten’ bedeutet (V asmer 1618,621). Die lautliche Gestalt der balto-slavischen Verbalwurzel war *kap-. im Litauischen ist sie durch käpti ,hauen, fallen’, kapoti »hacken, spalten, (zer)schlagen, hauen, prügeln, Schnabelhiebe versetzen, niedermachen, töten’ vertreten (F raenkel 1217-218). Es sei auch die verbreitete litauische Ableitung kaplys ,Haue, Spitzhacke, Karst, Schlichtbeil; stumpfe Axt, stumpfes Beil, Schneide­ zahn, Dummkopf, Tölpel’ (ibid.) erwähnt. In den übrigen ostseefinnischen Sprachen zeigt der Konsonantismus im Wortinneren -p- oder darauf zurückgehendes -b-. Im Finnischen trifft man neben hoch­ sprachlich kavio dial. kavja, kapja, kapjo, kappii usw. an (SSA I 335). Bei den Formen mit -v- handelt es sich um leicht erwartungswidrige sekundäre Verallgemeine­ rungen des Stufenwechsels. Entsprechende Angleichungen in den Stufenwechsel­ verhältnissen — allerdings in entgegengesetzter Richtung — können auch in einigen anderen von mir hier neu aus dem Baltischen hergeleiteten Wörtern festgestellt werden, vgl. hepo statt hevo(i)nen, kärpänen statt kärvä(i)nen (s. den Artikel hevonen ).

39. keh data & 40. kehno Außer im Livischen hat finn. kehdata »sich nicht schämen, wagen; nicht die Mühe scheuen, Lust haben’ in allen ostseefinnischen Sprachen Äquivalente, eine glaubhafte Etymologie gibt es für das Wort aber nicht (SSA I 335). K o i v u l e h t o 1991, 82-84 (und schon davor kurz Virittäjä 1986, 172) stellt eine kühne „Laryngaletymologie“ auf, nach der frühurfinn. *kešta-ta- auf einen in den litauischen Wörtern geda ,Scham(gefühl)‘, gėdėtis »sich schämen’ repräsentierten vorbaltischen Stamm zurück­ ginge. Die Etymologie ist ganz unwahrscheinlich und wird auch durch die Semantik nicht gestützt, da die Bedeutung von kehdata »ungeniert Vorgehen od. sein; Lust

39. kehdata & 40. kehno

71

haben’ (R uoppila 1967,17) ist, der Bedeutung, die von der auch sonst unglaubhaften Herleitung Koivulehtos vorausgesetzt wird, also völlig entgegengesetzt ist. Es gibt aber im Litauischen ein Verb, das für die Herleitung des finnischen Wortes völlig unproblematisch ist und auf dessen altes baltisches Original finn. kehdata mühelos zurückgeführt werden kann, nämlich kėkšti ( kekštii, kekšaū ) ,zur Hure werden’ ( K u r s c h a t II 1076). Die vermutliche Bedeutungsentwicklung ,zur Hure werden’ -» ,sich nicht schämen, wagen, sich erdreisten’ ist keineswegs weit hergeholt, sondern ganz einleuchtend. Es muss zudem erwähnt werden, dass es sich um ein sehr altes Lehnwort handelt, sodass es genug Zeit für den Bedeutungswandel gab, und es besteht außerdem kein Zweifel, dass nicht „der älteste Beruf der Welt“ auch schon zu Zeiten der finnisch-baltischen Lehnkontakte in irgendeiner Weise ausgeübt worden ist. Die frühurfinnische Gestalt des Lehnwortes ist *kešt-, Grundwort des litauischen Verbs ist kekšė ,Hure, Dime’, das noch nicht überzeu­ gend etymologisiert werden konnte (zu bisherigen Versuchen s. F raenkel I 235, 320). M. A. n. kann von einem deskriptiven Stamm kek- ausgegangen werden, der in bestimmten indoeuropäischen Sprachen — im Vokalismus allerdings abweichende — Entsprechungen hat. Da es sich um eine deskriptive Wortsippe handelt, kann auch kein gewöhnlicher, regelmäßiger Ablautwechsel erwartet werden. Die angespro­ chenen Äquivalente sind griechisch KOtKÖq,schlecht’ (P okorny 1521) und albanisch i k e q ,schlecht, schlimm, böse; elendjämmerlich, übel’ (Alb. Wb. 222). Interessanter­ weise führt Pokorny, ibid. das griechische Wort im Zusammenhang von indoeur. *kakka- ,cacäre‘ (Lallwort der Kindersprache) auf, das im Deutschen u. a. durch kacken präsent ist. Im Litauischen lautet das entsprechende Verb kaköti od. käkalioti ,kacken, seine Notdurft verrichten’ (F raenkel I 206). Eine Variante kek- dieses deskriptiven Verbs ist im Serbokroatischen Bosniens und im Persischen belegt (S kok II 17). Von M eyer 184, P isani 1959, 128 werden das erwähnte griechische und albanische Adjektiv miteinander zusammengestellt, obwohl sie sich lauthistorisch nicht völlig entsprechen. Nach Ģ abej SGj I 274 ist das albanische Wort möglicher­ weise ein altes griechisches Lehnwort mit sekundärem Vokalismus. Dann müsste der Vokalismus recht neuen Datums sein, da vor altem e q- = fc- und nicht k- zu erwarten wäre (so bereits M eyer 185). Zum albanischen Adjektiv i keq vgl. noch (unglaubhaft) W alde-H ofmann I 16, 127. Ich selbst halte das Wort für eine neuere deskriptive Bildung. Die alte etymologische Grundbedeutung von lit. kekšė ,Hure, Dime’ ist also offenbar,liederliche, „schlechte“ Frau’ gewesen, wozu es sicher zahlreiche Parallelen aus anderen Sprachen gibt. Nebenbei bemerkt gibt es auch im Finnischen ein an die erwähnten Wörter anklingendes Wort, nämlich kako ,Dummkopf; dumm’ (SSA I 281), das natürlich weder etymologisch noch semantisch etwas mit den oben bespro­ chenen indoeuropäischen Wörtern gemein hat, aber als eine gewisse deskriptive Parallele hier durchaus erwähnt werden kann. Das Beispiel ist natürlich auch daher nicht besonders gut und beweist zumindest auch nichts, da die Ausdrucksweisen für Deskriptivität schon in den mit dem Finnischen eng verwandten Sprachen, oder sogar in den finnischen Dialekten, voneinander abweichen, ganz zu schweigen von

72

Etymologien

Sprachen, die anderen Sprachfamilien zugehörig sind. Selbstverständlich entstehen solche mehr oder weniger äußerlich ähnlichen Deskriptiva in verschiedenen Sprachen unabhängig voneinander und zu unterschiedlichen Zeiten. Die Wortbildungsweise von lit. kekšė muss erläutert werden. Dem Suffix liegt zweifellos balt. ,deteriorierendes’ -ša- zugrunde, das für die Bezeichnung von Personen, die auf irgendeine Art und Weise zumindest in den Augen anderer negative Eigenschaften haben, weit verbreitet ist. Mit ihm sind zahlreiche Substantive und auch einige Adjektive gebildet. Beispiele für maskuline Substantive, die ihrem Ursprung nach allerdings ehemalige Adjektive sind: vargšas ,Elender, Unglücklicher’, paīkšas ,Dummkopf’, niekšas ,Nichtsnutz’ (F raenkel 1 256). Mehr über diesen Typ bei S kardžius 1943, 315, E ndzelīns IV:2, 492, O trģbski II 223, A mbrazas 1993, 165. Ein entsprechendes Femininum ist z. B. das -(/^-stämmige paikšė ,die Törin, Närrin’ (K urschat III 1689), zu dessen Bildungsweise s. S kardžius, ibid., 316, O trębski, ibid. Auf dieselbe Weise wurde aus *kek-ša-s ,liederlicher Mensch’ *kekšē, lit. kekšė ,Hure, Dime’ < ,liederliche Frau’ gebildet. Etymologisch in diesen Zusammenhang gehört lit. apkekšys ,kiek pasileidęs žmogus’ (LKZ1238). Möglicher­ weise enthält auch der litauische Familienname Kakšys diesen deskriptiven Stamm (LPŽ A-K, 891, P ētera ins 1992, 101). Mit den deskriptiven Stämmen des erwähnten Typs kek- / kak- als Ausgangspunkt kann m. E. auch das etymologisch unklare lit. kakšlė ,die Schabe, der Kakerlak’ (K urschat II 1014) am besten erklärt werden. Zu etymologischen Erklärungsver­ suchen s. F raenkel 1206,226, T oporov I-K, 354, S moczynski, Baltistica XXVIII:2, 48^49, 51, 52. Etymologische Grundbedeutung des Wortes war wahrscheinlich ,ekliges Tier’. In diesem Zusammenhang erscheint es angebracht zu erwähnen, dass auch dt. Kakerlak ,Schabe’, dem eine gute etymologische Erklärung fehlt, eine relativ neue Bildung auf deskriptiver Grundlage sein kann. Vgl. dazu die Beurteilung (K luge-S eebold 347): „Bezeugt seit dem 16. Jh., zunächst als Schimpfwort (angelehnt an kacken ?)’’. Wortbildungsmäßig kann kakšlė auf zwei alternative Weisen analysiert werden (wobei diese Möglichkeiten sich letztendlich nicht gegenseitig ausschließen, aber zu dieser Frage nehme ich hier nicht Stellung). Es kann sich um das Grundwort *kak-š- (vgl. *kek-š-ė) handeln, wobei das Suffix dann -lē wäre. Es gibt im Litauischen Beispiele für diese Bildungsweise, z. B. griežė = griežlė , Wiesenschnarrer, Crex crex’ (LKŽ III 595, 597), ,die Schnarrdrossel, Schnarrwachtel, crex pratensis’ ( K u r s c h a t I 646), ,dergäc, crex pratensis’ ( Š l a p e l is 1921, 150), driežas - drieže = driežlė ,die Eidechse’ ( K u r s c h a t I 473). Zu diesem Suffix -lē s. weiter S k a r d ž i u s 1943, 169. Geht man alternativ von einem Stamm *kak- aus, lautet das Suffix -šlē. Auch für diese Analyse gibt es im Litauischen sichere Belege, wenngleich weniger als für die vorgenannte Alternative (s. ibid., 169-170, T r a u t m a n n 1910, 324). Vgl. z. B. šiūk-Šlė-s (PI.),Geröll, Kehricht (in der Stube, am Getreide usw.), Müll, Unrat’ ( F r a e n k e l II 991). Auch das etymologisch unklare finn. kehno, das außer im Wepsischen und Livischen in allen anderen ostseefinnischen Sprachen Entsprechungen hat (SSA I

41. keinu

73

336), gehört in diesen Zusammenhang. Neben der alten und zweifellos ursprünglichen Bedeutung ,schlecht, untauglich’ hat es durch semantische Entwicklung in den finnischen Südwestdialekten und dadurch auch im alten Schriftfinnisch die Bedeutung ,demütig, schüchtern; weichlich’ bekommen (VKS II 383; vgl. G anander 308: ,blyg, verecundus’). S. N irvi 1955, 5, Itkonen 1966, 371, H akulinen 1979, 323. Nach N ieminen, FUF XXII 36 ist kehno eine Ableitung aus einem früheren Stamm auf -a, der im Estnischen noch erhalten ist (köhn, Gen. köhna). Diese Herleitung kann als sicher gelten. Das Original der genannten Form *kehna ist das aus balt. deskr. *kek-ša- abgeleitete Adjektiv *kek-š-na-. Den mit dem Suffix -na- abgeleiteten Adjektivtyp behandle ich genauer im Artikel raihnas (s. da).

41. keinu Finn. keinu ,aus hängenden Hölzern od. Seilen und einem an ihnen angebrachten Brett o. Ä. gefertigte Schaukel’ (NS II 290) ist meines Wissens bisher nirgends etymologisch behandelt worden. Das Wort macht keinen „deskriptiven“ Eindruck, eine Charakterisierung, die SKES und SSA äußerst häufig für etymologisch bislang ungeklärte Wörter geben. In Wirklichkeit befindet sich unter ihnen eine große Anzahl baltischer Lehnwörter. Das Wort keinu — ebenfalls baltischer Herkunft — wird in den etymologischen Wörterbüchern nicht einmal als Lemma aufgeführt, was bedauerlich ist, denn dadurch wurde das Wort praktisch dem „direkten Gesichtskreis“ der mit Etymologie beschäftigten Forscher entzogen. Es scheint sich zudem um ein wichtiges Kulturwort zu handeln, genauer gesagt um einen alten Terminus der Bienenzucht. In seiner heutigen Bedeutung ,oscillum, gunga’ erschient es bereits 1745 bei Juslenius und auch bei Ganander (J uslenius 148, G anander 311, VKS II 391). Obzwar keinu von seinem Ursprung her nicht deskriptiv ist, hat es im Karelischen Ableitungen und Umbildungen, die schon so charakterisiert werden können, nämlich keimuo = keinuo ,schwingen, wanken, schaukeln’ (KKS I I 116), keiluo ,schaukeln, schwingen’ (ibid. 115), keiskuo ,schaukeln, schwingen, wanken’ (ibid. 117). Die Tendenz, deskriptive Färbung anzunehmen, ist bei entlehnten Wörtern ein bekanntes Phänomen. Oft können Varianten auch über Kontamination entstehen, in diesem Fall z. B. vermutlich die Variante keiluo. Vgl. heiluo ,schwingen’ (ibid., 1200). Das Wort hat im Litauischen die Entsprechung geinys »Strickleiter zum Ausnehmen der Waldbienenstöcke’ (S enn-S alys I 174). Auch die Variante gerne mit -ē-Stamm ist belegt (LKZ III 206). Diese Klettervorrichtung hat ein an Seilen hängendes Trittbrett. Im Ganzen erinnert sie überraschend genau an eine Schaukel (Bildmaterial: Lietuvių etnografijos bruožai 140, LKAI 194, TLE I 591, P iškinaitė-K azlauskienė 1995, 41, B ielenstein I 201, 203-205; vgl. auf slavischer Seite M oszynski I 691). Eine ganz ähnliche Klettervorrichtung haben auch die tscheremissischen Bienen­ züchter. V uorela 1960,209 (ibid. auch ein Bild) bezeichnet sie sogar als „Schaukel“!

74

Etymologien

Das Verhältnis der Wortausgänge des finnischen und litauischen Wortes verlangt Klärung. Wie in der bisherigen Literatur bereits herausgestellt wurde, vertreten recht viele maskuline Substantive, die im heutigen Litauisch auf -ys enden, frühere Neutra. Als in den ostbaltischen Sprachen das Neutrum schwand, hat sich der Deklinationstyp des Nominativ Singular oft stark verändert. Schon N ieminen, Virittäjä 1944, 247 nahm gut begründet an, dass die litauischen mit -lys suffigierten Wörter alte Neutra auf *-ljan vertreten, die in der Quellensprache der baltischen Lehnwörter im Finnischen offenbar in dem etwas neueren Gewand *-l'an auftraten (s. auch L iukkonen, Virittäjä 1973, 28; heute neige ich im Übrigen zur Annahme von noch kürzerem *-lja ~ *-la als entsprechende neutrale Endung zumindest des alten ostbaltischen Substantivs). Ebenso nahm Nieminen an, dass das litauische auf -nys endende gardinys ,Verschlag’ ein neutrales Original *gardinjan voraussetzt (ibid. 245), das m. A. n. noch kürzer *gardinja ~ *gardiha (woraus finn. karsina ) lauten könnte. Somit kann m. E. die Urform von lit. geinys sehr gut ein neutrales -(i)jostämmiges *geinja oder jünger *geina gewesen sein. Es muss nun berücksichtigt werden, dass der Wechsel von -(i)jo- und -y'w-Stämmen im Litauischen ein recht gewöhnliches Phänomen ist (die Endung der -(ijyo-Stämme lautet in der Schriftsprache abhängig vom Akzenttyp entweder -is oder -ys, die der -yw-Stämme -ius, vor dem ein Dental zur Affrikata assibiliert wird). Ich führe in erster Linie dialektale Beispiele auf: kuprius ,kuprys’ (V itkauskas 161), läkis = laidus (ibid. 167), mūris = mūrys ~ mūrius (ibid. 207), vasaris = vasėris —vasėrius (ibid. 430), ėglys = ėglius (Lazūnų žodynas 69), spietys ,spiečius’ (ibid. 242), žibintis »žibinčius’ (Druskininkų žodynas 477), spietlius = spietlys (S kardžius 1943,170, 353, LKT 479, F raenkel II868), ryšys = ryšius (LKA III 26-27), bučys ,bučius’ (LTT191), avižlius = avižlys (V anagas 1970, 67), alučius ,alutis’ (Z inke­ vičius LKI IV 279), mojus = mojis (K azlauskas 1968, 239), myrius = myris (ibid.), gėrius = gėris (ibid.). Dasselbe Phänomen ist auch in Personennamen belegt, z. B. Girnius, G im ys (P ėteraitis 1992,239). Es gäbe noch mehr, aber genug der Beispiele. S. zu diesem Stammwechsel noch S kardžius 1943,79-80, O trębski II83, Z inkevičius 1966, 255, S enn 1 105, A mbrazas 1993, 170-171, 219, K araliūnas, LgB IV 135. Aufgrund der erwähnten Parallelen nehme ich an, dass es im Baltischen früher neben den Formen *geinja, *geina auch das -yw-stämmige Neutrum *geinju und ein wenig jünger *geihu gegeben hat, das als Original für finn. keinu phonetisch passt. Im Finnischen hat sich die Bedeutung unter dem Zwang der Verhältnisse verändert. Früher konnte die in alten Zeiten für das Baltikum so typische Waldbienenzucht auf finnischem Boden aus klimatischen Gründen nicht betrieben werden. In Finnland wird erst seit dem 18. Jahrhundert Bienenzucht betrieben. Man bemerke, dass auch finn. vaha »Wachs’ und m etu ,Honig’ höchstwahrscheinlich baltische, mit der Bienen­ zucht zusammenhängende Lehnwörter sind. Im südlitauischen Leipalingis wurde der Satz su geiniu iš drevių medų kopiama ,auf geinys klettert man, um aus den Baumlöchem Honig zu holen’ aufgezeichnet (Grammatika 1985, 250). Lit. geinys (sowie auch geinis) und lett. dzeinis id. haben auch die gleichbedeuten­ den Varianten (lit.) genys, (lett.) dzenis, deren Beziehung zu den erstgenannten

42. kiittää

75

nicht ganz klar ist (s. z. B. B ūga 1494, II683, ME 1 540, 545, F raenkel I 143-144, T oporov E-H, 239-240, V aba, Linguistica Uralica XXVI 174). Diese Variante wurde in derselben Bedeutung ins Südestnische entlehnt und hat heute dort die Gestalt köno. Aus dem initialen Konsonantismus zu schließen, handelt es sich um ein altes baltisches Lehnwort und nicht um ein Wort, das aus der Nachbarsprache Lettisch entlehnt wurde. Der Wortausgang -o ist sekundär (V aba, ibid. 175). Das Wort hatte ursprünglich — anders als im Finnischen — im Wortinneren e (ibid. 174—175). Das finnische und das südestnische Wort wurden also möglicherweise völlig unabhängig voneinander, offenbar aus verschiedenen Dialekten entlehnt. Es ist ganz natürlich, dass die alten baltischen Lehnwörter im Finnischen, Südestni­ schen und auch Mordwinischen — wenngleich sie zumeist dieselben sind — aus verschiedenen Dialekten entlehnt wurden. Es hat mehrere Kontaktgebiete gegeben. Ein wichtiges Kontaktgebiet war auf finnischem Gebiet angesiedelt. Im Finnischen sind recht viele alte baltische Lehnwörter belegt, die in den südlichen ostseefinnischen Sprachen fehlen und vielleicht auch nie dorthin gelangt sjnd.

42. k iittää Das gemeinostseefinnische Verb kiittää ,danken; loben’ hat keine sichere über diesen Raum hinausgehende Etymologie (SSAI 360, vgl. noch A usterlitz, Läänemeresoomlastest neenetsiteni 10). N ilsson, LgB i n 209 behauptet, das Wort sei eine Entlehnung aus einer nordwestlichen indoeuropäischen, möglicherweise ausgestor­ benen Ursprache (auch Vorbaltisch wird erwähnt), was mich nicht überzeugt. Es handelt sich um ein sicheres baltisches Lehnwort, dessen Entdeckung bislang sicher aus phonetischen, nicht so sehr aus semantischen Gründen, erschwert wurde. Original des Wortes ist das baltische Verb *geid-, das im Litauischen durch giedoti , singen (vom menschlichen Gesang, insbesondere vom Singen geistlicher Lieder); singen (vom Gesang der Singvögel); krähen (vom Hahn)’ (S enn-S alys I 181) und im Lettischen durch d z ie d a t ,singen’ (ME 1 561) vertreten ist. Zur Etymo­ logie s. T rautmann 1923, 76, ME, ibid., F raenkel I 150. Es gibt die Ableitung lit. giesmė »feierliches, bes. geistliches Lied’ (F raenkel, ibid.), lett. dziesma, dziesme ,das Lied, das geistliche Lied’ (ME I 562). Vom ersten altlitauischen Schriftsteller Martynas M ažvydas stammt das Beispiel laupsink nu su giesmėmis , preise jetzt mit Liedern’ (Mosvid 206). Das Wort wurde in der Form *kejt- ins Frühurfinnische entlehnt, wonach sich die Entwicklung *keit- > *kīt- wie u. a. auch im Fall meiner neuen Etymologien riitta und tiine (s. dort und außerdem den Artikel portim o) vollzogen hat. Zudem kann der Bedeutungswandel,singen’ -> »preisen’ - » »danken’ festgestellt werden, wobei sich die beiden letztgenannten Bedeutungen im Finnischen erhalten haben. Die heutige Konjugation des litauischen Verbs, 1. P. Präs. Sg. giedu (normativ) oder giestu (S enn-S alys I 181), stellt eine Innovation dar. Im Altlitauischen wurde das Verb bekanntlich athematisch konjugiert (giemi < *giedmi), und noch heute gibt

76

Etymologien

es in den archaischen ostlitauischen Dialekten — wenngleich in modifizierter Form (,giemu — Kontamination mit der thematischen Konjugation) —-Reste der athematischen Konjugation. Es handelt sich bei diesem Wort um eines der wenigen altlitaui­ schen Verben, die den gesichertesten athematischen historischen Hintergrund haben. Der athematische Verbtyp war früher in der litauischen Sprachgeschichte produktiv, aber gied- kann schon von alters her athematischen Typs sein. Zur athematischen Konjugation dieses Verbs ist viel geschrieben worden, s. A rumaa 1930,73, O trębski 1934, 317, F raenkel, Balticoslavica II 70, 71, F raenkel 1950, 91, 95, F raenkel I 150, S pecht, KZ LXII 83-87 (passim), 90, S tang 1942, 71, 99, 100, 102, 105, 117, 146, 202, Stang 1966, 310, 311, 317, Stang 1970, 196, 198, E ndzelīns IV:2, 557, 562, S abaliauskas, Kai kurie klausimai 100-101, O trębski II 310, III 187, 197, 209, S enn 1287, 296, Z inkevičius 1966, 348, K azlauskas 1968, 305, 307, 308, 310, 312, 314, 315, P alionis 1979, 50, Z inkevičius IG II 100, 102, 103, 104, Z inkevičius LKI III 188, S moczynski 1989, 17, S abaliauskas 1990, 183, LKA III 88-89, K iseliūnaitė, Lietuvininku žodis 524, Z inkevičius 1996, 139, 140, V idugiris 204 (weitere Beispiele für Wortindexe im Altlitauischen bei U rbas 130-131, Daukša Post. I 230, M orkūnas, LKK XX 136, J akulis 62). Die Liste beansprucht keine Vollständigkeit, aber ich glaube, sie ist dem Interessierten von großem Nutzen. Im Altlitauischen lautete die 3. P. Präs, giest(i), eine Form, die auf balt. *geid-ti zurückgeführt werden kann. Eben diese eignet sich am besten als Original für finn. kiittää. Auch der Infinitiv lautete natürlich mit Ausnahme des Endvokalismus genauso. Ein bestimmter Infinitivtyp auf *-ti (auf dem im Übrigen der Infinitiv in der litauischen Schriftsprache basiert — s. S tang 1966, 447) kann sogar mit der 3. P Präs, eines athematischen Verbs lautlich identisch gewesen sein.

43. ko ip i Finn. koipi (Gen. koiven, Stamm koipe-) ,(Hinter)bein, Oberschenkel, Keule’, das außer im Wepsischen und Wotischen in allen ostseefinnischen Sprachen vertreten ist, hat keine weitere Etymologie (SSA I 384). A riste 1981, 18 (vgl. schon SFU 1971:4, 255-256) meint, das Wort stamme aus einer unbekannten Substratsprache. Diese Auffassung darf als völlig unbegründet angesehen werden. Es handelt sich m. E. um eine baltische Entlehnung, die allerdings in den heutigen baltischen Sprachen nicht mehr erhalten ist (und in ihnen oder ihren Vorformen vielleicht auch nie vorgekommen ist). In diesen Sprachen sind aber zwei gewöhnliche und semantisch verwandte Wörter belegt, durch deren Kontamination sich in irgend­ einer baltischen Sprachform das Original für finn. koipi sehr gut hat bilden können. In ihrer litauischen Form handelt es sich um die Wörter köja ,Fuß, Bein’ (F raenkel 1280) und sta ib is ,Unterschenkel’ (ibid., II892). Von besonderer Wichtigkeit für die hier vorgebrachte Etymologie ist die litauische dialektale Variante sta ib i mit -ēStamm (Priekulė im Gebiet Klaipėda — LKA I 178). Wenigstens in semantischer Hinsicht ist eine solche Kontamination völlig glaubhaft.

44 . kuohu

77

Lit. köja und lett. kāja ,der Fuss, das Bein der Menschen und Tiere’ (ME II 186) repräsentieren die baltische Ausgangsform *kājā. Zur Etymologie der Wörter s. ME 194, F raenkel 1280, L anszweert 1984,78-79, S abaliauskas 1990,144, S abaliaus­ kas 1994, 164. Lit. staibis ist ein Wort der žemaitischen Dialekte (Z inkevičius LKIIV 160). Zu seiner Etymologie s. B ūga 1 366-367, 486, I I 105, 594—595, T rautmann 1923,287, F raenkel II 892, 903, S abaliauskas 1990, 176. In diesem wie in so vielen anderen Fällen auch wurden *a und *ä der lehngebenden baltischen Sprache labialisiert. An der von mir postulierten Kontamination waren beteiligt: balt. dial. *köja (oder *käja ) statt „urbalt.“ *kājā und andererseits *stoib(oder *stäib-) statt *staib-. Es muss bemerkt werden, dass es in einer archaischen litauischen Mundart (Zietela) auch ein köje ,Fuß; Bein’ mit -c-Stamm gibt (Vidugiris 306). Kontaminiert wurden also *köja od. *köje und -^-stämmiges *stoibe. Resultat war balt. dial. *koibē, aus dem auf entlehnender Seite *kojpe und weiter *koipe > koipi.

Mit sehr großer Wahrscheinlichkeit wurde finn. koipi aus dem Altkurischen entlehnt, einer Sprachform, von der keine schriftlichen Denkmäler überliefert sind. Die baltischen Lehnwörter im Finnischen können wichtige Hinweise für die teilweise Rekonstruktion des Altkurischen liefern, wie der beste finnische Baltologe Eino N ieminen in seinen Artikeln bereits überzeugend dargelegt hat (s. besonders N ieminen, SbFAW 1956 [1957], 185-206). Aus dem Ostseefinnischen wurden koipi und seine Lautentsprechungen bekanntlich verschiedentlich weiter entlehnt (SSA I 384). In diesem Zusammenhang ist natürlich am interessantesten die Tatsache, dass das Wort als relativ gesehen sehr späte Rückentlehnung aus dem Ostseefinnischen — wohl aus dem Livischen, weniger wahrscheinlich aus dem Estnischen — in der Form kuība, koiba ,das von den Beinen eines Tieres, namentl. eines Seehundes, Hundes u. a. abgezogene Fell’ (ME II 254, 300) wieder ins Lettische kam, s. ME, ibid., A ben, ESA III 210, Z eps 1962, 122, R aģe, Dialektālās leksikas jautājumi I 42-43, B oiko, Onomastica Lettica 6567, 77, S abaliauskas 1990, 273, SSA I 384. Es ist dies nicht weiter verwunderlich, da es im Lettischen zahlreiche relativ junge ostseefinnische Lehnwörter gibt, die zum größten Teil von den in den Letten aufgegangenen Liven stammen.

44 . kuohu Das im Finnischen und Karelischen belegte kuohu ,Sprudel, Schaum, Gischt, Schwall’ ist etymologielos (SSA I 439). Im Ingrischen hat seine Entsprechung köhu die Bedeutung ,Schaum’. Im Finnischen sind auch die Varianten kuoha und kuoho (ibid.) belegt, von denen ich erstere für die ursprünglichste von allen halte (s. dazu noch VKS II 781, L önnrot I 807). Die Variation des Endvokals gleicht der bei huuru (s. da) festgestellten, wo ich allerdings die Variante auf -o aus Sicht des

78

Etymologien

baltischen Originals für die ursprünglichste halte. H äkkinen 1990, 104 ist ganz offenbar richtig der Auffassung, es handele sich bei kuohu um eine Ableitung. Das Wort ist ganz deutlich ein baltisches Lehnwort, dessen feminines Original *göza < *gāžā balt. dial. *-ö- statt *-ä- zeigt. Im heutigen Litauisch hat es die Gestalt g ö ia (LKŽ in 487) ,priboj’ = ,Gischt’ (L yberis 199). Von ,Gischt’ zu ,Schaum’ und ,Schwall’ ist semantisch kein weiter Weg. Das Lettische hat als Entsprechung gäza ,die Neigung, der Sturz; der Wassersturz, Wasserfall; die Brandungs-, Sturzwelle; der Guss’ (ME I 619), in der sich der ursprüngliche baltische Vokalismus -ä- erhalten hat. Die entsprechenden Verben lauten lit. gožti ,umwerfen, -stürzen; ausgießen’ (S enn-S alys I 195) und lett. gäzt .giessen; zum Fall, zum Sturz bringen, Umstürzen; giessen, stark regnen; bauen, schlagen’, refl. ,sich ergiessen, strömen; giessen, stark regnen, strömen; stürzen, Umfallen, einstürzen’ (ME I 620). Nach E ndzelīns II 54 handelt es sich bei dem litauischen Verb um ein žemaitisches Wort. Zur Etymologie der baltischen Wörter s. ME 1 620, F raenkel 1 162, T oporov E-H 280, M ažiulis 1 393-394, P ėteraitis 1992, 93, K arulis 1 297-298.

45. lam pi Das Wort lampi (Gen. lam m en) ,Teich’ hat außerhalb des Ostseefinnischen (vielleicht mit Ausnahme des Lappischen) keine sichere Etymologie (SSA II42). Seine frühurfinnische Rekonstruktion ist ein -e-stämmiges Hampe . Das angeführte lappische Äquivalent lappN. lu o b b ä l ,seeartige Verbreiterung im Fluss’ (L ehtiranta 1989,70, SSA ibid.) ist eindeutig eine Ableitung. SKES II 274 und UEW I 235 halten eine Entlehnung aus der finnischen Form lampelo für möglich. Das lappische Wort hinwieder ist sicher in die nördlichen Dialekte des Finnischen entlehnt, und zwar in den Formen lompola, lompolo, lompalo, lommol, lumpero (T. Itkonen, MSFOu CCXV 164). In den finnischen Dialekten ist lampi in verschiedenen Stufenwechsel-Ausgleichformen belegt. In den Westdialekten und Südkarelien begegnet lammi (Gen. lammen od. lammin), im übrigen Finnland lampi (R apola 1966, 118, SSA II 42). Belegt ist auch lamppi, Gen. lampiņ (SKES II 273). Ähnlich liegen die Dinge bei lumme .Seerose’ und sam pi ,Stör’ (s. dort). Finn. lampi kann m. A. n. auf balt. *klampē zurückgeführt werden (so bereits L iukkonen, Kongresas 1997, 88). Dieselbe Rekonstruktionsform setzt lit. Klafhpe voraus, das nach V anagas 1981, 159 als Flussname, nach L aumane 1996, 106 als Dorf- und Moomame belegt ist. Das baltische Original ist eine Ableitung aus einem Adjektiv, das im Litauischen die Form klampus ,sumpfig, morastig; wo man beim Gehen einsinkt, stecken bleibt’ hat (S enn-S alys 1 487), s. V anagas 1981,159, L aumane 1996,106. Das Litauische hat auch das hiermit eng zusammenhängende Substantiv klampä ,sumpfiges, morasti-

46. lanko

19

ges Erdreich, Morast, Moor, Sumpfland’ (S enn-S alys, ibid.). Zur Etymologie s. F raenkel 1 271-272, O trębski n 39, 56, V anagas, Baltistica XXVII:2,43. Dafür, dass die Bedeutung , sumpfiges, morastiges Erdreich’ in ,Teich’ überge­ gangen ist, können semantische Parallelen aufgestellt werden. So geht finn. jä rv i ,See’ über Zwischenstufen auf das baltische Original *jaurä zurück, das in lit. jäura ,Moorgrund, Sumpfland’ vertreten ist (L iukkonen, Kongresas 1997, 88), und das seinerseits etymologisch mit lit. jū ra ,Meer, See’ verwandt ist (F raenkel I 198). Andererseits ist lit. m arios ,Meer, See, Haff’ mit dt. M oor verwandt (F raenkel I 409, L iukkonen, ibid.) usw. P. S. Ich habe diese Etymologie einige Male mündlich gegenüber Dr. Lembit V aba erwähnt, der mir in einem Brief vom 21.9.1998 freundlich mitteilt, dass meine Zusammenstellung bereits von L. K ilian (Zeitschrift für Ostforschung. Länder und Völker im östlichen Mitteleuropa XXXV:4. Marburg/Lahn 1986, 493-494) vorge­ tragen wurde, s. auch V aba, Keel ja Kirjandus 1989:4, 216. Am genannten Ort vergleicht K ilian finn. lam pi und lit. klampa vorsichtig miteinander und hält eine Entlehnung des finnischen Wortes aus dem Baltischen für möglich, ohne aber irgendeine sprachliche Analyse zu geben. Genau genommen handelt es sich bei seiner Etymologie nicht genau um die von mir aufgestellte, da er kein -c-stämmiges Original ewähnt.

46. lanko Ohne sichere Etymologie ist m. A. n. bisher finn. lanko ,Bruder der Ehefrau, Bruder des Ehemannes, Ehemann der Schwester (od. der Schwester der Ehefrau od. des Ehemannes); (alt und volkssprachlich auch:) Cousin(e) zweiten Grades, Verwandte(r)’ (NS III 48), das im Ostseefinnischen im Karelischen, Votischen und Estnischen belegt ist (SS A II44 gibt die Bedeutungen Verwandter durch Heirat, bes. Schwager; Cousin(e) zweiten Grades; (ferner) Verwandter’). Das estnische Äquivalent lang (gew. PL langud) hat die Bedeutungen ,die Schwäger, die angeheirateten Verwandten; die Eltern der Ehegatten’ (ESS 210). K oivulehto, Virittäjä 1994, 3-24, behauptet, das Original unseres Wortes wäre (west-l)germ. *ga-langa- Verwandter’, dessen Präfix bei der Entlehnung ohne Entsprechung geblieben wäre. Koivulehto zufolge (ibid. 14) wäre die Form **kalarlko heikel und möglicherweise sogar komisch gewesen. Die Erklärung leuchtet mir nicht ein, auch wenn SS A II45 offenbar daran glaubt. M. A. n. gehört lanko zu den vielen Verwandtschaftstermini, die das Finnische aus dem Baltischen entlehnt hat, und es ist möglich, eine entsprechende, völlig glaubwürdige Lehnetymologie aufzustellen. Es sei daran erinnert, dass auch finn. nuode Verwandter durch Heirat, Schwager’ ein baltisches Lehnwort ist (vgl. SS AU 238, wo außerdem noch alternativ eine viel unwahrscheinlichere germanische Lehn­ etymologie erwähnt wird). Im modernen Litauisch, genauer gesagt in den niederlitauischen (žemaitischen) Dialekten ( B u i v y d i e n ė 1997, 116, 202), begegnet das präfigierte Wort nuolanka

80

Etymologien

{nuö + lanka), žem. nūlanka, dessen in diesen Zusammenhang gehörende Bedeutun­

gen aus einigen wichtigen litauischen Wörterbüchern zitiert werden sollen: 1. Ehr­ erbietung, Ehrfurcht, Hochachtung, Respekt’, 2. ,die Gesamtheit der Familienange­ hörigen des Mannes, denen die jung verheiratete Frau Ehrerbietung schuldig ist’ ( S e n n - S a l y s II 253), ,die nächsten Verwandten (Eltern, Brüder, (Schwestern) des Ehemanns’ ( K u r s c h a t II 1586), ,vyro tėvai, broliai, seserys, kuriems reikia lenktis, įtikti, kai kuriems dalis mokėti’ = ,die Eltern, Brüder und Schwestern des Mannes, vor denen man sich verbeugen soll und denen man gefällig sein soll und denen man den Anteil [vom Haus] bezahlt’ (DLKZ 444). In den niederlitauischen Dialekten begegnet auch das mit einem anderen Präfix versehene Synonym apianka (LKŽ I 242, B u i v y d i e n ė 1997, 116, 202). Es sei daraufhingewiesen, dass auch das Simplex lanka ,nusižeminimas, nusilenkimas’ = ,Demut, Gehorsamkeit’ belegt ist, das im älteren Litauisch auch folgende Bedeutung hatte: ,tas, kam reikia lenktis, nuolanka’ = ,der/die, vor dem/der man sich verbeugen muss = lit. nuolanka’: ištekėjusi už Jurgio, rado daugybę lankos: brolį, dvi seseris — visiems lenkis, visų b ijo k ,Nachdem sie Jurgis geheiratet hatte, fand sie eine große Zahl von „lanka“ (Personen, vor denen man sich verbeugen muss) an: einen Bruder und zwei Schwestern — verbeuge dich vor allen, fürchte alle’, Ten ja i bus gerai, jokios lankos nėr, nėr ko lenktis (nėra brolių, anytos) ,Da wird sie es gut haben, es gibt keine „lanka“ (Personen, vor denen man sich verbeugen muss), es gibt niemanden, vor dem man sich verbeugen müsste (es gibt keine Brüder und keine Schwiegermutter)’ (LKŽ VII 126). Keiner der finnischen Etymologen hat von diesem Wort Notiz genommen, was ganz offen­ sichtlich seinen Grund darin hat, dass die finnischen Lehnwortforscher des Litauischen nicht mächtig waren und daher keine einsprachigen Wörterbücher benutzen konnten (in zweisprachigen Wörterbüchern wird dieses Wort nicht erwähnt), von der umfang­ reichen auf Litauisch verfassten Quellenliteratur einmal ganz abgesehen. Auch K o i v u l e h t o erwähnt lit. lankä in dem von mir zitierten langen Artikel nicht, obzwar er das etymologisch hierher gehörende Verb lenkti durchaus erwähnt (S. 15). Die oben erwähnten Wörter sind Ableitungen des Verbs lenkti u. a. »verehren’, Reflexivum lenktis u. a. ,sich verbeugen’ (L yberis 378), worüber s. F raenkel 1356357, T oporov L, 352. Im Lichte der vorgebrachten Wörterbuchbelege erscheint die baltische Herkunft von finn. lanko als völlig erwiesen. Die wichtige alte Bedeutung »Schwiegereltern’ (denen man natürlich demütig und gehorsam gegenübertrat) hat sich im Estnischen erhalten. Der Stammvokal -o des finnischen Wortes ist sekundär wie in heimo, einem anderen eng hierher gehörenden Verwandtschaftsterminus baltischer Herkunft (vgl. lit. šeima »Familie’).

47. la p si Das allgemeinostseefinnisch belegte lapsi (Gen. lapsen) ,Kind’ hat keine sichere finnisch-ugrische Etymologie (K orhonen, Juuret 59, H äkkinen 1987, 144, SSA II 4 8 ^ 9 ). M. A. n. handelt es sich hier wie bei vielen anderen Termini im Bereich Ehe

47. la p si

81

und Verhältnis der Geschlechter und daran anschließende Phänomene, die baltischer Herkunft sind, (neben lapsi und eng damit verbunden u. a. morsian ,Braut’ und nuode ,Brautführer’ sowie meine neuen Etymologien häät ,Hochzeit’, ihminen ,Mensch’, lanko ,Schwager’, nainen ,Frau’, sulhanen ,Bräutigam’ und vakahainen ,Kleinkind’; vgl. auch m aito ,Milch’, ursprünglich ,Nahrung für den Säugling’) um ein baltisches Lehnwort. Auch die zahlreichen aus dem Baltischen entlehnten finni­ schen Bezeichnungen für Körperteile (unter den von alters her bekannten besonders karva ,Körperhaar’, napa ,Nabel’ und r e is i ,Schenkel’) weisen meiner Auffassung nach am natürlichsten auf intime Beziehungen hin. Auf diesem Gebiet steht noch sehr viel intimeres baltisches Lehnwortmaterial zur Vorstellung an, worüber aber an anderer Stelle. Baltische Ausgangsform von finn. lapsi ,Kind’ ist *läpis, das frühurfinn. *lapes ergäbe (*a für *ä, da es im Frühurfinnischen noch kein langes *ä gab), zur Substitution am Wortende vgl. kirves ,Beil’ : lit. kirvis. Das Wort zeigt eine Metathese wie auch hilse ,Kopfschuppe’ ( *šilse < *šilęs < balt. *zilis), also *lapse < *lapes. Dabei ist lapsi (Gen. lapsen ) -e-stämmig geblieben, während hilse wie auch die autochthone finnische Ableitung perse ,Hinterer’ < *peres (s. hilse ) in die Reihe der Nomina auf -eh oder -ek übergetreten ist. Die Anfangsbedeutung des baltischen Wortes war ,Wiege’, woraus sich schon auf baltischer Seite zunächst, Wiegenkind’ und dann allgemein ,Kind’ entwickelte. Einen Hinweis hierauf bildet m. A. n. die in einer litauischen Mundart (Kvėdarna) belegte Ableitung lopsnä ,schwanger’ < *läp-, die für ihr Grundwort höchstwahr­ scheinlich die Bedeutung ,Kind’ voraussetzt. F raenkel 1 386 erklärt das Wort anders und verwirft gleichzeitig eine frühere Etymologie B ūgas, und beide Erklä­ rungen sind nicht glaubhaft. Auch LKŽ VII655 hält sich offenbar an diese Etymolo­ gien und nennt die Bedeutungen ,schwanger’ und ,schwach, krank’ (löpsnas und lopsnüs ) in ein und denselben Wortartikeln, was unglaubhaft ist. Eine schwangere Frau, Fortpflanzerin des Lebens, ist alles andere als „krank“, ganz im Gegenteil! Lit. lopsnä ,schwanger’ ist m. A. n. mit lit. lopšys , Wiege, Hängekorb’ verwandt, dessen ältere Form niederlit. (žem.) lopišys ist (F raenkel, ibid., O trębski 1246, LK A II89, 91). Allgemein zum litauischen Suffix -šna s. B ūga I 277, S kardžius 1943, 220. Eine außerordentlich interessante semantische Parallele ist tavgisam. (ngan.) läpsaka ,Kind’, das eine Ableitung von läpsd , Wiege’ darstellt (SSAII 49). Dieses und bestimmte andere uralische Wörter für , Wiege’ ähneln so stark finn. lapsi, dass man versucht hat, sie miteinander zu verbinden (K ulonen, Virittäjä 1988, 290, SSA, ibid.). Es handelt sich allerdings m. A. n. nur um Zufall (vgl. schon J oki 1973, 158). Als Kuriosität sei erwähnt, dass lit. lopšys verschiedentlich (T rubačev, LP VIII 240-242, T oporov-T rubačev 1962, 248, T oporov, Balto-slavjanskie issledovanija 1988-1996, 329, V iitso, MSFOu CLXXXV 278, Itämerensuomalaiset kielikontaktit 141) völlig grundlos für ein finnisch-ugrisches Lehnwort gehalten worden ist. Die anfangs genannten russischen Wissenschaftler leiten das Wort aus dem Tscheremissischen oder allgemein aus den Wolgasprachen her, wogegen Z inkevičius I 180 mit Recht Vorbehalte hat. Toporov und Trubačev haben sich bei lopšys für eine Lehn-

82

Etymologien

etymologie entschieden, weil es innerhalb des Litauischen völlig ohne Etymologie ist. Ich glaube aber, eine solche Etymologie Vorbringen zu können (s. unten). Viitso hingegen hat im Laufe von sieben Jahren seine Meinung in dieser Frage insofern geändert, als er erst auf interessante Weise auch finn. lapsi in diesen Zusammenhang gebracht hatte, dies aber später nicht mehr tut. Es ist im Übrigen interessant, dass das SSA, ibid. im Ostseefinnischen eine Bedeutungsverschiebung , Wiege’ > ,Kind‘ ohne Ableitung annimmt. Das ist genau das, was ich bereits wenigstens seit 1990, als ich die Arbeit an diesem Buch begann, für das baltische Original von finn. lapsi annehme. Es handelt sich hier um einen interessanten Fall von Metonymie. Über dieses Phänomen s. Itkonen 1966,381 und den Artikel ranne. M. a. W. soll es in zwei Sprachfamilien, die bewiesenermaßen nicht miteinander verwandt sind, eine lautlich recht ähnliche Wortsippe geben, und zu alledem soll im Tavgisamojedischen eine ganz ähnliche semantische Entwicklung, wie oben erwähnt, vor sich gegangen sein und das alles soll nur Zufall sein! Dieses Beispiel eignete sich für Lehrbücher der Sprachwissenschaft (natürlich unter der Voraussetzung, dass das, was ich behaupte, sicher ist, wofür es bei diesem schwierigen Wort keine unbedingte Garantie gibt). Ich meine, lit. lopišys ist mit löpas ,Flicken’ verwandt (F raenkel, ibid., wo meiner Auffassung nach allerdings die Beweiskette gerade für die Bedeutung,Flicken’ semantisch nicht gut ist). Die Derivationsverhältnisse zwischen den Wörtern können wie folgt dargestellt werden: der baltische Stamm Häp- (> lit. lop-) wird im Litaui­ schen durch löpas ,Flicken’ repräsentiert, dessen Ableitungen Hopis (< *läpis ) ,Wiege’ und lopišys id. sind. Einen Parallelfall bildet lit. täkas ,Pfad, Fußsteig; Kanal, Röhre’ (F raenkel II 1051), dessen Ableitungen balt. Hakis ,Fischwehr’ und lit. takišys ,Fischzaun, -wehr; Schleuse, Damm’ sind (F raenkel, ibid. 1052). Balt. Hakis wurde ins Finnische entlehnt (toe, Gen. tokeen ,Damm, Deich, Wehr’ < frühurfinn. *tokeš < balt. dial. *tokis / Hakis < Hakis), vgl. bereits N ieminen, SbFAW 1956, 199. Ein eben solches Derivationsverhältnis wie löpas : Hopis und takas : Hakis zeigt sich z. B. in lit. kiaušas ,(Him)schädel‘ : kiaušis ,Ei’ (S kardžius 1943,62-63, O trębski II64). Möglicherweise hatte das baltische Original von finn. toe ein langes Ī in der zweiten Silbe ( Hokis/Häkis < Hakis), da sich im lettischen Äquivalent tacis < Hakis der Vokal in der Endsilbe erhalten hat (ein ursprüngliches kurzes i wäre apokopiert). Eine Parallele in der Wortbildung wäre dann z. B. lit. šlakas ,Tropfen, Fleck, Klecks’ : šlakys ,Flußforelle, buntscheckiger Fisch, trutta’ (F raenkel II 998). Wenn dem so ist, muss dem baltischen Original Häpis von finn. lapsi die Rekonstruktion Häpis als Alternative hinzugestellt werden. Vom Finnischen her gesehen macht dies natürlich keinen Unterschied, da der lange Vokal in der nichtersten Silbe bei der Entlehnung ins Frühurfinnische auf jeden Fall gekürzt worden wäre. Ganz anders, aber nicht unbedingt überzeugend, leiten lett. tacis ME IV 121, E ndzelīns UI:2, 130, M ažiulis IV 181 her. Was die Semantik von lit. lopišys angeht, muss m. A. n. davon ausgegangen werden, dass es gemäß seiner Etymologie ursprünglich die Bedeutung ,aus Flicken genähte Stoffwiege’ gehabt haben muss. In Litauen ist der ganz ursprüngliche

48. lasta

83

Wiegentyp gerade eine aus Stoff hergestellte Hängewiege (Lietuvių etnografijos bruožai 452, MLTE II 471, TLE II 655). Die Stoffwiege hat auch in Finnland eine Parallele. „In Karelien konnte man den Säugling in einem oben offenen Beutel aus Sackleinen unterbringen. Der Beutel wurde dann an eine biegsame Stange, die am Dachbalken befestigt war, gebunden, sodass die Wiege lange Zeit wippte, ohne dass die Zugluft am Boden geschadet hätte. Der Beutel aus Sackleinen war auch als Wiege im Freien bei der Sommerarbeit, z. B. auf der Wiese beim Mähen, geeignet, wobei die Mutter ihren Sprössling in seinem Beutel an einem Ast aufhing.’’ (T. K orhonen, Hiidenkivi 1997:4, 45). Auch in Litauen benutzte man Stoffwiegen in vergangenen Zeiten zumeist bei der Feldarbeit (Lietuvių etnografijos bruožai 454, MLTE n 471). Solche Wiegen wurden in Litauen auch aus anderen Materiahen als aus Stoff hergestellt. „Nesselmann führt unter dem Namen lopiszys eine alte von ,Bast oder Leinwand gemachte’ Wiege an“ (B ielenstein II 232). Ebenso in Lettland: „Das Volkslied bezeugt Wiegen aus Lindenborke, deren Stücke natürlich zusammen­ genäht waren“ (ibid.).

48. la sta Die Etymologie von gemeinostseefinn. lasta geht nicht über das Lappische hinaus (SSA II 50). Das lappische Äquivalent erscheint dabei semantisch schon ziemlich abgelegen. Auch im Ostseefinnischen hat das Wort stark voneinander abweichende Bedeutungen, wozu s. SKES II 278. Ich sehe einen semantischen Hinweis auf den Ursprung des Wortes im Finnischen, wo es u. a .,schaufelartiges Werkzeug’ bedeutet (NS III 68), und in estn. lasn ,Holzschaufel, -spaten’, W ied. ,Spaten, Schaufel’ (M ägiste IV 1240), zu dem weiter auch Saareste 1924, 205. Das estnische Wort kann als in phonetischer Hinsicht außergewöhnliche Entsprechung von finn. lasta aufgefasst werden (M ägiste, ibid.). Vermutlich eben aus lautlichen Gründen ist dieses estnische Äquivalent in SSA II 50, im Prinzip ganz richtig, mit einem Fragezeichen versehen. (Vgl. noch N ikkilä, Virittäjä 1997:2, 303). lasta ist m. A. n. ein baltisches Lehnwort, dessen Original sich vortrefflich in lett. lāpsta ,der Spaten, die Schaufel’ (ME II 440) zeigt, zu dessen Etymologie s. ME, ibid., K arulis 1501-502. Interessant ist, dass die Ausgangsform des Wortes *lāpstā aus baltischer (balto-slavischer) Sicht eigentlich eine Wortbildungsvariante des Wortes darstellt, aus dem finn. lapio ,Spaten, Schaufel’ entlehnt wurde. Das Original für lapio < *lapiS- ist balt. Häpetä, das zu lit. lopeta »Spaten, Schaufel’ (F raenkel I 339-340) wurde und sich in ostlit. (oder genauer nordostlit.) dial. lapeta (B ūga I 344) — was den Vokalismus angeht — in ursprünglicherer Form erhalten hat; oder das Original ist geradezu balt. *lāpitā , auf das möglicherweise lit. dial. löpita id. (LKT 459) zurückgeht. Alle zu dieser Wortsippe gehörenden und semantisch entweder identischen oder sehr eng zusammengehörenden balto-slavi sehen Substantive sind mit verschiedenen -/-Suffixen gebildet. In diesen Zusammenhang gehören neben den erwähnten Rekon-

84

Etymologien

struktionen Hāpstā, *lāpetā, Hāpitā u. a. auch lett. dial. lapusta = lāpsta (ME II 441), altpr. lopto ,Spaten’ < *lāptā (B ūga 1313, T oporov L 358-363). Verschiedene Ablautstufen des Stammvokals zeigen z. B. russisch lopäta ,Schaufel’ (V asmer II 58) < balto-slav. Hapata, löpast’ , Schaufel, Ruderblatt’ (V asmer, ibid.) und loptä ,Schaufel, Ruderblatt’, das < urslav. Hop'bta (V asmer, ibid. 14) < balto-slav. Haputä , Zu den Etymologien der erwähnten Wörter s. T rautmann 1910, 372, B erneker I 733, T rautmann 1923,149-150, B ūga 1 312-313, ME II440, S kardžius 1943, 340, E ndzelīns IV:2, 254, S pecht 1947, 86, 246, S adnik-A itzetmüller 263, F raenkel I 340, N ieminen 1963, 34, ĖSSJ XVI 41^12, T oporov L, 94-95,357,359, K araliūnas, Baltistica XXX: 1, 38, M ažiulis III 82-84, ESJS VII 437. Im Albanischen, der mit dem Balto-Slavischen nächstverwandten Sprache, begegnet das eng in diesen Zusam­ menhang gehörende late ,Beilchen; Fleischermesser, Tranchiermesser’ (Alb. Wb. 272), für das die sog. „albano-balto-slavische“ Ausgangsform *laptä (Karulis 1502) rekonstruiert werden kann, die wie in den eben genannten russischen Wörtern in der ersten Silbe den der nordindoeuropäischen Dialektgruppe (aus der später das „AlbanoBalto-Slavische“ und auch das Germanische hervorgingen) eigenen a - Vokalismus zeigt, welchen indoeuropäischen Hintergrund er auch immer haben mag (kurzes *o oder „Schwa“ der klassischen Indoeuropäistik? — vgl. P okorny 1 679). Es könnten noch weitere Wortbildungsvarianten von dem erwähnten Stamm aufgeführt werden, aber ich will es hiermit genug sein lassen. Über das balt. Suffix -stä s. E ndzelin 1923,279, E ndzelīns 1951,379, S kardžius 1943,324—325, O trębski II239, U rbutis 1981, 71, S alys II 158). Da das Frühurfinnische kein langes ā hatte, wurde es natürlich bei der Entlehnung in der ersten Silbe gekürzt. Auch die Konsonantenhäufung -pst- im Wortinneren war unmöglich, sodass sie aus phonotaktischen Gründen vereinfacht wurde.

49. len tää & 50. lintu Das finnische Verb len tä ä ,fliegen’ und das finnische Substantiv lintu , Vogel’ liegen sich begrifflich und lautlich so nahe, dass sich so mancher etymologisch Interessierte mit einer möglichen Zusammengehörigkeit der Wörter beschäftigt haben dürfte (vgl. z. B. R äsänen, Virittäjä 1947, 170). Es sei als Kuriosität am Rande erwähnt, dass H akulinen 1979, 501-502 bei der Behandlung der ursprünglichen Satzstruktur im Uralischen als Beispiel ausgerechnet den finnischen Satz lintu lentää < lintu lentävä aufführt, ohne jedoch in irgendeiner Weise zur Etymologie dieser Wörter Stellung zu nehmen (vgl. bereits R avila, Virittäjä 1943, 251-252). Beachtet man, dass es sich um uralisches (finnisch-ugrisches) Sprachmaterial handelt, dann ist der Vokalwechsel e ~ i in der ersten Silbe natürlich unmöglich. Anders stellt sich die Situation dar, sollten die infrage stehenden Wörter aus einer indoeuropäischen Sprachform entlehnt sein, in der ein solcher Vokalwechsel (zumindest indirekt) durch Ablaut erklärt werden kann.

49. lentää & 50. lintu

85

M. A. n. ist gemeinostseefinn. lentää ,fliegen’ (SKES II 287, SSA II 64) ein baltisches Lehnwort, das im Litauischen durch das Verb lįsti, lenda, lindo »kriechen, sich verkriechen, eindringen, sich herandrängen, sich einmischen, hineingehen, Platz finden’ (F raenkel I 377), auch u. a. »skverbtis, eiti į vidų ar iš vidaus’ = »eindringen, hineingehen od. herauskommen’ (LKZ VII 578), und im Lettischen durch das Verb list, lienu (liedu, līznu), lidu »kriechen, schleichen; hineindringen, schmecken, gefallen’ (ME II 490) vertreten ist. Zu möglichen etymologischen Verbindungen des baltischen Verbs s. F raenkel I 377, P okorny I 960-961, J ēgers, KZ LXXX 50-53, S abaliauskas 1990, 186, T oporov L, 62-63, 268-269. Wie aus den litauischen Belegen ersichtlich, wurde das finnische Verb aus dem baltischen Präsens entlehnt. Fälle, in denen das litauische Verb faktisch für ,fliegen’ steht, sind u. a.: iš avilio pradėjo lįsti bitės ,die Bienen begannen aus dem Bienennest heraus zu kommen (fliegen)’ (LKZ VII 578), žvirbliai lend į langus p riš speigą ,vor starkem Frost fliegen die Spatzen an die Fenster’ (ibid.). Es sei im Übrigen bemerkt, dass lett. liūdėt »fliegen’ eine Rückentlehnung aus dem ostseefinnischen Livisch ist (EH I 742, Z eps 1962, 146, R a6 e, Dialektālās leksikas jautājumi I 55), sodass dieses Wort bei der Etymologisierung des finnischen Wortes nicht herangezogen werden darf. ME II471 gibt für dieses lettische Wort noch keine etymologische Erklärung. Finn. lintu , Vogel’, frühurfinn. Hinta geht auf das baltische Substantiv Hindä, v das in lit. lindä »mažoji zylė’ = »kleine Meise’ (LKZ VII 522) weiter lebt und mit dem eben behandelten Verb verwandt ist, zurück. Der Wortausgang -u des finnischen Wortes ist sekundär, möglicherweise ein Ableitungssuffix (L ehtisalo 1936, 26, H äkkinen 1987,150, UEW 1249). Das litauische Substantiv zeigt die Schwundstufe -in- < *-n-, wie auch das Verb im Infinitiv (-į- < -in-) und im Präteritum, während im Präsens des Verbs entsprechend die Vollstufe -en- steht. Im Litauischen gibt es von diesem Substantiv abgeleitete Komposita, die verschiedene Vogelarten bedeuten, u. a.: pečialinda ,urvinė kregždė (Riparia riparia) = Uferschwalbe’ (LKZ IX 731), ,Waldlaubsänger’ (F raenkel I 561), pečialinda = pečialanda, krosnilanda ,devyn­ balsių šeimos paukštelis, kurio dengtas lizdas primena krosnį (Phylloscopus) Fitis’ (DLKŽ 336, 534), pečlinda u. a. »kukutis (Upupa epops) = Wiedehopf’ (LKŽ IX 734),,Waldlaubsänger, Wiedehopf, Uferschwalbe, Zaunkönig’ (F raenkel 1561), »paprastasis nykštukas (Regulus regulus) = Wintergoldhähnchen’ (LKŽ IX 734). Erster Bestandteil dieser Komposita ist das slavische ,Ofen’ bedeutende Lehnwort pečius. „Alle diese Vogelnamen heißen e ig .,Ofenkriecher’“ (F raenkel I 561). Auf dieselbe Weise sind im Litauischen auch bestimmte Komposita, die Insekten bezeichnen, gebildet: akmėnlinda ,labai judrus, rudas šimtakojis, gyvenantis po v akmenimis, rąstais ir kitur (Lithobius) = Steinläufer’ (DLKZ 8), eigentlich „Unterden-Stein-Kriecher“, auslinda »žirklys (Forficula auricularia) = Gemeiner Ohrwurm’; v .karkvabalis (Melolontha) = Maikäfer’ (LKZ I 505). Den Gebrauch von auslinda („Ins-Ohr-Kriecher“) zeigt das Beispiel vaikai, vakare saugokitės, kad auslinda į ausį neįlįstų , Kinder, passt am Abend auf, dass der „Ins-Ohr-Kriecher“ nicht ins Ohr kommt’ (ibid.). Von Čepienė, LKK XXXVIII180 wird auslindä ganz unglaubwürdig aus dem Deutschen hergeleitet. v

86

Etymologien

Übrigens ist auch aus Sicht der Etymologie selbst interessant, dass das Äquivalent von l i n t u im Estnischen dialektal auch ,Biene’ bedeutet (SSA II 80). Hiermit vergleichbare Fälle sind mehrmals im 15. Gesang des Kalevala anzutreffen, z. B.: m e h i l ä i n e n , m e i ä n l i n t u , m e t s ä n k u k k i e n k u n i n g a s ,Honigbiene, bester Vogel, König du der Waldesblüten’ (15:393-394), m e h i l ä i n e n , l i u k a s l i n t u ,Honigbiene, flinker Vogel’ (15:403), m e h i l ä i n e n , l i n t u s e n i ! ,Honigbiene, bestes Vöglein’ (15:422), m e h i ­ l ä i n e n , i l m a n l i n t u ! ,Honigbiene, Himmelsvogel’ (15:473). Balt. * l i n d ā hat offenbar ursprünglich solche Insekten und Vögel bezeichnet, die als Eingang zu ihrem Nest eine schmale Ritze oder ein kleineres Loch hatten. Vgl. auch das vom selben Stamm gebildete lit. l i n d a ,bičių laka’ = ,Eingangsloch des Bienennestes’ ( S k a r d ž i u s 1943, 41), obwohl in dieser Bedeutung gewöhnlich von der Ablautvariante l a n d - (mitunter auch l e n d - ) abgeleitete Formen stehen (LKA I 176-177). Es begegnet auch das -ē-stāmmige l i n d e ,Eingangsloch des Bienennestes’ (LKZ V II 522). Alternativ haben die infrage stehenden Vögel am Uferhang oder am Boden ein in irgendeiner Weise ofenartiges Nest (vgl. die mit lit. p e č - beginnenden Vogelnamen). Das Nest des Wintergoldhähnchens hängt an einem Fichtenast. Die Meise (vgl. neben lit. l i n d a ,kleine Meise’ auch Kalevala 3:192 t i e ä n l i n n u k s i t i a i s e n ,weiß gar wohl, dass sie ein Vogel’) hat ihr Nest in einem Baumloch. Hinzuweisen ist auf die Tatsache, dass auch die Ablautvariante - l a n d a im zweiten Bestandteil bestimmter litauischer Vogelnamen steht. „Das Kompos. p e č i a l a n d a heißt einerseits ,Ofenloch’, andererseits ,Waldlaubsänger, Wiedehopf’ ... Sein 2, El. ist das mit l į s t i »kriechen’ abltd. l a n d a ,Loch zum Hineinkriechen, Schlupfloch’“ ( F r a e n k e l 1 561). Ebenso k r o s n i l a n d a ,Phylloscopus’ (DLKŽ 336) — erster Bestand­ teil des Kompositums ist k r o s n i s ,Ofen‘. Es irritiert ein wenig, dass das neueste etymologische Wörterbuch des Finnischen (SSA), das bei Lautentsprechungen zumeist recht genau ist, in diesem Fall seine Kriterien gelockert hat und geneigt ist, Vergleiche mit bestimmten Wörtern in weiter entfernteren uralischen Sprachen für „sehr wahrscheinlich“ zu halten (SSA II 80), obwohl sie lautlich nicht in diesen Zusammenhang passen. L ehtiranta 1989, 70 ist kritischer und erwähnt das finnische Wort nicht im Zusammenhang mit den angespro­ chenen Wörtern in den entfernteren Sprachen.

51. lo jo So weit mir bekannt ist, ist finn. l o j o ,langer Reiseschlitten’ ( V u o r e l a 248) ein etymologisch bisher nicht behandeltes Wort. „Für lange Reisen brauchte man einen Reiseschlitten und der älteste von ihnen ist der im ganzen Land gebräuchliche l o j o “ ( V u o r e l a 1975,686). Zu Pferdeschlitten des Typs l o j o s. näher (neben den genannten Werken von Vuorela) V i l k u n a 1935,216-217. M. A. n. gehört das Wort zur reichen finnischen aus dem Baltischen entlehnten Schlittenterminologie. Baltische Entsprechungen des Wortes sind lit. schriftspr. š l a j o s (Plural des -j ä Stammes) ,(Bauem)schlitten‘ ( F r a e n k e l II998), ,zweispänniger Last-, Fuhr-, Fahr-

52. lum m e

87

schlitten’ (S enn-S alys IV 510) und altpr. slayan ,Schlittenkufe’ und das pluralische slayo »Schlitten’ (F raenkel, ibid.). Für das litauische Wort wird mitunter auch die Bedeutung »großer Pferdeschlitten’ (L yberis 803), was sehr gut zur Bedeutung des finnischen Wortes passt, angegeben. F raenkel, ibid. erwähnt für das Litauische auch den -e-stämmigen Plural šlājes. Ein weiteres litauisches Wort mit der Bedeutung »Pferdeschlitten’ ist der Plural eines -^-Stammes: das in der älteren Sprache und dialektal belegte ragės und das davon über den sekundären baltischen Ablaut abgeleitete und schriftsprachliche rogės (das Original für finn. reki dagegen ist höchstwahrscheinlich der dialektale -ē-stāmmige Singular *regē; s. N ieminen, SbFAW 1956,202). Dialektal begegnet außerdem die -yo-stämmige Pluralform Šlajai (Z inke­ vičius 1966, 220). Zu dialektalen Varianten s. noch LKA 1 101, M orkūnienė 1994, 15, 16. Zur Etymologie des Wortes s. F raenkel II 998, 1004. Das Original des finnischen Wortes ist m. A. n. die baltische Form *slojö < *šlajā (in der wie in vielen finnischen Baltismen statt eines alten a ein dialektales o oder ä steht). Es handelt sich ganz wie beim altpreußischen Äquivalent slayo um ein Neutrum im Plural (darüber s. T r a u t m a n n 1910,431, S t a n g 1966, 66, 188, Z i n k e ­ v i č i u s IG I 178, Z i n k e v i č i u s LKII 201, 298, unsicher E n d z e l ī n s IV:2, 309). Vgl. noch M a ž i u l i s 1970, 180. Nach einer anderen Auffassung handelt es sich bei diesem altpreußischen Wort um ein feminines Nomen collectivum ( M a ž i u l i s IV 126-127, M a ž i u l i s PKP II 316, D e g t j a r e v , Baltistica. IV priedas, 37). V a i l l a n t II: 1, 16 erwähnt beide Möglichkeiten ohne Stellung zu beziehen. Die beiden Auffassungen sind gar nicht so widersprüchlich (vgl. A m b r a z a s , LgB I 35), denn nach einer unter Indoeuropäisten allgemein anerkannten Erklärung sind die (der traditionellen verglei­ chenden Grammatik entsprechenden) auf -ä endenden Formen des Neutrum Plurals und des (ursprünglich kollektiven) Femininum Singulars ursprünglich ein und dieselbe Form (s. auch V a l e c k i e n ė 1984, 205, S t u n d ž i a , Colloquium Pruthenicum Primum, 153). (Rekonstruktionen mit Laryngalen stelle ich in meiner Arbeit nicht auf, da diese für meinen Forschungsgegenstand unbedeutend sind. Die Laryngale gehören in eine Phase, die vor den baltisch-finnischen Lehnkontakten liegt. Eine andere Sache wären vorbaltische Kontakte, die sich zur Zeit der Streitaxtkultur abgespielt haben, die aber nicht in den Bereich dieser Arbeit fallen.)

52. lum m e Das Wort lumme, PL lumpeet (Nymphaea od. Nuphar) hat keine ordentliche Etymolo­ gie (SSA I I 102, SKES II 308-309). Es handelt sich bei lumme um ein altes baltisches Lehnwort, dessen Original das baltische -yo-stämmige Maskulinum *lugmis ist. Es hat noch eine genaue Entspre­ chung im Litauischen: lugmiai PL ,Nuphar’ (LBŽ 235, LKŽ VII672). Die Singular­ form lugmis (Nuphar luteum) wird von J o n a i t y t ė , MK 1976:3, 57 in seinem dialektologischen Frageprogramm erwähnt. Zur Etymologie des baltischen Wortes s. B ū g a I 461, F r a e n k e l I 379, U r b u t i s , Baltistica VIII:2, 208-209.

88

Etymologien

Da in der entlehnenden Sprache keine Sequenz - g m - im Wortinneren möglich war, entspricht die Geminata finn. - m m - im Grunde den Erwartungen. Die Substitution für die Endung - i s der baltischen -Jo-stämmigen Maskulina ist zumeist frühurfinn. * - e s , aus dem später - e ( h ) wurde. Bei finn. l u m m e handelt es sich genau um ein solches Substantiv auf - e h ( H a k u l i n e n 1979, 119). Die zu erwartende Flexion wäre also l u m m e , Gen. * l u m m e e n . Dieser erwartungsgemäße Genitiv begegnet offenbar in dem Beispiel w e ä h a a w a n s u u l l e l u m m e n l e h t i ,drag pä säret näckbladet’ ( G a n a n ­ d e r 923), vgl. SKES II309, S S A II102. Betreffs des Ģenitīvs vgl. außerdem l e m m e , Gen. l e m m e e n ,näckros (lumme)’, l e m m e e n l e h t i ,näckrosblad’ ( L ö n n r o t I 913). Der Wechsel - m m - ~ - m p -, der in der modernen Standardsprache herrscht, ist sekundär und beruht auf Stufenwechselanalogie. Dialektal ist auch der Nominativ l u m p e (SSA II 102) belegt. Zu diesem Wechsel vgl. l a m p i und s a m p i .

53. lu ode Die etymologisch unklare (SSA II 105) Bezeichnung für eine Himmelsrichtung l u o d e (Gen. l u o t e e n ) ,Nordwest(en)’ kann m. A. n. erklärt werden, indem ihre Semantik besser als bisher beachtet wird und sie als baltisches Lehnwort identifiziert wird. Zunächst muss beachtet werden, dass das Wort in vielen ostseefinnischen Sprachformen auch die Bedeutung ,Westen’ hat. Dies ist der Fall in den finnischen SavoDialekten, im Karelischen, Lüdischen, Wepsischen und auch in estnischen Dialekten (ibid.). L ö n n r o t I 982 führt bei dem Wort (sogar als erste der Bedeutungen in dem Wortartikel!) die meiner Meinung nach wichtige Bedeutung ,skickelse, öde’ an, die in den finnischen etymologischen Wörterbüchern in diesem Zusammenhang nicht einmal erwähnt wird. Einen weiteren Hinweis auf den Ursprung dieses Wortes gibt die Tatsache, dass aufgrund von Belegen im Estnischen und Livischen l u o d e ursprüng­ lich ,die Richtung des Sonnenuntergangs’ bedeutet haben kann (SKES II 311, SSA I I 105). M. A. n. hat l u o d e eine semantisch ganz ähnliche baltische Lehnetymologie wie finn. l ä n s i ,Westen’ (s. eben da). Im Grunde können sie ursprünglich sogar Synonyme gewesen sein. Bei der etymologischen Behandlung von l ä n s i weise ich einmal auf lit. l e m t i s ,Schicksal’ und andererseits auf die englischen Wörter d e s t i n y ,Schicksal’ und d e s t i n a t i o n ,Ziel’ hin und behaupte, dass frühurfinn. * l ä m t e (> finn. l ä n s i ) ursprünglich das „Ziel“ der Sonne, ,die Richtung des Sonnenuntergangs’ also, bedeutet hat, eine Bedeutung, die sich au f, Schicksal’ zurückführen lässt. Auch die ganz ursprüngliche Bedeutung von l u o d e kann m. E. mit gutem Grund als ,die Richtung des Sonnenuntergangs’ rekonstruiert werden. Hier muss an die Bedeutung erinnert werden, die Lönnrot für dieses Wort gibt: ,skickelse, öde’. An diesem Punkt der Folgerungen findet sich baltischerseits eine sehr gute Entprechung für l u o d e , nämlich lit. k l o t i s , Gen. k l o t i e s ,das Schicksal, Los, die Lage; das gute Ergehen, Wohlergehen, Gelingen, Glück, der Erfolg’ ( K u r s c h a t II 1158).

54. lyhyt

89

Zur Etymologie des baltischen Wortes s. T rautmann 1923, 135, F raenkel I 274— 275. Interessant ist, dass schon B ūga 1908, 31 finn. luode ,das Schicksal’ vom -ēstämmigen klotė id. (Kvėdarna) hergeleitet hat, das allerdings wegen seines Stamm­ typs genau genommen nicht als Original infrage kommt. Es muss aber gesagt werden, dass meine aufgestellte Etymologie insofern nicht ganz neu ist. Von einer Benennung für eine Himmelsrichtung allerdings erwähnt Būga nichts. Lit. klotis ist ein femininer -/-Stamm. Da in der hauptsächlichen Quellensprache der baltischen Entlehnungen im Finnischen solche -/-Stämme in großem Umfang in die -ė -stämmige Deklination übergegangen waren (N ieminen, SbFAW 1956, 192— 195), sollte man auch im Finnischen einen -e-Stamm erwarten. Das Wort flektiert aber luode, Gen. luoteen; der Stammtyp ist also -e(h) < *-eš, der normalerweise die Substitution für den Wortausgang -is der baltischen maskulinen Stämme auf -/- und -(i)jo- ist. Möglicherweise war die Ausgangsform von luode in der baltischen Quellensprache ein maskuliner Stamm auf -/- wie im Falle von nuode, Gen. nuoteen ,Schwager, Mann der Schwester’ (hierüber s. N ieminen, ibid., 192-193). Hingewiesen sei darauf, dass die baltische Ausgangsform einen dialektalen Vokalis­ mus hat: *klötis < *klätis, *inötis < *žnātis. Derselbe Wandel a > ö ist auch in dem größten Teil der litauischen Dialekte vor sich gegangen, allerdings aber erst sehr viel später, erst in diesem Jahrtausend.

54. lyh yt Finn. lyhyt ,kurz’ geht m. A. n. auf das baltische feminine Partizip Präteritum Aktiv *lūžusī abgebrochen’ zurück. Semantisch erscheint die Etymologie selbstverständ­ lich, denn abgebrochen’ ist ,kurz’. Das entsprechende Verb lautet lit. lūžti, -žtu, -žau ,brechen, entzweigehen’ (S enn-S alys II 52). Zur Etymologie s. F raenkel I 347. Das Partizip wurde in der Form Hūšus(i) ins Frühurfinnische übernommen, wonach sich der regelhafte phonetische Wandel š > h (Hüsus > Hühus) abgespielt hat. Das lange ū wurde vor h gekürzt ( Hühus > *luhus), vgl. tuhat (Gen. tuhannen) »tausend’ < *tūhamte < *tūšamte < balt. dial. *tūšamtē (s. außerdem puhdas). Derselbe Wandel hat sich auch in dem Finnischen Baltismus vohla »Zicklein’ < *vöh- vollzogen (wobei sich allerdings der lange Vokal im Wort v u o h i ,Ziege’, das denselben Stamm hat, erhalten hat). Das rekonstruierte Hūžusī wurde vielleicht schon auf baltischer Seite zu *lūžus verkürzt. Eine solche Verkürzung ist weit verbreitet in den litauischen Dialekten, in den Ost- und Süddialekten handelt es sich sogar um ein Lautgesetz ( Z in k e v ič iu s 1966, 112,382). Es muss aber natürlich betont werden, dass die finnischen Entlehnun­ gen aus dem Baltischen nicht aus dem Litauischen stammen. In diesem Zusammenv hang soll auch das litauische Adjektiv palūžus »ulomny’ (Daukša Post. II 38, LKZ IX 279) erwähnt werden, das möglicherweise auf dem Partizip basiert.

90

Etymologien

Im llrtinnischen gab es neben der Form Huhus auch eine vordervokalische Variante, *lühüs, wie bei zahlreichen autochthonen und entlehnten Wörtern. Als Beispiele für diese Variation in den baltischen Entlehnungen im Finnischen seien erwähnt: ankerias/änkeriäs, rastas/rästäs, märkä < *marka/*märkä ~ lit. marka ,Grube zum Einweichen, Rösten, Rotten von Flachs oder Hanf, Flachs-, Hanfweiche, -röste’ ( S e n n - S a l y s II 66), härkä < *šarka/*šārkā < balt. *žarga (anderen Ablaut hat lit. žirgas ,Reitpferd’), härmä < *šarma/*šārmā < balt. *šarmā (finn. harmaa < *harma-ya basiert auf der Variante *šarma). In diesen Zusammenhang gehören ganz offenbar auch folgende Vokalismen: tyhjä - lit. tuščias, tytär ~ lit. duktė. Finn. lyhyt anstatt des zu erwartenden *lühüs erklärt sich auf dieselbe Weise wie airut < germ. *airus (got. airus), olut < balt. dial. *olus (lit. alus), ohut < balt. dial. *ošus ,scharf’ (s. ohut). Den Ausgangspunkt für diese analogischen Nominative bildet m. A. n. das baltische Lehnwort tuhat. Die baltische dialektale Form *tūšamtē ergab im Frühurfinnischen *tūšamte, das weiter zu *tühamte > *tuhante > *tuhanti > *tuhansi, Gen. *tuhanöen wurde (so weit ich sehe, kann die relative Chronologie aller dieser Lautwandel nicht aufgeklärt werden). Eine gute Parallele ist die autochthone finnische Ordnungszahl *kolmanti > *kolmansi, Gen. *kolman8en (vgl. N i e m i n e n , SbFAW 1956, 190). Da das Endergebnis im Nominativ kolmas ist, wäre auch im Fall von tuhat der Nominativ tuhas zu erwarten, der sogar auch begegnet (vgl. SKES V 1374). Bei tuhat handelt es sich m. A. n. um eine Abstraktion vom Partitiv tuhatta < *tuhantta. Nach dem Muster *kolmansi > kolmas kann sich auch der Wandel Hühüsi > *lühüs abgespielt haben. Es gibt eine Erklärung, nach der sich die Lehnwörter airut und olut in ihrem Wortausgang den autochthonen Ableitungen auf -ut angepasst haben ( H a k u l i n e n 1979, 142). Trifft dies zu, gilt dasselbe m. A. n. auch für lyhyt und ohut, für die ich hier neue baltische Etymologien aufstelle. Die Interpretation, der zufolge airut nach dem Muster von ly h y t: lyhyet gebildet wäre (SKES I 10), ist in dieser Form nicht mehr möglich, da das Lehnwort lyhyt selbst einen ursprünglich auf -s endenden Nominativ voraussetzt. Andererseits vertritt u. a. offenbar das autochthone kevyt eben diesen Typ. Neben dem Stamm lyhy- begegnen auch lyhe- und ly hä-, die im SSA II 117 — ohne Angabe einer Etymologie — für ursprünglicher gehalten werden. Die Klärung solcher Wechsel (vgl. auch ohut und oha < balt.; s. ohut) setzt weitere Untersuchungen voraus, die mir hier in diesem Zusammenhang versagt bleiben. Die hier aufgestellte Etymologie habe ich bereits kurz auf dem 6. Internationalen Baltologenkongress (Vilnius 1991) erwähnt, veröffentlicht wurde sie 1994 ( L i u k k o ­ n e n , Baltistica. IV priedas, 90).

55. län si Das finnische Wort für , Westen’ länsi (Stamm länte-) ist nur im Finnischen, Estni­ schen und Livischen sicher belegt, seine Herkunft ist unbekannt (SSA II 126). Von

56. maila

91

Virittäjä 1962, 343 wird es mit finn. lä n s i ,niedrig; Niederung’ (SKES II 275) zusammengestellt, was zumindest mich nicht überzeugt. N i k k i l ä , Virittäjä 1997, 296 scheint die Erklärung zu akzeptieren. Lett. dial. lēnica, lēnics, lēnītis, lencis ,Südwest(en)’ ist eine Entlehnung von ostseefinnischer Seite, aus dem Livi­ schen ( T h o m s e n IV 460 = T h o m s e n 1890, 265, Z e p s 1962,144). Trotz des scheinbar großen Bedeutungsunterschiedes halte ich das finnische Wort für eine Entlehnung aus dem Baltischen und stelle es mit dem litauischen femininen -/-stämmigen Substantiv lemtis , Gen. lemties , Schicksal’ ( L y b e r i s 378) zusammen. Zur Etymologie des litauischen Wortes s. F r a e n k e l I 354-355, M a ž i u l i s III 63. Die Beobachtung, dass die Sonne im Osten (finn. itä) keimt (finn. itää), ist wohl richtig (SSA I 230), und meiner Auffassung nach ist länsi entsprechend das „Ziel“ der Sonne. Eine gute semantische Parallele bieten z. B. engl, destiny ,Schicksal’ und das damit nah verwandte destination ,Ziel’. Vgl. luode. Das Wort bekam bei der Entlehnung die frühurfinnische Form *lämte. Das Original ist die baltische dialektale Form *lemtē, ein Stamm auf -