Double Bind postkolonial: Kritische Perspektiven auf Kunst und Kulturelle Bildung 9783839449868

Postcolonial perspectives in the art world and in cultural education are booming, for example in the debate about the Hu

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Double Bind postkolonial: Kritische Perspektiven auf Kunst und Kulturelle Bildung
 9783839449868

Table of contents :
Inhalt
Vorwort
Einleitung: Kritische Perspektiven auf Kunst und Kulturelle Bildung
I. Reflexionen und Weiterführungen
Eine ästhetische Erziehung im Zeitalter der Globalisierung
Ästhetische Aufklärung und die Kunst der Dekolonisierung
Zum kolonialen double bind der europäischen Ästhetik
Schizophrenie und Ästhetik
Unverantwortliche Banausen
Verrat üben
II. Die Kunst zu Intervenieren
Die Gespenster der Vergangenheit
Von Spannungen, Widersprüchen und einem double bind
Reenacting Racism
»Sabotiert das Theater!«
Das Theater verlassen auf der Suche nach dem Theater
Under Surveillance
III. Institutionen und kritische Kunstvermittlung
Dismantling the Canon
Praxis der Risse
Performative Begegnungen mit der Stadt
Die Bildung der A_N_D_E_R_E_N durch Kunst
Dekolonisierung innerhalb nationalstaatlicher Förderlogiken?
IV. Verlernen
Bücher als bestenfalls widerwillige Verbündete
Sie sagten, es würde nicht weh tun
Anhang
Autor:innen

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María do Mar Castro Varela, Leila Haghighat (Hg.) Double Bind postkolonial

Postcolonial Studies Band 38

Editorial Die Postkoloniale Forschung hat die Kritik am Kolonialismus in der Geschichte sowie dessen Erbe in der Gegenwart auf das politische und wissenschaftliche Tableau gebracht. Die damit zusammenhängende Theoriebildung zeigt nicht zuletzt die tiefe Verstrickung europäischer Wissenschaft mit der Geschichte und Gegenwart des Kolonialismus auf. Längst interveniert die postkoloniale Kritik auch in politische und öffentliche Diskussionen gegen das Vergessen der kolonialen Vergangenheit und regt wichtige Debatten etwa zum gesellschaftspolitischen Umgang damit an. Die Reihe Postcolonial Studies bietet diesen Diskussionen einen eigenen editorischen Raum, unabhängig von disziplinaren Grenzen.

María do Mar Castro Varela ist Professorin für Allgemeine Pädagogik und Soziale Arbeit an der Alice Salomon Hochschule Berlin. Sie ist u.a. Gründerin und Mitglied des bildungsLab* und Vorsitzende des Berliner Instituts für kontrapunktische Gesellschaftsanalysen (BI:KA). Ihre aktuellen Forschungsschwerpunkte umfassen Fragen der Ethik, Kunst, Trauma, Emanzipation und Wissensproduktion. Leila Haghighat ist Kulturschaffende in Berlin und promoviert zum double bind in sozial engagierter Kunst an der Akademie der Künste in Wien. Im Fokus ihrer Untersuchung stehen Praxen einer Ästhetik der Fürsorge und deren möglichen Übertragung auf Kunstinstitutionen. Ihre Arbeitsschwerpunkte sind sozial engagierte Kunst als Beziehungsarbeit, Solidarität, (Stadt-)Räume, Institutionen und Repräsentation aus einer postkolonialen Perspektive.

María do Mar Castro Varela, Leila Haghighat (Hg.)

Double Bind postkolonial Kritische Perspektiven auf Kunst und Kulturelle Bildung

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http: //dnb.d-nb.de abrufbar.

© 2023 transcript Verlag, Bielefeld Alle Rechte vorbehalten. Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlaggestaltung: Kordula Röckenhaus, Bielefeld Umschlagabbildung: Rajkamal Kahlon, Untitled Portrait, aus der Serie »Do You Know Our Names?«, 2017. Mit freundlicher Genehmigung der Künstlerin. Druck: Friedrich Pustet GmbH & Co. KG, Regensburg https://doi.org/10.14361/9783839449868 Print-ISBN 978-3-8376-4986-4 PDF-ISBN 978-3-8394-4986-8 Buchreihen-ISSN: 2703-1233 Buchreihen-eISSN: 2703-1241 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: https://www.transcript-verlag.de Unsere aktuelle Vorschau finden Sie unter www.transcript-verlag.de/vorschaudownload

Inhalt

Vorwort .............................................................................9 Einleitung: Kritische Perspektiven auf Kunst und Kulturelle Bildung María do Mar Castro Varela & Leila Haghighat ........................................ 11

I. Reflexionen und Weiterführungen Eine ästhetische Erziehung im Zeitalter der Globalisierung Gayatri Chakravorty Spivak ......................................................... 27 Ästhetische Aufklärung und die Kunst der Dekolonisierung Nikita Dhawan ..................................................................... 55 Zum kolonialen double bind der europäischen Ästhetik Ruth Sonderegger .................................................................. 73 Schizophrenie und Ästhetik Eine ideengeschichtliche Auseinandersetzung mit dem double bind Leila Haghighat .................................................................... 97 Unverantwortliche Banausen Überlegungen zu Ethik und kritischer Kunst María do Mar Castro Varela ......................................................... 117 Verrat üben Zum Unbehagen an ästhetischen Ideologien Hayat Erdoğan .................................................................... 139

II. Die Kunst zu Intervenieren Die Gespenster der Vergangenheit Trauma, Kunst und Postkolonialität. Ein Gespräch Aïcha Diallo & María do Mar Castro Varela........................................... 177 Von Spannungen, Widersprüchen und einem double bind Vielheitliche Körperlichkeiten und Zeitgenössischer Tanz Sandra Chatterjee.................................................................. 191 Reenacting Racism Zum double bind der Katharsis im experimentellen Theater Joy Kristin Kalu & Anja Quickert .................................................... 211 »Sabotiert das Theater!« Zur Schaffung eines neuen Begehrens nach sozialer Gerechtigkeit und radikaler Diversität an deutschen Stadt- und Staatstheatern Thu Hoài Tran ..................................................................... 227 Das Theater verlassen auf der Suche nach dem Theater Sruti Bala ......................................................................... 247 Under Surveillance Sexualität, Geschlecht und Dekolonisierung in Shu Lea Cheangs Installation »3x3x6« Saboura Naqshband ............................................................... 267

III. Institutionen und kritische Kunstvermittlung Dismantling the Canon Moderne Kunstmuseen und koloniale Vergangenheit Tasnim Baghdadi.................................................................. 293 Praxis der Risse Partizipative Kunstpraxis in Jerusalem neu denken Alia Rayyan ....................................................................... 313

Performative Begegnungen mit der Stadt Der Spaziergang als kollektive Methode des Verlernens Carla Bobadilla.................................................................... 335 Die Bildung der A_N_D_E_R_E_N durch Kunst Kolonialität und weiße Weiblichkeit in der Kunstvermittlung Carmen Mörsch ................................................................... 355 Dekolonisierung innerhalb nationalstaatlicher Förderlogiken? Zur Anatomie einer Illusion Mai-Anh Boger & Nina Simon ...................................................... 377

IV. Verlernen Bücher als bestenfalls widerwillige Verbündete Künstlerische Ansätze für ein Verlernen von Büchern Nicole Suzuki ..................................................................... 397 Sie sagten, es würde nicht weh tun Zwei Texte zu Lehren und Lernen Rajkamal Kahlon ...................................................................421

Anhang Autor:innen ...................................................................... 435

Vorwort

Es hat etwas gedauert bis es uns gelungen ist, den nun vorliegenden Band fertigzustellen. Doch das Festhalten am Thema hat sich gelohnt, ist die postkoloniale Perspektive doch nach wie vor höchst aktuell. Nicht nur die Diskussionen um die documenta fifteen in Kassel und die kaum zufälligen rassistischen Entgleisungen in einigen Interventionen im deutschen Feuilleton haben gezeigt, dass eine symbolische Inanspruchnahme postkolonialer Studien nicht dazu führen wird, den eurozentrischen Kunstbetrieb und seine Repräsentant:innen zu erschüttern. Im Gegenteil, diejenigen, die es als eine Zumutung empfinden, dass die ehemals Kolonisierten Kunst und Künste nutzen, um auf die fortgesetzte Kolonialität der Macht aufmerksam zu machen, nutzen jede erdenkliche Möglichkeit, um postkoloniale Perspektiven zu diskreditieren. Für die einen sind diese schlicht anti-aufklärerisch und damit in Konsequenz undemokratisch. Für die anderen sind sie unverständlich oder auch ›barbarisch‹ und insoweit mit einem europäischen Kunstverständnis nicht kompatibel. Tatsächlich steht nicht wenig zur Debatte: Was tun mit den Museen – den ethnografischen ebenso wie denen der modernen Kunst? Was tun mit all’ den Kunstwerken, die die ehemals Kolonisierten entwürdigend darstellen? Was tun mit den sexistischen Darstellungen? Und den antisemitischen Bildwelten, die in jedem Museum Europas lauern? Wie Kunst vermitteln in einer Zeit in der sich Widerstand von den Rändern aus formiert? Schwarze Menschen in Europa, Menschen aus dem Trikont, pueblos originarios etc. nehmen die rassistischen Repräsentationen nicht mehr hin und fordern etwa das Entfernen der (heldenhaften) Darstellungen von denen, die Menschen versklavt haben, Genozide zu verantworten haben oder Kulturgüter gestohlen oder an der Shoa verdient haben. Künstler:innen-Kollektive verweigern sich der Verwertungs- und Konsumlogik wie dem Repräsentationsregime des globalisierten westlichen Kunstfeldes und setzen stattdessen auf einen Gebrauchswert der Kunst. Die Debatten werden so schnell nicht verklingen, denn sie stellen vieles in Frage, was die Hege-

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monie stabilisiert. Eine Destabilisierung der Hegemonie derselben bedeutet die Machtfrage zu stellen. Im Feld der Kunst stellt sich etwa die Frage: Wer hat das Recht zu entscheiden, was unter Kunst zu verstehen ist? Wer kontrolliert, welche Kritik durch die Kunstfreiheit gedeckt wird und welche Kritik verboten werden soll? Inspiriert von Gayatri Chakravorty Spivaks Einsatz des double bind Konzepts um die postkoloniale Situation zu beschreiben, haben wir einen Band zusammengestellt, der Aufsätze versammelt, die sich auf differente Weise mit Kunst und Kunstvermittlung in postkolonialen Zeiten im Allgemeinen auseinandersetzen. Es entstand ein regelrechtes Kaleidoskop von Perspektiven aus und auf die Kunstkontexte und ihre Praxen der Produktion, des Kuratierens und Vermittelns. Wir danken den Autor:innen, die uns nicht nur ihre Beiträge zur Verfügung gestellt haben, sondern auch die sehr langwierige Produktion des Bandes geduldig ertragen haben. Wir danken auch Alwin Jorga Franke für die Übersetzung von Spivaks Text, Mila Hua für die Lektorierung einiger Texte sowie den transcript Verlag für eine gute Zusammenarbeit und den notwendigen Zuspruch. Unser Dank geht zudem an Rajkamal Kahlon, die uns eines ihrer Bilder für die Covergestaltung zur Verfügung gestellt hat. Aus einer Serie von Bildern, die, wie sie selbst sagt, den entwürdigten Menschen, ihre Würde zurückgeben möchte. Schließlich danken wir Gayatri Chakravorty Spivak, deren Schriften uns zu der Herausgabe dieses Bandes inspiriert haben. Die Einleitung zu ihrem Buch An Aesthetic Education in the Era of Globalization (2012) wurde für diesen Sammelband erstmalig ins Deutsche übersetzt, um Spivaks voraussetzungsvolle Auseinandersetzung mit der Ästhetik als Vermächtnis der Europäischen Aufklärung und den Widersprüchen, die sich daraus aus einer postkolonialen Perspektive ergeben, einer deutschen Leser:innenschaft zugänglich zu machen. Noch sind nur wenige Schriften, die sich mit der Rolle der Ästhetik innerhalb Spivaks Werk beschäftigen ins Deutsche übertragen worden. Wir setzen mit der Übersetzung die Arbeit fort und verstehen die Beiträge als Kommentare und Auseinandersetzungen mit Spivaks Einsatz des double binds. Gewidmet ist das Buch all’ jenen, die den sozialen, politischen und ökologischen Status quo nicht hinnehmen, sondern ihm etwas entgegensetzen. Es ist der kritische Mut nicht nur von Einzelnen, aber auch von Communities und Kollektiven, die eventuell die Kunstwelt vor sich selbst retten kann. Palo Alto & Berlin im Januar 2023 – María do Mar Castro Varela & Leila Haghighat

Einleitung: Kritische Perspektiven auf Kunst und Kulturelle Bildung María do Mar Castro Varela & Leila Haghighat

Postkoloniale Studien untersuchen die wirkmächtigen Konsequenzen des Kolonialismus bis in die heutige Zeit und verfolgen dabei das übergreifende Ziel, Dekolonisierungsprozesse aufrechtzuerhalten. Hierbei geht es primär darum, essentialistische und eurozentrische Diskurse aufzudecken und gleichzeitig neokolonisierende Repräsentationspolitiken zu irritieren. Im Feld der Kunst und Kulturellen Bildung sind postkolonial-theoretische Auseinandersetzungen notwendig, um die vorherrschenden Differenzordnungen, die kontinuierlich (re-)produziert werden, zu dekonstruieren und Gegenerzählungen zu ermöglichen. In Gayatri Chakravorty Spivaks bereits 2012 erschienenem Buch An Aesthetic Education in the Era of Globalization nimmt das Konzept des double bind, das – verkürzt gesagt – die Widersprüche und Dilemmata, die die postkoloniale Situation durchziehen, beschreiben hilft, eine zentrale Position ein. Inspiriert durch die Arbeiten von Gregory Bateson, spricht Spivak von einem double bind, um Aporien zwischen zwei Positionen zu beschreiben, in denen es trotzdem zu handeln gilt. Bateson beschreibt das Konzept des double bind als eine Situation von zwei sich widersprechenden Aussagen wie »Sei nicht gehorsam« (Chaney 2017: 5), die eine Handlungsmacht entgegenwirken und einschränken. Ein double bind zeigt sich jedoch auch in einer Situation, in der zwischen zwei Positionen nicht entschieden werden kann, da die eine immer die andere impliziert. Bateson zeigt auf, dass diese unauflösbaren Widersprüche durch antrainierte Denkgewohnheiten entstehen und damit wie Sitten auf die Erkenntnisgewinnung einwirken. Die Theorie des double bind diente zunächst zur Erklärung von schizophrenen Symptomatiken, deren Entstehung Bateson nicht nur in familiären Beziehungen, sondern auch im Gesamtgesellschaftlichen sieht. Es sind die angelernten und historisch tradierten Wissensformen, die unsere Er-

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kenntnisse bilden, und die sozialen Verhältnisse, die uns in double binds halten. Die Gesellschaft an sich kann entsprechend als schizophren erscheinen. Die Theorie und Praxis von Kunst und Kultureller Bildung profitieren von der Erklärungsstärke des double bind. So stabilisieren Arbeiten und Praxen, die durchaus transformativ angelegt sind, dennoch hegemoniale Verhältnisse. Bateson zufolge kann die Auseinandersetzung mit Ästhetik zur Veränderung von Gewohnheiten führen. Diese Erkenntnis aufnehmend, plädiert Spivak für eine ästhetische Erziehung, die die Subjekte dazu in die Lage versetzt, den double bind zu spielen. Dies lässt sich übersetzen als die Fähigkeit, innerhalb nicht zu lösender Widersprüche handlungsfähig zu bleiben.

Der double bind der europäischen Aufklärung Spivak betrachtet das Erbe der europäischen Aufklärung aus einer dezidiert postkolonialen Perspektive. Sie legt dar, dass die Gewalt, die von dieser ausging (etwa Ausbeutung und Rassismus), gleichsam die Möglichkeiten, die die Schriften und die Bewegung der Aufklärung (auch für die kolonisierte Welt) mit sich brachten, Hand in Hand gingen. Wenn einerseits Rassismus und Imperialismus legitimiert wurden, so verbietet sich andererseits ein Zurück in feudale, autoritäre Strukturen. Emanzipation, Menschenrechte und Demokratie sind eminente Errungenschaften, die nach einer kontinuierlichen Kritik rufen, hinter die wir aber nicht zurückfallen sollten. Insoweit lehnt sich der Titel von Spivaks Band nicht zufällig an Friedrich Schillers Über die ästhetische Erziehung des Menschen (1796) an. Vorstellungen von Ästhetik, so wie sie in Schillers Kant-Lektüre dargelegt werden, unterzieht sie allerdings stringent einer affirmativen Sabotage. Eine affirmative Sabotage ist eine von Spivak vorgeschlagene Praxis, bei der die Schriften der Aufklärung einem dichten Lesen unterzogen werden, um dieselben – mittels der in den Texten vorgefundenen Konzepte – einer scharfen Kritik zu unterwerfen. Dabei zeigt ein Blick auf die Etymologie des Begriffs, wie Nikita Dhawan darlegt, was Spivak unter affirmativer Sabotage versteht: »Eine Etymologie der ›Sabotage‹ führt das Wort zurück auf den Begriff sabot (Holzschuh): Arbeiter in Holland im fünfzehnten Jahrhundert warfen ihre Holzschuhe in das Getriebe der Textilwebrahmen und brachen so die Zahnräder um zu verhindern, dass die Maschinen die menschlichen Arbeiter er-

María do Mar Castro Varela & Leila Haghighat: Einleitung

setzen könnten. […] Als absichtliche Einmischung oder kreative Rekonfiguration von Arbeitsanweisungen stützt sich Sabotage manchmal auf Gesetze, hält sich manchmal an die Regeln und bricht zu anderen Zeiten Gesetze. […] Die Arbeit wird weiter erledigt, aber zu den Bedingungen, die von den Arbeitern gesetzt werden und nicht von den ›Herren‹. Spivak supplementiert den Begriff Sabotage mit dem Adjektiv ›affirmativ‹. Hiermit entwirft Spivak eine Strategie, die die Instrumente des Kolonialismus in Werkzeuge für dessen Überschreitung verwandelt und damit Gift zu Medizin macht.« (Dhawan 2019: 197) Da das schwierige Vermächtnis ästhetischer Vorstellungen bis in heutige Praktiken wirkt, bedarf es einer affirmativen Sabotage der kanonischen Vorstellungen von Ästhetik. Was ist schön? Für wen? Und warum? Und wer profitiert von einer spezifischen Vorstellung des Schönen und Guten? Eine ästhetische Erziehung fokussiert auf den Zusammenhang von Gewohnheit, Wahrnehmung sowie Denken und ermöglicht idealerweise den Ausgang aus liebgewonnenen (imperialen) Denkgewohnheiten. Wenn Bateson (1981a: 377f.) schreibt, dass »Wahrnehmung […] immer durch Erfahrung verändert werden« kann, was vermag dann eine ästhetische Erfahrung? Bateson verweist auf ein Zitat der Tänzerin und Choreografin Isadora Duncan: »Könnte ich Ihnen sagen, was es bedeutet, dann bestünde kein Anlass, es zu tanzen«, das er als »Botschaft über die Grenzfläche zwischen Bewusstem und Unbewusstem« (Bateson 1981b: 194) interpretiert. Die hierbei entstehenden Bilder sind machtvoll und weisen auf die Bedeutung einer ästhetischen Erziehung bei der Subjektformation hin. Es bleibt bedeutsam, welche Narrative und Sprecher:innenpositionen in welchen Praxen Raum erhalten und welche Imaginationen Kunstpraxen ermöglichen, da sich in diesen soziale, subjektive wie objektive Bedeutungen manifestieren sowie spezifische Erkenntnisse und normative Ideale durchsetzen.

Postkoloniale Positionen im Kunstbetrieb und in der Kulturellen Bildung Obschon nach wie vor eurozentrische Vorstellungen von Ästhetik im Kunstbetrieb wie in der Kulturellen Bildung beherrschend sind, so ist doch eine deutliche Bewegung spürbar, die den Status quo des Felds sachte in Bewegung versetzt. Lange schon steht der white cube in der Kritik (siehe etwa Filipovic

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2014), es wird eine eurozentrische Kuratierpraxis nicht mehr unhinterfragt hingenommen (siehe etwa Bayer/Kazeem-Kaminski/Sternfeld 2017), ferner wird über die Inklusion marginalisierter sozialer Gruppen in die Kulturelle Bildung nachgedacht (siehe Mörsch in diesem Band). Zunehmend werden Forderungen nach diskriminierungskritischen Ansätzen in Kunst und Kultureller Bildung laut, wie auch das grundsätzliche Interesse an postkolonialen Themen und Perspektiven deutlich zugenommen hat. So ist auffallend, wie viele Einzel- und Gruppenausstellungen oder auch Biennalen sich schwerpunktmäßig mit postkolonialen Fragen beschäftigen (2022 etwa die Berlin Biennale und documenta fifteen). Der Raum für vormals marginalisierte Positionen erweiterte sich deutlich und es findet geradezu ein Wettrennen um Schwarze Künstler:innen statt (so sind in den letzten Jahren vermehrt auch Retrospektiven von Künstler:innen wie Basquiat oder Renée Green zu beobachten). Gleichzeitig sehen sich ethnografische Sammlungen gezwungen, ihre Provenienzforschung zu stärken, die Repräsentation außereuropäischer Menschen, Communitys und Artefakte zu überdenken und sich ernsthaft die Frage der Restitution geraubter Kulturgüter zu stellen (siehe Sarr/Savoy 2019). Postkoloniale Perspektiven haben bereits 2002 mit der Documenta 11 unter Leitung des ersten nicht-europäischen Kurators Okwui Enwezors ihren Eingang in das etablierte Kunstfeld gefunden. Somit wurde die postkoloniale Kritik vor zwanzig Jahren zur Grundlage einer bedeutenden internationalen zeitgenössischen Kunstausstellung. Und bereits zuvor gab es einige bemerkenswerte Einschnitte, zum Beispiel die documenta X im Jahr 1992, in deren Rahmen Vortragende eingeladen wurden, um in die PostkolonialismusDebatte rund um ästhetische Praxen einzuführen. Zuvor kuratierte unter anderem der Steirische Herbst in Graz bereits im Jahre 1996 unter der Leitung von Peter Weibel eine Ausstellung und ein Rahmenprogramm unter dem Titel Inklusion/Exklusion. Kunst im Zeitalter von Postkolonialismus und globaler Migration. Diese Beispiele illustrieren hervorragend, dass bereits seit geraumer Zeit auch in namhaften Kunstausstellungen und deren Rahmenprogrammen Postkolonialismus behandelt wurde. Inzwischen ist es geradezu bemerkenswert, in welch’ rasanter Weise Postkolonialismus in den letzten Jahren in das Feld der Kunst förmlich eingebrochen ist. Insbesondere seit dem Sommer 2015, der in Deutschland und Österreich als der Sommer der »Willkommenskultur« gefeiert wurde, steht das Thema konstant auf der Agenda. Die Ankunft von Hunderttausenden von Menschen, die sich auf der Flucht befanden, und die Diskussionen darum, ob es legitim oder eine Verpflichtung sei, diese aufzunehmen, hat vor dem Museum nicht Halt gemacht. Eine Vielzahl mu-

María do Mar Castro Varela & Leila Haghighat: Einleitung

seumspädagogischer Projekte wurde gestartet, und viele Museen, Opern und Theater hängten an ihre Eingänge Plakate mit der Aufschrift refugees welcome auf. Es scheint nicht mehr möglich, Kolonialismus, Migration, Rassismus und Flucht aus der Kunst herauszuhalten. Doch scheinen die Debatten dennoch non-performativ zu bleiben. Die Ausstellungen wurden pluralisiert, und Programmgestaltungen inkludieren seit den 1990er Jahren ganz bewusst Künstler:innen, Werke und Intellektuelle aus den unterschiedlichen Ländern der globalisierten Welt. Doch Enwezor bemerkt in Reaktion auf das Programm des Steirischen Herbst 1996 pointiert: »According to the show’s thesis, Post-colonialism is particular to specific groups and areas and can be read by consulting a checklist, a menu of grievances tabled by the displaced, who are then recovered on a grid of representation. […] Though Weibel’s selections were carefully made so as to avoid the obvious assumptions of what Post-colonial art looks like, it still does not manage to show us that to talk of the Post-colonial is to evoke its Siamese twin: the coloniser.« Enwezor weist hier konkret darauf hin, dass es nicht ausreichen kann, die Ausstellungen um postkoloniale Blicke und Stimmen zu erweitern, wenn nicht gleichzeitig die imperialen Funktionen des Museums adressiert werden. Auch in der Kulturellen Bildung ist eine Hinwendung zu postkolonialen Theorien zu verzeichnen. Die Kulturelle Bildung steht seit einigen Jahren hoch oben auf der kulturpolitischen Agenda Deutschlands und scheint sich insbesondere als Instrument von Diversitätspolitiken und der Öffnung von Institutionen etabliert zu haben. Ziel ist es, Kindern, Jugendlichen – aber auch Erwachsenen –, die innerhalb der gesellschaftlichen Differenzordnungen weniger privilegierte Subjektpositionen einnehmen, in die Praxen einzubeziehen – ob nun Personen mit Fluchterfahrungen, Jugendliche aus migrantischen Familien oder diasporische Kinder. Hierbei werden der Praxis der Kulturellen Bildung allerhand positive Effekte zugeschrieben, die von Kompetenzentwicklungen durch künstlerische Praxen über Diskriminierungssensibilisierung durch Kunstvermittlung bis zur sozialen Integration von Menschen mit Fluchterfahrung durch gemeinsames Musizieren gehen. Allerdings sieht sich die Kulturelle Bildung mit dem Dilemma konfrontiert, einerseits durch die soziale Öffnung des Kunst- und Kulturfelds eine Auseinandersetzung mit gesellschaftlichen Verhältnissen anzustreben und andererseits genau hierdurch Differenzordnungen zu perpetuieren und einer

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(Re-)Produktion von sozialen Ungleichverhältnissen in die Hände zu spielen. Diese Gefahr ist nicht nur dadurch gegeben, dass das Feld vorwiegend durch Subjekte der Mehrheitsgesellschaft geprägt ist, sondern ist Effekt der grundsätzlich problematischen Verortung der Kulturellen Bildung in humanistischliberalen Bildungstraditionen. Weder Kunst noch Kulturelle Bildung sind aus einer postkolonialen Perspektive als neutral und harmlos, sondern stets als in Herrschafts- und Machtstrukturen eingeschrieben zu betrachten. Dass dies mehrheitlich anders gesehen wird, zeigt sich insbesondere an den immer noch vorherrschenden paternalistischen Impetus vis-à-vis sogenannter nicht traditioneller Zielgruppen, etwa Menschen aus bildungsentfernten sozialen Gruppen und/oder Menschen mit Migrations- und Fluchterfahrung. Nach wie vor ist eine mangelnde postkoloniale Reflexion der eigenen Kompliz:innenschaft zu diagnostizieren. Der Skandal der documenta fifteen, der ersten documenta, die von einem Künstler:innenkollektiv aus einem ehemals kolonisierten Land (Indonesien) kuratiert wurde, macht deutlich, wie schwer sich der hegemoniale Kunstbetrieb (und mehr noch die etablierte Kunstkritik) tut, seine Sehgewohnheiten zu verändern. Bazon Brock spricht von »SchafstallGeblöke« und einem Ende des »westlichen Idee von Autorität durch Autorschaft«. Seine kulturalisierenden Äußerungen, die von den Kulturen, die anders als der Westen von Kollektiven regiert werden, versteht er gewissermaßen als Totengräber der Kunst.1 Und er ist nicht allein mit seiner Position (siehe auch Castro Varela in diesem Band). Erneut ist die Sprache von den einen und den anderen – von jenen, die wahre Kunst hervorbringen, und jenen, die dazu nicht in der Lage sind. Spivak hingegen versucht sich daran, einen Ausweg aus diesem dauernden Disqualifizierungstheater zu finden. Wir können Ethik ohne Ästhetik nicht denken und benötigen das Ästhetische, auch weil es sich nicht digitalisieren lässt, insoweit es einer binären Logik widerspricht. Gleichzeitig stabilisiert die Kunst (und auch die Kulturelle Bildung), die sich eingerahmt sieht in einen kapitalistischen Kunstbetrieb, der Kollektive aus gutem Grunde nicht wertschätzt, immer auch hegemoniale Verhältnisse. Wenn wir dem Nullsummenspiel entkommen wollen, scheint die Hoffnung, die im Plädoyer eines Lernens des double bind liegt, verlockend.

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Zu hören online https://www.youtube.com/watch?v=m20ZIRywiFY (letzter Aufruf 12.01.2023).

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Komplexe und fokussierte Betrachtungen – die Beiträge Der vorliegende Band versucht, den komplexen Verstrickungen, in denen sich Kunst und Kulturelle Bildung befinden, nachzugehen, und vereint Beiträge, die sich aus einer dezidiert postkolonialen Perspektive mit dem double bind des Ästhetischen auseinandersetzen. Er soll dazu beitragen, für den spezifischen double bind, der das Feld prägt, zu sensibilisieren, um so eine kritische Theorieentwicklung voranzutreiben und gleichsam diskriminierende Praxen zu dekuvrieren. Wie können wir verhindern, dass postkoloniale Perspektiven nicht nur flavor of the week sind, sondern ernsthafte Debatten mit sich bringen, die performativ sind, d.h. sichtbare und bleibende Konsequenzen fordern? Für den Band haben wir zahlreiche Beiträge aus den unterschiedlichen Bereichen angefragt. Wir wollten wissen, wie in diversen Kunstfeldern, in der Kunstvermittlung und auch der Philosophie die verzwickte Situation beschrieben wird und welche Strategien beim Spielen des doube bind erprobt wurden. Besonders wichtig war es uns, breite und diverse Positionen und Lesarten zusammenzubringen. Wir haben in die eingesandten Aufsätze redaktionell nur sehr behutsam eingegriffen, um die Polyphonie der Reflexionen nicht nachträglich zu harmonisieren. Den double bind lernen bedeutet schließlich, auch die Widersprüche ertragen zu lernen, ohne die eigene Position zu verbergen. So legt der Sammelband auch Zeugnis über diverse mögliche Lesarten von Spivaks double bind – und die damit in Verbindung stehenden Konzepte – ab. Die Vielfalt der Texte wurde in vier Kapiteln organisiert. Im ersten beschäftigen sich die Autor:innen mit theoretischen Fragen, die direkt das Konzept des double bind betreffen, aber auch darüber hinausgehen. Eingeleitet wird das Kapitel mit der Übersetzung von Spivaks leicht gekürzter Einleitung zu ihrem Band Eine ästhetische Erziehung im Zeitalter der Globalisierung. Nach nunmehr über zehn Jahren wurde der Text zum ersten Mal ins Deutsche übertragen. Wir hoffen, dass dies eine breitere Rezeption ihrer Intervention, die von besonderer Bedeutsamkeit für den Bildungsbereich ist, in deutschsprachigen Räumen ermöglicht. Spivaks Text wird gefolgt von Nikita Dhawans Beitrag Ästhetische Aufklärung und die Kunst der Dekolonisierung, der sich explizit mit Spivaks Thesen auseinandersetzt. Dhawan erläutert die Konzepte der affirmativen Sabotage ebenso wie die Beziehung des double bind zur ästhetischen Erziehung Schillers. Des Weiteren vermittelt der Beitrag, eng an Spivak angelehnt, aus

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welchem Grund eine ästhetische Erziehung, die immer die Vorstellungskraft zu erweitern hilft, in Richtung einer Auflösung subalterner Räume weist. Die Problematik des Eurozentrismus der Ästhetik, trotz der ihr zugeschriebenen egalisierenden und emanzipatorischen Wirkung, arbeitet Ruth Sonderegger in ihrem Beitrag heraus. Die Auffassung, dass der ästhetische Diskurs der Moderne in erster Linie einer der Emanzipation, Gleichheit, Freiheit und Demokratisierung ist, gründet auf den Ideen der Aufklärung. Jedoch war die europäische Aufklärung, so Sonderegger, und ihre Auffassung von Ästhetik zutiefst mit gewaltvollen Politiken verflochten. So kam mit der kolonialen Expansion Europas dem Ästhetischen eine moralische Entlastungsfunktion zu. Gleichzeitig konnte mit dem Konzept des geschmacksversierten, kosmopolitischen Subjekts des Westens die Ausgrenzung der kolonialen Subjekte legitimiert werden. Der konzeptgeschichtliche Beitrag arbeitet den Widerspruch zwischen einer befreienden und egalisierenden ästhetischen Erfahrung und den Ausschlüssen, die die ästhetischen Diskurse der Moderne bestimmen, heraus, um hieran aufzuzeigen, wie die zeitgenössischen Widersprüche und Problematiken zu verstehen sind und welche Folgen sie zeitigen. Er bleibt damit ganz nah an Spivaks eigener Interpretation. Leila Haghighat fächert in ihrem Beitrag Schizophrenie und Ästhetik den double bind ausgehend von Spivaks affirmativer Sabotage Schillers über Batesons Ausarbeitungen bis hin zu der Schizoanalyse von Gilles Deleuze und Félix Guattari sowie einer Interpretation Deleuzes von Friedrich Nietzsches Willen zur Macht ideengeschichtlich auf, um den double bind in seinem Zusammenhang mit Gewohnheit, Erkenntnis, Begehren und Ethik zu erläutern und das Plädoyer Spivaks, den double bind zu lernen, genauer zu bestimmen. María do Mar Castro Varela untersucht unterschiedliche Verständnisweisen von Ästhetik und plädiert mit Spivak für einen epistemischen Wandel, der ohne das Ästhetische nicht denkbar ist. Im Zentrum ihrer Untersuchung stehen neben Spivaks Ausführungen zum double bind die Aufklärungskritik von Theodor W. Adorno. Darüber hinaus nimmt der Beitrag die problematische Figur Bateson in den Blick. Der Umgang mit seinen Schriften ist im Grunde selbst ein gutes Beispiel für die Praxis eines erlernten double bind. Ein sinnvolles Konzept und Ergebnis einer Forschung, die durchaus ethisch hinterfragbar ist. Im Zuge des sogenannten Social Turn in den Künsten finden sich künstlerische Interventionen und Praxen, bei denen die temporäre Herstellung eines inter-subjektiven Raums im Fokus steht. Dass diese, ursprünglich als institutions- und kapitalismuskritische Formen der politischen Kunst-Praxis entstan-

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den, sozial-engagierte, vermittelnde und kollaborative Arbeiten heute institutionalisiert und Teil eines ästhetischen Kapitalismus sind, der eben, wie ausgeführt, Differenzordnungen und Hierarchien perpetuiert, problematisiert der Beitrag von Hayat Erdoğan Un/Art: The Making and Unmaking of Communities. Erdoğan untersucht den Zusammenhang zwischen der Frage nach Gemeinschaft(en) und den sozio-politisch motivierten künstlerischen Arbeiten. Der Beitrag diskutiert Möglichkeiten und Grenzen einer engagierten Kulturpraxis vor dem Hintergrund scheinbar antagonistischer Ästhetikverständnisse. Das zweite Kapitel widmet sich der Kunst und ihrer Kraft zu intervenieren und wird eingeleitet von einem Gespräch zwischen Aïcha Diallo und María do Mar Castro Varela, in dem sie ihr langjähriges Projekt, das sich mit Trauma, Kunst und Widerstand beschäftigt, erläutern. Sie zeigen auf, weshalb und wie eine postkoloniale Kunst sich mit den historischen Traumatisierungen und aktuellen Traumata auseinandersetzt, und führen hierzu exemplarisch eine Vielzahl von Künstler:innen auf. Dem Tanz wendet sich der Beitrag Vielheitliche Körperlichkeiten, Tanz und Kulturelle Bildung von Sandra Chatterjee zu. Als performative Kunst wird dem Tanz oftmals eine größere Offenheit, Diversität und Internationalität zugeschrieben. Dennoch sind die ästhetischen Strukturen, Kriterien und Entwicklungslinien zumeist eurozentrisch. Die Lücke zwischen Diskurs und Tanzpraxis ist groß, und zeitgenössischer Tanz ist tief im double bind verstrickt. Und obwohl Körper im Mittelpunkt stehen und Alltagsbewegungen eine bedeutende Rolle spielen, werden Eurozentrismen, Rassismen und bewegungssprachliche Homogenität und die Korporealitäten der Tänzer:innen im westlichen Diskurs um den Tanz zu wenig thematisiert. Der Beitrag stellt folgerichtig die Frage nach den Möglichkeiten eines notwendigen Perspektivwechsels, um das dem Tanz innewohnende Potential körperlicher Vielheit auf Augenhöhe sichtbar zu machen. Das Theater nehmen Joy Kristin Kalu und Anja Quickert in den Blick. In ihrem Gespräch widmen sich die beiden Dramaturginnen der Debatte um »Rassistische Sprechakte im Theater« zwischen dem Argument der »künstlerischen Freiheit« und dem Ruf nach Kontrolle, um verletzende rassistische Sprechakte zu verhindern. Hierbei wird ein Vorfall in den Sophiensælen in Berlin kommentiert und besprochen, der den Raum öffnet, um Fragen der Political Correctness, Identitätspolitik und des Rassismus bzw. der rassistischen Sprechakte im Theater zu stellen: Stellt das Theater eine Chance für die Aushandlung sozialer Beziehungen dar oder ist es ein unkontrollierbares Risiko?

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Auch Thu Hoài Tran wirft einen kritischen Blick auf das Theater. In ihrem Beitrag Theater als kultureller Ort der (Des-)Integration werden Interventionsmöglichkeiten in die hegemonialen Strukturen und in die eurozentrische Kultur- und Wissensproduktion des Theaters aufgezeigt und untersucht. Hierzu zieht Tran Spivaks Verständnis von Bildung und die Idee der Desintegration nach Max Czollek heran, die Denkanstöße zur Auflehnung der hegemonialen Machtverhältnisse im Theater geben sollen: Während bei Spivak die Intervention bei dem Bildungsverständnis ansetzt, bei dem das Begehren möglichst zwangsfrei neu geordnet werden muss, bildet Czolleks Ausgangspunkt die Kritik des Integrationsparadigmas und der Forderung nach radikaler Vielfalt. Sruti Bala betrachtet die Unterbrechung als substantielles Element der Dekonstruktion des hegemonialen Theaters. Der Beitrag sucht nach der Verbindung zwischen dem Theater und der Politik und wie diese Verbindung, die durch einen double bind geprägt ist, über eine Unterbrechung hergestellt werden kann. Die theoretischen Erläuterungen werden an einem detailliert untersuchten Beispiel der unterbrochenen Lecture-Performance Der Staat des Theaters des belgischen Kunstforschers und Theatermachers Chokri Ben Chikha aus dem Jahre 2018 dargelegt. Die eigene Performance-Kunst wird dagegen in dem Beitrag von Saboura Naqshband Under Surveillance. (Sexuality,) Gender and Decoloniality in Shu Lea Cheang’s installation ›3x3x6‹ at the Venice Biennale 2019 zum Gegenstand. Für Cheangs Installation übernahm Naqshband als queere muslimische Feministin die Rolle eines der Vergewaltigung beschuldigten muslimischen Gelehrten in einer Trans-Version. Die Wahrnehmung der Figur wurde in einem Dialog mit Foucault und durch die Einfügung islamisch-feministischer Textpassagen irritiert. Indem sie ihre eigene Beteiligung an dem Stück hinterfragt, geht sie Fragen der Kompliz:innenschaft sowie des double bind nach und deckt sowohl patriarchale Strukturen als auch koloniale Prozesse der (Ko-)Subjektivierung auf. Auch werden die Grenzen zwischen Publikum und Raum sowie die Möglichkeit von Hoffnung und Würde durch das Ästhetische aufgedeckt. Das dritte Kapitel Institutionen und kritische Kunstvermittlung beginnt mit Tasnim Baghdadis Dismantling the Canon. Moderne Kunstmuseen und koloniale Vergangenheit. Baghdadi untersucht insbesondere das Handeln von Kunstinstitutionen nach Innen und nach Außen auf koloniale Gesten hin. Der eurozentrische Kanon schwingt nicht nur in der Wissensproduktion und Ausstellungskonzeption mit, er wird auch innerhalb der Vermittlungsarbeit auf verschiedenen Ebenen sichtbar. Folgerichtig geht Baghdadi in ihrem Beitrag den Fragen nach, wie die gängigen Praxen musealer Institutionen zu

María do Mar Castro Varela & Leila Haghighat: Einleitung

Kanonkritik sowie einem kritischen und konsequenten Aufarbeiten kolonialer Vergangenheit stehen und wie sich eine hegemoniale Kanonproduktion und postkoloniale Diskurse zueinander verhalten. Schließlich fragt sie danach, wie sich das Verhältnis auf die Bildungsarbeit an europäischen Kunstmuseen auswirkt. Um die partizipative Kunst in Praxen der Kulturellen Bildung und im städtischen Raum geht es auch in dem Beitrag von Alia Rayyan Praxis der Risse – partizipativer Kunstpraxis in Ostjerusalem im Umbruch. Der Beitrag verlässt den europäischen Raum. Er beruht auf der eigenen künstlerischen Praxis als Kuratorin des palästinensischen Public Space Lab Programms Reviewing Jerusalem in den Jahren 2013 bis 2016. Das Programm versuchte, subalterne Narrative und hegemoniale Machtstrukturen im urbanen Raum Ostjerusalems sichtbar zu machen. Die präsentierten Reflexionen konzentrieren sich auf den Realisierungsprozess der Interventionen Kultureller Bildung. Rayyan versucht über theoretische Auseinandersetzungen Begriffe wie Partizipation, Öffentlichkeit und Teilnahme zu rekalibrieren. Eine weitere Auseinandersetzung mit der Praxis der Kunst- und Kulturvermittlung stellt der darauffolgende Beitrag von Carla Bobadilla Performative Begegnungen mit der Stadt. Auf der Suche nach den Spuren des Kolonialismus in Wien dar. Am Beispiel performativer Stadtrundgänge, die in den Jahren 2016 und 2017 stattfanden, werden Wege aufgezeigt, wie Kunst- und Kulturvermittlung aus der Perspektive migrantischer Subjekte es vielleicht doch gelingen kann, eine transformative und emanzipierende Rolle zu spielen. Der paternalistische Impetus Kultureller Bildung wird hingegen in dem Beitrag von Carmen Mörsch Postkoloniale Geschichtsschreibung der Kulturellen Bildung historisch beleuchtet. Am Beispiel Großbritannien wird in dem Text eine kritische Rekonstruktion der Kunstvermittlung geleistet und die Feminisierung sowie der Paternalismus des Feldes freigelegt. Es werden Überlegungen dazu angestellt, dass a) die Tatsache, dass dieses Arbeitsfeld weiterhin überwiegend aus weißen Cis-Frauen besteht, und b) der für das Arbeitsfeld hegemoniale Diskurs der defizitären Anderen, die durch Kunstvermittlung gerettet werden müssten, mit Nationalismus, Imperialismus und Kapitalismus verflochten sind. Abgeschlossen wird das Kapitel mit einem Beitrag von Mai-Anh Boger und Nina Simon, die aufzeigen, wie schwierig es ist, in den hegemonialen Diskurs der Kulturellen Bildung aufgrund der herrschenden Förderstrukturen einzugreifen. Ausschreibungen auf Förderung von Projekten in der Kulturellen Bildung tragen nach wie vor, so die Autorinnen, häufig zu einer (Re-)Produkti-

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on hegemonialer Logiken bei, die sich trotz allem proklamierten Widerstand in den konkret bewilligten Projekten zumeist fortsetzt. Basierend auf der Annahme, dass Sabotage – hier in Form eines Bruchs mit der Fortsetzung hegemonialer Logiken – nur dann gelingen kann, wenn (vorerst) zwar nicht in sie verfallen, aber mit ihnen gearbeitet wird, geht der Beitrag der Frage nach, inwiefern die Spivak’sche affirmative Sabotage eine mögliche Herangehensweise für eine postkolonial informierte Praxis der Antragsstellung (und daran anschließenden Projektdurchführung) im Kontext finanziell geförderter Kultureller Bildung darstellen kann. Das vierte und letzte Kapitel weist mit zwei Beiträgen auf die wichtige Praxis des Verlernens hin. Der erste Beitrag von Nicole Suzuki Un/learning writing, reading, publishing zeigt, wie untrennbar die Geschichte des Buchs mit der Kolonialgeschichte verbunden ist. Dabei bezieht Suzuki das Konzept des Unlearning auf das Schreiben und Lesen sowie auf das Arbeiten mit Texten. Anhand von künstlerischen Beispielen, die sich mit conceptual writing sowie mit der Materialität von Papier und Büchern befassen, erfolgt eine experimentelle Auseinandersetzung mit dem Buch als Träger von Wissen. Als letzten Beitrag haben wir zwei kurze Texte zu Lehren und Lernen der Künstlerin und Professorin für Malerei, Rajkamal Kahlon, gewählt, die den Raum zwischen Kunstpädagogik und dem Museum beleuchten. Während der erste Text Sie sagten, es würde nicht weh tun: Verkörperte Pädagogik sich aus Kahlons eigenen Erfahrungen als Studentin und Lehrerin an US-amerikanischen öffentlichen und privaten Schulen, Colleges und Universitäten speist und der Frage nachgeht, wie auf eine Art und Weise unterrichtet werden kann, den Formen von Macht und Herrschaft zu widerstehen ist und welchen Widersprüchen dabei begegnet werden kann, handelt der zweite Text Sie sagten, es würde nicht wehtun: Liebe und Verlust im Weltmuseum Wien von ihrer Hassliebe zu ethnographischen Museen und ihren Sammlungen. Eine von Kahlons Arbeiten ist auf dem Cover zu sehen, ihre Gedanken zum Thema Lernen/Verlernen schließen den Band.

Schlussgedanken: Die Zukunft kommt zurück Selbst wenn wir konstatieren können, dass postkoloniale Theorien Schritt für Schritt Eingang in den Kunstbetrieb und die Kulturelle Bildung gefunden haben, findet eine tiefergehende Auseinandersetzung mit ihren theoretischen Prämissen bislang nur marginal statt. Konzepte wie Unlearning oder Othering

María do Mar Castro Varela & Leila Haghighat: Einleitung

haben als Worthülsen Einzug in den Diskurs gefunden, häufig ohne dabei einer ernsthaften Analyse unterzogen worden zu sein. Sie werden rezitiert statt rezipiert zu werden. Es kann geradezu von einer Instrumentalisierung der Konzepte gesprochen werden, die zu einer Neutralisierung der Kritik führt und Machtverhältnisse letztlich verfestigt. Die Kritik läuft Gefahr, nicht-performativ zu sein. Bekenntnisse bleiben Bekenntnisse, sie zeitigen keine transformativen Effekte. Die Kritik bleibt wirkungslos und hinterlässt lediglich eine Reihe wohlklingender Sätze. Der Band soll gegen diese leeren Iterationen steuern. Denn nur eine tiefergehende Implementierung postkolonialer Überlegungen in die Diskurse von Kunst und Kultureller Bildung wird unseres Erachtens in der Lage dazu sein, die Komplexität der historisch gewachsenen Ungleichheitsverhältnisse aufzudecken, zu erkennen und Veränderungen anzustoßen. Das Konzept des double bind ist dabei von besonderer Bedeutsamkeit, da es unter anderem darlegt, dass eine Kritik imperialer Strukturen nur funktionieren kann, wenn sich alle Beteiligten als Teil derselben erkennen. Eine Kritik, die nur ein blaming the other verfolgt, muss dagegen zwangsläufig ergebnislos bleiben, da die wichtigste Lehre der postkolonialen Theoriebildung nicht ernst genommen wurde: dass kein Wissen und keine Praxen unkontaminiert geblieben sind. Es gibt insoweit kein Zurück in die Vergangenheit, sondern nur ein Zurück in die Zukunft.

Literatur Bayer, Natalie/Kazeem-Kaminski, Belinda/Sternfeld, Nora (Hg.) (2017): Kuratieren als antirassistische Praxis. Berlin: De Gruyter/Edition Angewandte. Bateson, Gregory (1981a): »Die logischen Kategorien von Lernen und Kommunikation [1964]«, in: ders.: Ökologie des Geistes. Frankfurt a.M.: Suhrkamp, S. 362–399. Bateson, Gregory (1981b/1967): »Stil, Grazie und die Information in der primitiven Kunst », in: ders.: Ökologie des Geistes. Frankfurt a.M.: Suhrkamp, S. 182–216. Chaney, Anthony (2017): Runaway. Gregory Bateson, the Double Bind and the Rise of Ecological Consciousness. Chapel Hill: University of North Carolina Press. Dhawan, Nikita (2019): »Die affirmative Sabotage der Aufklärung: Die postkoloniale Zwickmühle«, in: Zeitschrift für Politik 66(2), S. 183–198.

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Filipovic, Elena (2014): »The Global White Cube«, in: Curating: politics and display 22, S. 45–63. Sarr, Felwine/Savoy, Bénédicte (2019): Zurückgeben. Über die Restitution afrikanischer Kulturgüter. Berlin: Matthes & Seitz. Spivak, Gayatri Chakravorty (2012): An Aesthetic Education in the Era of Globalization. Cambridge: Harvard University Press.

I. Reflexionen und Weiterführungen

Eine ästhetische Erziehung im Zeitalter der Globalisierung1 Gayatri Chakravorty Spivak

Globalisiert werden nur das Kapital und die Daten. Alles andere ist Schadensbegrenzung. Die Verfügbarkeit von Information hat das Wissen und das Lesen ruiniert. Wir wissen deshalb eigentlich gar nicht, was wir mit Information anfangen sollen.2 Ungeprüfte Projekte werden umgesetzt, einfach weil die Information da ist. Crowdsourcing ersetzt Demokratie. Universitäten werden zu Anhängseln der sogenannten internationalen Zivilgesellschaft und die Geistes- und Sozialwissenschaften müssen dran glauben. In dieser Situation erinnern einige von uns daran, dass der Zweifel das Erbe der europäischen Aufklärung ist. Hoffnung (oder mangelnde Hoffnung) und sentimentaler Nationalismus (oder sentimentaler postnationaler Globalismus) herrschen aber zurzeit im Großteil unserer Welt vor. In diesem Text geht es darum, ein weiteres Vermächtnis der europäischen Aufklärung produktiv zu ›ent-machen‹ (un-doing): das Ästhetische. Produktives Ent-Machen ist eine schwierige Aufgabe. Es muss mit großer Sorgfalt auf die Bruchlinien des Machens schauen, ohne anzuklagen, ohne zu entschuldigen, auf den Gebrauch bedacht. […] Am Schädlichsten ist die Annahme, dass die Globalisierung bereits in allen Aspekten unseres Lebens gelungen ist. Die sinnliche Apparatur des erfahrenden Wesens kann niemals eine Globalisierung durchlaufen, außer insofern, 1

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Bei dem Text handelt es sich um die leicht gekürzte Einleitung des 2012 erschienen Bandes mit demselben Titel An Aesthetic Education in the Era of Globalization. Wir danken Alwin Jorge Franke für seine genaue und kenntnisreiche Übersetzung und Gayatri Chakravorty Spivak für die Freigabe des Textes. »Education« wurde von Alwin Jorge Franke in diesem Text mit »Erziehung« anstatt »Bildung« übersetzt, um den Schillerverweis hervorzuheben. Der Originatext erschien 2012 bei Harvard University Press. © Gayatri Chakravorty Spivak. Unterstützung aus den Massenmedien: Peggy Orenstein, »Offline zu gehen könnte der Weg zum wahren Wissen sein« (Orenstein 2009: 11).

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als diese an den unscharfen Rändern immer schon impliziert war. Nur eine ästhetische Erziehung kann uns darauf vorbereiten, eine ungleiche und nur scheinbar zugängliche Zeitgenossenschaft zu denken, die nicht mehr mit bequemen Polaritäten wie Moderne/Tradition oder kolonial/postkolonial interpretiert werden kann.3 Alles andere beginnt dort, an jenem Ort, der es uns erlaubt, im Singulären und Unverifizierbaren zu überleben, umgeben vom tödlichen und düsteren Trost rationaler Entscheidung. Andere Formen institutionellen Wissens setzen diese Grundlage implizit voraus. Wie ist diese ästhetische Erziehung beschaffen? Eine globale Formel kann es dafür nicht geben. Ich, am ehesten in Institutionen des tertiären Bildungsbereichs zuhause, entwickle hier einen Entwurf, den man als Sabotage Schillers beschreiben könnte.4 Wenn das Wissensmanagement versucht, den double bind auf diesem sich rasch wandelnden Gebiet aufzulösen, und das Nachhaltigkeit nennt – ein Minimum hier tun, damit man ein Maximum dort herausholen kann –, dann ist das eine Verschiebung von Schillers Umwandlung der kritischen Philosophie Kants; später mehr dazu. Möglicherweise sind solche, von oben ausgeführten austarierenden Berechnungen auch der Grund, warum Kant die »bloße Vernunft« moralisch faul nennt. Die Welt braucht einen epistemologischen Wan-

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Claus Offe ist sich dieser Zeitgenossenschaft bewusst. In Bezug auf Osteuropa als »einzigartigem Beispiel« spricht er von einer Gleichzeitigkeit und einem Dilemma. In der Globalisierung ist jeder Ort zeitgenössisch, zugleich aber auch einmalig. Deshalb sprechen wir von einem double bind. Offe ist sich auch der Notwendigkeit dessen bewusst, was wir »ästhetische Erziehung« nennen, kann das so aber natürlich nicht sagen. Am Ende kommt es dann so heraus: »Seit Makroereignisse eine unglaubliche Geschwindigkeit aufgenommen haben, kommt den Individuen die schmerzliche Aufgabe des geduldigen Wartens zu« und »ist es möglich, diese Art von Geduld und zivilisiertem Verhalten dort, wo es ihrer mangelt, durch den umsichtigen Gebrauch politischer Ressourcen hervorzubringen? (Offe 1991: 869, 872, 887, 888). Derrida hat zurecht darauf hingewiesen, dass die moderne Universität überall eine Variation des mittelalterlichen europäischen Vorbilds ist (Derrida 2001). Und hier ist ein Auszug einer Email, die ich dem charmanten Vizekanzler der Mahatma Gandhi Universität in Kerala geschrieben: »Ich werde erst seit kurzem eingeladen, mich an den Institutionen des tertiären und post-tertiären Bildungsbereichs in Indien zu beteiligen, an denen Englisch verstanden wird (das, wie ich glaube, auch eine indische Sprache ist). Obwohl ich mich dort aufgrund des Präsenz der kritischen Intelligenz von Leuten wie Sanal Mohan und Thomas Joseph (und gewiss vieler anderer) am ehesten zuhause fühle, kann ich aus dem gleichen Grund nicht dort verweilen«. Schiller ist dort auch zuhause. Affirmative Sabotage.

Gayatri Chakravorty Spivak: Eine ästhetische Erziehung im Zeitalter der Globalisierung

del, der die Begehren umgestaltet.5 Das erfordert die globale Zeitgenossenschaft. […] Die geisteswissenschaftliche Version von Nachhaltigkeit bestand anfänglich darin, das Training der Vorstellungskraft zu maximieren und die abstumpfende Vereinheitlichung der Globalisierung zu minimieren. (Anhaltspunkte dazu kann man bei den britischen Romantikern finden). Während wir versuchten, dieses Ziel zu verwirklichen, führte die immer mehr als Unternehmen agierende und immer ehrgeizigere globalistische Universität in den Vereinigten Staaten Aufsicht über die Minimierung der Geistes- und Sozialwissenschaften – um das Maximum irgendeiner Globalisierungsversion zu erreichen.6 […] Heute liegen die Dinge anders – soziale Bewegungen haben sich durch und durch internationalisiert und sind damit eine Allianz mit der Feudalität im Norden eingegangen. Die Geistes- und Sozialwissenschaften sind an der Spitze randständig. […] Als ich 1992 gebeten wurde, die erste T. B. Davie Memorial Lecture an der University of Cape Town nach dem Ende der Apartheid zu halten, habe ich angeregt, dass wir lernen, die europäische Aufklärung von unten zu gebrauchen (Spivak 2018). Ich habe mich des Ausdrucks »ab-use« – »miss-(ge)brauchen« – bedient, weil das lateinische Präfix »ab« viel mehr ausdrückt als nur »unten.« Weil es sowohl eine Bewegung »weg von« als auch »Handlungsvermögen, Ursprung,« sowohl »unterstützen« als auch »die Pflichten von Sklaven« anzeigt, fängt es den paradoxen double bind der postkolonialen und metropolitanen Migrant:in gegenüber der Aufklärung ein. Wir wollen die von der Aufklärung errungenen Erweiterungen des öffentlichen und die Beschränkungen des privaten Raumes; aber wir müssen auch etwas finden, dass mit »unserer eigenen Geschichte« verbunden ist, um dem Umstand entgegenzuwirken, dass

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Obamas minimale Anerkennung dieser Notwendigkeit besteht in der Ernennung von verhaltenswissenschaftlich orientierten Ökonomen, die das Begehren der Konsumenten verändern sollen (Wallace-Wells 2010: 38–44). In einer weiteren Perspektive würden unsere Sympathien jemandem wie Lúcio Flávio Pinto gelten, »der kritisch zeitgenössischen Plattitüden über ›nachhaltige Entwicklung‹ skeptisch gegenübersteht, in denen er bislang ›nur eine Ideologie sieht, die benutzt wird, die bittere Pille zu versüßen und die Öffentlichkeit zu beschwichtigen‹ und die Gewissen derer, die er ›koloniale Konsumenten‹ nennt, zu beruhigen, sowohl in als auch außerhalb Brasiliens. Die größte Herausforderung ist es ihm zufolge, die Menschen zu befähigen, ›den Amazonas zu gebrauchen‹, ›ohne ihn zu zerstören‹« (Johnson 2008: F8). Pintos Bemerkungen setzen ein praktisches epistemologisches Projekt voraus – eine große Herausforderung.

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die Aufklärung sowohl den Kolonisatoren wie auch den Kolonisierten durch den Kolonialismus gebracht wurde, um einen zerstörerischen »freien Handel« zu unterstützen, wie auch dem Umstand, dass Verletzungen der Prinzipien der Aufklärung von oben eher die Regel als die Ausnahme sind.7 Hierin unterscheiden sich unsere Anstrengungen von den besten modernen europäischen Versuchen, die Aufklärung kritisch zu gebrauchen – denen wir sympathisch verbunden sind – ein Unterschied der ausreicht, um sie zu unterlaufen!8 Aber »miss-(ge)brauchen« kann ein irreführender Neographismus sein, wenn er am Ende doch nur »Missbrauch« bedeutet. Das aber läge uns dermaßen fern, dass ich mich entschieden habe, Genauigkeit und Beziehungsreichtum zu opfern und schlicht »von unten« zu sagen. Auch das irritiert, denn es setzt voraus, dass »wir«, wer auch immer wir sind, uns unter dem Niveau der Aufklärung befinden. Ein weiterer double bind.9 Der Ausdruck »double bind« stammt aus Gregory Batesons 1972 erschienener Aufsatzsammlung Ökologie des Geistes (Bateson 1981: 353ff.). Zunächst half ihm der double bind, Schizophrenie bei Kindern qualitativ zu verstehen. Bateson wusste aber, dass »sowohl jene, deren Leben durch transkontextuelle Gaben bereichert wird, als auch die anderen, die durch transkontextuelle Verwirrungen eingeschränkt werden, [sich] in einer Hinsicht ähneln: Für sie kommt es immer oder oft zu einer ›Spätzündung‹ [double take]« (ebd.: 354f.). In anderen Worten: Weil er beide Pole des Spektrums betrifft, lässt sich der double bind 7

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Denken Sie etwa an Haiti, wo Schwarze Menschen Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit verwirklicht haben; oder Usbekistan, unseren Partner im Krieg gegen den Terror. Für einen Abriss zum Fall Haiti, siehe Haiti’s Lesson. Zu Usbekistan, siehe Murray 2006. Für eine brillante Abhandlung dazu, siehe Reese 2009. Der Miss-(ge)brauch der Aufklärung muss entlang der unregelmäßigen aber hartnäckigen, residualen/dominanten Präsenz von Clanpolitik in verschiedenen Teilen der Welt durchdacht werden. Kathleen Collins gibt in Clan Politics and Regime Transition in Central Asia eine provokante Zusammenfassung (Collins 2006). Raymond Williams‹ Modell von Kultur als Tanz von archaisch/residual/dominant/emergent/oppositionell/alternativ/prä-emergent muss erweitert werden, wenn man die Heterogenität dessen, der »miss-(ge)braucht« verstehen will (Williams 1977). Wir müssen dabei auch an die Irregularität der ermöglichenden Übertretungen der Spielarten des Imperialismus denken, und an den Einfluss der Amerikanisierung-als-Globalisierung, die diesem ungleichen Terrain auferlegt wurde und historisch spezifische Gruppen sozusagen als Empfänger adressiert. Wo sind die Intellektuellen in dieser Phantasmagorie? Was bedeutet es für Tschingis Aitmatow, den »liberalen« Romanautoren, Akajew unterstützt zu haben, den Physiker, der sich allmählich in einen Clan-Manager, Autokraten und Befürworter der Folter verwandelte?

Gayatri Chakravorty Spivak: Eine ästhetische Erziehung im Zeitalter der Globalisierung

verallgemeinern. Auf der einen Seite das Bedürfnis nach Heilung, auf der anderen das nach Anerkennung durch die Heiler. Er wusste auch um die Notwendigkeit katachrestischer Konzeptmetaphern, die keinen buchstäblichen Referenten haben können. In seinem Essay Eine Theorie des Spiels und der Phantasie definiert er »das Spiel zweier Individuen bei einem bestimmten Anlaß« – Spiel und Therapie sind nie weit von dem entfernt, was wir ästhetische Erziehung nennen – anhand eines »mengentheoretische[n] Diagramm[s]« (ebd.: 253). Aber gerade dort, wo »die mathematische Analogie zusammenbricht,« entwirft er systematisch, wie die Therapeutin an der Grenze des double bind zwischen »abstrakt« und »konkret« arbeiten muss (ebd.). Im Kontext unserer Gegenwart können wir dies den double bind der Universalisierbarkeit des Singulären nennen, den double bind im Herzen der Demokratie, auf den eine ästhetische Erziehung epistemologisch vorbereiten kann, da wir als Lehrende des Ästhetischen Materialien benutzen, die historisch den Stempel ihrer Region tragen. Dabei leisten wir gegen das Erbe der Aufklärung Widerstand, zugleich aber leben wir mit diesem Erbe und tragen ihm Rechnung. Sogar dies erfordert enorme Anstrengungen, Institutionen zu verändern, die aber von dem oben wie unten akzeptierten Geist der Bürokratie ausgebremst werden. Und doch gibt es auf dem Weg zur Kollektivität immer wieder »die gute Lehrerin«, die »gute Studentin«. Zweifel und Hoffnung.10 In seinem Essay buchstabiert Bateson das Training der Vorstellungskraft in Begriffen einer Mise en abyme aus, einer unbegrenzten Reihe wechselseitiger Reflexionen: Im Zuge von »Dilemma[s], [die] nicht auf die Kontexte der Schizophrenie beschränkt [sind]« (ebd.: 314), findet Bateson den »Hauptunterschied zwischen Menschen und […] Robotern in der Tatsache des Lernens […] von Lösung zu Lösung überzugehen und dabei immer eine andere Lösung zu wählen, die der vorhergehenden vorzuziehen ist« (ebd.: 318). Er »erweiter[t] den Bereich dessen, was unter den Begriff des Lernens fallen soll« mittels einer »hierarchische[n] Reihe,« die »dann aus Mitteilung, Meta-Mitteilung, MetaMetamitteilung und so weiter« bestehen wird (ebd.). Dieses »Training«, Bollwerk einer »ästhetischen Erziehung«, versagt gewöhnlich, wenn es um Religion und Nationalismus geht: »Schließlich haben die menschlichen Wesen in der

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Wie zum Beispiel beim Symposium Toward a Common Morality klar wurde, können uns die Neurowissenschaften dabei nicht helfen, auch wenn sie die Plausibilität eines freien Willens immer weiter untergraben (Symposium der Vereinten Nationen, 11. September 2009). Am eloquentesten war dabei Maxwell R. Bennett, Professor für Neurowissenschaften an der University of Sydney.

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Grauzone, wo sich Kunst, Magie und Religion treffen und überschneiden, die ›Metapher, die gemeint ist,‹ die Flagge, für deren Rettung Menschen sterben, und das Sakrament hervorgebracht, von dem man fühlt, daß es mehr ist als ›ein äußeres und sichtbares Zeichen, das uns gegeben wurde‹« (ebd.: 248). Es ist interessant, dass Freud im Fetischismus-Aufsatz eben diese Gegenstände – »Thron und Altar« – als Marker fetischistischer Unlogik anführt (Freud 1982a: 384). Spielerisches Training, eine ästhetische Erziehung, versagt gewöhnlich dort, wo es um Flagge und Sakrament, Thron und Altar geht. Bateson hat Gewohnheit ganz unsentimental beschrieben. Als Fachmann steht er hier in der Tradition des Wordsworths der Lyrischen Balladen (Wordsworth 1974), daran interessiert, die schlechten epistemo/affektiven Folgen des aufkommenden Kapitalismus aufzufangen, und in der Tradition Gramscis, der versuchte, die subalterne Intellektuelle aus dem »Masse-Menschen« zu produzieren, an einem Ort und zu einer Zeit, wo Clanpolitik nicht unbekannt war (Gramsci 1994: 1376). Hier ist Bateson: »Im Bereich der geistigen Prozesse ist uns diese Art der Ökonomie [der auf Versuch und Irrtum beruhenden Anpassungsfähigkeit] sehr vertraut, und in der Tat gelingt uns eine große und notwendige Einsparung durch den bekannten Prozeß der Gewohnheitsbildung. Im ersten Fall können wir ein gegebenes Problem durch Versuch und Irrtum lösen; wenn aber später ähnliche Probleme wiederkehren, neigen wir dazu, immer ökonomischer mit ihnen umzugehen, indem wir sie aus dem Rahmen der stochastischen Operation herausnehmen und die Lösungen auf einen tieferen und weniger flexiblen Mechanismus übertragen, den wir ›Gewohnheit‹ nennen« (Bateson 1981: 337). Dieses Zitat ist von 1959. Auf einem Symposium zum double bind zehn Jahre später verallgemeinert Bateson Gewohnheit dann. Hier steht der Fachmann/ Philosoph in der Nachfolge Freuds, der versuchte, jenseits des Lustprinzips »in den Phänomenen der Erblichkeit und in den Tatsachen der Embryologie« einen allgemeineren »organischen Wiederholungszwang« zu finden (Freud 1982b: 247). Hier noch einmal Bateson: »Durch Überlagerung und wechselseitige Verbindung vieler Rückkoppelungsschleifen lösen wir (und alle anderen biologischen Systeme) nicht nur besondere Probleme, sondern bilden auch Gewohnheiten, die wir auf die Lösung von Problemklassen anwenden. Wir handeln so, als könnte eine

Gayatri Chakravorty Spivak: Eine ästhetische Erziehung im Zeitalter der Globalisierung

ganze Problemklasse mit Hilfe von Annahmen oder Prämissen gelöst werden, die der Anzahl nach geringer sind als die Elemente der Problemklasse. Mit anderen Worten, wir (Organismen) lernen zu lernen […] [Die] Rigidität [der Gewohnheiten] folgt als ein notwendiges Korollar aus ihrem Status in der Hierarchie der Anpassung. Gerade die Ökonomie von Versuch und Irrtum, die durch Gewohnheitsbildung erreicht wird, ist nur möglich, weil Gewohnheiten vergleichsweise ›hart programmiert‹ sind […]. Die Ökonomie besteht genau darin, die Prämissen der Gewohnheit nicht jedesmal neu zu überprüfen oder wiederzuentdecken, wenn die Gewohnheit ins Spiel kommt. Wir können sagen, daß diese Prämissen teilweise ›unbewußt‹ sind oder – wenn Sie so wollen – daß eine Gewohnheit entwickelt wird, sie nicht zu überprüfen« (Bateson 1981: 355f.). Vielleicht ist das Ästhetische eine Abkürzung der uns gestellten Aufgabe, die Gewohnheit zu erschüttern, diese Prämissen nicht zu überprüfen. Ich habe gleich zu Anfang gesagt, dass wir uns früher die britischen Romantiker:innen zum Vorbild nehmen konnten. Aber solange wir das Literarische einfach zur Quelle guten Denkens machen, werden wir an der Aufgabe der ästhetischen Erziehung scheitern, die wir hier vorschlagen: um jeden Preis Zugang zum Text einer Anderen finden. […] Die zutiefst individualistische romantische Theorie der schöpferischen Einbildungskraft […] muss anti-systemisch bleiben.11 Gramsci hingegen verwandte seine ganze Energie darauf, die subalterne Intellektuelle zu produzieren, indem er die »neuen Intellektuellen« instrumentalisierte: »Die Geschichte des Industrialismus ist immer ein ständiger Kampf gegen das Element ›Tiernatur‹ des Menschen gewesen (und wird es heute in einer nachdrücklicheren und rigoroseren [rigorosa]12 Form), ein unaufhörlicher, oft schmerzhafter und blutiger Prozeß der Unterwerfung der (natürlichen, also tierischen und primitiven) Triebe unter immer [sempre]13 neue, komplexere und rigidere Normen und Gewohnheiten der Ordnung, Exaktheit, Präzision, welche die immer komplexeren Formen des Gemeinschaftslebens möglich

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Coleridge könnte hier insgesamt demokratischer sein, da seine humanistische Theorie der Vorstellungskraft eine Beschreibung des Menschseins für das menschliche Wesen im Allgemeinen ist. Italienische Ausdrücke von der Autorin angefügt. Italienische Ausdrücke von der Autorin angefügt.

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machen, welche die notwendige Folgen der Entwicklung des Industrialismus sind. Dieser Kampf ist von außen aufgedrängt worden, und die bisher erzielten Ergebnisse, auch wenn sie von unmittelbar großer praktischer Bedeutung sind, sind großenteils rein mechanisch, sie sind keine ›zweite Natur‹ geworden. […] Bislang sind alle Wandlungen der Seins- und Lebensweise durch brutalen Zwang zustande gekommen […] Die Auswahl oder Erziehung des an die neuen Zivilisationstypen, das heißt an die neuen Produktionsund Arbeitsformen angepassten Menschen ist unter Anwendung unerhörter Brutalität erfolgt, wobei die schwachen und widerspenstigen in die Hölle der Unterklassen gestürzt oder gänzlich eliminiert werden« (Gramsci 1999: 2082f.). (Es ist erwähnenswert, dass hier etwas zum Ausdruck kommt, was allen »Erziehungsprojekten« gemein ist, nämlich die Notwendigkeit, eine Abgrenzung von einer homogenen »Tiernatur« einzuführen […] Das ist ein Kompromiss, dem wir nicht entkommen können. Wir sehen das auch in der rhetorischen Inszenierung von Derridas Essay Die unbedingte Universität 14 ). Gramsci und Bateson, die sich beide für Bildung und Therapie interessierten, konnten sich nicht damit zufriedengeben, allein in der Gewohnheit mehr zu sehen als den Boden für epistemischen Wandel. Bateson hat schließlich die Therapie selbst als eine Art double bind verstanden: »Der Unterschied zwischen der therapeutischen Bindung und der ursprünglichen double bind-Situation besteht zum Teil darin, daß der Therapeut nicht selbst in einen Kampf auf Leben und Tod verstrickt ist. Er kann daher relativ wohlwollende Bindungen aufbauen und dem Patienten allmählich helfen, sich davon zu emanzipieren« (Bateson 1981: 301). Und da seine Aufgabe eher psychologisch als epistemologisch ist, schreckt er davor zurück, in aller Deutlichkeit zu sagen, dass Gewohnheit nicht in Frage stellt. Gramsci hingegen besteht darauf, das ist zumindest implizit, dass die Voraussetzungen eines Arguments für den Masse-Menschen »widerentdeckbar« und »wiederüberprüfbar« sein müssen. Ich bin so frei, mich selbst zu zitieren: »Wenn wir ›die Welt verändern‹ wollen, muss der Alterglobalismus die Erziehung der Entrechteten zum Desinteresse in einem double bind mit dem Inter-

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Derrida spricht von einem »Glaubensbekenntnis« und lädt uns so dazu ein, der labyrinthähnlichen Rahmung des ursprünglichen »Glaubensbekenntnisses« in Rousseaus Émile (Derrida 2001: 9). Beim Sprechen über die Geisteswissenschaften (humanities) kann er einer Version von Humanismus nicht entkommen, aber er muss von uns verlangen, dieses Dilemma mittels einer intertextuellen Einladung zu geleiten.

Gayatri Chakravorty Spivak: Eine ästhetische Erziehung im Zeitalter der Globalisierung

esse des Klassenkampfes denken: ›Demokratie kann […] nicht allein bedeuten, daß ein ungelernter Arbeiter zum Facharbeiter wird,‹ schreibt Gramsci. ›Es muß heißen, daß jeder Staatsbürger ein Regierender werden kann und die Gesellschaft ihn, wenn auch nur abstrakt, in die allgemeinen Verhältnisse versetzt, daß er es auch werden kann‹« (Spivak 2007).15 In einem wichtigen Kommentar zu Marx unterscheidet Gramsci zwischen dem Psychologischen, dem Moralischen (unser Wort dafür wäre vielleicht »das Ethische«) und dem Epistemologischen. Unsere Aufgabe ist es, dies zu »miss-(ge)brauchen«, das scheinbare Systemvertrauen (das vom Zögern der im Gefängnis verfassten Schriften Lügen gestraft wird) weder zu entschuldigen noch anzuklagen, sondern in der Hinzufügung des Epistemologischen ein Möglichkeit zu sehen, Gramsci mit »Geschichte in der Lektüre« [history in the reading] zu lesen.16 […] Die Beziehung zwischen Erziehung und der Gewohnheit des Ethischen ist wie die beziehungslose Beziehung zwischen Verantwortung und Gabe, die wir uns vorstellen müssen, wollen wir der Verantwortung Rechnung tragen: sozusagen eine unbegrenzte transzendentale Deduktion.17 Die Gewohnheit des Ethischen zu trainieren kann nur in Angriff genommen werden, wenn wir uns der systemischen Aufgabe epistemologischen Engagements zuwenden. Wir »lernen, zu lernen« (so Batesons allgemeinerer Satz), wie man vom historischkulturellen Text ausgehend, in dem eine bestimmte Gruppe von Studierenden verortet sein mag, unterrichtet. In diesem Sinn beruft sich Gramsci auf »das aktive Verhältnis zwischen [dem Intellektuellen] und der kulturellen Umwelt […], die er verändern will, eine Umwelt, die auf den Philosophen zurückwirkt und, indem sie ihn zu fortwährender Selbstkritik zwingt, als ›Lehrer‹ fungiert. So ist es gekommen, dass eine der Hauptforderungen der modernen Intellektuellenschichten auf politischem Gebiet die nach 15

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Das Gramsci-Zitat verweist auf Das Problem der Schule (Gramsci 1987). Siehe auch Joseph Stiglitz: »Wir anerkennen heute, dass es einen ›Gesellschaftsvertrag‹ gibt, der die Bürger:innen untereinander und mit ihrer Regierung verbindet« (Stiglitz 2003: 78). Bürger:innen werden erschaffen, indem man Klassenapartheid mit Hilfe dessen, was ich »ästhetische Erziehung« nenne, durchbricht. Ich danke Stathis Gourgouris für diese geglückte Formulierung (Gourgouris 1996: 45). »Ich nenne daher die Erklärung der Art, wie sich Begriffe a priori auf Gegenstände beziehen können, die transzendentale Deduktion derselben, und unterscheide sie von der empirischen Deduktion« (Kant 1974: 126 [B117]). Ich werde den Ausdruck immer in diesem Sinn verwenden.

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der sogenannten ›Gedanken- und Redefreiheit (Presse und Versammlung)‹ gewesen ist, denn nur wo es diese politische Bedingung gibt, verwirklicht sich das Lehrer-Schüler-Verhältnis im weitesten, oben erwähnten Sinn, und in der Tat verwirklicht sich ›geschichtlich‹ ein neuer Typus des Philosophen, der ›demokratischer Philosoph‹ genannt werden kann, nämlich des Philosophen, der davon überzeugt ist, dass seine Persönlichkeit sich nicht aufs eigene physische Individuum beschränkt, sondern ein tätiges gesellschaftliches Verhältnis der Veränderung der kulturellen Umwelt ist« (Gramsci 1994: 1336). Eine ästhetische Erziehung lehrt die Geisteswissenschaft auf diese Weise, dass alle Subjekte »kontaminiert« sind. Ich habe immer wieder gesagt, dass ich diesbezügliche in der gegenwärtigen Situation keine großen Hoffnungen hege. Lassen Sie mich aber wenigstens Gramscis Hoffnung zitieren: »Die Seinsweise des neuen Intellektuellen kann nicht mehr in der Beredsamkeit bestehen, dieser äußerlichen und dem Moment verhafteten Antriebskraft der Affekte und Leidenschaften, sondern in der aktiven Einmischung ins praktische Leben, als Konstrukteur, Organisator, ›dauerhaft Überzeugender‹, weil nicht bloß Redner – und gleichwohl dem mathematisch-abstrakten Geist überlegen; von der Technik-Arbeit gelangt er zur Technik-Wissenschaft und zur geschichtlichen humanistischen Auffassung, ohne die man ›Spezialist‹ bleibt und nicht zum ›Führenden‹ (Spezialist + Politiker) wird« (Gramsci 1996: 1531f.). Ich werde auf Gramscis ›technisch-wissenschaftliche‹, »dem mathematischabstrakten Geist überlegene« Lehrstunde zurückkommen. Rufen wir uns zunächst einmal ins Gedächtnis, dass die Gefängnishefte, insofern sie für den eigenen Gebrauch angefertigte Notizen sind, notwendigerweise eine offene Form haben, die sorgfältige Vertrautheit mit den Protokollen des Textes erfordert. Ich möchte vorschlagen, dass ein Training der Vorstellungskraft, das dem Subjekt das Spielen beibringen kann – eine ästhetische Erziehung – das Subjekt auch lehren kann, (praktisch oder theoretisch) jene Prämissen der Gewohnheit zu entdecken, die uns dazu zwingen, Religion und Nation zu transzendentalisieren (worauf sowohl Freud als auch Bateson hingewiesen haben). Wenn das aber nur eine »Umgestaltung der Begehren« ist oder die Ersetzung einer Gewohnheit durch eine andere mittels pädagogischer Taschenspielertricks, werden wir nicht in der Lage sein, diese Entdeckung für eine dauerhafte epistemologische Anstrengung wiederzugewinnen. Wir

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müssen lernen, der epistemisch-epistemologischen Differenz Gewalt anzutun, ohne zu vergessen, dass Erziehung genau das »ist«, und weiter daran arbeiten, den Glauben in das Gebiet der Vorstellungskraft zu verschieben, weiter versuchen, Zugang zum Epistemischen zu erlangen. Die Verschiebung des Glaubens auf das Gebiet der Vorstellungskraft kann eine Beschreibung des Lesens im stärksten Sinne sein. Sie ist zugleich integraler Bestandteil einer ästhetischen Erziehung. Zu lernen, Religion und (die Geburt einer) Nation in den Bereich der Vorstellungskraft zu de-transzendentalisieren ist im Kontext des beginnenden 21. Jahrhunderts eine unschätzbare Gabe. Aber diese besondere Funktion des Lesens ist auch in einem allgemeineren und andauernden Sinn wichtig. An anderer Stelle habe ich argumentiert, dass diese Art der Erziehung, zieht man den sozialen Kontext sorgfältig in Betracht, von der Grundschule an ein Teil der Bildung sein kann, wo sie noch mehr eher formal als substantiell ist. […] Hier geht es mir aber hauptsächlich um den tertiären und postgraduierten Bildungsbereich, die Reproduktion von Staatsbürger:innen und Lehrer:innen. Auf diesem Gebiet bedienen wir uns des Erbes der Aufklärung, lösen das Transzendentale vom Glauben, behalten seinen double bind im Auge, und bringen dabei eine einfachere Lösung hervor: den Glauben privatisieren, das Transzendente rationalisieren. Diese spezifische Lösung, die als der Inbegriff liberaler Bildung angeboten wird, eignet sich besser für den Kapitalismus. Wir haben gesehen, wie Bateson den double bind von seiner beschränkten Bedeutung als psychische »Krankheit« gelöst hat. Vielleicht ist ihm der double bind geradezu eine allgemeine Beschreibung allen Handelns geworden, des Denkens als Handeln, eine Beschreibung allen Lebens, das sich seiner selbst bewusst ist, dem Kapitalismus noch vorgelagert, eine Frage des graduellen Unterschieds. Widersprüchliche Anweisungen bekommen wir ständig. Wir lernen, auf sie zu hören, und bleiben im Spiel. Wenn und während wir entscheiden, wissen wir deshalb, dass wir den double bind aufgebrochen und sozusagen zu einem single bind gemacht haben. Und wir wissen auch, dass wir Veränderungen bald in Angriff nehmen müssen, oder sich die Dinge selbst verändern: Aufgabe oder Ereignis. Das Gefühl, das typischerweise mit Entscheidungen – ethischen, politischen, juristischen, intellektuellen, ästhetischen und natürlich auch solchen des Alltags – einhergeht, ist ein Spektrum von Bedauern und Reue oder wenigstens Unbehagen, und wenn nicht das, dann Selbstbeglückwünschung auf die tiefe Verunsicherung folgt. Das unterscheidet sich von der ungeprüften Hoffnung, die viele globalistische und alter-globalistische Unter-

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nehmungen heute antreibt, in den Vereinigten Staaten ebenso wie in der globalen Elite. Ich werde unsere Beziehung zur europäischen Aufklärung und zum »Miss(ge)brauch«/»Gebrauch von unten« in der Entwicklung meines Gedankenganges mithilfe des Gramsci-Bateson-Modells konzeptualisieren und dabei die ungleiche Diachronie der globalen Zeitgenossenschaft immer mitdenken. […] Und vergessen Sie nicht, dass der gegenderte Zugang zur Aufklärung, der häufig ein Ausweg aus dem lokalen Gendering war, wenn möglich durch einen double bind noch einmal gedoppelt wird. Natürlich hatte die Aufklärung auch ein starkes Kontrollelement und epistemologisch hegte sie einen enzyklopädischen Impuls, der jenem klassifikatorischen Impuls entsprach, der die größte Tugend der klassischen Wissenschaft zu sein scheint. Auch das Studium der Literatur kann das unkritisch übernehmen. Das muss nicht unbedingt schlecht sein, ist aber nicht das, was die Globalisierung von einer ästhetischen Erziehung als Supplement erwartet. Es ist ja bekannt, dass sich die Literaturwissenschaften als akademische Disziplin zeitgleich mit dem Kolonialismus entwickelt haben. In groben Zügen lässt sich sagen, dass ihre Konstruktion als Gegenstand einer Disziplin und eines Studiums auch der Beginn ihrer Erschöpfung war. Als sie für die Selbstbestimmung des Kapitals immer weniger von Nutzen war, begann die Literaturwissenschaft, sich durch verschiedene Formen von Szientismus zu legitimieren. Knallharter Strukturalismus und Diskursanalyse waren seit den 1940er Jahren daran beteiligt. Der gegenwärtige Trend zur quantitativen Analyse von Literatur gehört zum selben Impuls. Literatur kann natürlich auf viele verschiedene Arten studiert werden. Dem Zweck einer ästhetischen Erziehung ist mit protektionistischem Szientismus aber nicht gedient. Dort sind alle double binds unter einer scheinbar wissenschaftlichen Kontrolle schon beigelegt. Diese Wissenschaftler:innen der literaturwissenschaftlichen Szene sagen manchmal, Close Reading betone die »Autor:innenfunktion«. Das Gegenteil trifft zu: Leser:innen, die Literatur genau lesen, um die Vorstellungskraft zu üben, sind wie Bateson eher an der Form als an der Autor:in interessiert. Der Tod (der Autorität) der Autoren (was das Etablieren kontextueller Korrektheit als Literaturwissenschaft betrifft) ist die Geburt der Leser:in (Konzentration auf die Praxis des Lesens) – eine treffende Formel aus den 1960er Jahren, die auch heute, in mageren Zeiten, noch hilfreich ist. Wir sollten diese Formel als double bind gebrauchen, statt Grabenkämpfe um sie auszufechten. […]

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Schiller versucht in Über die ästhetische Erziehung des Menschen, den double bind von Geist und Körper mithilfe des Spieltriebs aufzulösen – Kunst als Drahtseilakt zur Rettung der Gesellschaft.18 Es ist bekannt, dass er von Kant beeinflusst wurde. Ich bin ein wenig Schiller-versessen, weil er, der kein Philosoph war, die Art von Fehler macht, die alle gewöhnlichen Leser:innen von Philosophie notwendigerweise machen müssen, nämlich das der Philosophie eingeschriebene Begehren in seine Erfüllung zu verkehren. Er wurde von Paul de Man für diesen Fehler gerügt, wie auch für den ebenso weit verbreiteten, Kant zu psychologisieren. (Man könnte anmerken, dass diese letzte eine so geläufige Fehllektüre ist, dass sich eine alte Formel der Dekonstruktion an ihr bewährt: etwas im Text muss eine solche Psychologisierung ermöglichen; keine Ausreden, auch wenn die Stellen im Text, an denen sich die Möglichkeit einer solchen »Fehl«lektüre eröffnet, kenntlich gemacht werden müssen. Kenntlich gemacht werden muss auch, wie Kant mit ihnen umgeht. Hier kommt Kants letztlich mechanische Anschauung des Subjekts ins Spiel. Bis zu einem gewissen Grad ist es auch unsere Aufgabe, zu »psychologisieren« – Schillers Fehler zu wiederholen und das Gleichgewicht zu einer offenen Reihe von double binds umzugestalten).19 […] Schillers Haltung zur Auflösung des double bind ist eindeutig: »Alle Streitigkeiten, welche jemals in der philosophischen Welt über den Begriff der Schönheit geherrscht haben und zum Teil noch heut zu Tag herrschen, haben keinen andern Ursprung, als daß man die Untersuchung entweder nicht von einer gehörig strengen Unterscheidung anfing oder sie nicht bis zu einer völlig reinen Vereinigung durchführte« (Schiller 2005: 363). Der Formtrieb und der Sinnestrieb »heb[en] sich gegenseitig auf und der Wille behauptet eine vollkommene Freiheit zwischen beiden« (ebd.: 368). »Sobald nämlich zwei entgegengesetzte Grundtriebe in ihm tätig sind, so verlieren beide ihre Nötigung, und die Entgegensetzung zweier Notwendigkeiten gibt der Freiheit den Ursprung« (ebd.: 369f.). Und nirgends ist seine Domestizierung von Kant so offensichtlich wie in der berühmten Definition des Ästhetischen: »[W]enn man den Zustand sinnlicher Bestimmung den physischen, den Zustand vernünftiger Bestimmung aber den logischen und moralischen nennt, 18 19

Es ist nicht unwichtig daran zu erinnern, dass die Briefe an Friedrich Christian, Herzog von Schleswig-Holstein-Augustenberg adressiert waren. Siehe Schiller 2005. Ich entwickle diesen Gedanken in meinem Essay Translating into English (Spivak 2012).

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so muß man diesen Zustand der realen und aktiven Bestimmbarkeit den ästhetischen heißen« (ebd.: 372). Von hier ist es nicht weit zu einer idealisierten Darstellung von Erziehung, mit der der zähe Anstrengungsreichtum des GramsciBateson-Modells überhaupt keine Ähnlichkeit aufweist: »[E]r muß lernen edler zu begehren, damit er nicht nötig habe, erhaben zu wollen. Dieses wird geleistet durch ästhetische Kultur, welche alles das, worüber weder Naturgesetze die menschliche Willkür binden noch Vernunftgesetze, Gesetzen der Schönheit unterwirft und in der Form, die sie dem äußern Leben gibt, schon das innere eröffnet« (ebd.: 383f.). Und doch scheint hier und da die aporetische Anschauungsweise des deutschen 19. Jahrhunderts durch, etwa wenn Schiller von dem Versuch spricht, das Ästhetische zu »einem sinnlichen Pfand der unsichtbaren Sittlichkeit« machen zu wollen (ebd.: 312). Wie aber der berühmte 11. Brief zeigt, denkt er das Selbst ungeteilt und als etwas, das »die Zeit … aufhebt,« oder »die Mannigfaltigkeit der Welt der Einheit seines Ichs unterwürfig macht« (ebd.: 339). Die philosophische Strenge des uneingestanden gebrochenen, Kantischen Subjekt sucht man hier vergeblich. Diese Zuversicht scheint der Zeit ungeprüfter Hoffnung, der wir entgegenwirken wollen, ganz und gar angemessen. Schiller scheint unser soziales Problem so genau auf den Punkt zu bringen! »Die moralische Möglichkeit fehlt, und der freigebige Augenblick findet ein unempfängliches Geschlecht« (ebd.: 316). Man könnte anführen, dass Kant und Schiller uns zwei verschiedene Wege aufzeigen, im double bind zu leben. Wenn dem so ist, bedeutet diese Aufklärung zu miss-(ge)brauchen, die Reichweite dessen mittels eines »intendierten Fehlers« zu erweitern: ihr eine Geographie zu vermachen. […] Schiller hat seinen Fehler nicht intendiert; er war Kantianer. Uns liegt nichts am Wert der Intention. Und doch treibt uns, wie ich seit langem sage, auf dem Gebiet der Handlungsmacht gerade das fragile Instrument der Intention an. Und deshalb können wir uns auf Grundlage des Unterschieds zwischen intendiertem und nicht intendiertem Fehler von Schiller abgrenzen. In der Tat kann auch Kants eigener Text als intendierter Fehler beschrieben werden, und zwar ist die Intention dann das Programm der Vernunft und der »Fehler« ist das einzig richtige Vorgehen, das der Philosophin offensteht. In Kants Welt würde dieser Satz nicht gelten. Kant regelt es mittels der transzendentalen Deduktion. Die zur Versicherung gegen die Möglichkeit des Fehlers ausgewählte Garantie ist nicht der Beweisstruktur unterworfen: »indem man keinen deutlichen Rechtsgrund weder aus der Erfahrung, noch aus der Ver-

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nunft, anführen kann […]« (Kant 1974: 126 [B118]). »Fehler« kann hier nur als Katachrese gebraucht werden, und Intention ist als Spur der Vernunft programmiert. Während ich schreibe, beginne ich immer mehr zu argumentieren, dass die Beziehung dieser Art des Lesens zur Aufklärung eine Taxonomie von »Fehlern« ist. Kants intendiert, aber verwaltet; Schillers nicht intendiert; unserer intendiert und eingestanden; und alle der allgemeinen taxonomischen Regel zukünftiger Vorzeitlichkeit [future anteriority] unterworfen. Der Stil der Aufklärung hingegen wird gemeinhin als Zugang zur selbstidentischen, vernünftigen Norm anerkannt. Kann das historisch unsere Rolle sein? Die Aufklärung für einen (Miss)brauch öffnen, der der Gerechtigkeit Raum gibt, weil er die Absolutheit von Garantien bricht und die Aufklärung so vor der beißenden Satire eines Candide rettet. […] Wie andere Intellektuelle fordere auch ich eine Verschiebung der um den Unterschied Europa/nicht-Europa herum organisierten Ökonomie der Korrektheit. Ich nenne das einen »Fehler« […] Vielleicht ist das das Geheimnis einer ästhetischen Erziehung in unserer Zeit. […] Ich werde zu de Man vorstoßen und zwar über Derridas letzten globalisierenden Vorstoß in Richtung einer »neuen Aufklärung«, eine Dekonstruktion der ersten Vorstöße (obwohl er das, was ich die Gebote der Aufklärung genannt habe, nie ganz aufgegeben hat, ein polytroper mediterraner Odysseus, der den Sirenengesang der Dekonstruktion herbeirief, ohne ihm je ganz zu verfallen), die die Universalisierung (1968 gab es das akademische Schlagwort »Globalisierung« nicht) mittels der Spur in die Schranken zu weisen versucht. Ich glaube, dass zwischen Derridas Neuer Aufklärung und dem Miss(ge)brauch, den ich vorschlage, ein Unterschied besteht. Aber damit die:r Leser:in selbst ein Urteil fällen kann, muss ich auf die entsprechenden Passagen aus Schurken aufmerksam machen (Derrida 2003). Diese Seiten führen das hartnäckige Bestehen auf der Aufklärung im Werk Derridas fort, vielleicht jetzt von einer »anderen« [»different«], im Programm der Dekonstruktion enthaltenen Intention aus. Am Anfang seiner Karriere scheint Derrida gespürt zu haben, dass das Denken der Spur die nicht intendierte Transzendentalisierung von Kants transzendentaler Deduktion unterbrechen könne – die strukturalistische Verwandlung der Sprache in eine Ursache ohne Ursache, eine Verschiebung der Wirkung ohne Ursache (was die Figur der Metalepse bereits verbuchstäblicht) – und damit die Sicherstellung einer definitiven Prädikation des »Menschen«. Im Einklang mit diesem Denken habe ich argumentiert, dass ein wichtiges Beispiel von Kants Darstellung der Philosophie in den Grenzen der Vernunft

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(vielleicht gibt es keine andere) vom Verfahren der Spur gezeichnet ist, ganz ohne notwendige psychologische Figuration. […] Als Derrida 1968 schrieb, »Ich habe auf die Absicht, aus der Geschlossenheit dieses Schemas hinauszukommen, mittels der ›Spur‹ hinzuweisen versucht,« sprach er vordergründig von Saussures Darstellung der Sprache als Wirkung ohne Ursache. Die Spur, so endet der entsprechende Absatz, »[reicht] jedoch für sich allein, außerhalb des Textes [hors texte], nicht zur notwendigen Überschreitung hin […]« (Derrida 1999: 38). Ich argumentiere, dass wir für »Überschreitung« »transzendentale Deduktion« einsetzen können und es Sinn ergeben würde. Denn Kant verriegelt (»die Geschlossenheit eines Schemas«) die Spur mittels der transzendentalen Deduktion. Ich glaube deshalb, dass die Verbindung des »als ob« mit der Unterdrückung der Spur-Struktur zugunsten einer sichereren Geburtsurkunde der transzendentalen Deduktion, die Etablierung der performativen Konventionen der Philosophie, Derrida fast vierzig Jahre später dazu veranlasste, in einem Abschnitt mit dem Titel »Neutralisierung des Ereignisses« zu schreiben, die Idee einer »Welt« – wie in »Welten« und »Globalisierung« – sei selbst eine jener die Spur sperrenden, das Ereignis neutralisierenden »als obs« in Kants Denken (Derrida 2003: 6). Ich argumentiere also, dass die Arbeit der Spur einer Figuration widersteht. Und ich argumentiere, dass es der Impuls des »Menschen« ist, die Spur in ein Zeichen zu verwandeln – und das ist der Debatte um die Figur und ihre Verbuchstäblichung noch vorgelagert. Derrida mimt seine »menschliche Allzumenschlichkeit«, indem er den letzten Vorstoß in Richtung einer Neuen Aufklärung macht, um den Geltungsbereich der Vernunft zu erweitern, die »Ehre der Vernunft zu retten«, auch wenn er im posthum veröffentlichten Das Tier, das ich also bin den Menschen selbst im »animot« verortet (Derrida 2010: 68ff.). De Mans eigene Schiller-Lektüre in Aesthetic Ideology20 stellt insbesondere heraus, dass Schiller das Steckenbleiben der Philosophie angesichts der transzendentalen Deduktion in eine chiastische Reversibilität verkehrt. Das liegt daran, dass Schiller aus Kants katachrestischem Gebrauch der Psychologie eine Referenz auf die psychologische Entwicklung macht. Aus diesen nicht 20

Der Aufsatz »Kant and Schiller« ist nicht Teil des unter dem Titel Die Ideologie des Ästhetischen auf Deutsch erschienenen Sammelbandes. Wir übersetzen daher de Mans englisches Original selbst.

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intendierten »Fehlern« (Schiller glaubte, Kant richtig zu lesen und ihn sogar praktisch weiterzudenken) wurde schließlich eine Philosophie des Ausgleichs. De Man liest Kant als einen Philosophen, für den das Philosophieren vom Philosophieren bis zur letzten Instanz bedroht war. Er liest Schiller als jemanden, der Kants kritische Schärfe domestizierte, um das, was er unter dem »Ästhetischen« verstand, zu revalorisieren. (Kants eigene Verwendung des »Ästhetischen« ist insgesamt komplexer, eine Art ambivalenter Zufluchtsort, schön eingefangen im Ausdruck »Wahrheit« [ein reizender Name], den er gebraucht, um die Insel zu benennen, innerhalb derer sich jener See befindet, zu dem der Philosoph reist, ganz wie Odysseus unter den Sirenen (Kant 1971: 267 [B295]). […] Ich argumentiere, dass de Man die hartnäckige Domestizierung letztlich als einen Weg ausweist, das Aporetische zu bewältigen. Und natürlich gehe ich selbst so weit, vorzuschlagen, dass für Kant das Philosophieren genau deshalb prekär ist, weil dieses auch eine der Natur des vernünftigen Wesens einprogrammierte Domestizierung ist.21 De Man beschreibt das als den Moment, in dem Kants System unter seinem eigenen kritischen Gewicht zusammenbricht (de Man 1996: 134). Obwohl de Man anerkennt, dass der Spieltrieb die Idee des Ausgleichs im Interesse der Erziehung erschwert, wirft er Schiller vor, immer von einer Kontinuität zwischen Sprache und »Mensch« auszugehen, die Kants gesamtes System implizit nicht voraussetzen konnte. Wenn Kants System immer kurz davorsteht, unter seinem eigenen kritischen Gewicht zusammenzubrechen, bewegt sich Schiller reibungslos von Polarität zu Polarität. Das heutige Lob der Geisteswissenschaften darf nicht den Fehler machen, sich auf dieses Nischen-Marketing einzulassen. Kant arbeitet mit Gesetzen, Schiller mit Trieben. […] Das dynamische Erhabene Kants inszeniert die Grenzen der Einbildungskraft. Schiller macht aus dem Unterschied zwischen dem mathematischen und dem dynamischen Erhabenen einen zwischen theoretischem und praktischem Erhabenen und schätzt die eigene Umschrift höher ein als das, was er als die Schwierigkeiten Kants wahrnimmt. Wie üblich ist die Einbildungskraft bei Kant ein Name für ein strukturelles Moment mit programmierten Funktionen in einer Architektonik der Vermögen, während sie bei Schiller eine phänomenale menschliche Fähigkeit ist. Deshalb sind ihre jeweiligen Erwartungen an die Vorstellungskraft unterschiedlich. Schiller übersieht die Hierarchie, der zufolge bei Kant der Verstand die Einbildungskraft übertrumpft, und er hat einen ganz und gar 21

David Golumbia kommt in The Cultural Logic of Computation meinem eigenen Verständnis sehr nahe (Golumbia 2009).

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un-Kantischen Freiheitsbegriff. (Für Kant ist die Berufung auf die Freiheit mit der programmierten Maschinenhaftigkeit der praktischen Vernunft verzahnt. De Man fasst das folgendermaßen zusammen: »Schiller erscheint als die Ideologie der kritischen Philosophie Kants« [ebd.: 147]). […] Die Verschiebung in Richtung eines solchen intendierten Fehlers wird am Ende dieses Textes vollzogen. Wir werden versuchen, das Schiller’sche Gleichgewicht mittels Batesons Betrachtung des Spiels in einen double bind hinein zu erschüttern, und wir werden auf den Miss(ge)brauch der Aufklärung zu sprechen kommen. […] Ich werde mich jetzt dem widerspruchsvollen Schwenk des double bind zuwenden – und sagen, dass dieses beste Lehrstück europäischer Philosophie, das nicht zufällig mit dem Gebrauch der Differenz (zwischen brauchen und herstellen) im Herzen des Menschen durch das Kapital einhergeht, heute nicht erinnert werden kann: dieses kluge Werk, rettende Werk, geht leider, wenn man seine Grenzen kennt, mit einem auto-immunen Wissen einher. Das Internet bleibt parasitär im Verhältnis zur menschlichen Vorstellungskraft, die dann ein Faustisches Versprechen in ihm erkennt. Von unserem linken Hochsitz aus erscheint es wunderbar, wenn Ökolog:innen heute im Kampf gegen Monokulturen die ganze Welt im Interesse der Biodiversität zusammenrufen. Der Kapitalismus eignet sich die organische Welt an, aber das ist vielleicht ein gerechter Kampf? Wenn man die Metapher von den Monokulturen des Geistes ihr ganzes Potential auf dem Gebiet sprachlicher Diversität entfalten lässt, sehen wir, wie die Situation zusammenbricht. Es gibt keine adäquate analogische Entsprechung zwischen dem Geist und der sinnlich wahrnehmbaren Welt. Die natürliche oder sinnlich wahrnehmbare Welt bedarf der Hilfe des Kapital-Gebrauchs – seiner Einförmigkeit – um Zugang zu den Köpfen zu bekommen. Die Köpfe müssen sich, um für den richtigen sozialen Gebrauch des Kapitals – und damit den ethischen Gebrauch der Erden – zugänglich zu werden, lossagen von der Universalisierung des Kapitals – und sich bemühen um Singularität, der Textur – so dass die Strukturen weiter effizient arbeiten können. Sprachliche Vielfalt kann das Globale nur zügeln. Death of a Discipline [Tod einer Disziplin] war ein zu optimistisches Buch (Spivak 2003). Unter dem heftigen Druck, »global« zu sein, sind die bestenfalls »vergleichenden« Geisteswissenschaften und die qualitativen Sozialwissenschaften keine bewegende epistemologische Kraft mehr. Sie werden immer mehr eine nur noch periphere soziale Funktion ausfüllen, wie die Oper. […]

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In diesem Klima kann ein Plädoyer für eine ästhetische Erziehung nur mehr auf ein Koterie-Publikum hoffen – Operngäste, die sich als »populäre Kulturalist:innen« ausgeben und auf eine unmögliche gerechte Welt hoffen, mit dem verzweifelten Engagement der Rhetorik des »Kommenden« – ein Eingeständnis des Aporetischen, des double bind. Muskulöse Marxist:innen knicken vor der unternehmerisch finanzierten Feudalität der digital zuversichtlichen Alterglobalist:innen ein. Tiefgehendes Sprachenlernen und unbedingte Ethik sind in dieser unermesslich mächtigen, schönen neuen Weltmaschine so unzeitgemäß, dass Leute wie wir dieses Plädoyer nur machen, weil wir nicht anders können, weil die uns gemeine Obsession fordert, dass irgendeine Form von Hoffnung, jene epistemologische Revolution herbeizuführen, die notwendig wäre, um den Kapitalismus in gegenderte soziale Gerechtigkeit zu verwandeln, bei aller Hoffnungslosigkeit aufrechterhalten werden muss. […] Kant selbst vertraut darauf, dass Handel Frieden bringt – ohne anzumerken, dass die Abwesenheit von Gewalt im Interesse des Handels als Kriterium für eine gerechten Gesellschaft nicht adäquat ist. Marx’ Fehler war es, zu glauben, das Eigeninteresse der Arbeiter:innen würde abnehmen, sobald das Geheimnis sozialer Produktivität enthüllt sei. Andere glaubten, die Lösung wäre eine ethische Unterweisung. Es war das Genie Gramscis, zu begreifen, dass es darum ging, Marx zu dekonstruieren, indem man den Hebel bei der dritten These ansetzt und das Projekt epistemologisiert: die neue Intellektuelle instrumentalisieren, um ein »revolutionäres« Subjekt als proletarisch-subalterne Intellektuelle zu produzieren, bis dahin ausnahmslos im unmittelbar auf die Revolutionen folgenden Avantgardismus verloren. Eine interesselose Episteme kann die Unterbrechung des Ethischen ermöglichen und ihr widerstehen. Studiert den Humanismus, sagte Gramsci, ungefähr so, wie manche von uns sagen, tiefgehendes Sprachenlernen und literarische Textualität trainieren den ethischen Reflex. Meanwhile, back at the ranch,22 hatte Schiller Kants Mut neutralisiert, indem er aus einem Begründungsfehler Reversibilität machte. Alle Lösungen des »Dazwischen« bedienen sich dieses Schachzugs. Paul de Man bemerkte, dass

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Anmerkung des Übersetzers: Meanwhile, back at the ranch: Eine amerikanische Redewendung, die ursprünglich auf die Zwischentitel in Stummfilmen zurückgeht, und von einer Szene zur nächsten überleitete. War Ranch hier noch buchstäblich zu verstehen, wurde der Ausdruck bald zu einer feststehenden Redewendung und zunehmend ironisch und satirisch gebraucht.

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der Spieltrieb, insofern er Teil der menschlichen Programmierung ist, mit Kants Szenario des »nicht nicht philosophieren können« zusammenhängt, wenn auch nur entfernt. An diesem Punkt kann man den Hebel ansetzen, um Schiller zu dekonstruieren und von der Reversibilität zum double bind zu kommen. In der Tat kann Kants Philosophieren als intendierter Fehler, wobei Intention ein Trieb ist, auch als das Szenario eines double bind gelesen werden – zwischen Philosophie als Wahrheit und Lüge, Psychologie als Figur oder Buchstabe. (»Nichts als eine Figur«, sagt de Man. »Nichts als«, Legitimation durch Umkehrung – ein double bind). All das fügt dem Beginn dieser Einführung wenig hinzu. Lassen Sie uns das Argument vorantreiben, indem wir einen weiteren Punkt dieses Beginns hervorholen, nämlich dass Schillers Spieltrieb etwas mit Batesons »Spiel« zu tun hat. Er schützt das Subjekt vor dem double bind als Schizophrenie. Das Ende dieser Einführung hat uns von der optimistischen postkolonialen Aufgabe, die europäische Aufklärung zu miss(ge)brauchen, zur trostlosen Landschaft der gegenwärtigen Euro-U.S. Universität geführt, wo sich der Gelehrte, das gelungene Subjekt der Aufklärung, als epistemologisch herausgeforderter Marktanalyst erweist. Die Aufklärung krankt bei sich zuhause. Es ist an der Zeit, eine Botschaft der 1970er Jahre neu zu codieren und zu reterritorialisieren, einer Zeit, in der die Globalisierung in ihrer heutigen Form ihren Anfang nahm. Das Euro-U.S. Subjekt muss mit der Schizophrenie als Figur spielen.23 In unse23

Ich entlehne die Bedeutung der Figur von einem bestimmten Gebrauch Derridas. Bei seiner Diskussion von Hegel kommt Hegel an einem bestimmten Punkt auf das Literarische zu sprechen: das Figurative. Derrida macht aus, dass die Familie eine figurative Arbeit leistet, die einen double bind in Hegel unterdrücken soll: »Dieses bestimmte Moment der Familie, diese Endlichkeit figuriert«, und jetzt Derridas Klammern, »(ich lasse für den Augenblick diesem Wort eine sehr große Offenheit) die Totalität des Systems« (Derrida 2006: 26). Für Derrida trägt der double bind bei Hegel den Namen »Jude«, wie für mich der double bind des (universellen Euro-U.S.) Subjekts der/die Schizophrene ist, besonders in der Globalisierung. Es ist interessant, dass Derrida die Figur in Begriffen reproduktiver Heteronormativität (RHN) kalkuliert: »Wird man überstürzt behaupten, daß die endliche Familie ein metaphorisches Modell oder eine bequeme Figuration für die Sprache der philosophischen Darstellung liefert? Eine pädagogische Erleichterung? Eine gute Weise, zum Schüler über abstrakte Dinge zu sprechen, indem man mit der Vertrautheit (familiarity) familialer Bedeutungen spielt? Allerdings muß man erst einmal wissen, was die absolute Vertrautheit einer Bedeutung ist« (ebd.). Hier gibt es RHN; wie kommt es, dass alle darum wissen? Was ist die absolute Vertrauthaut (familiarity) von etwas? »Ob sich dies ohne die Familie denken und benennen läßt. Und dann sicherstellen läßt, daß die fragliche endliche Familie nicht bereits

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ren schrumpfenden Isolationszellen müssen wir die vergessene und obligatorisch ignorierte Bipolarität der sozialen Produktivität und der sozialen Zerstörungskraft des Kapitals und des Kapitalismus ergründen, indem wir die Subalternen der Welt erreichen, an Orten, wo sie sprechen, unerhört, durch tiefgehendes Sprachenlernen, qualitative Sozialwissenschaften, auf eine unbedingte Ethik gerichtetes Philosophieren. Hinter jedem »ethischen« Gebrauch des Internets steht »gute« Bildung – familiär, kulturell, institutionell – in unserem Sinne »ästhetisch«. Ohne diese voreingestellte gute Bildung sind Immigrant:innenliteraturen und -bewegungen als Ziel, Sino-Arabisch-Indische zivilisatorische Fantasien über ein Goldenes Zeitalter als Alternative, oder die Träume von einer digitalen Demokratie, oder die Feudalität ohne Feudalismus der Weltsozialforen, allesamt nur eigennützige Sackgassen. Die Angst vor dieser Bipolarität bringt zwei scheinbar gegensätzliche Tendenzen hervor: das Lob des Imperiums und das der der Alterglobalisierung, wobei beide einige Gesinnungen teilen. Wenn manche unter uns die ermöglichende Verletzung unserer kolonialen Vergangenheit miss-(ge)brauchen, um miteinander ins Gespräch zu kommen, anstatt dass jede identitäre Gruppe in ihrer eigenen Enklave verharrt, wären wir vielleicht in der Lage, bei der Globalisierung eine Wende zu schaffen, dabei aber auch die unvermeidbare Uniformierung der Globalisierung mit sprachlicher Vielfalt zu ergänzen. Aber solche Hoffnung ist unzeitgemäß; besser ist Zweifel. Beim Unterrichten: eine ästhetische Erziehung; Hoffnung bei Hoffnungslosigkeit, das Idiom des Seminarraums. […] Ich würde sagen, wir müssen wissen, welchen Fehler wir bei einem bestimmten Text machen sollen, und wir müssen auch wissen, wie wir unseren Fehler als denjenigen, der uns zu leben erlaubt, verteidigen können. Ich gehe davon aus, dass der Eingang eines Textes in meinen Zugriff gewiss ein Fehlgriff ist. Nähern wir uns den Subalternen, können wir nur durch Fehler lernen, falls diese entfernte Möglichkeit eintrifft. Wenden wir uns jetzt Gramscis »technisch-wissenschaftlichem Wissen« zu, das »der mathematischen Abstraktion

(déjà) unendlich ist, in welchem Fall das, was die vorgebliche Metapher zu figurieren käme, bereits (déjà) in der Metapher wäre« (ebd.). Was die vorgebliche Metapher zu figurieren käme, wäre bereits in der Metapher. Streng analog dazu, aber ohne zu vergessen, dass alle Analogien auch und notwendigerweise letztlich falsch sind, sage ich daher, dass das, was die vorgebliche Metapher (des universellen Euro-U.S. Subjekts – als Metapher uneingestanden, für wahr gehalten) zu figurieren käme (Schizophrenie als radikaler Verlust des Subjekts) bereits in der Metapher ist.

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überlegen« ist. Dieses Wissen und diese Abstraktion können als das Geheimnis von Marx’ Botschaft an die Arbeiter verstanden werden – Pflichtstunde für jede Anführer:innen, die mit Organisieren in den Fabriken zu tun hat, wie Gramsci einer war, und oft übersehen von denen, die nur mit Parteiarbeit oder akademischen Textdebatten zu tun haben. Es ist der »Springpunkt«24 für das Verständnis politischer Ökonomie, die Homöopathie oder der Medizin/GiftCharakter der Quantifizierung der Arbeit (»abstrakter Durchschnitt« bei Marx [Marx 1979: 56f.]). […] Perry Anderson hat beklagt, dass der Poststrukturalismus aufkommen konnte, weil Marx das revolutionäre Subjekt nicht theoretisiert hat (Anderson 1984). Auf der anderen Seite ist das ganze EntfremdungsVerdinglichungslager implizit davon ausgegangen, dass Marx zumindest die Möglichkeit eines freien Subjekts theoretisiert habe, und hat seine Kritik des Kapitalismus als eine Kritik der Quantifizierung (abstrakter Durchschnitt) formuliert, etwa als Gegensatz von toter und lebendiger Arbeit.25 Was Marx tatsächlich nicht theoretisiert hat, war genaugenommen das (post/para)revolutionäre Subjekt. Warum sollten die Agent:innen des »Sozialen« als Quantifizierung, genutzt für die Handlungsfreiheit der Intention vom Kapitalismus, ihre befreite Intention dem Aufbau einer Wohlfahrtsgesellschaft widmen, wobei das »Soziale« von Marx und Marxist:innen in einem allgemein humanistischen Sinne verstanden wird? (Der »Sozius« von Deleuze und Guattari findet seine Allegorie des Lesens in der Psychiatrie und sieht sich selbst als eine andere Art von Korrektiv, das hier, obwohl wichtig, nicht relevant ist [Deleuze/Guattari 1992]). Hier das Spiel des Wortes »sozial« – einerseits die wild ursprünglichen Adjektive gesellschaftlich26 oder vergesellschaftet 27 im Sinne einer Vereinigung, die auf der Quantifizierung von Arbeit als pharmakon gründet, andererseits das unscharfe Nomen, bestenfalls durch einen tiefen Hintergrund in Theorien von Anthropologen wie Lewis Morgan konzeptualisiert (Morgan 1965). Die Proletarier:innen müssen nur im ersteren Sinn geschult werden. Hier kommt Gramsci ins Spiel. Er weiß, dass die mathematisch, technisch-wissenschaftliche Lehre alleine nicht ausreicht. Der neue, instrumentalisierte Intellektuelle muss mehr tun. Mit seiner Intelligenz, Erfahrung und erzwungenen Muße kam Gramsci zur Einsicht, dass es Marx gelungen war,

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Deutsch im Original. Die Namen Harry Braverman (Braverman 1974) und Georg Lukács (Lukács 1967) müssen hier stellvertretend für eine sehr viel längere Tradition einstehen. Deutsch im Original. Deutsch im Original.

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das Soziale als pharmakon zu denken, weil er selbst das Soziale durch seine eigene humanistische Erziehung als einvernehmliche Wohlfahrt des in Klassen differenzierten Kollektivs verstand. Daher sein Drängen, dass die Proletarier:innen (und die Subalternen) Subjekt einer humanistischen Bildung werden müssen.28 In diesem Sinne muss alle implizite Unterstützung der »progressiven Bourgeoisie« (Lenins gefeierte Wendung für die historischen Alliierten der revolutionären Avantgarde) – kurz, das Venn-Diagramm von Hegemonie und Staat – als pharmakon verstanden werden.29 […] Gramsci lag richtig damit, das Projekt epistemologisch zu denken. Wir müssen der Unterbrechung des Ethischen aufwarten. Es kann nicht direkt Teil eines Planes sein. […] Lassen Sie mich mit Gender zum Schluss kommen, schließlich ist die reproduktive Heteronormativität jenes Weltding, mit dem wir den Raum zwischen Herstellen und Bedürfnis abstecken, schon lange bevor aus dieser Bruchstelle heraus der Kapitalismus entstanden ist. Es ist weder ein Raum der Vernunft noch der Unvernunft, ganz und gar irreduzibel. Rufen wir uns Ödipus’ Klage ins Gedächtnis: »Oh Heiraten, Heiraten, Ihr gebt uns in die Natur, und bringt uns wieder zurück, kehrt den Samen um, und indiziert Väter, Brüder, Kinder, Verwandtschafts-Blut vermischt, Bräute, Frauen, Mütter, ein schändliches Ding zu wissen unter den Werken des Menschen«.30 Wären wir bloß Tiere gewesen, ohne die Abstraktion der Verwandtschaftsverhältnisse als sekundäre Bearbeitung, hätte es keine Sünde gegeben. Gender ist unser erstes Instrument der Abstraktion. Sie bekommen einen Eindruck davon, wenn ich eine kleine Arbeitsdefinition von Kultur mit Ihnen teile, die mein Essay Culture: Situating Feminism [»Kultur: Den Feminismus situieren«] ausführt. Stellen wir uns Kultur als ein Paket weitgehend uneingestandener Annahmen vor, von denen eine lose definierte Gruppe von Menschen mehr oder weniger ausgeht und die Verhandlungen zwischen dem Sakralen und dem Profanen und zwischen den 28 29 30

Ich habe in Fußnote 14 auf Derridas Dilemma bezüglich des Menschen (human) in den Geisteswissenschaften (humanities) hingewiesen. Siehe Lenin 1965, Lenin 1937 und Buci-Glucksmann 1980. Sophocles, König Ödipus. Meine Übersetzung, so wörtlich wie möglich, um zu zeigen, dass Ödipus der Institution der Heirat vorhält, menschliche Verwandtschaft einzuschreiben. Sophocles inszeniert Ödipus als unfähig, das Gesetz des Vaters zu lernen. Dem Chorus kommt die Aufgabe zu, an ihm ein Exempel zu statuieren. Ödipus eröffnet die Tragödie mit dem Verweis auf eine mythische Kollektivgeburt außerhalb der heterosexuellen Kopulation. Es ist beinahe so, als würde die allgemeine Anwendbarkeit des Gesetzes, das nur ein begründender Fehler sein kann, hier in Frage gestellt.

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Geschlechtern kartieren. Um im Abstrakten zu theoretisieren, brauchen wir eine Differenz. Wie auch immer wir über das Sinnliche und das Intelligible, das Abstrakte und das Konkrete etc. philosophieren, die erste Differenz, die wir materiell wahrnehmen, ist die geschlechtliche Differenz. Sie wird in vielerlei Form und Gestalt unser Werkzeug der Abstraktion. Auf der Ebene jener mehr oder weniger verwurzelten Annahmen und Voraussetzungen, die englischsprachige Menschen seit etwa 200 Jahren »Kultur« nennen, ist Wandel unablässig. Aber während sie sich verändern, werden diese unbewussten Vorannahmen zu Glaubenssystemen, organisierte Annahmen. Rituale fügen sich zusammen, um Glaubenssätzen zu entsprechen, sie zu unterstützen und weiterzuentwickeln. Aber diese Vorannahmen geben uns auch das Nötige an die Hand, um unsere Welt zu verändern, zu erfinden und Neues zu schaffen. Die meisten Menschen glauben, auch oder gerade, wenn sie Kulturrelativist:innen sind, dass Schöpfungskraft und Innovation ihnen eigene kulturelle Geheimnisse sind, während »Andere« ganz von ihren Kulturen determiniert werden. Diese Gewohnheit ist unvermeidbar und kalkuliert mithilfe der geschlechtlichen Differenz, fortgesetzt in etwas, das englischsprachige Feministinnen der letzten 40 Jahre angefangen haben, »Gender« zu nennen. Aber wenn wir danach streben, Weltbürger:innen zu sein, müssen wir nicht nur gegen die Gewohnheit ankämpfen, Schöpfungskraft und Innovation als Geheimnisse unserer eigenen Kultur zu denken, wir müssen auch die Gewohnheit erschüttern, dass unsere Art, Gender zu kalkulieren, die der ganzen Welt sei, und es einfach ignorieren, außer wenn wir ausdrücklich von Frauen oder queeren Menschen sprechen. Als Instrument der Abstraktion verstanden ist Gender eigentlich eine Position ohne Identität (eine Einsicht, die wir den Queer Studies und David Halperin verdanken), die in der kulturellen Praxis dann vergeschlechtlicht werden (Halperin 1995). Wir können die abstrahierende Instrumentalität von Gender daher niemals vollständig denken. […] Im Vorwort zu Allegorien des Lesens beschreibt de Man eine »Wende«, kein »Ende« – eine »Wende von der historischen Definition zur Problematik des Lesens […] der für meine Generation typisch [und] wegen seiner Resultate interessanter als wegen seiner Gründe [ist]« – sorgfältig gewählte Worte, die die »Ursachen« als »uninteressant« tarnen (de Man 1979). Doch der »streitbare Literalismus«, den dieser Lehrer lehrte, veranlasst diese Studentin, jene Ursachen zu erkunden: die Wende einer in den 1920er Jahren in Europa geborenen Generation von der historischen Definition zur Problematik des Lesens, die für sie innerhalb der kanonischen Prinzipien der Literaturgeschichte verblieb.

Gayatri Chakravorty Spivak: Eine ästhetische Erziehung im Zeitalter der Globalisierung

Die Kritiker:innen haben von diesen Worten natürlich Notiz genommen und haben sie mit anderen Stellen, an denen Geschichte und Sprache einander gegenübergestellt werden, in Verbindung gebracht. Niemandem scheint aber aufgefallen zu sein, dass de Man nicht nur von sich selbst, sondern von seiner Generation spricht. Meine Generation wurde geboren, als de Mans Generation mit dem Faschismus flirtete, die uninteressante Ursache jener Wende von der Geschichte zum Lesen. Wir wuchsen außerhalb Europas auf, als dessen Krieg, in dem wir für unsere Herren kämpften, das Ende des territorialen Imperialismus einläutete. Ich bin jetzt ein ganzes Stück älter als de Man zum Zeitpunkt seines Todes war. »Typisch für meine Generation« ist dieses Anliegen, die Träume der Postkolonialität angesichts der Globalisierung zu bewahren. Die Geschichte dieser Parabase ist für mich die nachhaltigste Lektion von Paul de Man: die Lektion von Paul de Man auf einen anderen Schauplatz verschieben. De Man sagt dann noch, die für seine Generation typische Wende von der Geschichte zum Lesen »könnte im Prinzip zu einer Rhetorik des Lesens führen, die über die kanonischen Prinzipien der Literaturgeschichte, die in diesem Buch noch als Ausgangspunkt ihrer eigenen Verschiebung dienen, hinausreicht.«31 »Über etwas hinausreichen«. An einen anderen Ort verschoben. Wie weit hinaus? So weit wie meine eigene Reichweite dieser Tage reicht? Ganz woanders hin? Zumindest bis zu einem Einverständnis, dass eine ästhetische Erziehung notwendigerweise eine meta-berufliche Funktion hat, heute, da die besten Universitäten ihren Studierenden raten, ihre Dissertationen auf den Markt zuzuschneiden? […]

Literatur Anderson, Perry (1984): In the Tracks of Historical Materialism. Chicago: University of Chicago Press. Bateson, Gregory (1981): Ökologie des Geistes. Anthropologische, psychologische, biologische und epistemologische Perspektiven. Frankfurt a.M.: Suhrkamp.

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Eine beinahe identische Aussage findet sich in der Einleitung zu Rhetoric of Romanticism, ohne den Verweis auf die Generationenfrage, dafür aber mit der scharfen Metapher, in »theoretischeren Untersuchungen zu Problemen figurativer Sprache« »Zuflucht zu suchen« (de Man 1984: vii-ix).

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Gayatri Chakravorty Spivak: Eine ästhetische Erziehung im Zeitalter der Globalisierung

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Ästhetische Aufklärung und die Kunst der Dekolonisierung1 Nikita Dhawan

Jeden Tag werden wir mit Bildern des Leids bombardiert, verursacht durch Krieg und politischen Konflikt wie Naturkatastrophen und Umweltzerstörung. Während manche Menschen mit Solidarität und Empathie auf den Schmerz der Anderen (Sontag 2004, Castro Varela 2018) reagieren, beschweren sich viele über »Empathiemüdigkeit«. Die Frage ist ob Kunst uns auf ein politisches und ethisches Handeln vorbereiten kann, indem sie uns provoziert, Gleichgültigkeit und Verantwortungslosigkeit hinter uns zu lassen? Könnten kreative und affirmative künstlerische Praktiken helfen, transnationale Gerechtigkeit und Demokratie zu fördern sowie Menschenrechte zu schützen bzw. durchzusetzen? Oder sollte Kunst autonom anstatt zweckgebunden sein und nicht in den Dienst politischer und ethischer Imperative gestellt werden? Angesichts der historischen Rolle der Kunst in kolonialen und faschistischen Regimen, können wir der Kunst die Aufgabe der Dekolonisierung anvertrauen? Theodor Adornos berühmte Aussage »Nach Ausschwitz ließe sich kein Gedicht mehr schreiben« (1951: 34) zeigt die Desillusionierung mit dem Versprechen von Kunst und Künstler:innen als Transformationsmedium. Es ist ein Kampf mit dem Rätsel: Wie konnte das Land von Bach, Goethe und Kant Hitler, Goebbels, Eichmann und ihresgleichen hervorbringen? Wie konnte eine Gesellschaft, die solch erhabene Kunst, Musik, Poesie, Literatur und Philosophie hervorgebracht hat, solch abscheuliche Verbrechen gegen die Menschlichkeit begehen? Des Weiteren aufgrund der Tatsache, dass Kunst innerhalb kapitalistischer und neokolonialer Strukturen wirkt, bleibt die politische, soziale und wirtschaftliche Rolle der Kunst, künstlerischer Praktiken und Institutionen unter den gegenwärtigen Bedingungen globaler Ungleichheit ambivalent und kontrovers. 1

Übersetzt aus dem Englischen von Anna Millan.

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Mein Text widmet sich der Rolle einer ästhetischen Bildung (Spivak 2012a) im Streben nach einer postimperialen globalen Ethik und Politik. Kann die politische Arbeit der Schulung der Imagination dazu beitragen, imperialistische, rassistische, orientalistische und heteronormative Strukturen und Praktiken abzuschwächen?

Ästhetische Aufklärung Adorno (1997/1970: 1) beginnt seine Ästhetische Theorie mit einer Infragestellung des Existenzrechts der Kunst: »Es ist selbstverständlich, dass nichts bezüglich der Kunst mehr selbstverständlich ist, nicht ihr Innenleben, nicht ihre Beziehung zur Welt, nicht mal ihr Existenzrecht«. Verschiedene Wissenschaftler:innen haben unterschiedliche Antworten auf diese permanente Infragestellung gegeben. Plato argumentiert beispielsweise, dass Kunst gefährlich sei, weil sie die Realität verzerre und Emotionen manipuliere. Platos Republik (2012/375 v. Chr.) verbannt Künstler aus dem Idealstaat, da sie anders als Philosophen Wichtigtuer und verantwortungslose Kritiker seien, welche es verdienen, zensiert zu werden. Andere behaupten, dass Kunst eine ethische Relation zwischen Betrachter:innen und Leidenden fördert und so Mitgefühl hervorrufen kann. Die theatralische Inszenierung des Leidens lädt ein zum Schenken von Mitleid und Empathie und zwar durch die Teilnahme und das Teilen des Leids von anderen, welches Verpflichtung anstatt Schadenfreude oder Hoffnungslosigkeit angesichts des Leidens der Anderen fördert. Anstatt sich hilflos oder überwältigt von der enormen Tragweite eines schmerzhaften Spektakels zu fühlen (Sontag 2004), können ästhetische Praktiken Gefühle für progressive politische und ethische Ziele mobilisieren. Aristoteles reflektiert beispielsweise in seiner Poetik (1997/335 v. Chr.) über die reinigende Kraft der Tragödie und behauptet im Gegensatz zu Plato dass eine perfekte Tragödie Emotionen wie Furcht und Mitleid im Zuschauer:innen hervorruft, die zu einer Katharsis führen. Er argumentiert des Weiteren, dass eine Katharsis nicht nur reinigend ist, sondern ebenfalls Kunst und Ethik miteinander in Einklang bringt und gleichzeitig Wissen produziert. Im Gegensatz dazu lehnen Stoiker wie Seneca (2012) Mitleid ab und favorisieren stattdessen Apathie, das Freisein von allen Affekten. Aufgrund der Tatsache, dass Emotionen manipuliert werden können, kann es dazu kommen, dass Kunst wankelmütig und unberechenbar in ihren Konsequenzen sein kann, weshalb die Stoiker den Zustand

Nikita Dhawan: Ästhetische Aufklärung und die Kunst der Dekolonisierung

der Emotionslosigkeit als angemessene Grundlage für eine ethische Praktik empfehlen. Die historische Rolle der Kunst in faschistischen und kolonialen Regimen scheint diesen Verdacht gegenüber Ästhetik und Gefühlen zu bestätigen. Das Versprechen, dass die Ästhetik eine zentrale Rolle in der Konstitution mündiger und aufgeklärter Bürger:innen spielen könne, scheint unhaltbar angesichts des Scheiterns des eurozentrischen zivilisatorischen Ideals der Bildung im Kontext des europäischen Kolonialismus und Faschismus. Was ist die politische, soziale und wirtschaftliche Rolle der Kunst, künstlerischer Praktiken und Kunstinstitutionen unter den gegenwärtigen Bedingungen globaler Ungleichheit?«, könnte wie folgt argumentiert werden: im Gegensatz zu positivistischen Behauptungen – dass Tortendiagramme und Statistiken effiziente Mittel zur Darstellung von Informationen über Armut oder Krieg und zur Steigerung des Bewusstseins für globale Problemen seien? Könnten eher radikale und militante ästhetische Praktiken angemessenere Mittel sein, uns als politische und ethische Subjekte zu konstituieren, indem sie uns aus unserer Gleichgültigkeit und Verantwortungslosigkeit herausbringen. Kunst wird als besonders geeignet gesehen, das Nicht-Vertraute vertraut zu machen. Noch wichtiger: durch ein »produktives Ungeschehenmachen« (productive undoing, Spivak 2012a: 1) der Undurchsichtigkeit des Offensichtlichen und des Gegebenen kann Kunst das Vertraute fremd machen (Spivak 2012a: 116). Trotzdem bleibt die Frage, ob eine radikale Politik der Repräsentation, im Sinne von sowohl Darstellung als auch Vertretung eine postimperiale Politik ermöglichen kann? Kann Kunst neue politische Subjektivitäten herstellen und uns über ein auf Checklisten basierendes Konzept von Gerechtigkeit und Demokratie hinausbringen? Können Künstler:innen als Trägerschicht fungieren indem sie Dekolonisierung, durch ihr Verfolgen antirassistischer und anti-imperialistischer künstlerischer Praktiken, ermöglichen? Für Gayatri Chakravorty Spivak bleibt der Prozess der Dekolonisierung unvollendet ohne eine Desubalternisierung, das heißt die Transformation der Subalternen zu Staatsbürger:innen. Man würde meinen, dass dies durch wirtschaftliche Unabhängigkeit, soziales Empowerment und die Übertragung des politischen Stimmrechts der subalternen Klassen erreicht werden kann. Obwohl nach Spivak alle diese Aspekte notwendig sind, sind sie nicht ausreichend für eine Aufhebung der Subalternität und müssen daher supplementiert werden durch eine ästhetische Bildung, welche die »Art und Weise, in der Wissensobjekte konstruiert werden, transformiert, und vielleicht sogar die Begehren des Subjekts verändert« (2012a: 41). Spivak bietet

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keinen bestimmten an politischen Handlungsvorgaben orientierten Plan für die Förderung der Kunst und künstlerischer Bildung an und hat auch kein Interesse an einer Bereitstellung von Standards für Geschmacksurteile. Stattdessen betont sie den kritischen Wert einer ästhetischen Bildung, nämlich die Praktik des Lehrens und Lernens, welches die Vorstellungskraft als zentralen Aspekt der Aushandlung des Verhältnisses zwischen Kunst, Politik und Ethik schult. Spivak argumentiert, dass eine ästhetische Bildung über die Vermittlung von Informationen und Fähigkeiten hinausgeht und sich stattdessen auf »die Gewohnheiten des Ethischen« (2012a: 9) bezieht, indem sie »Glauben auf das Terrain der Imagination« verschiebt (2012a: 10). Sie untersucht die Umformung der Imagination als unverzichtbaren Aspekt der Dekolonisierung, welche »das produktive Ungeschehenmachen eines weiteren Erbes der europäischen Aufklärung – der Ästhetik« (2012a: 1) beinhaltet. In ihrer Auslegung westlicher Denker:innen ist ihr Versuch eine »Sabotage Schillers« (2012a: 2), indem sie seine Überlegungen zur Ästhetik mit Absicht falsch liest, um zum Projekt der Desubalternisierung und folglich der Dekolonisierung beizutragen. Bevor ich Spivaks Position weiter darlege, werde ich nun kurz die Autoren, auf die sie sich bezieht, wiedergeben. Innerhalb des westlichen philosophischen Denkens fokussiert Kants (1987/1790) einflussreiche Position die Verbindung zwischen menschlicher Erkenntnis und ästhetischen Urteilen. Nach Kant produziert eine ästhetische Erfahrung, im Gegensatz zu einem aus moralischen Handlungen herrührenden sinnlichen Genuss oder sinnlicher Befriedigung, welche beide mit praktischen und materiellen Anliegen verbunden sind, eine desinteressierte Zufriedenheit, die nicht immer mit der Realität verbunden ist oder mit moralischen oder politischen Imperativen beschwert. Für Kant wird ästhetischer Genuss nicht kausal durch ein Kunstwerk verursacht, sondern es ist ein Geisteszustand, der nicht durch (Selbst-)Interesse oder Verlangen erzwungen wird. Trotz der subjektiven Eigenart des Geschmacks, besteht Kant auf einer gemeinsamen Urteilsgrundlage basierend auf unserem gemeinsamen Menschsein. Die Fähigkeit Schönheit zu erfahren ist eine grundsätzliche menschliche Fähigkeit, welche nicht beschränkt ist auf diejenigen mit verfeinerter Sensibilität oder entwickelter Wertschätzung feiner Künste. Dies impliziert, dass ästhetischer Genuss kein außergewöhnlicher Anspruch einiger weniger Menschen ist, welcher im Privaten erfahren wird; stattdessen betont Kant die Rolle der Ästhetik in der Bildung intellektuell aktiver und moralisch verantwortungsvoller Bürger:innen. Die Kluft zwischen Vernunft und Neigung, zwischen Intellekt und Willen wird überwunden

Nikita Dhawan: Ästhetische Aufklärung und die Kunst der Dekolonisierung

durch eine »erweiterte Denkungsart«, welcher durch ästhetische Erfahrungen gefördert wird. Als eine Art Hommage an und Antwort auf Kants Kritik der Urteilskraft wurden Schillers Briefe Über die ästhetische Erziehung des Menschen (1795) mit Hinblick auf die Nachwirkungen der Zerstörungen der französischen Revolution geschrieben. In einer Reflexion der Frage nach einer wahren politischen Freiheit erkundet Schiller die Spannung zwischen den gegensätzlichen Kräften des Sinnlichen und des Rationalen. In Antizipation der Gedanken Adornos zum instrumentellen Verstand, skizziert Schiller die Tücken der Überrationalisierung, welche er mit »Barbarei« gleichsetzt und als Gegenmittel eine ästhetische Erziehung durch eine Abstimmung zwischen den Sinnen und dem Denken vorschlägt. Man müsse, »um jenes politische Problem in der Erfahrung zu lösen, durch das ästhetische den Weg nehmen […], weil es die Schönheit ist, durch welche man zu der Freyheit wandert« (1795)2 . Schiller betont die Verbindung zwischen Schönheit und Freiheit, wonach die Erfahrung der Ersteren für die Letztere unverzichtbar ist und argumentiert, dass eine auf Revolutionen folgende Befreiung scheitern wird ohne eine ästhetische Erziehung, weil Freiheit von Tyrannei ohne einen Sinn für das Schöne sehr schnell in Barbarei umschlagen kann. Das Versäumnis der Aufklärung für Schiller ist, dass der Fokus vorrangig auf der Erziehung des Intellekts ohne eine Kultivierung der Gefühle und Sehnsüchte lag. Seiner Meinung nach können die Sensibilitäten der Personen geformt werden, sodass sie in der Lage sind nach den Prinzipien der Vernunft zu handeln. Es sei unabdingbar, die Imagination auszubilden und den Wunsch zu kultivieren, das Ästhetische mit ethischen Anliegen zu verbinden. Für Schiller kann Fortschritt im politischen Bereich nur durch eine Veredelung des Charakters der Bürger durch das Instrument der Kunst ermöglicht werden. Schönheit ist hier erlösend; ein kultivierter Kunstgeschmack für die Konstitution nobler Bürger unerlässlich. Anstatt lediglich als instrumentelle Funktion, wird Ästhetik als unverzichtbar für die Ausbildung der Fähigkeit von moralischem und politischem Handeln gesehen. Um dies zu ermöglichen, muss die Kunst »die Wirklichkeit verlassen, und sich mit anständiger Kühnheit über das Bedürfniß erheben; denn die Kunst ist eine Tochter der

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http://www.deutschestextarchiv.de/book/view/schiller_erziehung01_1795/?hl=jenes &p=6

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Freiheit, und von der Nothwendigkeit der Geister, nicht von der Nothdurft der Materie will sie ihre Vorschrift empfangen.« (1793)3 Als Geschöpfe, die spielen und erschaffen, fokussiert Schiller die Verbindung zwischen einer Ästhetik und einer spielerischen Einstellung im Menschen, welche beide nicht zweckgebunden aber ebenfalls nicht leichtfertig sind. Das freie Spiel der Fantasie, nämlich der Spieltrieb, prädatiert die Herausbildung der Vernunft in menschlichen Subjekten. Regelgeleitet und trotzdem ohne einen über sich selbst hinausgehenden Zweck, befördert einen die sinnliche Freude, die aus dem Spiel herrührt, in das Reich der Schönheit: »Der Mensch soll mit der Schönheit nur spielen«, schreibt er in Brief XV, »und er soll nur mit der Schönheit spielen« (1795b)4 . Für Schiller befindet sich die Ästhetik nach Kant zwischen der sinnlichen Freude der zweckhaften Zwecklosigkeit des Spiels und dem Gesetz der Vernunft, welches ethischen Handlungen zugrunde liegt (Chesney 2014: 63). Was frei ist, hat keinen über sich selbst hinausgehenden Zweck und für Schiller ist Schönheit die Form, die die Freiheit im Bereich der sinnlichen Erfahrungen annimmt. Die Ästhetik kann den Menschen daher durch Erziehung konsequent darauf vorbereiten, wirklich frei zu sein für ein moralisches Leben. Schillers Ansicht nach wird eine Person zudem rational durch die Ästhetik, indem sie Subjekte darauf vorbereitet eine Wahl zu treffen und ihren Willen auszuüben. Indem Menschen lernen, formale Regeln durch eine Ausbildung der Sinne und der Imagination zu akzeptieren, werden sie befreit. Die Ästhetik vermittelt zwischen der sinnlichen und rationalen Natur des Menschen und gibt uns so Zugang zum Epistemischen (Chesney 2014: 64). Schillers Verschiebung der politischen Befreiung hin zu einem ästhetischen Prozess hat wegen seines Glaubens an Erziehung als emanzipatorische Kraft Kritik auf sich gezogen. Ebenso wurde das dort dominierende eurozentrischer Schönheitsideal beanstandet. Anstatt Schiller abzulehnen, ist Spivaks explizites Ziel die »Sabotage Schillers« (2012a: 2), nicht im Sinne einer Zensur oder eines Boykotts, sondern durch ein Lesen seines Werks gegen den Strich. Spivak kritisiert die universalistischen Aspirationen von Kants und Schillers ästhetischen Theorien, ebenso wie das ahistorische humanistische Modell der ästhetischen Erziehung in ihren Schriften. Sie durchdenkt die Rolle einer ästhetischen Erziehung in Dekolonisierungsprozessen neu, nicht 3 4

https://www.friedrich-schiller-archiv.de/briefe-schillers/an-herzog-v-augustenburg/ schiller-an-den-herzog-v-augustenburg-13-juli-1793/ http://www.deutschestextarchiv.de/book/view/schiller_erziehung02_1795?p=38

Nikita Dhawan: Ästhetische Aufklärung und die Kunst der Dekolonisierung

um Ästhetik in politischen oder ethischen Begriffen zu rechtfertigen, sondern um zu skizzieren, dass die Verfolgung einer befreienden Politik und eines ethischen Lebens ohne eine Förderung der Imagination unmöglich ist. Spivak argumentiert, dass das Training des Intellekts nicht nur aus einer »Programmierung« von Menschen durch eine Erziehung zum universellen Verstand besteht; sondern wie Schiller in seinem Brief von 1793 an seinen Mäzen, den Herzog von Augustenburg, bemerkt »[…] man wird damit anfangen müssen, für die Verfassung Bürger zu erschaffen, ehe man den Bürgern eine Verfassung geben kann » (1793)5 . Wir sollten nicht vergessen, dass sapientia, nämlich Weisheit, ihre Wurzel in sapor, nämlich Geschmack, hat: eine Fähigkeit zum Fühlen, zur Intuition, Sensibilität. Ein weiterer wichtiger Punkt, der zu betonen ist, ist die Diskontinuität zwischen Nützlichkeit und Wert, sodass der Wert der Kunst nicht nur aus ihrem »Gebrauchswert« und ihrer praktischen Funktion besteht; sondern dass sie allein aufgrund des irreduziblen Wesens der ästhetischen Erfahrung und des Genusses bedeutsam ist. Anstelle einer modernistischen rationalen Subjektivität, ist sich Spivak einig mit Schiller, dass eine ästhetische Erziehung unerlässlich ist für die Kultivierung einer Intuition der öffentlichen Sphäre. Dies muss erreicht werden nicht durch die Verkündung eines Rechtskodexes für Ästhetik, sondern durch die Förderung politischer und moralischer Tugenden in der Subjektkonstituierung. Dies allein führe zu einer freien und gerechten Gesellschaft. Dieser Prozess ähnelt für Schiller selbst einem Kunstwerk. Trotzdem bemängelt Spivak, dass Schiller ungewollt Kant »psychologisiert« und »domestiziert«, indem er versucht »den double bind von Geist und Körper zu lösen, indem er suggeriert, dass der Spieltrieb, Kunst als ein Gleichgewichtsakt fungiert, der die Gesellschaft retten wird« (2012a, S. 19f.). Entgegen einer idealisierten Behandlung der Erziehung und der Ästhetik als etwas, was die Welt vor sich selbst retten kann, problematisiert Spivak Schillers Anstrengungen, den double bind aufzulösen. Gleichzeitig weist sie darauf hin, dass »man wissen muss, welchen Fehler man mit einem spezifischen Text machen muss«, da wir »nur durch Fehler lernen können« (2012a: 28). Nach Spivak wäre eine ästhetische Erziehung als ein »Trainieren der Imagination für epistemologische Performanz« (2012a: 122) zu verstehen, damit wir uns wirklich vorstellen können, was wir wissen (ebd.: 112). Anstatt von der

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https://www.friedrich-schiller-archiv.de/briefe-schillers/an-herzog-v-augustenburg/ schiller-an-den-herzog-v-augustenburg-13-juli-1793/

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Annahme eines rationalen aufgeklärten Subjekts mit objektiver und universeller ästhetischer Sensibilität auszugehen, skizziert Spivak gegen Kant die Exklusionen, die mit diesem Verständnis der Ästhetik einhergehen. In ihrer Untersuchung des ambivalenten Verständnisses der Ästhetik in Kants Theorie, fokussiert Spivak die Spannung zwischen Vernunft, Politik und Ethik. Spivak zufolge ist es die Imagination, die zwischen dem Epistemischen, das heißt überlieferten Wissensarten, und dem Epistemologischen, das heißt dem Bildungssystem vermittelt (vgl. Chesney 2014: 62), sodass wir »lernen müssen, der epistemisch-epistemologischen Differenz Gewalt anzutun und uns daran erinnern, dass es das ist, was Bildung ›ist‹«(2012a: 10). Im Zentrum von Spivaks Verständnis einer ästhetischen Erziehung findet sich entsprechend die Fähigkeit, die inneren Widersprüche des double binds zu bewältigen, welche die gegenwärtige Ära der Globalisierung durchziehen. Mit Bezuge auf die Theorien des double binds von Gregory Bateson, die Spivak als »lernen mit widersprüchlichen Instruktionen zu leben« (2012a: 3) beschreibt, untersucht sie, wie diese unmögliche Situation bewältigt werden kann. Während Bateson die Spieltherapie als Mittel mit dem double bind zurechtzukommen empfiehlt, schlägt Spivak eine ästhetische Erziehung vor, um die Subjekte epistemologisch darauf vorzubereiten, der »nervtötenden Uniformität der Globalisierung entgegenzutreten« (2012a: 2). Diese epistemologische Verschiebung impliziert ein erneutes Überdenken dessen, was man weiß und wie man es weiß. Spivaks Ansicht nach kann eine ästhetische Erziehung »die Subjekte lehren zu spielen ohne eine Substitution einer Gewohnheit durch eine andere mithilfe eines pädagogischen Taschenspielertricks« (2012a: 10).

Die Kunst der Dekolonisierung Das Ziel der kolonialen Bildung war die Interpellation einer westlich gebildeten Klasse der Kolonisierten, die als Verbindung zwischen den europäischen Kolonialherren und den kolonisierten Subjekten fungieren sollten. Dies sollte eine Klassenallianz zwischen den Eliten der einheimischen Bevölkerung und der Kolonisatoren etablieren (Sharpe 2014: 512; Spivak 2012a: 105). Das Ziel der englischen Bildung in Indien, wie in den berüchtigten Protokollen zur indischen Bildung von Thomas Babington Macaulay von 1835 skizziert, war es »eine Klasse von Personen zu schaffen, die indisch in Blut und Farbe war, aber englisch im Geschmack, in Meinungen, Moral und Intellekt« (1952/1835: 729). Aus der Kraft der Aufklärung schöpfend, bestand die Inspiration darin, die Suche

Nikita Dhawan: Ästhetische Aufklärung und die Kunst der Dekolonisierung

nach Wahrheit und Vernunft auch in ›unzivilisierten‹ Gesellschaften zu fördern. Gleichzeitig existierten Bedenken, dass der Kontakt mit europäischer Literatur und Dichtung der ›ungezähmten‹ Imagination der Einheimischen Nahrung geben und so ein antikoloniales Sentiment aufstacheln könnte (Sharpe 2014: 512). Wie Gauri Viswanathan aufzeigt, »führte die Tatsache, dass gebildete Inder Goethe im Original lasen, zu viel mehr Besorgnis in britischen Verwaltungskreisen als ihr Lesen der Werke politischer Liberaler wie Locke und Hume, deren Appel an die Vernunft und Verfassungsmäßigkeit anstatt an die Imagination wohl weniger Gefahr für das Entstehen eines vereinten nationalistischen Sentiments bedeutete« (1989: 157). Interessanterweise stellte romantische Dichtung eine Bedrohung dar, die Widerstand und Revolutionen zu inspirieren in der Lage war, während die politische Philosophie versprach, die Einheimischen in die kolonialen Episteme der Moderne einzuführen. Viswanathan bemerkt, dass der englische Bildungsstil anstatt von »modernisierenden« Effekten, die zu einer Überwindung der Kastenpolitik hätten führen können, ironischerweise zu einer Konsolidierung der sozialen Kasten führte (1989: 151).

Neokolonialismus und die Ökonomisierung des Denkens Der koloniale Gestus, die Subjektivitäten der Kolonisierten in den Epistemen der Moderne zu formen, wurde wiederholt in späteren Bildungsansätzen verfolgt, welche das neokoloniale Subjekt produzieren wollten, das nach dem Empfang einer westlichen Bildung zum Projekt der Modernisierung in postkolonialen Gesellschaften und Nationen beitragen würde (Sharpe 2014: 513). Die Ökonomisierung der Universitäten und Hochschulen impliziert eine Instrumentalisierung der Wissenschaft, wobei das Denken eine Ware und Sprache eine Zelebrierung der Ware wird. Einhergehend mit einem Rückgang der Urteilsfähigkeit, wird kritisches Denken als »altmodischer Luxus« oft geradezu abgelehnt. Es wird gegen die Standards von Effizienz und Nützlichkeit gemessen, anstatt sich Möglichkeiten zu überlegen, anders in der Welt zu sein. Wissen wird zu einem Mittel den Status Quo aufrechtzuerhalten, wodurch die kritische und oppositionelle Funktion der Imagination aufgegeben wird, anstatt ihr zu erlauben, eine weite Reichweite zu entwickeln und sich das noch nicht Existierende vorzustellen.

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Um diesen Prozessen entgegenzuwirken, setzt Spivak ihre Hoffnung auf eine ästhetische Erziehung, die »die wiederholte Konstruktion des kolonialen Subjekts« in der Ära der Globalisierung sabotieren kann (2012a: 116). Gegen die utilitaristischen Erfordernisse des globalen Kapitalismus, verändert die Ästhetik für sie wie wir denken, wodurch wir verändern was wir wissen und folglich was wir wollen (Chesney 2014: 61). Mit diesem Ziel im Blick muss wirtschaftliche Freiheit und politischen Emanzipation für subalterne Klassen neu kodiert werden vom Zugang zum Finanzkapital hin zu einer Art von Bildung, die Subalterne als »Problemlöser« produziert anstatt sie als Problem zu sehen, das gelöst werden muss (Spivak 2012a: 135).

Sabotage der Aufklärung Anstatt europäisches Denken aufzugeben, schlägt Spivak eine Sabotage der Aufklärung vor, durch die wir »lernen, die europäische Aufklärung von unten zu benutzen […] was den double bind der postkolonialen und großstädtischen Migrant:innen bezüglich der Aufklärung gut trifft. Wir wollen die Errungenschaften der öffentlichen Sphäre und die Restriktionen der Privatsphäre der Aufklärung; aber wir müssen ebenfalls etwas finden, was sich auf ›unsere eigene Geschichte‹ bezieht, um der Tatsache entgegenzuwirken, dass die Aufklärung durch den Kolonialismus ebenso zu Kolonisierenden wie Kolonisierten kam […]. Dies unterscheidet unsere Bemühungen, von den besten der modernen europäischen Versuche, die europäische Aufklärung kritisch zu verwenden, mit denen wir genug Sympathie haben, um sie zu unterwandern« (2012a: 3f.). Im Gegensatz zur europäischen Kritik an der Aufklärung, die postkoloniale Positionen inspiriert hat, orientieren sich Letztere an den Bemühungen die Aufklärung zu »miss-(ge)brauchen« (ab-use), das heißt »von unten gebrauchen« (2012a: 3). Das ist keine Position der Minderwertigkeit oder Abwertung, sondern eine Position, die den double bind der postkolonialen Welt gegenüber der europäischen Aufklärung verkörpert. Anders als die europäische kritische Tradition, die sich von der Aufklärung und ihrem Erbe zu distanzieren sucht, besteht der postkoloniale Ansatz, wie Spivak erklärt, aus einer »kritischen Intimität«, wobei die Anstrengung darin besteht, sie von innen zu verändern. Spivak warnt des Weiteren davor, dass »Miss-(ge)brauch« (ab-use) ein irreführender Neographismus sein kann, der einfach als »Missbrauch« (abuse) falsch gelesen werden kann. Ein weiterer signifikanter Aspekt der postkolonialen

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Kritik ist der Fokus auf Subjekte, denen das ermöglichende Erbe der Aufklärung vorenthalten worden ist. Spivaks »affirmative Sabotage« (2012a: 4) der Aufklärung versucht nicht sie zu boykottieren oder zu lähmen, sondern die Werkzeuge der Dominanz dazu zu verwenden, ihre Ziele zu unterwandern. Dies würde dem Zweck dienen, diese ermöglichenden Werkzeuge den subalternen Klassen zur Verfügung zu stellen, ihnen die Möglichkeit zu geben intellektuelle Arbeit auszuführen und sie so in die Hegemonie einzufügen (2012a: 436). Damit würde außerdem die Beziehung zwischen der Elite und den (vergeschlechtlichten) Subalternen rekonfiguriert, sodass Letztere nicht mehr einfach Wissensobjekte oder Subjekte im Stil einheimischer Informant:innen (native informants) sind, die auf herablassende Weise für unfähig gehalten werden, epistemologische Leistungen zu erbringen (2012a: 60). Vom »Subjekt der Krise« werden Subalterne in die »Logik der Handlungsfähigkeit« eingeschlossen (2012a: 436). Spivak (2012b) erklärt, dass ihr Ziel als geisteswissenschaftliche Lehrerin ist, »Intuitionen der Demokratie« zu fördern in »Bürger:innen, die subalternisiert worden sind«, indem ihnen der Zugang zum Staat verweigert worden ist. Sie benutzt die »Konzeptmetapher eines Dirigenten einer musikalischen Darbietung, wie in europäischen Musikdarbietungen«, um ihre Arbeit zu beschreiben. Ihre Verantwortung gegenüber dem Text eines Anderen ist wie »die des Dirigenten – als Repräsentant der Rhetorik des Texts der Anderen, sodass wir Leiter:innen ihrer Darbietung werden können durch eine andere Gruppe von Darbietenden, für eine andere sich wandelnde Gruppe, das zuhörende Publikum«. Sie behauptet, dass eine ästhetische Erziehung, die viel mehr ist als ein zweckgebundenes Curriculum oder eine effektive Pädagogik, die Klassenapartheit aufbricht und so Subalterne als Staatsbürger:innen produziert (2012a: 513, FN 23). Für Spivak geht es bei Bildung um die »Veränderung der Einstellungen« der Entrechteten mit dem Ziel demokratische Gewohnheiten und Reflexe zu entwickeln, nicht im Sinne von Formeln wie man ein:e gute:r Bürger:in sein kann, dier gesetzestreu ist, sondern durch die Produktion von Bürger:innen, die des kritischen Denkens mächtig sind. Sie erklärt wie die Vorbereitung subalterner Subjekte für »epistemologische Performanz« aktive Bürger:innen erzeugt, die an einem demokratischen Prozess teilhaben, der über die formalen Prozesse der Wahl einer Gruppe von Repräsentanten hinausgeht. Dies bringt uns zurück zu Spivaks Fokus auf die Bedeutung der Imagination, welche ihrer Meinung nach trainiert werden muss, damit die oder der Subalterne sich als Teil einer abstrakten Entität des Demos sieht, in dem jede:r Bürger:in gleich ist

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ungeachtet von Differenzen hinsichtlich von Klasse, Gender, Sexualität, Alter, Herkunft oder Religion. In einer Demokratie, egal on man der reichste Bürger im Land ist oder die ärmste, hat jede:r eine Stimme, nicht mehr und nicht weniger. Trotz Differenzen ist jede:r formell gleich. Um diese abstrakte Idee der Gleichheit zu verstehen und zu reflektieren, muss man Bildung als mehr verstehen als Messung der Kompetenzerweiterung (impact assessment), effektives Lehren, Werkzeugkisten für Nichtregierungsorganisationen und Wissensmanagement. Spivak warnt, dass den Kindern etwas vorzutragen (talking at children), was ein Großteil der Mainstream-Pädagogik tut, wie »Schreiben auf weichem Zement« (Spivak 2016) ist. Schlechte Bildung zerstört den Geist, wodurch die Subalternen ihres Verweigerungsrechts beraubt werden. Um grundlegende »Denkgewohnheiten neu anzuordnen« (Spivak 2008a: 31) könnte die Ästhetik nach Spivak als wirkmächtiges Werkzeug verwendet werden, um in die »Anordnung von Begehren« (2008a: 50) einzugreifen. Spivak ist sich natürlich bewusst, wie die Ästhetik manipuliert werden kann um dominante Ideologien von Kapitalismus, Nationalismus und Patriarchat zu propagieren, sodass das Erhabene Kants ein ambivalenter Schauplatz der Verhandlung ist. Für Spivak ist Ideologiekritik implizit in einer ästhetischen Erziehung. Sie gibt das Beispiel der Romantik und Schriftsteller:innen wie Shelley, Wordsworth und Coleridge, die danach strebten eine Gesellschaft zu erschaffen, in der »die Imagination, unsere intrinsische Fähigkeit uns selbst von außen zu betrachten (Othering), vielleicht dazu führen kann, dass wir andere Menschen von innen heraus verstehen können, sodass das Projekt [der industriellen Revolution] nicht eine komplette Zerstörung des Gemeinwesens und der Gesellschaft durch eine Selbstbereicherungsmanie nach sich zöge« (2012a: 111f.). Obwohl sie von der Romantik beeinflusst ist, kritisiert Spivak deren Verständnis der kreativen Imagination, welche ihrer Meinung nach in einer individualistischen Ideologie verfangen ist. Im Kontrast dazu elaboriert Spivak, dass eine ästhetische Bildung daraus besteht zu lernen, die Imagination zu benutzen und des Weiteren ein Training in Ethik ist, das einen zu einem »Othering seiner selbst« befähigt, sodass man auf »den Anderen als das selbst« (2012a: 113) Zugriff erhält. Spivak diagnostiziert, dass dieses befähigende Können sich etwas vorzustellen und Gewohnheiten zu organisieren »zutiefst klassenspezifisch« (2012a: 6) ist, sodass eine ästhetische Erziehung die Beziehung zwischen Klassenbildung und Subjektivierung konsolidieren kann statt sie aufzulösen. Eine Erziehung, insbesondere eine ästhetische Erziehung, kann aber Zugang zu Freiheit für subalterne Klassen ermöglichen, nicht durch eine Bewusstseinsänderung sondern durch »geduldige

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epistemologische Zuwendung« (2012a: 519, FN 57), welche die Imagination trainiert, die eigenen Erfahrungen zu abstrahieren, um mit anderen Kontakt herzustellen anstatt selbstgerecht die eigene Überlegenheit und Universalität zu verkünden. Spivaks Verständnis einer ästhetischen Erziehung besteht in der Fähigkeit sich selbst zurückzulassen und in »den Text eines anderen einzutreten » (2012a: 6). Die ästhetische Sphäre ist einzigartig und singulär, da sie heimlich die »langsame Transformation des Geistes ermöglichen kann. Im Guten wie im Schlechten. Als Medizin oder Gift, vielleicht auch ein wenig beides. Lehrer:innen müssen verhandeln und sichtbar machen, was verborgen ist« (2012a: 38). Spivak betont durch ihren Gebrauch des literarischen Begriffs der Metonymie die Fähigkeit, die eigene Position durch die eines anderen zu ersetzen. Auf ähnliche Weise skizziert Spivak die Synekdoche (2012a: 436), die ein Teil des Selbst als Ganzes repräsentiert. Die Mitgliedschaft in einer sozialen Gruppe (etwa Arbeiter:innen, Frauen oder Migrant:innen) wird in einer Art und Weise identifiziert, so dass das diese gewissermaßen als »notwendige Fiktion« ein kollektives Handeln ermöglicht: »als ob« die eigenen Interessen ganz von diesem Kollektiv repräsentiert würden. Die Übereinstimmung zwischen dem Selbst und dem Kollektiv wird ermöglicht durch ästhetisches Training, welches eine Identifizierung und Analyse der Grenzen der eigenen Subjektbildung ermöglicht. Man ist so in der Lage, das Skript anderer Menschen zu lesen, ohne es sich anzueignen oder es abzutun, aber indem man sich vorstellt in andere Welten eingefügt zu werden. Diese reflexive Fähigkeit, die Beziehung zwischen dem Selbst und dem Anderen zu überdenken, indem man den Drang sich selbst als Norm zu nehmen verlernt, verbindet Politik, Ethik und Ästhetik. Eine ästhetische Erziehung bietet so nicht nur die Chance in die Gewohnheiten des imperialen Selbst einzugreifen, sondern sie kann auch am anderen Ende des Spektrums Subalternität auflösen. Um zu den Epistemen einer anderen Person oder Gruppe nicht instrumentell Zugang zu finden, ist ein Training der Imagination unausweichlich. »Radikale Alterität« ist nach Spivak »eine Andersheit, welche die Vernunft braucht, aber nicht begreifen kann« (2012a: 391), die die monotone Reproduktion des Gleichen unterbricht. Um dies verstehbar zu machen, bezieht sie sich auf die Konzeptmetapher des al-haq, die sowohl Recht als auch Verantwortung impliziert, nämlich ein Recht auf Verantwortung, was sie übersetzt als »das Geburtsrecht für andere Menschen sorgen zu können« (2012a: 294), um davor zu warnen, Subalterne auf ihren Status als Empfänger:innen neokolonialer Großzügigkeit zu reduzieren. Sie zeigt auf, dass »der öffentliche Gebrauch der Vernunft – kurz für

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das Social Engineering nach dem Modell der Aufklärung sowohl auf Seiten der Linken als auch in der liberalen kapitalistischen Mitte – nicht Verantwortung und Rechte zusammendenken kann« (Spivak 1999: 58). In ihrer Verwendung einer anderen Epistemologie verfolgt Spivak keine dekoloniale Agenda der Aneignung indigener Epistemologien und Kosmologien als politische Modelle, stattdessen ist ihre Mobilisierung der »nicht-europäischen« arabischen/bengalischen/Urdu/hinduistischen Konzeptmetapher des al-haq um radikale Alterität zu denken, ein Versuch »von unten zu lernen«, von subalternen Welten ohne sie als »optimale Vorgehensweise« oder »kinderleichte Rezepte« für die Dekolonisierung zu präsentieren. Spivak suggeriert, dass »die subalternen Kulturen auf eine solche Weise bekannt werden sollen, dass wir ihre reaktivierte kulturelle Axiomatik mit den Prinzipien der Aufklärung vernähen können« (2004: 191). Allerdings warnt sie vor einer »Reduzierung der Ethik der Alterität zu einer Identitätspolitik«, wobei ihre Anstrengung nicht nur darin bestehe, uns mit der islamischen Theologie bekannt zu machen (die eine ambivalente Meinung zum Konzept des al-haq hat), sondern auch eine die eigene Denkweise verändernde Erziehung zu aktivieren.

Schlussbetrachtungen Eine ästhetische Erziehung beinhaltet die Chance, das Denken durch eine andere Lese- und Hörpolitik zu transformieren, nicht durch Formeln oder Blaupausen, sondern durch intellektuelle Arbeit, die »zu Irrungen bestimmt ist« (2012a: 28), aber trotzdem verfolgt werden muss. Die wichtigste Lektion, die Spivak uns lehrt, ist, dass die Ästhetik die Gewohnheit unsere Gewohnheiten zu vernachlässigen kurzschließt. Lediglich einem anderen Regelwerk zu folgen wird keine Veränderung unserer Gewohnheiten garantieren, vielmehr lehrt uns die Ästhetik uns daran zu erinnern, dass wir Subjekte sind, die durch Gewohnheiten konstituiert worden sind. Es ist verlockend zu vergessen, dass Gewohnheiten der Kern unserer Subjektformation sind. Diese Achtsamkeit fördert die Fähigkeit zum Othering seiner selbst und zur Aneignung einer ästhetischen Sensibilität, die es uns ermöglicht das Lernen zu lernen. Das Ablegen gewohnter Denkformen wird ermöglicht durch eine ästhetische Erziehung, die nicht entweder auf Vernunft oder Selbstinteresse basiert, was neue Möglichkeiten anderer Arten von Begehren und Imagination eröffnet. Spivak erklärt, dass »ohne den Aboriginal zu exotisieren oder zu romantisieren« unsere Bemühungen darauf zielen sollte »unsere Gedanken dafür

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zu öffnen vom Aboriginal heimgesucht zu werden. Wie wollen, dass das Gespenstische den Kalkulus heimsucht« (2012a: 189). Zusammengefasst liegt der Fokus auf der Fähigkeit, die Imagination als »großes internes Instrument des Othering« (Spivak 2003: 13) zu benutzen. In einem Echo Adornos erlaubt die Ästhetik für Spivak einen Zugang zu epistemischen Einsichten, die sich den Natur- und Sozialwissenschaften ebenso wie den Geisteswissenschaften entziehen, und die Fähigkeiten zur Imagination darauf vorbereiten, auf ethische Weise durch die Veränderung unkritischer Geistesgewohnheiten mit dem Anderen in Verbindung zu treten (Chesney 2014: 65). In einer Skizzierung der Grenzen der Vernunft und ihrer epistemischen Reichweite verschiebt Spivak den Fokus auf die Ästhetik als das, was über die Strukturen der Vernunft hinausreichen kann, um uns zu ethischen Subjekten zu machen: »Ethik ist kein Problem des Wissens sondern der Ruf einer Beziehung« (1993: 32). Spivak verdeutlicht, dass die Funktion der Imagination nicht darin besteht, die Kluft zwischen der Repräsentation und dem Repräsentierten zu überwinden; stattdessen weist sie auf die Unzulänglichkeit jeder Repräsentation hin: »Radikale Alterität – das ganz Andere – muss gedacht werden und muss gedacht werden durch die Vorstellung. Als Mensch geboren zu sein bedeutet, als eine Andere und anderen zugewandt geboren zu sein. Um dem Rechnung zu tragen nimmt der Mensch das fast-andere an. Dies ist die Quintessenz des Menschseins als in-einer-ethischen-Relation-sein. Der ethische Imperativ in der Ästhetik besteht darin, die Grenzen des Epistemischen anzuerkennen, indem man der Versuchung widersteht, das Ethische auf die rationalistische Bedeutung von »das Richtige tun« und »den Wunsch gut zu sein« zu reduzieren, weil »es nicht mehr möglich ist gut zu sein, weil es wohl besser ist ignorant zu sein« (2012a: 111). So erklärt Spivak die Aporie des Ethischen: »Bitte achten Sie darauf, dass ich nicht sage, dass Ethik unmöglich ist, sondern dass Ethik die Erfahrung des Unmöglichen ist.« (1994: xxv) Ästhetik ermöglicht »die geistige Gewohnheit« (2012a: 111) diese ethische und epistemische Unmöglichkeit zu erfahren, nicht als Niederlage, sondern als Chance es wieder zu versuchen, wieder zu scheitern, besser zu scheitern. Oder in Spivaks Worten, wenn sie vom zum double bind spricht: »wer gewinnt, verliert« (2012a: 3).

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Literatur Adorno, Theodor (1951): Prisms. Cambridge, MA: MIT Press. Adorno, Theodor (1997/1970): Aesthetic Theory. London: Continuum. Aristotle (1997(335 v. Chr.): Poetics. London: Penguin Classics. Castro Varela, María do Mar (2018): »Das Leiden der Anderen betrachten. Flucht, Solidarität und Postkoloniale Soziale Arbeit«, in: Johanna Bröse et al. (Hg.): Flucht. Wiesbaden: Springer, S. 3–20. Chesney, Duncan McColl (2014): »Aesthetic Education and Sympathetic Imagination«, in: Tamkang Review 45(1), S. 61–66. Kant, Immanuel (1987/1790): Critique of Judgment. Indianapolis: Hackett Publishing. Macaulay, Thomas Babington (1952/1835): »Indian Education: Minute of the 2nd of February 1835«, in: ders.: Prose and Poetry. London: Hart-Davis, S. 719–730. Plato (2012/375 v. Chr.): Republic. New York: Penguin Books. Schiller, Friedrich (1795): »Ueber die ästhetische Erziehung des Menschen in einer Reyhe von Briefen« [1. Teil; 1. bis 9. Brief, 2. Teil; 10. bis 16. Brief], in: Friedrich Schiller (Hg.): Die Horen, Band 1, 1. und 2. Stück, Tübingen: J. G., S. 7–48; 51–94. Seneca, Lucius Annaeus (2012/45 v. Chr.): Anger, Mercy, Revenge (The Complete Works of Lucius Annaeus Seneca). Chicago: University of Chicago Press. Sharpe, Jenny (2014): »What Use Is the Imagination?«, in: PMLA 129(3), S. 512–17. Sontag, Susan (2004): Regarding the Pain of Others. New York: Picador. Spivak, Gayatri Chakravorty (1993): »Echo«, in: New Literary History 24(1), S. 17–43. Spivak, Gayatri Chakravorty (1994): »Translators Preface«, in: Imaginary Maps. London/New York: Routledge, S. xxiii–xxx. Spivak, Gayatri Chakravorty (1999): Imperatives to Re-Imagine the Planet. Wien: Passagen. Spivak, Gayatri Chakravorty (2003): Death of a Discipline. New York: Columbia University Press. Spivak, Gayatri Chakravorty (2004): »Righting Wrongs«, in: The South Atlantic Quarterly 103(2/3), S. 523–581. Spivak, Gayatri Chakravorty, (2008): Other Asias. Malden: Blackwell Publishing. Spivak, Gayatri Chakravorty (2012a): An Aesthetic Education in the Era of Globalization. Cambridge, MA: Harvard UP.

Nikita Dhawan: Ästhetische Aufklärung und die Kunst der Dekolonisierung

Spivak, Gayatri Chakravorty (2012b): »Occupy Education: An Interview with Gayatri Chakravorty Spivak« – Interviewed by Rahul K. Gairola, in: Politics and Culture vom 15.6.2020, online: https://politicsandculture.org/2012/0 9/25/occupy-education-an-interview-with-gayatri-chakravorty-spivak/ (letzter Aufruf 19.01.2023). Spivak, Gayatri Chakravorty (2016): »Critical Intimacy: An Interview with Gayatri Chakravorty Spivak« (Interviewed by Steve Paulson), in: Los Angeles Review of Books, online: https://lareviewofbooks.org/article/critical-intimacy -interview-gayatri-chakravorty-spivak/(letzter Aufruf 19.01.2023). Vishwanathan, Gauri (1989): Masks of Conquest: Literary Study and British Rule in India. New York: Columbia University Press.

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Zum kolonialen double bind der europäischen Ästhetik Ruth Sonderegger

Mit dem ästhetischen double bind gegen habitualisierte Gewohnheiten In dem mit »Introduction« überschriebenen Eröffnungstext in Gayatri Chakravorty Spivaks Buch An Aesthetic Education in the Era of Globalization (Spivak 2012: 1ff.) ist Gregory Batesons Konzept der Doppelbindung – double bind – eine Art roter Faden. Bateson meint mit double bind sich widersprechende inkorporierte Anrufungen und damit letztlich Handlungsanweisungen, die den Adressat:innen nach einigen Wiederholungen als notwendig, ja alternativlos erscheinen und bis zur schizophrenen Lähmung führen können. Lähmende double-bind-Konstellationen sind umso schwerer auflösbar, je weniger sie auf explizit ausformulierten, einander widerstreitenden Anweisungen basieren, sondern beispielsweise auf der Ebene von emotionaler Zuwendung bzw. Bestrafung, räumlicher Anordnungen – etwa einer Eingangstreppe, die zugleich einlädt, aber auch als unüberwindbar erscheint – etc. artikuliert werden. Wiederholt kommuniziert, werden solche Anrufungen zu körperlichen, quasi-notwendigen, wenngleich in sich paradoxal gespaltenen Regeln, die mit Sprache und Reflexion kaum mehr erreicht werden können: nämlich zu verkörperten Gewohnheiten, die Spivak mit Bateson habits nennt. In diesem Sinne spricht Spivak im Anschluss an Jacques Derrida von widersprüchlichen Anrufungen in den Konzepten von Vernunft und Aufklärung. Im Folgenden wende ich mich derjenigen Praxis zu, der Spivak ihrem mehrfach artikulierten Pessimismus zum Trotz noch am ehesten zutraut, in den (fast) unrettbaren und an habitualisierte Gewohnheiten geknüpften Zustand der Welt einzugreifen: nämlich der ästhetischen Erziehung im Anschluss an Kant und Schiller. Dabei gehe ich mit Spivak davon aus, dass die

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Reflexionen und Weiterführungen

ästhetische Erziehung bzw. die Ästhetik-Konzeption, die dieser Erziehung zugrunde liegt, selbst die Struktur eines habituell gewordenen double binds hat. Denn diese propagieren einen inklusiven Universalismus und produzieren scheinbar notwendig fortlaufend Ausschlüsse und sind somit selbst auf eine gewisse Weise schizophren. Aus meiner Sicht stellt sich allerdings nicht nur die von Spivak zurecht aufgeworfene Frage, wie eine schizophrene Ästhetik bzw. ästhetische Erziehung zur Natur gewordenen Gewohnheiten durchbrechen kann, die ihrerseits häufig die Struktur einer Schizophrenie besitzen. Darüber hinaus frage ich mich, ob bzw. in welchem Sinn der Widerspruch in der ästhetischen Erziehung überhaupt ein double bind ist oder nicht vielmehr Ausdruck einer vorurteilsbasierten Denkfaulheit oder eines (mehr oder weniger leicht) korrigierbaren Fehlers. Denn nicht jeder Widerspruch ist ein so notwendiger wie derjenige, der charakteristisch für einen double bind ist. Wenn mich beispielsweise jemand darauf aufmerksam macht, dass ich heute einen Film schlecht finde, den ich vor zwei Jahren genial fand, dann ist es nicht ausgeschlossen, dass ich den Widerspruch leicht ausräumen kann. Etwa, indem ich zugebe, dass mir hinterher Zweifel gekommen sind, dass ich den Film nach mehrmaligem Sehen anders betrachte etc. Ich kann den Widerspruch also beseitigen, was beim paradoxalen double bind gerade nicht der Fall ist. Denn dieser stellt sich schließlich nur dann ein, wenn zwei gleichermaßen notwendige Anrufungen, Auffassungen oder Emotionen ausgehalten werden müssen, die einander aber ausschließen. Mit anderen Worten: Ich möchte eine Frage stellen, die in den Augen Spivaks schon beantwortet ist. Für sie steht fest, dass die ästhetische Erziehung ein unauflösbarer double bind ist; allerdings einer, den man zum Aufbrechen anderer körperlich gewordener und d.h. naturalisierter Gewohnheiten produktiv machen kann. Demgegenüber werde ich auch Antworten auf die Frage suchen, für wen und in welchen Kontexten die ästhetische Erziehung, wie sie – hier folge ich Spivak aufs Wort – bei Kant und Schiller wirkmächtig entworfen wurde, überhaupt ein unauflöslicher double bind ist. Oder noch einmal anders formuliert: (Seit) Wann und für wen ist der paradoxale Doppelcharakter der ästhetischen Erziehung, zugleich Emanzipationsversprechen und gewaltvoller Ausschluss zu sein, ein notwendiger? Ist dieser widersprüchliche, ja paradoxale Doppelcharakter möglicherweise – wie gerade Verteidiger:innen von Kant und Schiller häufig geltend machen – nur die Differenz zwischen einem grundsätzlich richtigen Ansatz und ein paar problematischen Formulierungen bzw. der Spannung zwischen uneingeschränkt emanzipatorischen Theorien und ihrer (leicht korrigierbaren)

Ruth Sonderegger: Zum kolonialen double bind der europäischen Ästhetik

mangelhaften Umsetzung in der Praxis geschuldet, welche man den Erfindern der immer wieder als genial bezeichneten ästhetischen Theorien demnach nicht zur Last legen könnte? Oder ist ihr Ansatz unrettbar problematisch? Und gibt es vielleicht auch Konzepte und Praktiken der Ästhetik bzw. der ästhetischen Erziehung, die nicht im selben Ausmaß oder zumindest nicht auf dieselbe Art und Weise widersprüchlich und trotzdem scheinbar notwendig sind wie die Vorschläge von Kant und Schiller? Dabei bin ich mir der Tatsache bewusst, dass Spivak immer wieder betont, dass man Kant und Schiller zunächst einmal verdrehen, dekonstruieren und affirmativ sabotieren muss, wenn man sie gegen habituell gewordene Gewohnheiten in Stellung bringen will (Spivak 2012: 2).

Gibt es überhaupt einen double bind der Ästhetik und wenn ja, wozwischen spielt er sich ab?1 Zunächst also zur Frage, inwiefern die Ästhetiken von Kant und Schiller bzw. die daraus resultierenden Konzepte der ästhetischen Erziehung überhaupt Phänomene des double binds sind und nicht vielmehr vorurteilsgetriebene Ideologien oder jene uneingeschränkt feierlichen Schauplätze von Freiheit und Emanzipation, als die sie bis heute gehandelt werden. Seit der Entwicklung des Konzepts einer autonomen Kunst im Singular (statt der bis dahin akzeptierten Vielfalt von Künsten mit erlernbaren Regeln) im Europa des 18. Jahrhunderts gilt Kunst immerhin als Inbegriff der Freiheit. Nicht umsonst ist der Autonomiebegriff das Scharnier im sich etablierenden bürgerlichen Subjektverständnis, das sich gegen die Bevormundung durch Kirche, Adel und die als vorurteilsbehaftet geltende Tradition richtet. Zwar gilt für jedes der gesellschaftlichen Teilsysteme (Ökonomie, Politik, Wissenschaft etc.), die sich im 18. Jahrhundert gegeneinander ausdifferenzieren, dass sie (relative) Autonomie beanspruchen. Doch in jenem gesellschaftlichen Subsystem, das sich damals als Kunstfeld zu separieren und institutionalisieren beginnt, ist die Berufung auf die Autonomie besonders massiv. Der Begriff ›Kunst‹ wird geradezu zu einem Synonym der Bezeichnung ›autonome Kunst‹. Dabei meint Autonomie im Kunst-Kontext zugleich die Abgrenzung von anderen gesellschaftlichen Sphären wie auch die Herauslösung der Kunst selbst aus allen vorgegebenen, aber eben auch lernbaren Regeln. 1

In diesem Abschnitt greife ich auf Überlegungen in Sonderegger 2018 zurück.

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Reflexionen und Weiterführungen

Diese Freiheitsvorstellung ist bis heute wirkmächtig. In der Gegenwart wird Kunst als Inbegriff der Befreiung mit großem Nachdruck beispielsweise von Jacques Rancière behauptet. Die emanzipatorische Kraft der autonomen Kunst besteht Rancière zufolge darin, hierarchische Aufteilungen – zwischen den gesellschaftlichen Klassen oder zwischen Kopf- und Handarbeit, Freizeit und Arbeitszeit, Wissen und Unwissen etc. – im Modus des Als-ob zu unterlaufen, also so zu tun, als existierten diese hierarchischen Trennungen gar nicht (vgl. Rancière 2002; 2006). Das führt zwar nicht zwingend zu Selbstermächtigung und herrschaftskritischem politischen Handeln, arbeitet solchen Entwicklungen in den Augen Rancières aber zu. Denn, so das Argument, was vorstellbar geworden ist, ja, für kurze Zeit als Realität beispielsweise auf der Bühne oder im Film erlebt wurde, kann Wirklichkeit werden. Selbst Adorno traut noch am ehesten der autonomen Kunst zu, die Barbarei der Weltgeschichte zu unterbrechen.2 Nun gibt es allerdings zahlreiche Hinweise darauf, dass die von Kant entwickelte Autonomieästhetik weniger Ausdruck von Freiheit(sbestrebungen) ist als vielmehr beschwichtigende Reaktion auf massive Spannungen sowie gewaltsamen Auseinandersetzungen, die sich am Ende des 18. Jahrhunderts verdichten. Immerhin hat zum Zeitpunkt des Erscheinens der Kritik der Urteilskraft (1790) die Französische Revolution gerade stattgefunden und die Haitianische3 kündigt sich an. Die sich in Konstitution befindenden Nationalstaaten Westeuropas schotten sich zunehmend voneinander ab, während die Globalisierung der Warenströme unaufhaltsam intensiviert wird. Und die dem industriellen Kapitalismus geschuldete Arbeits- und damit auch Klassenteilung

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Das zeigt sich schon in der gemeinsam mit Max Horkheimer verfassten Dialektik der Aufklärung (1986), welche die beiden Autoren im kalifornischen Exil zwischen 1941 und 1944 schrieben. Sie vertreten darin u.a. die These, dass das Feld der Kunst historisch gesehen zuletzt, nämlich nach der Erkenntnis und dem praktischen Handeln, von der verdinglichenden Warenlogik erfasst worden ist. Aus dieser Diagnose wiederum ergibt sich für Adorno die lebenslange Suche nach möglichen Alternativen, die er am ehesten in der Kunst findet; m.E. am eindringlichsten in seinen Vorlesungen zur Ästhetik, während die aus dem Nachlass herausgegebenen Ästhetische Theorie (1970) Adornos zu durchaus düstereren Diagnosen neigt (vgl. Sonderegger 2011). Dass die Haitianische Revolution vor allem in der Form der Verleugnung im Westeuropa der Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert allgegenwärtig war, ist immer wieder hervorgehoben worden (vgl. etwa James 1989 und Trouillot 2013). In Heinrich von Kleists Novelle »Verlobung in San Domingo«, die 1811 erschien, steht die Haitianische Revolution allerdings explizit im Zentrum (Kleist 1983: 183ff.).

Ruth Sonderegger: Zum kolonialen double bind der europäischen Ästhetik

schreitet ausgehend von England als der damals prosperierendsten Kolonialmacht in Siebenmeilenstiefeln voran. Nicht umsonst wird der damalige ungezügelte Kapitalismus vor dem Wohlfahrtsstaat häufig mit dem heutigen nach dem Wohlfahrtsstaat verglichen (vgl. Lowe 2015: 196, Anm. 54). Der Kapitalismus wiederum verdankte sich massiv den in den Kolonien von versklavten Arbeiter:innen gewonnenen Rohstoffen und dem daran geknüpften atlantischen Dreieckshandel zwischen Europa, Westafrika und der Karibik bzw. der Ostküste der Amerikas.4 Mit diesem Handel kamen für Europäer:innen neue ästhetische Qualitäten in der Form von Rohstoffen, Lebensmitteln, Gerüchen, Geschmäckern und Menschen nach (West-)Europa und haben nicht zuletzt ästhetische Praktiken und Theorien verändert.5 Die Kaffeeund Teesalons haben als Formen der Öffentlichkeit, in denen stets auch Geschmacksdispute ausgetragen wurden, den Aufstieg des Bürgertums nicht nur stimuliert, sondern durchaus mit-ermöglicht. Hervorzuheben sind in diesem Zusammenhang auch die vielfältigen philosophisch-ästhetischen Diskussionen über die Farbe Schwarz im 18. Jahrhundert. Sander Gilman (1975) hat die Obsession, mit der britische und deutsche Philosophen sich mit der ästhetischen Qualität der Wahrnehmung von Schwarz befasst haben, minutiös rekonstruiert. Immer mehr wurde auch über die Barbarei des europäischen Kolonialismus bekannt – also über die Umstände, die in Europa zu technischem Fortschritt und Reichtum führten, wenngleich nie für alle. Simon Gikandi, der dem Zusammenhang zwischen der Sklaverei und der Entstehung der europäischen Ästhetik als Disziplin im Allgemeinen und der englischen Kultur des guten Geschmacks (taste) im Besonderen seine eindrückliche Studie Slavery and the Culture of Taste gewidmet hat, schreibt über diesen Zusammenhang: »modern slavery presented particular difficulties to European society, because it emerged in an age when legal bondage had disappeared in the cultures that were most active in the slave trade. […]. As a modern institution,

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Wie sehr soziale, politische, aber eben auch geschmacklich-ästhetische Veränderungen im Europa des 18. und 19. Jahrhunderts auf das System des transatlantischen Dreieckhandels zurück zu führen sind, hat Sidney W. Mintz (1985) exemplarisch in Bezug auf die sich zwischen der Karibik und Europa – vor allem England – entfaltende Zuckerindustrie rekonstruiert. Joseph Addison, der als erster Theoretiker des taste gilt, erläutert den ästhetischen Geschmack an der Fähigkeit, verschiedene Teesorten unterscheiden zu können (Addison 1987).

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slavery was anachronistic simply because it seemed to be at odds with the aspirations of the age; however, it provided the economic foundation that enabled modernity« (Gikandi 2011: 32). In einer von globalen Einflüssen, kolonial-kapitalistischer Gewalt, technischem Fortschritt mit unabsehbaren Folgen und revolutionären Veränderungen geprägten Situation war das Bedürfnis nach einem Reich jenseits des Konkurrenz- und Vernichtungskampfs ebenso groß wie der Wunsch des westeuropäischen Bürgertums, eine halbwegs moralische Legitimation für die Ausgrenzung, Abwertung und in Kauf genommene Vernichtung großer Teile der Weltbevölkerung zu finden oder von diesen Phänomenen abzulenken. Für beide Zwecke eignete sich das neue Feld einer sich zunehmend als autonom verstehenden Kunst hervorragend; es musste geradezu auf den Plan treten – wohlgemerkt als Reaktion darauf und nicht als geniale Erfindung großer Geister.6

Zu Kants Grundlegung der westlichen Autonomie-Ästhetik und ihren Abgründen Was nun den ästhetischen Autonomiebegriff betrifft, so hat Kant wohl am markantesten die Weichen neu gestellt und damit gerade auch die sich jenseits jedoch nicht unabhängig von der Kunst vollziehenden gesellschaftlichen Veränderungen mitgetragen. Kant tut das in direkter Nachfolge von Moses Mendelssohn (2006) und dessen Schüler Karl Philipp Moritz (2009). Sie hatten zur Entwicklung der ästhetischen Autonomie der Kunst nicht weniger beigetragen als Kant. Doch Kants universitär abgesicherte Diskursmacht war

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Eine ähnliche Diagnose zum Entstehen der ästhetischen Autonomie im 18. Jahrhundert findet sich bei Elizabeth A. Bohls: »In a society moving irrevocably toward a capitalist market model, where private interests fuel the economy and cooperation is merely coincidental, as in Smith’s ›invisible hand,‹ aesthetic experience thus became a potential location, as it were by default, for a sense of community, or at least for the wishfully projected fantasy of a community, as when Burke or Hume attempts to make a case for a universal standard of taste« (Bohls 1993: 27). Eine Zuspitzung dieser Diagnose in Bezug auf Kant findet sich z.B. bei Mortensen (1977, insbes. Kap. 14), bei Shusterman (1993) in Bezug auf Hume und Kant und bei Lloyd (2019) in Bezug auf Kant und Schiller.

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wesentlich größer als die des immer wieder aufgrund seiner jüdischen Identität angegriffenen Mendelssohn und die von Moritz, der sich (Gebrauchstexte) schreibend seinen Lebensunterhalt verdienen musste. Schon mit der einleitenden Unterscheidung zwischen verschiedenen Urteilstypen im ersten Paragrafen der Kritik der Urteilskraft (1974/1790), die sich zunächst einmal wie terminologische Klärungen ausnehmen, ist die vielleicht entscheidende Zäsur, die Kant in der Entwicklung der Ästhetik setzt, schon eingeführt: die absolute Eigengesetzlichkeit des Ästhetischen. Denn mit der kategorialen Abgrenzung zwischen Erkenntnis, Moral und Ästhetik samt ihren jeweiligen Urteilsformen hat Kant nicht lediglich zwischen Urteilstypen differenziert. Vielmehr hat er damit die These aufgestellt, dass es darüber hinaus keine weiteren Urteilstypen bzw. ihnen korrespondierende Wirklichkeitsbereiche gibt und dass die drei Bereiche jeweils eigenen Logiken folgen – autonomen Logiken eben; nicht umsonst schreibt Kant genau drei sog. Kritiken. Es ist offensichtlich, dass er mit der kategorialen Trennung zwischen drei Urteilspraktiken jener als Inbegriff der Modernität geltenden Ausdifferenzierung gesellschaftlicher Sphären zuarbeitet, deren Gegenteil sogenannte primitive Gesellschaften sind. Pointiert: dass er diese Ausdifferenzierung einfach reproduziert, theoretisch untermauert und ihr – soweit sie in Deutschland auf institutioneller Ebene noch nicht realisiert war – eifrig vorausläuft und damit der Realisierung zuarbeitet. Wie strikt Kant etwa die Trennung zwischen dem Ästhetischen und vor allem dem Moralischen sieht, macht das Beispiel im § 2 der Kritik der Urteilskraft deutlich, das direkt auf die sich gänzlich deskriptiv ausnehmende Unterscheidung zwischen Urteilstypen im § 1 folgt. Kant beginnt hier damit, das erste von insgesamt vier charakteristischen »Momenten« zu erläutern, die er als notwendige Voraussetzungen für bzw. Implikationen des ästhetischen Urteils und der Erfahrung, auf dem dieses Urteil basiert, ansieht: nämlich die Interesselosigkeit ästhetischer Urteile: »Wenn mich jemand fragt, ob ich den Palast, den ich vor mir sehe, schön finde: so mag ich zwar sagen: ich liebe dergleichen Dinge nicht, die bloß für das Angaffen gemacht sind, oder, wie jener irokesische Sachem, ihm gefalle in Paris nichts besser als die Garküchen; ich kann noch überdem auf die Eitelkeit der Großen auf gut Rousseauisch schmälen, welche den Schweiß des Volks auf so entbehrliche Dinge verwenden; […] Man kann mir alles dieses einräumen und gutheißen; nur davon ist jetzt nicht die Rede. Man will nur wissen, ob die bloße Vorstellung des Gegenstandes in mir mit Wohlgefallen

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begleitet sei, so gleichgültig ich auch immer in Ansehung der Existenz des Gegenstandes dieser Vorstellung sein mag« (Kant 1974/1790: 116f.). So deskriptiv – bzw. im transzendentalphilosophischen Sinn re-konstruktiv – das klingt, Kant stellt mit der Interesselosigkeit, welche das ästhetische Urteil zum Ausdruck bringt, eine Forderung auf. Er definiert eine neue Norm des Ästhetischen, indem er den Begriff der ästhetischen Erfahrung so (eng) anlegt, dass fast nichts von dem, was bis dahin als schön gegolten hat, mehr Platz findet. Nicht nur wird das Schöne ins Subjekt verlagert und von allen bestimmbaren Eigenschaften eines Objekts abgetrennt. Das sinnliche AffiziertWerden von einem Gegenstand, das den Begriff des Ästhetischen im Sinn des griechischen aisthesis bis dahin geradezu definiert hat – so auch noch in Kants Kritik der reinen Vernunft (1781) –, wird in der Kritik der Urteilskraft bedingungslos durchgestrichen. Wie das Zitat betont, geht es bei Kant in der Sache ästhetischer Schönheit nur darum, was ein Ich aus seiner Vorstellung eines Gegenstands macht, nicht um ein passives Affiziert-Werden durch einen Gegenstand und erst recht nicht um das Begehren auf einen schönen Gegenstand.7 Es liegt auch auf der Hand, dass die Uninteressiertheit des ästhetischen Verhaltens im Sinn Kants außerordentlich voraussetzungsreich ist und viele de facto vom Bereich des Schönen ausschließt; der Tatsache zum Trotz, dass Kant – formal gesehen – zunächst einmal alle Wesen, die über Einbildungskraft und Verstand verfügen, fähig zu ästhetischen Erfahrungen und Urteilen erklärt, was eine geradezu unheimliche universalistische Öffnung des Bereichs des Schönen darstellt. Denn ohne ökonomische Absicherung etwa, ohne Befriedigung der Grundbedürfnisse und ausreichend Freizeit ist die Haltung der Interesselosigkeit zumindest schwer einzunehmen; auch wenn Ausnahmen sicher vorstellbar sind. Und es fragt sich, ob die Trennung der ästhetischen von anderen Gesichtspunkten so einfach gelingen kann, wie Kant das von Menschen mit Geschmack behauptet bzw. wie vieler Erziehung und Übung es bedarf, um sich diesen Geschmack anzueignen bzw. wem es unter welchen Umständen (leichter) gelingt, sich diese Haltung anzueignen. Im Licht der Tatsache, dass die von Kant postulierte Interesselosigkeit außerordentlich voraussetzungsreich ist, muss man sich schließlich auch fragen, 7

Das ist der Punkt, an dem Kant sich von der englischen Tradition trennt, mit der er das Interesse an der Konzeptualisierung des ästhetischen Geschmacks (taste) teilt. Im Unterschied zu Kant behaupten seine englischen Kollegen von Addison bis Hume einen engen Zusammenhang zwischen dem Schönen und dem Guten. Zur Rolle der ästhetischen Erziehung in der englischen Debatte vgl. Mörsch 2019.

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ob dem von Kant konzipierten Ästhetischen nicht doch Zwecke zukommen; und zwar andere als jene, die es in der Systematik der Kantischen Philosophie ohnehin hat: das Schöne soll hier die Angemessenheit des Verstandes in Bezug auf die Empirie und das Erhabene die Moralität vernünftiger Wesen beweisen. Ich meine Zwecke, wie etwa die Erholung vom ökonomischen Konkurrenzkampf und Ablenkung von unangenehmen ethischen und moralischen Fragen, die sich mit der Intensivierung der Sklaverei und der kapitalistischen Ausbeutung und der damit einhergehenden Pauperisierung großer Teile der ländlichen Bevölkerung immer mehr stellten; kurz das, was später als Eskapismus und Kompensationsfunktion der Kunst bezeichnet wurde. Ein weiterer möglicher Zweck des Ästhetischen, unbezweifelbar aber jedenfalls eine Implikation des Schönen, wie Kant es in der Kritik der Urteilskraft fasst, besteht darin, hellhäutige Menschen von dunkleren zu trennen und die dunkleren den helleren unterzuordnen; und zwar mit dem Ziel, auf genau dieser menschenverachtenden Trennung das Konzept des zivilisierten, ja kosmopolitischen, zunächst einmal nur männlichen Subjekt des Westens aufzubauen, das sich einem Prozess der Erziehung verdankt, die mit den Argumenten der philosophischen Ästhetik verschiedene Wesen in unterschiedlichen Ausmaßen zu- bzw. abgesprochen wird. Die wohl kategorischste Ausschließung der meisten nicht-weißen Menschen aus dem Bereich des Schönen findet sich in einem relativ frühen Text Kants zur Ästhetik, nämlich in seinen Beobachtungen über das Gefühl des Schönen und Erhabenen (Kant 1993/1764).8 Dort heißt es unzweideutig: »Die N*s9 von Afrika haben von der Natur kein Gefühl, welches über das Läppische stiege. Herr Hume fordert (sic !) jedermann auf, ein einziges Beispiel anzuführen, da ein N* Talente bewiesen habe, und behauptet: daß unter 8

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In Teilen der Kant-Forschung wird meist zwar ein großer Unterschied zwischen dem sog. kritischen Kant der drei transzendentalphilosophischen Kritiken und dem vorkritischen gemacht (vgl. dagegen Mills 2005). Gerade in Sachen rassifizierender und sexistischer Ausschlüsse aus dem Reich des reinen ästhetischen Urteils ändert sich Kants Position durch seine gesamte Karriere hindurch aber kaum. Zwar spielt die Frage der ›Rasse‹, die Kant in seinen Vorlesungen mehrmals ausgiebig behandelt, in der Kritik der Urteilskraft nur an wenigen Stellen eine Rolle. Gleichwohl wird die Fähigkeit zum reinen ästhetischen Urteil, wie ich im Folgenden zu zeigen versuche, weiterhin so künstlich wie gewaltvoll verknappt, indem sie nur jenen zugebilligt wird, die Teil der »auf den höchsten Punkt gekommene[n] Zivilisierung« sind. Zur Exemplifizierung der niedrigsten Stufe verweist Kant auf Irokesen und karibische Menschen. ›N*‹ markiert die rassistische Begrifflichkeit Kants an dieser Stelle.

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Hunderttausenden von Schwarzen, die aus ihren Ländern anderwärts verführt werden, obgleich deren sehr viele auch in Freiheit gesetzt werden, dennoch nicht ein einziger jemals gefunden worden, der entweder in Kunst oder Wissenschaft, oder irgend einer andern rühmlichen Eigenschaft etwas Großes vorgestellt habe.« (Ebd.: 70f.). Abgesehen davon, dass Kant die Entwurzelung und Versklavung von »Hunderttausenden von Schwarzen« menschenverachtend als »anderwärts verführt [W]erden« bagatellisiert, sind seine Behauptungen sachlich schlicht falsch. So hat beispielsweise Gikandi (2011: 99ff.) im Anschluss an David Bindman (2002: 34, 151ff.) rekonstruiert, dass »Herr Humes« These von der Unmöglichkeit schwarzer Dichter und Denkerinnen, auf die sich Kant am Beginn der zitierten Passage stützt, auf eine Auseinandersetzung über den Jamaikanischen Dichter Francis Williams zurückgeht. Dies war eine Debatte darüber, ob der Schwarze Dichter Francis Williams, der vom Duke of Montagu im Rahmen eines Experiments über die geistigen und ästhetischen Fähigkeiten Schwarzer Menschen zum Studium nach England geschickt worden war, durch die englische Bildung ein echtes Dichtergenie geworden war oder nur Verse in Schullatein reproduzieren konnte. Der schottische Aufklärungsphilosoph David Hume (1711–1776) schlug sich in dieser Debatte auf die Seite des wohl krassesten Vertreters der Leugner von Williams’ ästhetischen Fähigkeiten, nämlich auf die eines Vertreters der Plantagenaristokratie in Jamaica: David Long.10 Viele andere Debatten-Teilnehmer sprachen sich allerdings für die große Qualität der Poesie von Williams aus. Man könnte auch auf die Schwarze Dichterin Phillis Wheatley (1753–1784) verweisen. Die 1753 in Gambia geborene Wheatley wurde mit 7 Jahren auf einem Sklavenschiff nach Boston gebracht und dort von einem Kaufmann namens Wheatley ersteigert, der ihr den Namen des Sklavenschiffs gab, das sie verschleppt hatte: Phillis. Obwohl versklavt, ließ er ihr den Unterricht seiner eigenen Kinder zukommen. Wheatly war in kürzester Zeit in Latein und Griechisch bewandert und begann Gedichte zu schreiben. Das musste sie auf Geheiß ihrer Besitzer, des Ehepaars Wheatley, auch in öffentlichen, exotisierenden Spektakeln tun, die die poetischen Fähigkeiten von Phillis Wheatley unter Beweis stellen sollten (vgl. Zuck 2010). Noch versklavt, erschien von ihrer 10

In einer unrühmlichen Fußnote seines Aufsatzes »Of National Characters« (1742) schreibt Hume: »In Jamaica, indeed, they talk of one Negro as a man of parts and learning; but it is likely he is admired for very slender accomplishments, like a parrot, who speaks a few words plainly« (Hume 2006: 213).

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Hand das erste Buch einer Afro-Amerikanischen Schriftstellerin und wurde in den USA sowie in London ein großer Erfolg und wichtiges Beweismaterial für die Kampagne der abolitionistischen Bewegung. Wie John S. Shields rekonstruiert hat, musste Kant diese Afro-Amerikanische Schriftstellerin durch eine Schrift Blumenbachs, nämlich dessen Beyträge zur Naturgeschichte kennen gelernt haben. Denn nach dem Erscheinen der Kritik der Urteilskraft schreibt Kant an Blumenbach, wie wichtig Blumenbachs Schriften für das Verfassen der dritten Kritik gewesen sei (vgl. Shields 2010: insbes. 85ff.).11 Damit kehre ich zur Kritik der Urteilskraft zurück, in welcher der Ausschluss nicht-weißer Menschen aus dem Universum der Ästhetik zwar deutlich subtiler ausfällt als in Kants Beobachtungen über das Schöne und das Erhabene, aber dennoch weiter vertreten wird. Kant bleibt seinem früheren Text über das Schöne und Erhabene in Sachen Ausschluss und damit auch Humes Verdikt befremdlich nahe; der Tatsache zum Trotz, dass Kant den Hume’schen Empirismus ebenso kritisch diskutiert wie auch dessen typisch englische These (vgl. Fn. 5) vom Zusammenhang zwischen dem Ästhetischen und dem Moralischen. Was beide jedoch teilen, ist eine ästhetische Theorie der zivilisierenden ästhetischen Erziehung, die die Quadratur des Kreises ermöglicht: Die These von der universellen Fähigkeit zum ästhetischen Erfahren und Urteilen – Hume spricht vom universell gegebenen standard of taste, Kant vom ästhetischen Urteilen – wird vereinbar mit der Auffassung, dass es nur ausgewählte einzelne sind, die tatsächlich ästhetisch urteilen können.

Zum paradigmatischen double bind des sensus communis in Kants Kritik der Urteilskraft Wie fragil die gleichwohl immer wieder behauptete Universalität der Fähigkeit zum ästhetischen Erfahren und Urteilen in Kants dritter Kritik ist, zeigt bereits die schon zitierte Passage über den schönen Palast im § 2 der Kritik der Urteilskraft. Dort behauptet Kant scheinbar ganz nebenbei als Selbstverständlichkeit, dass der »Irokesische Sachem« sich nur für die Gaumenfreuden – konkret die

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Blumenbach unternahm als Mediziner keineswegs unproblematische ›Rassen‹-theoretische Untersuchungen; allerdings um, im Gegenteil zu Kant, die geistigen und künstlerischen Fähigkeiten Schwarzer Menschen zu beweisen und damit die Bewegung zur Abschaffung der Sklaverei im Deutschland Kants zu stärken.

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Garküchen in Paris – interessiert und legt damit nahe, dass er zum uninteressierten ästhetischen Verhalten nicht in der Lage ist. An einer späteren Stelle der Kritik der Urteilskraft werden Irokesen – zusammen mit den Bewohner:innen der Karibischen Inseln – grundsätzlich auf die niederste Stufe der sog. Zivilisation gestellt.12 Dies geschieht im Rahmen von Kants Suche nach einem Prinzip, das die Allgemeinheit des ästhetischen Urteils trotz der Tatsache, dass es ein subjektives ist, sicherstellen soll. Zunächst scheint diese Allgemeinheit garantiert, sofern in der ästhetischen Erfahrung nichts anderes als das Spiel zwischen den Erkenntnisvermögen Einbildungskraft und Verstand am Werk ist, über die alle denkenden Wesen verfügen. Aber, so fragt Kant: Wie kann das urteilende Subjekt dafür sorgen, dass sich in sein ästhetisches Urteil keine materiellen Aspekte und Interessen gemischt haben, sondern nur das eine Rolle spielt, was alle denkenden Wesen teilen – nämlich Einbildungskraft und Verstand? Denn nur unter dieser Bedingung ist das Urteil ein wahrhaft allgemeines und darf allen andern mit Grund »angesonnen« werden. Kant zufolge kann diese Allgemeinheit nur durch den sensus communis sicher gestellt werden; d.h. mittels der Fähigkeit, das eigene Urteil so mit Bezug auf mögliche versteckte Interessen zu testen, dass ich mich als Urteilende an die Stelle aller anderen vernünftigen Wesen versetze und die schöne Vorstellung aus deren Perspektive wahrnehme bzw. beurteile. Erst mit diesem Test des sensus communis, den Kant mit Geschmack und Zivilisiertheit gleichsetzt, ist das kosmopolitische Subjekt und mit ihm die bürgerliche Öffentlichkeit komplett. Nicht ohne Grund wird Hannah Arendt diese ästhetische Fähigkeit zum Kern ihrer politischen Philosophie machen (1985: insbes. 92ff.), Zwar lässt Kant zunächst (im § 22) noch offen, ob der sensus communis angeboren ist oder gelernt werden muss. Doch später spricht er sich klar dafür aus, dass der sensus communis, von dem letztlich die gesamte ästhetische Urteilskraft abhängt, zwar der Anlage nach in allen vernunftbegabten Wesen an12

Dem »Stellenkommentar« der Ausgabe der Kritik der reinen Vernunft im Deutschen Klassiker Verlag (Kant 2009: 1331) zufolge bezieht sich Kant hier auf eine Schrift des Jesuitenpaters Francois-Xavier Charlevoix (1682–1761). In einer Diskussion der beiden Stellen, an denen in der Kritik der Urteilskraft der Irokesische Sachen auftaucht, schreibt David Kazanijan: »the Iroquois were represented in Dutch, French, British, and U.S. colonial discourses as a politicially savvy and militarily brutal empire. This dual interpretation of the Iroquois as a politically advanced federation but a socially barbaric or underdeveloped people persists with remarkable consistence, continuing to appear in the twentieth century]« (Kazanjian 2003: 156).

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gelegt ist, aber der Bildung bzw. Zivilisierung bedarf. Und in eben diesem Bildungs- und Zivilisierungskontext tauchen auch die Irokesen wieder auf, und zwar auf der untersten Stufe der sog. Zivilisation. Denn Kant schreibt über den Bildungsweg vom Sinnengeschmack hin zum – kategorisch davon zu unterscheidenden – reinen ästhetischen Geschmacksurteil auf äußerst verdichtete Weise: »und so werden freilich anfangs nur Reize, z.B. Farben, um sich zu bemalen (Rocou bei den Karaiben und Zinnober bei den Irokesen), oder Blumen, Muschelschalen, schönfarbige Vogelfedern, mit der Zeit aber auch schöne Formen (als an Kanots, Kleidern, u.s.w.), die gar kein Vergnügen, d.i. Wohlgefallen des Genusses bei sich führen, in der Gesellschaft wichtig und mit großem Interesse verbunden: bis endlich die auf den höchsten Punkt gekommene Zivilisierung daraus beinahe das Hauptwerk der verfeinerten Neigung macht« (Kant 1974/1790: 230). Einer solchen sogenannten Stadientheorie der Zivilisation zufolge können zumindest prinzipiell alle Menschen für den sensus communis sensibilisiert werden, wenngleich sie dafür unterschiedlich viel Zeit benötigen. Doch dies ist lediglich der Auftakt zu Kants abschließender und viel deutlicher ausschließenden Bemerkung über den sensus communis im § 42. Dort heißt es: »erstlich ist dieses unmittelbare Interesse am Schönen der Natur wirklich nicht gemein, sondern nur denen eigen, deren Denkungsart entweder zum Guten schon ausgebildet, oder dieser Ausbildung vorzüglich empfänglich ist« (ebd.: 234). Damit stellt Kant nichts anderes als die Behauptung auf, dass manche Menschen prinzipiell für die Erziehung zum sensus communis und somit für das ästhetischen Erfahren und Urteilen unempfänglich sind. Diese Fähigkeiten sind also alles andere als selbstverständlich oder gar universell, sondern letztlich eine Auszeichnung, die das Bürgertum samt seinen Intellektuellen im 18. Jahrhundert für sich reklamieren darf. Denn Ziel des von Kant propagierten sensus communis ist die Teilhabe an der debattierenden, bürgerlichen Öffentlichkeit, welche den Bewohner:innen der Karibik in ebenso paradigmatischer Weise wie den Irokes:innen vorenthalten wird. Dabei geht es gleichermaßen um eine Abgrenzung nach innen gegenüber den unteren Klassen, die noch zivilisiert werden müssen, sowie gegenüber dem kolonialen Außen, das nur teilweise für die ästhetische Erziehung in Frage kommt.

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Schillers Fortsetzung und Popularisierung des kantischen Projekts zur ästhetischen Erziehung Genau an dieser Stelle setzt kurz nach dem Erscheinen der Kritik der Urteilskraft Schillers Manifest zur ästhetischen Erziehung (Schiller 1979/1794) an, das häufig auch als eines der Emanzipation (von der entfremdenden Arbeitsteilung) mit den Mitteln der Kunst gelesen wurde; vor allem aber als eines, das die bürgerlichen Subjekte zum politisch mündigen Umgang mit der Freiheit erziehen sollte. Schiller zufolge hat die Französische Revolution gezeigt, dass selbst Westeuropäer:innen – das Zentrum der ästhetischen Erziehung – noch nicht zivilisiert genug sind, um mit politischer Freiheit umzugehen. Dabei hatte Schiller 1789 in seiner Antrittsrede als Professor für Geschichte in Jena noch behauptet: »Die Entdeckungen, welche unsere europäischen Seefahrer in fernen Meeren und auf entlegenen Küsten gemacht haben […] zeigen uns Völkerschaften, die auf den mannigfaltigsten Stufen der Bildung um uns herum gelagert sind, wie Kinder verschiedenen Alters um einen Erwachsenen herumstehen […] Wie beschämend und traurig aber ist das Bild, das uns diese Völker von unserer Kindheit geben!« (Schiller 1789: 12). Die Verrohung der Menschen, welche in der Französischen Revolution manifest geworden ist, kann Schiller zufolge – und im Unterschied zu Kants Theorie der Urteilskraft – vom damals neuen Kapitalismus nicht getrennt werden. Denn letzterer trennt Sinnlichkeit und Verstand, die bei Kant im ästhetischen Spiel noch mühelos zueinander gefunden hatten, und zwar so, dass daraus unterschiedliche Klassen entstehen. Abhilfe soll bei Schiller bekanntlich ein versöhnender, ästhetischer Spieltrieb leisten. Während die Menschen das wahre Spiel noch lernen müssen, ist es im Bereich der schönen Kunst in den Augen Schillers schon realisiert. Eben deshalb kann das Schöne zum entscheidenden Vorbild des neuen und freien Menschen werden, den Menschen also zu seiner wahren Natur emanzipieren und d.h. zivilisieren. Allerdings ist diese Natur Schiller zufolge ein Ideal, das Menschen in absehbarer Zeit nicht erreichen, sondern nur anstreben können. Es geht im Lauf der Briefe zur ästhetischen Erziehung auch immer deutlicher nur mehr um den Sensibilisierungsprozess zur geistigen Freiheit weniger Auserwählter und nicht länger um die politische für alle. Gadamer hat diese Wendung der Schiller’schen Briefe um 180 Grad zu Recht mit den Worten kommentiert: »Bekanntlich wird aus einer Erziehung durch die Kunst eine Erziehung zur Kunst« (Gadamer 1986: 88; vgl.

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auch Woodmansee 1993: 180). Potenziert durch die starke Rezeption Schillers im Schulbereich beginnt damit eine breitenwirksame Einübung des bürgerlichen Subjekts in einen Habitus des unterwürfigen Strebens und Perfektionierens, das sein ästhetisches Ziel nie erreicht (vgl. Hunter 1992). Und das Emanzipations- bzw. Aufstiegsversprechen der ästhetischen Sensibilisierung sorgt zugleich dafür, dass die Ausschlüsse, die dieser Subjektivierungsweise innewohnen, als Ausnahmen von der Regel im Hintergrund bleiben oder völlig unsichtbar gemacht werden. Mein Fazit aus dem zugegebenermaßen viel zu lückenhaften Blick auf die Geschichte lautet: Die westeuropäische Autonomie-Ästhetik, wie sie von Kant äußerst wirkmächtig formuliert wurde, ist in ihrem Fundament – dem sensus communis als Höhepunkt eines Erziehungsprojekts – auf Superioritätsdenken, Ausschluss und Trennung angelegt: zwischen Subjekten, die Geschmack und damit das kosmopolitische Vermögen des sensus communis bereits besitzen – aber auf stets noch perfektionierbare Art; solchen die den Geschmack prinzipiell lernen können; und solchen, für die auch Letzteres nicht in Frage kommt. Dabei geht es gleichermaßen um eine Abgrenzung nach innen gegenüber den ›niederen Klassen‹ und Geschlechtern, die erst sensibilisiert werden müssen, wie gegenüber dem kolonialen Außen, das im Zustand der Nicht-Zivilisiertheit verbleiben soll. Hinzu kommt, dass auch für diejenigen Subjekte, die zum Entwickeln des sensus communis prinzipiell befähigt sind – und, dass das nicht für alle gilt, scheint zumindest für Kant eine ausgemachte Sache –,13 ästhetische BildungsErfahrungen äußerst voraussetzungsreich in Bezug auf materielle Bedingungen bleiben. Damit steigt die Gefahr, dass aus dem sensus communis, dem Vermögen, sich in die Position aller anderen ›zivilisierten Wesen‹ zu versetzen, die Zementierung eines Zirkels von Eingeweihten wird und die Tendenz steigt, Kunst zur Kompensation zu nutzen – nicht zuletzt aufgrund der moralischen Fragwürdigkeit der Ausschlüsse, die die autonome Kunst im Singular samt ihrer Theorie fortlaufend produziert. Mit dem Konzept des sensus communis wird, wie David Lloyd argumentiert hat, nicht nur der Zugang zur bürgerlichen Öffentlichkeit reguliert, sondern auch ein exklusives Konzept des Menschen (im vollen Umfang) konstruiert. »aesthetic philosophy establishes a regime of representation that grounds both the condition of possibility of the public sphere on which the mod-

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Vgl. die oben schon zitierte Stelle aus der Kritik der Urteilskraft (Kant 1974: 234).

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ern conception of the political rests and the developmental trajectory along which distinct modalities of human being are distributed« (Lloyd 2019: 124). Da diesem Kunstverständnis und den dazugehörigen Subjektivierungsprozessen sehr schnell Institutionen zuwachsen, verhärten sich die Grenzen zwischen den Geschmackbesitzenden und jenen, die Geschmack nur als Anlage oder nicht einmal das haben; nicht zuletzt durch Vererbung symbolischen Kapitals.14 Wo der Übergang dazwischen konzeptualisiert wird, wie etwa bei Schiller, gibt es eine Tendenz, die Übenden im Zustand des Übens zu halten, sodass das Freiheitsversprechen des ästhetischen Erziehungsunternehmens zum nicht nur ausschließenden, sondern auch die Eingeschlossenen disziplinierenden Selbstzweck wird. Damit scheint mir der double bind der Ästhetiken von Kant und Schiller, die – implizit im einen und explizit im anderen Fall – Theorien der ästhetischen Erziehung sind, erwiesen. Sie blieben selbst dort gewaltvolle Regime des Ein- und Ausschlusses, wo sie inklusive, ja universalistische Vokabeln benutzen. Denn ästhetische Erziehung zu genießen heißt im Rahmen dieser Theorien nicht nur zu lernen, sich von der Sinnlichkeit zu emanzipieren. Es läuft darauf hinaus, ein bürgerliches – der Tendenz nach weißes und männliches – Subjekt zu werden. Und dieses wiederum ist vor allem dadurch definiert, dass es einen ›zivilisatorischen Status‹ erobert hat, den anderen Menschen per definitionem nicht erreichen können sollen.15

Wie alternativlos sind Kant und Schillers Erziehungsästhetiken? Vor diesem Hintergrund muss man sich weniger fragen, wo der problematische Pol des double binds der Ästhetiken Kants und Schiller ist, als vielmehr,

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Pierre Bourdieu (2001) hat eindrücklich rekonstruiert, wie dieses Vererbungssystem um 1800 in Frankreich entsteht. Wie begrenzt der Zugang zur professionellen Kunstausbildung noch immer ist, zeigen exemplarisch die Ergebnisse des Forschungsprojekts Art.School.Differences: https://blog.zhdk.ch/artschooldifferences/en/ Zwar mag es eine gewisse Berechtigung haben, dass ich im Kontext der Diskussion der Kolonialität der europäischen Ästhetik ihre rassialisierenden Ausschlüsse ins Zentrum stelle. Doch die Analyse dieses Ausschlusses muss mangelhaft bleiben, solange seine Verstrickung mit klassistischen, sexistischen und abelistischen Dimensionen der (Gründungsgeschichte der) europäischen Ästhetik nicht berücksichtigt wird.

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ob überhaupt noch irgendetwas von der emanzipatorischen Gegenseite übrigbleibt, ohne die es auch keinen double bind gäbe. In eine solche Richtung, wonach jede Rede von Emanzipation in Bezug auf Kant und Schillers Ästhetiken die Fortsetzung einer rassistischen Ideologie ist, argumentiert beispielsweise David Lloyd. Er rekonstruiert ihre Konzeptionen der ästhetischen Erziehung als Teil einer gewaltvollen Politik (Lloyd 2019: 75), die man nicht mehr retten, sondern nur historisch(-materialistisch) rekonstruieren und kritisch analysieren kann. Spivak scheint dieser Diagnose zunächst einmal zuzustimmen, wenn sie etwa schreibt: »Enlightenment came, to colonizer and colonized alike, through colonialism, to support a destructive ›free trade‹, and […] policy breaches of Enlightenment principles are more rule than exception« (Spivak 2012: 4). Wo ist dann aber der double bind der Ästhetiken Kants und Schillers, den Spivak an den Beginn ihrer Überlegungen zur ästhetischen Erziehung stellt? Offensichtlich scheint mir, dass Spivak in ihrer Introduction Kant und Schiller dafür verwenden bzw. umwenden will, um im Sinne Gramscis an der Veränderungsmöglichkeit von natürlich gewordenen Gewohnheiten zu arbeiten, und zwar der Tatsache zum Trotz, dass Bateson das nur eingeschränkt für möglich hält. Mit Bateson teilt Spivak hingegen die Diagnose, dass es insbesondere Emotionen, Begehren und Wünsche (i. U. zu Überzeugungen) sind, die sich bei der Arbeit an den habits als am resistentesten erwiesen haben. Eine paradigmatische Rolle spielen dabei ihrer Meinung nach die habituell gewordenen Hoffnungen, Begehren und Wohlfühlqualitäten, welche mit hegemonialen Vorstellungen von Religion und der Nation verbunden werden, obwohl es offensichtlich ist, dass diese fortlaufend Ausschlüsse und Gewalt produzieren. Um an genau diesen zu rütteln, entführt Spivak aus Kant und Schiller die Konzepte der Einbildungskraft und des Spiels, ohne dass sie, so mein Eindruck, an ihren ästhetischen Theorien als gesamten besonders interessiert wäre. Vielmehr scheint es ihr darum zu gehen, insbesondere in der Auseinandersetzung mit literarischen Texten zu lernen bzw. in den Essays von An Aesthetic Education in the Era of Globalization (2012) auch exemplarisch vorzuführen,16 wie man sich spielerische von den eigenen, natürlich gewordenen Wünschen und Gefühlen distanzieren kann, um damit an die affektiven Wurzeln von habits zu rühren bzw. sie zu transformieren. Es geht also nicht 16

Freilich könnte man sich auch fragen, ob Literatur so ein exklusiv guter Lernort ist, wie Spivak nahelegt. Zu alternativen Formen der (Selbst-)Kritik von habituell gewordenen Praktiken vgl. Sonderegger 2019.

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darum, das kosmopolitische Versprechen von Kant und Schiller weniger widersprüchlich zu konzipieren, zumal das unmöglich ist, so lange eine solche Kosmopolitik sich zeit- und ortlos versteht. Und Spivak ist es ja gerade darum zu tun, an den stets durch einen historisch und geopolitisch bestimmten Kontext geprägten habits zu rütteln: den eigenen und – sofern man sich als demokratische Lehrerin-Philosophin versteht – den von anderen, die Teil eines geteilten Milieus sind. Sie bezieht sich dabei auf Gramscis Begriff des demokratischen Philosophen, der davon überzeugt ist, dass »his personality is not limited to himself as a physical individual but is an active social relationship of modification of the cultural environment« (Spivak 2012: 9). Für dieses Unternehmen braucht Spivak die ästhetischen Erziehungskonzepte von Kant und Schiller möglicherweise aber viel weniger als sie meint. Und dies nicht nur darum, weil es fast unmöglich ist, deren Ästhetiken aus einem Regime von so künstlichen wie gewaltvollen Zugangsverknappungen herauszudrehen. Hinzu kommt bei Kant und Schiller die Formierung einer Kunst bzw. Ästhetik im universellen Singular, mit dem die provinzielle Herkunft dieses Denkens aus dem Westeuropa des kolonialen Kapitalismus zugleich verdeckt und als alternativlos universell verkauft wird. Und genau dieser Kollektivsingular samt dem ihm von Anfang an innewohnenden ›zivilisierenden‹ Erziehungskonzept ist bis heute in der philosophischen Kunsttheorie dominant. Mit anderen Worten: Auch die Rede von der Kunst bzw. der ästhetischen Erziehung, wie sie im Westeuropa des ausgehenden 18. Jahrhunderts erfunden und seither immer wieder verteidigt wurden, sind ein verkörperter Denkautomatismus geworden: ein habit. So hegemonial dieses normalisierte, im Sinne Batesons körperlich gewordenen Denken nicht zuletzt aufgrund des kolonialen Exports in fast alle Teile der Welt geworden ist, es ist nicht alternativlos. Oder anders gesagt: Es ist nicht unmöglich, Kant und Schiller hinter sich zu lassen; auch dann und gerade dann, wenn man Spivaks Agenda einer ästhetischen Arbeit an habitualisierten Praktiken teilt. So gibt es nach wie vor Ästhetiken, die den griechischen Begriff der aisthesis im Sinn der Auseinandersetzung mit sinnlichen Wahrnehmungen wieder aufgreifen; ein Begriffsverständnis, das bis ins 18. Jahrhundert auch in Westeuropa vorherrschend war. Ich denke hier z.B. an Félix Guattaris »Chaosmosis. An Ethico-Aesthetic Paradigm«, nicht zuletzt weil sich seine Ästhetik der sinnlichen Affizierbarkeit explizit auch mit der Transformation von habituell gewordenen Praxen auseinandersetzt (etwa Guattari: 2006: 9, 118). Zu erwähnen sind in diesem Zusammenhang aber auch pragmatistische Ästhetiken und jene der Britischen Cultural Studies, welche die Grenzen zwischen

Ruth Sonderegger: Zum kolonialen double bind der europäischen Ästhetik

Kunst und Alltagsästhetik in Frage stellen – häufig mit Blick auf Stereotype des Wahrnehmens (vgl. etwa Hall et al. 2013); und nicht zuletzt Ansätze, die ihren Ausgang bei der historisch-kritischen Re- und Dekonstruktion der sog. Gründung der philosophischen Ästhetik im 18. Jahrhundert nehmen; sei es aus einer feministischen Perspektive (vgl. z.B. Kneller 1993) oder einer historisch-materialistischen wie etwa derjenigen von Walter Benjamin, der schon am Beginn des 20. Jahrhunderts gefordert hat, Ästhetik müsse bei der Analyse und Überwindung der von ihr selbst produzierten, normalisierten und habitualisierten »Kompetenzschranken« (Benjamin 1991: 693) ansetzen. Noch wichtiger ist vielleicht zu betonen, dass derartige Kritiken bzw. entwendende Umwendungen der europäischen Ästhetik nicht nur in Westeuropa und, wenn man an den amerikanischen Pragmatismus denkt, den USA entwickelt wurden. Vielmehr gibt es unüberschaubar viele verwandte Überlegungen auch jenseits der westlichen Welt, und zwar solche, die auch die Frage der Kolonialität der Ästhetik adressieren bzw. von ihr her denken. So schlägt Rubén Gaztambide-Fernández (2013) anstelle eines künstlich und gewaltvoll zugangsbeschränkten Kunstbegriffs im Singular beispielsweise17 ein sehr basal angesetztes Konzept der kulturellen Produktion vor. Es zielt auf das NeuArrangieren von jeweils vorhandenem Material symbolischen Handelns; also auf ein Neu-Arrangieren, wie wir es im Alltag fortlaufend praktizieren. Solche kulturelle Produktion kann zu Dingen führen, die auch als Kunst durchgehen, aber das darf nicht entscheidend sein, denn mit diesem Begriff schließt man mehr aus als man ermöglicht. Damit vollzieht Gaztembide-Fernández auch den Ausstieg aus einem auf Assimilation oder Unterwürfigkeit bauenden Konzept ästhetischer Erfahrung; und nicht zuletzt den Abschied vom Glauben an einen intrinsischen Zusammenhang zwischen ästhetischer Erfahrung und Bildung; ein bürgerliches Versprechen, das immer auf bürgerlich Subjektivierte eingeschränkt gelten sollte. Gegen die gewaltvolle Verknappung des Zugangs zur Kunst und ihrer theoretischen Reflexion richten sich aber auch Ästhetik-Verständnisse im Sinn eines (alltäglichen) way of life, wie beispielsweise bell hooks (2015) oder Paul C. Taylor (2016) sie vorgeschlagen haben. Ansätze, Ästhetik im Sinn der aisthesis von der sinnlichen Affizierung aller Erfahrung aus gegen die Kolonialität der Ästhetik zu denken, finden sich exempla-

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Das »beispielsweise« ist hier fett zu unterstreichen, denn die erwähnten Beispiele sind allenfalls Mosaiksteine eines de- und postkolonialen Diskussionszusammenhangs, der auch schon im Bereich der Ästhetik jeglichen Umfang eines noch so langen Essays überschreitet.

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risch u.a. bei Fred Moten (2003), Juan G. Ramos (2018) oder Alejandro A. Vallega (2014a, 2014b). Damit ist nicht die Lösung aller Probleme und ein Reich jenseits der double binds gefunden, im Gegenteil. Gerade Gaztambide-Fernández und Vallega betonen explizit, dass ästhetisches (Alltags-)Handeln vor neuen Ausschlüssen und Gewalt nie gefeit sein kann, dass es vielmehr gerade auch darum geht, eine absolute Reinheit bzw. das Streben nach einer solchen zu verabschieden. Vallega erspart seinen Leser:innen bewusst nicht den »uncomfortable thought«, wonach »the pertinence of aesthetic sensibility [is] at the level of the possibility as well as the violation of what one deems to be human« (2014a: 133f.). Die (spielerisch erziehende) sinnliche Arbeit an habituellen double binds, die Spivak m.E. zurecht verteidigt, bleibt also selbst in einem double bind gefangen. Aber die westliche Metaphysik, deren Ausdruck Kant und Schillers Konzepte des ästhetisch erzogenen, weltbürgerlichen Menschen sind; eine Metaphysik, welche Derrida und mit ihm ein Stück weit auch Spivak für alternativlos zu halten scheinen, ist nicht notwendig. Am double bind dieser Metaphysik festzuhalten hieße einmal mehr, der Provinz Westeuropas die Definitionsmacht zuzuschreiben. In diesem Sinn schreibt Chela Sandoval kritisch mit Bezug auf die Dekonstruktion, jedoch trotzdem voller Anerkennung für die aufgerufenen Theoretiker: »Both Jameson und Derrida are afraid that no force can emerge in opposition to Western metaphysics, but this fear makes invisible the already-present forms of this third force, which twentieth-century decolonizations have set free upon the world stage« (Sandoval 200: 151).

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Schizophrenie und Ästhetik Eine ideengeschichtliche Auseinandersetzung mit dem double bind Leila Haghighat

In ihrer Einleitung zu An Aesthetic Education in the Era of Globalization (2012) geht Gayatri Chakravorty Spivak eingehend auf den double bind ein. Der double bind beschreibt eine lähmende, weil doppelte Bindung an paradoxale Botschaften oder Signale. Diese Bindung bringt einen unauflösbaren Widerspruch mit sich, aus dem ein Entkommen unmöglich scheint. Das Konzept des double binds wurde in den 1960er Jahren durch den Anthropologen und Kybernetiker Gregory Bateson geprägt, um schizophrene Zustände in familiären, und damit engen und abhängigen, Kontexten zu beschreiben. Ein schizophrener Zustand ist wortwörtlich als ein »gespaltenes Bewusstsein« (Lewontin/Kamin/ Rose 1988: 163) zu verstehen. Inspiriert von Bateson entwickeln Gilles Deleuze und Félix Guattari 1972 ihre Schizoanalyse und übertragen die Idee von unauflösbaren Widersprüchen und schizophrenen Zuständen auf die Gesellschaft und die Daseinsform des Kapitalismus. Ideengeschichtlich sind diese Ansätze mit den Schriften Friedrich Nietzsche verwoben. Spivak macht den double bind im Herzen der Demokratie aus und vertritt die These, dass um mit ihm umgehen zu können, ihn spielen zu lernen, eine ästhetische Erziehung notwendig ist (Spivak 2012: 4). Sowohl Bateson, als auch Deleuze/Guattari und Nietzsche, schreiben dem Ästhetischen eine gewichtige Rolle zu. Spivak unterzieht diese eurozentrischen Ansätze einer ganz eigenen Lesart und überträgt sie auf die postkoloniale Situation. Doch wie können Schizophrenie und Ästhetik zusammen gedacht werden? Beginnend mit Spivaks Anliegen der produktiven Unterwanderung Schillers Schrift Über die ästhetische Erziehung des Menschen (1795), über Batesons Ausarbeitung des double bind, bis hin zu einer Interpretation Gilles Deleuzes’ von Friedrich Nietzsches Willen zur Macht, sucht dieser Beitrag dieses Verhältnis nachzuzeichnen und dabei den double bind in

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seinem Zusammenhang mit Gewohnheit, Erkenntnis, Begehren und Ethik zu erläutern. Die verschiedenen Bezüge werden schließlich entfaltet, damit das Plädoyer Spivaks »den double bind zu lernen« besser verstanden werden kann.

Spivaks aesthetic education in the era of globalization Die Essaysammlung selbst beschreibt Spivak als eine produktive Unterwanderung (»productive undoing«) des Ästhetischen, das ein Vermächtnis der europäischen Aufklärung darstellt (ebd.: 1). Die Welt brauche einen epistemischen Wandel, der die Begehren neu ordnet und dafür könne nur eine ästhetische Erziehung vorbereiten, postuliert Spivak (ebd.: 2). Denn eine ästhetische Erziehung kann auf den Zusammenhang von Gewohnheit, Wahrnehmung und Denken einwirken und dafür Sorge tragen, aus vorhandenen Denkgewohnheiten herauszutreten. »Only an aesthetic education can continue to prepare us for this, thinking an uneven and only apparently accessible contemporaneity that can no longer be interpreted by such nice polarities as modernity/tradition, colonial/postcolonial. Everything else begins there, in that space that allows us to survive in the singular and the unverifiable, surrounded by the lethal and lugubrious consolations of rational choice« (ebd.). Dabei geht es ihr insbesondere um ein Training der Gewohnheit des Ethischen, einer Ethik der Sorge für den:die Andere:n im Dienste der sozialen Gerechtigkeit, auf die eine ästhetische Erziehung Einfluss nehmen kann (ebd.: 104). Ästhetik steht als Reflexion von Empfinden und Wahrnehmen (Aisthesis) (Welsch 1994: 5ff.) in einem unmittelbaren Zusammenhang mit Erkenntnis, also dem was wir als wahr oder richtig anerkennen, und hat damit ethische Implikationen. Spivak beruft sich direkt auf Schillers Auseinandersetzungen mit der Ästhetik Kants und der französischen Revolution Über die ästhetische Erziehung des Menschen (1796), der sie einer »affirmativen Sabotage« (Spivak 2012: 510, Fn. 3) und einer postkolonialen Lesart unterzieht. Sie bezeichnet ihr Tun entsprechend als »sabotaging Schiller« (ebd.: 2). Schillers ästhetische Erziehung erstrebt, Natur und Vernunft in Einklang zu bringen. Dabei geht es ihm um nichts weniger als die politische Freiheit des Menschen, die durch die ästhetische Erziehung erreicht werden soll, denn »die Kunst ist eine Tochter der Freiheit« (Schiller 1965: 6). Ästhetische Erziehung bedeutet in Schillers Sinne

Leila Haghighat: Schizophrenie und Ästhetik

die Begegnung mit der Kunst, die sowohl auf das sinnliche wie das geistige Wesen des Menschen wirkt (Sautermeister 1993: 10). »Die Schönheit verknüpft die zwei entgegengesetzten Zustände des Empfindens und des Denkens« postuliert Schiller (Schiller 1965/1796: 72). Und so liegt die Aufgabe der ästhetischen Erziehung in der Ausbildung der »Totalität des Charakters« (ebd.: 14), denn »alle Verbesserung im Politischen soll von Veredelung des Charakters ausgehen« und das Werkzeug dazu ist die Kunst (ebd. S. 31). Zentral ist dabei der Spieltrieb als Gegenstand der Schönheit, der – gefordert von der Vernunft –, die Gemeinschaft von Stoff- und Formtrieb darstellt, um nichts weniger als den »Begriff des Menschen zu vollenden« (Schiller 1965: 59f.). »Die Schönheit [...] ist das [...] Objekt [...] des Spieltriebs« (ebd.: 60f.) und »der Mensch spielt nur, wo er in voller Bedeutung des Worts Mensch ist, und er ist nur da ganz Mensch, wo er spielt« (ebd.: 63), heißt es bei Schiller. Der Spieltrieb ist bei Schiller ein Vorschlag, um, mit der Kunst als Balanceakt, den double bind von Geist und Körper aufzulösen und damit die Gesellschaft zu retten, erläutert Spivak (2012: 19). Spivak lehnt sich an diese Idee an und plädiert für ein Spiel mit dem double bind. Doch die Ästhetik ist (als ein Vermächtnis der Aufklärung) selbst in einem double bind zwischen Befreiung und Unterdrückung gefangen. Die anfängliche Intention der Versöhnung von Sinnlichkeit und Vernunft zielt (mit einem absoluten ästhetischen Imperativ) in letzter Instanz anstatt auf Entfaltung auf Kultivierung und Disziplinierung (vgl. Welsch 1994: 8ff.) und damit auch auf eine Form von Gleichmachung der Empfindungs- und Wahrnehmungsweisen. Es war auch dieser universale Anspruch der Ästhetik, der im Namen der Aufklärung von Fortschritt und Zivilisation, den Kolonialismus legitimierte (siehe Sonderegger in diesem Band). Spivak scheint überzeugt davon, dass eine ästhetische Erziehung, die es ermöglicht mit dem double bind zu spielen, ein epistemisches Machtverhältnis aufbrechen kann (Spivak 2012: 4). Sie nimmt dabei die Subalternen und die Migrant:innen in Europa in den Blick, die aus einer postkolonialen Perspektive in der Aufklärung gefangen sind (ebd.). Mit der Eroberung der Kolonien der europäischen Großmächte verbreitete sich auch das Gedankengut der europäischen Aufklärung, das bis heute die globalen Wissensdiskurse deutlich bestimmt. Und dieses Gedankengut liefert einerseits wichtige (intellektuelle, moralische und politische) Instrumente für das kritische Denken und legitimierte andererseits über eine »zivilisatorische Mission« die Gewalttaten des Kolonialismus (vgl. Dhawan 2019: 183ff.). Dieser universale und eurozentristische Anspruch der Aufklärung setzt sich in heutigen Erkenntnis- und Repräsentationssystemen fort. Die postkoloniale Welt ist mit widersprüchlichen Wirkungen der Aufklä-

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rung konfrontiert (ebd.). Den double bind zu lernen bedeutet eben mit diesen widersprüchlichen Anweisungen leben und denken zu lernen (Spivak 2012: 3). Spivak unterstreicht die Bedeutung des Epistemischen, indem sie auf »einen wichtigen Kommentar« Gramscis zu Marx verweist, dass ideologische Auseinandersetzungen und gesellschaftliche Veränderung nicht nur unter psychologischen und moralischen, sondern auch unter erkenntnistheoretischen Aspekten betrachtet werden müssen (Gramsci 2012: 1264; Spivak 2012: 8) und spricht sogar von einer »erkenntnistheoretischen Revolution« (ebd.: 4). An der Schulung der Gewohnheit des Ethischen kann nur gearbeitet werden, indem sich der systemischen Aufgabe des erkenntnistheoretischen Engagements gewidmet werde – dem »Lernen zu lernen«, wie es Spivak darlegt (ebd.: 9). Der Ausdruck »Lernen zu lernen« entstammt der Lerntheorie Batesons, aus der heraus er seine Theorie des double binds entwickelte.

Die Lerntheorie Gregory Batesons Mit der Theorie des double binds versuchte Bateson (1904–1980) in den späten 1960er Jahren schizophrene Symptome bei Kindern und Jugendlichen auf gestörte Kommunikation innerhalb ihrer familiären Beziehungsstrukturen zurückführen. Dem Konzept gehen seine Abhandlungen zu einer Theorie des Lernens und der Kommunikation voraus, die wesentlich sind um die Bedeutung des double binds zu begreifen. Batesons Theorien können durchaus als bahnbrechend angesehen werden, haben jedoch auch sehr problematische Seiten, die es nicht zu vergessen gilt (vgl. Castro Varela in diesem Band). Nach anthropologischen Untersuchungen in Neu-Guinea und Bali in den 1930er Jahren, waren es die Umstände des zweiten Weltkrieges, die Bateson zu (seinen) »Charakterstudien« führten1 . Dabei kam er zu der Erkenntnis, dass alles menschliche Verhalten im Verhältnis zu einer kulturellen oder sozialen Matrix steht und daher eher von einem kulturellen Verhalten als von einem »menschlichen Verhalten« zu sprechen sei (Bateson 1941: 351). Entgegen der Idee eines »Nationalcharakters« argumentiert er, dass sich ein individueller Charakter nicht nur auf die Umstände, unter denen die Menschen leben, also die historischen Hintergründe und gegenwärtige Bedingungen, zurückführen lassen, sondern eben erlernt wird (Bateson 1981d/1942: 133f.). Menschliche 1

Bateson war kurzzeitig für das britische Militär tätig, mit dem Auftrag, den »Charakter« der Deutschen besser zu verstehen.

Leila Haghighat: Schizophrenie und Ästhetik

Charakterzüge bilden sich in Batesons Sinne durch kontextualisierte Lernerfahrungen. Es ist der Kontext, bzw. der Kontext des Lernens, der Batesons Auffassung nach, das Subjekt und seinen Charakter prägt. Diese Kontexte gehen bei Bateson jedoch über gegebene Umstände hinaus. Sie treten auch synonym mit »Form, »Muster«, und »Beziehung« auf, da damit festgelegt werden kann, wie Informationen aus einem größeren System in dessen einzelne Bestandteile gelangen, (Bredo 1989: 28). Kontexte sind als Redundanzmuster zu verstehen, da es Wiederholungen sind, immer wieder gleiche Abfolgen, die sie und damit einen Lernprozess bestimmen. Und damit kommt Bateson zu der Herausbildung von Gewohnheiten, die er als ein »Nebenprodukt des Lernprozesses« beschreibt (Bateson 1981e/1942: 225). Bateson bemerkt, »dass ›lernen zu lernen‹ ein Synonym für die Annahme der Klasse von abstrakten Denkgewohnheiten ist […], dass die Geisteszustände, die wir ›freier Wille‹, instrumentelles Denken, Dominanz, Passivität usw. nennen, durch einen Prozess erworben werden, den wir mit ›lernen zu lernen‹ gleichsetzen können« (ebd.: 228f.). Dieses ›Lernen zu lernen‹ bezeichnet Bateson als DeuteroLernen2 oder später auch Lernen II. Dabei ist das lernende Individuum nicht isoliert zu betrachten, sondern als in komplexen emotionalen Beziehungsmustern zu anderen stehend (ebd.: 232). Überdies werden ihm viele dieser Gewohnheiten nicht (nur) durch seine eigenen Erfahrungen »des Stroms von Ereignissen« sondern (auch) »durch Sprache, Kunst, Technologie und andere kulturelle Medien vermittelt, die an jedem Punkt durch eingefahrene Wege apperzeptiver Gewohnheiten strukturiert ist« (ebd.). Bateson stand diesen Gewohnheitsbildungen kritisch gegenüber und dachte über Möglichkeiten nach, solch angelernte Gewohnheiten zu überwinden, die er besonders in einem Perspektivwechsel sieht (ebd.). Zwanzig Jahre später erweitert Bateson mit Die logischen Kategorien von Lernen und Kommunikation (1964) seine Lerntheorie um den Aspekt der Kommunikation und die Veränderbarkeit von Denkgewohnheiten. Ausgehend von Bertrand Russells Typentheorie (Principia Mathematica) entwickelt Bateson 2

Dieses Lernen von abstrakten Denkgewohnheiten nennt Bateson Deutero-Lernen, ein »Lernen zu lernen«, das sich von einem einfachen Lernen, dem sogenannten Proto-Lernen, abgrenzt. Beide Formen des Lernens erfolgen durch Wiederholungen – Steigungen im fortgesetzten Lernen –, wobei das Deutero-Lernen als »fortschreitende Veränderung im Grad des Proto-Lernens« definiert wird (Bateson 1981e: 230). Bateson beruft sich hier auf Ergebnisse von psychologischen Versuchen, in denen das Versuchsobjekt – ob Mensch oder Tier – nach wiederholten Experimenten besser wird – Tier oder Mensch »lernt in gewisser Weise auch zu lernen« – (ebd.)

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vier Ebenen des Lernens. Lernen 0 entspricht der einfachen Informationsaufnahme, Lernen I dem Proto-Lernen, das einen wiederholbaren Kontext voraussetzt und in dem Verhalten über Versuch und Irrtum optimiert wird (Bateson 1981b/1964: 367ff.). Lernen II entspricht dem ausgeführten DeuteroLernen, der Interpretation des »Handlungs- und Erfahrungsstroms« (ebd.: 379), also der Bildung von Gewohnheiten. Wird dieses Lernen II irritiert, kann es zu Störungen im Verhalten der Lernenden kommen: sie werden in einen double bind versetzt (ebd.: 384)3 . Die nächste Stufe Lernen III impliziert eine Veränderung in Lernen II. Also einer Veränderung von Gewohnheiten oder Charakterzügen. Möglichkeiten für diese Form des Lernens, die ein »schwieriger und seltener« Vorgang bei Menschen ist, sieht Bateson etwa »in der Psychotherapie, in religiöser Bekehrung oder in anderen Sequenzen [...], in denen eine tiefgreifende Umstrukturierung des Charakters stattfindet« (ebd.: 390) sowie im Spiel (vgl. Bateson 1981c/1954). Mit dem double bind zu spielen bedeutet folglich mit den Gewohnheiten zu spielen. Für Bateson sind es double binds – die erfahrenen Widersprüche auf der Ebene II – die ein Individuum auf die Ebene III treiben, auf der prinzipiell eine Auflösung zu erwarten ist (Bateson 1981b/1964: 395). Die Auflösung von double binds geschieht auf der Ebene III des Lernens, in der Psychotherapie und eben im Spiel, zwischen deren Prozessen Bateson im Übrigen große Ähnlichkeiten konstatiert (Bateson 1981c/1954: 259). Lernen IV wäre schließlich eine Veränderung in Lernen III, die Bateson zufolge »aber vermutlich bei keinem ausgewachsenen lebenden Organismus auf der Erde« vorkommt (Bateson 1981b/1964: 379).

Eine Theorie der Schizophrenie Batesons Lerntheorie folgend verweist ein double bind auf einen Widerspruch auf der zweiten Ebene des Lernens. Und dieses Lernen ist durch einen Kontext bestimmt. 1956 veröffentlicht, wurde durch Bateson und sein Forschungs-

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Bateson bezieht sich an dieser Stelle auf das Beispiel der Experimentalneurosen [von H.S. Liddell], die zeigen konnten, dass wenn man ein Versuchstier zunächst auf die Unterscheidung Kreis und Ellipse trainiert, die Symbole sich dann aber immer ähnlicher werden lässt bis eine Unterscheidung unmöglich wird, das Tier Symptome ernsthafter Störung zeigen wird. Dagegen hätte ein untrainiertes Tier in derselben Situation einfach geraten (Bateson 1981b/1964: 383).

Leila Haghighat: Schizophrenie und Ästhetik

team versucht, mit der double bind Theorie schizophrene Symptome auf widersprüchliche Erfahrungen im familiären Kontext zurückzuführen (vgl. Lutterer 2000: 92; Bateson 1981g/1956: 270). Eine double bind Situation entsteht dabei aufgrund eines Widerspruchs zwischen den beiden Kommunikationsebenen von Mitteilung und Kontext. Der double bind ist als ein unentrinnbares Paradoxon zu verstehen, in dem eine Mitteilung durch ihren Kontext entkräftet wird. »Sei nicht so gehorsam!« wäre solch eine Botschaft. Der Kontext verhält sich als Imperativ, währen die Mitteilung befielt, den Kontext zu ignorieren. Man kann ihn weder befolgen, noch ihn nicht befolgen (vgl. Chaney 2017: 5). Bateson beschreibt solch eine Situation auch als eine, »in der eine Person, egal was sie tut, ›nicht gewinnen kann‹ und dadurch schizophrene Symptome entwickeln kann« (Bateson 1981g [1956]: 270). Die Person »ist in einer Situation gefangen, in der sein Gegenüber zwei Arten von Mitteilungen ausdrückt und eine davon die andere leugnet« (ebd.: 278f.). Das Individuum zeigt sich unfähig, sich mit den geäußerten Mitteilungen produktiv auseinanderzusetzen, so dass es entscheiden kann, auf welche Art der Mitteilung es reagieren soll. Ergo kann keine metakommunikative Aussage gemacht werden (ebd.: 279). Der double bind scheint damit zu einer Art Handlungsunfähigkeit zu führen. Indessen weist der US-amerikanische Kulturhistoriker Anthony Chaney darauf hin, dass solch eine »can’t win« Situation nicht mit einer »lose-lose« Situation, also mit dem Dilemma einer Wahl zwischen zwei schlechten Möglichkeiten, gleichgesetzt werden dürfe (2017: 46). Und auch Bateson selbst entzieht sich einer Wertung des double binds, ebenso wie es Spivak tut. Er attribuiert dem double bind vielmehr auch die Möglichkeit mit der Gewohnheit zu brechen (auf Ebene III zu gelangen) und damit zu einem charakterlichen Wachstum beizutragen: »We have predominantly thought of the double bind as a destructive experience – a trauma. But, [...], it is evident that while the experience of the double bind must always be partly unpleasant, it is also possible that his type of experience is an integral part of what we may vaguely call characterological growth. Without it, the individual would be in some sense static; even though with too much of it, he may be driven to schizophrenia. It looks as if differentiation and creativity – whatever these words mean – occur when the environment is neither too consistent nor too capricious« (Bateson 1991: 102). Dieses Wachstum liegt im Kreativen, in der Kunst und im Spiel. Das Spiel erlaubt eine Form des Experimentierens. Die Mitteilungen, Zeichen, Bot-

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schaften innerhalb des Spiels können für Ereignisse außerhalb des Spiels stehen und damit zur Entwicklung von Kommunikation beitragen (Bateson 1981c/1954: 245). Spivak macht nun eine Gemeinsamkeit zwischen Batesons Spiel und Schillers Spieltrieb aus: »It protects the subject from the double bind as schizophrenia« (Spivak 2012: 27). Für Bateson ist die Kunst ein Teil einer Suche nach »Grazie« (Bateson 1981f/1967: 182). Aldous Huxley folgend sei die Suche nach Grazie das zentrale Problem der Menschheit, eine Einfachheit und Naivität in Kommunikation und Verhalten, die ihnen abhandengekommen sei. Stattdessen ist das menschliche Verhalten »korrumpiert durch Täuschung – sogar Selbsttäuschung –, durch Zwecksetzung und durch Selbstbewusstsein »(ebd.). Die Kunst könne als Mittel der Integration der verschiedenen Ebenen des Geistes, des Bewusstseins und des Unbewussten, wirken (ebd.: 183). Bateson weist in diesem Zusammenhang auf die Verbundenheit unserer Gewohnheiten mit dem Unbewussten, die er als Ökonomie sowohl des Denkens als auch des Bewusstseins beschreibt, und die Unzulänglichkeit unserer Wahrnehmungsprozessen hin (ebd.: 193). Schließlich müsse der bewusste Organismus nicht wissen, wie er etwas wahrnimmt, sondern nur was er wahrnimmt (ebd.). Die »unbewussten Komponenten« des Lebens seien ständig in all ihren vielfältigen Formen gegenwärtig, über die wir uns in Metamitteilungen austauschen müssten (ebd.). In diesem Sinne wird die Kunst für Bateson zu einer Übung in einem spielerischen Verhalten mit diesen unbewussten Komponenten zu kommunizieren (ebd.: 194). An dieser Stelle verweist Bateson auf ein Zitat der Tänzerin und Choreografin Isadora Duncan (1877–1927): »Könnte ich Ihnen sagen, was es bedeutet, dann bestünde kein Anlass, es zu tanzen«, das er als »Botschaft über die Grenzfläche zwischen Bewusstem und Unbewusstem« interpretiert (Bateson 1981f/1967: 194). Der Kunst spricht Bateson eine korrektive Natur zu, die Bewusstes und Unbewusstes integrieren kann und durch die es möglich wird, die ineinandergreifende »Kreisläufe« des Lebens von Zufälligkeiten zu begreifen (ebd.: 204f.). Er will klarmachen, dass das Bewusstsein von diesen Kreisläufen immer nur kurze Bögen erkennen kann und das auch nur soweit, wie sie den Zwecken des Menschen dienlich sind (ebd.). Er betont damit den epistemologischen Gehalt des Unbewussten. Denn das Unbewusste enthält nicht nur Verdrängtes, sondern auch »vieles, was uns so vertraut ist, dass wir es nicht überprüfen müssen« oder, anders gesagt, ist das, was wir am besten wissen, auch das, was uns am wenigsten bewusst ist (ebd.: 199). Es ist der Prozess der Gewohnheitsbildung – also das Lernen II – der für ein Absinken des Wissens ins Unbewusste sorge (ebd.). Somit ist Gewohnheit als

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wichtige Ökonomie des bewussten Denkens zu betrachten (ebd.). Batesons Interesse war vornehmlich ein erkenntnistheoretisches. Er sah das Epistemologische als verantwortlich für unser Handeln, welches insbesondere in Hinblick auf die ökologische Katastrophe fehlgeleitet sei, und sah die Ästhetik als Möglichkeit darin einzugreifen (Lutterer 2000: 125ff., 147ff.). Es sei die Gewohnheitsbildung, die die Struktur des Erkennens präge und die Ästhetik ein Mittel diese aufzubrechen (ebd.). Es ist dieser Zusammenhang, auf den Spivak verweist, wenn sie die erkenntnistheoretischen Aspekte für die mögliche Veränderung von Gesellschaft hervorhebt, die Notwendigkeit einer epistemologischen Revolution hervorbringt und sich für eine ästhetische Erziehung ausspricht.

Die Schizophrenie der Gesellschaft Batesons Auseinandersetzung mit dem double bind ist in der Zeit zu verorten, in der erstmals ein Bewusstseinswandel im Hinblick auf die ökologischen Auswirkungen des menschlichen Handelns entstand. In Bezug auf das Verhältnis der Menschheit zu ihrer Umwelt trat ein double bind auf. Mit dem Bewusstsein um die ökologische Krise und die Ausweglosigkeit des menschlichen Handelns kam die schmerzvolle Einsicht, dass es keine richtige Antwort zu den ökologischen Problemen gibt (Chaney 2017: 6). Ein Zustand, der sich bis in die heutige Zeit unvorstellbar potenziert hat. Wie es Chaney darlegt, schien das Gefühl, durch Widersprüche auseinandergerissen zu sein, Teil des Zeitgeistes der Nachkriegszeit zu sein. Der moderne Geist schien »gespalten« und Wahnsinn und Schizophrenie wurden zu Metaphern um den Zustand der Gesellschaft zu beschreiben (vgl. ebd.). An den Beispielen von Albert Camus’ Vorstellung vom Absurden, Reinhold Niebuhrs Neuformulierung der Erbsünde und Joseph Hellers »catch-22«, zeigt Chaney wie die Idee des unlösbaren Dilemmas als Gesellschaftskritik in Kunst und Literatur immer wieder auftaucht. Die Figur des double binds erfasste gewissermaßen das Versagen von Wahrnehmungsorganisationsweisen, die mit der Moderne verbunden sind (vgl. ebd.). Auch der Literaturwissenschaftler Winfried Kudszus findet die »Absurdität moderner Systemgebundenheit« und deren Ausweglosigkeit in der modernen Literatur wieder und verortet die double bind Theorie sowohl in »komplexen multipersonalen Situationen« als auch in »kulturell und gesellschaftlich determinierten Zusammenhängen« (Kudszus 1977: 147ff.). Er rekurriert dabei auf Wilhelm Reich, der

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in seiner Untersuchung der »schizophrenen Spaltung« (Reich 1971)4 sowohl von zwischenmenschlichen als von gesellschaftlichen Kontexten ausgeht. Spivak birgt den double bind ebenfalls aus den interpersonalen Beziehungen und macht ihn gesamtgesellschaftlich aus. Sie fokussiert allerdings konkret auf »the ›world”s double bind towards the European Enlightenment« (Spivak 2012: 13) und damit auf die postkoloniale Situation. Ein double bind im Herzen der Demokratie (ebd.: 4). Dass ein Großteil schizophrener Symptomatik im gesellschaftlichen Kontext entsteht, hat auch Bateson hervorgehoben. Spivak bemerkt: »Bateson takes the double bind out of the limited context or narrow sense of a mental ›disease‹. Indeed, it may become, for him a general description of all doing, all thinking as doing, all self-conscious living, upstream from capitalism, a question of degrees. Contradictory instructions come to us at all time« (Spivak 2012: 10). Der Philosoph Gilles Deleuze und der Psychiater Félix Guattari machen die Schizophrenie schließlich gesamtgesellschaftlich aus. In ihren beiden Werken »Anti-Ödipus« (1972) und »Tausend Plateaus« (1980), setzen sie Schizophrenie und Kapitalismus in Beziehung. Sie argumentieren, dass die kapitalistische Produktion einem schizophrenen Modus der Wunschproduktion folge, denn sowohl der Kapitalismus als auch der Schizo versuchten festgelegte Codes und Territorien zu überwinden (vgl. Zukauskaite 2013: 113). Der Kapitalismus sei schizophren, da er gleichzeitig produktiv und destruktiv sei und das auch sich selbst gegenüber: »Unaufhaltsam nähert er sich seiner im eigentlichen Sinne schizophrenen Grenze« (Deleuze/Guattari 1977: 44). Er schreitet so weit fort, bis er »sich selbst mitsamt seinen Strömen zum Mond schießen würde« (ebd.). Kapitalismus und Schizophrenie deuten auf Ambivalenzen. Doch letztlich ist es die Schizophrenie, die zur Überwindung des Kapitalismus ausgemacht wird (vgl. Ramond 2010). Ähnlich wie Deleuze/Guattari den Kapitalismus nicht ablehnen, weil sie ihm auch eine produktive Kraft zuweisen, wendet sich auch Spivak den Widersprüchen des postkolonialen

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Reich betrachtet den schizophrenen Zustand sogar als den natürlicheren, wogegen die gute Angepasstheit des homo normalis gefährlich ist: »Die schizophrene Welt verbindet zu einer Erfahrung, was im homo normalis sorgfältig voneinander getrennt ist« (Reich 1971: 453). »Meine Arbeit…ließ keinen Zweifel daran, dass die besten…nicht wegen ihrer ›Schlechtigkeit‹ zugrunde gehen, sondern wegen des Infernos, dass der homo normalis ›Zivilisation‹ und ›kulturelle Anpassung‹ nennt« (ebd.: 519)

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Kapitalismus zu. Um die Widersprüche zu durchdringen, sei allerdings die besagte erkenntnistheoretische Revolution vonnöten (vgl. Menozzi 2017: 468). Diese Wunschproduktion, die im Kapitalismus schizophren ist, lässt sich mit Begehren gleichsetzen. Das Begehren wird sowohl bei Deleuze und Guattari als auch bei Spivak als wesentliche Kraft verstanden, welche die Realität des Menschen in seinen Beziehungen zu anderen Menschen und den Dingen produziert: »In Wahrheit ist die gesellschaftliche Produktion allein die Wunschproduktion selbst unter bestimmten Bedingungen. [...] Es gibt nur den Wunsch und das Gesellschaftliche, sonst nichts« (Deleuze/Guattari 1977: 39). Das Begehren und nur das Begehren ist Deleuze und Guattari (1972: 138; Übers. LH) folgend »in seiner Essenz revolutionär«. Sie prägen den Begriff der Wunschmaschinen (machines désirantes), die in Wechselwirkung miteinander die gesellschaftliche Realität produzieren und die an sich schizophren sind. Sowohl die Wunschproduktion (production du désir) als auch die Wunschmaschine (machine désirante) sind auf Nietzsches Willen zur Macht zurückführen, bzw. eine Interpretation von diesem. Er soll im Nachfolgenden genauer dargelegt werde, um den Ansatz Deleuzes besser verstehen zu können.

Die Welt als Wille zur Macht »Und wißt ihr auch, was mir ›die Welt‹ ist? … Diese Welt: ein Ungeheuer von Kraft, ohne Anfang, ohne Ende, … Diese Welt ist der Wille zur Macht – und nichts außerdem! Und auch ihr selber seid dieser Wille zur Macht – und nichts außerdem! (Nietzsche, 1999a/1885: 610f.) Der Wille zur Macht ist nicht ein spezieller Fall des Wollens, sondern das »innerste Wesen des Seins«, (Nietzsche 1999c/1886: 260). Alles Wollen ist Nietzsche zufolge »Etwas-Wollen« (Nietzsche 1999c/1887: 54) und dieses Etwas ist »Macht« (Müller-Lauter 2010: 2). Dabei ist dieses Machtwollen nicht einfach nur mit »begehren, streben, verlangen« gleichzusetzen, sondern beinhaltet auch den »Affekt des Commandos« (Nietzsche 1999c/1887: 54) der sich mit der Umsetzung des Begehrens beschreiben lässt. Deshalb sprechen

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Deleuze/Guattari in Anlehnung an den Willen zur Macht auch von Begehrensproduktion oder Wunschmaschinen als produktives Begehren. So wie die Wunschmaschinen als eine Vielzahl von miteinander interagierenden Maschinen gedacht werden können, gibt es auch nicht den einen Willen zur Macht, sondern eine Vielzahl von Willen zur Macht, die sich gegenseitig bedingen. Und da Machtwollen auf eine Machterweiterung abzielt und diese sich in »Überwältigungsprozessen« vollzieht (Müller-Lauter 2010: 2), braucht ein Wille zur Macht, der wiederum aus verschiedenen Machtquanten besteht, einen anderen Willen zur Macht, den er überwältigen kann. Der Wille zur Macht benötigt gewissermaßen einen Gegensatz, der selbst nur Wille zur Macht sein kann und der ihn erst zum Willen zur Macht macht (vgl. ebd.: 24). Indem er den Willen zur Macht ›zurechtmacht‹ und ›interpretiert‹ hat er auch einen Einfluss darauf, wie sich Erkenntnis bildet. Und dieses Interpretieren hat »als eine Form des Willens zur Macht, […] Dasein (aber nicht als ein »Sein«, sondern als ein Prozeß, ein Werden) als ein Affekt« (Nietzsche 1999b/1885: 140). Hier besteht ein Bezug zu Nietzsches lebensbejahender Vorstellung der ewigen Wiederkunft, etwa, wenn er die Wiederkunftslehre als die »extremste« (Nietzsche 1999b/1886: 312) Annäherung des Werdens an das Sein denkt (MüllerLauter 1999a: 237). Nietzsche sieht in der Welt keine Einheit, sondern Differenzen: »Alle Einheit ist nur als Organisation und Zusammenspiel Einheit: … ein Herrschafts-Gebilde, das Eins bedeutet, aber nicht eins ist”(Nietzsche 1999b/1885: 104). So erfasst Deleuze Nietzsches Willen zur Macht als Produktion von Differenzen und dieses Verständnis lässt sich Jeffrey A. Bell (1995: 1) folgend in Verbindung mit Batesons double bind bringen.

Kritik jenseits von entweder/oder Bateson hatte einen tiefen Einfluss auf das Denken von Deleuze und Guattari. Tausend Plateaus entlehnt seinen Titel Batesons ethnographischen Vergleichen der Iatmul und einer balinesischen Kultur (Bateson 1981a), in denen er das Wort »Plateau« benutzt, um »eine zusammenhängende, in sich selbst vibrierende Intensitätszone, die sich ohne jede Ausrichtung auf einen Höhepunkt oder ein äußeres Ziel ausbreitet« zu beschreiben (Deleuze/Guattari 1992: 37). Entgegen einer Erkenntnislogik, die von einem einzigen Ursprung, Anfang oder Primärursache und einem Ziel oder Zweck ausgeht, schlagen Deleuze/ Guattari Plateaus, Rhizome und Konsistenzebenen (plans de consistence) vor, in denen Intensitäten und Kräfte wirken, über die man nicht hinauskommt oder

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in denen man schon immer »mittendrin« ist, ähnlich wie in Batesons double bind (vgl. Bell 2006: 100). Bezüge zu Batesons double bind sieht Bell bereits in Deleuzes Auseinandersetzung mit Nietzsches Wille zur Macht in Nietzsche und die Philosophie (1985, 1995, 2006). Schon bei Nietzsche findet sich eine Kritik, die nicht einer Entweder-oder-Logik folgt, sondern sich eben dieser Logik widersetzt (ebd.). »Man müsste eine Stellung außerhalb des Lebens haben, und andererseits es so gut kennen, wie einer, wie viele, wie alle, die es gelebt haben, um das Problem vom Wert des Lebens überhaupt anrühren zu dürfen: Gründe genug, um zu begreifen, dass dies Problem ein für uns unzugängliches Problem ist« (Nietzsche 2013/1888: 36). Da die Welt, wie das Leben, nur von innen verstanden werden kann, da wir nicht über sie hinausgehen oder sie von außen betrachten können und ihr grundlegender Charakter das »Chaos« ist, seien wir in der Folge auch auf das Chaos in uns selbst gezwungen, wie Bell (2006: 101) schlussfolgert. Das Chaos in uns selbst versteht Nietzsche als schöpferische Kraft, wenn er bemerkt »man muss Chaos in sich haben, um einen tanzenden Stern gebären zu können« (Nietzsche 1983: 10). Dieses schöpferische Chaos ist freilich nicht berechenbar. Es kann nicht nur zu einem »tanzenden Stern« führen, sondern auch zu einem Kollaps (vgl. Bell 2006: 104). Bell interpretiert daraus die beiden Pole, die das Ereignis für immer bedrohen – das zerstörerische Entweder-Oder (ebd.). Dieses Entweder-Oder sei, Bateson folgend, das Versäumnis, kreativ auf den double bind zu reagieren, während die schöpferische Antwort die Bekräftigung der differentiellen »sowohl-als-auch«-Struktur des Willens zur Macht beinhalte (vgl. ebd.: 105). Nietzsche affirmiert die Widersprüche, »indem er sie nicht als Gegensätze isoliert, sondern als Differenzen behandelt« (Lange 1989: 47). Daran anschließend tritt in Deleuzes/Guattaris Anti-Ödipus »die inklusiv-disjunktive Form« eines ›sei es…sei es‹ (Deleuze/Guattari 1977: 98) an die Stelle der ›Herrschaft des Entweder…Oder‹ (ebd.: 96; vgl. auch Lange 1989: 83). Eine Kritik sollte also nicht bei einem Entweder-Oder verbleiben, sondern immer das Ganze in seiner Vielheit bejahen. So verhält es sich auch mit den historischen Vermächtnissen, die unsere heutige Realität prägen. Diese gelte es nicht abzulehnen, sondern zu verändern. Man müsse sowohl neue Ideen schaffen als auch die Tradition bejahen, deutet Bell (2006: 104) den §552 über »Das einzige Menschenrecht« aus Nietzsches Menschliches, Allzumenschliches. Eine Kritik ohne Erlösung, die sich bei Nietzsche sowohl hin zu einer traditionellen Metaphysik als auch gegen eine solche wendet (vgl. Bell 2006: 113).

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Um die Konsequenz eines destruktiven Entweder-Oder, welches den double bind verfehlen würde, zu vermeiden, muss es die ständige ewige Wiederkehr des Sowohl-als-auch des Ereignisses geben, die Wiederkehr dessen, was sowohl Vergangenheit (d.h. Tradition, Territorialisierung, Sein) als auch Zukunft (d.h. Fortschritt, Deterritorialisierung, Werden) ist (vgl. ebd.: 105). Es ist eine ewige Wiederholung, die das Differentielle hervorbringt. Ein immer wieder selbsterziehender Prozess in reflexiven Schlaufen, der das Ethische hervorbringt: »a persistent struggle for epistemic transformation in the future anteriority« (Spivak 2012: 198). Ein Training der Gewohnheit des Ethischen. Und zwar mit dem Verständnis, dass eben alle Subjekte kontaminiert und Teil der Verhältnisse sind. Es ist ein Tanz der ständigen Selbstüberwindung auf der feinen und gefährlichen Linie zwischen Tradition und Wahnsinn oder zwischen Chaos und Wiederholung (vgl. Bell 2006: 104).

Ästhetik als Spiel mit dem double bind und der Erlernung des Ethischen In »Was ist Philosophie?« (Deleuze/Guattari 1991) begreifen Deleuze/Guattari gleichzeitig die Unmöglichkeit wie die Notwendigkeit, das Chaos zu identifizieren und zu ordnen (vgl. Bell 2006: 105). »Wir wollten doch nichts anderes als ein wenig Ordnung, um uns vor dem Chaos zu schützen«, heißt es dort etwa (Deleuze/Guattari 1991: 241). Bell sieht darin einen double bind, dem die Intellektuellen nachgehen und auf den ihrer Meinung nach sowohl die Kunst, die Philosophie wie auch die Wissenschaft versuche zu reagieren (vgl. 2006: 106). Der Kunst (oder dem Ästhetischen) kommt dabei eine besondere Rolle zu, da sie Visionen und Empfindungen vermittele und damit das Chaos darstelle, es spürbar mache (Deleuze/Guattari 1991: 245f.). Das Ästhetische könne das Chaos dort wieder spürbar machen, wo es durch das Einwirken von Gewohnheiten kaschiert worden ist (ebd.: 260). Das Empfinden und Wahrnehmen des Ästhetischen wird bei Deleuze/Guattari zu »Affekten und Perzepten« und (nur) durch dieses sinnliche Werden würde etwas oder jemand immer wieder anders werden und bliebe gleichzeitig, was es ist (ebd.: 213). Kunst wird bei ihnen zum wahren Schaffensprozess. Den Schaffensprozess seines neuen ästhetischen Paradigmas erklärt Guattari weniger absolut damit, dass die Kunst zwar kein Monopol auf das Schaffen hätte, jedoch dazu befähige bisher unerhörte, nie gesehene und nie gedachte »Seinsqualitäten« hervorzubringen (Guattari 2014: 134). Guattari hat das ästhetisch-ethische Paradigma geprägt,

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um die Untrennbarkeit von Wahrnehmung und Handlung – oder Erkenntnis und Ethik – zu unterstreichen. Er legt dar, dass das Subjekt durch Übung und Experiment geformt wird (vgl. Radman 2018: 242). Schließlich ist das Wort Ethik vom griechischen Wort Ethos abgeleitet, das »Gewohnheit« oder »Sitte« bedeutet und als »gelebte gute Gewohnheit« verstanden werden kann. Bei Nietzsche wird (beginnend mit der »Geburt der Tragödie«) eigentlich das gesamte Leben ästhetisiert, bzw. produziert das Ästhetische das Leben. Nietzsche versteht das Ästhetische nicht als harmonische Darstellung, sondern als die Produktion des Lebens selbst. In dieser (chaotischen und widersprüchlichen) Selbsterzeugung liegt das Ästhetische im Willen zur Macht (Eagleton 1994: 263). Damit wird »das Ästhetische«, wie Terry Eagleton schreibt, »als autonome Selbstverwirklichung […] als Gewohnheit, Habitus oder gesellschaftliches Unbewusstes in Frage« gestellt und erhalte eine politische Dimension (ebd.: 265). Es ist auch der Wille zur Macht, der die Erkenntnis prägt, da sich jede Erkenntnis und jede Wahrnehmung als ›Zurechtmachung‹ »eines jeweiligen dominierenden Willens zur Macht« manifestiert (Müller-Lauter 1999: 66). So lässt sich das Begehren als etwas Produktives – als lebensproduzierende Kraft überhaupt – verstehen. Auch Spivak setzt an dem Begehren als produktive Kraft an, wenn sie eine zwangsfreie Neuordnung von Begehren (uncoercive rearrangement of desire) zur Bedingung macht, um die Vorstellungskraft in der epistemologischen Performance zu trainieren (Spivak 2012: 125). Eine andere Erkenntnis und Vorstellung muss gewollt werden, aber dafür braucht es eine über die tradierten Denkgewohnheiten hinausgehende Imagination durch das Ästhetische. »Das Ästhetische könnte zur Krise erhellen«, heißt es bei Spivak mit der Hoffnung, dass es das Politische vor einer allzu unreflektierten Rationalität schützen und angesichts der enormen Unsicherheiten das Ethische unterstützen kann (Spivak 2012: 16). Es ist die mächtige Rolle von Affekt und Gewohnheit bei der Ausbildung des Intellekts (Butt 2015: 1), auf die Spivak insistiert, wenn sie sich für eine ästhetische Bildung als Mittel für eine »epistemologische Revolution« (Spivak 2012: 26) ausspricht. In Anlehnung an Schiller, und auch Bateson, soll eine ästhetische Erziehung, als Ausbildung der Vorstellungskraft (training of the imagination), das Subjekt lehren zu spielen, um das Epistemische zu verändern. »We must learn to do violence to the epistemo-epistemological difference and remember that this is what education ›is‹, and thus keep up the work of displacing belief onto the terrain of the imagination, attempt to access the epistemic« (ebd.:

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10). Wenn Spivak die ästhetische Bildung in den Dienst der sozialen Gerechtigkeit, einer Ethik der Fürsorge für den:die Andere:n, stellt, dann geht es ihr darum, dass »radikale Alterität« eine eigentlich unmögliche Imagination des Bildes der:des Anderen als Selbst brauche (Spivak 2012: 104). Denn wir können nie ganz die:der Andere sein oder uns auch nur in ihn:sie hineinversetzen. Und so können wir auch nie sicher sein, die richtigen Entscheidungen zu treffen. Wir befinden uns beständig in einem double bind: »When we find ourselves in the subject position of two determinate decisions, both right (or both wrong), one of which cancels the other, we are in an aporia which by definition cannot be crossed, or a double bind« (ebd.). Der double bind sei kein logisches Problem eines Widerspruchs, führt sie weiter aus, sondern eher als Erfahrung zu begreifen, die sich im Überschreiten offenbart (ebd.). In der Tat ist der double bind oft mit der Dialektik verglichen worden (etwa Stierlin 1981: 9). Jedoch handelt es sich bei dem diesem nicht einfach nur eine Dualität oder einen Widerspruch, sondern um einen unauflösbaren Widerspruch, der eben zur Handlungsunfähigkeit führen kann. Den double bind zu spielen, bedeutet in diesem unauflösbaren Widerspruch handlungsfähig zu werden oder zu bleiben und eben keine Aufhebung. In der Aporie des double binds zu entscheiden, sei die Last der Verantwortung. Der Typus des ethischen Gefühls ist Bedauern, nicht Selbstbeweihräucherung (vgl. Spivak 2012: 104f.). In diesem Zusammenhang spricht Zahi Zalloua von einem double bind, in dem sich Intellektuelle mit dem Wunsch wiederfinden, für andere zu sprechen und gleichzeitig ihre Einzigartigkeit zu respektieren (2016: 166). Das Ästhetische kann den double bind durch seine affektive Dimension erfahrbar machen, helfen ihn zu erkennen, zu lernen und mit ihm zu spielen. Angewandt auf die postkoloniale Situation, kann das Spiel mit dem double bind u.a. als affirmative Sabotage der Europäischen Aufklärung verstanden werden, die Spivak betreibt. Trotz ihrer problematischen Verflechtungen mit der kolonialen Gewalt, bleiben die Leitideen der Aufklärung, wie Demokratie, Freiheit (Spivak 2012: 2) unverzichtbar. Postkolonialismus und Aufklärung stehen also in einem double bind. Eine affirmative Sabotage erkennt diese Wiedersprüche in ihrer Unauflösbarkeit an und nutzt sie. Um die Verhältnisse zu transformieren, gälte es die Texte der Aufklärung produktiv zu nutzen anstatt sie schlicht abzulehnen: »to use the European Enlightenment critically, with which we are in sympathy, enough to subvert« (Spivak 2012: 4). Diese »produktive Unterwanderung« (productive undoing) sei aber eine schwierige Aufgabe, die ihre Kritik immer wieder sorgfältig prüfen müsse: »ohne Anklage, ohne Entschuldigung, mit Blick auf die Verwendung« (Spivak 2012: 1). Es

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geht darum parasitär in und mit den hegemonialen Diskursen und Institutionen zu arbeiten, sie gleichzeitig zu kritisieren und zu stützen, denn sie garantieren Handlungsmacht (Spivak 2012: 201), ohne die eine Transformation der Verhältnisse nicht zu haben ist. Es ist eben eine Kritik jenseits eines Entweder-Oder. Spivak lässt sich aus den hier aufgefächerten Ideen zum double bind, der produktiven Kraft von Begehren und der Notwendigkeit ästhetischer Bildung für die Ausbildung des Ethischen aus ihren eurozentrischen Diskursen inspirieren und überträgt sie auf die postkoloniale Situation.

Conclusio Mit Batesons Lerntheorie sind die in Kontexten antrainierten Gewohnheiten als spezifische Struktur von Erkenntnis zu verstehen. Ein double bind entsteht genau auf dieser Ebene des Lernens, kann durch paradoxe Mitteilungen Schizophrenie auslösen und gleichsam zu Handlungsunfähigkeit führen. Paradoxe prägen jedoch unsere Gesellschaft, womit die gesamte Gesellschaft als schizophren betrachtet werden kann. Mit dem double bind zu spielen bedeutet mit den Gewohnheiten und Routinen zu spielen. Ästhetik als Zusammenspiel von Empfinden und Wahrnehmen sowie als Schaffensprozess, bleibt mit ihren erkenntnistheoretischen wie ethischen Implikationen dafür auch heute unverzichtbar. Denn die Ästhetik ist als Bindeglied zwischen Gewohnheit, Wahrnehmung und Denken zu verstehen (vgl. Menozzi 2017: 269). Dafür muss das Begehren adressiert werden, etwas anderes zu wollen, das in Anlehnung an Nietzsches Willen zur Macht als produktive Kraft verstanden werden kann. Jedoch sieht sich Ästhetik als Vermächtnis der Europäischen Aufklärung (im Hinblick auf die postkolonialen Verhältnisse) selbst in einem double bind gefangen. Hier setzt Spivak mit einer affirmativen Sabotage an, die bedeutet, in den kritisierten Diskurs einzutreten, um ihn von innen zu verändern und dabei unsere eigene Kompliz:innenschaft zu erkennen. Eine ästhetische Erziehung bleibt notwendig um die tradierten Denkgewohnheiten aufzubrechen, indem andere Verhältnisse affektiv-intellektuell imaginiert werden – als Schritt für andere Erkenntnisse und ein anderes Handeln. Eine ästhetische Erziehung bleibt auch notwendig um mit dem double bind spielen zu lernen und aus einer postkolonialen Perspektive in den Widersprüchen der Moderne handlungsfähig zu bleiben oder werden.

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Leila Haghighat: Schizophrenie und Ästhetik

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Unverantwortliche Banausen Überlegungen zu Ethik und kritischer Kunst María do Mar Castro Varela »Kultivierte Banausen pflegen vom Kunstwerk zu verlangen, daß es ihnen etwas gebe. Sie entrüsten sich nicht mehr über das Radikale, sondern ziehen auf die unverschämt bescheidene Behauptung sich zurück, sie verstünden nicht. Diese beseitigt noch den Widerstand, die letzte negative Beziehung zur Wahrheit, und das anstößige Objekt wird lächelnd unter seinesgleichen, den Gebrauchsgütern katalogisiert, zwischen denen man die Auswahl hat und die man ablehnen kann, ohne selbst Verantwortung zu tragen. Man sei eben zu dumm, zu altmodisch, man könne einfach nicht mit, und je kleiner man sich macht, um so zuverlässiger partizipiert man am mächtigen Unisono der vox inhumana populi, an der richtenden Gewalt des petrifizierten Zeitgeists.« (Adorno 2003/1951, Abschnitt 139)

Theodor W. Adorno lässt keine Zweifel daran, dass die, die sich den Herausforderungen der Ästhetik entziehen, nichts weiter als Banausen sind. »Banausen« ist ein wunderbar antiquiertes Wort, das jene bezeichnet, die des abstrak-

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ten Denkens nicht fähig und/oder willens sind, und in Adornos Verständnis verlangen, die Kunst müsse ihnen etwas geben. Als abwertende Bezeichnung charakterisiert es Menschen, denen es an (einem Willen zur) (Weiter-)Bildung und ästhetischem Verständnis fehlt. Interessanterweise zeigt ein Blick in die Etymologie des Begriffs, dass »Banause« aus dem Altgriechischen abgeleitet wurde und diejenigen beschrieb, die am Ofen (βαῦνος) arbeiteten. Dies waren Kunsthandwerker:innen, die, da sie nicht frei geboren waren, nicht zur Polis gehörten. Banausen mussten ihren Lebensunterhalt mit körperlicher Arbeit bestreiten und es war ihnen gleichsam verboten, in den sogenannten artes liberales tätig zu sein. Die Möglichkeit und Fähigkeit zur Kontemplation markierten bereits in der Antike soziale Grenzziehungen. Der gerichtete Blick, das konzentrierte Betrachten, ist Teil einer Arbeit an erweiterter Erkenntnis und steht nicht allen zu bzw. wird nicht allen zugetraut. Es sind die Sittlichen, die die Kunst suchen, und auch die, die diese zu verstehen sich anstrengen. Das Ästhetische, mit dem sie sich umgeben, dem sie sich hingeben, adelt sie, da sie sich nicht mit dem Status quo ihres aktuellen Wissensstands zufriedengeben – während diejenigen, die die Kunst verachten oder denen Kunst, wie Adorno schreibt, »nichts sagt«, verroht und dumm erscheinen. Doch diejenigen als Banausen zu bezeichnen, die Kunst nicht verstehen, ist ein geringschätzendes Urteil und kann als Hochmut verstanden werden. Bei genauerem Lesen jedoch erkennen wir, dass Adorno von den kultivierten Banausen spricht: Jene die es eigentlich besser wissen sollten. Jene, die die Möglichkeit hatten und haben, sich auf das Ästhetische einzulassen und das Abstrakte zu verstehen, es jedoch schlicht aus Bequemlichkeit nicht tun. Jene, die sich auf die »unverschämt bescheidene Behauptung« zurückziehen, »sie verstünden nicht«, wie Adorno schreibt (Hervorhebung MCV). Die Frage, welche politische und soziale Rolle Kunst, Kunstkritik und Ästhetik im Allgemeinen spielen, beschäftigt nicht nur die abendländische Philosophie seit Jahrhunderten (siehe auch Erdoğan in diesen Band). Friedrich Schiller, dessen Schrift Über die ästhetische Erziehung des Menschen (2000/1793), die er gegen Ende des 18. Jahrhunderts schrieb und Gayatri Chakravorty Spivak als Inspirationsquelle diente, um über die Rolle einer ästhetischen Erziehung in globalisierten Zeiten nachzudenken, versucht sich an einer »Philosophie des Schönen«, die letztlich Philosophie und Geschmack zusammenzubringen sucht (Schiller 2000/1793: 130). Ob dies gelingt, ist zu bezweifeln. Ob es sich hierbei überhaupt um ein sinnvolles Unterfangen handelt, ist nicht zweifelsfrei zu bejahen. Doch entscheidend ist weder, was Schiller in diesem Bemühen erreicht hat, noch, ob seine Texte nicht schlicht eurozentrisch und elitär sind.

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Letzteres ist bestimmt zu bejahen. Wichtiger sind die Fragen, die trotzdem aufgeworfen werden müssen, und die (nicht intendierten) Einsichten, die Schiller bei der Suche nach einer Definition des Schönen und Kontemplativen gewinnt. So macht er eine Spannung zwischen den sinnlichen und geistigen Energien aus: Während das Sinnliche die Kräfte erschlafft, merkt er an, dass die geistige Energie die sinnliche beschränkt. Die ästhetische Bildung muss darum einem doppelten Bedürfnis Genüge tun: »auf der einen Seite die rohe Gewalt der Natur« entwaffnen und auf der anderen »die selbstthähtige Vernunftkraft« wecken und damit den Geist »wahrhaft« machen (ebd.: 156). Die Sinnlichkeit sei »gegen die Eingriffe der Freyheit zu verwahren«, während gleichzeitig die »Persönlichkeit gegen die Macht der Empfindungen sicher zu stellen« sei (ebd.: 51). »Kunst«, schreibt er, »ist eine Tochter der Freyheit, und von der Nothwendigkeit der Geister, nicht von der Nothdurft der Materie will sie ihre Vorschrift empfangen« (ebd.: 9). In seiner Auseinandersetzung mit Kants Philosophie räumt Schiller der Kunst eine besondere Rolle ein. Spivak urteilt einerseits harsch, dass Schiller Kant nicht verstanden hätte, räumt andererseits ein, dass es ihm gelang, eine aufschlussreiche Idee herauszubilden, die unser Verständnis von ästhetischer Bildung erweitern kann. Schillers Darstellung verweist auf ein Kräftetrapez, das sich zwischen dem Rationalen, Ästhetischen und Ethischen aufspannt. Die Herausbildung eines ethischen Handelns bedarf der Einschränkung sowohl des Ästhetischen als auch des Rationalen. Bleibt das ästhetische Empfinden unausgebildet, sind Tür und Tor für das Rohe und Grobe geöffnet. Wer allerdings des abstrakten Denkens nicht fähig ist, dem bleibt das Ästhetische gänzlich verschlossen, wenn auch das überzogen Rationale, so würden wir heute vielleicht sagen, in einer unheilvollen Technokratie enden kann, die letztlich nur Banausen mit spezifischer Expertise hervorbringt, die wissen, wie genau eine Software zu bedienen ist, doch nicht in der Lage – und auch nicht willens – sind, sich etwa von Kunst beunruhigen zu lassen. Schiller sucht das Maßvolle. Die Bändigung der Grenzenlosigkeit, die potentiell Entgrenzung in sich birgt, ist das Ziel. Aber haben Schillers Texte in postkolonialen, globalisierten Zeiten noch irgendetwas zu bieten? Sind sie nicht zu sehr verstrickt mit einer imperialen Zeit, in der das weibliche Geschlecht zu den »schönen Dingen« gehörte und alle außereuropäische Kultur negiert oder verachtet wurde? Und Adorno? Sind seine ästhetischen Abhandlungen nicht eurozentrisch, punktuell auch rassistisch

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und insgesamt elitär?1 Wäre es nicht ratsam, nach außereuropäischen Stimmen zu suchen, die eine andere Ästhetik und womöglich Ethik proponieren: Dekoloniale Ästhetiken, wie sie beispielsweise in der 8. Ausgabe der wissen der künste mit dem Titel Decolonial Deferrals in verschiedenen Beiträgen vorgestellt werden2 (siehe auch Caceres/Mesquita/Utikal 2017)? Es ist tatsächlich an der Zeit, postkolonialer Kritik sowie rassismuskritischen, abolitionistischen und queeren Perspektiven in Kunst und Kulturbetrieb eine ernsthafte – nicht nur symbolische – Position einzuräumen. Zu lange wurde der Kunstbetrieb von normativen Vorstellungen einer kleinen Gruppe weiß-bürgerlich (meist cismännlich) situierter Personen dominiert, die die namhaften Ausstellungen kuratierten und denjenigen Künstler:innen zu Ruhm verhalfen, deren Werke exakt auf den Geschmack kultivierter Banausen abgestimmt schien. Immer ein wenig provokativ, sodass es möglich blieb, aus dem eigenen langweiligen bürgerlichen Leben für einen kurzen Moment auszubrechen. Doch nur solange dies nicht bedeutete, dass die Kritik, die die Kunst formulierte, das eigene Leben erschütterte. Die Kritik feministischer Künstler:innen in den 1970er und 1980er Jahren wurde von einer erstarkenden Frauenbewegung ermöglicht und die zunehmende Rezeption rassismuskritischer, postkolonialer sowie queerer Positionen in den 1980er und 1990er Jahren von entsprechenden antirassistischen, queeren und postkolonialen Bewegungen. Des Weiteren führten

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Eine gute Zusammenfassung und Diskussion der Vorwürfe gegenüber Adornos Ideen zu Kunst im Gegensatz zur Kulturindustrie finden sich bei Ulrich Paetzel (2001). Es ist ihm sicher nicht in allen Punkten zuzustimmen, aber einige Argumente, die er in Verteidigung Adornos vorbringt, sind durchaus nachvollziehbar. Siehe https://wissenderkuenste.de/texte/ausgabe8/(letzter Aufruf 21.01.2023). Der Begriff »dekoloniale Ästhetik« wurde von Walter Mignolo geprägt. In einem Gespräch mit C&, das Aïcha Diallo in 2014 mit ihm führte, zeigt sich deutlich die Problematik dieser Perspektive. Danach gefragt, wie er die Dak’Art Biennale innerhalb eines Projekts dekolonialer Kunst einschätzen würde, erläutert Mignolo, dass für ihn die Biennale in Dakar/Senegal noch zu sehr an die Europäische Moderne gebunden bliebe, während etwa die Sharjah Biennial 11, das Museum für Islamische Kunst in Doha oder das Museum für Asiatische Zivilisation in Singapur tatsächlich für eine Loslösung von europäischen Perspektiven ständen. Alle drei Länder Sharjah/Vereinigte Arabische Emirate, Doha/ Katar und Singapur zeichnen sich für ihn durch finanzielle Autonomie aus. Allerdings zeichnen sie sich auch dadurch aus, dass es sich um autoritäre Regime handelt, was bei Mignolo unerwähnt bleibt. Autonomie von Europa und Autoritarismus im eigenen Land – ist das das Ziel dekolonialer Politik?

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ciskritische Perspektiven zu Beginn der 2000er Jahren zu einem erhöhten sozialen und politischen Druck, der von Mitgliedern (ehemals) marginalisierter trans Personen ausging, die in den zivilgesellschaftlichen Arenen das Wort ergriffen. Der Ruf nach Gerechtigkeit im Kunstbetrieb ist womöglich nie so laut wie derzeit gewesen, denn postkoloniale Kritik kratzt an den Fundamenten des Betriebs. Folgerichtig wird das Feld der Kunst (und auch der Kulturellen Bildung) von scharfen Debatten bestimmt. In den nächsten Jahren wird es unweigerlich zu starken Veränderungen im Kunstbetrieb kommen. Die ästhetischen Vorstellungen werden sich verschieben, pluralisieren, und die Akteur:innen, Künstler:innen, Kurator:innen, Galerist:innen. Kunstvermittler:innen werden zumindest diverser werden. Doch stellt sich die Frage, ob dies tatsächlich den Kunstbetrieb, der Teil einer gut funktionierenden kapitalistischen Maschinerie ist, grundlegend verändern wird. Sind die Strukturen nicht womöglich doch stärker als der Protest dagegen? Wird nicht jegliche Kritik absorbiert und in den Betrieb eingepasst, ohne dass ein gesellschaftlicher Wandel eintritt? Wird sich das Begehren nach der Kunst für kultivierte Banausen, die »den mächtigen Unisono der vox inhumana populi, an der richtenden Gewalt des petrifizierten Zeitgeists« folgen (Adorno 2003/1951, Abschnitt 139), ändern lassen? Der nachfolgende Text versucht sich an eine erweiterte Vorstellung von der Praxis des Spielens mit dem double bind. Das Zentrum der Reflexion wird nicht gerahmt von der Frage der Funktionalität oder Legitimität von Kunst und Kunstvermittlung in postkolonialen Zeiten – oder einer Kritik an derselben –, sondern von einem Interesse an dem ästhetischen Verstehen als eine Art und Weise, die notwendige Erweiterung der ethischen Vorstellungskraft in Zeiten von Krisen und Katastrophen zu ermöglichen, die der vox inhumana populi etwas entgegensetzen kann. Ästhetik wird als Quelle, Inspiration und Praxis verstanden, die sich einer Simplifizierung des Hier und Jetzt entgegenstellen kann, wenn es gelingt, sie aus der eurozentrischen Umklammerung zu lösen. Es geht folglich weder um den guten Geschmack noch um eine Kritik, die streicht und löscht, sondern um ein kritisches Verstehen, das durchkreuzt, Widersprüche transparent macht und kontrapunktische Pluralisierungen vorantreibt. Ein ästhetisches Verstehen, das ich nicht abschließend definieren möchte, kann eine Chance bieten, in den Lauf der Zeit einzugreifen und dabei einen um sich greifenden Katastrophismus sowie den Versuch, die postkoloniale Kritik zu vereinnahmen, um bei den »guten alten« Vorstellungen von Schönheit und Wissen zu bleiben, zu vermeiden.

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Spivak folgend muss der double bind, die doppelte Bindung, die das postkoloniale Leben bestimmt, v.a. als Herausforderung gelesen werden. Ich folge hier ihrer These, die postuliert, dass eine ästhetische Erziehung notwendig ist, wollen wir den double bind verstehen, und nehme das Plädoyer, dass es darum gehen muss, einen angemessenen Umgang mit diesen zu finden, zum Ausgangspunkt, um die komplexe Frage nach der Rolle des Ästhetischen in Zeiten von Krisen und Katastrophen zu stellen.

Krisen und Katastrophen: das Chthuluzän und die Anthropologie »Im innersten Gehäuse des Humanismus, als dessen eigene Seele, tobt gefangen der Wüterich, der als Faschist die Welt zum Gefängnis macht.« (Adorno 2003/1951, Abschnitt 53) Unsere heutige Zeit wird, wie viele Zeiten davor auch, mit Krisen und Katastrophen assoziiert. Die COVID-19-Pandemie scheint vorüber und wird doch bleiben (siehe Bayramoğlu/Castro Varela 2021). Inflation, Rezession und eine globale Energiekrise erschüttern selbst die europäischen und US-amerikanischen Mittelschichten, und die Armut nimmt weltweit zu. Der Klimawandel, der von vielen immer noch ignoriert wird, ist keine Prognose mehr, sondern längst fassbare Realität: Das Polareis schmilzt, Unwetter wie auch das Artensterben nehmen zu (siehe IPBES 2019). Und obschon es weltweit noch viele Offliner gibt – Menschen, die keinen Zugang zum Internet haben –, wird das Leben aller Menschen von digitalen Tools und Zugriffen bestimmt. Lange schon sprechen die Politikwissenschaften von multiplen Krisen, die sich global ausbreiten. Hinzu kommen, auch bedingt durch den Krisenmodus, zahlreiche Katastrophen. Aufgrund des Klimawandels kommt es weltweit vermehrt zu Stürmen, Waldbränden, Überflutungen und Dürren, während die Ressourcenknappheit zunehmend mehr globale Kriege zur Folge hat. Viele glauben, dass Technik – insbesondere die digitale Technik und die künstliche Intelligenz – dafür Sorge tragen wird, dass wir die Krisen bewältigen und uns als

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Menschheit an die Katastrophen anpassen werden.3 Doch das Vertrauen an Bildung schmilzt hinweg wie die Eisberge der Arktis. Und obschon dies Zeiten sind, die nachdrücklich nach einem gescheiten Umgang mit Ambivalenzen und Widersprüchen rufen, scheint die Fähigkeit, Fragilität aushalten zu können, vom Aussterben bedroht (siehe Bayramoğlu/Castro Varela 2021). Was also tun? Kann uns die Kunst, das Ästhetische, retten? Und wenn ja, welche ästhetische Praxen könnten dies vollbringen? Und wer würde davon profitieren? Oder ist es nicht so, dass sich der Kunstbetrieb bestens an einen savage capitalism (Hogan 2009) assimiliert hat und diesen trotz und wegen der Kritik geradezu fördert? Es ist kaum von ungefähr, dass die von Geolog:innen vorgeschlagene Bezeichnung für unsere heutige geochronologische Epoche, die in der Kunstwelt großen Zuspruch findet, Anthropozän lautet. »The Anthropocene is a multidimensional challenge. Our future is more unpredictable than ever, with new phenomena like Category 5 megastorms, rapid species extinction, and the loss of polar ice.« (Thomas 2019: o. S.) Geolog:innen zufolge ist das Anthropozän die Epoche, in der die Menschen und ihr Handeln zum bestimmenden Faktor für den Zustand der Erde werden. Anders gesagt: Die biologischen, geologischen und atmosphärischen Prozesse werden im Anthropozän in erster Linie durch den Menschen verursacht. Eine so weitreichende These konnte kaum unwidersprochen bleiben. Donna Haraway, die Ende der 1980er Jahre mit A Cyborg Manifesto (1991) die cyberfeministische Bewegung und Kunst anstieß, widerspricht dieser Theorie (2016a, b), wie auch Jason Moore (2016), der der Meinung ist, dass die Vorstellung des Anthropozän die Herrschaftsverhältnisse unbeachtet ließe und es angemessener sei, vom Kapitalozän zu sprechen. Schließlich sind nicht alle gleichermaßen vom Klimawandel betroffen wie auch nicht alle im selben Umfang dafür verantwortlich seien. Françoise Vergès ergänzt, dass die »Geschichte des rassifizierten Kapitalozäns […] uns helfen [wird] zu verstehen, dass der Klimawandel nichts mit menschlicher Hybris zu tun hat, sondern ein Ergebnis der langen Geschichte des Kolonialismus und des rassifizierten Kapitalismus und seines prometheischen Denkens ist – der Vor-

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Tatsächlich wird an Häusern gearbeitet, die weniger Energie verbrauchen, Solarzellen, die schneller und besser Energie speichern, Autos die weniger die Umwelt verschmutzen etc.; Nachhaltigkeit ist das Stichwort der Zeit.

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stellung, dass ›der Mensch‹ eine mechanische, technische Lösung für jedes Problem erfinden kann.« (Ebd.: 80) Ein weiterer Einwand kommt von Dipesh Chakrabarty, der in The Climate of History in a Planetary Age (2021) die Auffassung vertritt, dass zwei Perspektiven miteinander verbunden werden sollten: eine globale und eine planetarische. Während Erstere den Fokus auf den Menschen und seine Praxen legt, dezentriert Letztere die menschliche Perspektive. Haraway dagegen versteht zwar den Sinn beider Konzepte – Anthropozän und Kapitalozän –, schlägt aber ein drittes vor: Chthuluzän. Das Chthuluzän beschreibt unsere Epoche als eine, in der das Menschliche und das Nicht-Menschliche in tentakelhaften Praktiken untrennbar miteinander verbunden sind. Es ist eine Epoche, die eher eine Sympoiesis als eine Autopoiesis vonnöten macht. Erstere ist als Kritik an Letztere zu verstehen. Die Kognitivpsychologen und Biologen Humberto Maturana und Francisco Varela (1972) prägten in den 1970er Jahren den Begriff der Autopoiesis. Sie versuchten damit das Lebendige vom Nicht-Lebendigen zu differenzieren. In Kürze handelt es sich bei autopoietischen Systemen um Netzwerke von miteinander verbundenen Prozessen, die Komponenten selbst produzieren, um dann wiederum Komponenten hervorzubringen, die die Netzwerke produzieren. Selbstproduktion also. Der Begriff legte bald eine transdiziplinäre Karriere hin und nahm etwa in der Systemtheorie von Niklas Luhmann einen zentralen Platz ein.4 Haraway widerspricht diesem Prinzip rigoros. Ihrer Meinung nach geschieht nichts aus sich selbst heraus. Wir bedürfen, so Haraway, der menschlichen wie auch nicht-menschlichen Anderen. Denn nur wenn es uns gelingt, in Gemeinsamkeit mit den Schwierigkeiten des Lebens und Sterbens auf einer beschädigten Erde zurechtzukommen, wird es wahrscheinlicher, so Haraway, dass ein Denken bereitgestellt wird, das eine planetarische Zukunft ermöglicht. Ähnlich argumentiert auch Chakrabarty, wenn er die Auffassung vertritt, dass die Menschheit als eine »planet-wide diaspora of a biological species« (Chakrabarty 2021: 195) verstanden werden sollte. Der Anthropozändiskurs dagegen untergräbt unsere Fähigkeit, uns andere Welten vorzustellen und für sie zu sorgen, sowohl für jene, die jetzt auf prekäre Weise existieren als auch für jene, »die wir im Bündnis mit anderen Tieren ins Leben rufen müssen, um

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Es ist hier wichtig zu betonen, dass Maturana und Varela die Begriffe nicht für geeignet hielten, um damit soziale Phänomene zu beschreiben. Das hinderte Soziolog:innen aber nicht daran, dies dennoch zu tun.

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die Vergangenheit, die Gegenwart und die Zukunft wiederherstellen zu können.« (Haraway 2016b, o.S.; Übersetzung MCV) Das Chthuluzän5 bedient sich der Artikulation vielfältiger Mythen und Imaginationen, ohne nur Fantasie zu sein. Es fokussiert sich nicht nur auf Krisen und Katastrophen, sondern auch auf Hoffnung und Durchhaltevermögen. Die durchgehende Geste ist: sowohl-als-auch-und-darüber-hinaus. Unsere Epoche ist abhängig von einer Vielzahl polyphoner, tentakelhafter6 Allianzen, während das wirkliche Wissen unter der Erde angesiedelt ist. Haraway betont ferner, dass wir denken müssen und es bedeutsam wäre, welche Gedanken wir denken. Um mögliche (bisher ungedachte) Vergangenheiten, Gegenwarten und Zukünfte zu schaffen, darf das Chthuluzän nicht nur auf eurozentrisches Wissen vertrauen, alsdann müssen die Vernachlässigung und Gewalt gegen alles Nicht-Menschliche überwunden werden. Das ist natürlich nicht ganz einfach, ist doch die Idee der Suprematie des Humanen tief im westlichen Denken verankert. Bayok Akomalafe (2016: o. S.) erfasst den double bind des Chthuluzän mit folgenden treffenden Worten: »This ethos of sympoiesis of less than linear futures (or ›becoming-together-with‹) brings us to acknowledge the liminality of our tragic and (simultaneously) stunningly hopeful circumstances.« Tatsächlich spricht das Chthuluzän nicht ausschließlich von der Katastrophe, sondern kritisiert eine Art des Katastrophismus, der sich in den letzten Jahren breit gemacht hat. Im Gegensatz dazu werden die Hoffnung und die Möglichkeiten eines Wandels mit viel Witz und Chuzpe hervorgehoben. Obschon Haraway in ihrem Buch (2016a) für ein plurales und allgemeines Sich-sorgen-Um plädiert, denn eine ökologische Gerechtigkeit kann ihr zufolge nur erreicht werden, wenn wir uns um alle Spezies kümmern, stehen im Zentrum ihres Fürsorgeplädoyers das Denken und die erweiterte Imagination. Und so wundert es kaum, dass sie sich ebenso wie Spivak auf die Arbeiten Batesons (und anderer kritischer Anthropolog:innen) bezieht. Die Anthropologie ist schließlich jene Disziplin, die Wege sucht und

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Haraway wurde zu dem Namen nach einem Biss der Pimoa cthulhu, einer kalifornischen Spinne, die unter der Erde lebt, inspiriert. Der Spinnenname verweist auf die griechischen chthonischen Gottheiten, die für sowohl Tod als auch Fruchtbarkeit stehen. So sind sowohl Hades als auch Demeter chthonische Gottheiten. Haraway verweist darauf, dass Tentakel vom Lateinischen tentaculum kommt und Fühlender bedeute. Tentare, so Haraway, bedeute »fühlen« und »versuchen« (siehe Haraway 2016b: o. S.).

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Strategien darlegt, wie dem und denjenigen, was uns »fremd« erscheint, begegnet werden kann. Wie können wir das Nicht-Gekannte zu einem Reservoir von Erkenntnis machen (vgl. Pandian 2019)?7 Die kritische Anthropologie ist immer auch selbstkritisch und befasst sich mit den Untiefen der eigenen Disziplin. Dies ist auch deswegen unumgänglich, da diese zutiefst in imperialer Herrschaft verwickelt ist. Bateson8 , dessen Konzept des double binds schließlich das Kernstück dieses Bands darstellt, war für geraume Zeit für das OSS (Office of Strategic Services)9 tätig (vgl. Price 1998). Das ist zunächst nicht weiter schockierend, wurde das OSS doch als Geheimdienst aufgebaut, um wichtige Informationen zu erhalten und falsche zu streuen, die dazu verhelfen sollten, Europa von den Nazis zu befreien.10 Jedoch gehen Batesons Protokolle und Berichte weit darüber hinaus. David Price, der seit Jahrzehnten die Geschichte der US-amerikanischen Anthropologie im Dienste der Geheimdienste und Regierungen aufarbeitet, macht auf Dokumente aufmerksam, in denen Bateson die Fehler Englands Punkt für Punkt beschreibt, die dazu führten, dass die britische Kolonialherrschaft wankte. Unter anderem erklärt Bateson darin, wie essentiell auch sexuelle Beziehungen der Kolonialherren zu den kolonisierten Frauen waren und warum die Unterbindung dieser Beziehungen fatal für die Kolonialregierung war. Die Beziehungen mit diesen Frauen (die er als mistresses bezeichnet) ermöglichten Bateson zufolge Zugang zu wichtigem Wissen aus erster Hand und eine für die Etablierung von Herrschaft wichtige Nähe zu den Beherrschten: »the more durable and more educative type of relationship with the native women has been reduced to a minimum and only the casual, impermanent – and educational[ly] useless – types of relationship persist.« (Bateson 1944: 3, zit. in Price 1998: 381)

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Die kritische Medizinanthropologie beispielsweise verabschiedet sich von einem biologischen Modell von Krankheit und sucht nach den sozialen Ursachen für Erkrankungen. Sie weist aber auch nach, wie Gesundheitssysteme, die soziale Ungleichheit fortführen, zur Folge haben, dass die Lebenserwartung von diskriminierten Menschen deutlich geringer ist als die Lebenserwartung privilegierter Menschen. Und auch seine Ehefrau, die berühmte Anthropologin, Margret Mead. Das OSS war der Nachrichtendienst des Kriegsministeriums der USA und von 1942 bis 1945 tätig. Es gilt als Vorläufer des CIA (Central Intelligence Agency). Auch Marlene Dietrich, Herbert Marcuse oder Franz Neumann kooperierten mit dem OSS (siehe Laudani 2016).

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Als Anthropologe weiß Bateson, wie eminent wichtig es ist, vielfältige Kommunikationsnetzwerke mit den Kolonisierten aufzubauen und aufrechtzuerhalten. Die Anthropologie untersucht schließlich differente Gemeinschaften und versucht ihr Verhalten, ihre Rituale und Alltagpraxen zu interpretieren. Die Instrumente, die hierzu entwickelt wurden, werden nun genutzt, um Vorschläge für eine erfolgreiche Kolonisierung zu unterbreiten. Bateson kritisiert beispielsweise nicht den Paternalismus der britischen Kolonialbeamt:innen gegenüber den Kolonisierten, jedoch das angewandte Erziehungsmodell, wonach die Brit:innen sich erhofften, dass ›ihre Kinder‹ es ihnen gleichmachen, während doch US-amerikanische Eltern durchaus offen dafür seien, von ›ihren Kindern‹ zu lernen (vgl. ebd.). Zum Ende des Dokuments macht Bateson dem OSS vier Vorschläge: Zunächst sei es sinnvoll, so viele nachrichtendienstliche Informationen wie möglich aus britischen Quellen zusammenzutragen. Darüber hinaus solle eine detaillierte Analyse der indischen Popkultur erfolgen. Hier schlägt Bateson Inhaltsanalysen populärer indischer Filme vor. Dies würde helfen, die Stimmung in der kolonisierten Bevölkerung zu erfassen. Und schließlich solle die USA von Russland lernen. Die nämlich lobten und übernahmen teilweise Aspekte der von ihnen überwältigten Kulturen. Nicht zuletzt schlägt er vor, dass das OSS nach dem Krieg seine Bildungsprogramme für koloniale Herrschaftsinstitutionen fortsetzen solle (vgl. ebd.: 382). Später bereute Bateson seine Zusammenarbeit mit dem OSS und erwarb eine negative Haltung vis-à-vis jeglicher Form angewandter Anthropologie. Letztendlich erhärtet diese Episode, das, was innerhalb postkolonialer Theorie seit Edward Saids Orientalism (1978) unwiderruflich klar scheint, dass die Wissenschaften (wie im Übrigen auch die Künste) nicht harmlos sind. Das macht eine Wissenschafts- und Kunstkritik notwendig, die sich diesem tiefen double bind stellen kann. Wenn Spivak also Schiller sabotiert, so müssen wir dieselbe Strategie wohl auch auf Bateson, die Anthropologie und Kunst und auch die postkoloniale Theorie anwenden. Um den double bind spielen zu können, so meine These , müssen wir ihn zunächst als verstricktes Konzept erfassen. Wir müssen uns fragen, ob nicht jede Strategie, die uns angeboten wird, um das Nicht-Gekannte kennenzulernen, in imperialistisches Gewebe führt. Das Chthuluzän führt uns unter die Erde und verweist darauf, dass wir, ohne zu graben, ohne uns die Hände schmutzig zu machen, die Hoffnung auf eine planetarische Zukunft aufgeben müssen. Graben wir also.

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Versuche der Entstrickung »Begreifen bedeutet, sich aufmerksam und unvoreingenommen der Wirklichkeit, was immer sie ist oder war, zu stellen und entgegenzustellen.« (Arendt 1993/1955: 22) Wie in einigen der Texte in diesem Sammelband genauer dargelegt wird (etwa Dhawan, Haghighat oder Erdoğan), entlehnt Spivak das Konzept des double binds den Arbeiten Batesons, das er in Ökologie des Geistes (1985) – eine Sammlung eigener Aufsätze und Vorlesungen – vorstellt. Charakteristisch für eine doppelte Botschaft ist Bateson folgend ihr widersprüchlicher Inhalt. So kann sich bspw. der kommunikative Inhalt des Gesprochenen mit einer gleichzeitig ausgeführten Gestik oder Handlung widersprechen. Besonders fatal ist es, wenn eine Abhängigkeit zum Sendenden der Doppelbotschaften besteht. Ein richtiges Verhalten ist für das abhängige Subjekt innerhalb einer solchen Situation nicht möglich, doch die Situation kann eben auch nicht verlassen werden. Das unerträgliche Leben hat das Subjekt nicht nur fest im Griff, es schafft dieses. Die Subordination wird durch die Permanenz doppelter Botschaften gefestigt, so dass eine Befreiung aus den Gespinsten unmöglich scheint. In dem Vorwort zur englischen Ausgabe Steps to an Ecology of Mind schreibt ein ehemaliger Student Batesons, der zentrale Gedanke des Buches sei, dass wir die Realität immer so bearbeiten würden, dass sie schließlich zu unserer eigenen Weltvorstellung passt – und nicht vice versa (vgl. Bateson 1972: 6). Ein wichtiges Konzept ist hier die »Gewohnheit der Gedanken« (habit of thought (ebd.: 16). Spivak folgt diesen Überlegungen und reflektiert darüber, wie die Denkgewohnheiten verändert werden können, so dass das Denken fließen kann – auch in andere Richtungen als die liebgewonnenen. Das dem Text vorangestellte Zitat findet sich in der Minima Moralia (2003/1951), jenem Buch von Adorno, das er, wie die Dialektik der Aufklärung (1988/1944), im US-amerikanischen Exil verfasste – Letzteres gemeinsam mit seinem Freund Max Horkheimer. Die Minima Moralia ist in vielfacher Hinsicht

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ein außergewöhnliches Buch, nicht nur weil es im Exil verfasst wurde.11 Es besteht aus durchnummerierten Kurztexten und Aphorismen, die die Bedingungen des Menschseins unter kapitalistischen und totalitären Verhältnissen beschreiben, und ist angefüllt mit Beschreibungen von Alltagserfahrungen und Reflexionen zum bloßen Sein. Hier findet sich auch die oft zitierte Sentenz »Es gibt kein richtiges Leben im falschen« (Adorno 2003/1951, Abschnitt 4312 ). Wie Martin Seel (2020: o. S.) darlegt, »erkundet [Adorno, MCV] Verständnisse und Verhältnisse, wie sie für viele oder alle prägend sein mögen. Die Stimme seiner Philosophie ist die Stimme eines Subjekts, das sich als eines unter anderen versteht und das deshalb in seiner Selbstverständigung nicht bei sich stehen bleiben darf.« Die Sentenz, die von der Unmöglichkeit des richtigen Lebens im falschen spricht, ist als Kritik an jegliche theoretische Bestimmungen oder aktivistische Versprechen gerichtet, die ihre Wahrheit als die Wahrheit verkünden und der Überzeugung sind, dass wenn sich ihre Wahrheit durchsetzen würde, das Leben im Allgemeinen besser wäre. Adorno dagegen stellt fest, dass das Subjekt selbst in Bezug auf das eigene Selbstverständnis nicht bei sich selbst bleiben sollte (siehe Seel 2004, 2020). Es geht um Überschreitung: um die Möglichkeit eines Denkens des Anderen. »Adorno schrieb keine Protokollsätze, sondern Partituren.« Diese Beschreibung von Arno Widman (2019: o. S.) in der Frankfurter Rundschau zum 50. Todestag von Adorno deutet auf eine Besonderheit der Minima Moralia hin, die eben nicht nur über Kunst spricht, sondern auch selbst ein künstlerischliterarisches Werk darstellt. Ein Werk, das kaum zufällig eine exponierte Position innerhalb der vielen philosophischen Veröffentlichungen des Nachkriegsdeutschlands einnimmt.13 Das Buch zieht in den Bann: Als Lesende galoppieren wir durch die widersprüchlichen Aussagen und werden von den Widersprüchen geradezu angezogen. Adorno war ein Mahner gegen den 11

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Die Entstehungsbedingungen lassen uns die Inhalte und Argumente oftmals besser verstehen; wird jedoch alles auf die Entstehungsbedingungen reduziert, wird der Inhalt verzerrt. Die Minima Moralia ist in insgesamt 153 durchnummerierte Abschnitte plus einen Anhang mit weiteren X Abschnitten (römische Ziffern) unterteilt. Die Minima Moralia wurde viel gelesen und debattiert. Sie schien die Trostlosigkeit der 1950er Jahre bestens einzufangen und verständlich zu machen. Siebzig Jahre ist es nun her, dass sie erschien, doch an Aktualität hat sie trotz oder insbesondere wegen des persönlichen und fragmentarischen Stils nicht verloren.

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unreflektierten Glauben an die Aufklärung. »Was objektiv Wahrheit sei, bleibt schwer genug auszumachen, aber im Umgang mit Menschen soll man davon nicht sich terrorisieren lassen« (Adorno 2003/1951, Abschnitt 43), schreibt er eindringlich. Wahrheit ist für Adorno nicht einfach gegeben, sondern schwer auszumachen. Die Kunst spielt in diesem Zusammenhang eine signifikante Rolle. Da sie mittels ihres Doppelcharakters autonom und an sozialen Erfahrungen gebunden erscheint und doch, in Adornos Verständnis, keine Funktion erfüllen soll, kann in ihr immer etwas erscheinen, »was es nicht gibt« (Adorno 2003/1970: 127). Spivaks Werk An Aesthetic Education in the Era of Globalization scheint auf den ersten Blick kaum etwas mit der Minima Moralia zu tun zu haben, doch bei genauerem Hinsehen finden sich durchaus produktive Spannungen (siehe auch Dhawan in diesem Band). Neben der Dichte und Vorrausetzungsvollheit der beiden Schriften ist es vor allem die Art und Weise, wie sich die Autor:innen in kritischer Weise mit der Aufklärung auseinandersetzen (siehe hierzu auch Castro Varela 2014). In beiden Werken sind die konkreten Erfahrungen mit Gewalt (epistemisch wie auch materiell und physisch) Anlass für eine kritische Evaluation der Schriften der europäischen Aufklärung. Beide Ansätze widersprechen jeglicher antiaufklärerischer Perspektive, sondern versuchen sich Bewegung in den komplexen Netzen der Aufklärung zu verschaffen. Für Adorno wie Spivak ist es die Kunst, das Literarische und die Musik, die uns vor der Barbarei des Kapitalismus retten können: Nicht jede Kunst, aber jene Kunst, die uns herausfordert, über das Bloß-Dargestellte hinauszudenken und uns affektiv als Zumutung begegnet. Kunst bedarf der Imagination, und Künstler:innen sind im besten Falle genaue Beobachter:innen des Hier und Jetzt und Meister:innen des (gleichzeitigen) Nachhinten- und Vorwärtsschauen. In globalisierten Zeiten, in denen bereits mehrfach der Tod der Alternativen zum Kapitalismus ausgerufen wurde, scheint es unmöglich, sich ein Leben ohne Ausbeutung vorzustellen. Kunst kommt, vielleicht mehr denn je, die Aufgabe zu, dazu zu verhelfen, sich das Unvorstellbare vorzustellen. Was in einer bestimmten Art und Weise gedacht wird, kann auch anders gedacht werden. Gleichzeitig ist auch die Kunst bedroht, weil sie sich nur mühsam und nie vollkommen aus den kapitalistischen Verstrickungen herauswinden kann. Mark Fisher (2009), der den Begriff des »kapitalistischen Realismus« für die Theorie prägte, vertritt die Auffassung, dass es in der aktuellen globalen politischen Situation eigentlich keine sichtbaren Alternativen zum kapitalistischen System gibt. Allerdings taucht der Begriff bereits vorher in der Kunstwelt in Deutsch-

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land auf. Manfred Kuttner, Konrad Lueg, Sigmar Polke und Gerhard Richter beschrieben Mitte der 1960er Jahre, zu Zeiten des Kalten Kriegs, als »kapitalistischen Realismus« das Gegenüber zum »sozialistischen Realismus«.14 So wurde eine Kritik der Künstler:innen als eingebettet im kapitalistischen System möglich. Insbesondere das deutsche »Wirtschaftswunder« und das damit einhergehende Versprechen auf ein besseres Leben wurden gemeinsam mit den bürgerlichen Seichtheiten und den kapitalistischen Repressionsmechanismen dargestellt. Die Nachkriegszeit erscheint als double bind: Einerseits ist sie durchaus eine Zeit der Emanzipation – immerhin folgt sie auf den Nationalsozialismus und Zweiten Weltkrieg –, andererseits vernebelt der Kapitalismus des Wirtschaftswunders – wie auch der Kalte Krieg – die Kritikfähigkeit der Menschen. Künstler:innen wie Richter nutzten die Form von Werbestrategien, um die eigene Karriere zu fördern, und weisen gleichzeitig auf die »Vulgarität des Kapitalismus« hin (e-flux, 26.07.2013). Es sind diese Widersprüchlichkeiten, denen es zu folgen gilt, wollen wir verstehen, warum ein einfaches Heraustreten aus einer kapitalistischen und imperialistischen Logik nicht so einfach gelingen kann. Der Dirigent, Komponist und Pianist Daniel Barenboim, der gemeinsam mit Edward Said das Orchester West-östlicher Divan gründete (siehe Cheah 2009), spricht davon, den Graben zwischen einer Klasse von Musiker:innen, die technisch versiert, aber ignorant gegenüber ihrer Gesellschaft sind, und der breiten Gesellschaft, die klassische Musik nicht versteht, schließen zu wollen (Chakrabortty 2016). In Zeiten, in denen Kunst immer öfter als nur politisches Instrument genutzt und entsprechend nur als politischer Ausdruck verstanden und gelesen wird, scheint es dringlich, die Zusammenhänge zwischen Ästhetik und Ethik erneut zu bestimmen. Kunst ist nicht gleich Politik, weswegen die Interpretation nie einfach gegeben ist. Die Wirkung von Kunst ist weder vorherzusehen noch einfach (be-)greifbar. Susan Sontag zufolge sollten wir uns gar mit jeder Interpretation von Kunst zurückhalten. Dass dies nicht gelingen kann, das wusste Sontag selbst nur allzu gut. Und dennoch warnt sie in ihrem einflussreichen Text Against Interpretation (1982/1966), dass die Interpretation eines Werkes dieses immer einschließt, einkapselt und auch verkürzt. Der moderne Stil der Interpretation vernichtet ihr zufolge das

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Zum ersten Mal findet sich der Begriff »kapitalistischer Realismus« im Titel der Ausstellung Leben mit Pop – Eine Demonstration für den kapitalistischen Realismus, die am 11. Oktober 1963 von Konrad Lueg und Gerhard Richter im Düsseldorfer Möbelhaus Berges organisiert wurde (vgl. Strelow 1991).

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Kunstwerk, während es versucht, dasselbe auszugraben (ebd.: 98). Sicher, die Praxis des Interpretierens muss immer im Kontext betrachtet werden. Nicht an jedem Ort und zu jeder Zeit bedeutet Interpretation dasselbe. In Sontags Kontext läuft die Praxis des Auslegens jedoch »to the philistine refusal to leave the work of art alone« (ebd.: 99). Und sie fährt fort: »Real art has the capacity to make us nervous. By reducing the work of art to its content and then interpreting that, one tames the work of art. Interpretation makes art manageable, comfortable.« (Ebd.) Das Bild, die Performance, das Video, der Film, die Installation sind immer mehr als das, was wir in diesen sehen, und auch mehr als das, was die Kunstschaffenden intendierten. Werke sprechen eine eigene Sprache und diese erreicht unterschiedliche Menschen in differenter Art und Weise. Die Erfahrungen, die Affekte, die Kunst reflektiert, sichtbar macht oder eben (re-)produziert, bleiben abhängig von den gemachten Erfahrungen, dem Wissen und der Fähigkeit der Betrachtenden, ästhetisch zu verstehen. Es kann Sontag zufolge nicht darum gehen, in der Kunst etwas zu suchen, viel eher muss Kunst auch ausgehalten werden, ohne sie gleich intellektuell zähmen zu wollen. Zwölf Jahre nach dem Erscheinen von Sontags einflussreichem Text unterscheidet Louise Rosenblatt (1994/1978) zwischen einer efferenten und ästhetischen Interpretation von Texten – insbesondere poetischer Texte. Rosenblatt war an den differenten Zugangsweisen zur Literatur interessiert. Ästhetisches Lesen findet ihr zufolge statt, wenn die Leser:innen durch Gefühle und persönliche Meinungen angeregt werden, während efferentes Lesen versucht, spezifische Informationen aus dem Text zu erhalten. Letzteres ist wohl das Lesen, das Sontag unerträglich findet. Beim Lesen literarischer Texte werden, so Rosenblatt, persönliche Lebens- sowie frühere Erfahrungen mit Sprache eingebracht, um Bedeutungen zu konstruieren. Bei der ästhetischen Lektüre liegt dabei der Schwerpunkt auf der erlebten Reise, die die Leser:innen dabei unterstützen kann, eine Selbstkritik zu entfalten. Damit das gelingt, ist es notwendig, mit anderen über das Empfundene ins Gespräch zu kommen, so dass einerseits das Singuläre des eigenen Berührt-werdens als auch das Soziale in der Wahrnehmung erkannt werden können. Kunst kann uns, wie Sontag schreibt, nervös machen. Dafür müssen wir sie allerdings auf uns wirken lassen. Die Praxis der Interpretation sucht unablässig nach dem Inhalt der Kunst, anstatt ihre Form als Form zu würdigen. Aber kann Kunst uns für die nicht gestellten Fragen öffnen? Kann ein Hinbewegen zum Ästhetischen die Falschheit unserer Existenz erfahrbar machen? Oder direkter gefragt: Kann Kunst dekolonisieren? Oder muss sie dekolonisiert werden?

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Wenn Spivak davon spricht, dass der double bind gelernt werden muss, dann heißt dies vor allem: die aktuelle Situation nicht zu akzeptieren, die Vergangenheit nicht einfach nur zu erinnern und schon gar nicht sich nach dieser zurückzusehnen, sondern sie in all ihrer Komplexität zu verstehen suchen. Spivak zufolge ist es eben das, was bereits die britischen Romantiker:innen versuchten, indem sie sich der Aufgabe stellten, die Imagination auf ein Maximum zu erhöhen, um der zermürbenden Homogenisierung der Zeit etwas entgegenzusetzen (Spivak 2012: 2). Und kein Kontext stand wohl so für Homogenisierung wie die globalisierte Zeit des 21. Jahrhunderts. Je mehr Auswahl es zu geben scheint, desto weniger Heterogenität ist auszumachen. Wahre Globalisierung findet heute, so Spivak, nur noch im Feld des Kapitals und der Daten statt: »Everything else is damage control.« (Ebd.: 1) Eine der Konsequenzen des realistischen Kapitalismus, wie ihn Fisher beschreibt, ist – neben der Zerstörung von Natur und der Ausbeutung der Arbeitskraft ehemalig Kolonisierter – die Zerstörung der Imagination, die Gleichsetzung von Wissen und Information sowie der Austausch von Intelligenz durch Kompetenz. Der komplexe Prozess des Verstehens wird auf Informationsakkumulation reduziert – die letztlich kultivierte Banausen produziert. Adorno mahnte bereits vor den Gefahren der Fantasielosigkeit und sprach von der »kollektiven Dummheit« der »Forschungstechniker« (Adorno 2003/1951, Abschnitt 79). Den Forschungstechniker:innen fehlt es nicht nur an Fantasie, ihre Fantasie erscheint laut Adorno kastriert »durch die Kontrollinstanz, die jegliche begehrende Antizipation ihr verweigert« (ebd.). Der Intellekt wird durch den Intellekt geopfert (intellectus sacrificium intellectus). »Phantasie, heute dem Resort des Unbewußten zugeteilt und in der Erkenntnis als kindisch urteilsloses Rudiment verfemt, stiftet allein jene Beziehung zwischen Objekten, in der unabdingbar alles Urteil entspringt: wird sie ausgetrieben, so wird zugleich das Urteil, der eigentliche exorziert.« (Ebd.) Es ist diese besondere Form des Antiintellektualismus, der sich dem Irrationalen unterwirft, das ästhetisch Anspruchsvolle missachtet und damit eine unaushaltbare Assimilation in die Wege leitet, die die Menschen in das »Schema der ohnmächtigen Wiederholung von je schon Bekanntem« (ebd.) einschließt. Die britischen Romantiker:innen sahen sich willentlich als intellektuelle Außenseiter:innen, bedienten sich ihrer Imagination und versuchten mit ihren Arbeiten aus den Rändern heraus die gesellschaftlichen Verhältnisse zu verändern. Hierbei nahm das Historische eine zentrale Rolle ein. Das Historische

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diente ihnen in kurzen Worten als Ausgangspunkt, um eine andere Zukunft zu entwerfen. Die Leistung der Imagination liegt demzufolge auch im Verknüpfen des Vergangenen mit dem Zukünftigen bzw. der Auflösung zeitlicher Grenzen. Temporalitäten werden durch die Imaginationskraft neu geschmiedet. Wir können uns das Morgen im Gestern vorstellen, wie sich im Augenblick Jahre verdichten können. Um den double bind spielen zu können, muss der kritische Verstand wachsam bleiben.

Schlussgedanken: zurück zum double bind Spivak zufolge ist es das Zweifeln, das es zu erlernen gilt – zumindest dann, wenn wir die Lehren der Aufklärung ernst nehmen, denn das Erbe der Aufklärung sind die Zweifel (»the legacy of the enlightenment is doubt«, Spivak 2012: 1). Die Aufklärung kann nicht einfach verworfen werden, denn ohne ihre Errungenschaft sind Demokratie, Freiheit und Emanzipation nicht denkbar. Doch müssen die Schriften der Aufklärung einem rigorosen kritischen Verfahren unterworfen werden. Das Sabotieren erscheint mir als eine gute Methode (siehe auch Tran in diesem Band). Diese typisch Spivak’sche kontraintuitive Denkbewegung verunsichert und lässt uns zuweilen auch sprachlos zurück. Zum Abschluss nochmal: Wäre es nicht sinnvoller, sich dekolonialen Ästhetiken und Ethiken zuzuwenden? Und was tun mit Batesons »Verrat«? Die Pointe liegt m.E. darin, dass es insbesondere die Schriften sind, die einen unabwendbaren »Blick von unten« (»gaze from below«, Wynter 2022) unterstützen, die uns dabei helfen werden, den double bind zu spielen. Spivak zufolge gibt es keinen Umweg, kein in Abstand gehen zu imperialistischer Gewalt: mit Adorno gesprochen, eben kein richtiges Leben im falschen. Weswegen es gilt, den Geist in Schwingung zu versetzen und den uns umklammernden Dummheiten zu begegnen. »Dummheit«, schreibt Adorno (2003/1951, Abschnitt 69), »ist überhaupt keine Naturqualität, sondern ein gesellschaftlich Produziertes und Verstärktes«. Spivak bezieht sich in ihrem in diesem Band abgedruckten Text nicht auf Schiller (oder auch Kant); sie greift auch nicht einfach auf Schiller zurück, als gäbe es nicht andere, weniger problematische Quellen: Sie sabotiert Schiller und hofft gegen alle Hoffnung (spes contra spem). Wenn in Zeiten von Katastrophismus Melancholie die Gedanken vernebelt, da keine einfachen Antworten auf komplexe existentielle Fragen zu finden sind, dann muss Hoffnung gegen Hoffnung eingesetzt werden. Anstatt nach unserer Rolle in dem System zu

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fragen, schlägt Spivak in dem Vortrag Imperative zur Neuerfindung des Planeten (1999) kurzerhand vor, das System einer »galoppierenden Globalisierung« zu verlassen und die Figur des Globus durch die Figur des Planeten zu überschreiben. Als Planet gehören wir zu einem anderen System, und als solches stehen wir im Zeichen einer Alterität, die mit der gewohnten Identität bricht, zugleich jedoch Teil dieser ist. Wenig überraschend geht Spivak vom großen Ganzen weg und hin zum eher Ungreifbaren. So wird das imperialistischglobale Denken in ganz andere Schranken verwiesen. Es geht darum, ein neues Denken zu erdenken lernen. Wir erinnern uns an Haraways Mahnung, dass es entscheidend ist, welche Gedanken wir denken. Die Grenzenlosigkeit, die für das Kapital gilt, muss mit bewussten Imperativen zu einer (neuen) Verantwortlichkeit geführt werden. Die Romantisierung einer zerstörten, aber auch fortlebenden Vergangenheit lehnt Spivak ab. Narrative, die von einer glücklichen vorkapitalistischen Welt sprechen, müssen in problematischer Weise die Gewalt präkolonialer Verhältnisse ausblenden. Postkoloniale Entstrickungsversuche entwerfen dagegen Strategien, die dabei behilflich sein können, uns durch widersprüchliche und komplexe Vergangenheiten und Gegenwarten zu navigieren, ohne vor denselben zu kapitulieren. Ohne ein erweitertes ästhetisches Wissen scheint dies ebenso unmöglich wie ohne ein Verstehen dessen, wie wir dort gelandet sind, wo wir jetzt sind. Nur dann ist es möglich, unseren ethischen Kompass zu rekalibrieren und uns auf den Weg zu planetarischen Zukünften zu machen. Und wir sollten Spivaks Mahnung nicht vergessen mit der ich hier ende: »given the times, who wins loses.« (Spivak 2012: 3)

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Verrat üben Zum Unbehagen an ästhetischen Ideologien Hayat Erdoğan

Es ist ein Leichtes, bestimmten Tendenzen im institutionalisierten Kunstfeld mit einer pauschalen Kritik zu begegnen. Etwa, dass Kunst- und Kulturinstitutionen sich kritische Begriffe aneignen, sich diese auf die Fahnen schreiben, aber die damit bezeichneten notwendigen Praktiken zur Veränderung ihrer Strukturen ignorieren. Weiter scheinen sie sich dem Vorwurf kaum mehr stellen zu müssen, sie würden ein weitestgehend weißes1 Programm für eine als homogen verstandene Gesellschaft machen, denn Begriffe wie Teilhabe und Diversität sind heute kulturpolitisch formulierte Aufträge an Institutionen, die im vorauseilenden Gehorsam nach außen als Selbstverständnis kommuniziert werden. Und schließlich würden sie es sich zu einfach machen, wenn sie glauben, mit ein paar Projekten mit oder über Menschen mit Migrations-, Rassismus-, Klassismuserfahrung im Programm und mit einigen Repräsentant:innen auf den Bühnen und in den Museen ihre aufgeklärte Pflicht zu erfüllen. Doch so einfach greift die Kritik nicht. Unterhalb solch oberflächlicher Betrachtungen brodelt ein diffuser Streit der Grundannahmen darüber, was Kunst ist, sein soll, sein darf und sein kann. Eingebettet ist dieser Streit in Ästhetik-Debatten, die – sofern sie aufeinander bezogen bleiben – eine allzu leichtfertige und schnelle Einordnung künstlerischer Arbeiten und institutioneller Selbstverständnisse im binären Raster gut-schlecht oder gelungen-misslungen unmöglich machen und das Denken herausfordern sollten. In der Konsequenz könnte sich daraus ein (künstlerisches) Handeln ergeben, das sich im Positiven selbst unmöglich macht. Denn auf dem Spiel steht nichts Geringeres als die »Kraft der Kunst« (Menke 2013: passim), respektive die emanzipatorische Wirksamkeit der Einbildungskraft. 1

Die Konstruktion des Begriffs weiß – klein und kursiv geschrieben – markiert nicht die Hautfarbe, sondern Privilegien. (Vgl. etwa Liepsch/Warner 2018).

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»Das letzte Wort der Ästhetik wird die menschliche Freiheit sein.« (Menke 2008: 129) Dieser Aussage Christoph Menkes würden sich Vertreter:innen der Autonomie-Ästhetik anschließen und auf das Potential der Kunst, nämlich die Fähigkeit zur Imagination zukünftiger, utopischer Welten und die Befähigung verweisen, unseren Geist in der ästhetischen Erfahrung zu trainieren. Ästhetik kann konkret und unmittelbar Realitäten verändern, sozial integrierend sein und Gemeinschaften herstellen, sagen hingegen diejenigen, die einen utilitaristischen Kunstbegriff verteidigen, und verweisen auf das ethisch-politische Potential der »Sozialintegration durch Kunst« (Rebentisch 2013: 60). Sie stellen Teilhabe durch und an Kunst als erstrebenswerte, anzubietende Dienstleistung über die Fähigkeit zur Imagination dessen, was nicht ist. Die einen halten die Idee hoch, dass aus Kunst immer schon ein »Wir […] kein Ich« (Adorno 1970: 250) spreche, das ein ideelles, abstraktes Konstrukt bleiben müsse, während die anderen ein Wir der Teilhabe empirisch situieren und somit jeweils konkrete und distinkte Gemeinschaften herstellen (wollen). Während die einen also, das ästhetische Argument stark machen, argumentieren die anderen ethisch, sozial und/oder politisch. Aber ist eine solchermaßen disjunkte Gegenüberstellung scheinbar unversöhnlicher Kunstbegriffe und Ästhetiken sinnvoll? Sind Ästhetik und Kunst, die es beide ohnehin als behauptete Kollektivsingulare nicht gibt, nicht gerade durch ihr Und, ihre Fähigkeit zur Konjunktion von scheinbar Unvereinbarem und Widerstreitendem, anti-polar und zugleich fähig, Widersprüche aufrecht zu erhalten und nicht einfach aufzulösen? Einfach lassen sich diese Fragen nicht beantworten, aber die eine Antwort will dieser Text auch gar nicht geben. Er wird stattdessen versuchen, dieses Spannungsfeld, seine Grenzen und Chancen, auszuloten. Im Folgenden werden in Form von Threads verschiedene Argumentationen und Perspektiven zusammen und gegeneinander ins Feld des Widerstreits geführt. Scheint das eine Argument nachvollziehbar, wird durch einen jeweiligen Beleuchtungswechsel auf ein scheinbares Gegenargument geschwenkt – jeweils im Versuch so doch zumindest die je zugrundeliegenden Prämissen zu skizzieren. Die Threads werden so nach und nach zu einem Text verwoben, der dafür plädiert, nicht einfach in Opposition zu gehen, was letztlich binäre Denkstrukturen wiederholen würde. Vielmehr gilt es Bezüge und Zusammenhänge herzustellen, diese als Konfliktlinien in einem Spannungsfeld zu erkennen und sich die Ideen eines Ästhetischen als eines Politischen anzueignen, die jeglichen short-cut Instrumentalisierungen widerstehen. Dies bedeutet auch, dass man lernt, den double bind nicht nur auszuhalten, sondern auch bewusst

Hayat Erdoğan: Verrat üben

zu spielen, d.h. auch, die schizophrenen Strukturen des double bind, die eigene Position darin sowie die hehren ästhetischen Ideen und Ideale zu verraten. Betrachten wir zum Einstieg der Diskussion widerstreitender Kunst-Begriffe und zur Orientierung in einem unübersichtlichen ästhetischen Feld einmal folgendes Beispiel:

Thread 1: Engagiert missfallen In einem Essay mit dem Titel Kunst und Flüchtlinge: Ausbeutung statt Einfühlung erhebt der Kunstkritiker Wolfgang Ullrich (2016) Einspruch gegen eine »Ästhetik des guten Gewissens«. Damit formuliert Ullrich sein Unbehagen gegenüber Künstler:innen, die »auf dem Rücken der Flüchtlinge ihre Seelen […] bereichern« (Ullrich 2016, o.S.) würden. Der Autor argumentiert im Modus der Unterstellung und macht zugleich den eigenen ästhetischen Geschmack, der auf der Folie einer hegemonialen Ästhetik und einem damit einhergehenden Kunstverständnis formuliert wird, zum Maßstab seines Urteils. Zur Veranschaulichung seiner steilen Thesen diskutiert er Arbeiten und Aktionen der Künstler Olafur Eliasson, Ai Weiwei und des artivistischen Kollektivs Zentrum für Politische Schönheit (ZPS). Die Urteile des Kritikers sind pauschal vernichtend: Eine ästhetische Kritik, so Ullrich, scheint an diesen moralisch motivierten Arbeiten abzuperlen. Eliassons Projekt Green Light bezeichnet er als »grob und blind« und unkünstlerisch insofern, als es nicht in der Lage sei »durch eine Stimulierung der Einbildungskraft Empathie für Menschen in anderen Lebensverhältnissen zu stiften« (ebd.). Ai Weiwei habe in seiner Aktion am Berliner Konzerthaus im Jahr 2016, bei der er 2000 der orangefarbenen Rettungswesten anbringen ließ, die über das Mittelmeer Geflüchteten als Namenlose und Anonyme adressiert und sie »auf eine bloße Menge reduzier[t]«. Und das Zentrum für Politische Schönheit würde ohnehin »am liebsten mit Bildern anonymer Massen« (ebd., o.S.) arbeiten. Ullrichs Kritik hat zwei Seiten: Sie richtet sich sowohl an die artivistischen Praktiken, die sich als humanitäre Akte inszenieren und zugleich einen Kunstbegriff propagieren, der – wie es in der Weiterführung seiner Thesen in einem Gespräch mit Tom Bieling heißt – einer »rein formalästhetischen Erschließung von Kunst« opponiere, ja, im Geiste eines Partizipations-Imperativs »zur aktiven Mitgestaltung von Politik und Gesellschaft durch alle Beteiligten, inklusive Künstler und Rezipienten« (Ullrich 2017, o.S.) einlade. Ullrich argumentiert vehement gegen die von ihm postulierte Hypokrisie

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der artivistischen Künstler:innen, die »Minderheiten, Opfer oder polarisierende Themen« (ebd., o.S.) zum Inhalt ihrer Kunst machten. Kunst würde instrumentalisiert, die Inhalte einer solchen Kunst kommodifiziert, während die politische Aktionskunst letztlich nur als »Gewissensdienstleistung« für Kunstinteressierte, die mit ihrer »ausgeprägten Sehnsucht nach moralischer Integrität und gutem Gewissen« nur eigennützig und selbst-affirmativ zur »Läuterung der Wohlstandsbürger« (ebd., o.S.) diene. Was hier an der Kritik von Ullrich interessiert, ist nicht der Modus der Unterstellung, in dem er etwa behauptet, dass die Absichten der Künstler:innen unauthentisch seien. Von Interesse für die weitere Diskussion sind dagegen die Annahmen, die seiner Argumentation zugrunde liegen. Ullrich verteidigt ex negativo ein Kunstverständnis, das sich am autonomie- und formalästhetischen Paradigma orientiert; ein Kunstverständnis, das am »Erbe der europäischen Aufklärung – der Ästhetik« (Spivak 2013: 1) ungebrochen festhält. Authentizität, Werk, künstlerische Intention und Subjektivität, Autonomie und Form sind dabei einige Kriterien, die aufgerufen werden, um die Abweichung davon als schlicht unkünstlerisch zu beurteilen. Zugleich gibt es in Ullrichs Kritik an den genannten Arbeiten Parallelen zu einer postkolonialen, kritischen Theoriepraxis. Das erscheint paradox, ist doch Ullrichs Kritik auf der Folie eines hegemonialen Kunstverständnisses formuliert. Aber sein Vorwurf, dass die politischen und sozial-engagierten Ambitionen der oben genannten Künstler:innen als Folgen eines partizipatorischen und moralischen Imperativs nicht authentisch seien, schlägt in dieselbe Kerbe wie die postkolonialen Kritiken. Ullrich verweist mit der Problematisierung der sogenannten Ästhetik des guten Gewissens auch auf die Problematiken der hegemonialen Deutungshoheiten und der epistemischen Gewalt. Alle von ihm besprochenen Künstler:innen verfügen über das Privileg der Produktionsmittel, womit sie sich immer schon in die Position derjenigen bringen, die deuten dürfen und können. Wenn beispielsweise Eliasson Geflüchtete Lampen basteln lässt, um auf die politische Situation dieser Menschen aufmerksam zu machen, tut er dies unter der problematischen Konstruktion und Perpetuierung des privilegierten, oft westlichen Eigenen, dem er den marginalisierten, oft nicht westlichen Anderen gegenüberstellt. Außerdem werden in solchen Projekten über »machtvollen Bezeichnungen« (Castro Varela/Dhawan 2015: 184) – sogenannte masterwords wie Spivak diese essentialistischen Manöver nennt – wie die Geflüchteten, unterschiedliche Erfahrungen, individuelle Biographien auf ein Merkmal reduziert, so als wäre eine politisch marginalisierte Gruppe »ein einheitliches politisches Subjekt« (ebd.: 185).

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Aber sollen sich Künstler:innen und Institutionen aus politischen, ethischen, sozialen Krisen, die sie nicht direkt selbst betreffen raushalten, weil sie es ohnehin nur – folgt man dem Vorwurf an eine ausbeuterische Betroffenheitskunst – alles falsch machen können? Die Antwort kann nicht Ja lauten. Künstler:innen wie Kultur- und Kunstinstitutionen können es sich nicht leisten, im Sinne des interesselosen Wohlgefallens nichts zu wollen. Sie können es sich nicht leisten, keine Verantwortung zu übernehmen und die Probleme und Krisen und Ungerechtigkeiten unserer Welt zu ignorieren. Einige Fragen, die sich aber dabei stellen, lauten: Wie geht kritisch-engagierte Kunst in einer diversifizierten, globalisierten und postkolonialen Gesellschaft? Wie kann eine intervenierende Kunstpraxis, die sich nicht ihrer ästhetischen Qualitäten wie z.B. der Öffnung anderer Wahrnehmungsräume, der Schaffung von Möglichkeitsräumen beraubt, aussehen? Wie kann man es vermeiden, den Anderen nicht erst durch romantische Minorisierung und Viktimisierung zur Ware zu machen und derart zu repräsentieren, dass damit problematische Identitätsannahmen und Differenzordnung reproduziert werden? Und zuletzt: Kann dies alles auf der Folie eines neuen Universalismus und gegen die zunehmenden Ungleichheiten geschehen?

Thread 2: Kritik üben Kunst als Kunst und Kunst als Institution befinden sich in einem steten transformatorischen Prozess. Die Kantische Interesselosigkeit im Geiste der formal- und wahrheitsästhetischen Autonomie der Kunst scheint in ihrer Weltabgewandtheit seit dem sogenannten Social Turn in den Künsten unhaltbar geworden zu sein. Zugleich gibt es nicht die Kunst. Wir haben es immer mit einem Plural der Kunst zu tun – heute mit einer pluralisierten Partikularisierung, partikularisierten Pluralisierung, die wohl die Folgen einer Globalisierungskritik und Identitätspolitik sind und deren Genese sich auch im Ästhetischen nachzeichnen lässt. Im Zuge des Social Turns im Kunstfeld seit den 1960ern sind, so die Kunsttheoretikerin Claire Bishop, neue Genrebezeichnungen wie Engaged Art, Community-based Art, Collaborative Art, Littoral Art oder New Genre Public Art entstanden, welche nicht nur einen engen Kunstbegriff innerhalb eines wahrheits- und formalästhetischen Verständnisses sprengen, sondern auch ästhetische Urteile und die KunstKritik vor neue Herausforderungen stellen würden (vgl. Bishop 2006: passim). Werk- und Künstler:innenbegriff werden hinfällig. Die mit den neuen

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Genrenamen bezeichneten künstlerischen Interventionen und Praktiken sind vor allem an der temporären Herstellung von inter-subjektiven Räumen interessiert. Ins Zentrum sollen verschiedene Zielgruppen rücken, die sich in soziale Interaktionen einlassen können. Ursprünglich als institutions- und kapitalismuskritische Formen der politischen Kunst-Praxis entstanden, wurden diese durch hegemonietheoretische Perspektiven und diversitätspolitische Anliegen erweitert. Heute sind sozial-engagierte, vermittelnde und kollaborative Arbeiten institutionalisiert und Teil eines ästhetischen Kapitalismus, und laufen Gefahr, Differenzordnungen und Hierarchien zu perpetuieren. So wird zum Beispiel die Arbeit mit, über und von sogenannten Zielgruppen von kulturpolitischen Förderinstitutionen gefordert und gefördert; Begriffe wie Teilhabe und Diversität werden zu präskriptiven Kriterien und zugleich Labels für Projekte, die soziale Effekte nachweisen können sollen. Im Visier sind dabei Zielgruppen, die als Minorität, als sogenannte marginalisierte Gruppen beschrieben und als homogene Gemeinschaften adressiert und hervorgebracht werden. Institutionen und Künstler:innen, die sich um Projekte mit sogenannten marginalisierten Gemeinschaften bemühen, beginnen aber nach und nach, ihre eigenen »Kolonialitäten der Produktionsbedingungen« (Liepsch/Warner 2018:10) kritisch zu reflektieren2 . »Es reicht nicht mehr die Kunst nur an ein bürgerliches weißes3 Publikum zu adressieren.« (Ebd.) Aber ist damit die Frage, wie der Diversität einer Gesellschaft Rechnung zu tragen wäre, beantwortet? Zwar wird die Viktimisierung und/oder Romantisierung marginalisierter token-Positionen4 problematisiert, doch essentialisieren2

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»Die weißen Institutionen, die ehemals weiße bürgerliche Selbstvergewisserung durch Repräsentationen des Selbst und des Fremden herstellten, stehen nun vor der Aufgabe, durch kritische Reflexion ihrer adressierten Publika, ihres Personals, ihres Programms und des Zugangs zu ihrer Institution der Diversität [einer] Gesellschaft Rechnung zu tragen« (Liepsch/Warner 2018:10). Vgl. Fußnote 1 Tokenismus oder »Tokenism« (engl. token, Zeichen, Symbol, Geste, Merkmal) beschreibt eine Repräsentationspolitik, bei der Mitglieder von sogenannten unterrepräsentierten und marginalisierten Gruppen auf eine Weise ausgeschnitten und vergrössert werden, um maximal sichtbar gemacht zu werden. Zum Beispiel hat die Soziologin Rosabeth Moss Kanter in den 1970er Jahren die Geschlechterverhältnisse in einem US-amerikanischen Industrieunternehmen untersucht und herausgestellt, dass Frauen als stellvertretend für die Frauen angesehen werden. Tokenismus beschreibt ein essentialistisches Manöver, das nicht nur die Frage der Geschlechtergerechtigkeit berührt, sondern auch im Bereich der Antidiskriminierungsgesetze an Institutionen zu »Alibiaktionen« verleitet. Als token wird dann eine Person bezeichnet, die als Zugehö-

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den und naturalisierenden Interpellationen von Gemeinschaften, die sowohl eine neokolonialistische Repräsentationspolitik als auch die Kommodifizierung der sogenannten minoritären Anderen befördern, ist damit kaum etwas entgegengesetzt. Die Kritik an diesen im weiteren Sinne aus dem Geiste des Social Turns entsprungenen relationalen, kuratorischen Kunstpraktiken wie beispielsweise der Community Art scheint nicht zu greifen. Sind die politischen und sozialen Absichten ethisch wertvoll, werden ästhetische Kriterien quasi suspendiert und die Kritik prallt an den guten Intentionen ab.5 Hier opponiert eine Ästhetik des guten Gewissens, die sich der Nützlichkeit von Kunst verschreibt, gegen eine Idee des Ästhetischen, die sich am Autonomie-Paradigma orientiert und die Inkommensurabilität von Kunstwerken betont.6

Thread 3: Inkommensurabel bleiben Die postkoloniale Denkerin Gayatri Chakravorty Spivak bemerkt, dass neben dem Zweifel die Ästhetik ein nachwirkendes Erbe der europäischen

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rige einer Minorität, diese Position in einer Institution, einem Betrieb, auf einem Panel usw. repräsentieren soll. Un/bewusster Tokenismus hat in den vergangenen Jahren zugenommen. Beispielsweise liest man vermehrt in Ausschreibungen von Universitäten oder kulturellen Einrichtungen, dass Frauen, Behinderte und Menschen mit Migrationshintergrund bevorzugt werden. Für die inszenierte Chancengleichheit und Diversitätspolitik hat sich im deutschsprachigen Raum der Begriff Diversity Management durchgesetzt. Hierauf komme ich weiter unten im Thread 7: Widerspruch denken zurück. Vgl. hierzu u.a. Adorno 1973: 179: »Kunstwerke sind nicht von der Ästhetik als hermeneutische Objekte zu begreifen; zu begreifen wäre, auf dem gegenwärtigen Stand, ihre Unbegreiflichkeit.« Diese Idee der Kunst als das ganz Andere der Wirklichkeit findet sich auch in zeitgenössischen Theorien. So schreibt Marcus Steinweg in Definition der Kunst: »Nie hat es Kunst gegeben, die mit dem Wirklichen koalierte. Kunst ist Widerstand gegenüber dem, was ist. Nicht im Namen dessen, was sein sollte, sondern im Namen des namenlos gebliebenen Anteils der etablierten Realität. […] Im Kunstwerk kommunizieren die offizialisierten, anerkannten Realitäten mit diesem Widerstand, der nichts als ihre Inkommensurabilität benennt: das Formlose, das sich seiner Formalisierung widersetzt.« Und Steinweg verteidigt ebenfalls die Autonomie der Kunst als Heteronomie: »Die Autonomie des Kunstwerks ist seiner Heteronomie geschuldet.« (Steinweg 2008: 122f.)

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Aufklärung sei (vgl. Spivak 2013: 1); und betont, dass nur eine ästhetische Erziehung uns darauf vorbereiten könne, mit den Folgen des elektronischen Kapitalismus als Folge der Globalisierung produktiv umzugehen, d.h. mit den Informationsakkumulations- und Verwertungslogiken, die aus dem Geiste des Wissensmanagements alles kommensurabel machen. Spivak schlägt vor, Kant und Schiller gegen den Strich zu lesen (»undoing«), affirmativ zu sabotieren (ebd.: passim). Um das Erbe der europäischen Aufklärung zu dekonstruieren, müsse man den »double bind« (ebd.) lernen, annehmen und anwenden können. Das bedeute nichts weniger als ein »learning to live with contradictory instructions« (ebd.: 3). In der Einleitung zu An Aesthetic Education in the Era of Globalization führt Spivak in einer kritisch-dekonstruktiven Lektüre von Schillers ästhetischer Theorie anhand des von ihm eingeführten Spieltriebs vor, wie dieser den notwendigen double bind aufgelöst habe. Schiller habe den Spieltrieb als ausgleichenden Akt eingeführt, was nach Spivak ein doppelter Fehler sei. Er habe damit nicht nur Kant psychologisiert, auf den sich Schiller bezieht, sondern einen weitaus gravierenden Fehler gemacht, den Philosophie-Leser:innen öfter machen würden: »[He turned] the desire inscribed in philosophy into its fullfillment.« (Ebd.: 19). Damit formuliert Spivak ihre Kritik an einer teleologischen und anwendungsorientierten Philosophiekonzeption und verteidigt zugleich ein (ästhetisches) Philosophieverständnis. Die Philosophie, hier die Ästhetik, ist weder normativ und präskriptiv, noch ist die Ästhetik ein Projekt, das konkret anzuwenden wäre, sondern eines mit dem wir unsere Einbildungskraft trainieren und unsere Begehren re-arrangieren können, um letztlich einen epistemischen Wandel herbeizuführen. Für Spivak ist dies nur durch eine ästhetische Erziehung möglich: »Only an aesthetic education can continue to prepare us for this, thinking an uneven and only apparently accessible contemporaneity that can no longer be interpreted by such nice polarities as modernity/tradition, colonial/postcolonial.« (Ebd.: 2) Wie aber ver-lernt man binäre Denkstrukturen?

Hayat Erdoğan: Verrat üben

Thread 4: Ästhetik miss-brauchen7 Die kritische Auseinandersetzung mit dem Erbe der europäischen Aufklärung, nämlich der Ästhetik, ist in den vergangenen Jahren unter dem Stichwort Dekolonialität zu einer eigenständigen Theoriepraxis namens dekoloniale Ästhetik avanciert. Der argentinische Semiotiker Walter Mignolo erklärt: »Es entstand im Laufe von Diskussionen über die koloniale Matrix von Macht: welchen Stellenwert hat Ästhetik in der kolonialen Matrix? Wir diskutierten die Kolonialität von Wissen und die Kolonialität des Seins, politische und ökonomische Kolonialität, oder die Kolonialität von Religion, die zu Lasten von Spiritualität geht, Kolonialität von Geschlecht und Sexualität, Kolonialität der Ethnizität (woraus Rassismus entstand). Aber wir waren noch nicht bei der Ästhetik angelangt.« (Mignolo 2014, o.S.)8 Dekoloniale Ästhetik versucht sich von postkolonialen ästhetischen Theorien zu distinguieren. Zwar betonen beide die Notwendigkeit anti-essentialistischer und institutionskritischer Kunstpraxis. Zugleich aber möchte der dekoloniale Ansatz als der Radikalere verstanden werden (vgl. Castro Varela 2015: 322) insofern als er sich u.a. »die Notwendigkeit der Veränderung politischer und ökonomischer Machtrelationen« (Köppen 2017: 319) auf die Fahnen schreibt. Anne Ring Peterson folgend würde ich jedoch Dekolonialität und Postkolonialität als Kontinuum denken, in dem dekoloniale Praktiken qua Intervention, Subversion, Dekonstruktion koloniale Realitäten stören: »I argue that decolonial thinking could be seen as a faction of the broad field of postcolonial studies; a certain mode of practicing a critique which favors an interventionist mode of ›doing‹ a performing art and culture with the aim of ›mining‹, and thereby undermining, colonial perceptions of the world.« (Peterson 2014: 129f.) Dekolonialität wird hier als eine kritische, interventionistische Strategie und Praxis der Kunstproduktion verstanden. Dekoloniale Ästhetik ist der Versuch, »keine europäisch-generierten Kategorien mehr anwendend, […] koloniales Erbe zu verstehen« (ebd.). Es ist ebenfalls der Versuch, »Europa in eine Domäne der Analyse [umzudeuten], und nicht als Lieferant »kultureller

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Spivak benutzt das Wort »ab-use« im Sinne von »use from below«. Spivak 2013: 11. C& im Gespräch mit Walter Mignolo (7.08.2014), https://www.contemporaryand.com /de/magazines/decolonial-aestheticsaesthesis-has-become-a-connector-across-thecontinent/, letzter Zugriff am 30.05.2019. Im Folgenden im Fliesstext Quellenangabe als (Mignolo 2014).

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und erkenntnistheoretischer Ressourcen« zu betrachten (ebd.). So verweist auch die kritische Theoriebildung im Geiste der Cultural und Postcolonial Studies auf essentialistische und/oder rassifizierenden Kulturbegriffe bzw. Konzepte der eurozentristischen Ästhetik, die als hegemonialer Diskurs weiterhin wirkmächtig unsere Imaginationen und Begehren einzäune und am epistemisch-gewaltvollen Narrativ ›West gegen den Rest‹ weiterschreibe (vgl. Leeb/Sonderegger 2016). Es ist ebenfalls der Versuch, diese wirkungsvollen binären Unterscheidungen »zugunsten komplexerer, für Widersprüche sensibler Geschichtsschreibungen zu überwinden« (Rebentisch 2013: 188). Doch geht es dabei weder darum, Differenzen zu tilgen noch diese zu fetischisieren. Eine dekoloniale Gegenwartskunst wäre eher eine, die den essentialistischen Vorstellungen geschlossener Kulturen genauso widersteht wie einer vermeintlich differenzfreien, globalisierten Kultur. Die dekolonialen, transversalen oder pluri-versalen Ästhetiken bzw. Proposals versuchen die Wirkungsweisen der normativen Vorstellungen einer Ästhetik der europäischen Aufklärung zwischen vermeintlich differenzauslöschendem Universalismusanspruch und differenzfetischisierenden Kulturvorstellungen sichtbar zu machen und ihre machtpolitischen Verflechtungen zu analysieren. Vor dem Hintergrund, dass sich der wahrheitsästhetische Universalismus als Partikularismus entpuppt, und dass Subjektivität und ein universelles Wir nicht mehr als abstrakt und rein vorgestellt werden können, muss die Frage der ästhetischen Erfahrung zur Dimension des Intersubjektiven neu formuliert werden. Bereits 1989 bemerkte Spivak: »If there is a universal principle it is in the incessant renegotiation of difference.« (Spivak 1989: 266) Das stete Aushandeln von Differenzen ist selbst universelles Prinzip. Zudem geht es nicht mehr darum, von einer Kultur in eine andere zu übersetzen, respektive »zwischen den Kulturen« zu übersetzen, sondern vielmehr um eine »Kultur der Übersetzung, in der allein der nunmehr als dynamisch und unabgeschlossen zu denkende Universalismus der – nicht mehr westlich zentrierten – Moderne eine Zukunft« haben kann (Rebentisch 2013: 189). Innerhalb der postkolonialen Theorie und der dekolonialen Praktiken wird die Befragung der Grundannahmen einer philosophischen Ästhetik und der iterierten ästhetischen Grundbegriffe zur Methode. Nicht zuletzt wird in diesem Zusammenhang für eine »Provinzialisierung«9 der europäischen Ästhetik

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Zum Begriff der »Provinzialisierung« siehe u.a. Chakrabarty, Dipesh (2010): Europa als Provinz. Perspektiven postkolonialer Geschichtsschreibung. Frankfurt a.M.: Campus Verlag.

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plädiert. Mit dem Projekt der Provinzialisierung wird radikale Relativierung betrieben; Europa und die europäische, dominante Ästhetik wird zu einer Provinz unter vielen erklärt, etwa um zu zeigen, dass es einen Plural der Kunst, Ästhetik und der Kunstdiskurse gibt, was die Deutungshoheit in Frage stellt.10 Mit der dekolonialen Ästhetik soll auch den Realitäten von heterogenen Kunstpraktiken und Perspektiven Rechnung getragen werden, womit der Universalismus-Gedanke den ganz konkreten Situiertheiten und soziohistorischen Differenzen Platz machen müsse. Das Verhältnis zwischen Kunst und Politik müsse hier auch gar nicht erst hergestellt werden. Für Mignolo ist die angestrebte »Pluri-Versalität« als Ziel »dekolonialer aisthesis« per se politisch (Mignolo 2012: 131). Nicht nur geht es in Dekolonisierungsprozessen darum, die von der europäischen Aufklärung hierarchisch abgewertete aisthesis, also die sinnliche Wahrnehmung, zu befreien und die »Hierarchisierung des 18. Jahrhunderts zwischen ›Wissen, Rationalität‹ und ›Fühlen, Emotionalität‹« wie sie von und seit Kant vorgenommen wurde, umzukehren. Mignolo betont – und hier klingen die Anliegen ähnlich wie die der Institutional Critique und der relationalen Ästhetik11 –, dass es darum gehe, die Kunst »vom Markt zu entkoppeln und dekoloniale Konzeptualisierungen anstatt an marktorientierten eher an gemeinschaftlichen Lebensformen auszurichten« (ebd.: 131f.). Das mit der Pluri-Versalität angestrebte Ziel der Pluralisierung der Ästhetik als philosophische Teildisziplin ist allerdings kein per se postkoloniales Projekt. Sie ist das vorläufige Resultat der Ästhetikdebatten und der Entwicklung der Kunstbegriffe und -praktiken der europäischen Moderne seit Beginn des 20. Jahrhunderts und basiert auf den Feststellungen, dass das Ästhetische sich nicht mehr von einem sogenannten Nicht-Ästhetischen abgrenzen lasse, die Verfransung, Intermedialität, Entgrenzung und das Porös-werden die Grenzen zwischen Kunst und Nicht-Kunst aufgelöst habe und die Ästhetisierung der Lebenswelten die Vorstellung eines/des Ästhetischen als fest umrissenen Gegenstandsbereich ohnehin in Frage stellt12 . Mit Rebentisch liesse sich 10

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»it is really important to dispel the notion that white western culture is ›the‹ location where a discussion of aesthetics emerged […]; it is only one location.« (hooks 2015: 103ff.) Siehe hierzu weiter unten Thread 6: Verantwortung übernehmen und Thread 7: Widerspruch denken. Zur Ästhetisierung aller Lebensbereiche, Ästhetisierungsagenten und die usurpatorische Kraft ökonomischer Macht, das Ästhetische, seiner Kraft zu berauben, siehe Reckwitz (2012): Die Erfindung der Kreativität. Zum Prozess gesellschaftlicher Ästhetisierung, Berlin: Suhrkamp Verlag.

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auch sagen, dass die Kritik an der Ideologie formalistischer Reinheit und der Autonomie des Ästhetischen ausser Acht lässt, dass seit den 1960ern die Kunstpraxis und ästhetische Theoriebildung die Kantische Ästhetik nachidealistisch aktualisiert hat. Rebentisch argumentiert etwa mit Umberto Ecos offenem Kunstwerk der Moderne und verweist auf das Potential der Polysemie der Werke und die Betonung des Wechselspiels zwischen Form und Inhalt, die im betrachtenden, ganz konkreten, empirischen Subjekt eine Reflexion in Gang setze. Das »gewisse […] ethisch-politische Potenzial des Ästhetischen« (Rebentisch 2013: 167) bestünde hier in der Möglichkeit zur Reflexion: »An Kunst reflektiert sich unsere Teilnahme [an der Welt, an der Gesellschaft, am Dasein] als Frage.« (Ebd.: 80) Das klingt schön. Aber es fragt sich: Wer kann denn überhaupt an Kunst teilnehmen?

Thread 5: Ästhetisch frei sein Die meisten Auseinandersetzungen mit der Ästhetik in den Cultural und Postcolonial Studies beginnen mit und bei Kant, der mit zwei aufeinander bezogenen Ästhetik-Begriffen operiert. In der Kritik der reinen Vernunft (KdrV) (2012/1781) führt Kant die transzendentale Ästhetik ein, die als sinnliche Wahrnehmung als Anschauungsform den Menschen a priori, vor aller Erfahrung, gegeben sei; Kant bezieht sich hier auf den altgriechischen Begriff aisthesis. In seiner Kritik der Urteilskraft (KdU) (2015/1790) formuliert er eine Ästhetik als Theorie vom Schönen und Erhabenen und führt u.a. den Begriff des »reinen uninteressierten Wohlgefallen[s] im Geschmacksurteile« (Kant 2015/1790: 117) ein. Wie Ruth Sonderegger und Susanne Leeb ganz richtig am Beispiel eines reinen versus einen unreinen Geschmacks und der ästhetischen Lust, über die Kant in seiner KdU reflektiert, herausstellen, macht Kant damit das »europäische Subjekt zum normativen Ursprung der wahrhaft ästhetischen Erfahrung« (Leeb/ Sonderegger 2016: 59)13 . So seien die Vorstellungen von Sinnlichkeit und ästhe-

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Vgl. »Auch am Beginn der Kritik der Urteilskraft, wo die reine ästhetische Lust von der unreinen des Geschmacks mit aller Gewalt geschieden wird, ist es der ›irokesische Sachen‹, der die Primitivität des unreinen Geschmacks der Gaumenfreuden verkörpern und erklären muss. Denn Kant zufolge hat der irokesische Sachem keinen Sinn für die reine Schönheit von Paris, sondern nur für die ›Garküchen‹ dieser Stadt (Kant: 1974, § 2).« (Leeb/Sonderegger 2016: 59)

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tischem Urteil nicht nur eurozentristisch, sondern, dadurch dass beispielsweise die »Kategorie der Schönheit an moralische Überlegenheitsvorstellungen geknüpft« (ebd.: 60) werde, auch machtpolitisch verflochten und – so könnte man mit Pierre Bourdieu argumentieren – ideologisch. Für den Soziologen und Kritiker der »reinen Ästhetik« Pierre Bourdieu ist »die kantianische Ästhetik der Inbegriff einer ästhetischen Ideologie, welche die Dimensionen des Sozialen abblendet« (Rebentisch 2013: 165). Bourdieu will die Kunstreflexion auf ihre soziale Dimension ausgedehnt wissen und sieht in dem Kantischen interesselosen Wohlgefallen vor allem einen gefährlichen »Aberglauben« an eine absolute Allgemeingültigkeit der subjektiven Erfahrung, die hier alles andere als allgemeingültig zu betrachten sei, denn es handle sich letztlich nur um »die Erfahrung des gebildeten Mitglieds einer bestimmten Gesellschaft« (Bourdieu 2011: 450). Ferner noch nehme die partikulare Erfahrung des privilegierten Mitglieds, die das Besondere verallgemeinere, eine doppelte Enthistorisierung vor: die »besondere, räumlich und zeitlich situierte Erfahrung des Kunstwerks [werde] zur überzeitlichen Norm aller künstlerischen Wahrnehmung« (ebd.). Interesselosigkeit und Allgemeingültigkeit so wie es die Kantische Ästhetik formuliert, sind somit auf zwei Ebenen eingeschränkt: Zum einen wird die historische, sozio-ökonomische Situiertheit der Wahrnehmung ausgeblendet und ein ideales Subjekt behauptet. Zum zweiten ist die idealisierte ästhetische Freiheit, die im freien Spiel der Einbildungskraft durch ästhetische Wahrnehmung stattfinden kann, hochgradig privilegiert, sprich reserviert für diejenigen, die »sich über die Sphäre der Notwendigkeit (und damit: des Interesses) [erheben]« können (Rebentisch 2013: 166). Nicht zuletzt handelt es sich hier auch um die Frage des Zugangs, wozu man – wie der Soziologe Didier Eribon anhand eigener Erfahrungen beschreibt – eine nahezu »vollständige Umerziehung absolvier[en]« müsse (Eribon 2017: 98)14 . 14

Das sogenannte interesselose Wohlgefallen muss man sich leisten können. Eribon beschreibt treffend, dass ein Interesse an Kunst zunächst einmal eine Frage der Bildung ist; der Zugang zu Kunst eine Frage der sozialen, kulturellen und ökonomischen Klasse und der ästhetische Genuss ist dann das sich im Überfluss der Interesselosigkeit des Ästhetischen gewahr werden und sich daran erfreuen. »Das war ein Teil der nahezu vollständigen Umerziehung, die ich absolvieren musste, um in eine andere Welt, in eine andere soziale Klasse eintreten zu können und meine alte, angestammte hinter mir zu lassen. Interesse für Kunst oder Literatur hat stets, ob bewusst oder unbewusst, auch damit zu tun, dass man das selbst aufwertet, indem man sich von jenen abgrenzt, die keinen Zugang zu solchen Digen haben; es handelt sich um eine ›Distinktion‹, einen Unterschied im Sinne einer Kluft, die konstitutiv ist

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In diesem Zusammenhang ließe sich auch Menkes emphatischer letzter Satz in seinem Buch Kraft lesen und kritisieren: »Das letzte Wort der Ästhetik wird die menschliche Freiheit sein.« Mit Bourdieu und Eribon ließe sich da zu Recht fragen, um wessen Freiheit es hier eigentlich gehen soll bzw. geht. Philosophische Ästhetiken, die sich am Autonomie-Paradigma der Kunst orientieren, diskutieren Kunstwerke als »autonome, nicht substituierbare Weisen der Erschliessung von Welt« (Hetzel 2005: 5), als »Instanzen der Vergegenwärtigung einer außerweltlichen Präsenz«, Verkörperungen von »transdiskursiven Wahrheitsgeschehen« (ebd.: 6) oder sie beschwören eine nicht-soziale, dunkle »Kraft der Kunst« (Menke 2013). Den Werken der Kunst wird eine erschütternde Wirkmacht zugesprochen, das Unausdrückbare und Unverständliche der Kunst wird stilisiert, Kunst zur Verkörperung einer quasi sakralen Idee überhöht, weshalb man hier auch von »Überbietungsästhetik« (Hetzel 2005: 6f.) sprechen kann. Menke lässt sich in diesem Diskurs verorten. In seinen ästhetischen Schriften verteidigt er zugleich nichts Geringeres als die Kraft der Kunst und des Ästhetischen gegen die sie vereinnahmenden ökonomischen Verwertungsprozesse. Die Kunst und das Ästhetische sind für Menke keine bloßen Teile der gesellschaftlichen Kommunikation, somit nicht Erkenntnis, Politik oder Kritik. Die Kunst ist für ihn auch keine soziale Praxis, denn sie ziele nicht auf die Verwirklichung einer allgemeinen Form ab: »Die Kunst ist vielmehr das Feld einer Freiheit nicht im Sozialen, sondern vom Sozialen. […] Das Ästhetische ist […] befreiend und verändernd, aber es ist nicht praktisch – nicht ›politisch‹.« (Menke 2013: 14) Einen solchen Kunstund Ästhetik-Begriff zu verteidigen, bedeutet eine ästhetische Freiheit zu verteidigen, die als eine »Kategorie der Differenz« die »Freiheit von praktischer Freiheit; genauer: die Differenz der Freiheit von sich als praktische Freiheit« (ebd.: 150) bedeutet. Für Menke kann es in der ästhetischen Freiheit nicht um die praktische Freiheit gehen, sondern nur um »die Freiheit des Spiels der Einbildungskraft« (ebd.: 154), die keinem Gesetz folgt. Die ästhetische und die praktische Freiheit bleiben im Widerspruch aufeinander bezogen; die ästhetische Freiheit der Einbildungskraft bildet die Möglichkeitsbedingungen dafür, ein Subjekt zu werden, das die Fähigkeit besitzt, sich an den Normen und sozialen Praktiken selbst zu orientieren. Über den Exkurs des Spiels der Einbildungskraft als notwendige Bedingung der ästhetischen Freiheit, die

für das Selbst und die Art, wie man sich selbst sieht, und zwar immer im Vergleich zu den anderen – den ›bildungsfernen‹ oder ›unteren‹ Schichten etwa.« (Eribon 2017: 98)

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allen gleichermaßen zustünde, gelangt Menke schließlich zu der Schlussbemerkung, dass Freiheit wie Gleichheit »keine natürliche Tatsache[n]«, sondern »künstlich Geschaffenes« seien (ebd.: 166). Menke resümiert: »Die politische Gleichheit ist ein ästhetischer Gedanke.« (Ebd.: 175) Diesem abstrakten Gedanken würde die Kritik Bourdieus ob seines Unbehagens an der »ästhetischen Ideologie« ebenso widersprechen wollen wie auch Provinzialisierungs-Akteur:innen, die vorschlagen, »die westliche ästhetische Theorie zu situieren und zu einer Provinz unter vielen zu machen.« (Provinzialisierung 2018: 26)15 Sie möchten den generalistisch-universalistischen Gesten von weltabgewandten abstrakten Theorien und Philosophien »abweichenden Erfahrungen und bislang nicht legitimierte […] Perspektiven« (ebd.) entgegenstellen. Es soll um nichts Geringeres gehen, als »[d]ie Bedingungen der Möglichkeit des Ästhetischen in der realen, historischen Welt [zu] situieren.« (Ebd.) Die Frage, welche die Vertreter:innen der Provinzialisierungstheorie stellen, lässt sich aber genauso auf sie selbst anwenden: »Wer spricht aus welcher Position und mit welchem Erfahrungshorizont?« (ebd.) Zugleich wird mit den »Vorschläge[n] zur Situierung und Provinzialisierung der westlichen, philosophische Ästhetik« (ebd.) eine größere Dimension abgeblendet. Denn was spricht eigentlich gegen die Ideen der ästhetischen Freiheit und Gleichheit?

Thread 6: Verantwortung übernehmen Gegen den »weltabgewandten Ästhetizismus« (Rebentisch 2013: 168) mit dem Bourdieu eine reine Ästhetik gleichsetzt, protestierte der Soziologe allerdings nicht alleine. Ende der 1960er, Anfang der 1970er geraten im Kontext der Institutional Critique die Präsentationsbedingungen von Institutionen ins Visier der Kritik. So wie die monadische Abgeschlossenheit und behauptete Neutralität bzw. Kontextlosigkeit des White Cube in Frage gestellt wird, verabschiedet

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Siehe Programmheft zum X. Kongress der Deutschen Gesellschaft für Ästhetik Das ist Ästhetik!, das vom 14.–17.2.2018 stattfand. Zum Panel mit dem Titel »Vorschläge zur Situierung und Provinzialisierung der westlichen philosophischen Ästhetik« sprachen Sofia Bempeza, Eva Kernbauer, Ines Kleesattel, Iris Lauer (Chair) und Ruth Sonderegger. Die folgenden Zitate sind aus dem genannten Programmheft; im Folgenden im Fließtext erfolgt die Quellenangabe als (Provinzialisierung 2018).

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man auch die Vorstellung der Autonomie eines für sich stehenden Kunstwerks. Kunst im Kontext, je konkreter, je sozial-situierbarer, je welthaltiger, umso besser, lautet die Devise. Die institutionskritische Kunst des 20. Jahrhunderts kann zwar »die ökonomisch-politischen Produktionsverhältnisse« (Rebentisch 2013: 174) und damit Distinktionen nicht überwinden. Es geht ihr vielmehr darum, die Institution gegen ihre »ökonomische und politische Instrumentalisierung zu verteidigen« (ebd.: 175); dies im Glauben daran, dass eine Institution der Kunst ein »Ort der demokratischen Selbstverständigung« sei (ebd.). Auf der Negativfolie der bürgerlichen Kunstideologie hielt sich hier letztlich nicht nur im »Namen einer demokratischen Kunstpolitik« (ebd.) der Gedanke der Universalität. Vielmehr wird die Institution selbst zum Gegenstand der Reflexion über die je sozialen Verfasstheiten und Bedingungen gemacht; »feministische, queere, anti-rassistische, subkulturelle, proletarische Gehalte [wanderten] in eine Kunstproduktion ein […]« (ebd.). Politisch ist die Kunst der Institutional Critique, insofern sie sich einer anderen ästhetischen Reflexion öffne und als Institutionskritik »diese Institutionen […] zu Orten der Reflexion auf die konkrete Gestalt dieser Öffentlichkeit und in ihnen wirkenden Kräfte« macht. (ebd.: 178). Allerdings wäre hier zu fragen, inwiefern damit ein Begriff des Ästhetischen, »nicht nur ein Widerstandspotenzial gegen die im Zeichen der Reinheit stehenden restidealistischen Fassung ästhetischer Autonomie und ästhetischer Erfahrung« (ebd.: 174) etabliert wird. Des Weiteren bleibt offen, inwiefern die Bedeutung der sozialen, kulturellen, politischen und ökonomischen Kontexte für die Institutional Critique, nebst einer potenziell kritischen Reflexion dieser in der ästhetischen Erfahrung auch per se einen anderen, dekolonialen Kunst- und Ästhetikbegriff ins Feld führen.16 Nicht unähnlich liest sich da die Kritik an der Ästhetisierung und Instrumentalisierung von kritischen Positionen und postkolonialer Theorie. Wie María do Mar Castro Varela und Nikita Dhawan in Breaking the Rules. Education 16

In Theorien der Gegenwartskunst verteidigt Rebentisch einen Kunstbegriff, der sich an der Autonomieästhetik orientiert. Das Politische findet für die Kunsttheoretikerin in der ästhetischen Wahrnehmung, Erfahrung und Reflexion statt. Das Politische, so ihre Beobachtung zeitgenössischer künstlerischer und kuratorischer Praktiken, werde heute weitestgehend »veranstaltet« und »würde also gerade nicht stattfinde[n]« (Rebentisch 2013: 169). Die Institutionen seien »eine ungute Allianz mit der neoliberalen Impact-Forderung eingegangen […], die von den Geisteswissenschaften und den Künsten verlangt, einen unmittelbaren Nachweis ihrer gesellschaftlichen Wirksamkeit zu erbringen.« (Ebd.: 170)

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and Post-colonialism feststellen, sind kulturelle Praktiken nie unschuldig (vgl. Castro Varela/Dhawan 2009: 321). Am beobachteten Phänomen der Ästhetisierung der postkolonialen Theorie weisen sie nach, dass Begriffe zu Slogans werden, zu intellektuellen Platzhaltern, in welche zum einen die behauptete Reflexionsfähigkeit und zum anderen die eigenen guten Absichten hineindelegiert werden. Dies ist eine Perversion der philosophischen Arbeit am Begriff gleichermaßen wie am autonomen Anderen des Ästhetischen. Die Begriffe – nunmehr als Slogans verwendet – sollen die Arbeit machen und werden in den künstlerischen Arbeiten illustriert; die kritischen Diskurse dienen allenfalls der Kontextualisierung und der Selbstvergewisserung der Künstler:innen und Institutionen, die damit zeigen wollen, dass sie aufgeklärt sind und sich mit State of the Art Themen beschäftigen. Ästhetisierungen von kritischen Theorien laufen außerdem oftmals Gefahr, das Andere des Ästhetischen kommensurabel zu machen. Scheint damit kurzfristig der Nachweis erbracht, gesellschaftlich relevant zu sein, bleiben hier mindestens zwei Dinge auf der Strecke: ein wirkliches Stattfinden im Sinne der wirklichen Arbeit an der Veränderung von Strukturen, die weiterhin Ausschlüsse praktizieren, und die Fähigkeit des Ästhetischen, sich jeglicher Kommodifizierung zu widersetzen. Der Widerstand der Kunst und des Ästhetischen sind Qualitäten, die kommodifiziert und kommensurabel gemacht ihrer Kraft entleert werden.17 Natürlich sind Institutionen klüger geworden. Sie reflektieren immer mehr ihre eigenen Kolonialitäten der Produktionsbedingungen. Vermehrt stellen sie sich in diesem Zusammenhang auch die Frage, wie sie der Diversität einer Gesellschaft Rechnung tragen können. Doch oftmals führt der »Versuch, marginalisierte Positionen nicht als partikulare Stimmen, sondern

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In diesem Zusammenhang kann man auch das Statement We are sick of it betrachten. Der Auslöser war eine Veranstaltung an den Münchner Kammerspielen: »Am 12. November 2018 ist die Künstlerin und Filmemacherin Cana Bilir-Meier zu einem Talk eingeladen worden, der im Rahmen der Münchner Kammerspiele vom Kurator Kasper König organisiert und moderiert wurde. Thema der Veranstaltung war der Rechtsruck in Deutschland. Nach dem Talk schrieb Bilir-Meier einen Facebook-Post, in dem sie den rassistischen Umgang und die Ausdrucksweise von König vor und während der öffentlichen Diskussion thematisierte.« Das Statement ist eine Solidaritätsbekundung mit Bilir-Meier und adressiert Kultur-Institutionen, die ihre eigene Kritik verinnerlicht haben und sich kontinuierlich kritische Diskurse aneignen ohne in der tatsächlichen Praxis und ihren Strukturen etwas zu ändern. Zum gesamten Statement siehe https://wearesickofit.wordpress.com (letzter Aufruf 20.01.2023)

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als ›neue‹ Selbstverständlichkeiten einer diversen Gesellschaft zu verstehen«, zur Warenwerdung sowohl der ethisch, sozial und politisch motivierten Praxen genauso wie der damit adressierten und angerufenen Positionen. (Liepsch/Warner 2018: 24) Wie der »differenziellen Qualität, nämlich im Sinne einer Koexistenz unterschiedlich gelebter Gegenwarten« Rechnung getragen werden könne, sei eine »anspruchsvolle Aufgabe«, bemerkt Rebentisch (Rebentisch 2013: 186). Die auf einem pluralisierten Weltbegriff operierenden Ästhetiken und Kunstverständnisse hätten wiederum in der geglaubten Öffnung dazu beigetragen, das »Verhältnis von Eigenem und Fremden intakt« (ebd.) zu lassen. Der Kunsthistoriker Hal Foster habe in den 1990er Jahren bereits bemerkt, dass eine derart formulierte »Kritik an dem bourgeoisen und kapitalistischen Gesicht der westlichen Institution Kunst im Namen des kulturell oder ethnisch Anderen formuliert worden [sei]. Man habe sich mit dem ›Anderen‹ als entscheidender politischer Kraft identifiziert, dabei allerdings den ›Anderen‹ erneut […] als Anderen der weißen westlichen Subjektivität konstruiert und das Politische auf einen anderen Ort verschoben.« (ebd.: 186f.) Dem von Foster ins Feld geführten Artist as Ethnographer geht es genauso um die Infragestellung des binären Denkens zwischen Identität und Differenz, Zentrum und Peripherie, Selbst und dem Anderen. So sucht der/die von Foster beschriebene Künstler:in des Ethnographic Turn den Anderen auf, um sich gesellschaftspolitisch zu engagieren. Dass aber die angestrebten relationalen Modelle der Differenz nicht greifen, führt Foster in einem fiktiven Beispiel vor. Hier wird ein Künstler von einer Institution angefragt, um mit einer Community außerhalb des Kunstfeldes zu arbeiten. Diese Zusammenarbeit mündet dann in einem Werk in einem Museum und der Fokus von einer möglicherweise kollaborativen Arbeitspraxis liegt doch wieder auf dem »ethnographic self-fashioning« (Foster 1995: 304) des Künstlers, der hier genauso wenig dezentriert wird wie der Andere in einer künstlerischen Form nicht diskriminiert wird. Damit ein engagierter Austausch außerhalb der eigenen Produktions- und Präsentationsorte gelingen kann, muss sich der Artist as Ethnographer zuerst immer die Frage stellen, wo er/sie im Produktionsprozess steht. Diese Frage führt letztlich zu einer systematischen Analyse von Macht und Möglichkeiten: Wer zeigt unter welchen institutionellen und historischen Bedingungen wo, womit, wen oder auf wen?

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Thread 7: Widerspruch denken Seit Ende der 1960er wird die Frage und der Streit um das ethische, soziale und politische Potential des Ästhetischen vor der Dimension des Intersubjektiven weitergeführt. Dabei sind die verschiedenen neuen Genrebezeichnungen (siehe Thread 2: Kritik üben) als Folge des Social Turn und aus dem Geist der relationalen Ästhetik als klare Abkehr von einer wahrheits- und formalästhetische Bestimmung der Kunst, wie von einer Verteidigung der Kunst-Autonomie und dem damit verbundenen utopischen Glauben an die Imagination anderer Welten zu verstehen. Der französische Kunsttheoretiker und Kurator Nicolas Bourriaud glaubte, mit der von ihm begründeten relationalen Ästhetik Situationen zu schaffen, in denen der zwischenmenschliche Austausch und die kommunikative soziale Praxis derart im Vordergrund stünden, dass sie sich einer kapitalistischen Vereinnahmung und Kommodifizierung verschlössen. Die Programmatik der relationalen Ästhetik lautet: Gemeinschaften herstellen. Rebentisch, die hier auch von einer »Sozialintegration durch Kunst« spricht, weist auf die Unzulänglichkeiten der relationalen Ästhetik hin: »So soll die spielerische Realisierung der Utopie sozialer Integration […] im institutionell geschützten Raum der Kunstwelt stattfinden. Sofern aber der Begriff des Spiels hier gerade nicht mehr eine Eigenlogik des Ästhetischen anzeigen, sondern im Sinne eines sozialen Experiments verstanden werden will, das Modellcharakter für das Restsoziale annehmen soll, wiegt der Vorwurf der Institutionsvergessenheit schwer.« (Rebentisch 2013: 62) Die relationale Ästhetik behauptet, die Differenz zwischen Kunst und Leben aufgelöst zu haben. Doch die Differenz, die nun nicht mehr als eine zwischen Kunst und Nicht-Kunst gezogen wird, besteht nun »als soziale Differenz« (Rebentisch 2013: 62). Rebentischs Kritik ist berechtigt »[z]wischen der wie auch immer gelungenen Herstellung sozialer Verhältnisse in den Kunstinstitutionen und den desintegrierten Verhältnissen draussen liegt der Abstand des Privilegs.« (Ebd.) Zugleich ist die Adressierung spezifischer Zielgruppen als temporäre Gemeinschaften nicht nur affirmativ insofern damit »in der Regel privilegierte Mitglieder der internationalen Kunstwelt« interpelliert werden. Rebentischs Vorwurf ist noch gewichtiger: Für sie läuft die relationale Ästhetik Gefahr, »Wirklichkeit bloß zu perpetuieren«, da ihr »Mögliches […] schon so ins Erreichbare übersetzt« sei (ebd.: 63). Der utopische Möglichkeitssinn wird zugunsten der Forderung nach Gemeinschaft als Befolgung des Partizipationsimperativs, der die relationale

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Ästhetik durchweht, aufgegeben und Partizipation wird zugleich geradezu unpolitisch, wenn sie unreflektiert ins Feld geführt wird. Das Narrativ der relationalen Ästhetik, das eine Weiterführung der Debord’schen Kritik an der Gesellschaft des Spektakels verbunden mit der Aufforderung Situationen zu schaffen ist, neigt dazu zu übersehen, dass »das Problem der Differenz noch nie dadurch [gelöst werden konnte], dass man die politischen Gemeinschaften klein [hielt]« (ebd.: 227). Auch sei angesichts neuerer Demokratietheorien der Glaube daran, dass »es zum gemeinsamen Handeln keiner Repräsentation mehr bedürfe[.]« und somit »gleich Asymmetrien zwischen Repräsentanten und Repräsentierten abgeschafft [wären], alle Macht- und Herrschaftsverhältnisse verschwunden wären« ein Irrglaube (ebd.). Die Frage (nach) der Repräsentation ist komplexer. Spivak beschreibt die Herausforderung, repräsentative Verantwortung zu übernehmen, als eine double bind Situation. Die Frage, wer im Namen von wem sprechen darf, soll und muss, wer marginalisierte Stimmen repräsentieren kann, ist nicht einfach zu beantworten und soll auch gar nicht einfach beantwortet werden. Es geht vielmehr darum, den »Prozess der Repräsentation selbstreflexiv zu gestalten« (Castro Varela/ Dhawan 2015: 200); wissend, dass man die »Gefahren des Essentialismus – oder mehr noch für die Gefahr, dass die Repräsentierenden selbst zu »ErsatzOpfern« (token victims) mutieren, die als Instrumente der dominanten Strukturen, den Prozess der Dekolonisierung blockieren« (Ebd.: 201) nicht bannen kann, bewegt sich der/die Repräsentierende von marginalisierten Stimmen »präzis in jenen Strukturen, die sie zu kritisieren sucht« (Ebd.). Doch statt nach einer »post-repräsentationale[n] Politik« zu verlangen, gilt es den double bind zu spielen und wenn dies auch bedeutet, dass kurzfristig die sogenannten Anderen für und/oder über die man spricht, strategisch ausgeschnitten, sprich auf ein Distinktionsmerkmal reduziert und kurzzeitig entmündigt werden und die eigene Stellvertreter:in-Position vereinnahmt wird, was ich als strategisch notwendigen Verrat üben bezeichnen würde; damit die gleichzeitige Vereinnahmung und Entmündigung der Repräsentierenden und Repräsentierten sich nicht dauerhaft als die politische Repräsentationspraxis der »Dominanz und Exklusion« (Ebd.) einschreibt, muss die »eigene[…] Komplizenschaft mit den Prozessen der Subalternisierung« (Ebd.) stets in Frage gestellt und sichtbar gemacht werden. Bishop ist ebenfalls der Ansicht, dass der Fokus auf die Schaffung sozialer Situationen und die Betonung eines ergebnisoffenen Prozesses trotz allem pro-aktiv formulierten positiven Potentials nicht einfach kritiklos hinzunehmen sei. In »The Social Turn: Collaboration and its Discontents« diskutiert sie

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diese Entwicklungen und das vermehrte Interesse an kollaborativen Arbeiten. Die künstlerischen Praktiken, die mit den neuen Genrebezeichnungen wie Community Arts beschrieben werden, seien aber trotz oder gerade wegen ihrer »good intentions« (Bishop 2006: 183) problematisch. Diese prozessorientierten und relationalen Arbeiten stellen aus Bishops Sicht die Kunstkritik vor ein Dilemma. Der mit dem Social Turn einhergehende Ethical Turn mache die künstlerischen Arbeiten gegenüber ästhetischer Kritik immun. Ausgehend von diesem Dilemma des unmöglichen ästhetischen Urteils, vor dem sie als Kunstkritikerin steht, versucht sie herauszuarbeiten, welche Kriterien denn neuerdings gelten sollen. Die Vertreter:innen einer relationalen und kollaborativen Kunstpraxis scheinen – so Bishops Beobachtung – mit dem ethischen Imperativ weniger Mühe zu haben und den kommunikativen Austausch mit kunstfremden Gemeinschaften in den Vordergrund zu stellen. Maria Lind18 beispielsweise verteidigt das Potential einer ethisch motivierten Kunst, von der sie sich verspricht, dass sie neue Beziehungen zwischen Menschen herstellen könne; die Kritikerin Lucy R. Lippard19 diskutiert Site-specific Art aus einer ökologischen und postkolonialen Perspektive und formuliert eine 8Punkte-Orts-Ethik für Künstler:innen, die mit Gemeinschaften arbeiten. Bishop allerdings bezweifelt, dass partizipatorische Prozesse per se künstlerisch und politisch sind und sie plädiert dafür, dass sozial-engagierte und ethischmotivierte Arbeiten kritisch als Kunst analysiert und diskutiert werden müssen. Nicht zu Unrecht bemerkt Bishop, dass die Rhetorik der künstlerischen Arbeiten im erweiterten Feld der relationalen Praktiken den neoliberalen Politiken, insbesondere der Identitätspolitik ähnelt: »respect for the other, recognition of difference, protection of fundamental liberties, and an inflexible mode of political correctness« (Bishop 2006: 181). Die Positionen der Vertreter:innen der prozess-orientierten und community-basierten Arbeiten würden Kunst nicht nur zu einer statistischen Information über Zielgruppen und »performance indicators« reduzieren – »the government prioritizes social effect over considerations of artistic quality« (ebd.: 180) –, sondern auch eine Kunst verunmöglichen, die ein Publikum auch mal aufrütteln oder empören könnte. Für Bishop ist genau die Non-Konformität der Kunst wichtig und

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Maria Lind (2007): »The Collaborative Turn«, In: Billing/Lind/Nilsson (Hg.): Taking the Matter into Common Hands: On Contemporary Art and Collaborative Practices. London: Black Dog Publishing, S. 15 -31. Lucy R. Lippard (1997): The Lure of the Local: Senses of Place in a Multicentered Society. New York: The New Press.

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notwendig, um neue Perspektiven auf unsere Bedingungen einnehmen zu können. Sie plädiert dafür, das Ästhetische, Soziale und Politische zusammenzudenken, statt alles unter das Kriterium des Ethischen zu subsumieren. Es kann somit nicht darum gehen, die richtigen ethischen Entscheidungen zu treffen. Die diskursiven Kriterien einer gegenwärtigen sozial engagierten Kunstpraxis siedelt Bishop zwischen Antikapitalismus und der Christlichen »guten Seele« an: »the artist should renounce authorial presence in favor of allowing participants to speak through him or her. This self-sacrifice is accompanied by the idea that art should extract itself from the »useless« domain of aesthetic and be fused with social praxis.« (Ebd.: 183). Dies jedoch sei, so Bishop, eine Verunglimpfung des Ästhetischen. Jacques Rancière, auf den sich Bishop bezieht, habe mit dem Ästhetischen Regime der Kunst herausgearbeitet, dass das System der Kunst wie es von Schiller und den Romantikern eingeführt wurde, noch immer gültig sei. Das Ästhetische in diesem Sinne beruht genau auf der Konfusion zwischen der Autonomie der Kunst und ihrer Heteronomie. Ersteres ist der Versuch, einer instrumentellen Vernunft zu widerstehen, letzteres beruht auf der Idee der Verschmelzung von Kunst und Leben. Diesen Knoten aufzulösen, bedeutet den Widerspruch aufzulösen; jedoch ist die Fähigkeit den Widerspruch zu denken für Rancière die Qualität des Ästhetischen. Bishop resümiert: »The best art manages […] to fulfill the promise of the antinomy that Schiller saw as the very root of aesthetic experience and not surrender itself to exemplary (but relatively ineffectual) gestures. The best collaborative practices of the past ten years address this contradictory pull between autonomy and social intervention, and reflect on this antinomy both in the structure of the work and in the conditions of its reception.« (Ebd.) Keine effektlosen Gesten und weg vom edukatorischen Gestus sozialer Kunstpraxen. Stattdessen hin zum Ästhetischen, welches das Versprechen einer besseren Welt bereits in sich trägt?

Thread 8: Gemeinschaften imaginieren Bourriauds relationale Ästhetik und seine kuratorische Kunst-Praxis mit Fokus auf das soziale Potential der Kunst zur Herstellung von Gemeinschaften,

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haben sicher zur Institutionalisierung der partizipativen Kunstformen beigetragen. Doch die vom damaligen Leiter des Palais de Tokyo eher als soziale Happenings inszenierten temporären Zusammenkünfte privilegierter Gemeinschaften haben ihre Wurzeln in der Entwicklung der Art in Community und Community Art. Der Partizipationsimperativ, der wie Rebentisch bemerkt, zum eigentlichen Spektakel geworden ist, entsteht Ende der 1960er und Anfang der 1970er Jahre vor allem in den englischsprachigen Ländern: »The political project of community arts, as it emerged in the 1960s in countries like Australia, the UK and the US, was to democratize the arts.« (Khan 2015: 17) Die Kulturwissenschaftlerin Rimi Khan betont, dass jede Bedeutung von Gemeinschaft die jeweilige Community Art prägt. Das Problem dabei sei, dass so getan werde, als sei Gemeinschaft eine natürliche Kategorie, die wiederum von kulturellen Bildungsprogrammen von Seiten Regierungen instrumentalisiert werde, um Bürger:innen in breitere Machtstrategien einzubeziehen. Die normative Macht von Community Arts ist nicht zu unterschätzen, da sie nicht nur von machtpolitischen Agenden der jeweiligen Regierungen, sozio-kulturellen Arbeiter:innen sowie von Förderinstitutionen abhängt. Mit jedem Begriff der Gemeinschaft, mit dem die Individuen zur Partizipation aufgerufen werden, werden die damit angerufenen Bürger:innen zugleich als Zugehörige einer Gemeinschaft homogenisiert, als dies oder jenes produziert. Beeinflusst von einem kommunitaristischen Narrativ wird hier im Namen von sozialer und politischer Transformation der Begriff der Gemeinschaft zu einem Proxy für »›marginal‹ groups – including women, the working class, migrants and indigenious communities« (ebd.: 16). Art in Community und Community Art sind ambivalent. Die widersprüchliche Aufforderung lautet, sich künstlerisch auszudrücken und zugleich in eine als normativ verstandene kulturelle Praxis hineinzupassen. Die Community Art Teilnehmenden sind auf der einen Seite eingeladen, ihre eigenen Narrationen der Zugehörigkeiten und Differenzen in die Welt zu setzen, sollen aber zwischen fragwürdigen Labels und normativen Rahmensetzungen beschreibbar bleiben. Zugleich kommt die widersprüchliche Einladung an sie, sich künstlerisch frei auszudrücken, oftmals im Auftrag der jeweiligen Institutionen, die wiederum teilweise im Auftrag von kulturpolitischen Agenden handeln, was letztlich oftmals vor allem den Institutionen und den staatlichen Kulturprogrammen zur Imagebildung in die Hände spielt, die damit ihr soziales Kapital vermehren.20 Problematisch ist an solchen Praxen vor 20

Vgl. hierzu Khan 2015: 21.

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allem die oftmals unreflektierte Vorstellung von Gemeinschaften. Wird hier die essentialisierende, weil homogenisierende, kulturell fragwürdige Aufladung und Instrumentalisierung eines Gemeinschafts-Begriffs angesprochen, der immer nur als temporäres Konstrukt, nicht aber als eine vermeintlich existierende Kategorie verstanden werden darf, betont die andere Seite der Diskussion der Community Art wie diese einen politischen Begriff entpolitisiert haben. Community Art war in England in den 1970ern als Counter-Movement zur etablierten, als bourgeois empfundenen und hegemonial strukturierten Kunstwelt entstanden (siehe Mörsch in diesem Band): »Although initially linked with decolonisation (and promoted as an alternative to communism), the thinking and practice of community development spread quickly to urban renewal programmes in the USA, in the context of the civil rights movement, and to Britain.« (Matarasso 2011:218). In den 1990ern wurde dann Community Art in Participatory Arts umbenannt, womit auch eine Entpolitisierung und Kontextverschiebung stattfand: »The new term was neutral and descriptive, a simple statement of what the work did.« (ebd.: 226) Das Plural-s sollte zudem anzeigen, dass es nun um verschiedene anwendbare Bereiche und Methoden gehen würde. Kunstformen und Stile, die zuvor als etabliert kritisiert wurden, konnten nun als ideologisch neutral neu-aufgelegt werden und die radikalen Methoden von ehemaligen Community-Künstler:innen wurden zum Zweck der Entwicklung der Gesellschaft aus hegemonial normativer Sicht adaptiert. Aus der radikalen, aktivistischen Praxis der Community Art wurde durch die Umbenennung eine kurierend-kuratorische, institutionelle Kunst-Praxis. Im Unterschied zur Community Art beschäftigten sich die Participatory Arts nun mehr mit dem Diskurs über etwas, statt mit der Sache bzw. dem konkreten Problem selbst (ebd.: 232). Dieser Wandel führte, so François Matarasso, schließlich zu einer Entpolitisierung respektive zu einer Ästhetisierung des Politischen. Heute taucht der Name Community Art sowie die anderen variierenden Namen der damit bezeichneten kollaborativen, künstlerischen Praktiken wieder vermehrt mit dem Wunsch außerhalb der Institutionen zu arbeiten auf. Doch die genuin politisch und sozial emanzipierende Arbeit durch und mit Kunst ist damit kaum mehr gemeint. Wie aber ginge eine Community Art Praxis, die keine problematischen Differenzordnungen und Annahmen perpetuiert, sondern eine »that is rooted in humanist and democratic ideals; that questions assumptions, including its own; that is ethically engaged and politically aware;

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that sees money as a means, not an end; that gives people skills for life, not just for work«? (ebd.: 237f.)

Thread 9: Politisch werden Das Vertrauen in die positive Kraft der Unmittelbarkeit sozialer Situationen und die Annahmen über eine vermeintliche Authentizität von Gemeinschaften ist – darin sind sich Bishop und Rebentisch einig – blind für die je spezifischen Qualitäten von Gemeinschaften. Die relationale Ästhetik entpolitisiert zugleich den politischen Begriff der Gemeinschaft, indem das emphatische Lob sozialer Verbundenheit so tut als gäbe es eine »authentische[…] Identität des demos, des Volkes, mit sich selbst« (Rebentisch 2013: 66). Diese Konsensorientierung ließe sich als eine Form der Postdemokratie im Sinne eines emanzipatorischen Politikbegriffs nach Jacques Rancière verstehen, da sie »die störend/gestörte Erscheinung und die immer unegalitäre Berechnung des Volkes hinter den erschöpfenden Vorstellungsverfahren des Volkes und seiner Teile und der Harmonisierung von Teilberechnung und Ganzheitsbild zum Verschwinden bringen« (Rancière 1997: 109). Das Volk als, oder jede als homogen adressierte soziale Gemeinschaft – egal wie groß oder klein – tritt in dieser »konsensuellen Demokratie« (ebd.) als Objekt eines statistischen Erkenntnisinteresses auf und lässt sich als ein mit sich selbst-identisches Volk respektive eine mit sich selbst-identische Gemeinschaft in berechenbare und vorhersag- und adressierbare Teile wie etwa Kategorien zerlegen. Die Auslöschung eines Widerstreits, eines für Politik konstitutiven Dissenses, führt nicht zuletzt zum Widerauftauchen von Rassismen und Identitätsfixierungen. Die rassistische Essentialisierung und Bearbeitung kultureller Differenzen, die für postdemokratischen Zustände bezeichnend ist, sei, so Rancière, ein Resultat des Verständnisses von Politik als Verwaltung, deren Tendenz es ist, den für Politik konstitutiven Antagonismus in ein Problem zu verwandeln, das somit objektiviert mittels staatlicher Dispositive in soziotechnologischen Problemlösungsverfahren entwirrt werden könne. Politik ist der unauflösbare Streit, der über eine eigene Rationalität, eine eigene Form und eine eigene Subjektivierung verfügt; sie ist konfrontativ, fixiert keine Identitäten und hält an einer universellen Dimension fest. Der emanzipatorische Politikbegriff Rancières ist verknüpft mit dem, was er »partage du sensible«, i.e. die Aufteilung des Sinnlichen nennt.

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Die sinnliche Welt wird von allen geteilt, ist aber zugleich ein System der Aufteilung der Räume, Zeiten und Tätigkeiten, welches bestimmt, wer woran teilhaben kann. Politik ist somit für Rancière ästhetisch; eine autonome »Ästhetik als Aufteilung des Sinnlichen und als Diskurs über das Sinnliche« könne eine sinnliche Gemeinschaft »in der Welt der Mutmaßung, des Als-Ob« errichten, »indem sie eine Existenzweise des Sinnlichen sichtbar macht, die der Verteilung der Teile und Anteile entzogen ist« (Rancière 2002: 69). Und hier setzt die Politik im emphatischen und emanzipatorischen Sinne an, wobei sie als eine Praxis verstanden wird, die auf eine herrschende Auf- und Zuteilung von Körper, Orten und Funktionen, welche Rancière Polizei – der institutionelle Politikbegriff – nennt, mit einer anderen Aufteilung des Sag- und Hörbaren, i.e. der Aufteilung des Sinnlichen bezogen bleibt und diese mit Kontingenz konfrontiert. Beide – Polizei als das System der Ein- und Zuteilung und Politik als dissensuelle Praxis – bleiben aufeinander verwiesen und begegnen sich am Ort der politischen Subjektivierung. Ist die polizeiliche Ordnung darauf erpicht ihr System der Verteilung und Sichtbarkeit zu legitimieren, stört die Politik die vermeintliche natürliche Ordnung der Polizei mit Kontingenz. Damit lässt sich Politik im Sinne Rancières als eine Praxis verstehen, die Körper versetzt, polizeilich zugewiesene Funktionen und Räume verkehrt und als Rede hörbar werden lässt, was als Lärm perzipiert wurde. Sie hebt die polizeiliche Ordnung auf Grundlage der ästhetischen Gleichheit auf, die es immer nur in actu geben kann, d.h. nur im Aufzeigen aufleuchten kann. Bedeutet dies nun: Niemals fixieren, immer wieder neu verhandeln?

Thread 10: Entzogen bleiben Gemeinschaft gibt es nicht. Gemeinschaft kann es nur im Modus des yet to come geben – oder wie Giorgio Agamben in Anlehnung an Jacques Derrida schreibt, als eine kommende Gemeinschaft verstanden werden, d.h. als eine Gemeinschaft, die stets entzogen bleiben muss21 – und das in einer kontinuierlichen Debatte um den Begriff, die nicht stillgelegt werden darf und keine endgültigen Antworten geben will. In einem Aufsatz mit dem Titel Aesthetic Separation, Aesthetic Community schlägt Rancière eine besondere Gemeinschaft vor: »an aesthetic community in general« (Rancière 2008a: 4) Apart, we are together: Ausgehend von diesem 21

Vgl. Agamben, Giorgio (2003): Die kommende Gemeinschaft. Berlin: Merve.

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Zitat aus einem Prosa Gedicht von Mallarmé vergleicht Rancière das lyrische Ich des Gedichts, das auf einem Boot sitzt, um seine Angebetete zu sehen, aber beschließt das Geheimnis zu wahren und sich in einer poetischen Landschaft, seiner Sehnsucht und der Vorstellung einer entfernt bleibenden Beziehung hinzugeben mit einer Arbeit von Campement Urbain »I and us«, bei dem das transdisziplinäre Kollektiv in einem städtischen Grenzbereich Paris’ partizipativ mit den Bewohner:innen versuchte, neue urbane Fiktionen zu generieren. Für Rancière gibt es ein Gemeinsames zwischen der Einsamkeit und der Reverie des vornehmen Dichters und neuen Formen engagierter Kunst, die versuche »new forms of social bonds in ›bad‹ neighbourhoods« (ebd.: 3) herzustellen. Das Gemeinsame zwischen poetisch-überhöhter Einsamkeit und konkret hergestellten menschlichen Gemeinschaften in engagierten künstlerischen Arbeiten sei die »sensation« (ebd.: 4). Eine ästhetische Gemeinschaft – für Rancière die einzig mögliche Form der Gemeinschaft –, wäre dann eine »community of sense, or a sensus communis« (ebd.), was sowohl die Überlappung verschiedener Sinne bedeutet, als auch das Vermögen, das Gemeinsame des mit den äusseren Sinnen Wahrgenommene zu erkennen, sowie das, was im weiteren Sinne mit gesundem Menschenverstand gemeint ist. Eine Community of Sense wäre eine Gemeinschaft der Sinne, des Sinnlichen, des Menschenverstands. Sie wäre eine Gemeinschaft des Sinns, d.h. eine Kombination aus verschiedenen Sinnesdaten. Der geteilte »Gemeinsinn« wäre dann der »Sitz einer radikalen Gleichgültigkeit« (Rancière 2006: 39). Unter Rekurs auf diesen »Gemeinsinn« und auf Schillers Briefe Über die ästhetische Erziehung des Menschen aktualisiert er die paradoxe Figur des »ästhetischen Zustands«22 , »gleichzeitig ein individuelles und ein gesellschaftliches Ideal der ›Menschheit‹ zu bezeichnen […] sowie einen Zustand der völligen »Bestimmbarkeit« […], der als ein solcher, mit keinem bestimmten Handeln und keiner bestimmten gesellschaftlichen Organisation vereinbar, nur als vorübergehend, als ein Übergang […] verstanden werden kann« (Rolletschek 2008: 3).

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Schillers politische Ästhetik ist eine Adaption des Kantischen Geschmacksurteils. Durch die Schönheit gelange man zur (ästhetischen) Freiheit. Doch obschon die politische Forderung des ästhetischen Spiels und der ästhetischen Erfahrung universell gelten soll, bemerkt Schiller, dass die »niedern und zahlreichern Klassen« wohl durch ihren »Kampf mit der Noth« wohl ohnehin zu erschöpft dafür wären (siehe Rolletschek 2008: 5).

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Der ästhetische Zustand kann in all seiner Paradoxität als Prinzip einer politischen Bewegung verstanden werden, als ein Zugleich »der Auflösungen von Bestimmungen und als Idealzustand« (ebd.: 4). Es ist das dissensuelle Moment des Gemeinsinns einer Gemeinschaft, der »Dissens« im Zentrum der ästhetischen Erfahrung, den Rancière aufwertet, um eine »bestimmte[…] Übereinstimmung zwischen dem Denken und dem Sinnlichen« (Rancière 2007: 115) aufzuheben: »Die »freie Übereinstimmung« von Verstand und Einbildungskraft ist bereits in sich eine Nicht-Übereinstimmung oder ein Dissens.« (Ebd.: 114) Während also für Kant die Aufgabe der ästhetischen Kunst darin besteht, einen »ausgebildetsten Teil« mit dem »roheren« (Kant 2015/1781: 300) Teil einer Gemeinschaft zu einem stabilen Gemeinsinn zu organisieren, habe Schiller nach Rancière die »Aufteilung frei[gelegt], vor deren Hintergrund Kant operiert: die Aufteilung zwischen denjenigen, die handeln, und denjenigen, die erleiden; zwischen den kultivierten Klassen, die Zugang haben zur Totalität des Lebens, und den wilden Klassen, die in der Zerstückelung der Arbeit und der sinnlichen Erfahrung versinken« (Rancière 2006: 68). Schiller würde also das »dissensuelle Moment der gleich-gültigen Gleichheit« (Rolletschek 2008: 4) einer bestehenden Aufteilung mit einer anderen Definition konfrontieren, i.e. einem Geschmacksurteil, das auf ästhetischer Erfahrung basierend und im freien Spiel der Vermögen, nicht nur egalitär ist23 , sondern einer gesellschaftlichen Ordnung mit radikaler Unentscheidbarkeit gegenüber tritt. Ein durch künstlerische Praktiken verwobener und auf ästhetischen Erfahrungen basierender Sinn der Gemeinschaft kann, so Rancière, eine menschliche Gemeinschaft in Schwingung versetzen und ist zugleich ein Monument, das als eine Art Mediation oder Substitution für eine zu kommende Menschheit stehe, die unerreichbar bleibt: »The art work is the people to come and it is the monument of its expectation, the monument of its absence. The artistic ›dissensual community‹ has a double body: it is a combination of means for producing an effect out of itself: creating a new community between human beings, a new political people. And it is the anticipated reality of that people.« (Rancière 2008a: 5) 23

Im 26. Brief in der Ästhetischen Erziehung des Menschen verengt sich bei Schiller allerdings die universalistisch-egalitäre Definition des gleich-gültigen Gemeinsinns; so spricht er vom »menschliche[n] Herrscherrecht« und führt eine rassistische Teleologie ein (siehe Rolletschek 2008: 20).

Hayat Erdoğan: Verrat üben

Um das, was nicht ist, als Utopisch-Entzogenes zu antizipieren, bedarf es der Einbildungskraft und einer Neu-Ordnung unserer Begehren im Sinne Spivaks. Wie sonst wäre »a new political people« zu imaginieren?

Thread 11: Wider-Stehen Wie sich die spekulierte ästhetische Gemeinschaft als das Politische der Kunst realisieren kann, diskutiert Rancière ausgehend von Schillers fünfzehntem Briefe über die ästhetische Erziehung des Menschen am Beispiel der Göttin Juno Ludovisi. In der Statue realisiere sich das Versprechen einer freien Gemeinschaft. Sie sei sowohl Kunst als auch politisch, da sie als Monument zweifach spreche: »Als Zusammenfassung der menschlichen Anstrengung und als Zusammenfassung der Kraft des Nichtmenschlichen, die es von sich selbst trennt.« (Rancière 2008b: 13). Für Rancière gibt es zwei Politiken der Ästhetik, denen er eine dritte Möglichkeit entgegenstellt. Die erste Politik der Ästhetik verortet er im Anspruch des Leben-Werdens der Kunst. Diese Politik der Ästhetik behaupte, Alltag wäre der Gegenbegriff zu Kunst. Die zweite Politik der Ästhetik versteht Alltag als Gegenbegriff von aktiver Veränderung. Beide Politiken der Ästhetik sind Aufteilungen des Sinnlichen samt der dazugehörigen Tätigkeits-, Wahrnehmungs- und Subjektformen. Sie befinden sich laut Rancière in einem Spannungsverhältnis zueinander. Für Rancière kann es aber keine Auflösung der Kunst im Leben geben. Das »Projekt einer Kunst, die die Formen alltäglichen Lebens formt, [hat sich] ironischerweise in der Ästhetisierung der Ware und des alltäglichen Lebens im Kapitalismus realisiert« (Rancière 2008b: 25). Das tragische Schicksal der Leben gewordenen Kunst habe die zweite Politik der Ästhetik, »die andere große Form der Metapolitik« mit verursacht, nämlich »die Idee einer Kunst, die den Widerstand der Beherrschten begleitet und eine kommende Freiheit und Gleichheit in dem Maß verspricht, wie sie ihren absoluten Widerstand gegenüber jeder Art des Kompromisses in den Aufgaben einer politischen Militanz oder der Ästhetisierung der Formen des alltäglichen Lebens affirmiert« (ebd.: 25). Hier werde ein Kunstbegriff propagiert, wie er in den Autonomie- und Überbietungsästhetiken von u.a. Theodor W. Adorno verteidigt werde. Eine solche Kunst aber, die auf etwas verweise, welches das sogenannte Andere des Lebens darstelle, das sich nicht einlösen ließe, bliebe zwangsläufig ein Versprechen. Die in Adornos zugespitzter These eines autonomen Anderen der Kunst, dass »[s]oweit von Kunstwerken eine gesellschaftliche Funktion sich prädizieren

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läßt, [...] es ihre Funktionslosigkeit [sei]« (Adorno 1973: 336f.), könne nur eine Reinheitsphantasie sein. Für Rancière aber kann Ästhetik nur der Name für ein Durcheinander sein. Er verteidigt eine Kunstautonomie, in der das Heteronom-Werden der Kunst von ihr selbst bestimmt wird und nicht kontrolliert werden kann. Was also Rancière das Politische des Ästhetischen nennt, ist das, was eine Wahrnehmungsform zeitigt, die nicht politisch intentional ist und gerade dadurch – quasi durch ihr politisches Schweigen – politisch wird. Dieses Paradox diskutiert Rancière am Beispiel der griechischen Statue Juno Ludovisi als Widerstand der Kunst. »Das Paradox des Widerstands ohne Widerstand äussert sich in seiner ganzen Reinheit.« (Rancière 2008b: 23) Die Göttin, die »in sich selbst eingeschlossen, untätig, frei von jeder Sorge und jedem Zweck« (ebd.) gäbe, weil »sie nichts will, weil sie ausserhalb der Welt des befehlenden Denkens und Willens steht« (ebd.), weil sie nicht interveniert, ein Modell für ein anderes Leben ab ohne sich konkret anwenden, instrumentalisieren zu lassen. Der Widerstand der Statue als »[Widerstand der Kunst] bezeichnet vielmehr die intime und paradoxale Verbindung zwischen einer Idee der Kunst und einer Idee der Politik« (Ebd.: 34). Es kann nun also nicht darum gehen, beide in ihre jeweiligen Seiten zu verweisen, sondern die Spannung zwischen einer Politik der Kunst und einer Kunst der Politik aufrecht zu erhalten. Beide müssen in einem Streit aufeinander bezogen bleiben, um sich nicht gegenseitig auszulöschen. »Damit der Widerstand der Kunst nicht in seinem Gegenteil verschwindet, muss er die unaufgelöste Spannung zwischen zwei Widerständen bleiben.« (Ebd.: 35) Das Politische in der Kunst betreffend heißt es darum in der politischen Ästhetik bei Rancière, dass »die Frage des Verhältnisses zwischen Ästhetik und Politik […] auf der Ebene des sinnlichen Zuschnitts des Gemeinsamen der Gemeinschaft, seiner Sichtbarkeitsformen und seines Aufbaus« (Rancière 2006: 124) formuliert werden muss.

Fazit: Verrat üben Eines sollte klar geworden sein: keine der abstrakten und theoretischen Position ist richtig oder falsch. Jede dieser Position hat – bleibt sie im Modus der Abgrenzung – die Tendenz dogmatisch und ideologisch zu werden. In Opposition zu hegemonialen Diskursen zu gehen, bleibt nicht nur in der dualistischen Logik gefangen, sondern wiederholt diese letztlich. Als solche werden sie genauso zu eindimensionalen Weltsichten, die sich mit Begriffen einen insze-

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nierten Streit über die Richtig- und Gültigkeit der je eigenen Position liefern. Verloren geht dabei das, was für eine ästhetische und intellektuelle Emanzipation notwendig wäre: Das Wissen darüber, dass jede Position kontingent ist, der Widerspruch notwendigerweise nicht aufgelöst werden darf, um das, was wir begehren, imaginieren, sehen, denken, sagen, machen nicht einfach nur zu begehren, zu imaginieren, zu sehen, zu denken, zu sagen und zu machen, sondern die komplexen und machtvollen Übertragungen, Grundannahmen und Bedingungen der Möglichkeit dafür sichtbar zu machen und zu verstehen. Dabei dürfen wir die Horizonte nicht verengen, sondern müssen diese im Spannungsfeld eines lokalen, partikularen, individuellen Gesichtspunktes und eines globalen, allgemeinen, kollektiven aufspannen. In diesem Spannungsfeld müsste auch die Idee der Universalität versus Provinzialität neu evaluiert werden. Wir könnten uns an dem Projekt einer ästhetischen Gemeinschaft beteiligen. Wir, das sind wir alle. Wir können uns aber nur einem solchen Projekt beteiligen, wenn wir die Handlungsmacht dafür haben, die hier vor allem auch eine Frage der Bildung, des Zugangs, sprich des Privilegs voraussetzt. Wir, das sind wir Vertreter:innen von Kulturinstitutionen und Bildungseinrichtungen, das sind wir sogenannten Kulturschaffenden, wir sind Kompliz:innen von machtvollen Strukturen und Beziehungsgeflechten und wir haben die Handlungsmacht. Wenn wir uns dominante Diskurse aneignen, dann laufen wir Gefahr, diese zu instrumentalisieren und sie derart zu missbrauchen, dass sie effektlose Gesten werden. Wir können aber nicht nichts tun, denn wir können nicht nichts wollen. Wir, das sind wir alle, denn Wir ist auch das Subjekt der Politik und als ein solches Wir gilt es sich zu engagieren. Auch um an einem Wir einer ästhetischen Gemeinschaft, einer kommenden Gemeinschaft, über den Gehalt eines Gemeinsamen streiten zu können. Und manchmal wäre der widerstandslose Widerstand eines solchen Wirs als eines utopischen Modells, als einem »Versprechen[s] einer neuen Menschheit« zu unterbrechen und Verrat an der Idee des ästhetischen Spiels zu üben. Denn: »Für die Herrschenden ist die Politik weitgehend eine ästhetische Frage: eine Art, sich zu denken, sich zu erschaffen, eine Weltsicht. Für uns ist sie eine Frage von Leben und Tod.« (Louis 2019: 71) Und hier beginnt ein neuer Streit: Während ich mich gerade auf Louis bezogen habe und das hier schreibe, leite ich gemeinsam mit zwei weißen Frauen ein subventioniertes Theater in einer reichen Stadt in Europa, nämlich in Zürich. Währenddessen denke ich über den Begriff weiß nach und ich weiß, dass ich unlängst zu einer privilegierten Klasse gehöre, die Codes, von denen Eribon spricht, mittlerweile auch sehr gut beherrsche und spie-

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len kann, um sie dadurch zugleich vorzuführen. Während sich meine weißen Kolleginnen als privilegiert outen und mögliche Kritik durch selbstkritisch geframte Awareness vorwegnehmen und sie sich für Diskurse der ganz Anderen interessieren, arbeite ich kursorisch diverse ästhetische Theorien durch und beschäftige mich mit der Frage nach der Un-/Möglichkeit der Kunst – was wohl das ganz Andere für mich sein muss. Währenddessen rufen wir als Leiterinnen der Kulturinstitution Love Play Fight und versuchen ein Unbedingtes Theater zu sein, Diskurse nicht zu Labels zu verkürzen und Gastfreundschaft als Haltung zu praktizieren.24 Während ich hier qua Rancière über die Idee der Gleichheit als einer ästhetischen sinniere, arbeitet sich eine Theaterproduktion bei uns an tradierten, heteronormativen Frauenbildern ab und setzt sich zum Ziel durch ästhetische Dekonstruktion ausgewählter westlicher Werke der Literatur, Kunst und Musik die weibliche Lust zu befreien. Während ich gegen hegemoniale Ästhetiken postkoloniale und dekoloniale Perspektiven ins Feld führe und diese mit sich scheinbar opponierenden Ideen über die Aufgabe(n) der Kunst – Sozialintegration versus Autonomie z.B. – kurzschließe, erproben wir basierend auf Donna Haraways Texten neue gemeinschaftliche Formen des Zusammenlebens mit Tauben und versuchen die Überwindung des Anthropozentrismus in der Praxis zu erforschen und zu erlernen. Während ich die Potentiale und Problematiken sogenannter kritischer, engagierter Kunst im Kontext heterogener Ästhetiken diskutiere, veranstalten wir eine Pressekonferenz und setzen Good News über einen marktführenden schweizerischen Rüstungsund Munitionskonzern in die Welt, indem wir behaupten, diese würde nur noch in grüne Technologien und Kulturförderung investieren. Während ich die Idee einer ästhetischen Gemeinschaft als eine mögliche Utopie beschreibe, ... wird die Kluft zwischen arm und reich immer grösser, ... haben viel zu viele Menschen keinen Zugang zu sauberem Wasser, zu Bildung, zu Kultur, ... gibt ein amerikanischer Präsident einem türkischen Präsidenten das Go, Rojava dem Boden gleichzumachen, ... werden Kurd:innen getötet, ... werden Andersdenkende und Andersgläubige erschossen, ... werden Ressentiments geschürt,

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Seit der Spielzeit 2019/2020 leite ich gemeinsam mit Tine Milz und Julia Reichert das Theater Neumarkt in Zürich. Die erwähnten Beispiele von einigen Arbeiten und thematischen Schwerpunktsetzung in unserem Spielplan fanden von September bis November 2019 statt. Siehe auch: www.theaterneumarkt.ch

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... wird Hass in die Welt gesetzt, ... werden Mauern hochgezogen, ... wird der Klimawandel geleugnet ... ist die Migrationskrise zu einer allgemeinen geworden und Bruno Latour hat vielleicht recht, wenn er schreibt: »Die neue Universalität ist das Empfinden, dass einem der Boden unter den Füßen wegsackt.« (Latour 2019: 18). Stelle ich all die Dinge in einen größeren Kontext, vor einen weiteren Horizont, zeigt sich der double bind in all seiner schizophrenen, paradoxen und zynischen Form. Denn in diesem erweiterten Zusammenhang bin ich, bewege ich mich. Ein Nein dazu ist nicht die Antwort. Den double bind in einen single bind aufzulösen und sich für einen partikularisierten Kampf zu engagieren, indem man in Opposition geht, ist ebenfalls keine Alternative. Verrat üben könnte eine Möglichkeit sein, den double bind zu spielen. Das bedeutet zum Beispiel auch die Ideen einer dekolonialen Ästhetik genauso verraten wie die einer eurozentrischen. Das bedeutet auch, immer Beides zu sein, Beobachter:in zweiter Ordnung und Akteur:in, d.h. auch, die eigene Komplizenschaft und Verstrickungen in die machtvollen Beziehungen zu verraten. Um nicht den lähmenden Folgen von gleichzeitig empfangenen sich widersprechenden Botschaften zu erliegen, muss man auch short-cuts widerstehen, d.h. auch Positionen einzunehmen, die nicht die eigenen sind und sich – wo nötig – auch selbst den sicher geglaubten Boden unter den Füssen wegziehen, der aber laut der neuen Universalität wie Latour ihn beschreibt ohnehin kein sicherer mehr sein kann. Aber auch an diesem Denken, das sich als ein Denken-Üben verstehen ließe, eines, das ebenfalls die Einbildungskraft trainieren könnte, gilt es Verrat zu üben, denn das Abstrakte an der Idee des Ästhetischen ist ein Verrat an all denjenigen, die sich nicht in diesen Gefilden bewegen können. Und das ist das Geheimnis des Ästhetischen: der Verrat. Wenn das letzte Wort der Ästhetik wirklich die menschliche Freiheit sein soll – und das universell geltend – dann ist das Ästhetische immer schon politisch und ethisch und steht vor keiner geringeren Aufgabe als der, für Gleichheit und Gerechtigkeit zu kämpfen. Apart we are together, together we are the people yet to come.

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II. Die Kunst zu Intervenieren

Die Gespenster der Vergangenheit Trauma, Kunst und Postkolonialität. Ein Gespräch Aïcha Diallo & María do Mar Castro Varela

Einleitung Kunst im Postkolonialismus kommt nicht umhin, sich multipler historischer Traumata und derer Kontinuität im Hier und Heute anzunehmen. Als Konsequenz imperialer Beherrschung, die unter anderem den transatlantischen Versklavungshandel, die Etablierung rassistischer Strukturen und Praxen, die globale Knechtschaft und eine erbarmungslose Migrations- und Fluchtpolitik schuf, gehören traumatische Erfahrungen zum Lebensalltag zahlreicher Menschen. Traumata werden jedoch auch weitergegeben – sozusagen vererbt. Die Erb:innen tragen die schwere Last der Traumata und wissen häufig nicht einmal, wie sie die Effekte derselben deuten sollen (Bar-On 1998). José Esteban Muñoz (2006) erwähnt eine Depression, die zuweilen queers of color befalle. Eine Depression, die er allerdings als Überlebensstrategie beurteilt, die auf eine ethische Haltung des rassistisch marginalisierten Subjekts verweise (Muñoz 2006, S. 676). Er bezeichnet diese spezifische Traurigkeit als feeling brown, bei der es vor allem um das Wohlergehen der anderen geht – jene, die mit der beständigen Reaktivierung der rassistischen Traumata ebenso zu kämpfen haben wie die eigene Person. »Die gegenseitige Anerkennung von Verletzlichkeiten entwickelt und ermöglicht ein Gefühl der Zugehörigkeit außerhalb gängiger Normativitäten. Sie zeigt, dass die Fragilität des sozialen Gewebes nicht als Schwäche gelesen werden muss« (Bayramoğlu/Castro Varela 2021, S. 40). Zahlreiche Künstler:innen haben sich in den letzten Jahrzehnten in unterschiedlicher Weise mit Traumata beschäftigt. Sie nutzen dabei auch die Erkenntnisse der sich nach dem Zweiten Weltkrieg etablierenden Traumaforschung in der Psychologie, die nicht nur Traumasymptome genauer analysiert, sondern auch nach Wegen sucht, den unter Traumata leidenden

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Die Kunst zu Intervenieren

Personen Unterstützung anzubieten (siehe etwa Becker 2014). Ferner haben Disziplinen wie die Literatur- und Kulturwissenschaften einerseits Arbeiten untersucht, die sich historischen Traumata literarisch widmeten, andererseits auch Vorschläge für ein erweitertes Verständnis von Traumata vorgelegt (etwa Hirsch 2012, Leese/Crouthamel/Köhne 2021). Die Perspektive des Afropessimismus hat dazu angeregt, die anhaltenden Auswirkungen von Rassismus, Kolonialismus, die historischen Prozesse der Versklavung und ihre Auswirkungen auf die strukturellen Bedingungen sowie die subjektiven Erfahrungen und die verkörperte Realität von Schwarzen Menschen in den USA (aber auch in Europa) zu interpretieren und die Kontinuität von rassistischer Gewalt sichtbar zu machen (siehe etwa Patterson 1985; auch Sharpe 2016). In einem lang angelegten Forschungs- und Denkprojekt haben wir, Aïcha Diallo und María do Mar Castro Varela, begonnen, die differenten Fragmente einer postkolonialen Kunst und ihren Bezug zu kollektiven Traumata und Traumatisierungen zusammenzutragen. Hierfür haben wir interessante und aufschlussreiche Interviews mit Künstler:innen wie Rajkamal Kahlon (siehe ihren Beitrag in diesem Band), Nora Al-Badri oder Tasnim Baghdadi (siehe ihren Beitrag in diesem Band) geführt und sie gefragt, wie sie in ihrer Kunst mit den postkolonialen Traumata umgehen bzw. welche Rolle diese in ihren Arbeiten spielen. Die Interviews und unsere weiteren Recherchen entfalteten ein breites Feld der Ideen zu postkolonialer Kunst und Trauma, dem bisher noch wenig Beachtung geschenkt wurde. Zurzeit arbeiten wir an einem Band, in dem sowohl die Interviews als auch unsere Zwischenergebnisse zusammengefasst werden. Es hat sich von Anfang an wie eine Reise in die Zukunftsvergangenheit angefühlt. Als Zukunftsvergangenheit beschreiben wir einen Ort, an dem die Subjekte versuchen, planetarische Zukünfte zu kreieren, die die Unmöglichkeit sozialer Gerechtigkeit nicht hinnehmen wollen, sondern gerechte Orte zu imaginieren versuchen. Die Geister der Vergangenheit sind hier immer präsent, denn ohne sie ist es unmöglich, sich eine bessere Zukunft vorzustellen. Gibt es die Möglichkeit, dass wir für Menschen eine Zukunft gestalten, in der die Natur nicht als unsere Feindin betrachtet wird (Sprinkle/Stephens 2021)? Kann ein Afrofuturismus in eine andere Welt weisen, in der Schwarze Menschen eine andere Position einnehmen, als dies heute zumeist der Fall ist (etwa Youngquist 2016)? Wie können wir weitere Traumatisierungen verhindern? Wie können die unterschiedlichen Traumata, die über Generationen weitergegeben werden, durchgearbeitet und verstanden werden (siehe etwa Brave Heart 2000)? Diese und unzählige weitere Fragen treiben uns an; sie lassen uns

Aïcha Diallo & María do Mar Castro Varela: Die Gespenster der Vergangenheit

im Gespräch bleiben – miteinander und mit Künstler:innen sowie mit Aktivist:innen. Im nachfolgenden Gespräch gewähren wir einen kleinen Einblick in unsere Gedanken und erste Erkenntnisse zu dieser Thematik.

Trauma besprechen María do Mar Castro Varela (MCV): Seit nunmehr fünf Jahren nähern wir uns dem Feld der Repräsentation von Traumata in der Kunst aus einer postkolonialen Perspektive. Es war deine Idee, sich dieses Dreieck »Trauma, Kunst und Postkolonialität« genauer anzusehen, es zu analysieren, zu untersuchen. Warum beschäftigt dich die Frage der postkolonialen Traumata in der Kunst? Aïcha Diallo (AD): In meinen Augen besteht keine lineare Beziehung zwischen »Trauma«, »Kunst« und »Postkolonialität«. Aus diesem Grund würde ich gerne die Figur des Dreiecks mit der Figur des Kreises ersetzen. Ich nehme die Idee des Kreises auf, da die volle Dimension der Begriffe jeweils zu Trauma, Kulturproduktion und Postkolonialität etwas Zirkuläres und Non-Lineares in sich trägt. Alle drei Termini lösen beispielsweise die vermeintlichen Grenzen zwischen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft auf. Dabei sehe ich kreisende Bewegungen, die sich in einer Art Kontinuum über Zeit und Raum ziehen. Ich lasse mich hierfür von dem Choreographen und Tänzer Faustin Linyekula inspirieren, den ich bei der Lecture-Performance Dialogue with Ruins an der Cooper Union in New York im Herbst 2019 erleben durfte. Linyekula arbeitet mit Theater, Tanz und Musik, um die Erfahrungen in der von politischen Konflikten bestimmten postkolonialen Demokratischen Republik Kongo zu artikulieren. Den Körper bezeichnet er dabei als Archiv. Gemeinsam mit anderen – im Kollektiv – sucht er nach Wegen, den traumatischen Hinterlassenschaften des Kolonialismus und der von Gewalt durchzogenen Geschichte der Demokratischen Republik Kongo seit der Unabhängigkeit körperlich Ausdruck zu verleihen. Die traumatischen Erfahrungen, die im Körper archiviert sind, werden gewissermaßen kreisend an die Oberfläche gespült. Linyekula bezeichnet den Kreis als einen Raum, in dem trotz struktureller Gewalt Verbindungen und potentielle Solidaritäten möglich sind. In einem Interview merkt Linyekula an: »Ein politisches Statement muss übermäßig selbstbewusst sein, nach dem Motto: Ich weiß es, und so ist es. Ich weiß es nicht!‹« Für ihn steht der Körper als

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wissendes und vermittelndes Subjekt im Zentrum. Und im Gegensatz zu einer Politik der Wissenden betont er die Unsicherheit, die Fragen und Zweifel. MCV: Das ist ein faszinierendes Bild, das meiner Suche nach anderen Bildern und Vorstellungen von Solidaritäten Nachdruck verleiht. Seit einigen Jahren spreche ich von »kontrapunktischem Denken« und auch »kontrapunktischen Solidaritäten«. Darunter verstehe ich ein Denken bzw. eine Praxis der Solidarität, die sich nicht aus einer (oftmals arroganten) Toleranz speist, sondern die Angewiesenheit auf die anderen wie auch verschiedene Perspektiven, Erfahrungen, ein anderes Sein zum Ausgangspunkt nimmt. Der Kontrapunkt stört die Harmonie und Langeweile der Homogenität. Er lässt die Prozesse nicht zum Stillstand kommen. Damit dies gelingt, ist die kollektive Arbeit eine Notwendigkeit. Das Kollektiv ermöglicht es, verschiedene kontingente Erfahrungen und Perspektiven an die Oberfläche zu schwemmen, um sie dann bearbeitbar zu machen. Erinnerungsarbeit scheint mir eine notwendige ethisch-politische Praxis zu sein, die ebenfalls unmögliche Solidaritäten ermöglicht. Der Körper als Archiv, in dem sich traumatische Erfahrungen sedimentiert haben, muss meines Erachtens im Zentrum der Bearbeitung stehen. Eine der mich repetitiv beschäftigenden Fragen ist, wie es gelingen kann, gewaltvolle, traumatische Erfahrungen und die damit einhergehenden Schmerzen und Ohnmachtsgefühle zu vermitteln. Können jene Menschen, die nicht traumatisiert worden sind, Traumata verstehen? Und wie können jene Menschen, die traumatisiert wurden, der Isolation des Traumas – der Zurichtung durch das Trauma – entfliehen? AD: Kunst kann meines Erachtens als Spiegel traumatischer Erfahrungen wirken. Sie teilt kaum zufällig einige strukturelle Ähnlichkeiten mit dem Trauma – so ihre auffallende Neigung zur Wiederholung, zur Re-Inszenierung, zu Brüchen wie auch die Zentralität des Körpers. Der Traumaforscher Bessel van der Kolk spricht auch von Dissoziation, die den Kern des Traumas ausmacht, in dem traumatische Erfahrungen das Leben und den Blick auf die Welt fragmentieren. Die Künstlerin Rajkamal Kahlon, die wir beide mal interviewt haben, bringt diesen Kreis von Trauma, Kunst und Postkolonialität gekonnt zum Ausdruck. In ihrer künstlerischen Praxis deckt sie die Traumata, die kolonisierte Subjekte erfahren haben, auf. Kahlon trennt ihre künstlerische und theoretische Arbeit dabei nicht von ihrer eigenen Biographie. Als woman of color, die als Tochter indisch-diasporischer Eltern in den USA aufwuchs, positioniert sie sich als vermittelndes, reflektierendes und empfindendes Subjekt. Das Affek-

Aïcha Diallo & María do Mar Castro Varela: Die Gespenster der Vergangenheit

tive spielt in ihrer Arbeit eine bedeutsame Rolle. Ganz konkret fragt sie nach der Bedeutsamkeit ihrer Arbeit für sich und die Communitys, die auf unterschiedliche Art und Weise vom Trauma des Kolonialismus betroffen sind. Was lösen gewaltvolle koloniale Bilder, aber auch Bilder der Folter bei ihr als Künstlerin und uns als Betrachtende aus? Oder auch: Wie lässt sich das individuelle, kollektive sowie politische Erleben repräsentieren? MCV: Die Arbeiten von Rajkamal Kahlon fesseln und beschäftigen uns beide und wir haben oft darüber diskutiert, was sie bei uns auslösen. Ihre Serie Do You Know Our Names? beschäftigt sich beispielsweise mit der Stereotypisierung und den für die Forschung missbrauchten Frauen*körpern. Kahlon übermalt die kolonialen Repräsentationen und ermöglicht somit einen neuen Blick auf die Frauen*, die irgendwann ja auch gelebt haben. Gleichzeitig wird auch der kolonialistische Blick hinterfragt, der immer noch wirkmächtig ist. Dies, finde ich, zeigt sehr gut, wie die künstlerische Praxis politisch intervenieren kann. Sie stellt Fragen und konfrontiert uns mit einer unangenehmen und/oder schmerzhaften Vergangenheit. Gleichzeitig sagt sie selbst, dass sie den Menschen die Würde zurückgeben möchte. Es geht nicht nur um die Skandalisierung der kolonialen Repräsentation, sondern um viel mehr: ein Statement gegen die Entwürdigung. Wir haben mittlerweile eine ganze Reihe von Künstler:innen – aber auch Aktivist:innen und theoretisch arbeitenden Menschen – nach ihrem Verständnis von Trauma und Widerstand befragt. Was waren in deinen Augen besonders interessante Aspekte in den Antworten? AD: Tatsächlich finde ich, dass Rajkamal Kahlon eine bemerkenswerte und starke Position zu den komplexen Dimensionen von Trauma, Kunst, Postkolonialität und auch Widerstand entwickelt hat. Zurzeit1 findet eine große Ausstellung ihrer Arbeiten in der Kunsthalle in Wien statt. Hier finden sich Arbeiten aus unterschiedlichen Zyklen, die sich auf sehr unterschiedliche Weise differenten Gewaltkontexten annähern (Kolonialismus, aber etwa auch der Einmarsch der US-Streitkräfte in Afghanistan). Es ist interessant, dass Rajkamal Kahlon immer auch davon spricht, dass sie für die repräsentierten Menschen Sorge trägt. Sie kümmert sich um sie: Sie bekleidet diese, schmückt sie – Kahlon gibt ihnen in gewisser Weise ihre Würde zurück – wie du ja schon bemerktest. »Painting«, erklärt sie in einem Interview, »acts as the medium 1

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of restitution and restoration, where I get to speak back to these histories. It’s the place where painting literally acts and functions as a medium of agency.«2 Jedes Trauma bezeichnet eine tiefgreifende Verletzung. In der Traumaforschung gibt es viele Definitionen, die jedoch meist eurozentristisch sind. Die Gäst:innen, die wir bei unserer Podcast-Reihe A Lover’s War befragt haben, haben immer wieder betont, dass es polyphoner Perspektiven und interdisziplinärer Ansätze und Methoden bedarf. Trauma an sich ist ein anhaltender Prozess, der keineswegs in einem Vakuum entsteht, sondern stets eng mit den umgebenen Strukturen bzw. der aktuellen strukturellen Gewalt des Kontexts verwoben ist. Denise Bergt und Jennifer Kamau, Mitbegründerinnen des Berliner International Women Space, haben darüber gesprochen, wie Migration, Flucht und Rassismus mit kolonialen Kontinuitäten verknüpft sind. In einer rassistischen Gesellschaft absorbieren BIPoC3 -Körper strukturell und auch im Alltag diesen Ausdruck von Gewalt. Und zugleich ist Widerstand stets ein untrennbarer Teil dieses Prozesses. Zum Beispiel, als der Kolonialismus als System von Menschen und Institutionen von Europa aus manövriert wurde und sich propagierte, gab es zeitgleich immer auch Widerständigkeit bzw. Widerstandskämpfe von Seiten der zu kolonisierten Personen und Gemeinschaften. Dies wird aber zumeist von systematischen, gewollten Strategien des silencing dethematisiert. Dadurch verblassen diese bedeutsamen Erinnerungen, Narrative, Menschen und Fakten. Wie bei der Figur des Kreises, die ich vorhin aufgegriffen habe, drücken sich Retraumatisierung und Widerstand in einem zyklischen, zeitgleichen und mal auch zeitversetzten Kontinuum aus. Hierbei können Trauma und auch Widerstand nicht als vereinzelte Zustände und Handlungen begriffen werden.Sie sind immer auch historisch, sozial, politisch und generationsübergreifend. Was waren für dich interessante Einsichten, María do Mar? MCV: Ich war von der Heterogenität der Interviews beeindruckt und wie immer wieder Stärke und Widerstand thematisiert und nach Wegen gesucht wurde, dies auch zu repräsentieren. Ferdiansyah Thajib spricht beispielsweise von endurance und nicht von resilience. Auch wurde sichtbar, dass Trauma nicht nur mit einer unmittelbaren Erfahrung zu tun hat, sondern, wie Marianne Hirsch in ihrem Buch The Generati2 3

In der Broschüre zur Ausstellung Which Side Are You On? – Rajkamal Kahlon in der Kunsthalle Wien (1.12.2022-9.4.2023), S. 53. BIPoC steht für Black, Indigenous und People of Color.

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on of Postmemory: Writing and Visual Culture After the Holocaust (2012) darlegt, von den nächsten Generationen geerbt wird. Obschon sie ihre Arbeiten zu Postmemory anhand ihrer eigenen Erfahrungen als Tochter von Holocaustüberlebenden beginnt, spricht sie in einem Interview an, dass der Prozess und die Struktur der intergenerationalen Übertragung zu einem wichtigen Erklärungsinstrument und Untersuchungsgegenstand in zahlreichen Kontexten geworden seien. Sie zählt unter anderem den transatlantischen Handel mit versklavten Menschen und die antikolonialen Kämpfe auf, aber auch die sogenannte Stolen Generation in Australien. Über Hirschs Arbeiten haben wir ja viel gesprochen und auch darüber, welchen Stellenwert sie der Kunst in der Bearbeitung der Traumata gibt. Selbst hat sie sich viel mit Fotografie beschäftigt und wie Fotos gewissermaßen zur Trägerschicht für Traumata werden. Familienbilder und -geschichten, insbesondere die Bilder von verlorenen Kindern, üben, so Hirsch, eine große Macht auf die Vorstellungskraft aus. Sie nutzt auch feministische Ansätze, um die verschlungenen Stränge unterschiedlicher traumatischer Geschichten in Kontakt zueinander zu bringen.4 Das Konzept der Postmemory finde ich wirklich faszinierend und es hat uns auch dabei geholfen, einige Interviews besser zu verstehen. Du hast selbst lange im Bereich der Kunstvermittlung gearbeitet. Siehst du eine Verbindung von Trauma, Kunst, Postkolonialität und Kunstvermittlung? Mir sind die postkolonialen Auseinandersetzungen von Spivak, die in diesem Band mal stärker, mal weniger stark reflektiert werden, besonders wichtig, weil sie konstant darauf pocht, dass wir einer ästhetischen Bildung bedürfen, um dem Grauen der postkolonial-kapitalistischen Gesellschaft zu entkommen. Eine Gesellschaft, die immer auch rassistisch, imperialistisch und (hetero-)sexistisch ist. Bildung, durchaus im Sinne von Humboldt, die uns dazu befähigt, abstrakt zu denken, den Dingen auf den Grund zu gehen, aber auch Ambivalenzen auszuhalten, so verstehe ich Spivak, befähigt uns dazu, ethische Reflexe auszubilden und den Verführungen der kapitalistischen, postkolonialen Welt zu widerstehen. Welche Rolle spielt in deinem Denken die Bildung oder auch Wissensproduktion? AD: Bei Fragen und Bildern zu Bildung bzw. Vermittlung folge ich gerne der Spur der Arbeiten von bell hooks. In ihrem Werk Teaching to Transgress: Educati4

Siehe das Interview mit Marianne Hirsch auf der Seite der Columbia University Press: https://cup.columbia.edu/author-interviews/hirsch-generation-postmemory (letzter Aufruf 2.10.2022).

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on as the Practice of Freedom befasst sie sich mit kritischer Pädagogik, die sie als Engaged Pedagogy bezeichnet. Dabei geht es um Fragen und (Gegen-)Entwürfe von Bildung als politische Praxis. Vermittlungsräume können eine Möglichkeit bieten, die Gesellschaft und Geschichte auf den Einzelnen und das Kollektiv anders zu imaginieren und ihre Normen zu durchdenken. Die Wirkung von Gewalt durchzieht diese Narrative und gesellschaftlichen Strukturen. Dabei sind folgende Fragen in meinen Augen höchst relevant: Wie können marginalisierte Perspektiven sichtbar gemacht werden, die nicht der hegemonialen Wissensproduktion entsprechen? Wie können wir hierbei (achtsamer) zuhören? Gibt es so etwas wie ein brave space – einen mutigen Raum –, in dem es möglich wäre, sich klar zu positionieren und aktiv zu intervenieren, wenn traumatische sowie rassistische, sexistische etc. Grenzüberschreitungen zum Ausdruck kommen? Können wir dabei alternative emanzipatorische Möglichkeiten imaginieren? MCV: Ein Punkt, der mir beim Nachdenken über Trauma wichtig ist und den du oft hervorhebst, ist die Möglichkeit der Resilienz oder der endurance, wie es Ferdiansyah Thajib in seinem Interview mit uns beschreibt: dieses Aushalten und dennoch Wachsen – obwohl die gemachten Erfahrungen nicht nur kränkend, entwürdigend und verletzend sind, sondern tatsächlich auch den Geist und Körper geschädigt haben. Warum ist es dir wichtig, gerade dies zu akzentuieren? AD: Resilienz steht für die Fähigkeit, nach einem Trauma Kräfte zu entwickeln. In den letzten fünf Jahren durch unsere gemeinsame Untersuchung und den Austausch mit Praktiker:innen, Künstler:innen habe ich für mich begriffen, dass das Konzept der Resilienz Lücken aufweist und Fragen aufwirft: Gibt es so etwas wie eine lineare Zeitlichkeit von »nach dem Trauma«, wenn sich zum Beispiel Rassismus als Teil unserer Gesellschaft auch im Alltag manifestiert? Wie gehen wir mit Brüchen um, die auch beim Kräfte-Entwickeln vorhanden sind? An welcher Stelle erlauben wir, Verletzlichkeit mitzudenken und ernst zu nehmen? Der Begriff »Trauma« stammt aus dem Griechischen und bedeutet tiefe und schwere Wunde. Während Traumatisierung komplexe Entwicklungsprozesse auslöst, an deren Ende langfristige Muster der Selbstentfremdung und Erschütterung des sozialen Zusammenhalts auf individueller, kollektiver und gesellschaftlicher Ebene stehen, steht Resilienz für einen konstruktiven und ressourcenorientierten Umgang mit Krisen und Traumata. Nicht zuletzt

Aïcha Diallo & María do Mar Castro Varela: Die Gespenster der Vergangenheit

seit der Shoa forschen und arbeiten Traumaexpert:innen in Europa und den USA mit Ansätzen und Methoden, die den Zusammenhang zwischen Trauma und Gesellschaft herstellen. Die Vorstellungen von traumatischen Prozessen und Kontexten und die anschließende Erforschung und Entwicklung von Therapieformen bezogen sich dabei auf spezifische Menschenbilder und Heilungsansätze. Meine Kritik daran ist, in Anlehnung an die Wissenschaftlerin und Sängerin Nkechinyere Mbakwe, dass es sich dabei hauptsächlich um eurozentrische Ansätze und Sichtweisen handelt. Aus diesem Grund habe ich mir im Zuge dieser Reflektionen auch den Begriff endurance näher angeschaut und angeeignet, um die Komplexität von Traumaerfahrungen und ihre Bearbeitung auf individueller und sozialer Ebene besser zu begreifen. Endurance – zu Deutsch: Durchhaltevermögen/Beharrlichkeit – bedeutet eine Möglichkeit, das Traumaerleben als Prozess anzunehmen, Brüche miteinzubeziehen und das Zeit- und Raumspektrum auszudehnen. Verletzung, aber auch Beharrlichkeit sind hierbei in einer anderen Zeitlichkeit, Temporalität eingebettet. Das durchbricht auch die eurozentrische Sicht einer linearen Zeit. In der Traumaforschung wird auch von Selbstheilungskräften gesprochen, die stets Teil von mentalen, emotionalen und körperlichen Prozessen sind. Mit anderen Worten geht es darum, sich dessen bewusst zu werden, dass auch sogenannte vermeintliche Abwehrmechanismen nicht pathologisiert werden sollten: Zum einen, weil die Betroffenen dadurch entmächtigt werden, und zum anderen, da das Pathologisieren die strukturelle Gewalt außen vorlässt und verschweigt. Es gibt immer wieder den Versuch, als Subjekt und/oder als Teil einer Gemeinschaft Heilung zu finden. Es ist der Drang, das Begehren, etwas heil zu machen, zu reparieren, wiederherzustellen, zu rehabilitieren. Dies geht durch Verbindungen hervor: im Subjekt durch neue Imaginationen, innere Bilder; in der Gemeinschaft durch die Hervorbringung solidarischer, empathischer Beziehungen, durch stabilisierende Außenstrukturen und durch Zeug:innenschaft – sodass die Isolation durchbrochen wird und sich Sinnhaftigkeit entwickelt. So können Kulturproduktionen Räume des Begreifens, des konstruktiven Wiederaneignens und der Reparaturarbeit bieten. MCV: Das erinnert mich an die Arbeiten von Kader Attia, der in seinen Arbeiten das Reparieren und Heilen in den Mittelpunkt stellt. 2016 hat er aber

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auch La Colonie5 , einen Raum in Paris, geschaffen, der eine Agora für lebhafte Diskussionen zum Thema der Entkolonialisierung nicht nur der Territorien, sondern auch des Wissens, der Haltungen und der Praktiken darstellt. Er reagiert damit auf die Notwendigkeit sozialer und kultureller Wiedergutmachung nach tiefen Traumatisierungen und zielt darauf ab, das zu vereinen, was zerbrochen oder auseinandergerissen wurde. Fragen der Heilung, Reparatur und Sorge sind zurzeit sehr dominant im Kunst- und Kulturbetrieb. Die Künstlerin Emma Wolokau-Wanambwa hingegen richtet ihren Blick auf die verschiedenen Richtungen des Erinnerns, so hat sie sich in einer ihrer Arbeiten unter anderem mit der Etablierung einer formalen Kunstausbildung an der Makerere-Universität in Uganda beschäftigt – doch nicht nur auf der Oberfläche beschreibend, sondern künstlerisch untersuchend (siehe auch Garrido Castellano 2020). Der Titel des Bandes, in dem dieses Gespräch abgedruckt werden soll, lautet Double bind postkolonial. Double bind weist dabei auf diese ausweglose Situation hin, dass wir immer wieder auf Vorstellungen zurückgreifen, um zu begreifen, zu verstehen, die selbst durchzogen sind von einer Spur der Gewalt. Gayatri Chakravorty Spivak ruft double bind immer wieder auf und ermuntert dazu, ihn zu erlernen, um vor allzu einfachen Auswegen zu warnen. Das postkoloniale Trauma scheint mir wie ein Symptom eines double bind zu sein. Spivak schlägt hier konkret ein productive undoing (siehe Spivak in diesem Band) vor. Ich glaube, dass das künstlerische Schaffen postkolonialer Künstler:innen dieser Bewegung eines productive undoing folgt. Kannst du etwas mit diesem Gedanken anfangen? AD: Ja, durchaus. Der Begriff productive undoing ist in meinen Augen sehr anregend. Dabei kommen mir gleich weitere Begriffe wie »Handlungsfähigkeit«, »unlearning«, »Prozesse«, »the quotidian« (täglich wiederkehrend) in den Sinn. Mit dem quotidian meine ich, sich von dem in der Kunst sehr dominierenden Begehren, etwas Sensationelles darstellen zu wollen, wegzubewegen. Ich würde gerne dazu Saidiya Hartman aus ihrem bemerkenswerten Werk Scenes of Subjection, Terror, Slavery, and Slave-Making in Nineteenth Century America (2022/1997) zitieren: »Rather than try to convey the routinized violence of slavery and its aftermath through invocations of the shocking and the terrible, I have chosen to look elsewhere and consider those scenes in which terror 5

Weitere Infos zu Kader Attia auf seiner Homepage http://kaderattia.de/ (letzter Aufruf 27.12.2022).

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can hardly be discerned. By defamiliarizing the familiar, I hope to illuminate the terror of the mundane and quotidian rather than exploit the shocking spectacle.« Es geht bei Trauma immer auch um den ganz gewöhnlichen Alltag, denn Gewalt und Trauma werden auch im vertrauten Umfeld erlebt. Oft ist das Trauma mit dem Leben der Subjekte aufs Engste verflochten. Wie können wir hierfür aufmerksam gemacht werden? Wie care (Sorge) tragen wir für andere, die im Alltag rassistischer Gewalt ausgesetzt sind? Wie sieht Selbstsorge aus? Im selben Buch beschreibt Hartman auch das Phänomen des double bind und nimmt dabei das Spivak’sche Modell als Grundlage. In Bezug von Archivieren und Erinnern lassen sich die Widersprüche nicht so leicht auflösen, da sie in direktem Zusammenhang mit Repräsentationsfragen und hegemonialen Strukturen stehen. Dies ist durchaus ein starkes Spannungsfeld des double binds. Es wirft Fragen zum gemeinsamen Gedächtnis, zur Sichtbarkeit und zum Verhältnis zwischen materieller Kultur und immaterieller Präsenz auf und hinterfragt, was diese Ideen im Kontext eines modernen Kunstmuseums bedeuten können. MCV: Immer wieder kommen wir auf die durchbrochenen Zeitlichkeiten, die kollektive Bearbeitung der Traumata zurück, die sicher ohne Aneignung des zuvor Geraubten und einer Beharrlichkeit nicht denkbar sind. In deinem Promotionsprojekt arbeitest du auch an der Frage nach transnationalen Verbindungen und Beziehungen – konkret zwischen Berlin und Dakar. Ich finde das sehr spannend, weil die Überschreitung, das Folgen der Routen von Menschen, Ideen, Bildern und auch Möglichkeiten des Heilens bisher kaum in den Blick genommen wurden. Siehst du Verbindungen zwischen deinem Promotionsprojekt, das du an der Fakultät für Urban Studies and Planning an der University of Sheffield verfolgst, und deinen Überlegungen zu Trauma, Kunst und Reparaturarbeit? Und dann gibt es noch einen weiteren Punkt: Welche Rolle spielt die Poesie für dich? Ich selbst habe vor einiger Zeit zu Poesie und Widerstand gearbeitet. Poesie fasziniert mich, weil sie formungebunden ist und weder Orthografie noch grammatischen Normen Folge leisten muss. Sie ist gewissermaßen anarchisch, weswegen sie sich auch für das Arbeiten an Traumata eignet. Auch die Arbeiten von Tasnim Baghdadi, die mit Hilfe metaphorischer Wiederholungen und visuellen Gedichten persönliche und kollektive Erinnerungen sowie ein Gefühl der Zugehörigkeit zu vermitteln versuchen, sind hierfür wertvoll.

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AD: In meiner Arbeit befasse ich mich in vielerlei Hinsicht mit den Ansätzen der Black Feminist Thought und Black Geographies. Dabei erscheinen mir bestimmte Fragen als sinnvoll: Inwiefern ist Blackness als dynamische Zusammenkunft physischer, sozialer, politischer und ästhetischer Räume zu verstehen und zu (er)leben? Wie lassen sich Black Lives (Schwarze Menschen und Positionen) auf lokalen und globalen Ebenen pluralisieren? Wie artikulieren sich dabei reparative Praxen und transnationale Verbindungen in unserer postkolonialen Gegenwart? Der Philosoph Édouard Glissant thematisiert die Verflechtungen der »All-Welt« (tout-monde), das heißt geographische, geistige und kulturelle Räume, die miteinander in Beziehung stehen. Dabei stellen Ambivalenzen, Brüche und das Imaginäre die Basis dieser Prozesse. Ja, Poesie bedeutet für mich Freiheit und Bewegung, leise Stimmen zum Erwecken zu bringen und die Zwischentöne im Rhythmus erklingen zu lassen. Vielleicht kann ein Gedicht der Lyrikerin May Ayim diesen Sinn für Poesie gut verkörpern:

künstlerische Freiheit alle worte in den mund nehmen egal wie sie herkommen und sie überall fallen lassen ganz gleich wen es trifft

Schlussbemerkungen Trauma spricht von Wunden und Verwundbarkeit. Verwundbarkeiten, die unterschiedliche Subjekte und Gemeinschaften in sehr differenter Weise betreffen. Eine postkoloniale Traumatheorie spricht beispielsweise von den Effekten der Kolonisierung und Kolonialität sowie den Strategien, die ehemalig kolonisierte Gruppen gefunden haben, um damit einen Umgang zu finden. Die Kraft der Kunst liegt darin, Möglichkeiten zu bieten, das Unaussprechbare sichtbar und damit begreifbar zu machen. Die Arbeit zu Trauma ist fragil (vgl. hierzu Bayramoğlu/Castro Varela 2021). Sie verlangt nach einem langsamen und behutsamen (traumasensitiven) Herantasten an die Symptome und nach einer Anerkenntnis unserer Abhängigkeit von den anderen sowie den Gespenstern der Vergangenheit. Für die Soziologin Avery Gordon ist ein Spuk, der uns verfolgt,

Aïcha Diallo & María do Mar Castro Varela: Die Gespenster der Vergangenheit

von einem Trauma zu unterscheiden – und doch ist er mit diesem verwoben. »Haunting is a frightening experience. It always registers the harm inflicted or the loss sustained by a social violence done in the past or in the present. But haunting, unlike trauma, is distinctive for producing a something-to-bedone« (Gordon 2008, S. xvi). Tatsächlich ruft ein Spuk nach der Tat, während das Trauma in erster Instanz beim Subjekt ein Ertragen und Nicht-Untergehen weckt. Doch das Eingeholtwerden von einer historischen Gewalt, die traumatisierende Auswirkung hat, ist kaum von dem Spuk auseinanderzuhalten, der nach der Tat ruft. Kunst ist als Intervention auch immer eine Tat, sie kann allerdings auch einen Umgang mit Trauma darstellen. Die Sache bleibt komplex.

Literatur Ayim, May (2005): Blues in schwarz-weiss: Gedichte. Berlin: Orlanda Frauenverlag. Bar-On, Dan (1998): The Indescribable and the Undiscussable: Reconstructing Human Discourse after Trauma. Budapest: Central European University Press. Bayramoğlu, Yener/Castro Varela, María do Mar (2021): Post/pandemisches Leben. Eine neue Theorie der Fragilität. Bielefeld: transcript. Becker, David (2014): Die Erfindung des Traumas. Verflochtene Geschichten, 2. Auflage. Gießen: Psychosozial-Verlag. bell hooks (1994): Teaching to Transgress: Education as the Practice of Freedom. Brave Heart, Maria Yellow Horse (2000): »Wakiksuyapi: Carrying the historical trauma of the Lakota«. In: Tulane Studies in Social Welfare, 21(22), S. 245–266. Garrido Castellano, Carlos (2020): »Emma Wolukau-Wanambwa: Disposable Memories in Uganda«, in: Nka, 47, S. 68–81. Glissant, Édouard (1997): Poétique de la Relation. Paris: Gallimard. Gordon, Avery F. (2008): Ghostly Matters. Minneapolis/London: University of Minnesota Press. Hartman, Saidiya (2022/1997): Scenes of Subjection, Terror, Slavery, and Slave-Making in Nineteenth Century America. New York: W.W. Norton & Company. Hirsch, Marianne (2012): The Generation of Postmemory: Writing and Visual Culture After the Holocaust. New York: Columbia University Press. Horn, Jessica (2020): »Decolonising emotional well-being and mental health in development: African feminist innovations«, in: Gender & Development 28(1), S. 85–98.

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van der Kolk, Bessel (2015): The Body Keeps the Score: Mind, Brain and Body in the Transformation of Trauma. London: Penguin Books Ltd. Leese, Peter/Crouthamel, Jason/Köhne, Julia Barbara (Hg.) (2021): Languages of Trauma: History, Media, and Memory. Toronto: University of Toronto Press. Mbakwe, Nkechinyere (2011): Oral Nollywood. Trauma und Heilung. Douala/ Berlin: Africavenir International e.V. Patterson, Orlando (1985): Slavery and Social Death: A Comparative Study. Cambridge, Massachusetts: Harvard University Press. Sharpe, Christina (2016): In the Wake: On Blackness and Being. Durham: Duke UniversityPress. Spivak, Gayatri Chakravorty (2012): An Aesthetic Education in the Era of Globalization. Cambridge: Harvard University Press. Sprinkle, Annie/Stephens, Beth (2021): Assuming the Ecosexual Position. The Earth as Lover. Minneapolis/London: University of Minnesota Press. Youngquist, Paul (2016): A Pure Solar World: Sun Ra and the Birth of Afrofuturism. Austin: University of Texas Press.

Von Spannungen, Widersprüchen und einem double bind Vielheitliche Körperlichkeiten und Zeitgenössischer Tanz Sandra Chatterjee

Zeitgenössischer Tanz wird oft universalisiert als international, kosmopolitisch, kritisch und (bedeutungs-)offen angenommen. Zeitgenössischer Tanz ist abstrakt und will Raum für Experimente lassen. Zeitgenössischer Tanz ist in seiner Entstehung allerdings tief in eurozentrische ästhetische, künstlerische und philosophische Entwicklungslinien verstrickt und steht dadurch in direktem Bezug zur Europäischen Aufklärung. Ich versuche in diesem Artikel Widersprüchlichkeiten und Spannungen im (Zeitgenössischen) Tanz aus einer postkolonialen Perspektive anhand folgender ausgewählter Szenarien und Fragestellungen aufzufächern: einer kritischen Beleuchtung des Welttanztages und seinen Implikationen und Zielsetzungen; einer Analyse einer spezifischen Aktion zum Welttanztag 2019; der Frage nach zeitgenössischen tänzerischen Ansätzen in der kulturellen Bildung, sowie der Frage nach vielheitlichen Körperlichkeiten zwischen kultureller und ästhetischer Differenz

Welttanztag, oder: der 29.April Der 29.April – der sogenannte Welttanztag oder International Day of Dance – ist für viele Tanzinstitutionen, Tänzer:innen, und Tanzaffine weltweit ein Tag an dem es gilt Tanz zu zelebrieren: es wird rund um Tanz mobilisiert, um das Interesse und Anerkennung für Tanz zu stärken. Der International Day of Dance wurde 1982 vom Dance Committee des International Theatre Institute (ITI; Hauptpartner für Darstellende Künste der UNESCO) gegründet und ist ent-

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sprechend global und international ausgerichtet. Die Botschaft, die im Rahmen des Welttanztages vermittelt werden soll ist to celebrate dance, revel in the universality of this art form, cross all political, cultural and ethnic barriers, and bring people together with a common language – dance.1 Im Mittelpunkt des Welttanztages steht also Tanz als Kunstform, die international kulturelle, politische und ethnische Grenzen überschreiten kann. Tanz (im Singular) wird als gemeinsame (universelle) Sprache verstanden, während sich die Ziele des International Day of Dance gleichzeitig auf Tanz in allen seinen Ausformungen weltweit beziehen will.2 Zur Feier des Tages wird jedes Jahr ein:e international:e anerkannte Choreograph:in/Tänzer:in gebeten eine Botschaft für den International Day of Dance zu schreiben: seit 1982 stammten die Botschafter:innen des Welttanztages aus 33 verschiedenen Ländern, mit erkennbarem Schwerpunkt auf Europa und den USA.3 Die Botschaft wird jeweils in verschiedene Sprachen übersetzt. Mit dem 29. April wurde allerdings ein Tag gewählt, der speziell für das europäische Ballett bedeutsam ist, markiert er doch den Geburtstag des Ballettmeisters Jean-Georges Noverre (1727–1810), einem der Protagonisten der Ballettreform des 18. Jahrhunderts. Wie sich an den Eckdaten seines Lebens zeigt, war Jean-Georges Noverre ein Kind der Aufklärung: die intellektuellen, gesellschaftlichen, philosophischen wie politischen Umbrüche dieser Zeit hatten direkten Einfluss auf sein Leben und seine Arbeit (Dahms 2001: 119ff.). Seine einflussreichste Schrift, die erstmals in Lyon und Stuttgart 1760 publizierten Lettres sur la danse, et sur les ballets haben in diversen, zum Teil erheblich erweiterten Neuauflagen, aber auch in Übersetzungen in ganz Europa Verbreitung gefunden. Die 1769 in Hamburg und Bremen bei Johann Heinrich Cramer erschienene deutsche Übersetzung stammte teils von Lessing, J.J.C.Bode. Noverres Lettres fanden ihr Publikum insbesondere in intellektuellen Kreisen (Dahms 2001: 199f.). Er gilt als führender Innovator in der Entwicklung des ›ballet d’action‹ (Handlungsballets), das in seiner Ausprägung in besonderem Einklang mit den Idealen der Aufklärung steht (Giles 1981: 246). Noverre war

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https://www.international-dance-day.org/internationaldanceday.html. https://www.international-dance-day.org/goals.html. In Schlüsseljahren gab es mehrere Botschaften, und vereinzelte Tänzer:innen sind mehreren Ländern zugeordnet. https://www.international-dance-day.org/goals.html

Sandra Chatterjee: Von Spannungen, Widersprüchen und einem double bind

zweifelsohne richtungsweisend für die Entwicklung des Balletts der Moderne (Dahms 2001: 117). Laut der amerikanischen Tanzwissenschaftlerin Jennifer Fisher bezeichnete Brenda Dixon Gottschild, die unter anderem für ihr Buch The Black Dancing Body: A Geography From Coon to Cool (2003) bekannt ist, in einem Vortrag im Jahr 1990 das Ballett als »the last bastion of white supremacy in the Western concert dance world« (Fisher 2016: 585, 595 FN 1). Fisher konstatiert, dass sich die Situation seither nur teilweise geändert hat: Almost any way you look at it, ballet is a bastion, a very established hierarchical art form that often patrols its borders on the level of looks and body type, above and beyond the many talents it takes to perform well. And it is very white […]. Does this »whiteness« have an element of racial supremacy built in? Perhaps, inevitably, it does, ballet being an art form that has thrived during many eras when racism has been blatant and even institutionalized (Fisher 2016: 585). Sie erklärt das »Weißsein« des Balletts mit seiner Entstehungsgeschichte in Europa und der Tatsache, dass das Ballett seit dem 17. Jahrhundert auf und hinter der Bühne von weißen Künstler:innen dominiert wird (Fisher 2016: 588). Auf Basis dieser geographisch und kulturell eindeutig verorteten Entwicklungsgeschichte versuchte die Anthropologin Joanne Keali’inohomoku bereits in ihrem 1970 erstveröffentlichten und viel gelesenen Artikel »An Anthropologist Looks at Ballet as a Form of Ethnic Dance« (Keali’inohomoku 2001) mit einer stringenten anthropologischen Argumentation Ballett als kulturell spezifische und »ethnische« Tanzform zu markieren. De facto bleibt Ballett aber weiterhin (normativ) unmarkiert, analog zur Unsichtbarkeit des Weißseins als »racial position« (Dyer 2000: 541, vgl. auch Fisher 2016: 588). Durch die verschiedenen Setzungen rund um den Welttanz-Tag wird also 1. Tanz (im Singular) als universelle Sprache zelebriert, die über kulturelle, ethnische und politische Grenzen hinweg vereint 2. ein Anspruch auf (unhinterfragbare) Internationalität erhoben 3. und gleichzeitig das europäische Ballett unmarkiert und normativ zentral gesetzt.

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Welttanz Tag 2019: #move4diversity Schwarzer Hintergrund – ein Close-Up auf Steppschuhe, akzentuiert mit perkussiver Musik, die an eine Werbung für Markensportschuhe erinnert. Die perkussiven Akzente wiederholen sich und hallen theatralisch nach, während sich – Sekunden schnell hintereinander geschnitten – Körperteile von jungen, durchtrainierten Tänzer:innen durchs Bild bewegen. In rasender Geschwindigkeit wechseln sich Bilder von Stepptanz, Ballett, Contemporary Dance, und Breakdance ab – alle auf Hochglanz inszeniert und dramatisch beleuchtet: in slow motion springt eine Ballerina im weißen Tutu im GrandJête (Spagatsprung) durch künstlichen Bühnennebel, virtuose Drehungen und scharfe Bewegungen, beeindruckende Breakdance-Momente werden durch elektronische Sounds akzentuiert. Nach ca. 30 Sekunden beginnt einer der in der Collage gesehenen Tänzer direkt in die Kamera zu sprechen. Das Bild sieht manipuliert aus, als ob der Kontrast der Farbbalance erhöht wurde: er sticht künstlich vor dem Hintergrund hervor. Mit deutlich hörbarem (nicht regionalem) Akzent, der ihn als Migrant markiert, spricht er die Zuschauer:innen an: »Mach mit! » – und zieht dabei mit seinem rechten Zeigefinger einen roten Strich von seiner Stirn auf den Nasenrücken: »Tanz für die Vielfalt«. Danach erscheinen viele (junge, durchtrainierte und im gleichen Stil geschminkte, vorwiegend aber nicht ausschließlich weiße) Tänzer:innen jeweils abwechselnd von der linken und rechten Seite und reihen sich immer vorne im Reißverschlusssystem ein, aufbereitet durch einen sich rhythmisch beschleunigenden Videoschnitt. Jede:r der Tänzer:innen hat einen farbigen Strich von der Stirn bis zum Nasenrücken: rot, gelb, blau, grün – kräftig und einfarbig. Begleitet wird diese Reihung von in unterschiedlichen (vorwiegend europäischen) Sprachen von unterschiedlichen Stimmen gesprochenen Statements: »Ich tanze für Vielfalt … je danse pour la diversity … la libertad … against racism« sind einige der Satzfetzen, die ich verstehe.4 Unter dem Hashtag #move4diversity zirkulierte der Dachverband Tanz Deutschland e.V. Ende April 2019 diesen 57-Sekunden dauernden VideoAufruf zum Welttanztag am 29.4.2019. Mit diesem kurzen Video bekennt sich der Dachverband, ein bundesweiter Verbund von Tanzinstitutionen und Verbänden, aktiv zu Offenheit und Toleranz- und gegen Rassismus. Er ruft Tänzer:innen und Tanzbegeisterte dazu auf, nach einem bestimmten Format 4

Siehe https://www.youtube.com/watch?v=pHyUF7VwVCA (letzter Aufruf 21.01.2023).

Sandra Chatterjee: Von Spannungen, Widersprüchen und einem double bind

ihr eigenes »Bekenntnis« in Bewegung umzusetzen – #move4diversity. Die Aktion »[f]ür Vielfalt, Demokratie und (Kunst-)Freiheit, für Toleranz und Weltoffenheit, gegen Rassismus« (ebd.) folgt einer Positionierung des Verbandes, die auf deren Mitgliedsversammlung Ende 2018 verabschiedet wurde, die sich zu einem »[k]lare[n] Statement gegen Rassismus und Diskriminierung! Für eine vielfältige und tolerante Gesellschaft!« bekennt.5 Die Aktion #move4diversity wurde in diesem Kontext geplant und konzipiert und stellt eine deutliche Verbindung zur Intention des Welttanztags her. Seit Verfassen dieses Artikels hat sich im diesem Kontext einiges bewegt: rund um ein Symposium im Rahmen der Verleihung Deutschen Tanzpreises im Oktober 2020 gab es eine Kontroverse und Rassismusvorwürfe, die den Dachverband selbst involvierten.6 Seither gab es u.a. ein neues Statement des Dachverbands,7 sowie einige vom Dachverband veranstaltete oder mitveranstaltete Events zu diesen Themen. Allerdings macht dieses Beispiel ein ähnliches Spannungsverhältnis sichtbar: es zeigt sich ein internationales, kosmopolitisches und in diesem Fall antirassistisches Selbstverständnis, allerdings unhinterfragt verhaftet in weißen, eurozentrischen ästhetischen Mustern. Differenz ist hier körperlich nur als Hautfarbe präsent, die über die bunten Farbstriche von Stirn bis Nasenrücken zusätzlich und abstrakt markiert wird – und zwar bei allen Tänzer:innen auf gleiche Weise. Differenz ist nicht genug in bewegten Körperlichkeiten präsent: die gezeigten Formen schließen neben Ballett und Zeitgenössischem Tanz, z.B. Stepp- und Break Dance ein, allerdings abgekoppelt von ihren kulturell und rassifizierten Kontexten im Black/African American Dance, sondern in ihren »white-washed« oder »white-approved« Ausprägungen (Gottschild 2003: 188). Über die Bewegung und Körper hinaus wird Differenz in dem Video auch sprachlich performt, durch die Vielsprachigkeit der Statements der Tänzer:innen. Die wörtliche Intention des Videos ist antirassistisch und inklusiv – der Aufruf richtet sich an alle »Tanzschaffenden, alle Tanzaffinen«.8

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Siehe https://www.dachverband-tanz.danceinfo.de/fileadmin/pdf/20181129_PM_Sta tement_gegen_Rassismus.pdf (letzter Aufruf 21.01.2023). Mehr dazu, z.B. unter https://www.akweb.de/gesellschaft/rassismus-vorwuerfe-im-d achverband-tanz-deutschland/ (letzter Aufruf 20.3.2023). Siehe https://www.dachverband-tanz.de/home/news-aktuell/gegen-rassismus-u nd-diskriminierung-fuer-eine-offene-und-vielfaeltige-gesellschaft (letzter Aufruf 20.3.2023). https://www.youtube.com/watch?v=pHyUF7VwVCA (letzter Aufruf 21.01.2023).

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In der Form wird diese Offenheit allerdings kaum performativ. Die Ästhetik der Performance kommuniziert Virtuosität und Exklusivität und bleibt tänzerisch innerhalb akzeptierter Formen des weißen Mainstreams verhaftet, kompatibel mit einem eurozentrischen Kunst-Tanzbegriff, versehen mit dem hochglänzenden Schliff eines Werbefilms. Auch der Text, der den Aufruf begleitet, wiederholt diesen Widerspruch: In der Kunst, die ohne Sprache auskommt, versammeln sich seit Jahrhunderten hochqualifizierte Fachleute aus allen Kontinenten. Sie sind moderne Nomaden mit leichtem Gepäck. Tänzerbiographien sind Reisebiographien. Der Tanz kennt keine Nation, Über [sic!] (seine) Grenzen zu gehen, gehört zu seinen täglichen Übungen. Die Theaterlandschaft versammelt seit Jahrzehnten an den Städtischen Bühnen und in den Freien Tanzensembles in Deutschland mehr als tausend Tänzer:innen [sic!], Choreograf:innen [sic!] und Tanzpädagog:innen [sic!] aus der ganzen Welt. Weit mehr als eine Million Menschen in Deutschland tanzen, werden unterrichtet von einer international besetzten Künstlergemeinde von über 7000 Tanzschaffenden. Eine große Bereicherung für das Kulturleben des Landes! Im Angesicht der aktuellen Stimmung im Land, wo Rassismus und Diskriminierung alles Fremden an der Tagesordnung sind, zeigen die multinationalen Tanzcompagnien, wie kreativ, friedvoll und positiv das miteinander arbeiten und leben sein kann.9 (Anmerkungen SC) Der Aufruf bestätigt also Tanz (wie auch die Prämisse des Welttanztages) als per se grenzüberschreitend, weil nicht sprachlich, und als Modell eines möglichen harmonischen Miteinanders durch und über Tanz – ein Modell, das auch im Kontext Tanz in der kulturellen Bildung eine Rolle spielt.

Miteinander Tanzen: Zeitgenössische Tanzpraktiken in der Kulturellen Bildung Der Dachverband Tanz Deutschland e.V. betont zum Welttanztag 2019, dass »[w]eit mehr als eine Million Menschen in Deutschland tanzen«10 – Ich persönlich hoffe es sind tatsächlich weit mehr. 9 10

https://www.youtube.com/watch?v=pHyUF7VwVCA (letzter Aufruf 21.01.2023). https://www.youtube.com/watch?v=pHyUF7VwVCA (letzter Aufruf 21.01.2023).

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In der kulturellen Bildung in Deutschland gewinnt Tanz seit 2004 an Bedeutung. Der Boom entstand rund um ein Projekt der Berliner Philharmoniker mit ca. 250 Schüler:innen aus »Berliner Brennpunktschulen« (Klinge 2011: o.S.). Bekannt wurde das Berliner Projekt – eine Inszenierung von Stravinskys Le Sacre du Printemps – unter anderem auch durch den Dokumentarfilm Rhythm is it! (2004). Der Brite Sir Simon Rattle, zu der Zeit Chefdirigent der Berliner Philharmoniker, arbeitete an diesem richtungsweisenden Projekt mit seinem Landsmann Roystom Maldoom, der als ein Mitbegründer der vor allem in England verankerten Community-Dance-Bewegung gilt. Diese will, so schreibt die Sportwissenschaftlerin Antje Klinge, »alle Menschen ansprechen und insbesondere solchen einen Zugang zur Kunstform Tanz ermöglichen […], die aufgrund ihrer sozialen, körperlichen oder kulturellen Voraussetzungen eher zu den gesellschaftlichen Randgruppen gezählt werden« (Klinge 2011: o.S.). Seit Rhythm is it! gibt es vermehrt Kooperationen zwischen Tänzer:innen, Tanzorganisationen und Schulen, eine »breitenkulturelle tanzbezogene Bildungsarbeit [die] in der Bundesrepublik – im Gegensatz zur CommunityDance-Bewegung in England – allerdings noch keine ausreichende Organisationsstruktur, d.h. keine gemeinsame Plattform und keine zentrale fachliche Koordinierungs- und Anlaufstelle gefunden [hat]« (Fleischle-Braun 2013/2012: o.S.). Auch ist Tanz als alleinstehende Kunstform nicht im Schulcurriculum verankert, anders als z.B. Musik oder Bildende Kunst (vgl. Fleischle-Braun 2013/2012: o.S und Klinge 2011: o.S.). Stattdessen ist Tanz oft Fächern wie Sport und Musik untergeordnet (Fleischle-Braun 2013/2012: o.S.). Auch Qualifikationskriterien sind für Tänzer:innen in der kulturellen Bildung nicht erarbeitet (Klinge 2011: o.S.). Tanzprojekte in der kulturellen Bildung privilegieren oft die Verfahren und Ansätze des Zeitgenössischen Tanzes und schreiben ihm »eine unverwechselbare kulturelle Bildungsbedeutung zu« (Klinge 2011: o.S.). Im Mittelpunkt steht das kompositorische und improvisatorische Arbeiten mit Körpern und (Alltags-)Bewegung, abseits einer bestimmten Tanztechnik, die zuerst erlernt werden muss. Gearbeitet wird aber mit Hilfe von choreographischen Mitteln, die sich vor allem im Rahmen von ästhetischen Entwicklungen des Modernen europäischen und US-amerikanischen Tanz, in direkter Abgrenzung vom Ballett ausdifferenziert haben (Cunningham 1952: o.S). Bei den Ansätzen, die für Tanz mit Nicht-Ausgebildeten Tänzer:innen in der kulturellen Bildung zentral sind, geht es um Körper und Bewegung im Raum: z.B. Bewegung an einem Ort vs. Bewegung im Raum, Bewegungsrichtung, Ausrichtung im Raum, Ausrichtung und Bewegung in Relation zu anderen Personen im

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Raum, Gruppenformationen. Damit untrennbar verbunden ist Bewegung im Verhältnis zu Zeit: z.B. Stillsein vs. Bewegung, Bewegungsgeschwindigkeit, Rhythmus-Variationen, z.B. in der Gruppe etc.; sowie auch Bewegung im Verhältnis zu Sound/Sprache/Narrative/Emotionen. Als performative Kunst wird dem (Zeitgenössischen) Tanz – v.a. im Vergleich zum Theater – weithin eine größere Offenheit, Diversität und Internationalität zugeschrieben. Dies wird damit begründet, dass nicht die gesprochene Sprache (und keine narrativen Rollen) im Vordergrund stehen (vgl. u.a. die Botschaft des Welttanztages). Zeitgenössischer Tanz ist abstrakt und will Raum für Experimente lassen. Texte über Zeitgenössischen Tanz, das arbeite ich in meinem Aufsatz Kulturelle Gleichzeitigkeit – Zeitgenössischer Tanz aus Postmigrantischer Perspektive (2018/2017) heraus, heben oft Heterogenität und eine daraus resultierende »Nicht-fassbarkeit« (Rosiny 2007: 9) des Zeitgenössischen Tanzes hervor: Er zeichnet sich durch eine Vielzahl choreografischer Ansätze, heterogener und hybrider Tanzstile und sich ständig ändernder (und sich weiterentwickelnder) künstlerischer Verfahren und Ansätze aus. Die Idee der Grenzüberschreitung steht dabei im Mittelpunkt. Während das ITI beim International Day of Dance das Grenzüberschreitende im Sinne von internationalen, kulturellen, politischen und ethnischen Grenzen denkt, geht es beim Zeitgenössischen Tanz meist nicht so sehr um die Überschreitung kultureller und ethnischer Grenzen, sondern eher um eine ästhetische Grenzüberschreitung und die Erweiterung der Kunst-/Tanz-/Theater-/ Publikumsbegriffe (etc.). Der Diskurs des Zeitgenössischen Tanzes in Europa bleibt trotz seiner Internationalität weitgehend innerhalb des Paradigmas des »westlichen künstlerischen Tanzes«, das sich seit der europäischen Aufklärung entwickelt hat, verhaftet. Seine historische Entwicklung wird entlang (weißer) europäischer und US-amerikanischer Entwicklungslinien verortet: ausgehend von einer Abgrenzung vom Ballett werden der europäische Moderne Tanz (insbesondere expressionistischer Tanz oder Ausdruckstanz) und das deutsche Tanztheater sowie American modern und postmodern dance als Meilensteine und wegweisende künstlerische Momente genannt, die die Entwicklung des Genres prägten (Traub 2001: 181). In Kontinuität mit der Unmarkiertheit des Balletts wird auch Zeitgenössischer Tanz selten explizit als ›europäisch‹ oder ›euro-amerikanisch‹ oder ›westlich‹ markiert.11

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Ausnahmen sind z.B. die neueren Publikationen von Gabriele Klein (Klein 2015: 17–49) und Sandra Noeth (Noeth 2016: 692).

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Die Schlagworte hybrid, heterogen, postkolonial und kritisch, die inspiriert aufgegriffen werden, beziehen sich daher hauptsächlich auf ästhetische Deskriptoren im Kontext einer Vielzahl von idiosynkratischen künstlerischen Ansätzen innerhalb dieses Paradigmas und bleiben so meist von einer breiteren (kultur-)politischen und postkolonialen Dimension der Kritik dekontextualisiert. Die Deskriptoren sind zwar nicht falsch, aber sie rufen Resonanzen mit kulturkritischen – insbesondere postkolonialen und dekolonialen Perspektiven auf, ohne diese tatsächlich zu rezipieren. Vor allem mit Blick auf Dekolonierungsprozesse bleiben die aufgerufenen Konzepte »nichtperformativ« (Ahmed 2016: 1), d.h. sie zeigen im Tanz im wörtlichen und im übertragenen Sinne keine Performativität. Hier trifft zu, was Sarah Ahmed im universitären Kontext kritisiert: nicht nur werden kritische Analysekategorien und Ansätze nicht performativ, in dem z.B. Rassismus zwar besprochen wird und ein wörtliches Bekenntnis dazu formuliert wird, aber anti-rassistische Maßnahmen nicht umgesetzt werden. Das wörtliche Bekenntnis verschleiert darüber hinaus die Notwendigkeit und Dringlichkeit eines aktiven Commitments zu differenzkritischen und anti-rassistischen Ansätzen und Maßnahmen. Im Rahmen dieser ästhetischen Grenzüberschreitungen kommt Tanz in der kulturellen Bildung vor allem die Arbeit außerhalb einer Tanztechnik mit Alltagsbewegung (abgeleitet aus dem US-amerikanischen Postmodern Dance) und der Rückzug vom Tanz an sich des konzeptuellen Zeitgenössischen Tanzes zugute, bei dem ›Tanz‹ und Bewegung zu Zitaten und Zeichen in einer konzeptuellen Choreographie werden (vgl. Schellow 2016). Hier lässt sich mit der Arbeit mit Menschen ohne Tanzausbildung, ohne gemeinsames Vorwissen bestimmter Tanztechniken oder körperliche Voraussetzungen gut anschließen. Im Mittelpunkt steht dann die körperlich-ästhetische Erfahrung von ›Nicht-Tänzern‹ das gemeinsame Experimentieren und Kultivieren dieser körperlich-ästhetischen Erfahrungen und was sie auslösen können. Es gibt daher auch die Notwendigkeit populäre, soziale und traditionelle Tanzformen und das ›soziokulturelle Umfeld‹ der Beteiligten an Tanzprojekten dringender mit zu bedenken, als z.B. professionalisierten, künstlerischen (Bühnen-)Tanz. Die Erscheinungsformen und Funktionen des Tanzes sind geprägt von ihrem jeweiligen geschichtlichen und soziokulturellen Umfeld. Daher spiegeln die verschiedenen traditionellen Tanzformen und stilistischen Spielarten des zeitgenössischen [sic!] Tanzes ein jeweils eigenes Verständnis von Körperlichkeit und Bewegung wider, das sich in unterschiedlichen ästhetischen

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Idealen, Normen und Praktiken äußert. Verschiedene Tanzstile beinhalten und zeigen daher immer auch kollektive oder individuelle Wahrnehmungsund Umgangsweisen mit dem Körper; und sie können den Zeitgeist und die Lebensgefühle einer Generation erfahrbar werden lassen (Fleischle-Braun 2013/2012: o.S.; Anmerkung SC). In diesem Kontext wird »tänzerische[] Bewegungsvielfalt« (ebd.) betont und das Interkulturelle als Prozess »zwischen der Auseinandersetzung mit traditionellen und zeitgenössischen Tanzformen und dem kreativen Schaffen innovativer und subjektiv stimmiger Ausdrucksformen« (ebd.) gesehen, indem sich ›offene‹, ungebundene und experimentelle zeitgenössische Ansätze den traditionellen und ›kulturell gebundenen‹ gegenüber stehen (ebd.). Es zeigt sich hier erneut das gleiche widersprüchliche Muster: der Rückzug vom ›Tanz‹ im Zeitgenössischen Tanz ist eurozentrisch hergeleitet und wie gehabt, werden die Parameter der Annäherung und Gegenüberstellung durch unmarkierte (weiße) europäisch-US-amerikanisch zeitgenössische Verfahren und künstlerische Werte definiert,12 in die ›andere‹ Formen wie ethnisierte Tanzformen, aber auch Social Dance und Tanzsport integriert bzw. inkludiert werden. Allerdings erlaubt diese eurozentrische ästhetische Entwicklung zumindest die Inklusion einer Vielheit von Bewegungssprachen und Tanztechniken, weil keine einzelne Tanztechnik als lingua franca bestimmt wird. Sie werden zum Gegenstand oder Thema, während aber weiterhin nicht unbedingt eine körperliche Verhandlung auf Augenhöhe stattfindet.13

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»In der tanzpädagogischen Vermittlungsarbeit werden häufig erlebnisorientierte, induktive und explorative Arbeitsweisen sowie Gestaltungsaufgaben in Form von Gruppen und Einzelimprovisation eingesetzt, unter Verwendung grundlegender Bewegungsprinzipien und Kategorien der Tanzanalyse (z.B. nach dem Laban-Konzept), ebenso kompositorische Arbeitsverfahren, die vor allem auf die kreative Produktion von Tänzen ausgerichtet sind«. (Fleischle-Braun 2013/2012: o.S.) Bewegung wird im konzeptuellen Tanz oft als Zitat verwendet. Diese zeitgenössische Haltung (Traub 2001: 181) zur Bewegung kann auch in Bezug auf markierte Bewegungsformen angenommen werden: ethnisierte, kulturell markierte und rassifizierte Tanzformen (sowohl außereuropäische als auch europäische) können somit zu diskursiven Zwecken eingesetzt werden: sie können aufgenommen, zitiert und angeeignet werden (vgl. Ploebst 2015 und Shohat/Stam 2014; Chatterjee 2018/2017). Die Gefahr, dass als ›anders‹ markierten Tanzformen und Tänzer:innen nicht auf Augenhöhe begegnet wird, sondern sie zu Zeichen innerhalb einer Zeitgenössischen europäischen Choreographie werden, liegt auf der Hand. Da die Intention hier in der Auseinandersetzung mit den ›Lebenswelten‹ der Personen, die diese ethnisierten Formen in das Projekt ein-

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Werden die hier aufgezählten qualitativen Modalitäten bzw. Vermittlungsdimensionen [Rezeption, Reflexion und Neuschaffen (Fleischle-Braun ebd.)] berücksichtigt, können Tänze aus allen kulturellen Bereichen (Tanzkunst, Social Dance, Ethnischer Tanz, Tanzsport etc.) exemplarisch zum Thema oder Gegenstand ästhetisch-kultureller Bildung werden, gleichgültig ob es sich dabei um symbolisch-expressive, narrative oder abstrakte oder um spontan getanzte »offene« oder um codifizierte [sic!], nach Regeln festgelegte Tanzformen handeln mag (Fleischle-Braun 2013/2012: o.S.; Anmerkungen SC). Und auch hier wird das Zeitgenössische mit Hybriditität gleichgesetzt, die für das Neue, für Entdeckung und Verfremdung des Vertrauten, sowie für Kritikalität und Reflexivität steht und der daher eine »besondere Bedeutung zugeschrieben« wird (vgl. Klinge 2010: 87). Zeitgenössische und kulturell-ästhetisch-korporeal vielheitliche Zugänge zum Tanz werden dabei nicht konkret genug unterschieden. Fleischle-Braun schreibt z.B.: Das Gefühl von Fremdheit oder Vertrautheit beim Erlernen einer Tanzkultur hängt mit dem inkorporierten Habitus des tanzenden Subjekts zusammen. Daher kann die zeitgenössische, häufig multikulturelle und transkulturelle Praxis des Tanzes auch ein Modell sein für eine ganzheitliche »leibliche« Erfahrungsbildung und körperliche Reflexivität, bei der das tanzende Subjekt durch die immanenten Vorgänge des Aufbaus, der Irritation und der Neuordnung sowie der Differenzierung von Körper- und Bewegungsstrukturen in einen Dialog mit seinen »inneren« Dispositionen und »äußeren« Weltsichten tritt (Fleischle-Braun 2013/2012: o.S.). Interessant ist vor allem auch wie sehr die Markierung und kulturelle Einbettung »traditioneller« (also ethnisierter) Tanzformen zwar im Vordergrund stehen, und gleichzeitig das (kulturell unmarkierte) Zeitgenössische universalisiert bleibt. Denn auch der Ausgangspunkt für Tanz in der kulturellen Bildung in Deutschland bleibt kulturell fest einem eurozentrischen Tanzbild verhaftet und baut auf einer unhinterfragten deutschen/europäischen Tanzgeschichte auf.14 Oft wird als einer der Pioniere des europäischen modernen

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bringen liegt, stellt sich die Frage der Aneignung und Anthropophagie (Shohat/Stam 2014: 3) weniger, oder anders. »Während der Tanz als ein vom klassischen Ballett sich abgelöster, individueller Ausdruckstanz noch zu reformpädagogischen Zeiten der 1920er-Jahre eine hohe Wertschätzung genoss, verkümmerte er mit der Beherrschungsideologie der NS-Herrschaft

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Tanzes, Rudolph von Laban15 zitiert: »Jeder Mensch ist ein Tänzer« (FleischleBraun 2013/2012: o.S.). . Gleichzeitig betont Klinge: Die Bevorzugung zeitgenössischer Tanzformen heißt aber nicht, dass anderen, traditionell festgeschriebenen und kulturell gebundenen Formen des Tanzes diese Bildungspotenziale abgesprochen werden müssen. Anstelle des Freiraums für die Entdeckung neuer Bewegungsräume und -formen tritt ihr performativer Charakter in den Vordergrund. An gebundenen, überlieferten Tänzen zeigen sich die kulturellen, geschichtlichen, sozialen und politischen Bedingungen, die sich in die jeweiligen Formen, Figuren und Haltungen eingeschrieben haben. Sie aufzuzeigen, d.h. über den praktisch-körperlichen Nach- und Mitvollzug sinnlich nach zu spüren und sichtbar zu machen, hebt die Zeige- und Aufklärungsfunktion von Bildung hervor (Klinge 2011: o.S.). Überspitzt zusammengefasst: Das Potential der »kulturell gebundenen« Formen wird in der Möglichkeit der Annäherung an das »Fremde« durch Mimesis gesehen, während das Potential des Zeitgenössischen in der Entdeckung, Verfremdung des Vertrauten, Erschließung des Neuen, dem Experimentieren liegt. Kulturell markierte, ethnisierte Tanzformen, also Tanzformen, die kulturelle, ethnisierte und rassifizierte Differenz performen, stehen dagegen für das Überlieferte (Verkörperung der Vergangenheit), kulturelle, soziale Kontexte des ›Fremden‹, und das »Gebundene« (im Gegensatz zum Freien?).

Vielheitliche Körperlichkeiten: Kulturelle Differenz vs. ästhetische Differenz im Zeitgenössischen Tanz Der deutschsprachige Tanzdiskurs ist also eng an ein eurozentrisches Verständnis von freier und autonomer Kunst geknüpft (Fuchs 2012/2013: o.S.). Die dadurch implizite Reibung zwischen einer zweckfreien Ästhetik und

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und den Folgen des zweiten Weltkriegs. Erst Mitte der 1970er-Jahre erfährt er in Deutschland eine Wiederbelebung als freier und kreativer Tanz in der Jugendkulturarbeit und als Tanztheater auf den großen Bühnen. Seit den 1980er Jahren ist Tanz in der Schule curricular verankert, als Bewegungsfeld neben Gymnastik und Bewegungskünsten im Schulsport sowie als integraler Bestandteil in den Fächern Musik, Darstellendes Spiel bzw. Theater« (Klinge 2011: o.S.). Rudolph von Laban nimmt auch in Klepecki’s bildungstheoretischer Analyse des Tanzens eine zentrale Rolle ein (Klepacki 2008: 154–156).

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einer gesellschaftspolitischen, differenzkritischen, anti-rassistischen oder weißseinskritischen Haltung, wird nicht häufig genug benannt. Dies ist allerdings gerade in Bezug auf postkoloniale Perspektiven zentral, denn, differenzkritische- und anti-diskriminierende/anti-rassistische Interventionen stehen in einer nicht-produktiven Spannung zur Idee der ästhetischen Differenz. Denn trotz der Erkenntnis, dass Kunst nicht wirklich unabhängig vom Gesellschaftlichen sein kann »[behauptet] die ästhetische Erfahrung […] bis heute trotz aller Infragestellungen und Angriffe eine eigene Relevanz und Autonomie« (Odenthal 2016: 9f.). Ästhetische Differenz erscheint als zentrales Kriterium der Kunst, z.B. wenn Leonhard Emmerling und Ines Kleesattel (2016: 14) fragen: »Wird Kunst durch die Infragestellung der ästhetischen Differenz mit anderen sozialen Praktiken austauschbar und dadurch womöglich überflüssig? Und wenn dem so wäre – warum wäre das so schlimm?« Diese Frage findet vielleicht gerade im Kontext des Tanzes in der kulturellen Bildung besondere Resonanzen, denn der Status von Tanz als eigenständige Kunstform muss hier immer noch eingefordert werden. Die Annahme, dass ästhetische Differenz und Kunstautonomie Grenzüberschreitung und die Infragestellung von Grenzen auf besondere Weise ermöglichen, wird im Tanzkontext betont, denn Tanz wird als »selbstreferentiell – auf sich selbst bezogen [verstanden]: Er ist nicht unmittelbar zweckgebunden und weist über das Alltägliche und Reale hinaus. Der Wert liegt im Vollzug und in der Erlebnishaftigkeit selbst begründet« (Fleischle-Braun 2013/2012: o.S.). Als ein von gesellschaftlichen Zwecken weitestgehend freies und befreites Feld liefert er vielfältige Gelegenheiten für die Entgrenzung bestehender Ordnungen, die Erprobung neuer, individueller Möglichkeitsräume und die Entdeckung verborgener Themen. Tanz enthält insofern auch eine kritische Dimension, als dieser leibliche Überschuss von Bewegungen auf Bestehendes verweist und/oder auf Zukünftiges hindeutet und neue Erfahrungsräume eröffnet, die praktisch erforscht und erprobt werden können. Im Tanz zeigen sich die kulturellen, geschichtlichen, sozialen und politischen Bedingungen in inkorporierter Weise. Sie aufzuzeigen, d.h. über den praktisch-körperlichen Nach- und Mitvollzug sinnlich nachzuspüren und sichtbar zu machen, hebt die Zeige- und Aufklärungsfunktion von Bildung hervor (Klinge 2010). In dieser Annahme wird ästhetische Differenz mit tatsächlich ausschließenden (kulturellen, rassifizierten, sozialen, und Gender-)Differenzkriterien auf problematische Weise parallel gesetzt, denn

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[ä]sthetische Erfahrung wird oft als Differenzerfahrung charakterisiert – das Merkmal der Differenz ist dabei aus der Erfahrung mit Kunst abgeleitet. Im postmodernen Verständnis von Kunst spielt das Moment der [›]Verfremdung[›] (im weitesten Sinn) eine besondere Rolle. Eine wesentliche Funktion von Kunst besteht demnach darin, traditionelle Wahrnehmungs- und Denkweisen aufzubrechen. Das Gewohnte wird in Frage gestellt, das Vertraute wird fremd gemacht, Irritationen sollen zu einer Umstrukturierung der Wahrnehmung und des Denkens führen (Brandstätter 2013/2012: o.S.). Ästhetische Differenz muss also durch künstlerische Mittel produziert werden, um einem Publikum, das ein Kunstwerk aus einer stabilen (z.B. ökonomisch stabilen, möglichst nicht-marginalisierten) sozialen Positionalität heraus betrachtet, gewisse ästhetische Destabilisierungserfahrungen zu ermöglichen. Es wird implizit eine privilegierte Zuschauerposition adressiert (Kondo 1997: 190, 195), und es stellt sich die Frage, inwiefern viele marginalisierte oder durch diese Differenzkriterien ›zu Anderen‹ gemachte Beteiligte oder Zuschauer:innen diese Art von ästhetischer Differenzerfahrung überhaupt benötigen oder wollen. Darüber hinaus können ethnisierte/markierte Körper und Bewegungen effektiv und affektiv ›Fremdheit‹ performen. So schreiben Franz Anton Cramer und Constanze Klemenz (jetzt Schellow): »Ein auf anderen Traditionen oder Codes basierender Tanz wird als Fremder offensichtlich. Gerade in dieser Fremdheit provoziert er den Vorwurf ungenügender Modernität oder im Gegenteil ein ehrfürchtiges Zurückweichen vor der kulturellen Differenz (2004:17). Körper, die sich ›anders‹ bewegen und dadurch markiert sind, sowie Bewegungen, die als getanzte Zeichen in der Wahrnehmung eines bestimmten Publikums über Fremdheit oder ›das Andere‹ hinaus nichts performen können, sind weniger bedeutungsoffen und dadurch m.E. auch im Kontext des Zeitgenössischen Tanzes von der diskursiven Offenheit, die die Kunstautonomie einfordert, ausgeschlossen.

Conclusio: Spannungen, Widersprüche und double bind An vier verschiedenen Beispielen/Situationen arbeite ich in diesem Artikel sich wiederholende Spannungen und Widersprüchlichkeiten im (Zeitgenössischen) Tanz heraus: ein Selbstverständnis der Offenheit, Internationalität, anti-rassistischen Engagements, während gleichzeitig unhinterfragt eu-

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rozentrische, weiße künstlerische und ästhetische Werte und Annahmen verhandelt werden. Und genau wegen dieser unhinterfragten Bindung an eurozentrische ästhetische und künstlerische Werte und Verfahren werden Rassismen und bewegungssprachliche Homogenität und die Korporealitäten der Tänzer:innen, also ihre körperlichen Realitäten, als materialisierte Kategorie kultureller Erfahrung (Foster et al. 1996: ix) zu wenig auf Augenhöhe thematisiert. Obwohl sich bewegende Körper im Tanz unabdingbar sind und auch Alltagsbewegungen eine bedeutende Rolle spielen werden kulturell markierte, ethnisierte und rassifizierte körperliche Vielheit und ethnisierte Tanztechniken nur selten sichtbar, und (wenn) dann oft als Rohmaterial und problematische Signifikanten des Anderen. Mit Blick, z.B. auf das Verhältnis von Rassismus und Tanz (diskutiert in diesem Aufsatz z.B. am Beispiel Ballett), bzw. im Kontext der anti-rassistischen Intervention durch Tanz (z.B. #move4diversity) ergibt sich die Frage, ob Tanz in seiner auch ausschließenden Exklusivität nur durch den präsenten strukturellen Rassismus geprägt ist, oder ob Tanz rassistische Strukturen substantiell mitkonstituiert, stabilisiert und reproduziert (mit Bezug auf Ballett vgl. Fisher 2016: 585). Während diese Widersprüche und Spannungen an sich nicht unbedingt einen double bind, also keine unauflösbare Widersprüchlichkeiten (Spivak 2012: 2) darstellen, liegt ihnen doch ein double bind zugrunde: die künstlerischen und kritischen Möglichkeiten und Potenziale des (Zeitgenössischen) Tanzes, auch aber nicht ausschließlich mit Blick auf postkoloniale und anti-rassistische und diskriminierungs-kritische Ansätze, werden zu einem großen Teil von den ästhetischen, philosophischen, gesellschaftlichen Umwälzungen und Entwicklungen und Leitmotiven der Europäischen Aufklärung wie kritisches Denken und Fragen, sowie der Freiheit und Emanzipation ermöglicht. Gleichzeitig laufen die zeitgenössischen ästhetischen Neuerungen und Ansätze Gefahr auch ein gewaltvolles nachaufklärerisches Vermächtnis zu reproduzieren. Aber was sind unsere Möglichkeiten, als Tänzer:innen, Tanzlehrer:innen, Tanzpädagog:innen, Choreograph:innen, Wissenschaftler:innen, die über Tanz schreiben, Kurator:innen, Fördergeber:innen etc. innerhalb dieses double binds zu agieren? Spivak schreibt: »In the aporia or the double bind, to decide is the burden of responsibility« (Spivak 2012: 104f.). Aber was sind die Möglichkeiten eines verantwortungsbewussten Handelns für und durch Tanz in diesem Kontext? Was kann dadurch bewegt werden? Hier lese ich wieder

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Spivak, die in der Einführung zu ihrem Buch An Aesthetic Education in the Era of Globalization schreibt: »This book is about productively undoing another legacy of the European Enlightenment – the aesthetic. Productive undoing is a difficult task. It must look carefully at the faultlines of the doing, without accusation, without excuse, with a view to use« (Spivak 2012: 1). Übertragen auf den Kontext Tanz, gibt es noch viel zu tun, um zu artikulieren, was ein produktives »Undoing« der ästhetischen Limits des europäischen Zeitgenössischen Tanzes bedeuten könnte. Ein paar Anfangsgedanken zum Desiderat des »Undoing« sind: a) Den Mythos des kosmopolitischen, internationalen Zeitgenössischen Tanzes aufzulösen (undo), oder zumindest nicht weiter zu reproduzieren, b) die Festlegung auf einen unidirektionalen Blick nach vorne auflösen, d.h. z.B. nicht nur selbstreflexiv auf ästhetische Grenzüberschreitung in Richtung »Neuheit« sehen, sondern auch kritisch selbstreflexiv adressieren, wo die künstlerischen Ansätze und Werte des (Zeitgenössischen) Tanzes herkommen, c) die Tanztraditionen (auch und allen voran die des Zeitgenössischen Tanzes) in ihrer kulturellen und historischen Verortung markieren und schließlich e) ehrlich und kritisch die Ziele, die mit Tanz (z.B. in der kulturellen Bildung) verfolgt werden verhandeln (z.B. geht es um »Integration« oder Dialog und Auseinandersetzung durch und über Tanz und tanzende Körper auf Augenhöhe).

Literatur Ahmed, Sara (2016): »How Not to Do Things with Words«, in: Wagadu: A Journal of Transnational Women’s and Gender Studies 16, S. 1–10. Brandstätter, Ursula (2013/2012): »Ästhetische Erfahrung«, in: Kulturelle Bildung Online: https://www.kubi-online.de/artikel/aesthetische-erfahrung (letzter Zugriff 04.06.2019). Chatterjee, Sandra (2018): »Kulturelle Gleichzeitigkeit-Zeitgenössischer Tanz aus Postmigrantischer Perspektive«, in: Hill, Marc/Yildiz,Erol (Hg.): Postmigrantische Visionen. Erfahrungen – Ideen – Reflexionen. Bielefeld: transcript, S. 199–206. Cramer, Franz Anton/Klemenz, Constanze (2004): »Einmischung in auswärtige Angelegenheiten: Tanz als migratorische Praxis«, in: Theater der Zeit 2, S. 15- 18.

Sandra Chatterjee: Von Spannungen, Widersprüchen und einem double bind

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Reenacting Racism Zum double bind der Katharsis im experimentellen Theater Joy Kristin Kalu & Anja Quickert

Das folgende Gespräch begann am 16. November 2018 als Interview, das Anja Quickert im Rahmen der Berichterstattung über das Save your Soul-Festival an den Berliner Sophiensælen mit der Leiterin des Festivals Joy Kristin Kalu für das Fachmagazin Theater heute führte. Der Austausch fand kurz nach einer Intervention Kalus in die Performance Good Sherry der US-amerikanischen Theatermacherin Ann Liv Young am Eröffnungsabend statt und bot so viele Anknüpfungspunkte, dass sich die Gesprächspartnerinnen zu einer vertiefenden Diskussion verabredeten, die hier nun in Auszügen vorliegt. Ausgehend von dem Rassismus-Vorfall, der Kalu veranlasste, die Aufführung abzubrechen, versuchen die beiden das Spannungsfeld von Verantwortung und Freiheit im experimentellen Gegenwartstheater auszuloten. Anja Quickert: Als Dramaturgin der Sophiensæle hast Du im November 2018 das Festival Save Your Soul kuratiert, das die Schnittstelle zwischen Theater und Therapie erforschen wollte. Einerseits ist dem Theater das Therapeutische über den Begriff der »Katharsis« schon seit der europäischen Antike eingeschrieben. Umgekehrt nutzt Therapie dem Theater verwandte Formen wie Storytelling, Symboltechniken, Rollenspiele, Psychodrama oder Reenactment. Beides erfindet also Ausdrucksformen, die das Verhältnis von Menschen untereinander und zur Welt abbildend erforschen. Was war der Anlass, Dein Impuls, Dich aktuell mit der Beziehung zwischen Theater und Therapie zu beschäftigen? Joy Kristin Kalu: Abgesehen davon, dass ich zu diesem Themenfeld auch wissenschaftlich forsche, beobachte ich derzeit einen Trend im experimentellen Theater hin zu Anwendungsformen des Therapeutischen: einerseits Arbeiten, die den Anspruch haben, tatsächlich therapeutisch wirksam zu werden, und andererseits Arbeiten, die diesen Trend kritisch kommentieren und hinterfra-

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gen. Das Wissensfeld zwischen Selbsthilfe und Selbstoptimierung boomt. Der therapeutische Diskurs ist nicht nur der dominante Code des Selbstausdrucks in westlichen Gesellschaften, er verschmilzt dabei zudem mit der Popkultur, die ihn in Talkshows, Serien, Filmen, Romanen und Selbsthilferatgebern verarbeitet und verbreitet.1 Aber auch in Bezug auf das Theater habe ich das Gefühl, dass Publikum und Akteur:innen zunehmend in ihren zu bearbeitenden Unzulänglichkeiten in den Fokus rücken. Dem kommt entgegen, dass Therapiesitzung und Aufführung ohnehin einige Parallelen aufweisen: Im Rahmen tiefenpsychologisch ausgerichteter Therapien und der Psychoanalyse hat die Therapeutin ja gewissermaßen auch die Funktion einer Spielleiterin, die die Deutungshoheit über die Situation besitzt. Sie führt Regie, ist zugleich Spielpartnerin und Zuschauerin. Eine wichtige Annahme bei der Freud’schen Analyse ist schließlich der Glaube daran, dass der Prozess der Übertragung für den Heilungsprozess zentral ist. Das heißt, ein ungelöster Konflikt, der zu einem Symptom führt, muss im Hier und Jetzt wieder ausagiert werden, um dann bearbeitet werden zu können. Dabei wird also die Analytikerin zur Projektionsfläche, das Therapiegespräch quasi zum Rollenspiel. AQ: Die konzeptionelle Analogie zwischen Theatersituation und Therapie erscheint auf den ersten Blick natürlich schlagend. Sie setzt aber voraus, dass man dem Theater eine konkrete soziale Funktion zuschreibt. Das Theater selbst hat in Europa seit dem 18. Jahrhundert ja eher um die Anerkennung seiner Existenz als autonome Kunstform gerungen, um sich jeglicher Funktionalität und Instrumentalisierung zu verweigern. Mit Ausnahme vielleicht der historischen und Neo-Avantgarden, die eine Gestaltung der Wirklichkeit durch Kunst programmatisch formuliert und verfolgt haben. Das berührt natürlich unmittelbar die Frage, in welchem Verhältnis man die Sphäre der Kunst zum Sozialen und Politischen verortet, was ihre Eigenart, was ihre Funktion ist. Aus meiner Sicht konfligieren gerade zwei ungleich starke Strömungen: Einerseits die Idee, Kunst müsse auf soziale Wirklichkeiten direkt Einfluss nehmen – natürlich: sie verbessern –, müsse informieren, erziehen oder sogar politisch meinungsbildend auf Menschen einwirken, was sie in eine Verwandtschaft mit dem Bereich der Kulturellen Bildung rückt. Dem gegenüber steht die Auffassung, Kunst müsse ihren Status als Heterotopie 1

Vgl. die für die Ausrichtung des Festivals zentrale Publikation von Eva Illouz, Die Errettung der Modernen Seele, Frankfurt a.M.: Suhrkamp, insbesondere S. 9–20.

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im Sinne Foucaults, als »Gegenraum«, unbedingt verteidigen, jenseits von sozialer Verantwortung und konkretem Nutzen für die Gesellschaft – sei es als Rückzugs- und Möglichkeitsraum eines auf Effizienz ausgerichteten, durchökonomisierten Gesellschaftssystems, sei es um den Status quo der gesellschaftlichen Zusammenhänge immer wieder neu, radikal und kritisch spiegeln zu können. Insbesondere die Freie Theaterszene scheint mir aufgrund der förderpolitischen Zusammenhänge, die ihre Arbeit einerseits auf ästhetische Innovation, andererseits auf soziale Relevanz festlegen, besonders anfällig für kulturpolitische Steuerung zu sein. JKK: Ja, ich teile die Beobachtung, dass Nützlichkeitsaspekte in der Kunst immer wichtiger werden. Dass die Freiheit der Kunst gerade aus so vielen Perspektiven be- und hinterfragt wird, bedeutet aber auch, dass wir uns an einem historisch spannenden Punkt befinden. Letztlich waren die Künste und insbesondere das Theater natürlich schon immer in Anwendungskontexte verstrickt, sei es im Sinne der bereits erwähnten Katharsis in der Antike, sei es im Zusammenhang mit theatraler Repräsentation von höfischer oder kirchlicher Macht im Rahmen von Festen oder Riten im Mittelalter und früher Neuzeit. Die Vorstellung der Notwendigkeit von einer Autonomie der Kunst ist also eine vergleichbar junge Erfindung. Und tatsächlich scheint sie gegenwärtig besonders in Frage zu stehen. Aus meiner Sicht ist es unabdingbar, dass soziale Aspekte Eingang in die künstlerische Praxis finden. Genauso wichtig aber ist es, dass diese Prozesse nicht von institutionellen Ansprüchen oder Förderlogiken bestimmt werden. AQ: Um zum Festival konkret zurückzukommen: Partizipative Formate hebeln die Übereinkunft aus, dass Theater Fiktionen abbildet und ein konsequenzverminderter Raum ist. Vor allem in Interaktionsformaten, die das Publikum unmittelbar involvieren, werden Vorgänge und Handlungen real erfahrbar. Es entsteht eine Sphäre des Sozialen, die mit ihrer Rahmung als Kunst – der Übereinkunft, dass die Normen und Codes des Alltags nicht in gleicher Weise gelten – kollidiert. Das daraus entstehende Spannungsverhältnis zwischen künstlerischer Strategie und ethisch vertretbarem Sozialverhalten eskalierte am ersten Festival-Wochenende in einen manifesten Konflikt. Die Premiere von Good Sherry von Ann Liv Young in den Sophiensælen wurde von Dir

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abgebrochen, was in einem kleinen (auch medial beachteten2 ) »Skandal« mündete. Im Anschluss an die für den Folgetag geplante zweite Show sollte die Performerin gemeinsam mit dem Publikum die Konflikte der Premiere in einem Gespräch aufarbeiten. Stattdessen inszenierte sie ein TherapieFormat, dessen künstlerisches vs. soziales Framing permanent zu changieren schien und die Frage in den Mittelpunkt rückte, bis zu welchem Grad Künstler:innen ihre Kunst nach den ethischen Standards bewerten müssen, die für alltägliche zwischenmenschliche Beziehungen maßgeblich sind. Die Idee einer künstlerischen Kritik, die absichtsvoll das Negative und Falsche abbildet, um Missstände erfahrbar zu machen, wird zunehmend von einer utopistischen Kunst verdrängt, die das Richtige bereits in ihren ästhetischen Verfahrensweisen und Repräsentationen implementiert hat. JKK: Ann Liv Young ist eine US-amerikanische Theatermacherin und Performerin, die unterschiedliche Projekte und Kunstfiguren entwickelt hat. Eingeladen hatte ich sie mit einer Show, in der sie die Südstaaten-Therapeutin Sherry Vignon spielt, die einen sehr fragwürdigen, autoritären Therapiestil verfolgt. In Berlin sollte sie eine Gruppen-Sherapy mit dem Publikum durchführen. Ihre Arbeit war mir als Position im Festival wichtig, weil Young auf erstaunliche Art und Weise in der Lage ist, die Machtrelationen, die dem therapeutischen Verhältnis zu eigen sind, herauszuarbeiten und in größere gesellschaftliche Zusammenhänge zu überführen. Sie provoziert stark und emotionalisiert dadurch ihr Publikum, um die Situation zu einem Zusammenbruch zu führen, der jene Zuschreibungen, die mit therapeutischer Pathologisierung einhergehen, deutlich macht. Es geht ihr also darum, die vermeintliche Neutralität von Diagnosen zu problematisieren, indem sie in ihrem semi-fiktionalen therapeutischen Settings (sie agiert als Figur, das Publikum wird in seiner Alltagsrolle angesprochen) sehr schnell zu Befunden gelangt, die sich nur zu bestätigen scheinen, wenn sich die von ihr analysierten Zuschauer:innen gegen die Klassifikation wehren. Sie spielt dabei mit dem Motiv des Widerstands

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Vgl. beispielsweise Katharina Alsens Kommentar auf nachtkritik: https://nachtkriti k.de/index.php?option=com_content&view=article&id=16105:good-sherry-beim-fe stival-save-your-soul-in-den-berliner-sophiensaelen-ein-beitrag-zu-sprachlicher-g ewalt-wieder-einmal&catid=101&Itemid=84 oder Demi Nandhras Blog: http://ww w.deminandhra.com/blog/2018/12/16/ann-liv-youngs-racial-violence (letzter Aufruf 23.01.2023).

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und zeigt auf, wie die therapeutische Feststellung eines Widerstands zu einer autoritativen Geste der Entmündigung werden kann. AQ: Nun ist Ann Liv Young – respektive ihre Persona Sherry – allgemein bekannt für ihre absolut kompromisslose Überschreitung von Diskursgrenzen und sozialverträglichen Verhaltensweisen. Sie hatte eine Zeit lang Hausverbot in der MoMA PS1, hat beim Festival American Realness die Aufführung einer Kollegin geentert. Wenn es im Programmheft der Sophiensæle heißt: »Ihre Beratungspraxis ist radikal und direkt, denn Selbstfindung ist bei Sherry keine Option, sondern ein Befehl«, hat Young dann nicht die an sie gestellte – und für das Marketing des Events ausgesprochen hilfreiche – Erwartungshaltung erfüllt? JKK: Für mich ist oft erstaunlich, wie genau sie das Publikum liest und entscheidet, welche Form der Emotionalisierung, welche provokanten Strategien sie wählt. Sie kann schnell intime Momente herstellen, die gleichzeitig eine politische Relevanz haben. Aber rassistische Gewalt, die durch rassistische Sprechakte entsteht, halte ich nicht nur für eine billige Provokation, sondern ist eindeutig nicht tolerierbar. Sie hat in einem mehrheitlich weißen Raum zwei Schwarze Zuschauer:innen in ihren inner circle, einen Stuhlkreis auf der Bühne, miteinbezogen und mit ihnen gearbeitet. Für einen der Schwarzen Zuschauer, der an der »Therapie« partizipierte, performte sie den Song Be careful von der Hip-Hop-Sängerin Cardi B. und provozierte ihn mit dem N*Wort… AQ: … auch in den USA hat Cardi B., die selbst einen hispanisch-afroamerikanischen Hintergrund hat, heftige Diskussionen um Sprache und Identitätspolitik ausgelöst… JKK: Die Vorstellung abgebrochen habe ich aber nicht, weil das N*Wort gefallen und es ›politisch unkorrekt‹ ist, sondern weil sich Ann Liv Young nicht mit der Reaktion der Zuschauer:innen auseinandersetzen wollte. Sie hat das Machtverhältnis, das sie durch den rassistischen Sprechakt etabliert hatte, durch ihr Verhalten fortgesetzt, als sie sich entgegen lautstarker Proteste aus dem Publikum geweigert hat, den direkt vom Rassismus Betroffenen das Mikrofon zu geben. Damit hat sie verhindert, dass der Konflikt in die »Therapie« bzw. die grundsätzlich auf Interaktion ausgelegte Situation eingebaut werden

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konnte. Als die Auseinandersetzung um das Mikrofon dann physisch wurde, habe ich eingegriffen. AQ: Das erscheint mir völlig plausibel. Dennoch steht aus meiner Sicht eine generelle Frage im theaterspezifischen Diskursraum: Es gibt viele Formate, die behaupten, unmittelbar wirksam zu sein. Stattdessen verfahren sie im Wesentlichen diskursiv und/oder didaktisch, erzeugen keinerlei Ambivalenzen, berühren keine Konfliktzonen. Die Absicht, Ann Liv Young einzuladen, macht nur Sinn, wenn man tatsächliche Konflikte hervorrufen und austragen möchte. Wir stimmen völlig darin überein, dass ein rassistischer Sprechakt für sich genommen kein künstlerisches Konzept ist. Aber wird die Situation nicht dadurch komplizierter, dass Ann Liv Young im Rahmen einer künstlerischen »Therapie« einen existierenden und in den USA ausgesprochen erfolgreichen Hit zitiert? Zumal einen, der eine umfassende Debatte darüber ausgelöst hat, wer für welche Identität sprechen darf. JKK: Es ist ein kompliziertes Feld. Und die Kontexte, die Ann Liv Young im Rahmen von pop-kulturellen Zitaten aufruft, sind natürlich nicht zufällig, sondern genau gesetzt und durchdacht. Ich halte ihre Grenzüberschreitungen auch meistens für produktiv, schon weil jede:r der Anwesenden letztlich die Entscheidung treffen muss, wie sie:er Ann Liv Young einordnet. Die Widersprüche und Ambivalenzen sind die eigentliche Sprengkraft der Performances. Es gibt trotzdem in Bezug auf die Ausübung von Gewalt auf der Bühne Grenzen, und immer auch für das Publikum die Möglichkeit, die LiveSituation der Aufführung zu nutzen und zu protestieren, wenn etwas als Übergriff gewertet wird. Die Performance des Songs war letztlich ein Akt kultureller Appropriation einer Figur (und nicht der Performerin), der bei aller Provokation durchaus zu fruchtbaren Debatten hätte führen können. Die Entscheidung Ann Liv Youngs (und nicht der von ihr verkörperten Figur), die entstandene rassistische Verletzung nicht zur Verhandlung zu stellen, sondern fortzuschreiben, indem sie den betroffenen Zuschauer:innen entgegen deren Bitten das Mikrofon verweigerte, führte zu einer aggressiven Zuspitzung der Situation und letztlich zum Einschreiten des Publikums. AQ: Technisch gesehen – oder als Sinnbild für gesellschaftliche und künstlerische Debatten – war es allerdings ein höchst aufschlussreicher Abend. Obwohl für den zweiten Abend eine Diskussion angekündigt war, die Ann Liv Young im Anschluss an die Performance als Person auf Augenhöhe mit

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dem Publikum führen sollte, weigerte sie sich, ihre Rolle als Sherry Vignon zu verlassen. Sie beharrte auf ihrer Kunstfigur und auf dem Raum des Theaters als verbindliches Framing. Eine differenzierte Aufarbeitung konnte aber auch deshalb nicht stattfinden, weil sich das Publikum seinerseits für diese Ambivalenz überhaupt nicht interessiert hat und sich argumentativ ausschließlich auf Normen der außerkünstlerischen Wirklichkeit bezog. Man muss Ann Liv Youngs Verhalten nicht richtig finden, um es als konsequent zu betrachten. Indem sie ihre Kunstfigur behauptet, verteidigt sie ihren Sprechakt als künstlerisches Zitat und ist nicht bereit, ihn mit einer rassistischen Beleidigung gleichzusetzen. JKK: Dass Ann Liv Young ein ausgeprägtes Gefühl für die sozialen Energien in einem Raum besitzt und es versteht, damit so zu arbeiten, dass relevante gesellschaftliche Diskussionen entstehen, zeigte sich auch nach meinem Abbruch der Premiere. Nachdem Ann Liv Young und ihre Mitstreiter:innen die Bühne verlassen hatten, erhoben sich 90 Prozent des Publikums, versammelten sich um die betroffenen Zuschauer:innen und es begann eine erhitzte Diskussion mit zahlreichen Wortmeldungen, die etwa eine weitere Dreiviertelstunde auf der Bühne stattfand und sich anschließend ins Foyer verlagerte. Für das weiße Publikum war die Eskalation vermutlich eine wichtige Erfahrung. Es hat ganz unmittelbar gespürt, was ein rassistischer und damit performativer Sprechakt und die Gewalt, die er ausübt, bewirken können. Ich habe etwas Vergleichbares im Theater noch nie erlebt. Aber die Frage ist natürlich immer, wer den Preis für den Lerneffekt zahlt und wann er zu hoch ist. AQ: Völlig richtig. Aber sie hat etwas sichtbar gemacht, was zur Erfahrungswelt von BPoC (Black and People of Color) gehört, und von der weißen Mehrheitsgesellschaft normalerweise nicht wahrgenommen wird. Und sie bildet einen Diskurs ab, der die zeitgenössische Pop-Kultur zwar prägt, dort auch diskutiert wird, aber in der emotionalen und psychosozialen Konsequenz für die Betroffenen kaum erfahrbar ist. Sie schafft einen hybriden Raum, einen Ausnahmezustand, der bestimmte Selbst- und Fremdbilder kompromisslos in Frage stellt. JKK: Es war ein Lehrstück für weiße Menschen. Gleichzeitig aber die tiefgreifende öffentliche Verletzung eines Schwarzen: Der Betroffene war nach der Auseinandersetzung um das Mikrofon emotional und körperlich in einem Zustand, den ich so ebenfalls im Theater als Reaktion auf eine Gewalterfah-

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rung noch nicht erlebt habe. Ich bin mir allerdings nicht sicher, inwiefern hier Selbst- und Fremdbilder ins Wanken geraten sind. Letztlich wurde eine Schwarze Opfergeschichte fortgeschrieben, während sich die weißen Zuschauer:innen in der anschließenden Diskussion als Kompliz:innen oder auch Skeptiker:innen in Szene setzen konnten.3 AQ: Nach so einem grenzüberschreitenden Ereignis drängt sich Dir als verantwortlicher Kuratorin und mir, in meiner Funktion als Theaterkritikerin, unmittelbar die Frage nach den Grenzen der Kunst auf. Oder, positiv formuliert, nach ihrem Möglichkeitsraum. Was kann sie zur Emanzipation gesellschaftlich Marginalisierter beitragen und welche Gefahren sind damit verbunden: für die beteiligten Menschen – aber auch für die Kunst. Natürlich aktualisiert auch das Zitat eines rassistischen Sprechakts diesen Akt und die damit einhergehende Verletzung. Deshalb wird die Forderung nach einer künstlerischen Praxis, die ein utopisches soziales Moment in ihre Ästhetiken bereits eingeschrieben hat, indem sie die Machtverhältnisse, Gewalt – die gesellschaftlichen Verhältnisse in ihrer Negativität – nicht abbildet oder darstellt, immer lauter. Das gilt vor allem im Kontext der Unterdrückung von oder Gewalt gegen Frauen, BPoC, Menschen mit Migrationserfahrungen oder mit Behinderung. Die Darstellung einer Negativität – gerade auch im historischen Kontext – kategorisch zu vermeiden, kann aber auch bedeuten, sie unsichtbar zu machen. Gerade im Theater stellt sich also die Frage des double binds so explizit, weil es affektiv wirksame Bilder und komplexe Ästhetiken produziert. Ein spezifisches Phänomen der interaktiven Formate lässt sich auch so beschreiben, dass sie aufgrund der Verbindlichkeit sozialer Verhaltensnormen bestimmte Freiheiten aufgeben müssen: Sie operieren mit emotionaler Nähe, mit Unmittelbarkeit, statt mit relativierender und rationalisierender Distanz. Die Frage des Dargestellten und Darstellbaren betrifft die Frage der Ästhetik ganz grundsätzlich. JKK: Die Frage betrifft natürlich besonders jene Formate, die eine Trennung zwischen Bühne und Zuschauerraum aufheben und mit direktem Einbeziehen des Publikums zum ›Einbruch der Realität‹ einladen. Aber ich glaube, die Frage nach dem Ethischen, nach dem jeweiligen Verhältnis von Darstellung und Reproduktion gegebener Machtverhältnisse und der Möglichkeit von Empower3

Im Publikum befanden sich auch Zuschauer:innen of Color, aber der Raum war mehrheitlich weiß.

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ment, spielt immer eine Rolle in diesem Raum. Das betrifft auch das klassische Repräsentationstheater. AQ: Nichtsdestotrotz ist die Wahrnehmung einer Zuschauerin, die einen Vorgang auf einer Theaterbühne vor-geführt sieht, durch das Bewusstsein dieser Vor-führung eine andere. Und auch, wenn man die Rezeption einer Inszenierung als aktiven Vorgang begreifen muss, stellt er qualitativ etwas anderes dar, als in ein Spiel involviert zu werden, dessen Regeln man nicht mitbestimmen darf. JKK: Ja, im Rahmen dieser interaktiven Formate begibt man sich immer in ein Spannungsfeld, das sich nicht so einfach auflösen oder kontrollieren lässt. Dieser Verhandlungscharakter macht das Theater, das dabei letztlich in all seinen Spielformen die Möglichkeit zur Intervention bietet, wohl zum politischen Medium der Stunde. AQ: Muss das Theater, wenn es eine echte Chance für die Verhandlung sozialer Beziehungen sein will, nicht notwendiger Weise auch ein echtes Risiko darstellen? Identitätspolitiken, die sich auf race oder Gender beziehen, beinhalten ja nicht nur ein emanzipatorisches Potenzial, sondern auch die Gefahr neuer Festschreibungen und Ausschlüsse. JKK: Ich glaube, dass es gerade sehr wichtig ist, zu breiten solidarischen Bündnissen in der Gesellschaft zu gelangen, und wenn Identitätspolitiken dem im Wege steht, sollte man sie überwinden. Am Beispiel von Ann Liv Youngs Performance hat sich aber gezeigt, wie unterschiedlich die Publikumsreaktionen auf den rassistischen Vorfall waren − völlig unabhängig von Herkunft und Hautfarbe. Der Trend hin zum Umgang mit sozial ausgerichteten, identitätspolitisch geleiteten und zuweilen auch therapeutischen Formaten im Theater hängt in Deutschland meiner Meinung nach auch mit der Fördersituation der Freien Szene zusammen. Seitens der Geldgeber:innen werden Anwendungsbezüge immer häufiger eingefordert; eine erfolgreiche Antragsstellung scheint zunehmend an soziale Wirkungsversprechen von Kunst gebunden zu sein. Es gibt eine Vielzahl von öffentlich subventionierten Förderprogrammen, die spezifisch auf diese Wirksamkeit, das gesellschaftliche Veränderungspotenzial der Kunst abzielen. Diesen Zusammenhang denken freie Künstler:innen, die in projektbezogenen Strukturen arbeiten, natürlich mittlerweile mit.

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Was im Bereich der Kulturellen Bildung zurecht seinen Platz hat, scheint zunehmend auch der Freien Szene abverlangt zu werden – ein konkreter impact.4 AQ: Die Konsequenz ist, dass Künstler:innen schon im Nachdenken über ihr nächstes Projekt – oder problematischer noch: in ihrer Wahrnehmung von Gesellschaft – einen Filter einbauen, der die »Relevanz« eines Feldes, eines Stoffes aus der Perspektive seiner potenziellen Förderung bewertet. Eine problematische Entwicklung ist das insofern, als bestimmte Problemstellungen mit finanziellen Interessen gekoppelt werden und öffentliche Institutionen implizit den künstlerischen Diskurs determinieren. Ein weiteres Problem liegt darin, dass eine bestimmte Bevölkerungsgruppe – Künstler:innen, die sich zwar oftmals in prekären Lebens- und Arbeitsumständen befinden, hinsichtlich ihres Bildungs- und Teilhabe-Niveaus aber privilegiert sind – dafür bezahlt werden, dass weniger privilegierte, gesellschaftlich stigmatisierte Gruppen im öffentlichen Diskurs »auftreten«. Dabei liegt die Entscheidung, wie diese Menschen in Erscheinung treten, welche Stimmen konkret gehört werden, bei den Privilegierten. JKK: Dass Krisenhaftigkeit an einen Geldwert gebunden wird, halte ich für absolut problematisch. Zumal diese Krisenhaftigkeit in der Wahrnehmung aufrechterhalten werden muss, um die Logik ihrer Verwertung aufrecht zu erhalten. Vielleicht schreiben sich hier sogar bestimmte hierarchisierende Ästhetiken fort. So, wenn Menschen, die nicht der vermeintlichen Norm entsprechen auf der Bühne als Lai:innen und Zeug:innen ihrer eigenen Diskriminierungserfahrung auftreten und dabei jene Authentizitätseffekte liefern sollen, die zuallererst den normalen‹ Schauspieler:innen neben ihnen deren Professionali4

Ein aktuelles Beispiel der beschriebenen Förderlogik ist die vom Berliner Senat aufgelegte Impact-Förderung, die sich explizit an Künstler:innen mit Diskriminierungserfahrung richtet. »Die spartenoffene IMPACT-Förderung soll die Diversitätsentwicklung des Berliner Kulturbetriebs, insbesondere im Bereich der freien Künste fördern. Es adressiert kunstschaffende Personen und Gruppen, deren künstlerische Perspektiven im Kulturbetrieb bisher unzureichend repräsentiert sind«, heißt es in der Ausschreibung. Vgl.: https://www.berlin.de/sen/kultur/foerderung/foerderprogramme/interkulturelle-projekte/artikel.82020.php (letzter Aufruf 21.01.2023). Hier sind die Antragsteller:innen zwar in ihrer Themenwahl frei, sie haben aber den Zweck struktureller Veränderung des Kulturbetriebs zu erfüllen, die sich mittels der offenen Projektförderungen offenbar nicht realisieren lässt.

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tät und mimetische Kunstfertigkeit bestätigen. Ich gehe allerdings davon aus, dass das Problembewusstsein dafür seitens der Künstler:innen in den vergangenen Jahren gestiegen ist. AQ: Gleichzeitig problematisiert der Diskurs um mehr Partizipation und soziale Gerechtigkeit, der vor allem in der Freien Theaterszene geführt wird, aber auch die Gepflogenheit der Dramatik und Bühnen, dass Akteur:innen, die du als »normale« Schauspieler:innen bezeichnest, im »Als-ob-Modus« stigmatisierte Randgruppen spielen, obwohl ihnen der biographische und Erfahrungshintergrund fehlt. Diese Kritik ist existenziell wichtig, dennoch sehe ich für die Freie Szene die Gefahr, dass die Legitimation der künstlerischen Praxis zunehmend gleichgesetzt wird mit der Biographie der Künstler:innen. Und übersetzt in die real existierende Förderpraxis, könnte sich überspitzt formuliert tatsächlich eine Art didaktisch motivierte »Staatskunst« in der Freien Szene entwickeln. Also ein Phänomen, das derzeit von rechten Diskursen, konkret von der rechten Partei »Alternative für Deutschland« (AfD), als »linkes Gesinnungstheater« denunziert wird. Wobei die AfD dabei wohlweislich verschweigt, dass der Bereich freier Theaterproduktion, jenseits der hochsubventionierten und ihrer institutionalisierten Struktur nach konservativen Stadtund Staatstheaterlandschaft, ohnehin nur einen verschwindend geringen Anteil öffentlicher Fördergelder in Anspruch nimmt. JKK: Die AfD benutzt das Thema derzeit, um die Kunst ihrerseits politisch zu instrumentalisieren, im Sinne einer nationalen deutschen Identitätspolitik. Gleichzeitig sehe ich, dass auch bestimmte Förderprogrammatiken zu einer fragwürdigen Fortschreibung von Identitätspolitik führen: zum Beispiel, wenn Künstler:innen mit Migrationserfahrungen – oder einem zugeschriebenen Migrationshintergrund – in Programmen aufgefangen werden sollen, die sich mit Identität, Heimat oder Integration beschäftigen. Es gab und gibt zudem unzählige Projekte, in denen Menschen mit Migrationserfahrungen oder BPoC auf der Bühne als »Andere« in Szene gesetzt werden; bestes Beispiel sind die inflationär inszenierten Chöre mit Geflüchteten. Und das führt letztlich zu einer Fortschreibung dessen, was von der weißen Mehrheitsgesellschaft als gesellschaftlich »Anderes« definiert und wahrgenommen wird. Es handelt sich bei genauem Hinsehen oft ganz und gar nicht um ein linkes Gesinnungstheater, sondern, ganz im Gegenteil, werden existierende Hierarchien vielmehr im Sinne reaktionärer Ideologien fortgeschrieben.

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AQ: Ist es nicht ein grundsätzliches Problem der (darstellenden) Kunst, dass ihre Wirkungen – soweit sie Kunst und nicht Pädagogik sein will – wesentlich nicht determinierbar sind, sondern in den Augen des Publikums liegen? Eine Inszenierung wie beispielsweise Disabled Theater vom Choreografen Jérôme Bel und dem Theater Hora hat völlig kontroverse Sichtweisen und Kritiken hervorgerufen. Die Frage, ob diese Inszenierung Menschen mit Behinderung ausstellt und in diesem Sinne ihre Stigmatisierung fortschreibt, oder, ganz im Gegenteil, eine Plattform zur Selbstermächtigung darstellt – ein Auftritt des Politischen im Sinne Rancières –, wurde je nach Perspektive des Publikums völlig unterschiedlich diskutiert. JKK: Die persönlichen Voreinstellungen jedes:r einzelnen Rezipient:in spielen natürlich eine große Rolle, trotzdem gibt es kluge, durchdachte Inszenierungsstrategien, die einen machtkritischen Umgang mit kulturellen Ungleichheiten bewirken können. Um nochmal zurück zu den Förderprogrammen zu kommen: Oft werden Menschen of color auf die Rolle von ›Expert:innen‹ für ganz bestimmte Themenfelder festgelegt. Oder es muss ein bestimmter Migrations- oder Fluchthintergrund gegeben sein, um spezifische Förderungen überhaupt zu bekommen, schlimmer noch, um Objekt in Projekten anderer zu werden. So wurden in der Ausschreibung des Förderprograms Homebase (2016/17) des auf die Förderung der Freien Theaterszene ausgerichteten Fonds Darstellende Künste Projekte gesucht, die »Fragen von Herkunft und Zugehörigkeit, von Eigenem und Fremdem, neu verhandeln. Der Fokus der Förderung liegt explizit auf dialogorientierten und interkulturellen Ansätzen: Ob mit Geflüchteten und Asylsuchenden, mit Bürgern mit Migrationshintergrund oder mit Künstler:innen aus den Fluchtländern – im Zentrum der Vorhaben soll der Austausch stehen.«5 AQ: Aber bildet das Phänomen nicht das derzeit größte, am schwierigsten zu lösende Paradoxon einer Gesellschaft ab, die ihre Ausrichtung an den Normen: weiß männlich heterosexuell verändern will (und muss)? Bereits die Forderung nach mehr Diversität basiert notwendiger Weise auf Identitätsmerkmalen, die bislang gesellschaftlich marginalisiert wurden, und nun als positive Qualität interpretiert werden, um vorhandene Machtdispositive und -gefüge zu verändern. Die Frage ist doch – und sie ist allerorts umkämpft – an welchem Punkt 5

Vgl. https://www.fonds-daku.de/homebase/(Hervorhebungen durch die Autorin, letzter Aufruf 23.01.2023).

Joy Kristin Kalu & Anja Quickert: Reenacting Racism

eine temporär notwendige Form der »positiven Diskriminierung« umschlägt in ihrerseits repressive, exkludierende Tendenzen. Auch Festschreibungen auf individuelle Identitätsmerkmale bereiten mir grundsätzlich sehr ambivalente Gefühle, weil sie immer einen naturalisierenden Effekt haben, der prinzipiell – und leider ergebnisoffen – politisch instrumentalisierbar ist. JKK: Ich frage mich, ob z.B. Frauenquoten in Politik, Wirtschaft oder Kultur als positive Diskriminierung zu bezeichnen sind oder nicht als Akt einer Gleichberechtigung, die sich ohne diese Interventionen in den gegebenen Strukturen nicht realisieren ließe. So begrüße ich auch die neue Frauenquote in Bezug auf die Auswahl der Inszenierungen, die ab 2020 zum Theatertreffen eingeladen werden. Die Einrichtung der 360°-Stellen der Kulturstiftung des Bundes hingegen ist schon deshalb absurd, weil die Beschäftigung temporär begrenzt ist. Hier sollen Menschen mit ›Diversitätskompetenz‹ als Gäste in die Kunst- und Kultur-Institutionen eingreifen, Veränderungsprozesse initiieren, dann aber bitte wieder gehen. Die Diversifizierungsanstrengung ist also sehr begrenzt, strukturelle Veränderung wird umgangen und marginalisierte Arbeitnehmer:innen bleiben in prekären Arbeitszusammenhängen. AQ: Die Gefahr besteht darin, dass diese Stellen von den Institutionen als erweitertes Marketing-Instrument genutzt werden, dessen Funktion – ganz im Sinne eines ökonomisch gesteuerten Diversity-Managements – vor allem darin besteht, neue Publikumsschichten zu akquirieren. Eher aus einer Legitimationsnotwendigkeit heraus, die letztlich ökonomischem Kalkül folgt, denn als ernsthafter Wunsch, Strukturen und Inhalte der Institution zu verändern. Ich glaube, dass die meisten Institutionen zwar ihr Portfolio erweitert haben, um mehr Diversität zu repräsentieren: vor allem über Vermittlungs-Programme: Kinder, Jugendliche, Frauen, Menschen mit Migrationserfahrungen, LGBTIQ, Freie Szene. Dass diese Institutionen aber einen grundlegenden Wandel ihrer substanziellen Ausrichtung oder Besetzung anstreben würden, sehe ich – mit repräsentativen Ausnahmen wie dem Maxim Gorki Theater in Berlin – eher nicht. Eine Stadtteilprojekt hier, ein Bürgerchor da, eine Schwarze Mitarbeiterin in der zweiten Reihe. Man kommt einer Minimalanforderung auf der Repräsentationsebene nach, um sich in einer diverseren Gesellschaft kulturpolitisch zu legitimieren – was letztlich die bestehende Institution stabilisiert. Wie ist da Deine Beobachtung als Schwarze Theatermacherin?

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JKK: Ein positives Signal sehe ich in der Bewegung Die Vielen6 , der auch ich angehöre. Hier schließen sich gerade zahlreiche Kunst- und Kulturinstitutionen sowie Akteur:innen im Kulturbereich deutschlandweit – und inzwischen darüber hinaus – zusammen, um ganz bewusst für eine offene Gesellschaft einzutreten und sich dem aktuellen Kulturkampf von rechts, wie ihn z.B. die AfD und die Identitäre Bewegung verfolgen, entgegenzustellen. Aber natürlich müssen wir alle aufpassen, dass im Zuge der Freude, sich gemeinsam zu engagieren nicht der selbstkritische Impuls untergeht, die eigenen institutionellen Strukturen zu reflektieren und zu reformieren. Es gibt zurzeit im Bereich des Theaters auf inhaltlicher Ebene viele Bemühungen, sich gegen Rassismus, Sexismus, Ableismus und andere Formen der Diskriminierung zu positionieren – ob das zu nachhaltigen Veränderungen der institutionellen Strukturen, vor allem der Führungsetagen führt – da bin ich bei der deutschen Theaterlandschaft nicht so optimistisch. In der Freien Szene, in der weniger Geld zur Verfügung steht, sieht das anders aus. Dort sind an zahlreichen Produktionshäusern weibliche Leitungen vorhanden, während im Stadt- und Staatstheaterwesen weibliche Intendanzen weiterhin die Ausnahme bilden. Als positives Veränderungssignal möchte ich allerdings Ernennung der Schwarzen deutschen Regisseurin Julia Wissert zur Intendantin des Schauspiel Dortmund nicht unerwähnt lassen. AQ: Allgemein scheint es derzeit eine Gleichzeitigkeit von stark gegensätzlichen Kräften zu geben, die das Gefühl der Unübersichtlichkeit gesellschaftlicher Entwicklungen verstärkt und die Gesellschaft für Krisendiskurse anfälliger macht. Ein gewisser Grad an Diversifizierung, der gesellschaftlich erreicht wurde, hat einen heftigen Backlash ausgelöst: Standpunkte radikalisieren sich, Polarisierungstendenzen werden allerorts spürbarer. Damit verschwinden die Graubereiche und die Aggression steigt. Die Dominanz von Sozialen Medien im Feld des Sozialen und Politischen hat diese Entwicklung mit Sicherheit befördert. – Ich stelle mir selbst derzeit viele unangenehme Fragen; auch wie sehr ich tatsächlich in den letzten Jahren primär mit meinem eigenen Weltbild beschäftigt war, in dem nur Meinungen, die meinen eigenen ähnlich sind, vorkommen. JKK: Wäre es Dein Wunsch, dass Kunst und Kultur diesen anderen Stimmen mehr Gewicht geben, beispielsweise auf der Diskursebene? 6

Seit 2022 ist die Bewegung Die Vielen nicht mehr aktiv

Joy Kristin Kalu & Anja Quickert: Reenacting Racism

AQ: Ich stelle mir die Frage, wie man, ohne dass man die ungebrochene Repräsentation rechter Diskurse erhöht, wieder ins Gespräch, in Austausch, in ein konkretes, durchaus auch konflikthaftes Verhältnis kommen kann. Wie man eine Demokratie, die sich in einem fatal verkürzten Selbstverständnis zunehmend auf Mehrheitsverhältnisse beruft – ein beliebtes Scheinargument undemokratischer Parteien – wieder neu beleben kann. Auf jeden Fall scheint mir die Angst, individuelle Standpunkte zu vertreten, die von den Normen der eigenen Community, der eigenen Referenzgruppe abweichen, gerade wahnsinnig groß zu sein und der Mut, Fehler zu machen, sehr klein. Vielleicht ist es notwendig, wieder zu lernen, die Existenz von Konflikten auszuhalten. Schon um die tatsächliche Vielfalt des Denkens und der Erfahrungen gegen eine Tendenz zu Vereinfachung und Polarisierung zu verteidigen, die keine Diskussion um Sachverhalte mehr kennt, sondern nur noch politische – vielleicht sogar letztlich entpolitisierte – Standpunkte gegeneinander in Stellung bringt. JKK: Ich denke auch, dass eine Chance für die Demokratie darin liegt, dass Diskussionen wieder kontroverser geführt werden. Insofern führen die aktuellen gesellschaftlichen Tendenzen auch zu einer Re-Politisierung, die positiv ist. Dabei stehen wichtige Aufgaben an. So ist die umfassende Aufarbeitung des Kolonialismus in Deutschland eine dringend notwendige politische Herausforderung, die es endlich ermöglichen würde, historische Zusammenhänge von Kolonialismus und Faschismus zu diskutieren und zudem die aktuellen weltpolitischen Krisen im Zusammenhang mit der fortwährenden Kolonialität zu betrachten. Auch Fragen kultureller Appropriation lassen sich in ihrer Komplexität letztlich nur in Bezug auf koloniale und neokoloniale Machtgefüge und deren Wirkungen verhandeln. Die Kunst kann zu dieser Aufarbeitung eine Menge beitragen, nicht zuletzt, da sie in der Lage ist, Repräsentation in ihren gewaltvollen Dimensionen erfahrbar zu machen. AQ: Es ist wirklich erschreckend, wie wenig die deutsche Geschichte des Kolonialismus bislang aufgearbeitet wurde. Der Struktur- und Bewusstseinswandel, der hier notwendig ist, beginnt bei den Lehrplänen und -büchern in der Schule. An eine pädagogische Vermittlung im Rahmen von Kunst im engeren Sinne glaube ich allerdings nicht. Als Form der Selbstvergewisserung und Solidarisierung einer bestimmten Gemeinschaft kann sie natürlich wichtig, hilfreich und entlastend sein. Aber genau diese Entlastungsfunktion einer Kunst, die schlichte Inhalte vermittelt oder Randgruppen zu Wort kommen lässt, betrachte ich vor allem hinsichtlich des Publikums als Problem. Schon im Sin-

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ne der Selbstbestätigung: »Wir sind die Kritischen, die ethisch Überlegenen.« Wenn Kunst, wie Du es eben schon gesagt hast, in der Lage sein soll, Repräsentationen in ihrer gewaltvollen Dimension erfahrbar zu machen, muss sie Ambivalenzen zulassen, glaube ich, und das Dargestellte für unterschiedliche Perspektiven freigeben. Vielleicht kann Kunst nur in genau diesem Moment überhaupt wirken. Wenn sie die Zuschauer:innen durch ihre ästhetische Formensprache ernsthaft irritiert und jede:r Einzelne tatsächlich einen eigenen Zugang, eine eigene Haltung finden muss. Wenn Kunst also für einen kurzen Moment lang in der Lage ist, das Selbst- und Weltbild in Frage zu stellen.

»Sabotiert das Theater!« Zur Schaffung eines neuen Begehrens nach sozialer Gerechtigkeit und radikaler Diversität an deutschen Stadtund Staatstheatern Thu Hoài Tran

Stellen Sie sich vor, Sie sitzen im Theater und schauen sich ein Stück an. Dieses Stück wird nach einer Weile von einer Schauspielerin, die aufgrund ihres sogenannten »Migrationshintergrundes« wieder einmal die Kanakin spielen muss, unterbrochen. Sie sagt: »Ich mach bei eurem Scheiß nicht mehr mit«. Ihr Schwarzer Kollege, der zwar in Deutschland geboren und sozialisiert wurde, aber immer wieder Rollen mit vermeintlich gebrochenem Deutsch zugewiesen bekommt, schließt sich ihr an. Er und sie legen ihre Rollen ab und damit auch ihre Arbeit nieder. Beide, die zuvor noch im Stück die Nebenrollen spielten, werden durch ihre Intervention zu Hauptfiguren des Ereignisses. Sie, liebe Leser:innen, sitzen im Publikum und spüren nun, dass die Spannung auf der Bühne und im Publikum stetig steigt. Das Licht auf der Bühne ändert sich. Das Saallicht geht an. Pause. Im Folgenden möchte ich Sie auf eine Denk- und Suchbewegung einladen. Anhand eines imaginierten performativ-theatralen Szenarios untersucht dieser Beitrag Interventionsmöglichkeiten in die hegemonialen Strukturen und eurozentrische Kultur- und Wissensproduktion deutscher Stadt- und Staatstheater. Das Theater gilt als emanzipatorische Errungenschaft des Bürgertums im Zuge der Abgrenzung und Auflehnung gegen den Adel im 19. Jahrhundert (Taube 2012: 617). Zahlreiche Stadt- und Staatstheater wurden seitdem mit einer öffentlich-geförderten Infrastruktur und einem klaren politisch-aufklärerischen Bildungsanspruch etabliert (ebd.). Es lässt sich eine historische Kontinuität in der deutschen Landschaft der Stadt- und Staatstheater feststellen,

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die sich auf die Werte der Aufklärung berufen. An die Werte der Aufklärung lehnend konstruiert das Theater ein Selbstbild eines liberalen repräsentativen Theaters, das sich für eine vielfältige Gesellschaft ausspricht. Jedoch sprechen Stadt- und Staatstheater nach wie vor vorrangig das weiße1 Bildungsbürgertum an. Es bleibt trotz seines vermeintlichen Labels als kritischer Ort, eine Institution, die bis heute eurozentrische Wissensproduktion und epistemische Gewalt fortführt und bestehende Differenzlogiken von einem weißen Wir und einem nicht zugehörigen Anderen reproduziert. Theoretische Denkanstöße bezüglich hegemonialer Machtverhältnisse im deutschen Theater bietet das Verständnis von (ästhetischer) Bildung und die Ausführungen zum double bind der postkolonialen Theoretikerin Gayatri Chakravorty Spivak. Die Anerkennung der unauflösbaren ambivalenten Situation (double bind), dass diversifizierende Transformationsprozesse gleichzeitig mit der Machtstabilisierung einhergehen, hilft, um mit den paradoxen Anforderungen umgehen zu lernen. Darin erkennt Spivak großes Potential in der ästhetischen Bildung in Zeiten der Globalisierung (Spivak 2012: 1f.). Zudem wird die Idee der Desintegration wie sie in dem politischen Manifest Desintegriert Euch! von dem Politikwissenschaftler und Lyriker Max Czollek entwickelt wurde, für die Denk- und Suchbewegung herangezogen: Während bei Spivak die Intervention bei dem Bildungsverständnis ansetzt, bildet Czolleks Ausgangspunkt die Kritik des Integrationsparadigmas und die Forderung nach radikaler Diversität (Czollek 2018). Wie können diese Konzepte in ihren unterschiedlichen Zugängen produktiv zusammengedacht werden? Und im Kontext des deutschen Theaters gedacht: Wie kann das Theater zu einem Ort der (Des-)Integration werden, die das Begehren neu arrangiert? Welche Widersprüche werden in dem Prozess der Desintegration und der Neuordnung des Begehrens sichtbar? Aufgebaut ist der Beitrag wie ein Theaterstück in fünf Akten: Im ersten Akt Status Quo werden die derzeitigen Ungleichheitsverhältnisse an deutschen Stadt- und Staatstheatern untersucht, um Interventionsmöglichkeiten in die eurozentrischen Strukturen des Theaters entwickeln zu können. Im zweiten

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weiß als Kategorie wird nicht als biologische Eigenschaft wie Hautfarbe verstanden, sondern als politische und soziale Konstruktion. Im Gegensatz zu »Schwarz« stellt die Kategorie weiß keine emanzipatorische Selbstbezeichnung dar, sondern beschreibt eine dominante oftmals nicht benannte und hinterfragte privilegierte Position innerhalb einer von Rassismus strukturierten Gesellschaft.

Thu Hoài Tran: »Sabotiert das Theater!«

Akt Ziele werden dann hinsichtlich einer diskriminierungssensiblen Reformierung des Theaters Ziele für die Interventionen formuliert. Im dritten Akt Die Affirmative Sabotage wird diese als eine Form der kritischen Intervention in die eurozentrische Wissensproduktion des Theaters vorgestellt und dabei auf konkrete Beispiele der Sabotage an deutschen Stadt- und Staatstheatern eingegangen. Im vierten Akt Transformationsprozess werden Widersprüchlichkeiten, in dem Versuch das Theater zu diversifizieren, sichtbar gemacht. Im letzten Akt wird die Vorstellung einer utopischen Welt erschaffen, in der das Begehren nach sozialer Gerechtigkeit und radikaler Diversität sich entfalten kann – bei gleichzeitiger Anerkennung der Tatsache, dass soziale Gerechtigkeit nie vollkommen zu erreichen ist und mithin im Kommen bleibt. Ganz nach Spivak verfolgt dieser Beitrag das Ziel, mit ästhetischen Denkund Suchbewegungen das Vorstellungsvermögen für eine ethische Intervention zu schulen (Spivak 2012). Darin wird der Versuch unternommen, das Theater mit seinem eigenen Werkzeug, nämlich mit performativ-theatralen Mitteln, affirmativ zu sabotieren. Affirmative Sabotage setzt darauf, dass es doch möglich und notwendig ist, sich Instrumente und Theorien des hegemonialen Diskurses für eine kritische Intervention anzueignen (Dhawan 2014a: 71).

1. Akt: Status Quo BEIDE Liebes Publikum, SCHAUSPIELERIN Wir, die Integrationsverweiger:innen, haben keinen Bock mehr auf Euer Integrationstheater. SCHAUSPIELER Wir haben keinen Bock mehr, für Euch den Migranten, Flüchtling, SCHAUSPIELERIN die Putzfrau, die Sexarbeiterin oder die Kanakin zu spielen. SCHAUSPIELER Wir haben keinen Bock mehr, darüber hinweg zu schauen.

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BEIDE Verehrtes Publikum, SCHAUSPIELERIN in dem Sie ins Theater gehen und schweigend konsumieren, ohne gesellschaftliche Ausschlüsse des Theaters zu reflektieren unterstützen Sie BEIDE Verehrtes Publikum, SCHAUSPIELER ob gewollt oder ungewollt, SCHAUSPIELERIN mit Ihrem teilnahmslosen Absitzen im Theater schreien Ihre Mäuler nach BEIDE »mehr mehr Integrationstheater«. SCHAUSPIELER Damit plädieren Sie aber auch für BEIDE »mehr mehr Gewalt«, SCHAUSPIELERIN eine Gewalt, die marginalisierte Körper zur Zielscheibe hat. Der erste Ausschnitt des Manifests, das die zwei Schauspieler:innen nach ihrer Intervention auf der Bühne verlesen, spiegelt die gegenwärtigen Erfahrungen von Schwarzen Künstler:innen und Künstler:innen of Color an deutschen Stadt- und Staatstheatern wider. Die Kultur- und Theaterwissenschaftlerin Azadeh Sharifi beispielsweise weist auf den institutionellen und strukturellen Rassismus im Theater sowohl auf der inszenatorischen als auch als auf der strukturellen Ebene hin (2016). Institutioneller Rassismus bezeichnet »Diskurse, Politiken und Praktiken von staatlichen und zivilgesellschaftlichen Institutionen, die systematisch Ausgrenzung und Diskriminierung

Thu Hoài Tran: »Sabotiert das Theater!«

produzieren, ohne sich explizit und vorsätzlich rassistischer Begründungsund Deutungsmuster zu bedienen« (Tsianos/Karakayalı 2014: 35). Der Zugang zum Stadttheater als Ort der Kulturellen Bildung bleibt somit oftmals Schwarzen Menschen und Menschen of Color (symbolisch) versperrt. Zudem wird der Zugang zum Theater durch die epistemische Gewalt in der eurozentrischen Kultur- und Wissensproduktion im Stadt- und Staatstheater erschwert. Spivak hebt die Kontinuität kolonialer Strukturen und die epistemische Gewalt in den hegemonialen Wissensproduktionen hervor, die in den gegenwärtigen neokolonialen Machtverhältnissen verstrickt bleibt (Castro Varela/Dhawan 2015: 183). Epistemische Gewalt lässt sich nach Spivak unter anderem als eine »gnadenlose Missachtung und Auslöschung subalternen Wissens« beschreiben (Castro Varela 2015: 18). Im Stadt- und Staatstheater werden koloniale Strukturen beispielsweise durch den unreflektierten Kanon, der sich im eurozentrischen Programm zeigt, sichtbar. Das Personal und das Ensemble sind an den meisten Stadt- und Staatstheater mehrheitlich weiß besetzt. Die Rechtfertigung von vielen Stadt- und Staatstheatern ist oftmals, es bestehe ein Mangel an Schwarzer Künstler:innen und Künstler:innen of Color in Deutschland. Zudem heißt es oft, dass es auch auf deren künstlerische Qualität zurückzuführen sei (Sharifi 2016: 70). Diese Argumentationslinie ist hier in sich bereits rassistisch, weil die Annahme besteht, dass Schwarze Künstler:innen und Künstler:innen of Color per se schlechtere künstlerische Leistungen erbringen. Viele werden daher oftmals lediglich als Gastschauspieler:innen für bestimmte (Neben-)Rollen engagiert und kommen nur dann zum Einsatz, wenn das Theater beispielsweise die migrantische Figur braucht (ebd.: 71). Auf diese Weise unternimmt das hegemoniale Theater den Versuch, ein positives Selbstbild des toleranten und vielfältigen Theaters zu inszenieren. Czollek würde hier von einem Gedächtnis- und Integrationstheater sprechen. In seinem politischen Manifest Desintegriert Euch! (2018) arbeitet Czollek anhand des Ansatzes des Gedächtnistheaters nach dem Soziologen Michal Bodemann heraus, wie die deutsche Dominanzkultur die Figur des »guten Juden« als Statist benutzt, um das deutsche Begehren nach Normalisierung seit der Wiedervereinigung zu füllen (Czollek 2018: 7). Czollek erweitert dieses Modell mit dem Integrationstheater, bei dem jüdische und/oder migrantisierte Subjekte die Nebenfiguren spielen müssen (ebd.: 64). Während das hegemoniale deutsche »Wir« in der Hauptrolle ist, nimmt das komplementäre »Ihr« zwei Nebenrollen an, nämlich zum einen die »guten Jüdinnen:Juden« oder die »gut integrierten Migrant:innen« und

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zum anderen »die schlecht integrierten Migrant:innen«. Ein deutsches Selbstverständnis konstituiert sich nach Czollek vor allem aus der Abgrenzung zu diesem bösen »Ihr«, während das gute »Ihr« die Toleranz und Vielfalt der deutschen Gesellschaft demonstriert (ebd.: 65). Im Theater verkörpern Schwarze Künstler:innen und Künstler:innen of Color oftmals zwei Funktionen: Zum einen die gut integrierten Schauspieler:innen und zum anderen müssen sie oftmals die Rollen der schlecht integrierten Migrant:innen auf der Bühne einnehmen. Die Definitions- und Inszenierungsmacht der Jüdinnen:Juden und Migrant:innen liegt demnach in den Händen der weiß dominierten Stadtund Staatstheatern. Im Programm werden vorrangig klassische Stücke unreflektiert bedient, was u.a. marginalisiertes Wissen ausschließt. Die Konsequenz einer mehrheitlich weißen Gruppe von Theaterschaffenden ist der weiße Blick, der als Ausgangspunkt der künstlerischen Arbeit zu Grunde liegt. Der weiße Blick gründet u.a. auf die westliche Konstruktion des Orients als Abgrenzung zu Europa, die der Literaturwissenschaftler Edward Said in seiner Schrift Orientalism beschreibt (Said 1978). Koloniale Kontinuitäten werden durch die Konstruktion des ›Anderen‹ und die damit einhergehende Repräsentationspolitiken und Instrumentalisierung des vermeintlichen Orients zur kolonialen Herrschaftsstabilisierung fortgeführt. Der weiße Blick ist Bestandteil epistemischer Gewalt und führt dazu, dass in klassischen Inszenierungen rassistische und diskriminierende Stereotypisierungen ungebrochen repräsentiert werden. Praktiken wie die des Blackfacings wurden zwar in den letzten Jahren an den meisten deutschen Theatern problematisiert (Sharifi 2016: 69). Dennoch wird das weiße Begehren nach kolonialrassistischen Bildern des vermeintlich exotistischen ›Fremden‹ immer noch unzureichend machtkritisch reflektiert, denn das würde eine erstgemeinte Auseinandersetzung mit strukturellem und internalisiertem Rassismus von Theaterschaffenden voraussetzen. Die mangelnde Reflexion führt dazu, dass koloniale Kontinuitäten durch die immerwährende Konstruktion des ›Anderen‹ zur Machtstabilisierung fortgeführt werden. Ein mehrheitlich bürgerliches weißes Publikum wird durch diese gewaltvolle Herrschaftspraxis angesprochen. Selbst bei künstlerischen Arbeiten, die sich mit postkolonialen Themen beschäftigen, wird in den meisten Fällen stets ein hegemonial weißes Publikum imaginiert. So wird in vermeintlich machtkritischen Inszenierungen bewusst die ästhetische Entscheidung getroffen, Rassismen und/oder andere diskriminierende Gewaltformen zu repräsentieren, um die ungleichen Machtverhältnisse sichtbar zu machen. Je-

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doch wird hierbei vergessen, dass die Reproduktion von Rassismen Schwarze Zuschauer:innen und Zuschauer:innen of Color verletzen könnte. In den letzten Jahren stehen staatliche Kulturinstitutionen zunehmend unter dem Druck eines Diversifizierungsprozesses (Micossé-Aikins/Sharifi 2017: 13). Seit 2015 ist ein Hype um postkoloniale Themen und kulturelle Bildungsprojekte und Theaterproduktionen mit geflüchteten Menschen zu beobachten (Benbenek et al. 2018: 95). Jedoch fehlt es in den meisten Fällen an einer machtkritischen Reflexion. Dieser Hype scheint eher der Imagepflege zu dienen und ist weniger machthinterfragend als es zunächst scheint (ebd.). Denn das positive Selbstbild des Europäischen Theaters wird durch die temporäre Integration und Involvierung von geflüchteten Menschen letztlich stabilisiert. Der zunehmende Druck, sich dem Diversifizierungsprozess zu stellen, geht mit der Gefahr einer Instrumentalisierung von Diversitätspolitiken einher. Es handelt sicher eher um »kosmetische« und nicht um »strukturellen Lösungsansätze« (Micossé-Aikins/Sharifi 2017: 13).

2. Akt: Ziele SCHAUSPIELERIN Aber wir können Ihr Gewissen beruhigen: Noch ist nichts zu spät. SCHAUSPIELER Noch können Sie auf unserem Zug aufsteigen. SCHAUSPIELERIN Wohin es gehen wird? SCHAUSPIELER In Richtung Desintegration und Dekonstruktion. SCHAUSPIELERIN Im Theater als auch außerhalb. Wenn das Theater nicht mehr als Ort des systematischen Ausschlusses von Angehörigen marginalisierter Gruppen existieren möchte, dann muss das Theater den institutionellen und strukturellen Rassismus sowohl auf der inszenatorischen als auch als auf der strukturellen Ebene anerkennen. Dies geht mit

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der Notwendigkeit einer Umstrukturierung des Theaters hinsichtlich des Personals, Publikums und Programms einher. Vor diesem Hintergrund muss ein epistemischer Wandel durch die kritische Intervention in die eurozentrische Kultur- und Wissensproduktion angestrebt werden. Denn ohne einen epistemischen Wandel wird das imperialistische Begehren nach kolonialrassistischen Bildern weiterhin gefüttert. Darüber hinaus muss das Theater sein liberales Selbstbild und den damit einhergehende aufklärerischen Bildungsanspruch und das Integrationsverständnis problematisieren. Es geht nicht um ein bloßes Inkludieren von bislang Exkludierten bzw. das Inkludieren von exkludierenden Themen am Theater, sondern um eine gesamtheitliche Hinterfragung des Theaters. Epistemische Gewalt beeinflusst, Spivak folgend, die Strukturen des Begehrens und produziert Subjekte, die bspw. kein Interesse an Theater haben. Das oft verwendete Argument des Theaters »Theater ist ja offen für alle, nur haben viele kein Interesse am Theater« kann mit dem Gegenargument entkräftet werden, dass Menschen, die nicht der weißen Dominanzgesellschaft angehören, aufgrund der hegemonialen Strukturen und der epistemischen Gewalt systematisch vom Theater ferngehalten werden. Damit nicht lediglich nur ein überwiegend weiß-bürgerliches Publikum angesprochen wird, muss der weiße und klassengebundene Blick als eine Form der epistemischen Gewalt in den Theaterinszenierungen und in den kulturellen Bildungsprojekten am Theater kritisch reflektiert werden. Czolleks Aufruf Desintegriert Euch! und die Forderung nach radikaler Diversität kann für die strukturellen Veränderungen des Theaters als Ansatz dienen, um das bestehende Begehren nach Normalität des Theaters zu problematisieren. Dies setzt für Czollek eine Gegenwartsbewältigung voraus, die anerkennt, dass sich die historische Vergangenheit bis in die Gegenwart fortwirkt (Czollek 2018: 19). Geschichte und Erinnerungskultur müssen durch die Problematisierung des deutschen Begehrens nach einer Normalisierung, das mit einer Entlastung vom Holocaust und einer Leitkultur einhergeht, aufgearbeitet und dekonstruiert werden (ebd.: 8). Das Begehren nach Normalität liegt im Kontext der deutschen Stadtund Staatstheater in seinem scheinbaren Anspruch der Repräsentation einer vielfältigen Stadtgesellschaft. Demnach muss das Stadt- und Staatstheater sein deutsches Begehren nach Normalität und die Löschung der verwobenen historischen Vermächtnisse von Kolonialismus und Holocaust anerkennen und diese aufarbeiten. Damit das Theater zu einem machtkritischen Ort der kulturellen und ästhetischen Bildung für alle Menschen werden kann, muss Bildung im Sinne

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Spivaks neu gedacht werden. Es muss herausgearbeitet werden, welche Rolle das Theater bei dem Prozess das Begehren möglichst zwangsfrei zu ordnen (uncoercive re-arrangement of desires; Spivak 2004: 526) spielen kann. In einer Rede von 2017 hebt Spivak hervor, dass eine Revolution, die auf einen systemischen Wandel hindeutet, nur von Dauer sein kann, wenn der beständige Versuch darin besteht, ein Begehren nach sozialer Gerechtigkeit zu schaffen (Spivak 2017). Eine diskriminierungskritische Umstrukturierung des Theaters kann nur durch die beständige Bereitschaft, ein Begehren nach sozialer Gerechtigkeit zu schaffen, möglich werden. In Anbetracht der Schaffung eines neuen Begehrens und der radikalen Diversität muss das Theater demnach herausgefordert, dekolonisiert und dekonstruiert werden. Dekonstruieren meint hierbei das Sichtbarmachen der Widersprüche. Mit anderen Worten: Entgegen der Gefahr einer Instrumentalisierung von Diversitätspolitiken muss die unauflösbare Situation, der double bind, von Akteur:innen am Theater dahingehend anerkannt werden, dass der diversifizierende Transformationsprozess mit der Machtstabilisierung einhergeht. Double bind in Spivaks Schriften ist ein Konzept, das sich an die Arbeiten des Anthropologen und Philosophen Gregory Bateson anlehnt. Es deutet auf die Ambivalenz zweier Positionen, die sich gleichzeitig widersprechen und konstituierend bedingen können (Spivak 2012: 4). Das bedeutet eben auch, dass einfache Lösungen nicht zu haben sind. Um mit den paradoxen Anforderungen, dem double bind umgehen zu lernen, sieht Spivak großes Potential in der ästhetischen Bildung. Dafür muss das Ästhetische – ein Erbe der europäischen Aufklärung – jedoch produktiv annulliert (productive undoing) werden (ebd.: 1). Spivak spricht hier von einer affirmativen Sabotage. Wie kann im Theaterkontext die affirmative Sabotage verstanden und produktiv genutzt werden?

3. Akt: Affirmative Sabotage SCHAUSPIELERIN Verehrtes Publikum, vielleicht merken Sie, dass die Grenze zwischen Zuschauer:innen und Schauspieler:innen in diesen Momenten immer mehr verschwimmt. Weil Sie jetzt handeln müssen. SCHAUSPIELER Vielleicht sind Sie ein wenig verunsichert, weil die Grenze zwischen Realität und Fiktion nicht mehr klar zu trennen sind.

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BEIDE Wir können Sie beruhigen: Auch wir sind verunsichert. SCHAUSPIELERIN Steigen Sie mit uns in den Zug Richtung Desintegration und Dekonstruktion ein? BEIDE Sind Sie bereit, mit uns das Theater zu sabotieren? SCHAUSPIELER Wenn ja, dann bleiben Sie sitzen. Wenn nicht, dann gehen Sie. Verlassen Sie das Theater. Ärgern Sie sich nicht, dass der Abend für Sie so kurz ausgeht. Pause. SCHAUSPIELERIN Liebes verbliebenes Publikum, danke für Ihren Mut. Lassen Sie uns fortfahren. Besetzen wir zunächst das Theater. Sie sehen also zwei Schauspieler:innen auf der Bühne, die eine Sabotage auf einen Theaterbetrieb planen. Ob die Intervention und Sabotage Teil einer Inszenierung ist? Das wissen Sie nicht. Wofür würden Sie sich entscheiden? Schließen Sie sich der Sabotage an? Wenn ja, aus welcher Motivation heraus? Ist es die reine Neugier und die Annahme, dass es sich bei dieser Sabotage des Theaters lediglich um ein spektakuläres Theatererlebnis handelt? Oder glauben Sie tatsächlich, dass wenn Sie sich entscheiden, im Theater sitzen zu bleiben, sich in mitten einer realen Sabotage befinden und somit sich auf eine Kompliz:innenschaft und Allianzbildung mit den zwei Schauspieler:innen auf der Bühne einlassen? Liebe Leser:innen, was ist ihr Begehren? Damit die Sabotage gelingt, brauchen die Schauspieler:innen die Unterstützung der Zuschauer:innen – eine Art Allianzbildung. Denn das Schweigen und Konsumieren der Zuschauer:innen stellt eine Kompliz:innenschaft mit der eurozentrisch-hegemonialen Macht dar. Daher müssen auch die Zuschauer:innen ihre Rolle und die damit einhergehenden gesellschaftlichen Positionen im Theater hinterfragen. Denn letztendlich regulieren Zuschauer:innen durch ihre Theaterbesuche das Angebot und die Nachfrage, den Spielplan also. Diese Handlungsmacht darf nicht unterschätzt werden. Theaterbesucher:innen sind ein Teil des Sys-

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tems, die sich dementsprechend ihrer Verantwortung und Einflussmöglichkeiten bewusstwerden müssen. Zuschauer:innen können so letztendlich zu einem epistemischen Wandel aktiv beitragen. Was aber bedeutet eigentlich Sabotage? Der Duden definiert Sabotage als eine »absichtliche [planmäßige] Beeinträchtigung der Leistungsfähigkeit politischer, militärischer oder wirtschaftlicher Einrichtungen durch [passiven] Widerstand, Störung des Arbeitsablaufs oder Beschädigung und Zerstörung von Anlagen, Maschinen o.Ä.«.2 Somit kann die Intervention der beiden Schauspieler:innen und die daran anschließende Besetzung der großen Bühne am Stadttheater als Sabotage verstanden werden, da sie gezielt den Arbeitsablauf stören und unterbrechen. Während die Zerstörung eines Instrumentes die ursprüngliche Idee von Sabotage darstellt, beruht Spivaks Idee von einer affirmativen Sabotage auf der Aneignung der hegemonialen Instrumente als Strategie zur Sabotage (Dhawan 2014a: 71). Spivak zufolge gilt es, deren Gebrauch zu ändern bzw. es zu erweitern (ebd.). Somit stellt die affirmative Sabotage den Versuch einer Re-Formulierung der vielzitierten Aussage »A Master’s Tool will Never Dismantle the Master’s House« von Audre Lorde (1984: 110) dar. Spivak stellt die Überlegung in den Raum, dass es vielleicht doch möglich ist, das Haus des Herren mit seinen eigenen Werkzeugen zu demontieren (Castro Varela/Dhawan 2015: 203). Es geht somit nicht um die Zerstörung dieser hegemonialen Werkzeuge, sondern darum, den subalternen Subjekten den Zugang zu diesen Werkzeugen zu ermöglichen (ebd.). Die postkoloniale Theoretikerin Nikita Dhawan macht in einem Interview deutlich, dass Spivaks Konzept der affirmativen Sabotage keine »standardisierte Widerstandsstrategie« darstellt, sondern stets kontext- und akteur:innenspezifisch und von der Handlungsmacht einzelner Subjekte abhängig sei (Dhawan 2014b). In An Aesthetic Education in the Era of Globalization ruft Spivak auf, Schiller zu sabotieren (Spivak 2012: 2). Der Titel des Sammelbandes verweist auf Friedrich Schillers Briefe Über die ästhetische Erziehung des Menschen von 1794/1795. In diesen Briefen hebt Schiller die Relevanz der ästhetischen Bildung hervor. Denn ohne Sinn für das Schöne sind Revolutionen und die damit verbundene Hoffnung auf die Freiheit für alle Menschen zum Scheitern verurteilt (Schiller 1986). Auch Spivak sieht die Notwendigkeit einer ästhetischen Bildung für alle in Zeiten der Globalisierung (Spivak 2012: 122). Hierbei soll die Vorstellungskraft für ethische Interventionen in die hegemoniale Wissensproduktion und 2

Siehe https://www.duden.de/rechtschreibung/Sabotage (letzter Aufruf 23.01.2023)

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Strukturen trainiert werden (ebd.). Das Theatererlebnis im Kontext der ästhetischen Bildung ermöglicht, »von einer anderen Wirklichkeitsebene aus auf die Wirklichkeit des Alltags zu blicken« (Hentschel 2007: 94). Demnach besteht die Aufgabe darin, das Verständnis von ästhetischer Bildung in ihrem historischen Kontext kritisch zu beleuchten. Essentiell für Schillers Verständnis von ästhetischer Bildung ist der Spieltrieb, denn: »Der Mensch spielt nur, wo er in voller Bedeutung des Worts Mensch ist, und er ist nur da ganz Mensch, wo er spielt.« (Schiller 1986/1794: 63). Nach Schiller führt das Spielen zu der Wertschätzung der wahren Schönheit und der Erfahrung von wahrer Freiheit (ebd.). Für Spivak zeigt der Spieltrieb den Lehrenden und Studierenden, wie sie mit dem double bind umzugehen lernen bzw. zu lernen, mit dem double bind zu spielen (Azzarello 2012: 67). Schiller affirmativ zu sabotieren bedeutet demnach nicht die Auslöschung dieses Konzeptes, sondern eine kritischethische Intervention und die Suche nach dem Nutzbaren (Spivak 2012: 1). Dies setzt unter anderem eine kritische Intervention in die eurozentrischen kanonischen Texte und die damit verbundene Auseinandersetzung mit den Idealen der Aufklärung voraus (ebd.). Mit dem Konzept der affirmativen Sabotage zeigt Spivak auf, dass sowohl mit als auch gegen die Aufklärung gearbeitet werden muss, d.h. mit und gegen Schillers Verständnis von ästhetischer Bildung zu arbeiten. Dies stellt wiederum einen Widerspruch dar bzw. nach Spivak ist es ein double bind, den es gilt, lieben zu lernen (ebd.: 201). Auch im Kontext des Theaters gilt es demnach, mit und gegen die Werte der Aufklärung zu arbeiten. Ein hegemoniales Werkzeug, das zur affirmativen Sabotage im Theater angeeignet werden kann, ist beispielsweise das Inszenieren oder das (Um)Schreiben von eurozentrisch-literarischen Texten, die als Kanon an deutschen Stadt- und Staatstheatern gelten. Der Zugang zu dem Werkzeug des Inszenierens an einem Stadt- und Staatstheater muss für marginalisierte Subjekten geschaffen werden, um in die eurozentrische Kultur- und Wissensproduktion zu intervenieren. Das Stück Die Verlobung in St. Domingo – Ein Widerspruch von Necati Öziri gegen Heinrich von Kleist von dem Dramatiker Necati Öziri kann als Beispiel der affirmativen Sabotage als Strategie zur Intervention in die eurozentrische Kultur- und Wissensproduktion an deutschen Stadt- und Staatstheatern betrachtet werden. Mit der im Jahr 1811 erschienene Novelle Die Verlobung in St. Domingo von Heinrich von Kleist unternimmt Öziri den Versuch, durch eine kritische Intervention Widerspruch gegen Kleists Darstellung der haitianischen Revolution von 1791–1804 einzulegen, die bis heute zum eurozentrischen Kanon gehört (Öziri 2019a). Mit dem Ziel, gegen die kolonialrassistischen Narra-

Thu Hoài Tran: »Sabotiert das Theater!«

tive von Kleist anzuschreiben, sei es nach Öziris Aussagen möglich gewesen, einen performativen Raum für Reibung, Auseinandersetzung und Widerstand zu öffnen (Öziri 2019b). Entgegen der Annahme, dass es sich bei diesem Stück lediglich um eine Überschreibung, Dramatisierung der Novelle oder eine Neuinterpretation für die Gegenwart handelt, hebt Öziri stattdessen seine gezielte Intervention in die Figurendarstellung, in den Plot, in die Sprache hervor (ebd.). Sein Widerspruch liegt nach Öziri in der Aufdeckung von Kleists manipulativer Darstellung. Es geht Öziri darum, die Zentrierung der Gewalt von Schwarzen aufzubrechen, die Kleist in Gegensatz zum bedrohten und idealisierten weißen Helden setzt. Zudem rückt Öziri Revolutionäre in den Vordergrund, die in Kleists Novelle durch die mangelnden Hintergrundgeschichten als naives Abbild der Revolution dargestellt werden. Öziri ist sich darüber bewusst, dass seine kritische Intervention zugleich ein Paradox darstellt: »Und ein Widerspruch bedeutet für mich aber nicht nur, dass ich widerspreche, sondern natürlich auch das Paradoxe dieses ganzen Vorhabens, weil das natürlich auch gleichzeitig eine Hommage an den Text und an diese Figuren ist und ich selbst ganz viel reproduziere und selber manipulativ eingreife, in dem ich versuche es anders zu machen« (Öziri 2019b). Somit arbeitet Öziri nach Spivaks Verständnis der affirmativen Sabotage sowohl mit als auch gegen die eurozentrische Darstellung von Kleist. Mit seinem Versuch einer Re-Lektüre und eines Umschreibens ist es Öziri gelungen, aufzuzeigen, wie Kleists Novelle entlang der Widersprüche gegen sich selbst gelesen werden kann, wohl mit dem Wissen, dass dies bereits ein Widerspruch in sich darstellt. Dies könnte als double bind verstanden werden, den es, Spivak folgend, gilt, lieben zu lernen. In ähnlicher Weise kann Czolleks Selbstermächtigungsstrategie der Umdeutung diskriminierender Diskurse als eine Form der affirmativen Sabotage verstanden werden. Er unternimmt den Versuch, durch die Aneignung von dem antisemitischen Stück »Der Kaufmann von Venedig« von dem Dramatiker William Shakespeare sich selbst zu ermächtigen. Dabei werden bislang gängige Interpretationen und Narrativen aus jüdischer Perspektive umgedeutet (Czollek 2018: 155), um das Bild der vermeintlich jüdischen Machtlosigkeit zu brechen (ebd.: 170). Aus der Figur des rachsüchtigen und gierigen Juden kann das Motiv der Rache als Selbstermächtigung dienen. Denn nach Czollek steht Rachekunst »in subversiver Spannung zum Gedächtnistheater, weil sie eine Gegenfigur zum friedlichen und wehrlosen jüdischen Opfer erzeug[t]« (ebd.: 157). Darüber hinaus kuratierte Czollek im Herbst 2016 zusammen mit

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dem:r Dramatiker:in Sasha Marianna Salzmann den Kongress Desintegration. Kongress zeitgenössischer jüdischer Positionen am Maxim Gorki Theater in Berlin. Ähnlich wie Spivaks Verständnis, dass die Anderen lernen, nicht integriert werden zu wollen, verfolgt der Desintegrationskongress das Ziel, sich des deutschen Begehrens nach Integration der Anderen zu widersetzen. Der Kongress bot einen Raum mit unterschiedlichen ästhetischen Formaten, in denen sich jüdische Künstler:innen dem Gedächtnistheater widersetzt haben. Somit greift die Forderung nach einer affirmativen Sabotage im Kontext des Theaters als Widerstandsstrategie die eurozentrische Wissensproduktion an. Die Aneignung hegemonialer Denkwerkzeuge kann zur kritischen Analyse kanonisierter Wissensbestände dienen, um in diesen Widersprüchlichkeiten aufzudecken. Im Sinne Spivaks gilt es, das Verständnis der ästhetischen Bildung zu sabotieren, d.h. mit Schiller und gegen Schiller‹ zu arbeiten.

4. Akt: Der Transformationsprozess SCHAUSPIELERIN Zehn Tage sind nun vergangen. SCHAUSPIELER Zehn Tage ist das Stadttheater besetzt worden. BEIDE Zehn Tage lang, SCHAUSPIELERIN in denen diskutiert, ausgehandelt, gestritten, geweint und gefeiert wurde. SCHAUSPIELER Zehn Tage lang, SCHAUSPIELERIN in denen wir die eurozentrisch-besetzten Stücke wie Faust, Othello oder Das Herz der Finsternis aus der aktuellen Spielzeit auseinandergenommen und umgeschrieben haben. BEIDE Zehn Tage lang,

Thu Hoài Tran: »Sabotiert das Theater!«

SCHAUSPIELER in denen wir Forderungen an die Leitung des Theaters formuliert haben. SCHAUSPIELERIN Forderungen, die Aufgaben beinhalten, die das Theater im Sinne von Bildung erfüllen sollte und welche Rolle die Exkludierten hier spielen. SCHAUSPIELER Die gebliebenen Zuschauer:innen am Tag der ersten Intervention, weitere Künstler:innen und Mitarbeiter:innen am Haus und viele Menschen der Stadt, alle unterschiedlichster Positionierungen, haben sich uns im Laufe der letzten Tage angeschlossen. SCHAUSPIELERIN Wir alle haben uns auf die (affirmative) Sabotage eingelassen. SCHAUSPIELER Die Forderungen hat die Leitung des Theaters inzwischen erhalten. SCHAUSPIELERIN Ob die Leitung eingewilligt hat? SCHAUSPIELER Ja hat sie. SCHAUSPIELERIN Ob und wie sie die Forderungen umsetzen werden – SCHAUSPIELER wer weiß das schon. SCHAUSPIELERIN Ob wir dies als Erfolg werten? SCHAUSPIELER Was denken Sie? […] Die aufgezeigten Beispiele der (affirmativen) Sabotage an Stadt- und Staatstheatern haben durch ihre Interventionen die eurozentrische Kultur- und Wis-

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sensproduktion sichtbar gemacht, kurzzeitige Brüche und Irritation sowohl innerhalb der Theaterhäuser als auch außerhalb verursacht. Aber die Strukturen des Theaters haben sich dennoch nicht verändert – im Gegenteil – sie wurden wieder stabilisiert. In Desintegriert Euch! macht Czollek deutlich, dass das Gedächtnis- und Integrationstheater nicht vollständig zu überwinden ist. Das Paradoxe dabei ist, dass eine kritische Intervention in das Gedächtnistheater selbst wieder ein Teil des Gedächtnistheaters werden kann (Czollek 2018: 123). Dieser Widerspruch entspricht dem double bind. Denn einerseits stellt das Widersetzen des Gedächtnis- und Integrationstheaters eine transformierende Kraft dar. Andererseits kann dieser Widerstand wieder die hegemonialen Strukturen stabilisieren. Am Ende des Tages bestimmt die Dominanzkultur doch über die Agenda. Marginalisierte Subjekte dienen wieder als Nebenrollen. Daher sieht Czollek die Notwendigkeit, die eigene (jüdische) Kompliz:innenschaft mit der deutschen Dominanzkultur anzuerkennen (ebd.: 151). Hier lassen sich ebenfalls klare Parallelen zu Spivaks Verständnis von Dekonstruktion ziehen. Denn nach Spivak besteht in der Dekonstruktion der Widerspruch, dass Opposition und Widerstand stets in einer Beziehung mit der hegemonialen Macht stehen (Castro Varela/Dhawan 2015: 179). Daher muss Kritik im Sinne Spivaks immanent sein, d.h. die Kritik muss immer als Teil dessen gesehen werden, was sie selbst kritisiert (Spivak 1990: 74). Die Denkfigur double bind hilft uns, die eigene Verstrickung in Macht- und Herrschaftsverhältnisse anzuerkennen und die Kompliz:innenschaft nicht als Unmöglichkeit, sondern als Möglichkeit zur Kritik zu verstehen. Spivak und Czollek stimmen in ihrem Verständnis überein, dass es so etwas wie eine Widerspruchsfreiheit nicht gibt. Ganz nach Spivaks Verständnis von ästhetischer Bildung sieht Czollek in der Kunst – im Theater oder in der Literatur – großes Potential für Selbstermächtigung und für Kritik am Gedächtnis- und Integrationstheater an (ebd.). Es stellt sich nun die Frage, welche Hoffnungen im Kampf gegen ungleiche Machtstrukturen bestehen können. Denn wenn wir von der Unüberwindbarkeit des Unauflösbaren, dem double bind, ausgehen und diese als Ausgangslage für eine Utopie setzen, wie kann diese aussehen? Ist der Versuch, das Theater produktiv zu sabotieren nicht stets zum Scheitern verurteilt? Warum sollten wir dann noch dranbleiben, den Felsbrocken auf ewig einen Berg hoch zu tragen, der kurz vor dem Gipfel immer wieder herunterfällt? Warum die Sisyphusarbeit leisten, wenn am Ende ungleiche Machtstrukturen sich wieder etablieren?

Thu Hoài Tran: »Sabotiert das Theater!«

5. Akt: Utopia CHOR Wir intervenieren. Wir intervenieren in die hegemonialen Strukturen des Theaters. Wir intervenieren in die eurozentrische Kultur- und Wissensproduktion. Wir wollen das Theater als ein Ort der unvollkommenen Utopie schaffen. Ein Ort der unvollkommenen Utopie, der Räume zur Entwicklung von Utopien schafft. Ein Ort der machtkritischen gesellschaftlichen Aushandlungen. Ein Ort des Begehrens nach sozialer Gerechtigkeit. Ein Ort der kulturellen Partizipation. Ein Ort der Selbstermächtigung. Ein Ort der radikalen Vielfalt. Ein Ort der Solidarität und Allianzbildungen. Ein Ort des Widerstands. Ein Ort der Störung, der Reibungen und Spannungen. Ein Ort der Widersprüche, der mit diesen lernt umzugehen. Ein Ort der Utopie mit Brüchigkeiten. Mit dem 5. Akt tauchen Sie nun in einer Welt der Utopia ein, ein Ort des Nirgendswo, ein Ort ohne Zentrum, in dem nicht Laternen die Welt beleuchten, sondern Diskokugeln. Treffend wie der künstlerische Leiter des Studio Я Tobias Herzberg schreibt, sei die Desintegration wie eine Diskokugel, »die vermeintlich festgelegte Identitäten in tausend Lichtstrahlen zersprengt. […] Sie blenden, macht sichtbar, ziehen weiter. Eine 360-Grad-Projektion als Veräußerung des zuvor Zusammengedachten. Eine Absage an das Drinnen oder Draußen. Eine Feier. Eine Disko« (Herzberg 2017: 48). Nun stellen Sie sich die Welt der Utopia als eine Disko vor, in der stets Musik läuft und das Begehren nach sozialer Gerechtigkeit in Ihnen und in jedem anderen Subjekt steckt. Dieses Begehren führt zu einer Formierung eines Sprechchors. Auch Sie sind ein Teil der Stimme(n) des kollektiven Widerstands gegen die hegemoniale Macht. Dieser Sprechchor als Sinnbild einer Bewegung steht aufgrund der Differenzordnungen stets im Spannungsverhältnis zwischen dem Individuellen und dem Kollektiven. Dieses Spannungsverhältnis ermöglicht Momente der Auflehnung und Selbstermächtigung, aber auch Momente der Widersprüche und Brüchigkeiten. Dieser Sprechchor hat den Versuch unternommen affirmativ sabotierend in die hegemonialen Strukturen

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einer eurozentrischen Kultur- und Wissensproduktion des Theaters zu intervenieren. Damit das Theater zu einem Ort der Desintegration werden kann, hat der Sprechchor das (Un-)Mögliche gefordert: Nämlich die Schaffung hegemonial-kritischer (Bildungs-)Räume, die das Begehren möglichst zwangsfrei neu arrangiert. Hierfür hat der Chor Forderungen an die deutschen Stadt- und Staatstheater artikuliert: 1. Anerkennung und Benennung des bestehenden institutionellen Rassismus 2. Notwendigkeit eines epistemischen Wandels 3. Bereitschaft des Theaters zur Selbstkritik 4. Wandel des vorherrschenden Begehrens nach Normalität zu einem Begehren nach sozialer Gerechtigkeit 5. Anerkennung einer radikalen Diversität am Theater durch das Herausfordern, Desintegrieren und das Dekonstruieren.

Erst in der Anerkennung der Unumgänglichkeit eigener Kompliz:innenschaften mit der hegemonialen Macht, die Spivak und Czollek immer wieder betonen, ist (Selbst-)Kritik möglich. Die paradoxe Handlungsforderung mit und gegen die Aufklärung, mit und gegen die hegemoniale Wissensproduktion zu arbeiten kann dennoch dazu führen, dass kleine Risse beginnen das System zu durchziehen. Ästhetische Bildung im Sinne Spivaks kann dabei helfen, fiktionale Räume zu entwerfen, die in Zeiten der Globalisierung eine Quelle der Hoffnung darstellen. Vielleicht soll die Figur Sisyphos und die (Un-)Überwindbarkeit von double bind uns an Folgendes erinnern: No one is free until we are all free. Um im Kontext des Theaters zu denken: Solange ungleiche Machtverhältnisse an deutschen Stadt- und Staatstheatern bestehen, ist die mühsame Arbeit unerlässlich, den Felsbrocken immer wieder auf den Gipfel hinauf zu wälzen, in dem Wissen, dass der Felsbrocken wieder hinunterrollen wird. Somit bleibt mit dem Ende des 5. Aktes weiterhin nicht anderes zu sagen als »Sabotiert das Theater!«. Play and Repeat. Ende.

Thu Hoài Tran: »Sabotiert das Theater!«

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Das Theater verlassen auf der Suche nach dem Theater1 Sruti Bala

Tableau In seinem Essay ›Was ist episches Theater?‹ argumentiert Walter Benjamin, dass es in Bertolt Brechts epischem Theater nicht so sehr darum gehe, Situationen mimetisch darzustellen oder zu reproduzieren, sondern vielmehr um die einer Situation zugrunde liegenden Bedingungen mit verschiedenen Mitteln der Unterbrechung zu enthüllen: vom Bühnenbild, zur Musik, zur erhöhten Interpunktion, zum Gestus der Schauspielenden (Benjamin 1966/1931: 7ff.). Benjamin weist darauf hin, dass die Unterbrechung einer Szene keineswegs ihren Genuss ruiniert, sondern auf kontraintuitive Weise bei den Zuschauer:innen ein geschärftes Bewusstsein für eine bestimmte Situation, ein Staunen und eine Entrückung hervorruft. So wie eine sportbegeisterte Person in ein Spiel vertieft bleiben kann und gleichzeitig die Bewegungen der Spieler:innen ausbuhen, anfeuern und kommentieren kann, oder Radiohörer:innen die Radiosendung mühelos ein- und ausschalten können, ihr zuhören können oder nicht, genauso stellte sich Benjamin die Zuschauer:innen von Brechts epischem Theater vor: als Teilnehmer:innen, die in die Szene versunken sind und gleichzeitig die Umstände dieser Szene geschärft wahrnehmen. Sie kommen zu einer »lustvollen Erkenntnis« einer Situation, nicht trotz, sondern genau in dem Augenblick, da die Handlung im Vordergrunde unterbrochen und die Umrahmung akzentuiert wird (ebd.: 10). 1

Der Text wurde aus dem Englischen übersetzt durch Heidi Dorudi ([email protected]). Die englischsprachige Version ist 2021 erschienen unter: "Interruption and Interpellation: Leaving the Theater in Search of the Theater", in: Shirin Rai u.a. (Hg.): Oxford Handbook of Politics and Performance. Oxford: Oxford University Press, S. 455–470.

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Um zu illustrieren, wie eine solche Unterbrechung eine laufende Szene zum Stillstand bringen und gleichzeitig dynamisieren könne, führt Benjamin ein merkwürdiges Beispiel an: Diese Entdeckung der Zustände vollzieht sich mittels der Unterbrechung von Abläufen. Das primitivste Beispiel: eine Familienszene. Plötzlich tritt da ein Fremder ein. Die Frau war gerade im Begriff, ein Kopfkissen zu ballen, um es nach der Tochter zu schleudern; der Vater im Begriff, das Fenster zu öffnen, um einen Schupo zu holen. In diesem Augenblick erscheint in der Tür der Fremde. ›Tableau‹ – wie man um 1900 zu sagen pflegte. Das heißt: der Fremde stößt jetzt auf den Zustand: zerknülltes Bettzeug, offenes Fenster, verwüstetes Mobiliar. Es gibt aber einen Blick, vor dem auch die gewohnteren Szenen des bürgerlichen Lebens sich nicht viel anders ausnehmen. (Ebd.: 11) Das unangekündigte Erscheinen des Fremden unterbricht eine Aufeinanderfolge von Handlungen, die in seiner Abwesenheit vermutlich fortgesetzt worden wären. Für Benjamin ist die Unterbrechung von besonderer Bedeutung, da nicht nur der Fremde, sondern alle Figuren in der Szene sich fragen, was als Nächstes passieren könnte, was zuvor geschehen war, was zu diesem Moment geführt hat. Benjamins Fremder ist erstaunt und weiß nicht, wie er das Geschehen interpretieren und darauf reagieren soll. Hiermit bleibt er nicht allein, da auch alle anderen in der Szene, einschließlich uns selbst als Leser:innen und implizite Zuschauer:innen, verwundert sind. Dieser Zustand des Staunens oder der Entrückung ermöglicht eine Erkenntnis der Historizität und der ganzen Tragweite einer Situation (Butler 2015: 23ff.). Benjamins Szene verwickelt uns als Theaterpublikum in dem Maße, dass auch wir den Platz all jener Fremden einnehmen könnten, die als Unterbrechungen in der Tür erscheinen und zu ergründen suchen, was sich da vor unseren Augen abspielt. In Benjamins Interpretation einer solchen Beteiligung liegt jedoch, zumindest dem Anschein nach, ein Paradox: Es geht um eine Beteiligung, die nicht durch Anteilnahme, sondern durch markierte Distanz möglich ist. Die Distanz des Fremden in der Szene ist nicht nur physisch, sondern auch durch Verwandtschaftslinien markiert: Sie oder er ist weder Verwandte:r noch Freund:in, sondern eine unbekannte Person; vielleicht eine Nachbarin, die man nicht wirklich kennt. Diese Sachlage erzeugt eine Unterbrechung und gleichzeitig die Möglichkeit, Zeuge zu sein. Der Augenblick der Unterbrechung gewährt Einblicke in das Ereignis und dessen ganzer Tragweite. Die Szene wird für uns nur dann als ein Schauplatz der Verwüstung wahrnehm-

Sruti Bala: Das Theater verlassen auf der Suche nach dem Theater

bar, wenn wir Außenstehende bleiben können, was natürlich nicht bedeutet, dass wir uns völlig von ihr abwenden. In der Art, wie Benjamin sie beschreibt, spielt sich diese Szene nicht unbedingt auf einer Theaterbühne ab. Sie ist eher eine imaginierte häusliche Szenerie, die in Benjamins Lesart von Brecht eine Metonymie ist für die bürgerliche Gesellschaft insgesamt, eine Lebensart, in der familiäre Beziehungen untrennbar verbunden sind mit Status, Wohlstand und Eigentum. Das Geschehen wird deshalb theatralisch, weil ein Fremder auftaucht, der, kraft seiner Position des Zuschauers, aus ihm eine Szene macht, wodurch es aus der alltäglichen Sphäre ins Register des Theatralen verlagert wird. Gleichermaßen ist es jedoch auch die Beschaffenheit des Familienstreits, die eine Untersuchung, eine Entlarvung der bürgerlichen Familie als eine Institution und mithin die Verlagerung aus dem Imaginären ins Register des Politischen ermöglicht. Benjamins merkwürdiger Fall des Familienstreits war als eine Szene gedacht, die die Prinzipien des brechtschen epischen Theaters konkretisiert. In der Literatur wird oft auf sie hingewiesen, wenn es darum geht, das Potenzial des Theaters darzustellen, eine kunstvolle Unterbrechung der gewöhnlichen Zeit zu ermöglichen (Kear 2004: 99ff.). Im vorliegenden Beitrag verwende ich sie jedoch als Ausgangspunkt, um in einem allgemeineren Sinn der Bedeutung von Momenten der Unterbrechung in den Bereichen des Theaters und der Performance nachzugehen. Unter welchen Bedingungen könnten sie als politisch betrachtet werden? Und was genau verleiht solchen unterbrechenden Gesten eine theatrale Eigenschaft, wenn sie sich in der politischen Sphäre, also außerhalb des Theaters, ereignen? Ich wende mich der Lecture-Performance Der Staat des Theaters des belgischen Kunstforschers und Theatermachers Chokri Ben Chikha aus dem Jahre 2018 zu. Darin wirft die Geste der Unterbrechung Fragen über die Grenzziehung zwischen dem Theatralen und dem Politischen auf. Was benötigt das Theater um politisch zu agieren in einer Welt, in der die Politik selbst zunehmend theatrale Mittel einsetzt? Ausgehend von dieser Frage skizziert Ben Chikha ein faszinierendes Dilemma aller Kunstschaffenden, um die künstlerische und kulturelle Praxis einerseits als frei von jeglichem Nutzwert und vorgegebener Zweckgebundenheit und andererseits nicht als unverbindliche Praxis zu entfalten. Das Phänomen der Unterbrechung lässt sich auf eine spannende Art und Weise auslegen mit Louis Althussers Konzept der ideologischen Interpellation. Die Interpellation verbindet den diskursiven und materiellen Akt der Unterbrechung mit Prozessen der Subjektbildung. Aufgrund Althussers Szene der Interpellation, in der die Unterbrechung einer alltäglichen Situation durch ei-

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nen Akt der Anrufung die Bildung des Subjekts einleitet, argumentiere ich, dass das Politische nicht in der Definition von Politik zu finden ist, sondern in ihrer Inszenierung – in der Art und Weise, wie eine Unterbrechung stattfindet und was sich daraus ergibt. Im vorliegenden Beitrag geht es um Unterbrechung als Indiz der Schnittstelle zwischen Kunst und Politik. Ich hüte mich davor, jedes Theoretisieren der Unterbrechung zu romantisieren, und hoffe anschaulich machen zu können, dass die Unterbrechung weder an sich harmlos noch an sich emanzipatorisch ist. Sie zu analysieren, und zwar in Bezug auf ihre Gesten und Kontexte, kann ein sinnvoller Weg sein, um das Konzept des double binds in der Kunst und in der kulturellen Bildung weiter zu denken.

Szenen der Unterbrechung im Theater Dass Theaterbühnen regelmäßig von einem unzufriedenen Publikum materielle und verbale Zeichen der Missbilligung entgegennehmen müssen, ist nichts Ungewöhnliches. In manchen Kulturen sind solche Interventionen jedoch keineswegs Grund zur Sorge, da sie Teil der gesellschaftlichen Konvention sind und als Barometer für Publikumsreaktionen dienen. Von den Darsteller:innen wird erwartet, dass sie darauf vorbereitet sind, elegant zu reagieren und zu versuchen als Künstler:innen eine noch bessere Arbeit zu leisten. Ist eine Unterbrechung jedoch unerwartet und keine anerkannte Konvention, dann ist die Situation weitaus komplizierter. Die unmittelbare Reaktion auf das Bewerfen der Bühne mit Gegenständen oder andere unaufgeforderte Interventionen im Proszenium einer Bühnenperformance wird in der Regel mit Sicherheitsargumenten gerechtfertigt: Unruhige Zuschauer:innen werden hinauskomplimentiert, gerügt oder für die Störung der Show mit einer Geldstrafe belegt. Jenen, die sich weigern, die heiligen Konventionen des Kunstraums zu pflegen, begegnen Rezensent:innen mit Zungenschnalzen. Sobald jedoch die breiteren Debatten eingeleitet sind, sobald Menschen sich fragen, welchen Zweck die Unterbrechung erfüllen sollte, und ob die Forderungen der Protestierenden wirklich ernst zu nehmen sind oder eher eine Bedrohung der künstlerischen Freiheit darstellen, dann können solche unterbrechende Gesten kennzeichnende Momente der Theatergeschichte werden. Das Phänomen der Unterbrechung einer Bühnenperformance kann durch ein breites Spektrum politischer oder ideologischer Positionen angeregt sein. Der Akt, Gegenstände auf die Bühne zu schleudern, als ein Zeichen der Miss-

Sruti Bala: Das Theater verlassen auf der Suche nach dem Theater

billigung, scheint die traditionellen politischen Differenzen zu überbrücken. Er ist gleichsam auf der linken wie auf der rechten Seite des Spektrums zu finden und dient sowohl den politisch sogenannten progressiven als auch konservativen Theaterformen. Es gibt zahlreiche Beispiele von Aufführungen renommierter Theatermacher:innen, die den Angriffen von Gruppen ausgesetzt sind, die aus politischen, religiösen oder ideologischen Gründen Einwände gegen die Botschaft, den Inhalt oder die dramaturgischen Entscheidungen erheben. Auch gibt es ebenso viele Fälle aktivistischer Attacken, die sich auf das Theater richten als eine Form institutioneller Kritik und kreativer, taktischer Unterbrechung oder um die öffentliche Aufmerksamkeit auf eine bestimmte Sache zu lenken. Allenfalls ist es nicht sehr sinnvoll, diese unterschiedlich motivierten Unterbrechungen von Aufführungen ausschließlich nach ihren politischen oder ideologischen Perspektiven zu beurteilen. Hiermit wird jedoch nicht behauptet, dass die Differenzierungen keine Rolle spielen, im Gegenteil. Ganz offensichtlich ist es entscheidend, ob eine Unterbrechung eine Form der Parrhesia (Foucault 2010/1984) ist, ob vor den Mächtigen die Wahrheit ausgesprochen wird oder nicht, ob nach oben statt nach unten geschlagen wird. Aber ganz abgesehen von der Frage, wer aus welchem Grund beleidigt oder unterbrochen wird, und ob wir dies für gerechtfertigt halten oder nicht, muss die Frage gestellt werden, was solche Szenen der Unterbrechung über die poröse und sich gegenseitig bestimmende (ko-konstitutive) Grenzziehung zwischen Kunst und Politik möglicherweise enthüllen.

»Hat jemand ein Feuerzeug?« Am Ende seiner in 2018 gehaltenen Lecture-Performance Der Staat des Theaters, eine Veranstaltung, die traditionell das jährliche niederländische Theaterfestival (Nederlands Theaterfestival) eröffnet, kündigte der Theatermacher und -wissenschaftler Chokri Ben Chikha vor einem vollen Saal des majestätischen Stadttheaters von Amsterdam an, dass er sich in Brand setzen würde. Ben Chikha ist freier Theatermacher und Dozent in Antwerpen in Belgien, und Mitgründer der Theatergesellschaften Union Suspecte und Action Zoo Humain. Mit seinem Vortrag fordert er Theatermacher:innen dringlich auf, nicht mehr aus der Sicherheit der Blase der Theaterindustrie heraus über Weltprobleme lediglich nachzudenken und sie zu kommentieren, sondern tatsächlich in die Welt einzugreifen. Der Titel ›de Staat van het Theater‹ spielt mit der Doppelbedeutung des niederländischen Wortes ›Staat‹, was sowohl ›der Status‹ als

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auch ›der Staat‹ bedeutet. Als er gegen Ende seines Vortrags ankündigte, dass er sich, als einen ersten möglichen Schritt in diese radikale Richtung, opfern würde, war das Rumoren im Publikum spürbar. Darauf hob er einen Kanister auf, den er zu Beginn des Vortrags ostentativ neben das Rednerpult gestellt hatte, trat in den Vordergrund der Bühne und begoss sich mit dem Inhalt des Kanisters. In den Sekunden während sich dies alles vor einem zunehmend beunruhigten Publikum abspielte, erhob sich ein Zuschauer, der übrigens selbst eine prominente Theaterpersönlichkeit war. Er schrie: »Stopp!«, marschierte dann auf das Podium und rief aus: »Das ist wirklich nicht witzig, selbst nicht als Scherz!« Danach bat er Ben Chikha, seine Schulter leicht berührend, die Bühne zu verlassen, was Letzterer bereits tat. Bei seinem Abgang waren Ben Chikhas letzten Worte: »Hat jemand ein Feuerzeug?« Seine Lecture-Performance, die Intervention des Zuschauers aus dem Publikum und all jenes, das sich danach abspielte, waren in den darauffolgenden Wochen Gegenstand vieler Diskussionen in den niederländischen und flämischen Theaterkreisen. War es wirklich Benzin, womit er sich übergossen hatte? Ein Online-Kommentator bemerkte, so empört gewesen zu sein, dass er, wenn es tatsächlich Benzin gewesen wäre, ein Polizeiverfahren gegen Ben Chikha wegen Anstiftung zu Gewalt und Störung des öffentlichen Friedens eingereicht hätte. Daraufhin antwortete ein anderer, selbst wenn es nur Wasser gewesen wäre, es gleichwohl ein billiger Scherz bliebe, und er es verdiene, dafür gerügt zu werden, dass er falschen Alarm schlug und das Publikum beleidigte. Wieso sollte man mit den Emotionen des Publikums spielen, so die Argumentation, nur um einen geschmacklosen Punkt über die fehlende politische Wirkung des Theaters zu machen, eine Klage, die so alt ist wie die Theatergeschichte selbst? Das Theater dürfe nicht zu einem Ort politischer Stunts reduziert werden. Für die einen war die Unterbrechung einer Lecture-Performance durch eine inszenierte oder reale Gefahr der Selbstverbrennung eine leichtfertige Taktik. Für die anderen, mich selbst inbegriffen, war es eine Geste der zielgerichteten Unterbrechung, eine Anwendung ›taktischer Frivolität‹, um uns anzuregen, bezüglich der politischen Potenziale der Kunst sowohl umsichtig als hoffnungsvoll zu sein. Es war nicht schwer, die zahlreichen theatralen Kennzeichen als Teil von Ben Chikhas Lecture-Performance zu erkennen. Die ganze Zeit über saß eine Freiwillige in den Kulissen mit einem Feuerlöscher in greifbarer Nähe; eine szenografische Beschwörung der unmittelbar bevorstehenden Möglichkeit eines Brandes, aber auch eine Instanz der öffentlichen Ordnung, die dazu befugt ist, die Aufführung jederzeit zu unterbrechen, sollte die öffentliche Gesund-

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heit und Sicherheit gefährdet werden. Jeder hätte sich fragen können, warum sie denn für alle so deutlich sichtbar positioniert war, wenn es doch lediglich darum ginge, die Einhaltung der Brand- und Sicherheitsvorschrift einzuhalten. Bevor Ben Chikha den Kanister ergriff und über sich ergoss, zog er kurioserweise seine weißen Designerschuhe aus, so als ob zumindest dieses kostbare und heiß begehrte Konsumgut von dem Opfer verschont bleiben sollte. Was den Kanister angeht, so stach dieser schrill gelbe Plastikgegenstand vom Augenblick seines Betretens der Bühne als ein merkwürdiges Accessoire heraus, das für eine so prestigeträchtige und formelle Veranstaltung, wie dem jährlichen Vortrag »der Staat des Theaters« völlig unpassend war. Noch offensichtlicher inszeniert war seine Schlussbemerkung, in der er das Publikum um ein Feuerzeug bat, wodurch er ironischerweise anderen die Last für das Verursachen eines Brandes auferlegte, und so aus seiner eigenen Drohung die Verantwortung eines anderen machte. Zweifellos war dies der Auslöser für den Zuschauer, der nun seinerseits den Vortrag unterbrach, um einen Akt der Selbstverbrennung zu verhindern. Letzten Endes hatte Ben Chikha sich tatsächlich nicht mit Benzin, sondern mit Wasser durchnässt, ohne dabei seine Schuhe zu bespritzen. Obwohl es jedoch genügend Anzeichen gab, um erkennen zu können, dass dies nur eine Performance war, hatte der Sprechakt seiner Verkündung sich selbst anzuzünden, nebst allen weiteren Handlungen – egal wie symbolisch und selbstreferenziell auch immer –, eine performative Kraft, die das Publikum ratlos zurückließ. Es war kein Zufall, dass er die Bühne verließ, ohne für die übliche Runde Applaus zurückzukehren, was ein weiterer Verstoß gegen Theaterkonventionen ist und somit die klare Rahmung der Situation als einer Performance in einem konventionellen Theaterraum zusätzlich verstörte. Mein eigenes Verdutztsein wuchs mit dem, was unmittelbar nach dem Ende der LecturePerformance geschah. Der Moderator des Abends betrat die Bühne und kündigte den nächsten Programmpunkt an, und zwar die Bekanntgabe eines von einer Bank gesponserten Theaterpreises. So als ob gerade gar nichts geschehen wäre, als ob es sich um ein bloßes Umschalten des Fernsehsenders handele, als ob die radikale Forderung, die Ben Chikhas Lecture-Performance zugrunde lag, eine nur geringfügige Unterbrechung der Festivalkonventionen wäre, an denen entschlossen festgehalten werden sollte, sodass es eine ungestörte festliche Eröffnung bleiben könne. Sobald der Moderator jedoch das bestürzte Ächzen des Publikums hörte, änderte er seine Meinung und lud die Zuschauer:innen ein, sich ein paar Minuten Zeit zu gönnen, um ihre Reaktionen auf das gerade Geschehene miteinander austauschen zu können. In der Zwischen-

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zeit wischten Bühnenarbeiter:innen die Bühne als Vorbereitung für die nächste Aufführung des Abends trocken. Danach verlief der Abend wie geplant: Die Auszeichnungen wurden bekannt gegeben und das Festival wurde für eröffnet erklärt. Die Absurdität der ganzen Situation hätte sich nicht leidvoller bemerkbar machen können. Ben Chikhas eindringliche Bitte an die Theaterwelt »aus ihrem Käfig herauszutreten« wurde durch die Wächter:innen der Theaterwelt ignoriert. Sie beeilten sich, sicherzustellen, dass der Käfig des Theaterbetriebs tatsächlich noch intakt ist, ohne irgendwelchen kosmetischen Beschädigungen aufzuweisen. Trotz seiner leidenschaftlichen Kritik an der Abgestumpftheit der Kunstwelt, war das, was im Anschluss seiner Lecture-Performance folgte, ein Beweis für gerade die Politik des business as usual, die er zum Vorwurf machte.

Das Theater verlassen auf der Suche nach dem Theater Das Bild des Theaters als Käfig war keine flüchtige Metapher in Ben Chikhas Lecture-Performance. Es war ein sich wiederholendes Thema der gesamten Vortragsveranstaltung, die ein großes Themenspektrum aufgriff, vom Phänomen »Fake News« und »faktenfreier Politik« über den »Arabischen Frühling« bis hin zur »Geschichte der Menschenausstellung in Europa« – eine Problematik mit der er sich auch schon in der Vergangenheit, im Rahmen seiner Doktorarbeit, befasste und die er künstlerisch weiterentwickelte in den Produktionen seines Theaterensembles Action Zoo Humain (Ben Chikha 2013). Der Käfig ist eine besondere Art von Bühne. Ein Ort von Zurschaustellung und Kontrolle, mit einer eigenen Biopolitik der Spektakularisierung von Differenz. Das Phänomen des menschlichen Zoos war eine perverse, wenngleich kommerziell erfolgreiche Strategie, wobei der Käfig als Mittel eingesetzt wurde, um unsichtbare Linien zwischen dem Normalen und dem Abnormalen zu ziehen. Diese Praxis resultierte in ein dauerhaftes rassistisches Regime von Stratifizierung und Differenzierung von Menschen. Eine Strategie, die sich auch in der heutigen Welt in anderen Formen finden lässt. Eine Welt, in der ganze Populationen in materielle oder metaphorische Käfige eingeschlossen sind und zu Objekten des Spektakels abgewertet und entmenschlicht werden. »Die Welt hat das Theater stillschweigend verschlungen und tischt es uns jetzt jeden Tag aufs Neue als menschlichen Zoo auf« (Ben Chikha 2018: 4). Der Vortrag erweiterte das Verständnis für den sog. Zooismus, das aus dem 19. Jahrhundert stammendem Phänomen menschlicher Exponate, auf Bei-

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spiele aus der heutigen Welt: von der Politik der Abschiebung und Festnahme zum militärisch-industriellen Gefängniskomplex, über die Besetzung Palästinas bis hin zum Rassismus in Belgien, und den wachsenden Verbriefungs- und Überwachungstechnologien. Diese und andere Beispiele veranschaulichen, wie die Sicherung der Privilegien von einigen wenigen auf die Einschränkung anderer Bevölkerungsgruppen angewiesen ist. In Ben Chikhas Erörterung hat die Käfig-Metapher somit das Terrain verlagert: Von der Kritik des ›Käfigs als Bühne‹ zur ›Welt als Käfig‹ und schließlich zur ›Bühne als Käfig‹. Wenn Eigenschaften der Kunstsparte, wie z.B. Fiktion, Affekt, Zerstreuung und Kunstgriffe, durch das zynische Geschäft der Politik absorbiert und angeeignet werden, so argumentierte er, müssen Künstler:innen dann nicht die Aufgabe des Theaters und der Performance erneut erwägen und sich wieder aneignen, um die Grenzen künstlerischer Bereiche zu überschreiten und dadurch das Podium des Theaters auf Orte außerhalb des konventionellen Theaters auszudehnen? Er rief Theatermacher:innen dazu auf, »die Wahrheit zurückzugewinnen. Schließlich sind wir es, die das Zeug dazu haben. Wir wissen, wie man Emotionen weckt. Mit unserer künstlerischen Wahrheit können wir entlarven, erschüttern und die Vorstellungskraft wecken« (ebd.: 7). Die Idee der künstlerischen Wahrheit steht im Mittelpunkt von Ben Chikhas Bestreben. Es ist eine Wahrheit, die zu einem anderen Register gehört als die juristische oder philosophische oder empirische Wahrheit. Der künstlerischen Wahrheit geht es nicht darum, diese Ordnungen von Wahrheit nachzuahmen oder gar abzulehnen, sondern vielmehr um andere Möglichkeiten darzubieten, womit die aktuellen Bedingungen auf der Welt demaskiert, neu konfiguriert und transformiert werden können. Das Nachstreben dieser künstlerischen Wahrheit, so führt er weiterhin aus, impliziert, dass man die Vorbilder, die das Theater darreicht, entdeckt und ihnen folgt. »Unruhestifter, Provokateure, Wahrsager, Dummköpfe, Orakel: alles uralte Vorbilder für jene, die sich mit Gerechtigkeit befassen« (ebd.: 7). Auf den ersten Blick schien Ben Chikhas Begriff der künstlerischen Wahrheit eine Behauptung dessen zu sein, was man als anti-theatrale Position interpretieren könnte: eine Aufforderung zu einer Verschiebung von konstatierenden zu performativen Handlungen (Parker/Kosofsky-Sedgwick 1995). Nach dieser Argumentation könnte die Bühne der Performance als ein Ort mimetischer, sekundärer Repräsentation – ›parasitär‹ im Sinne von John Austin –, als ein restriktiver und einschränkender Raum für ein Nachstreben der künstlerischen Wahrheit interpretiert werden. Gleichsam wie ein Käfig aus dem die Narren, Wahrsager und Orakel

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ausbrechen müssen, um performativ in die Welt eingreifen zu können (Austin 1962). Warum sollten wir die kreativen Interventionen der Welt Amateur:innen wie Greenpeace und Pussy Riot überlassen, fragte er sarkastisch. Sind wir, die Profis der Theater- und Performancewelt, nicht viel qualifizierter für Kreativität und Einfallsreichtum? (Ben Chikha 2018: 7). Während Ben Chikha allerdings proklamierte, das Theater müsse seine Begrenzungen der Darstellung übersteigen, forderte er das Theater gleichzeitig dazu auf, sich von historischen Persönlichkeiten inspirieren zu lassen. Figuren wie Mohamad Bouazizi, der 26-jährige tunesische Obstverkäufer, dessen öffentliche Selbstverbrennung als Auslöser für den Aufstand in Tunesien 2010 betrachtet wird. Oder Jan Palach, der tschechische Dissident, dessen Selbstverbrennung 1968 einen Wendepunkt im Prager Frühling markierte. Ben Chikha zufolge waren diese Menschen genau darum inspirierend, da sie begriffen, dass der Funke der Revolution nur dann entfacht werden könnte, wenn man sich selbst in einen Ort des Spektakels, gleichsam eines sich aufopfernden menschlichen Zoos, verwandelt (ebd.: 8). Nicht nur ist die Bezugnahme auf diese zwei Figuren ein weiterer ironischer Hinweis auf den Schlussakt seiner Lecture-Performance, sie wirft auch unterschiedliche Fragen auf: In welchem Sinne waren diese Menschen Künstler? Inwieweit wird die künstlerische Wahrheit durch ihre ›Performances‹ angestrebt oder ausgedrückt? Sollte es als grausam und unaufrichtig erscheinen, ihre tragischen Handlungen der Selbstverbrennung als ›Performances‹ darzustellen, dann scheint es ebenso unangebracht zu sein, Künstler:innen zu bitten, dies im Theater nachzuahmen. Dabei könnte man insbesondere mit Bezug auf Mohamad Bouazizi argumentieren, dass sein Akt der Selbstverbrennung kein politischer Akt war, insofern es eine spontane Handlung war, die aus der Verzweiflung und Empörung über die Korruption der Regierung herrührte, und als solche weder vorsätzlich war, noch im Dienst eines politischen Ziels stand. Ihr Status als zutiefst politischer Akt leitet sich nicht aus bestehenden Repertoires und anerkannten Konventionen politischen Handelns ab, sondern aus ihrer symbolischen und gleichsam performativen Kraft, da sie in aller Öffentlichkeit vor dem Regierungsgebäude stattfand (Bargu 2016: 28). Der Hinweis auf Bouazizis Tod als Modell für das politische Potenzial des Theaters verweist auf seinen Status als performativer Moment, indem er die bestehende Ordnung des Politischen unterbrach und in eine Krise stürzte und uns aufforderte, wie Banu Bargu argumentiert, »den Zusammenhang zwischen dem Handeln eines Individuums und der Bewegung der Geschichte infrage zu stellen« (ebd.: 29). Eine solche

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Interpretation erlaubt es, größere makro-strukturelle Dimensionen mit den flüchtigen Eigensinnigkeiten einer individuellen Handlung zu verbinden. Mithin nimmt Ben Chikhas ›künstlerische Wahrheit‹ eine paradoxe Qualität an, die zu finden ist, wenn man sozusagen das Theater auf der Suche nach dem Theater verlässt (siehe auch Kershaw 2006). Das Paradox ist im Augenblick der Unterbrechung, wenn sich die Lecture-Performance zu einem tableau vivant verdichtet, am spürbarsten. Der Künstler, der sich gerade mit einer Flüssigkeit übergossen hat und verkündet – so mancher würde sagen ›damit droht‹ –, dass er sich selbst in Brand setzen werde, kreiert eine Unterbrechung in den Bedingungen, die den reibungslosen Mechanismus des theatralen Geschehens garantieren und bei den Zuschauer:innen die sogenannte willentliche Aussetzung der Ungläubigkeit ermöglichen. Dieser Moment ist insofern eine Unterbrechung, als sie darauf hindeutet, dass es sich nicht mehr um eine inszenierte, arrangierte Szene handelt. Kein Wunder also, dass ein Zuschauer sich genötigt sieht, auch seinerseits die Szene zu unterbrechen, um dasjenige zu verhindern, was er befürchtet, nämlich einen Akt der Selbstzerstörung unter dem Anschein einer radikalen Performance. Als der Künstler die Bühne jedoch verlässt und das Publikum mit der aufgebürdeten Last der Frage »Hat jemand ein Feuerzeug?« zurücklässt, sind die Konventionen der Theaterwelt bloßgelegt. Sie werden in dem Augenblick sicht- und beobachtbar als der Boden aufgewischt wird und der Moderator den nächsten Programmpunkt ankündigt. Der Gedanke, es könne sich letztendlich doch nur um eine inszenierte und arrangierte Szene handeln, wird nun sehr unangenehm. Denn selbst wenn es nur Wasser und kein Benzin ist, und selbst wenn die Szene auf einem Text basiert und Ben Chikha sich tatsächlich nicht in Brand setzt, ist die Geste dennoch folgenschwer. Sie birgt eine performative Kraft, die sie aus der paradoxen Nähe zu und Distanz von tatsächlichen Handlungen der Selbstverbrennung erlangt. Sie gibt dem Publikum einen flüchtigen Eindruck, wie es sein könnte, eine solche Tat zu erleben. Gleichzeitig weitet sie die Grenzen des Theaters aus, bringt die Rahmenbedingungen und die Infrastrukturen, die das Funktionieren des Theaters ermöglichen und seine imaginären Mechanismen intakt halten, ans Licht. Damit wird die Frage »Hat jemand ein Feuerzeug?« zu einer Form der Interpellation in der Art wie Althusser sie bekanntermaßen in seiner Inszenierung der Subjektivierung formuliert hat: Die beispielhafte Situation, in der ein Polizist »He, Sie da!« ausruft und im Modus einer Anklage eine bestimmte Subjektposition ins Leben ruft (Althusser 1977/1965: 142). Auf Ben Chikhas Aufruf zu reagieren, bedeutet irgendeine Form der Verantwortung – ja sogar Schuld

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– zu tragen, die man nicht abschütteln kann, nicht einmal wenn die Aufführung technisch gesehen zu Ende ist. Somit ist das Publikum innerhalb einer unbeständigen Ausweglosigkeit an die Szene gebunden, da es für die Beihilfe zum Akt der Selbstverbrennung mitverantwortlich gemacht wurde. Eine Tat, die nichts anderes ist als die Verletzung einer Person und die Begehung einer Brandstiftung, selbst wenn dies im Dienste eines vermeintlich größeren Zieles geschieht. Sobald der Moderator dahingegen zum nächsten Programmpunkt übergeht, wird das Publikum interpelliert als mitverantwortlich für die nonchalante und distanzierte Betrachtung der Szene. Als würde es nichts ausmachen, als wäre es gefühllos und schweigsam gegenüber den Wirren der Welt, als wäre Theater bloße Unterhaltung. Die Ausweglosigkeit ist jedoch einzigartig generativ, da die abschließende Geste einer Handlung unvollendet bleibt, verzögert, was dem Publikum die Aufgabe der imaginativen Vollendung auferlegt und die Möglichkeit für ein anderes Ende in der Zukunft kontingent bleiben lässt. Mithin ist das Publikum, nicht unähnlich dem Fremden in Benjamins häuslicher Szene, konfrontiert mit einer Situation von sowohl intensiver Identifizierung als auch gleichzeitiger Nicht-Identifizierung. Genau darauf bezieht sich der brechtsche Gestus in Benjamins Interpretation der häuslichen Szene: Nicht einfach nur die äußerliche Expression oder Haltung eines innerlichen Gefühls, wie es der herrschende englische Sprachgebrauch des Begriffs gesture vermuten lässt, sondern eine Unterbrechung der Verschmelzung der inneren und äußeren Welt. In Samuel Webers Lesart von Benjamin ist Gestus nicht »die Erfüllung oder Verwirklichung einer Absicht oder einer Erwartung, sondern eher deren Störung und Aussetzung. Dies beinhaltet nicht so sehr Expression als vielmehr Unterbrechung. Und genau dies macht es so höchst theatralisch« (Weber 2008: 98). Gestus ruft Situationen ins Leben, bringt deren gleichmäßige Bewegung gleichsam zum Stillstand und macht eine Situation in all ihren Details und Widersprüchen wahrnehmbar, indem er jede vorausgesetzte direkte Verbindung zwischen innerem Gefühl und äußerer Expression unterbricht. In Brechts Denken über das epische Theater war die Vielseitigkeit des Gestus auf der Bühne ein wesentliches Mittel zur Erlangung des Verfremdungseffekts. Der Effekt also von Nicht-Identifizierung und Verfremdung, welchen er für die Kultivierung eines kritischen und politisierten Publikums als notwendig erachtete. Gestus ist das zielgerichtete Anhalten von Bewegung und somit das Arretieren etwaiger Identifizierung mit Bedeutungen und Assoziationen, die mit Bewegung verbunden sind. Es

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ist eine Technik, die alle Widersprüchlichkeiten bloßzulegen sucht, um eine Szene in ihren lebendigen Details erfassbar machen zu können. In Judith Butlers Lesart von Benjamins Szene des Familienkrachs, in der eine Mutter im Begriff ist eine Bronzebüste auf eine Tochter zu werfen, fungiert der Gestus »als die partielle Dekomposition des Performativen, die die Handlung zum Stillstand bringt, bevor sie sich als tödlich erweisen kann« (Butler 2015: 41). In der Art, wie Benjamin sie umrissen hat, bringt die Geste die Szene zu einem unbefristeten Stillstand. In gleicher Weise wirkt Ben Chikhas Geste, sich mit einer Flüssigkeit zu übergießen, da sie die Szene beendet und zugleich das Theater in einem beunruhigenden Moment auf die Welt außerhalb des Theaters verlagert. In dieser gestischen Kontingenz ist das Theater der exemplarische oder privilegierte Ort, an dem das Wirken von Macht wahrnehmbar werden kann. Die volle Manifestation der Wirkung von Macht jedoch ist paradoxerweise andernorts verlagert. Außerhalb der konventionellen Institutionen und Plattformen des Theaters, in seinen Hinterbühnen und Proberäumen, auf den Straßen, auf öffentlichen Plätzen, im Parlament, am Arbeitsplatz, an allen Orten, die die Schnittstelle von Performance und Politik bilden. Spivaks Konzept des double binds ist in diesem Zusammenhang äußerst relevant. Das double bind weist auf die Widersprüche, in denen sich ein Feld bewegt, die letztlich unauflösbar sind, jedoch oft nicht in all ihren Widersprüchlichkeiten wahrgenommen und erkannt werden. Spivak erweitert das double bind und entwickelt es im Sinne eines »produktiven Aufknotens« (productive undoing, 2012: 1), wobei es darum geht, selbstkritisch und selbstreflexiv mit den Widersprüchen umzugehen. Ben Chikha präsentiert das Dilemma eines politisch engagierten Kunstschaffenden, der mit den Mitteln der Kunst die Grenzen des eigenen Kunstverständnisses zu befragen sucht und dabei das Publikum zum Teil des Dilemmas macht. Es gilt in diesem Dilemma mit einem verschärften Bewusstsein für die Kontingenz der Handlung zu agieren, ohne zu glauben, es überwinden oder gelöst zu haben.

Szenen der Interpellation Benjamins Szene des Familienkrachs, der durch die Ankunft eines Fremden unterbrochen wurde, dient als Paradebeispiel für die Enthüllung einer Konzeption der Gestik in Brechts epischem Theater. Ben Chikhas LecturePerformance zeigt eine Unterbrechung aus einem anderen Register, worin die scheinbar stabile Grenze zwischen dem Theater als Institution oder Ort der

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politischen Praxis und der Welt des politischen Handelns destabilisiert ist. Beide ›Szenen‹ verstören das Verhältnis zwischen Performance und Politik und offenbaren, dass es sich dabei nicht um wasserdichte Kompartimente handelt, dass Theater nicht lediglich eine Metapher für die Beschreibung des Politischen ist, oder dass das Politische nicht einfach ein Thema ist, das auf der Bühne dargestellt wird, sondern dass sie in ihren Modalitäten auf komplexe Weise, im Sinne eines double bind, verflochten sind. Althussers berühmtes Beispiel der Interpellation zur Veranschaulichung seiner Theorie der Subjektbildung bietet eine weitere spannende Szene der Unterbrechung, die es erlaubt, die ko-konstitutive Verflechtung von Theater und Politik auf breiterer Ebene zu durchdenken. Althussers Erkenntnisse über Ideologie und Subjektbildung, und seine Privilegierung des Theaters als Ort, das Politische zu denken, sind in vielerlei Hinsicht relevant für die aktuelle Diskussion. In den jüngsten Studien zu Althussers politischer Philosophie richtete sich die wissenschaftliche Aufmerksamkeit auf seine Beachtung des Theaters in seinen Schriften zur Ideologie sowie zum Materialismus der Begegnung (Butler 1997, Butler 2015, Balibar 2015, Bargu 2015). Hierzu zählt auch sein Interesse an Brecht, an den Theaterstücken von Carlo Bertolazzi und dem Piccolo Teatro van Mailand, insbesondere die Produktionen von Giorgio Strehler und Paulo Grassi (Althusser 2011/1962; siehe auch 2001/1968). Was jedoch seinen Gebrauch einer »theoretischen Szene« (Althusser 1977/1965: 142) am besten konkretisiert, ist die Szene mit dem Ruf des Polizisten aus seinem bekannten Essay über Ideologie. Hier dient das Theater als ein analytisches Dispositiv, wie Etienne Balibar betont, um bestimmte philosophische Probleme aus singulären Situationen und Momenten zu identifizieren und allgemeine Prinzipien und Betrachtungen zu extrapolieren und sichtbar zu machen (Balibar 2015: 2). Die Rufszene ist indessen keine Szene einer konventionellen Theateraufführung, sondern, ähnlich Benjamins Familienkrachs, eine alltägliche Situation in all ihrer Singularität, die gleichsam einer szenischen Struktur aufgeführt oder inszeniert ist und somit eine distanzierte Beobachtung und Erkennung der ihr zugrunde liegenden Wirkungsmechanismen ermöglicht. In gewisser Hinsicht ist dies eine Verlagerung des theatralischen Registers auf eine hypothetische alltägliche Situation. Das tableau vivant in dieser Szene ist der Augenblick, in dem ein Polizist jemandem auf der Straße zuruft und die Person, die sich dann auf diesen Ruf reagierend, umdreht: »Man kann sich diese Anrufung [franz. interpellation, Anm. d. A.] nach dem Muster der einfachen und alltäglichen Anrufung durch einen Polizisten

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vorstellen: ›He, Sie da!‹ Wenn wir einmal annehmen, dass die vorgestellte theoretische Szene sich auf der Straße abspielt, so wendet sich das angerufene Individuum um. Durch diese einfache physische Wendung um 180 Grad wird es zum Subjekt« (Althusser 1977/1965: 142f.). Die Interpellation ist nach Althusser nicht gleichbedeutend mit Anrufung oder Aufforderung, sondern, genauer gesagt, ist sie die Inszenierung der Anrufung als ein Akt der Unterbrechung durch das Gesetz bzw. durch andere repressive oder ideologische Staatsapparate. Althusser argumentiert durch das Beispiel der theoretischen Rufszene, dass Subjekte gleichzeitig mit Handlungen auftreten. Gleichzeitig behauptet er in seinen Schriften zum Theater, dass das einzigartige Potenzial des Theaters darin liegt, diese Gleichzeitigkeit zu unterbrechen und zu verlagern. Anders als das Subjekt auf der Straße, das sich (wenn auch nur in neun von zehn Fällen, wie Althusser bemerkte) sofort umdreht, wenn es durch die Polizei herbeizitiert wird, ist die ideologische Selbsterkennung im Theater riskanter und spielerischer, da die Erkennung weder unmittelbar noch garantiert ist. Es könnte passieren, dass die Zuschauer:innen den Saal mit einem Gefühl verlassen, unterhalten, enttäuscht oder beruhigt zu sein durch was sie gerade gesehen haben. Dann haben sie sich im ideologischen Sinne als Kunstliebhaber:innen oder als kritische Subjekte erkannt. Es kann jedoch auch vorkommen, dass das eigene Selbstbild durch die Interpellation des Theaters verzerrt und unterbrochen wird. Als ein Hinweis auf diese Gefahr deutet der letzte Abschnitt von Althussers bedauerlicherweise unvollendetem Text Über Brecht and Marx: »Im Theater gibt sich der Zuschauer dem Vergnügen hin, dem Spiel mit dem Feuer zuzusehen, um ganz sicher zu sein, dass es nicht brennt oder dass es nicht bei ihm brennt, sondern bei den anderen, auf alle Fälle, um sicher zu sein, dass es nicht bei ihm brennt. Wenn man wissen will, warum das Theater so kurzweilig ist, muss die ganz besondere Art des Vergnügens berücksichtigt werden, nämlich mit dem Feuer zu spielen, ohne dass es gefährlich wird. Dabei gilt zweierlei: 1. Es handelt sich um ein ungefährliches Feuer, weil es sich auf der Bühne befindet und das Theaterstück stets das Feuer löscht. 2. Wenn es brennt, dann immer beim Nachbarn« (Althusser 2001/1968: 59). Der Grund dieser ausführlichen Wiedergabe des Zitats liegt darin, dass es eine unvermutete und fruchtbare Entgegnung auf Ben Chikhas Lecture-

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Performance bietet, womit eine Schlussfolgerung gezogen werden kann. Ben Chikhas riskantes Spiel mit der (Selbst-)Verbrennung mag zwar mit der Beruhigung des Publikums, dass es letztendlich doch kein Feuer auf der Bühne gab, geendet haben. Fürwahr hat die sichtbare Platzierung eines Freiwilligen mit einem Feuerlöscher hinter den Kulissen diese Beruhigung buchstäblich zum Ausdruck gebracht. Gleichzeitig hinterließ es jedoch beim Publikum die unheimliche Erkenntnis, dass der Ort, an dem sich das Publikum befindet, sozusagen das Haus des Nachbarn ist und dass das Schauspiel das Feuer nicht löschen wird. In ihrer Studie über Zeitlichkeit und ihrer Beziehung zur Geschichte erkennt Maurya Wickstrom, wie oft Feuer in Bezug auf Theater und Performance eingesetzt wird – in der Regel metaphorisch, aber manchmal auch faktisch –, um »die Unterbrechung der Geschichte als Prozessionismus zu signalisieren, das heißt als eine Geschichte der linearen Progression« (Wickstrom 2018: 9). Feuer, sogar das Signalisieren der Eventualität eines Feuers, ermöglicht eine Unterbrechung der Zeiterfahrung, derart dass sie die unmittelbar drohende und mythische Möglichkeit von Revolten, Aufständen und unkontrollierbaren Ergebnissen in sich birgt. Wickstrom interpretiert Feuer als eine ›Waffe der Enttäuschten‹, die den ideologischen Apparat des Theaters zu zerstören droht. Das Feuer in Ben Chikhas Lecture-Performance ist wörtlich inszeniert, wird aber zugleich unterbrochen und entwörtlicht. Die Bedrohung, die das Feuer darstellt, kann offensichtlich auf zweierlei Weise interpretiert werden: als die selbstverursachte Destabilisierung und Dezentrierung des Theaters in Bezug auf seinen Platz und seiner Relevanz in der Welt, also eine Art institutionelle Selbstkritik; als die verheerende Selbsterkennung der Zuschauer:innen dadurch, dass sie als kritische, aber dennoch bürgerlich-liberale Kunstliebhaber:innen interpelliert sind und somit gelähmte politische Subjekte geworden sind. Im Sinne von Spivaks double bind läge die Aufgabe der Zuschauer:innen darin, beide Interpretationen und ihre Konsequenzen im Blick zu behalten und sie produktiv aufzuknoten.

Schlussbemerkungen Dieser Beitrag schlägt vor, der Verbindung zwischen dem Theater und der Politik durch das double bind ihrer Unterbrechungen nachzugehen. Spivak bettet das Konzept des double bind in eine Theorie der ästhetischen Bildung ein, die darauf zielt, eine verschärfte Sensibilität für unauflösbare Widersprüche zu entwickeln. Zugleich warnt sie vor der Romantisierung eines jeden politi-

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schen Projekts, das glaubt, einen Weg aus den Widersprüchen gefunden zu haben. Mit dem Begriff des double binds macht Spivak also auf die Notwendigkeit eines kontraintuitiven Denkens aufmerksam. Ein solcher kontraintuitiver Ansatz ist ebenso in den theoretischen theatralen Szenen zu spüren, wie denen von Benjamins Szene eines Familienstreits, Althussers Szene der polizeilichen Interpellation, sowie am Beispiel der Lecture Performance von Ben Chikha. In allen Szenen wird eine Unterbrechung zum ausschlaggebenden Moment der Transformation. Ich habe versucht, mich mit der Frage auseinanderzusetzen, wie und unter welchen Umständen die Unterbrechung in der Kunst eine generative und produktive Form von Partizipation in der Kunst sein könnte. Ich behaupte nicht, dass die Unterbrechung an sich radikal oder gegenhegemonial ist, das ist sie sehr oft nicht. Es gilt vielmehr, sie auf eine produktive Weise kritisch zu gebrauchen. Wenn man die Unterbrechung ernst nimmt und politisch verantwortet, wird es wichtig, auf die materiellen Details einer Unterbrechungsszene zu achten und die Handlung in der Form von Gesten, tableaux vivants und szenografischen Besonderheiten zu konkretisieren. Im Laufe meiner Auseinandersetzung mit etlichen Unterbrechungsszenen, sowohl innerhalb als auch außerhalb des Theaters – das heißt, imaginär, theatral und theoretisch –, führten mich die Praktiken und Handlungen der Unterbrechung zu den politischen Konzepten der Ideologie und Interpellation. Interessanterweise werden diese Konzepte von Theoretiker:innen als Theaterszenen verfasst. Für Brecht und Althusser sind Ideen und Handlungen eine Einheit. Die politischen Dimensionen der theatralen Szenen sind nicht von ihrer Materialität losgelöst, sondern in sie eingebettet, jedoch erst erkennbar, wenn sie unterbrochen worden. Mithin ist das Politische nicht in der Definition von Politik, sondern in seiner Inszenierung zu suchen. Mit seinem theatralen Gestus der Selbstverbrennung weist Ben Chikha auf das double bind, in dem jeder politisch engagierter Künstler agiert, nämlich das Theater verlassen zu müssen, um auf die Suche nach dem Theater gehen zu können.

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Sruti Bala: Das Theater verlassen auf der Suche nach dem Theater

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Under Surveillance Sexualität, Geschlecht und Dekolonisierung in Shu Lea Cheangs Installation »3x3x6«1 Saboura Naqshband

Unter dem Motto May You Live in Interesting Times bediente sich die weltälteste Biennale di Venezia, eines (vermeintlich) chinesischen Fluchs, der zuerst 1936 vom britischen Botschafter in China, Sir Hughe Knatchbull-Hugessen (1949: 1), in seinen Memoiren ›tradiert‹ wurde. Diesem zufolge sei es besser in ›uninteressanten Zeiten‹ zu leben, in denen Frieden herrsche, als in einer Zeit voller Chaos, Unsicherheiten und Krisen.2 Symbolisch für die herausragende Krise unserer Zeit steht das zeitgleich auf der Biennale ausgestellte Schiff der ›Barca Nostra‹, welches 2015 im Mittelmeer kenterte und 800 (Schwarze) Menschen in den Tod riss.3 Sie weist auf einen Grundwiderspruch im Herzen der europäischen Demokratie hin: Die Proklamation allgemeingültiger Menschenrechte versus der Verwert- oder eher Verwerf barkeit menschlichen Lebens im fortgeschrittenen Kapitalismus, seinen Umweltkatastrophen, und damit einhergehend der verstärkten (Zwangs-)Migration von Süd nach Nord, sowie dem Erstarken rechter nationalistischer Politiken (vgl. Castro Varela 2019). Wie gehen wir um mit dem monströsen Widerspruch zwischen Tod und Leben, dessen »Wellen« buchstäblich an unsere Haustür brechen. Wie Leila Haghighat in diesem Band erklärt, weist die von Gayatri Chakravorty Spivak bemühte Metapher der »doppelten Bindung« (double bind) an pa1 2 3

Im Taiwan-Pavillon der 58. Internationale Kunstausstellung, Biennale Venedig 2019; siehe https://3x3x6.com/(letzter Aufruf 23.01.2023). Siehe https://www.inexhibit.com/specials/58th-venice-biennale-of-art-2019-may-yo u-live-in-interesting-times/(letzter Aufruf 23.01.2023). Siehe https://www.sueddeutsche.de/kultur/biennale-venedig-kunstbiennale-1.4440 904 (letzter Aufruf 23.01.2023).

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Die Kunst zu Intervenieren

radoxe Botschaften, auf den schizophrenen Zustand der Gesellschaft hin: Die postkolonialen (Herrschafts-)Verhältnisse, die wir kritisieren, werden gleichsam durch uns re-produziert. Wir sind also nicht Unschuldige, sondern Kompliz:innen des Geschehens. Haghighat verweist auf Spivak (2012), für welche die Schiller sabotierende »produktive Unterwanderung des Ästhetischen« den Sinn und Zweck einer ästhetischen Erziehung darstelle. So könnten die »Begehren neu [ge]ordnet« und somit allmählich ein »epistemischer Wandel« herbeigeführt werden. Die prestigeträchtige Biennale in Venedig versucht die Ambivalenzen, die unserer Gegenwart anhaften, zumindest in Teilen hörbar und sichtbar, oder auch besprech- oder sogar erfahrbar zu machen. Das bedeutet nicht die Gewalt, die sexualisierte oder kolonisierte Andere erfahren zu verharmlosen, im Gegenteil, es gilt diese epistemische Gewalt in ihrer Komplexität, Verwobenheit und inhärenten messiness zu begreifen, die in der postkolonialen Ära noch immer verwirrend-irrende Spuren fortschreibt. Im folgenden Beitrag möchte ich auf mehrere Ebenen von double binds eingehen, die in Shu Lea Cheangs Kunstinstallation 3x3x6 des nationalen TaiwanPavillons, miteinander verwoben sind – das Verhältnis von Europa zu seinem muslimischen Anderen, des muslimischen Philosophen zur muslimischen Theologin, des Homosexuellen zum Heterosexuellen, um schlussendlich zu fragen: Welche alternativen, hegemoniekritischen Bilder können im Sinne Spivaks durch die Kunst imaginiert werden? Wie können diese von Marginalisierten spielerisch mitgestaltet werden und diejenigen ansprechen, die der gesellschafts-fernen Sprache des Kunstbetriebs nicht mächtig sind?

3X3X6 TAIWAN in VENICE In der digitalen Kunstinstallation »3x3x6« zeigt uns die taiwanesische Filmemacherin und Pionieren der web-basierten Kunst, Shu Lea Cheang (KoKurator Paul Preciado), wie die Herstellung des architektonischen Raums, v.a. in der Gefängnisarchitektur, schon immer politisch war und ist. Der im 9. Jahrhundert erbaute Palazzo delle Prigioni auf der Hauptinsel Venedigs, welcher solch infame historische Persönlichkeiten wie Giamcomo Casanova (1725–98) beherbergte, war der perfekte Ort für Cheangs künstlerische Intervention. In dieser erforscht sie, wie Körper in Zeiten des »digitalen Panoptikums« (Han 2014) durch ihre geschlechtlichen, sexuellen und rassifizierten Abweichungen vom Normativen/Status quo kontrolliert und be-grenzt werden. Cheang greift

Saboura Naqshband: Under Surveillance

in der Gestaltung dieses Kunstwerks nicht nur auf ihr breites, transnationales künstlerisch-kollaboratives Netzwerk zurück – sie ist auch die erste weibliche Künstlerin, die den nationalen Taiwan-Pavillon seit seiner Gründung 1995 innerhalb der renommierten Venedig-Biennale repräsentiert. Das Herzstück der Ausstellung bilden zehn Kurzfilme, die zehn historische und gegenwärtige Fälle sexueller, geschlechtlicher und rassifizierter Devianz porträtieren, sowie die anschließende Einkerkerung dieser Charaktere. Darunter verbergen sich populäre, westliche Figuren wie der des Marquis de Sade, Giacomo Casanova und Michel Foucault; es werden aber auch außereuropäische Figuren präsentiert, z.B. eine Gang von weiblichen sperm bandits – also Sperma-Dieb:innen – aus Zimbabwe, ein schwuler Gefangener in Taiwan, der bezichtigt wird, HIV durch chemsex verbreitet zu haben, oder eben auch der Fall eines bekannten muslimischen Gelehrten aus Frankreich »R X«. Ihm wird Vergewaltigung und sexuelle Nötigung vorgeworfen, wobei er 2018 aus nicht nachvollziehbaren Gründen für zehn Monate ohne Prozess in Isolationshaft in ein Pariser Hochsicherheitsgefängnis gebracht wurde, welches üblicherweise für Terror-Verdächtigte reserviert ist. Durch das Verschmelzen von historischen Fakten, Mythen und Fantasien mit dem Sprung über verschiedene Zeitperioden hinweg, kreiert Cheang eine »queere Gegengeschichte der Sexualität für die digitale Zeit« (Preciado, 2019: 75, Übers. SN). Diese trans, queeren und antikolonialen (Gegen-)Erzählungen fordern uns heraus, Prozesse der Subjektivierung, der Subversion und des Widerstands im Zeitalter der mass incarceration und biotechnologisch wie digital überwachten ›Kontrollgesellschaft‹ (Deleuze 1990, 1993) neu zu denken. Als queer-muslimische Feministin übernahm ich in Cheangs Video-Performance die Rolle des muslimischen Philosophen in transmännlicher Gestalt. Durch meine eigene Form des Hackings intervenierte ich in den Dialog mit Foucault (gespielt von Felix Maritaud) indem ich hier islamisch-feministische Textpassagen einschleuste. Im folgenden Text gehe ich den Implikationen meiner Performance und der Intervention in den Charakter »R X« auf der politisch-theoretischen sowie poetisch-ästhetischen Ebene nach.

Discipline, Punish, Control or simply: Post your Pic ›on Insta‹ Neue Technologien der Überwachung wie Künstliche Intelligenz, Roboter und biotechnologisches Engineering bewirken ähnlich wie die Erfindung der Druckmaschine oder die Kolonisierung der Welt durch Europa einen

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Die Kunst zu Intervenieren

fundamentalen Paradigmenwechsel in unserem Anthropozän des 21.Jahrhunderts. Der Mensch wird zur größten Bedrohung für sich und seine Umwelt (vgl. Preciado 2019: 71). In seinem Postskriptum über die Kontrollgesellschaften (1990) beschreibt Gilles Deleuze unter Bezugnahme auf Michel Foucault wie die Disziplinargesellschaften des 18. und 19.Jahrhunderts ›große Einschließungsmilieus‹ erschufen: »Das Individuum wechselt immer wieder von einem geschlossenen Milieu zum nächsten über, jedes mit eigenen Gesetzen: zuerst die Familie, dann die Schule (»du bist hier nicht zu Hause«), dann die Kaserne (»du bist hier nicht in der Schule«), dann die Fabrik, von Zeit zu Zeit die Klinik, möglicherweise das Gefängnis, das Einschließungsmilieu schlechthin.« (Deleuze 1993: 254). Diese abgegrenzten Räume – mit Foucault gesprochen »totale Institutionen« –, die im Zeitalter des Übergangs von Souveränitäts- zu Disziplinargesellschaften entstanden, stünden jetzt, so Deleuze, in der Krise. Während Napoleon weitestgehend den Übergang von der reinen Abschöpfung produktiver Arbeit hin zu ihrer Organisation bewerkstelligte, sowie den Wandel von der Entscheidung über Leben und Tod hin zur Verwaltung des Lebens, stünden wir jetzt einem »neuen Monster« gegenüber, welches »Foucault als unsere unmittelbar bevorstehende Zukunft« anerkenne (ebd.: 255). Byung-Chul Han (2015) sieht im digitalen Panoptikum des 21. Jahrhunderts eine Verlagerung des klassischen, perspektivischen Panoptikums. Dieses wurde 1786 durch die Bentham-Brüder (Bentham 1995) entwickelt und avancierte im 19. Jahrhundert zum zentralen Überwachungsmechanismus totaler Institutionen bis hin zu dem heutigen »aperspektivischen Pankoptikum« (Han 2015: 100). In diesem seien Zentrum und Peripherie aufgehoben, was wiederum die totale Durchleuchtung des Einzelnen ermögliche – das definierende Merkmal der Kontrollgesellschaft. Während die Insassen des Bentham‘schen, klassischen Panoptikums trotz der Unsichtbarkeit der Überwachenden sich ihrer eigenen Überwachung zumindest noch bewusst waren, bewegten wir uns jetzt in einer Lage der »Aperspektivität«, in der sich »[...] die Bewohner des digitalen Panoptikons« trügerischerweise »in Freiheit [wähnen]« (Han 2015: 101f.). In dieser Art von Panoptikum weicht unser Bedürfnis nach Intimität und Privatsphäre dem pornographischen Bedürfnis zur Selbstexponierung. Wir arbeiten selbst fleißig mit am Abbau analoger Trennwände, entblößen ihre:unsere individuelle Intimsphäre, und unterwerfen uns dem Zwang der konstanten Zurschaustellung, Selbstoptimierung und -ausbeutung. »Freiheit«, so Han, »erweist sich als Kontrolle.« Wir – die Insassen – transformierten uns zu »Opfer[n] und Täter[n] zugleich«. (Ebd.: 110)

Saboura Naqshband: Under Surveillance

1.

SETTING THE SCENE

Still from R X, 10:00, 4K Video, from the film series for installation 3x3x6.4

November (11–19): A Muslim Feminist »it is for my VENICE BIENNALE project, 3x3x6, film production, looking for a muslim origin woman (cis/trans), intellectual to play a male muslim scholar.« »Suche nach einer Herkunfts-Muslima (cis/trans), Intellektuellen, die einen männlichen, muslimischen Gelehrten spielen kann.« Als ich durch Freund:innen in meinen muslimisch-feministischen Kreisen diese Mail erhielt, wusste ich: This is (calling) me. Denn so fing die Nachricht der Filmemacherin und Internet-Kunstpionierin Shu Lea Cheang an. Ich wusste noch nicht genau, worauf ich mich da einlassen würde, aber schon der erste

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Image courtesy of the artist, Shu Lea Cheang. Taiwan in Venice Biennale 2019.

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Satz war eine Handvoll. Nach der ersten Kontaktaufnahme zu der feministischen, in Berlin ansässigen post-porn-Produktionsfirma, schickte Cheang mir ein Skript, das es in sich hatte: »I have never raped. I am not a rapist« »This is a calculated and orchestrated political hit« »I categorically deny any allegations of non-consensual sex!« Dies waren einige der Sätze aus dem Oeuvre, die ich zum Casting einüben sollte. (Ich muss zugeben: Einen Vergewaltiger hatte ich als muslimische Feministin noch nie gespielt. Und schon gar nicht vor der Kamera!) Zur Vorbereitung auf den letzten Teil – einem sadomasochistischen Monolog am Telefon – schaute ich mir zum ersten Mal harten SM-Porno an, um ein »Gefühl« für die richtige schauspielerische Intonation zu bekommen. Zu diesem Zeitpunkt konnte ich noch nicht ahnen, dass es um den Charakter eines muslimischen Gelehrten ging, einem sehr prominenten und umstrittenen Akademiker der muslimischen Gemeinschaft, der an den Universitäten von Basel, Oxford, Qatar, Marokko und Japan Islamische Philosophie und Theologie lehrte: Tariq Ramadan. Mit einem sprichwörtlichen Hauch von Sadomaso war ich gründlich auf die Rolle vorbereitet. Als ich jedoch einem queer-muslimischen Freund und Künstler, der die Tochter Ramadans noch von unserem Studium in London kannte, den ersten Entwurf des Dialogs zeigte, runzelte dieser nur die Stirn und meinte: »It’s somewhat orientalist, babe. I’d only consult them on the script if I was paid for it.« Mit einem gewissen Unbehagen, was mit dieser Rolle (politisch) noch auf mich zukommen könnte, begegnete ich Shu Lea zuerst auf digitalem Wege und dann persönlich.

Paris, Oktober (10–17): Rape Allegations oder die Causa Ramadan »Zwei Frauen haben in der vergangenen Woche Anklage bei der Staatsanwaltschaft in Rouen und in Paris gegen Tariq Ramadan eingereicht. Die Frauen werfen ihm Vergewaltigung vor.«5 Henda Ayari. 41-Jahre alt, ehemals Salafistin und jetzt eine säkulare, feministische Aktivistin bezichtigt den Schweizer Schriftsteller, Philosophen und Akademiker Tariq Ramadan der Vergewaltigung in einem Pariser Hotel im Jahr 2012. Sie gibt an, geschlagen, bespuckt 5

Siehe https://www.heise.de/tp/features/Schwere-Vorwuerfe-gegen-Tariq-Ramadan3876295.html (letzter Aufruf 23.01.2023).

Saboura Naqshband: Under Surveillance

und gewürgt worden zu sein. Die Anklageschrift lautet: »Vergewaltigung, sexuelle Aggressionen, willentliche Gewaltanwendung, Belästigung und Einschüchterung.«6 Ayari ist nicht die einzige Klägerin. Eine weitere Person unter dem Pseudonym »Christelle«7 bezichtigte ihn einer ähnlich schweren Vergewaltigung, die 2009 stattgefunden haben soll. Beide Frauen sollen daraufhin Morddrohungen von Ramadans Anhängern erhalten haben. Im März 2018 folgen Anschuldigungen von Mounia Rabbouj, einer ehemaligen Hostess, einer anonymen Frau in der Schweiz, und einer US-Amerikanerin. Zusätzlich wird Ramadan von mehreren Teenagern an einem Schweizer Collège sexuelle Belästigung vorgeworfen.

Warschau, Oktober 1958–1959: »Foucault-gate« or The Historian of Sexuality Jurek, ein junger Bibliothekar am Institute of Literary Research der Polnischen Akademie der Wissenschaften in Warschau trifft den Kulturattaché der Französischen Botschaft – Michel Foucault – während seines Auslandsaufenthaltes in Polen. Foucault wurde nach der Oktoberrevolution Polnischer Studierender gegen die kommunistische Sowjetunion zum Direktor des Centre Français berufen. Während dieser Zeit schreibt er an seiner Promotion, die später unter dem Titel »Wahnsinn und Gesellschaft« ([1961], 1969) veröffentlicht wurde sowie an »Sexualität und Wahrheit« ([1976], 1983), welches ihm später den Status des prominentesten französischen Intellektuellen bescheren würde. Von Jurek – der eigentlich ein polnischer Geheimagent ist – verführt, ertappt der polnische Geheimdienst Foucault in flagranti in seiner von der französischen Botschaft gemieteten Wohnung und droht ihm, ihn in einen öffentlichen ›Homo‹-Skandal zu verwickeln. Daraufhin wird Foucault inhaftiert und schließlich aus Polen nach Deutschland ausgewiesen. Foucault selbst spricht nie öffentlich über seine Zeit im polnischen Gefängnis, auch die Akten dazu sind nicht zugänglich. Es ist jedoch klar, dass die Erfahrungen im kommunistischen Polen und

6

7

Siehe https://www.lemonde.fr/societe/article/2017/10/21/accuse-de-viol-par-la-milit ante-feministe-et-laique-tariq-ramadan-va-porter-plainte_5204269_3224.html#b7O Ya3Smrypr2ysz.99 (letzter Aufruf 23.01.2023). Siehe zu diesem Fall ein Statement des Büros von Tariq Ramadan, unter https://docs .wixstatic.com/ugd/6da042_66b28cd358154794ab874d2dad195d58.pdf (letzter Aufruf 23.01.2023).

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seine Identität als Homosexueller seine späteren Arbeiten fundamental beeinflusst haben (Ryziński 2017; Sobolczyk 2018).

Paris, London, Genf, 2018–2019: L’affaire Ramadan ou un deuxième Dreyfus? Nachdem die Anschuldigungen gegen Ramadan im Detail durch die französischen Medien – manchmal auch ohne Verifizierung der Fakten – veröffentlicht wurden, zieht sich Ramadan von seiner Professur in Oxford zurück und lieferte sich im Frühjahr 2019 freiwillig an die französische Justiz aus. Obwohl sein Fall bei der Staatsanwaltschaft von Rouen liegt, wird er dem Richter François Molin zugewiesen, der u.a. die Terroranschläge auf die Redaktion von Charlie Hebdo, und die Morde in Nizza verhandelt hatte. Ramadans Vergewaltigungsfall landet also im Bereich des »Islamistischen Terrors«. Wie kann das sein? Das Argument: Es bestehe ›Fluchtgefahr‹. Zusätzlich zu einigen weiteren kuriosen Umständen, wie der Verbindung seiner langjährigen öffentlichen Gegnerin – der laizistischen Feministin Caroline Fourest – zu mehreren Ankläger:innen, wird Ramadan trotz einer Multiplen Sklerose Erkrankung 10 Monate lang in Isolationshaft im Hochsicherheitstrakt des Fleury-Mérogis-Gefängnisses außerhalb von Paris gefangen gehalten.

2.

Der Mythos des muslimischen Vergewaltigers Die Rolle sexueller und rassifizierter Devianz im Panoptikum

Wie die in Cheangs Installation portraitierten historischen Fällen von Giacomo Casanova, Marquis de Sade und Michel Foucault zeigen, spielt sexuelle Devianz eine zentrale Rolle in der Gefängnislogik des Bentham‘schen Panoptikums. In Foucault und Deleuzes o.g. Gesellschaftsmodellen spielt die rassifizierte Differenz jedoch noch keine explizite Rolle. Im Zuge neuer öffentlicher Debatten um sexualisierte Gewalt wie #Metoo und #BalanceTonPorc wird jedoch klar, dass es sowohl in den USA als auch in Europa zwei Klassen von Tätern gibt, und zwar die, der ›befleckten‹, jedoch Un/schuldigen und diejenigen, die es – unabhängig vom eigentlichen Tatgeschehen – ›sicherheitshalber‹ und von vornherein in die Kategorie der Schuldigen einzuordnen gilt.

Saboura Naqshband: Under Surveillance

Still from R X, 10:00, 4K Video, from the film series for installation 3x3x6.8

Bereits in den 80ern beschrieb Angela Davis, wie weiße Feminist:innen »entweder naiv oder bewusst [...] die Wiederbelebung des zeitgetragenen Mythos des Schwarzen Vergewaltigers« ermöglichten (Davis 1981:181, Übers. S.N.). Einhergehend mit diesem Mythos ist die Vorstellung der Schwarzen Frau verknüpft als die immer sexuell verfügbare Andere des weißen Mannes. Um den Status weißer Frauen zu erlangen, lüstere diese regelrecht danach, Objekt seiner Begierde zu werden. Durch diese Konstruktion verlieren ihre Klagen über sexuelle Gewalt ihre Legitimität (ebd.: 182f.). Davis’ Analyse bezieht sich auf die historische Situiertheit Schwarzer Maskulinität in den USA, funktioniert jedoch auch für unterschiedliche, nicht-weiße männliche Subjekte in Europa, denen ebenso eine ›bestialische‹ Sexualität und pauschal 8

Image courtesy of the artist, Shu Lea Cheang. Taiwan in Venice Biennale 2019.

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Homophobie zugeschrieben wird (vgl. El Tayeb 2011, Haritaworn/Petzen 2011, Haritaworn et al. 2007). Catherine Delphy (2015) untersucht beispielsweise, wie fundamentalistisch-laizistische Argumente, die sich auch in deutschen Debatten wiederfinden9 , über die Kritik an der Symbolik des Kopftuchs noch einen großen Schritt hinausgehen. Sie zitiert die steile These einer Journalistin der Le Monde: »The fact that some women do submit (or agree) [to wearing the headscarf] also means that those who refuse to do so are systematically harassed and treated as »whore« – or raped.«10 Der hier artikulierte Mythos des allgegenwärtigen, nicht-weißen Vergewaltigers erfüllt also die Funktion, im Angesicht der (post)kolonialen Präsenz von People of Color in weißen Mehrheitsgesellschaften, die Vormachtstellung der weißen Mehrheit weiterhin zu sichern (vgl. Preciado 2019: 81).

3. Hacking the System: Der Gefängnisdialog »How is it possible for men to be together? To live together, to share their time, their meals, their room, their leisure, their grief, their knowledge, their confidences? What is it to be ›naked‹ among men, outside of institutional relations, family, profession, and obligatory camaraderie? It’s a desire, an uneasiness, a desire-in-uneasiness that exists among a lot of people… They have to invent, from A to Z, a relationship that is still formless, which is friendship: that is to say, the sum of everything through which they can give each other pleasure.«11 Cheangs Installation besteht aus zehn einzelnen Erzählungen, die miteinander verbunden werden. Der junge Foucault X wird einer Transformation unterzogen. Seine Haare werden vor laufender Kamera abrasiert, so verwandelt er sich in den ikonischen, public intellectual, wie wir ihn alle kennen. (vgl. Preciado 2019: 80) In dieser Form tritt er nun auch seinem Widersacher (?) bzw. 9

10 11

Beispielsweise die Kampagne Den Kopf Frei Haben von Necla Kelek und der liberal-feministischen Organisation Terre des Femmes gegen das sog. »Kinderkopftuch«, oder »Mädchenkopftuch« – anlehnend an Alice Weidels (AfD) rassistischen Begriff »Kopftuchmädchen«; oder die Vertretung des Berliner Senats durch die Anwältin Seyran Ates im Streit um das Kopftuchverbot im Lehramt. Siehe Liliane Kandel, Un foulard qui suscite d’étranges cécités, Le Monde, 08.07.2003 Michel Foucault: Friendship as a Way of Life, Interview 1981.

Saboura Naqshband: Under Surveillance

Gesprächspartner (man weiß es nicht genau), dem Charakter des R X, in dessen Isolationszelle mit dem Umfang von 3x6x6 Metern, ausgestattet mit 6 Sicherheitskameras in jeder Ecke der Zelle, gegenüber.

Stills from R X, 10:00, 4K Video, from the film series for installation 3x3x6.12

Im Originalskript des Dialogs zwischen Foucault und Ramadan, welches Cheang und Preciado mir zugesandt hatten, hatte der Charakter R X ursprünglich einen anderen Text. In ihm fanden sich Exzerpte des echten Interviews mit Tariq Ramadan, seine Ansichten zu Geschlecht und (Homo-)Sexualität; sogar zu Gewalt. Er verglich darin die persönliche Veranlagung zur Homosexualität mit der Veranlagung zur Gewalt, die eine Art göttliche Prüfung des Glaubens darstelle. Homosexualität ist seiner Ansicht nach etwas, was in der islamischen Auslegung der religiösen Quellen verboten sei. Wie viele muslimische Stimmen aus dem Mainstream, argumentiert auch er, dass Homosexualität zwar verboten sei, man jedoch diejenigen Menschen, die homosexuell sind nicht diskriminieren dürfe, sondern »als Person« respektieren solle. Somit verbannt er die sexuelle Identität der betroffenen Personen in die Privatsphäre. Ein altes Argument, welches sowohl verhindert sich mit der Tabuisierung nicht-normativer Sexualität, die als deviant charakterisiert wird, zu befassen, als auch diese als Politikum zu begreifen. Durchaus folgerichtig, wenn es darum geht, eine heteronormative Ordnung aufrechtzuerhalten. Ihm gegenüber steht Michel Foucault, mit seinen Ausführungen zu Friendship as a Way of Life aus einem Interview mit dem französischen Magazin Gai Pied (1981, 1997), sowie einem verlorenen Interview von 1981 mit 12

Image courtesy of the artist, Shu Lea Cheang. Taiwan in Venice Biennale 2019.

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Die Kunst zu Intervenieren

dem schwedischen Philosophen Fons Elders. Die philosophische Breite und argumentative Stärke der Aussagen des Historikers der Sexualität werden den homophoben Statements von Ramadan plump gegenübergestellt. Nachdem ich den Text mit einigen queeren, muslimischen Freund:innen diskutiert hatte, unterbreitete ich Shu Lea den Vorschlag die Intention des Textes in eine völlig andere Richtung zu verschieben. Nach einem kurzen persönlichen Treffen bestätigte sie, dass mein Vorschlag Ramadans Worte auszutauschen eine großartige Intervention in den Eurozentrismus des Textes wäre, der sonst Gefahr liefe das Bild des Muslims of Color als zwangläufig und fortwährend ›homophob‹ zu zementieren. Um dieser rassifizierenden Darstellung entgegenzuwirken, wurde der Dialog in seiner schlussendlich verwendeten Form geboren. In diesem werden der große Historiker der Sexualität mit den Pionier:innen (post-)modernen, muslimisch-feministischen Denkens des 21. Jahrhunderts in Konversation gebracht: der Schwarzen, islamisch-feministischen Theologin Dr. Amina Wadud, sowie dem pakistanisch-südafrikanischen, schwulen Imam Muhsin Hendricks. Im Folgenden möchte ich einige Auszüge aus diesem Dialog präsentieren.

Saboura Naqshband: Under Surveillance

4.1 Authentizität (von Beziehungen) und Queere Sozialität Still from R X, 10:00, 4K Video, from the film series for installation 3x3x6.13

RX I [...] examine classical Islamic sources on the topic of sexual diversity and human dignity – not only what was said in the classical period of Islamic thought but also the implications of those statements. I believe that certain things are outdated and we need to figure out how to address them succinctly and not to defer to past – even intellectual – engagements as if the matter is closed. [A.W.]14

13 14

Image courtesy of the artist, Shu Lea Cheang. Taiwan in Venice Biennale 2019. Interview mit Dr. Amina Wadud, USA/Malaysien, siehe: https://voiceofsalam.com/20 18/04/01/gender-sexuality-and-identity-an-interview-with-islamic-feminist-dr-amin a-wadud/

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FOUCAULT X Perhaps it would be better to ask oneself, »›What relations, through homosexuality, can be established, invented, multiplied, and modulated?« The problem is not to discover in oneself the truth of one’s sex, but, rather, to use one’s sexuality henceforth to arrive at a multiplicity of relationships. And, no doubt, that’s the real reason why homosexuality is not a form of desire but something desirable. [M.F.] Im ersten Teil beginnt R X zu beschreiben, wie islamische Textquellen in einer Art und Weise interpretiert werden können, die sexuelle Diversität und »menschliche Würde« miteinschließen können. Gemeinhin wird angenommen, dass religiöse Weltanschauungen, insbesondere die der abrahamitischen Religionen des Christentums, des Islam und des Judentums grundsätzlich homofeindlich seien. Betrachtet man jedoch beispielsweise die orientalistischen Darstellungen der nicht-westlichen Welt bis ins 20. Jahrhundert, wurden v.a. Männer aus nahöstlichen, muslimischen Kulturen als ultrafeminisiert und oft homoerotisch und lüstern dargestellt. Dieses überzogene Bild korrespondierte insofern mit der Realität als dass zumindest in der islamischen Blütezeit und im osmanischen Reich, homosexuelle Praktiken und Transsexualität durchaus ein bekannter Teil dieser Gesellschaften war (Klauda 2018). Thomas Bauer (2011) spricht in diesen Zusammenhängen sogar von einer »Kultur der Ambiguitätstoleranz« im Islam, deren zeitgenössische Hinwendung nicht nur für islamische Kontexte fruchtbar wäre. Foucault (X) wiederum postuliert die Prämisse jeder queeren Art von Sozialität, indem er nach dem Sinn und der Funktion homosexueller Beziehung und Sexualität in der Gesellschaft als solche fragt. Für ihn liegt das Potenzial einer nicht-heteronormativen Beziehung gerade darin, dass es sich dabei nicht nur um ein einfaches körperliches Begehren handelt, sondern um ein Begehren für eine neue Form des In-Beziehung-Seins in und mit der Welt, also des Seins mit der Gesellschaft und in (gegenseitig, füreinander) sorgender Gemeinschaft. R X und F X eröffnen in diesem Dialog die Möglichkeit Anderssein in Form weltanschaulicher, religiöser oder sexueller Vielfalt, in Relation zur historischen Situiertheit von sozialen Beziehungen, neu zu denken und zu erweitern.

Saboura Naqshband: Under Surveillance

4.2 Neue Allianzen formen und Diversität als etwas Vereinendes begreifen FOUCAULT X There you have a kind of neat image of homosexuality without any possibility of generating unease, and for two reasons: it responds to a reassuring canon of beauty, and it cancels everything that can be troubling in affection, tenderness, friendship, fidelity, camaraderie, and companionship, things that our rather sanitized society can’t allow a place for without fearing the formation of new alliances and the tying together of unforeseen lines of force. I think that’s what makes homosexuality »disturbing«: the homosexual mode of life, much more than the sexual act itself. [M.F.] RX It is an Islamic belief that the trajectory towards unravelling matters is a universal process through which truth authenticates itself over falsehood. Those who perceive themselves to be the custodians of the truth would attempt to justify and defend their position as if it were the only truth, until such a time when new information is presented to them, compelling them to change their stance………. Language, culture, race and ethnicity were the obvious elements of diversity by which seventh century Arabs were challenged. However, modern global diversity is evidently more extensive. Diversity is therefore a divinely intended phenomenon that challenges humanity to pursue a unifying trajectory. [M.H.]15 Foucault spinnt diese Idee weiter indem er darlegt, was das Nicht-KonformSein von Homosexuellen in der Gesellschaft so »störend« mache: es sei nicht der homosexuelle Akt an sich, sondern eher die nichtkonforme Lebensweise. Eine Homosexualität, die Beziehungen auf der Grundlage von Freundschaft und gemeinsam-in-der-Welt-Seins, also geteilten Affekten, Materialitäten und Zurückweisungen begründet, ist eine, die alles in Frage stellt: Zuneigung, Zärtlichkeit, Freundschaft, Treue, Kameradschaft und Gefährtenschaft. Die Kraft, die solch »neue Allianzen« in sich bergen, haben sich nicht nur während der AIDS-Krise der 80er und 90er Jahre bewiesen. Solch queere Allianzen 15

Muhsin Hendricks, Islamic Texts: »A Source for Acceptance of Queer Individuals into Mainstream Muslim Society«, in: The Equal Rights Review 5 (2010) [M.H.]

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entblößen ihr politisches Potenzial in verschiedenste Richtungen und können auch heute noch die »sanitäre Gesellschaft« durch- und wachrütteln, da sie andere Formen von Intimität, Bewegung und Gemeinschaft verlangen als von kapitalistisch-puritanistischen und heteronormativen Produktionslogiken vorgegeben. R X wiederum weist darauf hin, welche Rolle die Diversität im Prozess der universellen Wahrheitsfindung aus islamischer Sicht beinhaltet. Unter Bezug auf queer-muslimische Interpretationen des koranischen Textes durch den Islamwissenschaftler Scott Kugle (Siraj el-Haqq), beschreibt der schwule Geistliche und Begründer der ersten inklusiven Moschee der Welt in Südafrika, Muhsin Hendricks, wie die globale Vielfalt von Sprachen, Kulturen und Ethnizitäten ein natürliches Zeichen göttlicher Intention ist, die – einen Schritt weitergedacht – schlussendlich auch Raum für sexuelle Diversität umschließe. Queere Allianzen und die Anerkennung multipler, weniger begrenzter Formen von Diversität können also helfen eine andere Gesellschaft zu imaginieren. Eine Gesellschaft, in der solch neue Beziehungsgeflechte als unhinterfragter Teil einer Neu(An-)Ordnung von Zugehörigkeit, Vertrauen und gegenseitiger Sorge begriffen werden können.

4.3 (Islamischer) Feminismus, Religion und Kolonialismus RX The majority interpretations of feminism are part of the problem of the relationship between Islamic nation states and their colonial masters from another era who still call the right to determine what is the best way for previously colonised people to progress in development. They hold the monopoly over that. The way in which they address the issues pretends the best solution for everyone: to leave Islam and all of its manifestations because they have marked Islam as the problem. …. Islamic feminism has a very specific methodology and that methodology involves taking full agency with regard to how key terms will be applied in our circumstances and how they will be adjudicated in our laws. [A.W.]

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FOUCAULT X I wondered, if at all, we Westerners were deceiving ourselves greatly. We readily imagine that we are a very tolerant society – that we have welcomed all the forms of the past, all the cultural forms foreign to us, that we welcome also behavior, language, and sexual deviations etc. I wonder if this is an illusion…in other words, in order to know madness it has to first be excluded. Maybe we could also say that in order to know other cultures…we must no doubt have had not only to marginalize them, not only look down upon them, but also to exploit them, to conquer them and in some ways through violence to keep them silent. [M.F.] RX The biggest challenge I face personally in doing this work is the lack of critical engagement with some of the vast diversity of interpretations which have always been a part of our tradition. They get swept under the rug today because everything gets summarised into a simple formula of anti- imperialism under the name of Islam. Believing communities are notoriously emotionally attached to what they consider to be their religion and are not always thinking critically. I find there was a singular expectation that somehow all critical thinking belongs to men and politics – that women are not capable of doing it, let alone engaging in it! I really do feel like that’s the biggest problem. [A.W.] FOUCAULT X We have silenced madness and we have known it, we have silenced foreign cultures and we have known them. And perhaps also we can say that it was necessary to wait for the great puritanism of the 19th century to silence sexuality and to know it in the end in psychoanalysis, or in psychology or psychopathology. My hypothesis is this: the universality of our knowledge has been acquired at the cost of exclusion, of prohibition, of refusal, of rejection, at the price of a kind of cruelty with regard to all reality. [M.F.] In diesem Abschnitt des Dialogs gehen R X und Foucault X auf einen wichtigen Punkt ein, nämlich die (intime) Beziehung zwischen weißen, westlichen Feminismen und ihrer (neo-)kolonialen Deutungsmacht. Gerade die Markierung des Islams als ›rückständig‹, worauf Wadud hier hinweist, ist nicht hilfreich, um Handlungsraum für progressive Interpretationen der religiösen Quellen bzw. die Fähigkeit zur Selbstbestimmung innerhalb des religiös geprägten diskursiv-legalen Rahmens muslimischer Gemeinschaften zu schaffen.

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Im gleichen Zug wendet sich auch Wadud (selbst-)kritisch an die eigene Community. Die muslimische Gemeinschaft, ummah, sei auf notorische Weise auf die anti-imperialistische Verteidigung der Religion fixiert; eine Reaktion, die es wiederum unmöglich mache Männern (diskursiv) das Feld streitig zu machen. Gleichzeitig bestätigt Foucault, dass westliche Kulturen die Anderen, die Frauen, die Verrückten, die Queeren, die ›Asozialen‹ und (ehemalig) Kolonisierten mit Grausamkeit zum Schweigen gebracht und durch unentwegte Ausgrenzung unterworfen haben. Ähnlich wie Frauen die Vormachtstellung der Männer bekämpfen, müssen Rassifizierte sich von den Folgen der kolonialen Unterdrückung befreien. In den Worten Fanons erfolgt die Dekolonisierung des Geistes nur durch die Bewusstwerdung und Loslösung von den kolonialen Disfigurationen: »Er [der Kolonialismus, SN] gibt sich nicht damit zufrieden, das Volk in Ketten zu legen, jede Form und jeden Inhalt aus dem Gehirn des Kolonisierten zu vertreiben. Er kehrt die Logik gleichsam um und richtet sein Interesse auch auf die Vergangenheit des unterdrückten Volkes, um sie zu verzerren, zu entstellen und auszulöschen« (Fanon 1981: 178).

4.4 Kritik und Hoffnung RX I’m actually hoping to be a part of the conversation of lifting the tendency towards taboo in Islam and Islamic thought because I think that there is so much richness in this tradition and in the cultural historical experiences of Muslims that simply doesn’t come to the front when we are always feeling like we’re under siege. Islamophobia is very real and it is a threat but that is not the only thing that’s going on and how to move beyond it, critique it, engage with and challenge it without making ourselves subject only to how easily we might be able to justify, explain or apologise for Islam in the context where it is not the same as another worldview or system of practice. [A.W.] Zum Abschluss bekräftigt R X, dass er nun Teil einer Bewegung sein möchte, die mit dominanten Tabus bricht. Kritikfähigkeit und ein Herauskommen aus der Opferrolle sind hier wichtige Impulse, um nicht ständig von inhärenten Machtverhältnissen subjektiviert zu werden (vgl. auch Castro Varela/Hamzei 1996).

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Waduds Arbeit ist für ihr Heranziehen von Ijtihad (Interpretation) und anderen klassischen Methoden der Textinterpretation in einer geschlechtergerechten Art, bekannt. Foucaults philosophische Ergüsse erinnern uns daran, dass Verbindungen außerhalb der heterosexuellen Matrix die Gesellschaft in unbeabsichtigtem Maße beunruhigen: Indem sie uns lehren zu ›lieben‹, und die individualistische Fixierung zu überwinden.

5.

Fazit

© Hervé Guibert, »L’ami«, 1980.

Die Freundschaft zwischen Tariq Ramadan und Michel Foucault, die in diesem transhistorischen, fiktiven Raum ermöglicht wird, könnte man im Sinne von Thomas Roach (2012) als estranged friendship bezeichnen. Eine sich gegenseitig begehrende Freundschaft, die mehr von intellektuell-kreativen als physischen Interessen getragen ist, und durch das Element des notwendigen gegenseitigen »Betrugs« zu einer »entfremdeten Freundschaft« führt: »[...] [B]etrayal if nothing else works to prevent a dialectical fusion: As an antiintersubjective practice, it refuses to assimilate self to other, other to self; by

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cutting a transverse line through the friend–enemy opposition, it complicates binary logic and provokes a productive tension between friends. In short, betrayal demands a rethinking of the traditional ethical terms of friendship« (Roach 2012: 7). Es war eine solche Freundschaft, die Foucault in Realität mit Hervé Guibert – dem Photograph hinter »L’ami« – unterhielt. In gewisser Weise fühle auch ich mich in einem Verhältnis »betrügerischer« Freundschaft mit Tariq Ramadan, dessen ursprüngliche Worte ich durch meine Textinterventionen subvertiere. Einst geistiger Mentor von jungen Muslim:innen, wie mir selbst, in Europa, lege ich ihm die von mir gewünschten, »progressiven« Worte nun in den Mund: befremdlich, entfremdend und freundschaftlich, fast geschwisterlich, zugleich. Der performative Dialog, das fiktive Zusammenkommen von Foucault und Ramadan, überbrückt das Freund/Feind-Schema orientalistischer und rassifizierender Diskurse und ermöglicht eine neue (anders erotische?) Beziehung zwischen diesen beiden Intellektuellen, die als solche in der realen Welt kaum denkbar und auch nicht benennbar wäre. Der Text erschafft somit eine neue, dekolonisierende Erzählung zu ›Rasse‹, Religion und Sexualität. In einem interessanten Twist der Geschichte könnte man sagen, dass der Performance beides gelingt: Wir sind gleichsam zurückversetzt in ein homofreundliches Serail (Klauda 2018), während die im Dialog entworfenen Themen eine Kultur der Ambiguität (Bauer 2011) inszenieren. Wir werden sehen: Ambiguitäten aushalten zu können ist letztlich nämlich genau der Sinn und Zweck einer ästhetischen Bildung nach Spivak (2012). So gelingt der dekolonisierende Clou, indem der heteronormative, muslimischen Diskurs zu Religion und sexueller Identität durch den Einschub progressiver Lesarten verschoben wird, und schlussendlich zu einer »polymorph perversen« Beziehung – á la Freud – des Lebens, Liebens und gemeinsamen Agierens ermutigt, die bedrohend für die bestehende Ordnung bzw. Institutionen ist. So entstünden, in den Worten von Angela Davis »ethische Solidaritäten« (Vater 2014) und könnten »ethische Reflexe« im Sinne Spivaks geformt werden. Auch wenn liberale oder progressive Interpretationen des Islams weit davon entfernt sind ein Teil des Mainstreams zu sein, birgt diese fiktive Erzählung die Kraft neue Handlungsräume zu denken, denn in der Imagination verbirgt sich der Impuls zur Veränderung. Durch die Intervention in den Text wurde die übliche Vorstellung des muslimischen ›Anderen‹ als der immergleiche Homophob zumindest temporär durchbrochen. Der Reproduktion entzogen. Die Realität des Falls R X zeigt jedoch auch, dass Wahrheiten nie einfach benannt werden können, und es schlichtweg keine leichten Auswege oder ein-

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deutigen Antworten gibt. Es bleibt zu hoffen, dass sich das Begehren nach alternativen Antwortmöglichkeiten und bisher unentdeckten Strategien des ästhetischen – und somit auch politischen und ethischen – Erfahrens und Handelns, fortwährend neu entfacht.

»›It is for the courts to decide,‹ she said. ›Eventually, if French justice says he is guilty, those people may regret their support.‹« 16

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Henda Ayari. Interview by Diane Greenberg. »Tariq Ramadan accuser says academic must ›recognise the truth‹«. The National. URL https://www.thenational.ae/world/eu rope/tariq-ramadan-accuser-says-academic-must-recognise-the-truth-1.745139

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III. Institutionen und kritische Kunstvermittlung

Dismantling the Canon Moderne Kunstmuseen und koloniale Vergangenheit Tasnim Baghdadi

In Museen für Moderne Kunst im deutschsprachigen Raum nimmt der Kanon der westlichen Moderne des 20. Jahrhunderts auch heute eine wichtige Rolle ein und bestimmt vielerorts das Auftreten der Institutionen nach innen und außen. Der Kanon spiegelt sich in der theoretischen Rahmung, institutionellen Ausrichtung und Ausstellungskonzeption. Museen für Moderne Kunst werden heute immer noch zu selten auf ihre Verbindungen zu kolonialer Vergangenheit hin untersucht (Binter 2017: 8). Anders als bei ethnografischen und kulturhistorischen Museen, deren Geschichtsaufarbeitung in Teilen bereits eingesetzt hat (Kravagna 2015: 1), stehen Museen für Moderne Kunst am Anfang der Auseinandersetzung mit ihrem kolonialen Erbe. Die Dekonstruktion von Narrativen und Stereotypen im Hinblick auf die Produktion von Bildern über »Andere« bzw. »Fremde«, insbesondere bezogen auf die kuratorische Praxis, sollte mit dem Ziel einer perspektivischen Öffnung und Implementierung einer (selbst-)kritischen Haltung stattfinden. Mit dem Begriff der Kanonisierung werden unterschiedliche Prozesse beschrieben, in denen spezifische Aspekte von Kultur und kulturellen Erzeugnissen als exemplarisch und überzeitlich festgelegt werden. Die in den Kanon aufgenommenen Charakteristika werden aus ihrem Kontext und Zeitgefüge herausgehoben, um für eine vermeintlich universelle narrative Erinnerung geltend gemacht zu werden (Langfeld 2018: 1). Die stetige lineare Erweiterung dieses Verständnisses galt lange Zeit als Kernaufgabe kunsthistorischer Forschung. Die Reflexion über Ausschlussmechanismen durch eine hegemoniale Kanonproduktion findet vergleichsweise wenig Beachtung. Ein Grund dafür scheint die Annahme zu sein, dass spätestens seit den Bemühungen global ausgerichteter Ausstellungen und Biennalen, beginnend in den 1990er Jahren, die dominierende eurozentrische Ausrichtung von Kunst aufgebrochen und somit eine Kanonisierung von selbst aufgehoben worden sei. Zumin-

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dest bezüglich global agierender Künstler:innen und den künstlerischen Produktionen innerhalb der zeitgenössischen Kunst kann dies zu großen Teilen bestätigt werden. Und dennoch: Dass ein westlich hegemonialer Kanon nach wie vor global wirkmächtig ist und zum Teil neue Festschreibungen von kolonialen Blickregimen für einen global agierenden Markt formuliert werden, bleibt mehrheitlich ausgeblendet. Auch bleibt das Selbstverständnis europäischer und nordatlantischer Museen und Kunstinstitutionen, die die postulierte Universalität des westlichen modernen Kanons der Kunst nicht herauszufordern wagen, in der gesellschaftlichen Diskussion um Aufgabe und Wirkung moderner Kunstmuseen weitgehend unbeachtet (Araeen 2003: 344).

Museen im Wandel, Kanon als Kontinuität Die Funktion von Museen besteht seit ihrer Etablierung im 18. Jahrhundert vorwiegend darin, als eine Art »Identitätsfabrik« (Sternfeld 2009: 30) für die Gesellschaft zu agieren. Mit Hilfe von vorwiegend binären Narrativen wurden und werden in Museen Bilder des »Fremden« präsentiert. Es handelt sich hierbei um eine Form »epistemischer Gewalt« (Spivak 1988: 70), in der die Produktion des »Anderen« für die Konstruktion einer kollektiven Identität der National-, späterhin Mehrheitsgesellschaft genutzt wird. Dafür privilegieren Museen bestimmtes Wissen und positionieren dieses an einer prominenten Position. Die Konstruktion dieser Form von Erzählung geht unmittelbar mit der Tilgung von Wissensarten der »Anderen« einher. Michel Foucault (1978: 44) bezeichnet diese Form der Wissensproduktion der »Anderen« zurecht »unterworfene Wissensarten«. Mit der Gründung erster moderner Kunstmuseen, wie dem Museum of Modern Art in New York im Jahr 1929, sowie während und nach dem Zweiten Weltkrieg, diente der Kanon als neues identitätsstiftendes Mittel für hegemoniale Vorstellungen von Freiheit und Individualismus in der westlichen Moderne. In diesem Zusammenhang nimmt insbesondere der Expressionismus für die darauffolgenden Entwicklungen eine prägende Rolle ein. Der vom Nationalsozialismus als »entartet« diffamierte Expressionismus sollte den Museen in den USA und Europa nach 1945 als Projektionsfläche für den politischen Sieg über die faschistische Ideologie dienen. Aufkommende Kunstströmungen der darauffolgenden Jahrzehnte, beispielsweise der abstrakte Expressionismus der New York School in den 1940er und 1950er Jahren, wurden unter anderem in ihrer Entstehung maßgeblich durch die Kanonisierung des Expres-

Tasnim Baghdadi: Dismantling the Canon

sionismus und eines darauf aufbauenden abstrakten Formalismus begünstigt. Die Abstraktion ist seither zum ästhetischen Ideal stilisiert und wird als Gegenmodell zum sozialen Realismus, dem eine Komplizenschaft zum Faschismus und seit dem Aufkommen des Kalten Krieges ebenso zum Kommunismus nachgesagt wird, verstanden (Belting 2005: 5). Im Rahmen des Ausbaus von Museumslandschaften kamen ab den 1950er Jahren vermehrt Ausstellungen und Sammlungserweiterungen hinzu, die diese neue Ausrichtung der Kunst stabilisierten. Neben Vertreter:innen der klassischen Moderne finden sich hier avantgardistische Strömungen der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, wie beispielsweise der Kubismus, der Dadaismus und der Surrealismus, die als Vorläufer und Triebkraft hin zum abstrakten Ideal verstanden wurden. Die kolonialen Verstrickungen von künstlerischen Vorläufern, insbesondere der Kunst der klassischen Moderne, blieben in dieser Phase durchweg unbeachtet. Spätestens seit intensivere Forschungen zu Künstlern wie Emil Nolde und seine ideologischen Verbindungen zur faschistischen Rassenideologie des Nationalsozialismus, sowie der allgemein bekannten Problematik der gewaltsamen Aneignung außereuropäischer Kunstobjekte und Ästhetiken zur Kolonialzeit für die Konstruktion des europäischen »Primitivismus« (Lloyd 1991: 91), müsste klar geworden sein, dass die binären Erzählungen der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts deutliche Lücken hinterlassen haben. Kurzum: Kunstmuseen haben einen großen Anteil an der Tilgung pluraler Perspektiven und Wissensformen (Binter 2017: 90).

Versuche und Scheitern von Konzepten der Multi-Perspektivität Seit den 1970er Jahren existieren innerhalb der postkolonialen und feministischen Forschung Bemühungen, die fortgeschriebenen Ausschlussmechanismen über die Etablierung und Stabilisierung eines Kanons der westlichen Moderne zu unterbrechen und einen Pluralismus der Wissensarten einzufordern. Eine der sich daraus ergebenden Forderungen bzw. Strategien besteht darin, den Kanon mit marginalisierten künstlerischen Positionen zu erweitern, sowie westliche Museen zu provinzialisieren (Chakrabarty 2008: 4), sprich ihnen ihren universellen Anspruch in der Produktion von Diskursen über Kunst, sowie die Deutungshoheit über die Kunst der »Anderen«, zu entziehen. Die damit verbundene Erwartungshaltung, das globale Machtverhältnis sowie eurozentrische Ausstellungspraktiken herauszufordern,

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kann aus heutiger Sicht allerdings nur sporadisch für den musealen Kontext als gelungen beurteilt werden. Insbesondere Museen, die die Kunst des 20. Jahrhunderts repräsentieren, zeigen, dass ihre Sammlungen oftmals in Zusammenhang mit Aneignung durch koloniale Politik stehen und nur wenig Bemühungen existieren, den Kanon der westlichen Moderne kritisch und konsequent im Hinblick auf ihr einseitiges Kontextwissen und ihre blinden Flecken aufzuarbeiten. Kulturelle Kolonialität1 wird nämlich sowohl in den Ausstellungsobjekten als auch der Art der kuratorischen Praxis sichtbar. Trotz den Bemühungen der sogenannten Global Art History, die seit den 1990er Jahren einer Öffnung der Geschichtsschreibung hin zu einem transnationalen Ansatz verfolgt, besteht nach wie vor eine Dichotomie in der Rezeption von westlicher und nichtwestlicher Kunst, die sich bisweilen durch die Dominanz nordatlantischer Kunstlandschaften auf dem globalen Kunstmarkt zeigt (Kravagna 2015: 1). Einen wichtigen Beitrag für das Hinterfragen von eurozentrischer Universalität und einer Neuordnung von Künsten des Globalen Südens, die von diesem ausgeschlossen werden, leisteten im Jahr 2008 eine Reihe von Wissenschaftler:innen und Künstler:innen an der Anden Universität in Quito, als sie die sogenannten Decolonial Aesthetics begründeten. Im Zentrum der Überlegungen findet sich das transformative Potenzial partikularer Lebenserfahrungen marginalisierter Künstler:innen und kultureller Akteur:innen. Diese verfolgten einen Ansatz, den man als radikalen Subjektivismus bezeichnen kann. Ziel ist es, durch den unmittelbaren künstlerischen Ausdruck der spezifischen Lebensrealitäten aufzuzeigen, dass die eurozentrisch begründete Universalität auf keiner tragbaren Grundlage basiert (Schlenker 2012). Walter Mignolo (2007: 453) bezeichnet diesen Prozess, nach dem ägyptischen Soziologen Samir Amin, als epistemisches »De-linking« oder auch »Ausklinken«. Er betont die Wichtigkeit des künstlerischen »Ausklinkens« aus Diskursen, die einen Eurozentrismus bedienen und die Position der »Anderen« als untergeordnet markieren. Die Beschäftigung mit den Verstrickungen Moderner Kunst mit kolonialer Vergangenheit findet nur selten einen produktiven Weg aus der akademischen

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Der Soziologe Aníbal Quijano (2000: 553) führte in den 1990er Jahren das Konzept der »Kolonialität der Macht« ein, welches die Beständigkeit von kolonialen Verhältnissen auf sozialer, kultureller und epistemologischer Ebene nach Ende der politischen Herrschaft beschreibt.

Tasnim Baghdadi: Dismantling the Canon

Forschung in die institutionelle Organisation von Ausstellungen. Selbst in Fällen, in denen eine Thematisierung stattfindet, bleibt außereuropäische Kunst oftmals ein:e passive:r Akteur:in für die Konfiguration von westlicher Moderne (Leeb 2013: 7). Es fallen zudem immer wieder Schlagwörter auf, die eher zu einer Verfestigung von bereits vorgefassten Bildern von Fremdheit und der Reproduktion der »Anderen« beisteuern, als diese aufzuheben. In den einerseits von struktureller Exklusion und andererseits von Ansprüchen der multikulturellen Gesellschaft nach Inklusion geprägten europäischen Gesellschaften, bleiben rassifizierte Künstler:innen innerhalb einer Logik von kulturellen Differenzen und Opferdiskursen verhaftet. Diese Abhängigkeit geht aus einem Bedürfnis des liberal-humanistischen Verständnis von westlicher Moderne nach Rückbestätigung durch marginalisierte Stimmen hervor (Araeen 2002: 335). Darüber hinaus herrscht eine Praxis der Gegenüberstellung von Objekten aus außereuropäischen Kontexten mit dem Kanon der westlichen Moderne, die keineswegs zur Auflösung von etablierten Dualismen beitragen kann. Fast berechenbar werden dadurch die Bilder des »Fremden« aufrechterhalten und Hierarchisierungen unter Berufung auf formalistisch künstlerische Qualitäten, die sich aus eben demselben Kanon ableiten, festgeschrieben. So werden Skulpturen aus afrikanischen und ozeanischen Ländern auch heute noch in ihrer Rolle als Inspirations- und Projektionsfläche für die Entwicklung avantgardistischer Kunstströmungen der europäischen Kunst des 20. Jahrhundert hin beleuchtet und mit der genannten Methodik ins Licht gesetzt (Severi 2017: 170), anstatt sie in ihrer künstlerischen wie kulturellen Einzigartigkeit ins Zentrum zu stellen. Die Rolle des außereuropäischen Ornaments für die Entwicklung westlicher Abstraktionen wird vermehrt mit Hilfe von kulturessentialistischen Klassifizierungen betrieben und die Kollektivierung von Ästhetiken aus »Asien« oder dem »Orient« wird einer universellen europäischen Moderne gegenübergestellt (Brüderlin 2001: 169). Heute ist die kunsthistorische Aufarbeitung dieser Verstrickungen von zentraler Bedeutung, um festgeschriebene Rezeptionen aufzubrechen und auf die vorherrschenden Missstände und Wissenslücken hinzuweisen. Insbesondere in der Ausstellungsarbeit und der kulturellen Bildung sollte für alle Akteur:innen die daraus resultierende inhaltliche und strukturelle Exklusion und Marginalisierung von kulturellen Perspektiven zum Thema werden (Langfeld 2018: 8). Ästhetische Fragen betreffen nicht zuletzt ebenso hegemoniale Zugänge und Deutungshoheiten von Kultur und sollten nicht davon isoliert werden.

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Innerhalb der kunsthistorischen Forschung der letzten zehn Jahre bekommt die kolonialkritische Aufarbeitung der Moderne daher zunehmend Aufmerksamkeit. In diesem Zusammenhang sollen trans- und interdisziplinäre Forschungsprojekte wie das von 2006 bis 2016 von Hans Belting und Peter Weibel am Zentrum für Kunst und Medien Karlsruhe ins Leben gerufene Global Art and the Museum, das 2016 vom Haus der Kulturen der Welt in Berlin initiierte Kanon-Fragen oder die 2018 im Rahmen der Vienna Art am mumok organisierte Konferenz The Routes of Modernism nicht unerwähnt bleiben. Wünschenswert wäre eine Implementierung der daraus gewonnen Erkenntnisse für die Ausrichtung institutioneller Ausstellungen in Kunstmuseen für Moderne Kunst. Im Rahmen der Konferenz Global Museum: Where Do We Go From Here?, welche vom 30. September bis zum 1. Oktober 2019 im Hamburger Bahnhof in Berlin stattfand, wurden aktuelle Fragen zur globalen Ausrichtung von Museen diskutiert, die Anregung für einen möglichen Wandel auch im deutschsprachigen Kontext darstellen könnten. Es bleibt abzuwarten, inwiefern die daraus gewonnenen Erkenntnisse und Ansätze in den kommenden Jahren zur Reflexion und Transformation von deutschsprachigen Museen führen werden. Bedeutende Museen im englischsprachigen Raum, wie das kürzlich mit einer globalen Ausrichtung neu eröffnete Museum of Modern Art in New York, das Tate Modern in London sowie das Whitney Museum in New York haben diese Transformation und den daraus resultierenden Paradigmenwechsel in der Ausstellungs- und Sammlungsarbeit hin zu einer globalen Öffnung des Kunstkanons bereits in ersten Schritten eingeleitet. Am Münchner Haus der Kunst hat kürzlich eine erste maßgebliche Beschäftigung mit Fragen der globalen Moderne in der Kunst ab der Nachkriegszeit des 20. Jahrhunderts stattgefunden. Die epochal bedeutende Ausstellung Postwar: Kunst zwischen Pazifik und Atlantik, 1945–1965, welche unter Anderem von Okwui Enwezor kuratiert wurde und vom 14.10.2016 bis 26.03.2017 insgesamt 218 Künstler:innen aus 65 Ländern zeigte, kann als wegweisendes Projekt verstanden werden, welches sich auf die Ausrichtung von Kunstmuseen sowie den Entwicklungen innerhalb von Ausstellungsarbeit im deutschsprachigen Raum zugunsten einer globalen Öffnung im Verständnis der künstlerischen Moderne auswirken könnte. Ebenso ist das Ausstellungsprojekt Gruppendynamik – der Blaue Reiter und Kollektive der Moderne (kursiv) im Münchner Lenbachhaus, welches 2021 im Kontext des Programms Museum Global. Sammlungen des 20 Jahrhunderts in globaler Perspektive der Kulturstiftung des Bundes lanciert wurde, als gutes Beispiel für die Verschränkung von dekolonialen Fragen und Ansätzen mit der eigenen Sammlung zu nennen. Neben der umfassenden Prä-

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sentation von globaler kollektiver Kunstpraxis im 20. Jahrhunderts, ergänzte ein interventionistisches Vermittlungsprogramm in Zusammenarbeit mit lokalen Communities das Programm.

Konzeptionen von Globalität: Drei Beispiele Im Folgenden wird am Beispiel von drei Ausstellungen an drei Kunstmuseen mit Schwerpunkt Moderne, zwei aus dem deutschsprachigen und eine aus dem englischsprachigen Raum, aufgezeigt, welche Umgangsformen mit Kanon- und Wissensproduktionen sich aus der kuratorischen Praxis ableiten können, um koloniale Vergangenheit im Zusammenhang mit Formationen von Moderne und ihrem jeweiligen Verständnis entweder unhinterfragt zu lassen, zu thematisieren oder als Fragestellung ins Zentrum zu setzen. Alle drei Ausstellungen begegnen der Kunst der Moderne und ihrem Verhältnis zum sogenannten »Primitivismus« in der Modernen Kunst mit unterschiedlichen Haltungen und Herangehensweisen und teilweise aus verschiedenen Perspektiven. Die jeweiligen Konzeptionen produzieren Haltungen, die nachfolgend Teil einer eingehenden Betrachtung von hauptsächlich hierfür herausgegebenen Publikationen, wie Katalogen, Saaltexten, Artikeln und dem offiziellen Internetauftritt werden:

Stabilisierende Umkehrungen Das Ziel der vom 25. Januar bis zum 28. Juni 2009 an der Fondation Beyeler in Riehen/Basel gezeigten Ausstellung Bildwelten – Afrika, Ozeanien und die Moderne bestand darin, eine einmalige Umkehrung in der Gegenüberstellung von afrikanischen und ozeanischen Exponaten mit den Werken der westlichen Moderne zu versuchen. Auf der einen Seite standen Vertreter:innen der klassischen Moderne aus der Sammlung Beyeler, auf der anderen Seite Exponate, die für die Kunst Afrikas und Ozeaniens standen. Im Saalheft zur Ausstellung heißt es dazu: »In der Ausstellung entsteht ein spannender Dialog, der den unverwechselbaren Beitrag Afrikas und Ozeaniens zur Weltgeschichte der Kunst erlebbar werden lässt. Es geht daher nicht um die Frage nach möglichen Einflüssen der ozeanischen und afrikanischen Kunst auf die westliche Moderne, auch nicht um die Darstellung religiöser Funktionen oder des ethno-

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grafischen Kontexts. Im Zentrum steht vielmehr jene unmittelbar bildliche Kraft und Wirksamkeit, die Bildmacht, die sich im direkten Aufeinandertreffen von Werken verschiedener Kulturen am eindringlichsten manifestiert« (Denner/Wick 2009: 5). Durch die neue Aufmerksamkeit auf die Exponate der Sammlung und die Erweiterung mit einer Vielzahl an Leihgaben wird zwar der Schwerpunkt der Ausstellung auf die außereuropäischen Kunstwerke und ihren ästhetischformalen Qualitäten gelegt, d.h. sie werden nicht mehr bloß als nebensächliche Quelle für die Entstehung der Meisterwerke moderner Kunst platziert, so wie es bei der berühmten Ausstellung Primitivism in 20th Century Art: Affinity of the Tribal and the Modern im Museum of Modern Art in New York, kuratiert von William Rubin im Jahr 1984, der Fall war. Dennoch wird mit der gewählten Form der Gegenüberstellung die Fortführung einer hierarchisierenden Narration betrieben. Die Werke vor dem Horizont einer westlichen Moderne zu präsentieren, bedeutet sie letztendlich in einem historisch gewachsenen Abhängigkeitsverhältnis festzuzurren (Belting 2005: 43). Die Ausblendung der kolonialen Hintergründe, die für ein umfassendes Verständnis der Werke im Kontext des Museums notwendig ist, erzeugt eine Kontinuität von im Vorfeld etablierten Dichotomien und Hierarchien in der Lesart außereuropäischer Kunstwerke und ihrer Einbindung in europäische Museen. Die Verhältnisse bleiben unhinterfragt und der Status quo wird letztlich stabilisiert. Eine bloße Umkehrung im quantitativen Verhältnis, ohne Bezugnahme auf die Beziehung der Werke zur gegebenen Einbettung, sowie den damit verbundenen historischen Zusammenhängen, erweckt den Eindruck, dass die Objekte im musealen Rahmen ausschließlich in einer Gegenüberstellung gezeigt werden können, um der Frage nach ästhetischer Wirkkraft standzuhalten. Wenn es ein zentrales Anliegen der Ausstellung und ihrer Konzeption gewesen ist, die Exponate als herausragende Kunstwerke zu re-konfigurieren und ihnen einen eigenständigen Stellenwert innerhalb der Kunstgeschichte zuzusprechen, stellt sich die dringliche Frage, ob eine Gegenüberstellung solcher Art überhaupt die dafür angemessene Form darstellt. Wäre die Evidenz der künstlerischen Qualität der Werke nicht mehr als deutlich geworden, wenn sie ganz ohne Begleithilfe durch die westliche Moderne präsentiert worden wären? Offen ist zudem, ob eine solche Ausstellung in den Räumen eines Museums wie der Fondation Beyeler überhaupt kritisch konzipiert werden kann, wenn im institutionellen Kern eine kanonische Ausrichtung der Sammlung steht. Die

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Kritik an den eurozentrischen Prämissen einer solchen musealen Institution und den damit einhergehenden Wissensproduktionen, die von Bewertungsund Ausschlussmechanismen im Sinne eines modernen westlichen Kanons durchdrungen sind, müsste einen nachhaltigen strukturellen, sowie inhaltlichen Transformationsprozess nach sich ziehen. Des Weiteren bekommt man bei der vorangegangenen Aussage aus dem Saalheft der Ausstellung den Eindruck, dass die benannte »Weltgeschichte«, zu denen diese Werke beigetragen haben sollen, eine Geschichte ohne koloniales Erbe zu sein scheint, in der keinerlei Raubzüge unternommen wurden und die Präsenz von Objekten dieser Art in westlichen Sammlungen nicht auf Enteignung und Aneignung zurück gehen würden. Selbst wenn die in diesem Rahmen präsentierten Exponate womöglich auf legalem Wege erworben wurden, ist dies wohl kaum in einem gewaltfreien Setting, in dem Handel und Austausch von Kulturgütern auf Augenhöhe möglich sind, geschehen (Greve 2013: 235). Ebenso fehlt an dieser Stelle die Reflexion darüber, dass Begrifflichkeiten wie »Weltkunst« selbst auf westlich-ethnografische Kategorien zurückgreifen und somit nicht frei von kolonialen Bezügen und kaum wertfreien Zuschreibungen sind (Leeb 2013: 8). Die Reduktion der nicht-europäisch-kanonischen Exponate auf ihre sogenannte »Bildmacht«, wie es weiterhin in einem Kommentar des Kurators Oliver Wick heißt, beschwört meines Erachtens im schlimmsten Fall eine unkritische, exotisierende und auratische Wahrnehmung der Kunstobjekte. Sie ignoriert daneben auch die Geschichte ihrer gewaltsamen Loslösung aus ihren künstlerisch-ästhetischen sowie rituell-kulturellen Kontexten: »Die Ausstellung Bildwelten zielt auf die Bildmacht und veranschaulicht die Kraft dieser Werke, die Menschen aus aller Welt immer wieder in den Bann zieht« (Denner/Wick 2009: 7). Aufschlussreich sind die darauffolgenden Sektionen im Saalheft, die auf jeder Seite zu den einzelnen Werken über den sogenannten »Kult und Kontext« informieren sollen. Die kulturelle und soziale Einbettung der Exponate in ihre vormaligen sozio-kulturellen Bedeutungen und Funktionen scheint an dieser Stelle zwar ergänzend, um die Werke nicht lediglich auf eine formale Ebene zu reduzieren, da es sich um komplexe kulturelle Erzeugnisse handelt, die künstlerischen wie kulturellen Wert für den jeweiligen Kontext darstellen. Sie kann andererseits als Widerspruch innerhalb der Ausstellungskonzeption verstanden werden, die sich gerade von Einbettungen in kulturelle Kontexte zu distanzieren versucht. An dieser Stelle fehlt auch das nötige Bewusstsein über Kategorien ethnografischer Konstruktion von Ethnie. Schlagworte wie

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»Stammeskunst«2 werden im Rahmen der Ausstellung erstaunlicherweise immer noch unkommentiert verwendet. Weiterhin wird im Vorwort des offiziellen Katalogs zur Ausstellung vom Kurator betont, dass es sich bei dieser Ausstellung um eine Präsentation der »anderen Sammlung« der Museumsgründer Ernst und Hildy Beyeler handeln soll, die nun ins »Zentrum einer musealen Präsentation gerückt wird« (Wick 2009: 12). Mit dem Begriff der »anderen Sammlung« wird schlussendlich bestätigt, dass eine Grenzziehung durchgeführt wird, die die Kunst aus afrikanischen und ozeanischen Ländern klar von der der klassischen Moderne trennt. Trotz der Bemühungen, eine spannungsvolle und auf formalen Wesenszügen reduzierte Sichtweise zu generieren, die sich ganz bewusst von William Rubins »Primitivismus« Begriff der 1980er Jahre abgrenzen soll, bleibt die Abstufung der Objekte als »Stammeskunst«, die der klassischen Moderne als Quelle ihrer Bildsprache dienen, dadurch bestehen. Eine weitere Beschreibung bestätigt diesen Eindruck und macht zudem deutlich, dass die Lesart der außereuropäischen Kunst hier ausschließlich durch die Brille der europäischen Moderne, verstanden werden kann: »Ausgesuchte Werke aus Afrika und Ozeanien als ›Kontrapunkt‹, reizvolles Gegengewicht‹ oder ›spannungsvolle Konfrontation‹ mit der westlichen Moderne zu präsentieren, war ein erklärtes Gründungsprinzip, das frühe Pläne, eine selbstständige, umfangreichere Sammlung von Stammeskunst aufzubauen, ablöste. Für die Zukunft entscheidend war die inhaltliche Setzung und Beschränkung auf strenge ›kubistische‹ afrikanische und ›surrealistische‹ ozeanische Kunst in ausgewählten Werken« (Wick 2009: 11). Die Wortwahl »reizvolles Gegengewicht« in vorangegangenen Textabschnitt verstärkt einen Dualismus innerhalb der Sammlung und die konstruierten Wortpaare kubistisch-afrikanisch und surrealistisch-ozeanisch könnten abschließend das imaginierte Verhältnis der westlichen Moderne zu afrikanischer und 2

Der Begriff »Stammeskunst« ist eine Wortschöpfung aus der Kolonialzeit und bezeichnet Objekte aus größtenteils afrikanischen und ozeanischen Ländern, denen eine kultische Funktion in den jeweiligen rituell-religiösen Kontexten zukommt. Hauptsächlich wird die Bezeichnung in der Klassifizierung von außereuropäischer Kunst in ethnographischen Sammlungen und Museen für Moderne Kunst verwendet. Aus heutiger Sicht ist der Begriff insofern problematisch, da er auf die Stabilisierung von rassistisch begründeten Konstruktionen von Ethnie abzielt, sowie Dichotomien in der Rezeption der Objekte und ihrer Abstufung als Beiwerk für die Kunst der westlichen Moderne aufrechterhält.

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ozeanischer Kunst nicht besser wiedergeben. Es handelt sich dabei um noch heute fortgeführte übergeordnete Kategorisierungen auf Basis von Projektionen über und mit außereuropäischer Kunst. Die bestehenden Verhältnisse in der Wahrnehmung dieser Kunst wurden innerhalb der Ausstellung weder unterbrochen noch in ihrer Problematik und Komplexität behandelt. Gespräche mit ausgewählten Expert:innen aus der Kunstgeschichte und der Ethnologie im Ausstellungskatalog zeigen zudem auf, wer in diesem Rahmen die Deutungshoheit über Wahrnehmung und Kontextualisierung innehat und folgerichtig Auskunft über die präsentierten Werke geben kann (Denner/ Wick 2009: 23ff.). Eine autoritäre Sprecher:innenfunktion über die Kunst der »Anderen« wird hier aufrechterhalten und reproduziert. Es handelt sich um eine zumeist eurozentrische Perspektive auf die Kunstwerke, die an einigen Stellen offen ihre eigenen Begrenzungen diskutiert. Offen bleibt letztendlich, ob das zu Wort kommen von unterschiedlichen Akteur:innen, die grundsätzlich einen Kanon-kritischen Blick ermöglicht hätten, in diesem und anderen möglichen Gesprächen und Handlungsräumen, zu einer Reflexion bzw. zu einem Verlernen von kolonialen Argumentationsmustern beigetragen hätte, ohne die Produktion von essentialisierten Repräsentant:innen und ihrer Vereinnahmung, hervorzubringen (Spivak 1999: 113).

Globale Moderne aufzeigen Die Ausstellung Afro Modern: Journeys through the Black Atlantic unternahm den Versuch ganz bewusst eurozentrische Lesarten von Moderner Kunst zu unterbrechen und kann damit als Beispiel für eine postkoloniale Herangehensweise an die Kunstgeschichte herangezogen werden. Sie fand vom 29. Januar bis zum 25. April 2010 in insgesamt sieben Galerien der Tate Liverpool, in unmittelbarer Nähe zu einem der größten Häfen des Sklavenhandels des 18. Jahrhunderts, statt. Die Ausstellung behandelte das Thema der Modernen Kunst anhand von Paul Gilroys Thesen in seinem 1993 erschienenen Klassiker The Black Atlantic: Modernity and Double Consciousness (Gilroy 1993: 3). In diesem Werk beschreibt der britische Kulturwissenschaftler und Soziologe den »schwarzen Atlantik« als imaginierten kulturellen Raum, der für die Formation einer heterogenen Moderne steht. Zentral für diesen ist der kulturelle Einfluss der von Versklavung betroffenen schwarzen Diaspora. Gilroy schafft es in seinem Buch, hauptsächlich am Beispiel schwarzer Musik des 19. und 20. Jahrhunderts, nicht nur eine komplexere Moderne zu repräsentieren, in der die weiße westliche Moderne lediglich eine Lesart von vielen darstellt

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und mithin ihren universellen Anspruch verliert; er formuliert zudem eine grundlegende Essentialismuskritik. In seiner Auseinandersetzung spielen Parameter wie die afrikanische Herkunft und Identität weniger eine Rolle, als die geteilte Diskriminierungs-, Befreiungs- und Widerstandserfahrung, die er als verbindendes Element für die Definition einer Moderne des »Black Atlantic« ausmacht und seiner allgemeinen Definition von Moderne voranstellt (Costa 2012: 157). Bereits im Jahr 2004 hatte sich das Haus der Kulturen der Welt Berlin in einem interdisziplinären Projekt mit dem Titel Der Black Atlantic mit dem Konzept des Buchs und den sich daraus ableitenden Überlegungen zum Beitrag einer globalen Moderne auseinandergesetzt. Paul Gilroy war in diesem Zusammenhang selbst als einer der Kuratoren in die Konzeption involviert (Rauhut 2004). Die Stärke des Projekts bestand insbesondere darin, künstlerische sowie, kulturwissenschaftliche Perspektiven gleichermaßen miteinzubeziehen. Leider versäumte es das Projekt einen umfangreichen historischen Überblick über die künstlerischen Strömungen und ihren Einfluss auf die Gegenwart zu ermöglichen, da lediglich einige wenige zeitgenössische Positionen miteinbezogen wurden. Die Ausstellung in Liverpool hingegen schafft einen solchen Überblick mit den präsentierten 140 Werken von insgesamt 60 Künstler:innen und zeigt relevante historische Entwicklungen innerhalb der Kunst ab dem frühen 20. Jahrhundert bis in die Gegenwart (Thorne 2010). Den »Black Atlantic« als Ausgangspunkt nutzend, wird die Ausstellung zu einer Kanon- und kolonialkritischen Plattform, in der sich die Moderne aus einer globalen, vielstimmigen und wechselwirkenden Entwicklung heraus ergibt und der These des Black Atlantic folgend eine Art Counterculture of Modernity formiert. Zentral für diese Herangehensweise ist die Rolle und Bedeutung schwarzer Künstler:innen des 20. und 21. Jahrhunderts und ihrer Begegnung miteinander sowie mit dem westlichen Narrativ Moderner Kunst. In einer chronologischen Abfolge zeichnet die Ausstellung die künstlerischen Entwicklungen ab den 1920er Jahren nach und beleuchtet das Verhältnis der schwarzen Avantgarde zum europäischen Exotismus und der Begeisterung der Kunst der Zwischenkriegsjahre für die sogenannte »Art Négre«. Es folgen die künstlerischen Einflüsse der Harlem Renaissance in New York sowie der frankophonen »Négritude« im Paris der 1920er und 1930er Jahre. Eine weitere zentrale Phase, die »Black Art« der Bürgerrechtsbewegung der 1960er Jahre hin zur »Post-Black Art« der Gegenwartskunst schwarzer Künstler:innen, darunter auch einige der Diaspora, werden anschließend Teil der Betrachtung. Im Rahmen der Ausstellung wird

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die westliche Moderne zudem nicht ausgeklammert. Ihr wird im Gegenteil eine Präsenz mit einzelnen Künstler:inn, wie Constantin Brâncusi oder Pablo Picasso zuteil, die maßgeblich an der Konstruktion des »Primitivismus« beteiligt waren. Es entsteht ein Nebeneinander, in dem die einzelnen Kunstwerke in einen dynamischen Dialog gebracht werden, um Wechselwirkungen und eine Ambiguität der Lesarten zu generieren (Kravagna 2010: 64). Die Kuratorin Tanya Barson fasst in ihrer Katalog-Einführung zusammen, dass es im Rahmen der Ausstellung in Liverpool zentral um die Beschäftigung mit dem Black Atlantic und seinem Verhältnis zur Kanonisierung der Kunst sowie der globalen Formation der Moderne gehe: »Examining modernism through the lens of the concept of a Black Atlantic does not furnish comprehensive history any more than do canonical narratives of modernism. However, it does foreground different protagonists and highlights different contributors, problematising conventional accounts and making for a more complex field of study, as well as intimating further routes of investigation and relationship of exclusion and inclusion to be resolved« (Barson 2010: 15).

Sammlungen kolonialkritisch ausstellen Vom 5. August bis zum 19. November 2017 fand in der Kunsthalle Bremen eine Ausstellung mit dem Titel Der blinde Fleck. Bremen und die Kunst in der Kolonialzeit statt. Basierend auf dem kuratorischen Forschungsprojekt von 2016 Der blinde Fleck. Welthandel, Mäzenatentum und Sammlungsgeschichte in der Kolonialzeit am Beispiel der Kunsthalle Bremen der Kulturstiftung des Bundes, untersuchte Julia Binter gemeinsam mit zwölf Studierenden die Sammlung der Kunsthalle und führte die Planung und Kuration der Ausstellung durch. Der Anspruch der Ausstellung bestand darin, die Sammlung der Kunsthalle mit verschiedenen Themenschwerpunkten kolonialkritisch aufzuarbeiten und die gewonnenen Erkenntnisse auf die Konzeption und Präsentation der Exponate im Museum anzuwenden. Die Sammlung besteht zu großen Teilen aus Kunstwerken der klassischen Moderne und weist einen Anteil außereuropäischer Exponate auf – darunter japanische Holzschnitte sowie afrikanische Masken. Die Auseinandersetzung mit der Kunst der europäischen Moderne fand am Beispiel von Künstlern der Brücke, darunter Max Pechstein, Emil Nolde und Ernst Ludwig Kirchner statt. Ihre Verstrickungen mit der Kolonialpolitik sowie der Umgang mit Exotismen und Rassismen wurden am Beispiel einzelner Werke her-

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ausgearbeitet und durch Texte einerseits, sowie mit Hilfe von Beschriftungen an den Wänden sichtbar gemacht. Auch fanden Änderungen einzelner Werktitel statt, die auf rassistische Bezeichnungen basierten. Ein grundlegendes Thema der Ausstellung waren die Reisen der Künstler, auf denen sie einen Großteil ihrer Werke hervorbrachten. Insbesondere ehemalige Kolonien waren beliebte Reiseziele, die besonders prädestiniert zu sein schienen, um neue Bildmotive jenseits der industrialisierten deutschen Großstadt zu suchen. Dafür nutzten diese Künstler die vorherrschende koloniale Infrastruktur, die ihnen diese Reisen ermöglichten (Binter 2017: 91). Das wohl am besten dokumentierte Beispiel für eine solche Reise ist die »medizinischdemographische Deutsch-Neuguinea-Expedition« des Reichskolonialamts im Oktober 1913, an der der damals 46-jährige Emil Nolde mit seiner Frau Ada Nolde teilnahm. Seine Aufgabe bestand darin, die Reise malerisch zu begleiten, bzw. das Leben der Einwohner:innen abzubilden. Aus seinem, aus dieser Zeit veröffentlichen, Tagebuch ist zu entnehmen, dass er einem seiner lokalen männlichen Modelle die Pistole beim Malen vorhielt, damit dieser sich nicht gegen die erzwungene Situation wehren konnte (Stöckmann 2017). Die Ausstellung machte somit nicht nur die historische Einbettung der einzelnen Werke der Sammlung transparent, sondern zeigte auch das Verhältnis der in ihr vertretenen Künstler:innen der klassischen Moderne zum Kolonialismus auf. Eine zentrale Erkenntnis lag darin, dass die Künstler der Brücke wie Emil Nolde oder auch sogenannte Tropenmaler wie Ernst Vollbehr – beide bekennende Nazis – keinen direkten Kontakt zu den Künstler:innen der globalen Moderne suchten. Weder tauschten sie sich auf Augenhöhe mit diesen aus, noch scheinen sie sie als ebenbürtige Kolleg:innen im künstlerischen Sinne anerkannt zu haben. Ausschlaggebend für ihre Arbeit war die Faszination und Produktion des »Fremden« mit den Mitteln der Bildenden Kunst und somit die rassistische Objektivierung der Künstler:innen. Die Aneignung von Ästhetiken aus afrikanischer und ozeanischer Kunst und die damit verbundene Nutzung der kolonialen Strukturen standen für ihre eigene Kunstproduktion im Vordergrund (Binter 2017: 97). Somit kann bei ihnen nicht von einer kritischen Haltung gegenüber den kolonialen Strukturen ausgegangen werden. Auch wenn bei einigen dieser Künstler eine für ihre innereuropäischen Kontexte festzustellende Marginalisierung stattgefunden hat, wie beispielsweise bei den als »entartet« markierten Künstlern der Brücke, sind sie aus heutiger Sicht prägend für die Kontinuität und Aufrechterhaltung von kolonialen Bildern innerhalb der Kunst gewesen.

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Vergegenwärtigung Wenn es möglich wäre, in die Vergangenheit zu reisen und beispielsweise ins Paris der 1920er Jahre oder ins Indien der 1940er zurückzugehen, dann ließe sich feststellen, was die westliche Moderne bis heute in ein Stillschweigen zu hüllen scheint: Die Globale Moderne beginnt schon in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts als ein dynamischer Prozess, der auf die internationalen Antidiskriminierungskämpfe und die antikolonialen Bewegungen dieser Zeit Bezug nimmt. Künstler:innen aus verschiedenen Regionen der Welt waren nicht nur bestrebt, eine eigene Version der Moderne zu entwerfen, sprich sie »›von unten nach[zu]zeichnen« (Castro Varela/Dhawan 2015: 155); sie haben in Form von aktiver Kontaktaufnahme mit anderen Künstler:innen gemeinsam an einer globalen Idee der Moderne gearbeitet und so eine eigene Perspektive der vorherrschenden Gegebenheiten entwickelt. So konnte die etablierte Hegemonie der westlichen Moderne erfolgreich hinterfragt werden, um diverse Modelle für die Moderne in ihrer Vielfalt und Parallelität voran zu treiben. In seinem Werk Transmoderne. Eine Kunstgeschichte des Kontakts widmet sich Kravanga diesen Dynamiken und plädiert für die Re-definition des Begriffs der Transmoderne unter Berücksichtigung der befreiungspolitischen Bewegungen des frühen 20. Jahrhunderts. Um den Prozessen der Dekolonialisierung in der Kunst auf den Grund gehen zu können, schlägt er vor, den Blick zurück auf diese auch heute wegweisenden Modelle zu richten. Daraus ergibt sich die Forderung nach einer aktiven Beschäftigung mit der kolonialen Vergangenheit in der Kunst und ihrer Rezeption in der Öffentlichkeit und in Institutionen, um damit die Formierung von Transmoderne aus heutiger Sicht neu zu gestalten und eine Diskussion über gegenwärtige Deutungshoheiten und Hegemonien im Kontext Moderner Kunst zu initiieren (Kravagna 2017: 35). Ohne Impulse aus kolonialkritischen Ansätzen und ohne das Hinterfragen der Bewegungen, die die westliche Moderne als globalen Maßstab etablieren wollen, bestehen die üblichen Hegemonien in der Ausstellungsarbeit von Kunstmuseen nach wie vor weiter fort. Es reicht daher nicht aus, von einer Global Art History ab den 1990ern auszugehen und alle vorangegangenen politischen wie künstlerischen Bewegungen in ihrer Erzeugung hegemonialer Kunstmaßstäbe auszublenden. Daher ist es für die kunsthistorische Forschung genauso wie für die kuratorische Praxis und die Vermittlungsarbeit an Museen von großer Dringlichkeit, die Reflexion von verfestigten Haltungen, Thesen und Inhalten voran zu treiben. Andernfalls besteht die Gefahr der stetigen Wiederholung von einge-

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schriebener Blickgewalt. Dualismen und Essentialismen prägen dann weiterhin die Narrationen innerhalb der Ausstellungen und verfestigen dadurch ein hierarchisiertes Zusprechen von Modernität (Araeen 2003: 344). Institutionelle Ressourcen gilt es somit zugunsten eines Verlernens von neo-kolonialen Denkstrukturen (Spivak 1990b: 227f.) zu mobilisieren und transformativ einzusetzen. Für den Erfolg dieser transformativen Prozesse, die den Abbau epistemischer Gewalt in Gang setzen sollen, ist es demnach von zentraler Bedeutung, dass Akteur:innen innerhalb von Institutionen eine Strategie der Gleichzeitigkeit gegenüber einem einerseits affirmativen institutionellen Auftrag und einer andererseits kolonial- und machtkritischen Haltung anstreben. Für die kuratorische Praxis und die Bildungsarbeit an Museen für Moderne Kunst bedeutet dies speziell, dass das Generieren von Diskursräumen und das Sichtbarmachen von epistemischer Gewalt innerhalb der Kunst und ihrer Rezeptions-, Sammlungs- und Ausstellungsgeschichte zu einem zentralen Aufgabenfeld ausgebaut werden muss. Auch reicht es nicht aus, marginalisierte Stimmen in etablierte Räume »einzuladen«, sprich ihnen einen zeitlich begrenzten3 Zugang zu ermöglichen, der zudem auf einer zu kurz greifenden Forderung nach gesellschaftlicher Repräsentation basiert. Nur durch die strukturelle Einbindung und eine damit verbundene langfristige Beschäftigung mit Kanon-kritischen Ansätzen, die »von Innen« heraus geschieht, demnach mit den unmittelbar spürbaren Widersprüchen der Institution arbeitet, kann die ästhetische Bildung das politische Potenzial entfalten, das Gayatri Spivak mit dem Begriff des double binds anvisiert. Damit misst Spivak der Gleichzeitigkeit von institutioneller Beharrlichkeit und transformativer Dynamik eine ausschlaggebende Relevanz bei. Es gehe schließlich darum, die institutionellen Rahmenbedingungen des modernen Kunstkanons »auf erfinderische Weise gegen diese selbst« einzusetzen (Castro Varela/Dhawan 2015: 202).

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In den letzten Jahren sind innerhalb der Vermittlungsarbeit an deutschsprachigen Museen zahlreiche Projekte mit Jugendlichen aus sogenannten ›bildungsfernen Familien‹ und/oder mit sogenannten ›geflüchteten‹ Kindern und Jugendlichen umgesetzt worden. Diese, oft in Form von Workshops angelegten Projekte, haben die stärkere Anbindung und den Kontakt der Museen zu neuen Besucher:innen Gruppen und lokalen Communities im Fokus. Bisher bleiben Projekte dieser Art allerdings nicht nur Einzelfälle, sie schaffen es auch nicht, die historisch gewachsene strukturelle Ungleichheit an Museen ins Zentrum der Diskussion zu setzen.

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Praxis der Risse Partizipative Kunstpraxis in Jerusalem neu denken Alia Rayyan

Mit Zuspitzung der politischen Situation in Jerusalem im letzten Jahrzehnt ist die Arbeit für Kunstorganisationen in Ostjerusalem eine Herausforderung geworden und stellt grundsätzlich in Frage, welche kunsttheoretischen- und vermittelnden Konzepte verfolgt werden können oder sollten. Al Hoash ist eine der wenigen Kunstorganisationen, die noch in Ostjerusalem agieren und versuchen, palästinensische Künstler:innen in ihrem Schaffen zu unterstützen. Angesiedelt vor den Toren der Altstadt, liegt die Organisation in einem Viertel, dessen harsche sozio-politische Bedingungen den Alltag der palästinensischen Anwohner:innen, Mitarbeiter:innen der Organisation und der Künstler:innen bestimmen. Konzepte einer White-Cubes Galerie1 erscheinen deplaziert, wenn man in einem Stadtviertel arbeitet, das durch hohe Arbeitslosenrate, Schulabbrecher:innenquoten und Wohnraumnot gezeichnet ist.2 In meiner Zeit als Leiterin der Kunstorganisation Al Hoash (2013–2016) suchte ich gemeinsam mit meinen Mitarbeiter:innen nach Wegen, um die Probleme und Belange der Umgebung in unserer Arbeit zu berücksichtigen und sah im

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Unter White Cube (weißer Würfel) versteht man das Ausstellungskonzept, Kunst in weißen Räumen zu präsentieren. Der Begriff ist durch die Artikelreihe von Kunstkritiker Brian O’Doherty 1976 in Artforum unter dem Titel Inside the White Cube veröffentlicht und seitdem eine gebräuchliche Terminologie. Zudem steht sie für das Ausstellungskonzept, das seit den 1930er Jahren institutionalisiert die architektonische Umgebung hinter das Kunstwerk stellt, um die kontemplative Beziehung zwischen Betrachter:in und Kunstwerk nicht zu stören. White Cube wird stellvertretend für das tradierte Kunstverständnis angewandt. Schulabbruch ist eines der größten Probleme in Ostjerusalem. Laut Untersuchungen aus dem Jahr 2016 liegt die Höhe der palästinensischen Schulabbrecher:innen bei 36,23 % (vgl. Alyan 2016: 11ff.).

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Ansatz der useful art 3 eine Möglichkeit, dies zu realisieren. In einem über drei Jahre laufendem Projekt versuchten wir in den öffentlichen Raum der urbanen Struktur Ostjerusalems zu intervenieren, um alltägliche hegemoniale Machtstrukturen sichtbar zu machen. Dabei waren es vor allem partizipatorisch angelegte, urbane künstlerische Interventionen und Workshops, die uns in dieser Situation als mögliche Angebote passend erschienen, um sozial-politischen Raum- und Alltagsprobleme gemeinsam mit der palästinensischen Bevölkerung in Jerusalem zu thematisieren. Die Konzepte und Prinzipien der Partizipation im öffentlichen Raum versprachen ein künstlerisches Arbeiten jenseits eines als elitär erlebten Kunstbetriebs, die Methoden anbieten, direkt und mittelbar unser Vorhaben umzusetzen. Zunächst, indem sie physisch vorgegebene Ortzuweisungen künstlerischer Aktionen aus Museen und Galerien in die Gesellschaft verschieben, und weil ihnen zugeschrieben wird, auf sozial-politische Missstände aufmerksam zu machen, da sie marginalisierte gesellschaftliche Gruppen in die Aktion miteinbezieht. Interessant waren sie aber auch auf kunsttheoretischer Ebene, da sie die Rezipient:innen aus der eigenen kontemplativen passiven Position heraus zur mitbestimmenden Teilhaber:innen eines künstlerischen Prozesses machen (Feldhoff 2009: 24). Teilhabe an künstlerischen Prozessen schließt die Kollaborateur:innen im besten Fall in künstlerische Schaffensprozessen mit ein, entbindet sie von ihrer sozialen Außenseiterposition und ermöglicht die Artikulation alterierender Narrationen, die je nach Auslegungen über relationale, provokative oder pädagogisch partizipative Methoden entwickelt werden können. Somit wurde sozial engagierte partizipative Kunst eine interessante, vielversprechende Form, aus den bekannten White Cube Ausstellungskonzepten der Kunstorganisation Al Hoash herauszutreten und auf die Nachbarschaft einzugehen. Im Laufe der Umsetzung jedoch, stießen wir auf verschiedene Herausforderungen im Zusammenhang mit partizipativen Interventionskonzepten im öffentlichen Raum, die mich im Rückblick zur Analyse der

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Der Begriff ›useful art (nützliche Kunst) geht zurück auf die Künstlerin Tania Bruguera, die damit ästhetische Erfahrungen beschreibt, die einen Fokus auf gesellschaftliche Probleme lenken, und nicht nur auf diese hinweist, sondern gemeinsam mit den Teilnehmer:innen einen Raum bietet, um Möglichkeiten auszuprobieren und Lösungsansätze zu finden. »We should go back to the times when art was not something to look at in awe, but something to generate from. If it is political art, it deals with the consequences, if it deals with the consequences, I think it has to be useful art.« (Bruguera 2011: 229)

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eigenen Praxis und Infragestellung des tradierten Öffentlichkeitsbegriffes in partizipativen Kunstformaten brachten. Im folgenden Text werden ich zunächst kurz unsere Projekte in Ostjerusalem sowie Herausforderungen umreißen, um im Anschluss daran die daraus folgenden Überlegungen darzulegen.

Partizipative Kunstinterventionen in Ostjerusalem Partizipative, sozial engagierte Kunstinterventionen in konfliktgeladenen öffentlichen Räumen unterliegen spezifischen Bedingungen und Ostjerusalem ist unter den konfliktgeladenen Orten zusätzlich einer mit religiösen und historischen Assoziationen. Subalterne Narrative palästinensischer Anwohner:innen dieser Stadt werden dabei oft übersehen. Die offiziellen Narrative dominieren nicht nur die staatliche Bildung, sondern werden auch im internationalen Diskurs als vorherrschende Narrative zum Ort aufgegriffen. Die daraus entstehenden erinnerungskulturellen Mechanismen formulieren ein israelisches offizielles Nationalgefühl, in der palästinensische Erinnerungskultur und Narrative nicht vorkommen.4 Diese Entwicklung ist nicht nur in touristischen und kulturpolitischen Zusammenhängen zu beobachten, sondern beeinflusst auch die Wahrnehmung der palästinensischen Community in Jerusalem und ihr Verhältnis zur eigenen Identität, deren öffentliche Sichtbarkeit im Stadtbild immer mehr verschwindet. Im Mittelpunkt unserer kuratorischen Umsetzung partizipativer Interventionen stand das Einbeziehen von Orten, die sowohl öffentlich zugänglich, als auch in der direkten Umgebung bekannt und als sicher eingestuft waren. So arbeiteten wir mit lokalen Organisationen zusammen, die einen öffentlich zugänglichen Ort besaßen. Dies konnte ein Sportplatz, ein kleiner Garten oder ein Innenhof sein. Unsere Praxen intendierten u.a., diese in das Narrativ der Stadtgeschichte zu integrieren, sie einem Publikum vorzustellen und ihnen 4

Einige wenige israelische und internationale Menschenrechtsorganisationen (B´tselem, Zochrot) treten an dieser Stelle als Vermittler oder Verteidiger palästinensischer Erinnerungskultur auf und archivieren orale Erinnerungsprotokolle bzw. Dokumentationsmaterial. Aber auch diese erläutern immer wieder den gravierenden Missstand in der offiziellen Wiedergabe der Narrativen des Ortes oder des Landes. Intern und international Aufsehen erregten die sogenannten New Historians, eine Gruppe israelischer Historiker:innen, die von einer einseitigen Geschichtserzählung sprechen (vgl. Pappé 2006).

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mit unseren künstlerisch partizipativen Interventionen Methoden anzubieten, die ihre Arbeit unterstützen. Dies erstreckte sich von Garteninstallationen über DIY Anleitungen für ressourcensparende mobile Urban Furniture bis hin zu alternativen, aus der Philosophie der Permakultur abgeleiteten Techniken für den urbanen Agraranbau. Bereits während der Umsetzung der künstlerischen partizipativen Konzepte gewann ich den Eindruck, dass hier ein wesentlicher Punkt im Umgang mit der partizipativen Praxis in außer-europäischem Kontext übersehen wird. Dieser Eindruck führte zu der als kritischer Untersuchung der eigenen künstlerischen Praxis angelegten Dissertation, aus der hier einige Erkenntnisse dargestellt werden. Untersucht wurde, ob die aus dem westlichen (Kunst-)Theoriekontext zur partizipativen Intervention im sozialen Raum abgeleiteten emanzipatorische Annahmen auf Jerusalem übertragen werden können und welche Konsequenzen sich daraus ableiten lassen. Im Sinne einer postkolonialen Theorienbildung stehen die lokalen Bedingungen und Beobachtungen hinsichtlich des Verhältnisses der palästinensischen Anwohner:innen zum öffentlichen Raum im Zentrum, anhand dessen tradierte Theorien zur partizipativen Kunst verglichen und hinterfragt werden. Ausgangspunkt für die Fragen an die tradierten Theorien partizipativer Kunst sind Gespräche mit palästinensischen Gesellschaftsvertreter:innen und Anwohner:innen, die retrospektiv transkribiert und analysiert wurden. Hier fokussiere ich auf Konfliktpunkte, die bereits während der Treffen und Gespräche aufkamen und mich nachhaltig irritierten.

Rückblick In den intensiven und mehrmaligen Gesprächen mit Anwohner:innen stellte es sich als schwierig heraus, unsere Beweggründe und unsere sozial engagierten partizipativen Kunstprojekte zu vermitteln sowie den Gewinn für die palästinensische Gemeinschaft bzw. direkte Nachbarschaft darzustellen. Diese Auseinandersetzungen liefen über mehrere Monate hinweg und ließen mich zu dem Schluss kommen, dass die von uns als positiv angesehene Idee für die Verbesserung eines öffentlichen Ortes, nicht von allen Gesprächspartner:innen als wertvoll eingeschätzt wurde. Statt eines Surplus für die Gemeinschaft, sahen manche durch die Aktionen ihren Privatbesitz, ihre Organisation oder ihren Status Quo in Gefahr. Neben einer zögerlichen Haltung und einem Desinteresse am gemeinschaftlichen Tun, war ein weiterer Konfliktpunkt das Misstrauen

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gegenüber allen, die nicht in der Altstadt Jerusalems lebten. Dies betraf selbst uns Palästinenser:innen aus dem Team von Al Hoash, die aus den anliegenden Vierteln der Stadt stammen. Ein Auszug aus einem Interview mit Al Hoash Mitarbeiter und Projektleiter Hatem Tahan beschreibt den Rückzug ins Private und das erlebte Misstrauen sehr anschaulich und liefert mögliche Hintergründe dafür: »This is connected to bad experiences within the Palestinian community, where people changed locks, occupied places and kicked out others. The fear is as well connected to the fact, that there is no representation or authority in Jerusalem, they can refer to. In times, when the Orient House5 was still open – people felt more secure, as it functioned as a court – an authority people could turn to with their personal fights – disagreements etc. In that sense, after the Orient House was closed, Jerusalem became a law-less place for Palestinians. The law of the strongest is ruling since then – this can be either connected to business power, family power or simply power rooted in violence. Another reason is connected to the lack of feeling the common. Public space is understood like a ride in a bus – it is used to go from a to b – nothing more. I don’t have any relationship with those I am sitting next to, no responsibilities or what’s so ever – I am only using the place. The only space I turn to and care for is the private one, that protects me. There is no protection in public space.« Die Beschreibung steht im scharfen Kontrast zur tradierten Annahme, dass der öffentliche Raum ein Ort der Begegnung ist, der kultiviert und aktiviert werden kann. Auch wenn aus den Gesprächen in der Vorbereitungszeit

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Das Orienthaus befindet sich in Ostjerusalem im Viertel American Colony in der Abu Ubaidastr. 8 und war von 1983 bis 2001 das Hauptquartier der PLO in Jerusalem. 1983 eröffnete Faisal al-Husaini im Haus die Arab Studies Society, die statistische Daten über die Palästinenser sammelte. 1988 schlossen die Israelis das Haus »aus Sicherheitsgründen« wegen Hussainis Aktivitäten für die PLO und die Erste Intifada. Am 26. Oktober 1992 wurde es wiedereröffnet und übernahm wieder eine wichtige diplomatische Rolle, auch für den Friedensprozess. Husaini wurde offizieller Repräsentant der PLO und das Orienthaus entwickelte sich zum heimlichen Rathaus Ostjerusalems und zur heimlichen Vertretung der PLO in Jerusalem. Ab dem Sommer 1999 verstärkten sich die Bemühungen Israels, die illegalen Aktivitäten der palästinensischen Autonomiebehörde im Orienthaus zu beenden. Ausländische Diplomaten wurden aufgefordert, das Haus nicht mehr für Treffen zu benutzen. Am 10. August 2001 wurde das Orienthaus von der Polizei geschlossen (vgl. Tamari 2001).

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Erkenntnisse für die alternative Umsetzung der partizipativen Kunstinterventionen gewonnen werden konnten, wird in der Retrospektive deutlich, dass der Grad der Unsicherheit, die Palästinenser:innen in Jerusalem der Stadtverwaltung gegenüber einnehmen, unterschätzt wurde. In der späteren Analyse der Gespräche mit Teilnehmer:innen und Vertreter:innen palästinensischer Verbände wurde in weiteren Interviewpassagen dieser erste Eindruck bekräftigt und zeichnete eine Art passiven Widerstand oder Ausharren – in der palästinensischen Geschichte auch als Sumud (Standhaftigkeit) bezeichneter Zustand – am Status Quo ab (vgl. Rijke/van Teeffelen 2015). Der öffentliche Raum wird demnach nicht als Gemeinplatz, sondern als eine Wegstrecke angesehen, auf der man sich behaupten, abgrenzen und schützen muss. Die daraus abzuleitende Frustration der Interviewten kann Erklärung für den zu beobachtenden Rückzug ins Private und das Ausblenden des öffentlichen Raums sein. Aus ihr spricht die Position des Schwächeren, Untergeordneten, der Versuch, nicht aufzufallen. So zeigten die Leiter:innen von Jugend- oder Sportclubs kein Interesse, die Aufmerksamkeit der Stadtverwaltung durch eventuelle »illegale Aktionen« wie nicht genehmigte Versammlungen im öffentlichen Raum, auf sich zu lenken, da sie Schließungen ihrer Verbände oder ähnliches befürchteten und sich generell keinen Ärger einhandeln wollten. Wie also etwas aktivieren, was nicht aktiviert werden will? Welche Konsequenz hat dies für das tradierten Verständnis von Partizipation, das sich über den inneren Prozess der Rezipient:innen (Kontemplation) hinweg setzt und die aktive physische Teilnahme in Kollaboration in den Fokus stellen will, wenn das Angebot der Teilhabe scheinbar ins Leere zielt? Um die Prozesse zu verstehen, die in diesem Zusammenhang konstituierend für die beobachteten Konflikte sind, ist es notwendig, sich die Interdependenzen zwischen partizipativen Kunstinterventionen, öffentlichen Raum und Widerstand anzuschauen, wie dies in der partizipativen Kunsttheorie diskutiert wird (vgl. Rith-Magni 2017; Feldhoff 2009; Bishop 2006: Kester 2007; Thompson 2011; Foster 1995; Kwon 2002; Jason 2016). Um diese anschließend mit der Genese des öffentlichen Raumverständnis von Palästinenser:innen in Jerusalem zu vergleichen.

Die kunsttheoretische Debatte um partizipative Kunst Partizipative Kunstinterventionen begeben sich in den physischen öffentlichen Raum, um Kontrollmechanismen gesellschaftlicher Ordnung zu the-

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matisieren und knüpfen damit u.a. an Überlegungen Michel Foucaults an, der sich mit der machtregulierenden Ordnung des öffentlichen Raumes auseinandersetzte, die nicht nur über Disziplinarmechanismen sondern auch durch physischen Raumerfahrungen gebildet werden (Bachmann-Medick 2014: 293). Gekoppelt mit der Zuschreibung, durch ästhetische Erfahrung eine Widerständigkeit zu erzeugen, hofft diese Kunstform tradierte Einstellungen, Bezüge und Zuordnungen zu unterlaufen, um damit Diskussionen im und um den meinungsbildenden (physischen) öffentlichen Raum anzuregen. Inspiriert durch Foucaults Raumkonzept der Heterotopien (vgl. 2018: 317ff.), Lefebvres Überlegungen zur Produktion des Raumes und Michel de Certeaus Macht destabilisierenden Raumpraktiken (vgl. Dünne/Günzel 2018: 300) hat die partizipative Kunstpraxis die raumsoziologische Perspektive übernommen und ihre Praxis in unterschiedliche Ausrichtungen hin entwickelt, die unter communtiy art, socially engaged art, activism art oder particiaptory art laufen (vgl. Bachmann-Medick 2014). Ein weiterer gemeinsamer Nenner innerhalb der großen Bandbreite partizipativer Interventionen ist die Annahme, dass partizipative Kunst widerständig sei. In seinem Aufsatz zum Vortrag Ist Kunst Widerständig? (2008) beschreibt Jacque Rancière die ästhetische Erfahrung als einen neuen Artikulationsraum, der Benachteiligten eine Sphäre bietet, die ihnen eigentlich verschlossen bleibt, da diese nur für privilegierte Gruppen vorgesehen ist. Hier spielt Rancière auf die Mechanismen des Ausschlusses und der Zuordnung der öffentlichen Sphäre an. Das in der neuen Sphäre gesammelten und erfahrene Wissen verändert die Vorstellung der eigenen Identität und beeinflusst somit die Positionierung des ehemals Benachteiligten und ›stört‹ die vorgesehene Ordnung von Identität, Zeit und Raum. Das Ästhetische nimmt virtuell die politische Gemeinschaft der Gleichen vorweg und legt somit einen radikalen Einbruch der Gleichheit in eine ungleiche Welt nahe (Rancière 2008: 24). Dieser widerständige, in die Ordnung eingreifende Charakter partizipativer Kunst, inspirierte Autor:innen wie Claire Bishop, Nato Thompson, Maria Lind oder Grant Kester dazu, theoretische Rahmenbedingungen zur Erfassung und Beschreibung dieser neuen Kunstform zu liefern (Bishop 2012; Kester 1985, 2007, 2011, 2013; Thompson 2011; Lind 2004). Jedoch fokussiert mittlerweile auch die hegemoniale Kunsttheorie den sogenannten spacial and social turn auf die Beziehung zwischen Kunst und ästhetischer Autonomie. Besonders deutlich wird dies in der aktuellen Auseinandersetzung um neue theoretische Rahmenbedingungen zur Bewertung und Beschreibung partizipativer Kunstinterventionen zwischen den Autor:innen Claire Bishop und Grant Kester. Bishop sieht die ästhetische

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Autonomie als konstituierend für ein kritisches Potenzial einer partizipativen Kunst an, wohingegen Kester ein kritisches Potenzial über dialogische Ästhetik zu argumentieren versucht. Mit ihrem einflussreichen Buch Artificial Hells: Participatory Art and the Politics of Spectatorship (2012) wollte Bishop die partizipatorische Kunstpraxis von ihrem Stigma, nur eine soziale Aktivität zu sein, befreien, indem sie Licht auf ihre ästhetische Qualität wirft und dabei Wissenschaftler:innen wie Kester kritisiert, die diese Kunstpraxis hauptsächlich anhand ihrer ethischen Auswirkungen in der Gesellschaft beschreiben und beurteilen. Im Gegenzug kritisiert Kester Bishop, und wirft ihr Inkonsequenz im Denken vor, welches zu sehr auf der Interpretation der Ästhetik durch Adorno beruhe (vgl. Bell 2015; Brice/Fernández Arconada 2017: 228). Der Disput steht in der gegenwärtigen Kunstdebatte exemplarisch für die Auseinandersetzung in den sozialen Formaten der Kunst, die eine Neuverhandlung der postmodernen Auffassung darin ausmacht, dass die ästhetische Autonomie und monadische Selbstreflexion der Ursprung aller kritischen Erkenntnis sei (Kester 2013: 4).6 Beide vernachlässigen in ihren theoretischen Auseinandersetzungen soziale und politische Theorien und lassen somit Interdependenzen unbeachtet. Trotz der Anerkennung des sozialen Charakters von Kunst, und ihrem Willen, etwas zu verändern oder in einen Ist Zustand einzugreifen, integrieren kunsttheoretische Auseinandersetzung den sozialen Charakter nur im Hinblick auf theoretischen Überlegungen und vernachlässigen die Genese, die den öffentlichen Raum zum Ort für Beteiligung und Agitation in Reaktion auf den Staat macht, und damit ermöglicht, einen öffentlichen Raum zu betreten und zivilgesellschaftlich zu agieren. Dieser Mangel an Einbezug wird insbesondere in Situationen deutlich, die sich durch ihre sozialen und politischen Bedingungen von einer idealen Ausgangsposition entfernen, wie im Fall Jerusalems. 6

Bishop warnt in Artifical Hells jedoch davor, sich von der postmodernen Annahme der gesellschaftskritischen Funktion ästhetischer Autonomie völlig loszusagen und spricht sich für eine provokante Variante partizipativer Kunst entgegen einer pädagogischen aus. Sie warnt von einer ›ethischen Wende‹ in der Bewertung von Kunst (vgl. Bishop 2012: 18; 2004: 65) durch die Gleichsetzung von ästhetischem Urteilen mit ethischpolitischen. In der Literatur kreist die kunsttheoretische Diskussion über partizipative Formate vorwiegend um den Dualismus von Ästhetik und Ethik und vernachlässigt soziologische oder politische Aspekte, obgleich in der Suche nach neuen Beschreibungsmodulen konstatiert wird, dass partizipative Kunst als sozialästhetischer oder polit-, psycho- beziehungsweise bildungsästhetischer Hybrid funktioniert und nach transdisziplinären Erklärungsmodellen verlangt (Rith-Magni 2016).

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Raumerfahrung in Jerusalem In Jerusalem ist sowohl der physisch erlebbare als auch meinungsbildende öffentliche Raum für Palästinenser:innen durch den langjährigen politischen Konflikt zwischen Israel und Palästina geprägt, der das Zusammenspiel zwischen Bürger:innen und Staat bestimmt und konstituierend für den staatenlose Status der in Jerusalem lebenden Palästinenser:innen ist (vgl. Karayanni 2012: 308ff.). Mit Gründung des Staates Israel 1948 verloren Palästinenser:innen ihre nationale Zuschreibung und wurden den in Israel existierenden ethnoreligiösen Kategorien zugeteilt. Die nationale Zuschreibung Palästinenser ist seit 1948 keine gültige Kategorie mehr, und wird von der israelischen staatlichen Administration nicht anerkannt. Stattdessen verläuft die Unterteilung entlang der religiösen (Muslim:innen, Christ:innen) und ethnischen Zuschreibung (Drusen:innen, Beduin:innen), die mit unterschiedlichen Rechten, Pflichten und den dazugehörigen Dokumenten verbunden sind (Rouhana/Ghanem 1998; Ghanem 2001; Karayanni 2012: Pappè 2011). Palästinenser:innen in Jerusalem haben eine Sonderstellung in diesem System inne, da sie seit der »Annektion Jerusalems« und des Westjordanlandes im Jahr 1967 als staatenlos gelten und nur eine durch Israel ausgestellte Aufenthaltsgenehmigung besitzen. Dies änderte sich auch nicht nach den 1994 abgeschlossenen Oslo-Verträgen, die das palästinensische Gebiet des Westjordanlandes in drei Verwaltungszonen mit graduellen Zugeständnissen an die palästinensische Autonomieverwaltung gliederte. Stattdessen wurde im Zuge einer israelischen »Wiedervereinigung« unter dem Namen Greater Jerusalem Ostjerusalem Teil des israelischen Staatsgebietes und Hauptstadt des Staates. Palästinenser:innen, die in Jerusalem geboren werden und leben, unterstehen der israelischen Jurisdiktion, und sind in ihrem Status den israelischen Staatsbürger:innen untergeordnet. Sie besitzen zwar eine israelische Identitätskarte, aber keinen Pass, und haben lediglich eine Aufenthaltsgenehmigung, die jederzeit aufgekündigt werden kann. Diese Form der Staatenlosigkeit beschreibt nicht nur einen anormalen politischen Zustand, sondern prägt das Gefühl der Ausgeschlossenheit für Palästinenser:innen in der eigenen Stadt, das konstituierend für ihre Subjektentwicklung ist.

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Staat und Gesellschaftsordnung Welche Auswirkungen dieser Status auf das Verhältnis zur Gesellschaft und Öffentlichkeit hat, wird in dem Band Sprache, Politik, Zugehörigkeit (2007) von Judith Butler und Gayatri Chakravorty Spivak deutlich. Im Gespräch setzen sich beide mit den Bedingungen und Auswirkungen von Staatenlosigkeit auseinander, die für weitere Überlegungen hinsichtlich der Beziehungen zwischen politischem Status und Öffentlichkeitsbildung in unserem Fall herangezogen werden sollen. Staatenlose, so Butler, werden in dem Moment produziert, indem ihnen die juridische Zugehörigkeit zu einem Staat untersagt wird. Sie zieht für ihre Überlegungen Hanna Arendts Vita activa – Vom tätigen Leben aus dem Jahr 1958 heran, sowie Arendts Kritik am Nationalstaat (Arendt 2011/1958). Erst der Nationalstaat als juristisches Gebilde ist in der Lage dazu Staatenlosigkeit zu produzieren, da er nationale Minderheiten entrechten und ausschließen kann (Butler/Spivak 2007: 20). Interessant ist jedoch insbesondere Butlers Kritik an Arendts Verteidigung der öffentlichen Sphäre, die Arendt als Gegenmodell zum Nationalstaat anführt. Die griechische Polis bildet den Ursprung des europäischen Modells von Meinungsbildungsprozessen. Butler kritisiert, dass auch die Polis ähnliche ›Rassen‹ – und Klassenunterschiede durchsetzten, die Ausschlussmechanismen und damit »Staatenlosigkeit« herbeiführten (Butler/Spivak 2007: 21). Der Rückgriff Arendts auf das alte Athen als Gegenmodell zum Nationalstaat übersieht demnach ein grundlegendes Ausschlussverfahren, und belegt, dass bereits hier der Zugang zu öffentlichem Raum und Teilhabe an Meinungsbildung bestimmten Gruppen im sozialen Gefüge verwehrt wurde. Was zunächst als Argument zur Bestätigung der epistemischen eurozentrischen Wurzeln der öffentlichen Sphäre gelten könnte, entwickelt Butler weiter für eine kritische Auseinandersetzung mit Bedingungen und Auswirkungen von Staatenlosigkeit. Zieht man diese theoretische Überlegung für das gestörte Verhältnis zum öffentlichen Raum der Palästinenser:innen in Jerusalem heran, eröffnet sie eine Möglichkeit, diese verstehbar zu machen. Als Anwohner:innen wurde ihnen die juridische Zugehörigkeit zu einem Staat untersagt, der sie eben als staatenlos definiert. Butler zufolge sind Staatenlose »einer Polis als deren interiorisiertes Außen einbehalten« (ebd.: 16), ein Zustand der subjektkonstituierend ist und Staatenlose bestimmt, territorial zuordnet und gleichzeitig entmachtet und von den Rechten Staatsangehöriger ausschließt. Im Vergleich zu den Staatsangehörigen ist ihnen der Zugang zur öffentlichen Sphäre nicht möglich, was sich auch auf ihre Repräsentation im physischen öffentlichen

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Raum auswirkt. Die daraus resultierenden Konsequenzen für das Verhältnis zum öffentlichen Raum in Jerusalem spiegeln sich in den Beobachtungen und Aussagen in den Gesprächen mit Anwohner:innen wieder.

Der öffentliche Raum In Nancy Fraser Schrift Transnationalizing the Public Sphere (2007) wird das bei Jürgen Habermas verwendete westfälisch-nationale Konzept der Öffentlichkeit und Meinungsbildung durch ein Konzept der transnationalen Öffentlichkeit abgelöst, welches, Fraser zufolge, einer transnationalen Realität eher entspräche (ebd.: 81). Sowohl Fraser als auch Michael Warner entwickeln Konzepte zu Gegenöffentlichkeiten, die sie als eine notwendig für Minderheitengesellschaften beschreiben, da diese von der politischen Interaktion und Integration der Mehrheitsgesellschaft ausgeschlossen bleiben. Warner spricht in diesem Fall von einer »graduellen und andauernden Ausgrenzung einer Minderheit« und vergleicht dies mit dem Fall einer politischen Depression: »a blockage in activity and optimism, a disintegration of politics towards isolation, frustration, anomie, forgetfulness.« (Warner 2002: 415). Fraser spricht in ihren theoretischen Abhandlungen von diskursiven Arenen, in denen untergeordnete soziale Gruppen Gegenöffentlichkeiten entwickeln, die es ihnen erlauben, Gegenentwürfe ihrer Identität, Interessen und Bedürfnisse zu abzustecken. Gegenöffentlichkeiten bieten demnach nicht nur Raum zur Identifikation und Anerkennung, sondern sind auch Ausgangspunkt für mögliche Agitationen und Widerstände gegen die hegemoniale Öffentlichkeit (Fraser 1990: 66). Hier überschneiden sich die Vorstellungen und das Interesse partizipative Kunstinterventionen, öffentliche Raumkonstruktion und dominierende Öffentlichkeit zu hinterfragen mit der Kritik an Habermas’ bürgerlichem Öffentlichkeitsmodell. Frasers und Warners Modell der Gegenöffentlichkeiten und transnationalen öffentlichen Räumen scheinen Konzepte für die spezifische Situation in Jerusalem anzubieten, um die hegemonialen Machtverhältnisse zu thematisieren und mit der ›Minderheitengesellschaft‹ eine Gegenöffentlichkeit zu aktivieren, der ihnen Anerkennung und Raum zur Identifikation bieten kann. Greifen diese Gegenmodelle zu Habermas Öffentlichkeitstheorie auch im Falle einer Staatenlosigkeit, wie diese bei Butler beschrieben wird?

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Von Spuren und Narben Auch wenn die beschriebene Situation für Palästinenser:innen auf den ersten Blick der Minderheitengesellschaft Warners ähnelt, ist nicht zu vernachlässigen, dass wir es hier mit Staatenlosigkeit zu tun haben. Zusätzlich spielt die komplexe (post-)koloniale Geschichte Jerusalems, die bis zum Osmanischen Reich zurückreicht, aber auch die Zeit des Britischen Mandats in Palästina zwischen 1919 und 1948 miteinschließt, eine wesentliche Rolle um einschätzen zu können, inwiefern Fraser und Warners Konzepte in Ostjerusalem greifen könnten (Barakat 2016; Tamari 2000; Shihade 2017: 79ff.). In ihrem Artikel Urban Planning, Colonialism, and the Pro-Jerusalem Society, hebt Rana Barakat (2016) das hegemoniale Verhältnis zwischen in Jerusalem lebenden Palästinenser:innen und der Stadtentwicklung hervor, die von dem Machtverhältnis zwischen Kolonialisierten und Kolonialherren geprägt ist. Sie verweist darauf, dass es für das Verstehen der gegenwärtigen Realität der Stadt grundlegend ist, tief in die verschiedenen Ebenen der kolonialen Geschichte zu schauen (Barakat 2016: 22), also nicht nur in die jüngste, sondern bis hin zur Osmanischen Epoche. Eyal Weizmann spricht in seinen Analysen gar von einer komplexen und vielfältigen Geschichte Jerusalems, die ihre »Spuren und Narben« in der palästinensischen Gesellschaft hinterlassen habe (Segal/Tartakove/Weizman 2003: 79ff.). Während Untersuchungen zur kulturellen Erinnerung von eingeschriebener Erinnerung sprechen. Abgeleitet von psychologischen Untersuchungen zu Trauma und Vertreibung sind dazu interessante Erkenntnisse gewonnen worden, die sich auf die gesammelten Beobachtungen der Vorbereitungszeit zu den partizipativen Kunstinterventionen übertragen lassen und eine Möglichkeit eröffnen, die traumatischen Erlebnissen der Bewohner:innen in Bezug zur Stadtverwaltung und öffentlichen Raum in eine weitere Analyse einzubauen. Edward S. Casey etwa deutet in seinen Untersuchungen zu traumatischen Erlebnissen auf einen Schmerz, der seine zerstörerische Kraft nie verliert, insbesondere nicht, wenn dieser mit der Erniedrigung der eigenen Person verbunden war (Casey 2000: 156f.). Wie sehr sich Erinnerungen fortwährender Verunsicherung, Umsiedelung und koloniale Geschichte in den Körper einschreiben, haben auch die Untersuchungen von Gayatri Gopinath belegt. Sie bezeichnet den Körper als Erinnerungsarchiv, der zurückliegende Erfahrungen über lange Zeiträume abspeichert (Gopinath zit.n. BlachnickaCiacek 2016: 121). Casey bezeichnet dies als Immanenz der Erinnerungen und ist damit in der Lage, den Grad der Verbindung zwischen vergangener Erfahrung und gegenwärtiger Handlung zu beschreiben.

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Versuch einer Anpassung Tragen wir diese Erkenntnisse zusammen und beziehen sie auf die Situation der palästinensischen Anwohner:innen Jerusalems, so kann die Jahrzehnte lange Kolonialgeschichte zusätzlich als konstituierend für das Verhältnis zum öffentlichen Raum genannt werden. Diese Erfahrung hat sich tief in die Körper eingeschrieben, bestimmt ihr Verhalten, ihre Stellung und Vorstellungen. Man verharrt in der Position und Rolle, die einem:einer in der hegemonialen Gesellschaft zugewiesen wird – um in Ruhe gelassen zu werden oder einfach nur überleben zu können (vgl. Lloyd 2000: 219). Neben der Tatsache, dass der Status des interiorisierten Außen nicht eindeutig mit dem Status einer Minderheit übereinstimmt, sind die kolonialen Erfahrungen und Traumata konstituierend für das gegenwärtige Verhältnis zwischen Subjekt, Staat, Gesellschaft und Raum. Die Kritik Frasers und Warners an Habermas’ Öffentlichkeitsmodell ist in unserem Fall nicht ausreichend und muss durch postkoloniale Überlegungen ergänzt werden. Boaventura de Sousa Santos unterzieht in seinem Text Public Sphere and Epistemologies of the South (2012) Habermas Theorie zur Öffentlichkeit einer dekolonialen Lektüre, in der er auf den Widerspruch der als universal gültig angesehenen Herstellung eines bildungsfördernden öffentlichen Raums eingeht. Er beschreibt seinen Versuch als einen notwendigen Schritt, um die universalisierenden Narrative des dominierenden Öffentlichkeitsmodell zu provinzialisieren, da diese auf epistemologischen Annahmen der europäischen Philosophiegeschichte beruhen, die die Realitäten kolonialer Gesellschaften nicht reflektieren (Santos 2012: 62). Über Strukturen des Kolonialismus und Kapitalismus wandelten sich die ehemals als lokal zu definierenden Bestrebungen Öffentlichkeit herzustellen, in ein globales Ziel und strebten universale Gültigkeit an. Doch Santos weitet seine Kritik auch auf die Gegenmodelle des Habermas´schen Öffentlichkeitsmodells aus. In Santos Ausführungen zu einer Epistemologie des Südens liefert er Gründe für einem vorsichtigen Umgang mit Vorschlägen gegenhegemonialer Begriffe zur Öffentlichkeit. Nach Santos können sie sich nicht aus ihren Bezügen zur philosophischen europäischen Ideengeschichte lösen und erzeugen in ihrem Versuch in (ehemals) kolonisierten Gesellschaften produktiv zu werden, ähnliche Probleme wie Habermas’ Öffentlichkeitsmodell (ebd.: 47). Somit sehen sich die von mir zunächst herangezogenen theoretischen Überlegungen aus der politischen Theorie zu subalternen öffentlichen parallelen Öffentlichkeiten – wie etwa die von Fraser und Warner – weiterhin in einem Dilemma gefangen: Die gegenhegemonialen Modelle bauen auf Grundannahmen auf, die die Realitä-

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ten ehemals kolonialisierter Gesellschaften nicht widerspiegeln. Sie setzen so die epistemische Vorannahmen fort, die nicht nur auf der US-amerikanischen und europäischen Annahme beruhen, dass Teilhabe im öffentlichen Raum für alle als Idealvorstellung verinnerlicht ist und lediglich aktiviert werden muss. Frasers und Warners Modelle sind demzufolge als Anleitungen im Umgang mit der Situation in Jerusalem wenig sinnvoll. Das spezifische Modell der Gegenöffentlichkeit kann nur von marginalisierten Gruppen in Anspruch genommen werden, die nicht von den juridischen Rechten eines Staatenbürgers ausgeschlossen sind. Für staatenlose Subjekte erweist es sich als unbrauchbar. Die Überlegungen zum öffentlichen Raum aus der politiktheoretischen Diskussion um Staatzugehörigkeit, Emanzipation und Öffentlichkeit bestätigen die Annahme, dass der kunsttheoretische Diskurs die politischen und sozialen Bedingungen partizipativer Kunstinterventionen übersieht (vgl. Spohn 2016). Sie belegen die konstituierende Beziehung zwischen öffentlichen Raum und Öffentlichkeit und partizipativen Kunstinterventionen, die diese mit dem emanzipatorischen Instrumentenkatalog funktionierender Demokratien verbindet. Dessen Genese ist durch die über 500 Jahre alte Demokratieentwicklung Europas und der USA zu lesen, die exklusiv war und nur von einem kleinen Teil der Menschheit gelebt werden konnte und kann (vgl. Bellamy 2015; Mignolo 2009; Mustapha 2012). Der Punkt der Exklusivität wird in der aktuellen Debatte um aktivistische partizipative Kunst vernachlässigt (vgl. Moser 2014). Zwar fokussiert die Debatte den widerständigen Charakter der partizipativen aktivistischen Kunstform übersieht jedoch dessen Universalitätsanspruch bezüglich des Öffentlichkeitsbegriffes, der unhinterfragt zu bleiben scheint (Ziai 2012: 282ff.). Dieser Rückschluss erläutert in Ansätzen den in der Praxis erlebten weißen Fleck in der Kunsttheorie, die sich nicht auf eine lokale außer-europäischen Situation übertragen lässt. In ihrem emanzipatorischen Anspruch übersieht die partizipative Kunstpraxis oft ihre eigene Ausgangsposition, die für das Verhältnis zum öffentlichen Raum und für dem Mehrwert der konzeptionell partizipativen Herangehensweise und das Aktivieren des öffentlichen Raumes konstituierend ist. Der Versuch, etwas aktivieren zu wollen, welcher aus der Perspektive der zur Teilnahme angefragten Anwohner:innen keinen Sinn macht, steht nicht nur für die Ahnung, dass das Konzept des Aktivierens eines öffentlichen (Gegen-)Raumes in einem umkämpften Ort wie Jerusalem im Sinne der kanonisierten partizipativen Kunsttheorien nicht greifen kann, sondern beschreibt auch den von Spivak formulierten double bind. Jeder Versuch, eine Lösung für ein Problem zu finden kreiert ein neues Problem, keine Ideologie oder Theorie ist unberührt,

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pur oder kann als harmlos angesehen werden. So können als gegenhegemoniale angesetzte Bewegungen hegemoniale Züge aufweisen oder gegenethnozentrische Strategien die einen Universalismus kritisieren, in einen Kulturrelativismus fallen (Andreotti 2014:105). Der erwähnte weiße Fleck zwischen kunsttheoretischen Überlegungen und konkreter Praxis ist nicht nur ein Beleg für eine fehlende Reflexion politischer und sozialer Theorien allgemein, sondern beschreibt zudem eine weitere Bewegung, die Spivaks double bind aufspürt. Der emanzipatorische kuratorische Ansatz der partizipativen Kunstintervention erhofft sich eine Kritik am Status Quo, kann sich in unserem Fall aber nicht von dem lösen, was er kritisiert. Emanzipatorische Konzepte der partizipativen Kunst befinden sich in einem Dilemma, das selbst postmoderne Kritiken nicht einfach auflösen können, da auch ihr kritischer Ansatz, die in die Körper eingeschriebenen existentiellen kolonialen Erfahrungen der Subjekte in ihrem Verhältnis zum Staat nicht adäquat berücksichtigt. In dem dargelegten Fall ist dieses Erbe von grundlegender Bedeutung, da die Subjektivierung des bürgerlichen Selbstverständnisses als Ist-Zustand angenommen wird, von dem aus weitere Schritte erfolgen können. Zur Verdeutlichung: Selbst wenn das Verhältnis zum Staat aus erster Sicht durch provokativ, aktivistische, künstlerische Auseinanderzungen zum öffentlichen Raum, Teilhabe und Mitbestimmung hinterfragt wird, geschieht dies aus unhinterfragten Vorannahmen, die aus der westlichen Ideengeschichte generiert wurden. Folglich haben wir es hier mit zwei Problemfeldern zu tun. Zum einen wird deutlich, dass die Erklärungsmodelle in der kunsttheoretischen Debatte um partizipative Kunstpraxis nicht wirklich adäquat sind, zum anderen wird der double bind in der Nutzung aktivistisch angesetzter gegenhegemonialer Theorien zum öffentlichen Raum in außer-europäischen Kontexten sichtbar, der selten reflektiert wird. Ein letzter wichtiger Punkt in diesem Zusammenhang sind die Privilegien von Künstler:innen und Kurator:innen, die einer Reflexion bedürfen. Wenn Künstler:innen und Kurator:innen als Staatsbürger:innen des globalen Nordens aktivistische Aktionen im globalen Süden aktivieren, so bleiben sie notwendigerweise gefangen in einem double bind. Oft übersehen diese, dass sie hegemoniale Machtstrukturen herausfordern können, ohne dabei Gefahr zu laufen, die eigene Existenz grundsätzlich zu gefährden. Auch im Falle einer Provokation bleiben »kritischen Künstler:innen« eben »kritische Mitglieder eines westlichen Staates« und werden durch diesen geschützt. Im Gegensatz zu Staatenlosen können sie sich auf ein Rechtssystem berufen. Wir haben es hier

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also mit einer Absicherung zu tun, aus der heraus agiert werden kann. Privilegien werden leicht übersehen, wenn Räume betreten werden, die von ihren postkolonialen Erinnerungen, Zuschreibungen, politischen Umwälzungsprozessen, und kolonialen Lebenssituationen gezeichnet sind oder in Projekten mit Staatenlosen zusammengearbeitet wird. Wird diese Komplizenschaft jedoch nicht reflektiert, können auch noch so gut gemeinte emanzipatorische Ansätze nicht greifen.

Schlussfolgerung und Ausblick Über die Analyse der retrospektiv festgehaltenen Erfahrung zur Projektumsetzung partizipativer Kunstinterventionen ist ein Übersetzungsfehler in der theoretischen Annahme aufgefallen, der davon ausgeht, dass (trotz politisch begründbarer verschärfter Lebenssituation) emanzipatorische Ansätze aus dem westlichen (Kunst-)Theoriekontext zur partizipativen Intervention im sozialen Raum als subversive postkoloniale Praxis richtungsweisend sein könnten. Eine Transferleistung der tradierten Konzepte muss eine Berücksichtigung lokalspezifischer Bedingungen des öffentlichen Raumes beinhalten und die reale politische Praxis in den Blick nehmen. Postmoderne Ansätze zu Gegenöffentlichkeiten können hier nicht ohne Weiteres greifen, da auch sie in einer europäischen Ideengeschichte eingebunden sind, die danach verlangt in ihrer Gewaltsamkeit gelesen und begriffen zu werden. Partizipative Kunstkonzepte können nicht per se als emanzipatorische Ansätze einer postkolonialen Kunstpraxis in globalen Süden angewandt werden, ohne zuvor ihre Paradigmen zu überprüfen. Statt einer Übernahme muss versucht werden, die Kategorien, auf denen eine partizipatorische Praxis aufbaut, für die besondere Situation in Jerusalem zu übersetzen. Die Erfahrungen, die an einem Ort wie Jerusalem gesammelt werden konnten, können als Chance genutzt werden, für eine kritische Reflektion der tradierten Konzepte, auf der Suche nach Antworten jenseits hegemonialer Wissensmodelle, auch wenn gleichsam ein Entkommen aus dem double bind nicht möglich ist. Wichtig ist jedoch festzuhalten, dass es nicht darum gehen kann, singuläre Wahrheiten zu universalisieren, sondern eher darum, Pluralitäten einzufordern, wie es der Pädagoge Munir Fasheh (2011, o.S.) es formuliert:

Alia Rayyan: Praxis der Risse

»The worst conquest is that of knowledge. It led to conquering diversity and pluralism in living by a modern superstition: the belief in a single universal path for knowing, learning, and progressing«. Die Anerkennung anderer Wissensgebiete klingt auch in Spivaks sechstem Kapitel ihres Buches An Aestethic Education in the Era of Globalization an. Hier bemerkt sie, dass es wichtig ist »to recognize agency in others, not simply to comprehend otherness, or even to recognize as other« (Spivak 2012: 142). In ihren Auseinandersetzungen liest man eine Bewegung heraus, die zwischen Theorie und Praxis hin – und her zu pendeln scheint. Eine Bewegung, die versucht soziale und historische Interdependenzen in Beziehung zum Drängen nach Veränderung zu setzen (Spivak 2012: 52ff.). Dem double bind können wir dadurch zwar nicht entkommen, aber wir könnten diese Bewegungen dazu nutzen weiterzugehen, immer im Bewusstsein der unauflösbaren dilemmatischen Situation. Für den hier aufgeführten Fall könnten diese Überlegungen dazu auffordern, trotz des offensichtlichen double binds in dem sich die eigene kuratorische Praxis gefangen sieht, die Reflexion zum kunsttheoretischen Diskurs partizipativer Kunstinterventionen immer wieder durch ein Einbeziehen konkreter Erfahrungen und lokaler Bedingungen zu hinterfragen – ohne dabei nach universalen Lösungen zu suchen. Stattdessen wäre es möglich, zwischen einem praktischen Erproben mit lokalen Bedingungen und der Suche nach alternativen Wissensproduktionen hin und her zu pendeln und dieses Pendeln als persistenten Zustand zu akzeptieren.

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Performative Begegnungen mit der Stadt Der Spaziergang als kollektive Methode des Verlernens1 Carla Bobadilla

Für Matthias, Mathilde und Charlotte.

Im Rahmen von kunstbasierten Workshops, die ich seit 2009 für Kinder, Jugendliche und Erwachsene durchführe, liegt mein Fokus auf postkolonialen Fragestellungen. Das heißt, dass ich mich damit beschäftige, wie ein koloniales Denkgebäude unsere heutigen Lebens-, Denk- und Arbeitsbedingungen prägt: Fragen der ökonomischen Ungleichverteilungen zwischen dem Globalen Norden und dem Globalen Süden, Ausgrenzungen entlang rassistischer Ordnungskategorien, Grenzregime etc. Die Fragen, mit denen ich mich anfangs konkret beschäftigt habe, hatten mit dem Import von Lebensmitteln oder Rohstoffen aus dem Globalen Süden und deren ökonomischen Auswirkung zu tun, aber auch mit dem Transfer von Kultur bzw. Kulturgütern. Dabei lag und liegt das Hauptaugenmerk meiner Forschung darauf, verborgene Geschichten aufzudecken, die noch aus der Zeit stammen, in der Europa Kolonien besaß, um herauszufinden, wie diese Geschichten noch heute im europäisch-urbanen Raum präsent sind. Hier interessiert mich insbesondere das Herstellen von dialogischen Lernsituationen, die sich sowohl an ein weißes Publikum als auch an diasporischen Familien, Menschen aus einem migrantischen Lebenszusammenhang und People of Color richten. Von Anfang an fanden diese Workshops in Schulen, Museen und Universitäten statt, was mich in eine Auseinandersetzung mit diesen Kontexten brachte. An diesen Orten konnte ich auf beruflicher und auch auf persönlicher Ebene

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Ich danke Claudia Frikh-Kahr für die Übersetzung aus dem Spanischen und Karin Schneider für ihre wertvollen Hinweise und Korrekturen.

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erleben, wie sich Rassismus sowohl in den Verhaltensregeln, welche die Institutionen prägen, äußert, als auch in den Verhaltensweisen mancher Menschen die in diesen Institutionen arbeiten und die einen institutionalisierten Rassismus verinnerlicht hatten. Diesbezügliche Erfahrungen veranlassten mich, über die Notwendigkeit der Sensibilisierung und Weiterbildung derjenigen nachzudenken, die an Bildungsprozessen in Schulen, Museen und Universitäten beteiligt sind, die gute Intentionen haben, aber gleichzeitig Stereotypen und rassistisches Verhalten wiederholen und reproduzieren.

Theoretischer Rahmen Die theoriebezogene Rahmung und Inspirationsquelle meiner eigenen Arbeit verortet sich im Feld der Postkolonialen Kritik. In deren theoretischem Rahmen wurde herausgearbeitet, wie sich die Vorstellung eines »Westens« und »Europas« in diskursiver Abgrenzung zu ehemaligen Kolonien des Globalen Südens herausbildeten und wie Europa ethische und kulturelle Unterschiede nutzte, um die »Überlegenheit« seiner eigenen Identitätskonstruktionen zu behaupten (etwa Hall 1992; Said 2002). Diese Kritik findet sich auch in den Schriften dekolonialer Denker (etwa Quijano 2000, Dussel 1995), die im Unterschied zu den Postkolonialen Theorien, die Amerikas in ihrer Forschung fokussieren. Diese Theorien helfen die Kontinuität rassistischer Imaginationen die von Europa ausgehen zu verstehen. Meine weiteren wesentlichen Bezugspunkte sind die Theorie- und Politikansätze von Feminist:innen of color (etwa hooks 2004) sowie jene im Kontext des Grenzdenkens und des Indigenismo (etwa Anzaldúa 2004; Rivera 2019). Diese Schriften bieten wichtige Werkzeuge der Reflektion für diejenigen von uns, die beabsichtigen, im Sinne eines intersektionalen und antipatriarchalen Kampfes zu arbeiten, der von persönlichen Erfahrungen ausgeht und gleichzeitig die Bedeutung des kollektiven Erinnerns und Handelns berücksichtigt. Der Ort der Artikulation ist dabei in meiner Arbeit ein zentrales Konzept: Es ist nur möglich zu handeln, wenn sich jemand seiner:ihrer eigenen Subjektposition und der historischen Dimension dieser Position klar ist. Diese Überlegungen ermöglichen es insbesondere die Erfahrung »außereuropäischer« Subjekte zu verstehen. Also die Erfahrungen jener, die aus Ländern kommen, die mit den Konsequenzen der unglaublichen Verwüstungen der Kolonialzeit und der Kolonisierung des Geistes zu leben lernen mussten.

Carla Bobadilla: Performative Begegnungen mit der Stadt

Gleichzeitig helfen uns die oben genannten theoretischen Ansätze dabei, aus unseren eigenen Erfahrungen heraus die Umwelt, in der wir leben, sowohl körperlich als auch intellektuell zu hinterfragen. Wie ich im Folgenden anhand von Praxisbeispielen zeigen werde, sind es die Verbindungen zwischen körperlichen und intellektuellen Erfahrungen und hier eigens die Verbindung zwischen der individuellen und kollektiven Dimension, die meine Arbeit prägen und die ich in den von mir geschaffenen Situationen mit anderen teilen möchte. Mit Hilfe dieser Ansätze können kritische Lehrsituationen und Kunstprozesse entwickelt werden, die sich in einer ständigen Interaktion zwischen den Teilenehmenden entfalten. Die Postkoloniale Theorie und die Schriften von Feminist:innen of Color haben mir zudem geholfen zu verstehen, wie tief der Rassismus in unseren Gedanken und Einstellungen verwurzelt ist, wie sehr er dadurch Teil unserer Lehrtätigkeit sowohl im Familienkreis als auch in den Bildungsinstitutionen ist und zwar unabhängig davon, ob wir uns dessen bewusst sind oder nicht. Dieser häufig nicht infrage gestellte und internalisierte Rassismus zeigt sich mitunter in banalen Praxen aber auch in strukturellen Entscheidungen. Ich erinnere mich beispielsweise an eine Situation im Rahmen eines Workshops, den ich in einer Neuen Mittelschule im 16. Bezirk in Wien hielt. Dies ist ein überwiegend von Arbeitsmigrant:innen bewohnter Bezirk. Viele sind bereits über einige Generationen in Wien und haben vor allem türkische Familienbezüge. Die Lehrerin zeigte sich verständnisvoll angesichts der Tatsache, dass es mir Probleme bereitete, mir alle Namen der Schüler:innen zu merken. Sie bemerkte, dass es in ihrer Schulklasse nur ein Kind mit einem Ihrer Ansicht nach »normalen« Namen gäbe. Sie bezog sich darauf, dass der Name des Jungen österreichisch war und dass die Namen aller anderen Schüler:innen »ausländische«, also » nicht normale« Namen seien, die sich die Lehrer:innen selbst nur schwer merken konnten. Ähnlich problematische und widersprüchliche Situationen erlebte ich in der Universität oder in Museen, wenn z.B. geflüchtete Menschen als neue Zielgruppen von Kunstvermittlung adressiert werden, ohne sie dabei als sprechende Subjekte wahrzunehmen, die ihrerseits das Museum als einen problematischen Ort europäischer Wissensbildung adressieren könnten (zur Problematik der Anrufung von Besucher:innen siehe Sternfeld 2005; zu den unterschiedlichen Funktionen von Kunstvermittlung zwischen Affirmation und Transformation siehe Mörsch 2009).

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Mir geht es im Folgenden jedoch nicht um eine simple Anklage oder um einen den Problematiken enthobenen Standpunkt außerhalb dieser belasteten Orte – arbeite ich doch in und mit den Institutionen. Vielmehr ist mein Anliegen, die Widersprüche, die jeweiligen Verstrickungen und die unbewussten Momente in der Herausbildung von Rassismus sichtbar, empfindbar zu machen und Prozesse des Ver-Lernens in Gang zu setzen, die alle betreffen: die Institutionen, die Teilnehmenden, mich als durchführende Künstlerin, die Studierenden und Kolleg:innen mit welchen ich kooperiere etc. Diese Widersprüche in der Vermittlungsarbeit sind auch als double bind im Sinne Spivaks (2012) beschreibbar. Es handelt sich um Programme, die in Prinzip gut gemeint sind, aber durch den Mangel an Auseinandersetzung mit verinnerlichtem rassistischem Denken Ausschlüsse verursachen. Die Widersprüche sind tief in die Strukturen eingelassen und insoweit nicht durch einfache kleine didaktische Tricks zu überwinden. Mit »Scheitern als Möglichkeit des Ver-Lernens« bezieht sich auch María do Mar Castro Varela (2010) auf die Notwendigkeit des Infragestellens, um das während der Kolonialzeit auferlegte Erbe zu verlernen und so gleichsam neue Kenntnisse zu generieren. Castro Varela schlägt vor, vor allem von denjenigen zu lernen, die kein Recht auf Äußerung haben oder historisch gesehen kein Recht auf Äußerung hatten; denen gewissermaßen die Sprecher:innenpsoition vereitelt wurde. Es werden zwei Kunstprojekte aus den Jahren 2016 und 2017, die aus Lernsituationen entstanden sind, in denen ich, inspiriert von postkolonialen und dekolonialen Theorien und feminisms of color, performative Perspektiven entwickelte, wie die Stadt aus einer intersektionalen Perspektive verstehbar wird. Beide Projekte schlagen ein Quer- und Gegenlesen der offiziellen Geschichte Wiens vor. Sie verstehen sich als Schritte in Richtung einer Dekonstruktion rassistischer Selbstverständlichkeiten.

Geschichte einer Gasse. Kaffee und seine Manifestationen – eine Stadtführung Die Julius-Meinl-Gasse befindet sich im 16. und 17. Wiener Gemeindebezirk und verbindet diese. 1954 erhielt die ehemalige Nauseagasse zu Ehren des Industriemagnaten und Kaffeeimporteurs Julius Meinl seinen Namen, weil sein Unternehmenssitz, Geschäfte und Produktionsstätten sich seit Anfang des 20. Jahrhunderts in diesem Teil der Stadt befinden.

Carla Bobadilla: Performative Begegnungen mit der Stadt

Anlässlich des Festivals SOHO in Ottakring2 im Jahr 2015 wurde ein Call gestartet, der künstlerische Projekte zum Thema »In aller Munde« suchte. In diesem Zusammenhang stellte ich ein Projekt mit künstlerischen Interventionen vor, dessen Ziel es war, die Geschichte der Julius-Meinl-Gasse sowie des Unternehmens Julius Meinl aus kritischer, postkolonialer Perspektive neu zu beleuchten. Mein Interesse bestand in erster Linie darin, die historische Verantwortung des Unternehmens für eine Tradition aufzuzeigen, die nicht nur auf dem Import von Produkten aus ehemaligen Kolonien (Kaffee und Kakao), sondern auch auf den rassistischen Bildern, die im Marketing Verwendung fanden und finden, beruht. Gleichzeitig nimmt diese Straße an einem Ort ihren Ausgangspunkt an dem sich ein Mahnmal gegen den Faschismus befindet, weswegen es Sinn machte, die Verbindungen zwischen Kolonialismus, Rassismus und Nationalsozialismus herauszuarbeiten und Raum für Gegenerzählungen hegemonialer Geschichtsbilder zu ermöglichen. Gemeinsam mit Student:innen des von mir geleiteten »Praktikums zur Erschließung außerschulischer Berufsfelder« an der Universität für angewandte Kunst in Wien entwickelte ich einen Stadtspaziergang. An den unterschiedlichen thematischen Stationen nutzen wir künstlerische Methoden, wie Performances und Interventionen, um die Geschichte des Ortes und des Unternehmens zu erzählen. Dabei gingen wir auch auf die Auswirkungen von Praxen und Diskursen von Kolonialismus und Identitätskonstruktionen auf unseren heutigen Alltag als Bewohner:innen und Konsument:innen dieser Stadt ein.

Die Wiener Vororte als Ort, an dem die Rohstoffe aus den Kolonien zu Produkten mit internationalem Ruf wurden Die Julius-Meinl-Gasse verläuft nicht zufällig parallel zur als Vorortlinie bezeichneten Schnellbahn S45. Bereits im ausgehenden 19. bzw. frühen 20. Jahrhundert wurden auf dieser Zugverbindung die Rohstoffe aus den Kolonien di-

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Das Festival SOHO in Ottakring begann 2002 als Künstler:innen-Initiative mit dem Ziel, die Werkstätten der im 16. Bezirk ansässigen Künstler:innen für das öffentliche Publikum zu öffnen. Diese befanden sich vor allem um den Yppenplatz und in einigen Straßen des Bezirks. Seit 2014 findet das Festival alle zwei Jahre statt. Der zentrale Aktionsort befindet sich heute im Gebiet Sandleiten am nordwestlichen Rand von Ottakring. Hier befinden sich Wohnkomplexe des sozialen Wohnungsbaus, die in den 1920er Jahren errichtet wurden.

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rekt zu den Fabriken in diesen Bezirk geliefert3 . Die Wiener Firma Julius Meinl verfügte sogar über ein eigenes Zollamt, das sich innerhalb dieses Industriegebiets befand (Lehrbaumer 2000: 27ff.). Hier wurden die globalen Importe direkt verwaltet und kontrolliert. Bereits bevor das Unternehmen im Jahre 1912 in diese Gegend zog, besaß es Niederlassungen an mehreren Standorten der Stadt Wien. Die älteste befand sich am Fleischmarkt 7 im 1. Wiener Bezirk. Dieses ehemalige Firmengebäude existiert bis heute und die Verzierungen seiner Fassade zeigen den Import des Kaffees aus Afrika und Zentralamerika nach Europa. Vier Szenen zeigen das Ernten der Früchte durch versklavte Menschen als auch die Herren des Imports und ihre Schiffe. Aufgrund der steigenden Nachfrage nach Produkten wie Kakao, Tee und Kaffee erwarb Julius Meinl II, Sohn des Unternehmensgründers im Jahr 1910 einige Grundstücke und weitete die Standorte des Unternehmens aus. Seit 1912 befinden sich das Lager und Teile der Produktion des Unternehmens im 16. Bezirk. Seitdem leben die Bewohner:innen des Bezirks, bedingt durch die zweimal die Woche stattfindende Kaffeeröstung, mit einem ständigen Kaffeegeruch. Ob sie es wollen oder nicht, die Präsenz der Kaffeeproduktion hat die Biografien sowohl derjenigen, die dort jahrelang gearbeitet haben, als auch derjenigen, die dort lebten und mit dem Geruch von geröstetem Kaffee aufgewachsen sind, geprägt. Das Unternehmen produziert zusätzlich bis heute Marmeladen, Gemüsekonserven und andere Produkte, das bekannteste Produkt ist jedoch der Julius Meinl Kaffee. Dieser wird in unterschiedliche Regionen der Welt exportiert, darunter auch in solche, aus denen die Kaffeebohnen als Rohstoff nach Österreich importiert werden.4

Julius Meinl I – ein industrieller Visionär Julius Meinl I (1824–1914) war ein Unternehmer mit tschechischen Wurzeln, der sich 1849 in Wien niederließ. Er war es, der das industrielle Verfahren der Kaffeeröstung entwickelte. Die grünen Kaffeebohnen wurden zu dieser Zeit noch von den Konsument:innen mit einem einfachen Verfahren zu Hause

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Diese Informationen habe ich den Infotafeln des Bezirksmuseums Ottakring entnommen -sowie aus den Vorbereitungsgesprächen mit dem Bezirksmuseumsleiter Dr. Joachim Müller. https://shop.meinl.com/euro_de/ (letzter Aufruf 23.01.2023).

Carla Bobadilla: Performative Begegnungen mit der Stadt

geröstet. Julius Meinl I nutzte die steigende Nachfrage nach dem Produkt, und mechanisierte den Röstungsvorgang, womit der Kaffeekonsum vereinfacht wurde und Kaffee zu einen Massenprodukt wurde (Lehrbaumer 2000: 14ff). Nach einigen Jahren des Experimentierens mit unterschiedlichen Methoden der Röstung und Kaffeemischungen entwickelte er 1877 die erste Maschine, mit der Kaffeebohnen industriell geröstet werden konnten. Damit wurde Julius Meinl zu einem der erfolgreichsten Unternehmen in der Geschichte Wiens.

Das Logo von Julius Meinl und die Geschichte des Unternehmens aus der kritischen postkolonialen Perspektive Neben der Röstung und dem Vertrieb von Kaffee machte sich die Firma Meinl dadurch einen Namen, dass sie in ihren Geschäften dieses und andere »exotische« Produkte anbot, wie zum Beispiel Gewürze, Tee und Kakao aus dem Nahen Osten, aus Asien und aus Lateinamerika. Bis Ende der 1990er Jahre betrieb Julius Meinl in ganz Wien eine eher hochpreisige Supermarktkette und einige Diskonter; heute existiert noch die 1950 eröffnete Hauptfiliale »Meinl am Graben« in der Wiener Innenstadt. Für die Wiener Elite ist dieser Standort Referenz für »Exklusivität« im Rahmen der täglichen Lebensmitteleinkäufe. Viele Kund:innen haben bis zum Jahr 2021 mit Stolz die rote Papiertasche des Geschäfts getragen, auf welcher das alte Logo der Marke – der »Meinl M*« – zu sehen war, ohne sich der rassistischen Repräsentation bewusst zu sein. Die Papiertasche wurde gerne von Tourist:innen als Souvenir gekauft und gilt als »echtes« Erinnerungsstück an Wien.5 Das Unternehmen beschreibt sein emblematisches und gleichzeitig problematisches Logo auf seiner Website folgendermaßen: »Der Julius Meinl M*6 entworfen 1924 vom Wiener Künstler Joseph Binder und in den 50-er Jahren modernisiert vom Leiter der Werbeabteilung Otto

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Die rote Tasche wurde zwischenzeitlich im Zuge der Neugestaltung der Filiale durch eine andere ersetzt, ist dennoch in der Stadt immer noch zu sehen, weil sie gerne getragen wird. Die Bezeichnung M* wird von mir anstatt des M-Worts verwendet um einer diffamierenden Sprache entgegen zu wirken. Auf der Homepage des Unternehmens ist dies nicht der Fall.

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Exinger, verbindet Traditionen aus der ottomanischen Geschichte mit denen der Barockengel der zentraleuropäischen Architektur. Im Kaffee Jungen spiegelt sich in den sympathischen Barockengel ähnlichen Gesichtszügen wieder [sic!]. Das Julius Meinl Logo wurde in den letzten Jahren weiter modernisiert, zuletzt vom Österreichisch- Italienischen Architekten und Designer Matteo Thun.«7 Diese unschuldig-neutral wirkende Beschreibung, ist eine strategische Reaktion der Marketingabteilung des Unternehmens auf die kritischen Stimmen, die in den letzten Jahren bezüglich des Julius-Meinl-M* laut geworden sind. Laut dieser Beschreibung ist die Person mit dunkler Haut ein »Kaffee Junge«. Dass Menschen mit dunkler Haut als Kinder oder Jugendliche dargestellt wurden, war zu der Zeit, als das Logo entworfen wurde, durchaus üblich. Dies entspricht dem, was bspw. innerhalb der Cultural Studies als Infantilisierung des Schwarzen Körpers beschrieben wird (Uerlings 2001: 20ff.). Eine weitere, von diversen Aktivist:innengruppen8 kritisierte, Charakteristik ist, dass die nach unten geneigte Haltung des Kopfes der Figur sie als Bedienstete und als eine passive Figur ausweist. Auch wenn diese Kritik für das Originallogo nicht direkt zutreffen mag – die Figur trinkt selbst Kaffee und aus dieser Trinkbewegung stammt die nach unten geneigte Kopfhaltung – so schreibt sich eine solche Ikonographie dennoch in die Stereotype der M* Dienstbotenfiguren ein und es ist anzunehmen, dass die Figur vor allem in ihrer späteren Verwendung ohne Kaffeetasse in der Form des untertänigen Dieners wahrgenommen wurde. Schwarze Menschen wurden in Bildern oft als Diener bzw. als Kinder dargestellt, um die Machtverhältnisse gegenüber weißen Frauen und Männer zweifelsfrei zu verdeutlichen (Uerlings 2001: 31ff.). Die Firma verteidigt sich gegenüber den wiederholten Anschuldigungen in Bezug auf die rassistischen Elemente des Logos mit dem Argument, dass diese Kritik nicht aktuell sei, da das Unternehmen seit 2005 offiziell ein neues Logodesign verwende, bei dem die dunkle Haut nicht sichtbar wäre, die Figur nicht mehr nach unten geneigt und nur noch die Umrisse des sogenannten »Barockengels« übriggeblieben sei.

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https://shop.meinl.com/euro_de/about/(letzter Aufruf 23.01.2023). http://www.afrikanet.info/de/menu/news/oesterreich/datum/2009/07/28/will-i-moh r/?cHash=7481daf0ee&type=98 (letzter Aufruf 23.01.2023).

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2006 starteten Simon Inou und Markus Wailand eine visuelle Kampagne9 um den rassistischen Charakter des Logos offenzulegen. Das Designbüro toledo i dertschei war damit beauftragt worden, Elemente des originalen Logos zu übernehmen und daraus ein neues Logo zu entwickeln, das dem Protest und dem Kampf gegen rassistische Repräsentation und den daraus folgenden Effekten dient. Dieses Projekt mit dem Namen »Mein Julius«10 soll dem MeinlM* mithilfe einer zur Faust geballten, den Fes umklammernden Hand, eine emanzipatorische und autonome Macht verleihen. Das Unternehmen wehrte diese Kritik offiziell ab und bezeichnete sie als »unangebracht« mit der Begründung, dass das ursprüngliche Logo, das von den Aktivisten Inou und Wailand kritisiert wird, 2005 vom Designer Matteo Thun umgestaltet wurde. Das neu gestaltete Logo basiert auf dem alten, die Hautfarbe wurde jedoch zu Gunsten einer monochromen Farbgebung weggelassen. Auf den meisten Produkten der Marke ist dieses neue Logo zu sehen, nicht jedoch auf solchen, bei denen es um die Verankerung der Tradition geht, wie der Papiertasche von Meinl am Graben und der metallenen Kaffeedose.11 In Osteuropa, wo es zahlreiche Geschäfte der Marke gibt, ist das alte Logo auf Leuchtschildern zu sehen und ist immer noch Teil des Stadtbildes.12 So lässt sich die Intention der Firma, sich vom alten Logo trennen zu wollen, nicht überall verwirklichen. Darüber hinaus trägt der Knabenkopf auch im neuen Logo ein Fes (auch bekannt als Tarbusch) und ist somit als ›orientalisch‹ und damit gleichsam als ›anders‹ und ›untergeordnet‹ markiert.

Geschichte einer Gasse: Künstlerische Strategien postkolonialer Befragung von Geschichte Im Folgenden werde ich einige Stationen des Spaziergangs beschreiben, die in Kommunikation mit einer:einem Teilnehmer:in meiner Lehrveranstaltung 9 10 11 12

http://www.meinjulius.at und http://www.diepresse.com/349610/meinl-mohr-ndash -symbol-des-rassismus (letzter Aufruf 23.01.2023). http://www.meinjulius.at/(letzter Aufruf 23.01.2023). https://www.meinlamgraben.at/Online-Store/Kaffee-Accessoires/Accessoires/JuliusMeinl-Kaffeedose-Gelb-007262 (letzter Aufruf 23.01.2023). https://www.lonelyplanet.com/czech-republic/prague/images/julius-meinl-neon-log o-on-28-r-19027-42 (letzter Aufruf 23.01.2023).

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konzipiert und durchgeführt wurde.13 Wir beginnen mit der ersten Station am Anfang der Gasse am Bahnhof der »Vorortelinie« »Hernals« und beenden den Stadtspaziergang mit der letzten Station im »Kongresspark«.

Ein Denkmal für den Widerstand von der GB1714 Der Architekt Timo Huber, Leiter des Büros, das an der Umgestaltung des Platzes vor der Bahnstation Hernals 2014 bis 2015 beteiligt war, sprach über das Vergabeverfahren des Denkmals »Verfolgung, Widerstand und Freiheitskampf in Hernals 1933–1945«. Das Denkmal ist den Hernalser Opfern des Widerstandskampfes gegen den Austrofaschismus und Bürgerkrieg 1934 und des Widerstands gegen den Nationalsozialismus gewidmet. Mit performativen Vorschlägen gingen wir der Frage nach: Was bedeutet es heutzutage Widerstand zu leisten?

Eine Vorlese-Performance des Buches von Marie Huth Marie Huth nahm das Buch Womit kann ich dienen? 15 als Grundlage für die Auseinandersetzung mit der Konstruktion der Unternehmensgeschichte. Sie entwickelte eine Performance bei der sie aus diesem Buch rassistische Aussagen in Bezug auf das Firmenlogo und den Kaffeeverkauf des Firmengründers Julius 13

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Am Projekt waren folgende Personen beteiligt: Estuardo Chacón (Anthropologe und Kaffee Spezialist), Milena Georgieva (Bildende Künstlerin), Gizework (Performance Künstlerin und Kaffee Spezialistin), Timo Huber (GB *9.,17.,18.), Marie-Therese Huth (Bildende Künstlerin), Nora Lička (Bildende Künstlerin), Clemens Miggitsch (Bildender Künstler), Jochem Müller (Bezirksmuseum Ottakring), toledo i dertschei (studiotid.com), Paul Presich (Bildender Künstler). Die Gebietsbetreuungen sind Büros mit Stadtplanern und Architekten, die sich der Aufgabe widmen, Probleme im Bereich des sozialen Wohnbaus der Gemeinde Wiens anzugehen, die mit der Stadtplanung und mit dem urbanen Design zu tun haben. Diese Büros arbeiten im Auftrag der Stadtverwaltung und sind jeweils für einen oder mehrere Bezirke zuständig. Das Buch Womit kann ich dienen? wurde 2000 im Auftrag der Familie Meinl von Margareta Lehrbaumer geschrieben. Auf beinahe heroische Weise erzählt die ehemalige Mitarbeiterin der Firma die Geschichte der Familie und des Unternehmens und bezweckt damit, beide als mitverantwortlich für das kulturelle Erbe um den Kaffeekonsum in Österreich zu positionieren.

Carla Bobadilla: Performative Begegnungen mit der Stadt

Meinl I sowie dessen Sohn Julius Meinl II vorlas. Außerdem verteilte sie Kopien einiger Auszüge aus dem Buch an das Publikum und schrieb Worte und Begriffe auf ihren Körper, die mit rassistischer Diskriminierung und rassistischer Identitätskonstruktion in Zusammenhang stehen. Ein Beispiel dafür liefert folgenden Satz in einer Karikatur des Julius Meinl II: Ein Fortschrittsmann mag keinen Schwarzen leiden, doch meinen Schwarzen trinkt er gern (Lehrbaumer 2000: 54ff.). Hier ist mit »meinen Schwarzen« der Kaffee Meinl gemeint.

Österreichs kulturelles Erbe von Carla Bobadilla Ich zeigte zwei Fotografien der Serie »Österreichs kulturelles Erbe« von 2016. Auf einer ist das alte Logo des Unternehmens aus der Sicht durch die Arkaden der Staatsoper zu sehen, die andere wurde in einem traditionellen Wiener Kaffeehaus, dem Café Museum, gemacht. Darauf sieht man das weiche Ei, das dort zum Frühstück serviert und mit einem Fes aus Filz abgedeckt wird, um die Temperatur zu erhalten. Das anwesende Publikum zeigte sich überrascht davon, dass beide Fotografien heutige Wiener Alltagssituationen darstellen.

Mein Julius von Carlos Toledo (toledo i dertschei) Vor dem Haupteingang der Firma erzählte uns Carlos Toledo die Geschichte des Logos »Mein Julius«. Das Interessante war, dass wir es mit dieser Erzählung schafften, das beiwohnende Publikum zu aktivieren. Die spontane Reaktion einiger der Anwesenden war, die Aufkleber mit dem »Mein Julius«-Logo direkt auf die Wände der Firma zu kleben. Dies wurde mithilfe von Überwachungskameras aufgenommen und diente später als Argument gegen eine Wiederholung des Projektes.

Der Kaffeekonsum in der neoliberalen Gesellschaft von Estuardo Chacón Der Anthropologe und Spezialist für den Import, die Röstung und die Zubereitung von Kaffee, Estuardo Chacón, verlas eine kritische Stellungnahme zum Kaffeekonsum in der neoliberalen Gesellschaft. In dieser seien die Menschen

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daran gewöhnt, einen Kaffee lediglich per Knopfdruck zu erhalten, ohne darüber nachzudenken, welche Wege und Etappen notwendig sind, bis der Kaffee in Europa konsumiert werden kann. Darüber hinaus wies er darauf hin, dass weiterhin Kaffee von Plantagen importiert wird, auf denen menschenunwürdige Arbeitsbedingungen herrschen.

Die Kaffeeröstung in Äthiopien von Gizework Gizework bietet normalerweise Workshops zur Kaffeeröstung an. Sie möchte damit diese Tradition, die ursprünglich aus Äthiopien stammt, in Österreich bekannt machen. Sie lebt seit einigen Jahrzehnten in Wien. An dieser Station sprachen sowohl Estuardo Chacón als auch Gizework von der Herkunft des Kaffees aus den Bergen Äthiopiens und von der Tradition der Kaffeeröstung und des Kaffeekonsums, die die Familien dort verbindet.

Design und Politik von Carlos Toledo (toledo i dertschei) Carlos Toledo, der uns bereits vom Prozess der Entwicklung des Logos »Mein Julius« berichtet hatte, gestaltete auch das Logo für die Metalldose, in der die Anwesenden des Projekts »Geschichte einer Gasse« die selbst gerösteten Kaffeebohnen mit nach Hause nehmen konnten. INterner KolonialismUS – IN US – der Titel des Logos, spricht einerseits vom internen Kolonialismus, der in den Ländern, in welchen Kolonialisierungsprozessen stattgefunden haben weiterhin existiert und sich z.B. in der Ausbeutung natürlicher Ressourcen manifestiert, durch welche Europa immer noch günstig mit Rohstoffen versorgt wird. Andererseits thematisiert das Logo den verinnerlichten Rassismus in jedem:jeder einzelnen von uns, die wir dafür verantwortlich sind, dass rassistische Verhaltensweisen aus den Kolonialzeiten weiterhin existieren. Dieser Stadtspaziergang fand im Juni 2016 insgesamt drei Mal statt. Das Publikum, das größtenteils aus Teilnehmer:innen des Kunstfestivals SOHO in Ottakring bestand, hatte die Möglichkeit, durch verschiedene Strategien ein neues Verständnis bezüglich des täglichen Kaffeekonsums zu entwickeln. Damit ist es uns gelungen eine Sensibilisierung gegenüber den Produktionsbedingungen von Kaffee zu schaffen. Gleichzeitig wurde darüber reflektiert, wie in der Tradition des europäischen Kaffeekonsums und seinen Marketingstra-

Carla Bobadilla: Performative Begegnungen mit der Stadt

tegien Stereotypen verwendet wurden und weiterhin verwendet werden, die zu rassistischem Denken und diesbezüglichen Praxen beitragen. Aus der Notwendigkeit heraus andere Plätze der Wiener Geschichte, in einem ähnlichen kollektiven Prozess zu hinterfragen, begann ich diese zu suchen und fand Orte weniger durch eine systematische Suche, sondern durch zufällige (Wieder-)Entdeckungen. In dieser Arbeit inspirierte mich vor allem die Positionen von Feminist:innen of Color und besonders die Arbeiten von Aurora Levins Morales (2004) und Gloria Anzaldúa (2004). Hier bilden alltägliche Erfahrungen migrantischer und diasporischer Frauen die Basis für weitere intellektuelle Auseinandersetzung. Ich nahm dies als Basis dafür, den Besuch mit meiner Tochter im Schmetterlinghaus als mögliches Beispiel für den kritischen Umgang mit dem kolonialen Erbe in der Stadt im Kontext kultureller Bildung zu sehen. So begann die Reflexion darüber, als performativer Text und als künstlerische Arbeit.

Künstlerische Strategien aus der Serie »Österreichs kulturelles Erbe«: Das Schmetterlinghaus16 In meinem künstlerischen Forschungsprojekt »Österreichs kulturelles Erbe«17 beschäftige ich mich damit, dass viele Orte in der Stadt, wie z.B. das »Schmetterlinghaus« in der Wiener City, eine problematische Geschichte darüber verbreiten, wer die Anderen in Bezug auf diese Geschichte sind und welchen Platz diese Anderen in der Österreichischen Vergangenheit und Gegenwart einnehmen sollten.

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Dieser Text erschien als visual essay in: Sharpening the Haze: Visual Essays on Imperial History and Memory 2019. Dieses Projekt entstand innerhalb des konzeptuellen Rahmens der Forschung über die Effekte der UNESCO Roadmap for Arts Education, 2010. Als Reaktion zu den neoliberalen und kolonialen Vorstellungen der UNESCO gründete sich das internationale Forschungsnetzwerk Another Roadmap for Arts Education, ausgehend vom Institute for Art Education der Zürcher Hochschule der Künste (ZHdK). In unserer diesbezüglichen lokalen Forschungsgruppe (Carla Bobadilla, Andrea Hubin, Barbara Mahlknecht, Karin Schneider) wollten wir das Hauptaugenmerk darauf lenken, wie sowohl koloniale Methapern und antisemitische Denkbezüge das Erbe der Kunstvermittlung in Österreich prägten: net/https://another-roadmap.net/(letzter Aufruf 23.01.2023).

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Das Schmetterlinghaus befindet sich im ersten Wiener Bezirk, dem historischen Zentrum der Stadt, zwischen der Nationalbibliothek, der Hofburg und der Staatsoper. Das Gebäude liegt inmitten des Burggartens, dem ehemaligen Garten des Kaisers. Hier pflegte Kaiser Franz Joseph I. zusammen mit seiner Frau Elisabeth in seiner Freizeit spazieren zu gehen. Das »Palmenhaus«, in dem sich das Schmetterlinghaus befindet, wurde 1901 im Jugendstil nach den Entwürfen des Architekten Friedrich Ohmann errichtet. Der Kaiser nutzte es als Privatgarten, hier pflegte und beobachtete er die exotischen Pflanzen, die im 18. und 19. Jahrhundert von Forschungsreisen mit nach Wien gebracht worden waren. In den 1990er Jahren wurde das Palmenhaus aufgrund des Verfalls seiner baulichen Struktur, renoviert. Zur gleichen Zeit wurde für das Schmetterlinghaus, das bis dahin im ebenfalls baufälligen Sonnenuhrhaus des Schlossgarten Schönbrunn untergebracht war, ein neues Zuhause gesucht. 1997, wurde ein neues Konzept für die Nutzung des Palmenhauses entwickelt, das dem Profil und den Anforderungen einer modernen, progressiven Stadt entspricht. An diesem Ort leben heute ungefähr 40 Schmetterlingsarten aus unterschiedlichen tropischen Regionen der Erde und gehören zu den touristischen Attraktionen der Stadt. Die für das Überleben und die Fortpflanzung der Schmetterlinge notwendige Umgebung – Wärme, Feuchtigkeit, aber auch der Geruch, die exotischen Pflanzen sowie die Dekoration versetzt die Besucher:innen in die Stimmung einer Reise durch Zeit und Raum. In solch einer Umgebung fühlen sich die Besucher:innen als wären sie in andere, eher südliche Gebiete gereist. Palmenhäuser wie dieses finden sich in ganz Europa. Historisch gesehen ist das Konzept der Palmenhäuser Teil der imperialen Sammlung und Aufbewahrung von tropischen Pflanzen, die im 18. bis 19. Jahrhundert von Forschungsreisen aus den europäischen Kolonien mitgebracht wurden. Diese Reisen verfolgten einerseits das Ziel, neue, den Europäer:innen unbekannte Regionen vorzustellen und verfolgten andererseits das rein wissenschaftliche Ziel, diese unbekannten Tier- und Pflanzenarten zu benennen, zu sammeln und zu katalogisieren (Lack 2015: 26). Naturwissenschaftler:innen wie Alexander von Humboldt oder Charles Darwin verbrachten einige Jahren auf Reisen mit dem Ziel den Globus zu beforschen, zu vermessen, zu vergleichen. Durch diese Arbeit trugen sie wesentlich zur Entstehung dieser Disziplinen bei.

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Felipe Lettersten, Sohn einer Familie europäischer Immigrant:innen in Lima Im »Schmetterlinghaus«, in Mitten des Spektakels der üppigen Vegetation und den Schmetterlingen befinden sich vier Figuren aus Glasfasern, die eine indigene Familie aus dem Amazonasgebiet darstellen. Jede Figur füllt dabei eine bestimmte Rolle aus: Die Mutter stillt ihren Säugling, der Vater geht auf die Jagd, der Junge und das Mädchen beobachten. Diese Figuren sind inmitten der tropischen Vegetation des Ortes aufgestellt. Zusammen mit anderen Elementen, wie zum Beispiel Imitationen von Baumstämmen und Plastikblumen, erfüllen sie die Aufgabe, den Ort zu ›schmücken‹ und zu ›verschönern‹ und ihm einen noch exotischeren und realistischeren Charakter zu verleihen. Die Glasfaserfiguren sind Nachbildungen von Gipsabgüssen, die der schwedisch-peruanische Künstler Felipe Lettersten (1957–2003) direkt von Körpern von Amazonasbewohner:innen anfertigte. Ende der 1980er Jahre unternahm er eine Reise mit einem zweistöckigen Dampfschiff18 und fuhr damit die Flüsse des Amazonas hinauf, um Material und Inspiration für seine Kunstwerke zu »sammeln«. Dort widmete er sich der Erstellung einer Materialsammlung, für die er selbst später im Rahmen seiner Wanderausstellungen in Europa den Namen »indigener Hyperrealismus« wählte. Lettersten wuchs in Lima als Sohn einer Familie schwedischer Immigrant:innen auf. Nachdem er seine Sekundarschulbildung in Peru abgeschlossen hatte, besuchte er verschiedene Kunstschulen in Europa, unter anderem eine Schule für Bildhauerei in Florenz. Damals entwickelte er seine künstlerische Methode, lebende Körper mit Hilfe von Gipsabgüssen darzustellen. Er verstand dies als Möglichkeit, um sowohl die Integrität als auch das kulturelle Erbe dieser indigenen Völker zu schützen und die Aufmerksamkeit lokaler Behörden sowie internationaler Organisationen diesbezüglich zu gewinnen.19 Lettersten war ein sehr zuvorkommender, sanftmütiger Mensch und gleichzeitig, mit seinem langen, blonden und lockigen Haar, eine extravagante Erscheinung. Er sprach Quechua, das er von den Dienstmädchen in seinem Elternhaus in Lima gelernt hatte. Seine Persönlichkeit und seine innovativen

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Im Stil Fitzcarraldos (1982) (DT, R: Werner Herzog). Das Schifft dient im Film nicht nur als Bewegungsmittel, sondern auch als Metapher europäischer Überlegenheit gegenüber einfacheren Schiffen der Bewohner:innen der Region. https://www.nytimes.com/1991/07/15/arts/sculptor-preserves-amazon-images.html (letzter Aufruf 23.01.2023).

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künstlerischen Verfahren waren ausschlaggebend dafür, dass er von den indigenen Communities des Amazonasgebiets gut aufgenommen wurde und dass sich ihm einige freiwillig und ohne Bezahlung zu verlangen als Modelle zur Verfügung stellten. Lettersten stellte eine Serie basierend auf direkten Gipsabgüssen fertig, wobei er als eine Art Aufwandsentschädigung einige Skulpturen an jene Communities, bei welchen die Abdrücke abgenommen wurden, zurückschickte. Mit der Weiterentwicklung seiner künstlerischen Produktion, wuchs sein Interesse an den Skulpturen und häuften sich seine Reisen. Lettersten stellte insgesamt mehr als 230 Bronzeskulpturen her, von denen er Reproduktionen aus Glasfasern anfertigen ließ. Diese befinden sich in verschiedenen Museen und an archäologischen Stätten in ganz Lateinamerika. Einige der Skulpturen gelangten über Wanderausstellungen bis nach Europa. Vier davon können auch heute noch im »Schmetterlinghaus« in Wien betrachtet werden. Sie fanden ihren Weg dorthin, weil der Leiter des Hauses mit dem Künstler befreundet war und Lettersten sie unter der Bedingung, sie ständig auszustellen, als Geschenk überlies.

Das Problem der Dekontextualisierung Das Schmetterlinghaus wird täglich von Hunderten von Touristen besucht, die einerseits etwas über die Geschichte der Stadt erfahren möchten und sich andererseits von dieser exotischen Attraktion angezogen fühlen, die ihnen die Möglichkeit bietet, 500 lebende und freifliegende Schmetterlinge unterschiedlicher Größe und Farbe aus nächster Nähe zu betrachten.20 Gleichzeitig wird dieser Ort auch von einem Wiener Publikum aufgesucht: Familien, Grundschulen und Kindergärten kommen hierher, um sich mit der imperialen Vergangenheit ihres eigenen Landes und/oder des Landes, das sie als ihren Wohnort gewählt haben, zu befassen. In dieser Tätigkeit werden sie Teil eines Bildungsprozess über den sie lernen das »Exotische«, – die Schmetterlinge, die Vegetation und folglich auch die Skulpturen – als impliziten und integrativen Teil ihres kulturellen Erbes zu begreifen. In diesem Zusammenhang wird die Beziehung zu »den Anderen« gelinde gesprochen problematisch, vor allem sobald die Besuchenden dieselbe Herkunft wie die in den Skulpturen portraitierten Menschen haben. 20

http://www.schmetterlinghaus.at/unsere-schmetterlinge/ (letzter Aufruf 23.01.2023).

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Einwandererfamilien aus der Amazonas Region sehen, wie ihre Landsleute in Skulpturen verwandelt als Schmuck an einem Ort dienen, der vorgibt, Werte über das kulturelle Erbe des Landes zu vermitteln, in dem sie aktuell leben und in dem vermutlich ihre zukünftigen Generationen leben werden. Was denkt wohl eine Tochter peruanischer Einwander:innen, wenn sie sieht, dass Skulpturen ihrer Vorfahren an einem solch prominenten Ort der Stadt aufgestellt sind, aber ihre Anonymität sie aufgrund fehlender Erklärungen ohne eigene Stimme und folglich ohne Geschichte zurücklässt?

Die Methode künstlerische Intervention und ihre Methoden im Fall des Schmetterlinghauses Der Spaziergang als kollektive Methode des Verlernens war ein Projekt im Rahmen der Ausstellung »Versuchsanordnung widerspenstigen Handelns. Kollektive Formen des Austauschs über emanzipatorische Strategien und solidarische Verbindungen«, die im Jahr 2017 stattfand.21 Im Rahmen eines kollektiven Spaziergangs führten wir eine Gruppe von Personen, hauptsächlich Erwachsene, zum Schmetterlinghaus. Als wir dort ankamen, blieben wir stehen und lasen die Liste der indigenen Communities vor, die von Felipe Lettersten während seiner Reisen durch das Amazonasgebiet in den 1990er Jahren porträtiert wurden. Yanomami, Parakanas, Araras, Orejones, Huitoto, Bora, Yahua, Aguarunas, Shipibos, Campas, Quechuas, Cashinahuas, Yaninahuas y Huarayos. Zusammen mit dieser Liste haben wir dem Publikum Fotografien der vier Figuren vorgelegt, die sich im Inneren des Gebäudes befinden und die auf einem Stück Karton aufgezogen waren. Das dritte Element der Intervention bestand in dem lauten Vorlesen eines aus vier Worten bestehenden Gedichts der Schriftstellerin und Aktivistin Vlatka Frketić. Frketić war ebenfalls Teilnehmerin der Ausstellung und sie war an dem Prozess der Erstellung dieser Performance beteiligt. Dieses lautete folgendermaßen: WER HAT WAS DAVON? Wer, so die konkrete und direkte Frage, hat etwas davon, dass sich die Figuren an diesem Ort befinden, ohne dass ihnen eine Stimme gegeben oder etwas von ihrer Herkunft erzählt wird. Diese 21

Ausstellung kuratiert von Elke Smodics, Büro trafo-K, in der Galerie der IG Bildende Kunst https://igbildendekunst.at/programm/versuchsanordnung-widerspenstige n-handelns/ (letzter Aufruf 23.01.2023).

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Worte wurden von den Teilnehmer:innen in unterschiedlichen Varianten wiederholt. So wurde die Reihenfolge verändert oder sie wurden in Form eines Kanons wiedergegeben. Der kollektive Spaziergang half uns dabei zu verstehen, wie ein solcher urbaner Ort funktioniert und wie wichtig es ist, Verantwortung für Repräsentationsweisen im Stadtraum zu übernehmen. In dem wir unsere Stimmen vereinten, waren wir in der Lage die Kraft des Aktivismus als ein Instrument sozialer Transformation zu erleben.

Was noch zu tun bleibt Die Erfahrungen, die während der drei öffentlich angebotenen Spaziergänge gemacht wurden, ermöglichten es, über die geeignetsten künstlerischen Methoden für emanzipatorische »Transformation« im öffentlichen Raum (Mörsch 2009: 27) nachzudenken. In diesem Sinne verstehen wir unsere Spaziergänge als Ausgangspunkt um einen Prozess des Ver-Lernens in Gang zu setzen und Gegengeschichte(n) zu schreiben (Castro Varela 2010: 236).

Schlussbemerkung Nach den Erfahrungen, die ich im Rahmen dieser beiden Projekte gemacht habe, komme ich zu dem Schluss, dass wir nur dann eine antirassistische und antidiskriminierende Arbeit leisten können, wenn die an diesen Prozessen beteiligten Personen – egal, ob Pädagog:innen, Kurator:innen oder Museumsdirektor:innen – die historischen Prozesse berücksichtigen und selbstkritisch reflektieren. Auch müssen die aus diesen Prozessen gewonnenen Erkenntnisse auf die Orte, an denen diese Personen tätig sind, übertragen werden. Nur so kann eine strukturelle Veränderung innerhalb der Institutionen angestoßen werden. Auf politischer Ebene würde dies bedeuten, dass Situationen geschaffen werden, in denen Künstler:innen, die mit diesen Themen arbeiten, mit der Öffentlichkeit in Kontakt treten können. Um die Realität in der wir leben verändern zu können, dürfen diese Interventionen, egal ob sie aufgrund von Einladung der Künstler:innen oder durch Bildungsprojekte initiiert wurden, keine punktuellen Aktionen bleiben und sie dürfen nicht als Teil einer herrschenden »dekolonialen« Mode instrumentalisiert werden. Vielmehr geht es darum, dass die so angeregten Gedanken, Ideen und Projekte Bestand haben können, um solch eine Veränderung langfristig und nachhaltig realisieren zu können.

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Andererseits besteht die Aufgabe von Künstler:innen in ihrer Rolle als Multiplikator:innen darin, dafür zu sorgen, dass dieses Wissen auch Orte außerhalb jener durch die akademischen Kreise oder Kunstgalerien geschaffen »intellektuellen Blase« erreicht. Nur ein Wissen, dass der Öffentlichkeit zur Verfügung gestellt wird, ermöglicht es, dass Kunst als ein Werkzeug eingesetzt wird, um die Gesellschaft zu verändern.

Literatur Anzaldúa, Gloria (2004): »Los movimientos de rebeldía y las culturas que traicionan«, in: bell hooks et al. (Hg.): Otras inapropiables. Feminismos desde las fronteras. Madrid: traficantes de sueños, S.71–80. Castro Varela, María do Mar (2010): »Scheitern als Erfolg. Lehren und Verlernen im Kontext von Dekolonisierung«, in: Achola, Agnes et al. (Hg.): Migrationsskizzen postkoloniale Verstrickungen antirassistische Baustellen. Wien: Löcker, S.229–240. Dussel, Enrique (1995): The Invention of the Americas. Eclipse of »the Other« and the Myth of Modernity. New York: Continuum. Hall, Stuart (1992): »The West and the Rest: Discourse and Power«, in: Hall, Stuart/Gieben, Bram Hg.): Formations of Modernity. Cambridge: Polity, S.275–320. Herzog, Werner (1982): Fitzcarraldo. Film Westdeutschland: Werner Herzog Filmproduktion. hooks, bell (2004): »Las mujeres negras. Dar forma a la teoría feminista«, in: dies. et al. (Hg.): Otras inapropiables. Feminismos desde las fronteras. Madrid: traficantes de sueños, S.33–50. Lack, Walter (2015): »The World of Palm. Carl Friedrich Philipp von Martius and his Historia naturalis palmarum«, in: von Martius, Carl Friedrich Philipp/ Lack, Hans Walter (Hg.): The book of Palms. Köln: Taschen, S.23–33. Lehrbaumer, Margareta (2000): Womit kann ich dienen? Julius Meinl. Auf den Spuren einer großen Marke. Wien: Pichler. Levins Morales, Aurora (2004): »Intelectual orgánica certificada«, in: bell hooks et al. (Hg.): Otras inapropiables. Feminismos desde las fronteras. Madrid: traficantes de sueños, S.63–70. Mörsch, Carmen (2009): »Am Kreuzungspunkt von vier Diskursen: Die documenta 12 Vermittlung zwischen Affirmation, Reproduktion, Dekonstruktion und Transformation«, in: Forschungsteam documenta 12 Vermittlung (Hg.):

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Kunstvermittlung zwischen kritischer Praxis und Dienstleistung auf der documenta 12. Zürich/Berlin: Diaphanes, S.9–33. Quijano, Aníbal (2000): »Coloniality of Power and Eurocentrism in Latin America«, in: International Sociology 15(2), S.215–232. Rivera, Silvia (2019): »Ch’ixinakax utxiwa: Eine Reflexion über dekolonisierende Praxen und Diskurse«, in: COMPA et al. (Hg.): Pädagogik im globalen postkolonialen Raum. Weinheim/Basel: Beltz-Juventa, S.264–279. Said, Edward W. (2002): Orientalismo. Madrid: Debate. Sternfeld, Nora (2005): »Der Taschenspielertrick. Vermittlung zwischen Selbstregulierung und Selbstermächtigung«, in: Schnittpunkt – Beatrice Jaschke/Charlotte Martinz-Turek/Nora Sternfeld (Hg.): Wer spricht? Autorität und Autorschaft in Ausstellungen. Wien: Turia + Kant, S.15–33. Sternfeld, Nora (2013): Kontaktzonen der Geschichtsvermittlung. Wien: Zaglossus. Uerlings, Herbert/Hölz, Karl/Schmidt-Linsenhoff, Viktoria (Hg.) (2001): Das Subjekt und die Anderen. Interkulturalität und Geschlechterdifferenz vom 18. Jahrhundert bis zur Gegenwart. Berlin: Erich Schmidt.

Die Bildung der A_N_D_E_R_E_N1 durch Kunst Kolonialität und weiße Weiblichkeit in der Kunstvermittlung Carmen Mörsch »Women are largely the educators of the world.« (Southwood Smith Hill 1906:11)

Der vorliegende Text fokussiert auf die Entwicklung der Kunstvermittlung in England. Dort ist dieses Arbeitsfeld weltweit am stärksten ausdifferenziert, und seine Diskurse und Praktiken setzen bis heute auch in Deutschland Impulse.2 Dies ist kein Zufall, denn seine Entstehung ist eingebettet in die Zeit der Nationalstaatsbildung und verwoben mit der Entstehung des Empire und damit mit der Formierung einer kolonialen und kapitalistischen Gesellschaftsordnung. Anhand kurzer3 historischer Abrisse zum 18. und 19.Jahrhundert sowie eines Fallbeispiels, der Whitechapel Art Gallery in London und ihrer Vorläu1

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Mit der eigenwilligen Schreibung der A_n_d_e_r_e_n versuche ich, in aller Deutlichkeit auf den Konstruktionscharakter der Subjektposition zu verweisen und gleichzeitig die Leerstellen, das Unverfügbare von sich im Rahmen dominanter diskursiver Praktiken vollziehenden Herstellungsprozessen anzudeuten: Luft und Lücken zu lassen für Abweichung, Subversion und Widerständigkeit. Ein Beispiel: Von lediglich drei namentlich angeführten Referenzen des 2005/2010 durch die UNESCO lancierten Lobbypapiers für Kunstvermittlung/kulturelle Bildung, der »Roadmap for Arts Education«, das globalen Geltungsanspruch für sich beansprucht, stammen mit Sir Ken Robinson und Howard Gardner zwei aus der westlichen anglophonen Welt. Unter anderem als Effekt dieses Papiers kommen in den letzten fünfzehn Jahren auch im deutschsprachigen Raum im Zuge der Hegemonialisierung von Kunstvermittlung/kultureller Bildung diskursive Orientierungen mehrheitlich aus Großbritannien und den USA. Der vorliegende Text fasst einige Ergebnisse einer umfangreichen historischen Studie zusammen (Mörsch 2019).

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ferinstitution, dem Social Settlement Toynbee Hall, soll anschaulich werden, dass es sich bei Kunstvermittlung um ein Arbeitsfeld handelt, in dem sich minorisierte Subjektpositionen – allen zuvorderst und bis heute weiße,4 bürgerliche Weiblichkeit – professionelle Handlungsräume und Sichtbarkeit erkämpften und dass letztere nicht ohne Verluste – nämlich auf Kosten rassistisch und klassistisch markierter A_n_d_e_r_e_r – zu haben waren.

18. Jahrhundert: Formierungen In der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts rang zunächst der im Entstehen begriffene Berufsstand der freischaffenden Künstler (und sehr weniger Künstlerinnen) um Sichtbarkeit, um Verkaufsmöglichkeiten und um einen gesellschaftlichen Status als ehrenwerte Mitglieder der sich formierenden bürgerlichen Gesellschaft. Ausgerechnet in einem der ersten Waisenhäuser in London, dem Foundling Hospital, öffnete sich für diese Gruppe ein Handlungsraum als »artist-governors« und fanden erste öffentlich zugängliche Kunstausstellungen statt (vgl. Solkin 1993). Aus diesem Ort heraus gründeten sich Englands erste Organisationen, in denen Kunst produziert, gelehrt, gezeigt und gehandelt wurde (Mörsch 2017a: 164ff.). So war das künstlerische Feld von Beginn an nicht nur mit der Ökonomie, sondern auch mit dem der Bildung verschränkt. Simon Gikandi hat herausgearbeitet, dass dabei das Konzept des taste – ein im bürgerlichen Sinne kultivierter Lebensstil und insbesondere die Fähigkeit, Kunst (Literatur, Architektur, Musik, Theater, Malerei, Skulptur) wahrzunehmen, zu bewerten und darüber zu kommunizieren, in der Phase der Nationalstaatsbildung, des expandierenden Kolonialismus und der Formierung des Industriekapitalismus ein konstitutives Element bürgerlicher Subjektivierung wurde. Taste diente insbesondere als Legitimationsbasis für die Vorherrschaft des weißen, europäischen, bürgerlichen, männlichen Subjekts und gleichzeitig als Folie zur Verdrängung der Tatsache kolonialer Unterwerfung, Ausbeutung und Vernichtung, auf denen der eigene

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Ich schreibe den Begriff weiß als identitäre Zuweisung kursiv, um auf die historischen, ideengeschichtlichen, sozialen und kulturellen Konstruktionsprozesse, welche dieser Kategorie innewohnen, bei ihrer Verwendung hinzuweisen. »Schwarz« schreibe ich demgegenüber groß und nicht-kursiv, um auf die gleichlautende Selbstbezeichnung von afro-britischen und afro-amerikanischen Emanzipationsbewegungen zu verweisen.

Carmen Mörsch: Die Bildung der A_N_D_E_R_E_N durch Kunst

Wohlstand und die eigene Vormachtstellung beruhten (Gikandi 2014). Es entstanden in dieser Zeit Beiträge zur ästhetischen Theorie, in denen die Frage diskutiert wurde, wer in der Lage sei, taste zu besitzen und dadurch wirklich »Mensch« zu sein, wobei sich Taxonomien von Rassisifizierung, Klasse und Geschlecht verschränkten (Mörsch 2019: 74ff.). Denn von Anfang an stand der hegemoniale Herrschaftsanspruch des männlichen, weißen, bürgerlichen Subjekts unter Druck: Widerstand kam von Kolonisierten, Arbeiter:innen, und auch von bürgerlichen weißen Frauen (Rediker/Linebaugh 2001). Ästhetische Theorien sprachen diesen essentiell als A_n_d_e_r_e Entworfenen die Fähigkeit ab, Kunst zu produzieren oder beurteilen – sie wurden auf eine Entwicklungsstufe mit Kindern gestellt. Aus dem Widerspruch, dass taste weißen Männern aus dem Bürgertum und der Oberschicht vorbehalten sein sollte und es andererseits dem Konzept von Großbritannien als liberale, demokratische Nation widersprechen würde, die als bedrohlich wahrgenommene multitude, (eine zeitgenössische Bezeichnung für die »breite Masse«) aus dem sich gerade formierenden Kunstfeld kategorisch auszuschließen, entspann sich eine Debatte über das Verhältnis von Kunst, Öffentlichkeit und Bildung. Sie materialisierte sich in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts in verschiedenen Kunstinstitutionen. Deren Konfliktlinien entwickelten sich entlang von normativen Setzungen, in Punkto Zugänglichkeit – wer darf als Lernende, als Lehrende, als Publikum in die Institutionen hinein – und in Hinblick auf die gesellschaftliche Funktion von Kunst. Dabei kristallisierten sich drei verschiedene, bis heute wirkmächtige Künstlerbilder5 heraus: der Joker, eine schillernde, intermediäre Figur, der es gelingt, sich mit den Marginalisierten zu assoziieren und gleichzeitig Mitglied der bürgerlichen Schicht zu sein; das »erhabene Genie«, das unter seinesgleichen bleiben muss, um seine Schöpferkraft nicht zu paralysieren und der »Pädagoge«, dazu angetreten, die multitude durch Kunst im bürgerlichen Sinne zu bilden. Insbesondere letztgenannte Positionierung eröffnete weißen, bürgerlichen Frauen, denen der Beruf der Künstlerin verschlossen war, einen professionellen Handlungsraum: einige wenige verschafften sich Zutritt und Sichtbarkeit in denjenigen Kunstinstitutionen, die nicht streng hierarchisch zwischen »freier« und »angewandter«

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Ich wähle an dieser Stelle die männliche Form, da die Figuren männlich konnotiert waren und sind, auch wenn sie mittlerweile – und in sehr wenigen Ausnahmen auch im 18. Jahrhundert – durch andere Subjektpositionen angeeignet wurden.

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Kunst,6 zwischen künstlerischer Produktion und künstlerischer Lehre unterschieden. Dabei war es in der sich gerade formierenden, nach Einheit strebenden Nation ein wichtiges Argument, dass der Beitrag von Frauen zum Erhalt der ökonomischen Vorherrschaft im kolonialen Wettbewerb beitrug (Philipps 2006: 195ff.).

19. Jahrhundert: Institutionalisierungen Das im 18. Jahrhundert kontrovers verhandelte Konzept des taste institutionalisierte sich im 19.Jahrhundert als public taste. Neu gegründete, öffentliche Kunst – und Bildungsinstitutionen wie z.B. die 1838 errichtete National Gallery, sowie die damit verbundene neue Professionen des Kurators entstanden als Teil von urbanen Hygiene- und Disziplinierungsapparaten (Bennett 1995: 43). Mit dem Konzept der Kunstausstellung als einer gleichsam physiologischoptischen wie hygienisch-moralischen Sehschule verlagerte sich die Zuweisung von taste in den Körper des einzelnen Individuums: Jede – weiße – Person konnte nun im ideellen Sinne ›sehen lernen‹. Das Durchschreiten der Galerieräume und das Betrachten der darin zu sehen gegebenen Kunstwerke wurde mit dem Anspruch der inneren Reinigung und der moralischen Bildung verbunden und mit industrialisierungskritischen Diskursen des Naturschönen, sowie biopolitischen Diskursen der Hygiene verknüpft. In diese Gemengelage war die Vorstellung einer Befriedung der sich in dieser Zeit verschärfenden sozialen Spannungen über das Bilden durch Kunst eingeschrieben (Trodd 1994: 41ff.). Denn diese Spannungen erschienen aus privilegierter Position zunehmend bedrohlich: Aufstände und neue Organisationsformen artikulierten sich im Zeichen des kommunistischen Manifests, im Kampf um das Wahlrecht, um die Befreiung von kolonialer Unterdrückung und die Abschaffung des Handels mit versklavten Menschen. Der Darwinismus untermauerte demgegenüber die Ungleichheit von Frauen und Kolonisierten mit vermeintlicher naturwissenschaftlicher Evidenz (Darwin 1871). Wie Gabriele Dietze herausarbeitet, konterten weiße bürgerliche Frauen die biologisch begründete Zuschreibung ihrer Minderwertigkeit mit dem Konzept der Communion of Labour, der geschlechtlichen Arbeitsteilung (Dietze 2013). Dieses postulierte die Gleichheit 6

Eine kategorische Unterscheidung, deren Auftauchen historisch in die gleiche Zeit fällt und welche in die gleichen kolonialen und sexistischen Herrschaftsverhältnisse eingeschrieben ist.

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in der Verschiedenheit und damit die Gleichwertigkeit der als weiblich deklarierten Domänen des Haushalts, der Bildung und der sozialen Fürsorge. Diese wären ebenso wichtig für den Erhalt der Nation und ihrer sozialen, politischen wie ökonomischen Stabilität wie die den Männern vorbehaltenen Arbeitsbereiche. Mit Beschreibungen wie »civic household« und einem Handlungsspektrum, das in der Analyse von Eileen Yeo (1992) mit »social motherhood« bezeichnet ist – die Verbindung von Fürsorge, Ermutigung, Disziplinierung und Kontrolle – eroberten sich weiße bürgerliche Frauen in der 2. Hälfte des 19.Jahrhunderts öffentliche Handlungsfelder: im Erziehungswesen, in der Sozialen Arbeit und der Sozialwissenschaft. Die ihnen dabei zugewiesenen Funktionen schrieben sich wiederum in ein Versöhnungsnarrativ ein: die Harmonisierung zwischen Wissenschaft und Religion, die Humanisierung der politischen Ökonomie und des Staates, die Moralisierung der Medizin und die Transformation der Klassenunterschiede in von Liebe und Fürsorge geprägte, familiengleiche Beziehungen zwischen den Schichten. Yeo und Dietze arbeiten heraus, wie diese Taktik zu einer Verhinderung von Solidarisierung mit weißen Arbeiter:innen genauso wie mit kolonial-rassistisch markierten Menschen führte, denn diesen gegenüber musste die eigene Überlegenheit behauptet werden, um die Gleichwertigkeit mit europäischer, weißer bürgerlicher cis-Männlichkeit zu begründen. Der Entwurf defizitärer Alterität, von A_n_d_e_r_e_n, die durch strenge, gleichsam ermutigende und kontrollierende mütterliche Fürsorge dem weißen bürgerlichen Vorbild so ähnlich wie möglich gemacht werden sollten, war konstitutiv für die Argumentation der Communion of Labour (Dietze 2013: 117ff.). Diese diskursive Formation bildete auch die Grundlage für die Feminisierung des Bildens der A_n_d_e_r_e_n durch Kunst.

Siedlung in der Wildnis: Toynbee Hall Der professionelle Zugang zu den großen öffentlichen Kunstinstitutionen wie der National Gallery blieb Frauen bis weit ins 20.Jahrhundert hinein weitestgehend verwehrt (Smith 2013).7 Doch unter anderem John Ruskin, der

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Ein Artikel vom Februar 2019 zählt 8 Künstlerinnen in der Sammlung der National Gallery https://artuk.org/discover/stories/the-eight-women-artists-of-the-nationalgallery (letzter Aufruf 23.01.2023). Die erste Frau im Team eines Londoner Kunstmuseums wurde 1934 zur Zeit der Museumsreformen mit Marion Thring im Victoria and Albert Museum eingestellt: als Vermittlerin.

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als Begründer der englischen Kunstpädagogik gilt und dessen Ansätze für die Raumgestaltung und Hängung in der National Gallery maßgebend waren, unterrichtete basierend auf der Überzeugung, dass bestimmte Spielarten künstlerischer Bildung im Sinne der communion of labour auch Frauen aus dem Bürgertum zugedacht sei, letztere in Malerei und Kunstgeschichte (Atwood 2011: 25f.) – denn ein ästhetischer Sinn sei die Grundlage für eine ihrer zentralen Aufgaben, dem sozialen »sweet ordening« (Maltz 2006: 49). Sein Zugang basierte einerseits auf einer physiologisch untermauerten Metaphorik des Sehens: demnach seien Künstler (im Maskulinum) befähigt, eine höhere Wahrheit hinter den Dingen zu erkennen, die Kunst brächte diese Wahrheit zum Vorschein und wäre daher ein unverzichtbarer Bildungsinhalt. Damit verbunden, vermittelte er das Ideal einer mittelalterlichen (und, wie bisher nur wenig herausgearbeitet wurde, kolonialen)8 Gesellschaftsordnung, in der jede:r den ihr von Gott zugewiesenen Platz anerkennte. Kulturelle Bildung hätte demnach die Aufgabe, ökonomisch Verarmte dazu zu befähigen, die Schönheit in ihrem Leben zu sehen, ihre Existenz im Rahmen des für sie ohne Umverteilung Verfügbaren zu verbessern und letztlich ihren gesellschaftlichen Status akzeptieren zu können.9 Von solchen diskursiven Vernähungen des Künstlers als Genie und des Künstlers als Pädagogen inspiriert, entwickelte sich in der zweiten Hälfte des 19.Jahrhundert eine Bewegung der »Pictures for the Poor« oder der »ästhetischen Mission«, die sich aufmachte, in den Elendsquartieren der großen Industrie- und Hafenstädte die zivilisierende Wirkung viktorianischer und kontinental-europäischer klassischer Kunst durch Bildungsarbeit ins Werk zu setzen. Dabei engagierten sich weiße, bürgerliche Frauen, darunter Künstler:innen, die sich dadurch einen öffentlichen Bereich in dem ihnen sonst verschlossenen Kunstfeld eröffneten (Maltz 2006: 53).10 In diesem Kontext entstand Toynbee Hall, das 1884 von dem Pfarrersehepaar Henrietta und Canon Barnett aus privaten Spenden gegründete, erste so8

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Die umfangreiche Forschung zu John Ruskins (1819–1900) vielschichtigen Wirken lässt die Kolonialität in seinem Denken bisher weitgehend aus; ein Umstand, auf den bereits 1993 von Edward Said hingewiesen wurde (1993: 123ff.). Eine Aufarbeitung aus der Perspektive eines Ökonomen liefert David Levy (2002). Ruskin brachte den Sinn einer klassenspezifischen Unterscheidung verschiedener Ausbildungsinhalte im Kunstunterricht 1857 als Befragter für den Report of the National Gallery Site Commission auf den Punkt: » My efforts are not to making a carpenter an artist, but to making him happier as a carpenter.« (Taylor 1999: 77). In ihren Anmerkungen nennt Maltz unter anderem die Künstlerinnen Mary Caroline Vyvyan, Edith A. Paine, Ida Bidder und Julia A. Keatinge (Maltz 2006: 230, Anm. 41).

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cial settlement im Londoner Stadtteil East End. In der zeitgenössischen bürgerlichen Wahrnehmung handelte es sich beim East End, dessen Bevölkerungsstruktur wesentlich durch die nahegelegenen Docks der Themse, durch Einwanderung und die ausbeuterischen Arbeitsverhältnisse in den lokalen sweat shops geprägt war, um einen ›exotischen‹ Ort, den es zu entdecken galt und der in der literarischen und visuellen Produktion der Zeit mit kolonialen Metaphern wie »Dschungel«, seine Bewohner:innen als »Wilde« beschrieben wurden (z.B. Besant 1901).11 Diese Einrichtung wurde zu einem Experimentierfeld für die sich gerade etablierenden Sozialwissenschaften, für die Philanthropie und zu einer gleichsam obsessiven Projektionsfolie für die Transgressionsbedürfnisse der weißen Mittelschicht (Stedman-Jones 1971). Sie unterstützte das Sozialprojekt mit dem Argument, rational leisure, aus bürgerlicher Warte sinnvolle Bildungs- und Freizeitangebote für die Bevölkerung des East End anzubieten, um diese von weniger akzeptierten Vergnügungen, wie dem Besuch der örtlichen Bars abzuhalten. Darüber hinaus finanzierte Toynbee Hall Forschungen über die Lebensbedingungen der Bewohner:innen des East End, leitete Hilfsmaßnahmen in die Wege und setzte sich auch politisch für die Verbesserung der Situation ein. Die Arbeit der Einrichtung fußte wesentlich auf dem Engagement von Studierenden aus Oxford und Cambridge, die dort ihre Ferien oder ein Semester verbrachten. Darüber hinaus wurden Angehörige der lokalen Bevölkerung als Helfer:innen einbezogen. Diese Strategien wiesen nicht nur Analogien zu den Vorgehensweisen christlicher Missionen in den Kolonien auf. Sie basierten auch auf einer ähnlichen Programmatik: Indem ›men and women of culture‹ mitten unter den zu erziehenden und als ›primitiv‹ markierten Bewohner:innen des Viertels lebten, gaben sie diesen – aus bürgerlicher Perspektive – ein gutes Beispiel. Ebenfalls gleich dem Einsatz in den Kolonien, mehrte ihr Engagement ihr eigenes soziales Kapital und bot speziell auch den weiblichen und queeren Protagonistinnen Möglichkeiten der Überschreitung bürgerlicher Verhaltenskonventionen (Koven 2006; Geddes Poole 2014; Mörsch 2019). Toynbee Hall war ein Kulminationspunkt der Pictures for the PoorBewegung. Zu den Aktivitäten der Mitbegründerin Henrietta Barnett gehörte zuvorderst die Organisation und Vermittlung von Kunstwerken der in Toynbee Hall veranstalteten, stark frequentierten Easter Loan Exhibitions. Die Ausstellungen waren von den Barnetts mit christlich-viktorianischer Bildungsabsicht 11

In diesem Werk finden sich neben kolonialrassistischen auch antisemitische Ausführungen über die jüdischen Bewohner:innen des East End (vgl. Kapitel VII The Alien, S.193–200).

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zusammengestellt worden und wurden von Predigten und einem Katalog begleitet, deren narrative Bildbeschreibungen entsprechende Werte vermitteln sollten. Die Einführung einer Kunstvermittlung, bei der konkrete Personen im Ausstellungsraum die Kunstwerke erklärten, diente dazu, die ›richtige‹ Lesart zusätzlich sicher zu stellen und Subversionen auszuschließen (Koven 2011; Matthew-Jones 2011). Im Sinne der vergeschlechtlichten Arbeitsteilung wurden dabei vor allem bürgerliche weiße Frauen als Vermittlerinnen eingesetzt. Toynbee Hall übernahm die Organisation und Durchführung von Kunstreisen (Maltz 2006: 88ff.), die Beauftragung von Kunstwerken im öffentlichen Raum sowie den Verleih von für die moralische Erziehung der Kinder geeignet befundenen Kunstwerken in die gerade entstehenden bezirklichen Schulen (Sutton 1967: 200). Hinzu kamen, ganz im Zeichen des »sweet ordering« und in enger Zusammenarbeit mit Octavia Hill (Borzello 1987: 54)12 , ihrerseits Ruskin-Schülerin und Tochter der Reformpädagogin und Künstlerin Caroline Southwood Hill, die Anleitung der Arbeiterinnen aus dem Viertel zur »beautification« – zur Dekoration von deren Wohnungen, sowie die Vermittlung von Regeln der körperlichen und moralischen Hygiene (Barnett 1885). Doch Toynbee Hall war gleichzeitig ein Rahmen, in dem sich der Widerstand der Arbeiter:innen organisierte, der Raum für die Versammlung und Selbstorganisation migrantischer und diasporischer Gruppen bot (Scotland 2007: 36) und von dem aus wesentliche Kämpfe um soziale und demokratische Errungenschaften ihren Anfang nahmen.13 Viele seiner bürgerlichen residents beteiligten sich oder unterstützten diese Aktivitäten. Gleichzeitig propagierten die Gründer:innen der Einrichtung, das Pfarrersehepaar Canon und Henrietta Barnett in dezidierter Abgrenzung zu sozialistischen Strömungen eine gesellschaftliche Reform, die sie als practicable socialism bezeichneten (Barnett/Barnett 1888). Grundlage für das Gelingen einer solchen gesellschaftlichen (Neu-)Ordnung war nicht das Bestehen auf Umverteilung, gar die Revolution, sondern die individuelle Ausbildung von character, von aus bürgerlicher Warte betrachtet respektablen Eigenschaften des common man, des einfachen Mannes, als das Fundament, auf dem die britische Gesellschaft

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Zu Leben und Werk von Octavia Hill sowie zu weiterführender Literatur siehe Smith, Mark K.: »Octavia Hill: housing, space and social reform«, the encyclopaedia of informal education, http://www.infed.org/thinkers/octavia_hill.htm (letzter Aufruf 23.01.2023). So entstand aus Toynbee Hall heraus zum Beispiel die erste Mieter:innenschutzvereinigung, gelang den Organisator:innen die Einführung von lokalen Mittelschulen sowie die Versorgung der unmittelbaren Umgebung mit Wasser und Strom.

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ruhte – zumal in Zeiten, in denen es zu den ersten Gewerkschaftsgründungen kam. Toynbee Hall verfolgte programmatisch das Ziel einer (Höher-)Entwicklung dieser inzwischen empirisch vermessenen und sozialwissenschaftlich detailliert beschriebenen, als ›primitiv‹ erklärten A_n_d_e_r_e_n – im Fall von Toynbee Hall war das die verarmte weiße Bevölkerung des East Ends sowie verschiedenste eingewanderte Gruppen, die im Stadtteil lebten – zu mit public taste ausgestatteten Bürger:innen und mithin von ›Kindern‹ zu ›Erwachsenen‹, von ›Wilden‹ zu ›Zivilisierten‹. Die gesellschaftliche Ordnung wurde dabei nicht grundsätzlich in Frage gestellt. Henrietta Barnett veröffentlichte zwar Texte und Bücher, betonte darin jedoch an vielen Stellen die Leistung ihres Mannes und stellte sich selbst, ganz in Einklang mit dem Diktum der Communion of Labour als im Hintergrund wirkende, dabei unverzichtbare Helferin dar (Barnett 1918). Schließlich führte gerade die »mütterliche« Entfaltung der Kunstvermittlung dazu, dass Toynbee Hall und seine Easter Exhibitions in der zeitgenössischen Presse gegenüber der National Gallery als der ›nationalere‹ Kunstort dargestellt wurde: Hier hätten wirklich alle Zutritt und seien wirklich alle willkommen, wobei genauso wertvolle Kunstwerke gezeigt würden (Koven 2011: 44). In der National Gallery erwog die Leitung mit dem Argument, die Werke könnten Schaden nehmen, beispielsweise niedrige Dienstboten und Ammen vom Besuch auszuschliessen. Unterdessen schützte Henrietta Barnett die Einrichtung und Kunstwerke in Toynbee Hall ganz einfach vor den, wie sie selbst schrieb, »greasy heads« und »dirty damp garments«, indem sie lehnenlose Sitzmöbel mit waschbaren Bezügen ausstattete und mit etwas Abstand zu den Wänden platzierte (Maltz 2006: 68). Sie und ihr Ehemann riskierten religiöse Anfeindungen und Sabotageakte, weil sie ihre Ausstellungen an Sonntagen und spätabends öffneten, damit die arbeitende Bevölkerung die Möglichkeit hatte, diese zu besuchen (Barnett/Barnett 1888: 183). Diese ambivalente Mischung aus Zuwendung, Idealisierung, Exotisierung und Abwertung der A_n_d_e_r_e_n, aus teilweise riskantem politischem Engagement bei gleichzeitigem Beharren auf dem hegemonialen meritokratisch verfassten Wertekanon und seinen Versöhnungsnarrativen ermöglichten Toynbee Hall die Existenz durch die Unterstützung der ökonomischen Eliten – trotz oder gerade wegen seiner Ausstattung mit dem Nimbus der Fortschrittlichkeit, der Explorativität und des gesellschaftlichen Experiments. Damit wurde dieser frühe Ort institutioneller Kunstvermittlung nicht nur zu einem genuin weiblichen, sondern zu einem Prototyp des weißen bürgerlichliberalen Handlungsraums, wie er bis heute in diesem Arbeitsfeld vorherrscht.

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Ambivalenzen im Zeichen von Public Citizenship: Die Anfänge der Vermittlungsarbeit in der Whitechapel Art Gallery Diese Ambivalenzen übersetzten sich in die Whitechapel Art Gallery (WAG), welche die Barnetts 1901 wiederum auf der Basis privater Spenden gründeten. Dass das Bilden durch Kunst aus dem Spektrum der sozialen und politischen Aktivitäten von Toynbee Hall herausgelöst und in ein eigens prunkvolles Gebäude überführt wurde, ließ das Projekt der bürgerlichen Mittelschicht, »Kunst zum Hilfsmittel der Kanzel« zu machen (Briggs/Macartney 1984: 58), auf verdichtete Weise Raum greifen. In der Presseberichterstattung zur Eröffnung fand sich das Credo, Kunst sei die Erzieherin der Bewohner:innen des East End und die WAG eine ›Schule des Sehens‹.14 Basierend auf dem Paradigma von »public citizenship«, welches nun analog zu public taste alle Mitglieder der Gesellschaft durch Bildung sowie durch Teilhabe auf der Basis von Konsum einzuschließen suchte, wurden die in Toynbee Hall entwickelten Vermittlungspraktiken institutionalisiert: Öffnungen am Sonntag, freier Eintritt, keine Ausschlüsse aufgrund von Kleidung oder Herkunft (Koven 2011: 44). Neben den moralisch kommentierenden Katalogen und den entsprechend erklärenden Kunstvermittler:innen boten die Ausstellungen der WAG Vorträge, Praxisdemonstrationen und Diskussionen.15 Der bereits in Toynbee Hall etablierte Kunstverleih an Schulen und zur Dekoration von Wohnungen in der Nachbarschaft wurden nun durch eine institutionseigene Artothek koordiniert (Waterfield 1994: 45). In den ersten Jahrzehnten bestand ein Teil des Ausstellungsprogramms aus thematischen Schauen, die Alltagskultur sowie technische und handwerkliche Errungenschaften pädagogisch aufbereitet präsentierten.16 Liberalismus und Nationalismus verschränkten sich in Ausstellungen im Kontext der Kriege, von heroischen Repräsentationen der eigenen und alliierten Armeen und ihrer Schlagkraft über den Beitrag der Frauen zum Sieg, zu internationalen künstlerischen Widerstandsbewegungen oder der Aufnahmebereitschaft, die im East End geflohenen Menschen entgegengebracht wurde. Kunstausstellungen widmeten sich unterschiedlichen Ausdeutungen von als national typisch

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»The new Whitechapel Gallery«, in: The Anglo-American Times vom 15.04.1901, aufgefunden im WAG-Archiv, WAG/PUB/4/1A. »Art for the Millions«, in: Evening News vom 13.03.1901, WAG-Archiv, WAG/PUB/4/1A. Vgl. die Ausstellungschronik http://www.whitechapelgallery.org/about/history/exhib itions-1901-1950/ vom 18.8.2018.

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deklarierter Kunst. Das Alterität erzeugende Pendant bildeten Ausstellungen, in denen unter der Überschrift Art and Live koloniale Subjekte und deren Kulturproduktion in den Blick genommen wurden. Im ersten Jahresbericht der WAG wird das mit solchen Schauen verbundene Bildungsziel als Neugier beschrieben und die damit verbundene Hoffnung dargelegt: »a more vivid conception of the common humanity of the people’s underlying habits so unlike those familiar at home – an increase, therefore, of good will«.17 Die begleitenden Texte deklarierten diese Ausstellungen als Beitrag zu Toleranz und Verständigung, beinhalteten jedoch gleichzeitig explizite Behauptungen der kulturellen Unterlegenheit kolonisierter Gesellschaften und jüdischer Menschen (WAG 1904: 4). Auf diese Weise artikulierte sich das bürgerlich-liberale Zusammenspiel von Begehren und Zurückweisung angesichts der rassifizierten Subjekte. Dabei handelt es sich Homi Bhaba zufolge um eine Ambivalenz, die in einem »desire for a reformed, recognizable Other, as a subject of a difference that is almost the same, but not quite« (Bhaba 1994: 85) resultiert. Dieses Begehren und der damit verbundene Bildungswille war auch in die Kuratorischen und vermittlerischen Praxen der WAG eingeschrieben. So stellt Juliet Steyn angesichts des ambivalenten Umgangs der Institution mit jüdischer Kunstproduktion heraus: »[On the one hand they] stood out as a disturbing alien presence who, it was thought, hindered the construction and consolidation of the nation. [At the same time,] their assimilation to, and dissimulation from, English middle-class values was the necessary complement to the definition of the dominant English.« (Steyn 1994: 214). Zwischen 1902 und 1914 wurden jährlich Ausstellungen mit Werkproben von lokalen Schulkindern präsentiert. In deren Begleitpublikationen re-artikulierten sich die schon im 18. Jahrhundert virulenten Legitimationsdiskurse: die gesellschaftliche Nutzbarmachung und Platzzuweisung derer, die, blieben sie sich selbst überlassen, sowohl Verlust als auch Gefahr für die nationale Ökonomie und das bürgerlich-liberal geprägte Gesellschaftsgefüge darstellen würden. Dabei waren die diskursiven Rahmungen nun explizit demokratischzivilgesellschaftlich: es ging um die »ordinary children« als zukünftige wahlbe-

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WAG, Annual Report, 1901: 10, zitiert in Whitechapel Gallery, 77–82 Whitechapel High Street, https://surveyoflondon.org/map/feature/388/detail/ (letzter Aufruf 23.01.2023).

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rechtigte Bürger; um den »great body of citizens«.18 Nun sollten bei den Kindern des East End nicht mehr nur Gehorsam und Handfertigkeit, sondern im Gegenteil die Lust am Lernen und vor allem: die Bereitschaft zur Flexibilität und zur staatsbürgerlichen Verantwortungsübernahme entwickelt werden.19 Als in public citizenship eingeschlossen und dem sozialforscherischen Blickregime unterworfen tauchten zudem als be/hindert und migrantisch markierte Kinder in den Vermittlungsmaterialien auf.20 Die verschobene Sichtweise auf die Lernbedarfe der Arbeiter:innenkinder, die ambivalente Haltung gegenüber kolonisierter Kulturproduktion und die Fokussierung auf das migrantischdiasporische Subjekt als durch Kunst zu bildendes A_n_d_e_r_e_s müssen im Kontext gesellschaftlicher Transformationsprozesse betrachtet werden: angesichts des Vormarsches der sozialen Bewegungen21 und der wachsenden Präsenz und Handlungsmacht von diasporischen und migrantischen gesellschaftlichen Gruppen22 seit Ende des 19. und Beginn des 20.Jahrhunderts waren Anpassungsleistungen notwendig, um die hegemoniale Position weißer bürgerlich-liberaler Männlichkeit zu stabilisieren.

Bildungsauftrag künstlerische Haltung: Vermittlungsarbeit in der Whitechapel Gallery in den 1970er und 1980er Jahren Nach einem programmatisch bedingten, mehrere Jahrzehnte andauernden Hiatus für die Kunstvermittlung an der WAG wurde im Mai 1977 ein Education

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An Exhibition of Scholars‹ Work: 2, WAG-Archiv, WAG/PUB/1/13. Ziel war es »to produce a trained, alert mind which is eager to master more and more material, and to use this material well; – a mind that can readily grasp and adapt itself to new conditions, or rather, perhaps we should say, adapt new conditions to itself.« An Exhibition of Scholars‹ Work: 18f., WAG-Archiv, WAG/PUB/1/13. Im doppelten Sinne ausgestellt wurde zum Beispiel »a set of papers written by complete foreign children who spoke no English in March, 1903, and a set written by the same children in December 1903«. WAG, An Exhibition of Scholars‹ Work: 18, WAGArchiv, WAG/PUB/1/13. 1906 gründete sich beispielsweise die Labourpartei. Antikoloniale Formen der Selbstorganisation sowie entsprechende Subjektivierungsprozesse und -praxen nahmen um die Jahrhundertwende merklich zu. Im Juli 1900 fand in London die First Pan-African Conference statt.

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& Community Officer eingestellt.23 Wie aus den Korrespondenzen und Berichten im WAG-Archiv aus dieser Zeit hervorgeht, gelang es in den sechs Jahren seiner Tätigkeit in einem bemerkenswerten Maße, die Institution sowohl für im East End ansässige Künstler:innen, für den Bildungssektor als auch für die wachsende Zahl sozialer Organisationen und aktivistischer Initiativen vor Ort als Kooperationspartnerin, als Ressource und Verbündete zu etablieren (Mörsch 2004). In die Zeit seines Wirkens fällt eine erneute diskursive Verschiebung: nicht nur Kunstwerke, sondern vor allem die Künstler:innen und ihre Arbeitsweise selbst wurden nun zum Ausgangs- und Mittelpunkt des Bildens durch Kunst. 1979 wurde die erste von der WAG initiierte Beschäftigung eines Künstlers an einer Schule im Bezirk Poplar von der Gulbenkian Foundation und dem Arts Council finanziert.24 In der Dokumentation des Künstlers heißt es: »I tried to show [the children] why I did things in a certain way, by showing the logicality of the decisions, and the illogicality behind this logicality. […] It is like children play. I tried to show how I keep my options open, how I take all the decisions I take at the last moment, and generally how one could apply all my rules of working to any creative activity, indeed any activity.«25 Dieses Zitat ruft eine seit Ende des 19.Jahrhunderts im Zuge der reformpädagogischen, primitivistisch geprägten Begeisterung für »Child Art« entstandene diskursive Verknüpfung von Kindern und Künstler:innen auf und macht die Relevanz letzterer für die Bildung von public citizenship deutlich. Zu diesem Zeitpunkt litt Poplar unter einer hohen Arbeitslosigkeitsquote, da die nahegelegenen Docks, die Haupteinnahmequelle der Bewohner:innen, sukzessiv geschlossen wurden. Hinzu kam die in den Anfängen befindliche staatliche Deregulierung. Die Fähigkeit, das Leben als kreativen Prozess zu betrachten, dessen Gelingen vor allem vom eigenen Einfallsreichtum abhing, schloss an die

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Die Schaffung der neuen Position war durch die finanzielle Unterstützung der Calouste Gulbenkian Foundation möglich. Sie war zu diesem Zeitpunkt ein Experiment, denn bis dahin hatte es derartige Stellen vorwiegend in Museen gegeben, die Dauerausstellungen zeigten und über eigene Sammlungen verfügten. Das erste Artists in Schools-Programm in England hatte die Gulbenkian Foundation 1972 eingerichtet. (Braden 1978: 64). Rusell, Robert: »An Artist at Woolmore School. Report«, WAG-Archiv, WAG/EDUC/5/1, WAG/DIR/6.

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Verlautbarungen zu den Schulausstellungen in der WAG Anfang des 20.Jahrhundert zu Flexibilität als Bildungsziel an und schrieb sich nun in die neoliberale Gesellschaftsordnung ein. Die Betonung der gesellschaftlichen Nützlichkeit künstlerischer Arbeit resultierte andererseits auch in der durch den Education & Community Officer vorangebrachten institutionellen Unterstützung von im East End angesiedelten aktivistischen Organisationen, in denen Künstler:innen als Verbündete der sozialen Bewegungen fungierten.26 Doch die über diese unterschiedlichen Bündnispolitiken entstehende institutionelle Positionierung fokussierte weiterhin auf die Bildung der A_n_d_e_r_e_n – inzwischen vor allem auf die bengalische Bevölkerung des East End – und führte nicht zu einer strukturellen Transformation der weißen Kunstinstitution. Die Ausstellungs- und Förderpolitik der Zeit segregierte diasporische Künstler:innen unter Stichworten wie »ethnic art«.27 Aktivistische diasporische Gruppierungen waren angesichts des massiv spürbaren alltäglichen und strukturellen Rassismus in England auf innere Organisierung und Selbsthilfe konzentriert. Es hätte daher einer öffentlichen antirassistischen Positionierung der Whitechapel Art Gallery bedurft, um eine Unterbrechung dieser Dominanzverhältnisse zu leisten. Der zweiten Education & Community Officer gelang es in der Dekade zwischen 1982 und 1992, durch den massiven Ausbau und eine klare konzeptuelle Profilierung der Aktivitäten die WAG als internationale Referenz für institutionelle Kunstvermittlung zu positionieren. Das ›andere Wissen‹ der Künstler:innen bildete dabei weiterhin die wesentliche methodische und programmatische Matrix. Dabei verschob sich jedoch der institutionskritische und aktivistische Impetus hin zu einer Zentrierung der Künstler:innenpersönlichkeit: Nun ging es darum, durch die Begegnung und Zusammenarbeit mit den Künstler:innen individuelle erfahrungsbasierte Zugänge zu dem zu schaffen, was die Spezialist:innen des Kunstfelds als ›Kunst‹ definierten (Lomax 1989: 21). Diese Depolitisierung korrespondiert mit einem in den Achtzigerjahren 26

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Zeugnisse zahlreicher solcher durch Rewcastle koordinierten Aktivitäten, etwa mit der Artist Placement Group, mit William Furlong oder dem Künstler Steven Willats, finden sich im WAG-Archiv: WAG/EDUC/8/1; WAG/EDUC/9/2. Zu einer mehrfach in Kooperation mit der Open University durchgeführten Summer School WAG/EDUC/6/1 sowie WAG/EDUC/6/3 (vgl. auch Hothi 2014). Eine Bezeichnung aus dem Repertoire des vom Arts Council 1976 veröffentlichten Berichts von Naseem Khan (Kahn 1976). Für eine Schilderung der unterschiedlichen Aktivitäten und Positionierungen der diasporischen Künstler:innen in England in den Siebziger- und Achtzigerjahren siehe u.a. Chambers 2014; Hall 2006.

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im East End massiv einsetzenden Gentrifizierungsprozess, nicht zuletzt vorangetrieben durch die Künstler:innen, die seit den Siebzigerjahren, angezogen durch Leerstand und günstige Mieten, in das Viertel gezogen waren (The Guardian 1987). Das Artist in Schools-Programm der WAG wurde in dieser Phase wesentlich durch öffentliche Mittel finanziert, die unter dem Titel Urban Aid aufgelegt worden waren, um den mit steigender Erwerbslosigkeit und steigenden Mieten verbundenen sozialen Spannungen im Stadtteil entgegenzuwirken. Es handelte sich um kosmetische Maßnahmen im Kontext einer Stadtentwicklungspolitik, die radikal auf Deregulierung, Privatisierung und Marktorientierung setzte (Cameron/Coaffee 2005; Tallon 2013). Dies entsprach auch der neuen Ausrichtung der staatlichen Kulturförderung, die schon allein, um unter der Regierung Thatcher die eigene Weiterexistenz zu sichern, zunehmend auf die Rolle künstlerischer Produktion als kreatives Kapital in der Stadterneuerung und im Wirtschaftssektor verwies (Arts Council England 1988). Die von der WAG in der Vermittlung eingesetzten lokalen Künstler:innen erscheinen vor diesem Hintergrund wiederum als urbane Pionier:innen im East End, die über die Bildungsarbeit mit der Bevölkerung Einkommen generierten und gleichzeitig zu deren Verdrängung beitrugen. Zeitgleich wurde in der vorwiegend durch weiße Journalist:innen geleisteten zeitgenössischen Rezeption der Vermittlungsarbeit der WAG in einer Re-aktualisierung der Diskurse aus der Zeit der Eröffnung besonders die Effekte auf nun als »multicultural« bezeichnete Teilnehmende hervorgehoben: »At the gallery, exhibitions become teaching tolls for developing social skills, promoting self-confidence and self-esteem, and broadening language and conversational abilities. Staff responds to the children’s backgrounds – particularly important in the multicultural East End.« (Alberge/Easton 1991). Die Schüler:innen wurden als »fast komplett bengalisch, aus der Nachbarschaft im East End« beschrieben. Sie kämen hauptsächlich aus muslimischen Elternhäusern und seien daher anfänglich beschämt von Aktdarstellungen (in Sunday Times 1986). Doch die Vermittlungsprojekte der WAG transformierten auch für diese Kinder den Kunstraum in einen domestic space: »local pupils from all kinds of backgrounds, many of them poor, now feel at home in an internationally renowned gallery.« (The Economist 1992). In den Jahresberichten der WAG aus dieser Zeit ist ein zunehmender Einsatz migrantisch-diasporischer Künstler:innen als artist-educators verzeichnet: Die Vermittlungsabteilung repräsentierte in den Achtzigerjahren deutlich

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mehr Diversität als das Ausstellungsprogramm. Es trug so nicht zuletzt zum Erbringen der inzwischen von Förderseite verlangten Statistiken bei – im März 1988 veröffentlichte der AC den ersten Cultural Diversity Action Plan.28 Dieses Kriterium der nationalen Kulturförderung zu erfüllen war für die WAG von großer Dringlichkeit, da die Abschaffung lokaler Verwaltungsstrukturen durch die Regierung Thatcher dazu führte, dass ein wesentlicher Teil der finanziellen Sicherung der Institution und insbesondere der Vermittlungsarbeit verlorenging (Arts Council England 1988: 28ff.). Mit der Markierung der artist-educators als lokal und (teilweise) diasporisch bildeten diese in doppelter Hinsicht eine Brücke zwischen WAG und Nachbarschaft. Die ihnen in den Presseartikeln und Verlautbarungen der Institution zugeschriebenen Eigenschaften waren feminisiert: Kommunikationsfähigkeit, Intuition, improvisatorischer Einfallsreichtum, Enthusiasmus und Sympathie. Diese Eigenschaften sind in weitaus ältere Diskurse um bürgerliche weiße Frauen und der Communion of Labour eingeschrieben. Wie damals, war auch der Raum, den sich in den 1980er Jahren für diasporische Künstler:innen in der Vermittlungsarbeit der WAG eröffnete, ein Effekt ihres Ringens um Sichtbarkeit im Kunstfeld.29 Ihr Einschluss war nicht nur der sich mehr und mehr auf diversity fokussierenden Förderpolitik geschuldet, sondern auch dem politischen Druck, der von diesen Künstler:innen selbst ausging.

Arbeiten im double bind der kritischen Kunst/Vermittlung Genauso lässt sich die Vermittlungsarbeit an der WAG in diesen Jahren nicht auf ein neoliberalismuskritisches Narrativ reduzieren: richtig und wichtig ist,

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Im Jahresbericht von 1984/85 wurden auf der Liste der 70 Künstler:innen, die im Community Education Projects der WAG gearbeitet hatten, die 14 diasporischen Künstler:innen mit einem Asterisk markiert. Vgl. Annual Report 1984/85, WAG-Archiv, WAG/TRU. Dazu gehören beispielsweise Sonia Boyce und Zarina Bhimji. Sonia Boyce war 1984 WAG artist in residence an der Skinners Company Lower School; 1985 war sie neben Eddie Chambers, Tam Joseph and Keith Piper in der Ausstellung Black Skin/Bluecoat in der rennomierten Bluecoat Gallery in Liverpool zu sehen, die inzwischen als wichtige Station in der Geschichte wachsender Sichtbarkeit diasporischer Künstler:innen international kanonisiert ist. 2022 vertrat Sonia Boyce England auf der Venedig Biennale und gewann den Goldenen Löwen. Zarina Bhimjis residency fand 1989 in der Culloden Primary School statt, in einem Jahr also, nachdem sie bereits in mehreren Ausstellungen nationale Sichtbarkeit erlangt hatte.

Carmen Mörsch: Die Bildung der A_N_D_E_R_E_N durch Kunst

dass es artist-educators of colour genauso wie machtkritisch und feministisch informierten weißen artist-educators immer wieder gelang, in der WAG Kunstvermittlung als kritische, in Dominanzverhältnisse intervenierende Praxis zu realisieren. Ein prägnantes Beispiel hierfür sind die Schulkooperationen im Kontext der vieldiskutierten Ausstellung »One or two things I imagine about them« von Alfredo Jaar 1992. Dessen Repräsentation von britisch-bengalischen jungen Frauen aus der Nachbarschaft, hatte deren Protest ausgelöst. Insbesondere zweien mit der Vermittlung zu dieser Ausstellung betrauten artist-educators, namentlich Alistair Raphael und Rosmond Kinsey Milner gelang es, gemeinsam mit den betroffenen und weiteren Schülerinnen eine kritische Befragung der Displays genauso wie die Produktion von komplexen multi-medialen Gegenerzählungen zu initiieren (Mörsch 2019: 509ff.; Mörsch 2017a,b). Dabei re-artikulierten sich in der Praxis der artist-educators die seit dem 18. Jahrhundert fortgeschriebenen Künstlerrollen: Als Seher:innen gelang es ihnen, gemeinsam mit den Schülerinnen die dominanten Narrative zu durchschauen; als Joker ›hackten‹ sie mit den Ergebnissen aus den Vermittlungsworkshops den vorgegebenen Text der Ausstellung und der kuratorischen Abteilung der WAG; als Pädagog:innen trugen sie schließlich dazu bei, der Kunstinstitution zur lokalen gesellschaftlichen Nützlichkeit zu verhelfen. Und gerade weil sie kritisch informierte artist-educators waren, arbeiteten sie im vielschichten double bind der historisch gewachsenen Verhältnisse: Sie sollten den Bildungsauftrag der Institution identifiziert und professionell erfüllen und für sie die diversifizierte, ›junge‹, lokale und in all dem vielversprechende Künster:innenschaft repräsentieren, aber nicht als ausstellende Künstler:innen in ihr auftauchen. Sie sollten die akuten Konflikte der Kunstinstitution mit der Nachbarschaft bearbeiten und versöhnen, aber dabei nicht die Handlungs- und Repräsentationslogiken der Kunstinstitution grundsätzlich in Frage stellen. Sie sollten sich mit den Repräsentationsanliegen der Schüler:innen solidarisieren und für sie die Kunstinstitution zugänglich und attraktiv machen – ohne dabei die Exklusivität Letzterer zu beeinträchtigen. Vor allem aber setzten ihr künstlerisches und kritisches Wissen dazu ein, die Schüler:innen beim Erarbeiten von widerständigen Selbstrepräsentationen anzuleiten und zu unterstützen, was gleichzeitig dazu führte, dass diese Schüler:innen als gute Citizens in Erscheinung traten, die ihre Frustration in ein attraktives Kunstprojekt überführen anstatt zu revoltieren und Aufstände zu veranstalten. Die gleichen double binds können auch heute weiterhin in der sich als kritisch verstehenden Kunstvermittlung beobachtet werden. Und es gibt noch weitere Kontinuitäten:

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1998 wurde Alistair Raphael, als erster und bisher einziger artist-educator of colour kurzzeitig Leiter der Vermittlung an der WAG. Doch abgesehen von diesem Intermezzo sind die Vermittlungsabteilungen der WAG, ebenso wie die in anderen arrivierten Kunstinstitutionen vornehmlich weiß und weiblich – auch noch 200 Jahre nachdem weiße bürgerliche Frauen begannen, sich das Arbeitsfeld der Kunstvermittlung als Handlungsraum zu eröffnen. Fast scheint es, als sei der vermeintlich durchlässige und inklusive Raum der Vermittlung strukturell persistenter als die symbolisch mit mehr Mehrwert ausgestatteten Bereiche des Ausstellens und Kuratierens. Die Ursachen dafür sind vielschichtig. In jedem Fall bleibt es eine vordringliche Aufgabe im Arbeitsfeld, gegen den eigenen strukturellen Ausschlussmechanismen aktiv diskriminierungskritisch anzuarbeiten und angesichts der Reproduktion von der historisch gewachsenen Verteilung von Ressourcen und Entscheidungsmacht unruhig zu bleiben.

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Dekolonisierung innerhalb nationalstaatlicher Förderlogiken? Zur Anatomie einer Illusion Mai-Anh Boger & Nina Simon

Die Überschrift des kurzen Essays The Master’s Tools Will Never Dismantle the Master’s House von Audre Lorde (1984) lässt beim flüchtigen Lesen vermuten, dass die master’s tools hier abgelehnt werden würden, dass ihnen abgesprochen werden würde, für emanzipatorische Zwecke dienlich zu sein. Tatsächlich findet sich jedoch auch die Gegenthese im Text: »They may allow us temporarily to beat him at his own game, but they will never enable us to bring about genuine change« (ebd.: 112). Der double bind im Verwenden dieser Werkzeuge ergibt sich aus dem Kontext: Sind die Werkzeuge der Herrschenden überhaupt noch deren Werkzeuge, wenn sie von den Unterdrückten verwendet werden? Und vice versa: Wenn kritische Werkzeuge – zum Beispiel aus den Postcolonial Studies – im Herrenhaus verwendet werden, gehören diese dann nicht auch in einem gewissen Sinne jenen, die sie sich (gegen die emanzipatorischen Intentionen der unterdrückten Erfinder:innen) angeeignet haben? Gewarnt wird damit vor zwei Illusionen: In der einen Richtung gelesen, geht es um die Illusion, man könne mit den Werkzeugen der Herrschenden ›alles erreichen‹. In der Gegenrichtung verstanden, geht es um die Illusion, dass es sich nicht lohne, sich diese Werkzeuge der Dominanzkultur anzueignen, dass sie regelrecht ›vergiftet‹ wären – so sehr, dass man sich dieser gänzlich verweigern müsse. Dies lässt sich leicht auf den Bereich der Kulturellen Bildung beziehen: Auch dort gibt es einerseits das Risiko, sich der Illusion hinzugeben, dass man mit der erfolgreichen Aneignung der dominanzkulturellen Formen zu einer Dekolonisierung beitragen könne, sowie andererseits die gegenläufige Illusion, dass Dekolonisierung nur gelingen könne, wenn man sich diesen Instrumenten gegenüber widerständig zeigt und sie ablehnt.

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Wie alt dieser Gedanke ist, zeigt sich beim Lesen von Schillers Briefen zur ästhetischen Erziehung. In diesen findet sich dieselbe Infragestellung der »Werkzeuge«, die durch den Staat bereitgestellt werden: »Alle Verbesserung im politischen soll von Veredlung des Charakters ausgehen – aber wie kann sich unter den Einflüssen einer barbarischen Staatsverfassung der Charakter veredeln? Man müßte also zu diesem Zwecke ein Werkzeug aufsuchen, welches der Staat nicht hergiebt« (Schiller 2000/1795: 33). Lorde und Schiller liegen historisch, geographisch und von ihrer Sprechposition her sehr weit auseinander. Doch teilen sie diese Sorge: »This is an old and primary tool of all oppressors to keep the oppressed occupied with the master’s concerns« (Lorde 1984: 113). Ästhetische Erziehung bzw. ›Kulturelle Bildung‹ – wem soll das nutzen? Und wie ließen sich diese Werkzeuge so be-nutzen, dass sie den Unterdrückten nutzen und nicht zuvorderst den ›mastern‹? Zugleich gilt jedoch: »Der Nutzen ist das große Idol der Zeit, dem alle Kräfte frohnen und alle Talente huldigen sollen« (Schiller 2000/1795: 9). Ästhetische Erziehung müsse daher als Selbstzweck ge- und erachtet werden, der »Mensch als Selbstzweck« (ebd.: 137) steht hier in Verteidigung gegen die Nützlichkeitslogik im Zentrum. Vorliegender Beitrag widmet sich in diesem Sinne der nützlichen Nutzlosigkeit der master’s tools sowie der Kulturellen Bildung als einem Feld voller double binds. Dazu werden im Folgenden drei nutzlos-nützliche Werkzeuge eingesetzt, gegen deren Verwendung sich mitunter Widerstand in den kritischen Seelen regen mag: Die ersten beiden nutzlos-nützlichen Werkzeuge basieren nämlich auf einer Betrachtung von Kultureller Bildung als Dienstleistung, deren Finanzierung einer bestimmten Legitimationslogik von staatlicher Seite unterworfen ist. Die zwei Instrumente der Herrschenden (›master’s tools‹) – die Leerfloskeln-Festtagsrede einerseits und das Monitoring nackter Zahlen andererseits – werden dargelegt und es wird aufgezeigt, wie diese in ihrem Formkontrast interagieren. Im dritten Abschnitt wird der nutzlos-nützliche Verweis auf asymmetrische Ignoranz erörtert, dessen Einsatz von der Paradoxie heimgesucht wird, postkoloniale Kritik zum neuen Must-Have in Imperialbauten zu machen. Zuletzt kommen wir im Fazit auf die Anatomie der Illusion, sich den nachgezeichneten double binds entziehen zu können, zurück.

Mai-Anh Boger & Nina Simon: Dekolonisierung innerhalb nationalstaatlicher Förderlogiken?

Kulturelle Bildung als umwegige Dienstleistung betrachten Einleitend wurde mit Schiller an die Emphase auf den »Mensch als Selbstzweck« (Schiller 2000/1795: 137) erinnert, aus der die Bestimmung einer Ästhetischen Erziehung als Selbstzweck folgt. In der Förderlogik des Marktes zu Kultureller Bildung wird dies sowohl affirmiert, als auch unterlaufen: Affirmiert wird es im Modus der im zweiten Abschnitt dargelegten ›Festtagsreden‹. Negiert wird es jedoch im Antragswesen. Kulturelle Bildung erscheint dort stets als Mittel zu einem anderen Zweck. Zunächst gilt es daher, die Szene ökonomisch zu betrachten, um nachzuzeichnen, was genau ›Geld Wert‹ ist. Sprechen wir also über Geld. Eingeordnet in den »Versuch einer Typologie einer Kritischen Kulturpädagogik« nach Max Fuchs (2017) geschieht dies zumeist sowohl mit materialistischen Zugängen als auch mit Theorien poststrukturalistischer Bauart. Wie kommt man in der Kulturellen Bildung an Geld? Um Gelder für (Drittmittel-)Projekte in der Kulturellen Bildung einzuwerben, muss sich mit Anträgen, die Projektskizzen beinhalten, auf Ausschreibungen beworben werden. Die Ausschreibungstexte legen dabei fest, wer wen zu welchen Zwecken kulturell zu bilden hat bzw. wer weshalb ›kulturell gebildet(er)‹ werden soll. Dabei wird betont offengelassen, was ›Kulturelle Bildung‹ eigentlich ist; es gibt keine ernstzunehmende Definition dieses Begriffs. Diese Unterlassung geschieht u.E. weder unabsichtlich, noch aus Faulheit. Die als ambivalent zu erachtende Offenheit erlaubt das Sich-Einschreiben zahlreicher – ökonomisch zumeist leicht durchschaubarer – Absichten. In der Finanzierungslogik wird ›Kulturelle Bildung‹ instrumentalisiert, um ein Drittes zu erreichen: Demokratisierung, Reduktion sozialer Ungleichheit durch Frühförderung, ›Spracherwerb‹, Integration/Teilhabe, Extremismusprävention, soziale Kompetenzen und psychologische Selbsttechniken (Selbstwirksamkeitserwartungen, Kompetenzerleben, Disziplin, Präsentationstechiken etc.). Das ›Kulturelle‹ vor dem ›Bildung‹ wird zu einem beliebig füllbaren Geleitwort, einem Gleitwort gar, einem Gleitmittel im Namen eines Dritten, von dem weitgehend vorausgesetzt werden kann, dass es ›Geld Wert‹ ist. Das Standardnarrativ reproduziert somit eine Diskurslage, in der Kulturelle Bildung eben kein Selbstzweck ist, sondern etwas, dessen Förderung/Finanzierung über ein Drittes legitimiert werden muss. Mit Blick auf Ausschreibungs- und Antragstexte der Kulturellen Bildung wird schnell deutlich, dass erstens nicht die Kunst oder die Kultur, sondern der Wert der Kunst/Kultur für ein Drittes im Zentrum steht, und dass zwei-

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tens über dieses Dritte festgelegt ist oder wird, wer die defizitären Anderen sind, denen Förderung und kulturelle Teilhabe angepriesen werden sollen. Die Offenheit des Signifikanten ›Kulturelle Bildung‹ erlaubt die Festsetzung sowohl des ökonomischen Endzwecks sowie der ökonomisch brisanten AnderenGruppe, die zumeist als »benachteiligt« oder »prekarisiert« bezeichnet wird. Auf den ersten Blick wirkt es also so, als ob hier für Menschen, die zu wenig Geld haben, Geld für Kulturelle Bildung bereitgestellt wird, damit diese später Geld verdienen können. ›Wozu der Umweg?‹, könnte man ketzerisch fragen. Warum nicht einfach gleich Transferleistungen zahlen?

Die Instrumente der Herrschenden (›master‘s tools‹): Festtagsreden und Zahlenrapporte Halten wir es mit dem alten Satz von Lorde: »The challenge is to employ the master’s tools to dismantle the master’s house« (Lorde 1984: 110). Was sehen wir, wenn wir fragen, was die Werkzeuge des Hauses sind, das wir zu dekolonisieren versuchen? Es erscheint ein – ironischerweise fast schon künstlerischer – Formkontrast zwischen Festtagsreden, die im (Un-)Wesentlichen aus leeren, aber hübschen Zauberformeln bestehen (2.1) und auf Zahlen, Fakten und Output reduzierten Berichten, die einer standardisierten, verwalterischen Rechenschaftslegung dienen (2.2.). Beide können, wie im Folgenden gezeigt wird, aber auch im Sinne Lordes gegen das Herrenhaus gewendet werden, wenn man sie nicht im Sinne des Erfinders benutzt.

Das erste Instrument der Herrschenden: Festtagsreden, Hohlphrasen und die Unbestimmbarkeit der ›Kulturellen Bildung‹ Während in der Kunst die zweite Kunst hinter der ersten darin besteht, einem Mäzen gefallen zu müssen, der eine Institution oder eine Person sein kann, ist es in der Kulturellen Bildung Väterchen Staat, repräsentiert zum Beispiel durch das Bundesministerium für Migration und Flüchtlinge (BAMF), dem es zu gefallen gilt. Der Rapport an ihn ist deutlich förmlicher: Auf Anträge folgen Rechenschaftsberichte, Zwischenberichte, Kalkulationsoffenlegungen, Tätigkeitsnachweise, Zwischenevaluationen und Abschlussberichte mit websitefähigen hübschen Bildchen; das Ziel wurde dabei stets erreicht, denn es bestand in dem Nachweis, dass jener Staat ungebrochen ein sozialer ist, der den armen Kindern nicht nur Transferleistungen, sondern eben auch Flötenspiel zugu-

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tekommen lässt. Es macht daher einen großen Unterschied, ob es gilt, einem konkreten bürgerlichen weiß dominierten Publikum zu gefallen, das die Herrschaftslinien des Staates durch Verkörperung verdoppelt (und in dieser Verdopplung eben auch verschieben kann), oder ob man unmittelbar diesem Staat zu gefallen hat. Während das europäische Publikum exotische Waren einkaufen wird, wenn es sich langweilt und mit der europäischen Kunstgeschichte fertig ist, wird ein europäischer Staat marginalisierte Akteur:innen bezahlen, wenn sie mindestens eines der genannten dritten Dinge (Demokratisierung, ›Sprachförderung‹, Teilhabe etc.) versprechen und dieses Versprechen sodann einhalten, indem sie in einer wohlfinanzierten Inszenierung die erworbenen Kompetenzen der armen Anderen zur Schau stellen. In der Kulturellen Bildung ist es also zuallererst der Staat, der uns selbst zu einer nicht-performativen Pseudo-Kritik im Sinne Sara Ahmeds (2004) verführt. Die Werkzeuge des Master‘s sind Festtagsreden und warme Worte, hohe Lieder auf den Wert der Kunst und die synergetische Kraft der Kultur. Die Instrumente der Herrschenden sind eben nicht immer oder nicht nur Theorien, sie sind auch bestimmte Diskursmodi – habitualisierte Sprechweisen: So muss man körperlich üben (als performative Praxis), wie man warme Worte singt – lächelnd, sich fotografieren lassend, gleichzeitig ernsthaft und locker-feierlich-entspannt, sich nicht zu ernst nehmend (weil man ja nicht elfenbeinturmig und elitär sein will) und doch ›niveauvoll‹ (weil es ja immer noch um Kunst und Kultur geht). Die Leere dieser Leerfloskeln ist hochdiszipliniert. Es ist dieselbe friedlich-lächelnde Leere, die man auch auf anderen angesehenen Posten – wie zum Beispiel dem diplomatischen Corps und anderen repräsentativen Ämtern – erlernt. Dass diese Leerfloskeln nicht beliebig sind, lässt sich in der Praxis am leichtesten daran erkennen, dass man die falschen Zauberworte aufrufen kann – und sodann beim Beantragen leer ausgeht. Daher wäre es eine halbierte Herangehensweise, sich bei der sabotierenden Aneignung der Instrumente der Herrschenden nur mit den Theorien zu befassen: man muss sich auch habituellen Imitationen, Sprechweisen und Performances widmen, um diese Machtmittel nicht nur von ihren ›Inhalten‹ her, sondern auch – und vielleicht sogar vor allem – als Performances zu verstehen. Wenn wir also von »affirmativer Sabotage« nach Spivak (2013) oder von »dissidenter Partizipation« (Hark 2005) sprechen, wie es eine deutschsprachige Autorin nennt, oder wenn wir mit Lorde oder Luce Irigaray (1980) von der »Zweischneidigkeit« der Instrumente der Herrschenden reden, dann meinen wir stets ebendiese Ambivalenz: Alle diese Lieder über den Wert der ästheti-

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schen Erziehung – sie gehörten niemals uns. Wir waren immer schon beraubt. Mit nicht-performativer Rassismuskritik verdienen wir unser Geld, denn diese entschärften Hohlphrasen führen zu bewilligten Projekten. Im Vergleich zu den USA steht Kulturelle Bildung hier in Deutschland in einer anderen historischen Spur. Dies muss auch die Spivak-Lektüre hierzulande beeinflussen, sonst käme es zu einer ahistorischen Kopie, die von einer übereilten, bruchlosen Übersetzbarkeit für deutsche Kontexte ausgeht – was bekanntlich gerade im Kontext des Spivak’schen Werkes an Werkschändung grenzen würde. Wenn wir diesen Schiller lesen, dann als Re-Import; und keineswegs darf man so tun, als wäre ein Schiller, der via Spivak einmal in die USA und das Englische wandert, und dann wieder zurück in einen deutschsprachigen Herausgeberband, immer noch ›derselbe‹. Das alte Europa hält etwas auf sich, wenn es um Kunst und Kultur geht. Die in Festtagsreden vorgetragene Affirmation dieses Verständnisses von Bildung als Selbstzweck ist eingebunden in Distinktionsspiele und eine postkoloniale Diskursordnung, in der man ›stolz‹ auf diese ›europäische Errungenschaft‹ ist. Es ist in diesem Kontext daher nicht per se eine kritische Intervention, die Zauberformel von Bildung als Selbstzweck zu wiederholen. Sie ist selbst zur Festtagsrede geworden – ein tragischer Verlust? – oder eben: ein Hinweis auf das Vorliegen eines double binds. Wir müssen die nicht-performative, aber finanziell förderungswürdige Phrasendreschmaschine in uns selbst erkunden. Gleichsam aber gilt es, dermaßen offen über Geld zu sprechen, dass nicht verschwindet, was Mittel und was Zweck ist, wenn es etwa im Antragstext heißt: »Die (kulturelle) Bildung junger Menschen findet somit als gesamtgesellschaftliche Aufgabe statt. Mit Unterstützung des BMBF tragen die Akteure in den Bündnissen vor Ort dazu bei, gerechtere Bildungschancen für benachteiligte Kinder und Jugendliche herzustellen. Denn so viel ist klar: Kultur macht stark!« (BMBF 2018a: 5). Laut Ansage von Oben ist also Bildungsgerechtigkeit der förderungswürdige Endzweck und Kulturelle Bildung das Mittel zu diesem Zweck. Es liest sich, als wäre eine Prise Schiller hier Staatsräson; und gerade aus konservativer Perspektive ist Kulturelle Bildung eines der beliebtesten Mittel der Integrationspolitik. Die Bedeutsamkeit Kultureller Bildung wird in Sprechakten wie diesen nicht nur anerkannt, sondern sogar zum integralen Bestandteil einer ›starken‹ europäischen Kultur stilisiert: In diesem Sinne gilt es, immer wieder zu fragen, wessen Kultur hier ›stark macht‹ und stark gemacht wird, und welche Zwecke

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mit der allseits beklatschten Kulturellen Bildung verfolgt werden. Wer eine solche Ausschreibung beantwortet, geht diese Setzung darüber, was in welcher Auslegung und mit welchem Konfetti Geld wert ist, bereits mit. Und wer sich zudem danach einer Evaluation darüber, ob es das Geld denn auch wirklich wert war, unterzieht, muss sich mit »Evaluation als Machtstrategie« befassen (Fuchs 2018).

Das zweite Instrument der Herrschenden: Nackte Zahlen Des Weiteren ließe sich auch fragen, was hier wirklich, wirklich bezahlt wird, wenn man sich einem noch unbeliebteren Werkzeug der Herrschenden bedient: der nüchternen, auf Zahlen reduzierten Kosten-Nutzen-Analyse. Gehen wir also durch, was sichtbar wird, wenn man den Effizienzkult und die OutputAnalyse des herrschenden Regimes auf es selbst anwendet: Beginnen wir mit einem konkreten Beispiel aus der Praxis. Wird ein Antrag für ein Projekt im Rahmen des Förderprogramms »Kultur macht stark« (Bundesministerium für Bildung und Forschung) gestellt, läuft das in etwa so ab (s. BMBF 2018b): Zunächst müssen Einrichtungen, die ein solches Projekt verwirklichen wollen, unter einem enormen Zeit- und damit Ressourcenaufwand Anträge für Fördergeber verfassen, die eine Projektskizze, potentielle Kooperations-/Bündnispartner:innen und die genannten Versprechungen auf ein Drittes beinhalten. Anschließend wird der gestellte Antrag begutachtet und basierend darauf im besten Fall bewilligt. Im Falle der Nicht-Bewilligung hat man also fünf Tage Personal damit beschäftigt, eine Willensbekundung zu verfassen. Im Falle der Bewilligung wird ein (KuBi-)Projekt durchgeführt. Anschließend wird erneut ein Bericht geschrieben, Maßnahmen werden evaluiert, um zu beweisen, dass die in der Projektskizze genannten Ziele erreicht wurden. Der Bericht wird erneut begutachtet, häufig mit Korrekturvorschlägen an die Einrichtungen zurückgesendet, die ihn überarbeiten müssen usw.: In der Summe bedeutet das bei einem beispielsweise fünftägigen Projekt sowohl für die Einrichtung selbst als auch für die Fördergeber eine etwa fünftägige Vor- und anschließend eine fünftägige Nachbereitungsphase. Während also fünf Tage (tatsächlich) ein Projekt durchgeführt wird, wird an zehn Tagen vor- und nachbereitet. Dieses Verhältnis von nötigem Input und gewonnenem Output würde – gerade in neoliberalen Zeiten – in anderen Kontexten als offensichtlich unverhältnismäßig und nicht-rentabel eingestuft werden. Hier aber wird diese Unverhältnismäßigkeit zuverlässig überdeckt von einem ›guten Gefühl‹ (schließ-

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lich gibt es ein Projekt zur Verringerung von X, Y, Z; wir fördern die Benachteiligten; gut für die Kommune ist es auch; wir sind so stolz, dass wir Geld eingeworben haben usw.), sodass aus dem Blick zu geraten droht, dass der dadurch entstandene Verlust an Geld sowie an Lebenszeit ein Verlust bleibt – außer aber man zieht in Erwägung, dass hier in Wahrheit etwas ganz anderes Eigenwert hat und daher auch Geld wert ist, nämlich die Inszenierung der Beantragung und Rechenschaftslegung selbst. Wenn man es ökonomisch durchdenkt und sich des master’s tools bedient, kann man – unter der Annahme, es ginge tatsächlich um Kulturelle Bildung – über die Ineffizienz, die sinnlose Verschwendung von Zeit und Geld sowie die kafkaeske Bürokratie (die sogar noch mehr Geld kostet, da der Verwaltungsapparat besser bezahlt wird als die meisten in der KuBi tätigen Sozialarbeiter:innen) nur noch lachen. Man käme sodann zu dem sarkastischen Fazit: Es ist kein Geld für Kulturelle Bildung da, da mindestens doppelt so viel Geld für das Beantragen, Verwalten, Evaluieren und Dokumentieren Kultureller Bildungsprojekte verschwendet wird. Lässt man aber die offensichtlich törichte Vorstellung, dass es bei der Förderung Kultureller Bildung um Kulturelle Bildung ginge, fallen, erscheint unter Verwendung des master’s tool ein neuer Analysehorizont: Wofür wird hier also eigentlich Geld ausgegeben? Nicht für Kulturelle Bildung, sondern – und hier wird eine Ähnlichkeit zur Idee humanistischer Bildung und der Zivilisierungsmission erkennbar – für eine positive Selbstdarstellung des Staates, das gute Gefühl, »sich zu entspannen und sich weniger bedroht zu fühlen, so als ob wir es schon ›gelöst hätten‹ und es nichts mehr zu tun gäbe« (Ahmed 2011: 134), mitsamt der passenden Schlagzeile in den Lokalnachrichten. Daher darf es in dieser Logik auch keine ernstzunehmende, grundständige Finanzierung von Trägern geben, die sodann auf mehrere Jahre zuverlässig planen und arbeiten könnten, sondern es muss stets aufs Neue von Projekt zu Projekt skizziert, beantragt und bewilligt werden: Die Begutachtung und Überwachung der Anträge – und somit der hegemonialen Erzählungen – ist dem Staat mehr Geld wert als das eigentliche Tun.1 Paradoxerweise – und damit erschließt sich die ganze Ambivalenz der Benutzung der master’s tool – wäre es also tatsächlich

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Freilich kann man diesen Absatz auch im Kontext der Debatten um Evidenzbasierung lesen (spezifisch für Kulturelle Bildung s. Fuchs 2016): Der Fokus auf messbare, fotografierbare Ergebnisse, die Outputorientierung wird auch von dieser Seite verstärkt. Das Interesse evidenzbasierter Forscher:innen an der Operationalisierbarkeit geht hier mit dem Interesse an kontrollierbarem Output Hand in Hand.

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subversiv und eine harsche Kritik am bestehenden System, mehr Effizienz und weniger Geldverschwendung in der Kulturellen Bildung einzufordern, damit in diesem Feld tatsächlich Kulturelle Bildung stattfindet und nicht eine hochfinanzierte Festtagsreden- und Fotokette. Der double bind lautet hier also: Die ökonomischen Kategorien der Effizienz, Rentabilität etc. sind einerseits fragwürdige Bewertungsmaßstäbe. Doch gilt andererseits zugleich: Wer sich dieses Instruments der Herrschenden bedient und in den ökonomischen Kategorien denkt, findet eines der stärksten Argumente gegen die Prekarisierung und den Antragskult – nämlich, dass er selbst ineffizient ist, eine Geld- und Zeitverschwendung, die eben keine Sparmaßnahme darstellt, sondern das Gegenteil ist. Dies bedeutet es, die herrschende Ordnung im Sinne Lordes mit ihren eigenen Waffen zu schlagen: Einfach mal durchrechnen, wie sich der Output erhöhen ließe. Wir brauchen keine Angst vor der Wahrheit zu haben bei dieser Rechnung, denn die Wahrheit ist: Eine grundständige Finanzierung durch Ende des Antragskults würde unseren Output dramatisch erhöhen. Eine Verweigerung, die Projekte unter dieser ökonomischen Brille zu betrachten2 , wirkt in dieser Spur vernommen nicht emanzipatorisch, sondern arbeitet im Gegenteil der unterdrückerischen Verschleierung der Verhältnisse zu. Lüftet man den Zahlen-Schleier, erblickt man ein Spektakel staatlicher Über-, um-, und Kreuz-und-Quer-Steuerungen, das zu verhindern weiß, dass sich auch nur irgendetwas auf effiziente und effektive Weise in Gang setzen und etablieren könnte, weil dieser Staat kaum für Kulturelle Bildung bezahlt, sondern deutlich mehr (im Sinne eines kalkulierbaren Prozentsatzes an Arbeitszeit/Geld) die Inszenierung positiv evaluierter Kultureller Bildung finanziert (mit Fotos, bitte!). Ökonomisierung und Outputorientierung sind wahrlich gute Freunde. Dass diese zwei bereits ohne die kafkaesken Ketten schwer zu ertragen sind, zeigt sich auch im schulischen Kontext. So stellt Susanne Keuchel (2017) in ihrer Übersicht über den aktuellen Forschungsstand klar, dass das Gegenmodell einer flächendeckenden, an das Schulsystem gebundenen Finanzierung keineswegs automatisch gewährleistet, dass Kulturelle Bildung auch in prekarisierten Haushalten ankommt statt nur die Kinder der Bourgeoisie zu beglücken, denn die Ökonomisierung hat als gesamtgesellschaftlicher Trend längst auch die Schulen erfasst:

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Für die Notwendigkeit einer ökonomischen Brille plädiert mit Blick auf den DiversityDiskurs auch Michaels (2008).

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»Parallel zum Aufschwung im Ganztag wird zunehmend eine ›Marginalisierung‹ und ›Reduzierung‹ bezogen auf das Curriculum der künstlerischen Fächer in der Schule beklagt. Der zunehmende ›Legitimationsdruck‹ (Peez 2008: 7) und die Marginalisierung‹ (Höxter 2015) wird nach Meinung kultureller BildungsexpertInnen sehr deutlich auf die PISA-Kompetenzmessung zurückgeführt, die die künstlerischen Fächer gar nicht erfasst – ihr also keine Bedeutung zumisst.« (Ebd.) Wie werden wir in der Praxis der Kulturellen Bildung also dazu verführt, mit zu schwimmen? Wenn man uns kommuniziert, dass wir kein Geld wert sind, wenn wir keinen messbaren Output produzieren, dann gibt es zwei Möglichkeiten: Nachmessen oder etwas anderes Messen. Kulturelle Bildung messbar zu machen, regt noch zu viel Widerstand in uns. Also nehmen wir die zweite Option und evaluieren und fotografieren das Erreichen des zum eigentlichen Zweck erklärten Dritten (›Sprachförderung‹, Integration, Präsentationstechniken, Teilhabe, Vorurteilsreduktion etc.). Zur Sicherheit halten wir an dieser Stelle fest, dass Kulturelle Bildung scheinbar gegen alles hilft. Friedenserziehung und Gewaltlosigkeit könnten wir auch mal wieder als Drittes einsetzen, oder nicht? Aber egal, was wir einsetzen: diese Festtagsreden gehörten niemals uns. Sie waren stets des master’s tool. Und so mahnt auch Fuchs (2015) konkludierend: »Ebenso wie in theoretischer Hinsicht der Ansatz von Hannah Arendt Hinweise darauf gibt, dass die Felder des Ästhetischen und des Politischen möglicherweise mehr miteinander zu tun haben, als ein oberflächlicher Autonomiediskurs heute suggerieren will, scheint es notwendig zu sein, auch in der Kulturpädagogik die politische Naivität abzulegen.« (Fuchs 2015).

Distinktion – Oder: Die Ignoranz von Ignoranz-Vorwürfen Eine weitere seltsame Gleichzeitigkeit lässt sich beobachten: einerseits wurden viele der Kritiken aus den postkolonialen Studien und der Rassismuskritik enteignet und verwässert und andererseits kommt es nach wie vor zu kritikwürdigen Reproduktionen der Dominanzkultur. Wird ein kritischer Einwurf nämlich nur halb verdaut, lässt sich das zu kritisierende Phänomen immer noch in der Praxis finden, während im selben Moment die Kritik bereits wirkt

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wie ein etablierter Sermon. Zum einen findet man im Bereich Kultureller Bildung fragwürdige Sätze wie folgende: »›Kultur darf nicht nur in Elfenbeintürmen und Kunsttempeln stattfinden. Sie muss gerade für Kinder und Jugendliche ansprechend gestaltet und zugänglich sein. Nur wenn uns das gelingt, hat auch unser Kulturleben eine lebendige Zukunft‹ Prof. Andrea Tober, Leiterin des Education-Programms bei den Berliner Philharmonikern, Mitglied der Jury« (BMBF 2018a: 6). Zum anderen ist die Rückfrage auf wessen Kultur in der Formulierung »unser Kulturleben« rekurriert wird, zu einer ebensolchen Standardkritik geworden, die nicht mehr sonderlich steil wirkt. Die Lebensweltorientierung ist in obigem Ausspruch genauso enthalten wie die Zentrierung auf eine europäische Dominanzkultur. Die Versuche, auf die Problematik solcher Wir-Ihr-Spiele hinzuweisen, die Zentrierung des Eigenen und die dadurch forcierte Produktion der Anderen als Andere zu durchbrechen, reihen Regalmeter an Literatur hinter sich auf (exemplarisch Landkammer/Mörsch 2012; Mecheril 2015, 2013; Meier 2016; Lüth 2018). Es gilt also zu fragen, wie dieser kritische Impuls enteignet und eben nur halb verdaut wurde, denn nur so lässt sich verstehen, dass Sprechakte wie dieser ungebrochen neben einer ganzen Reihe an Museen, Kultureinrichtungen, Theatern stehen, die das postkoloniale Denken für sich entdecken – oder dies zumindest vorgeben. Die Phrasendreschmaschine ist stets schneller als das Denken. Welche Phrase haben wir in den postkolonialen Studien gestern gedroschen, die nun auswendig gelernt und am Fließband reproduziert wird? Es ist – in unterschiedlichen Phrasierungen – das Diktum der asymmetrischen Ignoranz: Ob in der Version Spivaks (1999) oder mit Bezug auf das Said’sche worlding (1991) oder in Chakrabartys (2017) Forderung nach einer Provinzialisierung Europas oder aber in der sprachlich leichter verdaulichen, zugänglichen Phrase von asymmetrischer Ignoranz als dem weißen Privileg, sich nicht mit den Anderen befassen zu müssen (exemplarisch McIntosh 1988), ganze Heerscharen wiesen darauf hin, wer hier bestimmte Dinge nicht weiß, nicht auf der inneren Landkarte hat, nicht kennt, nicht sieht. Ignoranz lässt sich das bourgeoise Subjekt nicht gerne vorwerfen, denn es will schließlich distinguiert sein und bleiben. Kein Wunder also, dass kein Diktum aus den postkolonialen Studien schneller gefressen und vereinnahmt wurde als dieses: Schließlich muss dafür gesorgt werden, dass es die Anderen sind und bleiben, die als ignorant gelten. Es überrascht nicht, dass der Anreiz

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so groß ist, sich in Windeseile Wissen über außereuropäische Kunstgeschichte anzueignen, um sich von den widerlichen Banausen da unten abzusetzen. Anderen ihre asymmetrische Ignoranz vorzuhalten, ist an Orten, an denen die postkoloniale Kritik bereits vereinnahmt wurde, daher nicht mehr ein subversives Kampfinstrument gegen Eurozentrismus, sondern selbst zu einem Distinktionsspiel der Herrschenden geworden. Darin entbirgt sich die nutzlose Nützlichkeit dieses dritten Instruments, das zwar gegen die Herrschenden erfunden wurde, sich aber auf lange Sicht ebenso als in einen double bind verwoben erweist wie die zuvor dargelegten Instrumente der Herrschenden auch. Außereuropäische Künstler:innen benennen zu können ist chic. Europa langweilt sich mal wieder, also muss jetzt importiert werden. Das Bildungsbürgertum schmückt sich mit diesen exotischen Gästen. »Danke an die Frau of Color für diesen inspirierenden Hinweis auf neu zu erobernde Gebiete – Mir ist gleich viel weniger langweilig!«, denkt sich so mancher im Kunstbetrieb. Doch was hat das mit einem Begehren nach echter Dekolonisierung und Befreiung zu tun? Zwei offene Fragen: (a) Ist das Bourdieu’sche Distinktionsspiel noch intakt oder haben wir gerade in unserer Persiflage stark überspitzt? (b) Und wie ist dieses (eventuell veränderte oder verschobene) Distinktionsspiel mit der Frage nach dem Verhältnis zwischen ungebildetem oder halbgebildetem Konsum und ›echter‹ Bildung verwoben? (a) Derzeit gibt es zwei konkurrierende prognostische Thesen zu dieser Bourdieu’schen Frage, von denen die Zukunft zeigen wird, welche Recht behält. Die erste Hypothese lautet: »Nun verändern sich Gesellschaften, so dass sich die Frage stellt, ob der von Bourdieu festgestellte Distinktionsprozess auch heute noch in dieser Form stattfindet. Neuere Studien aus Frankreich zeigen allerdings, dass es in dieser Frage zu Veränderungen gekommen ist (Lahire 2006). So wird festgestellt, dass in den letzten Jahren eine Pluralisierung des ästhetischen Geschmacks bei jedem einzelnen stattgefunden hat, so dass sich jeder einzelne in unterschiedlichen Geschmacksgemeinschaften zuhause fühlen kann. Dies bedeutet allerdings auch, dass die hegemoniale Rolle einer hochkulturellen Geschmackspräferenz in dieser Form nicht mehr existiert. Dies bedeutet kulturpolitisch zugleich, dass das, was in wichtigen Kunstzeitschriften seit vielen Jahren diskutiert wird, eine Begründung erfährt: dass nämlich das traditionelle Stammpublikum kultureller Einrichtungen wegbricht

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einfach deshalb, weil es offenbar die Distinktionsfunktion dieser Einrichtungen nicht mehr benötigt« (Fuchs 2014). Die Gegenthese halten wir jedoch für genauso plausibel: Was, wenn – gerade in Anbetracht der Tatsache, dass sich alle Milieus pluralisiert haben – es in Zukunft distinguiertere und weniger distinguierte Formen von ›Pluralität‹ gibt? Die Pluralisierungshypothese bringt das Bourdieu’sche Modell nicht notwendigerweise zu Fall. Freilich kann man die Oper pluralisieren und für viel Geld neue Neue Opern aus den Nachbarkontinenten einkaufen. Solange die Logenplätze zu teuer für den Pöbel sind, wird sich die vervielfältigte Dominanzkultur weiter abheben können – und das gleich in zwei Richtungen: erstens gegenüber einem als kleinbürgerlich verlachten, ›provinziellen‹ Publikum, das deutlich weniger kosmopolitisch und polyphon daherkommt (Distinktionsmerkmal Weltoffenheit vs. Provinzialität) und zweitens gegenüber der Pluralität migrantischer und diasporischer Milieus, deren Hybridität weniger handverlesen und mehr schicksalhaft ist (Distinktionsmerkmal über Hierarchisierung der hybriden Kulturen). (b) Die Frage, warum es möglich ist, sich mit postkolonialen Ansätzen zu schmücken, warum sie sich überhaupt entschärfen lassen, wird gelegentlich auf einen ›passiven‹ und ›unkritischen Konsum‹ dieser zurückgeführt. So führt bekanntlich auch der Verzehr exotischer Früchte nicht automatisch zu einer Reduktion rassistischer Einstellungen: Sind käuflich zu erwerbende Fremdheitserfahrungen stets zu gefällig, um irritieren zu können? André Schütte (2018) hat herausgearbeitet, dass man sich das Verhältnis von Bildung und Konsum nicht als einen schlichten Gegensatz vorstellen darf. Ironischerweise ist der Vorwurf des verblödeten und verblödenden Konsums selbst wiederum ein Distinktionsmerkmal der Milieus, die angeblich ja auch nie Fernsehen geschaut haben. Der double bind lautet hier also: Einerseits ist es notwendig, auf verflachte und undifferenzierte Rezeptionsweisen und Lesarten hinzuweisen, um dem Wahrheitskern des Theorems der asymmetrischen Ignoranz die Treue zu halten. Andererseits gerät man genau damit ins Fahrwasser ebenjener Sprechweisen, die zu Distinktionszwecken dienen: Es ist nie differenziert genug, immer zu flach, zu niveaulos, zu banal. Als Frage formuliert geht es also darum, wie sich auf die asymmetrische Ignoranz hinweisen ließe, ohne diesem Distinktionsspiel zuzuarbeiten. Mit Sicherheit ist es dazu notwendig, konsequent strukturell zu argumentieren und interpersonale Verkürzungen durch individuelle Beschämungen zu vermeiden. Genau darin liegt nämlich die Differenz zwischen der bourgeoisen Distinktionsgeste

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und der postkolonialen Kritik: Die Distinktionsgeste zielt darauf, andere vorzuführen, sie als ›ungebildet‹ und ›undifferenziert‹ zu beschämen und dabei zugleich sich selbst als ›überlegen‹ zu inszenieren. Jedwedes Gefühl der Überlegenheit muss daher verlernt werden, wenn man diesen postkolonialen Einsatzpunkt nicht pervertieren will. Oder ist diese Unterscheidung selbst ebenso eine jener pseudo-differenzierten Gesten? Verschleiert dies nur, dass kein Werkzeug davor bewahrt ist, auch anders und von anderen verwendet zu werden? Aus postkolonialer Perspektive wurde diese Konsumkritik häufig über die Konzeptmetapher des Auffressens konzipiert. Bei Suely Rolnik (2018) zum Beispiel findet sich diese Unterscheidung unter Rückgriff auf das noch stärkere Bild der »Anthropophagie«, das in brasilianischen Widerstandsbewegungen eine lange Tradition hat (Andrade 2016/1928). In ihren Explorationen zur brasilianischen Geschichte unterscheidet auch sie zwischen einer subversiven, anti-kolonialen Anthropophagie, die eine widerständige Hybridität und Vervielfältigung durch gegenseitige Aufnahme lebt, und einer neoliberalen, falschen Anthropophagie – genannt »Zombie-Anthropophagie« – die nur darauf bedacht ist, sich durch den Verzehr des Anderen narzisstisch aufzuplustern und in einem imperialen Modus die ganze Welt zu verschlingen. In dieser Nomenklatur gesprochen macht es also einen Unterschied, ob man den Anderen verschlingt, um ihn – und jedwede bildungswirksame, irritierende Fremdheitserfahrung – zu vernichten, oder ob man ihn liebevoll anknabbert, um das Schöne, das man in ihm erkennt, in sich aufzunehmen und gründlich zu verdauen. Man muss es affektlogisch erfassen, um diese Entleerung nachvollziehbar zu machen: Ohne solidarische Gefühle, hört das bourgeoise Ohr in der Klage über die asymmetrische Ignoranz lediglich eine Anleitung dafür, wie man sich als distinguierte Avantgarde inszenieren kann, um erneut nach unten zu treten. Die Kritik, dass dies an einer verkürzten, fragmentarischen oder undifferenzierten Rezeption läge, läuft dabei jedoch stets Gefahr, sich in die falsche Spur einzuschreiben. Adornitisch gewendet: Die Ausdifferenzierung der Halbbildung macht diese nicht ganz. In der Wahrnehmung des Halbgebildeten bleibt selbst der hochdifferenzierteste Chic Teil des Distinktionsspiels; übrig bleibt das Exotische, die Chance auf eine Inszenierung als weltoffen und versiert, was postkoloniale Einsatzpunkte zu Statussymbolen verkommen lässt. Ein so konstituiertes Subjekt hört nicht den Schmerz, übergangen, übersehen, überhört und beraubt worden zu sein, sondern es hört nur die Chance auf neue Märkte. Es trauert nicht in Solidarität um People of Color und erzürnt sich auch nicht gemeinsam mit ihnen über die Verhältnisse. Die

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Absenz dieser negativen und zugleich solidarischen Affekte – Wut über das Unrecht, Trauerarbeit am Kollektivtrauma – ermöglicht die Verflachung zu einer leichten, gefälligen, bunten Diversitätsinszenierung. Daher braucht es die affektlogische Wendung: es ist nicht der Mangel an noch mehr Informationen über Geschichte und Kultur der Anderen, der ›undifferenziert‹ macht, sondern die verweigerte Bildungserfahrung, bei der man sich von diesen ›Informationen‹ affizieren lässt. Und dabei ist bekanntlich weniger oft mehr.

Illusionen des Entkommens aus den double-binds Kunst und Kulturelle Bildung auf naiv-unschuldige Weise als etwas zu imaginieren, das Dekolonisierung unmittelbar vorantreiben kann, geht offensichtlich fehl. Sobald eine Analyse der ökonomischen Bedingungen miteinbezogen wird, wird deutlich, dass es sich bei Kultureller Bildung um eine Dienstleistung handelt, deren Ziel stets auch darin besteht, dem Staat so zu schmeicheln, dass dies bestmöglich zu dessen positiver Selbstdarstellung beiträgt. Der Einsatz der Werkzeuge der Herrschenden hilft also dabei, an Geld zu kommen, ist dafür sogar notwendig; er birgt aber auch stets die Gefahr schwer auflösbarer Verstrickungen. Da Kulturelle Bildung als fortwährend (auch) durch nationalstaatliche Logiken durchzogener (Förder-)Markt betrachtet werden muss, muss sie sich auch in diesen bewegen und zu diesen verhalten. Um sich an dieser Stelle der master’s tools bedienen zu können, ist es unausweichlich, damit einhergehend zu einer (Re)Produktion nationalstaatlicher Logiken beizutragen. Der Spagat besteht also darin, sich im Halten von Festtagsreden und im Verfassen von Zahlen-Rapports üben zu müssen, während man zugleich versucht, das mit Kultureller Bildung als Dienstleistung verbundene Ziel, ein »gutes Gefühl« bei denjenigen in privilegierten Positionen zu evozieren, zu problematisieren, ohne dass dies erneut wie eine bloße Festtagsrede klingt. Dies verweist darauf, dass auch die Werkzeuge der Unterdrückten angeeignet bzw. enteignet werden können, was damit einhergeht, postkoloniale Ansätze zu entleeren, sie ebenso zu einer Kette an Leerfloskeln zu machen: Übrig bleiben sodann eine Anleitung zur Inszenierung als distinguierte Avantgarde, die erneut – nur jetzt noch schicker – nach unten tritt, sowie warme Worte – unter diesen seit neustem auch ›Dekolonisierung‹. Gerade wenn man sich für ›aufgeklärt‹ hält, verkauft sich ›Kritik‹ ziemlich gut. Dennoch bergen Kunst und Kulturelle Bildung ein hohes Potential in sich, »Ort[e] der Reflexion und des Aufbruchs [anstelle] eine[r] Bastion der Affirma-

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tion« (Münchner Kammerspiele 2018) zu sein, an denen Mut zum Experimentieren, zur Verunsicherung und zur Utopie möglicherweise besonders (gut) gefördert werden können. Dieses Potential gilt es fruchtbar zu machen für Bildungsprozesse, die beispielsweise auf eine Reflexion von Inklusions- und Exklusionsmechanismen abzielen – ohne dabei der Annahme zu erliegen, Dekolonisierung könne im Rahmen nationalstaatlich reglementierter Förderlogiken unmittelbar vorangetrieben werden.

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IV. Verlernen

Bücher als bestenfalls widerwillige Verbündete Künstlerische Ansätze für ein Verlernen von Büchern Nicole Suzuki »This book is […], at best, a reluctant ally, even if the solidarity it expresses is not reluctant at all. […] Half this book will forever remain unwritten.« (Santos 2014: 3, 7)

Obwohl sie seit Beginn des letzten Jahrhunderts und dem Aufkommen neuer Medien bereits einige Male für obsolet erklärt wurden, kommt Büchern nach wie vor eine wichtige Rolle in der Bildungspolitik sowie auch in der Kulturpolitik zu. Literarische Bildung wird als ein wichtiger Bereich der kulturellen Bildung gesehen; neben Lese-Kompetenz gilt gemeinhin ein Verständnis von Literatur als ein wichtiger Schlüssel zum kulturellen Miteinander (Reinwand 2012). Dabei haben sich die Formate wie auch die Methoden in den letzten Jahren deutlich ausdifferenziert und richten sich nicht nur auf passive Rezeption, sondern auch auf eigenes aktives Handeln – kulturelle Bildung findet ihren Niederschlag in Leseförderung und Bibliotheksarbeit sowie auch in Kursen für kreatives Schreiben. In Anlehnung an das grundlegende Argument der Herausgeber:innen dieses Bandes, dass »weder Kultur noch Bildung […] aus einer postkolonialen Perspektive […] als neutral und harmlos« (siehe Einleitung) zu betrachten sind, gehe ich im ersten Teil dieses Beitrags auf die Verstrickungen der Geschichte des Buches als Medium, wie wir es heute kennen, mit Herrschafts- und Machtstrukturen sowie auf die traditionell eurozentrische Ausrichtung des literarischen Kanons ein. Das Zitat zu Beginn meines Beitrags stammt von Boaventura de Sousa Santos, der in seinem Buch Epistemologies of the South (2014) argumentiert,

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Verlernen

dass das Medium des Buches bestenfalls ein widerwilliger Verbündeter sein kann. Angesichts dieser Diagnose und vor dem Hintergrund meiner Ausführungen im ersten Teil erläutere ich im zweiten Teil einige Ansätze aus meiner künstlerischen Forschung, um mit dieser Ambivalenz umzugehen. Dabei ist mein Beitrag maßgeblich von postkolonialen Denker:innen (v.a. Spivak 1990, 1996) inspiriert, die betonen, dass wir die gegebenen Machtverhältnisse und Wissensformen aktiv hinterfragen und verstehen müssen, da diese in unsere Gewohnheiten und unser Handeln eingeschrieben sind. Dementsprechend sind die Ansätze, die ich vorstelle, auf ein Verlernen von Büchern gerichtet. Im dritten und abschließenden Teil fasse ich meine Denkanstöße, um sich des double bind auch im Bereich der literarischen Bildung bewusst zu werden und sich in ihm bewegen zu lernen, kurz zusammen.

Verstrickungen des Mediums Buch mit Herrschaftsund Machtstrukturen Eine Auseinandersetzung mit literarischer Bildung aus postkolonialer Perspektive kann nicht nur auf den Inhalt von Büchern, das heißt, auf eine Analyse von Literatur, gerichtet sein, sondern erfordert vor allem auch eine grundlegende Beschäftigung mit dem Medium Buch sowie auch mit der Rolle von Schrift und mit dem Konzept von Autor:innenschaft. Um dies zu erläutern, gehe ich in diesem Unterkapitel auf all diese Aspekte ein und zeige, wie sie jeweils in Herrschafts- und Machtstrukturen verstrickt sind. Auch wenn das Buch in der Form, wie es heute üblicherweise hergestellt und genutzt wird, seit der Erfindung der Gutenberg’schen Druckerpresse das vorherrschende Medium ist, um Wissen festzuhalten und weiterzugeben, ist es nicht das einzige mögliche Medium für Wissensproduktion und -zirkulation. Dass das Buch in seiner heutzutage gängigen Form eine so dominante Stellung erlangen konnte, hängt in vielfältiger Weise mit kolonialen und imperialen Prozessen seit mehr als 500 Jahren zusammen. Die folgenden Abschnitte verdeutlichen, inwiefern die Bücherverbrennungen während der Kolonisierung Amerikas im 16. Jahrhundert zum einen dazu führten, dass heutzutage nur mehr sehr wenige präkolumbische Schriften existieren. Die kolonialen Prozesse, die mit der Kolonisierung Amerikas ihren Anfang nahmen, hatten zum anderen auch zur Folge, dass andere Formen und Medien, um Wissen festzuhalten, seit Jahrhunderten so sehr vernachlässigt bzw. abgewertet wurden, dass sie quasi unsichtbar gemacht wurden. So ge-

Nicole Suzuki: Bücher als bestenfalls widerwillige Verbündete

he ich auch darauf ein, inwiefern westlich-hegemonialen Verständnissen von Schriftpraktiken eine integrale Rolle in den Prozessen, die zur Vorrangstellung des Buches in seiner heutzutage gängigen Form führten, zukam. Integraler Bestandteil des heute üblichen Mediums Buch ist zudem das Konzept von Autor:innenschaft. Die Vorstellung, dass Textproduktion ein originäres Ereignis wäre (welches dann maschinell reproduziert wird), wurde durch das Erwachen der kapitalistischen Ideologie sowie auch durch die technischen Fortschritte der Druckerpresse begünstigt – zuvor waren Bücher für gewöhnlich per Hand vervielfältigt und dabei laufend durch die Interpretationen der Schreiber modifiziert worden. Schließlich beschäftige ich mich auch mit dem Zusammenhang zwischen Literatur sowie Kolonialismus und Imperialismus im 19. Jahrhundert, bevor ich im letzten Abschnitt dieses Unterkapitels zusammenfasse, wie ein Verlernen von Büchern angesichts der vielfältigen Verstrickungen des Mediums Buch mit Herrschafts- und Machtstrukturen aussehen kann bzw. muss. Auch wenn ich in diesem Unterkapitel mehrere koloniale Territorien und Phasen in Zusammenschau betrachte, sollen damit weder die Vielschichtigkeit und Heterogenität der kolonialen Wirklichkeit in den unterschiedlichen Territorien und Phasen noch die Unterschiede in den Vorgangsweisen der verschiedenen Kolonialmächte ignoriert werden. Ebenso wenig soll in Abrede gestellt werden, dass einige Gelehrte begeistert von indigenen Schriften waren; beispielsweise übersetzte der in Deutschland geborene und ausgebildete Sanskritologe und Philologe Friedrich Max Müller, der in die Ausbildung der britischen Bewerber für den Indian Civil Service (die Elite der Kolonialbeamten) involviert war u.a. die Rigveda aus dem Sanskrit ins Englische (Castro Varela/Dhawan 2009: 348f.). Der wichtigste Aspekt für das Thema dieses Beitrags ist jedoch, dass die Geschichte des Buches untrennbar mit Kolonialgeschichte verbunden ist, wie sich mit Beispielen aus verschiedenen kolonialen Territorien und Phasen belegen lässt, und dass in all diesen Beispielen »die Idee der absoluten Differenz und Höherwertigkeit« (ebd.: 349) in Bezug auf die jeweilige indigene Bevölkerung deutlich zum Ausdruck kommt.1

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Wie Castro Varela/Dhawan (2009: 349) hervorheben, setzte Müller beispielsweise bewusst nie Fuß auf indischen Boden und gilt dennoch – oder gerade deswegen – zu den einflussreichsten Indolog:innen weltweit.

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Inhalt, Form und Funktion von Büchern im 16. Jahrhundert »Wir fanden bei ihnen eine große Zahl von Büchern mit diesen Buchstaben, und weil sie nichts enthielten, was von Aberglauben und den Täuschungen des Teufels frei wäre, verbrannten wir sie alle, was die […] [indigene Bevölkerung; Anm. N. Suzuki] zutiefst bedauerte[n] und beklagte[n].« (de Landa 2007: 160f.) Während der spanischen Eroberung der Halbinsel Yucatán zerstörten die Spanier fast alle indigenen Schriften (welche die Spanier fälschlicherweise als »Bücher« bezeichneten). Diego de Landa, ein Franziskanermönch und späterer Bischof von Yucatán, von dem das obige Zitat stammt, wurde besonders berühmt für seinen Eifer, mit dem er Maya-Schriften zerstören ließ.2 Walter Mignolo (1994) untersucht die Standards in Bezug auf Inhalt, Form und Funktion von Büchern, die die Spanier während ihrer Kolonisierung Amerikas anlegten, um Aufschluss darüber zu geben, wie sie diese äußerst skrupellosen Verbrennungen von »Büchern« rechtfertigten. Wie Mignolo erklärt, war der europäische Maßstab für Bücher im 16. Jahrhundert die Bibel. Da der Text der Bibel von den Spaniern als die göttliche Wahrheit begriffen wurde, wurde dem Objekt selbst »the special status of Truth and Wisdom« (ebd.: 234) gegeben. In der Bibel war der Text mit Buchstaben des lateinischen Alphabets und auf Papierblätter geschrieben, die auf einer Seite gebunden waren. Diese Vorgaben waren maßgebend dafür, wie die Spanier andere »Bücher« während der spanischen Kolonisierung Amerikas beurteilten. Wie auch das obige Zitat von de Landa zeigt, wurden diese anderen »Bücher« nicht deswegen verbrannt, weil sie inhaltsleer oder unzugänglich gewesen wären, »but because they contain a worldview threatening to the Spanish Christian imperial project« (Worley/Palacios 2019: 34). Nur sehr wenige präkolumbische

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Später schrieb de Landa selbst ein Buch mit dem Titel Relación De Las Cosas De Yucatán (Titel der deutschen Übersetzung Bericht aus Yucatán, de Landa 2007), in dem er unter anderem versucht, das Schriftsystem der Maya zu rekonstruieren.

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Schriften haben die spanische Kolonisierung überlebt – beispielsweise existieren nur mehr acht bekannte mixtekische Handschriften aus vorkolonialer Zeit (König 1997: 97f.). Während die spanischen Kolonisatoren und Missionare fast alle mixtekische Handschriften, die sie als andere Bücher abstempelten, zerstörten, beachteten sie andere indigene Schriftpraktiken erst gar nicht und machten sie dadurch unsichtbar (Camelo 2019: 187), z.B. quipus, Knotenschnüre, die von den Inkas als Datenspeicher genutzt wurden. Somit wurde diesen anderen Formen und Medien, mit denen Wissen festgehalten wurde und wird, quasi per definitionem die Existenz abgesprochen und es wird ihnen heutzutage in der Literatur zur Geschichte der materiellen Form des Mediums Buchs so gut wie keine Aufmerksamkeit zuteil. Ein wichtiger Faktor für diese Prozesse war, dass in Europa kurz zuvor, nämlich in der Mitte des 15. Jahrhunderts, der Buchdruck durch Johannes Gutenberg entscheidend vereinfacht worden war. Dies hatte in Europa eine Medienrevolution ausgelöst – Bücher konnten nun schnell, günstig und massenhaft produziert werden – und zu grundlegenden Änderungen im physischen Erscheinungsbild von Büchern geführt. Nicht unbedeutend war zudem, dass Schriften wie die Bibel bald danach in Vernakularsprachen gedruckt wurden, sowie auch, dass Martin Luther wie auch die übrigen Reformatoren das neue Massenmedium nutzten, um ihre Schriften zu verbreiten. Dies war ein Katalysator für die Religionskriege in Europa im 16. und 17. Jahrhundert, im Zuge derer die römisch-katholische Kirche ihre Herrschaft allmählich an die Nationen abgab, die daraufhin als die herrschenden Mächte errichtet wurden. Auch Benedict Anderson (1991) sieht in der Interferenz von Kapitalismus und Buchdruck – einem Gefüge, das er als »print capitalism« (ebd.: 37ff.) bezeichnet – die Grundlage für die Herausbildung der Nation als einer vorgestellten Gemeinschaft. Indem die Erfindung des Buchdrucks zu einer raschen Verbreitung von Texten in den jeweiligen Landessprachen führte (Anderson geht insbesondere auf die Funktion von Medien wie dem Roman oder der Zeitung im 18. und 19. Jahrhundert ein), ermöglichte der »print capitalism« die Vorstellung von Gemeinschaften, die größer sind als die unmittelbar überschaubare familiale oder örtliche Gemeinschaft.

Die Rolle der Schrift und unterschiedlicher Schriftsysteme Ab Beginn des 19. Jahrhunderts rückten die wenigen verbliebenen Schriften aus dem präkolumbischen Mesoamerika verstärkt in den Fokus europäischer

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Wissenschaftler:innen, die sich mit der Auslegung der Handschriften zu beschäftigen begannen. Was die Theorien, die diese Wissenschaftler:innen entwickelten – und die bis weit ins 20. Jahrhundert hinein großen Anklang fanden –, jedoch hauptsächlich offenbaren, sind deren zutiefst eurozentrische Einstellungen sowie die Mechanismen westlich-hegemonialer Wissensproduktion (s. insbes. Luksch 2015). Viele dieser Theorien waren stark beeinflusst von evolutionistischen Typologien von Schriftsystemen, die davon ausgehen, dass Schriftsysteme sich in eine einzige Richtung entwickeln würden – in anderen Worten, dass sie eine lineare Entwicklung durchlaufen würden –, nämlich von piktografischen bzw. ideografischen Schriftsystemen über logografische Schriftsysteme hin zu phonografischen bzw. phonetischen Systemen, die wiederum in Silbenschriften und schließlich – als die am weitesten fortgeschrittene Form – alphabetische Schriften unterteilt werden können (siehez.B. Diringer 1948; Gelb 1963). Bis in die jüngste Vergangenheit haben sich westlich-hegemoniale Kulturtheorien, die zur nachträglichen Rechtfertigung der Kolonisierung Amerikas gedient haben (z.B. Todorov 1982), auf das Argument einer angeblichen apriorischen Inferiorität der mesoamerikanischen Völker gestützt, für das als Indiz insbesondere auch das Fehlen einer Schrift nach europäischen Standards angeführt wurde (Luksch 2015: 170ff.). Jacques Derrida deckt in Grammatologie (1983) auf, wie beschränkt ein Verständnis von Schriftpraktiken, das diese »nur in ihrer strengen Bedeutung linear und als phonetische Aufzeichnung begreift« (ebd.: 192), tatsächlich ist. Er beschreibt dieses Verständnis als eine fundamentale und mächtige Form von Eurozentrismus und entlarvt somit die epistemische Gewalt, die auch in den Theorien vieler Wissenschaftler:innen eingelagert ist, die sich mit der Auslegung der präkolumbischen Handschriften beschäftigt haben und eine bestimmte Konzeption von Schrift zum universell gültigen Merkmal von Fortschritt erhoben.

Der Autor als Produkt der modernen Gesellschaft Ebenso wie die oben genannten Maßstäbe in Bezug auf Inhalt, Form und Funktion von Büchern sowie in Bezug auf die Konzeption von Schrift nicht natürlich waren, so ist auch unsere Vorstellung von Autor:innenschaft sozial und historisch konstruiert. Das haben neben anderen Kritiker:innen auch Roland Barthes in seinem Essay Der Tod des Autors (2000) und Michel Foucault in sei-

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nem Text Was ist ein Autor? (1988) festgestellt, die den Autor als Produkt der modernen Gesellschaft beschreiben und romantisierte und kommerzialisierte Konzepte von Autor:innenschaft infrage stellen. Barthes schreibt: »Der Autor ist eine moderne Figur, die unsere Gesellschaft hervorbrachte, als sie am Ende des Mittelalters im englischen Empirismus, im französischen Rationalismus und im persönlichen Glauben der Reformation den Wert des Individuums entdeckte – oder, wie man würdevoller sagt, der ›menschlichen Person‹.« (2000: 181) Barthes’ Kritik zielt vor allem auf die herkömmliche Praxis der Literaturwissenschaft, die den Autor zum zentralen Bezugspunkt der Textinterpretation macht und auf die Suche nach einer auktorialen Intention gerichtet ist. Solch positivistische Denkansätze, die den Autor zur sinnstiftenden Instanz erheben und dem Autor so zu seinem gegenwärtigen Stellenwert verholfen haben, sieht Barthes als auf Engste verknüpft mit dem Erwachen der kapitalistischen Ideologie. Barthes hinterfragt das Konzept der Originalität; er beschreibt den Text als »ein Gewebe von Zitaten aus unzähligen Stätten der Kultur« (ebd.: 190) und sieht den für tot erklärten Autor als einen »modernen Schreiber«, der lediglich ein Mischer von Zitaten sei.3 Daran knüpft auch die Erörterung Foucaults (1988) an, der anmerkt, dass das Konzept des Autors seinen Ursprung in der Kommerzialisierung kreativer Arbeit und seiner Umwandlung in Eigentum im ökonomischen Sinn hat. Autor:innenschaft in diesem Sinn hat nicht unbedingt etwas mit Originalität und Kunst zu tun, sie wird vorrangig als eine Form ökonomischer Autorität gesehen. Auch die heutzutage gängige Vorstellung von Autor:innenschaft entstand also in einem spezifischen epistemologischen Kontext und lässt sich besonders angesichts ihrer individualistischen und kapitalistischen Tendenzen kritisieren.

Literatur und Imperialismus Wenn im Bereich der kulturellen Bildung von literarischer Bildung die Rede ist, dann sind mit Literatur üblicherweise Dramen, Gedichte und vor allem Romane gemeint. Dabei ist das, was als europäische Literatur gilt, auf vielfältige 3

An die Stelle des Autors tritt für Barthes der Leser als Bezugspunkt des Werks, er verleihe einem Text erst Sinn.

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Weise in Programmatik, Durchführung und Konsequenzen der kolonialen Expansion verstrickt. Während des 18. Jahrhunderts bildete sich der Roman als eines der größten Literaturgenres heraus und wurde im 19. Jahrhundert – das heißt, im sogenannten »Zeitalter des Imperialismus« – zur wichtigsten Form populärer Unterhaltung. Dementsprechend übten Kolonialismus und Imperialismus im 19. Jahrhundert maßgeblichen Einfluss auf die Textproduktionen aus, was sich nicht nur an den behandelten Themen ablesen lässt. So stellt auch Edward Said in Kultur und Imperialismus (1993: 82) fest: »Ich würde so weit gehen zu sagen, dass es ohne Imperium keinen europäischen Roman gibt, so wie wir ihn kennen; und in der Tat, wenn wir die Triebkräfte betrachten, die ihn verursachten, sehen wir die alles andere als zufällige Konvergenz zwischen einerseits den Autoritätsmustern, die den Roman konstituieren, und andererseits einer komplexen ideologischen Struktur, die der Tendenz zum Imperialismus zugrunde liegt.« Die Kanonisierung europäischer Literatur ging damit einher, dass sie als der Kunst- und Wissensproduktion der anderen überlegen propagiert wurde (Castro Varela/Dhawan 2009: 344) – wie auch der berühmte Ausspruch von Lord Macauly, damals Generalgouverneur von British India, aus dem Jahr 1835 zeigt: »a single shelf of a good European Library was worth the whole native literature of India and Arabia« (zit. in Gandhi 1998: 144). Im selben Jahr, nämlich 1835, wurde der English Education Act erlassen, der das Unterrichten englischer Literatur zum festen Bestandteil im Curriculum an kolonialen Schulen machte – noch bevor das Fach auch in Großbritannien selbst eingeführt wurde (vgl. auch Mukherjee 2013: 150). Auch Spivak beschäftigt sich in ihren frühen Schriften damit, wie die indische Mittelschicht dadurch gewissermaßen überzeugt wurde, dass moralische und intellektuelle Zwecke den Kolonialismus rechtfertigen würden, und welche Bedeutung Romanen somit bei der subtilen, aber kontinuierlichen »Formierung der politischen Autorität des britischen Empires« (Castro Varela/Dhawan 2015: 121) zukam. Insgesamt entwickelte sich die Literatur im 19. Jahrhundert zur weltlichen Alternative gegenüber der Bibel als »traditionellem europäischem MasterNarrativ schlechthin« (Gymnich 2017: 236). In diesem Licht kann auch Leela Gandhis Beobachtung gesehen werden, dass neuere Studien zum Thema imperialer Textualität geltend machen, dass »the ›English text‹ effectively replaced the Bible – and thereby, the evangelical ambitions of Christian missionaries – to become the most influential medium for the colonial civilising mission« (Gandhi 1998: 144).

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Zwar kann westliches literarisches Schaffen keineswegs als homogen beschrieben werden – schließlich gibt es auch zahlreiche Beispiele von Romanen, die wichtige kritische politische Funktionen eingenommen haben – und ein großes Positivum literarischer Bildung im Vergleich zu anderen Formen von Bildung besteht darin, dass sie dazu befähigen kann, sich selbstbestimmt Wissen anzueignen und mit Wissen auseinanderzusetzen. Dennoch ist die Herausbildung des literarischen Kanons untrennbar in Herrschafts- und Machtstrukturen eingeschrieben, wie auch Ankhi Mukherjee hervorhebt: »The canon has historically been a nexus of power and knowledge that reinforces hierarchies and the vested interests of select institutions, excluding the interests and accomplishments of minorities, popular and demotic culture, or non-European civilizations« (Mukherjee 2013: 9).

Verlernen von Büchern? Mittlerweile erfahren postkoloniale Romane, in denen Handlungsmacht und Widerstand von (ehemals) Marginalisierten zutage treten und die es ermöglichen, kanonische Texte auch aus der Perspektive der Kolonisierten zu lesen, eine breitere Rezeption, und es gibt es eine Reihe von Studien, die eine Revision und Erweiterung des westlichen Literaturkanons anstreben (siehe bspw. Ashcroft et al. 1989); auch im Bereich der kulturellen Bildung sind in den letzten Jahren vermehrt interkulturelle Ansätze zu beobachten u.a. Initiativen zu »interkultureller Bibliotheksarbeit«, um beispielsweise Bibliotheksbestände nicht nur um Übersetzungen von »Klassikern« in unterschiedliche Sprachen, sondern auch um Originalliteratur aus unterschiedlichen Ländern (sowie ggf. deren Übersetzung ins Deutsche) zu erweitern. Die gerade genannten Ansätze können dazu dienen, ein Verlernen von Büchern im Sinne eines Verlernens aus Büchern zu ermöglichen. Wenn Gayatri Chakravorty Spivak ein Verlernen anmahnt, dann meint sie damit insbesondere »unlearning one’s privilege as one’s loss« (Spivak 1996: 4). Es muss also darum gehen, Privilegien als Verlust zu betrachten, was vor allem auch bedeutet, hegemoniale Wissensproduktionen beständig zu hinterfragen. Dies erfordert »ein aktives, kritisches Denken und Handeln, welches bereit dazu ist, das Risiko einzugehen, die eigene Position zu hinterfragen« (Castro Varela 2017), und kann im Bereich der literarischen Bildung beispielsweise mithilfe von Büchern

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geschehen, die aktiv den Kanon und seine gewaltvollen Ausschlüsse herausfordern, indem sie ihn erweitern und ihn verrücken. Ich argumentiere in diesem Beitrag zudem, dass ein Verlernen aus (bzw. mithilfe von) Büchern nur ein Aspekt des Verlernens von Büchern ist. Ein weiterer wichtiger Aspekt des Verlernens richtet sich auf ein Verlernen von Büchern im Sinne eines Verlernens des Mediums Buch. Vor dem Hintergrund der Tatsache, dass mit der oben beschriebenen Disqualifizierung bzw. Auslöschung vorkolonialen Wissens auch die Verwerfung der Medien, mithilfe derer dieses Wissen überliefert wurde und wird, einherging, geht es in meiner künstlerischen Forschung vor allem auch um die Wechselwirkungen zwischen transportiertem Wissen und dessen Träger.

Künstlerische Ansätze für ein Verlernen von Büchern In meiner künstlerischen Forschung zum Medium Buch habe ich eine Reihe von Ansätzen für ein Verlernen von Büchern entwickelt, die in zwei Kategorien gruppiert werden können: Bei der ersten Kategorie (im Folgenden unter dem Titel »Neu(an)ordnungen«) geht es um Formen des Schreibens und Lesens, die das Textuelle überschreiten und/oder über die Kontrolle einer Autor:in hinausgehen. Bei den Methoden der zweiten Kategorie (im Folgenden unter dem Titel »Materialität und Multi-Sensorialität«) geht es um die Verbindung von Wissensproduktion mit ihren materiellen Bedingungen sowie mit dem Sensorium.

Neu(an)ordnungen Die Ansätze in dieser Kategorie richten sich darauf, wie bereits bestehende Texte für eine andere Leseerfahrung geöffnet werden können – basierend auf der Vorstellung, dass Bedeutung nicht notwendigerweise durch konventionelle textuelle Mittel »hergestellt« werden muss, sondern dass Bedeutung auch auf anderen Wegen »gespürt« werden kann. Viele dieser Ansätze greifen auf zeitgenössische Praktiken aus dem Bereich des conceptual writing zurück (s. insbes. auch Dworkin/Goldsmith 2011). Bei conceptual writing geht es, im Gegensatz zum sogenannten creative writing, üblicherweise nicht darum, eigene neue Texte im herkömmlichen Sinn zu schreiben, sondern es wird auf bereits existierenden Texten aufgebaut, diese werden

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als Material verwendet und es kommen Techniken wie Kopieren, Löschen oder Neu-Zusammenstellen von Wörtern zum Einsatz. In diesem Sinne habe ich 2017 ein Künstler:innen-Buch mit dem Titel »IS ID ALL« als eine Hommage auf das Buch This Bridge Called My Back: Writings by Radical Women of Color (1983)4 , das von Cherríe Moraga und Gloria Anzaldúa herausgegeben wurde, gestaltet. Dazu habe ich mit dem gesamten Text des Sammelbandes gearbeitet und von unterschiedlichen Techniken Gebrauch gemacht; insbesondere habe ich alle Wörter aus dem Sammelband entnommen, sie neu – nämlich alphabetisch – angeordnet und somit einen gewissermaßen »neuen« Text erhalten. Im Künstler:innen-Buch »IS ID ALL« ist dieser neu angeordnete Text abgedruckt, wobei es zwei Versionen dieses Buches gibt: In einer Version wurden alle Wörter in einem Fließtext angeordnet, der von links nach rechts und von oben nach unten verläuft, und in einer zweiten Version wurden all die Wörter in vier Spalten angeordnet, die von oben nach unten und von links nach rechts verlaufen. Wie in Abbildung 1 zu sehen ist, wurde der »originale« Text somit in einen Zustand transferiert, der nicht mehr sein ursprünglicher Zustand ist, aber auch kein gänzlich neuer Zustand, und es ergibt sich ein neu angeordneter Text, der nicht völlig unlesbar ist, sich aber gewissermaßen widersetzt, in einem konventionellen Sinn gelesen zu werden. Das Ziel dieses Projekts war es jedoch nicht, den Original-Text zu zerstören oder unsichtbar zu machen, sondern ganz im Gegenteil: Das Künstler:innenBuch ist dazu gedacht, gemeinsam mit dem Original-Text gelesen zu werden. Es soll einen Anreiz bieten, um unterschiedliche Arten des Lesens zu erkunden – schließlich hält der neu angeordnete Text dazu an, analytisch zu lesen, und nicht so sehr syntaktisch, und kommuniziert Bedeutung auch auf visuellem Weg. Zum Beispiel wird beim Durchblättern deutlich, welche Anliegen die Autor:innen teilen – die am häufigsten verwendeten Begriffe und einige wiederkehrende Themen lassen sich erkennen. Zudem treten auf einigen Seiten Muster hervor, die Ähnlichkeit mit visueller Poesie haben, also einer Art von Poesie, bei der die visuelle Präsentation eines Textes ein wesentliches Element des künstlerischen Ausdrucks darstellt. Nicht zuletzt können Leser:innen interessante neue Sätze bzw. Wortfolgen entdecken, die durch die alphabetische Neu-Anordnung der Wörter, besonders in der Version, in der alle Wörter in 4

1983 erschien die 2. Auflage des Buches bei Kitchen Table: Women of Color Press, nachdem die 1. Auflage, die 1981 bei Persephone Press – »a white women’s press« – wie in den Präliminarien der Ausgabe von 1983 zu lesen ist – erschienen und bald vergriffen war.

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Spalten angeordnet sind, entstehen. Auch wenn die alphabetische Neu-Anordnung der Wörter keine vergleichbar tiefgehende Lese-Erfahrung eröffnen kann wie ein konventioneller literarischer Text, kann der neu angeordnete Text somit als Anregung zur (Selbst-)Reflexion dienen.

Abbildung 1

Eine weitere Möglichkeit der »Neu(an)ordnung« besteht darin, ein Prinzip zur Randomisierung von Text zu entwickeln und dieses auf bereits existierenden Text anzuwenden. Für das Beispiel in Abbildung 2 habe ich eine beliebige Seite aus dem Buch Queer-Feminist Punk: An Anti-Social History von Katharina Wiedlack (2015: 93) verwendet. Das Randomisierungsprinzip war, das erste Wort aus dem ersten vollständigen Satz zu nehmen, dann zum nächsten Satz weiterzugehen und aus diesem ein Wort zu wählen, das grammatikalisch zu dem vorherigen passt, dann aus dem nächsten Satz ein weiteres Wort usw. Der hierdurch entstandene Text in diesem Beispiel lautet: »Community is a political strategy. Queer meanings and bonds can answer theory.«

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Abbildung 2

Wie ersichtlich wird, ist der Text grammatikalisch korrekt, aber als Folge des Randomisierungs-Prozesses wird der Text gewissermaßen uneindeutig, sodass sich ein Raum öffnet, in den die Interpretation der Leser:innen eintreten kann. Ebenfalls hervorheben lässt sich, dass dieses Beispiel unkonventionelle Wege, Bedeutung zu erzeugen, illustriert und visuell dokumentiert und zudem die Materialität der Buch-Seite zum Vorschein bringt – die Typografie, die Textur und Tönung des Papiers. Da die Leser:innen somit eingeladen werden, mit ihrem Blick zu verweilen, wird Bedeutung in den Zwischenräumen generiert. Um es Leser:innen zu ermöglichen, an der Generierung von Bedeutung auf visuelle Weise teilzuhaben und Wissensproduktion mit dem Sensorium zu verbinden, habe ich mich zudem mit sogenanntem asemic writing beschäftigt (s. vor allem Gaze/Jacobson o.J.). Bei asemic writing geht es um offene Formen des Schreibens, da es nicht auf tatsächlichen Buchstaben, auf einem tatsächlichen Alphabet beruht. Es ist ein Schreiben um seiner selbst willen, bei dem

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nicht mehr im Vordergrund steht, ob Personen einer bestimmten Form des Schreibens und Lesens kundig sind. Dabei interessiere ich mich besonders dafür, bereits gedruckten Text auseinanderzunehmen. »Visuelles« Schreiben in diesem Sinn kann sich auf Praktiken wie das Zerstückeln von Wörtern und Buchstaben stützen sowie darauf, diese neu zusammenzusetzen oder Wörter und Buchstaben ineinander fließen zu lassen.

Abbildung 3

In Abbildung 3 ist das Cover des bereits erwähnten Künstler:innen-Buches »IS ID ALL« zu sehen. Für dieses Cover habe ich den Schriftzug des Titels des Original-Buches This Bridge Called My Back verwendet und diesen zum einen zerlegt, quasi zerschnitten, wobei dem zugrunde gelegt war, dass die obere Hälfte der Buchstaben in der Regel genügt, um Wörter lesen zu können. Zum anderen wurden die verschiedenen Teile, die ich durch dieses Zerschneiden erhalten habe, nach dem Zufallsprinzip gedreht. Eine Besonderheit des daraus

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resultierenden asemic »Texts« ist, dass er Leser:innen dazu animiert, zwischen lesen und betrachten zu schwanken. Somit wird die Aufmerksamkeit auf das Verhältnis zwischen geschriebener und visueller Sprache gelenkt sowie auf die Materialität dessen, was geschrieben wurde. Grundsätzlich ging es mir nicht darum, den Duktus des Schreibens nachzuempfinden, sondern vielmehr darum, Bewusstsein dafür zu schaffen und die Aufmerksamkeit auf subversive Formen des Schreibens und Lesens zu lenken. Leser:innen werden nicht so sehr mit einer vorab festgelegten Bedeutung des Textes konfrontiert, so dass die strikte Trennung bzw. das Machtgefüge zwischen Autor:in und Leser:in infrage gestellt werden kann. Zudem verstehe ich meine Beschäftigung mit asemic writing als seine Kritik an den oben erwähnten Hierarchisierungen zwischen unterschiedlichen Schriftsystemen, die üblicherweise alphabetischen Schriften eine höhere Stellung einräumen.

Materialität und Multi-Sensorialität Wohingegen herkömmlich der Fokus der Aufmerksamkeit fast ausschließlich darauf gelegt wird, was auf den Seiten eines Buches abgedruckt ist, und dies als der Schlüssel zur Rolle von Büchern in der Produktion und Verbreitung von Wissen gesehen wird, interessiere ich mich gleichermaßen für die Materialität von Büchern. Nicht ohne Grund stellen auch Michele Moylan und Lane Stiles fest: »Clearly, when we read books, we really read books – that is, we read the physicality or materiality of the book as well as and in relation to the text itself. […] the nature of this relationship remains relatively unexplored.« (Moylan/Stiles 1996: 2) Im Folgenden stelle ich kurz einige Ansätze vor, die darauf gerichtet sind, die Substanz einer Materialität von Büchern und Papier (wieder) geltend zu machen, sowie darauf, die Folgen der Materialität von Büchern in Bezug darauf zu verdeutlichen, was mit ihnen vermittelt wird. Ein Ansatz, um die materiellen Eigenschaften von Büchern bei der Generierung von Bedeutung aufzuzeigen und einzubeziehen, besteht darin, nach Wegen zu suchen, wie Inhalt und Bedeutung nicht nur auf herkömmlichem textuellem Weg vermittelt werden können, sondern wie mehrere Sinne in diesen Prozess einbezogen werden können.

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So habe ich beispielsweise, was das Cover des bereits erwähnten Künstler:innen-Buches »IS ID ALL« betrifft, – zusätzlich zu den bereits erwähnten Strategien – eine weitere Textschicht in durchsichtigem 3D-Lack auf die Oberfläche des Buch-Covers aufdrucken lassen (s. Abbildung 4). Die zugrundeliegende Idee war, meinen Respekt und meine Wertschätzung für das Original-Buch sowie dessen Herausgeber:innen und Autor:innen zum Ausdruck zu bringen. Insbesondere wollte ich deren Arbeit, die in den Original-Text geflossen ist und diesen überhaupt erst möglich gemacht hat, nicht unsichtbar machen – ganz im Gegenteil. In diesem Sinne habe ich nach Wegen gesucht, um herkömmliche textuelle Mittel, wie z.B. dass auf einer der ersten Seiten von »IS ID ALL« eine Widmung an die Herausgeber:innen und Autor:innen des Original-Buchs zu finden ist, zu ergänzen. Deswegen habe ich deren Namen in 3D-Lack auf das Cover von »IS ID ALL« aufbringen lassen, sodass sie immer präsent sind, wenn Leser:innen das Buch lesen oder auch nur in ihre Hände nehmen – es ist quasi nicht möglich, der haptischen Dimension ihrer Anwesenheit zu entkommen. Die Beschäftigung mit der Materialität von Büchern ist deswegen besonders wichtig, weil eine spezifische Herangehensweise an Wissen sowie eine spezifische Auffassung von Wissen immer bereits tief in die Medien und somit auch in das Material eingegossen ist, das wir nutzen, um Wissen zu produzieren, festzuhalten und zu übermitteln. Anders gesagt hat die Materialität von Büchern (wie auch anderen Medien) einen wesentlichen Einfluss darauf, welches Wissen überhaupt von vornherein als wertvoll erachtet wird. Da Papier nach wie vor die materielle Basis von großen Teilen von Wissensproduktion und -verbreitung darstellt, liegt es nahe, Papier kritisch auseinanderzunehmen und zu beleuchten. Papier wirkt zwar leicht und relativ fragil, es ist aber dennoch ein machtvolles Werkzeug, um Wissen sichtbar oder auch unsichtbar zu machen, um Herrschafts- und Machtstrukturen herzustellen und zu festigen.

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In Abbildung 5 ist ein Beispiel aus meiner neueren künstlerischen Forschung zu sehen, in der ich Techniken aus dem Bereich der Papierkunst, besonders des Papier-Schöpfens, aufgreife. Als Material für diese Arbeiten verwende ich Papier aus ausrangierten Büchern – bemerkenswerterweise ist dies jedoch so gut wie nicht mehr erkennbar; das »neu« geschöpfte Papier scheint wieder nur weiß zu sein, obwohl keine Bleichmittel oder dergleichen zum Einsatz kommen. Diese Arbeiten sind als eine Einladung dazu gedacht, die Vorstellung von der leeren Seite als einem neutralen Raum zu revidieren – aber auch dazu, über Strategien nachzudenken, um Papier als Material zu re-aktivieren. Bücher basieren in ihrem Aufbau vorwiegend auf dem Prinzip der Linearität und auf Konzeptionen von Wissen, die von einem einzigen »roten Faden« ausgehen. Um diese Vorstellungen – in denen zudem stark die angenommene Linearität von »Fortschritt«, konventionelle Geschichtsschreibung und die Chronopolitik von Kolonialität mitklingen – zu hinterfragen, habe ich mich außerdem mit weiteren Techniken aus dem Bereich der Papierkunst beschäftigt, die geeignet scheinen, ein Sichtbarmachen und in weiterer Folge auch ein Verlernen dieser Gewohnheiten zu befähigen. Besonders inspiriert war ich dabei von einer von Spivak verwendeten Metapher: »The text is text-ile. To suture here is to weave, as in invisible mending.« (Spivak 2005: 483) Im Gegensatz zu den gerade genannten Konventionen von Linearität ruft dieses Bild des Einwebens unsichtbarer Fäden in eine bereits existierende Text-ur Vorstellungen von Simultanität auf. In diesem Sinne habe ich begonnen, mich mit »Shifu«, der traditionellen japanischen Kunst, Fäden aus Papier zu machen, um daraus Textilien herzustellen, zu beschäftigen. Abbildung 6 zeigt einen Ausschnitt einer künstlerischen Arbeit, für die ich handgeschöpftes japanisches Kozo-Papier (das mit Sumi-Tinte bedruckt worden war) zerschnitten und zu Fäden gerollt habe, um daraus dann ein großmaschiges Netz zu weben. Diese Arbeit soll dazu anregen, zu erkunden, wie wir uns Wissen auf eine Weise vorstellen können, die nicht von einem einzigen roten Faden ausgeht, dem es linear zu folgen gilt, sondern in der mannigfaltige Anknüpfungsmöglichkeiten, Unregelmäßigkeiten sowie auch lose Enden eine wichtige Rolle spielen. Wenn das Netz wie ein zweidimensionales Kunstwerk an eine Wand gehängt wird, ergibt sich ein komplexes, unendliches Spiel mit dem Licht, durch das Original und Schatten scheinbar verschmelzen.

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Abbildung 6

Conclusio Die vorgestellten künstlerischen Ansätze sind nicht so sehr als direkte Handlungsempfehlungen für das Feld der literarischen Bildung gedacht, sondern vielmehr als Denkanstöße, um sich des double bind auch im Bereich der literarischen Bildung bewusst zu werden. Sie stellen Versuche dar, Spivaks Aufforderung zu folgen, nicht nur über den double bind zu lernen, sondern zu lernen, sich in ihm bewegen zu können: »learning the double bind – not just learning about it« (Spivak 2012: 1). Der double bind besteht in diesem Fall darin, das Medium Buch nicht aufgeben zu wollen und es dennoch als mit Herrschafts- und Machtstrukturen verstrickt zu sehen. Die zentrale Frage ist demnach, wie mit dieser Ambivalenz umgegangen werden kann und wie sie produktiv gemacht werden kann. Spivak ruft in ihrer Beschäftigung mit den Schriften der Aufklärung zu einer »affirmativen Sabotage« auf, um deren Erkenntnisse gegen die Urheber der Schriften zu wenden – die Instrumente des dominanten Diskurses können so in Werkzeuge für dessen Überschreitung verwandelt werden (Dhawan 2014: 71). Die vorgestellten künstlerischen Ansätze sind inspiriert

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von dieser von Spivak vorgeschlagenen Strategie und beschäftigen sich damit, wie durch dekonstruktive Kunstpraxen Gegenerzählungen ermöglicht werden können. Bei einigen Ansätzen aus meiner künstlerischen Forschung geht es um die Entwicklung von Formen des Schreibens und Lesens, die das Textuelle überschreiten und/oder die die strikte Trennung zwischen Autor:in und Leser:in infrage stellen und somit als Alternativen zum herkömmlichen Konzept von Autor:innenschaft gesehen werden können. Auch hier bewegen sich die künstlerischen Auseinandersetzungen in einem double bind, insofern als einerseits das gängige Konzept von Autor:innenschaft infrage gestellt werden soll und es gleichzeitig ein wichtiges Anliegen meiner Arbeit ist, die Autor:innen von Büchern, mit denen ich arbeite, hervorzuheben – angesichts der langen Kämpfe von nicht-cis-männlichen Autor:innen und Autor:innen of Color, um überhaupt als Autor:innen anerkannt zu werden, wäre es kontraproduktiv, die jeweiligen Autor:innen der Bücher nicht sichtbar zu machen. Weitere Ansätze aus meiner künstlerischen Forschung waren darauf gerichtet, wie der Fokus nicht nur auf den textlichen Inhalt von Büchern gelegt werden kann, sondern das gesamte Sensorium in die Generierung von Bedeutung einbezogen werden kann und wie somit Wissensproduktion mit dem Sensorium verbunden werden kann. Zusätzliche Möglichkeiten für ein Verlernen in dieser Hinsicht können außerdem multimediale Ansätze bieten, in denen unterschiedliche Arten von Inhalten kombiniert werden, wie z.B. Ton- und Video-Inhalte mit Text, um den Spielraum von Text zu erweitern und die Grenzen zwischen althergebrachten Kategorien – wie zwischen textuellen und sinnlichen Formen von Wahrnehmung – verschwimmen zu lassen. Die Herausforderung besteht darin – so meine Argumentation –, einem herkömmlichen Verständnis von literarischer und kultureller Bildung nicht nur in dem Sinne nicht anzuhängen, dass auch Zugänge zu postkolonialer Literatur ermöglicht werden und somit auf der inhaltlichen Ebene eine gegendiskursive Auseinandersetzung mit dem Kanon stattfinden kann; sondern es gilt gleichzeitig, die materielle Basis von Büchern kritisch in den Blick zu nehmen und zu überdenken bzw. ergänzen, denn so kann grundlegender möglich werden, dass nicht nur die vorherrschenden Wissensformen und somit auch die vorherrschenden Narrative und Imaginationen Raum erhalten. Anders gesagt liegt in einem derart umfassenden Ansatz die Chance, Bücher und darüber hinaus auch Wissen bzw. Bildung im Sinne von »Textilien« aus unterschiedlichen Ideen und mannigfaltigen Perspektiven zu verstehen anstatt als etwas Homogenes.

Nicole Suzuki: Bücher als bestenfalls widerwillige Verbündete

Grundsätzlich geht es nicht darum, auf Bücher zu verzichten oder etwa Romane für wertlos zu erklären und diese aufzugeben, sondern, um es in den Worten von Nikita Dhawan zu sagen, die sich auf ein berühmtes Zitat von Audre Lorde (1984: 110) bezieht, »the challenge is to employ the master’s tools to dismantle the master’s house« (Dhawan 2014: 71).

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Wir enden den Band mit zwei Texten der Künstlerin Rajkamal Kahlon, die darin auf reflexive Weise durch ihre eigene Arbeit in Bildung und Kunst über die postkoloniale Welt nachdenkt und darüber, wie diese ihr eigenes Arbeiten beeinflusst. Die Texte fokussieren gewissermaßen die affektive Seite der double bind Situation und rufen dazu auf, in Anbetracht der (post-)kolonialen Gewalt, die differenten Verletzlichkeiten in Bildungsprozessen und der Kunstproduktion ernst zu nehmen. Auch weil die Gewalt in die Körper eingeschrieben ist, gibt es keine einfache Exitstrategie aus Rassismus und Unterdrückung. Es gilt den double bind zu lernen oder, wie Kahlon es formuliert: »Staying with trouble«.

Sie sagten, es würde nicht weh tun Zwei Texte zu Lehren und Lernen1 Rajkamal Kahlon

(1) Sie sagten, es würde nicht weh tun: Verkörperte Pädagogik »Wir sind alle Subjekte der Geschichte. Wir müssen zur Verkörperung zurückkehren, um die Art und Weise zu dekonstruieren, wie Macht traditionell im Klassenzimmer orchestriert wurde, wobei einigen Gruppen die Subjektivität abgesprochen und anderen die Subjektivität zugesprochen wird« (hooks 1994: 139) Dieser Aufsatz speist sich aus meinen Erfahrungen als Studentin und Lehrerin an amerikanischen öffentlichen und privaten Schulen, Colleges und Universitäten. Es sind Erinnerungen an meine eigene Ausbildung und meinen Wunsch, auf eine Art und Weise zu unterrichten, die den Formen von Macht und Herrschaft, die ich in meinem Bildungsleben erfahren habe, widersteht. Die Form des Aufsatzes nutzt persönliche Zeugnisse als Katalysator, um Schlüsselideen zu diskutieren, die von der Schriftstellerin, Akademikerin und Theoretikerin bell hooks und ihrem Buch »Teaching to Transgress« entwickelt wurden: Bildung als eine Praxis der Freiheit.

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Die Texte wurden aus dem Englischen von María do Mar Castro Varela übersetzt.

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Hat jemand einen Tampon? oder verkörperte Lehre Ich betrat das Klassenzimmer in einer makellos weißen Hose, die mit etwas bedeckt war, das wie ein riesiger Menstruationsfleck aussah. Tiefrote Farbe durchtränkte meine Innenschenkel und meinen Hintern. Ich stand in einem dunklen Farbrelief vor einem weißen Hintergrund und war dabei, meine erste Kunstklasse auf Universitätsniveau für graduierte Studierende zu unterrichten. Ich hatte mir diesen Moment schon oft vorgestellt und erwartete vielleicht ein Keuchen oder Ausdrücke des Schocks, des Lachens oder des Ekels von meinen Studierenden. Ich stellte mir dann vor, wie ich die Klasse in Points of Penetration: The Grotesque Body and Humor in Contemporary Art einführen würde, ohne unmittelbare Erklärung, während mein menstruierender brauner Frauenkörper im Mittelpunkt stand. Mein erster Unterrichtstag begann mit einer übertriebenen Darstellung von Verletzlichkeit. Ich versuchte, in ein theoretisches Thema einzuführen und zu zeigen, wie es auch vom und durch den Körper verstanden werden kann. Im Kurs selbst ging es darum, den Rahmen des Grotesken zu nutzen, um über Macht und nicht-normative Körper zu sprechen. Aufbauend auf den Theorien der Groteske des russischen Sprachwissenschaftlers Mikhail Bakhtin ging es in diesem Kurs um verkörpertes Wissen und dessen Beziehung zur Kunst. Von da an hielt ich es für wichtig, meinen Körper als Lehrende hervorzuheben. Wenn ich wollte, dass meine Studierenden nicht eine passive und körperlose Beziehung zum Material annehmen, wenn ich wollte, dass sie Risiken eingehen, dann musste ich damit beginnen, ein Beispiel für unseren Unterricht zu geben. Aber die Realität ist immer anders als die eigene Vorstellung. Den ersten Rückschlag erlebte ich ein paar Stunden vor Kursbeginn, als sich nur zwei Studierende einschrieben. Bei so wenigen Anmeldungen würde der Kurs sicher abgesagt werden, aber ich beschloss, meine Performance trotzdem fortzusetzen. Kurz vor dem Unterricht, kurzatmig und voller Angst, zog ich mein Lehrkostüm an, ging aus dem Badezimmer und begann, meinen Computer einzurichten. Als die Studierenden hereinströmten, merkte ich schnell, dass ich mich im falschen Raum eingerichtet hatte. Ich befand mich in dem Raum auf der anderen Seite des Flurs. Die Studierenden und der Professor starrten mich neugierig an. Ich beeilte mich, ihnen zu erklären, dass ich eine Klasse über das Groteske unterrichte, als ob damit alles erklärt wäre – während ich die ganze Zeit meinen Computer und meine Habseligkeiten einsammelte. Während ich die Räume wechselte, war ich voller Zweifel und Selbstkritik und meines be-

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vorstehenden Scheiterns sicher. Was habe ich mir dabei gedacht? In welchem Universum dachte ich, dies sei eine gute Idee, geschweige denn eine wichtige Geste. Ein Studierender kam herein und dann ein anderer ohne Reaktion und ohne Antwort. Ich begrüßte sie förmlich, als ob ich sie nicht mit einem riesigen Menstruationsfleck zwischen den Beinen begrüßen würde. Sie drückten keine Reaktion nach außen aus, außer schweigende Blicke auszutauschen. In diesem Moment wurde mir klar, dass ich den Schlüssel für den Projektor verloren hatte, der mir an diesem Tag ausgestellt worden war. Ohne ihn konnte ich den Unterricht nicht leiten. Das bedeutete, dass ich unser Klassenzimmer verlassen musste, das Gebäude auf einer Straße in der Innenstadt von San Francisco verlassen musste, einen andere überqueren und nach einem halben Block durch den Haupteingang der Schule in das neu gestaltete Hauptgebäude mit offenen Klassenzimmern gehen musste, um dann auf der Rückseite zur audiovisuellen Abteilung zu gelangen, wo ich von zwei Frauen mit einem breiten Lächeln begrüßt wurde. Wieder erklärte ich, dass ich eine Klasse über das Groteske unterrichte, als ob das alles erklären würde. Mit dem neu ausgegebenen Schlüssel in der Hand ging ich den Weg zurück, den ich gekommen war. Auf dem Weg dorthin wurde ich von einer Frau abgeklatscht, die vor Freude quiekte, dass sie meine Hosen liebte. Die meisten starrten nur, oder andere waren vielleicht beleidigt oder verlegen, schauten weg und gaben vor, nichts zu sehen. Ich kehrte zurück und begann mit dem Unterricht. Ich weiß nicht mehr, was passierte, nachdem ich in den Unterricht zurückgekehrt war, aber in der folgenden Woche hatte ich eine Gruppe eifriger Studierender, die sich in meinen Kurs einschreiben wollten.

Können mich alle hören? oder von den Rändern sprechen Zu Beginn des Jahres hatte ich mich mit einer älteren weißen Professorin von derselben kalifornischen Kunstschule getroffen, die mir fast zehn Jahre zuvor einen Master of Fine Arts verliehen hatte. Wir sprachen über meine Lehrtätigkeit dort im Herbst. Sie erzählte mir, dass von den etwa 20 Dozierenden der Fakultät für Malerei, der größten Abteilung der Schule, nur vier Frauen waren. Das ging mir durch den Kopf, als ich anfing, darüber nachzudenken, wie und was ich an genau der Institution unterrichten würde, die mich als Studierende zum Schweigen gebracht hatte. Als eine der wenigen People of Color, die in einer ansonsten weißen und wohlhabenden privaten Kunstschule in einer überwiegend armen und schwarzen Stadt in Nordkalifornien verstreut waren, schaffte

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ich es dennoch, meinen Abschluss mit Auszeichnung zu machen, ohne jemals ein Wort in meinen Kursen gesagt zu haben. Als ich die Graduiertenschule erreicht hatte, war mein Schweigen als Reaktion auf meinen Schulbesuch in den USA und die vielfältigen Formen rassistischer und sexueller Belästigung, die ich erduldet hatte, gut entwickelt. Diese Belästigung konzentrierte sich auf mein Aussehen, meinen Geruch, die Infragestellung meines Geschlechts, meinen nichtchristlichen Namen und meinen Herkunftsort. Obwohl ich mein ganzes Leben lang überwiegend weiße Schulen und Gemeinschaften besucht und in diesen gelebt hatte, war ich nicht auf den Elitismus und die ungeschriebenen sozialen Codes der wohlhabenden Klassen vorbereitet, mit denen mich meine private Kunstschule häufig in Kontakt brachte. Ich erinnere mich, wie ich im Büro des Direktors saß und zu Recht stolz darauf war, die erste Künstlerin meiner Schule seit 12 Jahren zu sein, die in Skowhegan School of Painting & Sculpture aufgenommen wurde, einer angesehenen Sommerresidenz für Kunst an der Ostküste, einer der ältesten und angesehensten des Landes, die von US-amerikanischen Künstler:innen kurz nach dem Zweiten Weltkrieg gegründet wurde. Jede Kunstschule in den USA hatte ein passendes Stipendienprogramm mit Skowhegan, um sicherzustellen, dass ihre graduierten Studierenden an dem elitären und teuren 9-wöchigen Programm teilnehmen konnten, ohne dass ihnen Kosten entstanden. Jede Kunstschule außer meiner. Es war schon so lange her, dass irgendeiner ihrer Studierenden Zugang zum Wettbewerbsprogramm erhalten hatte, dass sie in ihrem Budget kein Geld mehr beiseitegelegt hatte. An diesem Tag rief der diplomierte Direktor in meinem Namen an und versuchte, den Direktor und wohlhabende Freund:innen der Schule aus ihrer Selbstgefälligkeit zu reißen. Er versuchte auch, mir Geld für meine Reisekosten zu beschaffen. Ich erinnere mich, dass ich schweigend auf seinem Schreibtisch saß und ihm zuhörte, wie er mich anderen Menschen gegenüber als einen guten wohltätigen Zweck beschrieb. »Ob sie es nötig hat? Ob sie es nötig hat?! Ihre Eltern arbeiten in Fabriken!« Er sprach, als wäre ich nicht anwesend. In diesem Moment sah ich mich so, wie ich von anderen gesehen wurde. Der Stolz, den ich empfunden hatte, als ich Zugang zu Skowhegan erhielt, verflüchtigte sich schnell und wurde durch etwas ersetzt, das weitaus mehr dem entspricht, wie es sich anfühlte, wenn man dort zur Schule gehen wollte. Ich fühlte mich nicht einlösbar. Eine Mischung aus Schäbigkeit und Armut schien sich auf meiner braunen Haut einzuprägen. Ich hatte schon früh ein Gespür für das entwickelt, was W.E.B. DuBois als doppeltes Bewusstsein bezeichnete

Rajkamal Kahlon: Sie sagten, es würde nicht weh tun

(siehe Passage in den Fußnoten), wenn es um Rasse und Rassendiskriminierung ging, aber es war neu, dies durch die Linse der Klasse gleichzeitig mit Rassifizierung zu erleben.

Stolpern im Dunkeln oder Lehren 101 Als ich so viele Jahre später an den Tatort zurückkehrte, habe ich nie daran gedacht, die beklemmende Sprache und die Strukturen, die ich gelernt hatte, zu reproduzieren. Ich musste schnell die Stimme wiederfinden, die ich als Studierende verloren hatte, und eine neue Art von Klassenzimmer zu schaffen, das ohne hierarchische Machtäußerungen funktionierte, die oft die Wissensproduktion umgeben. Das Problem war natürlich, dass ich keine Ahnung hatte, wie ich das machen sollte. Intuitiv und vielleicht wegen des Schwerpunkts meiner Arbeit als Künstlerin, den ich viele Jahre lang unabhängig entwickelt hatte, während ich in New York lebte, beschloss ich, mich auf zwei Dinge zu konzentrieren: den Körper und die Verlagerung des Machtzentrums im Klassenzimmer. Weg von mir und hin zu meinen Studierenden. Der Körper und die Kraft des Umdenkens standen im Mittelpunkt all meiner Kurse sowohl mit graduierten als auch mit nicht graduierten Studierenden, unabhängig davon, ob ich theoretische Kurse wie Points of Penetration: Der groteske Körper und Humor in der zeitgenössischen Kunst unterrichtete oder You Said It Would’t Hurt: The Body Between Painting and Performance oder traditionellere Kurse im Atelier wie einführendes oder fortgeschrittenes Malen. Die Gestaltung der Kurse nach dem Modell einer Forschungsgruppe verlagerte die Vorstellung, dass Wissen nur von mir als Lehrenden produziert wird. Das war aus vielen Gründen beängstigend. Es bedeutete, die Kontrolle aufgeben zu müssen, meinen Studierenden zu erlauben, meine Schwächen wie auch meine Stärken zu erkennen, und ganz allgemein erforderte es, im gegenwärtigen Moment zu sein. Mein Modell basierte auf der Prämisse, dass Erfahrungswissen etwas war, das wir alle mitbrachten, und dass unsere Studien und unsere Arbeit von diesem geteilten, horizontal produzierten Wissen profitieren konnten. Ich konnte einen Teil davon einbringen, aber jede:r Teilnehmer:in des Kurses war als Teil einer Gemeinschaft dafür verantwortlich, darauf aufzubauen, und unsere Lebenserfahrungen als eine Möglichkeit zu nutzen, sich mit dem vorliegenden Material auseinanderzusetzen. Das war eine mögliche und wichtige Möglichkeit, unsere Beziehung zu dem, was untersucht wurde, zu vertiefen.

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Ich erinnere mich auch deutlich daran, dass ich lehren wollte, um das zu erreichen, was meine Kunstpraxis brachte. Ich wollte, dass das Unterrichten die Möglichkeit des Selbstwachstums, der Reflexion und der Gemeinschaft bietet. Ich schuf Klassen, die Erweiterungen meiner eigenen künstlerischen Forschung waren, um mein eigenes Verständnis weiter zu stärken, aber auch, um eine Gemeinschaft von Künstler:innen aufzubauen, die diese Investition in politische und ästhetische Ideen teilen konnten. Ich wollte mit meinen Studierenden wachsen. Dieser Wunsch, auch während des Unterrichts zu wachsen und sich zu transformieren, führte zu Konflikten, denn der Unterricht ist oft als eine Einwegübung konstruiert, bei der Lehrer:innen Wissen vermitteln und die Studierenden es erhalten. Dieses Modell lässt nichts zu, was dem gegenseitigen Wachstum nahekommt, das die Grundlage vieler Theorien der Befreiungserziehung (liberators education) bildet. Ich hatte viele Erfolge und Misserfolge. Einer der Erfolge bestand darin, dass ehemalige Studierende weiterhin öffentlich von meinen Kursen sagen, dass sie einen bedeutenden Einfluss auf ihr Wachstum und ihren Erfolg als Künstler:innen haben. Ich stehe mit ehemaligen Studierenden in Kontakt und arbeite mit ihnen zusammen, während sie von ihrer Rolle der Studierenden zur Rolle der professionellen Künstler:innen übergegangen sind. Und die Tatsache, dass ich sie als Künstler:innen sehr ernstgenommen habe, als sie meine Studierenden waren, hat die größte Veränderung in unseren Beziehungen bewirkt. Ob ich sie im Alter von 18 Jahren kennenlernte oder sie mit 50 Jahren in die Schule zurückkehrten, ich sah sie als Individuen mit einzigartigen Lebensgeschichten. Sie waren Teil meiner künstlerischen Gemeinschaft mit etwas Wichtigem, das sie für mich und ihre Altersgenossen beisteuern konnten. Ich weigerte mich, sie zu bevormunden und eine Position des überlegenen Wissens einzunehmen. Zu sehen, wie eine reale Person versuchte, die Maske der Autorität abzulegen, beeinflusste ihre Fähigkeit, sich selbst auf eine neue Art und Weise zu sehen. Letztlich trug meine Erfahrung als Lehrerin dazu bei, mein Vertrauen in die Menschen wiederherzustellen. Es ist unmöglich, gut zu lehren, wenn man selbst nicht die Möglichkeit für positives Wachstum und Veränderung in der Welt sieht. Obwohl die Erfolge die Enttäuschungen bei weitem überwogen, milderte dies den Schmerz des Scheiterns nicht. Ich war in vielerlei Hinsicht unvorbereitet, regelmäßig mit Sexismus und Rassismus zu kämpfen, die von meinen Studierenden gegen mich gerichtet waren. Einige Studierende suchten verzweifelt nach einer starken Vater- oder Mutterfigur und wollten sich nicht mit einer neuen Erfahrung von Handlungsfähigkeit im Klassenzimmer auseinan-

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dersetzen. Und andere, die zum passiven Konsum ausgebildet waren, interessierten sich nicht für die tatsächliche Arbeit, die mit dieser Art von Ansatz verbunden ist. Ich persönlich kämpfte damit, zu wissen, wann und wie viel ich führen sollte. Ich habe mich oft zurückgehalten, weil ich Angst hatte, meine Macht zu missbrauchen.

»Wo waren Sie mein ganzes Leben lang?« oder Intellektuelle Verwandtschaft finden Es würde mehr als ein Jahr dauern, in dem ich experimentell unterrichtete und meine Klassenzimmer als soziales Labor für die Demokratisierung der Macht nutzte, bis ich auf bell hooks Teaching to Transgress stieß: Bildung als eine Praxis der Freiheit. Ich weinte vor Erleichterung und Anerkennung, als ich ihre Worte las. Obwohl ich mit den Schriften von bell hooks über Rasse und Repräsentation im Zusammenhang mit zeitgenössischer Kunst vertraut war, war ich mit ihrer pädagogischen Arbeit nicht vertraut. Meine Freundin und ehemalige Mitbewohnerin, eine feministische Malerin, gab mir ein Exemplar von Teaching to Transgress, nachdem sie von meinen vielen Versuchen im Klassenzimmer gehört hatte. hooks gab mir eine Sprache an die Hand, mit der ich beschreiben konnte, was ich intuitiv tat, ob erfolgreich oder nicht, ohne einen pädagogischen oder theoretischen Rahmen, auf den ich mich stützen konnte. hooks ermöglichte es mir, meine Bemühungen als Teil einer größeren Geschichte engagierter Pädagogik in Verbindung mit globalen Befreiungsbewegungen zu sehen. In Teaching to Transgress destilliert bell hooks viele wichtige Strategien und Beobachtungen aus ihren eigenen Erfahrungen mit dem Unterrichten. Sie zitiert auch zwei zentrale Pädagogen, die ihr geholfen haben, ihre Art und Weise zu gestalten, mit anderen zu leben, zu lehren und von anderen unterrichtet zu werden: Paulo Freire, den revolutionären brasilianischen Bildungstheoretiker und den vietnamesischen buddhistischen Aktivistenmönch Thích Nhất Hạnh. Freire schien so etwas wie ein Leuchtfeuer der Hoffnung und der Möglichkeit für hooks als Studierende darzustellen, die gegen hierarchische akademische Settings kämpft, die der Reproduktion von Herrschaftssystemen und bürgerlich-hegemonialen Verhaltenskodizes dienen. Die Schriften von hooks spielten für mich eine ähnliche Rolle. Freire bezeichnet die traditionelle Bildung als ein Bankensystem der Bildung, in dem Wissen durch das Auswendiglernen und Wiederholen von gelernten Fakten gekennzeichnet ist. Wissen wird als ein Geschenk betrachtet,

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das von denjenigen, die als wissend gelten, denjenigen gegeben wird, die sie für unwissend halten. »Wo man anderen aber absolute Unwissenheit anlastet – charakteristisch für die Ideologie der Unterdrückung –, leugnet man, dass Erziehung und Erkenntnis Forschungsprozesse sind« (Freire 1973: 58) schreibt Freire in Pädagogik der Unterdrückten. Sowohl Freire als auch Hanh fördern Ideen des Nachdenkens in Verbindung mit Handlung, aber während Freire sich auf den Geist konzentriert, verlegt hooks mit Hanh den Fokus auf eine Pädagogik mit einer ganzheitlichen Betonung des Wohlbefindens von Geist, Körper und Seele (hooks 1994: 14). Erziehung als eine Praxis der Freiheit, ist eine Lehrmethode, die allen offen steht. Aber am leichtesten wird es denen fallen, die bereit sind anzuerkennen, dass das Lehren auch eine sakrale Funktion hat (ebd.: 13). Die Sorge um das Selbst, einschließlich der eigenen Seele, ist grundlegend für diesen Prozess der Befreiung und Transformation für uns und unsere Studierenden. Unsere Befreiung hängt voneinander ab und ist nur durch gegenseitige Arbeit und Wachstum möglich. hooks schreibt: »Any classroom that employs a holistic model of learning will also be a place where teachers grow, and are empowered by the process. That empowerment cannot happen if we refuse to be vulnerable while encouraging students to take risks….When professors bring their experiences into classroom discussions it eliminates the possibility that we can function as all knowing, silent interrogators. It is often productive if professors take the first risk, linking confessional narratives to academic discussions so as to show how experience can illuminate academic material. But most professors must practice being vulnerable in the classroom, being wholly present in mind, body and spirit.« (hooks 1994: 21) Die Praxis der Freiheit zu lehren bedeutet auch, das aufzugeben, was hooks die Sucht unserer Gesellschaft nach Lügen und Verleugnung nennt (hooks 1994: 28). Es erfordert ein gewisses Maß an Ehrlichkeit in Bezug auf die Welt, in der wir leben, die Werte, die wir vertreten, und die Privilegien, die durch die Herrschaft eines anderen geschaffen werden. Unser Leben wird von einem Wirtschaftssystem regiert, das nicht funktionieren kann, ohne eine riesige Unterschicht von Menschen zu schaffen, die wirtschaftlich, sozial und politisch entrechtet sind. Armut, Hunger, Umweltzerstörung und andere brutale wirtschaftliche Ungleichheiten zwischen dem globalen Norden und Süden sind beabsichtigt und nicht einfach eine unglückliche Laune des Schicksals. Diese entworfenen Strukturen der Ungleichheit betreffen bestimmte Grup-

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pen direkter als andere, und das ist etwas, das nicht ignoriert werden kann, wenn wir versuchen, die Bedingungen zu ändern, unter denen institutionelles Wissen produziert und verbreitet wird. Das Klassenzimmer ist im philosophischen Kontext des westlichen Dualismus ein Raum, der auf dem Glauben einer Spaltung zwischen Geist und Körper beruht. hooks zufolge betreten diejenigen von uns, die in dieser Form des Denkens ausgebildet wurden, das Klassenzimmer, um zu lehren und zu lernen, als ob nur ihr Verstand anwesend wäre. Die Aufmerksamkeit auf unseren Körper zu lenken, bedeutet, das Vermächtnis der Unterdrückung und Verleugnung zu verraten, das vom weißen, kapitalistischen Patriarchat geschaffen wurde (hooks 1994: 191). Viele Jahre lang wollte ich nichts anderes, als die Existenz meines Körpers zu leugnen, den ich als Quelle meiner Erfahrungen intimer, sozialer und politischer Aggressionen betrachtete. Meine Entwicklung als Person, als Künstlerin und als Lehrerin bedeutete nicht nur, diese Aggressionssysteme eines nach dem anderen zu identifizieren, sondern auch mein Verständnis zu verändern, dass sie nicht in mir wohnen, sondern in der Welt existieren. Wenn wir zum Körper zurückkehren, um die Welt kennen zu lernen, dann können wir sagen, dass ich aufgehört habe, das zu schlucken, was mich krank gemacht hat. Die Lehre war für den Heilungsprozess von zentraler Bedeutung.

(2) Sie sagten, es würde nicht wehtun: Liebe und Verlust im Weltmuseum Wien Ich habe eine Liebes-Hass-Beziehung zu ethnographischen Museen. Sie machen mich buchstäblich krank, aber wie bei einem Autounfall oder einem Zugunglück kann ich nicht wegschauen. Voller Zweifel arbeitete ich 2016 für zwei Monate als SWICH artist-in-residence im Weltmuseum Wien, ehemals Das Museum für Völkerkunde. Würde ich ein native informant sein? Eine schamanische Priesterin, die die vom ethnographischen Museum getragene Schuldlast exorziert? Würde ich eine neoliberale künstlerische Cheerleaderin sein, die ihrer Marke einen Mehrwert verleiht? Wahrscheinlich könnten all diese Fragen bejaht werden, aber ich wollte trotzdem gehen. Ich wollte eine intime Untersuchung meiner Patientin vornehmen, einen Blick auf die Schönheit und den Schrecken unter dem Saum hervorstehender Objekte und geistiger Deformationen werfen. Bevor ich ging, bestand meine Strategie darin, so nah wie möglich heranzukommen, sehr hart zu treten und dann wie der Teufel zu rennen.

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Feige? Vielleicht. Wäre mein Aufenthalt ein Film gewesen, könnte das Drehbuch für meine Figur den immer wiederkehrenden Alptraum vorsehen, jeden Morgen als ein neues Objekt in den Sammlungen des Museums aufzuwachen, das mit Tags versehen, fotografiert und inventarisiert wird. Ich bin als Anthropologin ins Weltmuseum gekommen, um die ›Eingeborenen‹ aus der Nähe zu betrachten. Ich fotografierte jeden, den ich traf, und erstellte ein Reisetagebuch mit dem Titel Field Work: An Artist’s Reflection Among Her Time With the Natives of Vienna, illustriert mit zahlreichen Aquarellen und 2016 handgeschriebenen Reisetagebücher, nach dem Vorbild populärer kolonialer Reisetagebücher des 19.Jahrhunderts. Im Museum begegnete ich einem Personal, das eine eigene Ambivalenz und ein kompliziertes Verhältnis zu seiner gewalttätigen Geschichte hatte, während es gleichzeitig die in seinen Sammlungen enthaltenen Objekte pflegte. Unter dem Personal gab es viele qualifizierte und unqualifizierte Angestellte, die kurzfristige und befristete Verträge hatten. Fast alle waren Frauen. Im Gegensatz dazu hatten Männer Machtpositionen im Museum inne, bezogen vergleichsweise großzügige Gehälter und erlangten größeres soziales Prestige. Auch das Personal war bis auf wenige Ausnahmen ausschließlich weiß. Das Museum hat zwar einen neuen Namen, aber die kolonialen Gewohnheiten lassen sich nur schwer ablegen. Weitreichende strukturelle Ungleichheiten, die an race, gender und class gebunden sind, bleiben unverändert. Als ich rein ging, hatte ich viele Vorurteile über ethnographische Museen. Das wichtigste davon war, dass sie von einer grundlegenden und existenziellen Form kolonialer Gewalt durchdrungen und sehr wahrscheinlich uneinlösbar sind. Im zeitgenössischen ethnografischen Museum gibt es ein Gerangel um eine politisch korrekte Sprache und das verzweifelte Bedürfnis, auf der richtigen Seite der Geschichte zu stehen. Und doch ist es genau dieser Wunsch nach dem Richtigen, der in einem binären philosophischen Verständnis der Welt verwurzelt ist, das es dem Museum nicht erlaubt, seine komplexen Verstrickungen in der Perpetuierung und Reproduktion neuer Formen kolonialer Gewalt zu verstehen. Für mich ist das Betreten eines ethnographischen Museums wie das Betreten eines Holocaust-Museums, das seinen Zweck nicht versteht. Es hat unwissentlich zur Zerstörung der Mehrheit der Kulturen der Welt beigetragen und feiert jetzt die materiellen Beweise dieser Zerstörung. Und in fast demselben Atemzug zielt es darauf ab, ein migrationsfreundlicher, multikultureller Gemeinschaftsraum zu werden, der genau die Gemeinschaften unterstützt, die es einst zu diffamieren half. Heute ist das ethnographische Museum reich an schizophrenen Gesten.

Rajkamal Kahlon: Sie sagten, es würde nicht weh tun

Und doch, nachdem alles gesagt und getan ist, wurde ich verführt. Damals habe ich es nicht verstanden, aber jetzt, zwei Jahre später, wird mir klar, dass die Ausstellung, die ich für das Museum gemacht habe, Staying with Trouble, ein Akt der Liebe war. Die Ausstellung ist eine Art Liebesbrief an das Weltmuseum Wien. Ich hoffe, dass das Museum seine Botschaft eines Tages annehmen wird. Am Ende meines Aufenthaltes hätte ich nur ein paar Spuren und Halbwahrheiten darüber hinterlassen können, was es bedeutet, dort zu sein. Das war alles, was nach dem zweimonatigen Aufenthalt erwartet wurde. Aber die Menschen, die ich im Fotoarchiv des Weltmuseums Wien gefangen fand, riefen mich immer wieder zu sich, baten mich, mit ihnen zu sprechen, baten mich um einen Ausweg. Die Notwendigkeit, sich um die Spuren von Menschen und Kulturen zu kümmern, diese zu rehabilitieren und zu transformieren, die so lange Zeit von Institutionen wie dem Weltmuseum Wien verzerrt, verleumdet und ausgelöscht worden waren, war zu mächtig, um sie abzulehnen. Ich konnte mich nicht abwenden. Während der nächsten 18 Monate, in denen mein Vertrag mit dem Museum bereits erfüllt war, verfasste ich einen Liebesbrief an die Männer und Frauen, die sich noch immer in diesem Archiv befinden, und schließlich an das Museum selbst. Mit der Ausstellung Staying With Trouble habe ich als Künstlerin das Herz auf der Zunge getragen wie niemals zuvor.

Literatur Freire, Paulo (1973): Pädagogik der Unterdrückten. Bildung als Praxis der Freiheit. Reinbek b. Hamburg: Rowohlt. bell hooks (1994). Teaching to Transgress: Education as a Practice of Freedom. New York: Routledge.

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Autor:innen

Sruti Bala ist Theaterwissenschaftlerin an der Universität Amsterdam in den Niederlanden. Ihre Forschungs- und Interessenschwerpunkte liegen in den Bereichen der Performance-Theorie, der partizipatorischen Künste, sowie der feministischen und postkolonialen Kritik der Kunst und Kultur. Sie leitet ein Forschungsprojekt zu kulturellen Bürgerschaftspraktiken in der niederländischen Karibik mit dem Fokus auf Gender und Sexualität in Kooperation mit der Universität Curaçao. Tasnim Baghdadi leitet seit 2021 den Bereich Vermittlung und Programme am Migros Museum für Gegenwartskunst in Zürich. 2007–2010 studierte sie Grafikdesign an der Fontys Hogeschool Venlo und schloss 2015 ihren M.A. in Kunstgeschichte mit Schwerpunkt MENASA Region an der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn ab. 2019 absolvierte sie ein Studium in Kuratieren an der Universität der Künste Berlin. Neben ihrer Arbeit als Kunstvermittlerin, ist sie auch als freie Autorin und Künstlerin tätig und beschäftigt sich in ihrer künstlerischen Praxis u.a. mit der Indexikalität von Abstraktion und der Beziehung von Malerei zu Bedeutungsproduktion, sowie mit einer Poetik der Zeichen. Carla Bobadilla ist bildende Künstlerin. Sie ist Mitglied des internationalen Netzwerks Another Roadmap for Arts Education/School. 2013–2017 war sie Lehrbeauftragte am Institut für Kunst und kommunikative Praxis an der Universität für angewandte Kunst. 2017 erhielt sie das kültüř gemma! Fellowship. Seit 2018 ist sie Senior Lecturer am Institut für künstlerisches Lehramt an der Akademie der bildenden Künste in Wien und Co-Vorsitzende der IG Bildende Kunst. Im Jahr 2020 hat sie das Kollektiv Decolonizing in Vienna! mitbegründet.

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Mai-Anh Boger (Dr. phil.) ist Akademische Rätin an der Universität Regensburg. Ihre Arbeitsschwerpunkte sind Inklusion, Philosophien der Differenz und Alterität sowie Psychoanalyse mit besonderem Fokus auf Dynamiken der (internalisierten) Unterdrückung. Sandra Chatterjee ist Choreographin und Wissenschaftlerin (Culture & Performance/Tanzwissenschaft). Sie ist interessiert an direktem Austausch (z.B. partizipativ-installative Projekte mit kleinem Publikum) und will im Tanz weniger bedachte Sinne einzubeziehen (z.B. seit 2019 Arbeit mit Gerüchen und ihren politischen Dimensionen). Sie ist Gründungsmitglied der Post Natyam Collective; im Forschungsteam des Projekts Border-Dancing Across Time und Ko-Organisatorin von CHAKKARs–Moving Interventions (www.chakkars.de). Ausserdem ist sie Mitherausgeberin des eZine Moving Interventions (https:// chakkars.de/de/ezine/). María do Mar Castro Varela ist Professorin für Allgemeine Pädagogik und Soziale Arbeit an der Alice Salomon Hochschule Berlin. Unter anderem war sie Sir Peter Ustinov Gastprofessorin am Institut für Zeitgeschichte der Universität Wien, Senior Fellow am Institut für die Wissenschaft des Menschen (IWM) ebenfalls Wien und Research Fellow am Institut for the Humanities and International Law in Melbourne (Australien), der University Busan (Südkorea) und am Research Center for Women’s Studies (RCWS) der University Mumbai. In 2023 hat sie das Thomas Mann Fellowship erhalten. Sie ist Mitglied der Forschungsgruppe »Radiating Globality«, Gründerin und Mitglied des bildungsLab* und Vorsitzende des Berliner Instituts für kontrapunktische Gesellschaftsanalysen (BI:KA). Ihre aktuellen Forschungsschwerpunkte umfassen Fragen der Ethik, Kunst, Trauma, Emanzipation und Wissensproduktion. Aïcha Diallo ist Doktorandin in Urban Studies an der University of Sheffield und Kulturwissenschaftlerin, Pädagogin/Kunstvermittlerin, Kuratorin und Autorin. Unter anderem war sie verantwortlich für Bildung und Outreach am MINSK Kunsthaus in Potsdam (2020–2022), Redakteurin für das Kunstmagazin Contemporary And (C&) und kuratierte Ausstellungen und Veranstaltungen für das Off-Programm der Biennale Dak’Art. Sie arbeitete zudem für die panafrikanische Kulturplattform Chimurenga in Kapstadt, das Ausstellungsprojekt prêt-à-partager (ifa), war Mitbegründerin und Schauspielerin der Performance Plattform Label Noir und ist Mitglied des bildungsLab*

Double Bind postkolonial: Autor:innen

(bildungslab.net). Ihre Lehr- und Forschungsschwerpunkte sind Trauma/ Memory Studies, Critical Pedagogy, afrikanische und afrodiasporische Positionen in Ästhetik und Politik und Postkoloniale Kritik. 2021 erschien der von ihr Ko-Editierte Band Untie to Tie: Koloniale Fragmente im Kontext Schule. Nikita Dhawan ist Inhaberin des Lehrstuhls für Politische Theorie und Ideengeschichte an der Technischen Universität Dresden. Ihre Forschungs- und Lehrschwerpunkte sind globale Gerechtigkeit, Menschenrechte, Demokratie und Dekolonialisierung. Im Jahr 2017 erhielt sie den Käthe-Leichter-Preis für herausragende Leistungen in der Frauen- und Geschlechterforschung. Zu ihren Veröffentlichungen gehören Impossible Speech: On the Politics of Silence and Violence (2007); Decolonizing Enlightenment: Transnational Justice, Human Rights and Democracy in a Postcolonial World (Hrsg., 2014); Reimagining the State: Theoretical Challenges and Transformative Possibilities (Hrsg., 2019); Rescuing the Enlightenment from the Europeans: Critical Theories of Decolonization (in Vorbereitung). In 2023 erhielt und vertrat sie die Gerda-Henkel-Gastprofessur an der Stanford University und erhielt das Thomas-Mann-Fellowship, Los Angeles. Hayat Erdoğan ist Dramaturgin, Kuratorin und Dozentin für Performing Arts und Kulturtheorien und ästhetische Theorien (Cabaret Voltaire, Zürcher Hochschule der Künste, freie Projekte, Theater Neumarkt). Sie studierte Literaturwissenschaften, Linguistik, Dramaturgie und begann 2015 ein Promotionsstudium in Philosophie. Seit der Spielzeit 2019/20 ist sie Direktorin am Theater Neumarkt Zürich. Zudem schreibt sie u.a. ist sie Kolumnistin für das Kulturmagazin 041. Leila Haghighat ist Kulturschaffende in Berlin und promoviert zum double bind in sozial engagierter Kunst an der Akademie der Künste in Wien. Im Fokus ihrer Untersuchung stehen Praxen einer Ästhetik der Fürsorge und deren möglichen Übertragung auf Kunstinstitutionen. Ihre Arbeitsschwerpunkte sind sozial engagierte Kunst als Beziehungsarbeit, Solidarität, (Stadt)Räume, Institutionen und Repräsentation aus einer postkolonialen Perspektive. Sie war Koordinatorin u.a. für Kulturelle Bildung am Haus der Kulturen der Welt in Berlin und hat Kultur- und Politikwissenschaften an der Université Paris VIII studiert. Sie ist Mitglied des bildungsLab*, einem Kollektiv von migrantischen Akademikerinnen* und Akademikerinnen* of Color (bildungslab.net). 2023 ist sie als Nietzsche-Fellow der Klassikstiftung in Weimar.

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Rajkamal Kahlon ist eine in Berlin lebende US-amerikanische Künstlerin. Sie ist Professorin für Malerei an der Hochschule für bildende Künste in Hamburg und nutzt Zeichnungen und Malerei als Anschauungsmaterial für ästhetischen und politischen Widerstand, indem sie das nachwirkende Gespenst des Kolonialismus und die Ästhetik der Ethnografie durch Strategien der Unterbrechung und Collage in den Fokus rückt. Auf der Grundlage von Geschichte, Archivmaterial und Literatur unterzieht ihre Forschung archivarischen Ressourcen einem Prozess der kreativen Transformation. Joy Kristin Kalu studierte an der FU Berlin Theaterwissenschaft und Amerikanistik und promovierte mit einer Arbeit zur Ästhetik der Wiederholung (Transcript 2013). Ihr Interesse in Forschung und Theaterpraxis gilt dem experimentellen Gegenwartstheater in Deutschland und den USA, dem Spannungsfeld von Theater und Therapie und den Critical Whiteness Studies. Seit der Spielzeit 2017/18 arbeitet sie als leitende Dramaturgin an den Berliner Sophiensælen. Carmen Mörsch (Prof. Dr.) ist ausgebildet als Künstlerin, Kunstvermittlerin und Kulturwissenschaftlerin. 1994 – 2004 war sie freiberuflich an der Schnittstelle von Kunstproduktion und Bildungsarbeit tätig; 2004 – 2008 als Juniorprofessorin an der Fakultät Sprach- und Kulturwissenschaften der Carl von Ossietzky Universität Oldenburg; 2008 – 2018 als Leiterin des Institute for Art Education der Zürcher Hochschule der Künste. Seit 2019 hat sie die Professur »Kunstdidaktik« an der Kunsthochschule Mainz inne. Gemeinsam mit Nora Landkammer bildet sie das Kollektiv ear – education and arts research (http:// e-a-r.net/) und sie ist Mitglied des Netzwerks Another Roadmap for Arts Education. Saboura Manpreet Naqshband (sie/they) ist transdisziplinäre Politik-, Sozialund Kulturwissenschaftler:in, Künstler:in, Pädagog:in und Aktivist:in. Gegenwärtig promoviert sie zu dekolonial-feministischer Ästhetik und Bildung an der Universität der Künste, Berlin. Sabouras Schwerpunkte liegen in der Intersektion von Religion und (Queer-)Feminismus, Rassismuskritik und Postkolonialer Kultureller Bildung. They ist außerdem Mitgründer:in des Kollektivs ›Berlin Muslim Feminists‹ (BMF), Mitglied im postkolonialen bildungsLab*, intersektionale Strategie- und Projektberater:in, sowie Transformative Dance- und Empowermenttrainer:in.

Double Bind postkolonial: Autor:innen

Anja Quickert hat Neuere Deutsche Literatur, Theaterwissenschaft und Philosophie in Mainz, Bologna, Warschau und Berlin studiert. Sie schreibt als freie Autorin u.a. für »Theater heute«, ist Geschäftsführerin der Internationalen Heiner Müller Gesellschaft und freie Theatermacherin. Seit 2018 ist sie Teil der DFG-Forschungsgruppe »Krisengefüge der Künste«. Sie ist als Wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Universität Hildesheim angestellt und Gastdozentin im Bereich Bühnenbild an der Universität der Künste, Berlin. Alia Rayyan hat einen MA-Abschluss in internationaler Politik mit Schwerpunkt Naher Osten, Soziologie und Kunstgeschichte (Universität Hamburg, School of Oriental and African Studies, University of London) und promovierte an der Leuphana Universität in Kulturwissenschaft. Seit über 15 Jahren arbeitet sie als Kunstkritikerin, Autorin, Dozentin, politische Beraterin und Kuratorin in Berlin, Beirut, New York, Amman und Ramallah für internationale Kulturorganisationen und Kunstmagazine. Als Mitbegründerin des Kunstmagazins Bidoun für zeitgenössische Kunst aus der MENA-Region hat sie die Anfänge der neuen arabischen Kulturszene begleitet und deren Entwicklung verfolgt. Von 2013–2016 leitete sie die Al Hoash Gallery in Jerusalem, wo sie mit ihrem sozial engagierten Kunstprogramm und urbanen Interventionen einen neuen Schwerpunkt im Diskurs über die Rolle der Kunst in (öffentlichen) Konflikträumen setzte. Gegenwärtig arbeitet sie als wissenschaftliche Mitarbeiterin am HZK im Rahmen der Stiftungsprofessur für die Theorie und Praxis des interdisziplinären Kuratierens, gefördert von der Bundesbeauftragten für Kultur und Medien. Nina Simon ist Juniorprofessorin für Deutsch als Fremdsprache/Deutsch als Zweitsprache (DaF/DaZ) mit dem Schwerpunkt Kulturstudien am Herder Institut der Universität Leipzig und arbeitet zu DaF/DaZ-Fragestellungen sowie solchen der Kulturellen Bildung in der Tradition der Cultural Studies. Ruth Sonderegger ist Professorin für Philosophie und ästhetische Theorie an der Akademie der bildenden Künste Wien. Ihre derzeitigen Forschungsfelder sind: Konstitution und Geschichte der westlichen philosophischen Ästhetik im Kontext der ursprünglichen Akkumulation, Praxistheorien, Cultural Studies, kritische Theorien des Racial Capitalism und Widerstandsforschung. Gayatri Chakravorty Spivak ist University Professor für Geisteswissenschaften an der Columbia University in New York. Sie ist Literaturwissenschafter

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und sie ist Gründerin und Mitglied des Center for Comparative Literature and Society. Sie hat zahlreiche Ehrendoktortitel und erhielt 2012 den Kyoto Prize in »Thought and Ethics«, 2013 den Padma Bhushan der Republik Indien, 2018 den Lifetime Scholarly Achievement Award der Modern Language Association of America, 2023 den Distinguished Lifetime Achievement Award from Columbia University Asian Faculty Association (2023) erhalten. 1997 gründete sie das Pares Chandra and Sivani Chakravorty Memorial Education Project, eine Non-profit-Organisation, die eine qualitativ hochwertige Bildung für subalterne Kinder in Westbengalen anbietet. Nicole Suzuki ist Teil der kuratorischen Abteilung in der Kunsthalle Wien und leitet dort den Bereich Publikationen & Editionen. 2009 gründete sie den Verlag Zaglossus, den sie bis 2021 leitete. Sie ist promovierte Politikwissenschaftlerin und PhD-in-Practice-Kandidatin an der Akademie der bildenden Künste Wien. Thu Hoài Tran ist Theaterregisseur:in & Bildungsvermittler:in und arbeitet an der Schnittstelle von Theater, Wissenschaft & Empowerment. Bisherige Theaterarbeiten liegen im Bereich des partizipatorisch-politischen Theaters, die er:sie u.a. am Maxim-Gorki-Theater, Pathos München & Staatstheater Nürnberg verwirklichte. Wiederkehrende Elemente der künstlerisch-forschenden Arbeiten sind die performative Erprobung von Widerstandspraktiken innerund außerhalb der Theaterlandschaft und das Raum-Lassen für Wut und Trauer in Solidaritätsprozessen. Im Kontext der politischen Bildung gibt er:sie regelmäßig Vorträge und Workshops zu Themen wie Rassismuskritik, Intersektionalität und Empowerment.