Dorfgesellschaft im Wandel: Bevölkerungsentwicklung und Industrialisierung im Limbacher Land des 16. bis 20. Jahrhunderts [1 ed.] 9783412512354, 9783412510732

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Dorfgesellschaft im Wandel: Bevölkerungsentwicklung und Industrialisierung im Limbacher Land des 16. bis 20. Jahrhunderts [1 ed.]
 9783412512354, 9783412510732

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Sebastian Müller

DORFGESELLSCHAFT IM WANDEL Bevölkerungsentwicklung und Industrialisierung im Limbacher Land des 16. bis 20. Jahrhunderts

Sebastian Müller

DORFGESELLSCHAFT IM WANDEL Bevölkerungsentwicklung und Industrialisierung im Limbacher Land des 16. bis 20. Jahrhunderts

BÖHLAU VERLAG WIEN KÖLN WEIMAR

Bibliogra sche Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliogra e; detaillierte bibliogra sche Daten sind im Internet über http://portal.dnb.de abrufbar. Dissertation, Technische Universität Chemnitz, 2016

Umschlagabbildung: Die gebürtige Rußdorferin Milda Marie Nocht, geb. Lösch mit ihrer Familie, um 1914. Das Bild be ndet sich im Besitz des Autors.

© 2018 by Böhlau Verlag GmbH & Cie., Lindenstraße 14, 50674 Köln www.boehlau-verlag.com Alle Rechte vorbehalten. Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig. Korrektorat: Claudia Holtermann, Bonn Umschlaggestaltung: Satz + Layout Werkstatt Kluth, Erftstadt Wissenschaftlicher Satz: satz&sonders GmbH, Dülmen

ISBN 978-3-412-51235-4

„Erstaunlich, aber doch nicht völlig unverständlich.“ Meinem Vater Uwe Müller

INHALT

Vorwort

....................................................

9

1.

Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

11

1.1 1.2 1.3 1.4

Forschungsstand und Forschungsgeschichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Aufbau und Zielstellung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Quellen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Methodik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

12 15 18 20

2.

Sachsen im Mittelalter – ein Abriss . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

23

2.1 2.2

Ostkolonisation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Schwarzer Tod bis Reformation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

27 35

3.

Die Untersuchungsorte im Überblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

39

3.1 3.2

Rußdorf . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Bräunsdorf . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

39 60

4.

Geburtigkeit

............................................

81

4.1 4.2 4.3 4.4

Entwicklung der Geburtenzahlen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Saisonale Geburtenverteilung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Taufverhalten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Totgeburten und Nottaufen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

81 106 113 120

5.

Nuptialität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

135

5.1 5.2 5.3 5.4 5.4.1 5.4.2 5.4.3 5.4.4 5.5 5.6 5.7

Entwicklung der Heiratszahlen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Saisonale Heiratsverteilung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Heiraten nach Wochentagen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Heiratsalter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Voreheliches Leben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Lebenslange Ledigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Hochzeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Heiratsalter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Wiederheirat . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ehedauer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Heiratsmobilität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

138 164 171 176 178 184 187 188 202 212 218

6.

Sterblichkeit

239

6.1

Entwicklung der Sterbezahlen

............................................ ...............................

243

8

INHALT

6.2 6.3 6.4 6.5

Kriege, Hunger und Seuchen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Saisonale Sterblichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Epidemiologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Lebenserwartung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

253 270 277 292

7.

Familie

................................................

307

7.1 7.2 7.3

Generatives Verhalten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Familienplanung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Voreheliche Zeugungen, uneheliche Geburten . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

308 323 347

8.

Leben in der Dorfgemeinschaft

..............................

363

8.1 8.2 8.3

Soziostruktureller Wandel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Soziale Absicherungsmechanismen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ehepartnerwahlverhalten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

363 403 425

9.

Dörfliche Arbeitswelten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

441

9.1 9.2 9.2.1 9.2.2 9.2.3 9.3 9.3.1 9.3.2

Veränderungen des Berufsgruppenspektrums . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Akteure der Protoindustrialisierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Leinweber . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Leinwandhändler . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Strumpfwirker . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Akteure der Industrialisierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Fabrikanten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Fabrikarbeiter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

442 462 463 473 480 486 487 501

10.

Schlussbetrachtung

.......................................

509

Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

521

Tabellenverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

539

Abbildungsverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

541

Personenregister

545

..............................................

VORWORT

„‚Sie müssen dorthin blicken, [...] wo nach Seneca's Ausspruch alle Erdendinge am sichersten verwahrt sind!`“ 1 Die Krux für den Abwesenden oder Nachgeborenen liegt in der Unberühr- und -erfahrbarkeit der hier poetisch umschriebenen, so sicheren Vergangenheit. Jeder, der eine Rückschau halten möchte, sieht sich mit dem Problem konfrontiert, auf Relikte historischer Lebenswelten angewiesen zu sein, die nur einen unzulänglichen Eindruck des Gewesenen vermitteln können. Die Fragmentierung beginnt schon mit der subjektiven Wahrnehmung. Am schnellsten entschwindet zweifelsfrei das Alltägliche dem individuellen wie kollektiven Gedächtnis. Was sich in Routine beständig wiederholt, wird für gewöhnlich weder des Erinnerns oder Erzählens wert befunden noch explizit überliefert. Hingegen nden denkwürdige Ereignisse, Entwicklungen und „bedeutende“ Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens regelmäßig mindestens vorübergehend Eingang in die Erinnerungskultur. Die Vergangenheitsrezeption wird also vom Außergewöhnlichen geprägt, das Alltägliche aber bedarf besonderer Aufmerksamkeit. Die Faszination für das allzu Gewöhnliche, des Berichtens unwürdig Befundene, darum Vergessene und doch für ein Verständnis historischer Lebensrealitäten Unerlässliche, gab der vorliegenden Untersuchung zweier sächsischer Dörfer den Anstoß. Rasch geriet kirchliches und administratives Alltagsschriftgut in den Fokus, welches seit dem Spätmittelalter die rudimentären Ereignisse im Leben eines jeden Menschen innerhalb des Bezugsraums bürokratisch dokumentiert. Hierüber ließ sich einerseits das Grundgerüst der vergangenen menschlichen Lebenswelt rekonstruieren. Andererseits galt es, das Potential der genutzten Massenquellen für die Historiographie unter Verwendung elektronischer Datenbanken auszuloten. Naturgemäß ermöglichten zahlreiche Personen die Verwirklichung eines Forschungsvorhabens durch Hilfestellungen verschiedenster Art. Meinem Doktorvater Prof. Dr. Rudolf Boch danke ich für das langjährig in mich gesetzte Vertrauen, seine Förderung sowie die großen Freiheiten bei der Umsetzung meiner Forschungen. Ebenso gilt Herrn Prof. Dr. Miloš Rezník mein Dank für die Übernahme des Zweitgutachtens. Ohne die freundliche nanzielle Unterstützung der Gerda Henkel Stiftung wäre die Arbeit nicht denkbar gewesen. Ferner danke ich den Mitarbeitern aller genutzten Archive für die Unterstützung meiner Recherchen, besonders aber Frau Lorenz, Frau Dörffelt und Herrn Kirchner für manchen guten Hinweis. Nicht zuletzt bin ich meinen Eltern für das Freihalten meines Rückens einerseits, zahlreiche anregende Diskussionen, Beistand in technischen Fragen und das erste Lektorat andererseits außerordentlich dankbar. 1

Storm, Theodor, Zerstreute Kapitel. Kapitel X, in: Westermann, George (Hg.), Westermann's Jahrbuch der illustrierten deutschen Monatshefte, Bd. 31, Braunschweig 1872, S. 78–94, S. 82.

1. EINLEITUNG

Bis in die neueste Zeit herein galten die Kirchenbücher als Aschenbrödel unter den Denkmalen der Vorzeit. Man achtete sie für viel zu gering, als dass man sie wissenschaftlicher Prüfung und Verwertung für würdig gehalten hätte. Mit wenig Ausnahmen ist die Geschichtswissenschaft [...] ihre Wege gegangen, ohne sich um diese wertvollen Dokumente zu kümmern, deren Studium zur Kenntnis der Zustände der letzten vier Jahrhunderte unerlässlich ist [...]. 2

Obwohl die jüngere Sozialgeschichte unter anderem die kirchliche Überlieferung für sich entdeckt hat, erhält sie nebst manch weiterer alltagsgeschichtlicher Quellengattung längst nicht die verdiente wissenschaftliche Aufmerksamkeit. Geschichte wird keineswegs nur von mehr oder minder bekannten, in kollektiver Erinnerung verbleibenden „Gallions guren“ geschrieben. Jedermann trägt in seinen Handlungen, scheinen sie noch so profan, zum Angesicht der Welt ein Scherflein bei, ist gleichermaßen Kulturerschaffer wie -bewahrer und prägt das ungewisse Zukünftige in seiner Gegenwart. Er ist seinerseits der Erinnerung ebenso wert, fällt aber post mortem regelmäßig relativ rasch dem Vergessen anheim. Der einfache Mann von „gestern“ ist namenlos, gleich seiner Lebenswirklichkeit höchstens als Zerrbild Teil der Erinnerungskultur. Dabei können auf Grundlage entsprechender Aufzeichnungen theoretisch ganze historische Gesellschaften zumindest der Anonymität enthoben werden. Das isländische Íslendingabók gibt hierfür ein leuchtendes Beispiel. Die bis 740 reichende familienkundliche Überlieferung der weitgehend von äußeren Ein üssen frei gebliebenen Inselbevölkerung bietet, digital aufgearbeitet, wissenschaftlichen Untersuchungen unterschiedlichster Ausrichtung einen vorzüglichen Nährboden, wird etwa in der Erforschung von Erbkrankheiten seit Jahren intensiv genutzt, und rückt zugleich die toten Ahnen dank freien Zugriffs für jeden Isländer stärker in das öffentliche Bewusstsein. 3 Freilich bieten sich derartige Gesellschaftsrekonstruktionen vor allem für demographische Forschungen nachgerade an. Die vorliegende Fallstudie eifert etwa dem isländischen Vorbild im Kleinen nach. Sie betrachtet nicht von ungefähr die in unmittelbarer Nachbarschaft liegenden Dörfer Rußdorf und Bräunsdorf in Sachsen, von dem der Statistiker Felix Burkhardt schrieb, es sei „geradezu eine fast unerschöpfliche Fundgrube für tiefgreifende sozialwissenschaftliche Forschungen“ 4.

2 3

4

Blanckmeister, Franz, Die Kirchenbücher im Königreich Sachsen, Leipzig 1901. Vgl. Vaydylevich, Yekaterina, Iceland Study Provides Insights into Disease, Paves Way for Large-scale Genomic Studies, 2015, online: http://www.genome.gov/27561444/iceland-study-provides-insights-into-disease-paves-way-forlargescale-genomic-studies/ [zuletzt aufgerufen am 20.06.2016]. Burkhardt, Felix, Die Entwicklung der sächsischen Bevölkerung in den letzten 100 Jahren, in: Zeitschrift des Sächsischen Statistischen Landesamtes (ZSSL), 77. Jg., 1931, S. 1–69, S. 69.

12

EINLEITUNG

1.1 FORSCHUNGSSTAND UND FORSCHUNGSGESCHICHTE Die Geschichte der Demographie reicht bis ins 18. Jahrhundert zurück. Einer ihrer geistigen Väter, der preußische Pfarrer Johann Peter Süßmilch, verfolgte in seinem 1741 publizierten Werk Die Göttliche Ordnung in den Veränderungen des menschlichen Geschlechts den Anspruch, aus seiner überregional angelegten Untersuchung Vorschläge für eine optimale Sozial- und Landespolitik abzuleiten. So sehr Bevölkerungswachstum darin dem Zeitgeist entsprechend positiv bewertet wurde, so entschieden maß ihm Thomas Robert Malthus 1798 in seiner bis in die Gegenwart vielfach rezipierten und diskutierten Bevölkerungstheorie einen destruktiven Charakter bei. 5 Nehme die Bevölkerung auf natürliche Weise exponentiell, der ihr zur Verfügung stehende Nahrungsspielraum den Möglichkeiten entsprechend jedoch nur linear zu, seien Systemkrisen vorbestimmt. Provozierte repressive Korrektive restituierten ein ausgeglichenes Verhältnis zwischen Lebensmittelangebot und Populationsgröße. Um dergleichen private bis kommunale Notstände, die sich in England um 1800 bereits im sich ausbreitenden Pauperismus zeigten, zu vermeiden, mahnte Malthus präventive Regulative an, welche die Bevölkerungszahl auf ein gesundes Maß beschränken sollten. 6 Als eigene wissenschaftliche Disziplin etablierte sich die makroanalytisch vorgehende Bevölkerungsgeschichte trotz zwischenzeitlicher umfangreicher Diskussion des malthusianischen Theorems jedoch erst im späten 19. Jahrhundert. Seit den 1920er Jahren unterlag die Forschungsrichtung in Deutschland mit dem Erstarken völkischer, rassistischer und eugenischer Tendenzen einem Aufschwung und einer Umdeutung weg von ihrer traditionellen sozialgeschichtlichen hin zu einer biologischen Ausrichtung gleichermaßen. 7 Zwar motivierte dies nebst der im Nationalsozialismus einhergehenden Politisierung der Genealogie eine beispiellose Aufbereitung demographischer Primärquellen insbesondere in Form von Ortssippenbüchern, doch brachte ihr ideologischer Missbrauch die Disziplin im Deutschland der Nachkriegszeit auf Jahre in Verruf. Erlebte die Bevölkerungswissenschaft in der BRD ab den 1970er Jahren eine Renaissance, blieb sie in den ostdeutschen Ländern bis in die Gegenwart auf wenige, zumeist in territorialgeschichtliche Arbeiten eingebettete Untersuchungen beschränkt. 8 In Frankreich bildete sich demgegenüber noch in den 1940er Jahren in der AnnalesSchule eine neue Humanwissenschaft mikroregionalen Zuschnitts heraus. Ein Artikel Jean Meuvrets, der eine enge Verbindung hoher Getreidepreise und Krisensterblich-

5 6 7 8

Vgl. Brocke, Bernhard vom, Bevölkerungswissenschaft – Quo vadis?. Möglichkeiten und Probleme einer Geschichte der Bevölkerungswissenschaft in Deutschland, Opladen 1998, S. 37 ff. Vgl. Malthus, Thomas, An Essay on the Principle of Population, London 1798, S. 23 ff. Vgl. Ehmer, Josef, Bevölkerungsgeschichte und Historische Demographie 1800–2000, München 2004, S. 58. Vgl. P ster, Christian, Bevölkerungsgeschichte und Historische Demographie 1500–1800, München 1994, S. 60.

FORSCHUNGSSTAND UND FORSCHUNGSGESCHICHTE

13

keit im Frankreich des Ancien Régime attestierte 9, diente 1946 zur Initiationsschrift der Historischen Demographie. Pierre Goubert führte die Subsistenzkrisen-Theorie auf Grundlage durch Kirchbuchauswertungen gewonnener Daten Anfang der 1950er, freilich ob ihres Absolutheitsanspruches nicht unwidersprochen, weiter. 10 Beide Aufsätze regten zusammen mit einem umfangreichen Leitfaden der Familienrekonstitution Louis Henrys und Michel Fleurys 1956 insbesondere im französischen Raum zahlreiche historisch-demographische Regionalstudien an. 11 In der BRD vermochte etwa Gerhard Mackenroths Bevölkerungslehre 1953 trotz hervorragender Quellensituation keine vergleichbaren Reaktionen auszulösen. Erst Anfang der 1970er Jahre formierten sich in Berlin um Arthur Imhof sowie unter anderem um Hermann Weber und Walter Rödel in Mainz demographische Forschergruppen. Außerdem legte der Amerikaner John E. Knodel 1988 eine wegweisende Fallstudie unter Berücksichtigung von 14 über die Bundesrepublik verteilten Dörfern nach französischem Vorbild vor. 12 Eine Göttinger Gruppe um Jürgen Schlumbohm, Peter Kriedte und Hans Medick gab der deutschen demographischen Forschung Anfang der 1980er neuerliche, bis in die 1990er Jahre wirkende Impulse. Ausdrücklich in einem mikrohistorischen Rahmen agierend, stellten diese Forscher Bevölkerungsentwicklung in den Kontext von Wirtschaft und Gesellschaft. 13 Besondere Beachtung fanden hierbei die Ein üsse industrieller Entwicklung, die Protoindustrialisierung inklusive. Kaum ein Jahrzehnt zuvor hatte Franklin Mendels das Konzept einer „Industrialisierung vor der Industrialisierung“ begründet, ihre sozioökonomischen Rückwirkungen in den Blick genommen und zugleich am Beispiel Flanderns Korrespondenzen zwischen Heiratsfreudigkeit und Leinenpreisentwicklung festgestellt. 14 Seit den 1960er Jahren setzte schließlich Michael Mitterauer in Wien mit geradezu mikroskopischer Sicht auf einzelne Haushalte, Familien- und Personenschicksale neue Akzente. Dadurch begründete er die anfangs stark historischdemographisch orientierte Historische Familienforschung mit. 15 9 10 11 12 13

14 15

Vgl. Meuvret, Jean, Les crises de subsistances et la démographie de la France d'Ancien Régime, in: Population: revue bimestrielle de l'Institut National d'Études Démographiques, Bd. 1/1946, Paris 1946, S. 643–650. Vgl. Goubert, Pierre, En Beauvaisis: Problèmes démographiques du XVIIe siècle, in: Annales: économies, sociétés, civilisations, Nr. 7, Paris 1952, S. 453–468. Vgl. Imhof, Arthur E., Einführung in die Historische Demographie, München 1977, S. 19. Vgl. Knodel, John E., Demographic Behavior in the Past. A Study of Fourteen German Village Populations in the Eighteenth and Nineteenth Centuries, Cambridge 1988. Vgl. Kriedte, Peter, Eine Stadt am seidenen Faden, Göttingen 1992. – Kriedte, Peter /Medick, Hans/Schlumbohm, Jürgen, Industrialisierung vor der Industrialisierung. Gewerbliche Warenproduktion auf dem Land in der Formationsperiode des Kapitalismus, Göttingen 1977. – Medick, Hans, Weben und Überleben in Laichingen 1650–1900, Göttingen 1997. – Mooser, Josef, Ländliche Klassengesellschaft 1770–1848, Göttingen 1984. – Schlumbohm, Jürgen, Lebensläufe, Familien, Höfe, Göttingen 1994. Vgl. Mendels, Franklin, Industrialization and Population Pressure in Eighteenth-Century Flanders, Diss., Ann Arbor 1970, S. 270. Vgl. Ehmer, Josef /Hareven, Tamara K./Wall, Richard (Hg.), Historische Familienforschung. Ergebnisse und Kontroversen, Frankfurt a. M./New York 1997, S. 11f.

14

EINLEITUNG

Am Beginn des 21. Jahrhunderts ist die „Aufbruchstimmung“ der 1980er/1990er Jahre in der deutschen Forschung abgeklungen. Auf einer Tagung des Arbeitskreises Historische Demographie in Rostock beklagte Rolf Gehrmann die starke Fokussierung jüngerer Studien auf „hochspezialisierte quantitative Analysen“ bei Vernachlässigung der kulturell-ideologischen Komponente einer Bevölkerungsweise. Die bereits von Imhof in den 1970ern geforderte Verbindung mikro- mit makroregionalen bevölkerungsgeschichtlichen Ergebnissen sei weiterhin sträflich unterrepräsentiert. Schlumbohm riet in diesem Zusammenhang eine intensivere Einbeziehung nachgeordneter demographischer Quellen, zum Beispiel Volkszählungslisten, in Familienrekonstitutionen an. Darüber hinaus sprach er Studien zur Geschichte des Stillverhaltens und der personenbezogenen Eheanbahnung als Desiderate an. Im deutschen Raum seien nicht zuletzt weitere Mikroanalysen wünschenswert. 16 Solches gilt umso mehr für thematisch breit gefächerte, über die vergleichsweise oft bemühte Spezialisierung auf einzelne Größen oder Problemfragen der Bevölkerungswissenschaft hinausgehende, grundlegende Fallstudien. Heikel erscheint desgleichen der vielfache, mit geringerem Arbeits- und Zeitaufwand in der Vorbereitungsphase begründete Rückgriff auf vorhandenes, teils bereits ausgewertetes Datenmaterial. Doch auch über den inhaltlichen Aspekt hinausgehend – zum Beispiel entbehrt Deutschland bis in die Gegenwart einer zeitlich und räumlich umfassenden Bevölkerungsgeschichte nach englischem oder niederländischem Vorbild 17 – weist die deutsche Forschungslandschaft erhebliche zeitliche und räumliche Lücken auf. Viele Untersuchungen bleiben auf das in Personenstandsquellen relativ umfassend dargestellte 18. bis frühe 20. Jahrhundert 18 beschränkt und sparen die durch große Überlieferungslücken ungleich schwerer darstellbaren vorhergehenden zwei Jahrhunderte, für welche demographische Analysen in der Regel noch möglich sind, mutmaßlich dem zu erwartenden hohen Aufarbeitungsaufwand geschuldet aus. Ebenso erfuhren die Gebiete der ehemaligen DDR bislang untergeordnete Beachtung. Sachsen, das Vorreiterland der Industrialisierung in Kontinentaleuropa, stellt in dieser Beziehung nahezu einen weißen Fleck dar. Die bekanntesten der wenigen vorhandenen Beiträge lieferten Karlheinz Blaschke und Volkmar Weiss. Jener schrieb, gestützt auf Zinsregister, Einwohner-, Haus- und Herdstellenzählungen sowie die Zeitschrift des

16

17

18

Vgl. Gehrmann, Rolf, Tagungsbericht Bilanz und Perspektiven historisch-demographischer Forschung in Deutschland. 29. 10. 2009-30.10.2009, Rostock, in: H-Soz-u-Kult, 16. 01. 2010, online: http://www.hsozkult.geschichte.huberlin.de/tagungsberichte/id=2927 [zuletzt aufgerufen am 20. 06. 2016]. Vgl. Scho eld, R. S./Wrigley, E. A., The Population History of England 1541–1871, London 1981. – Wintle, Michael, An Economic and Social History of the Netherlands, 1800–1920. Demographic, Economic and Social Transition, Cambridge 2000. Nach dem Ersten Weltkrieg erschwerte die seit dem 19. Jahrhundert stark zunehmende Fluktuation Familienrekonstruktionen erheblich. Außerdem mögen Datenschutzbeschränkungen abschreckend wirken.

AUFBAU UND ZIELSTELLUNG

15

Sächsischen Statistischen Landesamtes eine Bevölkerungsgeschichte Sachsens 19, dieser untersuchte anhand von Ahnenlisten der Zentralstelle für Genealogie in Leipzig die räumliche und soziale Mobilität der sächsischen Bevölkerung. 20 Wenige zusätzliche kleinräumig ausgerichtete Arbeiten beschäftigen sich etwa mit der Bevölkerungsgeschichte des oberen Vogtlandes 21 oder der eines Bauerngeschlechts im Muldental 22. Zuweilen enthalten auch wissenschaftliche 23 und heimatkundliche Abhandlungen anderweitigen Zuschnitts bevölkerungsgeschichtliche Elemente.

1.2 AUFBAU UND ZIELSTELLUNG Die vorliegende Arbeit steht als historisch-demographische Untersuchung auf Basis sogenannter Familienrekonstitution gleichermaßen in der Tradition der französischen Schule wie früherer deutscher Kirchenbuchverkartungen. Ihre Zielstellungen sind zweierlei. Einerseits gilt es, die Abhängigkeiten zwischen Bevölkerungsweise, Gesellschaftsstruktur und Wirtschaftsentwicklung kleinräumig darzustellen. Andererseits soll die rechnergestützte Auswertung einer inhaltlich und formell nicht primär auf die statistischen Ansprüche einer demographischen Fallstudie abgestimmten Datenbank auf ihre Funktionalität hin geprüft werden. Die Auswahl der Untersuchungsorte erfolgte keineswegs beliebig. Rußdorf bildete vom 15. Jahrhundert an einen eigenen politischen und wirtschaftlichen Raum innerhalb seines Umlandes. Diese Sonderstellung beein usste seine Entwicklung nachhaltig, begünstigte die Gründung der frühesten Strumpfwirkerinnung im sächsischen Raum vor Ort und förderte seinen Aufstieg zum einzigen Industriedorf des Herzogtums SachsenAltenburg im späten 19. Jahrhundert. Dadurch stellt die Exklave, mit weit zurückreichender gewerblicher Vergangenheit typischer Vertreter des südwestsächsischen protoindustriellen Ballungsraumes und zugleich in einigen Merkmalen aus der Masse hervorstechend, ein exzellentes Forschungsobjekt dar. Das benachbarte Bräunsdorf, ein am

19

20 21 22

23

Vgl. Blaschke, Karlheinz, Bevölkerungsgeschichte von Sachsen bis zur Industriellen Revolution, Weimar 1967. – Blaschke, Karlheinz, Soziale Gliederung und Entwicklung der sächsischen Landbevölkerung im 16. bis 18. Jahrhundert, in: Zeitschrift für Agrargeschichte und Agrarsoziologie, Bd. 4, Frankfurt a. M. 1956, S. 144–156. Vgl. Weiss, Volkmar, Bevölkerung und soziale Mobilität. Sachsen 1550–1880, Berlin 1993. Vgl. Raunert, Margarete, Zur Bevölkerungsgeschichte des oberen Vogtlandes. Von der Besiedlung bis zum 18. Jahrhundert. Eine genealogische Untersuchung, Bd. 1, Berlin 1970. – Ebd., Bd. 2, Berlin 1975. Vgl. Streller, Karl, Die Geschichte eines nordwestsächsischen Bauerngeschlechtes im Verlaufe von drei Jahrhunderten. Ein Beitrag zur Erforschung einiger im Mündungswinkel der Mulden und an der Eula liegender Siedlungen sowie ihrer wirtschaftlichen and kulturellen Verhältnisse, Diss., Leipzig 1933. Vgl. Schirmer, Uwe, Das Amt Grimma 1485–1548, Demographische, wirtschaftliche und soziale Verhältnisse in einem kursächsischen Amt am Ende des Mittelalters und zu Beginn der Neuzeit, Beucha 1996. – Krauß, Jirko, Ländlicher Alltag und Kon ikt in der späten Frühen Neuzeit. Lebenswelt erzgebirgischer Rittergutsdörfer im Spiegel der kursächsischen Bauernunruhen 1790, Frankfurt a. M. 2012.

16

EINLEITUNG

sächsischen Industrialisierungsprozess nur mittelbar teilnehmendes ehemaliges Bleicherdorf, erscheint nicht minder interessant. An die Vorstellung der hauptsächlich verwendeten Quellen und der Auswertungsbzw. Analysemethoden schließt sich eine Einführung in den geographischen und regionalhistorischen Kontext der betrachteten Dorfschaften sowie ein Abriss ihrer Entwicklung an. Bevölkerungsweisen können nicht von ihrem Umfeld isoliert erklärt werden, weswegen dessen Kenntnis unerlässlich ist. Die quellenmäßig belegbaren Ortsgeschichten setzen prinzipiell erst in der Mitte des 16. Jahrhunderts ein. Um einen Eindruck der vorangegangenen Jahre zu vermitteln, wird die sächsische Geschichte zwischen hochmittelalterlicher Kolonisation des Gebiets und der Reformationszeit kurz dargestellt. Die nachfolgenden Perioden, unter anderem in den landesgeschichtlichen Abhandlungen Czoks, Blaschkes oder Gross' 24 sowie in wirtschafts- und sozialgeschichtlichen Darstellungen Forbergers, Kiesewetters, Schäfers und Karlschs 25 detailliert aufgearbeitet, werden dagegen an dieser Stelle vorrangig im lokalhistorischen Zuschnitt angesprochen. Der Hauptteil beschäftigt sich zunächst mit den zentralen demographischen Kenngrößen der Geburtigkeit, des Heiratens und des Sterbens in den Untersuchungsorten. Hierbei liegt das besondere Augenmerk auf der Identi zierung langfristiger Prozesse innerhalb der Bevölkerungsweise und der sozioökonomischen Entwicklung sowie Indizien der Wirksamkeit eines malthusianischen Systems bzw. dessen Aufhebung. Mehrere Veränderungen sind mit Hinblick auf prinzipiell repetitive Ergebnisse vergleichbarer älterer Studien zu erwarten. Industrialisierung begleitet demnach regelmäßig ein demographischer Übergang, ein grundlegender Wandel des Bevölkerungsverhaltens in konsequent eine Richtung weg von hohem Menschenumsatz durch hohe Mortalitäts- wie Geburtenraten hin zu einem durchgängig niedrigen Niveau dieser Kenngrößen. Frühe Beobachtungen des Phänomens motivierten das Theorem der demographischen Transition, welches neben dem zwingenden Auftritt einen konsequent gleichen Verlauf des Übergangs annahm. Zahlreiche Regionalstudien zeichneten ein differierendes Bild, sodass das Transitionskonzept seines Theoriecharakters beraubt nurmehr auf die Beschreibung eines diversitären Vorgangs reduziert wurde. 26 Das malthusianische System, dessen Existenz in der Forschung seit seinem Postulat umstritten ist, wird durch die Wirkung positiver und präventiver Regulative determiniert. Hinweise auf Letztere, in Geburtenbegrenzung durch aktive innerfamiliäre Reproduktionskontrolle oder Heiratsbeschränkungen zum Beispiel in limitierenden

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Vgl. Blaschke, Karlheinz, Geschichte Sachsens im Mittelalter, Berlin 1990. – Czok, Karl (Hg.), Geschichte Sachsens, Weimar 1989. – Gross, Reiner, Geschichte Sachsens, Leipzig 2001. Vgl. Forberger, Rudolf, Industrielle Revolution in Sachsen 1800–1861, Berlin 1982. – Karlsch, Rainer /Schäfer, Michael, Wirtschaftsgeschichte Sachsens im Industriezeitalter, Dresden/Leipzig 2006. – Kiesewetter, Hubert, Die Industrialisierung Sachsens. Ein regional-vergleichendes Erklärungsmodell, Stuttgart 2007. – Kiesewetter, Hubert, Industrielle Revolution in Deutschland. Regionen als Wachstumsmotoren, Stuttgart 2004. Vgl. Imhof, Einführung, S. 60ff.

AUFBAU UND ZIELSTELLUNG

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Ehegesetzgebungen oder einem festen Gerüst sozioökonomischer Stellen nach Mackenroth 27 funktionierend, gibt eine in ihrem Umfang relativ statische Gesellschaft. Hingegen deuten periodisch wiederkehrende, auf Progress folgende quantitative Einbrüche die Ersteren an. Derartige demographische Krisen, verursacht durch Hunger, Kriege oder Seuchen, sollten mit der Industrialisierung ebenfalls an Wirkung verlieren. 28 In diesem Zusammenhang steht auch Gouberts Subsistenzkrisentheorie bzw. die von ihm angenommene, ebenfalls alsbald als vereinfachend kritisierte direkte negative Korrespondenz von Getreidepreisen und Bevölkerungsentwicklung in vorindustrieller Zeit sowie die von Mendels gesehene positive Verbindung zwischen ökonomischer Entwicklung und Heiratsverhalten 29 zur Debatte. Nicht zuletzt wird die Zuordenbarkeit des Limbacher Landes zu John Hajnals Konzept des Western European Marriage Pattern, einem typisch westeuropäischen Muster später Heirat auf Grundlage eines variablen Systems vielgestalter Strukturelemente und soziokultureller Faktoren sowie infolgedessen proportional zur Einschränkung des potentiellen Fertilitätszeitraums verringerter Kinderzahlen je Frau, überprüft. 30 Das siebte Kapitel knüpft, die einmal konstituierte Familie inklusive des generativen Verhaltens in den Blick nehmend, daran thematisch an. Mit dem demographischen Übergang geht regelmäßig ein starker Rückgang der Familiengrößen einher. Neben dessen Verlauf in den Untersuchungsorten ist fraglich, ob diesen eine Ablösung unbewusster Fertilität durch allgemeine Familienplanung begleitete. Ein für Mütter zwischen ihrem 20. und 30. Lebensjahr entwickeltes Modell Anthony Wrigleys hilft, den Grad des menschlichen Eingriffs in die natürliche Reproduktion zu ermessen. Des Weiteren werden mögliche Ursachen des Aufschwungs der Kleinfamilie im 20. Jahrhundert, etwa die Wohlstandstheorie, diskutiert. Die beiden letzten Kapitel richten den Fokus auf die Wandlungsprozesse von Dorfgesellschaft und -ökonomie. Das Interesse gilt hierbei vorrangig der Darstellung und Erklärung sozialstruktureller Umformung sowie den sozioökonomischen Hintergründen von Protoindustrialisierung und Industrialisierung. Blaschke sah einen in der Frühen Neuzeit wachsenden Bevölkerungsdruck in Sachsen, der sich nach innen in einer Steigerung der Produktivkräfte entladen habe und zum Motiv der Industrialisierung geworden sei. 31 Volkmar Weiss verneinte demgegenüber eine Selbstreproduktion des ländlichen Proletariats als maßgeblicher Trägerschicht industrieller Entwicklung vor

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Vgl. Mackenroth, Gerhard, Bevölkerungslehre. Theorie, Soziologie und Statistik der Bevölkerung, Berlin 1953. Ehmer, Josef, Demographische Krisen, in: Jaeger, Friedrich (Hg.), Enzyklopädie der Neuzeit, Bd. 2, Beobachtung – Dürre, Stuttgart 2005, S. 899–908. Vgl. Mendels, Franklin, Proto-Industrialization. The First Phase of the Industrialization Process, in: The Journal of Economic History, Bd. 32, Nr. 1, The Tasks of Economic History, o. O. 1972, S. 241–261, S. 249 ff. Vgl. Hajnal, John, European Marriage Patterns in Perspective, in: Glass, David Victor /Eversley, David Edward Charles (Hg.), Population in History. Essays in Historical Demography, Bd. 1, London 1965, S. 101–143. Vgl. Blaschke, Bevölkerungsgeschichte, S. 235.

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EINLEITUNG

1870, jene als dessen Folge begreifend. Vielmehr habe die rurale Unterschicht bis ins späte 19. Jahrhundert als Auffangbecken der bäuerlichen Überschussbevölkerung gedient. 32 Ein die Analyseergebnisse zusammenfassender Vergleich der betrachteten Dörfer, in dessen Rahmen die Interdependenzen zwischen Bevölkerungsweise, Wirtschaft und Gesellschaftsstruktur herausgestellt werden, schließt die Arbeit ab.

1.3 QUELLEN Die vorliegende Studie stützt sich hauptsächlich auf die in den evangelischen Pfarrämtern der betrachteten Dörfer geführten und bewahrten Kirchenbücher. Diese kirchlichen Personenstandsregister, welche in katholischen Gebieten auf die Beschlüsse des Trentinischen Konzils 1563 bzw. das Rituale Romanum Papst Pauls V. 1614 sowie in evangelischen überwiegend auf die landesherrlichen Kirchenordnungen des 16. Jahrhunderts zurückgehen, verzeichnen bis in die Gegenwart vorrangig Kasualhandlungen, d. h. Taufen, Trauungen und Beerdigungen. 33 In Sachsen beginnt die ächendeckende Aufzeichnung in den 1530er Jahren – manches Mal unter erheblichen Beschränkungen etwa auf gewisse Stände oder nur Erwachsene in den Totenbüchern –, wurde aber erst in den sächsischen Generalartikeln 1557 obrigkeitlich verordnet. Die ältesten Verzeichnisse reichen in Annaberg bis 1498 und in Zwickau bis 1502 zurück. 34 In den meisten Gemeinden setzt die Überlieferung verlustbedingt deutlich später im 17. Jahrhundert, oft sogar erst nach dem Dreißigjährigen Krieg, ein. Die Datenqualität schwankt je nach Gusto des Verfassers immens. Zum Beispiel kann ein Taufeintrag inhaltlich auf die Namen des Vaters, des Täuflings und der Gevattern sowie den Tauftag beschränkt bleiben oder im anderen Extrem zusätzlich den Beruf und Stand des Vaters und der Gevattern, den Vor- und Geburtsnamen der Mutter, die Geburtsdaten und -orte der Eltern und des Täuflings nennen. Unter Umständen werden Totgeburten ausgespart und bestehen generell abhängig vom Entstehungszusammenhang Aufzeichnungslücken. Insbesondere ältere Register sind zudem nicht nur nicht vor üblichen Flüchtigkeitsbzw. Übertragungsfehlern im Sinne beispielsweise wechselnder Namen, sondern auch nicht vor fehlerhaften Referenzierungen auf andere Einträge etwa bei der Altersberechnung gefeit. Ab 1800 folgten die Einträge einem normierten Muster, welches eine hohe Standarddatenmenge einforderte und dieselbe zum Ende des 19. Jahrhunderts nochmals ausdehnte. Die Rußdorfer Kirchenbücher beginnen relativ früh, sind bis auf zwei

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Vgl. Weiss, Bevölkerung, S. 212ff. Vgl. Ribbe, Wolfgang /Henning, Eckart (Hg.), Taschenbuch für Familiengeschichtsforschung, Neustadt a. d. Aisch 1995, S. 113. Vgl. Blanckmeister, Franz, Die Kirchenbücher im Königreich Sachsen, Leipzig 1901, S. 38 ff.

QUELLEN

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Lücken bei den Beerdigungen 1638 und 1684–1686 ohne Unterbrechung überliefert und bieten bis ca. 1700 eine gute und hernach eine sehr gute Datenqualität. Die Bräunsdorfer Überlieferung beginnt aufgrund eines Brandschadens erst 1640, steht der Rußdorfer qualitativ jedoch nicht nach. Zwar spart sie Todesursachen bis 1800 weitgehend aus, verzeichnet aber von Beginn an in den Taufanzeigen die Mutternamen sowie bereits ab den 1660ern regelmäßig Berufe und Stände. Eine zweite Hauptquelle bilden die Zivilstandsregister. Diese von den Standesämtern auf Basis des am 1. Januar 1876 in Kraft getretenen Reichsgesetzes über die Beurkundung des Personenstandes und der Eheschließung geführten Akten lösten die Kirchenbücher in ihrer Funktion, die Eckpunkte des Lebens zu beurkunden, ab. Zwar sparen sie die kirchlichen Kasualhandlungen aus und verzichten auch auf die Angabe von Todesursachen, doch verzeichnen sie alle Personen bzw. Geburts-, Hochzeits- und Sterbeereignisse innerhalb ihres klar de nierten Einzugsbereichs ohne Ansehung religiös-weltanschaulicher Ausrichtungen und garantieren via uneingeschränkter gesetzlicher Meldep icht Vollständigkeit. Von Beginn an bieten die standesamtlichen Personenstandsdokumente eine hohe Datenqualität, indem sie Geburtsnamen, Berufe und Adressen einschließen. In der vorliegenden Untersuchung dienten die Zivilstandsregister in erster Linie zur Ergänzung der Kirchenbuchüberlieferung, da ab 1875 ein wachsender Bevölkerungsanteil auch infolge verstärkter Kirchenaustritte Meldungen an das Pfarramt unterließ. Zur Rekonstruktion der Dorfstrukturen respektive der ruralen Besitzverhältnisse wurde in erster Linie auf Gerichtsbücher, von den Ämtern geführte Verzeichnisse vor allem von Grundbesitzveränderungen, Vormundschafts- und Erbschaftssachen zurückgegriffen. In Sachsen reicht deren Überlieferung vom späten 15. Jahrhundert bis zur Bauernbefreiung Mitte des 19. Jahrhunderts, zahlreiche verlustbedingte Lücken inklusive. Daran schließen sich unter anderem Grund- und Hypothekenbücher ähnlichen Inhalts an. Als fünfte Hauptquelle der Arbeit fungieren die 1537 einsetzenden Jahresrechnungen des St.-Georgen-Stifts und Amts Altenburg, in denen unter anderem die bei Lehnreichungen fälligen Lehnwarenzahlungen verzeichnet wurden. Obgleich auf die nötigsten Fakten beschränkt, geben diese Aufzeichnungen wertvolle Hinweise zur Rekonstruktion der Rußdorfer Besitzfolgen bei Gerichtsbuchlücken in den frühen Jahren. Schließlich wurden zahlreiche weitere Akten unterschiedlichster Provenienz, darunter Steuerverzeichnisse, Ablösungsakten, Brandkataster und Gerichtsakten, Adressbücher und Einwohnerverzeichnisse, die Personendaten erhoffen ließen, ergänzend hinzugezogen.

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EINLEITUNG

1.4 METHODIK In Vorbereitung der eigentlichen Auswertung musste das zur Verfügung stehende Quellenmaterial erfasst und aufbereitet werden. Dem Anspruch folgend, die Daten auch in einem individuellen und familiären Kontext zu betrachten bzw. in Beziehung zueinander zu setzen, genügte eine bloße Aggregation nicht. Daher galt es, Personenbiographien zu erstellen, diese in Familien zu ordnen und dadurch die Gesellschaften der Untersuchungsorte über den betrachteten Zeitraum hinaus zu rekonstruieren. Die zeitliche Begrenzung der Arbeit orientiert sich dabei an den maßgeblichen Quellen. Mit ihrem Beginn 1582 markiert die Rußdorfer Kirchbuchüberlieferung den Anfang der demographischen Analyse. Ihr Ende 1935 ist an der Eingemeindung Rußdorfs nach Oberfrohna ausgerichtet. Anlässlich dessen ging das vormals separate lokale Standesamt in jenem des Nachbarorts auf und gleichsam die getrennte Registerführung verloren. Die notwendigen Daten aus den ab 1935 „gemischten“ Zivilstandsregistern zu extrahieren, hätte eine unbotmäßige Vervielfachung des Arbeitsaufwandes bedeutet und wurde daher unterlassen. Die Rußdorfer Kirchenbücher zwischen 1582 und 1964, deren Bräunsdorfer Pendants 1640–1997 und die Standesamtsregister beider Orte 1876–1935 wurden systematisch in Zehnjahresabschnitten von den Hochzeiten ausgehend über Geburten bis zu den Sterbefällen chronologisch ausgewertet und ad hoc mithilfe der freien Genealogiesoftware „Gramps“ in einer Datenbank erfasst. Eingang fanden Geburts-, Tauf-, Kon rmations-, Hochzeits-, Einsegnungs-, Sterbe- und Beerdigungsereignisse, Todesursachen und Berufs- bzw. Standesbezeichnungen mit dem Jahr des Auftretens bzw. ohne Jahresangabe bei postumen Nennungen. Schreibweisenvereinheitlichungen wurden an keiner Stelle vorgenommen. Im Gegenteil blieben auch orthographische Variationen nicht unberücksichtigt. Lediglich Taufpaten mussten dem ohnehin immensen Arbeitsaufwand geschuldet außer Acht gelassen werden. Die Daten wurden weitestmöglich im „Originalzustand“ gehalten; die Datenbank erfüllt somit ausschließlich ordnende Funktionen. Desgleichen wurde eine Vorabseparierung des Materials beider Untersuchungsorte, wenngleich getrennt analysiert, unterlassen, um eine Ergänzung des Quellenmaterials nicht zu unterbinden. Diese unkonventionelle Auswertungsmethode soll mittelbar das Potential vergleichsweise roher, losgelöst von starren räumlichen Grenzen erhobener (Kirchbuch-)Daten aufzeigen. Die der Studie zugrunde liegende nale Datenbankversion umfasst rund 44.000 Personen in ca. 18.500 Familien. In einem zweiten Arbeitsgang wurde diese, um eine prozedurale Auswertung zu ermöglichen, in eine relationale SQLite-Datenbank exportiert. Mittels eigens erstellter Abfragebefehle konnten die Daten problemorientiert extrahiert, aggregiert und analysiert werden. Die bemühte Vorgehensweise erlaubt im Vergleich zur herkömmlichen Familienrekonstitution, bei der die Auswertungsgrundlage zu Beginn fest auf gesetzte Kriterien

METHODIK

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erfüllende Bevölkerungsteile gewissermaßen fragestellungsunabhängig reduziert wird, zügige und bedarfsgerechte Variationen der genutzten Datenbasis. Prinzipiell lässt sich zudem die generell schwer fassbare Mobilität bei ausreichendem Material ohne explizite Voruntersuchungen selbst ortsgebunden messen. Der größte Vorteil liegt jedoch zweifelsohne in der Möglichkeit, theoretisch für beliebige Zeitpunkte fernab überlieferter Bevölkerungszählungen relativ akkurate, umfassende Gesellschaftsrekonstruktionen erstellen zu können. Zugleich unterliegt die Nutzung dieser Vorteile merklichen systematisch-technischen Schwierigkeiten. Lückenlose individuelle wie familiäre Biographien stehen und fallen mit der Ereignisdichte. Insbesondere für Familien- und Gesellschaftsuntersuchungen unverzichtbare vitalstatistische Momentaufnahmen bedürfen Extrapolationen, welche auf mindestens zwei Ereignisse derselben Verortung angewiesen sind. Existierte etwa lediglich für 1688 ein Beleg der Beschäftigung Christoph Helbigs als Richter in Rußdorf, könnte er ausschließlich in jenem Jahr in die Berufsstatistik in dieser Funktion ein ießen. Eine analoge Nennung 1667 erlaubt stattdessen, seine Tätigkeit auf 21 Jahre anzusetzen. Ebenso bleibt bei Personen ohne Geburts- oder Sterbedatum unklar, ab bzw. bis zu welchem Zeitpunkt sie im fraglichen Ort ansässig waren. Stellte dies auch die manuelle Auszählung vor Probleme, tritt bei der automatisierten die Komplikation irreführender Ereignisorte hinzu. Zufällig auswärtige Todesfälle oder dergleichen Hochzeiten erschließen sich dem menschlichen Auge rasch, nicht oder nur über Umwege aber der künstlichen Intelligenz. Dabei gilt freilich die Regel, je qualitativ umfangreicher das Datenmaterial, desto akkurater die Auswertung zu beliebigen Zeitpunkten. Parallel zu den Personenstandsregistern wurde die in beiden Untersuchungsorten 1671 einsetzende kontinuierliche Gerichts- und Grundbuchüberlieferung soweit möglich in Besitzfolgerekonstruktionen der lokalen Güter umgesetzt, um deren zahlenmäßige Entwicklung nachzuvollziehen und durch manuelle Bearbeitung Aussagen über gesellschaftlichen Wandel in Ergänzung der demographischen und ökonomischen Analyse auf Grundlage der Kirchenbücher und Standesamtsregister treffen zu können.

2. SACHSEN IM MITTELALTER – EIN ABRISS

Huius adventum leo rugiens cauda subsequenti impedire satagens, in silva, quae Miriquidui dicitur, montem quendam cum sagittariis prorsus intercluso omni aditu rmat. 35

Mit diesen Worten schildert Thietmar von Merseburg in seiner zwischen 1012 und 1018 verfassten Chronik nicht allein einen militärischen Schachzug Boles aw I. Chrobrys, allegorisiert als „Löwe“, während seines Kampfes mit dem ottonischen König Heinrich II. im Jahr 1004. Gleichzeitig charakterisiert er mittels einer Randbemerkung – quae Miriquidui dicitur – die böhmische Grenze des Erzgebirges in ihrer geographischen Beschaffenheit im ausgehenden Frühmittelalter. Der Begriff „Miriquidui“ hat seinen etymologischen Ursprung im altnordischen „Myrkviðr“, welches einen „Dunkelwald“ bezeichnet. 36 Thietmar wählte die Benennung nicht grundlos. Zu seinen Lebzeiten wies der stark bewaldete Erzgebirgsraum keinen signi kanten Besiedlungsgrad auf. Zudem war er territorialherrschaftlich nicht unumstritten. Die Ausdehnung des großen Urwaldes reichte weit ins Erzgebirgsvorland und schloss dabei zum Beispiel den Freiberger, Chemnitzer und Zwickauer Raum ein. Seine Westgrenze markierte die Zwickauer Mulde, wie eine auf den 30. August 974 datierende, in ihrer überlieferten Form gefälschte Urkunde 37 Kaiser Ottos II. nahelegt. Sie bezeugt die Schenkung eines Forstes „inter Salam ac Mildam uvios“ und „Siusili et Plisni provincias“ an die Kirche zu Merseburg, einschließlich des darauf haftenden Wildbanns, der aus dem offensichtlich benachbarten Erzgebirgswald wechselndes Wild einschloss: Qualescumque venationum species in his modo sint terminis vel nutriantur seu ex magna procedant silva, que Miriquido dicitur, ut sint nostra imperiali pace securae admodum auctoritative iubemus. 38

Das Untersuchungsgebiet im Bereich des heutigen Limbacher Landes zwischen Chemnitz und Zwickau befand sich zu Beginn des zweiten Jahrtausends demnach noch inmitten des großen, mindestens seit der Bronzezeit relativ unberührten Waldgebietes. Andreas Eichler berichtet zwar von einigen Funden stein- und bronzezeitlicher Werkzeuge und Waffenfragmente in Penig, Tauscha und Fichtigsthal, jedoch konnte bislang 35

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Lappenberg, Johann Martin (Hg.), Thietmari Cronicon, in: Pertz, Georg Heinrich, Monumenta Germaniae Historica inde ab anno Christi quingentesimo usque ad annum millesimum et quingentesimum, Hannover 1839, S. 723–871, S. 807. Vgl. Eggers, Martin, Myrkviðr, in: Beck, Heinrich/Geuenich, Dieter /Steuer, Heiko (Hg.), Reallexikon der Germanischen Altertumskunde, Bd. 20, Berlin 2002, S. 460–461, S. 460. Vgl. Dasler, Clemens, Forst und Wildbann im frühen deutschen Reich. Die königlichen Privilegien für die Reichskirche vom 9. bis zum 12. Jahrhundert, Köln/Weimar/Wien 2001, S. 21. Posse, Otto (Hg.), Codex Diplomaticus Saxoniae Regiae. Urkunden der Markgrafen von Meissen und Landgrafen von Thüringen 948–1099, Leipzig 1882, S. 255.

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SACHSEN IM MITTELALTER – EIN ABRISS

archäologisch noch kein Hinweis auf eine dauerhafte Ansiedlung zwischen Chemnitz und Zwickauer Mulde in vorchristlicher Zeit erbracht werden. 39 Ebenso konzentrieren sich die bislang nachgewiesenen bronzezeitlichen Befestigungen auf dem Territorium des modernen Freistaats Sachsen auf den ostelbischen Raum und das Gebiet längs der Elbe bis ins Mittelgebirge. Westlich der Elbe konnten ungleich weniger Schutzanlagen ausgemacht werden. Für den Bereich des Miriquidi fehlen sie völlig. 40 Ein ähnliches Bild ergibt der Blick auf die Verteilung von Bodenfunden aus der slawischen Siedlungsperiode. Nachdem die vor allem im Einzugsgebiet von Elster, Pleiße und Elbe lebenden Elbgermanen sowie die in der Oberlausitz ansässigen Odergermanen ihre Siedlungsräume in der Völkerwanderungszeit 41 westwärts verlassen hatten, rückten im 7. Jahrhundert slawische Ackerbauern nach. Lusizer und Milzener wanderten von Osten in die Lausitz ein, die aus Böhmen stammenden Chutizi, Daleminzer, Diedesi und Nisaner siedelten entlang der Elbe und im nordsächsischen Raum. 42 Wie André Thieme am Beispiel des Altenburger Umlands nachweist, 43 erfolgte die Landnahme zunächst entlang der Flüsse, wo die bäuerliche Bevölkerung die besten Böden vorfand. Mit dem Anwachsen der Bevölkerungszahl wurden ab dem 8. Jahrhundert von den Altsiedel ächen ausgreifend angrenzende Gebiete siedlungstechnisch erschlossen, wobei weiterhin für eine agrarische Produktion vielversprechende Lagen bevorzugt Berücksichtigung fanden. Erst gegen Ende des Frühmittelalters wichen die Siedler, mit hoher Wahrscheinlichkeit unter zunehmendem Bevölkerungsdruck, im großen Rahmen von den Wasserläufen in deren Umland und auf landwirtschaftlich weniger wertvolle Böden ab. 44 Dennoch blieb der Miriquidi bis ins 12. Jahrhundert hinein größtenteils von der slawischen Kulturraumschaffung unangetastet, wie bis in die Gegenwart an den Ortsnamen ablesbar ist. 45 Die menschliche Präsenz innerhalb des Urwaldes beschränkte sich bis zum Beginn der Ostkolonisation im 12. Jahrhundert auf den Verkehr entlang der Salzstraßen nach Böhmen sowie wahrscheinlich eher saisonal genutzte Weiler bzw. kleinere Ansiedlun-

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44 45

Vgl. Eichler, Andreas, Bürgertum und Industrie im Limbacher Land, Limbach-Oberfrohna 1999, S. 6. Vgl. Blaschke, Geschichte Sachsens, S. 38 ff. Blaschke grenzt die Abwanderung zeitlich auf die zweite Hälfte des 6. Jahrhunderts ein. Vgl. ebd., S. 41. Vgl. Groß, Reiner, Geschichte Sachsens, Leipzig 2001, S. 14. Thieme macht für das Altenburger Gebiet auf Grundlage einer Synthese aus archäologischen Befunden, onomastischer Typologisierung der Ortsnamen, Systematisierung der Siedlungsformen sowie der Analyse schriftlicher Quellen einen fünfstu gen sorbischen Siedlungsprozess aus: 1. Erstbesiedlung im 7. Jahrhundert, 2. u. 3. Ausbau der Altsiedel ächen im 8. u. 9. Jahrhundert bzw. im 10. u. der ersten Hälfte des 11. Jahrhunderts, 4. Frühkolonisation im späten 11. u. frühen 12. Jahrhundert sowie 5. Übergang zur Hochkolonisation im 12. Jahrhundert. Vgl. Thieme, André, Die Burggrafschaft Altenburg. Studien zu Amt und Herrschaft im Übergang vom hohen zum späten Mittelalter, Leipzig 2001, S. 141–147. Die Siedlungspraxis in den anderen slawischen Einwanderungsgebieten wird sich von dem Altenburger Modell kaum unterschieden haben, wobei der zeitliche Ablauf sicherlich variierte. Vgl. Thieme, Altenburg, S. 142ff. u. Blaschke, Geschichte Sachsens, S. 44 f. Vgl. Blaschke, Geschichte Sachsens, S. 48.

SACHSEN IM MITTELALTER – EIN ABRISS

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gen, wie zum Beispiel jene quellenmäßig belegbaren von Wolfsjägern im Raum des späteren Altchemnitz, Altendorf, Mühlau und Auerswalde. 46 Bis zum Beginn des 10. Jahrhunderts existierten die slawischen Stämme zwischen Saale und Neiße bzw. Oder politisch weitgehend souverän. Noch im 8. Jahrhundert unterstützen die Sorben fränkische Feldzüge gegen die Sachsen, ohne sich Karl Martell und seinen Nachfolgern, die ihren Herrschaftsbereich sukzessive bis zur Saale ausdehnten, zu unterwerfen. 47 Zu Beginn des 9. Jahrhunderts befanden sie sich allerdings selbst im Kampf mit Karl dem Großen, der die westlich der Elbe lebenden sorbischen Stämme 805/806 besiegte und sie zu Tributen und militärischer Unterstützung verp ichtete. 48 Zudem suchte er 805 über das Diedenhofener Kapitular den Handel mit den Besiegten zu regeln und etablierte die Saale als politische Grenze zwischen fränkischem und slawischem Herrschaftsgebiet. In der ersten Hälfte des 9. Jahrhunderts wurde im Saalegebiet eine sorbische Grenzmark, der Limes Sorabicus, zur Sicherung des Frankenreichs gegen die Sorben, die sich im Laufe des 9. Jahrhunderts mehrfach gegen jenes erhoben, eingerichtet. 49 Die politische Autonomie der Sorben endete im harten Winter 928/929 mit dem Feldzug des sächsischen Herzogs und deutschen Königs Heinrich I. gegen die im Havelland siedelnden Heveller. Nachdem er diese mit dem Ziel, die Ostgrenze seines Reiches gegen wiederkehrende ungarische Einfälle zu sichern, unterworfen hatte, zog er gegen die Daleminzier. Deren Widerstand und Souveränität endete mit Eroberung und Schleifung ihrer Burg Gana im Frühjahr 929. Die Milzener östlich der Elbe ereilte drei Jahre später das gleiche Schicksal. 50 Um seine Herrschaft in den neu erworbenen sorbischen Gebieten zu sichern und zu diesem Zweck Präsenz zu zeigen, ließ Heinrich I. Burgen, unter anderem die Burg Meißen an der Elbe, errichten, teilte die eroberten Gebiete in territorial noch nicht gefestigte Marken und setzte Markgrafen als deren Verwalter ein. Weiterhin wurden im Laufe des 10. und 11. Jahrhunderts unter vielfacher Nachnutzung der vorhandenen sorbischen Anlagen Burgwarde als niedere Verwaltungsbezirke geschaffen. Für den Raum östlich der Saale sind nach Blaschke etwa 50 51 derartige Burgbezirke nachweisbar, die in ihrer Funktion und Organisation bereits starke grundherrschaftliche Züge trugen. 52 Während Heinrich I. den eroberten slawischen Siedlungsraum als Pufferzone des Reiches gen Osten lediglich unter militärische Verwaltung in ein loses Abhängigkeits-

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Vgl. Richter, Jörn (Hg.), Von der Wolfsjägersiedlung zum Hightech Standort. Eine Chemnitzer Stadtteilgeschichte zu Altchemnitz und Umgebung, Chemnitz 2001, S. 10 f. Vgl. Czok, Karl (Hg.), Geschichte Sachsens, Weimar 1989, S. 70. Vgl. Groß, Geschichte Sachsens, S. 15. Vgl. Czok, Geschichte Sachsens, S. 71. Vgl. Blaschke, Geschichte Sachsens, S. 58 f. Czok geht dagegen von 100 Burgbezirken im Jahr 850 aus. Vgl. Czok, Geschichte Sachsens, S. 90. Vgl. Blaschke, Geschichte Sachsens, S. 59 ff.

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verhältnis setzte, suchte sein Sohn und Nachfolger Otto I. dieses Gebiet fest in das Reich zu integrieren und weiter nach Osten vorzustoßen. Diesem Ziel stand in erster Linie das Heidentum der Sorben im Weg. Im Rahmen der angestrebten Slawenmission strengte der ostfränkische König und ab 962 römische Kaiser die Errichtung einer kirchlichen Infrastruktur in den heidnischen Randgebieten an. Seine Bestrebungen resultierten 968 in der Stiftung des Erzbistums Magdeburg sowie der Bistümer Meißen, Merseburg und Zeitz auf der Synode von Ravenna, unter deren Verantwortung nun die Christianisierung der slawischen Bevölkerung el. In den Folgejahren entstanden zahlreiche Pfarrkirchen, mutmaßlich in erster Linie in örtlicher Verbindung mit den Burgwarden. Die Kirche konnte so im täglichen Leben der ansässigen Bevölkerung kontinuierlich Präsenz zeigen und unmittelbar auf diese einwirken. Zumindest formell schritt die Missionierung dadurch relativ rasch fort, sodass zur Jahrtausendwende östlich der Elbe vermutlich bereits ausschließlich getaufte Sorben lebten. Die Gesamtzahl der zu dieser Zeit in den Grenzen des heutigen Sachsens lebenden Bevölkerung schätzt Blaschke auf 20.000 53. 54 Um das Jahr 1000 zählten die Grenzmarken als erobertes Land nach altem deutschem Recht noch immer zum Reichsgut, das direkt dem König unterstand. Die Burgund Markgrafen fungierten weiterhin lediglich als königliche Verwalter. Obgleich die Mark Meißen das Gebiet des modernen Sachsens in der Zeit weitestgehend umfasste 55, stellte sie keineswegs einen vollkommen geschlossenen Herrschaftsraum mit gefestigten Herrschaftsansprüchen dar. Dem meißnischen Markgrafengeschlecht der Ekkehardiner war es zwar durch glückliche Heiratspolitik in der zweiten Hälfte des 10. Jahrhunderts gelungen, Frieden mit dem böhmischen Herzog Boles aw II. zu schließen, jedoch suchte der polnische Herzog Boles aw I. Chrobry nach Markgraf Ekkehard I. Tod 1002 die Westgrenzen seines Herrschaftsraums bis zur Saale zu verschieben. Die militärischen Auseinandersetzungen mit den Polen, in deren Verlauf diese unter anderem 1015 bis zur Burg Meißen vorstießen und 1018 die Niederlausitz und den Bautzener Raum eroberten, endeten erst 1031 mit dem Zweiten Frieden von Bautzen, der die deutsche Herrschaft in der Mark Meißen und der Lausitz endgültig bestätigte. 56

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Abermals weichen die Zahlen Czoks deutlich von jenen Blaschkes ab. Während Letzterer allerdings seinen Rechenweg schuldig bleibt und einzig auf den hochgradig spekulativen Charakter der angegebenen Zahl hinweist, orientiert sich Czok an der Burgbezirkszahl, für die er im Durchschnitt je zehn Siedlungen mit 20–30 Bewohnern annimmt. Diese Rechnung ergibt für 850 eine Bevölkerungszahl von 25.000 im Saale-Oder-Neiße-Gebiet. Um 1000 sei von einer Verdopplung auszugehen, denn die Burgwardszahl sei unverändert geblieben, jedoch habe sich die Siedlungszahl etwa verdoppelt. Vgl. Blaschke, Geschichte Sachsens, S. 66 u. Czok, Geschichte Sachsens, S. 90. Vgl. Blaschke, Geschichte Sachsens, S. 62 ff. Vgl. Bruckmüller, Ernst/Hartmann, Peter Claus (Hg.), PUTZGER. Historischer Weltatlas, 103. Au ., Berlin 2001, S. 60 f. (Karte). Vgl. Groß, Geschichte Sachsens, S. 16.

OSTKOLONISATION

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Der Vorerzgebirgsraum war zur Jahrtausendwende noch immer von ausgedehntem Urwald überzogen, unbesiedelt und somit ein herrschaftsfreier Raum, obgleich er de facto dem Königsgut angehörte. Doch selbst die besiedelten slawischen Stammesgebiete waren noch vor dem Jahr 1000 nicht mehr durchgängig dem König bzw. seinen Vertretern unterworfen. Vor allem die jungen Bistümer wurden mit königlichen Schenkungen in Form von Burgwarden bedacht, aus denen sie Naturalleistungen und Dienste bezogen. Des Weiteren kamen zum Beispiel die Markgrafengeschlechter, aber auch deutsche Kleinadlige nachweislich in den Besitz von Burgwarden als Eigengut. Diese im 10. Jahrhundert begonnene Partikularisierung der Grenzmarken setzte sich im 11. und 12. Jahrhundert unter maßgeblicher Beteiligung in das inzwischen befriedete Grenzgebiet vor allem aus dem Saaleraum zuwandernder Edelfreier und Ministerialer verstärkt fort. Von diesem Prozess war insbesondere die noch vor 1100 aufgelöste Mark Zeitz angesichts der daraus resultierenden Vakanz einer in Vertretung des Königs herrschenden Zentralgewalt betroffen. 57 Obwohl die gesellschaftliche Gruppe der Herrschaftsträger stetig wuchs und sich Herrschaft durch die Belehnung von Dienstmannen immer stärker differenzierte und intensivierte sowie steigende Erträge aus den besiedelten Gebieten einforderte, blieb der bis dato unerschlossene bewaldete Erzgebirgsraum bis ins späte 11. Jahrhundert unberührt. Augenscheinlich fand Bevölkerungswachstum in den bewohnten, ehemals sorbischen Siedlungslandschaften nicht in dem Maße statt, dass eine räumliche Expansion notwendig wurde. Diese Annahme deckt sich mit Blaschkes freilich hochgradig spekulativer Berechnung der Bevölkerungszahl in den Grenzen des heutigen sächsischen Gebiets für das Jahr 1100. Auf der Grundlage seines Historischen Ortsverzeichnisses Sachsens ermittelte er 1133 bestehende Ortschaften, von denen keine den dörflichen Maßstab überstieg. Bei Annahme einer durchschnittlichen Haushaltsgröße von fünf Personen errechnete er unter Berücksichtigung der für die nachweisbaren Orte annehmbaren Wohnlagenzahl eine Gesamtbevölkerung von 37.000 58, was das Bild einer noch relativ dünn besiedelten Region vermittelt.

2.1 OSTKOLONISATION Die Wende vom 11. zum 12. Jahrhundert stellt in der Geschichte Sachsens generaliter und in jener des Untersuchungsgebiets im Speziellen eine zentrale Zäsur dar. Während die vorangegangene, 929 beginnende Periode von der Eroberung der sorbischen Stammesgebiete sowie sukzessiver Etablierung eines feudalen Herrschaftsgefüges und vom Aufbau einer kirchlichen Infrastruktur nebst Missionierung der heidnischen Be57 58

Vgl. Blaschke, Geschichte Sachsens, S. 72 f. Vgl. Blaschke, Bevölkerungsgeschichte, S. 62f.

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völkerung geprägt war, ist der nachfolgende Zeitabschnitt bis 1300 durch exzessiven Landesausbau und Konsolidierung geschlossener Territorialherrschaften gekennzeichnet. Dem kurzzeitigen meißnischen und lausitzschen Markgrafen Wiprecht von Groitzsch († 1124) kam in diesem Zusammenhang eine in der Geschichtswissenschaft viel beachtete Rolle zu. Wiprecht, einer in der Altmark angesessenen Adelsfamilie entstammend, gelangte durch seinen Onkel und P egevater Graf Udo II. von Stade, welcher dessen Erbgut dagegen eintauschte, in den Besitz des Burgwards Groitzsch an der Weißen Elster. Dieser fungierte mindestens seit den 1080er Jahren als Wiprechts Stammsitz, von dem aus er zunächst zahlreiche kleinere Adelsherrschaften der Umgegend gewaltsam unter seine Ägide brachte und den er schließlich auch symbolisch durch die Verlegung und Neuerrichtung der Burg Groitzsch als Herrschaftssitz ausbaute. In den folgenden ca. 40 Jahren gelangte er durch Belehnungen und Heiratspolitik in den Besitz eines nicht unbedeutenden, allerdings unzusammenhängenden Herrschaftsbereichs. Dazu gehörten unter anderem die Burgwarde Colditz und Polkenberg, die Landschaften Bautzen und Nisane, das obere Muldental sowie das Gleisetal. Insofern vermag es wenig zu verwundern, dass er in den 1090ern in der Lage war, mit Pegau das erste Benediktinerkloster östlich der Saale zu gründen. 59 Obwohl Wiprecht Zeit seines Lebens mit seinen umfangreichen Besitzungen und durch geschickte Heiratspolitik sowie Parteigängerschaft mit dem salischen König Heinrich IV. eine herausragende Machtstellung im Gebiet östlich der Saale erreichte und seiner Familie damit gute Voraussetzungen zum Aufbau einer dauerhaften Landesherrschaft schuf, war sein Wirken auf lange Dauer eher in siedlungspolitischer Hinsicht von Bedeutung. Freilich lagen dem in erster Linie machtpolitische Erwägungen zugrunde. Große Teile seiner Besitzungen waren zu Beginn des 12. Jahrhunderts weitestgehend bewaldet. Insofern verfügte Wiprecht zwar über umfangreichen Territorialbesitz, vermochte ihn aber kaum zu nutzen. Die davon entfallenden Erträge, welche als Naturalabgaben oder Frondienste einzig auf dem kultivierten und zudem bewirtschafteten Land lasteten, elen im Verhältnis zu der von ihm besessenen Land äche mehr als gering aus. Daneben fehlte es an untergeordneten Herrschaftsträgern, die über ein Lehnsverhältnis einerseits militärische Macht versprachen, andererseits zum Erhalt des Landbesitzes unabdingbar waren. In unbesiedeltem Waldgebiet verschwommen die territorialen Grenzen zwangsläu g und waren ob ihrer Unbestimmtheit schwer gegen Eindringlinge bzw. anderweitige Besitzansprüche zu verteidigen. Sicher erkannte Wiprecht von Groitzsch diesen Zusammenhang seiner Zeit keineswegs als Erster bzw. Einziger. Immerhin manifestierten sich erste Besiedlungsbestrebungen, abermals auf sorbische Siedler aus der näheren Umgebung gestützt, östlich der Saale gegen Ende des 11. Jahrhunderts auch beim Kloster Saalfeld im Orlagau, unter Bischof 59

Vgl. Czok, Geschichte Sachsens, S. 98 f.

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Walram von Naumburg und dem Pegauer Abt Windolf. Unstrittig suchte Wiprecht aber, sicherlich nicht zuletzt in dem Bestreben, daraus gegenüber seinen Nachbarn politische, militärische und ökonomische Vorteile zu ziehen, zuerst, Landesausbau mit Menschen aus den deutschen Altsiedelgebieten zu betreiben. Eine Verbindung zu diesen bestand über seine Mutter Sigena von Leinungen, die in zweiter Ehe mit Friedrich I. von Pettendorf verheiratet war. 60 Dessen Herrschaftsbereich in Ostfranken entstammten wohl die ersten bäuerlichen deutschen Siedler, die Wiprecht um 1104 in seinen Herrschaften Groitzsch und Pegau zwischen Weißer Elster und Mulde ansässig machte. 61 Diese von den Groitzschern initiierte frühe Kolonisation blieb jedoch dem lokalen Rahmen verhaftet und für die deutsche Ostsiedlung insgesamt von geringem Belang. Ihre Bedeutung für die sächsische Landesgeschichte liegt eher im ideellen Bereich. Eine differente Konzeption und territoriale Ausrichtung bei faktisch gleicher Zielsetzung lag dem Siedlungsaufruf geistlicher und weltlicher Fürsten der Grenzmarken von 1108 zugrunde. Seit dem Slawenaufstand 983 war es den deutschen Fürsten nicht mehr gelungen, die Nordmark dauerhaft zu beherrschen. Um den Widerstand der slawischen Bevölkerung gegen die Usurpatoren endgültig zu brechen, sollten nun deutsche Siedler das umstrittene Gebiet sukzessive erobern und durch unmittelbare dauerhafte Besiedlung langfristig für das Reich sichern. Der Aufruf, den unter anderem auch Wiprecht von Groitzsch und der Erzbischof von Magdeburg unterstützten, wies in erster Linie eine militärische Ausrichtung auf, folgte aber gleichfalls dem Grundgedanken: keine Herrschaft ohne Beherrschte 62. Dem wenig Anklang ndenden Siedlungsaufruf von 1108 folgten im Laufe des 12. Jahrhunderts weitere deutlich erfolgreichere Aufrufe, zum Beispiel Albrechts des Bären oder der Grafen von Schauenburg. 63 Die vom exzessiven Landesausbau gekennzeichnete „Hohe Kolonisation“, als deren konzeptioneller Vorreiter Wiprecht von Groitzsch aufgetreten war, setzte ca. 20 Jahre nach seinem 1124 erfolgten Ableben ein. Im Unterschied zu allen früheren im Markengebiet stattgefundenen Siedlungsvorgängen griffen die Herrschaftsträger nun aktiv in das Siedlungsgeschehen ein und enthoben es seiner regionalen Ausrichtung sowie seiner weitestgehenden Strukturlosigkeit. Als zentrale Akteure traten in dieser Kolonisationsperiode die Wettiner, darunter vor allem die Markgrafen Konrad der Große und Otto der Reiche, die böhmischen Premyslidenherzöge sowie Friedrich I. Barbarossa 60

61 62

63

Vgl. ebd., S. 103, Walter, Hans, Namenkunde und geschichtliche Landeskunde, Leipzig 2004, S. 366 f. u. Thieme, André, Die herrschaftliche Grundlegung der hohen Kolonisation, in: Bünz, Enno (Hg.), Ostsiedlung und Landesausbau in Sachsen. Die Kührener Urkunde von 1154 und ihr historisches Umfeld, Leipzig 2008, S. 161–206, S. 161 ff. Vgl. Bünz, Enno, Die Rolle der Niederländer in der Ostsiedlung, in: Bünz, Ostsiedlung, S. 95–142, S. 122. „[...] gürtet euch, ihr starken Söhne, und kommt, all ihr Kriegsleute [...] Die Heiden sind schlimm, aber ihr Land ist sehr gut an Fleisch, Honig, Ge ügel und Mehl, und, wenn es bebaut wird, voller Reichtum der Ernten vom Lande, so dass ihm keins verglichen werden kann. [...] hier könnt ihr eure Seele retten und, wenn es euch so gefällt, das beste Land zum Bewohnen gewinnen [...]“; zitiert nach: Bünz, Ostsiedlung, S. 143. Vgl. Hardt, Matthias, Formen und Wege der hochmittelalterlichen Siedlungsgründung, in: Bünz, Ostsiedlung, S. 143–159, S. 143f.

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als Herr des erstmals 1172/1173 unter dieser Bezeichnung auftretenden Königslandes „Pleißenland“ (terra Plisnensis), dessen Verwaltung seit König Konrad III. Reichsministerialen oblag 64, auf. Freilich nahmen auch die Inhaber der kleineren Herrschaften ihren Mitteln gemäß an der Siedlungspolitik teil, galt es doch den eigenen Herrschaftsbereich in Konkurrenz zu den anderen kolonialen Mächten so weit wie möglich und strategisch sinnvoll auszubauen, um sich weiterhin behaupten zu können. 65 Zwar ging die Initiative für die Hohe Kolonisation von den Herrschaftsträgern, die sie faktisch auch organisierten, aus, jedoch wurde sie von der siedelnden Bevölkerung selbst getragen. Die Territorialherren wiesen Lokatoren vertraglich Waldstücke mit der Maßgabe zu, in den deutschen Altsiedelgebieten bäuerliche Siedler zu werben 66 und in die neue Heimat zu führen, wo sie die Urbarmachung und schließlich die Bewirtschaftung des neu erschlossenen Landes übernehmen sollten. Als Werbemittel dienten attraktive Vergünstigungen wie zum Beispiel mehrjährige Steuerbefreiung, langfristig vergleichsweise geringe Abgabenlasten sowie Landbesitz im Quantum mindestens einer Hufe pro Hofstelle zu relativ freiem Erbrecht innerhalb der sich konstituierenden Grundherrschaften, denen in der Regel die ehemaligen Lokatoren vorstanden. 67 Über die Herkunft der Siedler schweigen die schriftlichen Quellen zumeist. Sie geben eher über die Chronologie der Erschließungen, welche auch mit den Mitte des 12. Jahrhunderts zunehmenden Klostergründungen in Verbindung standen, Auskunft. Das Benediktinerkloster bei Chemnitz wurde 1136 von Kaiser Lothar III. gegründet und sieben Jahre darauf von Konrad III. mit einem Marktprivileg bedacht. 68 Wiederum sieben Jahre später schenkte der König dem Kloster Bürgel 100 Königshufen pleißenländisches Waldgebiet, wo daraufhin das Kloster Remse entstand. 69 Eine ähnliche Schenkung ist von Markgraf Otto dem Reichen überliefert, der dem Kloster Altzella 1162 800 gerodete Hufen überließ. Für das Jahr 1168 sind Rodungsvorgänge im Rochlitzer Raum und für 1173 bei Aue nachweisbar. 70 Im gleichen Zeitraum gründete Kaiser Friedrich

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67 68 69 70

Vgl. Thieme, Altenburg, S. 168f. Vgl. Thieme, Grundlegung, S. 182. Die ältere Forschung nahm als vorrangige Ursache für die Hohe Kolonisation einen starken Bevölkerungsüberschuss in den Altsiedelgebieten an. Diese Ansicht revidierte die jüngere Forschung insofern, dass sie die bäuerlichen Siedler als angeworbene Nutznießer einer territorialherrlichen Siedlungspolitik identi ziert. Ein potentiell vorhandener Bevölkerungsdruck kann freilich angesichts fehlender, in dieser Sache aussagekräftiger Quellen nicht ausgeschlossen werden, ist aber eher unwahrscheinlich. Schließlich hätte ein solcher die zahlreichen Vergünstigungen ad absurdum geführt, da er die Lebensverhältnisse der Bevölkerung derart verschlechtert hätte, dass eine Abwanderung zu gleichen Konditionen angenommen worden wäre. Zudem herrschte in den Abwerbungsgebieten Leibeigenschaft vor, in der Hofteilungen und damit auch ein übermäßiges Anwachsen der Bevölkerung von vornherein verhindert wurde. Vgl. Blaschke, Geschichte Sachsens, S. 82 ff. u. Bünz, Ostsiedlung, S. 187. Vgl. Kobuch, Manfred, Noch einmal: Die Anfänge der Stadt Chemnitz, in: Stadtarchiv Chemnitz (Hg.), Zur Entstehung und Frühgeschichte der Stadt Chemnitz, Chemnitz 2002, S. 26–35, S. 26. Vgl. Gemeinde Callenberg (Hg.), Das Klosterdorf am Kiefernberg. Aus der Geschichte von Grumbach, o. O. 2008, S. 8 f. Vgl. Blaschke, Geschichte Sachsens, S. 79.

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Barbarossa die Frühstadt Chemnitz. 71 Um 1200 wurde die Oberlausitz und 20 Jahre später die Westgrenze des modernen Freistaats Sachsen um Görlitz, Löbau und Kamenz von der Kolonisation erreicht. 72 Die Besiedlung des Pleißenlandes unter Führung Edelfreier und Reichsunmittelbarer begann auf Geheiß Friedrich Barbarossas in der zweiten Hälfte des 12. Jahrhunderts und ließ zum Beispiel die kleineren reichsunmittelbaren Herrschaften Auerswalde, Einsiedel, Erdmannsdorf, Lichtenwalde, Rabenstein, Schellenberg, Stollberg, Wolkenstein, Wiesenburg, Schwarzenberg, Waldenburg und Glauchau entstehen. 73 Zu den wenigen Schriftzeugnissen, welche Aussagen über die Herkunft der Siedler treffen, zählt die Kührener Urkunde des Meißner Bischofs Gerung von 1154. Diese nennt ausdrücklich Flamen als Neusiedler in Kühren bei Wurzen. Eine weitere Quelle von 1186 spricht für Taubenheim bei Meißen von fränkischen Siedlern. 74 Anhand von Ortsnamen und geltenden Rechtsverhältnissen lassen sich neben Flamen und Franken auch Sachsen und Thüringer als zahlenmäßig bedeutsame Volksgruppen unter den Ostsiedlern nachweisen. 75 Die Kolonisatoren entstammten mehrheitlich dem bäuerlichen Milieu, wurden teilweise aber auch aufgrund zur Erschließung benötigter Fähigkeiten gezielt angeworben. Vermutlich betraf dies in erster Linie die ämischen Siedler, deren Fachwissen bei der Melioration von Sümpfen und Flussauen nachgefragt wurde. Eine weitere, wenngleich nur bedingt zu den Erstsiedlern zu zählende Gruppe gezielt angeworbener Facharbeiter bildeten aus dem Harz stammende Bergleute. Kurz nach der Gründung des Dorfes Christiansdorf im markgräflich meißnischen Herrschaftsbereich gelegen, wurden dort 1168 Silbererzfunde gemacht, an denen sich das „Erste Berggeschrey“ entspann. Das außerordentliche wirtschaftliche Potential dieser Entdeckung erkennend, förderte Markgraf Otto, später „der Reiche“ genannt, die rasche Erschließung des Geländes und den Aufbau einer prosperierenden Montanregion. Um ef ziente Erschließung, Abbau und Weiterverarbeitung des Silbererzes zu gewährleisten, wurden Fachkräfte angesiedelt, obgleich es die von Markgraf Otto in Kraft gesetzte Bergbaufreiheit jedermann gestattete, mit begründetem Verdacht überall nach Erz zu schürfen. Zudem wurden die Berg- und Hüttenleute von jeglicher grundherrschaftlichen Bindung freigestellt und genossen signi kante steuerrechtliche Vorteile gegenüber den landwirtschaftlich Tätigen. Die sich bildende immense Wirtschaftskraft des jungen Bergbaustandorts beschleunigte gepaart mit dessen überregional wirkender 71 72 73 74 75

Vgl. Kobuch, Anfänge, S. 28. Vgl. Blaschke, Geschichte Sachsens, S. 79. Vgl. Czok, Geschichte Sachsens, S. 110. Vgl. Blaschke, Geschichte Sachsens, S. 79 f. u. Bünz, Ostsiedlung. Auf ämische Siedler verweisen zum Beispiel ganz offenkundig Ortsnamen wie Flemmingen und spezi sche Rechtsbräuche im Raum Leipzig. Namen wie Frankenhausen, Frankenstein, Frankenau oder schlicht Franken lassen fränkische Gründer annehmen. Zudem galt in weiten Teil Sachsens fränkisches Erbrecht. Orte wie Sachsenburg oder Sachsendorf sind leicht als sächsische Siedlungen zu identi zieren. Auf Thüringer weisen schließlich, wenn auch weniger offensichtlich, Spezi ka in der Ortsnamenform hin. Vgl. Blaschke, Geschichte Sachsens, S. 79 f.

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enormer Bevölkerungsanziehungskraft seine Entwicklung entscheidend. 76 Noch in den 1170er Jahren war aus den zehn bis 20 Jahren zuvor in diesem Gebiet auf Rodungsächen entstandenen Waldhufendörfern die Stadt Freiberg geworden, die sich bereits gegen Ende des 12. Jahrhunderts mit der Größe des zeitgenössischen Leipzigs, welches 1165 Stadt- und Marktrecht von Gnaden Markgraf Ottos erhalten hatte, messen konnte. Mit dieser rasanten Entwicklung nahm die Bergstadt Freiberg unter den Kolonistensiedlungen freilich eine absolute Ausnahmestellung ein. Im regulären Siedlungsgeschehen mündete eine bäuerliche Landerschließung wie jene Christiansdorfs in der Etablierung dörflicher Strukturen in gerichtsherrschaftlicher Bindung. Der Aufbau der neu gegründeten Dörfer folgte an den agrarischen Wirtschaftsmethoden ihrer Bewohner orientierten Mustern, trug aber gleichzeitig den lokalen geographischen Gegebenheiten Rechnung. Da die bäuerlichen Siedler die Produktionsweisen aus ihren Heimatgebieten mitbrachten und die Kulturraumschaffung auf dieser Basis betrieben, unterschieden sich deren Siedlungsstrukturen deutlich von jenen der bereits ansässigen Slawen. Letztere betrieben mit dem hölzernen Hakenp ug Feldgraswirtschaft 77 auf ihren unregelmäßig in blockförmige Feldstücke unterteilten Fluren, die sich den weiler- bzw. rundweilerartigen Dörfern angliederten und, sofern sich eine Ortschaft nicht in bereits völlig durchsiedeltem Gebiet befand, keinen festgefügten Begrenzungen unterlagen. Die deutschen Kolonisatoren arbeiteten dagegen mit schwereren eisernen Räderp ügen, deren Nutzung erst eine Bewirtschaftung der lehmigen Böden des Erzgebirgsvorlandes und Erzgebirgsraums selbst ermöglichte. Für die slawischen parzellierten Fluren waren diese Ackergeräte ob ihrer geringen Wendigkeit denkbar ungeeignet. Dagegen war der Typus der in den deutschen Altsiedelgebieten verbreiteten Gewann ur 78 auf die Arbeit mit Räderp ügen zugeschnitten und wurde gleich der dort üblichen, effektiveren Dreifelderwirtschaft in die neuen Siedlungsräume importiert. Der kolonisatorische Vorstoß in die Erzgebirgslandschaft motivierte jedoch Veränderungen der tradierten Flurteilungspraxis. Die Gewanne eigneten sich eher für die achen Landschaften des heutigen nordsächsischen Gebiets, während sie sich im hügeligen Erzgebirgsvorland deutlich schwerer bemessen ließen. Deswegen teilten die dort Siedelnden ihre Dorf uren in breitere Streifen, sogenannte Gelänge, ein. Für den Erzgebirgsraum erwies sich gleichwohl auch der Gelänge ur-Typus, welcher wie die Gewannur regelmäßig in Verbindung mit Straßen- und Straßenangerdörfern sowie Rundlingen entstand, als unzweckmäßig. Ergo bildete sich mit dem Waldhufendorf eine dritte, dem Gelände angepasste Dorfform heraus, bei der die Höfe dem zugehörigen Land direkt

76 77 78

Vgl. Groß, Geschichte Sachsens, S. 22. Vgl. Rösener, Werner, Agrarwirtschaft, Agrarverfassung und ländliche Gesellschaft im Mittelalter, München 1992, S. 20. Vgl. Blaschke, Geschichte Sachsens, S. 92 ff.

OSTKOLONISATION

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angegliedert wurden, was bei Anwendung der vorgenannten Flurstrukturierungstypen eher die Ausnahme blieb. Ungeachtet der jeweiligen Siedlungsform folgte die Verteilung des erschlossenen Landes einer Siedlergruppe immer denselben Regeln. Jede Kolonistenfamilie erhielt innerhalb der jeweiligen Gemarkung insgesamt eine Hufe Landes gleichen Umfangs, wobei die Hufengröße von Siedlung zu Siedlung variieren konnte. In Anbetracht der nachweislichen Dominanz des fränkischen Rechts im Gebiet des modernen Sachsens ist aber prinzipiell von einer ächendeckenden Orientierung am fränkischen Hufenmaß bei Aufteilung der Dorf uren auszugehen. Eine Hufe sollte größenunabhängig die Versorgung der bewirtschaftenden Familie sichern und idealiter einen Produktionsüberschuss ermöglichen. Jede Hufe eines Dorfes wurde mit speziellen Gemeinderechten sowie Steuern, Naturalleistungen oder auch Arbeitsp ichten belegt, die landbesitz-, aber nicht personengebunden waren. Die Siedler erhielten ihr Land in freiem Erbzinsrecht zu Lehen, waren demnach nicht in Leibeigenschaft an ihren Grundherren gebunden. Nach fränkischem Recht galt zudem im Erbfall das Realteilungsprinzip, demzufolge das Land unter allen männlichen bzw., bei deren Fehlen, unter allen weiblichen Erben aufgeteilt wurde. Neben den bäuerlichen Hufen gehörte zu jedem der Kolonistendörfer ein von allen landbesitzenden Bewohnern gemeinschaftlich genutztes Allmendestück. Sofern eine Kirche im Ort erbaut wurde, erhielt diese gleichfalls eine Hufe Land und auch dem Grundherrn, sofern er vor Ort residierte, stand ein Teil der Flur, meist mehrere Hufen, als in der Regel von den landbesitzenden Grundholden zu bewirtschaftendes Areal zu. In ihrer Größe konnten sich die Siedlerdörfer beträchtlich unterscheiden und von einer Handvoll bis über 50 Hufen reichen. Die Majorität der dörflichen Siedlungen bewegte sich aber im Rahmen von 10–40 Gütern. 79 Völlig anderen Regeln folgte die in der ersten Hälfte des 12. Jahrhunderts auf dem Gebiet des modernen Sachsens einsetzende Entwicklung städtischer Strukturen. Von wenigen Ausnahmen abgesehen gingen die hochmittelalterlichen Städte aus Kaufmannssiedlungen, teilweise mit einer lokalen Konzentration handwerklicher Produktion in Verbindung stehend, hervor. Zwar waren die Grenzmarken schon lange vor Beginn des dortigen Landesausbaus bzw. selbst vor der deutschen Eroberung der sorbischen Stammesgebiete von kontinuierlich frequentierten Fernhandelsstraßen durchzogen, jedoch rechtfertigte ihre dünne Besiedlung und das gänzliche Fehlen früher wirtschaftlicher Ballungsräume innerhalb der Grenzmarken dort keine dauerhaften Niederlassungen von Fernhändlern. Erst mit der Bevölkerungszunahme infolge des zunächst intensiven Landesausbaus östlich der Saale sowie einer gleichzeitigen Erhöhung der agrarischen Produktivität entstand eine ausreichende Nachfrage nach Alltagsgütern,

79

Vgl. ebd., S. 101f.

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die nur über Fernhändler bezogen werden konnten, um deren dauerhafte Ansiedlungen entlang der Handelswege zu motivieren. 80 Bis 1150 entwickelten sich im Gebiet von Saale, Elbe und Neiße etwa 20 Kaufmannssiedlungen in günstigen geographischen Lagen wie zum Beispiel Flussübergängen und durchweg in der Nähe von Burgen und Klöstern als Herrschaftszentren, die auch regelmäßig von der dienst- und abgabenp ichtigen Landbevölkerung der Umgebung aufgesucht werden mussten. 81 Das spätere, hierin bereits angelegte arbeitsteilige Wirtschaftsverhältnis zwischen Stadt und Land fußte auf zwei grundlegenden Bedingungen: Kaufleute wie Handwerker waren auf Abnehmer ihrer Waren, also auf eine nanzkräftige Bevölkerung im Umkreis der festen Märkte bzw. der handwerklichen Produktionsstätten angewiesen. Die als Hauptabnehmer der dort vorrangig gehandelten Waren des täglichen Bedarfs infrage kommende quantitativ dominante Landbevölkerung musste gleichzeitig in der Lage sein, das notwendige Kapital durch Erwirtschaftung von Überschüssen zu erlangen. Dies wurde durch die im Zuge der Ausdehnung des Handels während der Kolonisationszeit aufkommende Geldwirtschaft, der sich auch die Grundherren anpassten, ermöglicht. Naturalleistungen und Arbeitsdienste wurden ab dem 12. Jahrhundert sukzessive durch Grundrenten ersetzt. Grundherrschaftlich gebundene Landbewohner hatten somit nicht nur die Möglichkeit, ihren auch durch Verbesserung der Anbaumethoden erzielten Produktionsüberschuss in Geldmittel umzusetzen, sondern waren durch ihre Verp ichtungen gar dazu gezwungen. Als Abnehmer der landwirtschaftlichen Produkte traten wiederum vorrangig Gewerbetreibende und Händler in Erscheinung. Durch die kolonisatorische Erschließung des bis dato weitgehend unbesiedelten Gebiets zwischen Saale und Neiße im 12. und 13. Jahrhundert wurde ein neuer Absatzmarkt geschaffen. Handwerker und Kaufleute folgten den bäuerlichen Siedlern. Doch obgleich sich an deren Siedlungsplätzen städtisch anmutende Strukturen herausbildeten, entbehrten diese eines entscheidenden verfassungsrechtlichen Elements. Erst das Stadtrecht enthob eine Siedlung dem ruralen Rahmen und untermauerte deren Sonderstellung gegenüber dem Umland mittels Privilegien auch de jure. Das wirtschaftliche und politische Machtpotential einer Stadt entdeckten im 13. Jahrhundert auch die Territorialherren östlich der Saale für sich und reihten sich mit zahlreichen Stadtrechtsverleihungen in eine gesamteuropäische Bewegung ein. 82 Sowohl die hochmittelalterliche Blüte des Städtewesens als auch Ostkolonisation und Landesausbau wären sicher ohne die Klimagunst des 12. und 13. Jahrhunderts in dem geschehenen Maße undenkbar gewesen. Eine Wärmeperiode ermöglichte zu dieser Zeit in ganz Europa eine Zunahme der Bevölkerung auf das Zwei- bis Dreifache ihres vor-

80 81 82

Vgl. ebd., S. 111ff. Vgl. ebd., S. 114f. Vgl. ebd., S. 115f.

SCHWARZER TOD BIS REFORMATION

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herigen Niveaus, wohingegen sie bis ins 11. Jahrhundert vermutlich nur ausgesprochen langsam gewachsen war. 83 Gleichzeitig ereignete sich eine überregionale Agrarrevolution. Sich stark ausbreitende und teilweise weiterentwickelte bekannte Agrotechniken, darunter die Dreifelderwirtschaft und der Hakenp ug, sowie der Anbau neuer Kulturen, zum Beispiel von Hülsenfrüchten, ließen die landwirtschaftlichen Erträge steigen, führten zu einer allgemein verbesserten Nahrungsmittelversorgung und begünstigten die Bevölkerungsexpansion zusätzlich. 84 Dadurch freigesetzte demographische Kräfte ermöglichten erst sowohl jene umfängliche Kolonisation der Grenzmarken des Heiligen Römischen Reiches als auch die gleichzeitige Blüte des Städtewesens. Zwischen Saale und Neiße stieg die Bevölkerung bis 1300 auf etwa 395.000 Personen an, wobei sich Stadt- und Landbevölkerung in der Wendezeit zum 14. Jahrhundert vermutlich im Verhältnis 1:4 gegenüberstanden. 85 Zu dieser Zeit war die Besiedlung des Gebiets weitgehend abgeschlossen und selbst der ehemals stark bewaldete Erzgebirgsraum ächendeckend kolonisiert und infrastrukturell versorgt. Analysen sächsischer Flurkarten von 1840 legen nahe, dass die abgebildeten Dorf uren ob ihrer regelrechten Einteilung in Hufen weitestgehend noch immer das endkolonisatorische Siedlungsgefüge widerspiegelten, bei dem bereits durchgängig Gemarkung an Gemarkung stieß. 86 Inmitten des agrarwirtschaftlich dominierten Gebiets hatten zudem bis Ende des 13. Jahrhunderts 103 Siedlungen das Stadtrecht erhalten. Unter diesen wiesen allerdings nur 28 mehr als 1000 und nur neun mehr als 2000 Einwohner auf. Lediglich Görlitz und das vom Silbererzbergbau pro tierende Freiberg erreichten mit einer Bevölkerung von jeweils 5000 Personen den sächsischen Höchstwert. 87

2.2 SCHWARZER TOD BIS REFORMATION Zum Beginn des 14. Jahrhunderts hatte die hochmittelalterliche Wärmeperiode ihren Höhepunkt überschritten, dennoch herrschten in Europa weiterhin vergleichsweise gute Bedingungen für die demographische Entwicklung. In diesem Kontext ist auch für die Zeit nach 1300 zunächst von einer Fortführung des erheblichen Bevölkerungswachstums auszugehen, wovon die Gebiete östlich der Saale sicherlich nicht auszunehmen sind. Über den Verbleib des so zwangsläu g entstandenen Bevölkerungsüberschusses kann jedoch nur spekuliert werden. Wie die Flurkarten des 19. Jahrhunderts belegen, 83 84 85 86 87

Vgl. Abel, Wilhelm, Agrarkrisen und Agrarkonjunktur. Eine Geschichte der Land- und Ernährungswirtschaft Mitteleuropas seit dem hohen Mittelalter, Hamburg u. Berlin 1978, S. 31ff. Vgl. Rösener, Agrarwirtschaft, S. 19ff. Vgl. Blaschke, Bevölkerungsgeschichte, S. 70. Vgl. ebd., S. 71ff. Vgl. ebd., S. 131.

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fand in diesem Raum offensichtlich keine zahlenmäßig ins Gewicht fallende Partikularisierung ländlichen Grundbesitzes bzw. keine signi kante Zunahme der Hofstellen statt. Mit hoher Wahrscheinlichkeit zogen die Städte mit ihren generell höheren Sterberaten große Teile der „überschüssigen“ Landbevölkerung an. Eine weitere Gruppe suchte ihr Glück vermutlich in der noch immer gen Osten fortschreitenden deutschen Kolonisationsbewegung. 88 Dem 200-jährigen Bevölkerungswachstum des Hochmittelalters setzte schließlich, nach bereits rückläu gen Wachstumsraten während des frühen 14. Jahrhunderts 89, eine gesamteuropäische demographische Krise bis dato unbekannten und erst mit den Weltkriegen des 20. Jahrhunderts wieder erreichten Ausmaßes ein Ende. Aus Zentralasien kommend, breitete sich die Pest 1346 zunächst nach Osten aus und gelangte 1347 über Fernhändler auch in die Küstenstädte des Mittelmeers. Von dort aus drang die Seuche ins Hinterland vor. Der hochansteckenden, meist tödlich verlaufenden Krankheit hatte die europäische Bevölkerung wenig entgegenzusetzen. Wo der Schwarze Tod ausbrach, hielt er unter allen gesellschaftlichen Schichten „reiche Ernte“. Binnen fünf Jahren starb schätzungsweise ein Drittel bis die Hälfte der Europäer. Zeitgenössische Chronisten berichten von Sittenverfall, religiöser Desillusionierung, Judenpogromen sowie dem Zusammenbruch sozialer Strukturen und des gesellschaftlichen Wertesystems auf breiter Ebene während des Wütens der Pest. 90 Nur wenigen Gebieten Mitteleuropas blieb das große Sterben erspart. Das nach wie vor herrschaftlich stark partikularisierte Territorium des heutigen Sachsens zählte nicht dazu. Analog zur gesamteuropäischen Situation brach dessen Einwohnerzahl zwischen 1347 und 1352 wahrscheinlich um 30–50 Prozent ein. Erst etwa 200 Jahre später erreichte die Bevölkerung wieder ihre Größe aus der Zeit vor der Pestilenz. Dieser späte demographische Ausgleich war jedoch weniger dem Schwarzen Tod an sich denn den überregional auftretenden Entwicklungen der Folgezeit geschuldet. Über das gesamte Spätmittelalter kehrte die Pest, wenngleich regional begrenzt und mit verminderter Letalität, zyklisch wieder. Daneben traten vor allem im 15. Jahrhundert zahlreiche nasskalte Jahre infolge der die hochmittelalterliche Wärmegunst ablösenden sogenannten Kleinen Eiszeit in Verbindung mit Missernten, Teuerungen und Hungersnöten. Unter diesen Bedingungen war ein langfristiges Bevölkerungswachstum in den meisten Regionen Europas unmöglich. Zudem zeigte sich das 14. Jahrhundert von einer anhaltenden überregionalen Agrarkrise geprägt, die ebenfalls unter anderem aus den massiven Bevölkerungsverlusten der Pestzeit resultierte. 91

88 89 90 91

Vgl. ebd., S. 74. Vgl. Rösener, Agrarwirtschaft, S. 31. Vgl. Bergdolt, Klaus, Der Schwarze Tod in Europa. Die Große Pest und das Ende des Mittelalters, München 1994, S. 33 ff. Vgl. Rösener, Agrarwirtschaft, S. 31ff. und Abel, Agrarkrisen, S. 67 ff.

SCHWARZER TOD BIS REFORMATION

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Aufgrund deren deutlich höheren Bevölkerungsdichte und schlechteren hygienischen Bedingungen gegenüber dem ruralen Raum breiteten sich Krankheiten in den Städten signi kant schneller aus. Nicht umsonst lag die durchschnittliche Lebenserwartung europäischer Landbewohner bis ins 20. Jahrhundert über jener der in Städten Lebenden. Dieser Unterschied trat in Seuchenzeiten besonders hervor. Durch die sich seit dem Hochmittelalter immer stärker ausbildende städtisch-ländliche Arbeitsteilung blieben ökonomische Folgen bei starken urbanen Bevölkerungsverlusten nicht aus. Der Schwarze Tod verminderte die städtischen Einwohnerzahlen und damit zugleich die Zahl der Hauptabnehmer landwirtschaftlicher Produkte überregional in erheblichem Maße, sodass der Pest eine langfristige Absatzkrise agrarischer Produkte folgte. Die Getreidepreise ver elen ab der zweiten Hälfte des 14. Jahrhunderts. 92 Wiederkehrende Epidemien und ironischerweise auch gute Ernten verstärkten die Entwicklung teils lokal, teils überregional weiter. Gleichzeitig stellte sich ein Mangel der in den Städten konzentrierten Gewerbetreibenden ein, was handwerkliche Erzeugnisse im Preis steigen ließ. Die hierdurch verbesserten Verdienstmöglichkeiten innerhalb der Städte erhöhten deren ohnehin vorhandene Anziehungskraft auf die Landbevölkerung um ein Vielfaches, zumal die wirtschaftliche Attraktivität des Landlebens im Zuge der Agrardepression auf einen Tiefpunkt sank. Land ucht und Entsiedlung des ruralen Raumes waren mit regional deutlich variierender Intensität die Folge. 93 Für das Gebiet des heutigen Sachsens ist der spätmittelalterliche Wüstungsvorgang rekonstruiert worden und relativ gut dokumentiert. Im Ergebnis zeigte sich einerseits eine auffallende Wüstungskonzentration 94 in Nordwestsachsen auf landwirtschaftlich ungünstigen Böden, andererseits ein anteilmäßiger Anstieg der städtischen gegenüber der gesamten Bevölkerung bis zum 16. Jahrhundert. Dieser Befund legt den Schluss nahe, dass die wenigsten Dörfer durch die Pest vollständig entvölkert wurden. Durch das mit der Agrarkrise zu Ungunsten der Landbevölkerung veränderte Lohn-Preis-Gefüge sahen sich vor allem überlebende, auf schlechten Böden ackernde Bauern in ihrer Existenz gefährdet. Nicht wenige Angehörige dieser Gruppe nutzten offensichtlich die Gunst der Stunde. Sie verließen ihre schlechte Scholle in Richtung der Städte oder füllten die Bevölkerungsverluste in Dörfern guter Lage wieder auf 95. Dadurch elen einige Teil-

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95

Vgl. Abel, Agrarkrisen, S. 57f. Vgl. Rösener, Agrarwirtschaft, S. 31f. Die Einwohnerzahl der wüst gefallenen Ortschaften wird von Blaschke für die Vorpestzeit auf 28.000-30.000 geschätzt, was neun Prozent der angenommenen Gesamtbevölkerung von 1300 entsprach. In Nordwestsachsen elen sogar 30–40 Prozent der Landbewohner weg. Vgl. Blaschke, Bevölkerungsgeschichte, S. 83f. Dennoch zeugen die wenigen überlieferten spätmittelalterlichen Quellen noch für die Wendezeit vom 15. zum 16. Jahrhundert von zahlreichen Teilwüstungen. Offenbar konnten die meisten verlassenen Bauernstellen lange Zeit weder von Umsiedlern noch von einer wachsenden lokalen Einwohnerschaft neu besetzt werden. Erst 200 Jahre nach der Pest war die Bevölkerung Sachsens soweit angewachsen, dass ein Großteil der wüsten Stellen wieder einer Bewirtschaftung unterworfen werden konnte. Vollwüstungen wurden in der Regel auch während der Frühen Neuzeit nicht wieder besiedelt. Vgl. Blaschke, Geschichte Sachsens, S. 228 ff.

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wüstungen und unter Umständen auch ganze von der Seuche kaum in Mitleidenschaft gezogene Orte gänzlich wüst. Eine Minderheit von unter zehn Prozent aller aufgelösten Dörfer ging in einer benachbarten Stadt ur auf. 96 Als Hauptbegünstigte der spätmittelalterlichen Binnenwanderung, die allgemeine Land ucht eingeschlossen, traten in Sachsen die im Erzgebirgsraum liegenden Städte hervor. Insbesondere das „Zweite Berggeschrey“ des späten 15. Jahrhunderts steigerte die Anziehungskraft der neu entstehenden Bergstädte auch über die Grenzen des heutigen Freistaats hinaus massiv. Gleichzeitig verursachte deren Aufschwung eine der Land ucht entgegenlaufende Bewegung, indem sich Nachfolgegewerbe vor allem in den umliegenden Dörfern ansiedelten und einige neue kleinbäuerlich geprägte Ausbausiedlungen zwecks Sicherstellung der Nahrungsmittelversorgung entstanden. In der Endkonsequenz glich die ins Erzgebirge gewandte spätmittelalterliche Migrationsbewegung ein noch aus der Kolonisationszeit herrührendes Ungleichgewicht der durchschnittlichen Bevölkerungsdichten zumindest auf dem Land aus, sodass 1550 im dörflichen Bereich in den Grenzen des heutigen Sachsens beinahe überall zwischen 25 und 30 Personen pro Quadratkilometer lebten. Gleichzeitig wurde das demographische hochmittelalterliche Ballungsgebiet Nordwestsachsens als solches abgelöst. 97 Um 1550 verfügte Sachsen über etwa 557.000 Einwohner. 98 Gegenüber 1300 war die Gesamtbevölkerungszahl um 41 Prozent gewachsen. Die Zunahme verteilte sich ungleichmäßig auf Stadt und Land. Angesichts der umrissenen spätmittelalterlichen Entwicklungen vermag die Vermehrung der urbanen Bevölkerung um 150 Prozent auf rund 171.000 gegenüber dem frühen 14. Jahrhundert wenig zu verwundern. Im Vergleich dazu wuchs die Zahl der Landbewohner im selben Zeitraum um lediglich 21 Prozent auf rund 385.000 an. Somit hatte sich das Verhältnis zwischen Stadt- und Landbevölkerung binnen 250 Jahren auf fast 1:2 verschoben. 99 In der Mitte des 16. Jahrhunderts beginnt die quellenmäßig fassbare Geschichte der Dörfer Rußdorf und Bräunsdorf in Südwestsachsen, jenem Gebiet, welches durch Ausbildung textilgewerblicher protoindustrieller Strukturen in der Folgezeit zu einer Keimzelle der sächsischen Industrialisierung des 19. Jahrhunderts heranwuchs. Als Kinder der Ostkolonisationszeit waren die Untersuchungsorte unmittelbar in die hier kurz umrissenen Prozesse eingebunden. In welcher Form deren Entwicklung ihren Fortgang bis ins 20. Jahrhundert nahm, behandelt das nachfolgende Kapitel.

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Vgl. Blaschke, Bevölkerungsgeschichte, S. 82ff. Vgl. ebd., S. 85. Im 16. Jahrhundert steigt die Schriftquellendichte in Sachsen deutlich an. So erlaubt die archivalische Überlieferung ab dem 15. Jahrhundert relativ zuverlässige Aussagen zur Bevölkerungsentwicklung dieses Gebiets. Vgl. Blaschke, Bevölkerungsgeschichte, S. 78.

3. DIE UNTERSUCHUNGSORTE IM ÜBERBLICK 3.1 RUSSDORF Das erste im Fokus der Untersuchung stehende Dorf, Rußdorf, eine von zwei Ortschaften dieses Namens in den Grenzen des gegenwärtigen Freistaates Sachsen, liegt inmitten des Erzgebirgsvorlandes sowie der historischen, die Räume Zwickau, Chemnitz, Glauchau und Limbach umfassenden südwestsächsischen Gewerbelandschaft auf einer Höhe von 340–480 Meter. 100 Ursprünglich ein reines Bauerndorf, entwickelte sich der Ort ab dem 18. Jahrhundert unter dem Ein uss von Protoindustrialisierung und Industrialisierung bis 1886 zu einem Industriedorf, dem dato einzigen des gesamten Herzogtums Sachsen-Altenburg. Seines starken Wachstums dieser Zeit zum Trotz blieb die bäuerliche Siedlungsstruktur aus zumeist Drei- und Vierseithöfen im Dorfzentrum um Kirche und ehemaliges Schenkgut erhalten. Bis in die Gegenwart lässt sich daran die originäre Waldhufendorfform der Mitte des 19. Jahrhunderts eine Fläche von 497 Hektar umfassenden Ortschaft erkennen. 101 Die Anfänge Rußdorfs bleiben ob fehlender Schriftzeugnisse im Dunkeln. Unter Berücksichtigung seiner geographischen Lage, strukturellen Verfasstheit und onomastischen Einordnung muss die Ortsgründung im Hinblick auf die Siedlungsgeschichte Sachsens im 13. Jahrhundert aus wilder Wurzel erfolgt sein. Das Rußdorf einschließende Limbacher Land wurde bis zur deutschen Ostkolonisation des Hochmittelalters vom erzgebirgischen Miriquidi, auf dessen Gebiet die Slawen nach bisherigem Kenntnisstand keine Dauersiedlungen unterhielten, eingeschlossen. Eine slawische Gründungsleistung ist auch angesichts der auf einen deutschen Personennamen zurückgehenden Ortsbezeichnung, „Dorf eines Rudolfs /Rulands/Rüdigers“ 102, auszuschließen. Die Waldhufenform Rußdorfs ist charakteristisch für Dorfgründungen der Kolonisationszeit im Vor- und Gebirgsraum. Aus welchen Altsiedelgebieten die ersten Einwohner konkret stammten, bleibt ungeklärt, zumal sich in der weiteren Umgebung auf eine Vermischung unterschiedlicher Siedlerströme in Südwestsachsen hinweisende Ortsnamen wie Hessen, Schwaben, Flemmingen (Flamen) oder Beiern nden. 103 Erste Burgen und Grundherrschaften wurden im größeren Umkreis Limbachs noch im 12. Jahrhundert errichtet. Bodenfunde belegen, dass die im frühen 14. Jahrhundert durch Brand dauerhaft zerstörte kleinere Burg Drachenfels bei Penig, vermutlich Gründung einer rheinfränkischen Familie, 1170/1180 bereits bestand. Architekturhisto100 101 102 103

Vgl. Stadtverwaltung Limbach-Oberfrohna (Hg.), 125 Jahre Stadtrecht Limbach. Limbach-Oberfrohna – eine Stadt, Limbach-Oberfrohna 2008, S. 52. Vgl. Lange, Hans, Rußdorfer Allerlei, o. O. 1998, S. 5f. Vgl. Eichler, Bürgertum, S. 20. Vgl. ebd., S. 8.

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rische Merkmale an der Burg Kaufungen unweit Rußdorfs, Gründung einer hessischen Familie, weisen diese gleichfalls als Kind des ausgehenden 12. Jahrhunderts aus. Ihre Erstnennung datiert dagegen auf das Jahr 1226, als Conrad von Kauffungen, ein Spross der Erbauerfamilie, mit der Burg belehnt wurde. Burg und Herrschaft Wolkenburg sind für 1241 erstmals quellenmäßig belegbar, obwohl die mit den Drachenfelsern verwandte rheinfränkische Familie von Wolkenberg/Wolkenburg wahrscheinlich auch im späten 12. Jahrhundert an der Zwickauer Mulde ansässig wurde. 104 Zahlreiche Orte in der näheren Umgebung der betrachteten Dörfer erscheinen zum ersten Mal während des 13. Jahrhunderts in der Schriftquellenüberlieferung. Niederfrohna existierte zum Beispiel bereits 1236 105, die Herrschaft Waldenburg wurde 1199 erstgenannt 106, Glauchau 1240 107, Langenchursdorf 1202 108, Grumbach 1208 109 etc. Andere wie Kändler, Limbach, Oberfrohna, Röhrsdorf oder Pleißa sind erst seit dem 14. Jahrhundert belegt. 110 Diese Ortschaften wurden allerdings mit großer Sicherheit spätestens in der zweiten Hälfte des 13. Jahrhunderts gegründet. Schließlich war die Durchsiedlung des sächsischen Gebiets schon um 1300 weitestgehend abgeschlossen. 111 Demzufolge muss die Geschichte Rußdorfs im 13. Jahrhundert ihren Anfang genommen haben. Die ältere wie zeitgenössische Literatur, so zum Beispiel die Jubiläumsschrift zum 125. Jahrestag der Limbacher Stadtrechtsverleihung, gibt regelmäßig 1335 als Jahr der Erstnennung „Rudelsdorfs“ an. Auf welche Quelle hierbei Bezug genommen wird, ließ sich nicht feststellen. Weder führt sie Andreas Eichler in seiner Untersuchung zur wirtschaftlichen Entwicklung des Limbacher Landes noch Karlheinz Blaschke in seinem Historischen Ortsverzeichnis Sachsens auf. Selbst der Rußdorfer Lehrer und langjährige Heimatforscher Hans Lange erwähnt eine solche auch in den persönlichen Aufzeichnungen seines im Limbacher Esche-Museum ruhenden Nachlasses mit keinem Wort. 112 104 105 106 107

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Vgl. Kirchner, Wolkenburg, S. 32 ff. Vgl. Strohbach, Horst, Eyne Chronik der Doerffer tzu der niedern Frohna und tzum Gannßhorn, Oberfrohna 1936, S. 1. Vgl. Gemeinde Callenberg (Hg.), Die Erben Conrads. Acht Jahrhunderte Langenchursdorf, Callenberg 2002, S. 19. Vgl. Blaschke, Karlheinz, Historisches Ortsverzeichnis von Sachsen, Leipzig 2006, in: Institut für Sächsische Geschichte und Volkskunde e. V., Digitales Historisches Ortsverzeichnis von Sachsen, online: http://hov.isgv.de/ [zuletzt aufgerufen am 20.06.2016], Glauchau. Vgl. Callenberg, Langenchursdorf, S. 26. Vgl. Callenberg, Grumbach, S. 15. Vgl. Eichler, Bürgertum, S. 20f. Vgl. Blaschke, Bevölkerungsgeschichte, S. 40f. Vgl. EMLO: I/3.1/20: Entstehung von Rußdorf seit 1445, kurzer handschriftlicher Abriss; Möglicherweise brachte der Heimatforscher und Chronist Horst Strohbach selbst das Jahr 1335 ins Gespräch. So schreibt Lange: „Wenn man den Aussagen von Horst Strohbach glauben darf, dann wurde Rußdorf von allen drei Orten [Limbach, Oberfrohna u. Rußdorf] geschichtlich zuerst genannt und bekannt.“ Vgl. Lange, Allerlei, S. 17. – Womöglich wurde Rußdorf mit Röhrsdorf bei Chemnitz, welches 1335 als „Rursßdorf “ Erwähnung fand, verwechselt. Vgl. Lungwitz, Karlheinz, Zur Besiedlungsgeschichte und Ortsgründung von Röhrsdorf, in: Heimatverein Niederfrohna e. V., Zur Besiedlungsgeschichte der Region Rochlitz – Chemnitz – Glauchau, o. O. 2001, S. 81–82, S. 82.

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Die urkundlich belegbare Geschichte Rußdorfs nahm mit einem Wechsel ihren Anfang. Am Sonntag nach Juliana 1457 überließ der Gerichtsherr Hildebrand von Einsiedel das damalige „Rudelsdorf “ nebst der Ortschaft Erlich dem Altenburger St.-GeorgenStift im Austausch gegen Altenmörbitz: Wir Friderich [...] bekennen,[...] das uns die wirdigen und gestrengen unsere leben andechtigin und getruwen, er Niclas Arnold thumprobst von syn und des ganczen Cappitels wegen zcu Aldenburg und er Hildebrant von Eynsidel Ritter unser Rate und obirmarschalg zcu erkennen haben geben wie das si eyns wechsels untereynander synt eyn worden und In ganzen also das nemlich das Cappittel zcu Aldenburg des dorffs alden Merwicz mit allen synen zcinßen, zcugehorungen und gerechtikeyten, das durch den hochgebornen fursten, unsern liben vettern hern Wilhelm lantgraven in Doringen und marcgraven zcu Myssen [...] seligen und uns zcu der gnanten sante Jorgen kirchen zcu Aldemburg, etwan voreigent ist gewest ern Hildebrande von Eynsidel abgetreten und derselbe er Hildebrant dem capitel die dorfer Erlich und Rudelstorf mit obersten gerichten dargegen gegeben und zcu der gnanten kirchen durch die lehnherren den das geboret voreigent erworben had [...]. 113

Als Oberlehnsherr von Altenmörbitz stand es in der Macht des damaligen sächsischen Kurfürsten Friedrich II., dessen Herrschaftsbereich Altenburg angehörte 114, den Gebietstausch zu gestatten. Sein ebenfalls auf den 20. Februar 1457 datierender „Vorwilligungs und Bestettigungs Brieffe“ fordert allerdings zusätzlich das Einverständnis „unser liben getreuenn, Er George Burggraffe vonn Leißnick Herr zu Penick, unnd Er Veitt vonn Schonburgk Herr zu Glauchau“, da die Tauschobjekte Rußdorf und Erlich „vonn In zu lehenn biß hero gerurtt“. 115 Über die konkrete administrative Verfassung Rußdorfs Mitte des 15. Jahrhunderts geben die beiden in Kopie überlieferten Leißniger und Schönburger „Voraignungs Brieffe“ Auskunft. Vor dem Gebietstausch war Hildebrand von Einsiedel für Erlich und „das halbe Dorffe zu Rudelßdorff “ Veit II. von Schönburg, Herr über das damals böhmische Reichsafterlehen 116 der Herrschaft Glauchau, lehnsp ichtig. Die andere Hälfte Rußdorfs hatte mit Burggraf Georg von Leisnig den Herrn über die ebenfalls reichsunmittelbare Herrschaft Penig zum Oberlehnsherrn. 117 Über die Ursprünge der lehnsherrschaftlichen Zweiteilung schweigen sich die Quellen aus. Ebenso wenig ist die administrative Zuordnung der einzelnen Rußdorfer Güter anhand des bekannten Quellenmaterials rekonstruierbar. Für die neuzeitliche Entwick113 114 115 116 117

ThStA Abg, Sammlung Wagner – Wagners Kollektaneen Bd. 7: Friedrich, A. /Wagner, K., Collectanea zur Geschichte des Herzogtums Altenburg, Bd. 7. Vgl. Bünz, Enno, Die Kurfürsten von Sachsen bis zur Leipziger Teilung 1423–1485, in: Kroll, Frank-Lothar (Hg.), Die Herrscher Sachsens. Markgrafen, Kurfürsten, Könige. 1089–1918, München 2007, S. 39–54, S. 47. ThStA Abg, Landesregierung, Nr. 626: Die Verwechßelung derer Dörffer Ruhßdorff und Wolperndorff. Anno 1539, fol. 8 v f. Vgl. Ruhland, Volker, Verwaltungsgeschichte Sachsens, Dresden 2006, S. 30. Vgl. ThStA Abg, Landesregierung, Nr. 626, fol. 9 r ff.

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lung des Dorfes ist seine spätmittelalterliche Positionierung innerhalb der Lehnsordnung indes ohne Bedeutung. Der Gebietstausch von 1457 gliederte Rußdorf als Ganzes neu in den Lehnsverband ein und änderte seine politische wie wirtschaftliche Situation nachhaltig. Fortan bildete es als sächsisch-altenburgische Exklave einen eigenständigen Wirtschaftsraum innerhalb des umliegenden, ab 1740 geschlossen kursächsischen Gebiets. Seine Gemarkungsgrenzen wurden zu Landesgrenzen erhoben, sodass sämtlicher, selbst kleinräumiger Warenverkehr von und nach Rußdorf bis zum Ersten Weltkrieg mit Zollabgaben belegt wurde. 118 Die Exklavenstellung blieb bis 1928 bestehen, als das Dorf via Staatsvertrag am 1. April im Tausch gegen Liebschwitz bei Gera an den Freistaat Sachsen kam. Es ist der Sinn der vertraglichen Bestimmungen, durch diesen Grenzausgleich die Einwohner dem [sächsischen] Gebiet auch politisch anzuschließen, zu dem sie bereits jetzt schon wirtschaftlich hinneigen oder ohne die bisherigen verwaltungsmäßigen Bindungen hingeneigt haben würden. 119

Dem tatsächlich erfolgten Austausch waren mehrere Versuche vorangegangen, das seit der Leipziger Teilung 1485 zum ernestinischen Sachsen und seit 1920 zu Thüringen gehörige Rußdorf seiner Sonderstellung zu entheben. Während ein Gesuch Wolff von Schönbergs auf Auswechslung gegen Wolperndorf von Kurfürst Johann Friedrich I. 1539 abschlägig beschieden wurde 120, scheiterten Verhandlungen mit dem Königreich Sachsen über den Tausch Rußdorfs gegen Ziegelhain 1917 am Widerstand der Einwohner selbst. 121 In juristischer Hinsicht unterstand Rußdorf seit 1457 dem Kapitel des Kollegiatstifts St. Georg zu Altenburg. Hildebrand von Einsiedel hatte dem Stift seine beiden Dörfer „mitt allenn yrenn zynsen worann die szindtt, dinstenn, gerichtenn, oberstenn und nidersten, alßo mann das nennet uber halße unnd hanndt“ verschrieben. 122 Der Säkularisierung des Stifts um 1537 123 ungeachtet, galt bis mindestens 1539, dass Rußdorf „mit Gerichten, Obersten und Nidersten, in Felde und Dorffe, auch Volge und Stewer, dem Capittell zu Aldenburgk zustendig“ 124 war. Später wurde die Jurisdiktion des St.-Georgen-Stiftes jener des Fürstlichen Amts Altenburg eingegliedert. Zwischen 1540 und 1679 zeugen neben jährlich verzeichneten, explizit dem Stift zugeordneten Lehngeld- und Erbzinszahlungen der Rußdorfer sporadisch auftretende 118 119 120 121 122 123 124

Vgl. Lange, Heimatbild, S. 10. KrA Gl, Limbacher Tageblatt und Anzeiger, 3. April 1928, Die Einbezirkung der Gemeinde Rußdorf nach Sachsen. Vgl. ThStA Abg, Landesregierung, Nr. 626. Vgl. Lange, Allerlei, S. 11. ThStA Abg, Landesregierung, Nr. 626, fol. 6 v. Vgl. Anhalt, Markus, Das Kollegiatstift St. Georgen in Altenburg auf dem Schloss 1413–1537. Ein Beitrag zur Stiftsforschung, Leipzig 2004, S. 47f. ThStA Abg, Landesregierung, Nr. 626, fol. 2 r.

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Strafgeldleistungen von der Ausübung der niederen Gerichtsbarkeit. Zumeist kamen Schlägereien zur Anzeige. So zahlte etwa Valten Herolt 1541 dafür, „das ehr dem Wirt hatt helffenn rauffen“, 25 Groschen 125 oder mussten 1614/1615 Jonas und Blasius Herolt, Hanns Esche und der Wirtssohn Jacob Richter Strafleistungen in Höhe von fünf Gulden 15 Groschen bis elf Gulden neun Groschen auf sich nehmen, „das sie alle einander ubel geraufft, unnd die Rüge verschwigenn“ 126. Vereinzelt sind Verurteilungen wegen Unterschlagung, Beleidigung und Ungehorsam überliefert. Zum Beispiel wurde die Wirtin Margareta Richter 1606/1607 einer Geldstrafe über 20 Gulden unterworfen, weil „sie 4 Vierttel Bier unttergeschlagen, und der Herrschafft nicht vorsteuret“ 127. Georg Herolt entrichtete ein Vierteljahrhundert später fünf Gulden und 15 Groschen „wegen seines ungehorsambs und das er sich auf unterschiedenes anhero beschehenes erfordernn ins Ampt nicht gestellett“ 128 und Georg Steinbach, „welcher Georg Vogelnn in seinem Hauße überlaufen unnd zimblich gelestert“ 129, büßte 1657 mit 20 Groschen. Zudem ist für 1656 eine Gruppenstrafe über vergleichsweise moderate fünf Gulden 15 Groschen Gesamtstrafgeld belegt, die Georg Herolt, Martin Schüßler und eine unbekannte Zahl weiterer Rußdorfer, „so den Richter doselbst wegenn der Steuer ubel angelassen“ 130, traf. Schwere, der Halsgerichtsbarkeit unterworfene Delikte sind für Rußdorf im 16. und 17. Jahrhundert aus zeitgenössischen Quellen nicht bekannt. Der 17-jährige Schneider Michael Aurich, welcher 1615 einen Ortsbrand 131 in Pleißa verursachte, oh nach Böhmen und entging dadurch einem Gerichtsverfahren. 132 Einem auf Erinnerungen älterer Rußdorfer zurückgreifenden Rezess von 1677 zufolge hatte sich in den vorangegangenen

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ThStA Abg, Herzogliches Finanzrechnungsarchiv, Abt. 14 Rep. XIV, Nr. 5: Jahresrechnung des St.-Georgen-Stifts zu Altenburg Walpurgis 1541 – Walpurgis 1542. Ebd., Nr. 105: Jahresrechnung des Amts Altenburg und St.-Georgen-Stifts zu Altenburg Michaelis 1614 – Michaelis 1615. Ebd., Nr. 99: Jahresrechnung des Amts Altenburg und St.-Georgen-Stifts zu Altenburg Michaelis 1606 – Michaelis 1607. Ebd., Nr. 113a: Jahresrechnung des Amts Altenburg und St.-Georgen-Stifts zu Altenburg 1632–1633, fol. 34 v. Ebd., Nr. 128: Jahresrechnung des Amts Altenburg und St.-Georgen-Stifts zu Altenburg 1657–1658, fol. 50 r. Ebd., Nr. 127: Jahresrechnung des Amts Altenburg und St.-Georgen-Stifts zu Altenburg 1655–1656, fol. 48 v. Vorsätzliche Brandstiftung zählte zu den mit dem Tode bedrohten Kapitalverbrechen: „Doch zeichneten mehrere Rechtssatzungen schon frühzeitig einzelne Arten der B., insbesondere die B. zur Nachtzeit (Nachtstund) u. den Mordbrand, worunter man im Allgemeinen jedes heimliche, hinterlistische Anzünden einer fremden Sache mit Gefahr für Menschen verstand, aus u. bedrohten diese boshaften Brenner, wie sie gewöhnlich genannt werden, gleich den Mördern mit dem Tode [...] Unter Benutzung der Aussprüche des Römischen Rechts werden daher gemeinrechtlich 3 Arten der B. unterschieden: a) der Stadtbrand, gewöhnlicher als quali cirte B. bezeichnet. Wer böslich innerhalb der Stadt (intra oppidum) Feuer anlegt, hat den Feuertod zu erwarten. Eine etwas gelindere Strafe, jedoch auch Todes. od. Capitalstrafe tritt b) bei der B. an einzelnen Gebäuden (einfache B.) ein.“ Pierer, Heinrich August (Hg.), Pierer's Universal-Lexikon der Vergangenheit und Gegenwart, Bd. 3, Altenburg 1857, S. 204. Der Pleißaer Veit Richter hatte dem Rußdorfer Michael Aurich dessen Verlobte Catharina, Tochter des damaligen Rußdorfer Richters Christoph Esche, ausgespannt. Aurich sann, in seiner Ehre verletzt oder aus Liebeskummer, auf Rache. Um Mitternacht des 17. Juli 1615 zündete er das Haus seines Rivalen an. Dem daraus entstandenen Brand elen Haus und Hof Richters ebenso zum Opfer wie die örtliche Schenke, das Pfarrgebäude und ein weiteres Wohnhaus mit Nebengebäuden. Vgl. Strohbach, Horst, Chronik der Gemeinde Pleißa, Pleißa 1939, S. 224.

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60 Jahren kein Kapitaldelikt in ihrem Heimatdorf ereignet. Im Bestreben, die traditionelle Rechtspraxis in Rußdorf anlässlich eines laufenden Diebstahlverfahrens zu ermitteln und schriftlich zu xieren, wurden Zeitzeugen zu den letzten derartigen Vorfällen befragt. Hierfür kamen unter den Dorfbewohnern, „so meistens junge Leute sind, und dergleichen Actus nicht gedencken“, nur ältere Semester in Betracht. Nach Aussage des 69-jährigen Georg Herolt war zuletzt in den 1610er Jahren der hernach aus Rußdorf verzogene Gärtnersohn Oswald Reichenbach „Diebstahls halber zur Hafft kommen, der Process allso verführet, und Er hernach biß an das Gerichte, darvon noch die Seulen auff der Stelle liegen, zur Staupen geschlagen worden“. Dem Rezess nach zu urteilen, unterstand Rußdorf sowohl mit den Oberen als auch den Niederen Gerichten 1677 dem Fürstlichen Amt Altenburg, hatte „aber ihre eigen Gerichte und diesen Brauch [...], daß die Gefangenen verwahrlich daselbst gehalten, bewachet, der Process daselbst verführet, und nach Urthel und Recht bestraffet werden“. Zur Gerichtsstelle diente die lokale Schenke, wo „jederzeit eine a parte Stube müßen gehalten werden, wie denn auch in offt gesagter Schenke ein a part Gewölbe, so unter der Stube be ndl., zu Vollstreckung der Peinlichkeit vorhanden“ war. 133 Außerordentliche Gerichtsverhandlungen über schwere Straftaten wurden gleich dem alle drei Jahre statt ndenden, in die Zuständigkeit der Niederen bzw. Erbgerichtsbarkeit fallende Delikte verhandelnden Rügegericht im Schankraum abgehalten. Delinquenten mussten in einer separaten Gefängniszelle auf dem Schenkgut verwahrt werden, an der „die Unterthanen im Dorffe Rußdorff die Wache [...] zugleich nach der Reyhe zu verrichten“ hatten. Gerichts- und Prozesskosten teilten sich alle Grundbesitzer der Gemeinde 134. Die Errichtung des „Gerichts“, d. h. der Richtstätte respektive des Galgens, oblag ebenso einem klar de nierten Personenkreis. Anlässlich des Casus von 1677 mussten zum Beispiel „Michael Eichler zum Falcken wegen seines in dieser [Rußdorfer] Fluhr habenden Lehnstücks, zu Erbauung des neuen Gerichts eine Seule, und dann die andere Seule George Engelmann zu Rußdorff, diese beyde aber, oder die Besitzer ihrer Güther und Lehenstücke die Überlage zugleich“ bezahlen. 135 Anders als die Gerichtskostenbeteiligung, die nach einem festen Schlüssel auf dem Grund und Boden der Güter lastete, waren die Rußdorfer Gerichtsämter weder an ein bestimmtes Besitztum geknüpft noch erblich. 136 Allein Christoph Sebastian (1689–

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Das offenbar noch aus dem Mittelalter stammende Gewölbe war um 1700 baufällig geworden und wurde im frühen 18. Jahrhundert restauriert. Infolgedessen wurde die damalige mutmaßliche, aber nicht verurteilte Kindsmörderin Sabine Helbig im Keller der Schenke examiniert: „Hatte als Wittbe ein uneheliches Kind erzeugt und ermordet, gestund es aber nicht, ob es gleich in dem Leichenstroh ihres Mannes auf dem Boden gefunden worden, stunde darüber der Tortur aus in dem Keller der allhiesigen Schencke.“ EPA Rußdorf, KB I, Kirchbuch 1687–1800, Beerdigungen 1710, Nr. 6. Ein Halbbauer zahlte die Hälfte, ein Gärtner 25 Prozent und jeder Häusler ein Achtel des vollbäuerlichen Anteils. ThStA Abg, Amtsgericht Altenburg, C IV Loc. A Nr. 2, Grundbuch über den Gerichts- und Lehnsbezirk des Fürst. Sächß. Kreis-Amtes Altenburg Anno 1730, Kopie des Rezesses vom 17. 09.1677. Rußdorf stellte in dieser Hinsicht eine Ausnahme dar: „[...] daß wie in allen umliegenden Dörffern [...] in Erbschenken daselbst geschiehet, der Besizer auch das Richter Ambt dabey erblich hat, auch das Richter Ambt bey dem Wirths Hause zu Rußdorff [...] olim gewesen, und in den Kriegszeiten an einen unter denen Rußdorffer 6. Gerichts-Schöppen nach

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1765) trat zugleich als Schenkwirt und Amtsrichter Rußdorfs auf. Dessen Vorfahr, der Wirt Jacob Richter (1558–1604), bekleidete zwar ebenfalls ein Richteramt, jedoch war dieses an das von ihm 1598 erworbene Lehngerichtsgut in Pleißa gebunden. 137 Sowohl der Amtsrichter als auch beide ihm zur Seite gestellten Gerichtsschöppen wurden unter den mit Sicherheit respektabelsten landbesitzenden Hausvorständen des Dorfes gewählt und vom Fürstlichen Amt Altenburg bestellt. Die Rußdorfer Gemeinde hatte bei der Auswahl zumindest ein Vetorecht 138, wahrscheinlich auch das Vorschlagsrecht, inne. Obwohl theoretisch jeder Grundbesitzer der Gemeinde auf eines der beiden juristischen Ämter vereidigt werden konnte, waren Bauern über den gesamten Untersuchungszeitraum deutlich überrepräsentiert. Von 18 zwischen 1582 und 1935 nachgewiesenen Rußdorfer Richtern hatten lediglich vier ein Gärtnergut in Besitz. Mit Johann Bernhard Landgraf übernahm 1776 ein erster Gärtner das Richteramt, während es kein Häusler je bekleidete. Deutlich früher war mit Gottfried Himmelreich erstmals 1710 ein Rußdorfer Kleinstellenbesitzer Gerichtsschöppe geworden. Überhaupt dominierten die Bauern das Schöppenamt nur bis Mitte des 17. Jahrhunderts. Unter den 55 belegten örtlichen Gerichtsschöppen befanden sich 29 Bauerngutsbesitzer, von denen 65,5 Prozent vor 1760 in Amt und Würden standen. Demgegenüber verteilten sich 84,6 Prozent der das Schöppenamt innehabenden 26 Gärtner und Häusler auf die nachfolgenden 150 Jahre. 139 Anders als es ihre Amtstitulatur andeutet, lag es nicht im Verantwortungsbereich der Richter und Schöppen, zu judizieren. Vielmehr fungierten sie als Stellvertreter der Gemeinde gegenüber der Jurisdiktion des Amts Altenburg. Kam es in Rußdorf zu Gerichtsverhandlungen bzw. gerichtlichen Untersuchungen, standen sie vollständig unter dem Vorsitz altenburgischer Beamter. 140 Während diese Kompetenzverteilung der allgemeinen Rechtspraxis innerhalb des Herzogtums Sachsen-Altenburg entsprach, stellten die Rußdorfer Ansprüche auf Gerichtsverfahren, Gefangenenverwahrung und Urteilsvollstreckung vor Ort vermutlich der Exklavenstellung Rechnung tragende Sonderrechte dar. Im Laufe des 18. Jahrhunderts erfuhren diese jedoch scheinbar diverse Einschränkungen. Noch 1723 wurde der Unzuchtsfall zwischen dem Pferdebauern Gottfried Rudolph und Elisabeth Schönfeld in Rußdorf verhandelt. Als der zuständige Amtsfrohn Johann Jacob Rudolph im darauffolgenden Frühjahr die 28-jährige ledige Maria Gräfe

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gutbefunden des Fürstl. Ambts, kommen seyn soll [...].“ – Abschrift eines Gesuchs der Familie Sebastian an Herzog Friedrich zu Sachsen-Gotha, 1720, in: EMLO, Chronik der Familie William Sebastian in Russdorf S.-A., S. 42. Vgl. HStA-D, GB Amt Chemnitz, Nr. 339, Copialbuch der alten Lehnbriefe und theils darzu gehörige Churfürstl. gnädigste Befehlichte 1500–1625, fol. 98, 1598. Anlässlich der Berufung Christoph Sebastians zum Amtsrichter legte der Gerichtsschöppe Christoph Helbig im Namen der gesamten Gemeinde Widerspruch ein. Die daraufhin erfolgte Untersuchung brachte jedoch zu Tage, „daß außer besagten Helbig und deßen wenigen Anhang von der übrigen Gemeinde hierunter niemand das mindeste einzuwenden vermag, vielmehr von Ihnen angezeiget wird, daß angeführten Umbständen nach gedachter Sebastian zu sothanem Richter-Ambte vor andern sich am besten schicke“. ThStA Abg, Amtsgericht Altenburg, C IV Loc. A Nr. 2, Rescript vom 16.01.1727. Vgl. EPA Rußdorf, KB I – V. Vgl. ThStA Abg, Amtsgericht Altenburg, C IV Loc. A Nr. 2.

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wegen Unzucht mit Schwangerschaftsfolge nach Altenburg wegführen und sie dort inhaftieren ließ, protestierte die „sämtl[iche] Gemeinde und Gerichten des Dorffes Rußdorff “ bei Herzog Friedrich II. von Sachsen-Gotha-Altenburg unter Berufung auf ihr Gewohnheitsrecht aufs Eindringlichste: „[...] wie auch das solches mit dergleichen in Zukunfft bey sich ereignenden Fällen [...] uns verschonen, vielmehr bey unser hiesiger Gemeinde und Dorfes Gerichten, Gerechtsamen und Gebräuchen ohne neuerl. Beeintrachtigung in unstöhrender Ruhe laßen solle“. 141 Ob gegen die 1772 in Altenburg arretierte De orata Johanna Christiana Müller oder gegen die Diebstahls halber im gleichen Jahr auf der Leuchtenburg einsitzenden Mitglieder der Familie Christoph Landgrafs vor ihrer Inhaftierung in Rußdorf prozessiert worden war, ist unklar. 142 Hingegen beschloss der Mörder Samuel Schüßler (1759–1797) sein Leben keinesfalls am Rußdorfer Galgen, sondern in der Custodie zu Altenburg. 143 Das regelmäßig tagende Rügegericht blieb von den mutmaßlichen Änderungen der Rußdorfer Rechtsp ege unbeein usst. Noch 1850 wird die seit dem späten 18. Jahrhundert nachweisbare, an das Amt Altenburg zu entrichtende Rügegerichtsabgabe in den Rußdorfer Kaufverträgen aufgeführt. Wie diese lastete die ebenso lang belegbare, alljährlich erhobene Schützen- 144 und Scharfrichtergeldverp ichtung auf dem Grundbesitz. Zusätzlich verp ichtete Immobilieneigentum seit der Kolonisationszeit zur Entrichtung halbjährlich an den Tagen Michaelis und Walpurgis vom jeweiligen Grundherrn eingeforderter Erbzinsen. Darüber hinaus konnten auf den Hofstellen, d. h. dem „Sitz“, eine ganze Reihe weitere je nach ihrer Historie differierende Reallasten ruhen. Gleich den genannten zählten die seit dem späten 18. Jahrhundert über die Kaufverträge nachweisbare Postierungssteuer und die situative Gemeinde- und Schulbaueinlage zu den allgemeinen Verp ichtungen. Weiterhin lasteten Schul- und Pfarrdecem 145 auf allen 141 142

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Vgl. ThStA Abg, Landesregierung Nr. 19159: Der Gemeinde und Gerichte zu Rußdorf Beschwerde gegen das Altenburgische Amt Anno 1724. Zumindest deutet der Beerdigungseintrag Johanna Christiana Müllers ein vorhergegangenes Verhör an, in dessen Anschluss sie erst nach Altenburg gebracht wurde: „da sie es aber nicht eingestund, u. man ein infanticidium besorgete, wurde sie nach Altenburg geholet, u. allda bis nach ihrer Niederkunft detiniert“. EPA Rußdorf, KB I, Beerdigungen 1772, Nr. 46. „Samuel Schüßler [...] starb d: 31. Ianuar in der Custodie zu Altenburg, und wurde der Anatomie allda übergeben [...] Er war der Mörder des unschuldigen Kindes seiner Schwester [...]. Es kostete diese Mordgeschichte der Commun zu Rußdorf 191. Thl. viele Wege ungerechnet.“ EPA Rußdorf, KB I, Beerdigungen 1797, Nr. 2. Die Rußdorfer Grundherrn hatten in der Dorf ur traditionell ein Jagd- und Fischereirecht inne, welche an das Amt Altenburg übergingen, als die Ortschaft unter dessen Zuständigkeit el. Eine Lehnsrenovationsurkunde von 1837 bezeugt die Belehnung der Rußdorfer Gemeinde mit diesen Rechten. Gegen 400 Taler Kaufgeld und das jährliche Schützengeld erkaufte sich die Gemeinde wahrscheinlich 1787 oder 1812 das alle 25 Jahre renovationsbedürfte Recht der „hohen, mittlern und niedern Jagd innerhalb der Rußdorfer Flur so wie an dem in gedachter Flur be ndlichen Fische und Krebsbache“. ThStA Abg, Amtsgericht Altenburg, C I Loc. 1, Nr. 487, fol 71 ff., Lehnsrenovations-Urkunde der Gemeinde zu Rußdorf über die Jagdgerechtigkeit der dasigen Flur nebst dem Fisch- u. Krebsbache. Der Zehnte diente der Versorgung des örtlichen Pfarrers bzw. des Schulmeisters. Alljährlich schütteten 28 Rußdorfer Grundstücksbesitzer der Pfarrei nach dem Stand von 1850 an Michaelis insgesamt neun Scheffel Gerste. Vgl. ThStA

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Anspanngütern, den Handgütern, der Schenke und einigen davon abgespaltenen Besitzungen. Ehemalige dingliche Hand- oder Pferdefrondienste der Rußdorfer Bauern bei ihrem Grundherrn wurden im Laufe des 18. Jahrhunderts in pekuniäre Verbindlichkeiten umgewandelt und lagen anteilmäßig auch auf Grundstücken, die ehemals den bäuerlichen Besitzungen angehört hatten. Bei zehn Anspannergütern und einem Handgut standen „eiserne Kühe“ im Stall 146, welche gleichfalls noch während des 18. Jahrhunderts durch ein alljährlich der Kirche an Trinitatis abzuführendes und noch Mitte des 19. Jahrhunderts belegtes „eisern Kühgeld“ ersetzt wurden. 147 Schließlich leisteten die Besitzer von 43 seit 1729 vom lokalen Schenkgut abgetrennten Häuslerstellen an dieses je neun Groschen oder drei Handfrontage Grundzins. 148 Die althergebrachten Verp ichtungen der Rußdorfer verloren Mitte des 19. Jahrhunderts ihre Gültigkeit. Dem „Gesetz über die Ablösung von Frohndiensten und gewissen Grundstücksdienstbarkeiten“ sowie dem „Gesetz über die Ablösung einiger Arten von Lehngeld“ vom 23. Mai 1837 folgend 149, wurden alle Grundstücksbesitzer des Ortes zunächst 1851 von der „Herzoglichen Specialkommission für Ablösungen“ angehalten, ihre Lehngeld- und Erbzinsverp ichtungen gegen Zahlung einer festgelegten Geldleistung abzulösen. Letztere schwankte je nach Größe und Wert der jeweiligen Besitzung erheblich. Mit sieben Neugroschen und zwei Pfennigen hatte der Strumpfwirker Ernst Heinzig für einen Wohnhausbauplatz die geringste Ablösesumme zu entrichten. Von 168 Grundbesitzern zahlten 155 unter 100 Talern. Nur 13 überschritten diese Grenze. Der Schenkgutsbesitzer Gottlob Friedrich Sebastian übernahm indes mit 486 Talern und sechs Neugroschen den mit Abstand höchsten Posten. Die Ablösesummen konnten durch einmalige Abzahlung beglichen werden, wurden jedoch in der Regel in Raten an

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147 148 149

Abg, Repertorium II, Ablösungsakten der Generalkommission, Lit R. 97: Die Ablösung der Grundzinsgerechtsame der Pfarrei Rußdorf. 1859. Der Schulmeister erhielt sein von 29 Rußdorfern entrichtetes Quantum über 62,5 Brote, drei Scheffel, drei Sipmaß und 2,5 Maß Gerste, 121 Eier zu je einem Pfennig sowie acht Kannen Bier am Gründonnerstag. Vgl. ThStA Abg, Repertorium II, Ablösungsakten der Generalkommission, Lit R. 96: Die Ablösung der Grundzinsgerechtsame der Schule zu Rußdorf. 1859. Vgl. ThStA Abg, Obersteuerkollegium, Nr. 1226: Die Steuer-Revision zu Ruhsdorff. Wegen einiger daselbst be ndlichen Huffen Landes, so bißhro nicht vergeben worden, und die darauf bey fürstl. Ober-Steuer-Einnahme ergangene Verfügungen anbetreffendl. Ao. 1719, 1720, 1721, 1722, 1723, 1724, 1725, 1726; „Die Gotteskuh, [...] im gemeinen Leben einiger Gegenden, eine eiserne Kuh, welche auf einem gewissen Gute haftet, und zum Gebrauche der Kirche oder Kirchendiener bestimmt ist.“ Adelung, Johann Christoph, Grammatisch-kritisches Wörterbuch der Hochdeutschen Mundart, Bd. 2, Leipzig 1796, S. 761. Vgl. ThStA Abg, Amtsgericht Altenburg, C I Loc. 1 Nr. 497, fol. 253 r ff. Vgl. ThStA Abg, Repertorium II, Ablösungsakten d. Generalkommission, Lit. R. Nr. 11: Die Ablösung gewisser Grundzinsgerechtsame des Sebastianischen Gasthofs in Rußdorf. 1852. Vgl. Staats- und Adreß-Handbuch des Herzogthums Sachsen-Altenburg 1843, Altenburg 1843, S. 54.

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die sächsisch-altenburgische Landeskammer abgegolten. 150 Einige Rußdorfer beglichen ihre Schulden schon in den 1860er Jahren, andere zahlten bis 1915. 151 Auf Grundlage desselben Gesetzes kamen die Verp ichtungen gegen das Schenkgut durch einmalige Ablösungszahlung 1852 an ihr Ende. 152 Unter den seit dem Mittelalter erhobenen bäuerlichen Abgabenp ichten blieb der Decem am längsten in Kraft. Das am 6. August 1849 in Altenburg rati zierte „Gesetz, die Ablösung der Zehnten betreffend“ bestimmte in seinem achten Paragraphen, dass „das Zehntrecht, auf dessen Ablösung binnen 10 Jahren, vom Tage der Publikation dieses Gesetzes an gerechnet, nicht angetragen worden ist, [...] mit Ablauf dieser Frist von selbst“ erlöschen solle. 153 Kurz vor Ende der Verjährungsfrist wurde den verp ichteten Gemeindemitgliedern 1858 die Schul- und 1859 die Pfarrdecemablösung abgefordert. 154 Allerdings blieb das Ablösegeld für den Pfarrzehnten nicht auf sächsisch-altenburgischem Gebiet. Rußdorf verfügte zwar aus katholischer Zeit über eine eigene Kirche, jedoch schon im 16. Jahrhundert über keine separate Pfarrstelle. Anfang der 1530er Jahre gehörte es der Parochie des benachbarten Bräunsdorfs an. Als das St.-GeorgenStift in Altenburg im Zuge der Reformation säkularisiert wurde und Rußdorf unter die Zuständigkeit des Amtes Altenburg kam, wurde es 1533 „umb des Ewangeln willen [...] gen Kauffunge geschlagen“. 155 Die Kaufunger Ortsgeistlichen zeichneten fortan für alle Kasualien und sonstigen liturgischen Handlungen der Rußdorfer Gemeinde verantwortlich, wobei mit hoher Sicherheit deren Kirche Nutzung fand. Schließlich verfügte die altenburgische Exklave über einen eigenen Friedhof und nanzierte die Gemeinde seit 1729 für 3571 Meißner Gulden und 15 Groschen den barocken Neubau der noch existenten, am 30. August 1734 geweihten Johanniskirche anstelle des wegen Baufälligkeit in den 1720er Jahren abgebrochenen katholischen Kirchleins. 156 Erst 1869 erhielt die Rußdorfer Gemeinde mit Julius Robert Trautloff einen eigenen Pfarrer. Neun Jahre zuvor war das im Ortskern gegenüber der Kirche 1830 errichtete Schulhaus zum Pfarrhaus umgewandelt worden. 157 Unter die Kompetenzen des Kaufunger Pfarrers el es auch, den Rußdorfer Schulmeister zu bestellen. Über die Kirchbücher lässt sich mit Petrus Schüßler († 1597) für

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Vgl. ThStA Abg, Repertorium II, Ablösungsakten d. Generalkommission, Lit. R. Nr. 7: Die Ablösung der Lehngeld und Grundzinsgerechtsame des Herzog. Staats skus in Rußdorf. 1851. Vgl. SächsSTAC, 30104 Amtsgericht Chemnitz (1879–1952), Nr. 6019–6032: Grund- und Hypotheken-Buch des Herzogl. Gerichtsamts 2 zu Altenburg für das Dorf und die Flur Russdorf. Vgl. ThStA Abg, Repertorium II, Ablösungsakten d. Generalkommission, Lit. R. Nr. 11. Gesetz-Sammlung für das Herzogthum Altenburg auf das Jahr 1849. Nummer 1 bis Nummer 99, Altenburg o. J., Nr. 79, Das Gesetz, die Ablösung des Zehnten betreffend. Vgl. ThStA Abg, Repertorium II, Ablösungsakten der Generalkommission, Lit R. 96 u. 97. ThStA Abg, Landesregierung, Nr. 626. Vgl. EMLO, I/3.1/20. Vgl. Lange, Allerlei, S. 5ff.

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das späte 16. Jahrhundert ein erster Lehrer in Rußdorf quellenmäßig belegen. 158 Ebenso berichtet Lange für das Jahr 1587 von einem lokalen Schulhaus und für 1615 von 42 Schulkindern. 159 Es ist allerdings fraglich, ob alle Kinder der spätmittelalterlichen bzw. frühneuzeitlichen Gemeinde den Schuldienst in Anspruch nahmen. Wohl blieb die Rußdorfer Schulmeisterstelle auch nach Schüßlers Tod bis ins 19. Jahrhundert durchgehend besetzt. Jedoch verp ichtete der sächsische Staat erst mit dem „Gesetz über das Elementar- und Volksschulwesen“ von 1835 alle Kinder zum regelmäßigen Schulbesuch. 160 Dies und das starke Wachstum Rußdorfs nach 1850 ließ die Schülerzahl zwangsläu g nicht unbeein usst. Die 1830 errichtete Schule erwies sich nach 35 Jahren Nutzung als zu klein. Ein neues größeres Schulgebäude wurde 1868 eingeweiht, bedurfte allerdings gleichfalls bereits nach fünf Jahren eines Anbaus. 161 Zur selben Zeit wurde eine zweite Lehrkraft dauerhaft eingestellt. 162 Die weiter kontinuierlich zunehmende Schülerzahl erforderte schließlich den Bau einer zweiten 1888 eingeweihten und 1894 nochmals erweiterten Schule. 163 Beide Gebäude blieben bis zum Ende des Untersuchungszeitraums bei sukzessiver Vergrößerung des Lehrstuhls nach 1900 auf schließlich über zehn Lehrkräfte in Nutzung. 164 Rußdorf war als typisches, aus wilder Wurzel entstandenes Waldhufendorf der deutschen Ostkolonisationszeit anfangs eine Siedlung ausschließlich bäuerlichen Gepräges, dessen ursprüngliche Form vermutlich bis ins 16. Jahrhundert existierte. Das älteste erhaltene Güterverzeichnis des Ortes führt ausschließlich 23 Bauerngüter ansässiger Personen sowie drei Mitgliedern benachbarter Gemeinden gehörende Grundstücke auf. Letztere ausgenommen, schwankte der geschätzte Wert dieser Besitzungen zwischen 18 und 105 Schock. Neun Güter (39,13%) wiesen den gleichen Wert von 40 Schock auf, umfassten demnach ähnlichen Grundbesitz. Weitere acht (34,78 %) wichen davon um maximal zehn Schock ab. 165 Unter Berücksichtigung der kolonisatorischen Flurteilungen in egalitäre Hufen und des allgemein geringen Wachstums der sächsischen Dörfer während des 14. und 15. Jahrhunderts indiziert die sich nach 1539 verlierende relative ächen- bzw. wertmäßige Einheitlichkeit eines Großteils der Bauerngüter, dass die erste Flurordnung Rußdorfs zu der Zeit in Teilen noch bestand. Der naheliegenden Annahme folgend, ein Gutswert von 40 Schock habe 1539 der Fläche einer Hufe entsprochen, las-

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Vgl. EPA Rußdorf, KB I. Vgl. Lange, Allerlei, S. 6. Vgl. Meinel, Angela, Kinderleben und Kinderkultur in Sachsen. Versuch eines Überblicks, Dresden 1998, S. 43. Vgl. ThStA Abg, Steuer- u. Rentamt Altenburg, Nr. 119: Die Versicherung der Gebäude der Landes-Brandversicherungs-Anstalt zu Altenburg von Rußdorf, Vol. I, 1879–1888; Lange, Allerlei, S. 5. Vgl. EPA Rußdorf, KB X1: Trauregister 1858–1875. Vgl. ThStA Abg, Steuer- u. Rentamt Altenburg, Nr. 120: Allgemeine Revision der Brandversicherungsschätzungen in Russdorf, Vol. II, 1889; ThStA Abg, Steuer- u. Rentamt Altenburg, Nr. 121: Brandversicherungsschätzungen in Russdorf, Vol. III, 1889–1900. Vgl. Lange, Allerlei, S. 22f. Vgl. ThStA Abg, Landesregierung, Nr. 626.

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Abbildung 1: Rußdorfer Bevölkerungs-, Wohnhaus- u. Haushaltsentwicklung

sen sich bei einem Gesamtwert aller Güter der Gemeinde von 958 Schock insgesamt 24 Hufen ausmachen, deren zwei das größte lokale Gut, die Schenke, hielt. 166 Da Ende der 1530er Jahre keine Rußdorfer Hofstelle wüst lag, deckte sich die Zahl der damals vor Ort lebenden 23 bäuerlichen Familien wahrscheinlich mit jener der Gründungsperiode. Bereits in den 1540er Jahren setzte eine gesellschaftliche Ausdifferenzierung ein. Erste klein- bzw. unterbäuerliche Güter wurden etabliert. Ein Steueranschlag von 1552 führt neben den drei separaten Feldstücken 25 Güter, darunter ein „Heußlein“. In 16 Höfen, ausnahmslos Bauerngüter, lebten 33 Hausgenossen. Zudem beschäftigten zehn Bauern insgesamt 17 Dienstboten. 167 Der Abschrift eines Amtssteuerregisters aus Langes Nachlass zufolge traten bis 1557 zwei weitere kleine Hofstellen hinzu. Inzwischen war die Zahl der sich noch immer auf 16 Güter verteilenden Hausgenossen leicht auf 34 angestiegen und ein weiterer Bauer hatte einen Dienstboten in Lohn und Brot genommen. An Nutzvieh verteilten sich auf 26 Güter 74 Kühe, 29 Kälber und 17 Schweine. 168

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Die ursprüngliche Größe des kirchlichen Besitzes sowie der Allmende, bestehend aus Viehtrieb und Hutholz, lässt sich ob fehlender Angaben in den ältesten Steuerverzeichnissen nicht ohne Weiteres ermitteln. Als beides in einem Steueranschlag 1769 erstmals näher spezi ziert wurde, war zumindest der Gemeinbesitz schon deutlich dezimiert. Im Jahr 1867 fasste die Gemarkung Rußdorf eine Fläche von 756 sächsisch-altenburgischen Ackern, d. h. in etwa 2 4,87 km . Je nachdem, welches Hufen- bzw. Ackermaß der Rechnung zugrunde gelegt wird, schwankt der Gutsan2 2 teil zwischen 2,87km nach fränkischem und 3,98km nach sächsischem Maß. Vgl. Heinich, Walter, Königshufen, Waldhufen und sächsische Acker, in: Lippert, Woldemar (Hg.), Neues Archiv für Sächsische Geschichte und Altertumskunde, Bd. 51, Dresden 1930, S. 1–10. Vgl. ThStA Abg, Obersteuerkollegium Nr. 107: Steuer-Revision Anno 1552. Vgl. EMLO, I/3.15/05: Personenlisten von Rußdorf inkl. Grundstücksangaben und Daten zu den Bauerngütern: 1557, 1647, 1651, 1767, 1846, Amtssteuerregister 1557.

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Beinahe 100 Jahre später war die gesellschaftliche Differenzierung deutlich fortgeschritten. Von 53 Rußdorfer Höfen wurden 1651 nurmehr 21 als Bauerngüter klassiziert. Zehn Gutsbesitzer, darunter vier Bauern, beherbergten je einen Hausgenossen. Gegenüber 1557 hatte auch der dörfliche Nutzviehbestand signi kant abgenommen. Zwar hatten 43 Familien Vieh im Stall stehen, jedoch wurden kurz nach Ende des Dreißigjährigen Krieges lediglich 59 Kühe, ein Kalb und neun Ziegen im ganzen Dorf gezählt. 169 Eng verbunden mit der sozialen Pluralisierung sowie dem Aufbruch der alten Hufenverfassung Rußdorfs nahm seine gewerbliche Entwicklung ebenfalls im späten 16. Jahrhundert ihren Anfang. Die kolonisatorische Flurteilungspraxis gestand jeder Siedlerfamilie eine Hufe, bestehend aus abgabenp ichtigem Land, einem lastenfreien „Garten“ sowie einem festgelegten Allmendenutzungsrecht, zu, die über das Eigenversorgungsmaß hinausgehende Erträge gewährleisten sollte. Überschüsse mussten zwangsläu g erbracht werden, um die grundherrlichen Lasten tragen und Geldmittel für außerordentliche Ausgaben erarbeiten zu können. Rußdorf verfügte jedoch nicht über die besten naturräumlichen Voraussetzungen. „Die Felder, meist hinter dem Hof gelegen, waren auf Grund ihrer relativ hohen Lage meist steinig und nicht sehr fruchtbar.“ 170 Selbst Vollbauern el es unter diesen Bedingungen in durchschnittlichen Jahren schwer, rentabel zu wirtschaften. Womöglich sind 26 Fuhren in Altenburg angekauften Getreides und eine Karrenladung Erbsen, für die insgesamt acht Rußdorfer Anspanner zwischen dem 16. November 1537 und Ostern 1538 Geleitsteuer entrichteten, Indizien notwendiger Nahrungsmittelzukäufe. 171 Christoph Herold, einer der spannfähigen Bauern seiner Zeit, steuerte 1712 für zwölf Scheffel Feld, je drei Viertel Scheffel Wiese und Holz, drei Kühe, ein Kalb und einen Hausgenossen. Obwohl er mit dieser Abgabenlast innerhalb der Gemeinde an fünfter Stelle stand, gab er gegenüber den altenburgischen Steuerbeamten 1722 an, er könne „doch die Felder nicht beständig nutzen, in Betracht die Tüngung ermangelte u. deren Kosten nicht wieder abgeworfen würden; wenn das Getraydig wohlfeil wäre, wie denn auch wegen Cälte u. Näße derer Felder vorietzo manches wieder unbestellet läge, welches in denen theuren Jahren bestellet worden wäre; da iedermann, der nur ein Stückgen Land gehabt, solches anzubauen gesuchet; und hohlten Sie ihre beste Tingung, welches die Asche wäre, um das Geld in Altenburg da sie vor iegl. Schf . 6 Gr. auf der Stelle bezahlen u. doch hernacher 3 Gr. in Waltenburg auch von den Wege geleite bezahlen müßen“. 172 Im gleichen Jahr legte die Gemeinde Rußdorf eine Beschwerde bei der fürstlich-sächsischen

169 170 171 172

Vgl. ThStA Abg, Obersteuer Kollegium Nr. 246: Steuer-Revision de ao: 1651. Vgl. Lange, Heimatbild, S. 32f. Vgl. ThStA Abg, Herzogliches Finanzrechnungsarchiv, Abt. 14 Rep. XIV, Nr. 1b: Jahresrechnung des Amts Altenburg Walpurgis 1537 – Walpurgis 1538. ThStA Abg, Obersteuerkollegium Nr. 1226: Tabella Die Steuer Revision zu Ruhsdorff anbetreffend. Ao. 1722.

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DIE UNTERSUCHUNGSORTE IM ÜBERBLICK

Obersteuereinnahme gegen die Anhebung der ohnehin schon als überhöht erachteten Steuerlasten ein: Denn es ist leider! notorisch, daß [...] aller unßerer Consumtion accisbar aus dem Chur Sächß. unß erhohlen, als auch unser Gewerbe auf gleiche Art durch das Chur Sächß. vertreiben, auch besonders unsere Felder, welche wir iedoch ieden Schefel oder 2/3 Acker nur, mit 2 Gr. 6 Pf. versteuern müßen, nicht den 3ten Theil so viel Getraide geben, alß viele andere im Altenburg. Lande gelegene, so bey der geringsten Landes Art, im Amts Bezirck des Obern Crayses, nur mit 1 Gr. von ieden Scheffel termin., besage des Steuer-Anschlages, angeleget, dennoch aber noch 4 mahl mehr erbauen und anstatt, daß wir noch anderthalb mahl so hoch, als diese, bereits im Steuer Ansaz liegen, kaum das liebe Brodt, wiewohl kümmerlich und spärlich, von unsern Feldern jährlich haben können, solche vieles Getraide zu Gelde machen, die fürstl. und andere Gefälle davon abtragen, und sonsten weiter zu ihren Nuzen verwenden, da unß gegentheilß solche abzuführen, wo nicht fast gar unmög. dennoch allzuschwehr, weilen die meisten das Geld darzu am Rade erspinnen müßen. 173

Weiterhin wird Christoph Herolds Urteil unterstrichen: Und da bey dem wenigen Getraidebau und darauß entstehenden Stroh-Mangel, den zu unsern Feldern benöthigten Dünger nicht haben können, an deßen statt, daferne wir etwas Getraide zu unserm höchstbenöthigten Unterhalt anbauen wollen, auf 3 Meilen Weges die Seifensieder Asche aus der Stadt Altenburg herbey schaffen, den Scheffel vor 6 gr. bezahlen, durch das Schönburg. zweymahl vergleithen, nicht minder wegen der großen hohen berge vorspanne haben, und stattsam bezahlen müßen, daß unß also ein zweyspänniger Karn mit Asche auf 5 und mehr Rthlr. zu stehen komt, womit iedoch, daferne etwas wachßen soll, nicht mehr Land, alß 1 oder aufs höchste 1 ½ Sippmaaß darauf zu säen, gedünget werden kann [...]. 174

Anfang des 18. Jahrhunderts lagen mehrere Hufen, den niedrigen Erträgen geschuldet, wüst. Deren Boden sei von derart geringer Qualität, „so nicht einmahl zu Huthwayde mehr wachßbar gewesen“. Eigenmächtige Versuche der Dorfbewohnerschaft, den Boden durch illegales P ügen zumindest soweit nutzbar zu machen, „daß man das Vieh wieder drauf hüthen könne“, liefen ins Leere, „weilen der Boden bey unß gar zu geringe“. Ergänzend heißt es 1725, „[...] was unser wiesen anbelanget, seind solche mehrentheils von geringen Nutz. und wo wohl derer dem ausmeßen nach ein starcker ansatz seind solche doch entweder sumpf g und sauer oder wüstes Feld und Laite [...]“. 175 Hatten selbst Vollbauern berechtigten Grund, ihre Einkommenssituation zu beklagen, muss es im Umkehrschluss Kleinstellenbesitzern trotz geringerer Abgabenlasten deutlich schwerer gefallen sein, ihren Lebensunterhalt auf landwirtschaftlichem Wege 173 174 175

Ebd., fol. 117. Ebd. Ebd., fol. 117ff.

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zu erwirtschaften. Den landbesitzlosen Häuslern und Hausgenossen war selbiges per se unmöglich, zumal der lokale Markt für Tagelöhner und selbst Saisonarbeiter in Anbetracht der offensichtlich eher nanzschwachen Bauern zu Beginn des 18. Jahrhundert von nur geringer Größe gewesen sein kann. War in agrarischer Arbeit kein Auskommen zu nden, blieb neben Abwanderung oder Bettelei nur marktorientierte gewerbliche Tätigkeit. Rußdorf wies hierfür dank seiner Exklavenposition eine im Vergleich zu anderen Landgemeinden der sächsischen Gebiete bevorzugte Lage auf. Keinem städtischen Bannkreis unterworfen, wurde dem Dorf zugestanden: „Von Handwerksleuten mögen allhier wohnen, wem es beliebet, weiln es außerhalb des [sächsisch-altenburgischen] Territorii lieget.“ 176 Erste gewerbetreibende Rußdorfer sind bereits für das späte 16. Jahrhundert nachweisbar. Zum Beispiel trat Greger Berger 1582 bis 1584 als „Leinweber“ bzw. „Leinbeber“ 177 auf und starb Justina Vischer 1607 „blötzlich [...] am achsrädschen bey Georg Schüßlern“. 178 Einhergehend mit der Partikularisierung bäuerlichen Besitzes stieg die Zahl der über die Steuerverzeichnisse nachweisbaren Gewerbetreibenden stetig an. Für 1651 sind neben elf Tagelöhnern, zumeist Hausgenossen, zwei Schneider, drei Spinner, ein Kleber und ein Mäusefänger belegt. 179 Über die folgenden 71 Jahre vergrößerte sich nicht nur das Berufsgruppenspektrum. Ein Steueranschlag von 1722 führt 22 Rußdorfer Bauern und 65 Gärtner bzw. Häusler auf. Unter diesen hielten 55 Vieh im Stall. Gegenüber 1651, als die Folgen des Dreißigjährigen Krieges noch spürbar waren, hatte sich der Viehbestand des Dorfes wieder deutlich erholt. Insgesamt 97 Kühe, 15 Kälber und zwölf Ziegen zählten die Steuerbeamten. Zudem werden erstmals Schafe, sechs an der Zahl, erwähnt. Die absolute Zahl der Hausgenossen war seit 1651 auf 17 angewachsen und auch ihr Anteil an der Dorfgesellschaft leicht gestiegen. Einen signi kanten Aufschwung hatte das dörfliche Handwerk erlebt. Auf acht Gewerbe verteilten sich 63 Rußdorfer Haushaltsvorstände im Jahr 1722. Den Löwenanteil von 87,3 Prozent beschäftigte die unkompliziert auszuführende Herstellung grober, ungefärbter Leinenstoffe für den Alltagsgebrauch. Dazu benötigte Arbeitsgeräte wurden von den Produzenten selbst beschafft bzw. eigenhändig gefertigt. Gleiches galt für den Rohstoff Flachs, der vor Ort angebaut und verarbeitet wurde. Den Vertrieb der Leinenwaren übernahmen Leinwandhändler, deren zwei 1722 in Rußdorf ansässig waren. Diese kauften die Leinwand auf und setzten sie vermutlich auf regionalen Märkten ab. 180 Ob sie die Ware zuvor zur Färbung oder Bedruckung gaben, geht aus den ausgewerteten Quellen nicht hervor. Dagegen ist belegt,

176 177 178 179 180

ThStA Abg, Amtsgericht Altenburg, C IV Loc. A Nr. 2. Vgl. EPA Kaufungen, KB I: Kirchbuch 1552–1686. Ebd., Beerdigungsregister 1607, Nr. 2. Vgl. ThStA Abg, Obersteuer Kollegium Nr. 246. Vgl. ThStA Abg, Obersteuerkollegium Nr. 1226: Tabella Die Steuer Revision zu Ruhsdorff anbetreffend. Ao. 1722.

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dass die Händler die Leinwand ungebleicht abnahmen und in umliegenden Ortschaften, wie 1737 in Grüna bei Andreas Reichel, bleichen ließen. 181 Anfang des 18. Jahrhundert befand sich Rußdorf in einer wirtschaftlichen Aufschwungphase, was unter anderem aus einem Vergleich des Steueranschlags von 1722 mit einer detaillierteren Bevölkerungserhebung von 1733 deutlich hervorgeht. Binnen acht Jahren waren 25 teils angehende Häusler ohne gleichzeitige Dezimierung der Anspanner zum Kreis der Rußdorfer Grundbesitzer hinzugetreten. Die sich auf 114 Hofstellen verteilende Bevölkerung des Dorfes umfasste in den frühen 1730er Jahren annähernd 480 Personen, davon beinahe die Hälfte Kinder. Unter den Hausvorständen gingen 55 nachweislich einem Gewerbe nach. Weitere 16 verdingten sich als Tagelöhner. Die Zahl der darin inbegriffenen Leinweber hatte sich seit 1722 auf 29 beinahe halbiert. Ebenso führt die Haushaltsliste nur noch einen Leinwandhändler im Dorf auf. Gleichzeitig erweiterte sich das lokale Berufsgruppenspektrum unter anderem um zwei neue, für die weitere wirtschaftliche Entwicklung des Dorfes zentrale Gewerbe: Müllerei und Strumpfwirkerei. 182 Ein erhebliches wirtschaftliches Manko bestand für die Rußdorfer im Fehlen einer örtlichen Mühle. Getreide per Hand zu mahlen, war selbst für den alltäglichen privaten Gebrauch hinsichtlich des relativ hohen Zeitaufwandes eher unpraktikabel. In der Regel wurden größere Chargen Getreides auf Vorrat gegen Gebühr in Mühlen der Umgebung gemahlen. Die Rußdorfer Exklavenbewohner mussten daher traditionell „alles Getreyde in die benachbarthe Churfürst. und Schönburg. Mühle“ 183 bringen und anlässlich der dabei notwendigen Passierung der Orts- respektive Landesgrenze regelmäßig Zölle auf sich nehmen. 184 Zweifelsohne weniger aus sozialem Verantwortungsbewusstsein denn wirtschaftlichem Kalkül suchte die Schenkgutsbesitzerin Elisabeth Sebastian (1660–1736) diesem Umstand 1718 abzuhelfen. Sie hatte mit ihrem Gasthof nicht nur das Schankrecht inne, wofür das Amt Altenburg eine Tranksteuer erhob, sondern war ebenfalls berechtigt, selbst zu mälzen und zu brauen. Um „wegen des Maltzschrothens zum Bierbrauen und Brandeweinbrennen“ 185 Kosten zu sparen, ersuchte sie erstmals im Juni 1718 bei Herzog Friedrich II. um Konzession zur Errichtung einer Mühle an ihrem Teich am Rande der Dorf ur gen Pleißa. Selbst unter der Rußdorfer Bevölkerung stieß dieses Ansinnen trotz der in Aussicht gestellten unverkennbaren Vorteile nicht bei allen auf Gegenliebe. Letztendlich opponierte vor allem Antonius von Schön181 182 183 184 185

Vgl. SächsSTAC, 30593 Herrschaft Waldenburg, Nr. 2622: des von Sachßen Gotha und Altenburg in Dorffe Rußdorff anzulegender gewißer Jahr- und Wochen Märckte zum Garn und Leinwand Verkauff 1737, fol. 4. Vgl. ThStA Abg, Landesregierung, Nr. 4172: Die von dem Ambt Altenburg und denen dahinein bezirckten Rittergüthern eingeschickte Speci cationes der jungen Mannschafft 1733, fol. 8. ThStA Abg, Landesregierung, Nr. 778: Abraham Sebastians Wittbe und Erben zu Rußdorff erlangte Concession eine Mühle zubauen. Ao. 1718–1722. Vgl. KrA Gl, Limbacher Tageblatt und Anzeiger, 1938, Nr. 242, Zum 60-jähr. Todesjahr der Holzmühle im Rußdorfer Wald. ThStA Abg, Landesregierung, Nr. 778, fol. 8.

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berg, Gerichtsherr zu Limbach, bei August dem Starken gegen dieses Vorhaben. Er begründete seine sicherlich in erster Linie aus Sorge um wirtschaftliche Einbußen der in seinem Herrschaftsbereich be ndlichen Mühlen entspringende Abwehrhaltung mit der Befürchtung, dass „eines Theils durch die hin- und wieder gehende Mahlgäste, welche die Besitzerin aus Unserm Territorii an sich zuziehen trachtet, das Wildpreth gestöhret, andern theils [...] allerhand loses Gesindel von Wildpreths Dieben und dergleichen Leuthen, alda sich auffzuhalten, und das auff hiesiger Gränze gefällete Wild, in andere Territoria fortzuschaffen, und sonsten ihre Retirade zunehmen Gelegenheit haben, nicht weniger [...] durch Ableitung des Waßers an seiner Fischerey und der Mühle zu Limpach, desgleichen denen zu Oberfrohna wohnenden Fabricanten und Bleichern an ihrer Nahrung großer Abbruch und Nachtheil zugezogen werden wird und kan“. 186 Da sich diese Einwände als unbegründet erwiesen und die Mühle der wirtschaftlichen Stärkung Rußdorfs zuträglich erachtet wurde, erteilte Friedrich II. der Wirtin am 5. September 1719 die Erlaubnis zu Errichtung und Betrieb einer Mühle gemäß der geltenden Mühlenordnung. 187 Binnen zwei Jahren wurde die eingängige Rußdorfer Getreidemühle erbaut und in Betrieb genommen. Offenbar reihte sich die sebastianische Initiative in eine regionale Bewegung ein, von der Elisabeth Sebastian 1721 schrieb: „aller Orten wo es nur angehen will, in denen Dörffern umb Rußdorff rumb neue Mühlen seind gebauet worden“. Dem Urteil der Wirtin nach bestand damals dazu nicht nur für sie „höchste Nothwendigkeit“, schließlich seien „iezund nur in etzliche 20 Häußern einige Patienten gewesen, die in benachbarten Dörffern sonst mahlende Leute in Mühlen nicht angenommen, sondern daß viele Leute auf die Mühle warteten, abgewiesen worden, daß sie Gott gedencket auf unsern Mühlgen anzukommen und das notdürfftige Brod zu erhalten“. 188 Da kein Mitglied der Familie Sebastian das Müllerhandwerk erlernt hatte, wurde die Mühle von Beginn an verpachtet. Die Pächter, als deren erster nachweisbarer 1723 der ortsfremde Gottfriedt Schmiedt in Erscheinung tritt 189, betätigten sich mehrfach zusätzlich als Bäcker und führten mindestens im 19. Jahrhundert eine prosperierende Aus ugslokalität. 190 Ende der 1720er bis Anfang der 1730er Jahre gelangte die Strumpfwirkerei von Limbach nach Rußdorf. Eine Generation früher hatte der aus Köthensdorf stammende ehemalige Formenstecher Johann Esche (1682–1752) zwischen 1701 und 1703 erstmals einen Strumpfwirkstuhl in Limbach aufgestellt. Ein erst zu entwickelnder Absatzmarkt hielt die Zahl der dort tätigen Strumpfwirker, denn noch in den 1710er Jahren verschrieben sich vier weitere Personen diesem Gewerbe, auf 20 Jahre relativ gering. Ab 1727 ist

186 187 188

189 190

Ebd., fol. 14 ff. Vgl. ebd., fol. 42. ThStA Abg, Landesregierung, Nr. 783: Die von Schönberg zu Limpach gegen Abraham Sebastians Witbe zu Rußdorff wegen angegebene Ableitung des Reinbachs auf ihre Mühle zum Nachtheil des erstern Mühle und Fischerey. Ao. 1721, fol. 31. Vgl. EPA Rußdorf, KB I. Vgl. KrA Gl, Limbacher Tageblatt und Anzeiger, 1938, Nr. 242.

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DIE UNTERSUCHUNGSORTE IM ÜBERBLICK

der Strumpfstuhlbau in Limbach nachweisbar; ab 1735 weisen Nennungen von Strumpfwirkermeistern und -gesellen in den lokalen Kirchbüchern auf eine Innung vor Ort hin. Nach Dietrich Esche muss ein erster Innungskon rmationsantrag 1739 abschlägig beschieden worden sein. 191 Während die Zahl der Limbacher Meister langsam zunahm, ließen sich 1729 drei Limbacher Strumpfwirker in Rußdorf, wo der damalige Schankwirt Christoph Sebastian mit fürstlicher Genehmigung ein wüstes Feld in Hausbauplätze teilte und veräußerte, in diesem neu entstehenden Ortsteil nieder. Zu ihnen zählte Johann David Esche (1709– 1782), ein Sohn des ab 1732 auch Seide verarbeitenden Johann Esche. Dieser hatte sicherlich maßgeblichen Anteil an den gescheiterten Limbacher Innungsgründungsbestrebungen, ist er doch als Obermeister der dortigen Meisterverbindung verbürgt. Ziel der Unternehmung war es gewesen, sich von der 1729 gegründeten Chemnitzer Innung unabhängig zu machen, deren Statuten der Rat der Stadt Chemnitz 1731 anerkannte und die 1734 erstmals und 1755 endgültig die kurfürstliche Kon rmation erfuhr. 192 Das sich daraus ableitende Zunftregiment galt im gesamten Amt Chemnitz und unterband unter anderem die Strumpfwirkerausbildung durch dörfliche Meister, welche der Innung nur mit minderen Rechten angehörten. Chemnitz fungierte für die 1736 gezählten 150 Land- und 180 Stadtmeister als Gewerbezentrum. Hier bezogen die Wirker auf Kredit von Großhändlern Wolle, die sie selbst zur Weiterverarbeitung an regionale Spinner gaben und hier saßen Verleger, welche in erster Linie ärmere Meister mit Rohstoffen versorgten und deren Produkte abnahmen. 193 Mit hoher Wahrscheinlichkeit in Kooperation mit den Limbacher Meistern, strengten die Rußdorfer Strumpfwirker 1744 ihrerseits eine Innungskon rmation an. Das Motiv, sich von Chemnitz abzukoppeln, wurde auch in diesem Fall bemüht: was gestallt wir in unserer Jugend das Strumpfwürckerhandwerck gebührend erlernet, [...] zu Fortsetzung unserer Profession aber das Meister-Recht in der Chur Sächß. Stadt Chemnitz gewinnen, und die davon fallenden Herrschafftlichen Nutzungen wieder Willen auch dahin entrichten müßen [...] gleichwohl weder Gesellen setzen, noch unsern und andern Kindern das Handwerck zu ihren Fortkommen lernen, einfolglich auch selbiges zu dem nöthigen Erwerb unsers Lebens Unterhalts nicht forttreiben können, wann wir es nicht mit einer fremden Innung weiter halten oder mit einer eignen begnadiget würden. 194

191 192

193 194

Vgl. Esche, Wirkerei, S. 30ff. Vgl. Bräuer, Helmut, Handwerk im alten Chemnitz, Chemnitz 1992, S. 40 f.; Zöllner nennt das Jahr 1765 als Zeitpunkt der zweiten landesherrlichen Kon rmation. Vgl. Zöllner, Curt Wilhelm, Geschichte der Fabrik- und Handelsstadt Chemnitz von den ältesten Zeiten bis zur Gegenwart, Chemnitz 1886, S. 418. Vgl. Bräuer, Handwerk, S. 41. ThStA Abg, Landesregierung, Nr. 11934: Die von denen Strumpffwürckern zu Rußdorff, Johann David Eschen und Consorten gesuchte Ertheilung einer Innung und Beschwerde über die Pfuscherey betr. Ao. 1744, 1745, 1751 u. 55, fol. 1.

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Die unübersehbaren wirtschaftlichen Vorteile sowie die isolierte Lage Rußdorfs fern aller Bannkreise der sächsisch-altenburgischen Städte beförderten das Gesuch, dem Friedrich III. von Sachsen-Gotha-Altenburg durch Bestätigung der Innungsstatuten am 2. März 1745 stattgab. 195 Mit lediglich vier nachgewiesenen Strumpfwirkermeistern zählte die Rußdorfer Innung damit zu den ersten im gesamtdeutschen Raum. Obwohl von lediglich geringer Größe, hatte die Vereinigung doch das Recht, Meister zu ernennen und verlieh Lange zufolge auch zahlreichen Limbacher Strumpfwirkern das Meisterrecht. 196 Für die Rußdorfer Wirtschaft blieb die Innung nichtsdestotrotz lange Zeit von geringerer Bedeutung. Noch 1769 – zwei Jahre zuvor wurden bei der ersten bezeugten lokalen Bevölkerungserhebung 565 Einwohner im Dorf gezählt 197 – gingen von 101 gewerbetreibenden Familienvorständen lediglich acht der Strumpfwirkerei nach. Dagegen betrieben 65 die Leinweberei und betätigten sich 15 im Leinwandhandel. 198 Zur selben Zeit führte der bereits erwähnte Johann David Esche als Verleger in Limbach schon eine Fürstenhöfe beliefernde Seidenstrumpfmanufaktur 199. Unter der Limbacher Gerichtsherrschaft lebte eine deutlich größere Zahl an Strumpfwirkern. Als diese 1779 erneut eine Innungsgründung anstrengten, welche 1785 gelang, zählte die ansässige Meisterschaft 102 Personen. 200 Insgesamt existierten in Rußdorf anno 1769 neben den Berufen des Agrarsektors 16 steuerp ichtige Gewerbe, denen nur noch ein Drittel der damals 148 Haus- bzw. Hofstellenbesitzer hauptberuflich nachging. 201 Die Bedeutung des sekundären Sektors für die Wirtschaft der altenburgischen Exklave nahm über die verbleibenden 160 Jahre des Untersuchungszeitraums kontinuierlich zu. Gleichzeitig wuchs die Bevölkerung vor allem im 19. Jahrhundert stark, was sich nicht zuletzt im Ortsbild widerspiegelte. Anfang der 1830er Jahre lebten bereits beinahe 900 Menschen in 151 Rußdorfer Häusern. 202 Bis 1854 vermehrte sich die Einwohnerzahl um 22,7 Prozent auf 1086, welche sich auf 25 Bauern- und 28 Gartengüter sowie 110 Häuser verteilte. 203 Das Verhältnis zwischen Leinweberei und Strumpfwirkerei kehrte sich bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts um. Lange nennt für 1848 nur noch 24 in der Leinenverarbeitung beschäftigte Einwohner, dafür allerdings eine Färberei und mehrere Bleichen. Hingegen umfasste die Rußdorfer

195 196 197 198 199 200 201 202 203

Vgl. ebd., fol. 51f. Vgl. Lange, Allerlei, S. 6. Vgl. EPA Rußdorf, KB I. Vgl. ThStA Abg, Obersteuer Kollegium Nr. 274: Steuer-Anschlag von Rußdorf de Anno 1769. Vgl. Esche, Wirkerei, S. 58. Vgl. StALO, Stadtrath zu Limbach, Abt. III. Abschn. 10b Nr. 1: Die Errichtung einer Strumpfwürcker-Innung alhier zu Limbach 1779. Vgl. ThStA Abg, Obersteuer Kollegium Nr. 274. Vgl. Staats- und Adreß-Handbuch des Herzogthums Sachsen-Altenburg. 1843, Altenburg 1843, S. 103. Vgl. Staats- und Adreß-Handbuch des Herzogthums Sachsen-Altenburg. 1855, Altenburg 1855, S. 102.

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DIE UNTERSUCHUNGSORTE IM ÜBERBLICK

Strumpfwirkerinnung zu dieser Zeit 120 Meister. 204 Im selben Jahr begründete Samuel Friedrich Engelmann (1825–1890) eine Strumpffabrik, die seit den 1890er Jahren unter seinen Nachfahren und dem Namen Welker & Söhne zum größten Arbeitgeber der Exklave aufstieg. Mitte der 1930er Jahre beschäftigte die Firma 415 Personen 205 und belieferte die sächsischen Fürstenhöfe ebenso wie sie nordamerikanische Märkte bediente. 206 Die Fabrikindustrialisierung setzte in Rußdorf allerdings erst nach der Gründung des Deutschen Kaiserreichs 1871 ein. Ende der 1860er Jahre wurde dem Ort mit seinen rund 1200 Einwohnern zwar durchaus eine gewerbliche Prägung zugestanden, die sich vor allem in zahlreichen ansässigen Strumpfwirkern, Leinwebern und Färbern ausdrückte 207, doch erst 1886 wurde es als Industriedorf charakterisiert. 208 Zunächst stiegen noch in den 1870er Jahren einige Strumpfwirker auf die fabrikatorische Strumpfproduktion um. Im Laufe der 1880er Jahre traten erste Handschuhfabriken, Appreturanstalten und mehrere Maschinenbaufabriken hinzu, die jedoch oft nicht lange bestanden und zumeist nur kleinbetriebliche Ausmaße erreichten. Heimarbeit blieb, regelmäßig unter Bindung an eine Textilfabrik, analog zur gesamtsächsischen Industrialisierung auch während und nach der Hochindustrialisierungsphase bis in die 1930er Jahre für die dörfliche Textilproduktion von Bedeutung. Vier Jahre vor Beginn des Ersten Weltkrieges führt ein Altenburger Adressbuch zehn Rußdorfer Fabriken 209, mehrheitlich des Textilsektors, auf, deren Zahl sich bis 1920 um sechs vermehrte. 210 Die Gewerbelandschaft der Exklave differenzierte sich generaliter seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert stark aus. Die protoindustriell bedeutenden Leitgewerbe Leinweberei und Strumpfwirkerei waren daran nicht länger beteiligt. Noch vor 1900 starb die Leinenverarbeitung als Berufszweig in Rußdorf nachfragebedingt aus, während die selbstständig produzierenden Strumpfwirker der übermächtigen Konkurrenz fabrikmäßiger Hersteller weichen mussten. Mit nur noch 44 Meistern wurde die örtliche Innung 1901 aufgelöst. 211 Ebenfalls um 1880 setzte ein lang anhaltendes exorbitantes Wachstum der Rußdorfer Bevölkerung ein. Zwischen 1871 und 1880 stieg die Einwohnerschaft von 1446 212 auf 1781 213 Personen an, in der nachfolgenden Dekade wuchs sie um 963 Individuen. 204 205 206 207

208 209 210 211 212 213

Vgl. Lange, Heimatbild, S. 8. Vgl. StALO, Rat der Stadt Oberfrohna, Nr. 1256: Fabrik- und Heimarbeiter-Zählungen 1935–1942. Vgl. KrA Gl, Limbacher Tageblatt und Anzeiger, 1928, Nr. 231, Jubiläum. Vgl. Töpfer, Johannes, Landeskunde des Herzogthums Sachsen-Altenburg. Das Herzogthum Sachsen-Altenburg in geographischer, statistischer und topographischer Beziehung beschrieben, sowie mit historischen Bemerkungen versehen, Gera 1867, S. 68. Vgl. Lange, Allerlei, S. 66f. Vgl. Adressbuch der Landgemeinden des Herzogtums Sachsen-Altenburg. Ostkreis, Altenburg 1910, S. 166. Vgl. StadtACH, A 50a: Adreßbuch der Umgebung von Chemnitz. Handels rmen und Gewerbetreibende sowie Gutsbesitzer, 1920. Vgl. Lange, Allerlei, S. 7. Vgl. Eichler, Bürgertum, S. 32. Vgl. Staats- und Adreß-Handbuch des Herzogthums Sachsen-Altenburg. 1881, Altenburg 1881, S. 172.

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Vier Jahre vor Beginn des Ersten Weltkrieges lebten 3600 214 Personen vor Ort. Bis zum Ende der untersuchten Periode hielt der demographische Aufschwung, wenn auch seit 1914 deutlich verlangsamt, an, sodass Anfang der 1930er Jahre fast 4000 215 Menschen das Industriedorf ihr Zuhause nennen durften. Die parallele Änderung des Ortsbildes trug dem Rechnung. Den 1868 gezählten 171 Wohnhäusern 216 gesellten sich bis 1880 30 weitere hinzu 217. Jahrzehnte vor Rußdorfs administrativer Eingliederung nach Oberfrohna 1935 wuchsen die Ortschaften um 1890 faktisch zusammen. Während der letzten 35 Jahre vor Beginn des Ersten Weltkrieges erlebte die Exklave einen regelrechten Bauboom. Allein zwischen 1880 und 1900 entstanden fast 70 Häuser ohne landwirtschaftlichen Bezug. 218 Im Zuge dessen erfuhr auch die dörfliche Infrastruktur einen unübersehbaren Ausbau. Die Straßen wurden befestigt, erste Ortsteile erhielten 1907 einen Gasanschluss. Elektrische Leitungen wurden erstmalig 1909 verlegt. 219 Hingegen konnte eine 1913 geplante, ökonomische Wachstumsimpulse in Aussicht stellende Eisenbahnanbindung dem Ersten Weltkrieg geschuldet nicht realisiert werden. 220 Krieg, Große In ation und die Weltwirtschaftskrise ab 1929 ließen Rußdorf nicht unbeein usst, wirkten jedoch offenbar in wirtschaftlicher Hinsicht nur kurzfristig negativ auf das Industriedorf. Wohl litt zum Beispiel die 200 Beschäftigten Arbeit gebende Firma Preßler u. Co. stark unter den kriegswirtschaftlichen Umstellungen und war die Färberei Wünschmann, mit 500 Arbeitsplätzen einer der größten Arbeitgeber der Exklave, 1926 gezwungen, Konkurs anzumelden. Trotzdem verharrte die vor 1914 gegen null tendierende Arbeitslosigkeit unter den Dorfbewohnern selbst in den 1920er Jahren auf einem sehr niedrigen Niveau. Die meisten größeren Unternehmen überstanden die wirtschaftlichen Missentwicklungen bis 1935 und zahlreiche zwischen 1920 und 1930 gegründete kleinere Betriebe trugen ihrerseits zu den hohen Beschäftigungsquoten bei, elen allerdings zu nicht geringen Teilen der die 1920er Jahre beschließenden Weltwirtschaftskrise zum Opfer. 221 Als Rußdorf 1928 seine Exklavenposition aufgab und 1935 durch seine Eingemeindung nach Oberfrohna auch administrativ ins Limbach-Oberfrohnaer Industrierevier eingebunden wurde, ließ sich sein ehemals rein agrarisch-dörflicher Charakter durchaus noch an den bis in die Gegenwart größtenteils erhaltenen Bauerngütern erahnen. Die Industrialisierung, Höhepunkt vielschichtiger tiefgreifender gesamtgesellschaftlicher und 214 215 216 217 218 219 220 221

Vgl. Eichler, Bürgertum, S. 32. Vgl. StALO, Rußdorf Nr. 35: Nachweisung über die Fortschreibung der Bevölkerung der Gemeinde Rußdorf Kreis Altenburg. Vgl. Staats- und Adreß-Handbuch des Herzogthums Sachsen-Altenburg. 1869, Altenburg 1869, S. 139. Vgl. Staats- und Adreß-Handbuch des Herzogthums Sachsen-Altenburg. 1881, S. 172. Vgl. ThStA Abg, Steuer- u. Rentamt Altenburg, Nr. 121. Vgl. Lange, Allerlei, S. 5ff. Vgl. Lange, Heimatbild, S. 9. Vgl. ebd., S. 36.

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DIE UNTERSUCHUNGSORTE IM ÜBERBLICK

-ökonomischer Entwicklungen der Frühneuzeit und Neuzeit in Sachsen, wandelte die extradörfliche Lebenswelt in vielen Punkten grundlegend. Rußdorf partizipierte daran nicht nur passiv. Die innerdörfliche Verfassung wandelte sich ihrerseits seit dem Spätmittelalter in zahlreichen Aspekten, teils autonom, teils in Reaktion auf überregionale Veränderungen. Eine beinahe reine Agrarökonomie wich einer vom sekundären und tertiären Sektor dominierten Dorfwirtschaft, die kolonisatorische Siedlungsstruktur verlor sich in starker Partikularisierung und Umwidmung von Agrar- in Bauland, die Sozialstruktur differenzierte stark aus, weichte auf, und die anfangs sehr geringe Bevölkerungsdichte stieg bis in die 1930er Jahre exorbitant.

3.2 BRÄUNSDORF Der zweite betrachtete Ort, Bräunsdorf, glich seiner Nachbargemeinde Rußdorf anfangs hinsichtlich Historie und Ortsbild grundsätzlich. In denselben geographisch-geologischen Rahmen eingebettet, blickt er mutmaßlich auf eine analoge Entstehungsgeschichte zurück. Sowohl Flurverfassung als auch onomastische Einordnung stützen diesen Befund. Offenbar mit seiner Benennung auf einen Lokator „Brunig“ referenzierend, weist die typische Waldhufendorfform mit angeschlossener Gelänge ur die 694 Hektar umfassende Ortschaft als Kind der deutschen Ostkolonisation aus. Eine diese auf Indizienbeweisen fußende Annahme belegende Gründungsurkunde fehlt erwartungsgemäß. Die Erstnennung des Dorfes, obgleich umstritten, datiert wesentlich früher als jene Rußdorfs. Sowohl Eichler als auch Blaschke nennen für 1275 Hermannus de Brunigesdorf, leider ohne Quellenverweis. 222 Ebenso kann eine 1290 in Rochlitz ausgestellte Urkunde, auf die sich 1990 und 2015 anlässlich Jubiläumsfeierlichkeiten bezogen wurde 223, nicht zwangsläu g als Beleg für die Existenz Bräunsdorfs dienen, da sie einen eindeutigen Bezug des unter anderem genannten „Janek de Brunesdorf “ zu Bräunsdorf bei Limbach vermissen lässt. 224 Erste eindeutig zuordenbare Erwähnungen datieren wahrscheinlich auf die erste Hälfte des 14. Jahrhunderts. Einer Ortschronik von Grumbach bei Waldenburg zufolge wurde Bräunsdorf 1320 unter den elf Parochien des Kirchenbezirks Waldenburg im Archidiakonat Chemnitz aufgeführt. 225 Ein Quellenverweis fehlt allerdings abermals. Hingegen vermag der Ortschronist Horst Strohbach konkrete Urkundenbelege anzuführen, wenn er als erstes erhaltenes, auf Bräunsdorf bezogenes Dokument die Belehnung Nicolaus von Wirtzburgs unter anderem mit dem Dorf in Nachfolge des Ludwig von Kurbitz identi ziert. Zwar entbehrt das Dokument eines Datums,

222 223 224 225

Vgl. Eichler, Bürgertum, S. 21 u. HOV, Bräunsdorf. Vgl. StALO, Chronik Frenzel: Ortschronik von Bräunsdorf, S. 31. Vgl. Frenzel, Siegfried, Bräunsdorfer Geschichten und Geschichte, Nürnberg 2015, S. 16. Vgl. Callenberg, Grumbach, S. 17.

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doch sei es im Hinblick auf andere Beurkundungen spätestens im Jahr 1377 aufgesetzt worden. 226 Im Spätmittelalter gehörte Bräunsdorf nachweislich der 1436 durch Teilung der Herrschaft Zinnberg entstandenen 227 Herrschaft Penig an, hatte somit gleich Rußdorf die Burggrafen von Leisnig, welche die Burggrafen von Altenburg als Eigentümer der Liegenschaften im frühen 14. Jahrhundert ablösten 228, zu Oberlehnsherren. Letztere büßten bis 1365 ihre Reichsunmittelbarkeit vollständig ein, indem die Wettiner seit 1329 schrittweise die Lehnshoheit aller Leisnig'schen Gebiete übernahmen. 229 Als die Burggrafen von Leisnig 1538 ausstarben, el ihr Besitz dementsprechend an die sächsischen Herzöge. Jene tauschten die Herrschaften Penig und Wechselburg 1543 mit den Grafen von Schönburg gegen Hohnstein, Lohmen und Wehlen. 230 Dieser überblicksartige Abriss seiner Verwaltungsgeschichte gilt allerdings nicht für das gesamte Bräunsdorf. Aus ungeklärter Ursache war es schon 1542 zweigeteilt, indem ein Gut nicht der lokalen, sondern der Grundherrschaft des Ritterguts Limbach 231, somit dem Amt Chemnitz bzw. Mitte des 19. Jahrhunderts zeitweise dem Amt Limbach unterstand. 232 Der verhältnismäßig bestimmende Peniger Anteil Bräunsdorfs teilte sich seinen Grund- und Gerichtsherrn seit dem späten Mittelalter mit dem benachbarten Kaufungen. Glatz und Jost von Kaufungen sowie deren Schwester Käthe von Rippin erstanden Bräunsdorf mit Ausnahme des bei den Burggrafen von Leisnig verbleibenden Kirchlehens 1416 wiederkäuflich. 233 Im Anschluss an den Altenburger Prinzenraub 1455, den Kunz von Kaufungen mit seinem Leben büßte, gelangte Hans von Maltitz, einer der tes-

226 227 228 229 230

231 232 233

Vgl. Strohbach, Horst, Dorfbuch Bräunsdorf, Bräunsdorf 1938, S. 258. Vgl. Thieme, Altenburg, S. 560. Vgl. ebd., S. 87. Vgl. Groß, Reiner, Die Wettiner, Stuttgart 2007, S. 55. Vgl. Topographie von Schönburg mit verschiedenen Beylagen, Halle 1802, S. 17. – Im Zuge der Ablösung der grundherrlichen Lasten sah sich das schönburgische Gesamthaus 1841 durch das Königreich Sachsen in seiner Lehnsherrlichkeit über Bräunsdorf gestört. Es kam zum Prozess. Damals erklärten die Schönburger unter Berufung auf im Familienbesitz be ndliche Urkunden, sie hätten sich 1542 geweigert, der Churfürstlich-Sächsischen Türkensteuerforderung für Bräunsdorf nachzukommen. Demnach habe das Dorf schon vor dem Tausch von 1543 den schönburgischen Herrschaften angehört. Davon ausgehend wurde geschlussfolgert, Bräunsdorf sei böhmisches Reichsafterlehen gewesen, welches Friedrich von Schönburg 1297 dem Kloster Geringswalde schenkte. Vgl. SächsSTAC, 30575 Gesamtkanzlei Glauchau, Nr. 706: Fascikel die von mir hinsichtlich des Beweises der Afterlehnsherrlichkeit über Bräunsdorf quo ad possesserium und zugleich quo ad petitorium angestellten Erörterungen betr. Adv. Haendel. – Strohbach vermutete zu Recht einen Irrtum. Bei der Türkensteuerverweigerung wurden die Dörfer „Heyersdorf und Wyra“ im Zusammenhang mit Bräunsdorf erwähnt. Eine gleichartige Verbindung der Orte ndet sich im Amtserbbuch Borna aus der Mitte des 16. Jahrhunderts. Dadurch lässt sich das 1542 erwähnte Dorf als Breunsdorf bei Borna identi zieren. Vgl. Repertorium Saxonicum Institut für Sächsische Geschichte und Volkskunde e. V. (Hg.), Repertorium Saxonicum, Breunsdorf, online: http://repsax.isgv.de/projekt.php [zuletzt aufgerufen am 20. 06. 2016]. Vgl. Strohbach, Dorfbuch, S. 284 u. SächsSTAC GB Limbach, Nr. 16, Bl. 27. Vgl. HOV, Bräunsdorf. Vgl. Kirchner, Wolkenburg, S. 65.

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DIE UNTERSUCHUNGSORTE IM ÜBERBLICK

tamentarisch bestimmten Vormünder der entführten Prinzen 234, in den Besitz sowohl Kaufungens als auch Bräunsdorfs. 235 Dessen Nachkommen hielten das Lehen bis in die zweite Hälfte des 16. Jahrhunderts. Zwischen 1571 und 1586 gehörten beide Grundherrschaften kurzzeitig nachweislich Wolf von P ug. 236 Anschließend gingen sie in den Besitz derer von Thumbshirn über, bevor Heinrich Hildebrand Edler von der Planitz das „Rittergut Kaufungen mit Bräunsdorf “ 1680 an sich erkaufte. 237 Dessen Familie hielt den Besitz bis 1739, mindestens seit 1728 unter Verpachtung des Ritterguts Bräunsdorf, ehe er 1756 an eine Erbengemeinschaft „Martha v. Schlieben u. Consorten“ el. Im Folgejahr wurde einem namentlich nicht genannten Sohn des 1756 verstorbenen Hans Abraham von Einsiedel eine Hypothek in Höhe von 8000 Talern auf das Rittergut Bräunsdorf eingeräumt. Mit Detlev Graf von Einsiedel erstand ein weiterer Vertreter dieser Familie das Lehen 1766 von der genannten Erbengemeinschaft. 238 Bis in die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts saßen die von Einsiedel unter anderem auf den Rittergütern Kaufungen und Bräunsdorf. Letzteres wurde während der Napoleonischen Kriege mit hohen Hypotheken belastet, die es 1863 formal in den Besitz der Landesbank Altenburg übergehen ließen. Erst mit dem Kauf des Ritterguts durch den 1889 als Pächter auftretenden 239 Burgstädter Heinrich Curt Heinig konnten die Schulden 1894 beglichen werden. Dadurch gelangte der Besitz letztendlich in bürgerliche Hände, wo er bis zur Enteignung des letzten Eigentümers Gerhard Koch 1945 verblieb. Im Anschluss wurde das Rittergut Bräunsdorf abgebrochen. 240 Bis zur Rati zierung des sächsischen Gerichtsverfassungsgesetzes am 11. August 1855, wodurch die Patrimonialgerichtsbarkeit im Königreich an ihr Ende kam bzw. die Befugnisse der Patrimonialgerichtsherren auf den Staat übergingen 241, stand die Jurisdiktion über den Peniger Anteil Bräunsdorfs dem Besitzer des örtlichen Ritter234 235

236 237

238 239 240 241

[RI XIII] H. 11 n. 77, in: Regesta Imperii, online: http://www.regesta-imperii.de/id/ 1447-09-01_1_0_13_11_0_77_ 77 [zuletzt aufgerufen am 20.06.2016]. Einer Urkunde von 1445 zufolge verkaufte Lupphart von Wirtzburg „das Forberg zu Penigk mit wiesen, ackern, hultzen, waßer leufften, und mit aller freiheit, mit kirchlein tzu Steinbach, mit den Leuten daselbst, mit den Leutten tzu Breunigstorff [...]“ an Titze und Albrecht von Meckau. Wie Strohbach anmerkt, ist das darin erwähnte Bräunsdorf nur auf den Limbacher Anteil zu beziehen, nicht auf Rittergut und die gesamte Ortschaft. Vgl. Strohbach, Dorfbuch, S. 258 f. – Die Familie von Meckau befand sich seit dem späten 13. Jahrhundert im Besitz des Ritterguts Limbach. Vgl. Kirchner, Christian, Rittergut Limbach in Sachsen. 100 Jahre im Stadtbesitz von Limbach-Oberfrohna, Bad Langensalza 2013. Vgl. Strohbach, Dorfbuch, S. 260. Wolf von P ug verpachtete die Rittergüter vor dem Besitzwechsel an den Obrist-Lieutnant Carol von Goldtstein, welcher am 26. Oktober 1677 „die Gerichte“ übernahm. Vgl. HstA-D, 12613 GB Limbach, Nr. 1: Gerichtsbuch Bräunsdorf, 1672–1685, fol. 168. Vgl. SächsSTAC, 30575 Gesamtkanzlei Glauchau, Nr. 704: Privatacten in Sachen des hohen Gesamthauses von Schönburg gegen die Krone Sachsen. Besitzstörung in der Lehnsherrlichkeit Bräunsdorf. 1847. Vgl. EPA Bräunsdorf, KB V: Trauregister 1853–1890, Hochzeit des Heinrich Curt Heinig, S. 156, Nr. 1c. – Heinig waren seit 1857 mindestens die Pächter F. D. Fischer, F. H. Gerth u. C. R. Moses vorangegangen. Vgl. Kirchner, Rittergut, S. 16. Vgl. Reichert, Frank, Zur Geschichte der Feststellung und Kennzeichnung von Eigentums- und Herrschaftsgrenzen in Sachsen, Dresden 1999 [Hochschulschrift], S. 62.

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gutes zu, während die wenigen Bewohner des Limbacher Anteils der Rechtsprechung des Limbacher Gerichtsherrn unterworfen waren. Über die konkrete, umfangreiche Kompetenz der Bräunsdorfer Rittergutsherren gibt ein in Abschrift überlieferter Lehnbrief Peter von Maltitz' aus dem Jahr 1544 Auskunft. Letzterer erhielt das Gut und Dorf mit den „Gerichten, Obersten und Niedersten, uber Halß und Handt“. 242 Der Gerichtsort ist nicht explizit überliefert, ist aber vermutlich auch für Bräunsdorf in einer Kaufunger Gerichtsstube mit angeschlossenem Gefängnis und Wächterstube zu identi zieren. 243 Obrigkeitliche Anordnungen wurden hingegen in der Bräunsdorfer Schenke, neben der Kirche gesellschaftlicher Mittelpunkt des Dorfes, vom Ortsrichter öffentlich bekannt gemacht. Die Gerichtsstätte ist dank einer sich darum rankenden Sage bis in die Gegenwart im öffentlichen Bewusstsein der Dorfbevölkerung verblieben. In typischer, an mittelalterliche Gep ogenheiten referenzierender Manier markiert eine Galgenlinde den auf der Flurgrenze zwischen Kaufungen und Bräunsdorf liegenden Exekutivplatz körperlicher Strafen gegen Personen, die unter die Gerichtsherrschaft beider Orte elen. Anders als in Rußdorf existierte offensichtlich zumindest bei Blutgerichtsbarkeitsverfahren kein festes Regularium über die Kostendeckung. So verklagte die Gemeinde Bräunsdorf 1677 anlässlich der Hinrichtung des Diebes Georg Fritsche die Gemeinde Kaufungen auf Kostenbeteiligung, da es „ganz billich wehre, wann Beclagte ihnen die helfte contribuirten, undt sie also fein beysammen stünden“. Die Kaufunger verweigerten sich dem mit Hinweis auf ein analoges Verhalten der Kläger bei einem ähnlichen Fall 50 Jahre zuvor 244. Erst der in dieser Sache geschlossene Vergleich legte die Zuständigkeiten eindeutig fest: Es wil [...] also auch hirführo nach eine jede Gemeinde bey [...] Peinlichen Fällen die Costen für sich alleine ohne Contribution der andern tragen. So viel aber das anitzo uff beyderley Grundt undt Boden stehende Gericht anlanget, so sollen sich desselben beyde theile der gestaldt zu bedie-

242

243 244

SächsSTAC, 30597 Herrschaft Penig, Nr. 183: Die Gemeinde zu Breunsdorff und ihre Lehensjunckere die von Maltitz, 1584–1643, Lehenbrieffs uber Breunßdorff Ao. 1544 (Copia). – Offenbar gestanden die Schönburger denen von Maltitz an dieser Stelle deutlich erweiterte Rechte zu als die sächsischen Herzöge. Im Lehnsbrief der Brüder Heinrich und Peter von Maltitz von 1498 heißt es noch: „die gerichte /obir und nyder [...] was den halsz vnd leben nicht belanget /als nemlich lemden kampfer / Beinschrotigk, iessende Blutrünstige vnd schandmelige wunden /Beulen, eck ader Cyetter geschrey vnd sust ander mynder sachen /das leben nicht betreffende.“ HstA-D, Copial 1307, fol. 351, zitiert nach: Strohbach, Chronik, S. 85. Vgl. SächsSTAC, 30593 Herrschaft Waldenburg, Nr. 3045: Die Rückgabe der Oeconomiepachtung auf dem Vorwerke Bräunsdorf, Seiten des bisherigen Pachters, Hn. Friedrich Daniel Fischer, an die Gutsherrschaft. 1857. Der Kaufunger Michael Fiedler, dessen Fall möglicherweise zur Grundlage der Legende von der Galgenlinde gereichte, starb 1624 am Galgen. Post mortem entfernten ihm Unbekannte beide Daumen – zu der Zeit begehrte Glücksbringer. Nachdem er zwei Jahre hängen geblieben war, wurde sein Leichnam 1626 „vom gerichte herunttergerißen, die Ketten hiervon gestolen undt [...] unter dem gerichte liegen gelaßen“. Vom Peniger Scharfrichter wurde der Körper unter dem Galgen verscharrt. Weder an damals fälligen Gebühren in Höhe eines Neuschockes noch an den eigentlichen Gerichtskosten scheint sich die Bräunsdorfer Gemeinde beteiligt zu haben. Vgl. 12613 GB Penig, Nr. 10: Gerichtsbuch Kaufungen, fol. 43b.

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nen haben, daß die Kauffunger ihre Diebe an die hierüber stehende Seite, die Breunsdorffer aber ihrer nüber-warts, wo der itzige baumelt, henken laßen sollen. 245

Die Bräunsdorfer Gemeinde wurde gegenüber der Lokal- bzw. den übergeordneten Behörden durch einen Gemeindevorstand, den Ortsrichter 246 vertreten. Ihm oblag es unter anderem auch, obrigkeitliche Anordnungen in der Ortsschenke öffentlich bekannt zu machen sowie die niedere Gerichtsbarkeit bis zu einem gewissen Grad auszuüben 247, wobei ihm zwei Gerichtsschöppen zur Seite gestellt wurden. 248 Wie im benachbarten Rußdorf scheinen diese Ämter grundsätzlich nicht den begütertsten Gemeindemitgliedern respektive den Vollbauern vorbehalten gewesen zu sein. So nden sich unter den 13 zwischen 1600 und 1900 nachweisbaren Bräunsdorfer Richtern durchaus zwei Gärtner und ein Häusler, deren zwei bereits im frühen 17. Jahrhundert amtierten. Jedoch zeigten sich die Bauern deutlich überrepräsentiert. Gleiches gilt für die 22 belegten Gerichtsschöppen, von denen über 77 Prozent der ökonomischen Oberschicht des Dorfes zugehörten, aber kein einziger dem Häuslerstand. 249 Die traditionelle politische Ordnung kam durch die Reformgesetzgebung zwischen 1831 und 1855 an ihr Ende. In deren Rahmen büßten die Grundherren nicht allein ihre juristische und administrative Stellung ein, auch die tradierte Gemeindeordnung erfuhr eine Neuregelung. Die Sächsische Landgemeindeordnung vom 7. November 1838 hob zwar weder Richter- noch Schöppenamt auf, schuf aber mit dem Gemeinderat eine neue Institution der Gemeindevertretung. Der erste 1839 von den damals 91 wahlberechtigten Einwohnern gewählte Bräunsdorfer Rat bestand aus sieben Personen, die sich aus allen sozialen Schichten des Dorfes rekrutierten. Noch im selben Jahr wurde eine erste Gemeindeordnung schriftlich xiert, die unter anderem die Nutzung der Gemeindewiesen und der beiden zur Haltung des „Samenrindes“ genutzten Ochsengärten sowie die Gemeindedienste festlegte. 250 Ebenfalls auf Grundlage der Reformgesetzgebung, in diesem Fall des Agrarreformgesetzes vom 17. März 1832, wurden noch vor 1850, deutlich früher als in Rußdorf, die rechtlichen Voraussetzungen zur Ablösung der auf den Bräunsdorfer Gütern lastenden Frondienste und Naturalzinsen gelegt. 251 Über die Höhe der Verp ichtungen gegenüber dem Besitzer des lokalen Rittergutes gibt erstmals die Kopie des schon erwähnten Lehnbriefs von 1544 Auskunft. Dieser führt 25 Bräunsdorfer und einen Remser Gutsbesitzer auf, die dem damaligen Grundherrn Peter von Maltitz an den üblichen Ter245 246 247 248 249 250 251

HstA-D, 12613 GB Limbach, Nr. 1, Die Peinlichen Costen betreffend, fol. 175f. Im Bräunsdorfer Fall offensichtlich ein Setzrichter. Vgl. Ruhland, Verwaltungsgeschichte, S. 42. Vgl. Wetzel, Michael, Das schönburgische Amt Hartenstein 1702–1878. Sozialstruktur – Verwaltung – Wirtschaftspro l, Leipzig 2004, S. 305f. Vgl. Strohbach, Horst, Bräunsdorfer Bilder-Chronik, Burgstädt 1935, S. 2. Vgl. EPA Bräunsdorf, KB I – VI. Vgl. Strohbach, Dorfbuch, S. 58. – Siehe auch: Die Landgemeindeordnung des Königreichs Sachsen, Leipzig 1839. Vgl. Strohbach, Dorfbuch, S. 194ff.

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minen Walpurgis und Michaelis jährlich zwischen einem Groschen sowie zwei Hennen und 14 Groschen Erbzinsen zu zahlen verp ichtet waren. 252 Hinzu kamen eine Reihe von Frondiensten, welche der benachbarten Rußdorfer Gemeinde wohl angesichts ihrer räumlichen Entfernung vom Sitz des Grundherren „erspart“ blieben. Ein Rezess aus dem Jahr 1536 verp ichtete die Bräunsdorfer Pferdebauern zu jährlich 71 Frondiensttagen, in deren Rahmen eine Vielzahl typischer landwirtschaftlicher Saisonarbeiten, zu denen in der Regel angespannt werden musste, abzuleisten waren. Dies schloss Mist- und mehrerlei Holzfuhren ebenso ein, wie „ii tag Schaff scheren“, „i tag schaiben und decken“ sowie „ii tag Flachs rauffen und rieffeln und ins wasser legen, und einer ein stuck garn spynnen“. Zusätzlich bestand die Verp ichtung, für die Brauerei derer von Maltitz einen Tag Brauholz zu hauen und drei Tage Hopfen zu p ücken. Handfröner, also alle übrigen lokalen Grundbesitzer vom Häusler bis zum Handbauern, sollten „mit den P ugen zu der Handtfrohne thuen, allen mist helffen laden, Mist breithen, zeunen, kleiben, mit stro decken, alles gethreide helffen abladenn, das gethreidt helffen auffbinden, und zu Mandeln, Zaungertthen zu hauen, Zaunstecken machen, den Sahmen zu dreschen“. Eine Vergütung der Arbeitsleistung erfolgte nur in Ausnahmefällen, zum Beispiel für das Dreschen, gemäß dem für auswärts angeworbene Arbeiter gültigen Satz. Allerdings hatten die Frondienstleistenden Anspruch auf Verköstigung während der Arbeit. Entschied sich der Grundherr gegen eine Bewirtschaftung seines Eigengutes bzw. gegen die Beanspruchung der Frondienste, stand es ihm frei, stattdessen adäquate Geldleistungen einzufordern. 253 Über diese klar de nierten jährlichen Dienste hinaus wurden den Bräunsdorfern im 16. Jahrhundert weitere situative Beschwerungen auferlegt. „Gethreide, wein unnd anders [mussten sie] ann andern frembden orttenn, so offt man sie es geheissen mitt pferdt unnd wagenn“ holen. Ihr „Juncker“ konnte jederzeit Fahrdienste für sich und andere, „frembde leutt“ beanspruchen und Frondienste durften in beliebiger Entfernung vom Wohnhaus des P ichtigen eingefordert werden. „Was sie aber uber eine nacht aussennbleiben, müsse man ihnen verlohnen.“ Schließlich wurden die Gemeindemitglieder über agrarische Zuarbeiten hinaus in das herrschaftliche Braugeschäft einbezogen, indem sie „nicht alleine reiffsetzenn sondern auch allerley gefeeß, zu den gebreuen gehorigk, inn den umbliegenden stedtenn unnd orttenn, da büttner wohnen, als zu Limpach, Penigk, Waldenburgk, zu roß und zu fuß holenn“ mussten. 254 Über Abgaben und Dienste hinaus bedungen sich die von Maltitz das Recht des ersten Angebots für zu Markte getragene Ge ügelprodukte ihrer Bräunsdorfer Grundholden aus und verp ichteten die Wirte ihres Herrschaftsbereiches, „nicht alleine zu 252 253 254

Vgl. SächsSTAC, 30597 Herrschaft Penig, Nr. 183, Lehenbrieffs uber Breunßdorff Ao. 1544 (Copia). Vgl. ebd., fol. 1f. Vgl. ebd., Zeugknus Register und Beweisunge des gestrengen Edlen und Ehrenvhestenn Petern von Maltitz zu Breunßdorff gegen unnd wider seine Underthanenn die gemeinde daselbsten etzliche gerechtigkeit Breuenn, schenckenn, unnd anders, belangende, 17.03.1570, fol. 107ff.

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Breunßdorffe sondern auch zu Kauffungen unnd anders wahr“, das Maltitzer Bier exklusiv auszuschenken, „so lang der Erbherr denn kretzschmar mitt bier zuverlegenn gehabet, gar keines anderswohe holenn dürffenn“. 255 Nicht zum ersten Mal erhoben sich die Bräunsdorfer Bauern 1569 gegen ihren damaligen Herrn, Peter von Maltitz den Jüngern und verklagten ihn ob ihrer P ichten de facto wegen Missbrauchs: „als soltte er wieder ihren altthergebrachten gebrauch, unnd gewohnheitt, ihren wirtt oder kreschmar notigenn seine eingebrauene bier, und seine wein zu vorzapfen unnd auszuschenken, sie auch mitt etzlichenn landtfuhrenn zur unbilligkeitt beschweren“. Der deutlich artikulierte Protest, als dessen Frontmann mehr oder minder freiwillig der damalige Wirt Georg Gopner in Erscheinung trat, richtete sich allerdings in erster Linie gegen das faktische Biermonopol der Beklagten und nur sekundär gegen die angeblich überstrapazierte Fuhrdienstverp ichtung. Alle weiteren Frondienste wurden in keiner Weise hinterfragt. Dabei scheinen sich die Kläger der Haltlosigkeit ihrer mit alten Gewohnheitsrechten begründeten Forderungen durchaus bewusst gewesen zu sein. Philip Steinbach, der nach eigener Zählung 75-jährige Vorgänger Gopners in dessen Schenke, sagte als bestellter Zeuge aus, „das die leute zu Breunsdorff ihne zeugenn selbst mitt worttenn hartt angelassen unnd bedreuen wollen damitt er nichts von dieser althergebrachten gerechtigkeitt das bierschenken belangende sagen soltte“. Entsprechend erfolglos stritt die Gemeinde in diesem Prozess. Gleichwohl wusste Steinbach zumindest von einer personellen, den Bierschank betreffenden Ausnahmeregelung zu erzählen: „bericht zeug als er erstmahls den kretzschmar vorkaufft, habenn seine nachbesitzere des ortts nicht gedeyenn wollenn, da hab Peter von Maltitz der elttere selige angesprochenn er soltte wieder uff den kretzschmar ziehenn, er woltte ihme helffen unnd rathenn unnd ihme selbst breuenn lassenn, darauff zeuge den kretzschmar widerumb kaufft“. Des Weiteren konnte sich Steinbach einer Periode um 1525 entsinnen, in der Peter von Maltitz der Ältere in Mittelfrohna lebte, „alda er der Flohrstedtin haushalttenn helffenn“, ohne den Schankzwang auszusetzen. Die Frondienste forderte er dagegen während dieser Zeit als Geldleistung in Höhe eines Neuschocks ein. „Hernach habe er der von Maltitz ein baurguth auskeufft, unnd ihen Breunsdorff gebauett.“ 256 Diese Bemerkung ist insofern von Interesse, als dadurch die Frage aufgeworfen wird, warum von Maltitz das Bräunsdorfer Rittergut nicht zu seinem Sitz erwählte und mehr noch offenbar erst ein bäuerliches Gut vor Ort erkaufen musste, um sich innerhalb seiner Herrschaft häuslich niederlassen zu können. Es vermag gleichfalls zu verwundern, dass nun eingeforderte Frondienste zunächst strittig wurden: „derwegen sie denn auch etzliche mahl streytigk wordenn, und derenhalb Vortrage auffgericht, also das ihr viere die frohn thun, unnd die andern vier pferdfrohner vier altte schock dafür gebenn müssen“. Anfangs hielten sich die Dienste gegenüber

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Vgl. ebd., fol. 100ff. Vgl. ebd., fol. 98ff.

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den zum Beispiel für 1570 belegten Verp ichtungen deutlich in Grenzen: „unnd hab der von Maltitz nicht viel ackerbau die Zeitt gehabtt das er auch nicht viel frohne dartzu bedurfft unnd weiß sich Zeug ausserhalb der ackerfrohn unnd holtzfuhr keiner andern zu erinnern“. 257 Allen etwaigen Widersprüchen der Bräunsdorfer zum Trotz blieben die umfangreichen Frondienste des späten 16. Jahrhunderts über teils konkretisierende, teils mildernde Rezesse, etwa von 1676 und 1789 258, hinaus im Grundsatz bis zu ihrer Ablösung bestehen. In Reaktion auf das sächsische Agrarreformgesetz von 1832 schlossen die Bräunsdorfer mit ihrer Gerichtsherrschaft 1836 einen Vergleich, der die jährlichen an die jüngst geschaffene Landrentenbank zahlbaren Renten zur Ablösung der auf den Gütern lastenden Frondienste und Naturalzinsen bestimmte. 259 Zwei Jahre später legte ein Rezess die Ablösungsrenten der Kaufunger und Bräunsdorfer Grundholden endgültig fest. Während Häusler und Gärtner größtenteils zur Entrichtung eines einheitlichen Satzes von jährlich 24 Neugroschen und acht Pfennigen verp ichtet wurden, schwankte die Summe bei den Bauerngütern teils beträchtlich. Der niedrigste Rentensatz des ganzen Dorfes betrug bei den Vollzahlern 14 Neugroschen und vier Pfennige für einen Hausbesitzer, während der höchste von 15 Talern 13 Neugroschen und zwei Pfennigen auf ein einfaches Anspanngut ent el. Ging ein Häusler- oder Gärtnergut nicht auf eine Abspaltung vom Gemeindegrund zurück, sondern war aus einem anderen Gut des Dorfes herausgelöst worden, wurde der Besitzer anteilmäßig an den Ablösungsrenten des „Muttergutes“, wie zuvor an dessen Verp ichtungen gegenüber der Grundherrschaft beteiligt. 260 Die Ablösungszahlungen der zehn Bräunsdorfer Güter Limbacher Anteils, die auf einen 1840 geschlossenen Rezess gründeten, schwankten weniger stark zwischen sechs Neugroschen und sechs Talern 24 Neugroschen sowie acht Pfennigen. Unabhängig von der vormaligen administrativen Zugehörigkeit endeten die Zahlungen dieser Amortisierungsrente spätestens 1894 per Gesetz. 261 Überdies zahlten Besitzer eines ehemaligen Gemeindegrundstückes einen Gemeindezins, der oft bereits 1855 via einmaliger Kapitalzahlung abgegolten bzw. 1913 gesetzlich aufgelassen wurde. Von den Ablösungen ebenfalls unbeein usst blieben die an das

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261

Vgl. ebd., fol. 120f. Vgl. 20578 Rittergut Wolkenburg und Kaufungen, Nr. 312: Rezeß mit den Untertanen der Rittergüter Bräunsdorf und Kaufungen über die Linderung der Frohndienste 1789. Vgl. SächsStAL, 20578 Rittergut Wolkenburg und Kaufungen, Nr. 316: Die Ablösung bei dem Ritterguthe Kaufungen mit Bräunsdorf, 1833–1835. u. SächsStAL, 20578 20578 Rittergut Wolkenburg und Kaufungen, Nr. 319: Bräunsdorf, die Ablösung der von den Unterthanen der Herrschaft zu leistenden Dienste, abzuentrichtenden Zinnsen und der von denselben zu erleidenden herrschaftlichen Schaafhuthungsbefugniße, 1836. Vgl. SächsStAL, 20578 Rittergut Wolkenburg und Kaufungen, Nr. 320: Ablösung der Frohnen u. Naturalzinsen bei den Rittergütern Kaufungen u. Bräunsdorf 1838. u. SächsStAL, 20578 Rittergut Wolkenburg und Kaufungen, Nr. 321: Ablösung der Frohnen, Naturalzinsen u. Schaftrift beim Rittergüter Bräunsdorf u. Kaufungen 1838. Vgl. SächsSTAC, 30104 Amtsgericht Chemnitz (1879–1952), Nr. 5773–5774: Grund- und Hypotheken-Buch des Patrimonialgerichts zu Limbach für das Dorf Braeunsdorf, Limbachschen Antheils.

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Rittergut Kaufungen zu entrichtenden Erbzinsen, welche erst 1930 ein gesetzlich geregeltes Ende fanden. 262 Neben den weltlichen Lasten lagen zumindest auf den Anspann- und Handgütern sowie einer geringen Zahl aus diesen hervorgegangener Gärtner- bzw. Häuslergüter weitere Verp ichtungen gegenüber Pfarre und Schule. Sowohl der bestellte Lehrer als auch der Ortspfarrer ernährten sich traditionsgemäß von jährlichen Decemzahlungen der Bauern ihres Einzugsbereichs. Der Schulzehnt bestand Mitte des 19. Jahrhunderts in alljährlich insgesamt 121 Dresdner Metzen Korn sowie 28 Erntebroten und 56 Käselaibern, zu denen ausschließlich die Bräunsdorfer Bauern neben differierenden Kornmengen je ein Brot und zwei Käselaibe gaben. Ein Rezess vom 22. August 1855 wandelte diese P icht dem Agrarreformgesetz folgend in eine jährliche Rente um, die gleich dem Gemeindezins 1913 gesetzlich gelöscht wurde. 263 Dem gleichen Schicksal wurden die Getreidezehnten zur Versorgung der Pfarrstelle in Gerste, Korn und Hafer, deren Höhe 1619 mit alljährlich insgesamt 28 gestrichenen Scheffeln beziffert wurde, unterworfen. Neben den lokalen Gutsbesitzern schütteten auch der Rittergutsherr von Kaufungen und drei Oberfrohnaer Bauern ihren Decem in Bräunsdorf. 264 Bis 1530 bzw. 1533 trugen zudem die Meinsdorfer und Rußdorfer Gemeindemitglieder zur Versorgung der Pfarrstelle bei. Des Weiteren umfasste das Bräunsdorfer Pfarrlehn auf vier Gütern, darunter das sogenannte Pfarrlehngut und der Pfarrgarten, lastende Ackerfronen gegen Verköstigung von Mann und Vieh sowie ausschließlich vom Pfarrlehnbauer zu leistende Getreidefuhrdienste zur und aus der Mühle. Gleichermaßen konnte der Pfarrgärtner gegen Lohn zu Bedarfsarbeiten herangezogen werden. 265 Im Gegensatz zu den vorgenannten Naturalzinsen wurden diese Fronen in den frühen 1840er Jahren im Rahmen mehrerer Vergleiche gegen Einmalzahlungen abgelöst. 266 Das hierdurch Mitte des 19. Jahrhunderts zumindest stark eingeschränkte bzw. faktisch abgeschaffte Pfarr- oder Kirchlehn 267 existierte in Bräunsdorf seit dem Mittelalter. Eine erste Erwähnung ndet sich im bereits erwähnten Wiederkauf derer von Kaufungen aus dem Jahr 1416. So wie es damals bei den Burggrafen von Leißnig verblieb, 262 263 264 265 266 267

Vgl. SächsSTAC, 30104 Amtsgericht Chemnitz (1879–1952), Nr. 5770–5772. u. SächsSTAC, 30104 Amtsgericht Chemnitz (1879–1952), Nr. 5773–5774. Vgl. SächsSTAC, 30104 Amtsgericht Chemnitz (1879–1952), Nr. 5770–5772. Vgl. Strohbach, Dorfbuch, S. 219ff. Vgl. ebd., S. 222. Vgl. ebd., S. 197 u. Seifarth, Theodor, Die Parochie Bräunsdorf, in: Buchwald, Georg (Hg.), Neue Sächsische Kirchengalerie. Ephorie I u. II, Leipzig o. J., S. 703–776, S. 761. „Pfarrlehen [...] das Recht und die Gewalt, einen Pfarrer zu berufen; der Pfarrsatz, die Pfarrverleihung, das Pfarrecht, das Kirchlehen, der Kirchensatz, mit einem Lat. Worte, das Patronat-Recht, Jus Patronatus.“ Adelung, Johann Christoph, Grammatisch-kritisches Wörterbuch der Hochdeutschen Mundart, Bd. 3, Leipzig 1798, S. 711f. u. „Pfarrlehen, Lehen von einem Grundstücke, welches bei einer Pfarre genommen werden muß; zuweilen wird auch der gesammte Grundbesitz einer Pfarrei das P. genannt.“ Pierer, Heinrich August (Hg.), Pierer's Universal-Lexikon der Vergangenheit und Gegenwart, Bd. 12, Altenburg 1861, S. 936.

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behielten sich die Schönburger das Lehen allerdings exklusiv der Gerichtsbarkeit ausdrücklich vor, als sie Bräunsdorf 1544 an Peter von Maltitz verliehen. Gleichermaßen heißt es in der Lehnsreichung an die Brüder von Thumshirn 1593: „außgeschlossen daß Kirch Lehen, so uns [den Schönburgern] zu verleihen zustehett [...], Es sollen auch [...] die Thumbshirn Gebrüdere, ihren Leuten nicht gestatten, einen Pfarrherrn daselbsten, einicherley Beschwehrung auffzulegen“. 268 Anders als Rußdorf besaß Bräunsdorf demnach seit dem Mittelalter eine eigene Pfarrstelle. Ursprünglich zählten mehrere Dörfer ganz oder teilweise zur Parochie. Durch den Verlust Rußdorfs und Meinsdorfs infolge früherer Reformation der Dörfer gingen dem Pfarrer Naturalzinsen in emp ndlicher Höhe von zehn Scheffeln Gerste verloren, wodurch die Pfarrstelle selbst in ihrer Existenz bedroht wurde. Daraufhin übernahm die Gemeinde auch diese Lasten, „damit sie einen eigenen pfarher behalten“ konnte. Die angedachte Übergangslösung für die Zeit, bis „die zwey Dorffer wiederum zur pfarr khommen“, geriet allerdings zum Dauerzustand. 269 Auch nachdem die Reformation 1539 Bräunsdorf schließlich erfasst hatte – angeblich unter dem ersten namentlich bekannten und gleichzeitig letzten katholischen Ortsgeistlichen Gregorius Arnold 270 –, verblieben die ehemaligen Filialgemeinden bei ihrer neuen Mutterkirche. Daran vermochten selbst aus der leidigen Praxis, dass „die Pfarrer von Kaufungen unentwegt meist fahrend oder reitend durch Bräunsdorf quer hindurch gezogen, um in ihrem, von hier aus ungefähr ¾ Stunden [...] entfernt gelegenen eingepfarrten Orte [Rußdorf] ihre Pfarrkinder kirchlich zu versorgen“, resultierende, durchaus öffentlich artikulierte Wiedervereinungswünsche der Nachbargemeinde nichts zu ändern. 271 Seit der Reformation blieb die Pfarrstelle beinahe durchgehend besetzt. Am Ende des Untersuchungszeitraums waltete der nach Arnold 27. Ortspfarrer seines Amtes. 272 Durchschnittlich 14 Jahre hatten die Geistlichen in den vorangegangenen knapp vier Jahrhunderten in Bräunsdorf gewirkt. Einzig während der Jahre 1641–1643 wurde die Kontinuität gebrochen. Nachdem der seit 1611 amtierende Gregorius Piltz 1641 gleich seiner Ehefrau in Waldenburg der Pest erlegen war, geriet Bräunsdorf auf schönburgischen Befehl unter Verweis auf die elenden Zeiten, in denen manche Gemeinde kaum zur Selbstversorgung, geschweige denn der Unterhaltung eines eigenen Pfarrers ökonomisch fähig war, für zwei Jahre zum Mühlauer Filial. Der ein Jahr zuvor infolge schwedischen Truppendurchzugs geschehene Kirchenbrand, dem auch die Pfarrwoh-

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30597 Herrschaft Penig, Nr. 183: Die Gemeinde zu Breunsdorff und ihre Lehensjunckere die von Maltitz, 1584–1643, Lehenbrieff uber Breunßdorff Ao. 1593 (Copia). Vgl. Bräunsdorfer Kirchenvisitation 1539, zitiert nach: Strohbach, Dorfbuch, S. 217. Vgl. Seifarth, Bräunsdorf, S. 761f. – Dem Sächsischen Pfarrerbuch zufolge gelangte der aus Radeberg stammende ehemalige Zwickauer Schulmeister und Crimmitschauer Diacon erst 1540 an die Bräunsdorfer Pfarrstelle. Vgl. Grünberg, Reinhold, Sächsisches Pfarrerbuch, Teil I, A – L, Freiberg 1940, S. 16. Vgl. Seifarth, Bräunsdorf, S. 705. Vgl. Strohbach, Dorfbuch, S. 212ff.

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nung zum Opfer gefallen war, mochte die Maßnahme bedingt haben. In welchem Jahr der sakrale Nachfolgebau geweiht wurde, ist nicht überliefert. Orientiert am Einzug Caspar Altweins in die neu errichtete Pfarrwohnung 1652, ließe sich die Kirchenweihe auf die späten 1640er bzw. frühen 1650er Jahre eingrenzen, wohingegen die Jahreszahlen auf der alten Wetterfahne hierfür das Jahr 1662 wahrscheinlich machen. Der Bau aus der Mitte des 16. Jahrhunderts erlebte das 20. Jahrhundert nicht mehr. Bereits 1864 wurde dessen Baufälligkeit angemerkt. Dennoch vergingen weitere dreieinhalb Dekaden, bis das substanziell angegriffene, mit profaner Architektur und geringer Größe den damaligen Anforderungen nicht länger Rechnung tragende Gotteshaus abgebrochen und binnen Jahresfrist die noch gegenwärtig existente Kirche geweiht wurde. 273 Das Pfarrhaus war zwei Jahre vor dem benachbarten Kirchenneubau seinerseits aufgrund der „äußerst mangelhaften Bauart, wie sie dem Gebäude auf dem ersten Blick anzusehen war“, durch einen Neubau ersetzt worden, dem zweiten nach dem Unglück von 1640, denn 1771 hatte ein neuerlicher Brand den Pfarrhof abermalig in Grund und Asche gelegt. 274 Administrativ unterstand das Kirchdorf Bräunsdorf vor der Reformation unmittelbar der Landdekanei Waldenburg unter dem Archidiakonat des Chemnitzer Benediktinerklosters im Bistum Meißen. Seit 1543 wechselte es zwischen den Superintendenturen Glauchau, Penig und Chemnitz, bevor es 1583 für die folgenden 300 Jahre endgültig unter die Peniger Zuständigkeit el. Anschließend wechselten die Verantwortlichkeiten seit 1874 erneut mehrfach, ehe die Parochie 1895 dem Landkreis II der Ephorie Chemnitz zugeordnet wurde, wo sie über das Ende der betrachtenden Zeit hinaus verblieb. 275 Funktionierte die kirchliche Organisation relativ losgelöst von weltlichen Herrschaftshierarchien und Besitzansprüchen, blieb zumindest das Kirchenpatronat der Lehnsverfassung verbunden. Ursprünglich lag es wahrscheinlich gleich dem Kirchlehen bei den jeweiligen Oberlehensherren der Bräunsdorfer Grundherrschaft, ging jedoch zu einem unbestimmten Zeitpunkt an die Rittergutsherren selbst über. So sind die Grafen Curt Karl Julius (1873–1926) und Karl Friedrich Gert (1883–1945) von Einsiedel als letzte adlige Besitzer des Ritterguts Bräunsdorf nachweislich im Besitz des Patronatsrechts gewesen. Von ihnen übernahm es der ehemalige Pächter Curt Heinig beim Kauf des Ritterguts, denn 1899 hatte das evangelische Landeskonsistorium endgültig verfügt, dass Patronat und Rittergut miteinander verbunden seien, somit Ersteres dem jeweiligen Eigentümer des Letzteren zustand. 276 Einiges deutet daraufhin, dass der Kirchenpatron bis zum Übergang der Volksschulbildung in staatliche Hände gleichzeitig die Position eines „Schulherren“ einnahm

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Vgl. Seifarth, Bräunsdorf, S. 719ff. u. 763 f. Vgl. ebd., S. 755f. Vgl. Strohbach, Dorfbuch, S. 201f. Vgl. Seifarth, Bräunsdorf, S. 771f.

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und auf die Schulmeisterbestellung, die gleich der Elementarschulausbildung in Sachsen bis ins 19. Jahrhundert der Kirche oblag, Ein uss nehmen konnte bzw. nahm. Von Carl Heinrich von Schönburg (1729–1800) berichten die Pfarramtsakten 1789 als Kirchen- und Schulpatron gleichermaßen 277 und dessen Vorfahre Wolf von Schönburg berief nach Strohbach um 1610 mit Lucas Harting den ersten namentlich bekannten Schulmeister des Ortes, wo 1618 eine neue Schule in Gebrauch genommen wurde. 278 Sein Amtsnachfolger Hans Wendler blieb den Bräunsdorfern als Mitverantwortlicher des Kirchenbrandes von 1640 in unrühmlicher Erinnerung. 279 Freilich lassen sich aus dem bloßen Vorhandensein eines Lehrers nur bedingt Rückschlüsse auf die tatsächliche Schulbildungsverfassung eines Ortes ziehen. Dies muss für Bräunsdorf insbesondere gelten. Seifarth zitiert aus einer ungenannten Quelle von 1619, derzufolge in diesem Jahr bereits Unterricht abgehalten wurde, die Resonanz der Bevölkerung aber gering blieb. Dem war erst mit Einführung der allgemeinen Schulp icht 1835 beizukommen. Noch 1789 wohnten von über 80 Kindern im schulfähigen Alter zur Winterszeit lediglich die Hälfte bis zwei Drittel den Ausführungen des Schulmeisters bei. Während der im Agrarbereich arbeitsreichen Sommermonate sank deren Zahl gar auf 15 ab. 280 Dennoch ndet sich seit Beginn der entsprechenden schriftlichen Überlieferung im 16. Jahrhundert kein Jahr, in dem die Bräunsdorfer Schulmeisterstelle vakant gewesen wäre, obgleich keineswegs jeder der bestellten Lehrer eine entsprechende Ausbildung genossen hatte. Der vierte namentlich bekannte Schulmeister Christoph Fiedler, Sohn des Bräunsdorfer Obermüllers, verdiente zunächst als Leinwandhändler seinen Unterhalt, bevor er die lokale Schenke übernahm und sich 60-jährig noch als Bürger in Meerane niederließ. Nachdem er 1671 eine Tochter des Ortspfarrers Altwein geehelicht hatte, ist er seit 1675 als Stellvertreter des Lehrers Hans Schindler belegt, dessen Position er 1676 übernahm und bis 1682 ausübte. Auch Fiedlers aus Penig stammender Nachfolger im Schulmeisteramt, Johann Riedel, hatte ursprünglich die Profession eines Zeugmachers erlernt. 281 Das seit 1618 Verwendung ndende Schulgebäude wurde über 200 Jahre als solches genutzt und erst 1840 durch einen in unmittelbarer Nachbarschaft errichteten Bau, der neben einem Unterrichtsraum die Lehrerwohnung beherbergte, ersetzt. Die beträcht-

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Vgl. ebd., S. 771. Vgl. Strohbach, Chronik, S. 79. „Dieser Hanß Wendler Schulmeister allhier, hätte in den damahligen 30. Jährigen Kriege die Kirche von ihren ruin erhalten können. [...] als die Schweden sich darinnen aufgehalten und bey ihren Abzuge gemeldten Schulmeister das Feuer in der Kirchen, dabey sie gekö[stigt] aus zulöschen befohlen, so hat er solches aus nachläßigkeit nicht getan. Dahero den das Feuer überhand genommen, und die Kirche, nebst 3 [...]nen Glocken, und deß damahligen Pfarrers Hn. Casparus Altwein [von anderer Hand durchgestrichen, darüber: Gregori Pilzens] Pfarrwohnung nebst dem Haußrath in die Asche gelegt worden.“ EPA Bräunsdorf, KB I: Kirchbuch 1640–1795, Taufen 1640, Nr. 5, nachträglich wahrscheinlich von Pfarrer Leupold (im Amt 1709–1728) eingefügte Notiz. Vgl. Seifarth, Bräunsdorf, S. 772. Vgl. EPA Bräunsdorf, KB I.

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lichen Baukosten von ca. 2114 Talern hatte die Gemeinde zu tragen. 282 In dieser sogenannten Kirchschule lernten 1901 129 Kinder. Eine zweite Schule mit Lehrerwohnung, die Anfang des 20. Jahrhunderts 119 Schüler verzeichnete, entstand 1871/1872 in Reaktion auf die beständig steigende Zahl der Bräunsdorfer Unterrichtsp ichtigen, welche den älteren Schulbau an seine Kapazitätsgrenzen brachte. 283 Deutlich schwerer als für Rußdorf lässt sich die Bräunsdorfer Bevölkerungs-, Gesellschafts- und Gewerbeentwicklung nachvollziehen. Erst aus dem 19. Jahrhundert sind aussagekräftige statistische Erhebungen überliefert. Dementsprechend lückenhaft bleibt das Bild der Zeit vor 1800. Eine Gründung des Waldhufendorfs aus wilder Wurzel im Rahmen der Ostkolonisation kann als gesichert gelten. Das Dorf teilte sich mit dem benachbarten Rußdorf neben der Entstehungsgeschichte auch die naturräumlichen Bedingungen, gründete seine Entwicklung also faktisch auf dieselben Ausgangsbedingungen. Einzig die Fläche Bräunsdorfs überstieg jene des Nachbarortes um 200 Hektar. Unter der Annahme, die Besiedlung einschließlich der Fluraufteilung unter den Kolonistenfamilien in gleichmäßige Hufen sei, zumindest in der näheren Umgebung, den gleichen Regeln gefolgt, vermag die laut frühester schriftlicher Belege aus der Mitte des 16. Jahrhunderts geringe Diskrepanz in der Güterzahl beider Ortschaften zu verwundern. Die älteste Bräunsdorfer Steuerliste von 1544 führt 25 Gutsbesitzer auf, ohne Auskunft über Größe oder Wert ihrer Grundstücke zu geben. Ob dies, wie im Rußdorfer Fall angenommen, die vormalige Erstsiedlungssituation bis zu einem gewissen Grade widerspiegelt, ist unklar, zumal die dargelegten Steuerlasten der einzelnen Gutsbesitzer extrem schwankten. So betrug der höchste Steuersatz das Zwölffache des niedrigsten. Auch spart die erste Auflistung den unter das Rittergut Limbach gehörigen Bauern aus. Allerdings spiegelt die durch Summierung der Güter Schönburger und Limbacher Anteils für 1544 offenbar werdende Zahl von 26 potentiellen Bauern fast jene Zahl (27) wider, die seit Mitte des 16. Jahrhunderts über die Gerichtsbuchüberlieferung zweifelsfrei nachweisbar ist und bis zum Ende des Untersuchungszeitraums beinahe unverändert bestehen blieb. Anders als in Rußdorf traten in Bräunsdorf zwischen 1550 und 1600 mit hoher Wahrscheinlichkeit noch keine Kleinstellenbesitzer zur traditionellen Bauernschaft hinzu. Der Lehensbrief von 1593 nennt für den Schönburger Anteil erneut 26 zinsp ichtige Personen, wobei er ebenfalls weitere Informationen über Gutswert oder -größe schuldig bleibt. 284

282

283 284

Das Schulgebäude galt gleich der Kirche und Pfarre als Gemeindebauanlage, für welche die Gemeinde selbst aufkommen musste. Bei derartigen Bauvorhaben oder Renovierungen wurden die Kosten als befristete Steuerlast anteilmäßig nach einem festen Satz auf alle Bräunsdorfer Grundbesitzer umgeschlagen. Vgl. Seifarth, Bräunsdorf, S. 773f. Vgl. SächsSTAC, 30597 Herrschaft Penig, Nr. 183, Lehenbrieffs uber Breunßdorff Ao. 1544 (Copia), Lehenbrieff uber Breunßdorff Ao. 1593 (Copia).

BRÄUNSDORF

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Abbildung 2: Bräunsdorfer Bevölkerungs-, Wohnhaus- u. Haushaltsentwicklung

Bis 1671 hatte sich die Zahl der belegbaren Bräunsdorfer Güter inklusive des Bauernguts Limbacher Anteils seit 1593 mehr als verdoppelt. Die 22 Anspanner und fünf Handbauern sahen sich nun einer quantitativ sogar überwiegenden unterbäuerlichen, aber nichtsdestotrotz landbesitzenden Gesellschaftsgruppe von 23 Gärtnern und fünf Häuslern gegenübergestellt. 285 Mindestens fünf zusätzliche Hausbesitzer lebten spätestens seit 1619 unter Limbacher Jurisdiktion. 286 Außerhalb des dominanten Agrarbereichs nden sich analog zum Rußdorfer Beispiel auch in Bräunsdorf seit dem 16. Jahrhundert Belege für Erwerbstätigkeit im gewerblichen Sektor. Den Aussagen des ersten bekannten Wirts Philip Steinbach nach zu urteilen, kaufte er das damals schon bestehende Wirtshaus mit Schankgerechtigkeit um 1525. 287 Ein zweites zentrales Gewerbe, die Müllerei, scheint erstmals 1544 in den Quellen auf. Bräunsdorf verfügte, in dorfwirtschaftlicher Hinsicht ein klarer Vorteil gegenüber Rußdorf, bereits zu dieser Zeit über zwei Mühlen. Einzig der „Obermüller“ wird, im Gegensatz zu den übrigen zinsenden Bauern allerdings nicht namentlich, genannt. 288 Jedoch indiziert das Prä x „Ober“ die gleichzeitige Existenz eines weiteren Müllers, dessen Erstnennung in persona des Niedermüllers Jacob Schönfeld bis 1619 285 286 287

288

Vgl. HstA-D, 12613 GB Limbach, Nr. 1. Vgl. Strohbach, Dorfbuch, S. 219. Vgl. SächsSTAC, 30597 Herrschaft Penig, Nr. 183, Zeugknus Register und Beweisunge des gestrengen Edlen und Ehrenvhestenn Petern von Maltitz zu Breunßdorff gegen unnd wider seine Underthanenn die gemeinde daselbsten etzliche gerechtigkeit Breuenn, schenckenn, unnd anders, belangende, 17. 03.1570, 116 v ff. Vgl. ebd., Lehenbrieffs uber Breunßdorff Ao. 1544 (Copia).

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DIE UNTERSUCHUNGSORTE IM ÜBERBLICK

ausblieb. 289 Beide Mühlen, an die Handgüter angeschlossen waren, dienten ausschließlich dem Mahlbetrieb. 290 Eine dritte Mahlmühle ging in den 1730er Jahren in Betrieb. 291 Christian Windisch, herrschaftlicher Pachtmüller zu Wolkenburg, erhielt 1732 von den Edlen von der Planitz eine Konzession zur Errichtung einer Mühle „mit einem Mahlgange und einem liegenden Vorgelege“ 292 am Dorfteich auf Gemeindegrund sowie zum „Brodbacken, Brandeweinbrennen und andere ehrliche Nahrung, so er in der zu erbauenden Mühle treiben könnte, außer den Bierschenken“. 293 Neben den drei Mahlmüllern trieb in Bräunsdorf seit dem späten 17. Jahrhundert ein Papiermüller sein Handwerk. Der aus Waldenburg stammende Samuel Käferstein, Spross einer seit Mitte des 16. Jahrhunderts in Colditz wirkenden Papiermacherfamilie, ließ sich 1686 in Bräunsdorf mit einem Neubau nieder 294 und begründete eine traditionsreiche, bis nach 1935 währende Papier- und seit dem späten 19. Jahrhundert Pappenfabrikation. Hinweise über andere Gewerbetreibende sind trotz fortschreitender Partikularisierung bäuerlichen Besitzes für das 17. Jahrhundert rar gesät bzw. fehlen für die Zeit vor Beginn der Kirchbuchüberlieferung 1640 völlig. Überhaupt nimmt das nachweisbare Berufsgruppenspektrum Bräunsdorfs des späten 16. und frühen 17. Jahrhunderts überaus bescheidene Ausmaße an. Neben den beiden Müllern und dem Wirt werden lediglich je ein Richter (1570), Schmied (1622) und Gerichtsschöppe (1637) explizit erwähnt. Weitere Berufsnennungen entfallen auf einen „Hoffe Trescher“ (1630) und mehrere Rittergutspächter bzw. Hofmeister (1599, 1604, 1619, 1633) 295, deren erster bekannter Vertreter 1604 in der Rußdorfer Schenke vom Sohn eines Kaufunger Richters erschlagen wurde. 296 Ungeachtet der fehlenden Quellennachweise umfasste der dörfliche Gewerbesektor ohne Zweifel auch vor 1640 über das für den ruralen Raum übliche grundsätzliche Maß hinaus 297 und außerhalb der verbreiteten privathandwerklichen Tätigkeit weitere Berufe. Dies ergibt sich beinahe zwangsläu g aus dem Zusammenspiel der beginnenden 289 290 291 292 293 294 295 296

297

Vgl. Strohbach, Dorfbuch, S. 219. Vgl. 30104 Amtsgericht Chemnitz (1879–1952), Nr. 5770, Nr. 18.–30104 Amtsgericht Chemnitz (1879–1952), Nr. 5770, Nr. 106. Diese ist die einzige Mühle, die bis 1935 im Betrieb blieb. Die übrigen Mühlen stellten ihre Arbeit im Laufe des 19. Jahrhunderts ein. Vgl. Strohbach, Dorfbuch, S. 163. HstA-D, 12613 GB Limbach, Nr. 3: Gerichtsbuch Bräunsdorf, 1728–1746, fol. 256 ff. Vgl. ebd., fol. 100ff. Vgl. HstA-D, 12613 GB Limbach, Nr. 2: Gerichtsbuch Bräunsdorf, 1685–1727, fol. 14 ff. Vgl. SächsSTAC, 30597 Herrschaft Penig, Nr. 183. – EPA Kaufungen, KB I. „Blasius Geydell, der Pacht Man aufm Edelhofe zu Breunsdorff ist den 15. July umb Mitternacht, in der Schencke zu Rusdorff, mit einem langhelmig, grossen Peill, von Jacob Stephan Heintzigs Sohne zu Kauffungen tödlich auffm Hirnschädell verwundet und davon den 22 eiusdem mit der sonnen auffgang gestorben [...].“ EPA Kaufungen, KB I, Beerdigungsregister 1604. Schmiede, Fleischer und Gastwirte waren in den meisten Ortschaften aus unbedingter Notwendigkeit heraus vorhanden, da sie eng mit den agrarischen Produktionsmechanismen korrespondierten bzw. integrale Zuarbeiten verrichteten.

BRÄUNSDORF

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bzw. fortschreitenden Partikularisierung bäuerlichen Besitzes und den gegebenen naturräumlichen Bedingungen. Ähnlich dem Rußdorfer Beispiel wurden die landwirtschaftlich genutzten Pfarrgrundstücke, welche vermutlich exemplarisch für die Verfassung der gesamten Dorf ur stehen können, 1619 eher negativ bewertet: Acker Bau ist gering, darzu scharff feld, wie denn auch Leimicht, kann schwerlich 4 Scheffel über winters geseet werden, Wächßet wenig wegen des angedeuteten unfruchtbaren Bodens, per consequens hat mann wenig ein zu streuen; Und ob es gleich über Sommer ix [...] oder x [...] halbe Scheffel können ausgesaet werden, so tregt es kaum die Unkosten [...]. Wiese wachs ist auch wenig, Darauf samlet mann Zwey füderlein Heu, und Ein Fuder grummet, ist halb sauer Futter. 298

Hatten selbst die lokalen Bauern, deren Güter vielfach seit dem Dreißigjährigen Krieg zusätzlich hoch verschuldet waren, in normalen Jahren nicht mit optimalen Erträgen ihrer landwirtschaftlichen Arbeit zu rechnen, was in Krisenzeiten rasch Hunger und Not bedeuten konnte, so muss dies für Kleinstellenbesitzer umso eher gelten. Subsistenzwirtschaft war für Letztere angesichts ihnen nur in geringem Umfang zur Verfügung stehender landwirtschaftlicher Nutz äche ungleich schwieriger realisierbar. Zusätzliche Lohnarbeit bei den örtlichen Bauern stand unter den gegebenen Umständen der vorindustriellen Agrarökonomie zumeist nicht zur Wahl. Insofern blieb auch den Angehörigen der unterbäuerlichen Bräunsdorfer Besitzstände, die gänzlich auf Lohnarbeit angewiesenen landbesitzlosen Inwohner eingeschlossen, in der Regel nur die gewerbliche Arbeit. Die gewerbliche Leinenverarbeitung bot auch zahlreichen Bräunsdorfern eine Erwerbsperspektive. Allerdings nden sich erst relativ spät ausdrückliche schriftliche Nennungen von Leinwebern. Hingegen führt das örtliche Kirchbuch bereits ab 1663 immer wieder Leinwandhändler auf. 299 Welchen Umfang die Leinweberei schon vor ihrer Ersterwähnung 1690 einnahm, vermitteln jedoch zahlreiche Kaufverträge Bräunsdorfer Gemeindemitglieder, in denen von 1671 an regelmäßig Flachsanbau und -verarbeitung geregelt wurden und rohe Leinwand mehrfach als Teil des Inventariums angeführt wurde. Schließlich beweist der Passus in Paul Helbigs Gartengutskauf 1678, „So viel nun das vorhandene Leinweber Geräthe, als das gestell, Stuhl Radt, Kämme undt dergleichen betrifft, So hat es die witbe undt Mutter zu sich genommen undt wil es künfftig denen beyden Söhnen, wenn sie es bedörffen, aushändigen“ 300, indirekt, dass mindestens seit den 1670er Jahren gewerblich tätige Leinweber in Bräunsdorf ansässig waren. 298

299 300

Verzeichnis des Pfarrlichen einkommens zu Bräunsdorf Anno 1619, zitiert nach: Strohbach, Dorfbuch, S. 219. – Die schlechten Erträge konnten durch verbesserte Anbaumethoden deutlich verbessert werden, wie Seifarth 1901 berichtet: „Im Gegenteile, auf den Pfarrfeldern gedeihen heut ganz herrliche Früchte und die Wiesen geben Futter genug und zwar gutes Futter. Wenn früher der Ertrag der Grundstücke nur ein geringer gewesen ist, so mag dies eine Folge des allgemeinen Tiefstandes der Landwirtschaft, der mangelhaften Düngung und Bearbeitung des Bodens gewesen sein.“ Seifarth, Bräunsdorf, S. 760. Vgl. EPA Bräunsdorf, KB I. HstA-D, 12613 GB Limbach, Nr. 1, fol. 183 ff.

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DIE UNTERSUCHUNGSORTE IM ÜBERBLICK

Während des 18. und 19. Jahrhunderts avancierte die Leinenverarbeitung zum dörflichen Massengewerbe des Ortes schlechthin. Für 1767 berichten die Quellen, wie „beständig Leinewand gebleichet würde, dergestalt, daß die gantze Dorffgemeinde damit überzogen wäre“. 301 Produktion und Vertrieb wurden allen Anzeichen nach analog zur Rußdorfer Leinweberei im Kaufsystem organisiert. Die jährlich hergestellte Warenmenge lässt sich nur anhand einer überlieferten Beobachtung des Pfarrers Johann Traugott Brückner (1804–1858) aus der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts ermessen. Dieser bezeichnete die orierende Leinenverarbeitung als Haupterwerbszweig des Dorfes und gibt die jährliche Menge im Sommer auf allen freien Flächen entlang des Dorfbaches in Rasenbleicherei veredelte Rohleinwand mit 2000 Schock an. 302 Mindestens seit 1791 existierte zudem ein Bleichhaus 303, „so auf dem herrschaftl. Teich eck erbauet ist“ 304, sich aber in privater Hand befand und bis zum Ende des Untersuchungszeitraums Bestand hatte. Neben dem Leinen wurde innerhalb der Grundherrschaft Kaufungen-Bräunsdorf schon in der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts Wolle produziert, jedoch nicht von Bräunsdorfer Textilhandwerkern verarbeitet. Zwar zählte es 1536 zu den Frondiensten der Bräunsdorfer, Schafe zu scheren und auch zu spinnen, dies allerdings lediglich in Zusammenhang mit der Flachsverarbeitung. Des Weiteren ist nicht belegt, ab welchem Zeitpunkt in Bräunsdorf überhaupt Schafe gehalten bzw. gezüchtet wurden. Sowohl in Kaufungen als auch im nahen Wolkenburg, welches die von Einsiedel zeitgleich mit Bräunsdorf und Kaufungen besaßen, existierten herrschaftliche Schäfereien. Daher lässt sich aus den Schriftquellen des 18. und insbesondere des 17. Jahrhunderts oftmals nicht eindeutig ersehen, wo eventuell genannte Schäfer konkret angestellt waren. Freilich hatten die Wolkenburger Hirten kein Trieb- und Hutrecht innerhalb der Bräunsdorfer Flur. Dagegen konnte die Kaufunger Rittergutschäferei solches durchaus für sich in Anspruch nehmen. Erste Schäfer werden in den Bräunsdorfer Kirchbüchern in den 1640er Jahren genannt, darunter 1642 David Eitel, der 1644 den Namenszusatz „ufn Hoffe“ erhielt. Jedoch fehlt jeder Hinweis auf seine längere Ansässigkeit. Hingegen verdingte sich Eitel in den 1660er Jahren als Schafhirte in Kaufungen. Im Gegensatz dazu hatte der lang301

302 303

304

SächsSTAC, 32863 Grundherrschaft Limbach, Nr. 219: Johann Christian Heyln, Bauer in Bräunsdorf, Limbachen Antheils, Impetrant an einem, entgegen Johann Gottfried Hoffmannen, Hochgräf. Einsiedelen Schaafmeistern zu Kaufungen, und deßen Schaafknecht zu Bräunsdorff, Samuel Friedrich Landgrafen, Impetranten andern Theils in pto. der von leztern sich angemaßten Schaaftrifft und Huthung über des erstern Grundstücken, und die daraus erwachßene Abpfändung 8. Stück Hammel, Anno 1767. Vgl. Strohbach, Dorfbuch, S. 150. „Bleichhaus, [...] wird ein Gebäude genennt, welches [...] zu Beförderung des Bleichens der Leinewand dient. Es muß solches enthalten 1) einige große kupferne Kessel mit Feuerheerden, damit in solchen heises Wasser gemacht, und die Leinewand gelaugt werden kann. 2) Eine Plombe mittelst welcher das Wasser aus dem Fluß gehoben und in die Kessel gebracht werden kann. 3) Eine Kammer zu den zum Bleichen nöthigen Geräthschaften, und 4) Eine Wohnung vor den Bleicher und Aufseher der Bleiche.“ S. 70. Deutsche Enzyclopädie oder Allgemeines Real-Wörterbuch aller Künste und Wissenschaften von einer Gesellschaft Gelehrten, Bd. 4, Frankfurt a. M. 1780. HstA-D, 12613 GB Limbach, Nr. 5: Gerichtsbuch Bräunsdorf, 1768–1802, fol. 385 ff.

BRÄUNSDORF

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jährige Schäfer Michael Schafuß (1613–1680) seinen festen Wohnsitz in Bräunsdorf, wo er neun seiner elf Kinder taufen ließ und wurde, allerdings postum, als Pachtmann auf dem Hof sowie als Schafmeister erwähnt. Da Schafuß nachweislich kein Land in Bräunsdorf besaß, muss er zwischen 1650 und 1680 als Pächter auf dem Bräunsdorfer Rittergut gelebt haben. 305 Zwar indiziert dies die Existenz einer Bräunsdorfer Schäferei bereits Mitte des 17. Jahrhunderts, kann jedoch nicht als eindeutiger Beleg gelten. Die explizite Ersterwähnung „der Hochgraf. Einsiedel.en Schäferey zu Bräunsdorff “ entfällt nach gegenwärtigem Kenntnisstand auf das Jahr 1767. 306 Spätestens Mitte des 19. Jahrhunderts scheinen die Rittergutsgebäude vorrangig der Viehzucht gedient zu haben. Dieser Funktionswechsel schlug sich auch 1840 in einem in Vorbereitung eines neuen Grundsteuersystems angefertigten Flurplans nieder, der anstelle des mit keinem Worte bedachten Rittergutes eine Schäferei verzeichnet. 307 Ergo durchlebte der Bräunsdorfer Adelssitz wie zahlreiche gleichartige Güter jene für das 19. Jahrhundert in Sachsen typische Umwandlung zum landwirtschaftlichen Großbetrieb. Der Schwerpunkt lag dabei offenkundig auf der Viehzucht. Als der Pächter Daniel Friedrich Fischer 1845 die Wirtschaft für zwölf Jahre übernahm, umfasste deren Nutzviehbestand zwei Gänse, drei Enten, 17 Hühner, acht Pferde, neun Schweine mit drei Ferkeln, 95 Stück Rindvieh und 655 Schafe im Gesamtwert von rund 2460 Talern. Zusätzlich verp ichtete er sich unter anderem, „für die Schäferei [...] alljährlich zwei frische feinwollige Stähre 308 aus hochveredelten Schäfereien des In- oder Auslandes auf seine Kosten anzuschaffen, und, daß solches geschehen, durch schriftliche Bescheinigung nachzuweisen, überhaupt [...] darauf zu sehen und dafür Sorge zu tragen, daß die Schäferei in fortschreitender Veredelung erhalten wird“. 309 Die Interaktionen zwischen quasi nebeneinander existierender Rittergutsökonomie und Bräunsdorfer Dorfwirtschaft blieben gering bzw. verringerten sich noch mit den Ablösungsverträgen des 19. Jahrhunderts, durch welche nicht zuletzt die auf einigen Gütern lastende Schaftrift- bzw. Hutbefugnis der herrschaftlichen Schäfer aufgehoben wurde. Während Erstere bis ins 20. Jahrhunderts gänzlich auf den landwirtschaftlichen Bereich bzw. konkret die Viehzucht xiert blieb, wuchs die Bedeutung der Gewerbe, insbesondere textilverarbeitender Couleur für die dörfliche Wirtschaftsentwicklung seit dem 17. Jahrhundert stetig. Mitte des 18. Jahrhunderts trat wie in den meisten Ortschaften des weiteren Limbacher Landes die Strumpfwirkerei als zweites protoindustrielles Handwerk zur bislang dominanten Leinenproduktion hinzu. Als sich 1755/1756 der erste Strumpfwirker, Johann Friedrich Büchner, in Bräunsdorf niederließ, umfasste die Gemeinde 92 Landbesitzer, darunter 21 Anspanner, sieben Handbauern, 29 Gärtner und 305 306 307 308 309

Vgl. EPA Kaufungen, KB I. u. EPA Bräunsdorf, KB I. Vgl. SächsSTAC, 32863 Grundherrschaft Limbach, Nr. 219. Vgl. Strohbach, Dorfbuch, S. 82. Widder. SächsSTAC, 30593 Herrschaft Waldenburg, Nr. 3045.

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DIE UNTERSUCHUNGSORTE IM ÜBERBLICK

35 Häusler. Der neue Gewerbezweig fasste nur zögerlich Fuß. Bis 1800 sind lediglich zwei weitere Personen nachweisbar, die über einen längeren Zeitraum unter anderem als Strumpfwirker ihren Lebensunterhalt verdienten und auch im frühen 19. Jahrhundert blieb deren Zahl gering. Erst in den 1820er Jahren begann die Wirkerei sichtlich an Bedeutung zu gewinnen, ohne jedoch an die Leinenverarbeitung heranzureichen. Die globale Wirtschaftskrise der späten 1830er und frühen 1840er Jahre scheint maßgeblich zu diesem Prozess beigetragen zu haben. „Das Gewerbe der Strumpfwirker und Leinweber [ist] gänzlich ins Stocken geraten“, vermerkt das Bräunsdorfer Gemeindebuch für 1843. 310 Über die folgenden Jahrzehnte erlebte die lokale Leinenherstellung eine kontinuierliche Degression, die sich zunächst weniger in unmittelbarer Verminderung der Gewerbetreibenden als in der stark sinkenden Zahl neu hinzutretender Leinweber niederschlug. Binnen 40 Jahren starb die Leinenverarbeitung in Bräunsdorf offenkundig gänzlich aus. Die Kirchbücher nennen mit Karl Hermann Thierbach letztmalig 1888 einen Leinweber. 311 Im Gegensatz dazu erholte sich die Bräunsdorfer Strumpfwirkerei nicht nur relativ zügig, sondern entwickelte sich in kurzer Zeit mit einer stetig steigenden Zahl an Strumpfwirkern zum bestimmenden örtlichen Gewerbe. Gleichwohl gelang dem in den Limbacher Industriebezirk eingebundenen Protoindustriedorf auch in der Blütezeit der lokalen heimgewerblichen Strumpfwirkerei zwischen 1860 und 1914 nicht der Übergang zur Fabrikindustrie. Der Häusler Ludwig Theodor Illgen gründete zwar 1862 einen Strumpfwirkereibetrieb mit Maschineneinsatz, beschäftigte aber in seiner späteren Strumpffabrikation Fa. Ludwig Illgen maximal 60 Lohnwirker. Die Firma überstand unter Leitung des Gründersohns Gustav Alfred Illgen den Ersten Weltkrieg mit Papiergarnspinnerei, erlebte zur Zeit der großen In ation aber eine schwere Krise. Dennoch bestand sie über das Ende des Untersuchungszeitraums hinaus und beschäftigte 1939 noch 38 Arbeiter. Von deutlich größerem Umfang war die 1923 auf dem „Ochsengarten“ errichtete Strumpffabrik des Rußdorfer Handelsmanns Paul Georg Schüßler, deren Belegschaft in wenigen Jahren von 32 auf 60 am Ende der 1920er Jahre und schließlich 130 Personen 1939 anwuchs. Zunächst orientierte die Produktion, deren monatliche Quote 1939 bei 6000 Strümpfen lag, auf Abnehmer im Inland. Jedoch fabrizierte der Betrieb schon 1934 vorrangig für den Export nach England, Dänemark, Frankreich und Griechenland. Vier weitere in Bräunsdorf ansässige Fabriken, darunter die vormalige Papiermühle, reichten in ihrem Umfang von maximal acht Mitarbeitern nicht über das kleinstbetriebliche Format hinaus. 312 Allein die geringe Zahl industrieller Betriebe vor Ort am Ende des Untersuchungszeitraums, die keineswegs aus den wirtschaftlichen Unbillen während des Ersten Weltkrieges bzw. der 1920er Jahre resultierte, zeigt deutlich den am Anfang der 1930er

310 311 312

Gemeindebuch Bräunsdorf, S. 32, zitiert nach: Strohbach, Dorfbuch, S. 156. Vgl. EPA Bräunsdorf, KB IV: Taufregister 1853–1890, Taufe des Max Willy Thierbach, 1888. Vgl. Strohbach, Dorfbuch, S. 182ff.

BRÄUNSDORF

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geringen Industrialisierungsgrad der Dorfwirtschaft an. Obwohl 1928 die Hälfte von 335 im „Adreßbuch der Stadt Chemnitz und Umgebung“ mit ihrem Beruf aufgeführten Bräunsdorfer Haushaltsvorständen im sekundären, dagegen nur ein Viertel im primären Sektor tätig waren 313, ist der agrarischen Erwerbsarbeit noch Mitte der 1930er Jahre eine prägende Rolle zu attestieren. „Bis heute hat die Landwirtschaft diesen festen Stellenwert im Dorf.“ 314 Hinsichtlich der Bräunsdorfer Bevölkerungsentwicklung liegen erst für die letzten 100 Jahre des betrachteten Zeitabschnitts konkrete Daten vor. Beginnend mit 624 Personen zur Zeit der ersten Zählung 1834 315, wuchs die Bevölkerung bis 1875 auf 1020 und in den folgenden 30 Jahren auf 1232 Individuen an. Gleichzeitig verdoppelte sich die Zahl der Haushalte ohne eine mit Rußdorf vergleichbare massive Wohnungsbautätigkeit von 205 (1875) auf 400. Zwischen 1875 und 1905 entstanden 25 neue Wohnhäuser. 316 Sechs Jahre vor Beginn des Ersten Weltkrieges erfolgte der Anschluss an das Oberfrohnaer Stromnetz. Eine neue Siedlung, für die angesichts der sich 1933 auf 400 Haushalte verteilenden 1519 Einwohner Bedarf angezeigt wurde, zumal „eine ganze Anzahl Bewohner immer noch in schlechten Behausungen sich befänden und zudem der Wunsch allgemeiner bestehe, nicht auswärts, sondern im Orte zu siedeln“, befand sich 1935 im Planungsstadium. 317 Im Laufe des Untersuchungszeitraums wandelte sich Bräunsdorf vom kolonisatorischen Agrardorf zu einem protoindustriellen Standort der Leinenverarbeitung. Obwohl in unmittelbarer Nachbarschaft des industrialisierenden Limbach gelegen, unterblieb hier jedoch die weitere Herausbildung einer markanten Fabrikindustrie. Die Landwirtschaft bewahrte sich einen höheren Stellenwert für die örtliche Ökonomie als etwa in Rußdorf, die Bevölkerung wuchs moderater und die Partikularisierung ehemaliger Nutz ächen erfolgte im Vergleich verzögert sowie weniger intensiv. Den seit dem 19. Jahrhundert vollzogenen Übergang in eine industrielle Lebenswelt erlebte das Dorf eher passiv.

313 314 315 316 317

Vgl. Adreßbuch der Stadt Chemnitz mit 78 Orten der Umgebung. 1928, Chemnitz 1928. Stadtverwaltung, Limbach, S. 55. Vgl. HOV, Bräunsdorf. Vgl. Strohbach, Dorfbuch, S. 92. Ebd., S. 42.

4. GEBURTIGKEIT 4.1 ENTWICKLUNG DER GEBURTENZAHLEN

Die Natalität reiht sich unter die grundlegenden Kenngrößen ein, deren Betrachtung integraler Bestandteil jeder allgemeinen demographischen Untersuchung ist. Personizierte, d. h. in Verbindung mit weiteren Variablen in einen biographischen Zusammenhang gestellte Geburts- bzw. Taufereignisse gestatten es unter anderem, sekundäre Daten wie zum Beispiel individuelle Lebens- und Ereignisalter zu ermitteln. Bei einer zusätzlichen Familienrekonstruktion können diese weiterhin familiär-interpersonell in Beziehung gesetzt und dadurch etwa intergenetische Intervalle errechnet werden. Doch auch die personenungebundenen aggregierten Geburtenzahlen, derer sich insbesondere die makroregional ausgerichtete Bevölkerungswissenschaft bedient, bergen wertvolle, einen grundsätzlichen Eindruck der Entwicklung einer Population vermittelnde Informationen. Fehlen wie vor 1800 notorisch Einwohnerzählungen, zeigt die Geburten- in Verbindung mit der Hochzeits- und Sterbekurve in der Regel am zuverlässigsten den ungefähren Umfang einer Gesellschaft an. Im Zusammenspiel der Graphen werden zudem kurzund langfristige Prozesse abgebildet, welche die im Folgenden praktizierte gesonderte Analyse jeweils eines einzelnen solchen ebenfalls, freilich unter Umständen weniger deutlich, zu Tage fördert. Das Ziel ist, im ersten Schritt Veränderungen der Geburtigkeit zu identi zieren und von der im vorliegenden Fall der relativ kleinen Stichprobe geschuldet hohen latenten statistischen Unruhe abzugrenzen sowie explizite Reaktionsketten auszumachen. Langfristige Entwicklungstendenzen lassen andere Ursachen vermuten als punktuelle Ausschläge. In beiden Fällen nden Veränderungen auf Basis qualitativen oder quantitativen Bevölkerungswandels statt. Bleibt das Geburtenverhalten gleich, vermag eine schwankende Populationsgröße ähnliche Variationen der absoluten Geburtenzahl hervorzurufen wie bei fester Bevölkerungszahl geändertes Verhalten. Da kurzzeitige markante Abweichungen vom Mittelwert von einer raschen Rückkehr zum Status quo ante leben, fußen sie zumeist auf konkreten außergewöhnlichen, regelmäßig krisenhaften Ereignissen. Bereits Malthus postulierte Kriege, Hunger und Epidemien 1798 als demographische Hemmnisse und Goubert attestierte 1952 für 17. und 18. Jahrhundert ein negatives Zusammenspiel von Getreidepreis- und Fertilitätsentwicklung. Überregional beobachtbar verloren demographische Krisen jedoch seit dem späten 18. Jahrhundert sukzessive an

82

GEBURTIGKEIT

statistisch messbarer Schlagkraft. Zuvor typische „schwarze Zacken“ bei das Geburtenniveau übersteigender Mortalität verschwanden während des 19. Jahrhunderts. 318 Als weiterer gesamteuropäischer Prozess erwies sich eine starke, die Industrialisierung begleitende Bevölkerungszunahme im 19. und frühen 20. Jahrhundert, welche einen Wandel der Bevölkerungsweisen überspannte. In dessen Rahmen el unter anderem die Geburtenziffer teils mit, teils ohne vorangehenden Anstieg erheblich. Deutschland trat um 1850 in diesen etwa 70 Jahre andauernden demographischen Übergang ein. 319 In den sächsischen Geburtenzahlen manifestierte sich der Vorgang durch seit 1830 bis in die 1910er Jahre stetig steigende Dekadenkohorten bzw. zwischen 1880 und 1889 auch jährlich ungebrochenes Wachstum sowie in einem ab 1906 relativ stetigen Rückgang bis unter das absolute Niveau der 1840er in den 1930er Jahren. 320 Nachfolgend gilt es zunächst zu klären, inwieweit die Situation in den Untersuchungsorten dem Rechnung trägt. Die Frage nach den Hintergründen beobachtbarer Entwicklungen und Auffälligkeiten ist dem inhärent. Rußdorf Zwischen dem 1. Januar 1582 und dem 31. Dezember 1935 sind über Kirchbücher und Standesamtsakten für Rußdorf insgesamt 13.205 Geburten nachweisbar, die äußerst ungleichmäßig über den Untersuchungszeitraum verteilt sind. Allein in den Jahren 1880– 1919, also 11,3 Prozent der betrachteten 354 Jahre, erfolgten 40,42 Prozent (5338) aller erfassten Geburten. Dagegen ent elen auf die Zeitspanne 1582–1799 (61,58 % des UZ) lediglich 21,74 Prozent (2871). Schon in dieser kurzen Aufstellung kommt eine für die Industrialisierungszeit typische massive Bevölkerungsvermehrung deutlich zum Ausdruck, welche mindestens seit dem Ende des Spätmittelalters ihresgleichen suchte. Eine insgesamt steigende Tendenz der Rußdorfer Geburtenzahl zeichnet sich bereits im 18. Jahrhundert mit einem Zuwachs von knapp 1000 gegenüber dem vorangegangenen Zentennium ab. Freilich steht dies in keinem Verhältnis zu dem im 19. Jahrhundert folgenden Wachstum um 276,66 Prozent. Ein differenzierteres Bild Rußdorfer Natalitätsentwicklung offenbart Tabelle 1. Am Ende des 16. Jahrhunderts stehen in Anbetracht der nachfolgenden Zahlen erstaunlich hohe Werte. Da der primären Dekade überlieferungsbedingt zwei Jahre abgehen, markierte die 1580er-Kohorte realiter ein vorläu ges Maximum. Bereits während des Folge-

318 319

320

Vgl. Imhof, Einführung, S. 65. Vgl. Ehmer, Bevölkerungsgeschichte, S. 34ff. – Zum Vergleich vollzog sich der demographische Übergang in Frankreich ebenfalls etwa zwischen 1860 und 1970, in Italien zwischen 1870 und 1980, in Großbritannien zwischen 1760 und 1920, in Japan zwischen 1930 und 1990 bzw. begann er in Indien um 1940 oder in Mexiko 1930 etc. Vgl. Kernig, Und mehret euch?, S. 54ff. Vgl. Burghardt, Bevölkerung, S. 28ff.

83

ENTWICKLUNG DER GEBURTENZAHLEN

Tabelle 1: Rußdorfer Geburten nach Dekadenkohorten Geburten (1580) 1582–1589 1590–1599 1600–1609

prozentualer Anteil 0,80 % 0,81 %

Wachstum 0,94 % (–0,19 %)1

84 85

0,64 % 0,64 %

96

0,73 %

12,94 %

89

0,67 %

–7,29 %

52 93 81

0,39 % 0,70 % 0,61 %

–41,57 % 78,85 % –12,90 %

63 89

0,48 % 0,67 %

–22,22 % 41,27 %

107 109 122 129

0,81 % 0,83 % 0,92 % 0,98 %

20,22 % 1,87 % 11,93 % 5,74 %

177 158

1,34 % 1,20 %

37,21 % –10,73 %

174 220

1,32 % 1,67 %

10,13 % 26,44 %

197 218 315

1,49 % 1,65 % 2,39 %

–10,45 % 10,66 % 44,50 %

303

2,29 %

–3,81 %

345 390 453

2,61 % 2,95 % 3,43 %

13,86 % 13,04 % 16,15 %

463 548 646

3,51 % 4,15 % 4,89 %

2,21 % 18,36 % 17,88 %

759 1365

5,75 % 10,34 %

17,49 % 79,84 %

1890–1899 1900–1909 1910–1919

1569 1461

11,88 % 11,06 %

14,95 % –6,88 %

943

7,14 %

–35,46 %

1920–1929

766

5,80 %

–18,77 %

1930–1935

323

2,45 %

–57,83 %

1610–1619 1620–1629 1630–1639 1640–1649 1650–1659 1660–1669 1670–1679 1680–1689 1690–1699 1700–1709 1710–1719 1720–1729 1730–1739 1740–1749 1750–1759 1760–1769 1770–1779 1780–1789 1790–1799 1800–1809 1810–1819 1820–1829 1830–1839 1840–1849 1850–1859 1860–1869 1870–1879 1880–1889

1

106 (133)1 107

Hochrechnung durch entsprechende Addition des Durchschnittswertes der Kohorte.

–21,50 % 1,19 %

84

GEBURTIGKEIT

jahrzehnts begann die extreme Geburtenfreudigkeit merklich zurückzugehen. Rußdorf beherbergte um 1600 schätzungsweise zwischen 150 und 200 Einwohner. Eine Fortsetzung der hohen Natalität hätte selbst bei massiver Säuglingssterblichkeit binnen drei bis vier Jahrzehnten zur Verdopplung der Bevölkerungszahl geführt. Keinesfalls entsprach dies dem ursprünglichen eher auf Wachstumsbegrenzung zur Aufrechterhaltung der allgemeinen sozialen Sicherheit ausgelegten agrargesellschaftlichen demographischen System Rußdorfs. Mit jedem zusätzlichen Esser verkleinerte sich der noch stark von regionaler Produktion bestimmte Nahrungsspielraum aller, vergrößerte sich die Belastung jeder einzelnen beteiligten Familie und auf lange Sicht der gesamten Gemeinde. Ohne proportionales, Erwerbsperspektiven bietendes Wirtschaftswachstum stieg das Risiko bei dem geltenden Anerbenrecht für weichende Erben, der kommunalen Armenfürsorge anheimzufallen, mit deren Zahl. Die in den 1590er Jahren erfolgte Abnahme der Geburtenzahlen auf ein trotz wachsender Einwohnerschaft über das 17. Jahrhundert im Ganzen gehaltenes Niveau von 80–90 pro Dekade erscheint so, zumal sie sich bei insgesamt steigender Familienzahl vollzog, als Ausdruck eines demographischen Wandels. Hingegen weisen das absolute Minimum des gesamten Untersuchungszeitraums in den 1640er sowie ein Einbruch in den 1670er Jahren auf Krisenereignisse hin. Das quantitative Niveau des ausgehenden 16. Jahrhunderts wurde erst nach 100 Jahren wieder erreicht. Bereits seit den 1670er Jahren erlebten die Geburtenzahlen ein langfristiges, während des 18. Jahrhunderts wellenförmiges Wachstum. Insbesondere die Kohorten der 1730er bis 1760er und der 1760er bis 1790er Jahre weisen eine auffallende Kongruenz auf. Hier wie da schließt sich einem vorläu gen Maximum ein leichter Abfall um zehn bis elf Prozent an, welcher in der dritten Dekade nahezu ausgeglichen wird. Neuerliche vorläu ge Maxima beenden die Abschnitte. In beiden Fällen gehen die anfänglich starken Wachstumssprünge auf kurzfristige signi kante Erhöhungen der Herdstellenzahl zurück (Kap. 8.1). Die neuen Stellen wurden von jungen Familien besetzt, die durch ihre gewöhnliche Fertilität einen zeitlich begrenzten übermäßigen Anstieg der Geburtenzahl verursachten. Ein abermals massives Wachstum der Geburtenzahl in den 1790er Jahren beruhte hingegen auf anderen Ursachen. In Kombination mit dem anschließenden, vielleicht krisenbedingten, vielleicht aus dem Geburtenhoch resultierenden leichten Rückgang führte es das langjährige wellenförmige Wachstum zum Abschluss. Seit den 1810er Jahren nahm die Zahl der Neugeborenen von Jahrzehnt zu Jahrzehnt bis 1899 kontinuierlich zu. Dennoch kristallisieren sich auch für diese Periode verschiedene Abschnitte heraus. So folgten der leichten Regression zu Beginn des 19. Jahrhunderts binnen drei Dezennien sehr gleichförmige Wachstumsraten zwischen 13 und 16 Prozent. Dieses Bild wiederholte sich ab der 1840er-Dekade, welche gegenüber der vorhergehenden eine nur minimal erhöhte Geburtenzahl aufwies. Daran schlossen sich abermals über drei Jahrzehnte ähnliche Wachstumsraten von 17–18 Prozent an.

ENTWICKLUNG DER GEBURTENZAHLEN

85

Die 30 Jahre zwischen 1880 und 1909 stechen klar aus der vorangegangenen Entwicklung heraus. Binnen eines Jahrzehnts wuchs die Dekadenkohorte in den 1880er Jahren um 79,84 Prozent an, ohne damit einen Höchststand zu erreichen. Das seit dem späten 17. Jahrhundert anhaltende zunächst tendenzielle und im 19. Jahrhundert kontinuierliche Wachstum mündete während der 1890er Jahre in einem absoluten Maximum von 1569 Geburten. Die verbleibenden 35 Jahre des Untersuchungszeitraums prägte kontrastierend eine massive Regression. Trotzdem lag die Rußdorfer Geborenenzahl der 1910er Jahre deutlich über jener der orierenden 1880er und obgleich in den 1920er Jahren nurmehr halb so viele Kinder das Licht der Welt erblickten, überschritt selbst dies noch leicht das Niveau der 1870er Jahre. Obwohl die Betrachtung der Dekadenkohorten bereits Aussagen über langfristige Trends und Brüche innerhalb der Geburtenentwicklung erlaubt, kann einzig eine Untersuchung der zwangsläu g deutlich uneinheitlicheren jährlichen Zahlen Hinweise auf die Ursachen der ablaufenden Prozesse geben sowie deren konkrete Form und zeitliche Eingrenzung offenlegen. Erwartungsgemäß unterliegt die Geburtenzahlenkurve über den gesamten Untersuchungszeitraum hinweg teils erheblichen Schwankungen. Den besonders in den ersten 170 Jahren sehr geringen Werten geschuldet, sind jährliche Wachstums- und Schrumpfungsraten bis 50 Prozent eher Normalität denn Ausnahme. Selbst Ausschläge von 100 Prozent im positiven wie negativen Bereich treten regelmäßig auf, ohne unbedingt krisenhafte Ereignisse anzuzeigen. Unter Berücksichtigung der vorangegangenen Betrachtungen kristallisieren sich sechs Phasen der Rußdorfer Geburtenzahlentwicklung zwischen 1582 und 1935 heraus. Deren erste, gekennzeichnet durch im Vergleich zum nachfolgenden Jahrhundert relativ hohe Jahreswerte im unteren zweistelligen Bereich, endet 1594 markant in einem vorläu gen Maximum von 18 Geburten. Den daran anschließenden zweiten Abschnitt charakterisiert ein wannenförmiger Kurvenverlauf, der zum Beispiel auch in den Geburtenzahlen des englischen Colyton 1650–1800 auftritt und Imhof von einer „mysteriösen Stagnation bzw. Abnahme“ sprechen ließ. 321 Die Talsohle und zugleich das absolute Minimum des gesamten Untersuchungszeitraums wurde 1641 durchschritten. In den 1690er Jahren erreichten die Geburtenzahlen im Mittel bereits wieder eine mit dem späten 16. Jahrhundert annähernd vergleichbare Höhe. Dennoch kann das Tal des 17. Jahrhunderts im Hinblick auf die Größe der Dekadenkohorten frühestens mit den 1700er Jahren als abgeschlossen gelten. Einen präziseren Endpunkt markiert jedoch das Jahr 1715, in dem erstmals wieder der Wert des Geburtenmaximums von 1594 zu Buche stand. Die folgende dritte Phase währte bis zu einem 27 Jahre unübertroffenen vorläu gen Geburtigkeitsgipfel 1798 und zeichnet sich durch ein langfristiges tendenzielles Wachstum aus. Wiederholte, zwischen 321

Vgl. Imhof, Einführung, S. 31f.

86

GEBURTIGKEIT

Abbildung 3: Jährliche Rußdorfer Konzeptionszahlen und Leipziger Roggenpreisindex 1582–1799 Vgl. Rahlf, Thomas, (1996 [2005]) Getreidepreise in Deutschland 1500–1800. Daten entnommen aus: GESIS Datenarchiv, Köln. Histat., Studiennummer 8140, Daten le Version 1.0.0, online: https://histat.gesis.org/histat/de/project/details/CD57E8E43EEB2AEA863536769E9EF5FD [zuletzt aufgerufen am 20. 06. 2016].

Abbildung 4: Rußdorfer Geburten- und Konzeptionszahlen 1800–1935

ENTWICKLUNG DER GEBURTENZAHLEN

87

zehn- und 20-jährige Erholungsphasen nach sich ziehende kurzfristige Einbrüche nach momentanen Höchstständen verleihen diesem ein stufenförmiges Gepräge. Vorläu ge Maxima der Periode entfallen auf die Jahre 1733, 1736, 1767, 1768, 1792 sowie 1798. Ein im Ganzen beschleunigtes Wachstum mit ausgeprägten Schwankungen ist Charakteristikum des vierten, bis 1875 andauernden Abschnitts, während dem in acht Jahren (1825/1826, 1831, 1835, 1861, 1866, 1869, 1873) neuerliche Gipfelwerte markiert wurden. Der stärkste Einbruch gegenüber dem Vorjahreswert seit 1847 grenzt ihn 1875 von der fünften Periode ab. Diese ist als Hauptphase des demographischen Übergangs zu identi zieren. Bis 1890 322 stiegen die Geburtszahlen massiv an. Schon 1876, 1877, 1880 und 1882 wurden vorläu ge Maximalwerte erreicht und ab 1884 über ügelte das Geburtenquantum jährlich jenes der vorangegangenen Jahre. Binnen eineinhalb Jahrzehnten verdoppelte sich die Rußdorfer Geborenenzahl auf das absolute Maximum von 183. Gleichzeitig stieg die Natalität von 52,78 im Jahr 1880 auf 67,42 anno 1890. Schon zu Beginn der sächsischen Hochindustrialisierungsphase kam die Entwicklung der absoluten wie relativen Rußdorfer Geburtszahlen an ihren Wendepunkt. Hernach sank die Natalität rasch auf 50,59 bei einer Gesamtbevölkerung von 2985 Personen im Jahr 1902 sowie auf 30,83 vier Jahre vor Beginn des Ersten Weltkrieges. Die Geburtenzahl folgte dem weniger rasch und kontinuierlich in die Regression nach. Bis 1898 elen die Werte dabei durchaus radikal bis auf ein momentanes Minimum von 135 Geburten ab, woran sich allerdings 1900 nochmals ein kurzfristiger, relativ massiver Anstieg um 27,74 Prozent anschloss. Die nachfolgende regressive Bewegung lief unter erheblichen Schwankungen ab. Obgleich Geburtenzahl und -rate auch nach dem Ersten Weltkrieg, von dem einjährigen Hoch 1920 abgesehen, die Vorkriegsentwicklung tendenziell fortführten, kann die Hauptphase des demographischen Übergangs mit dem Kriegsbeginn 1914 als beendet angesehen werden. Der kriegsbedingte Geburtentiefstand in den Jahren 1915–1918, das darauffolgende Hoch 1920 und die anschließende, 1935 noch andauernde Schrumpfung tragen neben den Zügen der demographischen Transition unverkennbar auch die einer Mortalitätskrise. Beides ist schwerlich trennbar und unterlag zwangsläu g gegenseitiger Beein ussung. Insofern scheint es gerechtfertigt, die letzten 20 Jahre des Untersuchungszeitraums ob ihrer klaren Abgrenzbarkeit als eigene, sechste Phase zu begreifen. An deren Ende stand eine äußerst niedrige Geburtenziffer von 6,81 (1933). Unabhängig von den langfristigen Entwicklungstendenzen zeigt die Kurve mehrere kurzzeitige Auffälligkeiten. Hierzu zählen markante Einbrüche 1640–1645, 1676, 1773, 1781, 1875 und 1915–1918 ebenso wie das einmalige kontinuierliche Wachstum zwischen 1883 und 1890 und eine wiederholt beobachtbare Kombination signi kanter Gipfelwerte mit vorangehenden merklichen Tälern, etwa 1593/1594, 1713–1715, 1814/1815, 1875/1876, 1910–1912 oder 1916–1920.

322

Das Konzeptionsmaximum (188) wurde bereits 1889 erreicht.

88

GEBURTIGKEIT

Kommen als Ursachen größere Zeiträume durchmessender Prozesse nahezu ausschließlich Veränderungen der Lebensweise wenigstens in einigen Facetten in Betracht, gehen temporal eng begrenzte Entwicklungen oft auf konkrete Ereignisse, d. h. in der Regel Krisen, zurück. Jedoch zeichnet die demographische Eigendynamik, der umso größere Bedeutung beizumessen ist, je begrenztere Ausmaße das Datenmaterial annimmt, ähnliche Bilder. Eine Krisensituation verursacht bei der Geburtigkeit typischerweise zeitlich versetzt, indem sie unmittelbar auf die Konzeptionen einwirkt, einen über das Maß normaler jährlicher Schwankungen hinausgehenden Abfall, dem sich meist über mehrere Folgejahre nur langsam zunehmende Geburtenzahlen anschließen. Entweder vermindert erhöhte Sterblichkeit die Zahl prokreativer Personen, entfernen militärische Auseinandersetzungen für den Kampf verp ichtete Männer von ihren Frauen und entziehen beide dadurch temporär der „geregelten“ Reproduktion oder bedingen körperlicher Stress infolge Krankheit, Unterernährung, psychischer und außergewöhnlicher physischer Belastungen eine temporäre Sterilität bzw. Amenorrhoe. Kriege lassen sich hinsichtlich ihrer Auswirkungen am einfachsten nachvollziehen. Militärische Kon ikte nehmen seit dem Ende des Fehdewesens in der Regel überregionale Ausmaße an und sind auch aus diesem Grund hinlänglich dokumentiert. Somit stellt sich bei Betrachtung ihrer demographischen Dimension an dieser Stelle weniger die Frage, ob einer aufgetretenen Abnormität kriegerische Ursachen zugrunde liegen, denn ob ein hinsichtlich seiner Ausdehnung als demographischer Faktor potentiell wirksamer Kon ikt statistische Spuren hinterlassen hat. Der erste innerhalb des Untersuchungszeitraums statt ndende (Dreißigjährige) Krieg wirkte dezisiv auf die demographische Situation des gesamten Limbacher Gebiets ein. In dieser Zeit sind vielfache Truppendurchzüge, Einquartierungen und marodierende Soldaten für die schönburgischen Lande belegt. Dennoch zeigten sich die Auswirkungen auf die Rußdorfer Konzeptionen zunächst gering. Die Einrückung kaiserlicher Truppen 1626 323 scheint keine negativen Folgen gezeitigt zu haben. Stattdessen wurden, wahrscheinlich eine direkte Folge des Minimums 1625, in diesem Jahr die seit 1593 meisten Kinder gezeugt. Hingegen indiziert der 1632 erfolgte Einbruch um 50 Prozent gegenüber dem Vorjahreswert eine Verbindung mit dem Einfall der Kroaten unter dem kaiserlichen General Heinrich von Holk, die Chemnitz belagerten und Hohenstein, Penig, Lichtenstein sowie das Waldenburger Umland plünderten. 324 Ähnliches wiederholte sich bis 1644 mehrfach. Böhmische Söldner hausten 1634 im Churbachstal. 325 Im Oktober des Jahres wurde Hohenstein geplündert 326, im Dezem323 324 325 326

Vgl. Callenberg, Grumbach, S. 29. Vgl. ebd. – Das wüste Treiben der Kroaten und die Angst der leidenden Bevölkerung spiegeln sich deutlich in zahlreichen Kirchbüchern der Rußdorfer Umgebung wider. Vgl. Gemeinde Callenberg (Hg.), Die Ortsgeschichte von Falken, Callenberg 2004, S. 7. Vgl. Callenberg, Grumbach, S. 29.

ENTWICKLUNG DER GEBURTENZAHLEN

89

ber der Rußdorfer Joannes Rudloff von einem Kroaten erschossen. 327 Parallel el die Konzeptionszahl auf den zweitniedrigsten Stand seit Überlieferungsbeginn. Zwei Jahre später, woran sich ein bis 1640 anhaltender kontinuierlicher Rückgang der Rußdorfer Geburten anschloss, hielt sich das Regiment Rogau in den schönburgischen Herrschaften gütlich. Schwedische Truppen plünderten und brandschatzten in der Gegend 1637, 1640 und 1642. Als die Kroaten 1644 abermals im Gebiet um Hohenstein wüteten, kumulierte der aufgestaute bäuerliche Unmut in bewaffneter Gegenwehr unter Führung des Langenchursdorfer Richters und Freigutsbesitzers Georg Stiegler. 328 Die drei Schlesischen Kriege zwischen 1740 und 1763, während derer Kursachsen zunächst nanziell und schließlich auch materiell hart getroffen wurde, vermochten die Lebenswelt innerhalb der sächsisch-altenburgischen Exklave Rußdorf nur mittelbar zu beein ussen. Das Konzeptionstief 1740 ist schwerlich mit dem erst im Oktober 1740 begonnenen Kon ikt in Verbindung zu bringen. An den im Frieden von Dresden 1745 festgesetzten, an Preußen zahlbaren Kriegsentschädigungen über eine Million Taler 329 konnte die Bevölkerung des Dorfes zwangsläu g nicht beteiligt werden und Einquartierungen preußischer Truppen 1756 sind lediglich in einer Nottaufe dokumentiert. 330 Jedoch schlug sich eine Teuerungskrise infolge des Siebenjährigen Krieges 1762/1763 331 in einer Abnahme der Konzeptionen um ein Drittel nieder, ohne in den Geburtenzahlen erhebliche Spuren zu hinterlassen. Dasselbe gilt für den Bayerischen Erbfolgekrieg 1778/1779, welcher eher die sächsisch-böhmische Grenzregion in Mitleidenschaft zog. 332 Von den Napoleonischen Kriegen blieb das Dorf in demographischer Hinsicht wahrscheinlich ebenfalls weitgehend unbeein usst. Ein kurzzeitiger notabler Rückgang der Geburtigkeit 1805 hatte seine Ursachen mit Sicherheit in einer massiven Teuerungskrise 1804/1805 und ein mäßiger Tiefstand 1800 stand im Zweifel eher mit einer gleichzeitigen Mortalitätskrise in Verbindung. Einquartierungen, wie sie zwischen 1805 und 1813 zum Beispiel das nahe Falken mehrfach erdulden musste, sind in Rußdorf lediglich für 1813 belegt. 333 Tatsächlich erlebten die Konzeptions- im selben und die Geburtenzahl im Folgejahr eine leichte Talfahrt, die gut mit derartigen erzwungenen Versorgungsleistungen korrespondierte. Keine der weiteren kriegerischen Auseinandersetzungen des 19. Jahrhunderts schlug sich sichtbar in den demographischen Kenngrößen Rußdorfs nieder. Im Gegensatz dazu 327 328 329 330 331 332 333

Vgl. EPA Rußdorf, KB I, Beerdigungen 1634. Vgl. Callenberg, Grumbach, S. 29 u. Callenberg, Falken, S. 7. Vgl. Groß, Geschichte Sachsens, S. 151. „Emp ng, da es noch unzeitig war als die Mutter über der starcken Einquartirung derer Preußen erschrocken, die Nothtauffe, starb auch gleich des andern tages.“ Vgl. EPA Rußdorf, KB I, Taufen 1756, Nr. 7. Vgl. EPA Jahnsdorf, KB III: Kirchbuch 1714–1782, Chronik, S. 2. Vgl. Groß, Geschichte Sachsens, S. 169. „Am 4. Dec. 1813 starb allhier ein französischer Soldat der zum Corps des Marschalls St. Cyr gehörte, und nach der Capitulation von Dresden auf dem Marsch nach Böhmen in die Gefangenschaft hier einquartirt war.“ EPA Rußdorf, KB II: Kirchbuch 1801–1840, Beerdigungen 1813, Notiz.

90

GEBURTIGKEIT

unterbrach der Erste Weltkrieg, ein militärischer Kon ikt bis dahin ungekannten Ausmaßes und neuer Qualität, die Bevölkerungsentwicklung unverkennbar massiv. Die Abwesenheit zahlreicher wehrfähiger Männer ließ die Geburtenzahl bereits 1915 erstmals seit 1881 auf unter 100 sinken und in den Folgejahren bis 1917/1918 auf 36 zurückgehen. Dies entsprach, orientiert an der bekannten örtlichen Bevölkerungszahl von 1919, einer relativ niedrigen Geburtenrate von 26,34. Eine geringere Anzahl Neugeborener war letztmalig 1833 bei einer gleichzeitigen Geburtenziffer von etwa 38,42 zustande gekommen. Nach Beendigung des Flächenbrandes stiegen die Geburtenzahlen typischerweise infolge nachgeholter Konzeptionen zunächst bis 1920 stark an, ohne sich dem Vorkriegsniveau wieder anzunähern. Seit 1921 signi kant abnehmende Natalitätszahlen gingen unter anderem auf den Verlust 142 gefallener, meist junger Männer im prokreativen Alter zurück. Freilich setzte dies auch den seit 1890 beobachtbaren Trend fort. Als weiteres bedeutendes demographisches Hemmnis nach malthusianischer Lesart hatten epidemische Krankheiten kaum Ein uss auf die Rußdorfer Geburtenratenentwicklung. Vom 16. bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts traten Seuchen in relativer Regelmäßigkeit auf. Insgesamt 26 „schwarze Zacken“ sind unter anderem offenkundiger Ausdruck dessen. Pest, Ruhr, Blattern und ähnliche Infektionskrankheiten konnten die Mortalitätsrate stark erhöhen, minderten die Konzeptionszahl jedoch nur in den seltensten Fällen. Im Gegenteil erreichte die Geburtenzahl im Folgejahr oft ein momentanes Maximum, um erst im zweiten Jahr nach dem Mortalitätshoch wieder abzufallen (siehe 1676–1678, 1709–1711 oder 1761–1763). Nicht selten treten momentane Mortalitätsmaxima und Natalitätsminima zeitgleich auf (1595, 1620, 1633, 1676, 1694, 1719, 1781, 1814 und 1824), was auf eine ökonomische oder klimatische Missentwicklung hindeuten kann, die letztendlich über Herabsetzung der körperlichen Verfassung breiter Bevölkerungsteile sowohl kontrazeptiv als auch immunologisch degenerativ wirkt. Dementsprechend selten gereichen Seuchen, die im Normalfall vorrangig Alte und Säuglinge bzw. Kleinkinder töten, zur Ursache demographischer Krisen. 334 Während des Untersuchungszeitraums ndet sich in Rußdorf keine Mortalitätskrise, die massiv genug gewesen wäre, um auf die Geburtenzahl dezisiv einzuwirken. Völlig konträr wurden zum Beispiel während des Pestjahres 1633 deutlich mehr Kinder gezeugt (13) als im Jahr zuvor und danach (6/4). Zweifelsohne haben Lohn- und Preisentwicklung den größten Ein uss auf das bewusste wie unbewusste generative Verhalten. Sofern keine Geburtenplanung betrieben wird, sollten sich wirtschaftlich günstige Perioden, d. h. Phasen ausreichender bis opti-

334

Die sogenannte Justinianische Pest des 6. Jahrhunderts und der Schwarze Tod Mitte des 14. Jahrhunderts stellen seltene Ausnahmen dieser Regel dar. Freilich ging beiden Pandemien eine klimatische Ungunst voraus bzw. begleitete sie auch, jedoch erklärt dies die immense Letalität beider Seuchen, der Personen jedes Alters unterworfen waren, unzureichend.

ENTWICKLUNG DER GEBURTENZAHLEN

91

maler Nahrungsmittelversorgung und nanzieller Sicherheit in signi kant erhöhter Fertilität bzw. vermehrten Geburten äußern und Perioden erschwerter Lebenshaltung bzw. gar der Existenzgefährdung Gegenteiliges bewirken. Auf der mikroregionalen Ebene der untersuchten Dörfer fehlen zumeist klare Belege für eine lokal empfundene bzw. erlebte ökonomische Gunst oder Ungunst. Je nach Beschaffenheit der lokalen naturräumlichen, wirtschaftlichen oder gar sozialen Verfassung können selbst schwere überregionale Wirtschaftskrisen bis hin zu den einzelnen Haushalten höchst unterschiedliche Auswirkungen von fehlender bis massiver Betroffenheit zeigen. Dennoch indiziert der Vergleich zwischen dem Verlauf der Rußdorfer Natalitätskurve und der gleichzeitigen ökonomischen Entwicklung eine Korrelation beider. Die relativ hohen Konzeptionsraten der 1580er und 1590er Jahre zeugen noch vom Ende der spätmittelalterlichen Agrardepression im frühen 16. Jahrhundert und einem darauffolgenden kontinuierlichen Bevölkerungswachstum. Ebenso scheint sich darin eine durch hohe Getreidepreise und eine starke Zunahme spekulativer Landkäufe gekennzeichnete gesamteuropäische Agrarkonjunktur widerzuspiegeln. Allerdings stellt der faktisch vorgezogene Einbruch der Rußdorfer Konzeptionsziffer 1594 dieses Bild infrage, endete die Konjunktur doch erst 1598–1600 in drei Jahren außerordentlich guter Ernten, was in der ersten Dekade des 17. Jahrhunderts einen anhaltenden Preisverfall verursachte. Eine schleichende Münzentwertung löste die Überproduktionskrise während des Dreißigjährigen Krieges ab. Zwei Versorgungskrisen 1624/1625 und 1637/1638 bewirkten kurzzeitig zusätzliche massive Teuerungen, die unzweifelhaft auch im Untersuchungsgebiet wahrgenommen wurden. 335 Die Kaufunger Gerichtsbücher sprechen für 1624 von einem teuren Jahr und in Rußdorf starb der Schneider Bartel Pödger, der „vor der Zeit das seine verschwendet, das er vor seinem ende, und zu letzt fast, in dieser schanden Teurung, hat noth und mangel leiden müssen“. 336 Nicht umsonst zeugten die Rußdorfer 1625 die wenigsten Kinder seit Beginn der Aufzeichnung. Weit größere Ausmaße nahm allerdings die Krise von 1637/1638 an. Bereits 1636 war ein trockenes Jahr in den schönburgischen Landen gewesen. Entsprechend wies die Rußdorfer Konzeptionsrate in diesem und den Folgejahren eine degressive Tendenz auf. Gleichartige Korrelationen lassen sich für das Jahr 1684 vermuten, in dem ein langer harter Winter und ein sehr trockener Sommer das Winter- und Sommergetreide der Region verdarben und den Getreidepreis zwischen Ostern und Oktober von 30 auf 84 Groschen hochschnellen ließen. 337 Dagegen hinterließ zum Beispiel ein in reichen Ernten zu Beginn des 18. Jahrhunderts sowie mehreren Missernten zwischen 1708 und 1713 gründender gesamteuropäischer Getreidepreisverfall 338 keine klar zuordenbaren

335 336 337 338

Vgl. Abel, Agrarkrisen, S. 152ff. EPA Rußdorf, KB I, Beerdigungen 1624, Nr. 1. Vgl. Callenberg, Grumbach, S. 32. Vgl. Abel, Agrarkrisen, S. 187.

92

GEBURTIGKEIT

Spuren in den Rußdorfer Geburtenzahlen. Konzeptionseinbrüche 1708 und 1712 stehen dabei in Widerspruch zu leicht überdurchschnittlichen bis hohen Werten 1709– 1711 und 1713. Das offenkundigste Zusammenspiel von generativem Verhalten und ökonomischer sowie klimatischer Entwicklung zeigt sich in der schweren Subsistenzkrise der frühen 1770er Jahre. Auf eine massive Teuerung in der „Kipper- und Wipperzeit“ 1762/1763 im sächsischen Raum folgten nach Beendigung des Siebenjährigen Krieges und Rücknahme der schlechten Münzen fette Jahre, wie der Pfarrer Kerzig des unweit Chemnitz gelegenen Jahnsdorf berichtet. Gott schenkte reichhaltige Erndten [...] daß letzlich der Dreßdner Scheffel Korn um 1 Rthl. 12 Gr. [...] zu bekommen war. Aller Handel und Wandel blühete, und deswegen stiegen die Fabriquen immer empor. Besonders mehreten sich [...] die Strumpfwirker [...] auch überhaupt die Anzahl der Einwohner [...].

In Rußdorf wuchsen die Geburtenzahlen im Ganzen bis auf einen neuen Spitzenwert von 27 im Jahre 1768. Schon 1769 kündigte sich eine neue Krise an. „Die Commercia engen an zu stocken, und die Verdienste der Handwerksleute verringerten sich [...]. Ein naßer kalter Herbst el ein, daß die Winter Saat kümmerlich und nicht vollkommen konnte bestellet werden.“ Das folgende Jahr brachte keine Besserung. Die Nachfrage nach gewerblichen Produkten stand weit hinter dem Angebot zurück, sodass die Preise verelen. Ende März el in ganz Deutschland eine Schneemenge, „dergleichen sich auch die ältesten Leute nicht zu erinnern wußten“. Tauwetter setzte erst nach über zwei Wochen ein, sodass das Winterkorn der Stauwärme zum Opfer el. Den Sommerfrüchten erging es nicht besser, denn „in der Erndte selbst el so viel Regenwetter ein, daß das Getrayde überall ungemein grosen Schaden litte“. Binnen Kurzem zogen die Preise stark an. Zum Beispiel galt der Dresdner Scheffel Roggen schon zum Ende des Jahres vier Reichstaler. Die Teuerung setzte sich 1771 weiter fort, obwohl ein abermaliger starker Schneefall im März der Wintersaat keinen merklichen Schaden zufügte, und verstärkte sich nach Ausbringen der Sommersaat gar, „weil die Vorräthe in den Niederlanden [...] sehr abnahmen, nachdem sie stark in das Reich und Böhmen [...] waren abgeführet worden“. Heftige Überschwemmungen Anfang, Mitte und Ende Juni zerstörten vielerorts die Straßen, sodass zunächst auch kein Getreide mehr zugefahren werden konnte und „auch für die reichsten Leute keine Getrayde und Brod zu bekommen“ war. Die Kornpreise stiegen in Mittelsachsen rasch auf zehn und im Gebirge auf elf bis zwölf Reichstaler pro Scheffel Dresdner Maßes. Zwar hatten die Wassermassen die Ernte nicht vernichtet, aber die Nässe verzögerte den Reifungsprozess deutlich und verringerte den Ertrag massiv. „Böhmen, das wegen des Ausdrusches gleiches Schicksal hatte, blieb versperret, und so gar auch Altenburg ließ kein Getrayde aus dem Lande.“ Infolgedessen blieben die hohen Nahrungsmittelpreise bestehen, während gewerbliche Produkte bzw. Luxusgüter wertmäßig auf einem Tiefstand verharrten und Lohnarbeit kaum geboten oder schlecht

ENTWICKLUNG DER GEBURTENZAHLEN

93

bezahlt wurde. Armut grassierte im sächsischen Raum auch nachdem „die hohe Landes Herrschaft diesem vorzubeugen suchte, da von Hamburg 25000 Malter Korn aus Lie and negotiiret wurde, welches mens. Nov. und Decembr. auf der Elbe ankam“ und Bettelwesen wie Diebstahl hatten Hochkonjunktur. Die Not kontinuierte bis 1772. Besonders in diesem Jahr starben viele Menschen am Hunger. Erst eine gute Ernte in den Niederlanden ließ die Kornpreise nach bedeutenden Getreideimporten ab August wöchentlich fallen und sich schließlich Anfang September dank der hinzukommenden inländischen Erträge auf fünf Reichstalern pro Scheffel einpegeln. 339 Die Rußdorfer Konzeptionszahl sank der Krise entsprechend 1770 merklich, stieg 1771 nochmals an und el schließlich 1772 massiv, weswegen die Geburtenzahl erst 1773 einen Tiefstand markierte. Offenbar wirkten erst die länger währende Not bzw. der langfristige Hunger statistisch signi kant kontrazeptiv. Diesen Eindruck bestätigt der Blick auf andere mittelsächsische Ortschaften. In den damals 48 Orten unter der Chemnitzer Kircheninspektion kamen 1771 mit 2673 Kindern sogar 17 mehr als im vorangegangenen Krisenjahr zur Welt. 340 Zu Beginn des 19. Jahrhunderts wurde die Agrarwirtschaft im Abstand einer Dekade von zwei ähnlich starken Versorgungskrisen getroffen. Diacon Tauscher in Sayda südlich Freiberg berichtet 1806 von einer „enormen Theuerung“, die das Jahr 1805 bestimmte. Beym Getritte dieses Jahres galt der Scheffel Korn wegen der vorhergegangenen sparsamen Kornernde 8 bis 9 Rthl. und nach geschehener Aussaat stiegen die Getreydepreise so hoch, daß in den Sommer Monathen der Scheffel Korn mit 15 bis 16 Rthl. [...] bezahlt werden mußte. Das Elend der Armen stieg unter solchen Umständen zu einer fürchterlichen Höhe. 341

In Penig galt der Scheffel am 8. August 1805 gar 21 Reichstaler. 342 Gleichzeitig sank die Anzahl der Rußdorfer Konzeptionen um 28,13 Prozent gegenüber dem Vorjahreswert. Einen geringeren Ein uss auf das generative Verhalten hatte das „Jahr ohne Sommer“ 1816, Teil eines weltweiten vulkanischen Winters. Auf eine schlechte 1815 folgte 1816 im gesamten mitteleuropäischen Raum eine Fehlernte, die auch 1817 angesichts abermals niedriger Erträge nicht ausgeglichen werden konnte. Wiederum ver elen die Löhne bei massiv zunehmenden Getreidepreisen. 343 Der Wittgensdorfer Christian Friedrich Richter berichtet 1816: „Im Monat Juny eng das Gedreide an auszuschlagen, das Korn von 4 bis 7 Rthl. der Dresdner Scheffel.“ Ihren Höhepunkt erreichte die Teuerung bei zehn Talern pro Scheffel Korn im Folgejahr „und lag aller Handel und Gewerbe gantz darnieder, das viele Menschen außer Arbeit und Brod gesetzt wurden [...] so entstand 339 340 341 342 343

EPA Jahnsdorf, KB III, Chronik, S. 2ff. Ebd., S. 13 f. EPA Sayda, KB VII: Beerdigungsregister 1760–1799, Chronik, S. 3. Vgl. Fritzsche, Stefanie (Hg.), Ökonomie und Lebensalltag in der sächsischen Stadt Penig 1748 bis 1810. Die Lebenserinnerungen des Sattlermeisters Johann Ephraim August Jacobi, Dresden 2013, S. 166. Vgl. Abel, Agrarkrisen, S. 224.

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GEBURTIGKEIT

Hungersnoth und Elend“. 344 Rußdorf scheint von diesen Ereignissen relativ verschont geblieben zu sein. Entsprechend gingen die Konzeptionen 1816 und 1817 nur moderat um 10,26 bzw. 17,14 Prozent zurück. Gleiches gilt für die letzte große gesamteuropäische Hungersnot 1846/1847, die sich noch marginaler im generativen Verhalten der Rußdorfer in einer um 14,29 und 9,76 Prozent sinkenden Konzeptionszahl abzeichnete. Weit größere Auswirkungen hatte die von Amerika ausgehende Finanzkrise der späten 1830er und frühen 1840er Jahre, welche die Rußdorfer Strumpfwirkerei 1843 beinahe gänzlich zum Erliegen brachte. 345 Während dieses kurzen Intermezzos wurden im Dorf 36,84 Prozent weniger Kinder gezeugt als im vorangegangenen Jahr. Nach 1850 lassen die Geburts- wie Konzeptionszahlen sichtbare Reaktionen auf gleichzeitige Nahrungsmittelpreisentwicklungen oder Konjunkturzyklen vermissen. Mit den Roggenpreisspitzen 1874 und 1880 zusammengehende Konzeptionstiefpunkte mögen angesichts der Tiefstände 1858, 1870 und 1878, die mit niedrigen Roggenpreisen korrelierten, zufälligen Charakter haben. Desgleichen vermochten weder der Gründerkrach, die darauffolgende Depression oder der Wirtschaftsaufschwung nach 1895 noch die große In ation Anfang der 1920er Jahre die Rußdorfer Geburtigkeit signi kant zu beein ussen. Insgesamt zeigt sich vor allem die Entwicklung der stark schwankenden Rußdorfer Konzeptionszahl in vor- bzw. protoindustrieller Zeit an der Getreidepreisentwicklung orientiert. Regelmäßig stehen sich Maxima und Minima beider gegenüber. Kriege und Seuchen hatten dagegen nur punktuellen Ein uss bei geringem Wirkungsgrad. In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts hatten Epidemien und Wirtschaftskrisen ihre Macht über die lokale Geburtigkeit offenbar weitgehend eingebüßt. Demgegenüber motivierte der neue Dimensionen zeigende Erste Weltkrieg eine deutlich stärkere Reaktion als alle militärischen Kon ikte vor ihm. Bräunsdorf Die überlieferten Personenstandsakten verzeichnen für Bräunsdorf zwischen dem 1. Januar 1640 und dem 31. Dezember 1935 insgesamt 7748 Geburten, was 59,63 Prozent des Rußdorfer Geburtenquantums dieses Zeitabschnitts entspricht. Auch nach Hochrechnung 346 der im Vergleich zur Überlieferung des Nachbardorfes fehlenden 58 Jah344 345 346

Heimatstube Wittgensdorf, Riedel-Richtersche Chronik, 1790–1844, S. 60f. Vgl. ThStA Abg, Gewerbeverein, E., Nr. 15: Die auf Anordnung Herzoglich Hoher Landesregierung veranstaltete Ausloosung Russdorfer Strumpfwaaren, 1843. Zur Berechnungsgrundlage dient hierbei ein Vergleich der Dekadenkohorten beider Orte 1640–1699. Im Durchschnitt erreichte der Rußdorfer Wert in dieser Zeit 79,3 Prozent des Bräunsdorfers. Wird diese Proportion auf die Rußdorfer Geburtenzahl des Zeitraums 1582 bis 1639 umgeschlagen, errechnet sich für Bräunsdorf in dieser Zeit eine geschätzte Natalitätszahl von rund 715.

ENTWICKLUNG DER GEBURTENZAHLEN

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reswerte 1582 bis 1639 bleibt die Bräunsdorfer Zahl um mehr als ein Drittel (34,86 %) hinter jener Rußdorfs zurück. Ungeachtet dessen offenbart die zeitliche Streuung der Bräunsdorfer Geburten eine tendenziell gleichartige demographische Entwicklung. Um eine Dekade verschoben fanden hier von 1870 bis 1909, d. h. in 13,51 Prozent der vorhandenen Jahrgänge, 29,01 Prozent (bei Hochrechnung 11,3 % : 26,59 %) der erfassten Geburten statt. In den ersten beiden untersuchten Jahrhunderten (54,1% des UZ) erblickten demgegenüber nur 2419 (31,22%) aller in Bräunsdorf Geborenen das Licht der Welt (bei HR 61,58% : 36,96 %). Hierin zeigt sich abermals das typische, starke Bevölkerungswachstum der Industrialisierungsperiode, welches jedoch im Vergleich zum Rußdorfer Fall deutlich begrenztere Ausmaße annahm. Dementsprechend geringer el das seit dem 17. Jahrhundert erfolgende Geburtszahlenwachstum aus. So verzeichneten die Bräunsdorfer Kirchbücher vom fünften bis zum letzten Jahrzehnt des 18. Jahrhunderts gerade doppelt so viele Geburten wie im Vergleichszeitraum des vorangegangenen Jahrhunderts 347, dabei jedoch nur marginal weniger als die Rußdorfer Personenstandsakten dieser Zeit. Der Bevölkerungszunahme und dem Geburtenhoch seit den 1870er Jahren zum Trotz verharrte die Wachstumsrate des örtlichen Geburtenquantums des 19. Jahrhunderts gleichfalls auf einem signi kant niedrigeren Niveau von 120,23 Prozent. Bereits bei Betrachtung der Geburtenkohorten nach Dekaden vermag eine nach obigem Muster vollführte Hochrechnung der Geburtenzahlen für die fehlenden Jahrzehnte des späten 16. und frühen 17. Jahrhunderts nicht, die Überlieferungslücke adäquat auszufüllen. Allzu vereinfachenden oder aber spekulativen Charakter trüge das Ergebnis. In Anbetracht der von den 1640ern bis ins 18. Jahrhundert gleichförmigen Entwicklung der zusammengefassten Geburtenzahlen Rußdorfs und Bräunsdorfs lässt sich dennoch eine analoge Parallelität für die vorhergehenden sechs Jahrzehnte vermuten. Mit Sicherheit kamen in dem größeren Bräunsdorf auch vor 1640 in der Regel mehr Kinder zur Welt. Darüber hinaus gibt die im Spätmittelalter noch gleichartige Verfassung und die räumliche Nähe beider Dörfer keinen Anlass, von einem grundlegend unterschiedlichen generativen Verhalten ihrer Bevölkerungen auszugehen. Anzeichen eines wannenförmigen Verlaufs der Geburtenkurve während des 17. Jahrhunderts, welche sich zum Beispiel ebenso in den Kaufunger Natalitätszahlen dieser Zeit wieder nden, zeigen auch die Bräunsdorfer Kohorten in Tabelle 2. Sofern den niedrigeren Werten 1640–1679 tatsächlich ebenfalls ein Hochstand vorausging und diesem ein früher soziostruktureller Wandel zugrunde lag, sollte er im frühen 17. Jahrhundert stattgefunden und geringere Ausmaße angenommen haben. Die Bräunsdorfer Güterparzellierung setzte erst um 1600 ein und ging im Vergleich zum Rußdorfer Fall langsamer vonstatten (Kap. 8.1).

347

Werden die Daten des gesamten 18. Jahrhunderts mit den hochgerechneten Werten für das gesamte 17. Jahrhundert verglichen, errechnet sich ein weitaus geringeres Wachstum von 72,27 Prozent.

96

GEBURTIGKEIT

Tabelle 2: Bräunsdorfer Geburten nach Dekadenkohorten Geburten 1640–1649

prozentualer Anteil1

Wachstum

80 102

1,03% 1,32%

(0,95 %) (1,21 %)

27,50 %

91 92

1,17% 1,19%

(1,08 %) (1,09 %)

–10,78 % 1,10 %

120

1,55%

(1,42 %)

30,43 %

120

1,55%

(1,42 %)

0,00 %

119 141 189

1,54% 1,82% 2,44%

(1,41 %) (1,67 %) (2,23 %)

–0,83 % 18,49 % 34,04 %

144 160

1,86% 2,07%

(1,70 %) (1,89 %)

–23,81 % 11,11 %

172 201 204 212

2,22% 2,59% 2,63% 2,74%

(2,03 %) (2,38 %) (2,41 %) (2,51 %)

7,50 % 16,86 % 1,49 % 3,92 %

272 243

3,51% 3,14%

(3,21 %) (2,87 %)

28,30 % –10,66 %

284 276

3,67% 3,56%

(3,36 %) (3,26 %)

16,87 % –2,82 %

261 337 395

3,37% 4,35% 5,10%

(3,08 %) (3,98 %) (4,67 %)

–5,43 % 29,12 % 17,21 %

462

5,96%

(5,46 %)

16,96 %

509 604 624

6,57% 7,80% 8,05%

(6,01 %) (7,14 %) (7,37 %)

10,17 % 18,66 % 3,31 %

1910–1919 1920–1929

511 373 329

6,60% 4,81% 4,25%

(6,04 %) (4,41 %) (3,89 %)

–18,11 % –27,01 % –11,80 %

1930–1935

121

1,56%

(1,43 %)

–63,22 %

1650–1659 1660–1669 1670–1679 1680–1689 1690–1699 1700–1709 1710–1719 1720–1729 1730–1739 1740–1749 1750–1759 1760–1769 1770–1779 1780–1789 1790–1799 1800–1809 1810–1819 1820–1829 1830–1839 1840–1849 1850–1859 1860–1869 1870–1879 1880–1889 1890–1899 1900–1909

1

Die Anteile am hochgerechneten Gesamtwert von 8463 Geburten sind kursiv gehalten.

Bis in die 1720er Jahre überragten die Bräunsdorfer Dekadenkohorten jene Rußdorfs konsequent um mindestens neun Geburten. Anfangs ist die Diskrepanz leicht von der ursprünglich höheren Güter- und Familienzahl abzuleiten. Zwischen 1700 und 1710 überholte die altenburgische Exklave den sächsischen Nachbarort jedoch dahingehend. Den scheinbaren Widerspruch bedingten größere Reproduktionsraten der Bräunsdorfer (Kap. 7.1), was die Annahme eines acheren demographischen Wandels während des 17. Jahrhunderts stützt. Gleichzeitig fehlen in Bräunsdorf signi kante, mutmaßlich krisenbedingte Einbrüche. Ein anfänglicher Tiefstand in den 1640er Jahren deckt sich zwar temporal mit dem in Rußdorf beobachtbaren, reicht aber mit seiner elf- bis 20-prozen-

ENTWICKLUNG DER GEBURTENZAHLEN

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tigen Unterschreitung des nachmaligen Niveaus nicht an die dortigen Ausmaße heran. Der moderatere Rückgang in den 1670er Jahren fehlt völlig. Zeichneten in Rußdorf für beide Täler exogene, d. h. nicht systembedingte Krisen verantwortlich, ließen sie Bräunsdorf unberührt oder fanden dort schlechteren Nährboden vor. Bereits in den 1680er Jahren erreichten die Bräunsdorfer Dekadenkohorten vermutlich Werte wie vor Beginn des angenommenen langjährigen Geburtentiefs. Das in Rußdorf festgestellte langfristige Wachstum blieb zunächst aus. Zwischen 1680 und 1709 stagnierte die Geburtenzahl. Bis dahin weisen Bräunsdorfer und Rußdorfer Entwicklung dennoch starke Ähnlichkeit auf, da sich die Zunahme in der Exklave aus der um ein Jahrzehnt und sicherlich mindestens teilweise infolge des 1670er-Einbruchs verzögerten Rückkehr zu ehemaligen Verhältnissen und einem minimalen Wachstum in der Folgedekade speiste. Bräunsdorf erlebte danach bis 1729 einen merklichen Anstieg der Geburtenzahl – von 1710ern auf 1720er mit der höchsten Steigerungsrate des gesamten Untersuchungszeitraums –, welcher mit einem gleichzeitigen Wachstum der Hofstellenzahl (Kap. 8.1) zusammen el. Dessen Fortführung bis 1738 bei gleichzeitiger deutlicher Regression der Geburten, erstmals unter das gleichzeitige Rußdorfer Niveau, steht allerdings einem Zusammenhang beider Entwicklungen entgegen. Anders als Rußdorf erlebte Bräunsdorf zwischen 1740 und 1799 ein durchgehendes Wachstum der Dekadenkohorten, das in der Exklave ohne die starke Mehrung in den 1760er Jahren freilich analog stattgefunden hätte. In den 1770er Jahren kamen letztmalig mehr Kinder zur Welt als im Nachbardorf. Die während der 1710er Jahre eingesetzte wellenförmige Zunahme der Geburtenkohorten kontinuierte in Bräunsdorf bis in die 1840er Jahre. Folgte dem Wachstumsschub der 1790er mit angeschlossenem Einbruch 1800/1809 ein bis 1899 ungebrochener Anstieg, erlebte das sächsische Dorf zwischen 1820 und 1839 nochmals einen leichten Rückgang. Veränderungen der Häuserzahl kommen als Ursache der Prozesse nach 1790 nicht in Betracht, sondern konterkarieren sie eher. Eine mit Wachstumsraten von meist zehn bis 20 Prozent kontinuierliche Geburtenvermehrung zeigen die Bräunsdorfer Kohorten von den 1840er bis zu den 1890er Jahren. Ihren im Vergleich zum Rußdorfer Fall gemäßigten Charakter erhält diese durch Ausbleiben einer Geburtenexplosion. Nach 1900 durchliefen die Dekadenkohorten beider Untersuchungsorte wiederum eine parallele, regressive Entwicklung mit mäßigen Schrumpfungsraten in den 1900er und 1920er sowie starken in den 1910er und 1930er Jahren. Schon im Kriegsjahrzehnt unterschritt das Bräunsdorfer Geburtenquantum sein vormaliges Niveau der 1850er und el im folgenden Dezennium gar unter jenes der 1840er Jahre. Die jährliche Geburtenzahlenentwicklung trägt den bisherigen Beobachtungen Rechnung. Seit Beginn der Überlieferung 1640 zeigt sich in Bräunsdorf ein tendenzielles, im Unterschied zu Rußdorf acheres Wachstum bis ins späte 19. Jahrhundert, worauf eine ebenso langfristige Regression folgt. Dabei liegt das absolute Minimum bei drei Geburten im Jahr 1642, während das absolute Maximum mit 71 Geburten

98

GEBURTIGKEIT

auf 1888 348 entfällt. Mehr oder minder erhebliche quantitative Schwankungen über den gesamten Untersuchungszeitraum um bis zu 50 oder gar 100 Prozent sind typische Begleiterscheinung der besonders zu Anfang geringen Werte und nicht unbedingt Indikatoren kurz- bzw. langfristiger demographischer Veränderungen. Bei Einbeziehung der vorangegangenen Analyse lassen sich vier langfristige Phasen Bräunsdorfer Geburtenentwicklung zwischen 1640 und 1935 identi zieren. Deren erste wird einzig über den Vergleich mit den zeitgenössischen Rußdorfer Zahlen überhaupt erkenn- und abgrenzbar. Die nur „fragmentarisch“ belegte Wannenkurve des 17. Jahrhunderts endete 1680 in einem vorläu gen Maximum von 18 Geburten und der anzunehmenden Annäherung an das vormalige Niveau des späten 16. oder frühen 17. Jahrhunderts. Den anschließenden zweiten Abschnitt kennzeichnet ein stufenweises, tendenziell lineares, mäßiges Wachstum, welches immer wieder von kurzen Phasen niedrigerer Geburtenzahlen unterbrochen wird. Vorläu ge Spitzenwerte kommen dabei in schrumpfenden Intervallen konsequent gehäuft vor (1719/1722/1729, 1767/1770, 1793/1799, 1812/1816). Zwischenzeitlich auftretende momentane Minima bewegen sich im Vergleich zu jenen des vorangegangenen Intervalls durchweg auf einer höheren Ebene. Das Ende des Abschnitts markiert ein Tiefpunkt 1827, bei dem letztmalig vor Beginn des Ersten Weltkrieges weniger als 20 Kinder geboren wurden. Hernach steigen die Geburtenzahlen unter fortwährenden Schwankungen weiterhin tendenziell linear, jedoch deutlich beschleunigt bis zu dem absoluten Maximum von 71 Geburten im Jahr 1888 stark an. Vorläu ge Höchstwerte lösten einander binnen kurzer Frist ohne ein je über zwei Jahre hinausgehendes ununterbrochenes Wachstum ab. Gleichzeitig stieg die Geburtenrate von 33,65 (1834) über 47,43 (1871) und 54,63 (1880) auf etwa 62 im Jahr des Geburtenhöchststands. Nach 1888 nahmen die Natalitätszahlen wieder ab, während die Gesamtbevölkerungszahl bis 1902 stagnierte bzw. zwischenzeitlich (1895) leicht zurückging. Bis zu einem Einbruch 1898 verharrte die jährliche Geburtigkeit auf relativ hohem Niveau, sodass die Natalität ebenfalls nur langsam zurückging, und markierte 1899 und 1907 nochmals kurzfristig an das absolute Maximum heranreichende Spitzenwerte. Insgesamt fand die Geburtigkeit in absoluten Zahlen jedoch bis 1910 auf den Stand der 1870er Jahre zurück. Auch in Bräunsdorf beendete der Erste Weltkrieg diese offenkundige Hauptphase des örtlichen demographischen Übergangs. Die beiden verbleibenden Dekaden des Untersuchungszeitraums mögen analog zum Rußdorfer Fallbeispiel als separater Abschnitt verstanden werden. Während des Krieges brachen die Geburtenzahlen typischerweise massiv ein, um 1920 letztmalig an das Vorkriegsniveau heranzureichen. Über die „Goldenen Zwanziger“ hinweg wuchs die im Zuge des Krieges leicht geschrumpfte Bevölkerung kontinuierlich. Die jährliche Geburtenzahl verminderte sich 348

Das absolute Konzeptionsmaximum wurde hingegen erst 1898 mit 74 Konzeptionen erreicht. Anno 1887 wurden 71 Kinder gezeugt, 1890 und 1893 jeweils 72.

ENTWICKLUNG DER GEBURTENZAHLEN

99

Abbildung 5: Jährliche Bräunsdorfer Konzeptionszahlen und Leipziger Roggenpreisindex 1640–1799. Vgl. Rahlf, Getreidepreise.

Abbildung 6: Bräunsdorfer Geburten- und Konzeptionszahlen 1800–1935

100

GEBURTIGKEIT

hingegen rapide und befand sich Anfang der 1930er Jahre auf dem Niveau der Mitte des 18. Jahrhunderts. Analog sank die Geburtenrate auf 11,85 (1933). Beim Vergleich der Geburtenzahlenentwicklungen Rußdorfs und Bräunsdorfs fallen einige Differenzen auf. Überdeutlich springt die große Diskrepanz der Kurvenverläufe in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts ins Auge. Während das Geburtenquantum in Bräunsdorf über 60 Jahre in Fortsetzung eines im Dreißigjährigen Krieg begonnenen langsamen Wachstums leicht beschleunigt zunahm, um nach dem Scheitelpunkt 1888 tendenziell in gleicher Weise abzunehmen, erlebte Rußdorf zwischen 1875 und 1890 nachgerade eine Geburtenexplosion, die klar mit dem vorangegangenen leichten Wachstumsprozess brach. Die auf 1890 folgende Regression durchlief dagegen nach einem ähnlich radikalen Rückgang vor 1900 eine weitaus achere Abnahme. Eine weitere pointiertere Verlaufsform zeigte die Rußdorfer Entwicklung während des Ersten Weltkrieges mit einem Einbruch um 73,13 Prozent zwischen 1914 und 1917 (in Bräunsdorf 59,57 %). Hinsichtlich der übergeordneten Tendenzen erscheinen die Rußdorfer und Bräunsdorfer Geburtenzahlen jedoch äußerst einheitlich. Diese Synchronität lässt zur Rußdorfer Natalität similäre Reaktionen der Bräunsdorfer auf exogene Faktoren vermuten. Tatsächlich korreliert auch die Bräunsdorfer Konzeptionszahl vorrangig mit den Getreide- respektive Grundnahrungsmittelpreisen, während Kriege und Krankheiten offenbar eher geringe Rollen spielten. Im Vergleich mit der überlieferten Leipziger bzw. Roßweiner Roggenpreisentwicklung wird eine besonders in vorindustrieller Zeit markante Gegenläu gkeit deutlich. Meist stieg die Konzeptionszahl in Zeiten relativ niedriger Preise an und umgekehrt. Immer wieder wurden Preisspitzen von Konzeptionsminima begleitet (1675, 1693, 1699, 1762, 1789, 1799, 1843, 1856), lassen andererseits aber nicht in jedem Fall eine Auswirkung erkennen (zum Beispiel 1651, 1719, 1736, 1740). Desgleichen sprach die Bräunsdorfer Bevölkerung in ihrem generativen Verhalten nicht bei allen vorgenannten Teuerungs- bzw. Subsistenzkrisen analog zu den Rußdorfern an. So el mit der im Nachbardorf keinen unmittelbaren Ein uss zeigenden Missernte von 1684 nebst anschließender Kornverteuerung ein Einbruch der Bräunsdorfer Konzeptionen um 63,63 Prozent zusammen. Dies wiederholte sich 1699, als ein Spitzenwert der Leipziger Roggenpreise mit der in Bräunsdorf um 41,67 Prozent zurückgehenden Konzeptionszahl korrelierte. Ebenso deuten Konzeptionsrückgänge der Jahre 1708 und 1712 Reaktionen auf die aus diversen Teilen Europas berichteten Missernten der Jahre 1708–1713 an, werden aber von durchschnittlichen bis überdurchschnittlichen Werten 1709–1711 und 1713 kontrastiert. Von besonderem Interesse ist die Reaktion auf die großen Teuerungen der 1760er und 1770er Jahre sowie des frühen 19. Jahrhunderts. Im Vergleich zur Rußdorfer Situation kam Bräunsdorf, das generative Verhalten betreffend, relativ unberührt durch die Krisenzeit. Dem starken Getreidepreisanstieg zum Trotz ging die Bräunsdorfer Konzeptionszahl 1762 (16) gegenüber dem Vorjahr (18) nur leicht zurück, um unmittelbar

ENTWICKLUNG DER GEBURTENZAHLEN

101

darauf 1763 auf ein vorläu ges Maximum (28) anzuwachsen. Die folgenden Jahre guter Ernten und konjunkturellen Aufschwungs sind an der stark schwankenden Konzeptionsrate nicht abzulesen. Obwohl die Geburtenzahlen der 1760er Jahre bis 1770 einen positiven Trend aufwiesen, deutete die Konzeptionsentwicklung in die entgegengesetzte Richtung. Zwischenzeitlich wurde sogar 1765 (15) und 1767 (14) das möglicherweise krisenbedingte Tief von 1762 unterschritten. Zwar wurden 1769, der beginnenden Teuerung scheinbar angemessen, weniger Kinder gezeugt als im Vorjahr, anschließend nahmen die Konzeptionen jedoch der sich potenzierenden Krise zum Trotz bis 1771 zu. Wie im Rußdorfer Fall brachen sie erst 1772 stark, dabei aber weniger radikal ein als etwa 1684 und 1712. Überhaupt gingen Korrelationen der Bräunsdorfer Konzeptionszahl und ökonomischer Krisen seit dem 18. Jahrhundert sichtlich zurück. In der Teuerung 1805 nahm diese noch um 30,77 Prozent ab, während 1816/1817 und 1846/1847 entsprechende Reaktionen vermissen lassen. Ob ein leichter Einbruch um 20,5 Prozent 1843 analog zu Rußdorf mit der damaligen Strumpfwarenabsatzkrise zusammenspielt, bleibt angesichts der um 1840 noch relativ wenigen ansässigen Strumpfwirker fraglich. Im Laufe des 19. Jahrhunderts treten Korrelationen der Bräunsdorfer Konzeptionszahlenkurve mit Preis- und Konjunkturzyklen immer seltener mit nachlassender Deutlichkeit auf und fallen nach 1850 gänzlich weg, indem mit Preisspitzen beispielsweise keinerlei signi kante und vor allem einheitliche Wandlungen einhergingen. Aber auch der gewerblichen Entwicklung trugen die Bräunsdorfer Konzeptionszahlen nicht eindeutig Rechnung. Der Gründerkrach 1873 und die Große Depression vermochten den Anstieg der Geburtenrate in den 1870er und 1880er Jahren ebenso wenig zu verhindern, wie die im Ganzen gesamtwirtschaftliche Hochphase zwischen 1895 und 1914 der gleichzeitigen Konzeptionsregression entgegenwirkte. Ebenso verursachte die Hyperin ation 1923 keine bedeutenden Einbrüche. Allerdings deckt sich eine Phase der Zeugungsunlust 1929–1933 auffällig mit der unmittelbaren Wirkungszeit der Weltwirtschaftskrise von 1929. Epidemische Erscheinungen und militärische Kon ikte wurden in Bräunsdorf demgegenüber während des gesamten Untersuchungszeitraums selten von sinkenden Konzeptionszahlen begleitet. In zwei Jahren eines krankheitsbedingten Mortalitätshochs gingen die Zeugungen stark zurück. Die „rothe Ruhr“ grassierte 1751. Zeitgleich verringerten sich die Konzeptionen um ein Drittel und verharrten auch im Folgejahr auf diesem niedrigen Niveau. Der zweite stärkere Einbruch um 46,15 Prozent ging mit einer Blatternepidemie 1767 einher. Dennoch spricht einiges gegen einen ursächlichen Zusammenhang dieser Ereignisse. Weder zuvor noch danach zeitigte eine bekannte Seuche derartige Auswirkungen. Die Pest ging 1641 um, während die Konzeptionen zunahmen. Gleiches ist 1685 bei den Blattern, 1806 bei der Ruhr, 1814 und 1857 beim Typhus oder 1887 während der Masern zu beobachten. Überdies ging den Konzeptionseinbrüchen 1751 und 1767 jeweils ein erheblicher momentaner Spitzenwert voraus, sodass sich die

102

GEBURTIGKEIT

Rückgänge auch als natürliche Folge zufälliger Geburtenhäufung und Laktationsamenorrhoe interpretieren lassen. Inwiefern schließlich die verschiedenen militärischen Kon ikte mit sächsischer Beteiligung auf die Bräunsdorfer Bevölkerungsweise einwirkten, lässt sich nur bedingt nachvollziehen, da der Dorfraum selbst bzw. dessen Bevölkerung meist nur mittelbar einbezogen wurden. Sicherlich war der Dreißigjährige Krieg jener militärische Kon ikt innerhalb der betrachteten Zeit mit den spürbarsten Auswirkungen. Zwar irrt Strohbach, wenn er die hohe, pestbedingte Sterbeziffer von 1641 auf „die große Not der Bevölkerung“ zurückführt. 349 Dennoch belegen die Quellen, dass Bräunsdorf von den Truppendurchmärschen, Einquartierungen und marodierenden Haufen, unter denen die schönburgischen Lande in den 1630er und 1640er Jahren litten, nicht ausgenommen blieb. Der Kaufunger Bauer Valten Heintzig wurde hier 1632 von einem Kroaten erschossen 350 und 1640 brannte die örtliche Kirche ab, nachdem schwedische Soldaten darin kampiert hatten. 351 Noch 1670 wird eine Aufstellung des Kircheninventars mit den Worten überschrieben: „Weil des Krieges Fieber, den meisten vorrath verzehret [...].“ 352 Insofern mögen die in den 1680er und 1690er Jahren auf mehreren Bräunsdorfer Gütern lastenden Schulden unbekannten Ursprungs ebenfalls noch vom Dreißigjährigen Krieg herrühren. 353 Siegfried Frenzel geht gar von einer 80-prozentigen Zerstörung der dörflichen Bausubstanz aus. 354 Vor diesem Hintergrund hatte das Konzeptionstief der Jahre 1640–1644 sicherlich keinen zufälligen Charakter. Die Auswirkungen des Großen Nordischen Krieges 1700–1706 auf die Bräunsdorfer Bevölkerung sind hingegen keinesfalls an ihrer Fertilität ablesbar. Diverse Gerichtsbucheintragungen deuten an, wie die sächsische Bevölkerung unter der schwedischen Besatzung 1706 litt. Der Hausgenosse und Leinwandhändler George Aurich (1680– 1753) kaufte 1709 einen offenbar schon zuvor von ihm bewohnten Garten, auf welchem unter anderem Schulden in Höhe von 14 Gulden 16 Groschen und zehn Pfennigen lasteten, „So Käuffer bey den Schwedischen Wesen hergeliehen“. 355 Zwei Jahre später verkaufte der Bräunsdorfer Gerichtsherr Heinrich Haubold Edler v. d. Planitz ein Pferdefrongut, das „Hanß Leßig bey denen neulichsten Schwedischen contributionen abgetreten“. 356 Zur selben Zeit sahen sich auch die Pferdebauern Tobias Reim und George Ludwig dazu ge349 350 351 352 353 354 355 356

Strohbach, Dorfbuch, S. 108. „Valtin Heintzig wird den 9 Novemb. zu Breunsdorff von Crabaten [Kroaten, Anm. d. A.] erschoßen, und den 16 alhier begraben.“ EPA Kaufungen, KB I, Beerdigungen 1631, Nr. 23. Vgl. EPA Bräunsdorf, KB I: Kirchbuch 1640–1795, Taufen 1640, Nr. 5, nachträglich wahrscheinlich von Pfarrer Leupold (im Amt 1709–1728) eingefügte Notiz. Bräunsdorfer Kirchenvisitation 1670, zitiert nach: Strohbach, Dorfbuch, S. 225. HstA-D, 12613 GB Limbach, Nr. 1, fol. 95, fol. 139, fol. 216, fol. 253b, fol. 264, fol. 267, fol. 278. – Ebd. Nr. II, fol. 1, fol. 50, fol. 144, fol. 148, fol. 173, fol. 289. Vgl. Frenzel, Geschichte, S. 38. HstA-D, 12613 GB Limbach, Nr. 2, fol. 236b ff. Ebd., fol. 242. – Hanß Läßig hatte das Gut seinerseits 1705 von der Gerichtsherrschaft mit 50 Gulden zwei Groschen elf Pfennig darauf lastender Schulden erkauft. Der Besitz war offenbar bereits während des Dreißigjährigen Krieges

ENTWICKLUNG DER GEBURTENZAHLEN

103

zwungen, ihre Güter an die Gerichtsherrschaft zurückzugeben. Allerdings hatten beide den Besitz 1700 bzw. 1698 mit hohen Schulden, die wahrscheinlich von der Kriegszeit 1618–1648 herrührten, übernommen. 357 Unter den Anfang des 18. Jahrhunderts verschuldeten Bräunsdorfer Gütern fand sich keines, das nicht bereits vor 1706 in Kalamitäten steckte. Kleinstellen, die drückenden, existenzbedrohenden Belastungen theoretisch am ehesten ausgesetzt gewesen wären, schienen kaum betroffen. Die Kontributionen der Schwedenzeit waren demnach sicherlich drückend, stellten aber für unverschuldete Bevölkerungsteile kein existenzielles Problem dar, welches das generative Verhalten hätte negativ beein ussen können. Selbiges hat für die übrigen militärischen Kon ikte des 18. Jahrhundert mit sächsischer Beteiligung Geltung, sodass Konzeptionsrückgänge zur Zeit des Ersten und Zweiten Schlesischen Krieges sowie des Bayerischen Erbfolgekrieges 1779 nicht auf deren ökonomische Folgen zurückzuführen sind. Ebenso liegen jenem der Jahre 1756/1757 die Handlungen des Siebenjährigen Krieges wahrscheinlich nicht unmittelbar zugrunde. Im Beerdigungseintrag des damaligen Bräunsdorfer Pfarrers Johann Christian Loos wird seine Amtszeit mit den Worten zusammengefasst: „hat in dieser Zeit viel Noth allhier erfahren, indem er gleich zu der Zeit anzog, wie der 7 Jährige Preußische Krieg, als 1756 angieng, welchen er hier ausgestanden und große Gefahr auch große Theurung erfahren hat“. 358 Offen bleibt, ob mit dem Terminus „große Gefahr“ auf eine konkrete, von der Dorfbevölkerung erlebte Situation oder ein allgemein empfundenes Unsicherheitsgefühl angespielt wird. Inwieweit die Napoleonischen Kriege zur teils deutlichen Abnahme der Konzeptionszahl in den Jahren 1796, 1798/1799, 1805, 1808 und 1812/1813 beitrugen, ist unsicher. Zweifelsohne erfuhr die Bräunsdorfer Bevölkerung Aspekte des Krieges am eigenen Leib. Eine „Copulation geschahe wegen hier eingerückter Soldaten, die zum Reichscontingente marschirten erst den 27sten Januar“ 1795 359, 1807 musste eine Milizfuhr nach Waldenburg gestellt und im Januar desselben Jahres auf jeder Magazinhufe eine zusätzliche Belastung über acht Groschen hingenommen werden. Ende 1811 wurde eine außerordentliche, von Januar bis Juni 1812 auf Landbesitz erhobene Quatembersteuer eingeführt. Damit nicht genug, rückten die Kämpfe nach Zeitzeugenberichten 1813 bis in die unmittelbare Nähe des Dorfes. Die Sichtung „fremder Soldaten“ versetzte den Ort in Alarmbereitschaft. Auf einem lokalen Grundstück sollen gar russische

357 358 359

stark in Mitleidenschaft gezogen worden. Georg Kühnrich erstand ihn 1659 im Zuge einer Zwangsversteigerung von seinem Vater und hatte das Gut „sieder dem aber auffgebauet“, bevor er es 1692 an seinen Eidam Martin Heinig gegen 30 Gulden weitergab. Diese äußerst geringe Kaufsumme zeugt von einer noch immer sehr schlechten nanziellen Verfassung des Besitzes. Vgl. ebd., fol. 191 f. u. fol. 67ff. Vgl. ebd., fol. 245ff. u. fol. 256 ff. EPA Bräunsdorf, KB I, Beerdigungsregister 1766, Nr. 16. Ebd., Hochzeitsregister 1794, Nr. 2.

104

GEBURTIGKEIT

Soldaten begraben sein. 360 Dergleichen Ereignisse wiederholten sich erst während des Zweiten Weltkrieges. Zwischen 1815 und 1914 waren zwar auch Bräunsdorfer Soldaten an den Deutschen Einigungskriegen zwischen 1864 und 1871 beteiligt, jedoch nicht in demographisch relevanten Größenordnungen. Ein üsse dieser Großereignisse auf das generative Verhalten der Bräunsdorfer sind nicht nachweisbar. Dem Ersten Weltkrieg sind als einzigem militärischem Kon ikt des Untersuchungszeitraums im Bräunsdorfer Fall klare demographische Folgen anzulasten. Strohbach gibt die Zahl der ortsansässigen Kriegsteilnehmer mit 86 an, von denen 47 den Kriegshandlungen zum Opfer elen. 361 Die meist jungen, nicht selten ledigen Männer unter 30 gingen folglich im Nachhinein der Reproduktion ab. Doch schon während des Krieges machte sich die Abwesenheit junger Familienväter in 1915 bis 1918 äußerst niedrigen Konzeptionszahlen sowie einem unmittelbar folgenden Konzeptionshoch aufgrund „aufgeschobener“ Zeugungen unzweifelhaft bemerkbar und zeichnet hierdurch analog zum Rußdorfer Fallbeispiel das charakteristische Bild einer demographischen Krise alten Typs.

Zusammenfassung Im direkten Vergleich zeigen beide untersuchte Ortschaften im Großen und Ganzen ähnliche Geburtigkeitsentwicklungen. Bis zum Beginn des 18. Jahrhunderts verlaufen sie weitgehend parallel, wobei sich Rußdorf zwischen 1730 und 1789 langsam als geburtenstärkerer Ort etabliert. Danach vergrößert sich die Differenz infolge des exponentiellen Wachstums der Rußdorfer Werte zusehends. Zwischen den 1750er Jahren, während derer in Bräunsdorf lediglich zwei Kinder weniger zur Welt kamen, und dem jeweiligen Geburtenhoch der 1890er Jahre liegt für Rußdorf ein Wachstum um 801,72, für Bräunsdorf dagegen nur eines um 262,79 Prozent. Bereits zuvor wiesen die Rußdorfer Geburtenkohorten seit Mitte des 17. Jahrhunderts gegenüber den Bräunsdorfern (8,61 %) eine deutlich höhere mittlere Wachstumsrate (14,67%) auf. Die Bevölkerungsweisen beider Dörfer werden im 17. Jahrhundert von einem Geburtentief, im 18. und in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts von einer sukzessiven -zunahme sowie in der zweiten Hälfte des 19. und im frühen 20. Jahrhundert von einer -explosion mit angeschlossenem massivem -rückgang charakterisiert. Insofern folgen sie zumindest nach 1800 dem sächsischen Beispiel und tragen für die Industrialisierungsperiode typische Merkmale eines demographischen Wandels, etwa den rapiden Anstieg der Geburtigkeit bis 1890 und deren extreme Degression bis in die 1930er weit unter das vormalige Niveau binnen insgesamt lediglich 50 Jahren. 360 361

Vgl. Strohbach, Dorfbuch, S. 110f. Vgl. ebd., S. 114ff.

ENTWICKLUNG DER GEBURTENZAHLEN

105

Abbildung 7: Geburtenzahlen nach Dekaden für Sachsen, Rußdorf und Bräunsdorf im Vergleich

Unterschiede zwischen den Untersuchungsorten bestehen zuweilen in der Intensität ablaufender Prozesse. Das stärker aktiv an der Industrialisierung teilnehmende Rußdorf erlebte einen um drei Jahrzehnte längeren tendenziellen Anstieg des absoluten Geburtenniveaus im 19. Jahrhundert sowie eine weit extremere Explosion in den 1880er Jahren. Im Vergleich zur sächsischen Entwicklung nach 1830 fällt der beiderseits um ein Jahrzehnt früher beginnende Rückgang der Geburtigkeit sowie eine zeitweilige latente Parallelität der Bräunsdorfer Kurve bis etwa 1899 bzw. der Rußdorfer im frühen 20. Jahrhundert auf (Abb. 7). Während sich in den betrachteten Ortschaften soziostrukturelle Wandlungen im 18. Jahrhundert nebst solchen der Bevölkerungsweise im 17. sowie 19./20. Jahrhundert als Ursachen langfristiger Geburtigkeitsverläufe andeuten, fällt es schwer, temporal begrenzte Ausschläge mit dem Auftreten positiver Hemmnisse eindeutig zu verbinden. Zweifelsohne reagierte das Geburtenverhalten auf Hunger, Krankheiten, Kriege und vor 1850 teilweise mutmaßlich auch auf die Getreidepreisentwicklung. Allerdings korrelierten weder mit denselben krisenhaften Erscheinungen in den Nachbardörfern noch mit verschiedenen Ereignissen gleicher Couleur selbst innerhalb eines Dorfes unter grundsätzlich übereinstimmenden Umgebungsbedingungen konsequent identische Veränderungen der Geburtenzahl. Mehrfach erscheinen derartige Ausschläge in Krisenzeiten zudem typisch, ohne originär zu sein, d. h. vergleichbare bis stärkere fanden auch ohne bekannte Krisen statt. Eine eindeutige Verbindung ist daher auszuschließen. Vielmehr bestimmte ein komplexes System an Determinanten, ob ein Ereignis, ein Bündel

106

GEBURTIGKEIT

von Ereignissen oder ein Prozess letztendlich positiv oder negativ auf die Geburtigkeit wirkte. In gleicher Weise bestätigt sich Gouberts in ihrem Allgemeingültigkeitsanspruch inzwischen vielfach kritisierte These für die Untersuchungsorte nicht, zumal es für eine zuverlässige Einschätzung Berichten über die allgemeine Wirtschaftskraft der Einwohnerschaften und der jährlichen Erträge entbehrt. Vor allem die Bauern saßen bei der Getreidepreisentwicklung zwischen den Stühlen. Die landwirtschaftlichen Erträge waren niemals ächendeckend gleich, konnten gar innerhalb einer Nachbarschaft extrem differieren. Hohe Getreidepreise indizieren eine allgemein schlechte Ernte. Wer in dieser Zeit Getreide verkaufen konnte, pro tierte davon, wessen Frucht verdorben war, litt. Umgekehrt brachten niedrige Preise auf den Verkauf angewiesene kleine Produzenten unter Umständen schnell an den Rand des Ruins, dieweil sie bei lokal geringen Erträgen davor bewahren konnten. Die in den betrachteten Ortschaften seit dem 17. Jahrhundert zunehmende Durchsetzung der traditionellen Bauernschaft durch Kleinbauern und unterbäuerliche Schichten erschwert eine zuverlässige Interpretation zusätzlich.

4.2 SAISONALE GEBURTENVERTEILUNG Die saisonale Verteilung der Geburten bzw. Konzeptionen liefert wertvolle Hinweise auf den ökonomischen Fingerabdruck einer Gesellschaft zu einem gegebenen Zeitpunkt einerseits sowie die Bevölkerungsweise beein ussende Faktoren andererseits. Stellen landwirtschaftliche Arbeit und Produktion die hauptsächliche Erwerbsquelle dar, folgt das generative Verhalten in der Regel anderen Gesetzmäßigkeiten als bei primär gewerblich bzw. industriell ausgerichteten Wirtschaften. Die Häu gkeitsverteilung der Geburten kennt üblicherweise weitaus geringere Schwankungen als jene der Heiraten und Todesfälle. Vorindustrielle Agrargesellschaften werden von einer diesbezüglichen Dreiteilung des Jahres gekennzeichnet. Nach P ster häufen sich Konzeptionen unter starker Orientierung am mitteleuropäischen landwirtschaftlichen Arbeitsjahr in der Zeit von April bis Juli. Während der arbeitsreichen Ernteperiode in Spätsommer und Herbst erfolgen hingegen die wenigsten Zeugungen. Die Monate Dezember bis März stehen mit einer tendenziell steigenden, sich aber stets um das Jahresmittel gruppierenden Konzeptionszahl zwischen den beiden übrigen Phasen. Infolgedessen erfolgt ein überdurchschnittlicher Teil der Geburten in den arbeitstechnisch ruhigeren Spätwinter- und Frühjahrsmonaten, in denen die Arbeitskraft der Frauen eher abkömmlich ist und einem Säugling so erhöhte Aufmerksamkeit zugemessen werden kann. Dies wiederum steigert dessen Überlebenswahrscheinlichkeit. 362 Davon abgesehen durfte eine Wöchnerin das Haus 362

Vgl. P ster, Christian, Bevölkerungsgeschichte und Historische Demographie 1500–1800, München 1994, S. 33.

SAISONALE GEBURTENVERTEILUNG

107

traditionell erst sechs Wochen nach der Geburt wieder verlassen und freilich führte der erste Gang zur Einsegnung in die Kirche. 363 Fraglich ist, inwiefern diese ungleiche Konzeptions- bzw. Geburtenverteilung etwa durch verminderte Fruchtbarkeit infolge harter Arbeit biologisch determiniert ist oder aber auf bewusste Kontrolle durch die Eltern unter Berücksichtigung des Kindeswohls bzw. des arbeitsökonomisch günstigsten Geburtszeitpunkts zurückgeht. 364 Ungeachtet der diskutablen Ursachen jenes vorindustriellen Musters sollten sich die Geburten mit zunehmendem Industrialisierungsgrad einer Gesellschaft bzw. deren zunehmender Entfremdung von einem hauptsächlich in saisonalen Zyklen funktionierenden Wirtschaftsgefüge deutlich gleichmäßiger über das Jahr verteilen. Wird überwiegend in festen zeitlichen Rhythmen gearbeitet, werden Fruchtbarkeitsschwankungen durch eine weitgehend kontinuierliche körperliche Gleichbelastung größtenteils vermieden. Dies nimmt der Geburtenplanung die Notwendigkeit, sich nach zyklisch wiederkehrenden Arbeitsspitzen zu richten. Im Monschauer Land beobachtete A. Schmalz seit Mitte des 19. Jahrhunderts einen Rückgang saisonaler Geburtigkeit, den zum Beispiel auch Knodel 365 und Wrigley 366 beschrieben. Für die nachfolgende Betrachtung wurden die Konzeptionen auf Basis der Geburten bzw. maximal in dreitägigem Versatz statt ndenden Taufen errechnet. Leichte Verfälschungen sind der einheitlichen Subtraktion der Regelschwangerschaftszeit freilich inhärent. Schließlich sind verfrühte Geburten selten gekennzeichnet. Ein monatlicher Index nach Wrigleys Vorbild erleichtert die Vergleichbarkeit. Dabei steht 100 für den theoretischen Anteil eines Monats bei Gleichverteilung der Zeugungen über das Jahr. Den unterschiedlichen Monatslängen wurde ebenso Rechnung getragen, wie Schaltjahre mittels Annahme einer Jahreslänge von 365,25 Tagen Beachtung fanden. Rußdorf Ein erheblicher sozioökonomischer Umbruch sollte sich deutlich in einer veränderten saisonalen Verteilung der Geburten widerspiegeln. Rußdorf durchlebte ohne Frage zwischen dem 16. und 20. Jahrhundert einen eindringlichen Wandlungsprozess. Originär ein reines Bauerndorf, erfüllte es am Ende des Untersuchungszeitraums die Charakteristika eines Industriedorfes, für dessen exponentiell gewachsene Bevölkerung landwirtschaftliche Erwerbsarbeit nur mehr eine untergeordnete Rolle spielte.

363 364 365 366

Vgl. Meinel, Kinderleben, S. 16. Vgl. P ster, Bevölkerungsgeschichte, S. 90. Vgl. Schmalz, Alexander, Historische Demographie mittels Familienrekonstitution. Die Bevölkerung des Monschauer Landes im 19. Jahrhundert, Bonn 2007, S. 101. Vgl. Scho eld/Wrigley, Population, S. 286ff.

108

GEBURTIGKEIT

Abbildung 8: Monatlicher Index der Rußdorfer Konzeptionen

Dennoch genügen die Änderungen des saisonalen Zeugungsverhaltens dem beschriebenen Modell P sters nur bedingt. Zu uneinheitlich erscheinen die jährlichen Verteilungsmuster. Dem genannten dreiphasigen Agrartypus wird in lediglich sechs von 35 Jahrzehnten entsprochen (1590/1599, 1620/1629, 1670/1679, 1690/1699, 1730/1739, 1740/1749), die theoriegemäß sämtlich im vorindustriellen Zeitraum angesiedelt sind. Jedoch werden diese noch in derselben Zeit und darüber hinaus durch insgesamt zwölf Dekaden (1610/1619, 1640/1649, 1650/1659, 1710/1719, 1720/1729, 1790/1799, 1820/1829, 1860/1899, 1920/1929), in denen Konzeptionshäufungen während des landwirtschaftlich arbeitsintensivsten Jahresdrittels auftreten, kontrastiert. Von konsequent gültigen, einander ablösenden Typen saisonaler Verteilungsmuster kann im Rußdorfer Fall aus statistischer Sicht keine Rede sein. Nichtsdestotrotz sind die monatlichen Schwerpunkte Veränderungen unterworfen. Bis Mitte des 18. Jahrhunderts entfallen Konzeptionsspitzen in elf von 17 Dekaden auf die Monate April bis Juli. Gleichzeitig differieren die Anteile der Jahresdrittelwerte an der Gesamtkonzeptionszahl oft erheblich um bis zu 29,77 Prozent (Ø 12,85 %). Über die anschließenden 110 Jahre verlagerte sich der Konzeptionsschwerpunkt in neun Dekaden auf die Zeit von Dezember bis März, bei einer maximalen Tertialwertedifferenz von 11,69 Prozent (Ø 6,89%). Zwischen 1860 und 1929 zeigten die Rußdorfer schließlich während fünf Dekaden in den Monaten August bis November eine gehäufte Zeugungs-

109

SAISONALE GEBURTENVERTEILUNG

Tabelle 3: Monatliche Verteilung der Rußdorfer Konzeptionen (Angaben in %) Jan. 1582–1629 1630–1679 1680–1729 1730–1779 1780–1829 1830–1879 1880–1935

Nov.

Dez.

7,53 5,33

Feb. 6,90 8,27

März

8,16 11,92 7,74 11,09 5,87 8,53 12,27 8,27

April

Mai

Juni

Juli 6,69 8,27

Aug. 6,28 7,73

Sept. 5,02 8,00

Okt.

9,00 10,04 8,27 9,60

9,62 9,60

7,84 9,46

5,70 7,36

6,95 9,04

9,09 8,94

9,09 8,10

8,38 8,83

8,20 8,41

7,31 7,89

8,56 5,99

8,56 6,94

9,63 10,70 8,52 10,52

8,24

7,10

9,77

7,93

7,74

8,24

8,88

8,37

7,55

8,69

8,43

9,07

8,50

8,12

9,50

7,88

7,30

7,54

8,19

8,09

8,71

8,47

8,40

9,29

7,92

7,26

9,51

7,81

7,63

8,39

8,74

8,92

8,69

8,20

8,26

8,67

tätigkeit. Der maximale Schwankungsrahmen verkleinerte sich weiter auf 5,74 Prozent (Ø 3,98 %). Hierin zeichnen sich drei Phasen ab. Gehäufte Konzeptionen in den landwirtschaftlich arbeitsschwachen Monaten und ein Geburtenschwerpunkt im ersten Tertial des Jahres sind offenbar ebenso typische demographische Charakteristika der anfänglichen Rußdorfer Agrargesellschaft wie markante quantitative saisonale Schwankungen der Geburtigkeit. Dem steht in temporaler Überschneidung mit der Fabrikindustrialisierung des Limbacher Raums ein von geringen bis marginalen jahreszeitlichen Ausschlägen gekennzeichneter, industriegesellschaftlicher Typus generativen Verhaltens gegenüber, der sich mit leichten konzeptiven bzw. natalen Spitzen in den aus agrarökonomischer Sicht ungünstigen Monaten vom landwirtschaftlichen Arbeitsjahr losgelöst gibt. Insofern kann die dazwischenliegende Übergangsphase mit ihrem in den Wintermonaten angesiedelten Konzeptionsschwerpunkt sowie den abgemilderten, aber noch immer signi kanten Schwankungen des Tertialwerts als protoindustrielle Erscheinungsform saisonalen generativen Verhaltens verstanden werden. Der monatliche Konzeptionsindex über die Jahrhunderte (Abb. 8) bestätigt diese Beobachtungen im Ganzen. Bereits im 18. Jahrhundert nähert sich die Kurve einer Gleichverteilung merklich an, hält dabei aber an überdurchschnittlichen Werten in November und Dezember sowie unterdurchschnittlicher Fertilität von August bis Oktober fest. Während des 19. Jahrhunderts gehören diese hingegen zu den konzeptionsstärkeren Monaten. Im Kontrast zum mutmaßlich agrarwirtschaftlichen Verhalten gewann der März nach 1700 nachhaltig an Attraktivität, während vor allem April und Mai die ihre einbüßten. Die Ursachen bleiben offen.

Bräunsdorf Für das direkt angrenzende Nachbardorf galten indes auf den ersten Blick andere Gesetzmäßigkeiten. Obwohl dieses zu Beginn der Kirchbuchüberlieferung gleich Rußdorf alle Merkmale eines Agrardorfes trug bzw. bereits eine protoindustrielle Entwicklung erlebte, ähneln sich die Konzeptionsverteilungsmuster nur rudimentär.

110

GEBURTIGKEIT

Im Bräunsdorfer Fall zeigen lediglich fünf von 29 Dekaden (1650/1659, 1710/1719, 1740/1749, 1760/1769, 1770/1779), die auffällig im 18. Jahrhundert konzentriert sind, das eingangs beschriebene, theoretisch für rurale Gesellschaften charakteristische Tertialwerteverhältnis. Zwar überwogen die Konzeptionen der Monate April bis Juli zusätzlich in den 1690er Jahren quantitativ leicht gegenüber jenen der übrigen Jahresdrittel, jedoch stehen mehrfache klare Dominanzen spätsommerlicher und herbstlicher Zeugungen 1640–1649 bzw. 1670–1689 in klarem Kontrast zum erwartbaren Bild einer majorativ auf agrarische Erwerbsarbeit ausgerichteten und dadurch zwangsläug am landwirtschaftlichen Jahr orientierten Bevölkerung, als welche die Bräunsdorfer des 17. Jahrhunderts zweifelsohne zu betrachten ist. Insgesamt überwogen Konzeptionshäufungen im agrarwirtschaftlich intensivsten Jahresabschnitt in 13 Jahrzehnten (1640/1649, 1670/1679, 1680/1689, 1700/1709, 1730/1739, 1780/1789, 1830/1839, 1840/1849, 1850/1859, 1860/1869, 1890/1899, 1900/1909, 1920/1929). Insbesondere die große Streuung der saisonalen Häu gkeitsverteilungsmuster während der primären 100 Jahre erschwert es, klare Perioden einzugrenzen. In Anlehnung an das Rußdorfer Beispiel werden dennoch drei Phasen ersichtlich. Zwischen 1640 und 1779 treten immerhin in 50 Prozent der Dekaden Konzeptionshöchststände in der Zeit von April bis Juli auf, was danach bis 1929 ausbleibt. Gleichzeitig differieren die Tertialwerte generaliter um bis zu 21,05 Prozent (Ø 10,54 %). Eine über die Wintermonate gehobene Zeugungsfreudigkeit konzentriert sich auf die fünf anschließenden Dekaden, wobei die zuvor statistisch bedeutendste Saison meist die zweithöchsten Werte aufweist. In dieser Zeit treten zwischen den Konzeptionszahlen der Jahresdrittel nur

Abbildung 9: Monatlicher Index der Bräunsdorfer Konzeptionen

111

SAISONALE GEBURTENVERTEILUNG

mehr Schwankungen bis 10,94 Prozent auf (Ø 6,12 %). Die verbleibenden zehn Dekaden hindurch liegt der Zeugungsschwerpunkt wiederum vorrangig in den landwirtschaftlich theoretisch ungünstigsten Monaten August bis Oktober bei maximal 7,10 Prozent (Ø 4,03 %) betragenden Tertialwertdifferenzen. Tabelle 4: Monatliche Verteilung der Bräunsdorfer Konzeptionen (Angaben in %) März

April

1630–1679 1680–1729

Jan. 9,90 9,20

6,77 6,86

6,25 7,45

9,11 8,61

1730–1779

8,60 9,74

8,14 8,35

8,05 8,61

8,35 6,64

1780–1829 1830–1879 1880–1935

Feb.

Mai

Juni

Juli

Aug.

Sept.

Okt.

Nov.

Dez.

8,59 8,07 6,72 10,07

7,03 8,03

9,11 8,03

7,81 6,72

8,59 7,81 10,94 7,88 10,66 9,78

8,37 10,41 9,05 7,12

7,81 8,89

8,03 8,20

9,28 8,20

6,45 8,58

7,69 6,81

7,81 7,35

7,47 8,35

9,95 9,36

7,60 9,16

7,85 7,94

8,05 8,06

7,10 8,25

9,21 8,89

9,01 8,45

8,15 8,81

8,61 8,89

8,96 8,10

9,06 8,21

Unterschiede zu Rußdorf bestehen vor allem in der temporalen Eingrenzung der einzelnen Phasen. So orientierte sich die Bräunsdorfer Bevölkerung zu maßgeblichen Teilen etwa 30 Jahre länger an den landwirtschaftlichen Produktionszyklen, zeigte dagegen aber im Hinblick auf den durchschnittlichen jährlichen Konzeptionsschwerpunkt schon 30 Jahre eher Merkmale „industrieller“ saisonaler Geburtigkeit. Der monatliche Konzeptionsindex nach Jahrhunderten (Abb. 9) bestätigt diese Beobachtungen im Ganzen. Im 18. Jahrhundert nähert sich die Kurve einer Gleichverteilung merklich an, hält aber noch an überdurchschnittlichen Werten in Dezember/Januar und April/Juni sowie unterdurchschnittlicher Fertilität in August und September fest. Während des 19. Jahrhunderts gehören diese gar zu den konzeptionsstärksten Monaten. Als einziger Jahresabschnitt weist der immer von einem Einbruch begleitete Mai durchgängig dieselbe Tendenz auf. Des Weiteren fällt in Anlehnung an das Rußdorfer Beispiel eine neuerliche Zunahme der Schwankungen im 20. Jahrhundert auf, welche in ihrer Ausprägung fast an die anfängliche Situation des 17. Jahrhunderts gemahnen und sich einer Erklärung entziehen.

Zusammenfassung In beiden untersuchten Mikroregionen stützt die mit der industriellen Evolution einhergehende zunehmende Verteilungsgleichmäßigkeit der Konzeptionen im Jahresverlauf das bei der Geburtenzahlenentwicklung angedeutete Bild einer demographischen Entfremdung von den originär relevanten natürlichen Umweltein üssen, sofern der Interpretation P sters gefolgt wird. Schmalz führte die charakteristischen Häufungen im Frühjahr demgegenüber auf eine „romantische Vorstellung des menschlichen Sexualverhaltens“ zurück und begriff die Sommer aute als Folge einer entsprechenden vorheri-

112

GEBURTIGKEIT

gen Konzeptionskonzentration. Ferner argumentierte er, das typisch landwirtschaftliche Muster sei auch in stark gewerblich geprägten Landschaften anzutreffen. 367 Manches widerspricht auch im Fall der Untersuchungsorte einem unmittelbaren bzw. ausschließlichen Zusammenhang zwischen Ökonomie und Fertilität. Dazu zählt die von Beginn an starke Variabilität monatlicher Schwerpunkte in den Dekadenkohorten, die freilich auf zu geringe Fallzahlen zurückgehen könnte, ebenso wie die neuerliche Zunahme der Schwankungen im 20. Jahrhundert. Nicht viele Faktoren besitzen das Potential, gesamtgesellschaftlich auf das sexuelle Verhalten Ein uss zu nehmen. Ist die Berechtigung zur Reproduktion an die Ehe gebunden, liegen Ziel und Verantwortung eines Ehepaares darin und geht mit dem Reproduktionserfolg soziale Anerkennung einher, würden mehr noch als bei gänzlich zwanglosem individuellem Kinderwunsch Erstkonzeptionen baldmöglichst an die Hochzeit anschließen und somit zeitlich durch sie determiniert. Gleiches gelte, wenn ohne wirksame Verhütungsmethoden unehelicher Geschlechtsverkehr Teil üblicher Eheanbahnung wäre. Auf den Zeugungszeitpunkt von Nachkommen zweiten oder höheren Ranges wirkte dies allerdings kaum. Angesichts mittlerer familiärer Kinderzahlen (Kap. 7.1), die bis zum Ersten Weltkrieg in den betrachteten Dörfern deutlich über eins lagen, ist keine prägende Rolle der saisonalen Heiratsverteilung auf die Saisonalität der Konzeptionen zu erwarten. Erhebliches Ein usspotential bergen in Gesellschaften hoher Religiosität Glaubensregeln und -zwänge. Der evangelisch-lutherische Protestantismus, welcher auf sächsischem Gebiet während des Untersuchungszeitraums regierte, predigte unter anderem binnen zweier vierzigtägiger Fastenperioden vor Weihnachten und Ostern Enthaltsamkeit, die sexuelle eingeschlossen. Wurde dem mehrheitlich Folge geleistet, müssten Konzeptionsminima vor allem im März und im November /Dezember sowie -maxima durch vorgreifende oder nachholende Sexualität erkennbar sein. Während die Adventszeit durchweg mit überdurchschnittlicher Zeugungslust zu Buche schlägt, demnach als Fastenperiode nachgeordnete bis keine Bedeutung im Alltag beanspruchte, war dem März in beiden Untersuchungsorten während des 17. Jahrhunderts der tiefste, die Sommeraute in den Schatten stellende Einbruch eigen. Daran schloss sich theoriegemäß ein Ersatzhoch im April an. Von einer direkten ursächlichen Verbindung mit der Fastenzeit ist auszugehen. Bereits im 18. Jahrhundert schwand die Religiosität jedoch offensichtlich, indem sich die Bräunsdorfer Zeugungen nun relativ gleichmäßig über das Frühjahr verteilten und die Rußdorfer kontrastierend gar einen Gipfel im März, gefolgt von einem Abfall bis zum Mai zeigten. Letztendlich vermögen zweifelsohne auch wirtschaftliche Faktoren die saisonale Fertilität zu beein ussen. Dies kann bewusst mit dem Ziel erfolgen, Geburten möglichst in arbeitstechnisch günstigere oder für das Kindeswohl vorteilhafte Zeiträume zu legen. 367

Vgl. Schmalz, Familienrekonstitution, S. 100f.

TAUFVERHALTEN

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Teils bewusst, teils unbewusst erscheint sexuelle Müdigkeit in Monaten hoher körperlicher oder psychischer Belastung, die freilich unter Umständen bei erfolgendem Geschlechtsakt die Zeugungs- bzw. Empfängnisfähigkeit mit ähnlichem Konzeptionserfolg herabsetzen. Die sich in die Zeit von Juli bis September konzentrierenden, kraftzehrenden Erntearbeiten lieferten in ruralen Gesellschaften probate Gründe sinkender Fertilität wie Zeugungslust. Tatsächlich bleiben die Monate in beiden Untersuchungsorten bis ins 18. Jahrhundert mit degressiver Tendenz unterdurchschnittlich frequentiert. Danach schwand die statistisch sichtbare Bedeutung des landwirtschaftlichen Jahres, da unterbäuerliche, relativ kontinuierlicher gewerblicher Arbeit nachgehende Bevölkerungsteile nun in die Mehrheitsposition gerieten. Ob indes bewusste Schwangerschaftsplanung betrieben wurde, ist anhand der Konzeptionszahlen nicht zu ermitteln, zumal die Fixierung entweder auf Mutter respektive Familienökonomie oder Kind differierende Strategien nahelegten. So mochte es für die Überlebenswahrscheinlichkeit eines Säuglings im subsistenzwirtschaftlichen Umfeld vorteilhaft gewesen sein, in den Sommer- oder Frühherbstmonaten zur Welt zu kommen, was sich mit der zum Jahresende steigenden Zeugungslust deckte, doch ging selbst bei einer Geburt im Juli die Arbeitskraft der Mutter in der jede Hand benötigenden Erntezeit wenigstens teilweise verloren. Die sich ab dem 19. Jahrhundert schon in August und September zeigenden Konzeptionshäufungen wären hingegen bei der mehrheitlich gewerblichen Ausrichtung der Gesellschaft nicht von Nachteil gewesen. Wiewohl spekulativ bleibt, welche Prinzipien den relativ deutlich hervortretenden saisonalen Zeugungshäufungen zugrunde lagen, sprechen die Indizien für einen Einuss sowohl soziokultureller wie ökonomischer Faktoren, den bereits Wrigley für das englische Beispiel vermutete 368. Deren strukturabhängige Gewichtungsverschiebungen erklären nicht zuletzt partielle Ähnlichkeiten wirtschaftlich unterschiedlich ausgerichteter Gesellschaften.

4.3 TAUFVERHALTEN In kurzem zeitlichem Abstand folgte der Geburt eines lebendigen Kindes dessen Taufe nach. Dieser stark ritualisierten Kasualhandlung wurde im Kontext des evangelischlutherischen Christentums, welches das Leben der Menschen innerhalb des Untersuchungsgebiets und -zeitraums prägte, eine herausragende Bedeutung beigemessen. Hierdurch wurde der Täufling nicht allein in die Gemeinschaft der Gläubigen aufgenommen und faktisch of ziell benamt, sondern vor allem von der Erbsünde freigesprochen. Daneben konnte eine Taufe durchaus ins Zentrum gesamtdörflichen Interesses 368

Vgl. Scho eld/Wrigley, Population, S. 292f.

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GEBURTIGKEIT

geraten und zum Statussymbol der Beteiligten dienen. Einerseits zeugte es von gutem Leumund respektive Wohlstand, oft zum Paten gebeten zu werden. Andererseits war es Ausdruck des eigenen sozialen Ansehens bzw. diesem zuträglich, ehrenhafte und nanzkräftige Personen oder deren nahe Angehörige als Taufpaten eigener Kinder gewinnen zu können. 369 Zu den Aufgaben der Gevattern, die voraussetzend selbst in der betreffenden Konfession kon rmiert und regulär mindestens 14 Jahre alt sein mussten, gehörte es, für den Täufling vor Gott zu bürgen und ihm in der Not beizustehen. Dem obligatorischen Patenbrief legten sie meist eine Geldgabe bei, die in Ehren gehalten und bis zur Kon rmation bzw. der Mündigkeit oder Hochzeit nicht angetastet wurde. Anlässlich der Kon rmation, mit der das Patenverhältnis of ziell endete, konnte ein weiteres Geldgeschenk erfolgen. 370 In den Untersuchungsorten standen in der Regel drei Personen pro Taufe Pate. War der Täufling männlichen Geschlechts, wurden ihm traditionell zwei Männer und eine Frau zur Seite gestellt. Bei einem Mädchen kehrte sich das Geschlechterverhältnis der Gevattern um. Diese Praxis fand bei ehelichen wie unehelichen Kindern Anwendung. Frauentaufen, die Meinel als im sächsischen Raum für „Hurenkinder“ bevorzugte und bei Nottaufen übliche Form nennt 371, sind für Rußdorf und Bräunsdorf nicht belegt. Oftmals wurden beim ersten Kind nahe Verwandte bis zu den Großeltern oder ältere Geschwister für die Patenschaft gewonnen. Generell sank die Wahrscheinlichkeit einer Verwandtschaft von Gevatter und Täufling mit dem Ansteigen dessen familiärer Ordnungszahl. Nur in den seltensten Fällen hatte dieses Regelwerk vor 1900 keinen Bestand. Der Rußdorfer Johann Gottlieb Haupt machte sich selbst ohne Not zum Taufpaten seines ersten ehelichen Kindes, wozu der Pfarrer im Kirchbuch vermerkte: „Auf meine Vorstellung, daß es der Natur des Pathenstandes zuwider sei, wenn d. Vater selbst es sei, antwortete er: Ach ich habe keine Freunde weiter.“ 372 Demgegenüber schwelgte das Rußdorfer Findelkind Johann Gottlob Vieweg 1755 geradezu im Über uss. Zehn Männer und elf Frauen mehrheitlich ledigen Standes zwischen zwölf und 58 Jahren erklärten sich damals zur Patenschaft bereit. 373 Seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts erfuhr die überkommene, über Jahrhunderte hinweg statische Taufpraxis in beiden betrachteten Ortschaften formal eine 369

370 371 372 373

Zum Beispiel wurde der Rußdorfer Wirt Jacob Richter zwischen dem Beginn der Rußdorfer Kirchbuchüberlieferung 1582 und seinem Tod 1604 allein bei 19 Rußdorfer Taufen als Pate gebeten. Zusätzlich standen nahe Angehörige, vor allem seine Frau, 19-mal Pate. Gleichzeitig wurde dem maximal eine Kleinststelle besitzenden Balthasar Rudloff († 1603) diese Ehre nie und seinen Angehörigen lediglich zweifach zuteil. – Vgl. EPA Rußdorf, KB I, Taufen 1582– 1604. Vgl. Meinel, Kinderleben, S. 18ff. Vgl. ebd., S. 23. EPA Rußdorf, KB IV: Taufregister 1857–1873, Taufen 1861, Nr. 63. Vgl. EPA Rußdorf, KB I, Taufen 1755, Nr. 3. – Die Taufeinträge der Bräunsdorfer Findelkinder Christoph Kirchthor 1728 und Christiana Pfortin 1772 nennen völlig regulär je drei Paten und beweisen dadurch, wie unüblich die exorbitante Taufpatenzahl Viewegs auch bei seiner Biographie war. Vgl. EPA Bräunsdorf, KB I, Taufen 1728, Nr. 9 u. 1772, Nr. 17.

TAUFVERHALTEN

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sichtbare Liberalisierung. In den 1880er Jahren nden sich sporadisch erste Taufeinträge, die vier Paten nennen, was schon vor Beginn des Ersten Weltkrieges keine Seltenheit mehr darstellte, und selbst fünf Paten für einen Täufling scheinen im frühen 20. Jahrhundert nicht länger unüblich gewesen zu sein. Gleichzeitig verlor das tradierte geschlechtsorientierte Gevatterwahlprinzip relativ abrupt an Geltung. Noch zu Beginn der 1890er Jahre wurde dem alten Regularium beinahe durchgehend entsprochen, doch nur zehn Jahre später ist dahingehend kein übergeordnetes Auswahlmuster mehr ersichtlich. Neben den kurz angerissenen sozialen Aspekten ist die terminliche Seite des Taufverhaltens von besonderem Interesse. Zu Beginn des Untersuchungszeitraums war der zeitliche Abstand zwischen Geburt und Taufe sehr kurz bemessen. Zwar lässt die Quellenlage für Bräunsdorf erst ab 1730 und für Rußdorf ab 1760 eine kontinuierliche Berechnung der durchschnittlichen Intervalle zu 374, jedoch geben die aus der vorhergehenden Kirchbuchüberlieferung sporadisch ermittelbaren Werte keinen Anlass, für die vorangegangene Zeit von differierenden Zeiträumen auszugehen. In der Regel erlangte ein Säugling zwei Tage nach der Geburt das Taufsakrament, doch auch Abweichungen von einem Tag entsprachen noch immer der Norm. Der Geburt noch am selben Tag nachfolgende Taufen waren Notfällen vorbehalten, bei denen mit dem baldigen Ableben des Kindes gerechnet werden musste. Zwangsläug beschränkten sich die üblichen Rituale dabei auf ein Mindestmaß. Die Paten wurden hinzugebeten, der Pfarrer herbeigeholt. Erlaubten die Umstände – in Rußdorf kam dies mutmaßlich öfter vor, denn dort galt es, den Pastor erst unter großem Zeitaufwand von Kaufungen zu rufen – keinerlei Säume, taufte die Wehmutter oder der Schulmeister. Überlebte das Kind wider Erwarten die ersten Stunden, erhielt es in der Kirche den Segen des Ortsgeistlichen, wodurch die Taufhandlung Bestätigung erfuhr. 375 Auch wenn keine besondere Eile geboten war, säumten Eltern im Untersuchungsgebiet vor 1800 selten länger als drei Tage, ihr Kind in die Kirche zu tragen bzw. tragen zu lassen. Offensichtlich wurde die Gefahr eines jähen Kindstodes stark empfunden. Ungetauft sterbende Kinder blieben nach dem christlichen Weltbild mit der Erbsünde beladen, weswegen ihnen die potentielle Teilhabe am ewigen Heil von vornherein verwehrt wurde, obwohl die evangelisch-lutherische Theologie in dieser vielfach diskutier-

374

375

Die Abstandsmessung setzt voraus, dass Geburts- und Taufdatum bekannt sind. Kirchbücher verzeichnen zuallererst die Kasualien. Besonders in der Frühzeit der kirchlichen Registrierung spielten Geburt und Tod eine untergeordnete Rolle, sodass sie von den Kirchenbuchverfassern selten aufgenommen wurden. Für das 16., 17. und frühe 18. Jahrhundert sind diese eigentlichen Personenstandsdaten oft lediglich als Beiwerk zufällig und hochgradig punktuell überliefert. Erst mit der Kirchenbuchnormierung 1800 wurde deren Aufzeichnung zur P icht. Siehe zum Beispiel die Taufe Christoph Hahns, der „wegen Schwachheit gleich von der Wehmutter getauft, iedoch eod. die noch in die Kirche gebracht und eingesegnet“ wurde oder Maria Pauline Saupes: „Nothtaufe durch H. Schulmeister Hodermann, u. Dom: IV. p. Trin. eingesegnet durch H. P. Brükner in Bräunsdorf “. EPA Rußdorf, KB I, Taufen 1761, Nr. 11 u. KB III: Kirchbuch 1841–1855/1857, Taufen 1846, Nr. 29.

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GEBURTIGKEIT

Abbildung 10: Intervalle zwischen Geburten und Taufen in Rußdorf

ten Frage eine vergleichsweise gemäßigte Haltung einnahm. 376 Große Verantwortung lastete also auf den Schultern der Eltern. Entsprechend ist in den betrachteten Dörfern, abgesehen von bewussten Kindsmorden, vor 1876 kaum ein Fall bekannt, in dem ein Säugling ohne Taufsakrament zu Tode gekommen wäre. Ein bis drei Tage mögen für die notwendigen Vorbereitungen der Taufriten, unter denen der Kirchgang selbst eine bedeutsame, aber relativ kurze Episode darstellte, je nach gewünschter Opulenz eben ausgereicht haben. Hin und wieder vorkommende Stellvertreterpatenschaften 377 auch in Notfällen legen nahe, dass zumindest die Patenschaftsabsprachen noch vor der Geburt getroffen wurden. Dies indiziert eine Vorauswahl von vier Kandidaten im ausgeglichenen Geschlechterverhältnis, deren drei je nach Geschlecht des Kindes tatsächlich die Gevatternschaft antraten. 376 377

Vgl. Lindenhofer, Petra, „Traufkinder“ – Ein besonderer Umgang mit ungetauft verstorbenen Kindern in der Frühen Neuzeit, Wien 2012 [Hochschulschrift], S. 72. Siehe zum Beispiel: „D. 20. Jun: nachmittags um 3 Uhr ist Johann Michael Richter, d. Z. Haußgenoßen (bey seinem Vater dem Pfarr-Lehn-Häusler, David Richtern) und seinem Eheweibe Evin eine geb. Müllerin aus Marckersdorff das Kind, der Sohn gebohren, und wenige Augenblicke vorher, ehe ich in Richters Stube, das Kind zu tauffen, gebeten von der Großmutter mit dem Nahmen Johann Michael getaufft worden, (welches aber nach empfangener Tauffe augenblicklich wieder verstorben.) Pathen sind gewesen: 1. Jungfer Johanna Sophia, Christian Heintzigs (der niedere) Gärtner allhier aelteste Tochter, 2. Johann Michael Ahnert, ein Pferdte-Bauer allhier, 3. Michael Macht, juv: wyl. Samuel Machts, Bauers allhier hinterl. 3ter Sohn, (deßen Stelle Samuel Posern juv: ein Häusler allhier, Joh. Michael Poserns, Häuslers allhier aeltester Sohn vertreten).“ – EPA Bräunsdorf, KB I, Taufen 1770, Nr. 10.

TAUFVERHALTEN

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Abbildung 11: Intervalle zwischen Geburten und Taufen in Bräunsdorf

Nach 1800 nahmen die durchschnittlichen Intervalle sukzessive zu. Seit 1803 gaben die Rußdorfer ihren Neugeborenen im Mittel drei Tage bis zum ersten Kirchgang. Nach 1830 wurden vier zur Regel, in den 1850er Jahren fünf bis sieben. Die Bräunsdorfer schlossen sich dieser Praxis mit 30-jährigem Abstand an und zeigten seit Beginn der 1860er Jahre ähnliche Durchschnittsabstände zwischen Geburten und Taufen. Nach 1870 nahmen die mittleren Intervalle in Rußdorf weiter stark zu, sodass 1890 dort ein Monat und 1910 bereits zwei Monate zur Normalität geworden waren. Wiederum zogen die Bräunsdorfer mit zeitlichem Abstand ab 1880 nach und dehnten den üblichen Zeitrahmen bis auf einen Monat im Jahr 1910 aus. Am Ende des Untersuchungszeitraums warteten Eltern in beiden Dörfern meist mehrere Monate mit der Taufe ihres Kindes. Wie ist dieser radikale Bruch mit überkommenen Verhaltensweisen zu erklären? Zweifelsohne drückt sich in den wachsenden Intervallen eine abnehmende Sorge um den frühzeitigen Tod Neugeborener aus. Darin die Folgen zunehmender Säkularisierung der allgemeinen Lebens- oder Vorstellungswelt zu sehen, griffe zu kurz. Hätten die erwarteten Konsequenzen eines der Taufe zuvorkommenden Kindstodes an Schrecken eingebüßt, wäre die Zahl der Nottaufen, welche gerade aus der Furcht ihre Legitimation zogen, vermutlich signi kant zugunsten eines wachsenden Quantums ungetauft verstorbener Säuglinge angestiegen. Die „Bürokratisierung“ von Geburt und Taufe, wie sie mit dem „Gesetz über die Beurkundung des Personenstandes und die Eheschließung“ vom 6. Februar 1875 einher-

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GEBURTIGKEIT

ging 378, begünstigte die Entwicklung allenfalls, taugt aber ob ihrer zeitlichen Verortung ebenfalls kaum als deren Auslöser. Martina Rommel brachte in ihrer Untersuchung zur demographischen Entwicklung Worms' neben dem während des 19. Jahrhunderts noch relativ zögerlichen medizinischen Fortschritts öffentlich kommunizierte kinderheilkundliche Hypothesen, welche unter anderem allzu frühen Taufen eine Mitschuld an der im 18. und 19. Jahrhundert hohen Säuglingssterblichkeit zumaßen, als mögliche Ein ussfaktoren ins Gespräch. 379 Diverse Ursachen kommen für das veränderte Taufverhalten der Rußdorfer und Bräunsdorfer Bevölkerung in Betracht. Konkrete, über bloße Koinzidenz hinausreichende Hinweise auf das Wirken der einen oder anderen fehlen jedoch. Zu subtil vollziehen sich gerade Mentalitätswandlungen, sodass sich die Akteure selbst kaum der Gründe ihrer Einstellung bzw. ihres Handelns bewusst sind und noch seltener gibt das überlieferte, überwiegend administrative Quellenmaterial darüber Auskunft. Mit Sicherheit spielte ein Konglomerat verschiedenster Faktoren in dem über ein Jahrhundert andauernden Prozess eine Rolle. Die auffallende Ungleichzeitigkeit dessen Beginns in beiden Dörfern, die sich weder aus veränderten Gesetzeslagen oder geistlichen Geboten herleiten noch durch auf Gemeindegrenzen beschränkten Gesinnungs- bzw. Vorstellungswandel rechtfertigen lässt, deutet auf einen ursächlichen sozioökonomischen Strukturwandel hin. Es liegt nahe, die Herausbildung wochentäglicher Taufschwerpunkte Mitte des 19. Jahrhunderts als Ausdruck zunehmender Vergewerblichung bzw. Industrialisierung zu interpretieren. In deren Zuge durchlief das Konzept „Arbeit“ gerade in vormals landwirtschaftlich dominierten Räumen einen grundlegenden Transformationsprozess, weg von vorrangig bedarfs- und ereignis- hin zu mehrheitlich zeitorientierter Tätigkeit. „Arbeit“ und „Freizeit“ gerieten für wachsende Bevölkerungsteile zu inhaltlich grundlegend konträren, klar trennbaren und dadurch terminlich planbaren Lebensbereichen. Taufhandlungen elen eindeutig in den Freizeitbereich. Insofern bot es sich besonders mit der Ausbreitung fester Arbeitszeiten im Zuge der Industrialisierung an, Taufen an den arbeitsfreien Sonn- und Feiertagen zu vollziehen. Immerhin mussten neben den Eltern die Gäste, vor allem aber die Paten anwesend sein können. Diesbezügliche Erwägungen mögen die Wahl des Tauftages der Rußdorfer und Bräunsdorfer nach 1850 zunehmend bestimmt haben. 380

378

379

380

Nach Einrichtung der Standesämter wurde es im Gebiet des Deutschen Reichs P icht, Geburten binnen einer Woche dorthin zu melden. Taufen erfolgten, von Nottaufen abgesehen, seitdem erst unter Vorlage eines standesamtlichen Geburtsnachweises. – Vgl. Gesetz über die Beurkundung des Personenstandes und die Eheschließung, 6. Februar 1875, in: Deutsches Reichsgesetzblatt, Bd. 1875, Nr. 4, S. 23–40, S. 40. Vgl. Rommel, Martina, Zwischen Ancien Régime und Industriezeitalter. Elemente der Kontinuität und Diskontinuität in der demographischen Entwicklung von Worms (1750–1875), in: Matheus, Michael /Rödel, Walter G. (Hg.), Landesgeschichte und historische Demographie, Stuttgart 2000, S. 27–46, S. 33. Dies nachzuweisen genügte es nicht, die elterliche Beschäftigung hinsichtlich ihres Arbeitszeitregimes zu klassi zieren und mit dem Wochentag der Taufe, der vor allem bei Arbeitern und Angestellten auf den Sonntag fallen sollte,

TAUFVERHALTEN

Abbildung 12: Wochentägliche Verteilung der Rußdorfer Taufen

Abbildung 13: Wochentägliche Verteilung der Bräunsdorfer Taufen

119

120

GEBURTIGKEIT

In beiden Orten verteilten sich die Taufen ursprünglich relativ gleichmäßig über die Woche, was den bis 1800 zwanghaft kurzen Abständen zu den Geburten Rechnung trug. Seit Beginn des 19. Jahrhunderts etablierte sich dagegen der Sonntag als mit Abstand begehrtester Tauftag. Damit ging eine sukzessive Zunahme der Intervalle zwischen Taufe und Geburt auf bis zu sieben Tage einher. Mitte des 19. Jahrhunderts ent el bereits die Hälfte aller Taufen auf einen Sonntag, während sich die übrigen 50 Prozent relativ gleichmäßig über den Rest der Woche verteilten. Seit den 1880er Jahren machten die Sonntagstaufen in Rußdorf und nach 1900 auch in Bräunsdorf anteilmäßig kontinuierlich über 70 Prozent aus. Dort emp ngen während der ersten Dekade des 20. Jahrhunderts gar sechs von sieben Kindern das Taufsakrament an diesem Wochentag. Dahinter nahm der Montag auf der Beliebtheitsskala in beiden Dörfern die zweite Stelle ein. Eine Untersuchung R. Scho elds über 26 englische Pfarreien brachte tendenziell ähnliche Ergebnisse. Nach anfänglich mehrfach wechselnder Hinwendung zu und Abkehr von Sonntagstaufen im 16. und 17. Jahrhundert stieg die Beliebtheit des Sonntags in seinem Untersuchungsgebiet bereits während des 18. Jahrhunderts massiv. Scho eld begriff dies als protestantisches Taufverhalten, im Gegensatz zum katholischen Typus, der eine gleichmäßige Verteilung auf die Wochentage propagierte. Nicht alle Gemeinden zeigten allerdings dasselbe Verhalten. Einige wenige präferierten auch oder stattdessen Mittwoche, Freitage und Samstage. 381 Die parallel beobachtbare Tendenz hin zu mehrwöchigen bis -monatlichen Wartezeiten ist in erster Linie als Resultat steigender Geburtenzahlen und der Sonntagsfavorisierung zu begreifen. Zudem leistete womöglich die allgemein nachlassende Sorge um einen frühen Kindstod der Beachtung individueller Präferenzen der Eltern, die zuvor weitestgehend übergangen worden waren, Vorschub. Dem entspräche die fortlaufende Ausdehnung der Intervalle trotz nach 1900 spürbar rückläu ger Geburten. Darin spiegelt sich zudem vielleicht eine gewisse Säkularisierung der Taufpraxis zum Ende des Untersuchungszeitraums, welche es erlaubte, die möglichst rasche Taufe zugunsten eines bestimmten gewünschten Taufdatums aufzugeben.

4.4 TOTGEBURTEN UND NOTTAUFEN Naturgegeben verläuft nicht jede Schwangerschaft optimal. Zahlreiche physische und psychische Faktoren können einen Abort oder eine Frühgeburt verursachen. Medizi-

381

abzugleichen. Dasselbe müsste zusätzlich mit jedem Taufpaten geschehen. Für die vorliegende Studie war dies zu leisten einerseits technisch, andererseits aufgrund des vervielfachten Arbeitsaufwandes unmöglich. Vgl. Scho eld, Roger, „Montags-Kind, schön Angesicht“, Zur Wahl des Wochentags für Taufen, Heiraten und Begräbnisse in England, 1540–1849, in: Ehmer, Josef/Hareven, Tamara K. /Wall, Richard (Hg.), Historische Familienforschung. Ergebnisse und Kontroversen, Frankfurt a. M./New York 1997, S. 88ff.

TOTGEBURTEN UND NOTTAUFEN

121

nischer Fortschritt vermag das Risiko hierfür zu senken sowie die gesundheitlichen Folgen für Mutter und Kind relativ gering zu halten, unterbinden kann er derartige Ereignisse nicht. Ebenso ist ein normaler Schwangerschaftsverlauf kein Garant einer glücklichen Geburt. Vor Risikogeburten schützt selbst die moderne Medizin nicht restlos und Frühgeburten sind auch im Deutschland des frühen 21. Jahrhunderts keine Seltenheit. Im Gegenteil steigt die jährliche Frühgeburtenrate mindestens seit den 1980er Jahren. Zum Beispiel wurden 1994 sechs Prozent aller in Deutschland entbundenen Kinder vor Vollendung der 37. Schwangerschaftswoche geboren. 382 Dank moderner Behandlungsmethoden bzw. medizinischer Versorgung ist die moderne Prä-, Peri- und Postnatalmedizin in der Lage, die gesundheitlichen Folgen von Schwangerschafts- und Geburtskomplikationen bei Müttern und Kindern weitestgehend zu kompensieren. Der frühneuzeitlichen Bevölkerung in den Untersuchungsorten standen demgegenüber nur stark begrenzte Möglichkeiten zur Verfügung. Die volkstümliche Heilkunde kannte zahlreiche mehr oder minder wirksame Mittel gegen den Großteil der zu Bewusstsein gelangenden Krankheiten und Beschwerden, deren Bandbreite von zu einem gewissen Grade wirksamen Hausmitteln bis hin zu Gebeten und archaischen heidnischen bzw. abergläubigen Praktiken reichte. Schwangerschaft und Geburt waren einerseits Mysterien, andererseits nach Jahrtausenden kollektiver Erfahrung hinsichtlich ihres Ablaufs und ihrer Auswirkungen wohlbekannt. Das Wissen um Möglichkeiten zur Wehenverzögerung oder -beschleunigung war ebenso Allgemeingut wie kontrazeptive und einen Abort auslösende Mittel, beispielsweise Mutterkorn, physische Gewalt oder körperlicher Stress 383, einen festen Platz im bäuerlichen Bewusstsein hatten. Darüber hinaus boten medizinische Kenntnisse von Hebammen oder Ärzten einen vor allem um chirurgische und invasive Verfahren erweiterten Handlungsspielraum. Zumindest die Dienste ausgebildeter Mediziner waren jedoch kostspielig und wurden daher nur in absoluten Notsituationen in Anspruch genommen. Ein solcher Fall vom September 1712 mag exemplarisch dafür stehen: Den 24 Septembris hat Christina, Greger Böhmens des jüngern Weib in einen sehr miserabeln Zustande ein junges Töchterlein zur Welt gebohren, indem das Kind stückweise von ihr hat müßen geschnitten werden, wozu der berühmte Chirurgus Tannhauer, als welcher in dergleichen Fällen wohl erfahren, von Chemnitz dazu erfordert werden müßen. 384

Kaiserschnitte sind in den Untersuchungsorten nicht belegt. Alle Anzeichen deuten darauf, dass hier noch in der Neuzeit galt, was Robert Fossier für das europäische Mittelalter attestierte. Die Baucheröffnung an der lebenden Mutter war nicht bekannt, die postume 382 383 384

Vgl. Linderkamp, Otwin, Eine Chance für Leichtgewichte, in: Ruperto Carola, Nr. 1, 1994, online: http://www.uniheidelberg.de/uni/presse/rc5/3.html [zuletzt aufgerufen am 20. 06. 2016]. Zum Beispiel stand die Ursache einer Frühgeburt Marie Rosine Pröhls außer Frage. Sie hatte „1 unzeitiges Kind geboren, in Folge d. Falles v. Stege in d. Bach“. EPA Rußdorf, KB II, Beerdigungen 1821, Nr. 21. EPA Rußdorf, KB I, Taufen 1712, Nr. 16.

122

GEBURTIGKEIT

hingegen durchaus. 385 Entsprechend musste die Rußdorferin Johanne Theresie Weise 1857 erst ihr Leben lassen, bevor „ein todtes Sohnlein [...] v. ihrem Leichnam genommen“ werden konnte. 386 200 Jahre zuvor starb im Nachbarort Kaufungen Anna Kühn in den Kindesnöten, „die wehemutter hat es dafür gehalten, das Zwillinge in ihrem leibe gewesen“, ohne postmortale Entbindung ihrer Leibesfrucht. 387 Unzureichende medizinische Versorgung sowie mangelndes Wissen um den Ein uss externer Faktoren auf die Embryonalentwicklung gefährden den positiven Schwangerschaftsverlauf. Das Risiko einer Tot- oder Frühgeburt erhöht sich durch psychischen und physischen Stress, den Konsum toxischer Genussmittel sowie ein fortgeschrittenes Alter der Mutter beträchtlich. Im modernen Deutschland stellen Totgeburten keine statistisch relevante Größe dar. Von 788.224 im Jahr 1998 geborenen Kindern kamen laut Statistischem Bundesamt nur 3190 (0,41%) tot auf die Welt. Bis 2008 sank deren Anteil gar auf 0,35 Prozent. 388 In Anbetracht der nach modernen Maßstäben desolaten medizinischen Infrastruktur der neuzeitlichen Untersuchungsorte steht für diese ein deutlich höherer Totgeburtenanteil zu erwarten, welcher im 19. und frühen 20. Jahrhundert in Verbindung mit einer sukzessive verbesserten ärztlichen Versorgung freilich eine regressive Tendenz aufweisen sollte. 389 Tatsächlich erscheinen die Rußdorfer und Bräunsdorfer Totgeburtenraten äußerst hoch. Selbst in den 1930er Jahren lag der Totgeburtenanteil noch auf einem rund sechsbzw. neunfach höheren Niveau denn 70 Jahre später im gesamtdeutschen Raum. Ein Rückgang der Totgeburten ist dennoch in beiden Fällen, aber mit differierender Ausprägung, nachweisbar, wie Abb. 14 verdeutlicht. Die in Dekadenkohorten zusammengefassten Vorkommnisse folgen tendenziell der Geburtenzahlenkurve. Der Rußdorfer Gipfelwert wurde in den 1890er Jahren erreicht (1891), jener Bräunsdorfs bereits im vorhergehenden Jahrzehnt (1888). Die prozentualen Anteile der Totgeburten an den Gesamtgeborenenzahlen schwankten bis ins 19. Jahrhundert hinein massiv zwischen 0 und 8,62 Prozent (Rußdorf) bzw. 1,67 und

385 386 387 388

389

Vgl. Fossier, Robert, Das Leben im Mittelalter, München 2009, S. 65. EPA Rußdorf, KB XIII: Beerdigungsregister 1855–1875, Beerdigungen 1857, Nr. 18. EPA Kaufungen, KB I, Taufen 1619, Nr. 19. Vgl. Nöthen, Manuela, Familienzuwachs: Mutter und Kind wohlauf?, Wiesbaden 2010, online: http://www.destatis. de/DE/Publikationen/STATmagazin/Gesundheit/2010_10/PDF2010_10.pdf?__blob=publicationFile [zuletzt aufgerufen am 20.06.2016], S. 3. Den quantitativen Vergleich zwischen modernen und frühneuzeitlichen Totgeburten erschweren zwei Faktoren. Einerseits ist für Totgeburten vor Beginn der standesamtlichen Überlieferung keine Überlieferungssicherheit gegeben, da Totgeburten in den Kirchbüchern nicht immer erfasst bzw. dem Pfarrer nicht konsequent angezeigt wurden. Welches Ausmaß die daraus resultierende potentielle Überlieferungslücke annimmt, ist nicht feststellbar. Andererseits liegt den modernen Zählungen ein engeres Totgeburtenverständnis zugrunde. Per de nitionem ist ein Kind nach deutschem Recht gegenwärtig nur dann als Totgeburt zu klassi zieren, wenn es über 500 g Geburtsgewicht und postnatal weder natürliche Lungenatmung, Herzschlag oder Nabelschnurpuls aufgewiesen hat. Vgl. Verordnung zur Ausführung des Personenstandsgesetzes vom 22.11.2008, Kapitel 5, § 31, Abs. 1 u. 2.

TOTGEBURTEN UND NOTTAUFEN

123

Abbildung 14: Totgeburtenanteile an den Rußdorfer und Bräunsdorfer Geborenenzahlen nach Dekadenkohorten

8,33 Prozent (Bräunsdorf). Maximal- wie Minimalwerte sind ebenfalls lange vor 1800 zu suchen. In Rußdorf pendelten sich die Dekadenkohortenanteile ab den 1820ern bei drei bis vier Prozent ein und gingen nach 1900 zu einem abnehmenden Trend über. Die drastischen prozentualen Schwankungen endeten dagegen in Bräunsdorf erst in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Übergangslos trat die dortige Totgeburtenrate damit in einen bis in die 1930er Jahre anhaltenden Regressionsprozess ein. Tabelle 5 offenbart pointierter für Bräunsdorf zunächst, wiederum auf die Gesamtgeburtenzahlen bezogen, ein frühneuzeitliches prozentuales Wachstum der Totgeburten mit angeschlossenem Rückgang nach 1850 bzw. für Rußdorf eine von höherem Niveau ausgehende wellenförmige Abnahme. Der anhaltende Niedergang der Mortinatalität begann jedoch in beiden Orten erst um 1900. Die teils signi kanten Schwankungen der vorangegangenen Perioden resultierten vermutlich auch aus einer latenten, mal mehr, mal weniger stark ausgeprägten Unterregistrierung. Wird nach den Ursachen der hohen Totgeburtenzahlen bzw. ihres Rückgangs im frühen 20. Jahrhundert gefragt, stehen exo- und endogene Faktoren zur Debatte. Ein eindeutiger Zusammenhang zwischen Mortinatalitätsentwicklung und exogenen extraindividualbiographischen Ereignissen ist anhand der vorliegenden Daten nicht erkennbar. Die Totgeburtigkeit erscheint völlig unabhängig von Konjunkturzyklen und gesamtwirtschaftlichen Prozessen. Selbst Krisensituationen ließen die Quote offenbar

124

GEBURTIGKEIT

Tabelle 5: Totgeburten nach Geschlechtern im Verhältnis zu den Geburtenzahlen Rußdorf

Anzahl

Anteil an Totgeburten

Anteil an Geburten

männl.

weibl.

unbek.

männl.

weibl.

unbek.

Gesamt

1582–1599

5

2

5

41,67 %

16,67 %

41,67 %

12

5,63 %

1600–1699

13

5

12

43,33 %

16,67 %

40,00 %

30

3,58 %

1700–1799

54

35

3

58,70 %

38,04 %

3,26 %

92

5,06 %

1800–1849

33 119

29 68

0 3

53,23 % 62,63 %

46,77 % 35,79 %

0,00 % 1,58 %

62 190

3,17 % 3,89 %

50

51

2

48,54 %

49,51 %

1,94 %

103

2,95 %

1850–1899 1900–1935 Bräunsdorf

Anzahl

Anteil an Totgeburten

Anteil

Anteil an Geburten

männl.

weibl.

unbek.

männl.

weibl.

unbek.

Gesamt

1640–1699

16

10

3

55,17 %

34,48 %

10,34 %

29

4,79 %

1700–1799

48 43 87

29 30 46

3 0 0

60,00 % 58,90 % 65,41 %

36,25 % 41,10 % 34,59 %

3,75 % 0,00 % 0,00 %

80 73 133

4,41 % 5,21 % 5,13 %

24

22

0

52,17 %

47,83 %

0,00 %

46

3,45 %

1800–1849 1850–1899 1900–1935

Anteil

unbeein usst. Zum Beispiel begleitete die schwere Subsistenzkrise der frühen 1770er Jahre in Rußdorf ein Totgeburtenanteil von maximal 11,11 Prozent (1772), welcher jener aus der wirtschaftlichen Blüteperiode 1768 entsprach. Für dasselbe Jahr verzeichnen die Bräunsdorfer Kirchbücher sogar vier Totgeburten (21,05 %), hingegen 1772 keine einzige. Saisonale Ein üsse lassen sich gleichfalls nur bedingt ableiten, zumal in den betrachteten Ortschaften, wie Tabelle 6 zeigt, unterschiedliche und überdies wechselnde monatliche Schwerpunkte bestanden. Im Allgemeinen folgt die Verteilung der Totgeburten im Jahresverlauf jener der Geburten. Einzig im ersten Jahresdrittel zeigt die Mortinatalität insgesamt kontinuierlich in beiden Dörfern ein größeres anteilmäßiges Gewicht. Winter und beginnendes Frühjahr könnten demnach über steigenden physiologischen Stress der Mütter, etwa infolge verschlechterter Lebensmittelversorgung, anhaltender Kälte und vermehrt grassierender Krankheiten, ein höheres Sterberisiko Ungeborener geborgen haben. Endogene biologische Faktoren bzw. natürliche Dispositionen spielten demgegenüber eindeutig eine zentrale Rolle. Tabelle 5 zeigt für beide Dörfer einen signi kanten, vor 1900 konsequenten Überhang totgeborener Kinder männlichen Geschlechts. Das natürliche humane Geschlechterverhältnis liegt für 100 Geburten bei etwa 51 Jungen zu 49 Mädchen. Im Gegenzug kennzeichnet die weibliche Physiologie eine tendenziell höhere Widerstandsfähigkeit, weswegen Frauen zum einen mit geringerer Wahrscheinlichkeit Opfer von partus mortuus oder postnataler Sterblichkeit sind, zum anderen eine höhere durchschnittliche Lebenserwartung vorweisen können. Die ausgewerteten Daten tragen dem prinzipiell Rechnung. Das Geschlechterverhältnis des nalen

125

TOTGEBURTEN UND NOTTAUFEN

Tabelle 6: Saisonale Totgeburtigkeit gemessen an der saisonalen Geburtigkeit (Angaben in %) Anteil der monatlichen Totgeburten- an der Gesamttotgeburtenzahl Anteil der monatlichen Geburten- an der Gesamtgeburtenzahl Rußdorf

Jan.

März

April

1582–1599

16,67 13,15

Feb.

0,00 25,00 5,16 11,27

8,33 8,45

1600–1699

15,63

9,38 15,63 12,50

Juni

8,33 6,10

0,00 5,16

Juli

Aug.

Sept.

8,33 16,67 8,33 6,57 9,86 13,15

Okt. 0,00 7,04

Nov. 0,00 4,23

Dez. 8,33 9,86

9,38

3,13

9,38

0,00

3,13

0,00 12,50

9,38

7,87

6,79

7,03

9,18

9,06

9,18

7,03

5,13

9,78 14,13 1,09 7,97 8,69 8,03 6,45 8,06 11,29

7,61 7,70 6,45

7,61 7,53 8,06

9,78 7,92 4,84

4,35 9,29 6,45

9,78 9,90 8,06

4,35 11,96 10,87 8,36 7,15 9,68 6,45 11,29 8,06

10,25 10,61 1700–1799

Mai

9,89

7,87

1800–1849

8,70 8,80 14,52

1850–1899

7,52 9,47

7,22 9,47

8,14 7,37

8,65 7,89

8,44 8,95

7,16 8,42

8,34 9,47

8,39 8,42

9,31 6,32

9,26 7,37

8,85 8,70 6,84 10,00

1900–1935

8,41 11,65 7,82

7,39 9,71 7,33

7,71 9,71 9,56

7,63 7,77 9,05

8,90 8,59 7,77 12,62 8,67 9,08

8,43 0,97 8,13

9,21 8,76 3,88 12,62 7,90 7,99

7,96 5,83 7,87

8,08 8,74 7,62

Bräunsdorf

Jan.

März

April

1640–1699

6,90 8,93 10,98

1700–1799 1800–1849 1850–1899 1900–1935

Feb.

3,45 13,79 10,34 6,78 10,25 6,45 8,54 17,07 4,88

Mai

Juni

Juli

Aug.

Sept.

Okt.

Nov.

8,92 8,74 8,93 Dez.

3,45 7,44 2,44

6,90 7,60 8,54

0,00 13,79 13,79 6,90 10,34 10,34 9,26 10,58 10,74 9,26 7,44 5,95 7,32 3,66 6,10 14,63 7,32 8,54

7,61 9,59

7,22 6,85

7,55 8,21 4,11 12,33

8,28 6,02 8,71 4,35

7,78 8,49 7,42 9,06 7,52 8,27 12,03 11,28 7,75 8,33 7,29 9,14 6,52 13,04 10,87 6,52

7,00 9,02 9,18 2,17

9,60

7,42

8,40

8,93 8,27 8,65 8,22 12,33 10,96

8,25

8,71 6,85

8,02

8,92

8,27 6,85

8,27 8,22

7,71 9,42 8,99 5,26 6,77 10,53 7,90 8,56 8,79 6,52 10,87 15,22

8,78 9,14 6,02 11,28 8,40 8,10 8,70 13,04

7,92 6,02 8,06 2,17

9,75

8,70

8,10

9,22

8,99 4,11

7,65

9,37 9,59

7,12

Bräunsdorfer Abschnitts gleicht gar auffallend dem deutschen zwischen 2003 und 2011 (53:47). 390 Die vorhergehenden Prozentanteile der Geschlechter muten hingegen ortsübergreifend meist unrealistisch hoch bzw. niedrig an. Dies legt den Schluss nahe, Mädchen seien bis ins späte 19. Jahrhundert seltener zur Anzeige gebracht worden denn Jungen. Solches Verhalten wurzelte in einer latenten Überhöhung des maskulinen Geschlechts und wäre freilich keineswegs ein Alleinstellungsmerkmal. Extrem niedrige Zahlen weiblicher Totgeburten bei nur moderat geminderten männlicher und fast ebenso hohen jener unbekannten Genus stützen diesen Eindruck unter Annahme unterlassener schriftlich xierter Geschlechtsbestimmung bevorzugt von Mädchen. Andererseits ist die Sinn390

Vgl. Hübner, Johanna Hildegard, Totgeburten in Deutschland: Retrospektive Datenanalyse von 168 Fällen zwischen 2003 und 2011, Diss., Bonn 2014, online: http://hss.ulb.uni-bonn.de/2014/3592/3592.pdf [zuletzt aufgerufen am 20. 06. 2016], S. 63.

126

GEBURTIGKEIT

haftigkeit differierender Registrierpraxis auch im Kontext Frauen eine nachgeordnete Stellung zuweisender Gesellschaften diskutabel und widerspricht das realistische Geschlechterverhältnis der Rußdorfer Totgeburten in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts einer stiefmütterlichen Behandlung der Weiblichkeit. Neben geschlechtsspezi schen Dispositionen der betroffenen Kinder treten Vorprägungen der Eltern, ob genetisch oder biographisch bedingt sei dahingestellt, als ausschlaggebende Faktoren in Erscheinung. Vom 16.–20. Jahrhundert nahmen immer wieder einige wenige Familien durch ihr generatives Verhalten maßgebenden Ein uss auf die gesamte lokale Totgeburtenzahl. Anna Gympel brachte zwischen 1593 und 1599 fünf tote Kinder zur Welt, deren erstes zumindest „auff die Zeitt gewest“ 391, und starb unmittelbar im Anschluss an die Geburt des letzten. Sie war bereits in zweiter Ehe verheiratet. Schon aus Altersgründen unterlag sie einem gesteigerten Risiko. Ihr Mann Cyprianus Gympel (1534–1608), Vater von sieben teils erwachsenen Kindern, hatte ebenfalls ein fortgeschrittenes Alter vorzuweisen. Diese eine Familie zeichnet für 55,56 Prozent der Rußdorfer Totgeburten der 1590er Jahre verantwortlich. Jonas (ca. 1573–1623) und Barbara Herolt (ca. 1588– 1627) mussten desgleichen zwischen 1617 und 1621 vier ihrer acht Kinder ohne jedes Lebenszeichen verloren geben. Die Aufzählung ließe sich für beide Dörfer um 102 Fälle erweitern, in denen ein Ehepaar bzw. eine ledig bleibende Frau mehr als eine Totgeburt in mindestens zwei Geburtsvorgängen erlitt. Tabelle 7: Wiederholte Totgeburtigkeit Familien vermehrter Totgeburtigkeit

Anteil der Totgeburten

Anteil der Familien

Rußdorf

2

3

4

5

6

7

8

Summe Anteil Summe Anteil

1582–1599 1600–1699 1700–1799

– 2

– 1

– –

1 –

– –

– –

– –

5 7

41,67 % 23,33 %

1 3

14,29 % 12,00 %

6

3





1





27

29,35 %

10

15,38 %

1800–1849

3

2

1









16

25,81 %

6

13,04 %

1850–1899 1900–1935

22 2

7 –

3 –

1 –

– –

1 –

– –

89 4

46,84 % 3,88 %

34 2

33,66 % 2,02 %

Bräunsdorf

2

3

4

5

6

7

8

1640–1699

3

1











Summe Anteil Summe Anteil 29

1700–1799 1800–1849 1850–1899

5 6 7

5 4 5

2 – 2

– – 1

– 1 2

– – 1

– – 1

33 30 63

100,00 % 41,25 % 41,10 % 47,37 %

1900–1935

3







1





12

26,09 %

391

EPA Kaufungen, KB I, Taufregister Rußdorf, 1593, Nr. 3.

4

20,00 %

12 10 19

25,53% 23,26 % 27,14 %

4

11,76 %

TOTGEBURTEN UND NOTTAUFEN

127

Wie aus Tabelle 7 hervorgeht, überwogen dabei Familien mit zwei bis drei Totgeburten zahlenmäßig zu jeder Zeit. Höhere Quoten waren, mit den erst ab dem späten 18. Jahrhundert substanziell steigenden absoluten Familiengrößen korrespondierend (Kap. 7.1), besonders vor dem 19. selten, traten aber bis ins 20. Jahrhundert vereinzelt auf. Der Handarbeiter Albin Theodor Hartig (1877–1946) und dessen Frau Minna Anna (1881–1937) zählen zu fünf Ehepaaren, welche mit sechs totgeborenen Kindern im extremen Bereich zu verorten sind. Das Rußdorfer Bäckerehepaar Heinrich Moritz (1862– 1943) und Auguste Selma Gräfe (1863–1930) musste sieben seiner 16 Kinder schon bei der Geburt verloren geben. Ebenso erreichte keiner der acht Sprösslinge des Bräunsdorfer Stellmachers Bruno Richard Streu (1861–1938) und seiner Ehepartnerin Pauline Caroline (1860–1930) ein höheres Alter. Der erste Sohn überlebte vier Tage, seine Geschwister kamen allesamt tot zur Welt. Die höchste familiäre Totgeburtenrate hatten jedoch Heinrich Ferdinand (1833–1897) und Christiane Wilhelmine Sonntag (1835– 1911) mit acht von neun Kindern zu erleiden. Insgesamt zeichneten 16,03 Prozent der prokreativen Partnerschaften mit totgeborenen Säuglingen in Rußdorf für 30,14 Prozent aller Totgeburten verantwortlich. In Bräunsdorf lag das Verhältnis bei 22,90 zu 40,72 Prozent. Elterliche Prädisposition durch fortgeschrittene Lebensalter begünstigte zudem sicherlich wenigstens die intrafamiliär singulären Totgeburtenschicksale hohen bis höchsten Geburtenrangs. Angesichts im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts stark abnehmender Familiengrößen mochte die nahezu umfassende Aussetzung dieses Risikofaktors zum Rückgang der Mortinatalität beigetragen haben. Das Ausbleiben ihres entsprechenden Anstiegs in Begleitung des Wachstums der durchschnittlichen Kinderzahlen im 19. Jahrhundert steht der These allerdings entgegen. Ohnehin offenbart die Quellensituation für die überwiegende Mehrheit der Totgeburtenfälle kaum korrelierende Variablen, die wirksame Kausalketten andeuten. Schwangerschaftskomplikationen äußern sich nicht nur in pränatalem Säuglingstod. Nottaufereignisse indizieren, obgleich mit minderer Zuverlässigkeit, ebenfalls Missentwicklungen. Wie in Kapitel 4.3 ausgeführt, fanden Not- oder Haustaufen ausschließlich Anwendung, wenn das baldige Ableben des Täuflings zu befürchten stand. Mit der Ausweitung des mittleren Geburt-Taufe-Intervalls häufte sich insbesondere nach 1876 die Zahl in mehrtägigem bis mehrwöchigem Abstand zur Geburt notgetaufter Kinder, welche zweifelsohne postnatal erworbene oder zu Tage getretene Erkrankungen in Todesnähe brachten. Schwerlich ist daraus auf Schwangerschaftsanomalien zu schließen. Einzig direkt an die Geburt in maximal 24-stündigem Abstand angeschlossene Nottaufen bieten stichhaltige Hinweise auf Unregelmäßigkeiten in der Embryonalentwicklung, da potentielle Infektionen in diesem kurzen Zeitfenster selten letale Wirkung zu entfalten vermögen. Dadurch erfährt das Spektrum infrage kommender Todesursachen eine starke Begrenzung auf Fehlbildungen, Geburtsfolgeerscheinungen, Lebensschwäche und in utero erworbene Krankheiten.

128

GEBURTIGKEIT

Geburtsfehler gehen größtenteils auf zufällige Genmutationen zurück, werden aber durch Mangelernährung und bestimmte Erkrankungen der Mutter während der Schwangerschaft, zum Beispiel den Röteln, begünstigt. In Deutschland lag die jährliche Rate mit Missbildungen geborener Kinder Mitte der 2000er Jahre bei sechs bis sieben Prozent. 392 Welche Höhe sie in den Untersuchungsorten erreichte, ist aufgrund mangelnder Überlieferung nicht nachvollziehbar. Die wenigsten Geburtsfehler führen zudem selbst ohne medizinische Behandlung, wenn nicht im fetalen Stadium erfolgt, unmittelbar zum Tode. Entsprechend selten sind Kirchbucheinträge über Nottaufen in Folge sichtbarer anatomischer Anomalien. Die 1785 nach zwölf Lebenstagen verstorbene Eva Rosina Helbig „hatte ganz keine Nase, Wolfsmaul, u. am Genicke ein Gewächse in der Gröse eines großen Apfels“. 393 Anna Maria Geißler „ward [1869] mit einem völligen Wolfsrachen geboren“, erhielt aber erst drei Tage danach die Haustaufe. Ihren drei Monate später datierten Beerdigungseintrag schloss der Rußdorfer Pfarrer mit den äußerst pragmatisch anmutenden Worten: „[G]elobt sei Gott, daß er es hinweg genommen hat.“ 394 Gleichfalls in mehrtägigem Abstand zur Geburt wurde 1887 Max Robert Hofmann in Rußdorf notgetauft. „Das Kind hatte ein gespaltenes Rückgrat; es verstarb an dem dazugetretenen Brande.“ 395 Ein nicht näher klassi zierter Geburtsfehler zeichnete 1903 für die unmittelbare Nottaufe der Elisabeth Anna Hartig verantwortlich. 396 Ähnlich selten werden perinatale Komplikationen explizit ursächlich mit einer Nottaufe in Verbindung gebracht. Die für ihn im Endeffekt tödliche Steißlagengeburt Johannes Bernd Werbels 1945 397 bleibt der einzige aus Rußdorf und Bräunsdorf bekannte Fall dieser Art. Nachrichten über pränatal erworbene, postnatal unmittelbar lebensgefährliche Krankheiten fehlen für den Untersuchungszeitraum gleichfalls völlig. Die große Mehrheit der in beiden Dörfern erfolgten Nottaufen ist wahrscheinlich auf entwicklungsbedingte Lebensschwäche des Säuglings zurückzuführen, welche bis ins 20. Jahrhundert für einen erheblichen Teil der neonatalen Todesfälle verantwortlich gemacht wurde. Verfrühte Geburten und geringe Geburtsgewichte unter 2500 g trotz regulärer Schwangerschaftsdauer gehen als Ursachen Hand in Hand und erhöhen das Sterberisiko insbesondere in medizinisch primitiven Gesellschaften während des ersten Lebensjahres immens. Chronische partielle oder absolute Nährstoffunterversorgung

392 393 394 395 396 397

Vgl. Spranger, Jürgen/Queißer-Luft, Annette, Fehlbildungen bei Neugeborenen, Mainz 2006, online: http://www. aerzteblatt.de/archiv/52795/Fehlbildungen-bei-Neugeborenen [zuletzt aufgerufen am 20. 06. 2016]. EPA Rußdorf, KB I, Taufen 1785, Nr. 19. EPA Rußdorf, KB XIII, Beerdigungen 1869, Nr. 28. EPA Rußdorf, KB XIV: Beerdigungsregister 1876–1899, Beerdigungen 1887, Nr. 48. Vgl. EPA Rußdorf, KB VII: Taufregister 1892–1905, Taufen 1903, Nr. 143. Vgl. EPA Rußdorf, KB XVII: Beerdigungsregister 1935–1964, Beerdigungen 1945, Nr. 12.

129

TOTGEBURTEN UND NOTTAUFEN

Tabelle 8: Nottaufen nach Geschlechtern im Verhältnis zu den Geburtenzahlen Rußdorf

Anzahl

Anteil an Nottaufen weibl.

1582–1599

0

0





0

0,00 %

1600–1699

2 16

1 13

66,67 % 55,17 %

33,33 % 44,83 %

3 29

0,36 % 1,59 %

19 184 63

12 147 53

61,29 % 55,59 % 54,31 %

38,71 % 44,41 % 45,69 %

31 331 116

1,59 % 6,77 % 3,32 %

1700–1799 1800–1849 1850–1899 1900–1935 Bräunsdorf 1640–1699 1700–1799 1800–1849 1850–1899 1900–1935

Anzahl

männl.

weibl.

Anteil an Geburten

männl.

Anteil an Totgeburten

Gesamt

Anteil

Anteil an Geburten

männl.

weibl.

männl.

weibl.

Gesamt

Anteil

0 27

5 25

0,00 % 51,92 %

100,00% 48,08 %

5 52

0,83 % 2,87 %

15 87 28

14 47 20

51,72 % 64,93 % 58,33 %

48,28 % 35,07 % 41,67 %

29 134 48

2,07 % 5,17 % 3,60 %

Schwangerer wird in der Forschung als typisches Entwicklungslandproblem identi ziert, allerdings ohne die modernen Industriestaaten davon ledig zu sprechen. 398 Wie vertraut schwächliche Neugeborene der frühneuzeitlichen Bevölkerung des Untersuchungsgebiets waren, beweist unter anderem der Taufeintrag Eva Maria Friedrichs von 1781. Aus heiterem Himmel in der Nacht nach ihrer Geburt von „Epilepsie“, d. h. Krämpfen bzw. krampfartigen Erscheinungen überfallen, „wie es sehr offt bey solchen kleinen Cindern zu geschehen p egt“, erhielt sie von der Wehmutter sogleich die Haustaufe und verstarb. 399 Sogenannte Neugeborenenanfälle, die typischerweise in den ersten sieben Lebenstagen auftreten, gelten in der Gegenwart als seltene Erscheinungen. Sie zeichnen für unter ein Prozent aller kindlichen Epilepsien verantwortlich. 400 Frühgeburten vervielfachen Erkrankungsrisiko wie Letalität. Desgleichen unterliegen Jungen einer höheren Anfälligkeit 401, welcher das Geschlechterverhältnis der Haustäuflinge in Rußdorf und Bräunsdorf bis ins 20. Jahrhundert Rechnung trägt (Tab. 8). Das offensichtlich gehäufte Auftreten derartiger Krampfanfälle im 18. Jahrhundert weist, wenn nicht auf hohe Frühgeburtigkeit, so doch auf weit verbreitete Entwicklungsde zite Neugeborener hin. Ursache dessen waren sicherlich zumeist Nährstoffunterversorgungen

398 399 400 401

Vgl. Biesalski, Hans Konrad, Der verborgene Hunger. Satt sein ist nicht genug, Heidelberg 2013, S. 97 ff. EPA Bräunsdorf, KB I, Taufen 1781, Nr. 19. Vgl. Krämer, Günter, Das große TRIAS-Handbuch Epilepsie, Stuttgart 2005, S. 107. Vgl. Atiye, Fatima, Epidemiologie neonataler Krampfanfälle im Einzugsgebiet der Universitätskinderklinik Heidelberg, online: http://archiv.ub.uni-heidelberg.de/volltextserver/11143/1/Atiye_ .pdf [zuletzt aufgerufen am 20. 06. 2016], S. 38.

130

GEBURTIGKEIT

während der Schwangerschaft. Diese nahmen allerdings selten massive, unmittelbar ins Auge springende physiologische Erscheinungsformen an, welche in der Überlieferung explizit Erwähnung fanden. Daraus erklärt sich gleichermaßen, warum Nottaufen auch bei solchergestalt geschädigten Kindern keineswegs in ationär Anwendung fanden. Mehr noch zeigten sich die Anwesenden oft völlig unvorbereitet vom Sterben des Säuglings getroffen. Im Falle Friedrichs etwa waren in der Schnelle „die ordent. erwählten Taufzeugen nicht zu erlangen gewesen“, sodass die Großeltern deren Stelle vertreten mussten. 402 Der überlieferten Datenlage nach zu urteilen, waren Nottaufen hauptsächlich ein Phänomen des 19. und 20. Jahrhunderts. So sind nicht nur vor 1700 in Rußdorf und Bräunsdorf insgesamt lediglich acht Fälle belegt, auch im Verhältnis zur Geburtenzahl respektive den Taufen nahm ihr Vorkommen nach 1700 zu. Die höchste Konzentration weist die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts auf, in dem, obschon nur 14,12 bzw. 16,89 Prozent des Untersuchungszeitraums abdeckend, 69,9 bzw. 50 Prozent aller Nottaufereignisse stattfanden. Abbildung 15 verdeutlicht nochmals den Niveausprung Mitte des 19. Jahrhunderts in Rußdorf. Wurden dort bis in die 1830er nie mehr als drei Prozent einer Kohorte notdürftig getauft, stieg deren Anteil bis in die 1860er auf das Doppelte und erreichte in den 1890ern bei 7,65 Prozent einen Gipfel. Der folgende Rückgang auf schließlich unter ein Prozent gestaltete sich ebenso rapide. Das Bräunsdorfer Beispiel kennzeichnen demgegenüber seit dem 18. Jahrhundert wiederholte massive Ausschläge. Zugleich trägt die prozentuale Entwicklung nach 1850 differierende Züge. An die Rußdorfer reichen die Bräunsdorfer Werte einzig in den 1860er und, inklusive des Maximums bei 8,25 Prozent, den 1870er Jahren heran. Gegenüber dem Nachbardorf erscheint die unmittelbar anschließende abrupte anteilige Abnahme verfrüht, dafür langfristig deutlich weniger intensiv. Inwiefern die schriftliche Überlieferung das Haustaufgeschehen akkurat wiedergibt, ist fraglich. Sicherlich unterschied sich die als Hauptrisikofaktor pränataler Entwicklungsstörungen und damit der Nottaufen identi zierte Ernährungssituation in den betrachteten Nachbardörfern einerseits zu keinem Zeitpunkt grundlegend und konnte andererseits ebenso schwerlich innerhalb eines Ortes binnen Dekaden wiederholt massiven Wandlungen unterliegen, sodass die vorgefundenen inter- wie intradörflichen Schwankungen daraus resultiert hätten. Desgleichen scheidet schwankende oder im 19. Jahrhundert gar zunehmende Religiosität aus. Vielmehr deuten teils äußerst hohe absolute wie prozentuale Differenzen aufeinanderfolgender Jahrzehnte qualitative Brüche innerhalb des Quellenmaterials an. Der Nottaufvermerk zählte nicht zu den obligatorischen Kirchbuchdaten und obwohl die meisten Pfarrer irreguläre Taufen durchaus kennzeichneten, machte es sich offenbar keiner zur konsequent befolgten Regel. Die 402

Vgl. Bräunsdorf, KB I, Taufen 1781, Nr. 19.

TOTGEBURTEN UND NOTTAUFEN

131

Abbildung 15: Nottaufenanteile an den Rußdorfer und Bräunsdorfer Geborenenzahlen nach Dekadenkohorten

tatsächliche, potentiell das überlieferte Niveau übersteigende Nottaufenzahl wird dadurch schwer rekonstruierbar. Unter der Annahme, Taufen am Tag der Geburt seien aus organisatorischen Gründen Notfällen vorbehalten gewesen, ließe sich das ermittelte Quantum um diese „Dunkelziffer“ ergänzen (Abb. 16). Die hohe statistische Unsicherheit bliebe jedoch für die Frühe Neuzeit unverändert bestehen. Geburtsdaten, die als Berechnungsgrundlage zwingend vorhanden sein müssen, wurden in Bräunsdorf erst seit den 1730er und in Rußdorf seit den 1760er Jahren in relevantem Maße verzeichnet, weswegen für die vorangegangene Zeit Rückschlüsse auf potentielle Nottaufereignisse in beiden Orten kaum möglich sind. Nach 1840 bzw. 1850 ändern sich die Zahlen auch unter Addition mutmaßlich einer selektiven Überlieferung zum Opfer gefallener Geschehnisse unmaßgeblich. Für das dazwischenliegende Jahrhundert treten allerdings signi kante Veränderungen zu Tage. In Rußdorf bleibt das Übergewicht der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts dennoch unverändert, obwohl nun ein anhaltender Niveausprung auf fünf Prozent in den 1790er Jahren zu verzeichnen ist. Hingegen verlagert sich der Bräunsdorfer Nottaufenschwerpunkt in die erste Hälfte des 19. Jahrhunderts, während die markanten prozentualen Schwankungen relativiert fortexistierten. Die Phase zwischen 1800 und 1829 zeigt nun die höchste Quote des gesamten Untersuchungszeitraums mit einem absoluten Maximum über 21,48 Prozent in den 1810er Jahren, aus denen keine einzige anormale Taufe explizit überliefert ist. Eine extreme Nottaufenhäufung in jenen drei Dekaden wirkt in-

132

GEBURTIGKEIT

Abbildung 16: Extrapolierte Nottaufenanteile an den Rußdorfer und Bräunsdorfer Geborenenzahlen nach Dekadenkohorten

des im Kontext der vorhergehenden und nachfolgenden Bräunsdorfer bzw. der gesamten Rußdorfer Entwicklung nicht weniger irreal als ihre gänzliche zeitweilige Absenz. Vermag die Nottaufenkurve trotzdem Hinweise auf historische Lebensbedingungen zu geben? Unter der Annahme, in erster Linie seien entwicklungsretardierte Säuglinge betroffen gewesen, deren physiologische De zite in Nährstoffunterversorgung während der Schwangerschaft wurzelten, ließen sich Veränderungen der durchschnittlichen Ernährungssituation durch sie abbilden. Eine Steigerung der Nottaufenquote indizierte eine Verschlechterung der Nahrungslage, die freilich nicht in anhaltendem Hunger, sondern zuerst in einseitigem Lebensmittelkonsum resultiert hätte. Tatsächlich war die Landwirtschaft Sachsens dessen starkem Bevölkerungswachstum bereits im späten 18. Jahrhundert immer weniger gewachsen. Auf dem Lande gerieten zuallererst die unterbäuerlichen Schichten in eine prekäre Lage, da sie zur Selbstversorgung nicht fähig waren und zugleich unter den hohen Nahrungsmittelpreisen litten. Besonders in Jahren schlechter Ernten trat die Not offen zu Tage. In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts besserte sich die Situation infolge der Agrarreformgesetzgebung und der industriellen, staatlich geförderten Professionalisierung der Agrarökonomie jedoch. Schon um 1850 brachte Sachsen im innerdeutschen Vergleich die höchsten Erträge hervor und verdoppelte sich etwa der durchschnittliche Fleischverbrauch pro Kopf zwischen 1834 und 1875. Obwohl wachsende Ernteerträge und zunehmende Fleischproduktion noch zu Beginn des Ersten Weltkrieges hinter der Bevölkerungsvermehrung zurückstanden, war

TOTGEBURTEN UND NOTTAUFEN

133

Abbildung 17: Anteil der Nottaufen am Geburtstag an der Gesamtnottaufenzahl

die Ernährungslage der Bevölkerung im späten 19. Jahrhundert besser als zu dessen Beginn. 403 Der Nottaufenhäufung zur selben Zeit im Untersuchungsgebiet steht diese Entwicklung klar entgegen. Entweder gibt die Überlieferung die tatsächliche Situation also nur verfälschend bzw. unzureichend wieder oder kam anderweitigen Faktoren entscheidende Bedeutung zu. Rückschlüsse auf die allgemeinen Lebensbedingungen von den häuslichen Taufen abzuleiten, verbietet sich daher. Parallel zur Totgeburten- nahm die Nottaufenzahl und -rate nach der Wende zum 20. Jahrhundert in Rußdorf und Bräunsdorf spürbar ab. Zugleich erlebte die industrielle Entwicklung des Großraums Limbach bis 1914 ihre höchste Blüte. Eine klare Verbindung zwischen wirtschaftlichem und soziodemographischem Prozess ist nicht erkennbar. Die rückläu gen Nottaufen resultierten wahrscheinlich aus dem Zusammenwirken kultureller Veränderungen, medizinischen Fortschritts und administrativer Reformen. Seit der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts zeugte das Taufverhalten von zunehmender Säkularisierung. So war die Festlegung des Tauftermins auf maximal den dritten Lebenstag zwar alter Kirchenbrauch, jedoch keine P icht. Die zuvor beschriebene Ausweitung der durchschnittlichen Geburt-Taufe-Intervalle ist Ausdruck der Abkehr von kirchlichen Dogmen hin zu individualisiertem Denken und Handeln, welches sich der Toleranz seitens einer liberalisierenden Gesellschaft in Grenzen sicher sein konnte. Darunter litt offenbar nicht zuletzt die Limbusgläubigkeit bzw. -furcht, wie die ebenfalls seit den 1840er Jahren anwachsenden mittleren temporalen Abstände zwischen Geburten

403

Vgl. Schäfer /Karlsch, Wirtschaftsgeschichte, S. 66ff.

134

GEBURTIGKEIT

und Nottaufen deutlich machen. Abbildung 17 zeigt exemplarisch den rapiden Rückgang der unmittelbar an die Geburt anschließenden Nottaufen nach 1850. Theoretisch damit in Kauf genommene präbaptistische Tode blieben dennoch zunächst beinahe aus. Erst ab 1875, auffällig parallel zur Einrichtung der sächsischen Standesämter 1876, verschieden regelmäßig ungetaufte Säuglinge meist im Alter mindestens eines Tages. Theodor Bernhard Granz wurde 1883 als erstes vor der Taufe verstorbenes Kind namentlich aktenkundig. Nach der Jahrhundertwende bleibt der amtliche Gebrauch der Begriffe „Sohn“ und „Tochter“ ohne Namenszusatz bereits wieder fast ausschließlich auf Totgeburten beschränkt. Obwohl das Säuglingssterberisiko im späten 19. Jahrhundert weiterhin hoch war und für unterentwickelte Neugeborene, nach wie vor Hauptbetroffene der frühen neonatalen Mortalität, auch im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts nur langsam zurückging, geriet der Taufritus sukzessive zum Ritual.

5. NUPTIALITÄT

„Die Eheschließung ist nicht in erster Linie ein demographisches, sondern viel mehr ein soziales, kulturelles und wirtschaftliches Phänomen.“ 404 Ihre demographische Dimension wurzelt in der Moralisierung, Normierung und Sanktionierung generativen Verhaltens. Mit der Christianisierung des west- und mitteleuropäischen Raums übernahm die Kirche schrittweise die Ehejurisdiktion und damit die Deutungshoheit über die Ehe, einem zentralen Element der Gesellschaftsstruktur. Während des 12. Jahrhunderts erlangte der eheliche Bund in der Westkirche den Sakramentsstatus. Heterosexuelle Lebenspartnerschaften wurden in der Folge sukzessive institutionalisiert. Zunächst beanspruchte die Kirche angesichts eines anhaltenden Diskurses um den Ehebeginn 405 lediglich das Recht für sich, die Verbindung aus klar de nierten Gründen, worunter etwa eine enge Verwandtschaft der Ehepartner oder ein unterschrittenes Mindestalter el, trennen zu können. Vormalige Scheidungsargumente wurden noch im Hochmittelalter in Ehehindernisse umgedeutet, welche eine Nichtigkeitserklärung seitens der Kirche motivieren konnten. 406 Obwohl der liturgische Trauritus bereits Jahrhunderte zuvor praktiziert wurde, denierte erst das auf dem Konzil von Trient 1563 beschlossene Dekret Tametsi verbindliche Verfahrensregeln, um die wirkungslos verbotenen klandestinen Eheschließungen endgültig unterbinden zu können. In Adaption der Beschlüsse des IV. Laterankonzils von 1215 sollten fortan nur jene Hochzeiten Geltung behalten, die in drei aufeinanderfolgenden Messen vom trauenden Geistlichen öffentlich angekündigt und danach durch beiderseitige Einverständniserklärung der Heiratswilligen bei Anwesenheit eines Priesters sowie mehrerer Zeugen geschlossen wurden. Über die ordentlich gespendeten Sakramente war Buch zu führen. 407 Erst seitdem rangierte Sexualität als Folge der formgerechten legitimen ehelichen Verbindung, während Geschlechtsverkehr bis dahin einem Eheversprechen gleichkam bzw. den Vollzug der Hochzeit anzeigte. Die tridentinischen Beschlüsse hatten nur Geltung, wo sie seitens Vertretern der katholischen Kirche coram publico verkündet wurden. Zwangsläu g blieben die reformierten Länder,

404 405

406 407

Vgl. Ehmer, Bevölkerungsgeschichte, S. 46. Einer Konsenstheorie, die der bloßen Einverständniserklärung beider Ehepartner die maßgebliche Bedeutung zumaß, stand die Kopulationstheorie gegenüber, laut der erst der vollzogene Beischlaf den Bund besiegele (matrimonium consummatum). Vgl. Rhode, Ulrich, Vorlesung „Das kirchliche Eherecht“, 2014, online: http://www.kirchenrecht-online.de/lehrv/ehe/e-skriptum.pdf [zuletzt aufgerufen am 20. 06. 2016], S. 6. Vgl. ebd., S. 6ff. Vgl. Fabritz, Peter, Sanation in radice. Historie eines Rechtsinstitus und seine Beziehung zum sakramentalen Eheverständnis der katholischen Kirche, Frankfurt a. M. 2010, S. 135 ff.

136

NUPTIALITÄT

darunter die sächsischen Gebiete, ausgeschlossen. 408 Nach Luther besaß die Ehe keinen Sakramentscharakter, stellte aber ebenfalls den moralisch-rechtlichen Rahmen für zulässige sexuelle Verbindungen dar. In protestantischen Territorien oblag das inhaltlich dem kanonischen ähnelnde Eherecht dem Landesherrn, dessen ausführende Organe geistlich-weltliche Konsistorien verkörperten. 409 Unabhängig von Ort und Zeit waren Heiraten im mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Europa von einer differierenden Mischung aus ökonomischen, religiösen, juristischen und brauchtümlichen Zwängen determiniert. Deren Missachtung, soweit möglich, zog in der Regel Sanktionen nach sich, die bis zu materiellen oder körperlichen Strafen bzw. sozialer Ausgrenzung reichen konnten. Vor allen Dingen wirtschaftliche Erwägungen spielten bei Ehepartnerwahl und Hochzeit eine zentrale Rolle. Die Familien bzw. die Haushaltsvorstände Heiratswilliger leiteten aus ihrer ökonomischen Beteiligung, sei es die Verp ichtung zur Auszahlung eines Erbteils bzw. der Morgengabe, sei es der Anspruch, die Kontinuität des eigenen Haushalts zu wahren und dessen Wert zu mehren etc., ein Vetorecht ab. Darüber hinaus griffen Herrschaftsträger in das Heiratsgeschehen bestimmter sozialer Gruppen aktiv ein. In Leibeigenschaftsgebieten entschied der Gutsherr letztendlich über die Umsetzung der Verlöbnisse jedes seiner unfreien Grundholden. Landesherrliche Konzessionen waren unter Umständen vorzuweisen, wenn der Bräutigam zum Beispiel ohne festen Wohnsitz, mittellos, Beamter oder Handwerksgeselle bzw. die Braut verwitwet war. Wer eine Trauung im städtischen Milieu anstrebte, mochte hingegen am geforderten Bürgerrecht scheitern. Allein auf dem Gebiet des Heiligen Römischen Reiches galt eine Vielzahl von Bezugsraum zu Bezugsraum unterschiedlicher, mehr oder minder restriktiver obrigkeitlicher Verordnungen, die zudem abhängig von der jeweiligen aktuellen Bevölkerungssituation oder wirtschaftspolitischen Prämissen mit zeitlich variierender Stringenz Umsetzung fanden. Im Endeffekt zielten Ehekonzessionierungen darauf ab, das Prekariat durch Ausschluss von der Reproduktion gering zu halten und dadurch die kommunale Armenfürsorge zu entlasten bzw. Vagantentum und Bettelwesen einzuschränken sowie exklusive sozioökonomische Kreise abzusichern. Heiraten sollte im Idealfall nur, wen die persönliche Lebenssituation zur Ernährung einer Familie befähigte. 410 John Hajnal erkannte in der ausgeprägten Orientierung an wirtschaftlichen Aspekten ein zentrales Element spezi schen west- und mitteleuropäischen Heiratsverhaltens. Dieses habe sich, so sein 1965 proklamiertes theoretisches Konzept des Western European Marriage Pattern, seit dem Frühmittelalter herausgebildet und basiere auf einer obligatorischen Verbindung zwischen Hochzeit und Haushaltsgründung. Einerseits 408 409 410

Vgl. Ehehinderniß, in: Deutsche Encyclopädie oder Allgemeines Real-Wörterbuch aller Künste und Wissenschaften, Bd. 7, Frankfurt a. M. 1783, S. 986–998, S. 995. Vgl. Ehehindernisse, in: Deutsche Encyclopädie oder Allgemeines Real-Wörterbuch aller Künste und Wissenschaften, Bd. 7, Frankfurt a. M. 1783, S. 998–999, S. 998. Vgl. P ster, Bevölkerungsgeschichte, S. 25f.

NUPTIALITÄT

137

folgten daraus relativ späte Heiraten mit entsprechend verkürzten ehelichen Fertilitätsphasen, da in der Regel der zukünftige Ehemann erst das nötige Vermögen akkumulieren musste. Entweder war ein Erbgang abzuwarten, eine der zahlenmäßig begrenzten Hofstellen zu erwerben oder waren schlicht in jahrelanger Lohnarbeit entsprechende Geldmittel anzusparen. Andererseits habe das ressourcengebundene Heiratsverhalten charakteristisch hohe Raten lediger Personen, die an den nanziellen oder strukturellen Hürden scheiterten, hervorgebracht. 411 Ganz im Sinne der malthusianischen „preventive checks“ habe die Fixierung generativen Verhaltens auf limitierte materielle Güter und Mittel zur relativen demographischen Selbstregulierung, mithin einer statischen agrarischen Bevölkerungsweise geführt. Ehmer, der den wirtschaftszentrierten Erklärungsansatz kritisierte, plädierte dafür, die konzessionierte Ehe als Mittel der Wahrung einer etablierten Sozialstruktur zu begreifen. Das im 18. Jahrhundert europaweit einsetzende Bevölkerungswachstum lässt seiner Einschätzung nach nicht auf hemmende Effekte begrenzter Ressourcen, insbesondere des für Agrargesellschaften maßgeblichen Nahrungsspielraums, schließen. Stattdessen hätten knappe, oft an Erbgang gebundene soziale Positionen die Haushaltszahl im Vorhinein begrenzt und das westeuropäische Heiratsmuster bedingt. 412 Kritiklos ist auch dieses in der Tradition Gerhard Mackenroths Theorems des „Stellenmechanismus“ stehende Konzept nicht geblieben. 413 Desgleichen relativieren zahlreiche jüngere Regionalstudien dezidiert die Vorstellung eines einheitlichen west- und mitteleuropäischen Heiratsmusters. Weder hohes Heiratsalter und hohe Ledigenquoten waren an jedem Ort kontinuierlich zu verzeichnen noch folgte das Heiratsverhalten überall denselben Prinzipien. Von den äußerst variablen rechtlichen Rahmenbedingungen und kulturellen Traditionen zu schweigen, wirkten etwa in Städten andere Regularien als auf dem Land, in Realteilungsgebieten andere als bei geltendem Anerbenrecht, in protestantischen Gegenden andere als in katholischen etc. Selbst zwischen den verschiedenen sozialen Gruppen innerhalb eines Bezugsraums konnten differierende Muster auftreten. Die Diversitätsfeststellung brachte bereits Knodel in seiner verschiedene deutsche Gebiete in den Blick nehmenden Arbeit dahin, das europäische Heiratsverhalten eher als Verbund anpassungsfähiger Systeme denn als einheitliches Muster zu begreifen. 414 Gemeinsam waren allen Heiratssystemen des mittelalterlichen und frühneuzeitlichen christlich geprägten west- und mitteleuropäischen Kulturraums die grundlegenden Merkmale eheliche Monogamie, gegen null tendierende Scheidungsraten sowie eine hohe Relevanz ökonomischer Faktoren für Ehepartnerwahl und Heiratszeitpunkt. Frag411 412 413 414

Vgl. Hajnal, Marriage, S. 101ff. Vgl. P ster, Bevölkerungsgeschichte, S. 81f. Vgl. Tobolka, Christian, Historisch Demographische Analyse des Dorfes Kucerov in Mähren 1682–1849 anhand von Kirchenmatriken, Wien 2013 [Hochschulschrift], S. 31. Vgl. Knodel, Behavior, S. 120.

138

NUPTIALITÄT

lich ist, in welchem Grade wirtschaftliche Interessen der bewussten Eingrenzung des individuell gewählten Kreises der Heiratskandidaten dienten, ihn in Form unbewusst erlernter und umgesetzter Verhaltensparadigmen beein ussten oder erst durch den Eingriff dritter Instanzen Relevanz erlangten. Zwischen dem 18. und 20. Jahrhundert begann in sämtlichen dem Geltungsbereich des westeuropäischen Heiratsmusters zugerechneten Territorien ein tiefgreifender Wandel weg von der statischen agrarischen hin zu einer wachstumsorientierten Bevölkerungsweise. Das Heiratsverhalten blieb davon nirgends unbetroffen. Traditionelle gesellschaftliche Normen verloren im Geiste von Romantik, Liberalismus und Säkularisierung an Bedeutung, nachdem die Vernunftehe 415 noch von der Aufklärung propagiert worden war. Zugleich entwickelte sich im Laufe des 19. Jahrhunderts innerhalb des aufgeklärten Bildungsbürgertums ein Gefühl und Vernunft verbindendes Familienideal. 416 Die Ehejurisdiktion wechselte vollständig in staatliche Hände über und das Heiratsverhalten selbst entzog sich zusehends dem ökonomischen Primat sowie dem Zugriff sonstiger externer Zwänge. 417 Ehe und Sexualität wandelten sich zu reinen Privatangelegenheiten.

5.1 ENTWICKLUNG DER HEIRATSZAHLEN Gleich der Natalität zählt die Nuptialität zu den grundlegenden demographischen Kenngrößen. Ihrem Wesen gemäß gehören Hochzeiten zu den wenigen Eckpunkten einer Vita, die in derselben Art primär das Leben mehrerer Personen beein ussen. Verbunden mit weiteren personi zierten biographischen Daten erlauben es Trauereignisse, sekundäre Faktoren wie zum Beispiel das Heiratsalter zu eruieren. Bei einer Familienrekonstruktion erweitert sich das mögliche Spektrum um den Ehezeitraum, den ehelichen Fertilitätszeitraum, den Abstand zwischen Hochzeit und erstem ehelichen bzw. letztem vorehelichen Kind etc. Zusätzlich bergen die bloßen aus der persönlichen Ebene herausgelösten aggregierten Heiratszahlen zuverlässigere Hinweise auf die Bevölkerungsentwicklung als etwa die Geburtenzahlen. Die nachfolgende Diskussion der Hochzeitskurve stellt zunächst über die übliche statistische Unruhe hinausgehende Veränderungen im Heiratsverhalten heraus und dient der Identi kation beein ussender Faktoren. Analog zur Geburtigkeitsentwicklung lassen kurzzeitige Ausschläge andere Hintergründe als langfristige Prozesse vermuten, obwohl beide entweder auf qualitative oder quantitative Änderungen der Bevölkerungs-

415 416 417

Vgl. Becker, Rudolph Zacharias, Noth- und Hülfs-Büchlein für Bauersleute. Nachdruck der Erstausgabe von 1788, Dortmund 1980, S. 188ff. Vgl. Gestrich, Andreas, Geschichte der Familie im 19. und 20. Jahrhundert, München 1999, S. 5 f. Vgl. Ehmer, Bevölkerungsgeschichte, S. 51.

ENTWICKLUNG DER HEIRATSZAHLEN

139

weise zurückgehen. Der sozioökonomische Charakter der Heirat bedingt eine im Vergleich zu anderen demographischen Kenngrößen geringe Ursachenvarianz langfristiger Tendenzen. Wirkende Zulassungsbeschränkungen im Sinne malthusianischer präventiver Regulative resultieren ungeachtet ihrer Art in relativ statischen Trauzahlen bzw. stufenartigen Niveauveränderungen. Hingegen zeichnet sich „freies“ Heiraten durch relativ stetiges Wachstum aus. Atypische punktuelle Ausschläge stehen per se in Verdacht, krisenbedingt aufzutreten. Typischerweise begleiten Einbrüche infolge vorübergehender Dezimierung der Heiratskandidaten durch Abwesenheit, anhaltender durch Tod oder Heiratsunlust das ursächliche Ereignis und schließt ein durch aufgeschobene Trauungen erzeugtes Hoch unmittelbar daran an, bevor der Graph auf den Status quo ante zurück ndet. Darüber hinaus vermutete Mendels auf Basis seiner Flandern-Studie einen allgemeingültigen positiven reaktiven Zusammenhang zwischen Nuptialität und gewerblichkonjunktureller Entwicklung in ruralen Protoindustrieregionen. 418 In reinen Agrargesellschaften steht dergleichen nicht zu erwarten, da die inhärente Stellenbindung den Hochzeitszeitpunkt erheblich determinierte. Die sozioökonomischen Rahmenbedingungen lassen in den Untersuchungsorten einen Wandel des Heiratsverhaltens erwarten. Trotz schlechter Böden bildete seit ihrer Entstehung im Hochmittelalter Ackerbau die hauptsächliche Lebensgrundlage der aus zwei Besitzständen zusammengesetzten Dorfgesellschaften. Den hofstellen- und landbesitzenden Vollbauern stand eine in deren Gütern mitlebende Bevölkerungsgruppe gänzlich Grundbesitzloser gegenüber. Dieser gehörten im erwerbsbiographischen Durchgangsstadium des Dienstboten be ndliche, bei ihrem Hausherrn in Diensten stehende und in der Regel ledige Personen ebenso an wie die zur Untermiete oder in einem mietähnlichen Verhältnis mitwohnenden Hausgenossen, welche ledig oder verheiratet de facto separate Haushalte symbolisierten. Der herrschaftliche Zugriff erstreckte sich in beiden Orten ausschließlich auf Grund und Boden, sodass Heiratsbeschränkungen per se maximal von landesherrlicher Seite ausgesprochen werden konnten. Des Weiteren herrschte in den betreffenden Grundherrschaften ein freies Erbrecht vor, wobei traditionell Anerbenrecht nach dem Ultimogeniturprinzip zur Anwendung kam. Weichende Erben wurden nach Gutdünken des pater familias vor dem Erbfall, meist anlässlich der Hochzeit oder bei Aufnahme eines Gewerbes bzw. beim Erbkauf nach schriftlich xierter vertraglicher Vereinbarung mit dem nachfolgenden Besitzer ausbezahlt. Der Erbgang der Immobilien selbst erfolgte nicht zwangsläu g in Form des Erbfalls, sondern wurde oft noch zu Lebzeiten des scheidenden Erblassers geregelt und vollzogen. Eine eventuelle Eheschließung des sogenannten Kurerben konnte zu jeder Zeit, auch vor dessen Gutsübernahme erfolgen. Fern jeder legislativen Regulierung heirateten traditionell nur jene Dorfbewohner, die potentiell der Ernährung einer Fa418

Vgl. Mendels, Population Pressure, S. 276 f.

140

NUPTIALITÄT

milie fähig erachtet wurden. Wer über Grundbesitz verfügte oder sich als designierter Erbe in Aussicht darauf befand, hatte auf dem Heiratsmarkt gute Chancen, wohingegen grundbesitzlose Einwohner, so sie kein einträgliches Gewerbe betrieben, meist dauerhaft ledigen Standes blieben. Die Zahl der Hofstellen de nierte im Zusammenspiel mit dem darin verfügbaren Wohnraum sowie der daran gebundenen Land äche ein Maximum an Haushaltungen. Freilich orientierte sich die Güterzahl ihrerseits an der durchschnittlichen Ertragskapazität der Dorf ur. Neue Familien konnten erst ansässig werden, wenn eine der quantitativ begrenzten sozioökonomischen Positionen vakant el. Sowohl die absolute jährliche Hochzeitszahl als auch die Nuptialität sollten in diesen statischen Agrargesellschaften unter geringen natürlichen Schwankungen auf einem niedrigen Niveau verharren. Vergewerblichung und später industrielle Entwicklung unterwarfen die Ortschaften einer tiefgreifenden strukturellen Transformation. Ab dem 16. Jahrhundert bildeten sich mit der Gärtner- und Häuslerschaft dritte und vierte Besitzstände heraus (Kap. 8.1), die ihren Lebensunterhalt teils aus agrarischer Lohn-, teils aus massengewerblicher Arbeit bezogen. Während des 19. Jahrhunderts avancierte die nun vorrangig in Industrie und Handwerk tätige Einwohnerschaft zur bestimmenden sozialen Größe. Spätestens in dieser Zeit sollten die Heiratszahlen in einen langfristigen Wachstumsprozess übergehen. Infolge der Ablösungsverträge wurde der bäuerliche Besitz ab der zweiten Hälfte des 19. Jahrhundert zur frei handelbaren Ware. Wohnraum konnte seitdem potentiell jederzeit bedarfsgerecht neu geschaffen werden. Die mit der industriellen Lohnarbeit einhergehende Trennung von Wohnraum und Arbeitsplatz leistete der Aushebelung alter struktureller Bevölkerungsregulative zusätzlich Vorschub, während ökonomische Sättigungseffekte einer ungehemmten Bevölkerungsvermehrung weiter im Weg gestanden haben müssten. Sachsen erlebte in Begleitung seines zwischen 1827 und 1914 kontinuierlichen Bevölkerungswachstums eine fast ebenso stetige Zunahme der Hochzeitszahlen bei kaum schwankender Nuptialität von sieben bis elf Eheschließungen pro 1000 Einwohnern. Der Erste Weltkrieg unterbrach die Progression, welche in einem Gipfel 1920 endgültig endete. 419 Eine analoge Entwicklung ist für Rußdorf und Bräunsdorf erwartbar. Schließlich ist mit einer Neuorientierung des Heiratsverhaltens in den Untersuchungsorten an gewerblichen Konjunkturzyklen im 19. Jahrhundert zu rechnen, sah doch Burkhardt eine Verbindung dessen für Sachsen bereits seit 1827 als gegeben an. 420

419 420

Vgl. Burkhardt, Bevölkerung, S. 28ff. Vgl. ebd., S. 22.

ENTWICKLUNG DER HEIRATSZAHLEN

141

Rußdorf Die Hochzeitszahlenentwicklung offenbart eine von Geburtigkeit und Mortalität differierende Verlaufsform, der die charakteristische glockenförmige Kurve im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert abgeht. Über den gesamten Untersuchungszeitraum sind 3710 Eheschließungen bezeugt, an denen mindestens ein Ortsansässiger teilnahm. 421 Diese verteilten sich, wie angesichts der wachsenden Bevölkerung zu erwarten, ähnlich den Geburten sehr ungleichmäßig über die betrachteten 354 Jahre. Zwischen 1880 und 1929 (14,12 % des UZ) verzeichneten die Personenstandsakten 34,21 Prozent (1269) aller Trauungen, wohingegen auf die 218 Jahre vor 1800 lediglich 30,85 Prozent (1145) entelen. Während des 19. Jahrhunderts überstieg die Gesamtheiratszahl jene des 17. Jahrhunderts um das Vierfache und wuchs selbst gegenüber dem dazwischenliegenden Zentennium noch um 135,79 Prozent an. Obwohl die markanten Steigerungsraten der Natalitätszahlen dadurch noch weit unterschritten wurden, spiegeln auch die Rußdorfer Hochzeitszahlen ein kontinuierliches, Frühneuzeit und Neuzeit durchziehendes Bevölkerungswachstum wider. Die nach Dekaden zusammengelegten Trauungen zeichnen in Tabelle 9 eine differenzierte Entwicklung. Am Beginn der Untersuchung steht zwischen 1590 und 1629 eine hohe Nuptialität von teils durchschnittlich ca. 20–25 Eheschließungen pro 1000 Einwohnern jährlich, unmittelbar gefolgt von einem anhaltenden Heiratstief in den 1630er bis 1670er Jahren. Lag diesem keine Unterregistrierung durch Aussparung in Rußdorf lediglich proklamierter Paare zugrunde, wurzelte es in stärkerer Ausrichtung des Ehepartnerwahlverhaltens nach innen. Während zwischen 1590 und 1619 durchgängig 20 Prozent der Ehen zwischen Einheimischen geschlossen wurden, waren es zwischen 1620 und 1679 bis zu 45 Prozent (Kap. 5.7). Darin eine Reaktion auf Krisen zu vermuten, wäre verfehlt. Einzig der Dreißigjährige Krieg barg überhaupt das Potential, durch Erzeugung eines längerfristigen Unsicherheitsemp ndens der Lokalbevölkerung die kleinräumige Mobilität anhaltend einzuschränken. Jedoch blieb der Einbruch der Rußdorfer Heiratszahlen nicht auf dessen Zeit beschränkt, noch el das absolute Minimum der 1670er in seinen unmittelbaren Wirkungshorizont. Freilich könnte dieses als ein demographisches Echo der Kriegsereignisse, verursacht durch verminderte Geburtenzahlen bzw. erhöhte Sterblichkeit, gelesen werden. Warum sich die Rußdorfer in einigen Jahrzehnten allerdings stärker untereinander ehelich banden, bleibt offen. Die Trauzahlen des Tiefs selbst erklären sich hingegen wie folgt: In Jahren vermehrten exogenen Heiratens stehen höhere Werte zu erwarten denn in Jahren endogener Ausrichtung. Treten zwei Einheimische miteinander vor den Altar, resultiert daraus eine Hochzeit. Wählen beide außerhalb ihres Heimatdorfs, verzeichnen die Kirchenbücher 421

Hierunter sind nicht nur vor Ort statt ndende Hochzeiten (2959) zusammengefasst, sondern ebenso alle Proklamationen. Die dreifache Hochzeitsankündigung erfolgte in der Regel in den aktuellen Wohnorten beider Ehepartner, musste also nicht mit dem Trauort identisch sein.

142

NUPTIALITÄT

zwei Trauungen. Wenn in den 1620er Jahren ein relativ großer Anteil einheimischer Ehen (38,89 %) mit einer vergleichsweise hohen Heiratszahl zusammenfällt, indiziert dies eine mit den beiden vorangegangenen Jahrzehnten vergleichbare Menge heiratsfähiger Personen vor Ort. In den beiden folgenden Jahrzehnten sanken beide Werte, was auf eine entsprechend geringere Zahl Heiratsfähiger schließen lässt. Obwohl die Rußdorfer Hochzeitszahl während der 1660er und 1670er Jahre weiter auf ein Allzeittief zurückging, verkleinerte sich das Quantum der beteiligten Einheimischen gegenüber 1640 nicht, da deren Ehen untereinander nun über 40 statt der vormals 28 Prozent aller Trauungen ausmachten. Dergleichen Wechselwirkungen bestimmen die Nuptialitätsentwicklung des gesamten Untersuchungszeitraums, sodass die bloßen Heiratszahlen nur bedingt Rückschlüsse auf die Bevölkerungsentwicklung erlauben. Über die beiden letzten Dekaden des 17. Jahrhunderts weist die Menge der Heiratsfähigen einen progressiven Trend auf, der zwischen 1700 und 1719 stagniert, sich 1720–1739 sowie in den 1750ern zeitgleich mit einer massiven Mehrung der Häuslerstellen (Kap. 8.1) erneut aufwärts richtet, um über den restlichen Zeitraum des 18. Jahrhunderts abermals zu ruhen. Weitere signi kante Niveausteigerungen entfallen auf das erste, vierte und sechste Jahrzehnt des 19. sowie den Beginn des 20. Jahrhunderts bis zum Ersten Weltkrieg. Dessen negativer Ein uss auf die Heiratsfreudigkeit ist angesichts des Rückgangs der Eheschließungen der 1910er Jahre unverkennbar, fällt aber verglichen mit älteren Einbrüchen nicht übermäßig ins Gewicht. Im Ganzen weisen die Rußdorfer Trauzahlen seit dem ausgehenden 17. Jahrhundert eine linear steigende Tendenz auf. Negative Reaktionen auf Krisensituationen deuten sich in den Dekadenkohorten ausschließlich im Umfeld des Dreißigjährigen Krieges und des Ersten Weltkrieges an. Eine deutlich engere, positive Bindung scheint demgegenüber mit soziostrukturellen Prozessen bestanden zu haben. Die Entwicklung der jährlichen Eheschließungszahl zeigt unter relativ starken Schwankungen ein ähnliches, freilich weiter differenziertes und dadurch unruhigeres Bild. Abweichungen um bis zu 50 Prozent vom langjährigen Mittel im Positiven wie Negativen gehören über den gesamten Untersuchungszeitraum ob geringer Werte zum Normalzustand. Selbst Positiv- und Negativausschläge um 100 Prozent kommen immerhin in einem Drittel der Jahre vor, ohne zwangsläu g auf Krisen hinzuweisen. Ausgehend von den vorangegangenen Ausführungen werden vier Phasen der Rußdorfer Trauzahlentwicklung ersichtlich. Vor dem Überlieferungsbeginn 1582 einsetzend, reicht die erste Periode bis in die 1620er Jahre. Ihr Kennzeichen ist eine relative quantitative Statik auf, gemessen an der damaligen Gesamtbevölkerung von über 150– 200 Personen, hohem Niveau von durchschnittlich vier Hochzeiten pro Jahr, die dem Konzept des westeuropäischen Heiratsmusters bzw. einer statischen Agrargesellschaft zu entsprechen scheint. Der zweite, bis in die 1670er Jahre währende Abschnitt kopiert die Charakteristika des ersten vollumfänglich, bewegt sich aber auf einem niedrigeren

143

ENTWICKLUNG DER HEIRATSZAHLEN

Tabelle 9: Rußdorfer Hochzeiten nach Dekadenkohorten Trauungen (1580) 1582–1589 1590–1599 1600–1609 1610–1619 1620–1629 1630–1639 1640–1649 1650–1659 1660–1669 1670–1679 1680–1689 1690–1699 1700–1709 1710–1719 1720–1729 1730–1739 1740–1749 1750–1759 1760–1769 1770–1779 1780–1789 1790–1799 1800–1809

Wachstum

0,76 % 1,08 %

52 40

1,40 % 1,08 %

42

1,13 %

5,00 %

35

0,94 %

–16,67 %

33 38 30

0,89 % 1,03 % 0,81 %

–5,71 % 15,15 % –21,05 %

27 51

0,73 % 1,38 %

–10,00 % 88,89 %

50 37 44 64

1,35 % 1,00 % 1,19 % 1,73 %

–1,96 % –26,00 % 18,92 % 45,45 %

67 67

1,81 % 1,81 %

4,69 % 0,00 %

81 76

2,19 % 2,05 %

20,90 % –6,17 %

72 75 93

1,94 % 2,02 % 2,51 %

–5,26 % 4,17 % 24,00 %

42,85 % (14,29 %)1 30,00 % –23,08 %

99

2,67 %

6,45 %

117 117 134

3,16 % 3,16 % 3,61 %

18,18 % 0,00 % 14,53 %

110 180 200

2,97 % 4,86 % 5,40 %

–17,91 % 63,64 % 11,11 %

191 232

5,15 % 6,26 %

–4,50 % 21,47 %

1890–1899 1900–1909 1910–1919

221 288

5,96 % 7,77 %

–4,74 % 30,32 %

247

6,66 %

–14,24 %

1920–1929

281

7,58 %

13,77 %

1930–1935

148

3,99 %

–47,33 %

1810–1819 1820–1829 1830–1839 1840–1849 1850–1859 1860–1869 1870–1879 1880–1889

1

prozentualer Anteil

28 (35)1 40

Hochrechnung durch entsprechende Addition des Durchschnittswertes der Kohorte.

144

NUPTIALITÄT

Niveau von durchschnittlich drei Eheschließungen per annum sowie infolge sukzessive wachsender Einwohnerschaft umso mehr verringerter Nuptialität. Daraus resultiert eine leichte tendenzielle Wannenform der Kurve. Eine dritte Phase umspannt das gesamte 18. und 19. Jahrhundert, ehe sie in den Wirren des Ersten Weltkrieges ihr Ende ndet. Deren hauptsächliches Spezi kum ist ihre diametral zur traditionellen Statik stehende langfristige Wachstumsorientierung. Das absolute jährliche Heiratsquantum nahm stufenweise, tendenziell linear zu. Vorläu ge Spitzenwerte lösten einander in fortschreitend kürzeren Abständen ab (1726, 1808, 1826, 1853, 1856, 1867, 1872, 1884, 1886, 1899, 1900, 1903). Unterdessen nahmen auch die momentanen Minima höhere Werte an, während die Schwankungsbreite merklich anstieg. In den einstelligen Bereich rutschten die Werte letztmalig 1877. Zwei Dekaden später heirateten zuletzt weniger denn 20 Paare. Ebenfalls in den 1890er Jahren sank die Nuptialität, nachdem sie seit Mitte des 17. Jahrhunderts durchschnittlich bei 12–14 Promille gelegen hatte und in den 1850/1860er Jahren vorübergehend auf rund 16 gestiegen war, als Folge exorbitanten Bevölkerungswachstums auf durchschnittlich acht ab. Der Erste Weltkrieg unterbrach das anhaltende Wachstum der Heiratszahl radikal. Allerdings knüpft der Kurvenverlauf der Kriegsjahre 1914–1917 mit seiner moderaten Regression an einen 1912 begonnenen Schrumpfungsprozess an. Erst das momentane Minimum von 1918, welches dem Tiefstand von 1834 entspricht, ist zäsierender Natur. Die Entscheidung, die Nachkriegsjahre als eigene, nale Periode zu deklarieren, leitet sich aus der Entwicklung der Dekadenkohorten mit ihrer nach 1909 rückläu gen Tendenz ab. Keineswegs schlagen die Trauzahlen dieser Zeit konsequent mit vergleichsweise niedrigem Niveau zu Buche. Im Gegenteil wird 1919/1920 nochmals ein neues, absolutes Maximum (je 47) de niert. Jedoch bleibt das Ausmaß des maximalen Schwankungsrahmens (12–47) des letzten Abschnitts über den gesamten Untersuchungszeitraum ohne Beispiel und verleiht ihm den Anstrich hoher Inkonsistenz. Dieser endet in den 1930er Jahren mit einem historischen Tiefstand der Rußdorfer Heiratshäu gkeit von 6,81 Eheschließungen pro 1000 Einwohnern (1933). Unklar bleibt, ob ursächliche Interdependenzen zwischen dem Wachstum der Einwohnerzahl und dem lokalen Heiratsverhalten bestanden bzw. welche Gestalt diese im Zweifelsfall annahmen. Führte erst eine Bevölkerungszunahme zur Vermehrung der Heiratsfähigen ohne erwähnenswerten zeitlichen Versatz bei massiver Zuwanderung lediger Personen oder im Versatz bis zu einer Generation bei starkem Zuzug von Familien bzw. Steigerung der Kinderzahlen? Verursachten gehobene Heiratszahlen infolge vermehrter dislozierter Ehepartnerwahl, d. h. auf Basis derselben Menge ansässiger heiratsfähiger Personen Bevölkerungswachstum? War dieses nicht gemäß des „Stellenmechanismus“ nach Mackenroth an die Zahl der verfügbaren sozioökonomischen Stellen gebunden? Weiterhin ist fragwürdig, ob und wie das Rußdorfer Heiratsverhalten auf kurzzeitig wirkende Ein ussfaktoren reagierte. Temporäre Positiv- oder Negativausschläge der

ENTWICKLUNG DER HEIRATSZAHLEN

145

Abbildung 18: Jährliche Rußdorfer Heiratszahlen und Leipziger Roggenpreisindex 1582–1799 Vgl. Rahlf, Getreidepreise.

Heiratszahl um ein unverändertes Mittel sollten, sofern ihnen nicht statistische Streuung zugrunde lag, auf die Einwirkung positiver Hemmnisse zurückgehen. Zwei Formen der Beein ussung sind denkbar. Einerseits vermögen Krisen in die personellen wie materiellen Voraussetzungen des Heiratsgeschehens direkt massiv dezimierend einzugreifen und ihm dadurch kurzzeitig oder auf lange Sicht die Grundlage zu entziehen. Andererseits senken unmittelbar erfahrene Kriege, Teuerungen oder Krankheiten unter Umständen die Heiratslaune. Sichtbare Reaktionen des Heiratsverhaltens wurden durch drei der entweder Rußdorf oder dessen Bewohner unmittelbar einbeziehenden kriegerischen Kon ikte des 16. bis 20. Jahrhunderts angeregt. Während des Dreißigjährigen Krieges wirkte ein Konglomerat aller „positive checks“, sodass keine eindeutigen Kausalitäten identi zierbar sind. Belege für kriegerisches Treiben im Limbacher Land liefern die Kirchbücher ab Oktober 1632. Die einzigen beiden Hochzeiten des Jahres unter Rußdorfer Beteiligung fanden jedoch in eben diesem letzten Jahresviertel statt. Analog lag die Trauzahl 1633 leicht über dem Durchschnitt der vorangegangenen 50 Jahre bei fünf, obwohl die Kroaten noch bis in den September vor Ort marodierten. Andererseits lassen die zwischen 1636 und 1644 äußerst wenigen Eheschließungen (Ø 1,67) eine Korrelation mit den häu gen Truppendurchmärschen bzw. Plünderungszügen vermuten. In gleicher Weise mag die für das gesamte Jahr 1813 bezeugte Truppenpräsenz im Großraum Chemnitz 422 während des Sechsten Koalitionskrieges den

422

Vgl. Heimatstube Wittgensdorf, Riedel-Richtersche Chronik, 1790–1844, S. 46 ff.

146

NUPTIALITÄT

Abbildung 19: Rußdorfer Heiratszahlen 1800–1935

zeitgleichen moderaten Einbruch der Heiratszahl auf neun verantwortet haben. Das für schwere demographische Krisen typische anschließende Nuptialitätshoch fehlt allerdings in beiden Fällen. Im Gegensatz dazu reagierte das Rußdorfer Heiratsverhalten mustergültig auf den Ersten Weltkrieg. Die vorgenannten militärischen Kon ikte spürte die gesamte Dorfbevölkerung am eigenen Leib. An den Kampfhandlungen selbst nahmen jedoch, wie auch bei den restlichen Kriegen des 18. und 19. Jahrhundert mit sächsischer bzw. deutscher Involvierung, nur wenige Einwohner aktiv teil. Die „Urkatastrophe Europas“ wirkte hingegen auf die lokale Bevölkerungsentwicklung vorrangig durch die Einbeziehung bedeutender Teile der jungen ledigen bzw. potentiell prokreativen Männerschaft fern der Heimat. Deren Abwesenheit verminderte nicht nur die Konzeptionszahl in signi kantem Maße, sondern beeinträchtigte auch das Heiratsgeschehen. Bereits 1914 waren vier der elf seit Kriegsbeginn geschlossenen Ehen Kriegstrauungen 423. Über die Folgejahre sank die Hochzeitszahl nur leicht. Gleichzeitig stieg der Anteil der beschleunigten Eheschließungen vorerst an. Im Jahr 1915 lag er bei 50, 1916 bei 100 Prozent. Während der beiden nalen Kriegsjahre gingen Trauungen wie Kriegshochzeitenanteile zurück. Die zunehmende Verschlechterung der wirtschaftlichen Situation trug hierzu sicherlich bei. Von größerer Relevanz war aber vermutlich ein nuptialer Ermüdungseffekt. Mit je-

423

Eine vereinfachte und beschleunigte Form der Hochzeit etwa ohne Aufgebote oder durch Ferntrauung unter Anwesenheit lediglich der Braut. Auch postume Eheschließungen Gefallener sind möglich, um den Witwenstatus der hinterbliebenen Verlobten rechtlich zu legitimieren.

ENTWICKLUNG DER HEIRATSZAHLEN

147

dem Kriegsjahr stieg die Menge der beteiligten Soldaten, welche im Umkehrschluss dem heimischen Heiratsmarkt abgingen. Wer im Heimaturlaub den Bund fürs Leben schloss, hatte seine Partnerin mit Sicherheit meist schon vor dem Militärdienst näher kennengelernt. Für Frauen, die vor Kriegsbeginn keine Beziehung führten bzw. deren tatsächlicher oder potentieller Verlobter el, verkleinerte sich das „Angebot“ beständig. Von den 1917 heiratenden 17 Männern standen dementsprechend zwölf im Krieg und waren fünf weitere Ortsfremde offenbar vom Kriegsdienst verschont geblieben. Im letzten Kriegsjahr erreichte die Absenz ihren Höhepunkt. Nurmehr sieben Hochzeiten von Rußdorfer Einwohnern sind für 1918 bezeugt, derer sechs vor Kriegsende stattfanden. Unter den Bräutigamen befanden sich ein 23-jähriger Kanonier, ein 24-jähriger Unterof zier sowie ein 28-jähriger Gefreiter, die allesamt im Schnellverfahren vor den Altar traten. Einen verwitweten 58-jährigen Fabrikarbeiter und einen 51-jährigen ostpreußischen Schuhmacher hatte das fortgeschrittene Alter vor der Einberufung bewahrt. Der Letzte im Bunde, ein 22-jähriger Oberleitungsgehilfe bei der Leipziger Straßenbahn, war offensichtlich ebenfalls nicht eingezogen worden oder zumindest reklamiert. Unmittelbar nach Kriegsende schossen die Hochzeitszahlen trotz 142 Gefallener unter der Rußdorfer Männerschaft erwartungsgemäß für zwei Jahre, mit einem Kriegswitwenanteil von 11,7 Prozent, exorbitant in die Höhe. 424 Weitaus öfter und konsequenter als Kriege griffen epidemisch auftretende Infektionskrankheiten in das Bevölkerungsgefüge Rußdorfs ein. Dies lässt jedoch keineswegs automatisch auf eine stärkere Anfälligkeit des Heiratsverhaltens dafür schließen. Binnen dreieinhalb Jahrhunderten traten in Rußdorf lediglich zwei nachweisbare epidemische Ereignisse auf, mit denen das übliche Maß verlassende Nuptialitätsminima einhergingen. Nachdem sie schon von Juli bis Oktober 1633 im Dorf gewütet hatte, regierte die Pest während April und Mai 1639 mit voller Stärke. Waren 1633 trotzdem fünf Paare in den Frühjahrsmonaten bzw. zum Jahresende im November vor den Altar getreten, heiratete sechs Jahre später auch in den übrigen Monaten niemand. Ein anschließendes Hochzeitshoch blieb in beiden Fällen aus. Hingegen stieg die Heiratszahl 1795 auf einen nicht übermäßig hohen, aber durchaus beachtlichen Wert (13 gegenüber Ø von 7,9 zw. 1785 u. 1794). Im Vorjahr hatte ein markantes Nuptialitätstief mit einem ganzjährig grassierenden Fieber korrespondiert. Warum sich die drei Trauungen des Jahres auf den Mai konzentrierten, ist nicht nachvollziehbar, zumal der Monat keineswegs von Fiebertoten frei blieb. Den bedeutendsten Ein uss auf die Heiratsfreudigkeit sollten wirtschaftliche Veränderungen nehmen. Die Hochzeit in ihrer Funktion als sozioökonomischer Lebens- und Sicherungsvertrag mit demographischen Elementen setzte in Spätmittelalter und Neuzeit einen angemessenen Heiratsfonds in gebundenem oder ungebundenem Vermögen beider Ehepartner voraus. Theoretisch galt dessen Umfang dann für ausreichend, wenn 424

Vgl. EPA Rußdorf, KB XII: Trauregister 1904–1935.

148

NUPTIALITÄT

der Bräutigam und zukünftige Haushaltsvorstand in der Lage war, eine Familie respektive einen Haushalt dauerhaft zu versorgen. In der Praxis trat die gesamte „familia“ als Wirtschaftseinheit in Erscheinung. Ihre Mitglieder erfüllten variabel klar de nierte Aufgabenbereiche, weswegen auch jegliches Ausscheiden Einzelner nicht ohne Weiteres kompensiert werden konnte. Eheeintrittsvermögen des Mannes bzw. Einbringen der Frau waren in erster Linie für die persönliche Stellung innerhalb des Heiratsmarkts relevante Größen. Bis zu einem gewissen Grade ließ sich daran unter anderem ermessen, welche ökonomische Zukunft die Verbindung mit einem potentiellen Partner versprach. Der für angemessen erachtete Umfang des Heiratsfonds musste erheblich differieren. Selbst staatliche, lediglich Mindestanforderungen de nierende Heiratsschranken variierten erheblich je nach Ort, Zeit und Intention bzw. Motivation. Individuelle Ansprüche zogen aus dem persönlichen sozialen und wirtschaftlichen Hintergrund, dem eigenen Lebensalter, dem Selbstverständnis, dem Kulturraum, der Epoche, den geltenden politischen und ökonomischen Rahmenbedingungen, dem realen Lebensumfeld etc. Nahrung. Ungeachtet der konkreten Gestalt benötigter Vermögenswerte entwickelten sich die Beschaffungsbedingungen proportional zur individuellen Wirtschaftssituation, die sich ihrerseits mehr oder minder an der konjunkturellen Entwicklung orientierte. Ökonomische Krisen lassen daher Einbrüche vor allem der Hochzeitszahl erwarten. Gleichwohl wirkte nicht jede Missentwicklung auf die gesamte Gesellschaft bzw. für jede Gruppe in ähnlicher Intensität. Des einen Krise mochte des anderen Konjunktur bedeuten. Während Nahrungsmittelproduzenten respektive die zur Selbstversorgung fähigen Bauern zumindest von gewerblichen Krisen nur indirekt betroffen waren, litten im zweiten und dritten Sektor Beschäftigte sowohl unter diesen als auch den gesamtgesellschaftlich wirkenden Subsistenzkrisen unmittelbar. Materielles Vermögen konnte je nach Ausprägung und Situation einen mit dessen Umfang zunehmenden Schutzeffekt bieten. Teuerungen mussten demnach auch auf das Heiratsverhalten der einzelnen dörflichen Schichten verschiedenartig Ein uss nehmen. Grundbesitzlose und Kleinstellenbesitzer waren zuvorderst substanziell gefährdet. Heiratswillige dieser sozialen Kreise sahen ihren zum großen Teil oder vollständig monetären Heiratsfonds entweder rasch schwinden oder standen schlicht erschwerten Akkumulationsbedingungen gegenüber. Weichende Erben mussten darüber hinaus in wirtschaftlich schwierigen Zeiten unter Umständen vorläu g Abstriche ihrer Auszahlungssummen bzw. längere Wartezeiten hinnehmen. Der Heiratsfreudigkeit vollbäuerlicher Anerben dürften indes in erster Linie die erwartbaren Kosten der auch zum Statussymbol dienenden Hochzeitsfeierlichkeiten selbst Abbruch getan haben. Sie konnten mit relativer Sicherheit auf ihr Erbe als ausreichender Vermögensvoraussetzung vertrauen und bei Absenz anderweitiger triftiger Gründe das Ende einer Krise abwarten. Dennoch zeitigte nicht jede im Raum Limbach spürbare Teuerung eindeutig zuordenbare Reaktionen der Nuptialität. Zwischen 1616 und 1624 stieg der Getreidepreis um

ENTWICKLUNG DER HEIRATSZAHLEN

149

das Zehnfache 425 – der Scheffel Roggen galt 1622 zeitweise 44 Gulden 426 – und die Lebensmittelpreise im Allgemeinen zogen stark an 427. Die Rußdorfer Heiratszahl verharrte allerdings bis 1621 auf mittlerem bis leicht überdurchschnittlichem Niveau. Ab 1622 ging sie zwar zurück, jedoch erfolgte erst 1624/1625 ein Einbruch moderaten Ausmaßes von vier auf schließlich zwei Hochzeiten. Eine weitaus geringere Teuerung – der Scheffel Roggen stieg von 30 auf 84 Groschen 428 – el 1684 mit einem gleichwertigen momentanen Minimum zusammen. Die leichte Teuerung von 1746 lässt weder quantitative noch qualitative Auswirkungen erkennen. Zu den sieben, das gesamte Spektrum der ruralen Besitzstände widerspiegelnden Bräutigamen dieses Jahres (Ø 1736–1745 bei 6,9) zählten ein Anspanner, ein Handbauer, vier Kleinstellenbesitzer sowie ein Einwohner. Ebenso existiert keine Evidenz einer Reaktion auf die sächsische „Kipper- und Wipperzeit“ zum Ende des Siebenjährigen Krieges 1762/1763. Zwar befand sich die Rußdorfer Hochzeitszahl 1762 auf dem niedrigsten Stand (6) der gesamten Kriegszeit bzw. seit 1754 (Ø 1752–1761 bei 8,2), erreichte aber andererseits 1763 einen Hochstand (11). Zudem entstammten die Heiratenden beider Jahre wiederum allen Schichten. Die schwere Subsistenz- und Gewerbekrise 1769–1772 beein usste sicherlich auch die bereits ab 1768 niedrige Nuptialität. Zwei Drittel der 19 in diesem Zeitraum vor den Altar tretenden Männer rekrutierten sich allerdings aus unterbäuerlichen, zumeist gewerblich tätigen und im Verdacht geringerer Krisenresistenz stehenden Bevölkerungskreisen. Die Liste ließe sich unverändert bis ins 20. Jahrhundert fortsetzen, ohne dass mit den verwendeten Untersuchungsmethoden anhand der Rußdorfer Daten Hinweise auf eine potentielle Schichtenvarianz in der Reaktion des Heiratsverhaltens auf exogene Faktoren erkennbar wären. Der Peniger J. E. A. Jacobi berichtet 1791, „eine sechs bis sieben jährige heimliche Theuerung, nehmlich das Sipmaas Korn zu 1 rth. 18 gr. Gerste 30 gr. und Haver zu 22 bis 24 gr. hatte viel arme Leute gemacht“ 429, und tatsächlich brachen die Rußdorfer Heiratszahlen 1787–1789 deutlich ein. Keine 20 Jahre später „entstand große Hungersnoth“, „nachdem in diesem Jahr [1805] der Gedreitepreis sehr hoch“ gestiegen war. 430 Dem mag das Heiratsverhalten der Rußdorfer Rechnung getragen haben, doch mutet das Niveau der Hochzeitszahl lediglich auf die positive Spitze des Vorjahres bezogen verringert an, indem es jenem der Jahre 1800–1803 exakt entspricht. Mit einem ebenso hohen Preisniveau scheint 1810 ein signi kanter Einbruch auf vier Trauungen (Ø 1800–1809 bei 9,9) zu korrelieren. Dem steht allerdings Jacobis Bericht vom November 1810 entge-

425 426 427 428 429 430

Vgl. Callenberg, Falken, S. 7. Zum Vergleich verkaufte der Rußdorfer Christoph Lindner 1613 sein volles Anspanngut für 800 Gulden. – Vgl. ThStA Abg, Amtsgericht Altenburg, C I Loc. 1, Nr. 136, fol. 103. Vgl. Callenberg, Grumbach, S. 29. – Ein Meißner Gulden hielt 23 Groschen. Vgl. ebd., S. 31. Fritzsche, Jacobi, S. 140. Heimatstube Wittgensdorf, Riedel-Richtersche Chronik, 1790–1844, S. 29.

150

NUPTIALITÄT

gen: „Das beste aber war, daß der liebe Gott die seit vielen Jahren gehabte Theuerung wieder gemildert.“ 431 Wirkten hohe Lebensmittelpreise dämpfend auf die Heiratsfreudigkeit der Rußdorfer, sollten die vorangegangenen Jahre dementsprechend gleichfalls mit niedriger Nuptialität zu Buche geschlagen haben. Stattdessen wurde 1808 einer neuer Hochzeitsgipfel verzeichnet. Das europäische „Jahr ohne Sommer“ 1816 provozierte keine erkennbare Reaktion des Heiratsverhaltens und selbst die schwere Krise des protoindustriellen Textilgewerbes der späten 1830er und frühen 1840er Jahre, die das damals bereits gewerblich dominierte Dorf bis 1843 hart traf, hinterließ keine eindeutigen Spuren, obgleich das Hochzeitsquantum per annum zwischen 1835 und 1845 ein Tal durchlief. Weitaus markantere Züge trägt auf den ersten Blick das mit neun Trauungen 1854 relativ niedrige Heiratsquantum (Ø 1844–1853 bei 14,9). Eine alte ledige Magd starb 1855 in Rußdorf, wohin sie „zu Besuch gekommen u. hatte gern dableiben wollen, da sie in d. theuren Zeit kein Brod gehabt hat“. 432 Unter Umständen korrespondierten die wenigen Eheschließungen mit dem Getreidepreisanstieg. Wiederum lag die Hochzeitszahl aber auf dem Gipfel der Teuerung höher, unterschritt den zehnjährigen Durchschnitt nur geringfügig und entsprach einer größeren Nuptialität als zum Beispiel 1837, 1843 und 1848. Die Majorität der genannten aus Südwestsachsen überlieferten vor- bzw. protoindustriellen Wirtschafts- und Subsistenzkrisen ging in Rußdorf mit rückläu gen Trauzahlen einher. Ob diese Koinzidenz auf eine Korrelation schließen lässt, geht aus den aggregierten Personenstandsdaten nicht eindeutig hervor, da die Heiratsquantitäten in zahlreichen Jahren ohne bekannte Krisenerscheinung auf ein analoges Niveau elen bzw. dieses gar unterschritten. Ein Vergleich der Rußdorfer Heiratszahlenkurven mit den Leipziger Roggenpreisindizes bis 1800 offenbart gleichwohl seit dem späten 16. Jahrhundert eine auffällige Häufung regressiver Nuptialität in Zeiten hoher Getreidepreise. Momentane Maxima und Minima kontrastieren sich dabei oftmals direkt (1675, 1684, 1713, 1748, 1754, 1762) oder mit leichtem temporalem Versatz (1610/1611, 1621/1625, 1638/1639, 1693/1694, 1770/1771, 1788/1789). Allerdings weisen beide Kurven keine konsequente tendenzielle Gegenläu gkeit auf. Zwischen 1720 und 1744 entwickelten sie sich relativ parallel und teilten sich mehrfach Gipfel und Täler (1722, 1724, 1725, 1734, 1738, 1740). Die sich darin im Ganzen andeutende Reaktionsfreudigkeit des Heiratsverhaltens ließ in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts deutlich nach. Bis in die 1850er Jahre standen sich immer wieder Roggenpreisspitzen und niedrige Nuptialität gegenüber, danach verliefen beide Kurven unsystematisch abwechselnd in Parallelität oder Kontrast zueinander. Nach dieser erwartungsgemäßen Loslösung des Rußdorfer Heiratsverhaltens von den Lebensmittelpreisen bleibt es eindeutige Reaktionen auf die Konjunkturzyklen des 431 432

Fritzsche, Jacobi, S. 237 f. EPA Rußdorf, KB III, Beerdigungen 1855, Nr. 17.

ENTWICKLUNG DER HEIRATSZAHLEN

151

1871 begründeten Deutschen Kaiserreichs schuldig. Zwar wurde während der Gründerzeit ein neuer Heiratsgipfel erklommen, jedoch lag die Nuptialität damit dennoch deutlich unter dem Stand von zum Beispiel 1867. Auf den Gründerkrach folgten zeitgleich mit der ersten großen Depression unmittelbar Jahre mäßig bis äußerst geringer Heiratslust und -raten (1874, 1876/1877), denen allerdings 1875 ein vergleichsweise hoher Wert entgegenstand. Noch vor der leichten konjunkturellen Erholung 1879–1882 nahm die Heiratshäu gkeit wieder zu, markierte jedoch erst in der zweiten Depressionsphase 1882–1886 neue Höchstwerte, die selbst in der weltwirtschaftlichen Hochkonjunkturphase 1897–1913 nicht durchgängig erreicht bzw. überschritten wurden und hinter denen sogar das Maximum der Heiratszahl von 1903 zurückstand. Eine unzweifelhafte Reaktion rief erst die Weltwirtschaftskrise 1929 hervor. In den beiden darauffolgenden Krisenjahren el die Rußdorfer Heiratszahl um insgesamt 54,54 Prozent, erholte sich 1932 wieder und zeigte 1933 bzw. insbesondere 1934 Anzeichen eines Ersatzhochs. Bräunsdorf Die Traubücher Bräunsdorfs setzen im Januar 1644 ein. Hierin sowie in den 1876 beginnenden örtlichen Standesamtsunterlagen wurden bis zum 31. Dezember 1935 insgesamt 2893 Eheschließungen registriert 433. Analog zum Verhältnis der Gesamtgeburtenzahlen beider Orte steht auch das Bräunsdorfer Hochzeitsquantum hinter jenem Rußdorfs zurück (22,02 %). Unter Extrapolation 434 der überlieferungsbedingt fehlenden 62 Jahreswerte des Bleicherdorfes verringert sich die Differenz auf lediglich 13,67 Prozent. Während des 17. und 18. Jahrhunderts herrschte gemäß dem anfänglichen Bevölkerungsübergewicht Bräunsdorfs ein umgekehrtes Verhältnis zwischen den Hochzeitszahlen der Untersuchungsorte vor. Dessen ungeachtet glich sich die Nuptialitätsentwicklung. Auf lange Sicht nahm das absolute Bräunsdorfer Heiratsquantum zu, kam dabei dem Rußdorfer Wachstum allerdings nicht nahe. Gegenüber den hochgerechneten Werten des 17. verzeichneten die lokalen Kirchbücher des 18. Jahrhunderts 43,6 Prozent zusätzliche Eheschließungen. Im nachfolgenden Dezennium betrug das Wachstum nochmals vergleichsweise moderate 63,93 Prozent. Wie im Rußdorfer Fall konzentriert sich ein nicht unbedeutender Teil aller Hochzeiten, der nach oben weisenden Bevölkerungsentwicklung Rechnung tragend, am Ende des Untersuchungszeitraums. Zwischen 433

434

Hierunter sind nicht nur vor Ort statt ndende Hochzeiten (1908) zusammengefasst, sondern ebenso alle Proklamationen. Die dreifache Hochzeitsankündigung erfolgte in der Regel in den aktuellen Wohnorten beider Ehepartner, musste also nicht mit dem Trauort identisch sein. Zur Berechnungsgrundlage dient hierbei ein Vergleich der Dekadenkohorten beider Orte 1644–1699. Im Durchschnitt erreichte der Rußdorfer Wert in dieser Zeit 79,63 Prozent des Bräunsdorfers. Wird diese Proportion auf die Rußdorfer Heiratszahl des Zeitraums 1582–1643 umgeschlagen, errechnet sich für Bräunsdorf zeitgleich eine geschätzte Hochzeitszahl von rund 310.

152

NUPTIALITÄT

1880 und 1929 (17,12 % des UZ) verzeichneten die Bräunsdorfer Personenstandsakten 30,66 Prozent aller darin überlieferten Trauungen (bei EP 14,12 % : 27,66 %). Das Verteilungsungleichgewicht blieb ebenfalls hinter den Rußdorfer Ausmaßen zurück. Auf die ersten 156 von den Kirchbüchern abgedeckten Jahre (53,43 % des UZ) ent elen 34,29 Prozent der bekannten Eheschließungen (bei EP 61,58 % : 40,68 %). Die in Dekadenkohorten gefassten Hochzeitszahlen zeigen in Tabelle 10 eine über den gesamten Untersuchungszeitraum anhaltende tendenzielle Zunahme. Einer in Rußdorf beobachtbaren Wanne des 17. Jahrhunderts entbehrt das Bräunsdorfer Beispiel. Bei einer geschätzten Gesamtbevölkerung über anfänglich 250–300 Personen indizieren die Werte dieser Zeit im Gegenteil eine hohe Nuptialität von 16–20 Hochzeiten pro 1000 Einwohnern. Markante Einbrüche der Heiratszahlen in den 1650er und 1680er Jahren korrelieren wie im Rußdorfer Fall mit vergleichsweise großen Anteilen endogener Eheschließungen über 31 bzw. 43 Prozent (Kap. 5.7). Hingegen fallen hohe Werte in den 1640ern und 1660ern mit niedrigem Aufkommen „einheimischer“ Trauungen über sieben bzw. 18 Prozent zusammen. Unter Berücksichtigung dieser offensichtlichen Wechselwirkung erscheint das im Ganzen gehaltene Niveau zwischen 1640 und 1729 in einem anderen Licht. Beiderseits hohe Werte in den 1670er, 1700er und 1720er Jahren sprechen etwa für eine leichte Zunahme der Heiratsfähigen. Zugleich wuchs die dörfliche Häuslerschaft bis in die 1730er deutlich (Kap. 8.1). Entsprechend erlebte die Hochzeitszahl im ersten Drittel des 18. Jahrhunderts einen Niveausprung. Ab den 1770ern deutet sich eine neuerliche Mehrung der Heiratsfähigen an, die jedoch erst zwischen 1790 und 1809 mit weiteren Hofstellengründungen korrespondieren konnte. Im selben Zeitraum fallen die Zahlen aus dem Rahmen. So ging ein identischer Anteil endogener Trauungen 1790/1799 und 1810/1819 mit erheblich differierenden Hochzeitszahlen einher. Desgleichen sticht die Nuptialität der 1790er im langfristigen Vergleich überproportional heraus. Ein zweiter nachhaltiger Niveausprung wird erst in den 1820ern erkennbar. Weitere Wachstumsschübe sind seit den 1860ern nach Inkrafttreten der Feudalablöseverträge mit zehnjährigen Intervallen leicht rückläu ger Nuptialität bis zum Ende des Untersuchungszeitraums feststellbar. Hinweise auf Krisenhörigkeit der Bräunsdorfer Nuptialität geben die Dekadenkohorten maximal mit dem moderaten Einbruch während des Ersten Weltkrieges. Vielmehr deutet sich wie im Rußdorfer Fallbeispiel eine enge, positive Bindung an soziostrukturelle Entwicklungen an. Durch die Zusammenfassung der einzelnen Jahreswerte werden freilich an den Kohorten nur langfristige Entwicklungslinien ersichtlich. Die Hochzeitszahlen per annum schwankten dagegen über den gesamten Untersuchungszeitraum massiv um bis zu 100 Prozent, ohne dadurch zwangsläu g auf äußere Ein üsse zu reagieren. Drei Perioden Bräunsdorfer Hochzeitszahlenentwicklung zwischen 1644 und 1935 sind vor dem Hintergrund der getroffenen Beobachtungen zu unterscheiden: Ein erster Entwicklungsabschnitt, den geringe Schwankungen der Trau- wie der lokalen Hei-

153

ENTWICKLUNG DER HEIRATSZAHLEN

Tabelle 10: Bräunsdorfer Hochzeiten nach Dekadenkohorten prozentualer Anteil1

Trauungen (1640) 1644–1649

2

Wachstum

29 (48) 33

1,00 % (1,51 %) 1,14 % (1,04 %)

13,79 % (–31,25 %)2

53 66

1,83 % (1,67 %) 2,28 % (2,08 %)

60,61 % 24,53 %

38

1,31 % (1,20 %)

–42,42 %

56

1,94 % (1,76 %)

47,37 %

55 58 61

1,90 % (1,73 %) 2,01 % (1,83 %) 2,11 % (1,92 %)

–1,79 % 5,45 % 5,17 %

73 75

2,52 % (2,30 %) 2,59 % (2,36 %)

19,67 % 2,74 %

70 79 79 68

2,42 % (2,21 %) 2,73 % (2,49 %) 2,73 % (2,49 %) 2,35 % (2,14 %)

–6,67 % 12,86 % 0,00 % –13,92 %

100 84

3,46 % (3,15 %) 2,90 % (2,65 %)

47,06 % –16,00 %

79 104

2,73 % (2,49 %) 3,60 % (3,28 %)

–5,95 % 31,65 %

94 117 100

3,25 % (2,96 %) 4,04 % (3,69 %) 3,46 % (3,15 %)

–9,62 % 24,47 % –14,53 %

152

5,25 % (4,79 %)

52,00 %

149 172 126

5,15 % (4,69 %) 5,95 % (5,42 %) 4,36 % (3,97 %)

–1,97 % 15,44 % –26,74 %

1910–1919 1920–1929

191 172 225

6,60 % (6,02 %) 5,95 % (5,42 %) 7,78 % (7,09 %)

51,59 % –9,95 % 30,81 %

1930–1935

135

4,67 % (4,25 %)

–40,00 %

1650–1659 1660–1669 1670–1679 1680–1689 1690–1699 1700–1709 1710–1719 1720–1729 1730–1739 1740–1749 1750–1759 1760–1769 1770–1779 1780–1789 1790–1799 1800–1809 1810–1819 1820–1829 1830–1839 1840–1849 1850–1859 1860–1869 1870–1879 1880–1889 1890–1899 1900–1909

1

Die Anteile am extrapolierten Gesamtwert von 3203 Hochzeiten sind kursiv gehalten.

2

Extrapolation durch entsprechende Addition des Durchschnittswertes der Kohorte.

ratsfähigenzahl auszeichnen, umfasst die zweite Hälfte des 17. sowie das erste Fünftel des 18. Jahrhunderts. Eine hohe Zahl von durchschnittlich fünf Hochzeiten pro Jahr bei einer leicht wachsenden Gesamtbevölkerung von schätzungsweise 250–350 Personen scheint dem Konzept des westeuropäischen Heiratsmusters sowie einer statischen Agrargesellschaft zu entsprechen. Die anschließende Periode kopiert bis in die 1810er Jahre die Charakteristika des ersten Abschnitts auf höherem absolutem Niveau von durchschnittlich sieben bis acht jährlichen Trauungen und mutmaßlich unveränderter

154

NUPTIALITÄT

Abbildung 20: Jährliche Bräunsdorfer Konzeptionszahlen und Leipziger Roggenpreisindex 1640– 1799. Vgl. Rahlf, Getreidepreise.

Heiratsfreudigkeit. Eine deutlich zu Tage tretende dauerhafte Wachstumsorientierung beweist erst die dritte, den Untersuchungszeitraum abschließende Phase. Bei zunächst bis Mitte des 19. Jahrhunderts auf durchschnittlich 19 Hochzeiten pro mille steigender und danach regressiver Nuptialität auf den vorangegangenen langjährigen Stand von 14–15 Promille nahm das Hochzeitsaufkommen wellenförmig zu. Vorläu ge Maxima lösten sich in einer Stoßzeit Mitte des 19. Jahrhunderts in kurzen Abständen (1846, 1867, 1874) ab. Die nächstfolgenden Gipfelwerte 1919/1920 sind als Ersatzhoch in Reaktion auf den Einbruch während des Ersten Weltkrieges zu werten. Der Scheidepunkt in der Bräunsdorfer Heiratszahlenentwicklung stand bis 1935 im Gegensatz zur Rußdorfer Entwicklung offenbar aus. Desgleichen sank die Nuptialität erst 1933 auf einen im Vergleich noch immer beachtlichen Wert von neun Hochzeiten pro mille. Das Bräunsdorfer Heiratsverhalten lässt starke Anzeichen einer Korrelation mit der dorfgesellschaftlichen Entwicklung erkennen, was eine regulierende Funktion sozialer Strukturelemente anzeigt. Diskutabel ist auch in diesem Fall die Ausrichtung der Reaktionskette bei langfristigen Prozessen. Bedingte ein Wandel der Sozialstruktur Veränderungen im Heiratsaufkommen gemäß des „Stellenmechanismus“ oder motivierten diese erst dessen Anpassung? Aus der bloßen jährlichen Heiratsmenge kann vordergründig auf die Bedeutung in das demographische Geschehen mit vorübergehender Wirkung eingreifender Ereignisse, in aller Regel Krisen, geschlossen werden. Wie eingangs beschrieben und dem Beispiel Rußdorfs folgend sollten vor allem konjunkturelle Entwicklungen Ein uss auf die Bräunsdorfer Nuptialität genommen haben, während Krankheiten und militärische Kon ikte kaum signi kante Reaktionen erwarten ließen.

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Auf den ersten Blick widersprechen die mit überlieferten Seuchen einhergehenden Heiratszahlen im 17. und 18. Jahrhundert den Annahmen. Ob fehlender Daten ist eine Reaktion auf die Pest von 1641 nicht zu ermessen. Hingegen verzeichneten die Bräunsdorfer Kirchbücher im Blatternjahr 1685 lediglich zwei Eheschließungen außerhalb der Seuchenmonate (Januar bis Februar). Mit der „roten Ruhr“ 1751 ging ein Einbruch von zehn auf sechs Trauungen einher und die abermals 1767 Opfer fordernden Blattern korrelierten mit einem Rückgang von zwölf auf fünf Hochzeiten. Demgegenüber lässt die lokale Heiratszahl weder eine Reaktion auf Blattern und Ruhr 1806, noch auf den Typhus 1814 und 1857 oder die Masern 1887 vermuten. Im Gegenteil traten Paare in diesen Jahren auch zeitgleich zu den grassierenden Krankheiten vor den Altar. Daraus ließe sich auf eine nuptiale Wirkungsherabsetzung epidemischer Krankheiten spätestens während des 19. Jahrhunderts schließen. Jedoch fehlen eindeutige Belege einer kausalen Beziehung zwischen Ereignis und statistischen Variablen in den vor 1800 gelagerten Fällen. So war die Mitte der 1680er Jahre erreichte Hochzeitszahl zwar zweifelsohne niedrig, trat aber unter anderem auch 1657, 1683 und 1689 ohne konkrete Ursache auf. Überdies wütetete die damalige Seuche den spärlichen Belegen zufolge von Januar bis Februar, den Sterbezahlen nach maximal bis April und dezimierte die Zahl der heiratsfähigen Personen nicht. Dennoch wagten in den mindestens verbleibenden zwei Jahrdritteln nur zwei Paare den Eheschluss. Die niedrige Nuptialität des Jahres könnte angesichts dessen auch eine Spätfolge schlechter Ernten 1684 darstellen. Mit der „roten Ruhr“ ging 1751 eine die übliche Varianzbreite (zw. 1731 u. 1771 Ø 7,6) nur leicht verlassende Heiratszahl einher, die in erster Linie infolge hoher Jahreswerte unmittelbar davor und danach niedrig erscheint. Zeichnete die Krankheit für geringere Heiratslust verantwortlich, müsste unter deren Regime von August bis November ein nuptialer Tiefstand fallen. Stattdessen wurden allein im Oktober drei der sechs Ehen des Jahres geschlossen. Einzig für den 1767 zu beobachtenden Einbruch der Hochzeitszahlen auf fünf mag die Blatternepidemie vom Januar und Februar verantwortlich zeichnen. Zwar lag auch dieser im seinerzeit üblichen Schwankungsrahmen, wurde in anderen Jahren des näheren temporalen Umkreises scheinbar grundlos erreicht oder noch unterschritten (zum Beispiel 1768, 1776) und könnte aus den hohen Nuptialitätsraten 1765/1766 resultieren, doch blieben die Trauungen des Jahres außergewöhnlich auf dessen zweite Hälfte beschränkt. Umso stärker wiegen die Indizien für eine Ansprechbarkeit der Heiratslust auf militärische Kon ikte. Die in der Region während der 1630er und frühen 1640er Jahre unzweifelhaft spürbaren Wirren des Dreißigjährigen Krieges gingen mit hoher Wahrscheinlichkeit am Bräunsdorfer Heiratsverhalten nicht spurlos vorbei. Relativ hohe Heiratsziffern 1644 und 1646, womöglich aus aufgeschobenen Trauungen resultierend, stützen diese überlieferungsbedingt nicht veri zierbare Annahme. Unklar bleiben die Hintergründe der 1647 bzw. 1649 äußerst niedrigen Hochzeitszahlen (je 1). 60 Jahre

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Abbildung 21: Bräunsdorfer Heiratszahlen 1800–1935

später korrelierten die schwedischen Kontributionen 1706 mit einem nur moderaten, den normalen Schwankungsrahmen nicht verlassenden Rückgang der Eheschließungen. Abermals waren dem allerdings zwei Jahre hoher und höchster Werte vorangegangen. Gleiches galt, als die Hochzeitszahl 1756 um 58,86 Prozent unter das langjährige Mittel (zw. 1736 u. 1776 Ø 7,29) el. Dies und die folgenden vier Jahre gleichbleibend geringer Heiratsfreudigkeit muten dem Siebenjährigen Krieg geschuldet an: Für viele Einwohner war es nicht möglich, die hohen Steuern und Abgaben zu bezahlen. Es gab [im gesamten Schönburgischen Raum Waldenburg] zahlreiche Einquartierungen von Soldaten und viele Truppendurchmärsche. 435

Für eine kausale Beziehung sprechen auch die überdurchschnittlichen, Merkmale eines Ersatzhochs tragenden Trauzahlen der Jahre 1761/1762. Die Koalitionskriege des späten 18. und frühen 19. Jahrhunderts tangierten die Bräunsdorfer sowohl durch zusätzliche Steuerlasten, Truppendurchmärsche und Einquartierungen als auch durch Einbeziehung eines mengenmäßig unbestimmten geringen Teils der ledigen jungen männlichen Einwohnerschaft in die aktiven Kampfhandlungen. Sofern dies demographische Auswirkungen zeitigte, gehen solche aus der Gegenüberstellung der stark alternierenden jährlichen Hochzeitszahlen 1792–1815 und quellenmäßig belegter, Bräunsdorf involvierender Ereignisse nicht eindeutig hervor.

435

Vgl. Callenberg, Falken, S. 7.

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Dasselbe muss für die Reichseinigungskriege 1864, 1866 und 1870/1871 gelten, an denen einige Dorfbewohner aktiv teilnahmen. Während die Hochzeitszahlen 1864 und 1870/1871 weder positiv noch negativ ungewöhnliche Ausmaße annahmen, korrespondierte ein moderater Einbruch (9) 1866 vielleicht mit den Kampfhandlungen im Juni und Juli des Jahres bzw. reagierten sie auf die den Sachsen im Friedensschluss vom 21. Oktober 1866 auferlegten zehn Millionen Taler an Kriegskontributionen. 436 Die ungleiche Verteilung der Hochzeitsereignisse des Jahres – sechs von neun fanden in der ersten Jahreshälfte statt – stützt den Eindruck. Eine unbestreitbare und zugleich die markanteste Beein ussung der Nuptialität ist jedoch dem Ersten Weltkrieg beizumessen. Mindestens 86 Einwohner, zumeist ledige junge Männer, leisteten zwischen 1914 und 1918 aktiven Kriegsdienst, 45 kehrten nicht wieder und wurden dem lokalen Heiratsmarkt so dauerhaft entzogen. Die Abwesenheit der Soldaten schlug sich in den Heiratszahlen jedoch erst 1918 merklich nieder. Mit ihren Jahreswerten entsprachen 1914 (18) und 1917 (15) dem Vorkriegszustand (Ø 1904– 1913 bei 18,8) und selbst die geringe Zahl 1915/1916 (je 12) war binnen 20 Vorkriegsjahren ohne ersichtlichen Grund mehrfach erreicht (1895, 1907) oder gar unterschritten (1897, 1899) worden. Zunächst äußerte sich der Kriegszustand wie im Rußdorfer Fall in zahlreichen Kriegstrauungen, deren Anteil 1915 bei 58,3 und 1916 gar bei 91,67 Prozent lag, um 1917 wieder auf sieben von 15 Eheschließungen zurückzugehen. Indes referenziert die bescheidene Hochzeitszahl 1918 unmissverständlich auf den sicherlich leer gefegten Heiratsmarkt und die desolate ökonomische Gesamtsituation gleichermaßen. Fünf der sechs Eheschließungen dieses Jahres fanden vor Kriegsende statt. Darunter war allerdings nur eine Kriegstrauung. Ein weiterer Bräutigam trat als Soldat unter vollständigem Zeremoniell in die Ehe ein. Über die Armeezugehörigkeit der übrigen drei Kandidaten, eines 23-jährigen Heizers in Piesteritz, eines 29-jährigen Rußdorfer Wirtschaftsgehilfen sowie eines 31-jährigen Kleingraupaer Werkmeisters, kann nur spekuliert werden, da der Bräunsdorfer Pfarrer seinerzeit auf die Kennzeichnung von Soldaten verzichtete. Die beiden Jahre nach Kriegsende stachen mit bis dahin ungekannten Heiratsmengen aus dem gesamten Untersuchungszeitraum heraus. Aufgeschobene Eheschließungen und Ersatztrauungen runden damit das Bild des einzigen unzweifelhaft demographisch einschneidend auf Bräunsdorf wirkenden militärischen Großereignisses in Manier einer Krise „alten Typs“ 437 ab. Gegenüber den, sofern vorhanden, meist unsicheren Anzeichen kausaler Verbindungen zwischen Bräunsdorfer Nuptialität und kriegsbedingten bzw. epidemischen Krisen deutet vieles auf eine Ansprechbarkeit des lokalen Heiratsverhaltens auf Konjunkturzyklen hin. Ein Vergleich der jährlichen Bräunsdorfer Heiratszahlen- mit der gleichzeitigen Roggenpreisentwicklung des 17. und 18. Jahrhunderts in Leipzig bzw. des 436 437

Vgl. Czok, Geschichte Sachsens, S. 377 f. Vgl. Ehmer, Krisen, S. 899ff.

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19. in Roßwein offenbart eine diskontinuierliche, aber dennoch beachtliche, bis etwa 1850 reichende tendenzielle Gegenläu geit der Kurven. Ihren Ausdruck ndet diese vor allem in wiederholt gleichzeitigen (1651, 1673, 1684, 1693, 1699, 1734, 1745, 1748, 1754, 1756, 1794, 1855, 1891) oder zeitlich leicht verschobenen Extremen (1771/1772, 1787/1789, 1847/1848, 1799/1800). Parallele bzw. nah beieinanderliegende Spitzen- oder Tiefstwerte (1656, 1675, 1689, 1719, 1724, 1736, 1745, 1761/1763, 1841, 1843, 1844, 1860/1861, 1867, 1874) konterkarieren den Eindruck allerdings, zumal sie sich nicht auf mindere Ausschläge beschränken, sondern teils nachweislich in Bräunsdorf emp ndlich spürbare Teuerungen einschließen. Zum Beispiel stiegen die Hochzeitszahlen trotz beginnender In ation 1761 auf ein hohes Niveau von annähernd 100 Prozent über dem langjährigen Mittel und verblieben dort bis 1762. Allein im dritten teuren Jahr gingen sie um 50 Prozent zurück, ohne das normale Maß zu verlassen. Den augenscheinlichen Antagonismus relativiert der Bericht des damaligen Jahnsdorfer Pfarrers Adam Gottlieb Kerzig: So elend nun die damahligen Zeiten schienen, [...] so war doch überall Geld zu verdienen, daß niemand leiden durfte. Die Commercia waren im schönsten Flor, und es konnten nicht genug Waaren vorfertiget und herbey geschaft werden. Die hiesigen Strumpfwirker und Leinweber nehreten und mehreten sich ungemein. Jedwede Profession hatte ähnliche Verdienste. Nur allein die Bauersleute und andere Hausväter waren in gewißermaßen übel daran. Da alles den Fabriquen und Professionen zulief, so waren Gesinde und Arbeits Leute rar, und mußten übertheuer bezahlt und alle Unarten an ihnen erdultet werden. Die geringsten Leute waren Herren und mußten zu dem vielen Gelde noch gute Worte bringen. 438

Entsprechend vertraten die Bräutigame 1761–1763 jährlich fast das gesamte dorfgesellschaftliche Spektrum von der Hausgenossen- bis zur Vollbauernschaft in einem repräsentativen Verhältnis mit unverändertem Schwerpunkt auf den unterbäuerlichen Besitzklassen. In der Regel korrelierten mit den überlieferten, die regionale Wirtschaft einbeziehenden vor- bzw. frühindustriellen Agrarkrisen jedoch relativ niedrige Heiratszahlen. Schichtenspezi sche Auswirkungen werden anhand der Bräunsdorfer Daten zu keinem Zeitpunkt ersichtlich. Als die Kombination aus hartem Winter und trockenem Sommer die Getreideernte wie „Wiesewachs“ 1684 verdarb und die Kornpreise explodieren ließ, konnte der Bräunsdorfer Pfarrer analog zum Teuerungsjahr 1651 keine einzige Hochzeit verzeichnen. Mit der gesamteuropäischen Schlechtwetter- und Misserntenperiode 1708–1713, deren Ein uss auf die sächsische Agrarwirtschaft allerdings scheinbar nur begrenzte Ausmaße annahm, gingen demgegenüber keine eindeutigen Reaktionen der Heiratsfreudigkeit einher. Hingegen dämpfte die schwere Subsistenzkrise der frühen

438

EPA Jahnsdorf, KB III: Kirchbuch 1714–1782, Chronik, S. 2.

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1770er Jahre die Bräunsdorfer Nuptialität signi kant. Zwar wuchs die Zahl der Eheschließungen zunächst seit 1768 stark bis auf 61,31 Prozent (1770) über das langjährige Mittel (zw. 1750 u. 1790 Ø 7,4) an und sank noch in der Krise 1771 nur leicht ab, brach aber zumindest auf deren Höhepunkt massiv auf einen zuletzt 1699 tangierten absoluten Grad ein. Entgegen allen Erwartungen rekrutierten sich die Heiratswilligen von 1772 keineswegs aus dem theoretisch krisenfesteren vollbäuerlichen Milieu. So ehelichte zum einen der Weißbecker und Limbacher Einwohner Christian Gottlob Arnold, Sohn eines Grünhainer Eisenhändlers, die älteste Tochter des Bräunsdorfer Papiermüllers, zum anderen der Bräunsdorfer Leineweber und Häusler Johann Michael Illing, Erbe seines Vaters, die älteste Tochter eines ansässigen Gärtners. Mit der Teuerung von 1805 el die geringste Heiratszahl seit dem Siebenjährigen Krieg zusammen. Da dem eine seit 1803 anhaltende Regression vorausgegangen war und trotz angeblich bis 1810 fortwährend hoher Kornpreise in dem dazwischenliegenden Intervall normale bis hohe jährliche Trauzahlen auftraten, kann über eine Korrespondenz beider Ereignisse nur gemutmaßt werden. Sowohl 1805 als auch 1810 heiratete kein ausschließlich im agrarischen Bereich Tätiger aus oder nach Bräunsdorf. Im Gegensatz dazu vertraten die wenigen (4) Bräutigame des „Jahres ohne Sommer“ 1816 das gesamte dörfliche Besitzklassenspektrum. Abermals bleibt trotz der mit den damaligen erheblichen Nahrungsmittelpreisen korrelierenden geringen Nuptialität ein kausaler Zusammenhang fraglich, da die Hochzeitszahl im Vorjahr, zu Beginn der Misserntenperiode, noch tiefer (3) gefallen war. Ähnliches gilt für die normalen bis niedrigen Werte in den Agrarkrisenjahren 1847 (8) und 1855 (5), denen ein stärkerer Rückgang der Eheschließungen 1852 (4) ohne bekannte Ursache gegenüberstand. Unter allen Bräutigamen dieser drei Jahre ndet sich lediglich 1855 ein Angehöriger der Vollbauernschaft. Nach 1850 verloren Agrarkrisen im Zuge der fortschreitenden industriellen Entwicklung für die Industriestaaten global zugunsten überregional und meist international wirkender gewerblicher, nanzieller und Immobilienkrisen an Bedeutung. Die im Limbacher Land stark empfundene Krise der Strumpfwirkerei der späten 1830er und frühen 1840er Jahre hinterließ in den Bräunsdorfer Heiratsregistern keine zuordenbaren Spuren. Angesichts der zu diesem Zeitpunkt noch unbedeutenden örtlichen Strumpfwirkerei stand anderes nicht zu erwarten. Zudem heirateten selbst auf dem Höhepunkt der Krise – der Rußdorfer Situation nach zu urteilen – 1843 allein sieben von 19 dem Strumpfwirkerhandwerk nachgehende Bräutigame des Zeitraums 1837–1843. Desgleichen zeigte sich die Heiratsfreudigkeit der Bräunsdorfer von der konjunkturellen Entwicklung des ausgehenden 19. und frühen 20. Jahrhunderts wenig beein usst. Während der Gründerjahre blieb die Heiratszahl auf durchschnittlichem Niveau, erreichte dagegen ein Jahr nach dem Gründerkrach 1874 einen neuen, bis 1919 geltenden Spitzenwert (26), freilich um danach wieder zurückzugehen bzw. in der fortwährend schwachen Konjunktur 1878 einen Tiefstand (8) zu markieren. Zwischen 1879 und 1882, zeitgleich mit einer leichten ökonomischen Erholungsphase, stieg die jährliche Trauzahl

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zwar sukzessive wieder in den gehobenen Bereich (22), doch wurde dieser während der folgenden kräftigen Depression 1884 bei nur minimal zurückgehender Nuptialität kopiert. Niedrige bis durchschnittliche Werte (8–17) begleiteten die schwache Depression 1890–1895, setzten sich allerdings auch in der anschließenden Hochkonjunktur weiter fort. Die 1899 bei 5,06 Promille liegende Nuptialität kontrastierte diese ebenso wie jene des Folgejahres (16,86) deren gleichzeitige kurze Unterbrechung. Eine relativ hohe Heiratsfreudigkeit begleitete die In ationsjahre Anfang der „Goldenen Zwanziger“ bis zur Hyperin ation 1923. Erst 1924 ging die Heiratsziffer, möglicherweise als Reaktion auf die vorangegangene Krise, kurzzeitig signi kant zurück. Die den Untersuchungszeitraum abschließende Weltwirtschaftskrise 1929 vermochte in die Bräunsdorfer Nuptialität ebenfalls nicht sichtbar einzugreifen. Anstatt in kontinuierliche Stagnation oder massive Regression zu verfallen, verharrten die Zahlen 1929–1931 zwar tatsächlich auf einem relativ hohen Niveau (17/18), wuchsen aber noch im Laufe der Depression bis 1932–1934 auf Spitzenwerte an (21–34). Insgesamt indizieren die besonders in Jahren wirtschaftlicher Krisen oft niedrigen Heiratszahlen tatsächlich eine gegenüber anderen positiven Regulativen erhöhte Ansprechbarkeit der Bräunsdorfer Nuptialität zumindest auf agrarische Konjunkturzyklen. Nach deren Bedeutungsverlust in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts büßte die Wirtschaftsentwicklung ihren Ein uss auf das lokale Heiratsverhalten allerdings weitgehend ein. Zusammenfassung Einander gegenübergestellt weisen die Nuptialitätskurven der Untersuchungsorte sichtliche Ähnlichkeiten auf. Gleich den Natalitätsgraphen verlaufen sie bis zum Beginn des 19. Jahrhunderts im Ganzen parallel, um nachfolgend auseinanderzustreben. Weniger konsequent als die Geburtenkohorten, aber dennoch regelmäßig, elen die aggregierten Trauzahlen Rußdorfs bis in die 1710er Jahre hinter die Bräunsdorfer zurück. Während der folgenden neun Dekaden überwogen im Vergleich bald diese, bald jene, bevor das ursprüngliche Verhältnis endgültig umgekehrt wurde und die Rußdorfer Zahlen abhoben. Demgemäß liegt zwischen dem absoluten Maximum der Hochzeitszahl 1920 und dem Durchschnitt der 1800er in Rußdorf ein Wachstum über 374,75 Prozent, während es in Bräunsdorf von den 1790ern mit derselben Quote ausgehend lediglich 260 Prozent beträgt. Ebenso stehen die mittleren Wachstumsraten zwischen den 1650er Jahren und der Wende zum 19. Jahrhundert in Bräunsdorf (6%) deutlich hinter denen in der altenburgischen Exklave (12,15%) zurück. Das Heiratsverhalten beider Dorfgesellschaften resultierte zu Anfang in relativ gleichbleibenden Werten. Während Rußdorf aber im 17. Jahrhundert zunächst einen leichten Niveaueinbruch erlebte, an den sich ein bis zum Ersten Weltkrieg reichendes tendenzielles stufenartiges Wachstum angliederte, erlebte Bräunsdorf bar jeden

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Abbildung 22: Hochzeitszahlen nach Dekaden für Sachsen, Rußdorf und Bräunsdorf im Vergleich Quelle: Burkhardt, S. 28 ff.

Einbruchs im frühen 18. Jahrhundert lediglich einen Niveausprung und erst seit den 1820ern eine anhaltende wellenförmige Progression. Zur Zeit der sächsischen Industrialisierung im 19. und frühen 20. Jahrhundert folgten die Untersuchungsorte derselben aufwärts gerichteten Hochzeitszahlenentwicklung, wenngleich mit unterschiedlichem Grad. Dabei legen die Kurven nach 1850 eine auffallende Parallelität an den Tag, die sie im Vergleich mit dem sächsischen, beinahe linearen Verlauf vermissen lassen. Abseits der identischen Entwicklungsrichtung teilen die drei Graphen lediglich das kriegsbedingte Tal in den 1910er Jahren (Abb. 22). In beiden Dörfern indizieren zeitliche Verortung und Verlauf der langfristigen Wachstumsprozesse enge Interdependenzen zwischen Nuptialität und soziostruktureller Entwicklung. Insbesondere im 18. Jahrhundert fallen Niveausprünge der einen mit Veränderungen der anderen zusammen. Die frühneuzeitlichen Agrar- und Protoindustriegesellschaften tragen dabei Anzeichen von Homöostaten. Wie die Stellenzahl blieb auch die Hochzeitszahl oft über mehrere Dekaden relativ statisch. Ein kontinuierlicher, das malthusianisch anmutende Stellenprinzip nach Mackenroth verlassender, mit der Industrialisierung Sachsens einhergehender weitgehend kontinuierlicher Anstieg begann nicht vor 1800. Eine Rückschau auf die ökonomischen Verhältnisse der Dorfgesellschaften beleuchtet die Hintergründe dieses Zusammenhangs im lokalen Kontext. Ursprünglich nährten sich die Einwohner Rußdorfs und Bräunsdorfs fast ausschließlich von der Landwirtschaft. Wenige notwendige Gewerbe wie Fleischerei, Müllerei, Gastwirtschaft und Schmiede blieben dauerhaft einem klar begrenzten Personenkreis vorbehalten. In gleicher Weise war die Zahl der auf ertragsarmen Böden ruhenden

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Bauerngüter x, die dadurch de nierte Maximalbevölkerung dem Nahrungsspielraum angepasst. Um funktionstüchtig bzw. langfristig unter denselben Bedingungen lebensfähig zu bleiben, waren die Dorfgesellschaften auf Begrenzung der (Herd-)Stellenzahl angewiesen. Heiraten konnte in der Regel nur, wer eine Stelle besaß oder eine solche designiert in Aussicht hatte und eine Familie auf absehbare Zeit versorgen konnte, ohne auf befristete landwirtschaftliche Lohnarbeit ausweichen zu müssen. Bevölkerungswachstum wurde durch diese Regularien verhindert und ein folgenschweres Versorgungsungleichgewicht präventiv ausgeschlossen. Zwangsläu g musste die so rein reproduktive Nuptialität langfristig auf einem Niveau verharren. Das schon im 17. und 18. Jahrhundert vonstattengehende leichte Wachstum der Heiratszahlen korrespondierte mit dem Zuzug ländlicher Handwerker. Die sich seit dem Spätmittelalter etablierenden protoindustriellen ländlichen Massenhandwerke schufen zunächst den strukturellen Rahmen für eine prosperierende unterbäuerliche Grundbesitzerschicht. Wachsende Absatzmärkte ermöglichten eine sukzessive Vermehrung der sozioökonomischen Stellen beider Untersuchungsorte. Folglich nahmen auch die Heiraten zu, blieben aber auf einem entsprechend gehobenen Niveau erneut stehen. Die traditionellen Korrektive behielten zunächst ihre Wirksamkeit. Erst im 19. Jahrhundert erfolgte ein Bruch mit überkommenen Regulationsmechanismen. Der Industrialisierungsprozess, in dessen Zuge neue Erwerbsmöglichkeiten im sekundären wie tertiären Sektor entstanden und der zunehmend marktorientierte primäre Sektor durch Professionalisierung, Produktionsoptimierung sowie Anwendung effektiverer Produktionstechniken deutlich leistungsfähiger wurde, ermöglichte es auch gänzlich landbesitzlosen Personen, im ruralen Raum auf Basis rein gewerblicher Arbeit eine Familie zu versorgen. Was freilich schon im 18. Jahrhundert prinzipiell möglich war, wurde von der Hausgenossenschaft bei gleichzeitiger Herabsetzung tradierter Heiratsfondsansprüche genutzt, um ohne Grundbesitz Familien zu gründen und dauerhaft ansässig zu werden. Anfangs blieben die verfügbaren Hausgenossenstellen über den Wohnraum an die existierende Güterzahl geknüpft. Nach der Bauernbefreiung entstanden seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts zusätzlich reine Wohnhäuser, die neuen Platz für eine zunehmende Einwohnerschaft schufen. Dabei mag das tradierte, regulierend auf die Heiratszahl wirkende Herdstellenprimat eine Umdeutung erfahren haben. Außer Kraft gesetzt wurde es faktisch nicht, denn die Nuptialität reagierte ihrerseits im 20. Jahrhundert regressiv. Allein auf Basis dieser Beobachtungen lässt sich mehr als eine bloße Korrespondenzfeststellung allerdings kaum treffen. Rückschlüsse auf die Gestalt der wirkenden Reaktionsketten erlauben die Hochzeitszahlen eines Ortes ob zu großer Ungenauigkeit nicht. Einen zuverlässigeren Einblick ermöglicht die Betrachtung der Zahl heiratender Einheimischer, die jedoch ihrerseits vor allem in kleinen, nicht abgeschlossenen Räumen stark von exogenen Entwicklungen determiniert ist. So widerspricht es dem „Stellenmechanismus“ keineswegs, wenn eine veränderte soziostrukturelle Situation ei-

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ner Ortschaft die Heiratsfreudigkeit der umliegenden beein usste. Daher ist auch die in Kapitel 5.7 behandelte Frage nach der Menge vor Ort bleibender Paare von Bedeutung, soll die lokale Nuptialität mit der lokalen Stellenzahl in Verbindung gebracht werden. Temporal begrenzte Ausschläge der Heiratskurve können in beiden Untersuchungsorten mit Krisenereignissen in Verbindung gebracht werden. Zumeist fehlen jedoch, wiederum den geringen Fallzahlen bzw. der hohen statistischen Unruhe geschuldet, klare Belege eines Zusammenwirkens. Manch außergewöhnlicher Gipfelwert oder Tiefstand entbehrt eines überlieferten möglichen Auslösers. In anderen Fällen waren die Dörfer nachweislich von Krisen betroffen, ohne anhand der Trauzahlen ein verändertes Heiratsverhalten zu zeigen. Insgesamt scheinen Kriege und Seuchen nur in schweren Fällen nuptial hemmend gewirkt zu haben. Größere Bedeutung ist, angesichts des ökonomischen Charakters der Hochzeit wenig verwunderlich, der Wirtschaftsentwicklung beizumessen. Obwohl die Korrelationen mit der Roggenpreisentwicklung keineswegs durchweg einheitlich aus elen, ist doch bis in die erste Hälfte des 19. Jahrhunderts eine tendenzielle Gegenläu gkeit der Hochzeitskurve erkennbar. Nachdem der Nahrungsspielraum nach 1850 im Zuge der Industrialisierung international stark erweitert und durch Intensivierung des globalen Handelsverkehrs zusätzlich gegen regionale Agrarkrisen abgesichert war, ging die Orientierung an Konjunkturzyklen in Rußdorf und Bräunsdorf augenscheinlich verloren. Gewerbe- bzw. Finanzkrisen, welche die agrarischen in ihrer Bedeutung ablösten, betrafen ihrerseits nie die gesamte Bevölkerung und verursachten seltener unmittelbar Hunger- und Notsituationen. Insofern konnten sie von vornherein nur begrenzt auf das Heiratsverhalten einwirken. Andererseits deutet die Entwicklung der Hochzeitszahlen beider Untersuchungsorte vor allem seit Mitte des 19. Jahrhunderts Änderungen des Heiratsmusters durch gesamtgesellschaftliche Neubewertung von Eheschließung und Ehe sowie Liberalisierung und Restrukturierung des Heiratsprozesses selbst an. Die im Mittelalter etablierte Verschränkung von Besitz und Berechtigung zur Familiengründung begann sich langsam zu lösen, sodass auch der Zugriff ökonomischer Prozesse auf die Nuptialität nachließ. Eine Neuorientierung an gewerblichen Konjunkturzyklen im 19. Jahrhundert, wie sie beispielsweise Burkhardt für Sachsen, Mendels in Flandern und Schmalz für das Monschauer Land 439 feststellten, war im Falle der textilgewerblich geprägten Untersuchungsorte nicht ermittelbar. Negative Reaktionen des Heiratsverhaltens auf die Krise der Strumpfwirkerei in den späten 1830er und frühen 1840er Jahren sowie den Niedergang der Leinweberei bis in die 1880er sind etwa nicht im Ansatz erkennbar.

439

Vgl. Schmalz, Familienrekonstitution, S. 45f.

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5.2 SAISONALE HEIRATSVERTEILUNG Die Eheschließung als rein abstrakter, die dauerhafte private (sexuelle) Verbindung der Ehepartner versinnbildlichend in die Öffentlichkeit tragender und diese zugleich gesellschaftlich legitimierender Vertrag unterliegt im Gegensatz zur Geburtigkeit und mehr noch zur Mortalität keinerlei natürlichen terminlichen Zwängen. Wohl können wirtschaftliche Erwägungen sowie kulturelle und brauchtümliche Diktate den Heiratszeitpunkt determinieren oder dessen freie Wahl zumindest einschränken. Die mitteleuropäischen spätmittelalterlichen und frühneuzeitlichen, christlich geprägten Gesellschaften referenzierten mit ihrem saisonalen Heiratsverhalten im Allgemeinen deutlich auf den kulturell bestimmenden religiösen Hintergrund. In katholischen Gebieten mehr noch als in protestantischen waren entsprechende nuptiale Tiefs in den beiden Fastenperioden vor Ostern und in der Adventszeit üblich. Gaben hier kirchliche Gebote den Ausschlag, resultierten konfessionsunabhängig geringe Trauzahlen in ländlichen Regionen im August und September nach P sters und Knodels Schlussfolgerungen aus landwirtschaftlichen Arbeitsspitzen. 440 Hochzeitshäufungen ent elen dagegen traditionell besonders auf den ersten Monat des Jahres bzw. in katholisch geprägten Territorien zusätzlich auf den November. 441 Am Beispiel des protoindustriell geprägten Monschauer Landes beobachtete Schmalz hingegen keine spätsommerliche arbeitsbedingte Unlust im 19. Jahrhundert, konnte dafür aber die Fastentiefs mit vorgezogenen oder nachgeholten Ersatzhochs in November, Januar und April bestätigen. Ein extremes Maximum im Mai erklärte er mit persönlichen Vorlieben der Heiratenden für den „Wonnemonat“. 442 Die zu Beginn des Untersuchungszeitraums rein evangelischen, agrarisch orientierten Gesellschaften Rußdorfs und Bräunsdorfs sollten demnach anfangs religiös und arbeitstechnisch bedingte saisonale Heiratshäufungen zeigen. Parallel zum Bedeutungsverlust des primären Sektors für die Dorfwirtschaften steht insbesondere für das auch an der Fabrikindustrialisierung partizipierende Rußdorf spätestens in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts ein Ausgleich des mutmaßlichen spätsommerlichen Nuptialitätstiefs zu erwarten. Des Weiteren ist für beide Dörfer mit einer weitestgehenden Egalisierung des saisonalen Heiratsverhaltens im ausgehenden 19. und beginnenden 20. Jahrhundert, dem damals offenbar werdenden bzw. teils beginnenden latenten Bedeutungsverlust tradierter religiöser, brauchtümlicher und gesellschaftlicher Normen, Zwänge und Rücksichten geschuldet, zu rechnen. 443

440 441 442 443

Vgl. P ster, Bevölkerungsgeschichte, S. 24f. u. Knodel, Behavior, S. 144. Vgl. Rödel, Walter G., Die demographische Entwicklung in Deutschland 1770–1820, online: http://www.regionalgeschichte.net/bibliothek/texte/aufsaetze/roedel-entwicklung.html [zuletzt aufgerufen am 20.06. 2016]. Vgl. Schmalz, Familienrekonstitution, S. 80f. Vgl. Ehmer, Bevölkerungsgeschichte, S. 51.

SAISONALE HEIRATSVERTEILUNG

165

Für die nachfolgende Betrachtung wurde ein monatlicher Index nach der in Kapitel 4.2 bereits angewandten Methode Wrigleys erstellt. Dabei steht 100 für den theoretischen Anteil eines Monats bei Gleichverteilung der Hochzeiten über das Jahr. Den unterschiedlichen Monatslängen wurde ebenso Rechnung getragen, wie Schaltjahre mittels Annahme einer Jahreslänge von 365,25 Tagen Beachtung fanden.

Rußdorf Die Entwicklung der saisonalen Heiratsverteilung in Rußdorf entspricht den getroffenen Annahmen vollumfänglich (Abb. 23). Während des 17. Jahrhunderts traten klar Februar und November, der allein bis zu 45 Prozent aller Trauungen einer Kohorte auf sich vereinte, als Monate höchsten Heiratsaufkommens in Erscheinung. Dezember, März und April wurden demgegenüber als Fastenmonate gemieden 444. Ein weiteres Tal im Spätsommer deutet zusätzlich zu den religiösen wirtschaftliche Ein üsse an. Dies bestätigt P sters Feststellung, wonach „der Jahres-Rhythmus [...] in protestantischen Gebieten im Sinne einer strikteren Rücksichtnahme auf die Feldarbeiten ‚agrarisch` geprägt“ war. 445 Schon im 18. Jahrhundert zeichnen sich Vereinheitlichungstendenzen durch leichte Abschwächung des Novemberhochs sowie signi kante Stärkung des vierten und fünften Monats ab. Nach 1800 entwickelte sich der Mai gemäß Schmalz' Ergebnissen zur beliebtesten Jahreszeit. Anfang des 20. Jahrhunderts sind die vormaligen Gipfel und Täler noch erkennbar, aber kaum ausgeprägt. Ein Wandel des tradierten Heiratsverhaltens zeichnet sich seit dem späten 18. Jahrhundert ab. Zuerst geriet die Aussparung des Spätsommers ins Wanken. Zwischen 1582 und 1770 sind in Rußdorf lediglich fünf Augusthochzeiten belegt. Der mutmaßliche Hausgenosse Stephan Grosdietze heiratete 1582 eine Braut aus maximal kleinbäuerlichen Kreisen, der Sohn des ansässigen Hufschmieds 1716 die Tochter eines königlichen Leibkutschers in Dresden, der Gärtner Michael Wagner 1726 eine Häuslerwitwe aus Limbach, der strumpfwirkende Inwohner Christian Friedrich Weber 1758 eine Chemnitzer Postillionswitwe und der Waldenburger Strumpfwirker Christian Friedrich Zeißig 1760 die Tochter eines Rußdorfer Häuslers. 446 Keiner der Genannten verdiente seinen Lebensunterhalt im agrarischen Bereich und nur einer besaß überhaupt agrarische Nutz äche. An das landwirtschaftliche Arbeitsjahr waren sie demnach nicht gebunden. Seit 1773 traten Augusttrauungen immer häu ger auf, obwohl sich der Monat innerhalb der Beliebtheitsskala weiterhin am unteren Ende einordnete. Spannfähige oder handdienstp ichtige Bauern waren bis zum

444 445 446

Das jährliche Intervall der 40-tägigen vorösterlichen Fastenperiode schwankte abhängig vom Datum des Ostersonntags zwischen 4. Februar bis 22. März und 10. März bis 25. April. P ster, Bevölkerungsgeschichte, S. 24 f. Vgl. EPA Rußdorf, KB I, Hochzeitsregister.

166

NUPTIALITÄT

Abbildung 23: Monatlicher Index der Rußdorfer Hochzeiten

Ende der Untersuchungsperiode lediglich in Ausnahmefällen darunter. Offensichtlich wählten nur Angehörige der gewerbetreibenden unterbäuerlichen Schichten, die in den Erntemonaten kein erhöhtes Arbeitsaufkommen kalkulieren mussten, diese Jahreszeit. Die seit dem 18. Jahrhundert steigenden Hochzeitszahlen im August und mehr noch im September gehen mit einem gleichzeitigen Wachstum der geringlandbesitzenden bzw. der landbesitzlosen Bevölkerungsteile konform. An der trotzdem bis in die 1930er Jahre, im Gegensatz zum September, der freilich schon in der Frühneuzeit weniger stringent gemieden worden war, unterdurchschnittlichen Belegung des achten Monats mit Hochzeitsterminen wird jedoch offenbar, wie fest das rationalökonomisch entstandene bäuerliche Heiratsmuster im Brauchtum der zu diesem Zeitpunkt überwiegend industrialisierten Gesellschaft verankert war. Seit den 1790er Jahren musste das traditionelle quantitative Übergewicht im November statt ndender Eheschließungen Abstriche hinnehmen. Zwar blieben Termine im elften Monat bis in die 1930er Jahre gefragt, doch hob sich die weit überdurchschnittliche Häufung zugunsten eines ausgeglicheneren saisonalen Heiratsgeschehens auf. Gleich dem erntemonatlichen Tief zog der spätherbstliche Gipfel seine Nahrung wahrscheinlich in erster Linie aus agrarwirtschaftlich bedingten Rücksichten und Zwängen. Mit Blick auf die Fastenzeit vorgezogene Hochzeiten spielten eine untergeordnete Rolle. Gefüllte Speisekammern und das Ruhen saisonal zu verrichtender Feldarbeiten begünstigten sicherlich die Feierlaune. Ursprünglich stand der Oktober ähnlich hoch in der Gunst Heiratender, verlor aber schon Anfang des 18. Jahrhunderts sichtlich an Beliebtheit.

167

SAISONALE HEIRATSVERTEILUNG

Tabelle 11: Monatliche Verteilung der Rußdorfer Hochzeiten (Angaben in %) Jan. 1582–1629 1630–1679 1680–1729 1730–1779 1780–1829 1830–1879 1880–1935

Feb.

März

April

Mai

Juni

Juli

Aug.

Sept.

Okt.

Nov.

Dez.

20,69 12,64 8,06 16,94

1,72 2,42

2,30 1,61

3,45 5,65

4,60 4,03

2,87 1,61

0,57 0,00

0,00 16,67 32,18 4,03 20,97 33,06

2,30 1,61

5,29 14,12 14,19 12,21

1,76 1,32

4,12 9,24

5,88 6,93

2,94 4,95

2,94 4,29

1,18 1,65

4,71 17,65 38,82 3,30 11,22 30,03

0,59 0,66

14,32 15,06

0,74

8,89 12,10

5,93

5,19

4,20

6,42 10,62 16,54

0,00

14,07 11,22

2,01

6,70 10,22

8,21

8,54

1,51 10,39

6,70 18,26

2,18

4,77

9,38 12,04

8,13

8,62

5,31

9,00 11,01

8,62

6,72

6,45

9,92

Das Gebot, in der Fastenzeit auf Festlichkeiten wie die Hochzeitsfeier zu verzichten, befolgten die Rußdorfer in abgeschwächter Form bis ins 20. Jahrhundert. Eine gewisse gesamtgesellschaftliche Säkularisierung der Heiratspraxis verdeutlicht nichtsdestotrotz Tabelle 11. Seit Einführung der Zivilehe 1876 wurde der vorweihnachtlichen Fastenperiode immer weniger Bedeutung beigemessen. Binnen fünf Jahrzehnten stieg der zwölfte zum drittbeliebtesten Hochzeitsmonat auf, obwohl von 1582–1875 nur 15 Dezembertrauungen über die Rußdorfer Kirchbücher belegbar sind. Parallel verlor auch die vorösterliche Buß- und Fastenperiode an Geltung. Dennoch fand sie bis zum Ende des Untersuchungszeitraums im Gegensatz zur adventlichen weiter Beachtung, indem der März am Ende die niedrigste Nuptialität aller Monate vorzuweisen hatte. Die ohne Frage auf ideelle Beweggründe zurückgehende Favorisierung des Mai erlebte ihren Durchbruch nach 1890. Von einem sicherlich kriegsbedingten Einbruch in den 1910er Jahren abgesehen, stand der Frühlingsmonat in der Beliebtheit der Rußdorfer seitdem durchgängig an oberster Stelle.

Bräunsdorf Die Entwicklung des saisonalen Heiratsaufkommens in Bräunsdorf zeichnet in Abbildung 24 dasselbe Bild. Seit Überlieferungsbeginn Mitte des 17. Jahrhunderts präsentiert der elfte Monat die höchste nuptiale Frequentierung, dicht gefolgt vom Oktober. Eine weitaus kleinere, kaum den Durchschnitt überschreitende Spitze zeigt der Februar. Demgegenüber schlagen März, August und Dezember als Jahresabschnitte niedrigster Heiratslust zu Buche. Schon im 18. Jahrhundert begannen die Extreme wie im Rußdorfer Beispiel, sich einander anzunähern. Der Februargipfel wuchs, das Novemberhoch schrumpfte, März und August wurden etwas weniger rigoros gemieden. Im Laufe des 19. Jahrhunderts deutete sich die neue Beliebtheit des Mai bei fortschreitender saisonaler Egalisierung an. Am Ende des Untersuchungszeitraums zeigt er die höchste Spitze, während sich die ehemals bestimmenden Maxima und Minima nurmehr schematisch andeuten.

168

NUPTIALITÄT

Gleich der Rußdorfer Situation setzte im 18. Jahrhundert ein Wandel des lokalen Heiratsverhaltens ein. Zuerst führte das Wachstum der unterbäuerlichen, primär gewerblich tätigen und des landwirtschaftlichen Arbeitsjahrs enthobenen Schichten seit den 1760er Jahren zur stärkeren, wenngleich weiterhin marginalen Nutzung des Spätsommers (Tab. 12). Der in Gornsdorf ansässig gewordene Schulmeister und Bräunsdorfer Pastorensohn Timotheus Quodvultdeus Leupold heiratete 1766 als erster Bräunsdorfer nachweislich im August. 447 Weitere mehrfach durch zuvor erfolgte Schwängerung der Braut beschleunigte Hochzeiten in unterbäuerlichen Kreisen folgten hernach diesem Beispiel. Dennoch zählte insbesondere der achte Monat auch am Ende der Untersuchungsperiode zu den unbeliebtesten Jahresabschnitten. Der ebenfalls aus landwirtschaftlicher Sicht arbeitsintensive September lag hingegen trotz ähnlichem Hintergrund seit den 1830ern durchschnittlich in der Gunst heiratender Paare. Tabelle 12: Monatliche Verteilung der Bräunsdorfer Hochzeiten (Angaben in %) Jan.

Feb.

März

April

Mai

Juni

Juli

Aug.

Sept.

Okt.

Nov.

Dez.

1640–1679 1680–1729 1730–1779 1780–1829

5,77 9,62 9,47 10,00 12,73 17,08 17,79 15,14

0,96 1,58 3,11 1,92

0,96 5,77 3,68 3,16 4,04 6,52 8,17 11,06

5,77 2,11 4,97 6,73

0,96 3,16 4,35 6,97

0,00 0,00 1,86 2,88

0,96 25,00 42,31 4,21 16,84 44,21 1,55 11,18 32,30 5,53 5,29 18,27

1,92 1,58 0,31 0,24

1830–1879

13,69 10,27 7,57 6,67

1,33 4,41

9,89 11,60 9,72 12,43

7,03 9,94

8,17 8,25

1,14 4,52

9,89 11,22 15,40 9,49 7,68 10,06

0,38 9,27

1880–1935

Abbildung 24: Monatlicher Index der Bräunsdorfer Hochzeiten

447

Vgl. ebd., Hochzeiten 1766, Nr. 5.

SAISONALE HEIRATSVERTEILUNG

169

Die Meidung der vorösterlichen Fastenzeit unterlag kaum Veränderungen. Obwohl der März seit den 1910ern im Verhältnis leicht vermehrten Zuspruch erfuhr, blieb er doch deutlich unterrepräsentiert. Die weihnachtliche Fastenperiode verlor ihre Bedeutung wie in Rußdorf seit den 1870er Jahren in auffallender Gleichzeitigkeit mit der Einführung der Zivilehe. Vor allem nach 1900 wurde der Dezember oft gewählt und stand in den frühen 1930er Jahren sogar an der Spitze der Beliebtheitsskala. Parallel büßten Januar und November zugunsten gleichmäßigeren saisonalen Heiratsgeschehens weiter an Popularität ein. Tatsächlich hatte der November bereits seit den 1770er Jahren seine Dominanz verloren. Der Oktober war desgleichen schon 40 Jahre eher seiner vormaligen Bevorzugung verlustig gegangen. Die tradierten, die Wahl des Trautermins maßgeblich bestimmenden Prinzipien bewahrten analog zum Rußdorfer Beispiel in Bräunsdorf bis ins 20. Jahrhundert nurmehr partiell Geltung und traten hinter individuelle Vorlieben der Heiratenden zurück. Nicht umsonst erfuhr der Mai auch in Bräunsdorf während des 19. Jahrhunderts erhöhten Zuspruch und stieg im ersten Drittel des 20. an die Spitze der Beliebtheitsskala.

Zusammenfassung Die saisonale Heiratshäu gkeit Rußdorfs und Bräunsdorf ist über den gesamten Untersuchungszeitraum in hohem Maße gleichartig und zeigt entsprechend in beiden Orten eine identische Entwicklung. Ähnliche Verteilungsmuster wurden des Weiteren im mitteleuropäischen Raum mehrfach beschrieben. Unter anderem zeichnen Wrigley und Scho eld für England ein analoges Bild. 448 Diverse Elemente, etwa das Novemberhoch und die Tiefstände in März, August und Dezember dürfen gar als typisch angesehen werden. Wie gezeigt wurde, nehmen Faktoren verschiedenster Art in spezi scher Weise auf das Heiratsverhalten Ein uss. Jahreszeitliche Gipfel und Täler geben daher zuverlässige Hinweise auf gesellschaftliche Funktionsweisen, so wie deren Verschiebung, Maximierung oder Minimierung Veränderungen der Lebensweise indizieren. Rücksichten auf das „landwirtschaftliche Jahr“ konnten als eine zentrale Determinante saisonalen Heiratsaufkommens identi ziert werden. Die arbeitsintensive Erntezeit in August und September wurde gemieden, Ruheperioden erfreuten sich hingegen hoher Popularität. Insbesondere Oktober und November pro tierten davon. Ein für England beschriebenes analoges Frühsommerhoch entbehrt allerdings einer Entsprechung im Untersuchungsgebiet. Dagegen mag eine dort festgestellte Verbindung zwischen Novemberhoch und Gesindedienstwechsel auch in Sachsen Geltung gehabt

448

Vgl. Scho eld/Wrigley, Population, S. 298ff.

170

NUPTIALITÄT

haben. Demzufolge wurde der Stellungswechsel bevorzugt zum Anlass genommen, den Familienstand und damit die gesamte Lebenssituation zu verändern. 449 Religiöse Gebote bestimmten traditionell mittelbar über die Wahl das Trautermins. Die beiden Fastenzeiten vor Ostern und um Weihnachten waren der Kirche heilig und daher den Heiratswilligen ein Tabu. Tatsächlich beanspruchten März und Dezember in beiden Untersuchungsorten anfänglich die niedrigsten Anteile am Heiratsaufkommen. Individuelle Vorlieben und Abneigungen Verlobter spielten eine weitere zentrale Rolle, entziehen sich aber im Allgemeinen ob fehlender schriftlicher Überlieferung der nachträglichen Erklärung. Möglicherweise spielten sie in das anfängliche Oktober- und länger anhaltende Novemberhoch ob guter Bedingungen mit hinein. Für diese Annahme spricht die ohne erkennbare Ursache seit dem späten 17. Jahrhundert abnehmende Neigung zu Oktoberhochzeiten. Die sich wandelnde Mode liefert eine probate Begründung des Vorgangs. Gleichsam mutet die zunehmende Favorisierung des Mai seit Ende des 19. Jahrhunderts eher ideell denn rationell bedingt an und entbehrt das in Rußdorf wie Bräunsdorf bis ins 20. Jahrhundert herrschende Augusttief zum Ende hin jeder rationalökonomischen Legitimation. Immerhin verloren landwirtschaftliche saisonale Arbeitsrhythmen spätestens mit der Industrialisierung nach 1800 für die Bevölkerungsmajorität jedwede Relevanz. Insofern erscheint das Beibehalten der Meidung als zur Tradition gewandelte Notwendigkeit. Einen vierten den Heiratszeitpunkt beein ussenden Faktor stellten soziale und private ökonomische Zwänge dar. Zum Beispiel musste eine Hochzeit binnen Jahresfrist nach der Verlobung erfolgen. Andernfalls galt diese für gelöst. Desgleichen strebte manch verwitwete Person eine rasche neuerliche Zweckheirat an, um etwa die Funktionsfähigkeit des Haushalts aufrechtzuerhalten. Dabei mussten Witwen ein Trauerjahr abwarten. Weit größere Auswirkungen hatten jedoch voreheliche Konzeptionen. Wurden diese bzw. mehr noch uneheliche Geburten, wie in den Untersuchungsorten bis ins 19. Jahrhundert geschehen, gesellschaftlich geschmäht oder gar mit Strafen belegt, war eine frühe Hochzeit das beste Mittel, den Schaden möglichst gering zu halten. Um Schwangerschaften nicht offenbar werden zu lassen, wurden Trauungen oftmals in Ansehung einer verbotenen Zeit vorgezogen. Stand hingegen nurmehr die illegitime Geburt zu vermeiden, konnte der Hochzeitstermin auch in die sonst gemiedenen Monate fallen. Wie Schmalz am Beispiel des Monschauer Landes bemerkte, trugen vorgezogenen Eheschließungen vorrangig zu saisonalen Häufungen vor den Fastenperioden bei. 450 Zweierlei Prozesse bedingten eine in Rußdorf und Bräunsdorf gleichförmig verlaufende sukzessive Verminderung saisonaler nuptialer Heterogenität: Einerseits verloren die Gesetzmäßigkeiten des landwirtschaftlichen Arbeitsjahres an Bedeutung. Zwar 449 450

Vgl. ebd., S. 303. Vgl. Schmalz, Familienrekonstitution, S. 86.

HEIRATEN NACH WOCHENTAGEN

171

nahmen Bauern bis ins 20. Jahrhundert auf Arbeitsspitzen Rücksicht, doch drängte das im späten 17. Jahrhundert seinen Anfang nehmende und in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts exponentielle Ausmaße annehmende Wachstum unterbäuerlicher Schichten, welche sich von kontinuierliches Arbeitsaufkommen bringenden Gewerben oder Dienstleistungsgeschäften nährten und daher zu gleichmäßigerem saisonalen Heiraten neigten, die Voll- und Kleinbauernschaft in eine Minderheitenposition. Andererseits trägt das aufklärerisch geprägte „lange 19. Jahrhundert“ auch im Limbacher Land klare Züge einer Säkularisierung. Dieser elen unter anderem die Fastenperioden zum Opfer. Wurde die Osterzeit bis ins 20. Jahrhundert nur zaghaft angetastet, el das Heiratsverbot der Adventszeit mit der Einführung der Zivilehe 1876. Hierin bestätigt sich die geringere Bedeutung der weihnachtlichen Buß- und Fastenzeit in protestantischen Gebieten. Ganz offensichtlich zeichneten vor allem die Ortspfarrer und nicht religiöse Rücksichten der Bevölkerung für die vorhergehende Einhaltung des Verbots im Dezember verantwortlich. Ohne die Einwilligung der Pfarrherren konnte eine Trauung nicht vollzogen werden. Die seit dem 16. Jahrhundert leicht überdurchschnittliche Konzeptionsfreudigkeit des Dezembers (Kap. 4.2) lässt über die Haltung der Ortsbewohner wenig Zweifel aufkommen. Sobald der Staat die Ehe der kirchlichen Deutungshoheit enthoben hatte, trugen dem auch die Hochzeitstermine Rechnung.

5.3 HEIRATEN NACH WOCHENTAGEN Vielerlei Zwänge determinierten die Wahl des Heiratsmonats. So verwundert es wenig, dass auch die Entscheidung für einen konkreten Wochentag Einschränkungen unterlag. Ökonomisch orientierte Erwägungen spielten hierbei in vorindustrieller Zeit eine eher untergeordnete Rolle. Pauschal festgesetzte Arbeitszeiten waren den gesellschaftlich dominierenden, weitgehend eigenverantwortlich schaffenden Familien- bzw. Hauswirtschaften gerade im ruralen Raum unbekannt. Feste konnten nach Gutdünken der Ausrichtenden faktisch jederzeit angesetzt werden. Einzig der trauende Pfarrer vermochte in den christlich geprägten Regionen Mitteleuropas Ein uss auf den Hochzeitstermin zu nehmen, indem er im Interesse religiöser Gebote gegen Eheschließungen an oder kurz vor kirchlichen Festtagen insistierte. Wurde die Autorität des Geistlichen nicht anerkannt bzw. die pastorale Intervention ignoriert, konnte dieser zumindest an keinem Wochentag nach eigenem Gutdünken seine ausführende Mitwirkung verweigern. „Die Copulation geschahe, wieder meinen willen, den 10. 9br, solte den 8 geschehen, damit der Sontag nicht zum Fraß u. Sauffetage gemacht würde. Es wird diese Priester Teuschung diesen Ehleuten keinen Seegen bringen.“, vermerkte der Bräunsdorfer Pfar-

172

NUPTIALITÄT

rer Johann Siegmund Stoltze 1707 im Traueintrag des Hausgenossen Johannes Hähl. 451 Die hierin zum Ausdruck kommende Sorge war nicht unberechtigt. Hochzeitsfeiern gestalteten sich selbst in ärmeren Kreisen auf dem Land als ausladende Feste. Nicht grundlos zählte das Viertel Bier, nach Fritzsche 25,98 Liter 452, neben weiteren variablen Gütern und Geldmitteln in den betrachteten Dörfern zur traditionellen, anlässlich ihrer Eheschließung ausbezahlten Ausstattung weichender Grundbesitzerben beiderlei Geschlechts. Der früheste Beleg dieser Praxis datiert 1605. Anlässlich des Erbkaufs seines väterlichen Anspanngutes verp ichtete sich der Rußdorfer Nicol Bretschneider: „Was des Keufers Schwester die Barbara ahnbelanget zu ihren ehren, so soll der Keufer der Gutter der Schwester gebenn 3 Neu Schock zu Kleidern, 1 Virtel Bier, 1 zimlich gemestes Schwein, Thrunen und Küsten, und 1 Sipmaß Lein ihr seen alle ihar, biß sie sich verehlichet.“ 453 Diese Tradition zeichnete sich durch hohe Kontinuität aus. Mindestens bis ins frühe 19. Jahrhundert wurde sie prinzipiell beibehalten. Noch 1812 versprach der Bräunsdorfer Johann August Bretschneider, „seinen Geschwistern bey ihrer Verheurathung oder beym Auszuge jedem eine halbe Tonne Bier, ein Sipmaas Korn, ein Sipmaas Gerste, ein Gerichte Fleisch, Butter, Käse und Brod zu geben“. 454 Gefeiert wurde üblicherweise über mehrere Tage, wie die zitierte Notiz beim Traueintrag Hähls beweist. Die Hochzeit am 10. September, einem Samstag, geschah bereits gegen den erklärten Willen des Ortsgeistlichen, wohingegen sie am Donnerstag ohne Vorbehalte vollzogen worden wäre. Davon ausgehend betrug die traditionelle Feierzeit im Untersuchungsgebiet maximal drei Tage. Den Befund eines gebräuchlich ausschweifenden, mehrtägigen Hochzeitszeremoniells stützt auch der Beerdigungseintrag eines Rußdorfer Inwohners. Am Donnerstag dem 11. Juni 1767 ehelichte der „Pachtschenckwirth der Entenschencke in der Mittelstadt Waldenburg“ eine Tochter des Rußdorfer Gärtners und Leinwandhändlers Michael Haupt. 455 Abraham Friedrich [...] gehet d. 12. Jun: gegen Morgen ins Hochzeithauß bei Michael Haupten [...]. übernimmt sich nicht allein selbst aufs äuserste in Eßen u. Trincken, sondern wird auch von einigen Hochzeitgästen übermäsig zum Brandewein genöthiget, mit Schwärtzen im Gesichte u. dergl. gemißhandelt, worauf ihn Andreas Frischmann [...] ein Stücke vom Hause heimweg geführet, u. unter freien Himmel liegenlaßen bis ihn gegen 7 Uhr Michael Schultze [sein Schwager] zu sich ins Hauß genommen, u. alles an ihm versucht, um ihn wied. zu sich selbst zu bringen, iedoch vergebens, so dß. er abends 6 Uhr ohne alle Vernunft dahin gefahren. 456

451 452 453 454 455 456

Vgl. EPA Bräunsdorf, KB I, Trauungen 1707, Nr. 3. Vgl. Fritzsche, Jacobi, S. 163. ThStA Abg, Amtsgericht Altenburg, C I Loc. 1, Nr. 136, fol. 17. HstA-D, 12613 GB Limbach, Nr. 7: Gerichtsbuch Bräunsdorf, 1810–1821, fol. 187b. EPA Rußdorf, KB I, Hochzeiten 1767, Nr. 6. Ebd., Beerdigungen 1767, Nr. 7.

HEIRATEN NACH WOCHENTAGEN

173

Mit Sicherheit ließen derartige Traditionen die Wahl eines konkreten Hochzeitstermins ebenso wenig unbeein usst wie kirchliche Gebote und wirtschaftliche Zwänge dessen saisonale Verortung. Ohne Frage entschieden sich die Rußdorfer und Bräunsdorfer, wenn es ans Heiraten ging, bewusst für einen Wochentag. Zu uneinheitlich ist die Häu gkeitsverteilung der Trauungen über die Woche während des gesamten Untersuchungszeitraums. Ebenso wenig blieb die Beliebtheit einzelner Tage unverändert. In auffälliger zeitlicher Kongruenz wechselten die Geschmäcker der Heiratenden beider Dörfer mehrfach. Vom späten 16. Jahrhundert bis in die 1640er Jahre favorisierten Rußdorfer Brautpaare nach Abbildung 25 die erste Wochenhälfte. Während das lokale Kirchbuch in manchen Dekaden von Donnerstag bis Samstag keine einzige Trauung verzeichnete, vereinten Sonntag bis Mittwoch in den primären sieben Jahrzehnten minimal 83,33 Prozent aller Eheschließungen auf sich. Den Löwenanteil hielt durchgängig der Dienstag, bevor er seiner Spitzenposition ab den 1650er Jahren verlustig ging. Kurzzeitig stieg die Beliebtheit der Wochenmitte (1660–1679), dann verschob sich der Schwerpunkt für neun Dezennien auf den Donnerstag (zw. 32,84 % u. 62,96 %). Etwa 30 Jahre lang lagen Sonntag, Dienstag und Donnerstag in der Gunst heiratender Rußdorfer 1740– 1769 gleichauf. Anschließend verloren die letzten beiden zugunsten des Sonntags stark an Gewicht. Seit den 1790ern ent elen darauf kontinuierlich weit über 50 Prozent der Trauungen eines Jahrzehnts. Ein absoluter Beliebtheitshöhepunkt wurde in den 1830er Jahren mit 91,78 Prozentpunkten erreicht. Nach dem Ersten Weltkrieg ging die über eineinhalb Jahrhunderte währende Favorisierung wieder rapide über 30,42 (1920/1929) auf 2,44 Prozent (1930/1935) 457 zurück. Allein hierin wird offenbar, dass sich auch zum Ende des betrachteten Zeitraums keine prinzipielle Änderung der Rußdorfer Heiratspraxis hin zu gleichmäßiger Nutzung der Woche abzeichnete. Im Gegenteil avancierte letztendlich der Sonnabend zum meistgefragten Tag, während sich die übrigen mit Ausnahme des Montags (11,22 %) anteilmäßig dem Durchschnitt (14,29 %) nicht im Mindesten annäherten. Das Heiratsverhalten der Bräunsdorfer spiegelte die Rußdorfer Entwicklung größtenteils, wie Abbildung 26 verdeutlicht. Ob auch dort die Dienstagstrauungen vor Überlieferungsbeginn dominierten, sei dahingestellt. Mitte des 17. Jahrhunderts stand der Sonntag hoch in der Gunst, während Dienstag und Mittwoch an zweiter bzw. dritter Stelle mit je 15–20 Prozent Anteil nah beieinanderlagen. Nach einem abrupten Wechsel wurde von 1660–1739 klar der Donnerstag favorisiert (zw. 26,09% 1720/1729 u. 61,11 % 1670/1679), zumindest der Dienstag jedoch gleichzeitig nie verschmäht (zw. 18,75 %

457

Bei den Einsegnungen, die ab 1876 mit den vormaligen kirchlichen Hochzeiten gleichzusetzen sind, blieb die Beliebtheit des Samstags bis in die 1930er Jahre hinter der bei den standesamtlichen Hochzeiten zurück, während der Sonntag höhere Anteile verbuchen durfte und in den 1930ern noch von 14,1 Prozent der Rußdorfer Paare genutzt wurde.

174

NUPTIALITÄT

Abbildung 25: Wochentägliche Verteilung der Rußdorfer Trauungen

1660/1669 u. 47,83% 1720/1729). Anschließend näherte sich die Beliebtheit beider Tage einander binnen drei Dekaden auf niedrigerem Niveau an, während Sonntagshochzeiten abermals in der Gunst stiegen. Bereits in den 1770er Jahren fanden 55,22 Prozent der Bräunsdorfer Heiraten am damals ersten Tag der Woche statt. Die lokale Favorisierung des Sonntags gelangte in den 1820er Jahren auf ihren Höhepunkt (93,27%) und ging danach analog zum Rußdorfer Fall sukzessive zurück, um im Anschluss an den Ersten Weltkrieg gänzlich abzuebben (4,44% 1930/1935) 458. Stattdessen wurden zwischen 1880 und 1919 auch Montage kurzzeitig gern gewählt und der Samstag ab 1920 zum beliebtesten Hochzeitstag (78,52% 1930/1935) erhoben. Statistische Gleichverteilungstendenzen werden auch im Bräunsdorfer Fall zu keinem Zeitpunkt ersichtlich. Welcher Gestalt die offenkundig in beiden Dörfern gleichermaßen zur Anwendung kommenden Prinzipien der Wochentagswahl waren, bleibt unklar. Scho eld vermutete hinter der Favorisierung von Sonntagen und Montagen ein protestantisches Phänomen. In 26 englischen Pfarreien beobachtete er zwischen 1570 und 1660 eine abnehmende Be458

Bei den Bräunsdorfer Einsegnungen blieb die Beliebtheit des Samstags bis in die 1930er Jahre hinter der bei den standesamtlichen Hochzeiten deutlich zurück, während der Sonntag höhere Anteile verbuchen durfte und in den 1930ern noch von 33,04 Prozent der Rußdorfer Paare genutzt wurde.

HEIRATEN NACH WOCHENTAGEN

175

Abbildung 26: Wochentägliche Verteilung der Bräunsdorfer Trauungen

liebtheit des Sonntags zugunsten von Donnerstagshochzeiten. Diese verloren zwischen 1660 und 1780 ihre Popularität an Montagstrauungen, welche nach 1800 durch samstägliche ersetzt wurden. 459 Die Unterschiede zu den sächsischen Untersuchungsorten sind offenkundig, ein übergreifendes Muster ist nicht feststellbar. Gleichfalls kann die von Scho eld bestätigte, Montagsheiraten als protoindustrielles Charakteristikum wertende These am Beispiel Rußdorfs und Bräunsdorfs nicht unterstützt werden. Anfänglich scheint die Wahl im Limbacher Land brauchtümlichen oder ideellen Erwägungen gefolgt zu sein. Ein kollektiver Vorliebenwechsel über zwei Tage in der Wochenmitte, wie er im späten 17. Jahrhundert zu beobachten war, lässt sich kaum ökonomisch begründen 460. Ebenso wenig kommen Veränderungen eventueller kirchlicher Gebote als Ursache in Betracht, da sich der Bedeutungsverlust des Dienstags zugunsten des Donnerstags nur schrittweise und nicht umfassend vollzog. Die Einbeziehung des 459 460

Vgl. Scho eld, Montagskind, S. 92f. Möglicherweise ist der Wandel an das gleichzeitige Wachstum der unterbäuerlichen, neben- oder hauptberuflich gewerbetreibenden Schichten geknüpft. Gegenüber der zuvor gesellschaftlich bestimmenden Bauernschaft einem veränderten Arbeitsrhythmus gehorchend, erschien es den Gärtnern und Häuslern vielleicht wirtschaftlich vorteilhafter, die dreitägige arbeitsfreie Hochzeitsfeier dem ohnehin freien Sonntag voranzustellen, als die Arbeitswoche zu zerreißen.

176

NUPTIALITÄT

Mittwochs unterstreicht den Übergangscharakter dieses Prozesses. Die ab 1740 sprunghaft zunehmende Nutzung des Sonntags 461 weist hingegen auf die Aussetzung eines Gebots, am unstrittig beliebten „Tag des Herrn“ auf Hochzeiten zu verzichten, hin. Solches könnte einzig von kirchlicher Seite ausgesprochen worden sein. Die erneute, nale Verlagerung des Häu gkeitsschwerpunkts nach dem Ersten Weltkrieg mag indes durch individuell ideelle oder ökonomische Beweggründe motiviert sein. Ein Großteil der Einwohner beider Dörfer verdiente seinen Lebensunterhalt im frühen 20. Jahrhundert bereits unter fremder Ägide mit festen Arbeitszeiten außerhalb des eigenen Wohnraums. Die Tradition mehrtägiger Hochzeitsfeiern wurde in den 1920er und 1930er Jahren höchstens in bäuerlichen Kreisen noch gep egt. Lohnarbeiter nutzten ihren Anspruch auf Sonderurlaub im Hochzeitsfall vermutlich für einen „verlängerten“ Sonntag durch Eheschließungen an Samstagen oder seltener Montagen. Das gleichförmige Muster und die synchrone Entwicklung der nuptialen Wochentagswahl in Rußdorf und Bräunsdorf beweisen indes ungeachtet der unklaren Ursachenlage, dass die Wandlungen der Heiratspraxis im Speziellen bzw. die daran offenbar werdenden Änderungen der dörflichen Lebenswelt und Alltagskultur über Gemeindegrenzen hinweg wirkten.

5.4 HEIRATSALTER Das Konzept der Heirat ist, wie bereits festgestellt, ein rein abstraktes Konstrukt und existiert als solches fast zur Gänze von natürlichen Ein üssen losgelöst. Infolgedessen orientiert sich das Eheeintrittsalter ausschließlich an soziokulturellen und -ökonomischen Traditionen, Rücksichten und Zwängen. Das Hajnal'sche Theorem des westeuropäischen Heiratsmusters geht für das vorindustrielle Europa von einem ächendeckend relativ hohen Erstheiratsalter, d. h. einem den bis etwa zum 25. Lebensjahr reichenden Lebensabschnitt höchster Fertilität hinter sich lassenden, aus. Da Eheschließung und Familiengründung an die Erlangung spezi scher Heiratsfonds bzw. limitierter wirtschaftlicher und sozialer Positionen gebunden gewesen seien, hätten Erben vor ihrer Trauung meist den Erbfall abwarten und weichende Erben einerseits unter Umständen erst die benötigten Mittel akkumulieren respektive erarbeiten sowie andererseits vakant fallender Stellen harren müssen. 462 Dies habe insbesondere die potentiellen Bräutigame, deren durchschnittliches Heiratsalter darum leicht über jenem potentieller Bräute lag, betroffen. Des Weiteren habe auf dem 461

462

In Rußdorf wurden 1582–1739 insgesamt 31 Sonntagshochzeiten gefeiert, was einem Anteil von 6,28 Prozent der gleichzeitigen Gesamthochzeitszahl entspricht. Allein in den 1740er und 1750er Jahren wurden 33 Sonntagshochzeiten, 33,67 Prozent der Gesamthochzeitszahl geschlossen. Das Bräunsdorfer Verhältnis lag bei 25 (7,46 %) zu 26 (20 %). Vgl. Hajnal, Patterns, S. 130ff.

HEIRATSALTER

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platten Land im Allgemeinen ein enger Zusammenhang zwischen sozialer Herkunft und Erstheiratsalter der weiblichen Bevölkerung bestanden. Je höher der sozioökonomische Rang des Vaters, desto eher hätten sich dessen Töchter tendenziell verheiratet. 463 Generaliter liefen im ruralen Raum Kinder aus wirtschaftlich besser gestellten Familien seltener Gefahr, lebenslänglich ohne sozialen Absicherungsmechanismus gegen die Folgen von Alter und Krankheit im Ledigenstatus verbleiben zu müssen. Heimgewerbliche Arbeit, welche im Zuge der protoindustriellen Entwicklung mancher Gebiete zum Massenphänomen avancierte, bot theoretisch Gelegenheit, einige Regulative des westeuropäischen Heiratsmusters zu umgehen, da sie die Familiengründung im ländlichen Raum prinzipiell ihrer Bindung an den Erbgang enthob. Darum neigten protoindustrielle Regionen, wie Mendels feststellte, zu starkem Bevölkerungswachstum. 464 Außerdem wurden Hochzeiten in jungen Jahren dadurch nicht allein eher möglich, sondern konnten auch zum wirtschaftlichen Vorteil geraten. Das typische protoindustrielle Heimgewerbe bezog die gesamte Familie in den Produktionsprozess ein. Somit hätten höhere familiäre Kinderzahlen mehr Arbeiter und eine höhere Produktionskapazität bedeutet. Aus dieser materialistischen Sicht heraus, die das generative Verhalten einem ökonomischen Primat unterstellt, erschiene ein möglichst ausgedehnter ehelicher Fertilitätszeitraum als erstrebenswert. Dennoch folgte auch das modi zierte protoindustriegesellschaftliche Heiratsverhalten grundlegend den tradierten agrargesellschaftlichen Prinzipien. Deren maßgebliches Gewicht hob sich in Deutschland erst etwa zwischen 1870 und 1970 auf. 465 Der Staat beschränkte seine Ein ussnahme mit dem einheitlichen Eherecht von 1875 auf die Festsetzung eines Mindestalters von zunächst 16 Jahren für Frauen und 20 Jahren für Männer 466 sowie auf De nition einer praxis- und nachfrageorientierten, religiöse Gebote und politische Interessen berücksichtigenden Eheordnung. Wirtschaftliche Zwänge zählten nicht darunter. Zunehmend rückte die Hochzeit aus dem Zugriff öffentlicher Kontrolle in die rein private Verantwortung der Ehepartner. Die Liberalisierung von Eherecht und Heiratspraxis vergrößerte den individuellen Entscheidungsspielraum und die persönliche Partnerwahlfreiheit. Der Aufbruch der wirtschaftlichen Kerneinheiten Familie und Haushalt infolge fortschreitender Durchindustrialisierung der Lebenswelt sowie der Verlust ihrer Absicherungsfunktion parallel zum sich entwickelnden Sozialstaat trugen ihr Übriges bei. Ein sinkendes Heiratsalter resultierte daraus nicht unbedingt. Grundsätzlich durchlebten die Heiratsmuster vieler westeuropäischer Gebiete im 19. und 20. Jahrhundert denselben Wandel von traditioneller restriktiver zu moder-

463 464 465 466

Vgl. P ster, Bevölkerungsgeschichte, S. 28. Vgl. Mendels, Proto-Industrialization, S. 252. Vgl. Ehmer, Bevölkerungsgeschichte, S. 51. Vgl. Gestrich, Familie, S. 29.

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NUPTIALITÄT

ner liberaler Prägung. Dessen konkrete Verlaufsform variierte jedoch im regionalen und mikroregionalen Bereich extrem. Zu vielfältig sind die jeweils auf die Heiratspraxis wirkenden Systeme relevanter Strukturelemente. Welche Determinanten über das individuelle Heiratsalter bestimmten, wird anhand ortstypischer, an Sozialsystem, Traditionen, Gesetzen und ökonomischen Notwendigkeiten ausgerichteter präcopulativer Lebensverlauftypen ersichtlich. 5.4.1 Voreheliches Leben Innerhalb dörflicher Agrargesellschaften auf dem Gebiet des spätmittelalterlichen und neuzeitlichen Heiligen Römischen Reichs folgten Lebensläufe männlicher wie weiblicher Personen bis zur Eheschließung einem dreiteiligen Schema. Der erste Abschnitt währte etwa vier bis fünf Jahre, in denen Säuglinge bzw. Kleinkinder als passive Glieder der Hauswirtschaften mitliefen und von ihren Eltern, älteren Geschwistern, anderen im heimischen Haushalt lebenden Familienmitgliedern oder dem Gesinde betreut und erzogen wurden. 467 Ab einem Alter von vier bis fünf Jahren galten Kinder als arbeitsfähig. Um ihnen in alltäglicher Praktizierung lebensnotwendige Arbeitsabläufe, Fertigkeiten und soziale Kompetenzen zu vermitteln, wurden sie im Rahmen ihrer Möglichkeiten geschlechtsspezi sch in anfallende Arbeiten eingebunden. 468 Dabei entschied neben der traditionellen pragmatisch geschlechtsphysiologisch begründeten Rollen- bzw. Aufgabenverteilung, die Männern und Frauen klar getrennte Verantwortungsbereiche innerhalb der Familienwirtschaft zuteilte, auch die wirtschaftliche Ausrichtung des betreffenden Haushalts über die Art der Tätigkeiten. Lebten die Heranwachsenden in einer reinen Bauernwirtschaft, erstreckte sich ihr Aufgabenkreis über Arbeiten am und im Haus und Stall sowie auf Feld und Wiese, während der Nachwuchs rein handwerklich tätiger Hausgenossen ausschließlich an haus- und familienwirtschaftlichen sowie heimgewerblichen Aufgaben beteiligt werden konnte. Zusätzlich bestand für Kinder die Möglichkeit, außerhalb des Heimes leichte Dienstleistungen gegen Entlohnung innerhalb des Dorfes zu verrichten, wozu in manchen Fällen sicherlich die schlechte Einkommenssituation der Eltern zwang. Michael Heinzig, 1685 „des Pastoris Altweins Kühjunge von 8 Jahren“ 469, ist der einzige im Untersuchungsgebiet zweifelsfrei belegte infantile Lohnarbeiter aus vorindustrieller Zeit. Immer wieder wurde die Arbeitsp icht der Kinder in Gutskaufverträgen schriftlich xiert. Zum Beispiel verstand sich der Niederfrohnaer George Esche 1694 im Wiederkauf über seines Sohnes Gut nur unter der Bedingung, „daß sie mit ihren Vermögen arbeiten helffen“, dazu, seine Enkel „ohne entgeld [...] vollendts zuerziehen“. 470 Neben 467 468 469 470

Vgl. Meinel, Kinderleben, S. 31ff. Vgl. Weber-Kellermann, Landleben, S. 243ff. EPA Bräunsdorf, KB I, Taufregister 1677, Nr. 6, 1758 eingefügte Notiz. ThStA Abg, Amtsgericht Altenburg, C I Loc. 1, Nr. 148, fol. 88.

HEIRATSALTER

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den täglichen, mit zunehmendem Alter intensivierten familiären Verp ichtungen prägten mehr oder weniger regelmäßige Unterrichtsstunden in der Kirchschule den zweiten Lebensabschnitt. Obwohl Dorfschulen mindestens seit dem 16. Jahrhundert unter anderem in den betrachteten Ortschaften unter kirchlicher Ägide existierten, wurde die allgemeine Schulp icht erst deutlich später, im Herzogtum Sachsen-Gotha-Altenburg 1642 471 (6 Jahre) und im Königreich Sachsen 1835 472 (8 Jahre) eingeführt. Neben der Vermittlung grundlegenden Schulwissens lag vor allem die Vorbereitung auf die Konrmation durch Gesangsunterricht und Religionslehre im Verantwortungsbereich der Elementarschulen. Selbst Schreiben wurde nicht zwangsläu g gelehrt. So erachtete es der Kaufunger Pfarrer 1716 für bemerkenswert, dass der Rußdorfer Christoph Fuchs „der Schreiberey be ießen“ 473 war. Eine rigorose Durchsetzung der Schulp icht fand nicht statt. Gerade in ökonomischen Stoßzeiten wurde der lebensnotwendigen Arbeit oft Vorrang vor dem Schulbesuch eingeräumt. Unabhängig davon weisen bis ins 19. Jahrhundert Passus in zahlreichen Kaufverträgen der untersuchten Orte, in denen sich Käufer verp ichteten, ihre Zöglinge „zur Schule zu halten“, die kontinuierliche Teilnahme am Unterricht nicht als Selbstverständlichkeit aus. Entsprechend variabel erschien die Dauer der Schulzeit. Gemeinhin erlebten Kinder ihre Einschulung spätestens im sechsten Lebensjahr. 474 Bis in die 1870er Jahre endete die Kirchschulzeit mit der „Zulassung“ zur Kon rmation: Da die einzige Tochter erster Ehe [...] erst zu Ostern künftiges Jahr das heilige Abendmahl zum ersten Mal genießen wird, und mithin bis dahin die Schule besuchen muß, so soll Käufer selbige bis dahin [...] ununterbrochen in die Schule schicken auch das Schulgeld aus seinen Mitteln entrichten, und ihr die benöthigten Kleider zur Communion aus seine Mitteln anschaffen. 475

In der Regel zählten Kon rmanden zwölf oder 13 Jahre, jedoch reichte die im Rußdorfer Kon rmandenregister des 18. Jahrhunderts zu Tage tretende Altersspanne von zehn bis 15. 476 Schulische Ausbildung und Kon rmation trennten sich im Deutschen Kaiserreich erst 1872 durch Übertragung der Schulaufsicht von der Kirche auf den Staat. Die übliche P ichtschulzeit betrug nun ächendeckend acht Jahre. Der dritte typische voreheliche Lebensabschnitt schloss sich an die Kon rmation bzw. regulär an den 12. (17. Jahrhundert) 477 und später 14. Geburtstag an. Im religiösen

471 472 473 474 475 476 477

Vgl. Beck, August, Ernst der Fromme, Herzog zu Sachsen-Gotha und Altenburg. Ein Beitrag zur Geschichte des siebenzehnten Jahrhunderts, 1. Teil, Weimar 1865, S. 507. Vgl. Meinel, Kinderleben, S. 43. EPA Rußdorf, KB I, Hochzeitsregister 1716, Nr. 4. Abraham Frischmann verp ichtete sich 1695, seine Stiefkinder „wo nicht vor, doch in 6.sten Jahre zur Schule halten“ zu wollen. – ThStA Abg, Amtsgericht Altenburg, C I Loc. 1, Nr. 148, fol. 199. Ebd., Nr. 436, fol. 237. Vgl. ebd., Kon rmandenregister. „[...] weswegen der Stieffvater auch jährlich 3 Nso. Zuchtgeld von ieglichen Kinde biß und mit 12ten Jahr, gewöhnli-

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NUPTIALITÄT

Sinne trennte die Berechtigung zur Teilnahme am heiligen Abendmahl das Kind altersunabhängig vom Erwachsenen mit allen Rechten und P ichten, im juristischen endete offenbar mit dem 12. bzw. 14. Lebensjahr der Anspruch auf Fremdversorgung. Zum Beispiel musste Johann Gottlob Frischmann seiner Halbschwester 1816 versprechen, „die nöthigen Schuhe zu besorgen, bis sie 14 Jahr alt ist“ 478, und sollte Johann Michael Kühnert laut Kaufkontrakt von 1796 seine Stiefkinder in selbigem Alter ausbezahlen und bis dahin für deren Erziehung sorgen oder aufkommen. 479 Desgleichen vermerkte der Gerichtsschreiber 1837 im Kaufvertrag der Hanne Christliebe Gimpel: Die Käuferin [...] ist verp ichtet ihren noch unerzogenen Kindern vollends unentgeldliche zu erziehen, sie mit allen Lebensbedürfnissen zu versorgen, auch allen Aufwand für Schulunterricht, Medicin und ärztliche Bemühung auf ihre [...] Kosten zu bestreiten. [...] Wenn wieder Erwarten die Altersvormünder wegen erweißlicher Vernachläßigung und schlechter Behandlung ihrer Tugenden sich genöthiget sehen sollten, dieselben mit Obrigkeitl. Bewilligung von der Mutter wegzunehmen, und für deren Erziehung anderweit zu sorgen, so soll die Käuferin verbunden sein, nicht nur der Kinder Erbtheil baar auszuzahlen, [...] sondern auch für ein jedes Kind Ziehthaler conv. jährl. Zuschuß zu Bestreitung des Erziehungsaufwandes bis nach zurückgelegten 14ten Lebensjahre zuzahlen. 480

Allerdings wurde die Mündigkeit bzw. der rechtliche Erwachsenenstatus, der unter anderem zu Kauf oder Übernahme von Grundbesitz ermächtigte, erst mit dem 21. Lebensjahr, anlässlich dessen weichende Erben gerne ausbezahlt wurden, erreicht. Den Dorfjugendlichen stand nach ihrer Kon rmation eine begrenzte Zahl an Möglichkeiten offen, ins „Erwerbsleben“ einzusteigen und gegebenenfalls einen Heiratsfonds zu erwirtschaften. Frauen hatten die geringsten Wahlmöglichkeiten. Unabhängig von ihrer sozialen Herkunft blieb ihnen vor der Industrialisierung einzig der Gesindedienst in Dorf oder Stadt. In der Regel suchten sich junge Frauen eine Anstellung außerhalb des heimischen Haushalts, in dem sie lediglich aus wirtschaftlicher Notwendigkeit bzw. mangels freier Stellen verblieben. Analog zur Walz hatte die Praxis des externen Dienens neben dem schlichten Unterhaltsgedanken den Effekt, die im Idealfall demselben ökonomischen Kontext wie ihr Dienstherr entstammenden Knechte und Mägde in Vorbereitung der potentiellen eigenständigen Wirtschaftsführung zusätzlich zur heimischen Praxis mit anderen Formen dieser vertraut zu machen. Zudem mochte die Dienstzeit in teils erheblicher räumlicher Entfernung vom Heimatort der Erweiterung des individuellen Partnerwahlkreises sowie der ruralen Mobilität und genetischen Diversität zuträglich gewesen sein. Christina Böhm (* 1681), Tochter eines Seitenhainer

478 479 480

chermaßen von jährl. Zahlung davor inne behalten soll.“ – ThStA Abg, Amtsgericht Altenburg, C I Loc. 1, Nr. 148, fol. 199. HstA-D, 12613 GB Limbach, Nr. 7, fol. 401. Ebd., Nr. 5, fol. 465b. ThStA Abg, Amtsgericht Altenburg, C I Loc. 1, Nr. 487, fol. 94.

HEIRATSALTER

181

Wirts, verdingte sich exemplarisch nachweislich zwischen 1693 und 1701 beim damaligen Rußdorfer Amtsrichter, einem Cousin ihres Vaters, bevor sie 1702 einen Rußdorfer Gärtnersohn ehelichte und bis zu ihrem Tod vor Ort blieb. Die Dienstbotenzeit war innerhalb der „normalen“ ländlichen Erwerbsbiographie ein Durchgangsstadium, welches bei Frauen mit der Eheschließung sein Ende fand. Mitte des 19. Jahrhunderts trat infolge industrieller Entwicklung selbstständige ausbildungslose heimgewerbliche Arbeit in der Textilproduktion als Perspektive hinzu, die in erster Linie von Frauen klein- und unterbäuerlicher Schichten genutzt wurde. Die in Rußdorf geborene Theresia Hartig erscheint zum Beispiel 1847 im nahegelegenen Herrnsdorf als erste nachweisbare Spinnerin. Zu einem quellenmäßig belegbaren Massenphänomen avancierte die weibliche Heimarbeit jedoch erst in den 1870er Jahren. Nach 1900 begannen Frauen schließlich gleich ihren männlichen Altersgenossen langsam auch außerhalb der Textilherstellung bzw. -veredlung zuhause oder in Fabriken Berufe zu ergreifen und diesen ungeachtet einer etwaigen Eheschließung weiter nachzugehen. Pauline Hünl aus Komotau arbeitete 1903 als Kellnerin in Limbach, Emma Elsa Hofmann aus Cämmerswalde verdiente 1912 als Verkäuferin ihren Lebensunterhalt in Rußdorf, wo die Lehrerin Marie Ewalde Kruse 1915 ledig starb, Elly Frieda Weise aus Falken seit 1929 selbstständig frisierte oder etwa Senta Schmiedel 1922 ein Putzgeschäft eröffnete etc. 481 Adoleszente männlichen Geschlechts hatten demgegenüber seit Beginn der Untersuchungsperiode einen deutlich erweiterten Entscheidungsspielraum. Obgleich in seltensten Fällen genutzt, stand ihnen in Fortsetzung der Kirchschulschulzeit eine akademische Ausbildung an städtischen Bildungseinrichtungen theoretisch offen. Wie viele Jungen aus Rußdorf und Bräunsdorf diesen Weg gingen, ist nicht bekannt. Da sie ihren Heimatort dauerhaft verließen, schweigen die Kirchbücher in der Regel über ihren Verbleib bzw. Lebensweg. Eine Ausnahme stellt Christoph Heinrich Sebastian (1731–1773) dar. Als ältester Sohn des Rußdorfer Schenkwirts und langjährigen Steuer- und Geleitseinnehmers Christoph Sebastian promovierte er 1752 in Leipzig 482 und fungierte mindestens seit 1760 als „Hochgräflich Schönburgisch Wechselburgisch bestallter Hofsecretair“ und „adjungirter Amtschießer“ (1763) sowie Erb- und Lehnrichter (1772) in Leukersdorf. Der in den betrachteten Orten vorindustrieller Zeit üblicherweise eingeschlagene Weg männlicher Jugendlicher führte wie jener der Frauenschaft unter denselben Prämissen über den Gesindedienst. Designierte Erben, welche aus ihrer Sonderstellung ein Bleiberecht im elterlichen Haushalt ableiten durften, waren von dieser faktischen P icht vermutlich ausgenommen. Deren auszubezahlenden Brüdern bot die Dienstbotenzeit einerseits Möglichkeiten, sich unter Umständen nanziell aufzubessern, andererseits

481 482

Vgl. StALO, Rußdorf Gewerbeanzeigen, Nr. 29VA:1820: Alphabetisches Verzeichnis der erteilten Gewerbe-AnzeigeBescheinigungen, Gemeinde Ruhsdorf, 1930–1933. Sebastian, Christophorus Henricus, Dissertatio iuris gentium de iuramento iure gentium incognito, Leipzig 1752.

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in eventuell vakant fallende Stellen verstorbener Dienstherren einzuheiraten bzw. ihren Ehepartnerwahlkreis unter anderem um erbende Töchter zu vergrößern. Derartiges gelang Christoph Auerswald (1655–1699), der bei der Rußdorfer Schankwirtsfamilie Anstellung fand und seine verwitwete Herrin schließlich ehelichte. 483 Über das Mündigkeitsalter hinausgehendes Dienen oder kontinuierliche Ernährung durch die konzeptionell verwandte Tagelöhnerei nach dem 21. Geburtstag zählte allerdings zum nicht erstrebenswerten Schicksal ledig bleibender Männer. Eine Aufstellung über die männlichen Rußdorfer Einwohner jedweden Alters exklusive der landbesitzlosen Schicht weist die Praxis des dislozierten Gesindedienstes jedoch als rurales Unterschichtenphänomen aus. Alle lokalen Pferde- und Handbauern ließen ihre Söhne 1733 in der eigenen Wirtschaft dienen, während die männliche Nachkommenschaft der Gärtner und besonders der Häusler sich zumeist in anderen Dörfern verdingte. Zu Letzteren zählten noch Unkon rmierte wie zum Beispiel der neunjährige, in Oberfrohna angestellte Michael Pochert, der zwei Jahre danach erstmalig dem Abendmahl beiwohnte. 484 Sicherlich lagen dem in erster Linie ökonomische Erwägungen zugrunde. Bauern sparten sich durch den Rückgriff auf die Arbeitskraft eigener Kinder kostspieliges Dienstpersonal, Mittelschichtsangehörige durch den Dienstgang des Nachwuchses dessen Versorgung. Wen ausbezahlt die Abwanderung in den urbanen Raum schreckte, der konnte in den rein agrarischen Dorfgesellschaften des Spätmittelalters dem unsicheren Status des landwirtschaftlichen Lohnarbeiters und damit der mit relativer Sicherheit vorprogrammierten lebenslänglichen Ledigkeit ausschließlich durch Übernahme einer Hofstelle ent iehen. Wer die Stadtluft indes nicht scheute, einen zünftigen Lehrmeister fand und das Lehrgeld zu zahlen bereit und imstande war bzw. wessen Fürsorgep ichtigen sich dazu bereit erklärten, konnte in dritter Alternative schon in vorindustrieller Zeit einem zünftigen Handwerk zustreben, unterwarf sich damit aber prinzipiell bis zur nicht garantierten Erlangung des Meisterrechts einem zölibatären Lebenswandel und durch die mitunter vorgeschriebene Walz einem gewerbeabhängig mehr oder minder strikten Mobilitätszwang. Die Ausbildung konnte wahlweise im Gesellenstatus zugunsten einer vorgezogenen Verehelichung „abgebrochen“ und einer Niederlassung als Landhandwerker außerhalb zünftiger Bannmeilen ohne wirtschaftliche Protektion der Vorzug gegeben werden. 485 Gewiss bot das urbane Leben einige weitere Verdienstmöglichkeiten, unter anderem im Handel oder dem konzessionierten Dienstleistungsbereich. Diese standen indes unmündigen Personen nur bedingt offen.

483 484 485

Vgl. ThStA Abg, Amtsgericht Altenburg, C I Loc. 1, Nr. 141, fol. 77. Vgl. ThStA Abg, Landesregierung, Nr. 4172. Vgl. Schultz, Helga, Das ehrbare Handwerk. Zunftleben im alten Berlin zur Zeit des Absolutismus, Weimar 1993, S. 64 ff.

HEIRATSALTER

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Den betrachteten dörflichen Raum in Richtung Stadt verlassende adoleszente oder erwachsene Einwohner lassen sich in der Überlieferung der Untersuchungsorte selten identi zieren. Geriet städtisches Leben, etwa in einer vorübergehenden Anstellung, zur Episode, geht dies ereignisungebunden aus den Kirchbüchern ebenso wenig hervor wie dauerhafte Binnenemigration, welche ausnahmslos in ausbleibendem quellenmäßigem Aufscheinen betreffender Personen angedeutet wird. Zu den wenigen Ausnahmen zählte der Maurer Wolffgang Riedel, Schulmeistersohn aus Diethensdorf, der 1687 als Geselle nach Bräunsdorf einheiratete, dort 1696 ein Gartengut erwarb und bis 1705 besaß, ohne dem Maurerhandwerk abzuschwören. Schließlich siedelte er in die nahe gelegene Kleinstadt Waldenburg um, wo er 1714 als Bürger und Maurermeister belegt ist. Dessen Zeitgenosse Wolffgang Landtgraff, 1664 geborener Sohn eines Bräunsdorfer Gärtners und Leinwandhändlers, etablierte sich im Glauchauer Leinwandhandel, erlangte das Bürgerrecht und ehelichte 1688 eine Weißbäckertochter aus der lokalen Bürgerschaft. Seinem drei Jahre älteren Bruder gelang bis 1691 der Eintritt in die Glauchauer Sattlerschaft, nachdem er schon 1678 als Sattler in seinem Heimatdorf erwähnt worden war. Bisweilen überbrückten die Abwandernden erhebliche Entfernungen. Der Rußdorfer Strumpfwirkersohn Friedrich Wilhelm Müller (* 1744) verschied 1794 als Gewandhändler in Berlin, Abraham Friedrich (* 1763) „soll als ein Schmiedegesell zu Erfurt gestorben seyn“ 486 und ein nicht eindeutig identi zierbarer Johannes Müller aus Rußdorf „soll sein Glück in Amsterdam gemacht und allda Nachkommen hinterlaßen haben“ 487. Mit dem Einsetzen der Protoindustrialisierung während des 16. Jahrhunderts geriet die unzünftige Arbeit im Landhandwerk zur lukrativen Option weichender Erben bzw. aus landbesitzlosen Familien stammender Jugendlicher bzw. junger Erwachsener. Eine Ausbildung im Massengewerbe der Leinweberei war einschließlich des notwendigen Arbeitsgeräts vergleichsweise günstig und wurde nicht selten von nahen Verwandten oder Bekannten organisiert. So versprach Samuel Heintzig aus Bräunsdorf 1735 seinem Stiefsohn Andreas Ludwig schriftlich im Kaufvertrag über dessen Vaters ehemaliges Gärtnergut, ihm, „Käuffern das Leineweber-Handwerck zuerlernen“ 488. Zumindest die in den Untersuchungsorten zwischen 1600 und 1850 stark verbreitete Leinenverarbeitung unterlag in dieser Zeit keinem Konzessionszwang oder zünftigen bzw. obrigkeitlichen Regulierungen. Heiratsverbot und Wanderzwang existierten nicht. Junge Männer, die sich auf dieses Gewerbe orientierten, konnten abseits der landwirtschaftlichen Arbeit und im Zweifelsfall auch bar jeden Landbesitzes bestehen, erlangten dadurch die geforderte materielle Berechtigung zur Familiengründung und vermochten dennoch in ihrem angestammten Umfeld zu verbleiben.

486 487 488

EPA Rußdorf, KB I, Taufregister 1763, Nr. 12, nachträglich eingefügte Notiz. Ebd., 1712, Nr. 10, nachträglich fälschlich eingefügte Notiz – das Kind starb vier Jahre später. Vgl. EPA Rußdorf, KB I, Beerdigungsregister 1716, Nr. 11. HstA-D, 12613 GB Limbach, Nr. 3, fol. 202b.

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NUPTIALITÄT

Zwar war die seit Mitte des 18. Jahrhunderts in Rußdorf und seit etwa 1800 in Bräunsdorf Bedeutung erlangende Strumpfwirkerei durch ihre feste Innungsstruktur straffer organisiert und der Zugang stärker reglementiert, jedoch richtete sich der ausgeübte Protektionismus eher gegen freie Landhandwerker und „Pfuscher“ in Dörfern, die im Gegensatz zu den betrachteten nicht dem Zugriff der Innungen unterlagen. Bei gutem Leumund und ehrlichem Lebenswandel konnte jedweder Anwärter, der bei einem Innungsmeister Anstellung fand – „Gesellen aber mag er so gleich nach erlangtem Meister-Rechte halten, so viel er kan, inmaßen er dann auch so bald alß er einen Lehr Jungen loßgegeben, wiederum einen andern in die Lehre zunehmen befugt seyn soll“ –, gegen ein entsprechendes, im Vergleich zum städtisch-zünftigen eher geringes Lehrgeld die Ausbildung absolvieren und das Meisterrecht erlangen. Die Rußdorfer Innungsordnung forderte das Walzen: „sollen diejenigen, so das Strumpff-Würcker Handwerck zu Rußdorff treiben wollen es mit solcher Innung gehörig halten, ihre Lehr- und Wander-Jahre würcklich ausgestanden, und das Meister-Recht gewonnen haben“ 489, es ist aber nicht nachvollziehbar, inwieweit ortsansässige bzw. in der Region heimatberechtigte Strumpfwirker der P icht entsprachen. Sofern die Statuten eingehalten wurden, kehrten zahlreiche Gesellen an ihren Geburtsort zurück. Die hohe Ledigenquote unter den mündigen Meisteranwärtern der Region impliziert die stillschweigende Voraussetzung des Ledigenstatus, den die Gesetze zumindest der Rußdorfer Innung nicht ausdrücklich festschrieben. An den Organisationsstrukturen bzw. -regulativen der beiden dominanten protoindustriellen Textilgewerke änderte sich mit Einführung der Gewerbefreiheit 1861 in Sachsen bzw. 1863 in Sachsen-Gotha-Altenburg 490, wodurch die traditionellen gewerblichen Zwänge eine realiter längst vollzogene Liberalisierung 491 erfuhren, wenig. Selbstredend vergrößerten sich die Berufswahlmöglichkeiten dörflicher Jugendlicher und deren Chancen, lebenslanger Ledigkeit zu ent iehen, damit weiter. Einen ähnlichen Ein uss lässt freilich die im Limbacher Land um 1870/1880 in relevantem Maße einsetzende Fabrikindustrialisierung erwarten. 5.4.2 Lebenslange Ledigkeit Welchen Umfang die lokale Ledigenquote in den Untersuchungsorten annahm, ist unklar. Für den gesamten Untersuchungszeitraum fehlen in Rußdorf und Bräunsdorf umfassende Einwohnerlisten, die temporal-punktuell jede ansässige Person einschließlich ihres sozialen Status und familiären Standes aufführen. Zumindest im ruralen Raum, 489 490

491

ThStA Abg, Landesregierung, Nr. 11934. Vgl. Institut für Europäische Geschichte Mainz/Institut für Raumbezogene Informations- und Messtechnik der Fachhochschule Mainz, HGIS Germany, Sachsen-Altenburg (1826–1914), online: http://www.hgisg-ekompendium. ieg-mainz.de/Dokumentation_Datensaetze/Multimedia/Staaten/Sachsen-Altenburg.pdf [zuletzt aufgerufen am 20. 06. 2016]. Vgl. Lenger, Friedrich, Sozialgeschichte der deutschen Handwerker seit 1800, Frankfurt a. M. 1988, S. 80.

185

HEIRATSALTER

Tabelle 13: Mindestanteil lebenslänglich Lediger nach Geburtenkohorten in Rußdorf und Bräunsdorf Rußdorf 1582–1629 1630–1679 1680–1729 1730–1779 1780–1829 1830–1879 1880–1935

Bräunsdorf

Männer

Frauen

Männer

Frauen

0,21% 1,59%

0,00% 1,06%

– 3,29 %

– 2,19 %

3,24%

0,72%

1,31 %

2,18 %

2,70% 3,63% 1,50%

1,40% 2,04% 1,60%

1,25 % 1,79 % 1,17 %

1,93 % 1,17 % 1,22 %

1,14%

0,93%

1,87 %

1,41 %

vor Beginn des intensiven Wohnungsbaus im späten 19. Jahrhundert, hatten Ledige in den seltensten Fällen einen eigenen Hausstand, weswegen sie nicht zur politischen Gemeinde gehörten und zum Beispiel in Herdstellenzählungen regelmäßig unerwähnt blieben. Ihre hohe in Ortsungebundenheit und befristeten Anstellungsverhältnissen gründende Mobilität macht sie in mikroregionalen Alltagsquellen schwer fassbar. Die Anwesenheit eines Ledigen lässt sich anhand der Kirchbücher nahezu ausschließlich über dessen Beteiligung an einer örtlichen Taufe oder seine Beerdigung nachweisen. Gerichtsbücher sparen Landbesitzlose per se ganz aus. Rückschlüsse auf die Verweildauer, welche Mehrfachnennungen verschiedenen Datums bedürfen, können nur in seltenen Fällen gezogen werden. Die Ledigenquote eines beliebigen oder selbst überlieferungsbedingt diktierten Zeitpunkts ist daher nicht fassbar. Geburtenjahrgänge bilden zumindest eine feste Bezugsgröße, an der theoretisch bei Kenntnis aller Lebensläufe der Betreffenden ein Ledigenanteil sicher zu ermessen ist. Realiter verhindern ohne Verbleibsnachweis zu unbekannten Zeitpunkten verzogene Ortsgebürtige in den betrachteten offenen Dorfgesellschaften die Examination aller Biographien einer Geburtenkohorte. In Konsequenz ist für die Ledigenquote lediglich ein sicherer Minimalrichtwert ermittelbar, der nie die Zehnprozentmarke tangierte und in 29 (Rußdorf) bzw. 25 (Bräunsdorf) Dekaden unter fünf Prozent lag. Männer scheinen den Minimalwerten nach generaliter häu ger von Ledigkeit betroffen und Rußdorfer Männer öfter als Bräunsdorfer (Tab. 13). Umso deutlicher geht aus dem vorhandenen Datenmaterial der angenommene Zusammenhang zwischen sozialem Status und Ledigkeitsrisiko hervor. Hierbei galt insbesondere für Männer das Prinzip, je höher der eigene sozioökonomische Stand, desto geringer die Wahrscheinlichkeit einer lebenslänglichen Ehelosigkeit. Finanzstärke spielte ebenso eine eher untergeordnete Rolle wie die soziale Herkunft bzw. der Stand der Eltern. Weichende Erben landbesitzender Familien waren nicht weniger häu g betroffen als Hausgenossenkinder. Selbst die Kurerbenstellung gab keine völlige Sicherheit, solang der damit verbundene rechtliche Anspruch nicht Umsetzung fand.

186

NUPTIALITÄT

Zum Exempel ging das Gut des Rußdorfer Handbauern Michael Langraf um 1613 nicht an seinen mündigen designierten Erben Matthias, der 1628 ledig verstarb, sondern an dessen älteren Bruder, der 1617 heiratete. Christoph Steiner (1732–1786) verfügte trotz Landbesitzlosigkeit und ohne Kurerbe seines Vaters gewesen zu sein, über genügend Geld, um „ein Vermögen von etl. 1000 Gulden“ durchzubringen, gewann jedoch keine Frau für sich. Neben der Trunksucht mag seine Persönlichkeit – er war angeblich „von ungeschliffnen Sitten, daß auch die Amtleute wenig mit ihm anfangen konnten“ – einer festen Beziehung nicht eben zuträglich gewesen sein. 492 Selbstredend sprachen auf dem Heiratsmarkt neben dem ohne Frage beachtenswerten ökonomischen Hintergrund weitere schwer fassbare Faktoren wie Persönlichkeit, Aussehen oder schlicht Sympathie für oder gegen ein Individuum. Augenfällige bzw. schwerwiegende körperliche und geistige De zite programmierten ein Leben in Ledigkeit mit nahezu 100-prozentiger Sicherheit vor, weswegen betroffenen Mitgliedern landbesitzender Familien von vornherein regelmäßig lebenslange Bleiberechte im elterlichen Gut eingeräumt wurden. Johann Gottlieb Stiegler „war ein von früher Jugend an elender u. so gebrechlicher Mensch daß er kaum gehen konnte“. Er starb 1860 in Rußdorf ledig im Alter von 59 Jahren. 493 Der Bräunsdorfer Peter Resch (1653– 1712), „blöder“ Sohn eines Bauern 494, blieb gleichfalls unverheiratet. „Wegen ihres blöden Gesichts“ teilte sich Elisabeth List (1717–1797) die Wohnstatt mit ihrem zeitlebens ledig gebliebenen Bruder, dem Häusler Andreas List (1706–1770). 495 Eine liberale Lebenseinstellung scheint hingegen den Ausschlag für das Junggesellendasein Samuel Steudtmanns (1697–1786), seinerzeit „Senior der ganzen Gemeinde“, gegeben zu haben. Er „hatte in seinen jüngren Jahren ein sehr ausschweifendes Leben geführet“. 496 Woher indes das Schicksal der Gebrüder Sebastian Anfang des 17. Jahrhunderts rührte, verschweigen die Quellen. Doch selbst dem zeitgenössischen Pfarrer dünkte deren Lebenssituation bemerkenswert, sodass er im Kirchbuch anlässlich Samuel Sebastians (1692–1770) Beerdigung notierte: „der letzte von den 8 Brüdern dieses Geschlechts starb im ledigen Stande, wie 6 sr. Brüder“. 497 Ökonomische Ursachen ihrer dauerhaften Ehelosigkeit werden nicht ersichtlich, entstammten sie doch dem Rußdorfer Schenkgut, welches bis Anfang der 1720er Jahre gar von seiner ehemals schweren Schuldenlast befreit worden war. Obwohl von den acht erwachsenen Geschwistern der Familie lediglich der Kurerbe in seinen Zwanzigern verstorben war, verehelichten sich ausschließlich die einzige Tochter (mit 33 Jahren) und der dritte Sohn (mit 37 Jahren), während die übrigen Söhne im Alter von 68, 67, 78, 30 und 72 Jahren ledigen Standes 492 493 494 495 496 497

EPA Rußdorf, KB I, Beerdigungen 1786, Nr. 4. EPA Rußdorf, KB X, Beerdigungen 1860, Nr. 12. HstA-D, 12613 GB Limbach, Nr. 2, fol. 120. Ebd., Nr. 5, fol. 54b. EPA Rußdorf, KB I, Beerdigungen 1786, Nr. 3. Ebd., 1770, Nr. 3.

HEIRATSALTER

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dahinschieden. Völlig gegensätzlich verzichtete keines der sechs überlebenden Kinder der hochverschuldeten Vorbesitzerfamilie 498 auf eine Hochzeit (mit 24, 19, 25, 23, 21 und 26 Jahren). Die wenigen stellvertretenden individualbiographischen Beispiele bezeugen eindrücklich, welch facettenreiches Phänomen lebenslängliche Ledigkeit schon in vor- bzw. protoindustrieller Zeit in den Untersuchungsorten war. Über Standesgrenzen und ökonomische Determinanten hinweg, jedoch nicht davon unabhängig existierend, unterwarf sich dieses keinem mit den verwendeten Mitteln eindeutig identi zierbaren Muster. Inwieweit etwa Knodels Feststellung einer zehnprozentigen Ledigenquote bei Frauen und einer leicht darunterliegenden der Männer in westdeutschen Räumen des späten 19. Jahrhunderts 499 oder Adlers Befund einer zehn- bis zwölfprozentigen Quote zwischen 1750 und 1900 mit geringerer Betroffenheit des weiblichen Geschlechts 500 auch im Limbacher Land Gültigkeit beanspruchen kann, bleibt offen. 5.4.3 Die Hochzeit Unabhängig davon, welchen „Ausbildungsweg“ die in der Regel frisch Kon rmierten in ihrer dritten Lebensperiode einschlugen, endete diese erst mit der Hochzeit. War ein Ehepartner gefunden, das Eheversprechen gegeben und die Zustimmung aller potentiellen Vetoberechtigten 501 eingeholt, wurde beim trauenden Pfarrer um die öffentliche Proklamation nachgesucht. Sah der Geistliche triftige Widerspruchsgründe, zum Beispiel formalen Ehebruch 502, konnte er das Aufgebot verweigern. Andernfalls wurde das Paar an drei aufeinanderfolgenden Sonntagen im Rahmen des Gottesdienstes abwechselnd in den Geburts- bzw. Wohnorten von Braut und Bräutigam proklamiert. Diese Bekanntmachungsmaßnahme diente zugleich als soziales Kontrollinstrument. Sollten den überwachenden Parteien etwaige Ehehindernisse bis dato unbekannt geblieben 498 499 500 501

502

Vgl. ThStA Abg, Amtsgericht Altenburg, C I Loc. 1, Nr. 162, fol. 77. Vgl. Knodel, Behavior, S. 136. Vgl. Adler, Demographie, S. 257. Nicht zuletzt die Zustimmung der Eltern konnte unter Umständen schwer zu erlangen sein, wie ein Fall aus Kaufungen belegt. Der dort 1594 geborene Hans Pester ehelichte 1626 seine Frau, „umb welche er sieben Jhar, wie Jacob umb Rachel, gedienet“. – EPA Kaufungen, KB I, Heiratsregister 1626, Nr. 3. Auch der Rußdorfer Benjamin Helbig bekam mit seiner Geliebten 1798–1801 drei uneheliche Kinder. Er hätte „auch die Mutter gerne gehelichet, der Vater ihm aber solche nicht geben wollen“, ehe die konsequent geführte wilde Ehe der Kinder eine Heirat faktisch erzwang. – EPA Rußdorf, KB I, Taufregister 1798, Nr. 4. Siehe zum Beispiel: „Zu wissen, weilt ich diese zwo personen nicht habe proclamiren wollen, weil Georg Riedell, sonst der schwartze Georg genandt, vor etlichen Jharen wegkommen. So hat Martha seine gelassenes weib, Hans Kölern einen Bergkman von S. Annebergk, Steygern auff S. Michelsbergk in Behem gelegen, zum Zeugen den 11 Augusti dieses 1605 Jhars gebracht, welcher ausgesagt und bekandt, das Georg Riedell sein vetter bey im gewesen, dem Herrn von Schwambergk, bey nacht und nebel ge schet, darüber ergrieffen, und ohngefähr vor zehent halb Jharen zu haft gebracht, torquirt, und gerichtet werden sollen, wo in nicht die bergleute loß geboten; Darauf er sich wider ein zeitlang bey im auf gehalten, gearbeitet, endlich heimziehen wollen, zum Einsiedell im Städlein, 7 Meile von Michelsberge gelegen, gestorben, und auff eine wiese von bawern begraben wordenn.“ – EPA Kaufungen, KB I, Heiratsregister 1605, Nr. 4.

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NUPTIALITÄT

sein, traten diese mit hoher Sicherheit nach allgemeiner Ausrufung zu Tage. So „appellirte Johanne Christiane Scheibin aus Hartmannsdorff, untern 24.ten Novembr.“ 503 1804 gegen eine Hochzeit und erhob etwa Sophie Türpe 1846 Einspruch, der „sich auf ein mit Zustimmung des Vater gegebenes Eheversprechen u. rückständige tamenta auch 10 T[haler] für den Jungfernkranz bezog“ 504. Anlässlich der Trauzeremonie selbst, die unter Zeugen vollzogen wurde, mussten spätestens glaubhafte Zeugnisse über den Familienstand der Brautleute vorgewiesen werden. Christoph Berger, „abgehalten durch Kranckheit“, erschien 1810 „ohne test[imonium] integrit[atis]“ zu seiner Hochzeit in Rußdorf, weshalb er nicht getraut werden konnte. „So bat er, um den weiten Weg zu vermeiden, um ein Zeugniß der Ledigkeit der Selbmannin, und reißte mit ihr wieder zurück, und wird in Bockendorff copuliret.“ 505 Mit Einführung der standesamtlichen Heirat erübrigte sich diese Prozedur größtenteils, indem nun die staatliche Administration die Aufsichtsfunktion erfüllte. Kirchliche Aufgebote blieben nach 1876 dennoch üblich, variierten aber zunehmend in der Zahl und dienten nurmehr ausschließlich der öffentlichen Hochzeitsankündigung.

5.4.4 Heiratsalter Die dargestellten, für beide Geschlechter relativ klar umreißbaren präcopulativen ruralen Lebenslauftypen vermitteln den Eindruck insoweit normierten Heiratsverhaltens, dass sich daraus für die einzelnen sozioökonomischen Bevölkerungsgruppen in Kombination mit individualbiographischen Schemata relativ spezi sche Heiratszeitpunkte vorhersagen ließen. Designierte bäuerliche Hoferben, deren Heiratsberechtigung theoretisch bereits durch ihre soziale Stellung erfüllt und nicht an die vollzogene Hofübernahme, welche ohnehin in den betrachteten Dörfern bei geltendem minorativem Anerbenrecht in jungen Jahren zu erwarten wäre, gebunden war, sollten zum Exempel in vorindustrieller Zeit tendenziell ein deutlich niedrigeres Heiratsalter sowie eine höhere Nuptialität aufweisen denn Kinder landbesitzloser Hausgenossen, die ihren Heiratsfonds weitestgehend eigenständig erarbeiten mussten. Realiter greift dieses zahlreiche bedeutsame Aspekte bzw. Ein ussfaktoren aussparende Modell zu kurz. Allein Krisenerscheinungen und bestimmte konjunkturelle Wetterlagen vermochten die Heiratswahrscheinlichkeit und mit ihr das mittlere Heiratsalter der einen oder anderen sozialen Gruppe zu verändern. Herrschte zum Beispiel ein Mangel an Dienstboten wie in vielen deutschen Gebieten nach dem Dreißigjährigen Krieg 506, stiegen deren Löhne, wodurch sie eher die zur Heirat erforderliche materielle

503 504 505 506

Vgl. EPA Rußdorf, KB II, Heiratsregister 1804, Nr. 11. Vgl. EPA Rußdorf, KB III, Heiratsregister 1846, Nr. 6. Vgl. EPA Rußdorf, KB II, Heiratsregister 1810, Nr. 1. Vgl. P ster, Bevölkerungsgeschichte, S. 25.

HEIRATSALTER

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Stärke erreichten. Ließ eine gesteigerte Mortalität unter Erwachsenen sozioökonomische Positionen in Größenordnungen vakant fallen, sank das allgemeine Heiratsalter, während Sättigungseffekte zu dessen Anhebung führten und die Ledigenquote erhöhten. Weiterhin ist der Ein uss profaner, unter anderem in der Familiengeschichte, in der Persönlichkeit der Heiratenden bzw. ihrer Eltern oder Vormünder, in individuellem Emp nden der eigenen Lebenssituation sowie dieser in Relation zum Lebensumfeld, im subjektiven wie gesellschaftlichen Norm- und Wertebewusstsein bzw. -verständnis etc. wurzelnder Gründe frühen wie späten Heiratens nicht zu unterschätzen. Unter Berücksichtigung der Annahmen, eine Heirat habe zu Beginn des Untersuchungszeitraums in erster Linie wirtschaftliche Interessen bedient und sich erst unter dem Ein uss der Romantik seit dem 19. Jahrhundert langsam zum Produkt einer vorrangig emotionalen Beziehung gewandelt 507, sowie, eine Heiratsbefähigung sei an den tatsächlichen oder sicheren zukünftigen Besitz einer sozioökonomischen Stelle gebunden gewesen und habe sich ebenfalls erst seit dem späten 19. Jahrhundert davon gelöst, stehen für das Rußdorfer und Bräunsdorfer Heiratsalter zwei grundlegende Prinzipien und daraus resultierende Entwicklungen zu erwarten. Gemäß Hajnals Theorem sollten anfänglich gesamtgesellschaftlich relativ späte Heiraten gegen Mitte (Frauen) bzw. Ende (Männer) Zwanzig bei stetig hohen Ledigenzahlen üblich gewesen sein. Nach Scho eld müsste im Zuge der Protoindustrialisierung des 18. und frühen 19. Jahrhunderts einerseits eine steigende Heiratshäu gkeit, andererseits ein durch verbesserte wirtschaftliche Möglichkeiten und strukturelle Notwendigkeit verursachtes sinkendes Durchschnittsalter aufkommen. 508 Der Höhepunkt der Entwicklung steht in der fabrikindustriellen Phase infolge gleichzeitiger tiefgreifender ökonomischer und sozialer Wandlungsprozesse um und nach 1900 zu erwarten. Zweitens müsste in vorindustrieller Zeit ein vertikales soziales Gefälle des Erstheiratsalters zu Tage treten, bei dem designierte Erben der agrarwirtschaftlich-rural bestimmenden Bauerngüter zuerst, gefolgt von ihren Geschwistern, den designierten Erben des nächstfolgenden Standes usw. die Ehe schlossen. Mit der (proto)industriellen Entwicklung deutlich verbesserte Verdienstmöglichkeiten unterbäuerlicher Schichten sollten dieses Verhältnis bis ins frühe 20. Jahrhundert sukzessive aufbrechen, ohne die bäuerliche Heiratspraxis grundlegend infrage zu stellen. Nach Tabelle 14 waren in Rußdorf und Bräunsdorf über den gesamten Untersuchungszeitraum hohe Heiratsalter üblich, die von Dekade zu Dekade teils erheblichen Schwankungen unterlagen. Im 17. und 18. Jahrhundert verweilten die Rußdorfer mit rückläu ger Tendenz durchschnittlich bis zu zwei Jahre länger im ledigen Stand als die Bräunsdorfer, deren Alter im Gegenteil anstieg. Unterlag dasselbe in der Exklave zum 19. Jahrhundert keiner Veränderung, stieg es in Bräunsdorf währenddessen 507 508

Vgl. Gestrich, Familie, S. 4ff. Vgl. Mooser, Josef, Ländliche Klassengesellschaft 1770–1848, Göttingen 1984, S. 87.

190

NUPTIALITÄT

Tabelle 14: Entwicklung des Heiratsalters nach Dekaden und Jahrhunderten mittleres Heiratsalter

1582–1589 1590–1599 1600–1609 1610–1619 1620–1629 1630–1639 1640–1649 1650–1659 1660–1669 1670–1679 1680–1689 1690–1699 1700–1709 1710–1719 1720–1729 1730–1739 1740–1749 1750–1759 1760–1769 1770–1779 1780–1789 1790–1799 1800–1809 1810–1819 1820–1829 1830–1839 1840–1849 1850–1859 1860–1869 1870–1879 1880–1889 1890–1899 1900–1909 1910–1919 1920–1929 1930–1935 1600–1699 1700–1799 1800–1899 1900–1935

Rußdorf

Bräunsdorf

30,05 31,94 32,28 28,67 31,04 29,58 31,92 27,58 27,26 31,47 27,57 28,16 27,28 30,54 28,78 27,50 29,46 28,74 28,49 27,58 27,28 27,17 28,16 28,24 28,91 28,04 28,59 30,31 29,64 28,17 26,22 26,75 26,43 27,26 27,74 28,12 29,46 28,28 28,30 27,30

– – – – – – 27,37 26,48 28,43 28,68 27,17 26,99 26,74 28,73 28,68 28,28 28,42 27,03 27,97 27,75 27,16 27,29 28,20 28,74 29,76 28,46 29,40 30,29 29,94 28,79 26,51 27,46 26,63 27,39 27,41 27,64 27,52 27,80 28,76 27,26

mittleres Erstheiratsalter Männer Rußdorf Bräunsdorf 28,46 25,90 26,90 28,10 31,56 35,27 32,77 28,50 29,55 26,75 30,67 31,03 28,15 26,45 29,69 29,56 27,75 28,32 27,11 29,21 28,54 29,31 28,96 28,52 29,89 28,27 27,27 28,68 28,30 26,75 25,66 25,65 25,50 25,56 26,33 27,05 30,21 28,42 27,79 26,00

– – – – – – 34,98 27,86 26,20 25,98 27,65 28,47 29,45 28,02 28,89 28,79 26,29 28,63 26,43 26,40 27,02 27,99 27,56 28,03 27,71 28,48 27,82 29,09 28,07 28,59 26,25 26,74 25,65 25,30 25,45 26,46 27,98 27,80 27,83 25,63

mittleres Erstheiratsalter Frauen Rußdorf Bräunsdorf 22,96 26,47 22,92 23,65 23,67 24,19 22,29 24,71 23,90 21,93 24,67 24,43 22,56 26,28 26,07 24,45 24,23 24,10 25,21 25,75 24,57 24,75 26,04 25,51 25,67 25,78 25,86 26,93 25,11 24,50 23,72 24,18 24,25 24,21 24,65 24,81 23,71 24,78 25,33 24,45

– – – – – – 25,09 24,60 24,10 24,23 23,68 26,22 23,57 24,78 26,78 25,74 25,34 25,70 26,32 24,70 24,58 24,97 26,53 25,63 27,62 26,74 26,23 25,85 26,11 25,95 24,12 24,85 23,80 24,39 24,82 24,95 24,60 25,24 25,96 24,44

HEIRATSALTER

191

sprunghaft über das nachbardörfliche Niveau. Hingegen unterschieden sich die Altersvorlieben am Ende der betrachteten Zeit kaum. Klare mit der gewerblichen und industriellen Entwicklung korrespondierende gleichartige Tendenzen werden nicht ersichtlich. Freilich ist die Aussagekraft des mittleren Gesamtheiratsalters gering. Erstheiraten unterlagen anderen Gesetzmäßigkeiten als Folgeehen, Männer waren anderen Regularien unterworfen als Frauen bzw. wurde deren Verhalten von anderen Faktoren beein usst. Dem Rechnung tragend behandelt die nachfolgende Analyse geschlechtsspezi sch ausschließlich das durchschnittliche Erstheiratsalter. Dazu wurde jede in der lokalen Überlieferung heiratend auftretende Person mit vollständigem Geburts- und Hochzeitsdatum ihrem Familienstand zum Zeitpunkt der Trauung entsprechend klassi ziert und gegebenenfalls ausgeschlossen. Im Ergebnis entsteht ein deutlich differenzierteres Bild. Zu den grundlegenden Gemeinsamkeiten der dörflichen Heiratsmuster zählt ein von einer Ausnahme im Rußdorf der 1590er Jahre abgesehen konsequentes periodenübergreifendes Altersgefälle zwischen den Geschlechtern. Dieses hatte auch nach Dekadendurchschnitten und unabhängig von der geschlechtsspezi schen Entwicklung ohne Ausnahme Geltung. Dessen Ursache ist im tradierten hausgemeinschaftlichen Arbeitsteilungsprinzip zu suchen. Insbesondere die von körperlichen Arbeiten geprägte Agrarwirtschaft wies unter Berücksichtigung anatomischer Eigenheiten nach dem Optimierungsgedanken Männern und Frauen unterschiedliche einander ergänzende Aufgaben, der Hausmutter die hauswirtschaftliche sowie dem -vater die versorgungstechnische Hoheit zu. 509 Dementsprechend oblag es auch in erster Linie dem Bräutigam, eine materielle Heiratsbefähigung zu erlangen bzw. vorzuzeigen. Erwartungsgemäß glückte dies oft erst in der zweiten Hälfte des dritten bzw. zu Anfang des vierten Lebensjahrzehnts. Brautschauende wählten normalerweise jüngere Partnerinnen, es sei denn, eine lukrative Stelle stand zu erheiraten. Daraus resultierten in beiden Untersuchungsorten Abstände um bis zu einer Dekade zwischen den durchschnittlichen männlichen und weiblichen Heiratsaltern. Schmalz sah im Altersunterschied der Ehegatten einen Indikator für die Art der Beziehung. Je größer der Abstand, desto hierarchischer sei das Verhältnis, je geringer, desto partnerschaftlicher. 510 Verbunden mit dem Bedeutungsgewinn der Liebesehe, den Shorter unter dem Ein uss der Romantik im 19. Jahrhundert gegeben sah 511, wäre danach

509

510 511

Vgl. Wunder, Heide, Arbeiten, Wirtschaften, Haushalten: Geschlechterverhältnisse und Geschlechterbeziehungen im Wandel der deutschen Agrargesellschaft des 18. und 19. Jahrhunderts, in: Prass, Reiner /Schlumbohm, Jürgen / Béaur, Gérard/Duhamelle, Christophe (Hg.), Ländliche Gesellschaften in Deutschland und Frankreich, 18.–19. Jahrhundert, Göttingen 2003, S. 187–204, S. 201ff. Vgl. Schmalz, Familienrekonstitution, S. 74. Vgl. van de Putte, Bart /Matthijs, Koen, Romantic Love and Marriage. A Study of Age Homogamy in 19th Century Leuven, o. J., online: https://lirias.kuleuven.be/bitstream/123456789/84605/3/Romantic+love.pdf [zuletzt aufgerufen am 20.06. 2016], S. 1.

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parallel mit einer Verringerung des Gefälles zu rechnen. Ein ähnlicher Effekt mochte jedoch von der industriellen Beschäftigungsweise ausgegangen sein. Diese bot beiden Partnern Möglichkeiten, dem nötigen nanziellen Heiratsfonds zuzuarbeiten, was unter Umständen ein früheres Erreichen desselben und vor allem eine Herabsetzung des männlichen Eheeintrittsalters bedeutet hätte. Tatsächlich verringerte sich die Differenz im Laufe der Neuzeit sukzessive in mehreren mit der langfristigen wirtschaftlichen Entwicklung korrespondierenden Stufen. Während des 17. Jahrhunderts war das mittlere männliche Hochzeitsalter am höchsten, jenes der Frauen blieb etwa sieben bzw. vier Jahre darunter. In der Periode protoindustriellen Aufschwungs respektive des Aufstiegs der unteren Mittelschicht zwischen 1700 und 1800 verehelichten sich Männer etwa ein bzw. zwei Jahr(e) eher. Im Zuge des industrialisierungsgeprägten 19. und 20. Jahrhunderts nahm der Abstand schließlich bis auf weniger denn ein Jahr ab. Ob der in beiden Untersuchungsorten gleichermaßen ablaufende Prozess mit der Verbreitung außeragrarischer kontinuierlicher Lohnarbeit einherging, ist freilich fraglich. Immerhin war die Heim- und mehr noch die Fabrikindustrie in Rußdorf deutlich stärker ausgeprägt als in Bräunsdorf. Dennoch erscheinen die Geschlechterdifferenzen beim Erstheiratsalter dort bis in die 1930er Jahre eindeutig ausgeprägter. Nach Geschlechtern getrennt zeigt die Entwicklung des Eheeintrittsalters unterschiedliche Verläufe, die zudem bei den Männern nochmals zwischendörflich auseinandergehen. Das Durchschnittsalter der Rußdorfer Bräutigame ging vom 17. bis zum 20. Jahrhundert um vier von rund 30 auf 26 zurück. Jenes der Bräunsdorfer blieb bis zum 19. Jahrhundert auf einem niedrigeren Niveau und nahm erst, als es mit dem nachbardörflichen gleichauf lag, im 20. Jahrhundert merklich von rund 28 auf rund 26 Jahre ab. Von Jahrzehnt zu Jahrzehnt spürbare Schwankungen um teils mehrere Jahre sind in beiden Orten zu beobachten. Während jeweils in den ersten Jahrzehnten nach Kirchbuchbeginn geringe Fallzahlen Deviationen begünstigen, scheidet überlieferungsbedingte Unruhe in der Folgezeit aus. Unklar bleibt somit, woraus das beständige Auf und Ab resultierte. Eine insgesamt verschiedenartige Entwicklung verbietet Rückschlüsse auf kurzfristige Ereignisse anhand temporär synchroner Ausschläge. Einige Abschnitte stechen dennoch mit konkreten Mustern heraus. Zur Zeit des Dreißigjährigen Krieges etwa schoben die Männer den Gang zum Altar am längsten hinaus. Das Durchschnittsalter der Bräunsdorfer lag in den 1640ern fünf Jahre über dem nächsten Maximum in den 1700er Jahren. Desgleichen entfallen die drei höchsten Rußdorfer Kohortenwerte auf das dritte bis fünfte Jahrzehnt des 17. Jahrhunderts. Die Jahre zwischen 1770 und 1819 in Rußdorf bzw. 1780 und 1829 in Bräunsdorf fallen durch vergleichsweise geringe Schwankungen um zusammen maximal ein Jahr auf. In beiden Orten deckt sich dies mit einer Zeit geringen soziostrukturellen Wandels. Ein Zusammenhang ist dennoch fraglich. Einerseits durchlebte Bräunsdorf zwischen den

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1730er und 1760er Jahren eine Phase höherer Statik mit weitaus unruhigerer Erstheiratsaltersentwicklung, andererseits sind mit vermehrten Hofstellengründungen einhergehende gleichartige Tendenzen nicht feststellbar. Zum Beispiel heirateten die Rußdorfer trotz erheblich vermehrten Stellenangebots um 1730 in den 1720er und 1730er Jahren ähnlich spät und später als in den ankierenden Jahrzehnten. Hingegen sank das Heiratsalter in den 1760er nach einer ebensolchen Phase um 1760 in Bezug auf die vorangegangenen und nachfolgenden zehn Jahre. Ein dritter Abschnitt fällt durch seine hohe Konstanz niedrigster Erstheiratsalter in Rußdorf zwischen 1880 und 1919 sowie in Bräunsdorf zwischen 1900 und 1929 ins Auge. Die Verbindung mit dem wirtschaftlichen Aufschwung des Limbacher Landes steht außer Frage. Neue Verdienstmöglichkeiten unter anderem in der Fabrikarbeit und der Wirkungsverlust alter Regulationsmechanismen erlaubten eine rasche Beschaffung von Heiratsfonds in Geld und Wohnraum, was frühere Eheschließungen gestattete. Das spätere Einsetzen der Entwicklung im an der Industrialisierung eher passiv beteiligten Bräunsdorf stützt dieses Bild ebenso wie der neuerliche Anstieg der männlichen Erstheiratsalter in beiden Dörfern in den Krisenjahren nach 1920. Die durchschnittlichen weiblichen Eheeintrittsalter zeigen demgegenüber in den Untersuchungsorten einen tendenziell identischen Hergang, obgleich die Extreme im Rußdorfer Fall abermals stärker ausfallen. Bei relativ niedrigen Werten im 17. Jahrhundert beginnend, wuchsen sie bis zum 19. Jahrhundert um ein bis eineinhalb Jahre auf ein ähnliches Niveau an, um im 20. Jahrhundert in gleicher Weise zurückzugehen. Wie die männlichen Erstheiratsalter unterliegen auch die weiblichen nach Dekaden teils signi kanten Schwankungen, die keinem einheitlichen Muster zu folgen scheinen. Desgleichen teilen sie deren charakteristische Abschnitte kaum. Insbesondere der Dreißigjährige Krieg lässt keinerlei Auswirkungen erkennen. Längere Perioden außergewöhnlich geringer Deviationen um insgesamt maximal ein Jahr sind in Rußdorf für die Jahre 1730–1769 und 1800–1849 sowie 1730–1769 und 1830–1879 in Bräunsdorf feststellbar, wobei das Niveau der zweiten Phase jeweils um ein Jahr höher lag. Eine Verbindung mit ökonomischen oder soziostrukturellen Veränderungen ist nicht erkennbar. Dagegen geht ein dritter Abschnitt geringer Schwankungen bei ca. 24 Jahren 1870–1935 bzw. 1880–1935 mit dem regionalen industriellen Aufschwung konform. Anders als bei den Männern motivierte dieser eine nur leichte Absenkung des Erstheiratsalters, nachdem es seit 1800 auf einem gehobenen Stand verharrt hatte. Analog fällt der neuerliche Anstieg nach 1920 bei den Frauen kaum ins Gewicht. Eindeutige Prinzipien, denen die kurzfristige Entwicklung des mittleren Eheeintrittsalters folgte, können anhand der getroffenen Beobachtungen kaum de niert werden. Der Blick auf Vergleichsstudien mag zusätzlichen Aufschluss bringen. Für den gesamtsächsischen Raum beobachtete auch Burkhardt eine konjunkturabhängige Verschiebung des durchschnittlichen Erstheiratsalters beider Geschlechter nach oben im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts, wobei er konsequent um bis zu ein Jahr

194

NUPTIALITÄT

leicht erhöhte Zahlen angab. 512 Anhand des niedersächsischen protoindustriellen Kirchspiels Belm beschrieb Schlumbohm zwischen 1651 und 1860 eine parallele langfristige Abnahme des Eheeintrittsalters von Bräuten und Bräutigamen unter Beibehaltung des Altersabstands von etwa zwei Jahren. Der Rückgang bei den Männern von rund 31 auf etwa 28 Jahre ist mit dem Rußdorfer Beispiel vergleichbar, derjenige von 27–28 auf 25– 26 bei den Frauen ndet eine wertmäßige Entsprechung im Limbacher Land erst während des 19. Jahrhunderts. Darüber hinaus stellte Schlumbohm eine mit dem sozialen Stand zunehmende Tendenz zu frühen Heiraten der Bräute, hingegen einen umgekehrten Zusammenhang bei deren Gatten fest. 513 Demgegenüber beschrieb Adler im württembergischen, bäuerlich geprägten Aach eher einen Rückgang des männlichen Erstheiratsalters von 27 auf rund 25 Jahre während des 18. und einen neuerlichen Anstieg auf 27–28 Jahre im 19. Jahrhundert, im benachbarten protoindustriell geprägten Schönmünzach dagegen ein im Ganzen zwischen 27 und 29 Jahren variierendes. Das weibliche stieg in beiden Orten von 24 Jahren Anfang des 18. Jahrhunderts auf 25–26 im 19. Jahrhundert an. Dabei erkannte Adler unter anderem eine insgesamt senkende Wirkung wirtschaftlichen Progresses. Desgleichen habe die Möglichkeit zu frühen Heiraten mit dem sozialen Stand geschlechtsunabhängig abgenommen. Was für Frauen bis zur Wende zum 20. Jahrhundert Bestand hatte, verlor bei den Männern nach 1830 seine Gültigkeit, indem die bäuerliche Oberschicht zu späteren Eheschließungen überging, Fabrikarbeiter, wenngleich erst in Verbindung mit einem gewissen Lebensstandard, hingegen zur Absenkung des Heiratsalters neigten. 514 Knodel bemerkte stattdessen im westdeutschen Raum überregional kaum Klassenunterschiede beim Eheeintrittsalter, welches in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts leicht gestiegen, zu dessen Ende hin wiederum gefallen sei. 515 Ein einheitliches Heiratsmuster bäuerlicher oder protoindustrieller Gesellschaften ist an den Beispielen nicht erkennbar. Als übergeordnete Motive sind ein zwischengeschlechtliches, im 19. Jahrhundert abnehmendes Altersgefälle, eine in Abhängigkeit vom Grad der Subsistenzwirtschaft variierende Orientierung an Konjunkturzyklen und zum Ende des 19. Jahrhunderts hin mehrheitlich rückläu ge Erstheiratsalter auszumachen. Zudem zeigen Rußdorf und Bräunsdorf gemäß Hajnals Theorem mit den Vergleichsbeispielen einhellige Werte. Über den Heiratszeitpunkt entschied immer ein komplexes Faktorengefüge, in dem die persönlichen Umstände erheblichen Raum einnahmen. Gesamtgesellschaftlich wirkende Prozesse konnten im durchschnittlichen Heiratsalter ihre Prägung nur dann hinterlassen, wenn die Rahmenbedingungen es erlaubten, d. h. eine Gruppe hinläng-

512 513 514 515

Vgl. Burkhardt, Bevölkerung, S. 22. Vgl. Schlumbohm, Lebensläufe, S. 100. Vgl. Adler, Demographie, S. 179ff. Vgl. Knodel, Behavior, S. 121ff.

HEIRATSALTER

195

lichen Ausmaßes eine Lebenssituation weitgehend teilte. Dementsprechend vollzogen sich die frappierendsten Änderungen des Heiratsverhaltens der Rußdorfer und Bräunsdorfer zeitgleich zur regionalen Durchsetzung industrieller Strukturen in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, als die ländliche Unterschicht unter massivem Bevölkerungswachstum sowie dem Zuzug zahlreicher lediger Personen zur gesellschaftlich beherrschenden Gruppe aufstieg. Wird die Verteilung der Erstheiratenden auf einzelne Altersklassen über den Untersuchungszeitraum hinweg betrachtet (Tab. 15), lassen sich Verhaltensänderungen kleinteiliger nachvollziehen. Männer schritten schon zu Beginn des Untersuchungszeitraums in den betrachteten Ortschaften bevorzugt vor dem 30. Geburtstag vor den Altar. Gleichwohl war es bis ins 19. Jahrhundert mit abnehmender Tendenz nicht unüblich, erst im vierten Lebensjahrzehnt den ehelichen Bund einzugehen. Dergleichen Fälle kamen von Beginn an in Rußdorf häu ger vor als in Bräunsdorf. Dies korrespondiert mit dem im Untersuchungsgebiet bis 1850 Geltung beanspruchenden Stellenmechanismus. Nach alter Sitte wurde ein Heiratsfonds in erster Linie ererbt oder via Erbkauf weitergeben. Nicht selten zählten die Erblasser zum Zeitpunkt der Gutsübertragung mehr denn 60 Jahre. Selbst der Kurerbe hatte seine Mündigkeit zu dem Zeitpunkt meist schon weit hinter sich. Belegte der Nachfolger unter seinen Geschwistern einen der vorderen Geburtsränge oder hielt der alte Besitzer von guter Gesundheit gesegnet bis ins hohe Alter an der Haushaltung fest, war schnell das 30. Jahr erreicht, ehe der neue Stelleninhaber eine Familie gründen konnte. Mancher mochte so lange nicht warten und heiratete mit Anrecht auf das Erbe schon im Hausgenossenstatus unter der väterlichen Ägide. In Bräunsdorf scheint diese Möglichkeit im 17. und 18. Jahrhundert stärker Gebrauch gefunden zu haben, was den verglichen mit Rußdorf geringeren Anteil über Dreißigjähriger erklärte. Andere, die sich in ein Gut einkaufen oder in Mitwohnerschaft via Gewerbetrieb erst einen genügenden nanziellen Hintergrund schaffen mussten, hatten ebenfalls länger ledig auszuharren. Solange das eherne Stellenprinzip galt, vermochte beispielsweise auch eine gute Konjunktur keine verfrühten Hochzeiten in großem Maßstab zu motivieren. Kein Gutsbesitzer zog sich freiwillig von seiner existenzsichernden Stelle und seinem sozialen Status zurück. Nur die Schaffung neuer Stellen, wie seit Beginn des Untersuchungszeitraums unter dem Ein uss einer konstanten ökonomischen Großwetterlage wiederholt geschehen, begünstigte in dem agrarischen bzw. protoindustriellen System um Jahre vorgezogene Trauungen. Erst mit der sukzessiven Auflösung des Stellenmechanismus unter dem Ein uss der Industrialisierung im 19. Jahrhundert gingen die höheren Eheeintrittsalter deutlich zurück und elen anteilig in der Hochindustrialisierungsphase kaum mehr ins Gewicht. Desgleichen setzte sich bei beiden Geschlechtern Ende des 19. Jahrhunderts eine gleichmäßige Verteilungskurve der Heiratsalter mit einem Schwerpunkt im 23. oder 24. Lebensjahr durch. Während die Heiratswahrscheinlichkeit zuvor in jedem Intervall mehrere, teils auseinanderliegende Spitzen aufwies, stieg sie nun kontinuier-

1880–1935

1830–1879

1780–1829

1730–1779

1680–1729

Bräunsdorf 1630–1679

1880–1935

1830–1879

1780–1829

1730–1779

1680–1729

1630–1679

Rußdorf 1582–1629

Männer Frauen Männer Frauen Männer Frauen Männer Frauen Männer Frauen Männer Frauen

Männer Frauen Männer Frauen Männer Frauen Männer Frauen Männer Frauen Männer Frauen Männer Frauen unter 21 1 1,41 % 21 21,65 % 4 2,44 % 34 18,38 % 10 5,00% 41 16,40 % 13 5,94% 30 9,68 % 1 0,28 % 40 9,64 % 4 0,45 % 99 10,36 % 51 62 96 116 126 164 134 221 259 301 769 768

21–29 71,83 % 63,92 % 58,54 % 62,70 % 63,00 % 65,60 % 61,19 % 71,29 % 73,58 % 72,53 % 86,21 % 80,33 %

unter 21 21–29 0 0,00 % 25 54,35 % 14 22,22 % 46 73,02 % 1 1,37 % 44 60,27 % 29 33,33 % 45 51,72 % 5 3,33 % 80 53,33 % 40 21,51 % 113 60,75 % 6 2,70 % 132 59,46 % 58 20,35 % 181 63,51 % 7 2,41 % 179 61,72 % 56 15,43 % 255 70,25 % 6 0,90 % 475 71,00 % 93 13,19 % 489 69,36 % 10 0,60% 1448 86,86 % 201 11,35 % 1429 80,69 %

17 11 61 33 56 42 65 52 77 62 106 78

19 2 23 11 61 31 76 42 86 46 170 113 180 120 30–39 23,94 % 11,34 % 37,20 % 17,84 % 28,00 % 16,80 % 29,68 % 16,77 % 21,88 % 14,94 % 11,88 % 8,16 %

30–39 41,30 % 3,17 % 31,51 % 12,64 % 40,67 % 16,67 % 34,23 % 14,74 % 29,66 % 12,67 % 25,41 % 16,03% 10,80 % 6,78 %

1 3 3 2 7 3 7 7 15 12 13 11

2 1 4 2 4 2 8 4 15 6 17 9 25 17 40–49 1,41 % 3,09 % 1,83 % 1,08 % 3,50% 1,20 % 3,20% 2,26 % 4,26% 2,89 % 1,46 % 1,15 %

40–49 4,35 % 1,59 % 5,48 % 2,30 % 2,67 % 1,08 % 3,60 % 1,40 % 5,17% 1,65 % 2,54 % 1,28 % 1,50 % 0,96 %

Tabelle 15: Prozentuale Verteilung der Erstheiratenden nach Altersklassen in Rußdorf und Bräunsdorf

1 0 0 0 1 0 0 0 0 0 0 0

0 0 1 0 0 0 0 0 3 0 0 1 4 4 50–59 1,41 % 0,00 % 0,00 % 0,00 % 0,50 % 0,00 % 0,00 % 0,00 % 0,00 % 0,00 % 0,00 % 0,00 %

50–59 0,00 % 0,00 % 1,37 % 0,00 % 0,00 % 0,00 % 0,00 % 0,00 % 1,03 % 0,00 % 0,00 % 0,14% 0,24 % 0,23 % über 60 0 0,00 % 0 0,00 % 0 0,00 % 0 0,00 % 0 0,00 % 0 0,00 % 0 0,00 % 0 0,00 % 0 0,00 % 0 0,00 % 0 0,00 % 0 0,00 %

über 60 0 0,00 % 0 0,00% 0 0,00 % 0 0,00 % 0 0,00 % 0 0,00 % 0 0,00 % 0 0,00 % 0 0,00 % 0 0,00 % 1 0,15 % 0 0,00 % 0 0,00 % 0 0,00 %

Summe 71 97 164 185 200 250 219 310 352 415 892 956

Summe 46 63 73 87 150 186 222 285 290 363 669 705 1667 1771

196 NUPTIALITÄT

HEIRATSALTER

197

lich bis zu einem Scheitelpunkt an und nahm danach ebenso kontinuierlich wieder ab (Tab. 16). Unverändert selten heirateten Männer über den gesamten Untersuchungszeitraum im unmündigen Status oder mit über 40 Jahren. Regelmäßig nutzten die fast ausnahmslos dem Einwohnermilieu angehörenden älteren Semester durch Heirat einer Witwe ihre letzte Chance, noch in den Genuss sozialer Absicherung zu gelangen. Hingegen vertraten etwa die Minderjährigen das gesamte Spektrum der dörflichen Besitzstände. Einschneidende familiäre, die Haushaltskontinuität bedrohende Ereignisse motivierten oder erzwangen teilweise eine Gutsübertragung auf unmündige Söhne, die sich dadurch entweder in die Lage versetzt sahen, eine gewählte Partnerin faktisch verfrüht heimzuführen oder eine frühe Heirat forcieren mussten, um den Hausstand führen zu können. Ihre Bräute waren ebenfalls maximal 21 Jahre alt. Zu den jüngsten Eheleuten zählen, 1667 vermählt, Susanna Helbig (1651–1724) und Andreas Görner (1650–1677). Dessen verwitwete Mutter starb wahrscheinlich 1667 und hinterließ ihrem Sohn ein Bauerngut, welches der Jugendliche allein unmöglich zu bewirtschaften vermocht hätte. Ähnlich war die Situation Martin Esches (1678–1735) gelagert. Binnen zwei Wochen starben 1694 seine Eltern, die selbst kaum ein Jahr in der Wirtschaftsführung des vormals großväterlichen Anspanngutes gestanden hatten. Außer dem hinfälligen, Mitte des Jahres gleichfalls verschiedenen Großvater entbehrten die vier hinterbliebenen unmündigen Söhne eines näheren Verwandten vor Ort. Der in Niederfrohna lebende väterliche Ahn übernahm den Besitz, „weil der jüngste Sohn nur 7 Jahr alt, und welcher unter den andern Kindern sich am besten zum Guthe und deßen Bestreitung schicken würde, man noch zur Zeit nicht wißen könnte, Er vor sich und seine Erben schuldig seyn wolte, dem jenigen Sohne, so darzu tüchtig befunden würde, es künfftig gegen wieder Bezahlung des KauffLehn- und Schreibegeldes [...] wieder abzutreten“. 516 Nur ein Jahr darauf stand die Besitzfrage erneut zur Debatte. Da der älteste Enkel „Martin Esche ziemlich erwachsen und solches zu reluiren vermeinet, auch bereit eine gewiße Person, nahmentlich Christoph Esche zu Rußdorff erbethen, daß er ihme seine Tochter zu ehelichen und eines weil die Haußhaltung führen zuhelffen versprochen“. 517 Die Jugendhochzeit zwischen dem 17-jährigen Gutserben und der 15-jährigen Bauerntochter Eva Esche erfolgte im November 1695. Wie ungewöhnlich derart frühe Trauungen waren, beweist das Beispiel des 1699 mit 18 Jahren eine gleichaltrige Pleißaerin ehelichenden Michael Rudolph, der anlässlich seines Erbkaufs 1698 eigentlich „zu heyrathen noch zu jung“ 518 galt. Auch die Bräunsdorfer Unmündigen blickten teils auf sicherlich nicht ungewöhnliche, aber doch aus dem majorativen Muster herausstechende familiäre Verhältnisse zurück. Der 19-jährige Christoph Friedrich verlor etwa nach dem Tod des Vaters 1685

516 517 518

ThStA Abg, Amtsgericht Altenburg, C I Loc. 1, Nr. 148, fol. 88. Ebd., Nr. 148, fol. 225. Ebd., Nr. 150, fol. 20.

– – – – – – – 0,46 – – – –

1630–1679

1880–1935

1830–1879

1780–1829

1730–1779

1680–1729

15

Bräunsdorf

1880–1935

1830–1879

1780–1829

1730–1779

1680–1729

Männer Frauen Männer Frauen Männer Frauen Männer Frauen Männer Frauen Männer Frauen

– – – 1,37 – – – – – – – – – –

1630–1679

15

1582–1629

Männer Frauen Männer Frauen Männer Frauen Männer Frauen Männer Frauen Männer Frauen Männer Frauen

Rußdorf

– – – – – – – 0,46 – 0,28 – –

16

– 2,17 – 1,37 – 1,33 – 0,90 – 0,34 – 0,15 – –

16

– 4,23 – 1,83 – 1,00 – 0,46 – 0,85 – 0,11

17

– 4,35 1,37 5,48 0,67 2,67 0,90 0,90 0,34 0,69 – 1,05 – –

17

– 5,63 0,61 6,10 1,50 5,50 0,91 0,91 – 1,42 – 1,23

18

– 6,52 – 5,48 0,67 4,00 – 7,21 – 3,45 0,15 1,35 – 0,66

18

– 12,68 0,61 5,49 0,50 6,00 0,91 3,65 – 2,84 – 2,57

19

– 6,52 – 15,07 1,33 10,00 1,35 8,11 1,38 7,59 – 4,33 0,06 3,18

19

1,41 7,04 1,22 7,32 3,00 8,00 4,11 7,76 0,28 5,97 0,45 7,16

20

– 10,87 – 10,96 0,67 8,67 0,45 9,01 0,69 7,24 0,75 7,03 0,54 7,92

20

4,23 18,31 1,83 6,10 5,00 8,00 2,28 8,68 2,56 7,67 3,58 13,09

21

6,52 19,57 2,74 9,59 2,67 9,33 4,05 13,51 2,07 10,00 2,09 8,22 3,48 13,44

21

7,04 9,86 4,27 10,37 9,00 7,00 6,39 15,98 4,83 8,81 9,96 14,77

22

2,17 15,22 6,85 9,59 5,33 12,00 7,66 13,51 4,14 12,76 5,98 10,01 12,06 15,12

22

8,45 19,72 5,49 10,98 10,00 9,00 5,94 19,18 9,94 13,35 15,32 17,90

23

2,17 6,52 8,22 9,59 3,33 14,00 3,60 12,16 6,90 10,34 7,32 9,12 15,78 15,42

23

8,45 11,27 9,76 7,93 8,50 12,50 9,13 10,05 10,80 14,49 16,22 12,30

24

6,52 17,39 2,74 9,59 7,33 6,00 6,31 10,36 9,31 9,31 12,71 9,87 14,46 13,74

24

7,04 8,45 6,10 7,32 7,50 14,00 9,59 10,96 7,67 11,08 12,64 8,50

25

6,52 10,87 4,11 6,85 2,67 8,00 9,01 7,21 10,34 12,07 9,57 9,27 12,48 10,44

25

11,27 7,04 7,32 9,76 7,50 7,00 9,13 11,42 10,51 9,94 11,30 8,17

26

10,87 4,35 8,22 5,48 9,33 9,33 4,95 9,46 7,59 9,66 9,57 8,07 11,58 7,32

26

Tabelle 16: Verteilung der Erstheiratenden nach Altersklassen 16 bis 30 in Rußdorf und Bräunsdorf (Angaben in %) 27

12,68 0,00 6,10 8,54 6,00 11,00 7,76 8,68 10,23 6,25 7,16 5,15

27

4,35 13,04 10,96 5,48 11,33 5,33 7,21 4,95 7,24 10,34 8,82 8,37 7,44 4,56

28

9,86 4,23 9,76 4,88 3,00 6,00 5,94 7,31 8,52 8,52 5,48 3,02

28

4,35 4,35 5,48 4,11 7,33 4,00 8,11 4,05 6,55 7,59 8,22 5,98 5,34 3,12

29

2,82 8,45 7,93 4,88 6,50 7,50 5,02 8,68 8,52 5,40 4,36 3,02

29

10,87 8,70 10,96 1,37 4,00 7,33 8,56 6,31 7,24 5,86 6,73 4,19 4,20 2,58

30

2,82 4,23 3,66 2,44 6,00 3,00 2,74 1,83 1,70 1,42 1,90 0,78

30

4,35 2,17 2,74 4,11 2,67 2,00 4,50 1,35 0,34 1,38 2,54 1,49 1,32 0,84

198 NUPTIALITÄT

HEIRATSALTER

199

sein Anrecht auf dessen „zimblich verwüstetes Pferdtfrohnguth“, welches „unmöglich uff viel Kinder erhalten werden könne“ 519, erschien aber trotz der vergleichsweise geringen Entschädigungssumme und seiner folglichen Grundbesitzlosigkeit einer Oberfrohnaer Inwohnerfamilie bzw. deren Tochter 1691 attraktiv genug. Hingegen gaben für die beinahe volljährigen Hanß Frischman (1644–1721) und Christoph Fiedler (* 1650) kurz zuvor erfolgte Erbgänge 1664 bzw. 1671 den Ausschlag. Die Altersverteilung erstmalig heiratender Frauen zeigte in vorindustrieller Zeit leicht differierende Schwerpunkte. Im vierten oder einem höheren Lebensjahrzehnt vermählten sie sich im Unterschied zu ihren Partnern kaum. Insbesondere die 40-JahresGrenze nahm für das weibliche Geschlecht eine dezisive Bedeutung an. „Alte Jungfern“, deren Fruchtbarkeit sich spätestens nach dem 40. Geburtstag rasant ihrem Ende zuneigte, durften selten noch auf einen Ehemann und Zugang zu einer relativ gesicherten Existenz hoffen. Die Majorität der im fünften Lebensjahrzehnt be ndlichen erstmaligen Bräute, von der Inwohner- bis zur Bauerntochter, ehelichte einen älteren Witwer. Über 50-jährige ledige Bräute waren lediglich in Rußdorf ab 1848 nachweisbar. Allesamt ehelichten sie einen Witwer und mindestens zwei hatten mehrere uneheliche Kinder. Die klare Mehrheit der Frauen willigte in Rußdorf und Bräunsdorf vor dem 30. Geburtstag in eine Ehe ein. Darunter war im Unterschied zu den Bräutigamen von Beginn an ein erheblicher Prozentsatz Unmündiger, der in Bräunsdorf meist nur geringfügig niedriger lag. Dabei handelte es sich keinesfalls um Legitimationshochzeiten nach erfolgter Schwängerung. Im Gegenteil nahm deren Quote diametral zum Anstieg der unehelichen Geburtigkeit seit dem späten 17. Jahrhundert kontinuierlich ab. Dabei stand die Praxis weiblicher Jugendhochzeiten nicht im Widerspruch zu deren Vermeidung bei den Männern. Diese übernahmen mit der Heirat die eheliche Vormundschaft über ihre Frau. Gleichzeitig selbst noch bevormundet zu werden, war wenig zweckdienlich. Ihren Heiratsfonds gewissermaßen selbst repräsentierend bzw. durch Aussteuer und eventuell zu erwartendes Erbe bar etwaiger langwieriger Akquirierungs- oder schlichtweg Wartezeiten innehabend, bedurften potentielle Bräute hingegen lediglich eines Kandidaten und der Vormünder Zustimmung, um schon in jugendlichen Jahren an einen eigenen Hausstand zu gelangen. Dennoch war die Ehe mindestens vor dem 18. Geburtstag beim weiblichen Geschlecht gleich der Unmündigenheirat beim männlichen bis ins 20. Jahrhundert standesunabhängig außergewöhnlichen Umständen vorbehalten. Die Hochzeit im normalen Rahmen lässt dagegen in Anbetracht ihrer starken ökonomischen Prägung über Ausmaß und Gestalt der Feierlichkeiten hinausgehende Unterschiede zwischen den sozialen Schichten erwarten. Das Erstheiratsalter insbesondere der Männer, denen zuvörderst die Bringschuld des Heiratsfonds oblag, war maßgeblich an den Zeitpunkt seiner Erlangung gebunden. Theoretisch sollten daher die gut situierten Angehörigen der bäuerlichen 519

HstA-D, 12613 GB Limbach, Nr. 2, fol. 1.

200

NUPTIALITÄT

Tabelle 17: Erstheiratsalter der Männer nach eigenem Besitzstand in Rußdorf und Bräunsdorf Rußdorf

Bauern

Gärtner

Häusler

Hausgenossen

Gesamt

1582–1629 1630–1679 1680–1729 1730–1779 1780–1829 1830–1879 1880–1935

28,33 29,91 28,06 28,39 27,95 29,17 28,06

29,50 29,05 28,76 28,38 29,60 27,98 27,44

– 29,00 31,36 28,53 29,09 28,36 26,19

– 32,00 29,83 32,27 29,00 28,19 25,29

28,82 30,52 29,27 28,39 29,04 27,85 25,88

Bräunsdorf 1630–1679 1680–1729 1730–1779 1780–1829 1830–1879 1880–1935

27,38 28,10 27,68 26,64 28,93 28,13

30,45 27,81 26,69 27,12 27,86 26,91

– 29,26 27,57 28,38 29,11 28,52

26,00 30,56 28,25 28,54 28,38 25,60

27,92 28,51 27,33 27,66 28,41 25,94

Oberschicht bei ihrer ersten Trauung tendenziell jünger an Jahren denn Mitglieder der unteren Besitzstände gewesen sein. Tatsächlich stützt Tabelle 17 diese Annahme in einigen Punkten. In der Entstehungsperiode der oberen Mittelschicht am Anfang des Untersuchungszeitraums heirateten Gärtner in Rußdorf durchschnittlich ein Jahr, in Bräunsdorf gar drei Jahre später als bäuerliche Bräutigame. Dies ließe sich leicht durch die zeitgleiche Parzellierungspraxis erklären. Als weichende Erben mussten die frühen Gartengutsbesitzer entweder erst die nötige Finanzkraft zum Kauf einer Immobilie oder aber den Erbfall des väterlichen Gutes an einen jüngeren Bruder abwarten, bevor ihnen Land von den bestehenden Hufen abgespalten und zugestanden wurde. Bereits die zweite Generation der Gartenbesitzer p egte ein bäuerliches Heiratsgebaren. Die in ihrer Anzahl spätestens ab den 1670er Jahren unveränderlichen Kleinbauernstellen wurden in der Regel vererbt. Demgemäß differierte das Erstheiratsalter der Gärtner rasch kaum mehr von jenem der Bauern, lag teils über, teils leicht unter diesem und stand bis ins 19. Jahrhundert ebenfalls regelmäßig hinter dem allgemeinen Durchschnitt zurück. Die Häuslerschaft kopierte diese Entwicklung seit ihrer Aufschwungphase im späten 17. Jahrhundert. Zwischen 1680 und 1729 zeigten junge, ihre unterbäuerlichen Stellen meist selbst einrichtende Hausbesitzer in beiden Untersuchungsorten gegenüber der Ober- und der oberen Mittelschicht im Durchschnitt erhöhte Erstheiratsalter. Bereits während des folgenden Intervalls glich sich deren ebenfalls auf dem Erbgang fußendes Heiratsverhalten dem der übrigen besitzenden Stände an. Allerdings unterschritt deren mittleres Eheeintrittsalter dabei zu keinem Zeitpunkt den allgemeinen Durchschnitt. Der herausstechend niedrige Wert des zweiten Rußdorfer Intervalls hat, auf einer einzigen Hochzeit fußend, keine Aussagekraft.

HEIRATSALTER

201

Das Verhalten der Hausgenossenschaft zollt ihrer besitzständischen Benachteiligung Tribut. Deren Altersdurchschnitt vor 1680 bildet zu geringen Fallzahlen geschuldet keinen Maßstab, obwohl er in Rußdorf ins Bild passt. In der altenburgischen Exklave verehelichten sich Mitwohner bis ins frühe 19. Jahrhundert konsequent später als Angehörige der Bauernschaft, nicht jedoch immer später als Gärtner oder Häusler. Ebenso wurde das allgemeine Heiratsalter von der Hausgenossenschaft schon zwischen 1780 und 1829 freilich unmaßgeblich unterschritten. In Bräunsdorf hatten dieselben Prinzipien ein Intervall länger Geltung. In beiden Ortschaften verloren die traditionellen Regeln während des 19. Jahrhunderts, sicherlich in enger Verbindung mit der ökonomischen Entwicklung der Region, ihre Wirksamkeit. Die Rußdorfer Bauernschaft heiratete nach 1830 bei wieder steigendem Altersniveau später als alle anderen Besitzstände, die Mitwohner, welche, ohne einen Erbfall abwarten zu müssen, durch gewerbliche bzw. industrielle Arbeit nun leichter an ein hinreichendes Auskommen gelangen konnten, nahmen den gegensätzlichen Weg. Nach 1880 hatte sich das traditionelle Erstheiratsaltersgefälle zwischen den Schichten gänzlich umgekehrt. Weniger umfassend, doch in ihrer Tendenz vergleichbar, vollzog sich die Entwicklung in Bräunsdorf. Auch dort wuchs das bäuerliche Durchschnittsalter nach 1830 über den allgemeinen Mittelwert wieder an und el jenes der Hausgenossen im nalen Intervall an das untere Ende der Skala. Sowohl Schmalz 520 als auch Adler beobachteten bei (proto)industriellen Arbeitern ebenfalls eine Tendenz zu vergleichsweise niedrigen Erstheiratsaltern. Zudem stellte Letztere einen dem vorliegenden Beispiel ähnlichen Anstieg des Durchschnittsalters in der Oberschicht ihrer württembergischen Untersuchungsorte nach 1830 fest. 521 Knodel bemerkte gleichfalls überregional leicht verminderte Heiratsalter unter Handwerkern und einen leichten Anstieg bei den Landwirten, attestierte jedoch für das 18. und 19. Jahrhundert nur geringe Veränderungen. 522 Im Tagelohn arbeitende Landbewohner benötigten laut allen drei Studien durchgängig am längsten, um einen angemessenen Heiratsfonds zu erlangen. Zusammenfassung Entsprechend dem Hajnal'schen Bild des westeuropäischen Heiratsmusters zeigen die Untersuchungsorte vergleichsweise hohe Erstheiratsalter beider Geschlechter, die durch Unterordnung der Hochzeit unter wirtschaftliche Motive und die daraus resultierende Bindung an eine sozioökonomische Stelle determiniert sind. Ein Altersgefälle in Richtung des weiblichen Geschlechts erscheint im Vergleich mit anderen Studien ebenso 520 521 522

Vgl. Schmalz, Familienrekonstitution, S. 72f. Vgl. Adler, Demographie, S. 191ff. Vgl. Knodel, Behavior, S. 130ff.

202

NUPTIALITÄT

üblich wie folgerichtig, wird die Verp ichtung des Bräutigams zum Vorweis des Heiratsfonds einerseits und andererseits seine Autoritätsposition in der ehelichen Hauswirtschaft bedacht. Zwischen den Besitzständen bestehende Unterschiede im Heiratsalter gehen in der Regel auf außerordentliche vertikale soziale Mobilität in den Phasen der lokalen Flurparzellierung und soziostrukturelle Ausdifferenzierung zurück. Lediglich die weitestgehend von der Ehe ausgeschlossenen Hausgenossen können kategorisch mit überdurchschnittlichen Eheeintrittsaltern in Verbindung gebracht werden. Weitere maßgebliche Ein ussfaktoren abseits des Stellenmechanismus, der freilich auf langfristig wirkende ökonomische Großwetterlagen oder grundsätzliche Systemänderungen reagieren mochte, konnten nicht festgestellt werden. Insbesondere im Laufe des 19. Jahrhunderts bzw. auf dessen letzte drei Dekaden konzentriert zeichnet sich ein Rückgang des Erstheiratsalters in Rußdorf und Bräunsdorf ab. Das gleichzeitig starke Wachstum der landbesitzlosen, vorrangig heimindustriell tätigen Unterschicht zur gesellschaftlich dominierenden Gruppe nebst massiver Absenkung konkret deren mittleren Heiratsalters zeigt eine Korrespondenz beider Prozesse an und deutet zugleich auf den Funktionsverlust des Stellenregulativs während der Industrialisierung hin. Gegen Ende des 19. Jahrhunderts wurden Miets- bzw. Mehrfamilienhäuser fern jedem agrarwirtschaftlichen Bezug geschaffen, wodurch der jungen heiratswilligen Landbevölkerung in Ergänzung des mannigfaltige Stellen vor allem im Sekundärsektor bietenden industriellen Arbeitsmarkts ausreichend Wohnraum zur Verfügung gestellt wurde. Unter weitgehender Fortführung tradierter Eheanbahnungs- und Heiratsmechanismen musste das durchschnittliche Erstheiratsalter der Bräutigame demnach im Zuge industrieller Entwicklung sinken.

5.5 WIEDERHEIRAT Der einmal geschlossene „Bund fürs Leben“ kann potentiell in zwei Szenarien gelöst werden: durch Scheidung oder den Tod. Im Gegensatz zur modernen pluralistischen westeuropäischen Praxis, nach der Ehen faktisch beliebig jederzeit geschlossen und getrennt werden können und die Hochzeit ihres verp ichtend bindenden Charakters auch in der öffentlichen Wahrnehmung zusehends beraubt wird, nahm die Scheidungsrate in Mittelalter und Frühneuzeit verschwindend geringe Ausmaße an. Bis der deutsche Staat 1875 das Eherecht in seine Hände nahm, oblag es allein der Kirche, zu binden und zu scheiden. Letzteres wurde nur in klar de nierten Fällen gewährt, zu denen schlichte Zerstrittenheit der Ehepartner nicht unbedingt zählte. Christian Friederich Krause, der sich um 1837 „von seiner zirniten Gattin [...] mit der Erlaubniß einer anderweitigen Verheirathung“ 523 scheiden ließ, bildet eine klare Ausnahme. Der Strumpfwirker Johann Ernst 523

EPA Bräunsdorf, KB III: Kirchbuch 1829–1852, Trauregister 1837, Nr. 4.

WIEDERHEIRAT

203

Schieke (1817–1884), „ein wenig beliebter Mann“, lebte zum Beispiel ungeschieden von seiner dritten Ehefrau in Pleißa getrennt im Rußdorfer Armenhaus 524 und Gottlieb Helbig (1791–1846) „hat jahrelang mit Weib und Kind im Streit gelebt u. noch auf d. Todtbette [...] sie von sich verstoßen“ 525. Das für die betreffenden Parochien zuständige Leipziger Konsistorium annullierte Ehen aus dem Untersuchungsgebiet, soweit die Gründe überliefert sind, vor allem nach Ehebrüchen. Nicht allein die oft ehrenrüchigen Ursachen, auch die Scheidung selbst stigmatisierte die Betroffenen im Sinne eines schwindenden religiösen Wertekanons und brachte sie in verstärktem Maße ins Gerede. Entsprechend selten sind Scheidungen aus Rußdorf und Bräunsdorf überliefert. Im benachbarten Kaufungen heiratete 1622 ein externer geschiedener Mann, dessen Frau mit seinem Knecht durchgebrannt war. 526 Demgegenüber folgte 1759 keine Trennung, als der verheiratete Rußdorfer Strumpfwirker Johann Behnert 1758 seine Nachbarin Maria Müller, deren Ehemann als Falschmünzer inhaftiert bzw. nach abgesessener Haftstrafe nicht wiedergekehrt war, schwängerte. „Ob es gleich ein adulterium duplicatum war, kamen sie doch beide mit mäsiger Geldbuse los.“ 527 Der erste Scheidungsfall eines Rußdorfer Ehepaars ist für 1793 belegt, Bräunsdorfer wurden erstmals 1796 geschieden. 528 Danach traten während des 19. Jahrhunderts hin und wieder Dispensationen auf 529, wobei die ebenfalls äußerst geringe Zahl geschieden heiratender Auswärtiger deutlich überwog. Das Attestat eines zeitgenössischen Beobachters (1838), „daß geradezu die Leichtigkeit der Scheidung das Verlangen nach derselben steigert, wie sich dieß leider bei den Protestanten zur Genüge nachweiset“, unterstützen die gewonnenen Daten in keinster Weise. 530 Allerdings schnellte die Scheidungszahl im Anschluss an den Ersten Weltkrieg nach oben, sodass zwischen 1920 und 1935 mehr lokal ansässige Ehepaare getrennt wurden als in der gesamten vorangegangenen Zeit. Die Majorität der Ehen endete freilich über den Untersuchungszeitraum hinaus wie schon im Mittelalter durch den Tod eines Ehepartners. Dem zurückbleibenden Lebensgefährten stand es frei, sich abermals zu vermählen. Witwer mochten unmittelbar nach dem Dahinscheiden der Ehefrau eine neue Bindung eingehen, wohingegen Witwen regulär ein Jahr ausharren mussten, um eventuell bestehende Schwangerschaften

524 525 526 527 528 529

530

EPA Rußdorf, KB XIV, Beerdigungsregister 1884, Nr. 47. EPA Rußdorf, KB III, Beerdigungsregister 1846, Nr. 6. Vgl. EPA Kaufungen, KB I, Trauregister 1623, Nr. 1. Vgl. EPA Rußdorf, KB I, Taufregister 1759, Nr. 12. Vgl. ebd., Trauregister 1786, Nr. 7. – Vgl. EPA Bräunsdorf, KB I, Trauregister 1789, Nr. 3. Lediglich sechs sind mit Datumsangabe belegt. Die Dunkelziffer mag höher gelegen haben. In den Personenstandsakten wurden Scheidungen nicht verzeichnet. Einzig Notizen der Verfasser geben Auskunft. Nur für die in den Untersuchungsorten verheirateten und gestorbenen Personen kann eine Dunkelziffer ausgeschlossen werden, da der Familienstand spätestens anlässlich des Todes Erwähnung fand. Fuchs, Johann B., Der Ehescheidungs-Prozess kirchenrechtlich-historisch behandelt für werdende Seelsorger, Eichstätt 1838.

204

NUPTIALITÄT

erkennen zu können und Kuckuckskinder zu verhindern. 531 Gegen Entrichtung einer Gebühr bestand jedoch die Möglichkeit, die vorgeschriebene Trauerphase vorzeitig zu beenden. 532 Abseits des emotionalen Aspekts regten mit Sicherheit vor allem ökonomische Beweggründe eine erneute Partnersuche an. Besonders im bäuerlichen Milieu mit seinen relativ klar begrenzten haus- bzw. familienwirtschaftlichen Verantwortungsbereichen vermochte selbst vorhandenes Gesinde einen fehlenden Ehepartner arbeitstechnisch schwer zu ersetzen, zumal es entlohnt werden wollte und den Haushalt somit zusätzlich belastete. Obwohl beiden Geschlechtern eine Folgeehe theoretisch ähnlich attraktiv erscheinen musste, gingen Männer diesen Schritt im Untersuchungsgebiet in deutlicher, das Mengenverhältnis zwischen Witwern und Witwen nicht widerspiegelnder Überrepräsentanz. Entsprechend stehen zwischen 1582 und 1935 in Rußdorf 482 abermals heiratenden Bräutigamen mit eruierbarem Heiratsalter lediglich 257 Bräute gegenüber und liegt die Relation in Bräunsdorf 1640–1935 bei 395:154 533. Dieses kontinuierliche Ungleichgewicht könnte systembedingte Partner ndungsschwierigkeiten ebenso wie fehlende Motivation des weiblichen Geschlechts andeuten 534. In der betrachteten patriarchalisch organisierten Gesellschaft el es Witwern mit Sicherheit leichter, eine neue Partnerin zu nden, da sie zwangsläu g bereits über ausreichende Heiratsfonds verfügten und selbst mit einer neuen Frau die Familienkontinuität wahrten. Zusätzlich wird der extramatrimonial nur unter Inkaufnahme gesellschaftlicher bis juristischer Restriktionen auslebbare Sexualtrieb besonders bei jüngeren Männern zum erneuten Ehewunsch beigetragen haben. Ältere Frauen sowie Mütter mit „unerzogenen“ 535 Kindern hatten auf dem Heiratsmarkt von vornherein einen schwereren Stand. Wer sie ehelichte, durfte nur auf vergleichsweise geringen eigenen Reproduktionserfolg hoffen bzw. musste obendrein die Nachkommenschaft seines Vorgängers versorgen und aufziehen. Andererseits stieg die Attraktivität einer Witwe, ihres Alters und ihrer Kinder ungeachtet desto mehr, je bedeutender die Verlassenschaft des dahingeschiedenen Gatten aus el. Im Zunftwesen war die Meisterwitwenheirat gängige Praxis und den Handwerksgesellen ein probates Mittel, unkompliziert an eine existenzsichernde Meisterstelle zu gelangen. 536 Analoge

531 532

533 534

535 536

Vgl. Ehmer, Josef/Gutschner, Peter (Hg.), Das Alter im Spiel der Generationen, Wien/Köln /Weimar 2000, S. 164. Siehe zum Beispiel die Rußdorfer Schenkwirtwitwe Sibylle Sebastian 1791: „Weil ihre Trauerzeit erst d: 26. April: zu Ende ging, so mußten sie beim Oberconsistorio dispensation suchen, welches 8 Th[aler] gekostet.“ – EPA Rußdorf, KB I, Trauregister 1791, Nr. 4. Personen, welche mehrere Folgeehen aufweisen, wurden adäquat mehrfach gezählt. Bei allen demographischen Phänomenen, die sich nicht umfassend menschlichem Ein uss entziehen, ermöglicht nur der Blick auf individualbiographische Muster annähernd realistische Aussagen über maßgebliche Verhaltensmotivlagen. In der vorliegenden Fallstudie kann dies einerseits aus methodischen Gründen nicht erbracht werden. Andererseits erlaubten die geringen Fallzahlen keine repräsentativen Aussagen. Ein Kind, welches die Kon rmation noch vor sich hatte und elterliche Versorgung beanspruchen konnte. Vgl. Schultz, Handwerk, S. 58f.

WIEDERHEIRAT

205

Muster sozialer Mobilität sind für den ruralen Raum anzunehmen. Gerade Witwen mit Kindern mussten jedoch auch deren Ansprüche, über deren Wahrung die bestätigten Vormünder wachten, bei etwaigen Heiratswünschen berücksichtigen. Ein neuer Ehemann übernahm in der Regel den familiären Landbesitz. Designierte Erben des früheren Besitzers hatten in diesem Fall zwar Anspruch auf eine Entschädigungszahlung und wurden meist bis zum 14. Geburtstag weiter im ehemals väterlichen Gut erzogen und versorgt, waren damit aber üblicherweise nicht mehr erbberechtigt. Aus familienpolitischer Sicht barg ein derartiger Bruch der Haushaltskontinuität unverkennbare Nachteile, weswegen er vermieden wurde. Die geringere Wiederverheiratungsquote der Frauen resultierte sicherlich unter anderem aus einer davon beein ussten Bindungsskepsis. Zweifelsohne sind die Hauptursachen aber an anderer Stelle zu suchen. Es existierten diverse Mittel, die Haushaltskontinuität trotz Folgeehe zu sichern. Maria Richter (1641–1714), Wirtswitwe aus Rußdorf, steht stellvertretend für den Typus erst nach der Gutsübergabe an ein leibliches Kind heiratender Frauen. Drei Jahre nach ihrer Verwitwung 1681 verkaufte sie in Erbengemeinschaft mit ihren unmündigen Kindern das Schenkgut an den Ehemann ihrer ältesten Tochter und heiratete zum zweiten Mal erst 1690 als Auszüglerin ihren 14 Jahre jüngeren ledigen langjährigen Knecht. Eine weitere relativ oft in Anspruch genommene Möglichkeit boten „Wiederkäufe“, die dem Kurerben ein Rückkaufrecht einräumten. Hiervon machte zum Beispiel die Rußdorferin Elisabeth Herold (1684–1748) Gebrauch. Diese verlor nach zwölf Jahren Ehe 1716 ihren ersten Mann, den Gärtner Hans Herold. Mit zwei Kleinkindern heiratete sie 1719 den Gärtnersohn Christoph Landgraff, der ihren ererbten Garten 1721 annahm und dem Sohn erster Ehe einen Wiederkauf anlässlich dessen 21. Geburtstags zusicherte. Zudem übernahm er 1725 den Erbgarten seines Schwiegervaters, an dem er seinen Stiefkindern zumindest den Anbot 537 verbriefte. 538 Sehr selten griffen Witwen in dritter Alternative auf Verpachtungen zurück, so exemplarisch die Bräunsdorferin Regina Steinbach (1728–1788). Die Witwe des lokalen Pfarrlehnbauers blieb 1761 mit drei Kindern zwischen einem Jahr und sechs Jahren sowie dem 71-jährigem Schwiegervater im Ausgedinge zurück. In dieser Konstellation war das mindestens seit 1544 im Besitz derselben Familie be ndliche Gut, auf dem außergewöhnliche Verp ichtungen gegenüber dem Pfarrer lasteten, schwer zu erhalten. Relativ zügig heiratete Steinbach noch vor Ablauf des Trauerjahres den Häusler Johann Heinrich Spieß, dem die Erbengemeinschaft das Anspanngut allerdings erst eineinhalb Jahre nach der Hochzeit für zunächst drei Jahre verpachtete. 539 Am Ende hielt er die Pacht über zwölf Jahre, ehe der Kurerbe 1781 an sein Recht gelangte. Zwischenzeitlich

537 538 539

Vorkaufsrecht. ThStA Abg, Amtsgericht Altenburg, C I Loc. 1, Nr: 164, fol. 182 u. Nr. 162, fol. 65. HstA-D, 12613 GB Limbach, Nr. 4: Gerichtsbuch Bräunsdorf 1746–1768, fol. 361.

206

NUPTIALITÄT

übernahm allerdings ein verheirateter Schäfer die Gutsführung 540, weil Spieß 1768 eines „grossen Geld- und Leinewand-Diebstahl[s]“ halber für drei Jahre ins Zuchthaus Waldheim eingewiesen worden war. 541 Eine Mischung aus Bindungsmüdigkeit, verminderter physischer, sozialer und ökonomischer Attraktivität, kulturell determiniertem geschlechtsspezi schem Verhalten sowie soziostrukturellen Rücksichten und Notwendigkeiten bestimmte die Heiratsfreudigkeit der erneut Heiratenden. Während zwischen 16. und 20. Jahrhundert Gewichtungsänderungen innerhalb der Gemengelage über eine Wiederheirat entscheidender Faktoren in Anbetracht einer transformierenden Lebenswelt geradezu zwangsläu g anzunehmen sind, unterlag das resultierende Gebaren in seinen Grundelementen keinen maßgeblichen statistisch ersichtlichen Wandlungen. Nicht nur die Beteiligung des weiblichen Geschlechts an Folgeehen blieb im Verhältnis zur männlichen nahezu unverändert. Witwen heirateten Anfang des 20. Jahrhunderts wie in vorindustrieller Zeit maximal drei Mal, während Männer bis zu vier Frauen ehelichten. Allerdings waren mehr als drei Hochzeiten bei Angehörigen des männlichen Geschlechts ähnlich selten wie mehr als zwei bei jenen des weiblichen. Das durchschnittliche Wiederverheiratungsalter veränderte sich gleichfalls nur unmaßgeblich. In beiden Ortschaften zählten Bräutigame bei einer Folgeehe vom 16. bis zum 20. Jahrhundert im Mittel zwischen 41 und 49 Jahre. Die Dekadendurchschnitte in Tabelle 18 unterliegen freilich, geringen Fallzahlen geschuldet, weitaus stärkeren Schwankungen. Rußdorfer Witwer schritten gegenüber den Bräunsdorfern meist in etwas höherem Alter nochmals vor den Altar. Die Hälfte bis zwei Drittel vermählte(n) sich durchgängig im vierten oder fünften Lebensjahrzehnt (Tab. 19). Nach einer Verwitwung in diesem Alter standen die Betroffenen oft mit mehreren Kindern allein da. Die Erstheiratshäufungen im dritten Lebensjahrzehnt hatten zur Folge, dass eheliche Kinder meist erst nach dem 50. Geburtstag der Eltern ihre Mündigkeit erreichten und nicht selten, bedingt durch relativ hohe familiäre Kinderzahlen, gar die Kon rmation noch vor sich hatten. Vor dem sechsten Lebensjahrzehnt verwitwete Elternteile mussten demnach gewöhnlich noch minderjährigen Nachwuchs versorgen. Guts- bzw. Hausbesitzer konnten die Verantwortung theoretisch mit ihrem Besitz an einen Erben verschreiben. Eines solchen entbehrte es den unter Fünfzigjährigen jedoch aus den genannten Gründen oft noch. Außerdem war ein Rückzug auf das Ausgedinge vor dem 50. Jahr ebenso unüblich wie sicherlich psychologisch bedenklich. Der ohne neue Partnerschaft in diesem Alter drohende jahrzehntelange Witwenstand sollte neben wirtschaftlichen Interessen und faktischen Zwängen die alternative erneute Bindung begünstigt haben. Nach dem 50. Geburtstag sank die Wiederverheiratungswahrscheinlichkeit proportional zur sukzessiven Aufhebung der aufgeführten pragmatischen Beweggründe und 540 541

Ebd., Nr. 5, fol. 11B u. fol. 242. EPA Bräunsdorf, KB I, Heiratsregister 1767, Nr. 4.

207

WIEDERHEIRAT

Tabelle 18: Entwicklung des Wiederverheiratungsalters nach Dekaden und Jahrhunderten mittleres Wiederverheiratungsalter Männer Rußdorf Bräunsdorf 1582–1589 1590–1599 1600–1609 1610–1619 1620–1629 1630–1639 1640–1649 1650–1659 1660–1669 1670–1679 1680–1689 1690–1699 1700–1709 1710–1719 1720–1729 1730–1739 1740–1749 1750–1759 1760–1769 1770–1779 1780–1789 1790–1799 1800–1809 1810–1819 1820–1829 1830–1839 1840–1849 1850–1859 1860–1869 1870–1879 1880–1889 1890–1899 1900–1909 1910–1919 1920–1929 1930–1935 1600–1699 1700–1799 1800–1899 1900–1935

38,47 51,50 66,99 47,02 33,08 38,80 42,03 52,13 49,69 34,06 – 47,17 38,77 55,52 41,51 35,12 48,10 45,78 36,72 49,09 48,43 48,50 42,95 48,72 48,26 36,37 43,32 42,53 42,07 41,17 42,68 40,16 42,57 45,44 48,26 46,08 49,22 45,83 43,00 45,44

– – – – – – – 48,65 – 44,14 30,11 43,83 44,31 44,12 53,13 42,71 38,86 47,41 52,66 37,67 42,23 39,69 43,90 41,55 44,04 46,54 44,85 44,36 42,97 42,01 37,44 40,06 39,01 43,62 46,05 46,53 44,40 43,34 42,22 43,42

mittleres Wiederverheiratungsalter Frauen Rußdorf Bräunsdorf – 60,39 – 41,83 47,68 27,35 37,07 47,74 31,48 36,70 31,02 34,31 31,58 46,04 36,40 27,74 44,35 43,96 32,42 33,96 40,08 43,08 36,82 37,43 35,47 39,94 37,12 42,53 45,47 38,51 32,91 38,62 40,91 37,03 40,27 41,98 37,16 39,08 38,87 39,99

– – – – – – – – 29,08 26,08 33,75 31,37 29,10 – 37,01 – – 40,67 34,43 43,89 40,19 33,73 34,63 45,17 49,32 33,61 41,92 41,24 38,76 39,88 40,33 41,57 40,09 38,88 38,26 45,95 30,36 36,38 40,49 39,38

1880–1935

1830–1879

1780–1829

1730–1779

1680–1729

Bräunsdorf 1630–1679

1880–1935

1830–1879

1780–1829

1730–1779

1680–1729

1630–1679

Rußdorf 1582–1629

Männer Frauen Männer Frauen Männer Frauen Männer Frauen Männer Frauen Männer Frauen

Männer Frauen Männer Frauen Männer Frauen Männer Frauen Männer Frauen Männer Frauen Männer Frauen

1 3 1 4 3 3 7 3 7 5 13 7

0 0 2 5 1 4 2 2 3 2 8 12 20 20

4,76 % 100,00 % 4,17 % 30,77 % 9,68 % 17,65 % 12,50 % 13,04 % 6,42 % 12,50 % 8,84 % 13,21 %

21–29

0,00 % 0,00 % 11,76 % 50,00 % 6,25 % 33,33 % 5,88 % 15,38 % 5,26 % 7,41 % 5,88 % 15,79 % 10,58 % 17,86 %

21–29

6 0 6 6 13 7 14 10 37 18 43 19

4 2 4 2 5 4 13 6 11 15 51 25 62 50 30–39 28,57 % 0,00 % 25,00 % 46,15 % 41,94 % 41,18 % 25,00 % 43,48 % 33,94 % 45,00 % 29,25 % 35,85 %

30–39 33,33 % 33,33 % 23,53 % 20,00 % 31,25 % 33,33 % 38,24 % 46,15 % 19,30 % 55,56 % 37,50 % 32,89 % 32,80 % 44,64 %

6 0 9 3 9 6 25 5 41 16 48 18

1 2 6 3 5 2 9 3 20 8 48 23 52 28 40–49 28,57 % 0,00 % 37,50 % 23,08 % 29,03 % 35,29 % 44,64 % 21,74 % 37,61 % 40,00 % 32,65 % 33,96 %

40–49 8,33 % 33,33 % 35,29 % 30,00 % 31,25 % 16,67 % 26,47 % 23,08 % 35,09 % 29,63 % 35,29 % 30,26 % 27,51 % 25,00 %

3 0 6 0 4 1 8 5 23 0 30 8

3 1 2 0 2 2 7 2 17 2 22 16 37 11 50–59 14,29 % 0,00 % 25,00 % 0,00 % 12,90 % 5,88 % 14,29 % 21,74 % 21,10 % 0,00 % 20,41 % 15,09 %

50–59 25,00 % 16,67 % 11,76 % 0,00 % 12,50 % 16,67 % 20,59 % 15,38 % 29,82 % 7,41 % 16,18 % 21,05 % 19,58 % 9,82 %

Tabelle 19: Prozentuale Verteilung der wiederholt Heiratenden nach Altersklassen in Rußdorf und Bräunsdorf

5 0 2 0 2 0 2 0 1 1 13 1

4 1 3 0 3 0 3 0 6 0 7 0 18 3 über 60 23,81 % 0,00 % 8,33 % 0,00 % 6,45% 0,00 % 3,57 % 0,00 % 0,92 % 2,50 % 8,84 % 1,89 %

über 60 33,33 % 16,67 % 17,65 % 0,00 % 18,75 % 0,00 % 8,82% 0,00 % 10,53 % 0,00 % 5,15 % 0,00 % 9,52 % 2,68 %

Summe 21 3 24 13 31 17 56 23 109 40 147 53

Summe 12 6 17 10 16 12 34 13 57 27 136 76 189 112

208 NUPTIALITÄT

WIEDERHEIRAT

209

tendierte jenseits der 60 schnell gegen null. Wer ein Alter „60 plus“ erreichte, kämpfte zusehends mit physischen Verfallserscheinungen unter anderem infolge langjähriger anspruchsvoller körperlicher Arbeit. Dennoch suchten Landbesitzer ihrem Haushalt möglichst lang vorzustehen. Gutsverkäufe an den Erben oder eine dritte Partei erfolgten größtenteils bei Hinfälligkeit des pater familias. Andernfalls war dessen Tod abzuwarten. Verwitweten Auszüglern fehlte daher neben der Motivation meist auch die Konstitution für eine erneute Verpartnerung. Gleichzeitig sank mit steigendem Lebensalter generell die Wahrscheinlichkeit, den Tod der überwiegend jüngeren Ehefrau überhaupt erleben zu müssen. Diejenigen nach ihrem 60. Geburtstag nochmals zur Ehe schreitenden Witwer standen mitten im Leben, führten ihre Wirtschaft selbst und erzogen selten noch unkon rmierte Kinder. Ihre Heiratsmotivation zogen sie wahrscheinlich gleich ihren jüngeren Leidensgenossen entweder aus körperlich-seelischen Bedürfnissen oder wirtschaftlichen Nöten. Längeres Verweilen im Witwenstand indiziert Ersteres 542, eine kurze intermatrimoniale Phase (0,5–1 Jahr) 543 das Letztere. Zweckgemeinschaften in höherem Alter wurden vorrangig von männlichen Grundbesitzern mit einer dislozierten oder ohne Nachkommenschaft geschlossen. Demgemäß überwogen bis zur zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts in dieser Altersgruppe kurze Intervalle der Witwerschaft. Erst im 19. Jahrhundert traten überhaupt Mitwohner auf, die nach ihrem 60. Geburtstag und meist längeren „Trauerzeiten“ eine Folgeehe anstrebten. Des Weiteren stieg das maximale Heiratsalter im Zuge rapider Industrialisierung und steigender Lebenserwartung seit dem späten 19. Jahrhundert nicht bzw. kaum an. In Rußdorf wurde die Obergrenze 1606 bei 74,37 Jahren markiert und lag der Altersgipfel nach 1850 bei 67,62 Jahren (1893), während in Bräunsdorf zwar 1911 die einzigen beiden belegbaren über Siebzigjährigen heirateten, aber das nächstfolgende Heiratsaltermaximum aus der Zeit nach 1850 bei 67,69 Jahren (1922) hinter vor- und protoindustriellen Spitzenwerten rangierte. Parallel nahm der Anteil sehr junger Witwer (unter 30 Jahre) über den Betrachtungszeitraum diskontinuierlich leicht zu. Diese Entwicklung korrespondiert mit der 542

543

Tiburtius Möller (1532–1620) blieb zum Beispiel nach dem Tod seiner zweiten Frau drei Jahre mit fünf unmündigen Kindern (17–1) ledig, bevor er 1606 nochmals heiratete. Sein Anspanngut ging erst nach dem Tod des Greises an dessen jüngsten Sohn über. Der Häusler Peter Wiedemann (1649–1720) lebte seit 1705 acht Jahre als Witwer allein in seinem 1720 an die älteste Tochter vererbten Haus. Diese hatte 1695 einen exogenen Häusler geehelicht. Die zweite Tochter heiratete 1706 nach Falken. Kaum fünf Monate wartete hingegen der kinderlose Strumpfwirker Ernst Richard Pester (1855–1933), nachdem sich seine erste Frau vermutlich dessen Fremdgehens wegen in einen Teich gestürzt hatte. Die Annahme, er habe seine Liebschaft, personi ziert in einer 33 Jahre jüngeren Wirtschafterin, geheiratet, liegt nahe. Exemplarisch wartete der Gärtner Johann Gottfried Meyer (1751–1823) 1811 fünf Monate, ehe er sich kinderlos und mit dem Auszügler Samuel Aurich (1743–1821) im Haus zum zweiten Mal verheiratete. Dem Bauer Cyprian Gympel (1534–1608) genügten 3,5 Monate, um in einer dritten Ehe 1599 die verwitwete Mutter einer seiner Schwiegertöchter zur Frau zu nehmen. Auch er bewirtschaftete seinen Besitz bis zum Tode. Hans Reichenbach (1603–1676), ein größerer Häusler mit zwei erwachsenen Kindern mittleren Alters, vermählte sich gar schon 2,5 Monate im Anschluss des Todes seiner zweiten Ehefrau mit einer vermutlich deutlich jüngeren Falkener Jungfer.

210

NUPTIALITÄT

gleichzeitigen Regression des durchschnittlichen Erstheiratsalters. Männer verwitweten daher nicht per se zunehmend eher, sondern steigerten durch frühere Hochzeiten ihr Risiko einer frühen Witwerschaft. Der jüngste nochmals zur Ehe schreitende Rußdorfer des 20. Jahrhunderts heiratete 1900 mit 23 Jahren. Seine erste Frau hatte er etwa zwei Jahre zuvor geheiratet und bei der Entbindung einer Totgeburt drei Monate später wieder verloren. Dasselbe Zweitheiratsalter wies der jüngste Bräunsdorfer Witwer 1789 auf. Seine erste, zweijährige und ebenfalls im Kindbett endende Ehe hatte er mit 19 geschlossen. Bräute traten in den untersuchten Dörfern vom 17.–20. Jahrhundert mit durchschnittlich 37–40 Jahren zum wiederholten Male vor den Altar. Anfänglich ging die Hälfte bis drei Viertel aller betreffenden Frauen zwischen ihrem 21. und 40. Geburtstag eine Folgeehe ein. Nach 1700 verschob sich der Schwerpunkt für die verbleibenden 235 betrachteten Jahre auf das vierte und fünfte Lebensjahrzehnt. Ob sich der hohe Anteil schon vor Ende des 30. Lebensjahres einen zweiten Mann nehmender Bräute im 17. Jahrhundert allein auf die damals relativ niedrigen mittleren Erstheiratsalter zurückführen lässt, sei dahingestellt. Unfraglich referenzieren die Häu gkeitsschwerpunkte an die auch für verwitwete Bräutigame geltende Wiederverheiratungsmotivation einerseits sowie die geschlechtsspezi sch wirkenden Hemmnisse andererseits. Vor ihrem 50. Geburtstag den Mann verlierende Ehefrauen mussten in der Theorie aus wirtschaftlichen Gründen darauf bedacht sein, sich baldigst neu zu liieren. Dies galt umso mehr, je größer die eigene potentielle Restlebenszeit, je geringer der familiäre Rückhalt, je größer der zu erhaltende bzw. zu bewirtschaftende Besitz, je niedriger das Alter eventuell vorhandener Kinder und je schlechter die Einkommenssituation war. Diese Prinzipien blieben des sozioökonomischen Wandels beider Dörfer ungeachtet bis in die 1930er Jahre intakt. Einzig die Wahrscheinlichkeit einer Wiederverheiratung jenseits des fünften Lebensjahrzehnts und der Menopause nahm leicht zu. Dabei lässt sich auch mit Blick auf die individuelle Situation nur spekulieren, ob eher wirtschaftliche Zwänge oder körperlich-seelische Bedürfnisse den Ausschlag für die erneute Verpartnerung der älteren Damen gaben. Unter anderem durch das Trauerjahr bedingt verharrten Frauen durchschnittlich deutlich länger im Witwenstand als Männer. Selten blieb es bei der vorgeschriebenen Trauerzeit. Jedoch impliziert dies nicht automatisch, dass kein Partnerwunsch existierte bzw. einer Liebesbeziehung der Vorrang gegenüber Vernunft- bzw. Zweckehen eingeräumt wurde. Vielmehr können lange intermatrimoniale Intervalle bei Witwen auch als Zeichen ihrer verminderten „Attraktivität“ auf dem Heiratsmarkt interpretiert werden. Letzteres deuten lange Witwenjahre vor erneuten Hochzeiten trotz unmündigen Nachwuchses an. Zum Beispiel verlor die Bräunsdorfer Teichmüllerin Sophia Bertha Schreiner 1885 mit 37 Jahren und drei minderjährigen Kindern (15, 13, 5) ihren Ehemann. Die Mühle ging 1896 an ihren ältesten Sohn. Schreiner vermählte sich erst 1899 wieder mit einem verwitweten Kirchberger Wollhändler von 63 Jahren und verzog.

WIEDERHEIRAT

211

Rosina Heintzig (1662–1721) blieb nach dem Unfalltod ihres Mannes 1703 mit fünf Kindern (18, 16, 14, 5) über eine Dekade allein, ehe sie einen 64-jährigen Witwer ehelichte. Zwei Monate zuvor hatte sie ihr über die gesamte Zeit allein bewirtschaftetes Bauerngut an den ledigen zweitältesten Sohn verkauft, ohne sich einen Auszug zu bedingen. 544 Wilhelmine Büchner (1801–1863) wartete nach 1843 gar 13 Jahre mit ihren fünf Kindern (8, 7, 5, 3, 1). Allerdings gab sie eindeutig der Liebe den Vorzug, indem sie sich auf eine wilde Ehe mit einem Armenhäusler einließ und ihm zwei uneheliche Kinder gebar. Diese und zwei ihrer ehelichen überlebten nicht. Zudem verlor sie bereits in der Anfangszeit der Beziehung ihr ererbtes Haus in „nothwendiger Subhastation“ 545. Der zwei- bis fünfjährigen Liaison folgte eine ebenfalls uneheliche Beziehung mit einem 21 Jahre jüngeren Strumpfwirker, dem sie erst nach sieben gemeinsamen Jahren und drei unehelichen Kindern die Hand zur Ehe reichte. Die längste Wartezeit wies Lina Clara Heinig (1874–1952) auf, welche nach Verwitwung 1905 mit zwei unehelichen und zwei ehelichen Kindern von drei verschiedenen Vätern (10, 8, 7 und 3 Jahre) über 26 Jahre unverheiratet lebte. Andererseits fand manch ältere Witwe mit mehreren zu erziehenden Kindern und geringem Besitz zügig einen neuen Partner oder verharrten kinderlose Witwen trotz auf den ersten Blick ansprechenden ökonomischen Hintergrunds längere Zeit im Witwenstand. Generaliter waren abermalige Hochzeiten beim weiblichen Geschlecht jenseits der Fünfzigjahresgrenze relativ selten. In der lokalen traditionellen Agrargesellschaft bestand dazu kaum Notwendigkeit. Starb der Ehemann unter Zurücklassung eines volljährigen Erben, wurde der Besitz an diesen gegeben und die Witwe zur Auszüglerin umgewidmet. In dieser Position versorgt, fehlte meist die Motivation für eine erneute Bindung. Musste das Gut dem noch unmündigen Erben für wenige Jahre durch die Wirtschaftsführung der Erbengemeinschaft erhalten werden, lohnte eine neue Partnersuche ebenfalls nicht. Vor 1800 sind daher nur wenige ältere Bräute in Bräunsdorf (1753) oder Rußdorf (1622, 1712, 1713, 1758, 1759, 1796) belegt, deren drei jüngere Witwer und drei 20–30 Jahre jüngere ledige Männer ehelichten. Die Altersgrenze von 60 Jahren wurde erst im 19. bzw. 20. Jahrhundert marginal und deutlich unter dem männlichen Maximum überschritten 546. Des Weiteren vermählten sich Witwen nach 1850 vornehmlich mit Witwern desselben oder eines höheren Alters. Inwiefern dabei eher physischen bzw. psychischen oder ökonomischen Interessen Rechnung getragen wurde, lässt sich nur spekulieren. 544 545 546

ThStA Abg, Amtsgericht Altenburg, C I Loc. 1, Nr. 157, fol. 300. SächsSTAC, 30104 Amtsgericht Chemnitz (1879–1952), Nr. 6023, Nr. 133. Eine kuriose Hochzeit im Jahr 1596 sei an dieser Stelle ausgenommen. Mit 25 Jahren heiratete der Rußdorfer Schneider Nicolaus Engelman die 80-jährige Hohensteiner Witwe Ursula Weisse. Selbst Zeitgenossen registrierten diese Verbindung als höchst ungewöhnlich. So vermerkte der Pfarrer im Heiratsregister einmalig das Alter des Paares und setzte hinzu: „Were dreymahl mit ehren seine Mutter.“ – EPA Kaufungen, KB I, Heiratsregister Rußdorf 1596, Nr. 3.

212

NUPTIALITÄT

Zusammenfassend lassen die Rußdorfer und Bräunsdorfer Durchschnittswerte bei beiden Geschlechtern keine klaren Veränderungen des Wiederverheiratungsverhaltens im Zuge industrieller Entwicklung erkennen. Umstellungen geltender tradierter grundlegender Prinzipien deuten sich gleichwohl im Wandel der altersmäßigen Verteilungsmuster an, von dem in erster Linie die Randgruppen sehr junger und vergleichsweise alter Folgeehekandidaten betroffen waren. Besonders die Betrachtung älterer Beteiligter bietet sich an, da von deren ökonomischer Situation, ihrem sozialen Hintergrund, der temporalen Ausdehnung ihrer Witwenschaft etc. eher auf mögliche Heiratsmotive abseits für Verwitwete im Allgemeinen geltungslos gewordener kultureller Konventionen geschlossen werden kann. Obwohl methodisch sowie im Hinblick auf den Umfang der Stichprobe von minderer Validität, vermögen die indizienbasierten Beobachtungen kollektive Verhaltenswechsel aufzuzeigen. Solche deuten sich ab der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts zeitgleich mit der fabrikindustriellen Entwicklung des Limbacher Raumes an. Sich verlängernde durchschnittliche Wartezeiten der älteren Bräutigame vor Beginn einer Folgeehe, die zunehmende Beschränkung älterer Damen bei der Partnerwahl auf annähernd gleichaltrige Männer mit eigener ehelicher Erfahrung und die steigende Beteiligung Angehöriger des Einwohnermilieus weisen auf transformierende Verhaltensmuster bei der Wiederheirat und eine rückläu ge Hörigkeit gegenüber traditionell bedeutsamen Notwendigkeiten und Rücksichtnahmen hin. Das Wiederverheiratungsverhalten der Rußdorfer und Bräunsdorfer stellt keinen Sonderfall dar. Nahezu identische Beobachtungen machte etwa Knodel in mehreren westdeutschen Räumen, obgleich dessen Hinweis auf steigende Durchschnittsalter im 19. Jahrhundert keine Entsprechung im Limbacher Land ndet. 547

5.6 EHEDAUER Sinkende durchschnittliche Erstheiratsalter der Männer und steigende mittlere Wiederverheiratungsalter der Frauen lassen unter Annahme mindestens gleichbleibender Lebenserwartung sowie unter Berücksichtigung der nachgewiesenermaßen bis ins 20. Jahrhundert minimalen Scheidungsrate eine entgegengesetzt proportional aufwärts gerichtete mittlere Ehedauerentwicklung erwarten. In der Realität überstieg das Wachstum des durchschnittlichen Ehezeitraums 548 selbst die starke Schrumpfungsrate des mittleren männlichen Erstheiratsalters, werden die Werte des frühen 20. mit jenen des 547 548

Vgl. Knodel, Behavior, S. 163ff. In die Ehedauerstatistik wurden ausschließlich Ehepaare einbezogen, bei denen mindestens das Hochzeitsjahr sowie die Sterbejahre beider Partner bekannt waren. Weder Heirats- noch Lebens- oder Sterbeort sind für die Stichprobenzuordnung von Belang. Sämtliche Ehen, die alle vorgenannten Kriterien erfüllen und deren Hochzeitsdatum aus einem ortsspezi schen Personenstandsregister hervorgeht, fanden Eingang. Für den gesamten Untersuchungszeitraum umfasst die verwendete Stichprobe für Rußdorf 1861 und für Bräunsdorf 1269 Ehen.

EHEDAUER

213

17. Jahrhunderts verglichen, um etwa das Drei- (Rußdorf) bis Fünffache (Bräunsdorf). Abermals ähnelten sich die Wandlungsprozesse in den betrachteten Gesellschaften im Ganzen, differierten aber en détail hinsichtlich ihrer Verlaufsform. Zwischen 1640 und 1679 geschlossene Ehen der Bräunsdorfer Kohorte währten im Schnitt 24,51 Jahre und damit rund fünf Jahre länger als jene des Nachbarorts aus demselben Zeitraum (Ø 19,06) bzw. dem gesamten 17. Jahrhundert (Ø 19,92). In Rußdorf erfolgte der bedeutendste quantitative Sprung auf durchschnittlich 26,55 Jahre zwischen 1680 und 1729. Hernach lag die mittlere Ehedauer beider Untersuchungsorte für 150 Jahre gleichauf und verharrte auf einem Niveau um 25 Jahre. Erst seit dem späten 19. Jahrhundert nahmen die Ehezeiträume wieder zu. Allerdings reichte die damalige Wachstumsrate in Rußdorf nicht an die frühneuzeitliche heran. 549 Völlig gegensätzlich stieg der Bräunsdorfer Mittelwert gleichzeitig um sieben Jahre an (Ø 33,69), wodurch das statistische Verhältnis beider Orte des 17. Jahrhunderts in verstärktem Maße restituiert wurde. Ein Blick auf die Dekadenkohortenentwicklung erlaubt es, die zu Tage tretenden Sprünge temporal näher einzugrenzen und unterstreicht gleichsam die hohe Simultanität der lokalen Wandlungsverläufe. Relativ geringer Lebenserwartung geschuldet, mussten vor 1700 heiratende Paare mit eher kurzen Ehezeiträumen rechnen. Bis in die 1670er Jahre geschlossene Rußdorfer Ehen hielten im Durchschnitt selten mehr als

Abbildung 27: Mittlere Ehedauer nach Heiratsjahrgang in Rußdorf und Bräunsdorf

549

Dienen ausschließlich die in den nalen 20 Jahren des 19. Jahrhunderts geschlossenen Ehen als Bemessungsgrundlage (Ø 32,58), überstieg auch das Wachstum der durchschnittlichen Dauer Rußdorfer Ehen die frühneuzeitliche Steigerungsrate.

214

NUPTIALITÄT

Tabelle 20: Ehedauer nach Heiratsjahrgängen in Rußdorf und Bräunsdorf (Angaben in %) unter 5

5–9

1582–1629

12,70

17,46

22,22

15,87

12,70

3,17

7,94

1,59

3,17

1,59

1,59

0,00

1630–1679 1680–1729

10,53 7,80

14,47 4,26

7,89 9,22

19,74 7,80

11,84 14,89

10,53 12,77

9,21 12,77

3,95 9,93

5,26 14,18

6,58 4,96

0,00 0,71

0,00 0,71

1730–1779

5,83

10,76

10,76

5,38

8,97

15,25

12,56

12,56

9,42

7,17

1,35

0,00

1780–1829

5,56 9,96

11,11 8,19

10,07 9,96

11,46 8,85

13,54 7,74

12,50 11,28

10,76 10,62

7,29 11,06

7,64 9,29

5,21 6,42

3,13 4,87

1,74 1,77

6,80

6,96

7,28

7,28

9,71

12,30

11,00

10,36

7,12

5,83

10–14 15–19 20–24 25–29 30–34 35–39 40–44 45–49 50–54

über 54

1830–1879 1880–1935

10–14 15–19 20–24 25–29 30–34 35–39 40–44 45–49 50–54

über 54

6,96

8,41

unter 5

5–9

1630–1679

6,06

10,61

7,58

16,67

12,12

6,06

16,67

10,61

4,55

6,06

0,00

3,03

1680–1729

11,45 5,10 6,01

8,40 12,74 13,11

6,11 6,37 9,84

7,63 8,92 11,48

12,98 7,01 12,57

8,40 10,19 10,38

15,27 19,75 10,38

12,98 9,55 11,48

9,92 12,10 6,01

5,34 7,01 7,10

0,76 1,27 0,55

0,76 0,00 1,09

7,66 4,46

9,58 5,52

13,03 5,94

11,88 7,64

8,43 6,58

11,88 6,79

11,88 8,92

5,75 9,34

7,66 12,53

6,13 13,80

4,60 8,49

1,53 9,98

1730–1779 1780–1829 1830–1879 1880–1935

20 Jahre (1600/1609 u. 1650/1659) und waren nach Tabelle 20 bis über die Silberhochzeit hinaus zusammenlebende Partner eindeutig in der Minderzahl. Ihren 35. Hochzeitstag vermochten von den vor 1629 Verheirateten nur 7,94 Prozent zu feiern, 3,18 Prozent erreichten das 45. Jubiläum. Bereits in den folgenden 50 Jahren verdoppelte sich der Anteil dergestalt länger währender Ehen allerdings. Demgegenüber brachten es Bräunsdorfer Ehegespanne des 17. Jahrhunderts im Mittel konsequent auf 20–25 Jahre. Lediglich in den 1640er Jahren begründete Ehen schlugen durchschnittlich positiv aus diesem Rahmen. Über die Hälfte (53,03%) der zwischen 1640 und 1679 geschlossenen ehelichen Partnerschaften hielt mehr denn 25, beinahe jede vierte existierte über 35 Jahre. Erst jenseits dieser Marke näherten sich die Anteile quantitativ den Rußdorfern von vor 1670 an. Seit den 1680er Jahren in Rußdorf bzw. den 1700ern in Bräunsdorf dominierten mittlere Ehedauern von 25–30 Jahren die Dekadenkohorten. In den 1870er Jahren endend, zeigte sich die zweite Entwicklungsphase von Schwankungen der Durchschnitte zwischen 22,8 und 29,6 (Rußdorf) bzw. 23,17 und 30,76 (Bräunsdorf) gekennzeichnet. Mehr denn 50 Prozent der zwischen 1680 und 1779 getrauten Ehepaare blieb länger als 25 Jahre vereint. Rund 30 Prozent der Heiratenden erlebten den 35. Hochzeitstag und immerhin sechs bis acht Prozent durften zusätzlich ihren 45. feiern. Über die Goldene Hochzeit kam weiter nur ein marginaler, aber wachsender Anteil der Paare hinaus. Zwischen 1780 und 1829 sank die Wahrscheinlichkeit, die Silberhochzeit feiern zu können, nochmals leicht auf unter 50 Prozent, um hernach zu einem kontinuierlichen Wachstum überzugehen.

EHEDAUER

215

Abbildung 28: Häu gkeitsverteilung Rußdorfer Ehedauerkategorien

Abbildung 29: Häu gkeitsverteilung Bräunsdorfer Ehedauerkategorien

Ihren vorläu gen Höhepunkt erreichte die Ausdehnung der mittleren Ehedauer im letzten Abschnitt des Untersuchungszeitraums. Während der 55 Jahre vor 1935 avancierten Dekadenkohortendurchschnitte von über 30 Jahren zur Norm. Annähernd zwei Drittel aller fraglichen in dieser Zeit geschlossenen Rußdorfer Ehen überspannten dementsprechend 25 Jahre und beinahe die Hälfte (46,6%) existierte auch nach zehn weiteren Jahren noch immer. Selbst 45-jährige eheliche Partnerschaften verloren nun ihren Seltenheitswert (23,3%). Deren anteilmäßige Position aus der zweiten Periode

216

NUPTIALITÄT

nahmen nun 50 Jahre und länger währende Ehen ein. Das Diamantene Jubiläum etablierte sich gleichzeitig als marginal (0,81%) erreichte Obergrenze. Nach 1900 geschlossene Ehen sind in Rußdorf allerdings, da die Beerdigungsregister nur bis 1964 ausgewertet werden konnten, nicht mehr umfänglich nachvollziehbar. Ein verfälschendes Gewicht kürzerer Ehen ist die Folge. Werden die Jahre 1880–1899 als Ende der Untersuchung angenommen, tritt das Wachstum der Ehedauer in der Exlave noch deutlicher hervor. Auf mindestens 25 Ehejahre brachten es 66,57 Prozent der Paare dieses Zeitraums, 51,48 Prozent erreichten 35, immerhin 29,88 Prozent 45 Jahre. Die Goldene Hochzeit vermochten 17,16, die Eiserne 1,48 Prozent zu feiern. Im Bräunsdorfer Fall kann eine Verfälschung angesichts bis in die 1990er Jahre ausgewerteter kirchlicher Beerdigungsregister weitgehend ausgeschlossen werden. Von den dortigen Paaren des letzten Abschnitts blieben immerhin 3,19 Prozent mindestens sechs Jahrzehnte verbunden. Fünf Jahrzehnte ehelicher Zweisamkeit war noch 18,47 Prozent vergönnt, nachdem fast ein Drittel (32,37%) ihren 45. und mehr als die Hälfte (54,14 %) zumindest den 35. Hochzeitstag gefeiert hatte. Annähernd 70 Prozent (69,85 %) aller Ehepaare der Bräunsdorfer Kohorte 1880–1935 erlebten die Silberhochzeit. Das relativ starke Wachstum der mittleren Ehedauer in beiden Untersuchungsorten zeigt sich unter anderem eindrücklich am Verteilungsverhältnis besonders langjähriger Ehen auf die drei Phasen, wodurch jenes aller in die Statistik einbezogenen Familien kontrastiert wird. Standen die Anteile über 4,5 Jahrzehnte haltender Partnerschaften bis 1879 hinter dem referenziellen Anteil des maßgebenden Phasenkontingents zurück, überragten sie diesen in der letzten Periode merklich. Wie aus den Abbildungen 28 und 29 ersichtlich, galt hierbei die Regel, je größer der Ehezeitraum, desto massiver die prozentualen Abweichungen. So gründeten sich exemplarisch 37,12 Prozent der fraglichen Partnerschaften Bräunsdorfs zwischen 1880 und 1935, zu denen aber bereits über die Hälfte (56,03%) aller 45–50 Jahre haltenden Beziehungen, knapp ein Viertel (74,23 %) aller 50–60 Jahre währenden und gar 100 Prozent der mindestens sechs Dekaden umspannenden zählten. Dasselbe Prinzip ndet stark abgeschwächt mit umgekehrt proportionaler Entwicklung bei den weniger als ein Vierteljahrhundert dauernden Ehen Anwendung. Worin gründete die langfristige Vermehrung der bei Heirat zu erwartenden Ehejahre? Zwei Ursachen kommen in Betracht. Einerseits führen verminderte Heiratsalter bei gleichbleibender Lebenserwartung zur Anhebung der Ehedauer, andererseits hat eine steigende Lebenserwartung bei unverändertem Heiratsalter denselben Effekt. Die Kombination beider Faktoren wirkte in den vorliegenden Fallbeispielen, steht doch der feststellbare Rückgang des maßgebenden durchschnittlichen männlichen Erstheiratsalters um insgesamt etwa drei Jahre zwischen dem 17. und 20. Jahrhundert frappant hinter dem Zuwachs des mittleren Ehezeitraums von etwa zehn Jahren zurück. Vor allem seit dem späten 19. Jahrhundert nahmen die mittleren Erstheiratsalter sichtlich ab und mehr noch die relative Lebenserwartung (Kap. 6.4) signi kant zu. Starben Erwach-

EHEDAUER

217

sene vor 1700 oft mit weniger als 60 Jahren, hatte ein durchschnittliches Ehepaar mit mehrjährigem Altersgefälle zwischen Mann und Frau geringe Aussichten, über mehr denn zwei Dekaden zusammenzubleiben. Gelang dies doch, erreichten beide entweder ein vergleichsweise hohes Lebensalter oder sie waren relativ jung vor den Altar getreten. Bedeutende und herausstechende Ehedauern von über 35 bzw. 45 Jahren, welche den gesamten Betrachtungszeitraum hindurch standesübergreifend auftraten, waren daher zwangsläu g dünn gesät und von außergewöhnlichen Konstellationen abhängig. Die erste belegbare späterhin „vergoldete“ Hochzeit wurde 1612 zwischen dem 24-jährigen Bräunsdorfer Pfarrlehnbauern und einer 20-jährigen Tochter des Rußdorfer Wirts geschlossen. Da es die Eheleute am Ende auf weit über 70 Jahre brachten, vermochten sie 54 Hochzeitstage zu feiern. Die 1673 relativ jung (22/21) heiratenden Georg und Sybilla Heintzig erlebten nach demselben Prinzip 55 gemeinsame Jahre und der Bräunsdorfer Gärtner Jacob Grobe starb 1735 mit 83 Jahren sogar nach 56-jähriger Ehe. Hingegen ehelichte Paul Aurich im Alter von 44 Jahren 1646 seine zwei Jahrzehnte jüngere erste Frau und vermochte dennoch 47 Jahre im Ehestand zu verbleiben. Ein markantes Gegenbeispiel bot die 1706 nach moderaten 61 Lebensjahren verstorbene Rußdorferin Susanna Frischmann, welche trotzdem 46 Jahre mit ihrem Ehemann verlebt hatte. Da die Lebenserwartung bis ins späte 19. Jahrhundert keinen merklichen Veränderungen unterlag, blieben sogenannte Jubelhochzeiten 550, die nicht selten unter Anteilnahme der gesamten Familie bzw. gar der Gemeinde mit einer abermaligen Einsegnung verbunden mehr oder minder öffentlich zelebriert wurden, trotz deutlich steigender mittlerer Ehedauer lange Zeit außergewöhnliche Ereignisse. Nicht umsonst begriff sie Adelung 1796 ausschließlich als „feyerliche Andenken einer vor funfzig Jahren begangenen Hochzeit“ 551. Eine anteilige Zunahme vorrangig mittlerer Lebensalter zwischen 40 und 60 Jahren zeichnete dafür verantwortlich. Nur sehr langsam vergrößerte sich auch der Anteil höherer Altersklassen als grundlegende Voraussetzung besonders langjähriger Beziehungen jenseits der Fünfzigjahresgrenze. Insofern verwundert es wenig, dass noch bis mindestens zum Ersten Weltkrieg „goldene“ Paare von landesherrlicher Seite mit „Ehren- und Gnadengeschenken“ bedacht wurden. So begingen die Eheleute Lindner zum Beispiel 1912 „im Kreise ihrer Kinder u. Enkelkinder das Jubelfest ihrer goldenen Hochzeit. Der Ortspfarrer besuchte sie in ihrer Wohnung u. segnete das Paar nach einer vorangegangenen Ansprache nochmals ein. Auch überreichte er dem Paar eine von Sr. Hoheit dem Herzog geschenkte Prachtbibel“. 552

550 551 552

Belege dieser Praxis erbringen die Rußdorfer Kirchbücher seit 1846. Zu den Jubelhochzeiten zählen die gängigen großen Jubiläen der Goldenen, Diamantenen, Eisernen und Gnadenhochzeit. Adelung, Wörterbuch, Bd. 2, Die Jubelhochzeit, S. 1441. EPA Rußdorf, KB VII: Kirchbuch 1891–1919, Heiratsregister 1912, zw. Nr. 13. u. 14.

218

NUPTIALITÄT

Erst in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts schlug sich die nun wachsende durchschnittliche Lebenszeit im stark vermehrten Auftreten höherer Semester (über 60 Jahre) nieder. Folglich erfuhr die zu erwartende mittlere Dauer neu geschlossener Ehen etwa seit den 1870er Jahren eine kontinuierliche und über den Untersuchungszeitraum hinausreichende, abermalig signi kante Verlängerung. Deutliche Indikatoren dessen sind die ausschließlich nach 1900 vorkommenden Ehejubiläen obersten Ranges. Eine erste Diamantene Hochzeit feierten zwei Rußdorfer 1919 im Alter von 87 und 79 Jahren. Vermehrt traten derartige Jubiläen jedoch nicht vor den 1940er Jahren auf. Eiserne Jahrestage wurden von den vor 1935 Heiratenden kaum erreicht. Für Rußdorf ist kein Fall belegt, in Bräunsdorf konnte zumindest ein 1934 getrautes Paar 2002 seinen 68. Hochzeitstag feiern. Die vorläu ge, während Spätmittelalter und Frühneuzeit undenkbare Obergrenze der möglichen Ehedauer de nierte allerdings das 1900 vermählte Bräunsdorfer Maurerehepaar Emil Richard (1877–1974) und Maria Thekla Herrfurth (1877– 1975).

5.7 HEIRATSMOBILITÄT Wird nach demographisch-sozialen Veränderungen im Ganzen sowie Wandlungen des Heiratsverhaltens im Speziellen gefragt, darf die Heiratsmobilität nicht unbeachtet bleiben. Innerhalb der zu analysierenden ruralen Gesellschaftssysteme zählte die Hochzeit zu den wenigen Ereignissen innerhalb individueller Lebensläufe, welche per intentionem theoretisch 553 einen dauerhaften Wohnortwechsel erzwangen. Weder impliziert dieses Faktum geographisch messbare Wanderungsbewegungen noch folgte die resultierende Mobilität einem traditionsbedingten, soziokulturelle Normen und rituelle Handlungen in den Vordergrund rückenden Muster. Neo-, Viri- und Uxorilokalität standen gesamtgesellschaftlich realiter als gleichberechtigte Konzepte nebeneinander. Ökonomische Notwendigkeiten entschieden über den zukünftigen Wohnort des Ehepaars und verp ichteten dadurch Bräutigam oder Braut zum Verlassen des bisherigen Wohnraums. Es liegt freilich in der Natur sowohl des geltenden biautoritären Haus- bzw. Familienwirtschaftsprinzips als auch des damit korrespondierenden Erbrechtssystems und der latenten soziokulturellen Bevorzugung des männlichen Geschlechts, dass mehrheitlich die Ehefrau dem Gatten nachzog. Im zur Norm erklärten Idealfall war die dörfliche Haushaltsgründung an Landbesitz gebunden, den der Bräutigam entweder in Kurerbenposition ererbte oder noch vor der Trauung vom väterlichen Gut weichend erkaufte, während die Braut bei Existenz mindestens eines Bruders von vornherein nicht an Grund und Boden gelangen konnte. Die Praxis offenbarte jedoch zahlreiche Unwägbarkeiten. Nicht jedes Ehepaar bekam 553

In der Praxis wurde dieser nicht selten schon zuvor vollzogen.

HEIRATSMOBILITÄT

219

einen Sohn bzw. sah diesen das mündige Alter erreichen. Starb der Familienvater, ging das Gut an die Witwe, die sich womöglich nochmals verehelichte, oder wurde dessen Besitz an einen Schwiegersohn bzw. gänzlich Fremden verkauft, sofern es die ökonomische Situation erforderte. War der Kurerbe dem Vater nicht genehm oder hatte er bereits in Gutsbesitz eingeheiratet, ging die väterliche Immobilie oftmals an ein anderes Kind oder in den freien Verkauf. Der denkbaren sozioökonomischen Konstellationen, welche die idealtypische pränuptiale Besitz- bzw. Heiratsfondsverteilung unter den Verlobten konterkarierten, waren bereits in den vorindustriellen statischen Agrargesellschaften Rußdorfs und Bräunsdorf des Spätmittelalters und der Frühen Neuzeit viele. Innerhalb des parallel zur landgewerblichen und industriellen Entwicklung aufstrebenden Hausgenossenwesens folgte die Heiratsmobilität schließlich situationsbedingt zwar ebenfalls wirtschaftlichen und wohnräumlichen Zwängen, zeigte sich aber vom Landbesitz völlig losgelöst. Die Mikromigration bei Familiengründung lässt sich direkt am Quellenmaterial ausschließlich anhand der Trauregister nachvollziehen, sofern diese die Herkunftsräume der Ehepartner nennen. Andernfalls ist einzig die Synthese sämtlicher Personenstandsregister von annähernd gleichwertiger Aussagekraft. Geburts-, Heimat- und Heiratsorte eines Brautpaares spiegeln, miteinander in Beziehung gesetzt, dessen voreheliche Mobilität bis zu einem gewissen Grad und prognostizieren gleichzeitig faktisch dessen zukünftigen Wohnort. Dieser war entweder mit demjenigen des Mannes oder jenem der Frau zum Zeitpunkt ihrer Vermählung identisch. Ein Blick auf die folgenden Lebensläufe identi ziert letztlich im zweiten Schritt den tatsächlich gewählten Ort. Unter Heiratsmobilität seien somit an dieser Stelle prä- und postnuptiale Wanderungsbewegungen gleichermaßen verstanden. Ohne Frage diente voreheliche Mobilität per primam intentionem nicht der Ehevorbereitung bzw. -anbahnung, jedoch trug sie inhärent maßgeblich zur Erweiterung des Partnerwahlkreises bei. Insofern beein usste sie unter Umständen die Heiratsmobilität und ist daher als Teilaspekt dieser zu begreifen. Migration und Mobilität sind gewiss konzeptionell differierende, aber in Verbindung mit dem Heiratsverhalten kaum trennbare Vorgänge. Beide eröffnen neue gesellschaftliche Begegnungsräume außerhalb des eigenen Haushalts oder der eigenen Gemeinde. Die im Heiratsfall über die jeweiligen Lebensorte zu Tage tretende Mobilität gibt lediglich einen Ausschnitt des realen vorehelichen Bewegungsradius des Brautpaares wieder, welcher zudem keinem Partner eindeutig zuordenbar ist 554 und mitunter von Geburts-, Wohn- und Heiratsorten fälschlich repräsentiert wird. Ohne Kenntnis des selten mit letzter Sicherheit eruierbaren Begegnungsraums der Brautleute entzieht sich selbst die situationsbezogene individuelle räumliche Mobilität jedem Eingrenzungsversuch. Zu vielfältig sind die denkbaren Konstellationen, von berufsbedingter Wanderung des einen Partners in den Heimatort des anderen bis hin zu beiderseitiger Gelegenheitsmobilität 554

Ehepartner desselben Geburts- und Wohnorts sind ausgenommen.

220

NUPTIALITÄT

innerhalb sich überschneidender persönlicher sozialer und geographischer gemeindeübergreifender (Inter)aktionsräume. Selbst die alltägliche Bewegungssphäre blieb im Untersuchungsgebiet nachweislich nicht auf die Heimatgemeinde beschränkt. Sonn- und Feiertage wurden nach dem obligatorischen Kirchgang innerdörflich zu Geselligkeit sowie mit Sicherheit auch für gelegentliche Verwandt- oder Bekanntschaftsbesuche in benachbarten Orten genutzt. Regelmäßig wiederkehrende Festivitäten, allen voran die jährlichen Kirmesfeierlichkeiten der Kirchdörfer, lockten auch weiter entfernt beheimatete Besucher an. Wochen- und Jahrmärkte bezogen ihr stetig wechselndes Publikum aus noch größeren Umkreisen und selbst überregionale Großveranstaltungen wie die Messe in Leipzig wurden von Rußdorfern und Bräunsdorfern angelaufen. Außer der Reihe motivierten Hochzeiten sowie Taufen bei eigener Gevatternschaft durchaus kleinere Reisen oder konnten P egefälle in der näheren Verwandtschaft längere Aufenthalte außerhalb des Heimatorts notwendig machen. Handwerksburschen ließ die Walz oft erhebliche Strecken überbrücken 555 und selbst der Gesindedienst führte zuweilen über ausgedehnte Entfernungen etc. Im Allgemeinen funktionierte Freizeit- bzw. Ereignismobilität traditionell eher kleinräumig, während ökonomischen Notwendigkeiten gehorchende Bewegung bzw. Migration nicht selten auch größere Gebiete und längere Zeiträume durchmaß. Folgerten Bekanntschaften und letztendlich Vermählungen aus den kurzfristigen bis dauerhaften Ortswechseln, lassen sich individuelle Aktionsradien erahnen. Für die demographische und Sozialforschung sind jedoch in erster Linie kollektive Bewegungsund Begegnungsmuster von Interesse, die Rückschlüsse sowohl auf die gesellschaftliche Verfassung als auch die Entwicklung der dörflichen Wirtschaft erlauben. Rußdorf In den letzten 18 Jahren des 16. Jahrhunderts verzeichneten die Rußdorfer Heiratsregister 68 Trauungen mit Ort und Datum. Über die Hälfte (49) der Paare setzte sich aus einem extern und einem intern 556 beheimateten Part zusammen, wobei heterogene Partnerschaften mit weiblichem Fremdanteil überwogen. Die zweitgrößte Gruppe machten mit 25 Prozent zwischen Rußdorfern geschlossene Ehen aus. Gänzlich fremde Gespanne hatten demgegenüber nur geringe Bedeutung (2,94 %). Insgesamt lag das Verhältnis in Rußdorf aufgewachsener Männer zu den Auswärtigen bei ca. 2:1, während sich jenes der Frauen mit ebenfalls leichtem quantitativem Übergewicht der Einheimischen annähernd ausglich. 555 556

Siehe zum Beispiel Fritzsche, Jacobi, Kartenbeilage. Unter „intern“ werden eindeutig in Rußdorf aufgewachsene Personen zusammengefasst. Diese müssen entweder in Rußdorf geboren sein oder zumindest einer vor ihrer Heirat ansässig gewordenen Familie entstammen bzw. an einer solchen in Elterfunktion beteiligt gewesen sein. „Extern“ Klassi zierte mochten zum Teil der fraglichen Gemeinde bereits vor der Hochzeit angehört haben, jedoch lässt sich dies nur in seltenen Fällen aus den Quellen erschließen.

HEIRATSMOBILITÄT

221

Ortsfremde Beteiligte beiderlei Geschlechts entstammten zum überwiegenden Teil Siedlungen aus einem Umkreis von fünf Kilometern, somit der erweiterten unmittelbaren Nachbarschaft. Zwei Drittel der Familien, vorwiegend mit einheimischem Bräutigam, ließen sich nach der Hochzeit zunächst vor Ort nieder. Die höchste Wahrscheinlichkeit eines dauerhaften postnuptialen Aufenthalts hatten naturgemäß jene Paare mit beiderseitigem elterlichem Wohnsitz innerhalb Rußdorfs, gefolgt von den rein externen, deren Männer oft schon lokalen Gutsbesitz erworben hatten. Stammte nur der Ehemann von dort, war ein Verbleib ebenfalls wahrscheinlicher als ein Wegzug. Die um 1600 gesamtgesellschaftlich noch relativ statische Zahl verfügbarer sozioökonomischer Positionen verlieh der zur Bereitstellung des Heiratsfonds hauptsächlich verp ichteten Männerschaft insgesamt eine gegenüber dem weiblichen Geschlecht deutlich höhere räumliche Agilität. Scheidende Erben verließen im ruralen Raum oft ihr Heimatdorf auf Stellensuche. Siedelten sie sich außerhalb fest an, woraus ein Wechsel ihrer Heimatangehörigkeit resultierte, wurden etwaig folgende Trauungen nicht immer an den zuständigen Pfarrer des Geburtsorts gemeldet und kaum in demselben proklamiert. Im Umkehrschluss hatten sich die übrigen durch Ehelichung einer auswärtigen Frau im Heiratsregister aufscheinenden einheimischen Männer meist zuvor in ihrem Heimatort ansässig gemacht. Gelangten sie freilich über ihre Zukünftige an eine externe Stelle, folgte ein Wegzug der Hochzeit auf dem Fuße nach. Die höchste Verzugsrate wiesen nach den beschriebenen Prinzipien Ehepaare mit ortsfremdem Bräutigam auf. Sich vorerst im Untersuchungsort niederlassende Familien unterlagen in ihrer Migration differenten Regeln. Art und Umfang eventuellen Grundbesitzes bzw. der Besitzstand entschieden unter anderem über Beibehaltung oder Veränderung des Lebensmittelpunkts. Vollbauern zeigten die geringste Motivation, diesen zu verlagern. Hausgenossen bildeten die mobilste unter den dörflichen Gesellschaftsgruppen. Bis zu ihrer Trennung im Tode blieben letztendlich von den im späten 16. Jahrhundert ehelich gebundenen Rußdorfer Paaren nur 38,71 Prozent im Dorf. Dieses auf die Rahmenbedingungen einer Agrargesellschaft zugeschnittene Mobilitätsverhalten hatte in Rußdorf bis ins 19. Jahrhundert ohne prinzipielle Veränderungen Bestand, wie Tabelle 21 veranschaulicht. Heiraten zwischen Einheimischen machten selten weniger denn ein Fünftel oder über 40 Prozent der Gesamthochzeitszahl aus. Desgleichen blieben solche zwischen fremdgeborenen Partnern mit meist unter zehn Prozentpunkten ohne Gewicht. Demgegenüber schwankten die Teilmengen gemischter vor allem in sich stark um bis zu 40 Prozentpunkte, während sie zusammen konsequent die Hälfte, teilweise bis zu drei Viertel aller Ehen stellten. Insgesamt weisen Verbindungen zwischen Rußdorfer Bräutigamen und fremden Frauen eine rückläu ge, die zwischen Rußdorfer Bräuten und fremden Männern eine aufsteigende Tendenz auf. Unterbrochen wurde dieser im 18. Jahrhundert deutliche Züge annehmende Prozess zwischen 1770 und 1799. Die Entwicklung der Brautpaarzusammensetzung spiegelt tendenziell die in Kapitel 8.1 behandelten soziostrukturellen Veränderungen. Zwar sind die

222

NUPTIALITÄT

Tabelle 21: Herkunftszusammensetzung der Brautpaare und Niederlassungshäu gkeit in Rußdorf Anteil an Gesamtfamilienzahl1

1582–1589 1590–1599 1600–1609 1610–1619 1620–1629 1630–1639 1640–1649 1650–1659 1660–1669 1670–1679 1680–1689 1690–1699 1700–1709 1710–1719 1720–1729 1730–1739 1740–1749 1750–1759 1760–1769 1770–1779 1780–1789 1790–1799 1800–1809 1810–1819 1820–1829 1830–1839 1840–1849 1850–1859 1860–1869 1870–1879 1880–1889 1890–1899 1900–1909 1910–1919 1920–1929 1930–1935 1

bis 1. Kind bleibender Familien

bis Tod bleibender Familien

beide Partner heimisch

Bräutigam heimisch

Braut heimisch

beide Partner fremd

77,27 65,79 48,94 53,57 75,00 83,33 84,00 77,42 91,30 72,73 66,67 91,67 68,97 75,00 62,00 73,68 68,63 52,94 74,65 66,22 69,57 72,34 62,96 61,73 62,50 61,22 60,81 66,37 70,77 74,58 83,73 78,69 72,25 68,06 56,61 38,38

54,55 31,58 36,17 50,00 63,89 66,67 68,00 61,29 82,61 63,64 66,67 87,50 65,52 67,50 60,00 71,05 56,86 47,06 69,01 64,86 65,22 68,09 54,32 54,32 56,25 54,08 56,76 57,52 59,23 58,76 64,07 58,42 48,95 28,06 19,54 10,61

32,14 20,00 17,02 17,86 38,89 33,33 28,00 32,26 43,48 45,45 14,81 37,50 31,03 30,00 24,00 31,58 31,37 38,24 38,03 31,08 28,99 21,28 27,16 23,46 30,00 32,65 35,14 42,48 35,38 27,12 16,61 19,93 19,90 21,29 23,56 14,14

46,43 42,50 36,17 32,14 38,89 27,78 24,00 54,84 34,78 18,18 40,74 41,67 17,24 25,00 26,00 26,32 25,49 10,29 29,58 35,14 40,58 40,43 19,75 25,93 17,50 9,18 9,46 5,31 7,69 15,82 16,61 19,93 18,32 14,52 13,51 20,20

21,43 32,50 42,55 42,86 16,67 27,78 44,00 12,90 21,74 31,82 37,04 20,83 44,83 30,00 48,00 28,95 33,33 45,59 30,99 22,97 27,54 29,79 50,62 50,62 48,75 52,04 52,70 49,56 51,54 41,81 43,05 33,68 39,53 46,77 51,72 53,54

– 5,00 4,26 7,14 5,56 11,11 4,00 – – 4,55 7,41 – 6,90 15,00 2,00 13,16 9,80 5,88 1,41 10,81 2,90 8,51 2,47 – 3,75 6,12 2,70 2,65 5,38 15,25 23,73 26,46 22,25 17,42 11,21 12,12

alle Werte in Prozent.

HEIRATSMOBILITÄT

223

Abbildung 30: Nuptiale Beteiligung Einheimischer nach Geschlechtern und Anteil heterogener Hochzeiten in Rußdorf in Prozent

wahrscheinlich natürlichen Schwankungen des 17. Jahrhunderts damit nicht zu erklären, jedoch korrespondiert die Zunahme fremder Bräutigame mit der Schaffung neuer Hofstellen, die von der einheimischen Unterschicht offenbar nicht vollständig besetzt werden konnten. Dies lockte Fremde an, die sich erst ansässig machten und danach unter der Dorfbevölkerung Brautschau hielten. Als die Güterparzellierung Ende des 18. Jahrhunderts pausierte, verlor sich der Effekt. Nach 1800 zog der Aufschwung auch der Rußdorfer Strumpfwirkerei wahrscheinlich vornehmlich Lehrlinge und Gesellen ins Dorf, von denen einige eine Braut wegführten, andere sich mit einer Einheimischen vor Ort niederließen. Generell gingen ausgesprochen hohe Anteile gemischter Ehen tendenziell eher zulasten der homogen internen. Zwischen 1600 und 1619 heirateten in lediglich 17,02 bzw. 17,86 Prozent aller Fälle Rußdorfer untereinander. Gleichzeitig machten die Partnerschaften mit nur einem lokal beheimateten Part drei Viertel statt der obligaten drei Fünftel bis zwei Drittel aus. Similäre Situationen waren in den 1680er, 1720er sowie den 1810er Jahren zu beobachten. Hohe und maximale Anteile gänzlich fremder Paare von 10,61 (1730/39) und 15,91 Prozent (1710/19) vermochten die Gewichtung hingegen nicht zu beein ussen. Externe Brautleute beiderlei Geschlechts entstammten, wie Tabelle 22 zeigt, vor 1800 überwiegend zu einem bis zwei Dritteln dem Fünf-Kilometer-Umkreis. Zusätzliche,

224

NUPTIALITÄT

innerhalb eines Radius von zehn Kilometer liegende Ortschaften trugen gleich den übrigen sächsischen Gebieten in meist abgeschwächter Form zum Partnerreservoir bei. Nur in begrenzten Zeitabschnitten nahm der Anteil in Sachsen außerhalb der näheren Ortsumgebung beheimateter Männer (1630er, 1660er, 1710–1729) bzw. Frauen (1630er) einen höheren Stellenwert (über 20% bzw. 25 %) ein. Aus weiter entfernten Ge lden fanden, angesichts des vornehmlich den großen Handelswegen folgenden Fernverkehrs wenig überraschend, nur sporadisch Personen den Weg nach Rußdorf. Erstmals scheint 1711 ein außerhalb der Grenzen des heutigen Sachsens beheimateter Bräutigam in den Rußdorfer Kirchbüchern auf. Allerdings unterstand der Altenburger Bürger und Sattler Johann Peter Hertel demselben Landesherren wie seine Braut, eine Gärtner- und Leinwandhändlertochter. Ein Jahrhundert zuvor hatte der umherziehende Spielmann Hans Kretzschmar aus „Tirschen“ 557 eine Rußdorfer Kutschertochter in Grumbach geheiratet und mit sich genommen. Im Gegensatz zu diesen Paaren ließen sich Hans Buschmann, bayerischer Wollkämmer sowie der aus dem sachsen-altenburgischen Haina zugewanderte Schmiedesohn Justinus Schieck nach ihrer Vermählung 1712 und 1714 in Rußdorf nieder. Dem Schmiedegesellen el die schwiegerväterliche Dorfschmiede zu, deren designierter Erbe nach Dresden in die Familie eines königlichen Leibkutschers einheiratete. Johann Salomon Schrepffer wanderte in den 1740er Jahren aus dem Herzogtum Sachsen-Weimar-Eisenach zu. Der Sohn eines Ölmüllers erlernte vermutlich bei einem Limbacher Meister die Strumpf- und Seidenwirkerei, heiratete 1748 eine Reichenbacherin und kaufte erst 1750 ein Rußdorfer Haus, um schon 1762 nach dem Verlust dreier Kinder an die Ruhr nach Altenburg überzusiedeln. 558 Ähnliche Lebensläufe wiesen auch die beiden übrigen vor 1800 aus jenseits sächsischer Grenzen liegenden deutschen Gebieten zugewanderten Bräutigame, ein Tabakspfeifenmacher aus Halle 1771 sowie ein strumpfwirkender Musketiersohn ebendaher 1786, auf. Noch um vieles rarer machten sich außerhalb des kursächsischen Raums geborene Frauen. Unter die zwei Vertreterinnen dieser Gruppe aus der Zeit vor 1800 zählte die Tochter eines Bürgers und Tuchmachers aus Schmölln im sachsen-altenburgischen Territorium. Dem Vermuten nach entstand der Kontakt zu ihrem späteren, einer Rußdorfer Familie entstammenden Mann, im Jahr der Hochzeit 1757 „Cattunformschneider und Zeichenmeister bey der König. Pohln. u. Churfrst. Sächß. privilegirten Cattunfabrique [...] Hn. Wagners in Burgstädt“ 559, über dessen Geschäftsbeziehungen. Eine im vorherge-

557 558 559

Gemeint ist wahrscheinlich das bayerische Tirschenreuth. ThStA Abg, Amtsgericht Altenburg, C I Loc. 1, Nr. 188, fol. 108. EPA Rußdorf, KB I, Heiratsregister 1757, Nr. 9. – Gemeint ist „die schon vor dem Jahre 1768 in Burgstädt bei Chemnitz bestehende, in diesem Jahre nach amtlichen Nachrichten aber zuerst erwähnte Druckerei des Kaufmanns Johann Friedrich Wagner“. – Wieck, Friedrich Georg, Industrielle Zustände Sachsens. Das Gesammtgebiet des sächsischen Manufaktur- und Fabrikwesens, Handels und Verkehrs, Chemnitz 1840, S. 165.

HEIRATSMOBILITÄT

225

henden Jahr vor den Altar tretende Geschlechtsgenossin hatte ihren Zukünftigen als Pachtmüllertochter aus „Gärtzen“ mit Sicherheit während dessen Gesellenzeit kennengelernt. Die Ehe kam in Rußdorf zustande, wo der Bräutigam vermutlich eine erste Stellung in Eigenregie durch Pacht der sebastianischen Mühle erhielt. Bevor Rußdorf im 18. Jahrhundert sukzessive an wirtschaftlicher Bedeutung gewann, wurde es vom zumindest eine Zeit lang verweilenden Durchgangsverkehr, von Berufsmigranten bzw. selbst von den hochgradig ottanten Gruppen walzender Gesellen, Müllern, Kaufleuten, fahrendem Volk etc. kaum frequentiert und auch nach 1700 nahm sich die Anziehungskraft des abseits größerer Städte und viel befahrener Handelswege liegenden Ortes ohne Marktrecht eher bescheiden aus. Zuziehende „Ausländer“ fehlten vor 1800 erwartungsgemäß vollständig. Der Exulant Georg Esche „der Böhme“ (1603–1674) mochte als Glaubens üchtling theoretisch jener Gruppe angehören, indes, er kehrte auf seines emigrierten Vaters 20 Jahre zuvor wüst stehengelassenes Gut zurück. Johann Gabriel Walther emigrierte gleichsam Mitte des 18. Jahrhunderts aus Österreich nach Penig, wo er als „Pleiger“ ein Auskommen fand, bevor er eine Rußdorferin heimführte. Wessen Hochzeit ins lokale Trauregister Eingang fand, der wurde auch im 17. und 18. Jahrhundert mit über 50-prozentiger Wahrscheinlichkeit dauerhaft vor Ort ansässig (Tab. 21). Lediglich von den 1610–1619 sowie den 1750–1759 verheirateten Paaren blieben unter 50 Prozent, während sich vermutlich ebenso zufallsgeneriert von anderen Dekadenkohorten über 70 Prozent (1640er/1710er) niederließen. Die Teilmenge von der Hochzeit bis zum Tod in Rußdorf wohnender Paare lag im Regelfall unverändert null bis zehn Prozent unter jener der zunächst verbliebenen. Hingegen machten sich von diesen selten weniger denn 80 Prozent bis zum Lebensende ansässig. Eindeutig begünstigte das agrargesellschaftliche, zu Grundbesitz de facto verp ichtende Heiratsmuster Ortsgebundenheit. Ein Wandel des Heiratsverhaltens fand im 19. Jahrhundert statt. Seit dessen erster Dekade stellten in Rußdorf Geborene oder Aufgewachsene kontinuierlich unter 50 Prozent der Bräutigame. Zugleich verschob sich das zuvor stark alternierende zwischengeschlechtliche Verhältnis einheimischer und ortsfremder Heiratender untereinander im frühen 19. Jahrhundert zu einem statischen Ungleichgewicht. Ab den 1820er Jahren blieb der Anteil interner Bräutigame kontinuierlich hinter jenem der fremden Bräute zurück. Bis in die 1860er Jahre lagen die Zahlen noch relativ nah beieinander, danach vergrößerte sich die Kluft sprunghaft immens. Fortan erreichte die Teilmenge einheimischer Männer maximal 61,44 Prozent (1890/1899) derjenigen einheimischer Frauen. Völlig gegensätzlich verloren die externen Bräute anteilmäßig ab 1900 stark an Gewicht, wobei das niedrige Niveau der 1820er bis 1860er Jahre nicht unterschritten wurde. Homogene Ehen zwischen Rußdorfern verharrten bis in die 1870er Jahre auf traditionellem Anteilsniveau zwischen 23 und 42 Prozent. Ein Tal zwischen 1880 und 1910

226

NUPTIALITÄT

Tabelle 22: Herkunft ortsfremder Rußdorfer Brautleute Anteil nach Herkunft1 5km Umkreis

10km Umkreis

Sachsen

Deutschland

Ausland

unbekannt

Mann Frau Mann Frau Mann Frau Mann Frau Mann Frau Mann Frau 1582–1589

50,00 54,55

1590–1599

63,16 36,84 10,53 15,79









– 16,67 45,45

– 15,79







– 26,32 31,58

1600–1609 1610–1619 1620–1629 1630–1639 1640–1649

61,90 42,11 54,55 13,33

44,44 9,52 16,67 9,52 22,22 52,94 15,79 29,41 10,53 5,88 58,82 9,09 11,76 9,09 11,76 28,57 13,33 14,29 26,67 50,00

– 5,26 – –

– – – –

– – – –

– – – –

1650–1659 1660–1669

35,71 50,00 28,57 12,50 14,29 25,00







– 21,43 12,50

44,44 41,18 22,22 17,65 11,11 17,65







– 22,22 23,53

33,33 75,00 – 8,33 33,33 36,36 57,14 18,18 28,57 9,09 72,00 82,35 8,00 5,88 12,00

8,33 – –

– – –

8,33 – –

– – –

– 33,33 – – 36,36 14,29 – 8,00 11,76

66,67 70,00 0,00 5,00 20,00 42,11 63,64 21,05 18,18 5,26

– 9,09

– –

5,00 –

– –

– 13,33 20,00 – 31,58 9,09

1710–1719 1720–1729 1730–1739 1740–1749

20,00 55,56 10,00 – 30,00 22,22 15,00 36,67 56,52 6,67 13,04 33,33 13,04 – 59,26 70,97 11,11 3,23 11,11 12,90 –

– – –

– – –

5,56 25,00 16,67 – 23,33 17,39 – 18,52 12,90

46,15 62,50 19,23





– 15,38

1750–1759

48,78 57,89 14,63 10,53 14,63 10,53 56,00 60,00 8,00 16,00 16,00 24,00

2,44 10,53 – –

– –

– 19,51 10,53 – 20,00 0,00

60,00 41,67 52,78 41,30

69,70 4,00 9,09 12,00 12,12 77,14 12,50 – 20,83 14,29 58,70 16,67 10,87 22,22 21,74 74,07 13,04 7,41 32,61 7,41

4,00 4,17 – 2,17

3,03 – – –

– – – –

– 20,00 6,06 – 20,83 8,57 – 8,33 8,70 – 10,87 11,11

42,55 50,00 21,28 22,92 17,02 10,42 36,17 46,94 25,53 22,45 27,66 18,37

4,26 2,13

2,08 2,04

– –

– 14,89 14,58 – 8,51 10,20

1860–1869 1870–1879

48,33 42,00 40,00 53,75 54,35

17,02 15,79 19,67 26,39 17,39

– 2,00 8,00 5,00 5,43

– 2,63 4,92 2,78 5,80

– – – – –

– 13,33 14,89 – 12,00 2,63 – 4,00 6,56 – 3,75 4,17 – 4,35 4,35

1880–1889

43,40 48,57 12,58 14,29 28,93 28,57

6,92

5,71

6,29

1890–1899 1900–1909 1910–1919 1920–1929 1930–1935

43,75 50,86 44,94 50,79 51,33

3,13 7,25 3,43 4,17 6,33 6,25 9,42 3,33 7,08 12,12

1670–1679 1680–1689 1690–1699 1700–1709

1760–1769 1770–1779 1780–1789 1790–1799 1800–1809 1810–1819 1820–1829 1830–1839 1840–1849 1850–1859

1

alle Werte in Prozent.

53,19 71,05 52,46 55,56 55,07



16,67 20,00 12,00 18,75 14,13

– 33,33

6,25 15,38 21,88

14,89 7,89 16,39 11,11 17,39

21,67 24,00 36,00 18,75 21,74

46,38 14,06 13,04 35,94 30,43 44,44 6,86 12,50 34,29 31,94 43,75 8,86 2,08 36,71 41,67 40,00 8,38 16,67 26,70 23,33 33,33 13,27 6,06 18,58 33,33

3,85

19,05 16,67 26,32 11,76 27,27 17,65 46,67 7,14

9,38

2,86

1,89



3,13 2,90 4,57 6,94 3,16 6,25 3,14 13,33 5,31 6,06

– – – 1,57 4,42

– – – 3,33 9,09

HEIRATSMOBILITÄT

227

leitete zu einem insgesamt niedrigeren Stand über. Ehen zwischen Ortsfremden hielten ihre traditionelle Quote unter zehn Prozent, erlangten jedoch nach 1870 bis in die 1910er Jahre Bedeutung in bis dahin ungekanntem Ausmaß. Zweifelsohne geht diese Gewichtungsverschiebung auf die industrielle Entwicklung Rußdorfs zurück. In der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts stieg die wirtschaftliche Zugkraft des Dorfes an. Vor allem auswärts geborene Textilgewerbetreibende ließen sich vor Ort nieder und schöpften aus dem lokalen Frauenangebot. Parallel sank offensichtlich die voreheliche Mobilität der Rußdorfer Männerschaft, weswegen sie prozentual seltener eine fremde Braut heimführten. Auf die Niederlassungsfreudigkeit wirkte dies zunächst allerdings, vielleicht unter anderem begrenzten Wohnraums halber, nicht positiv. Erst als die industrielle Entwicklung des Dorfes seit den 1860er Jahren Fahrt aufnahm, ließen sich mehr Paare wenigstens vorübergehend im Ort nieder. Ab den 1870er Jahren drängten zunehmend auch ledige Frauen ins Dorf bzw. trug steigender Pendlerverkehr in Oberfrohnaer und Limbacher Industriebetriebe zur Erweiterung des Ehepartnerwahlkreises bei. Der Anteil interner Bräute schwand, jener der Ehen zwischen extern Gebürtigen wuchs. Ebenso erreichte die Quote zunächst bzw. dauerhaft ansässig werdender Paare in den 1880er Jahren ihren Höhepunkt. Mit dem Ende des Wirtschaftsaufschwungs zur Zeit des Ersten Weltkrieges kehrte sich die Entwicklung wieder um, was sich vor allem in einer prozentual wieder vermehrten Beteiligung einheimischer Bräute und einer rückläu gen Niederlassungsquote niederschlug. Der Anteil bis zum Tod vor Ort verweilender Paare sank entsprechend schon seit den 1890er/1900er Jahren deutlich. Unrealistisch niedrige prozentuale Anteile dieser Gruppe nach 1910 gehen freilich auch auf quellenbedingt fehlende Sterbedaten nach 1935 bzw. 1964 zurück. Immerhin stieg die Bevölkerungszahl bis zum Ende des Untersuchungszeitraums kontinuierlich an. Die dennoch vorhandene Quotendegression wurde wahrscheinlich im beständigen Ausgleich des Verzugs durch Zuwanderung wieder ausgeglichen. In anderen Dörfern aufgewachsene Heiratskandidaten rekrutierten sich auch im 19. und 20. Jahrhundert trotz kräftigerer wirtschaftlicher Entwicklung Rußdorfs und seiner mindestens im späten 19. Jahrhundert stark gehobenen Attraktivität aus denselben geographischen Kreisen und demgemäß vermutlich nach denselben Begegnungs- bzw. Interaktionsprinzipien wie zuvor innerhalb kaum räumlich veränderter sozialer und ökonomischer Netzwerke. Ein Großteil der fremden Bräute und Bräutigame (zwischen 40 % und 55 %) hatte seine Kindheit weiterhin in maximal fünf Kilometern Entfernung verbracht. Dem übrigen sächsischen Raum entstammte insgesamt traditionell eine vergleichbare Ehepartnerzahl. Grundlegende Veränderungen stellten sich einzig bei den Gruppen außerhalb sächsischer Grenzen beheimateter Personen ein. Schon in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts traten aus den übrigen Gebieten Deutschlands der gegenwärtigen Ausdehnung stammende Heiratende gehäuft in den lokalen Registern auf und stellten schließlich

228

NUPTIALITÄT

geschlechtsübergreifend seit den 1840er Jahren permanent einen geringen Teil (max. 9,42 % bzw. 12,12%) der jeweiligen Dekadenkohorten. Aus dem heutigen Thüringen, vor allem aber dem sachsen-altenburgischen Territorium, sowie seltener dem Anhaltinischen oder dem südlichen Preußen wanderte die überwiegende Mehrheit dieser Gruppe zu. Größere Entfernungen legten nur wenige zurück. Zu jenen zählten beispielsweise 1818 der Schuhmacher Johann Gottfried Jahn aus dem etwa 53 Wegstunden entfernten Neuruppin und F. W. H. Möller aus Rinteln in Niedersachsen 1886. Fremde Männer verdingten sich nahezu ausschließlich im sekundären Sektor, waren Gewerbetreibende oder Industriearbeiter. Die Situation fremder Bräute war ähnlich gelagert, zumal diese in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts ebenfalls durch gehobene voreheliche Mobilität auf elen. Neben 70 Prozent nach gegenwärtiger Lesart thüringischen und 13,33 Prozent anhaltinischen traten nur partiell Heiratskandidatinnen aus anderen deutschen Gebieten auf. Die Tochter eines preußischen Hauptmanns in Grabow gelangte vor ihrer Hochzeit 1881 nach Rußdorf, wo sie als Fabrikarbeiterin einen Oberfrohnaer Strumpfwirker ehelichte. Gleiches Verhalten zeigte 1898 Marie Barbara Zeitler aus dem bayerischen Marienweiher, welche sich mit einem Rußdorfer Strumpfwirker ehelich verband. Eine zweite Bayerin unbekannter Profession hatte 1888 in Auerbach und 1890 in Rußdorf uneheliche Kinder zur Welt gebracht und heiratete den mutmaßlichen Vater des zweiten, einen Rußdorfer Fleischer 1890. Wanda Warzaska, Berliner Kaufmannstochter, erhielt eine Stelle im Rußdorfer Schulwesen, ehe sie sich 1900 mit einem Leipziger Kaufmann vermählte und das Dorf verließ. Ebenfalls aus Berlin stammte die Rußdorfer Weißnäherin Emma Frieda Freitag, derer sich 1924 ein Kleinhessener Landwirt annahm. Den wohl weitesten Weg überbrückte die Malermeistertochter Margarethe Antonie Zwickert aus dem bergischen Solingen, die als Wirtschafterin in Rußdorf 1916 den verwitweten örtlichen Krankenkassengeschäftsführer zum Ehemann nahm. Von außerhalb der gegenwärtigen Grenzen Deutschlands stammende, in die Rußdorfer Heiratsregister eingegangene Heiratskandidaten traten bei den Männern erstmals in den 1880er Jahren und danach, bezogen auf die Dekadenkohorten, geschlechtsübergreifend kontinuierlich auf. Die Majorität der mit einer Ausnahme dem sekundären bzw. seltener dem tertiären Sektor verbundenen Bräutigame wanderte aus Schlesien (44,44%) oder den übrigen deutschen Ostgebieten (13,89%) zu. Nahezu ein weiteres Drittel (30,56 %), vornehmlich in Rußdorf vor ihrer Hochzeit ansässig gewordene Handwerker und Fabrikarbeiter sowie ein in Chemnitz lebender Kutscher und ein daselbst wohnhafter Handarbeiter, hatte seine Jugend in Böhmen verbracht. Die größten Entfernungen legten zweifelsohne 1885 der Sohn eines Wiener Finanzwachoberaufsehers, Fabrikschlosser in Rußdorf, und ein ungarischer Bauernsohn zurück. Letzterer ließ sich ohne Landbesitz in der altenburgischen Exklave nieder, fand dort 1881 auch seine Ehefrau, arbeitete jedoch zum Zeitpunkt der Hochzeit 1881 als Maschinenschlosser in Hohenstein. Ein Großteil der Bräutigame letzter Herkunftskategorie war abseits wirtschaftlicher Beweggründe oder

HEIRATSMOBILITÄT

229

etwa mit Familie nach Sachsen bzw. Rußdorf emigriert. Dennoch mochte das letztendliche Ziel ihrer Migration zufällig situativ gewählt worden sein. Weibliche voreheliche Fernwanderung funktionierte bei den fraglichen Rußdorfer Bräuten prinzipiell gleichartig. Allerdings standen dabei einerseits die deutschen Ostgebiete mit Schwerpunkt Schlesien als Herkunftsräume in ihrer Bedeutung (47,06 %) hinter Böhmen (52,94%) zurück und fungierte individuelle Mobilität andererseits keineswegs als dominantes Konzept. Amalie Huyer aus Pirten lebte etwa zum Zeitpunkt ihrer Hochzeit mit einem Rußdorfer Klempner 1906 in Gemeinschaft ihrer verwitweten Mutter in Chemnitz. Ebenso beherbergte Anna Bauer aus Eidlitz, welche 1907 in Diensten eines Rußdorfers stand, die ihrige bei sich. Jakob Kmells Kinder aus Wilkeschau wanderten ihrerseits gemeinschaftlich nach Sachsen ein. Ein Sohn verblieb in Cranzahl, die Schwestern Antonie und Barbara heirateten 1882 und 1889 zwei Rußdorfer Handwerker. Eine uneheliche Enkelin kam 1890 in Rußdorf unverheiratet nieder und vermählte sich dort 1899. Ihr Auskommen fanden die pränuptial fernwandernden Bräute ausschließlich in textiler Heim- und Fabrikarbeit oder im landwirtschaftlichen bzw. häuslichen Dienstleistungsbereich. Gleich ihren männlichen Gruppengenossen folgte ihre Ehepartnersuche den traditionellen lokalen Mustern bei zwingend vorangegangener Ansiedlung. Da ihnen der Eingang via Geburt in die komplexen sozialen, das nähere dörfliche Umfeld überspannenden Netzwerke abging, heirateten sie häu ger innerhalb ihres Wohnortes und unterlagen deswegen gleichfalls einer weit überdurchschnittlichen Wahrscheinlichkeit postnuptialen Verbleibs. Bräunsdorf Die Bräunsdorfer Situation weist, obgleich erst ab 1644 nachvollziehbar, ähnliche Züge auf (Tab. 23). Relativ beständig orientierte sich der Anteil rein Bräunsdorfer Ehepaare an der Gesamthochzeitszahl zwischen 20 und 30 Prozent, während die Menge gänzlich Auswärtiger selten die Fünfprozentmarke überschritt und gemischte Verbindungen mit regelmäßig 60–80 Prozent den Löwenanteil verbuchten. Aus dem Rahmen schlagende hohe (1650er, 1680er) wie niedrige (1640er, 1760er) Anteile der internen Ehen korrespondierten mit entsprechend geminderten bzw. gesteigerten Teilmengen der heterogenen Verbindungen beider Gestalt. Allerdings reagierte die Gruppe männlichen Fremdanteils in jeder Richtung ungleich stärker als ihr Widerpart, wie auch jene weiblichen Kontingents externer Herkunft bereits vor dem 19. Jahrhundert kontinuierlich unterrepräsentiert erscheint. Pro Dekade ent elen turnusmäßig zwischen 29 und 39 Prozent aller Hochzeiten auf diesen Typus sowie 32–45 Prozent auf den anderen. Ein Zusammenhang zwischen der soziostrukturellen Entwicklung und dem Gewichtungsverhältnis der Brautpaarkategorien wird im Bräunsdorfer Beispiel allenfalls ange-

230

NUPTIALITÄT

Tabelle 23: Herkunftszusammensetzung der Brautpaare und Niederlassungshäu gkeit in Bräunsdorf Anteil an Gesamtfamilienzahl1 bis 1.Kind bleibender Familien

bis Tod bleibender Familien

1640–1649

61,54

1650–1659

85,71 54,84

1660–1669 1670–1679 1680–1689 1690–1699 1700–1709 1710–1719 1720–1729 1730–1739 1740–1749 1750–1759

beide Partner heimisch

Bräutigam heimisch

Braut heimisch

beide Partner fremd

46,15

7,69

30,77

61,54



85,71 41,94

42,86 29,03

19,05 22,58

28,57 48,39

9,52 –

78,38

72,97

45,95

32,43

21,62



88,46 70,00

80,77 56,67

61,54 36,67

19,23 20,00

19,23 36,67

– 6,67

65,00 62,79 70,59

57,50 48,84 54,90

40,00 27,91 35,29

20,00 25,58 27,45

37,50 41,86 35,29

2,50 4,65 1,96

50,91 44,62

43,64 38,46

23,64 23,08

27,27 32,31

45,45 44,62

3,64 –

58,21

53,73

28,36

35,82

34,33

1,49

1760–1769 1770–1779 1780–1789

51,47 56,72

41,18 50,75

19,12 34,33

35,29 26,87

42,65 34,33

2,94 4,48

63,49

60,32

36,51

25,40

36,51

1,59

1790–1799

60,47 54,76 67,09

46,51 42,86 55,70

32,56 28,57 27,85

23,26 20,24 37,97

43,02 46,43 31,65

1,16 4,76 2,53

48,08 55,32

38,46 44,68

22,12 23,40

30,77 28,72

42,31 45,74

4,81 2,13

58,12

45,30

23,93

29,91

40,17

5,98

1860–1869 1870–1879

73,03 58,06 63,73

57,30 48,39 44,12

31,46 21,77 28,43

25,84 26,61 13,73

34,83 46,77 54,90

7,87 4,84 2,94

1880–1889

71,43

46,62

33,83

18,05

42,86

5,26

1890–1899 1900–1909 1910–1919 1920–1929 1930–1935

63,39 61,96

41,07 42,93

33,04 21,74

19,64 28,26

33,04 42,39

14,29 7,61

63,16 55,09

38,01 28,70

22,81 16,20

23,98 26,85

47,95 48,61

5,26 8,33

48,12

19,55

12,03

33,83

46,62

7,52

1800–1809 1810–1819 1820–1829 1830–1839 1840–1849 1850–1859

1

alle Werte in Prozent.

deutet (Abb. 31). Obgleich eine tendenzielle Gegenläu gkeit der beiden heterogenen Typen feststellbar ist, fehlt ihnen eine langfristige auf- oder abwärts gerichtete Orientierung. Zwischen 1770ern und 1810ern sowie zwischen 1820er und 1870er Jahren ging der Anteil fremder Bräute, tatsächlich mit einer Vermehrung der Stellenzahl bzw. im 18. Jahrhundert mit dem industriellen Aufschwung des Limbacher Landes korreli-

HEIRATSMOBILITÄT

231

Abbildung 31: Nuptiale Beteiligung Einheimischer nach Geschlechtern und Anteil heterogener Hochzeiten in Bräunsdorf in Prozent

erend, leicht zurück. Desgleichen wuchs der Prozentsatz einheimischer Bräutigame in den Dekaden ohne Güterparzellierung 1740–1760 leicht. Ende des 17. und Anfang des 18. Jahrhunderts deutet eine im Ganzen stagnierende Teilmenge in Bräunsdorf beheimateter Männer bei steigendem Anteil heterogener Ehen unter ihrer Beteiligung auf eine Verbindung mit den synchron vermehrten Hofstellen an. In den späteren Abschnitten offenbar unterrepräsentierte grundbesitzlose Einheimische nutzten hier eine Chance, vor Ort bleiben zu können. Dabei mussten oder wollten sie anders als späterhin auf auswärtige Frauen zurückgreifen. Die Ehepartnerwahl der Bräunsdorfer folgte erwartungsgemäß auch in ihrer räumlichen Dimension dem Rußdorfer Beispiel. Zwischen einem Viertel und der Hälfte der externen Ehepartner einer Dekadenkohorte hatte während des 17. Jahrhunderts seine familiären Wurzeln innerhalb von fünf Kilometern um Bräunsdorf. Seit den 1720er Jahren geriet ein Anteil von einem Drittel zur Unter- bei unveränderter Obergrenze. Aus dem erweiterten Umkreis rekrutierten sich selten über 15 Prozent (1670er, 1710er, 1800er) und maximal 23,26 Prozent, wohingegen dem übrigen sächsischen Raum eine erhöhte Bedeutung zukam. In der Regel 20–30 Prozent der auswärtig beheimateten Ehepartner stellend, schwankte die Quote bei den Bräutigamen der dritten Herkunftskategorie vor 1800 zwischen 9,68 (1660/1669) und 55,56 Prozent (1680/1689) sowie bei den Bräuten gar bis 36,84 Prozent (1700/1709).

232

NUPTIALITÄT

Aus Territorien außerhalb sächsischer Grenzen fanden dagegen wenige Personen, ausschließlich dem Gebiet des modernen Deutschlands entstammend, Eingang in die örtlichen Heiratsregister (Tab. 24). Unter vier Frauen aus dem 17. und 18. Jahrhundert nahm die 1680 einen Bräunsdorfer Schneider ehelichende Anna Fleischer aus Lucka im Sachsen-Altenburgischen die Vorreiterrolle ein. Sicherlich entstand der Kontakt zu ihrem späteren Ehemann durch beider Väter, die als Schäfer einer hochgradig mobilen Bevölkerungsgruppe angehörten. 30 Jahre später fand Rahel Meißner, Pfarrerstochter aus Ehrenhain in Sachsen-Altenburg als Gattin des lokalen Pastors den Weg nach Bräunsdorf. Der selbst in Penig geborene Ortsgeistliche hatte sein Amt im vorhergehenden Jahr angetreten. Seine zweite Ehefrau, standesgemäß ebenfalls Pastorentochter, kam 1715 aus dem anhaltinischen Bündorf. Während die vorgenannten nach Bräunsdorf zuzogen, wurde die vierte außersächsische Braut nie in Bräunsdorf ansässig. Ihren Ehemann, einen weichenden Gärtnersohn, lernte die Tochter eines altenburgischen Perückenmachers Maria Rosina Heinicken mit Sicherheit in ihrem Heimatort kennen, der späterhin auch zum Wohnort das Ehepaares gedient haben mochte. Der erste belegbare „ausländische“ Bräutigam, Schulmeistersohn aus dem teils sachsen-altenburgisch, teils kursächsisch regierten Thonhausen wanderte als Schuster nach Bräunsdorf, wo er sich schon zum Zeitpunkt seiner Hochzeit mit einer einheimischen Gärtnertochter 1710 ansässig gemacht hatte. Christoph Schlißler von Kloster Posa im Anhaltinischen heiratete hingegen 1718 lediglich hier. Die Braut stammte vermutlich aus seiner eigenen Heimat. Ihre Familie lebte in den 1710er Jahren nur vorübergehend ohne Landbesitz in Bräunsdorf. Auch die übrigen jenseits moderner sächsischer Grenzen aufgewachsenen Bräutigame aus der Zeit vor 1800 gehörten ottanten Berufsgruppen an. Christoph Öttinger, Sohn eines Posamentierers mit Bürgerrecht im seinerzeit unter kursächsischer Verwaltung stehenden Bitterfeld, verdingte sich 1719 in der Fleischhauerei, Johann Friedrich Büchner aus Vogelsberg im Herzogtum SachsenWeimar-Eisenach verdiente seinen Unterhalt 1755 mit der Herstellung von Strumpfwaren und Michael Oertel suchte 1766 in der Tagelöhnerei sein Auskommen. Heiratsmobilität in größeren räumlichen Dimensionen stellt sich auch im Bräunsdorfer Beispiel vor dem 19. Jahrhundert als exklusives Phänomen zwangsläu g agiler Bevölkerungsteile und damit innerhalb der agrarischen Gesellschaftsstruktur der unteren Schichten dar. Bar einer signi kanten wirtschaftlichen Attraktivität und überregionalen Anziehungskraft des betrachteten Ortes führten in erster Linie persönliche Beziehungen Fremde aus entlegeneren Gebieten herbei bzw. entstanden Kontakte zwischen späteren Ehepartnern in erheblich voneinander entfernten Heimatorten über ein bestehendes soziales Ge echt von Familie und Bekannten. Soweit nachvollziehbar, überbrückte selbst die innerdeutsche Heiratsmobilität selten Wege über 100 Kilometer. Die in den Bräunsdorfer Trauregistern erfassten Ehepaare ließen sich im 17. Jahrhundert insgesamt zu 46,82 Prozent, während des 18. Jahrhunderts mit 54-prozentiger Wahrscheinlichkeit zunächst im Untersuchungsort nieder. Der erste bis 1729 reichende

233

HEIRATSMOBILITÄT

Tabelle 24: Herkunft ortsfremder Bräunsdorfer Brautleute 5km Umkreis 10km Umkreis

Anteil der nach Herkunft1 Sachsen Deutschland

Ausland

unbekannt

Mann Frau Mann Frau Mann Frau Mann Frau Mann Frau Mann Frau 1640–1649 1650–1659 1660–1669 1670–1679 1680–1689 1690–1699 1700–1709 1710–1719 1720–1729 1730–1739 1740–1749

8,33 12,50

– 7,14

– –

– 7,14

– –

– –

– –

– 91,67 100,00 – 75,00 85,71

32,26 63,64 6,45 9,09 9,68 9,09 25,00 66,67 16,67 16,67 25,00 16,67 22,22 46,15 11,11 23,08 55,56 23,08

– – –

– – 7,69

– – –

– 51,61 – 33,33 – 11,11

18,18 – –

32,00 44,44

5,56 32,00 27,78







– 28,00

22,22

55,00 42,11 10,00 15,79 20,00 36,84



5,26



– 15,00



28,00 48,00 20,00 4,00 20,00 28,00 12,00 31,82 57,14 – 9,52 22,73 14,29 – 40,63 60,00 6,25 20,00 25,00 16,00 –

8,00 – –

– – –

– 20,00 – 45,45 – 28,13

12,00 19,05 4,00

8,00

– – – 12,50

51,52 53,57

9,09 10,71 12,12 14,29







– 27,27

21,43

1750–1759

46,15 53,85

3,85 15,38 15,38 26,92

3,85





– 30,77

3,85

1760–1769 1770–1779

35,29 48,48

2,94 18,18 32,35 21,21

2,94

6,06



– 26,47

6,06

48,28 61,54 13,79 15,38 34,48 19,23 36,00 50,00 4,00 30,00 44,00 10,00 36,59 61,29 14,63 16,13 29,27 6,45

– – –

3,85 – –

– – –

– 3,45 – 16,00 – 19,51

– 10,00 16,13

37,21 47,62 23,26 23,81 23,26 19,05 51,85 62,50 14,81 0,00 11,11 31,25

2,33 –

4,76 –

– –

– 13,95 – 22,22

4,76 6,25

40,43 65,71

1780–1789 1790–1799 1800–1809 1810–1819 1820–1829 1830–1839 1840–1849 1850–1859 1860–1869 1870–1879 1880–1889 1890–1899 1900–1909 1910–1919 1920–1929 1930–1935 1

2,86 17,02 20,00

4,26





– 29,79

11,43

38,64 60,71 13,64 3,57 25,00 21,43 42,59 50,00 11,11 11,36 22,22 27,27 58,97 40,54 – 13,51 23,08 40,54

8,51

2,27 5,56 5,13

– 4,55 2,70

– – –

– 20,45 – 18,52 – 12,82

14,29 6,82 2,70

32,31 56,90 10,77 12,07 29,23 25,86 42,03 50,00 10,14 10,00 30,43 31,67

4,62 1,45

3,45 5,00

1,54 1,45

– 21,54 – 14,49

1,72 3,33

45,59 55,74 14,71 4,92 35,29 34,43 47,27 46,67 9,09 11,11 36,36 24,44

1,47 1,64 5,45 13,33

1,47 1,82

– 2,22

1,47 –

3,28 2,22

51,61 53,73 53,93 70,21

3,23 2,25

4,48 2,13

6,45 4,49

– –

– –

1,49 –

2,54 5,71

4,41 5,66

2,54 4,29

– 3,77

– 1,43

– 1,89

4,30 13,43 34,41 26,87 6,74 2,13 32,58 25,53

41,53 57,35 11,86 45,71 56,60 10,00

8,82 41,53 29,41 3,77 32,86 28,30

alle Werte in Prozent.

Zeitabschnitt weist die höchste Schwankungsbreite der Dekadenkohorten auf (Tab. 23). Korrespondenzen mit den Flurparzellierungen bzw. Hofstellengründungen dieser Zeit deuten sich an. Kongruent fällt die Periode unveränderter Güterzahl zwischen 1730 und 1779 mit verringerten Niederlassungsquoten auf. Verglichen mit dem Rußdorfer Fallbeispiel lässt das Bräunsdorfer im 19. und frühen 20. Jahrhundert hinsichtlich der Heiratsmobilität nur geringfügige Unterschiede zur Praxis der vorangegangenen Zeit erkennen. Seit den 1820er Jahren überwogen in

234

NUPTIALITÄT

den örtlichen Heiratsregistern durchweg einheimische Frauen zahlenmäßig gegenüber den einheimischen Männern sowie in noch stärkerem Maße den auswärts beheimateten Bräuten. Zusätzlich el das Quantum aus lokalen Familien stammender Bräutigame seit der Wende zum 20. Jahrhundert hinter jenes der externen zurück. Ab den 1870er Jahren deutet sich eine steigende Attraktivität Bräunsdorfs an. Wie in Rußdorf hielt dies zunächst die einheimische Junggesellenschaft länger vor Ort und zog fremde Männer an. Die Anteile homogen interner Ehen und der einheimischen Bräute stiegen, jene der Bräunsdorfer Bräutigame und der heterogenen Ehen unter ihrer Beteiligung gingen zurück. Ab den 1880ern erweiterten auswärts beheimatete Frauen aufgrund erhöhten Zuzugs oder gesteigerten Berufspendlerverkehrs den Partnerwahlkreis. Folglich unterlagen nun auch die heterogenen Paare mit internem Frauenanteil einer anteiligen Regression und erreichte die Quote der Hochzeiten zwischen Fremdgebürtigen in den 1890er Jahren ihren Höhepunkt. Desgleichen zeigt die Niederlassungsfreudigkeit der 1880er einen leichten Positivausschlag. Bereits in den 1900er Jahren büßte Bräunsdorf seine Anziehungskraft wieder ein. Spätestens in den 1910ern entsprach das Ehemobilitätsmuster im Ganzen dem des frühen 19. Jahrhunderts respektive der vorindustriellen Periode. Lediglich die sinkende Wahrscheinlichkeit vor allem einer dauerhaften postnuptialen Ansässigkeit zeugt von einer erhöhten Mobilität der Bevölkerung bzw. die weiter rückläu ge Häu gkeit rein interner Ehen von einer solchen der Männerschaft. Wie im Rußdorfer Fall wird der massive Rückgang bis zum Tod verbleibender Familien seit den 1920er Jahren quellenbedingt verschärft. Die im direkten Vergleich höhere Verweilrate korrespondiert dessen ungeachtet mit dem am Ende des Untersuchungszeitraums noch immer geringen Industrialisierungsgrad Bräunsdorfs. Die Ausdehnung der aus den Herkunftsorten ortsfremder Heiratender ableitbaren geographischen Ehepartnerwahlkreise der ansässigen Bevölkerung entbehrte ebenfalls während des 19. Jahrhunderts eines grundlegenden Wandels. Beinahe konsequent lag der Geburtsort mindestens 40 Prozent der fremdstämmigen Bräutigame und meist über 50 Prozent derjenigen Bräute wie in vorindustrieller Zeit im Umkreis von fünf Kilometern um Bräunsdorf. Wenigstens ein weiteres Viertel bis ein Drittel war in einer jenseits des engen Areals liegenden sächsischen Siedlung beheimatet. Bereits seit den 1820er Jahren gerieten Männer aus dem außersächsischen Deutschland seiner gegenwärtigen territorialen Ausdehnung zu einer festen Dekadenkohortengröße und überbrückten vornehmlich nach 1900 immer größere Entfernungen. Der Papiermachergeselle G. H. C. Klauß zum Beispiel wuchs im etwa 230 Kilometer entlegenen niedersächsischen Lautenthal auf, ehe er im Zuge seiner Walz nach Bräunsdorf gelangte und dort 1842 die Schwester seines Meisters ehelichte. Über 410 Kilometer legte der Goldschmied Emil Friedrich Lutz aus Pforzheim vor seiner Hochzeit 1923 zurück und Georg Daffner, 1932 Hilfsarbeiter in Pleißa, wanderte aus dem bayerischen Gumpenried ca. 240 Kilometer zu. Die Majorität der außersächsischen Bräutigame war jedoch weiterhin im nahen thüringischen Raum beheimatet und fand nach den tradi-

HEIRATSMOBILITÄT

235

tionellen Prinzipien Eingang in den Ehepartnerwahlkreis der Bräunsdorfer. Selbiges hat für die nach 1850 sporadischer auftretenden Bräute der betrachteten Kategorie Geltung. Zu diesen zählten Johanne Alexandrine de la Follie, Sprachlehrertochter aus Bremen, die 1860 den damaligen Bräunsdorfer Pfarrer heiratete, welcher sie mit Sicherheit nicht im Dorf kennengelernt hatte. Die Berliner Prokuristentochter Günther begegnete dem Bräunsdorfer Kaufmann Illgen, den sie 1925 ehelichte, vermutlich in ihrer Heimat. Emma Anna Helene Höhne aus dem vorpommerschen Zemitz heiratete den Berliner Kaufmann A. M. Haberkorn lediglich an dessen Geburtsort. Demgegenüber durchmaß Hedwig Fischer aus dem ca. 280 Kilometer entfernten bayerischen Hengersberg 1932 eine eher kurze Strecke. Ab den 1860er Jahren erweiterten schließlich außerhalb Deutschlands der heutigen Ausdehnung aufgewachsene Personen den lokalen Ehepartnerwahlkreis zusätzlich. Lediglich drei Bräute sind dieser Gruppe mit Vorbehalt zuzurechnen. Hulda Emma Lampert war in der deutschen Provinz Posen geboren, heiratete jedoch 1892 aus Lugau zu, Gertrud Anna Bien aus Groß Ellguth in Schlesien verdingte sich zum Zeitpunkt ihrer Trauung 1930 als Wirtschaftsgehil n in Bräunsdorf und die Lageristin Zulma Irma Langer hatte zwar in Antwerpen das Licht der Welt erblickt, war aber mit ihren Eltern schon vor ihrer Hochzeit 1931 in Limbach ansässig geworden. Die als ausländisch klassi zierten Bräutigame entstammten zum überwiegenden Teil (75 %) den deutschen Ostgebieten, insbesondere Schlesien, so auch der erste Vertreter dieser Gruppe, der 1862 heiratende Limbacher Maschinenschlosser Beier aus Oberglogau. Drei weitere, ein Bräunsdorfer Strumpfwirker 1879, ein Rußdorfer Schlosser 1910 und ein Crimmitschauer Drechsler 1912, hatten ihre Kindheit in Böhmen verbracht, ein Thalheimer Patentpapierfabrikant kam 1917 aus Basel und 1922 bereicherte ein Wiener Buchbinder den Kandidatenkreis. Trotz minimaler prozentualer Zunahme außersächsischer Teilhaber an den Bräunsdorfer Hochzeiten zog der Ort im Vergleich zur vorindustriellen Situation nicht mehr Menschen an. Dem anteilmäßigen Wachstum liegt stattdessen eine im Zuge der Industrialisierung progressive allgemeine Beweglichkeit zugrunde. Nicht länger bildeten Angehörige inhärent mobiler ökonomischer Gruppen im betrachteten ruralen Raum die Hauptakteure der Fernwanderung. Die Partnersuchmechanismen blieben dabei intakt. Besonders aus entfernteren Gebieten zugezogene Heiratskandidaten hatten sich durchweg vor ihrer Trauung in Bräunsdorf selbst oder den umliegenden Orten niedergelassen und erst danach den maßgeblichen Kontakt zur einheimischen Bevölkerung gefunden, die, wie aus den Zahlen deutlich hervorgeht, noch in den 1930er Jahren zuvörderst im engeren Dorfumfeld intime Beziehungen suchte bzw. aufbaute. Hierbei galt für alle Ortsfremden die Regel, je weiter entfernt ihr letzter Wohnort lag, desto größer die Wahrscheinlichkeit einer dauerhaften lokalen Ansiedlung.

236

NUPTIALITÄT

Zusammenfassung Die Heiratsmobilität wurde in den betrachteten Dörfern einerseits vom Besitzstand der Ehepartner, andererseits von der Verfügbarkeit sozioökonomischer Stellen bestimmt. In ihren grundlegenden Prinzipien unterlag sie vom 16. bis zum frühen 20. Jahrhundert keiner Veränderung. Gleiches hat für das Ehepartnerwahlverhalten Geltung. Der alltägliche Bewegungsradius de nierte in Verbindung mit dem individuellen sozialen Netzwerk aus Freunden, Nachbarn und Bekannten, weiterer Auswahlkriterien wie dem persönlichen materiellen Hintergrund, der Attraktivität oder des Alters ungeachtet, den Partnerwahlkreis im Vorhinein. Je mobiler eine Person, desto größer war ihr Spielraum. Obwohl der traditionelle Stellenmechanismus im 19. Jahrhundert an Gewicht verlor, blieb der gesellschaftlich sanktionierte Zwang zur Erbringung eines Heiratsfonds bestehen. Ein zentrales Element dessen stellte der fest an eine kontinuierliche Erwerbstätigkeit gebundene Wohnsitz dar. Auf dessen näheren räumlichen Umkreis xierte die Partnerwahl gewohnheitsmäßig. Angehörige des weniger mobilen weiblichen Geschlechts dominierten die Brautschaft ihrer Heimatorte. Der Anteil einheimischer Bräutigame schwankte hingegen gleich dem Anteil interner Hochzeiten in Abhängigkeit von der Gestalt der örtlichen Junggesellenschaft. Hierbei galt die Regel, je größer das Aufkommen lediger Zuwanderer, desto niedriger die Quote der Trauungen zwischen Einheimischen. Die Verfügbarkeit sozioökonomischer Positionen entschied maßgeblich über den Fremdanteil der Bräutigame einerseits und die postnuptiale Verweilrate andererseits. Bei einer anfänglich statischen Güterzahl, wie in den Untersuchungsorten bis zum 16. Jahrhundert gegeben, konnten auswärtige Männer dort einzig durch Kauf einer Hofstelle, die Heirat einer Witwe oder die Belegung einer Hausgenossenposition ansässig werden. Alle diese Optionen traten jedoch limitiert auf und wurden in erster Linie von weichenden einheimischen Erben genutzt. Fremde kamen in größerer Zahl erst zum Zuge, wenn neue Stellen geschaffen wurden. Daher ging in beiden Untersuchungsorten mit den Flurparzellierungen des späten 17. bis frühen 19. Jahrhunderts, in deren Rahmen die Häuslerschaft entstand, eine prozentual stärkere Beteiligung der auswärtig beheimateten Bräutigame einher. Diese blieb in ihrer vollen Ausprägung, immer mit einer temporalen Steigerung der Niederlassungsfreudigkeit einhergehend, auf die Stoßzeiten der Partikularisierung begrenzt. Danach galten wiederum die traditionellen Regularien. In der lokalen Industrialisierungsperiode des späten 19. Jahrhunderts entstanden zahlreiche neue sozioökonomische Positionen abseits des Grundbesitzzwangs durch mehrheitlich industrielle Lohnarbeit. Gemäß den tradierten Prinzipien hielt dies zunächst Einheimische am Ort, bevor die Erwerbsmöglichkeiten auch Fremde beiderlei Geschlechts anlockten, die den lokalen Ehepartnerwahlkreis erweiterten. Die Gewichtung der Herkunftsräume zeigte sich mit jener der vorindustriellen Zeit identisch. Eine leicht steigende Zunahme ferngewanderter Brautleute ist als Begleiterscheinung einer

HEIRATSMOBILITÄT

237

gesamtgesellschaftlich anwachsenden Mobilität zu sehen und steht nicht mit der Entwicklung der Untersuchungsorte in unmittelbarem Zusammenhang. Lediglich deren höherer Prozentsatz im Rußdorfer Beispiel mag der höheren Anziehungskraft des Dorfes geschuldet gewesen sein. Die Rückkehr zu alten Partnerwahlmustern nach dem Ende des Wirtschaftsaufschwungs im Ersten Weltkrieg unterstreicht deren latente Gültigkeit. Die Heiratsmobilität blieb prinzipiell unverändert, bewies aber festen Formen folgend Ansprechbarkeit auf sozioökonomische Wandlungen. In ihren westdeutschen Untersuchungsgebieten kommen Adler und Schmalz zu identischen Ergebnissen. Im Monschauer Land rekrutierten sich externe Brautleute im 19. Jahrhundert ebenfalls vornehmlich aus einem Umkreis von fünf Kilometern, wobei die Zuwanderung aus weiter entfernten Ortschaften proportional zum gesellschaftlichen Anteil hochgradig mobiler, d. h. vornehmlich besitzloser Gruppen zunahm. 560 Gleiches attestierte Adler für den Schwarzwälder Raum. Des Weiteren erkannte sie einen positiven Zusammenhang zwischen Realteilungspraxis und dem Anteil externer Hochzeiten, welche zusätzlich negativ proportional an die Größe bzw. das Wachstum einer Ortschaft gebunden sei. 561

560 561

Vgl. Schmalz, Familienrekonstitution, S. 91ff. Vgl. Adler, Demographie, S. 231ff.

6. STERBLICHKEIT

„Jeder Augenblick des Lebens ist [...] ein Schritt zum Tode, der nur des Lebens letzte Folge ist“ 562, konstatierte der französische Mediziner Joseph-Henri Réveillé-Parise (1782– 1852) treffend. Alles Leben wird wie durch die Geburt auch durch das Sterben begrenzt. Nicht umsonst zählt die Mortalität neben der Natalität und Nuptialität zu den grundlegenden Kenngrößen der Demographie, welche in der Bevölkerungswissenschaft durch Aggregation von Einzelschicksalen gelöster Daten über die Entwicklung einer Population Auskunft geben können. Erst durch die Kenntnis des Todes lassen sich zudem in Verbindung mit anderen personi zierten biographischen Variablen wichtige sekundäre Werte, allen voran die Lebensdauer, ermitteln. In der Familienrekonstruktion wird das Spektrum etwa um den Ehezeitraum oder die Dauer der Verwitwung etc. erweitert. Des Weiteren bietet die Examination des Sterbens in all seinen Facetten, d. h. unter Einbeziehung von Todesursachen und Beerdigung im Kontext des sozialen und ökonomischen Stands wertvolle Informationen zur Rekonstruktion von Lebensbedingungen und -risiken. Nachfolgend liegt der Fokus zunächst auf der allgemeinen Sterblichkeit. So wie Veränderungen der Bevölkerungsweise die Gestalt der Geburten- und Hochzeitskurve beein ussen, schlagen sie sich auch in der Sterbekurve nieder. Punktuelle Ausschläge oder anhaltende Niveauverschiebungen lassen daher unterschiedliche Rückschlüsse auf die demographische Entwicklung einer Gesellschaft zu. Obwohl sich die denkbaren Ursachen in lediglich zwei Gruppen teilen lassen, fällt die Rekonstruktion von Reaktionsketten ohne Kenntnis der Populationsgröße schwer. Der in kleinen Räumen wie den Untersuchungsorten teils erheblichen statistischen Unruhe ungeachtet, zeitigen qualitative und quantitative Änderungen einer Bevölkerung ähnliche Auswirkungen auf die Sterblichkeit. Ändert sich die Einwohnerschaft eines Gebiets, folgt daraus bei gleichbleibender Sterbeziffer ein entsprechend verändertes Sterbeaufkommen. Wenngleich üblicherweise langfristig orientiert, schließt dieser Zusammenhang einen zeitlich eng begrenzten Wirkungshorizont, etwa infolge außerordentlicher vorübergehender Migration oder kurzfristiger Schwankungen der Geburtenrate, nicht aus. Majorativ in kurzzeitigen Deviationen der Mortalitätsrate resultierende Gunst- oder Ungunstphasen können bei entsprechender Intensität konträr langwierige Effekte, zum Beispiel durch Übersterblichkeit nur einer Altersgruppe, auslösen. Aus Sicht der demographischen Forschung besitzt der Tod eine wichtige Zeigerfunktion existenzieller gesellschaftlicher Notsituationen. Vor allen Dingen die Sterblichkeit 562

Réveillé-Parise, Joseph-Henri, Lebenskunst für geistig beschäftigte Menschen, herausgegeben und übersetzt von Moritz Kalisch, Berlin 1835, S. 272.

240

STERBLICHKEIT

reagiert leicht und eindrücklich. Epidemien lassen die Mortalitätsrate selbst bei optimalen Behandlungsbedingungen nicht unbeein usst. Militärische Auseinandersetzungen verursachen ihrerseits oft nicht nur über unmittelbare Opfer, sondern ebenso durch immunologische Degeneration der Zivilbevölkerung infolge verschlechterter Lebensbedingungen einen Anstieg der Totenzahlen. Grundlegende Versorgungskrisen zeitigen je nach Schweregrad ähnliche Auswirkungen. Malthus begriff diese positiven Hemmnisse unter anderem als Ausdruck eines bestehenden Ungleichgewichts zwischen Bevölkerungszahl und Nahrungsspielraum infolge unkontrollierten übermäßigen Wachstums jener. 563 Für die vorindustrielle Zeit sind sogenannte schwarze Zacken, d. h. die Geburten übersteigenden Ausschläge der Sterbezahl, eindeutige Hinweise auf krisenhafte Ereignisse. Im Laufe des 19. Jahrhunderts und der Industrialisierung verschwanden diese charakteristischen Zeichen in Mitteleuropa nebst der klassischen Mortalitätskrise weitestgehend. Im Allgemeinen werden eine verlängerte durchschnittliche Lebenserwartung, eine exponentiell rückläu ge Säuglingssterberate sowie die gänzliche Ablösung offener Krisen zugunsten verdeckter, d. h. mit die Sterbeziffer nicht unterschreitender Geburtenziffer, als Begleiterscheinungen industrieller Entwicklung beschrieben. 564 Typisch ist zudem ein demographischer Übergang von Bevölkerungsweisen, womit eine Verringerung des Menschenumsatzes infolge massiv rückläu ger Geburten- und Mortalitätsraten einhergeht. 565 In Sachsen nahm die Zahl der Sterbefälle seit Beginn der jährlichen Erhebungen 1827 dem Bevölkerungswachstum entsprechend bis in die 1890er Jahre relativ kontinuierlich zu, erreichte 1897 einen Scheitelpunkt und el bis in die 1920er wieder auf das absolute Niveau der vorherigen Jahrhundertmitte. Parallel schwankte die Sterbeziffer bis in die 1880er Jahre meistenteils zwischen 26 und 30 Todesfällen auf 1000 Einwohner. Seit 1887 wies auch sie eine rückläu ge Tendenz auf. Am Ende des Untersuchungszeitraums lag die Mortalität im Freistaat nurmehr bei 10,5. 566 Unabhängig vom Verlauf der Sterbekurve durchlief der kollektive Umgang mit dem Ableben spätestens im 20. Jahrhundert auf der physischen wie der gedanklichen Ebene einen tiefgreifenden Wandel. Bis weit nach 1900 war der Tod nicht mehr oder weniger alltäglich, spielte sich aber im unmittelbaren Umfeld aller Lebenden ab, wodurch er ungleich greifbarer war. Vor Etablierung des heutigen groß ächigen Netzwerks medizinischer Einrichtungen wie Krankenhäuser, Hospize, Alten- und P egeheime etc. fanden P ege bei Krankheit oder im Alter sowie das Sterben selbst regelmäßig im gewohnten Lebensumfeld der Betreffenden statt. Gleichermaßen liefen die ersten Beerdigungsri-

563 564 565 566

Vgl. Malthus, Principle, S. 23ff. Vgl. Imhof, Einführung, S. 65ff. Vgl. Kernig, Und mehret euch?, S. 49ff. Vgl. Burkhardt, Bevölkerung, S. 29ff.

STERBLICHKEIT

241

ten wie Leichenwaschung und -herrichtung, Sarglegung oder Aufbahrung meist in der Wohnung des Verstorbenen ab. Die unvermeidliche Endlichkeit des Lebens wurde allen beteiligten Familien- und Haushaltsmitgliedern ungeachtet ihres Alters dadurch wiederholt schonungslos vorgeführt. Obgleich bestimmte Alters- und Berufsgruppen unzweifelhaft überproportionalen Sterberisiken unterlagen, konnte der Tod zugleich nicht nur theoretisch jedermann jederzeit treffen, sondern gestattete auch in der Praxis niemandem zu keinem Zeitpunkt seines Lebens Hoffnung auf Schonung. Nichtsdestotrotz wurde der Tod einschließlich der Verheißung eines von diesseitigen Handlungen beein ussten jenseitigen Nachlebens höchstwahrscheinlich als natürlicher Teil der Existenz akzeptiert. Jedes Gesellschaftsmitglied wurde von frühester Kindheit an, wenn nicht in unmittelbarem „praktischem“ Erleben, so doch in Wort, Bild und Schrift zumindest während des regelmäßigen Gottesdienstes in der Kirche mit der Endlichkeit des Irdischen konfrontiert. Daraus folgerte ein pragmatischer Umgang mit dem Sterben, der sicherlich gleichsam einen individuellen Schutzmechanismus gegenüber einer weitgehend unkontrollierbar anmutenden Lebenswelt darstellte. Offensichtlicher Ausdruck dessen war zum Beispiel die bei älteren Personen vielfach belegte Vorbereitung der eigenen Beerdigung ohne physische Indikation durch Anschaffung eines Sarges und der Totenkleidung 567 oder die ausdrückliche Ausbedingung der Beerdigungskosten als Teil des Angeldes bei Gutsverkäufen. Letzteres betraf vorrangig in den Auszug gehende Verkäufer, konnte aber durchaus auf andere bedürftige Familienmitglieder ausgeweitet werden. Exemplarisch verp ichtete sich Johann Michael Hopffer 1751 beim Kauf eines schuldenbeladenen Hauses in Rußdorf, die hinterlassene Witwe des Vorbesitzers einschließlich ihrer Kinder zwölf Jahre bei sich unentgeltlich wohnen zu lassen und dessen gebrechlichen Tochter, die 1759 verstarb, zeitlebens freie Herberge zuzugestehen sowie fünf Gulden Begräbnisgeld zu zahlen. 568 War der permanent drohende Tod dann tatsächlich eingetreten, bestimmten Stand, Ansehen, Vermögen und regionale Tradition über das Zeremoniell des letzten Weges. In allen Kulturen erfüllen Abschieds- bzw. Beerdigungsriten zweierlei Funktion: Zum einen tragen sie dem Leben des Verstorbenen mehr oder minder beschönigend öffentlich Rechnung, dienen zum Statussymbol sowohl des Verstorbenen als auch dessen Angehöriger und prägen im kollektiven sozialen Gedächtnis dessen Bild und Andenken. Andererseits sind sie ein zentraler Teil der Verlustbewältigung Hinterbliebener. Über die konkrete postmortale Verfahrensweise in den Untersuchungsorten geben die Quellen nur bedingt und beiläu g Auskunft. So bleiben die Vorgänge im Sterbehaus vollständig verborgen. Konvergenzen mit den überlieferten Bräuchen anderer deutscher Räume sind freilich anzunehmen. Für gewöhnlich wurde der daheim Verschiedene bzw. vom Todesort in seine Wohnung Verbrachte wahlweise von den nächsten Angehörigen 567 568

Vgl. Weber-Kellermann, Ingeborg, Landleben im 19. Jahrhundert, München 1987, S. 276. Vgl. ThStA Abg, Amtsgericht Altenburg, C I Loc. 1, Nr. 189, fol. 32.

242

STERBLICHKEIT

oder einer bestellten Leichenwäscherin gewaschen und zur Aufbahrung im trauernden Haushalt hergerichtet. Diese öffentliche Zurschaustellung erfolgte üblicherweise im offenen Sarg, wie der Beerdigungseintrag des Rußdorfer Pferdebauers Gottlieb Engelmann (1734–1782) indiziert: „s. Körper ging so schnell in Verwesung, dß. man ihn im Sarge nicht konnte sehen“ 569. Trauergästen wurde die Möglichkeit geboten, vom Toten von Angesicht zu Angesicht Abschied zu nehmen. Eine nächtliche Totenwache des engeren sozialen Umkreises schloss die Aufbahrung ab. 570 Die Beerdigung selbst fand in der Regel zwei bis drei Tage nach erfolgtem Ableben, aus hygienischen Gründen wochentagsunabhängig statt. Der Sarg, bei einfachen Leuten eine simple Holzkiste, wurde von den Angehörigen vernagelt bzw. geschlossen und den Sargträgern überantwortet. Vermögenden und hochgeachteten Persönlichkeiten bzw. deren Angehörigen leiteten Pfarrer und „Schule“ das Zeremoniell mit Chorgesang vor dem Sterbehaus ein und begleiteten den Leichenzug zum Friedhof. Dort folgten wahlweise eine „Altarrede“ vor der mehr oder weniger vollständig versammelten Gemeinde, eine Leichenpredigt oder die schlichte Aussegnung, unter Umständen mit Kollekte. Gesang am Grabe und Glockengeläut während der Grablegung konnten die Prozedur abrunden. Eine jede Leistung wollte entlohnt sein, weswegen erweiterte Beerdigungspraktiken vorrangig Erwachsenen oder Kindern wohlhabender Eltern zuteilwurden. Noch Anfang des 19. Jahrhunderts traten stille Beerdigungen und solche mit Leichenpredigt unabhängig vom Alter des Verstorbenen auf. Bestattungen bar eines Zeremoniells bildeten die Ausnahme. Binnen 50 Jahren vollzog sich in Bräunsdorf wie Rußdorf dahingehend ein deutlicher Wandel. Predigt, Abdankungsrede, Gesang und Geläut gerieten zu größtenteils den Erwachsenen reservierten Diensten, dieweil Segen mit Kollekte und insbesondere die Grablegung in der Stille nun überwiegend bei Kinderleichen Anwendung fanden. Eine außerordentliche Behandlung ausgewählter Persönlichkeiten wurde dagegen nicht länger praktiziert. Grundsätzliche Konstanten bildeten neben den Riten an sich allerdings die auf das zeremonielle Mindestmaß reduzierten Beerdigungen von Totgeborenen, Ortsfremden und armen Leichen ohne nahe Angehörige. Gleichermaßen mussten Selbstmörder mit einer de facto heimlichen Bestattung auf gesondertem Areal am Rande des Gottesackers vorliebnehmen. 571 Hingerichtete wurden traditionell am Richtort zu Abschreckungszwecken offen der Verwesung preisgegeben (17. Jahrhundert) oder alternativ der medizinischen Forschung überantwortet (18. Jahrhundert).

569 570 571

EPA Rußdorf, KB I, Beerdigungsregister 1782, Nr. 10. Vgl. Weber-Kellermann, Landleben, S. 276f. Vor dem 17. Jahrhundert wurde Selbstmördern in der Region ein Platz auf dem Gottesacker offenbar gänzlich verweigert. Siehe hierzu: „Anna Wolff Pfawens weib ist den 16 Augusti früe auff gestanden und [...] sich untern bei edelhoff in teich ohn alle Ursachen erseuffet, darinnen den ersten tag hora 3 a meridie gefunden wordenn und folgendes Sontags auch noch darinnen geblieben, und den 18 eiusdem von Hencker zu Penigk herrauß gezogen, auff den gemeine Viehweg ubern Dorffe begraben wordenn.“ – EPA Kaufungen, KB I, Beerdigungsregister 1600, Nr. 14.

ENTWICKLUNG DER STERBEZAHLEN

243

Neuerliche Änderungen der Beerdigungspraxis stellten sich seit dem Ersten Weltkrieg ein. Neben die klassischen Erdbestattungen traten nach Inbetriebnahme des Chemnitzer Krematoriums 1906 seit den späten 1920er Jahren erste Einäscherungen mit anschließender Urnenbeisetzung im Heimatort oder auf dem Städtischen Friedhof Chemnitz. Deutlich früher hielten „moderne“ Sterbeorte im dörflichen Raum Einzug. Vereinzelte Todesfälle im Stadtkrankenhaus zu Limbach wurden ab 1869 572 beurkundet, nach 1900 erweiterten das Landeskrankenhaus Altenburg, das Königliche Krankenstift in Zwickau, die Stadtkrankenhäuser in Chemnitz und Penig sowie das Bezirkskrankenhaus zu Rabenstein das Spektrum. Trotzdem stellten Sterbefälle von Rußdorfern und Bräunsdorfern in Einrichtungen des Gesundheitswesens auch am Ende des Untersuchungszeitraums die Ausnahme dar. Alters- und P egeheime spielten desgleichen vor 1935 für die lokale Bevölkerung kaum eine Rolle.

6.1 ENTWICKLUNG DER STERBEZAHLEN Rußdorf Im Unterschied zur Entwicklung der örtlichen Hochzeitszahlen spiegelt die Rußdorfer Sterblichkeits- den Verlauf der synchronen Geburtigkeitskurve langfristig in wesentlichen Grundelementen. Allein dies deutet auf eine enge Kopplung von Mortalität und Natalität, bedingt durch hohe Säuglingssterberaten, hin. Die Rußdorfer Beerdigungsregister geben über 9387 zwischen dem 1. Januar 1582 und dem 31. Dezember 1935 verstorbene bzw. begrabene Personen Auskunft. In Anlehnung an die im späten 19. Jahrhundert explodierende Bevölkerungszahl sind die Fälle sehr ungleich über die betrachtete Zeit verteilt. So starben in den drei Dekaden höchster Totenzahlen 1880–1909 (8,33% des UZ) allein 29,85 Prozent (2803) aller verzeichneten Personen, ebenso viele wie zwischen 1582 und 1819 (66,67% des UZ). Dementsprechend betrug die Zunahme der Beerdigungszahl vom 17. zum 18. Jahrhundert 129,55 Prozent und überstieg die Kohortengröße des 19. Jahrhunderts jene des vorangegangenen nochmals um beinahe das Zweieinhalbfache. Die nach Dekaden zusammengefassten Zahlen zeichnen in Tabelle 25 ein differenzierteres Bild der Entwicklung. Auf vergleichsweise hohe Werte im ausgehenden 16. Jahrhundert folgt jene an den Geburtenzahlen bereits beobachtete Wanne des 17. Jahrhunderts mit Normwerten von 45–65 pro Kohorte. Lag dem ein Wandel der Bevölkerungsweise zugrunde, betraf er wahrscheinlich das generative Verhalten. Gemessen am quantitativen Verhältnis zwischen Geburten- und Sterbefällen – diese machten bis in die 1690er üblicherweise zwischen 55 und 70 Prozent jener aus – fand keine Verän572

Die 62-jährige Bräunsdorferin Hanne Eleonore Sonntag starb als erste Person aus den Untersuchungsorten nachweislich in einem Krankenhaus. – Vgl. EPA Bräunsdorf, KB VI, Beerdigungen 1869, o. Nr.

244

STERBLICHKEIT

Tabelle 25: Rußdorfer Sterbefälle nach Dekadenkohorten Beerdigungen (1580) 1582–1589 1590–1599 1600–1609 1610–1619 1620–1629

Wachstum

0,68 % 0,82 %

55 49

0,59 % 0,52 %

–28,57 % –10,91 % 77,55 %

20,31 % (–3,75 %)1

87

0,93 %

129

1,37 %

48,28 %

57 41 50

0,61 % 0,44 % 0,53 %

–55,81 % –28,07 % 21,95 %

65 45

0,69 % 0,48 %

30,00 % –30,77 %

65 81 100 96

0,69 % 0,86 % 1,07 % 1,02 %

44,44 % 24,62 % 23,46 % –4,00 %

104 129

1,11 % 1,37 %

8,33 % 24,04 %

142 207

1,51 % 2,21 %

10,08 % 45,77 %

195 174 248

2,08 % 1,85 % 2,64 %

–5,80 % –10,77 % 42,53 %

266

2,83 %

7,26 %

277 272 312

2,95 % 2,90 % 3,32 %

4,14 % –1,81 % 14,71 %

414 431 489

4,41 % 4,59 % 5,21 %

32,69 % 4,11 % 13,46 %

590 925

6,29 % 9,85 %

20,65 % 56,78 %

1890–1899 1900–1909 1910–1919

1030 848

10,97 % 9,03 %

11,35 % –17,67 %

657

7,00 %

–22,50 %

1920–1929

395

4,21 %

–39,88 %

1930–1935

221

2,35 %

–44,05 %

1630–1639 1640–1649 1650–1659 1660–1669 1670–1679 1680–1689 1690–1699 1700–1709 1710–1719 1720–1729 1730–1739 1740–1749 1750–1759 1760–1769 1770–1779 1780–1789 1790–1799 1800–1809 1810–1819 1820–1829 1830–1839 1840–1849 1850–1859 1860–1869 1870–1879 1880–1889

1

prozentualer Anteil

64 (80)1 77

Hochrechnung durch entsprechende Addition des Durchschnittswertes der Kohorte.

ENTWICKLUNG DER STERBEZAHLEN

245

derung statt. Eine derart konstante Bindung ohne zeitlichen Versatz funktioniert einzig über eine relativ statische Säuglingssterblichkeit. Tatsächlich gingen die durchschnittlichen Familiengrößen während des 17. Jahrhunderts zurück (Kap. 7.1). Vier Jahrzehnte zeigen jedoch abweichende Formen. In den 1640er und 1670er Jahren wurde das sonst übliche Verhältnis in einer Angleichung ad absurdum geführt, obwohl die Sterbekohorten nicht von der Wannennorm abwichen. Von 1670–1679 starben gar mehr Menschen als geboren wurden. Gleiches geschah während der 1620er und 1630er Jahre. Allerdings zeichnete dafür eine anormale, krisenbedingte Vermehrung der Sterbefälle bis hin zu ihrer Verdopplung verantwortlich. Eine Wiederholung dessen blieb bis zum Ende des Untersuchungszeitraums aus. Dennoch näherte sich die Totenzahl jener der Geburten soweit an, dass sie zwischen 1700 und 1879 pro Dekade im Durchschnitt 80 Prozent dieser betrug. Nachdem die Wanne des 17. Jahrhunderts am Beginn des 18. ausgelaufen, d. h. das absolute Niveau der 1580er wieder erreicht war, stagnierten die Werte in den 1710er bis 1730er Jahren. Ein anschließender Anstieg gleicher Dauer korreliert vielleicht mit dem parallel starken Wachstum der unteren Mittelschicht (Kap. 8.1). Der nachfolgende 20-jährige Sterblichkeitsrückgang steht der These freilich entgegen. Beginnend in den 1790er Jahren durchzog das 19. Jahrhundert eine nahezu ungebrochene Zunahme mit mehreren Zeiträumen massiver Anstiege in den 1840er, 1870er und 1880er Jahren. Auf den quantitativen Höhepunkt während der 1890er folgte eine noch steilere Regression auf das Niveau des späten 18. Jahrhunderts bei gleichzeitig weiter wachsender Bevölkerungszahl. Selbst die Folgen des Ersten Weltkrieges vermochten den Prozess nicht zu bremsen. Im selben Zeitraum vergrößerte sich der Abstand zwischen den Geburtenund Totenzahlen wieder hin zu ihrem vormaligen, spätmittelalterlichen Verhältnis. Ein Blick auf die im Ganzen gleichförmige Entwicklung der jährlichen Sterblichkeit dient vor allem der Darstellung kurzfristiger Veränderungen. Die Ursachen der aus dem Rahmen schlagenden Größe einiger Dekadenkohorten lassen sich daran ermessen, ein eventueller Prozesscharakter derselben ersehen. Zwangsläu g unterliegen die Jahreswerte heftigen Schwankungen. Den geringen Fallzahlen geschuldet, sind positive und negative Ausschläge um bis 50 Prozent gegenüber dem Vorjahreswert der normalen statistischen Unruhe zuzurechnen. Desgleichen können solche um bis zu 100 Prozent ob ihrer Häu gkeit nicht automatisch zum Indikator einer besonderen demographischen Gunst- oder Ungunstphase dienen. Unter Berücksichtigung der vorigen Betrachtungen kann der Verlauf der Rußdorfer Sterblichkeit über den Untersuchungszeitraum in vier Abschnitte unterteilt werden. Deren erster umfasst die beiden nalen Jahrzehnte des 16. Jahrhunderts. Sein im Vergleich zur zweiten Periode erhöhtes Werteniveau wird in erster Linie an den Dekadenkohorten ersichtlich. Die nachfolgende Phase im Allgemeinen einstelliger jährlicher Zahlen überspannt das gesamte 17. Jahrhundert und wird durch ihre tendenzielle Wannenform mit einer Talsohle in den 1650er Jahren charakterisiert. Mehrfach überstiegen Maxima in dieser Zeit die gleichzeitige Geburtenzahl. Das Sterbeaufkommen 1620, 1628, 1643,

246

STERBLICHKEIT

Abbildung 32: Jährliche Rußdorfer Sterbezahlen und Leipziger Roggenpreisindex 1582–1799 Vgl. Rahlf, Getreidepreise.

1664, 1676, 1694 und 1709 deutet in dieser Weise auf Mortalitätskrisen hin. Zwei Gipfel 1633 (38) und 1639 (39) durchbrachen den Normalzustand derart massiv, dass sie mit Sterbeziffern von ca. 152 statt der üblichen 24 pro 1000 Einwohner zu Buche schlugen. Mit ebenfalls überdurchschnittlicher Sterblichkeit im jeweiligen Folgejahr sowie auffallend wenigen Todesfällen während des zweiten Anschlussjahres tragen beide Spitzen unverkennbare Zeichen schwerer Systemkrisen. Derartige Fälle blieben auch in der dritten, von den 1710ern bis in die 1820er Jahre reichenden Periode nicht aus. Mäßige „schwarze Zacken“ treten in den Jahren 1719, 1721, 1794, 1800, 1806 und 1814 zu Tage. Desgleichen überstieg eine Mortalitätsspitze 1824 die Natalität, nicht jedoch die Konzeptionszahl. Zwei weitere unzweifelhaft krisenbedingte Fälle extremer Übersterblichkeit 1761 und 1772 gingen wie ihre Vorgänger in den 1630ern mit geringeren im Folgejahr sowie durchschnittlichen bis unterdurchschnittlichen Zahlen im dritten Jahr einher. Die Besonderheit des Abschnitts liegt, verglichen mit dem vorangegangenen, in seinem langfristigen, tendenziell linearen Wachstum. Während der abschließenden vierten Phase nahm dieses unter teils starken Schwankungen exponentielle Formen an. Nachdem der vorläu ge Gipfelwert von 1639–1761 Geltung gehabt hatte und jener des Jahres 1772 erst 1869 überboten worden war, bereiteten erneute Sterbespitzen 1882 (102) und 1886 (122) das absolute Maximum von 1891 mit 132 Sterbefällen vor, in dem das anhaltende Wachstum sein Ende fand. Gleichzeitig stieg die Sterberate, welche während des 18. Jahrhunderts die Grenze von 30 Personen pro Jahr und 1000 Einwohnern überschritten hatte, auf bis zu 40 und in den 1880ern im Mittel auf rund 52 an. Ganz den Spezi ka eines demographischen Übergangs entsprechend, gingen die jährlichen Totenzahlen nach 1891 in einen

ENTWICKLUNG DER STERBEZAHLEN

247

Abbildung 33: Rußdorfer Sterbe- und Geburtenzahlen 1800–1935

bis in die 1930er Jahre reichenden Schrumpfungsprozess über. Bereits in den „Goldenen Zwanzigern“ war in absoluten Zahlen der Stand der vorherigen Jahrhundertmitte erreicht, freilich bei vervierfachter Gesamtbevölkerung Rußdorfs. Am Ende des Untersuchungszeitraums lag die Mortalitätsziffer nurmehr bei fünf bis sechs. Wird die seit dem Spätmittelalter bestehende Bindung der Sterblichkeit an die Geburtigkeit bedacht, erscheint die Glockenkurve der vierten Periode folgerichtig. Nicht aus dieser Orientierung lässt sich hingegen das zweite zentrale Merkmal des letzten Abschnitts erklären. „Offene Krisen“ fehlen in seiner Zeit völlig. Zudem schwächte sich der Wirkungsgrad eventueller krisenhafter Erscheinungen in Anbetracht ihrer relativ zur Standardmortalität verringerten Sterbequoten fortschreitend dezidiert ab. Sofern schwere Notzeiten nach 1850 im Untersuchungsgebiet auftraten, hinterließen sie nicht länger unverkennbare Signaturen in der Mortalitätskurve. Lediglich der Erste Weltkrieg motivierte durch zahlreiche Gefallene eine nochmals an die Krisen alten Typs gemahnende Übersterblichkeit und „schwarze Zacken“ 1915–1918. Bräunsdorf Gleich dem Rußdorfer Beispiel entsprach im Bräunsdorfer Fall die Verlaufsform der Mortalitäts- jener der Natalitätskurve langfristig ohne zeitlichen Versatz weitestgehend, sodass auch hier von einer Kopplung von Geburtigkeit und Sterblichkeit über die Säuglingsmortalität auszugehen ist. Die Gesamtzahl der zwischen 1641 und 1935 überlieferten Bräunsdorfer Todesfälle beläuft sich auf 5404. Obwohl ebenfalls uneinheitlich über den Untersuchungs-

248

STERBLICHKEIT

zeitraum gestreut, steht deren Verteilungsmuster in keinem Vergleich zum Rußdorfer. Exemplarisch erscheint die örtliche Wachstumsrate über 120,74 Prozent vom 18. zum 19. Jahrhundert relativ moderat. 573 Gemäß der ursprünglich höheren Bevölkerungszahl Bräunsdorfs lag die dortige Bestattungszahl anfänglich über jener Rußdorfs. Dieses Verhältnis blieb bis zum Ende des 17. Jahrhunderts bestehen, kehrte sich 1700–1719 erstmals um und erfuhr ab den 1740er Jahren eine endgültige Wandlung. Danach unterlag die Differenz der Sterbezahlen beider Orte einer steten Vergrößerung. In der Folge zeigte Bräunsdorf eine deutlich achere Mortalitätskurve und ein weitaus weniger schwankendes Mengenverteilungsmuster. Sicherlich verschieden in der Phase der höchsten absoluten Sterblichkeit 1860–1909 mehr Personen (1816) als zwischen 1641 und 1799 (1734), jedoch kam dies den Rußdorfer Verhältnissen nicht nahe. Zu Dekadenkohorten aggregiert (Tab. 26), beschreiben die Bräunsdorfer Totenzahlen beinahe seit Überlieferungsbeginn eine sanfte Aufwärtsbewegung. Dennoch deutet sich die im Rußdorfer Beispiel beschriebene charakteristische Wanne des 17. Jahrhunderts an. Unklar bleibt, da das vorherige Sterbeaufkommen im Dunkeln liegt, ob ihr Ende bereits in den 1670er oder erst in den 1710er Jahren anzusetzen ist. Mit ihrer starken Annäherung an die gleichzeitige Geburtenzahl – 50–65 Prozent entsprachen der Normalität, 93 bzw. 81 Prozent wurden erreicht – muss die erhöhte Mortalität der 1670er und 1690er Jahre im Verdacht stehen, krisenbedingt gewesen zu sein. Die Menge der Sterbefälle in den 1680er, 1700er und 1710er Jahren trüge zudem als ursprünglicher Standard der höheren Bräunsdorfer Bevölkerungszahl nicht Rechnung. In Anlehnung an das Geburtigkeitsverhältnis der Untersuchungsorte sollte Bräunsdorf Ende des 17. Jahrhunderts eine bei etwa 100 Personen pro Kohorte liegende Normsterblichkeit aufgewiesen haben. Bereits im dritten Jahrzehnt wird das absolute Minimum des gesamten Untersuchungszeitraums markiert. Es folgt, in Begleitung der wachsenden Bevölkerung, eine anhaltende wellenförmige Zunahme der durchschnittlichen Kohortengröße. An einen stärkeren Niveausprung schließen regelmäßig Dezennien niedrigerer oder gleichartiger Werte an, bevor ein neuerlicher Spitzenwert erreicht wird. In der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts (1750/1760er) lösen zwei vorläu ge Sterblichkeitsgipfel einander erstmals unmittelbar ab. Insgesamt verharrte das Sterbeaufkommen zwischen 1720 und 1789 bzw. 1790 und 1849 jeweils auf einem Stand mit geringer Vermehrungsrate. Mit der fünften Dekade des 19. Jahrhunderts setzte ein ununterbrochener linearer Wachstumsprozess ein, der nach einem keineswegs sonderlich herausstechenden Schub (+29,50 %) in den 1880er Jahren seinen sowie den absoluten Höhepunkt (439) erklomm.

573

Gleiches steht für das Verhältnis der Werte des 17. und 18. Jahrhunderts anzunehmen. Laut Hochrechnung auf Basis der Relation zwischen Rußdorfer und Bräunsdorfer Zahlen 1641–1699 sowie der Rußdorfer Werte 1600–1640 sollten in Bräunsdorf 1600–1640 etwa 467 Personen zu Grabe getragen worden sein. Daraus ergäbe sich ein lokales Totenzahlenwachstum um lediglich 44,82 Prozent.

249

ENTWICKLUNG DER STERBEZAHLEN

Tabelle 26: Bräunsdorfer Sterbefälle nach Dekadenkohorten Beerdigungen (1640) 1641–1649

2

prozentualer Anteil1

Wachstum

62 (69) 55

1,15% (1,06 %) 1,02% (0,94 %)

54 86

1,00% (0,92 %) 1,59% (1,46 %)

–1,82 % 59,26 %

78

1,44% (1,33 %)

–9,30 %

97

1,79% (1,65 %)

24,36 %

74 77 130

1,37% (1,26 %) 1,43% (1,31 %) 2,41% (2,21 %)

–23,71 % 4,05 % 68,83 %

114 103

2,11% (1,94 %) 1,91% (1,75 %)

–12,31 % –9,65 %

139 178 149 143

2,57% (2,37 %) 3,29% (3,03 %) 2,76% (2,54 %) 2,65% (2,44 %)

34,95 % 28,06 % –16,29 % –4,03 %

195 215

3,61% (3,32 %) 3,98% (3,66 %)

36,36 % 10,26 %

216 195

4,00% (3,68 %) 3,61% (3,32 %)

0,47 % –9,72 %

205 233 297

3,79% (3,49 %) 4,31% (3,97 %) 5,50% (5,06 %)

5,13 % 13,66 % 27,47 %

309

5,72% (5,26 %)

4,04 %

339 439 426

6,27% (5,77 %) 8,12% (7,48 %) 7,88% (7,26 %)

9,71 % 29,50 % –2,96 %

1910–1919 1920–1929

303 240 169

5,61% (5,16 %) 4,44% (4,09 %) 3,13% (2,88 %)

–28,87 % –20,79 % –29,58 %

1930–1935

84

1,55% (1,43 %)

–50,30 %

1650–1659 1660–1669 1670–1679 1680–1689 1690–1699 1700–1709 1710–1719 1720–1729 1730–1739 1740–1749 1750–1759 1760–1769 1770–1779 1780–1789 1790–1799 1800–1809 1810–1819 1820–1829 1830–1839 1840–1849 1850–1859 1860–1869 1870–1879 1880–1889 1890–1899 1900–1909

1

Die Anteile am extrapolierten Gesamtwert von 5871 Sterbefällen sind kursiv gehalten.

2

Extrapolation durch entsprechende Addition des Durchschnittswertes der Kohorte.

–11,29 % (–20,29 %)2

Zwar starben 1890–1899 nur marginal weniger Bräunsdorfer ( – 2,96 %), doch setzte bereits damals eine kontinuierliche, das lokale Sterbegeschehen des frühen 20. Jahrhunderts bestimmende lineare Schrumpfung ein. Schon in den 1920er Jahren verzeichneten die Personenstandsregister trotz verdoppelter bis verdreifachter Bevölkerungszahl weniger Sterbefälle als 1790–1799. Die im Ganzen unstete Verlaufsform der Bräunsdorfer Mortalitätskurve offenbart en détail eine noch verstärkte jährliche Unruhe. Dennoch nehmen die Schwankungen prozentual keine größeren Ausmaße als in Rußdorf an. 50-prozentige Abweichungen

250

STERBLICHKEIT

Abbildung 34: Jährliche Bräunsdorfer Sterbezahlen und Leipziger Roggenpreisindex 1640–1799 Vgl. Rahlf, Getreidepreise.

Abbildung 35: Bräunsdorfer Sterbe- und Geburtenzahlen 1800–1935

von der Standardsterblichkeit treten regelmäßig auf und 100-prozentige sind ebenfalls häu g genug, um ihnen eine unbedingte Krisenindikation zuzusprechen. Die Bräunsdorfer Mortalitätsentwicklung durchwanderte drei in der vorstehenden Analyse bereits angedeutete Perioden. Auf die anfängliche, regionaltypisch agrargesellschaftliche demographische Statik wurde bereits mehrfach hingewiesen. Auch die Bräunsdorfer Totenzahlen tragen zunächst deren Merkmale. Der erste Kurvenabschnitt

ENTWICKLUNG DER STERBEZAHLEN

251

bis 1717, die Wanne des 17. Jahrhunderts, ist von dieser langfristig gesehen hohen quantitativen Stabilität gekennzeichnet. Unter zehn Sterbefälle verzeichneten die Beerdigungsregister in vier Fünfteln der primären 77 Jahre. Nur 14 Jahreswerte gingen mit leicht erhöhter Sterblichkeit von maximal 19 Toten darüber hinaus, wovon lediglich sechs (1641, 1666, 1676, 1685, 1695, 1697) mit „schwarzen Zacken“ überhaupt eine außergewöhnliche Ursache vermuten lassen. Eindeutig mittels exorbitant hoher Sterbezahlen auf Mortalitätskrisen hinweisende Ereignisse blieben in der ersten Periode aus und auch in den nachfolgenden eine Seltenheit. Mit dem zweiten, bis in die 1830er Jahre reichenden Abschnitt setzten sich zuerst jährliche Totenquantitäten zwischen zehn und 20 und seit den 1790ern zwischen 20 und 30 als Norm durch. Indizien krisenbedingter Übersterblichkeit liefern die einerseits signi kant aus dem Rahmen schlagenden, andererseits typischerweise von unterdurchschnittlichen Werten abgelösten und die gleichzeitige Geburtigkeit überragenden Sterbeaufkommen der Jahre 1733, 1741, 1751, 1767, 1772/1773, 1806, 1814 und 1822. Disparat zum Rußdorfer Beispiel zeigen die mutmaßlichen Mortalitätskrisen auch in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts keine relevante Wirkungsverringerung. Im Gegenteil stellt die Spitze 1806 sämtliche überlieferten Sterblichkeitsgipfel der vorangegangenen Jahre absolut wie relativ in den Schatten. Noch 1857 ließ ein ähnlich starker Ausschlag die zeitgleiche Geburtenzahl, wenngleich in geringerem Ausmaß und von einer höheren Standardmortalität ausgehend, hinter sich. Der nale Abschnitt der Bräunsdorfer Sterbekurve zeigt nach 1857 ebenfalls, so vorhanden, nurmehr verdeckte Krisen. Lediglich die kaum aus dem Rahmen schlagende Übersterblichkeit des Ersten Weltkrieges ging nochmals über das Geburtenaufkommen hinaus. Eine unter starken Schwankungen tendenziell glockenförmige Entwicklung ist das zentrale Charakteristikum der Industrialisierungszeit. In den 1840er Jahren beginnend, stieg das Sterbeaufkommen langfristig kontinuierlich bis zu einem Scheitelpunkt 1887, der dieselbe Höhe wie der Krisengipfel 1806 erreichte, an. Parallel nahm die seit Mitte des 18. Jahrhunderts durchschnittlich bei ca. 30–35 Toten pro 1000 Einwohnern jährlich liegende Mortalität in den 1880ern auf rund 41 zu. Nach einer bis zur Jahrhundertwende währenden relativen Stagnation der Totenzahl trotz Bevölkerungsvermehrung folgte eine rasche Regression derselben auf den Stand des 18. Jahrhunderts in den 1930er Jahren. Die Mortalitätsrate el auf einen historischen Tiefstand von rund sechs ab. Zusammenfassung Die Sterblichkeitsentwicklung nahm in Rußdorf und Bräunsdorf vergleichbare Formen an. Quantitative Differenzen sind in erster Linie natürliche Folge unterschiedlicher Populationsgrößen und divergierende Wachstumsfaktoren zeugen vor allem von ungleicher Bevölkerungsentwicklung. Übereinstimmungen herrschen hingegen in der grundsätzlichen Entwicklungstendenz bzw. hinsichtlich Ausgangslage und Endsituation sowie den durchlaufenen Phasen. Anfangs bestimmten typisch vorindustriell-agrarge-

252

STERBLICHKEIT

Abbildung 36: Sterbezahlen nach Dekaden für Sachsen, Rußdorf und Bräunsdorf im Vergleich

sellschaftlich hohe Mortalitätsraten (ca. 25), wiederkehrende Übersterblichkeitsphasen und eine relativ konstante Durchschnittsmortalität das Sterbegeschehen. Beide Ortschaften erlebten steigenden Güterzahlen und der daraus ableitbaren mutmaßlichen Zunahme der Einwohnerschaften zum Trotz, gleichwohl in Parallelität zur Natalitätsund Nuptialitätskurve, eine anhaltende Niveauminderung des durchschnittlichen Sterbeaufkommens im 17. Jahrhundert. Das 18. Jahrhundert und die erste Hälfte des 19. Jahrhunderts durchlief ein tendenziell lineares langfristiges Wachstum der Totenzahlen, beiderseits in Korrelation mit einer begleitenden, schrittweise vollzogenen Aufstockung zuerst der dörflichen Mittelschicht und nach 1800 auch der Unterschicht. Hierbei zeigt die altenburgische Exklave gemäß ihrer stärkeren Bevölkerungszunahme die höheren Vermehrungssätze. Dessen ungeachtet ist in beiden Orten Mitte des 18. Jahrhunderts ein Zuwachs der Sterbeziffer zu beobachten. Dieser geht, damit nochmals die enge Bindung von Mortalität und Natalität unterstreichend, mit einem synchronen Anstieg der Geburtenziffer sowie der Säuglingssterblichkeit konform. Signi kante Unterschiede der Graphen bleiben auf das 19. Jahrhundert beschränkt. Zum einen erlebte Rußdorf eine deutlich frühere Wirkungsabschwächung potentieller Mortalitätskrisen. „Schwarze Zacken“ büßen nach 1772 stark an Ausdruckskraft ein und treten seit den 1820ern nicht mehr auf. Dagegen entfällt deren herausragendes Exemplar in Bräunsdorf auf das Jahr 1806 und sind offene Krisen dort bis in die 1850er Jahre nachweisbar. Zum anderen durchlief die Rußdorfer Totenzahl zwischen der Jahrhundertmitte und ihrem Scheitelpunkt 1891 ein tendenziell exponentielles Wachstum, diejenige Bräunsdorfs bis 1887 lediglich ein lineares, beide unter Orientierung an der Natalitätskurve. Das ebenso unterschiedliche Bevölkerungswachstum der Industriali-

KRIEGE, HUNGER UND SEUCHEN

253

sierungsperiode nahm demgegenüber nur geringen Ein uss auf die differierenden Vermehrungssätze, wie der deutlich stärkere Anstieg der durchschnittlichen Mortalitätsrate in Rußdorf beweist. Von rund 52 bzw. 41 jährlichen Todesfällen pro 1000 Einwohnern auf ihrem Höhepunkt in den 1880er Jahren – auf ihren Scheitelpunkten war sie in beiden Fällen mit ca. 50 Promille tatsächlich nahezu identisch – el die Sterbeziffer hingegen bis zum Ende des Untersuchungszeitraums auf ein gleiches, historisch gesehen extrem niedriges Niveau von fünf Promille. Im Vergleich mit Sachsen zeigen die Untersuchungsorte seit 1830 eine tendenziell analoge Entwicklung. Jedoch begannen deren Mortalitätsraten ihren massiven Anstieg auf einem deutlich höheren Niveau und beschlossen ihre Regression auf merklich niedrigerem. Die sächsische Kurve fügt sich indes, wie Abbildung 36 zeigt, im Mittelfeld ein. Den Rußdorfer Fall kennzeichnet nach 1870 ein weitaus steilerer, den Bräunsdorfer ein sichtlich abge achter Verlauf. Typische Merkmale eines demographischen Übergangs während der Hochindustrialisierung tragen alle drei Graphen.

6.2 KRIEGE, HUNGER UND SEUCHEN Im vorangegangenen Kapitel konnte gezeigt werden, dass die Sterblichkeitsentwicklung der Untersuchungsorte insgesamt einem für die industrialisierenden europäischen Gesellschaften charakteristischen Muster folgte, dessen Kernelement ein Übergang der Bevölkerungsweisen im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert darstellte. Als nicht weniger typische Begleiterscheinung der Industrialisierungszeit gilt das Verschwinden offener Krisen. Letztlich auf breite Bevölkerungsteile tödlich wirkende Versorgungskrisen verloren in der agrarökonomischen Professionalisierung und der Beschleunigung des überregionalen Handels und Warenverkehrs ihre Angriffs äche, Krankheiten wichen – die Gewichtung der Faktoren ist in der Forschung umstritten – einem steigenden Lebensstandard, dem medizinisch-technischen Fortschritt und einer Hebung des allgemeinen Hygienestandards. 574 Um eine Einschätzung der Situation und des Wandels in den Untersuchungsorten zu ermöglichen, werden nachfolgend zunächst bekannte, im Limbacher Land nachgewiesene krisenhafte Ereignisse auf ihre Wirkung bzw. die festgestellten „schwarzen Zacken“ als Krisenindikatoren auf ihre Ursachen hin untersucht. Die drei maßgebenden Krisentypen und repressiven Populationsregulatoren nach Malthus nehmen potentiell unmittelbar positiv auf die Sterblichkeit Ein uss. In ihrer Letalität begünstigen sie sich gegenseitig, woraus einerseits kumuliert höhere Sterbezahlen folgern können, andererseits aber ihre Abgrenzbarkeit erschwert wird. Letztendlich entscheidet die Quellenqualität, ob Kausalketten zuverlässig rekonstruierbar sind. Erst eine 574

Vgl. Ehmer, Bevölkerungsgeschichte, S. 86ff.

254

STERBLICHKEIT

lokal nachgewiesene Ursache weist den einzelnen Todesfall einem auslösenden Ereignis zu und identi ziert kurzfristige krisenbedingte Übersterblichkeit mit letzter Sicherheit. Den geringsten direkt an den Todeszahlen ablesbaren Wirkungshorizont sollten Teuerungen und Subsistenzkrisen zeigen. Obgleich Hunger zu Recht Furcht gebiert, führt Mangelernährung selbst nur sehr langsam zum Tod. Wohl mündet unzureichender oder einseitiger Nahrungsmittelkonsum über einen längeren Zeitraum in immunologischer wie physiologischer Degeneration, wodurch Mangelerkrankungen und Infektionskrankheiten begünstigt werden. Bei schlechtem körperlichem Allgemeinzustand entfalten gar im Grunde harmlosere „Alltagskrankheiten“ eine tödliche Wirkung. Das typischerweise bei schweren Subsistenzkrisen erfolgende Ausweichen auf wenig nahrhafte, schlecht verdauliche, teils in großen Mengen schadende Ersatzmittel wie Wurzeln, Gräser, Kräuter, Blätter oder unkonventionelle Waldfrüchte bzw. der Genuss verdorbener oder im Regelfall für ungenießbar geltender „normaler“ Nahrung fördert die Infektionsgefahr zusätzlich. 575 Jean Meuvret attestierte 1946 nicht umsonst für die Region Dijon des späten 17. sowie des 18. Jahrhunderts unter anderem einen ursächlichen Zusammenhang zwischen Getreidepreis- und Mortalitätsentwicklung, der in simultanen Höchstständen seinen Ausdruck fand. 576 In den Untersuchungsorten ist eine derartige Korrespondenz gleichwohl nicht offensichtlich. Verglichen mit den Leipziger Roggenpreisen bis 1800 bzw. den Roßwitzern des 19. Jahrhunderts durchlief die Rußdorfer und Bräunsdorfer Sterblichkeit oft zeitlich divergierende Höhen und Tiefen. Wiederholt, zum Beispiel 1622, 1633, 1651, 1684, 1693, 1713, 1748, 1756, 1771, 1794, 1799 oder 1849, standen sich momentane Minima und Maxima konträr gegenüber. Exakt oder marginal um ein Jahr versetzt synchrone Preis- und Mortalitätsspitzen traten ähnlich häu g auf. (1638/39, 1675/1676, 1703/1704, 1719, 1724, 1740, 1762, 1771/1772, 1806, 1810, 1846/1847, 1855, 1862, 1873, 1891). Ein unmittelbarer Zusammenhang ist aus diesen Korrelationen nicht ableitbar, zumal nicht jede Teuerung in grassierender Not mündete, welche darüber hinaus nie ächendeckend mit einheitlicher Intensität wirkte. Unter den Jahren paralleler Höchststände sind wenige für das Untersuchungsgebiet und dessen nähere Umgebung überhaupt als von der Bevölkerung empfundene außergewöhnliche wirtschaftliche Notzeiten quellenmäßig belegt (1762, 1771/1772, 1806, 1810, 1855). Andere dort zweifelsohne spürbare Teuerungskrisen gingen mit keiner übermäßig vermehrten Sterblichkeit einher. Exemplarisch verzehnfachte sich der Getreidepreis Anfang der 1620er Jahre 577, der Kaufunger Gerichtsschreiber vermerkte 1624 unikalisch ein „theures Jahr“ 578 und eine daselbst ansässige 27-jährige gebrechliche Jungfrau wurde im Juni des Jahres faktisch 575 576 577 578

Vgl. Imhof, Einführung, S. 44. Vgl. Meuvret, Jean, Les crises de subsistances et la démographie de la France d'Ancien Régime, in: Population: revue bimestrielle de l'Institut National d'Études Démographiques, Bd. 1/1946, Paris 1946, S. 643–650, S. 646. Vgl. Callenberg, Falken, S. 7 u. Callenberg, Grumbach, S. 29. HstA-D, 12613 GB Penig, Nr. 10.

KRIEGE, HUNGER UND SEUCHEN

255

zu Tode geschlagen, „da sie auff der Sorge, brodt aus dem Backofen, den leuten nehmen wollen“ 579. Dennoch traf die damalige Not zumindest in Rußdorf offenbar nur ohnehin ökonomisch Benachteiligte, wie der Beerdigungseintrag des landbesitzlosen Schneiders Bartel Pödger nahelegt. Dieser „hat vor der Zeit das seine verschwendet, das er vor seinem ende, und zu letzt fast, in dieser schanden Teurung, hat noth und mangel leid müssen“. 580 Die örtliche Totenzahl war entsprechend 1620–1624 nur leicht (Ø 8,2) erhöht, die „schwarze Zacke“ 1620 von unmaßgeblicher Ausprägung. Zugleich zeigte die Geburtigkeit keinen von Imhof für Subsistenzkrisen als typisch bezeichneten Rückgang. 581 Mancher Mortalitätsgipfel el zwar temporal mit einer Getreidepreisspitze zusammen, entbehrte jedoch der eindeutig krisenhaften Konnotation. In der „theuren Zeit“ 582 1855 etwa ging eine moderat gesteigerte Sterblichkeit in Rußdorf mit ungewöhnlich gehäuften Nerven eber- und Abzehrungstodesfällen (21,82 %) einher. 583 Ebenso erlagen 25,93 Prozent der Rußdorfer 1846 bzw. 25 Prozent 1847 sowie 18,52 Prozent der Bräunsdorfer 1847 den beiden mustergültigen Mangelerkrankungen. Diverse Sterbejahrgänge in Zeiten vergleichsweise niedriger Roggenpreise wiesen allerdings, zusätzlich oft bar jeder Übersterblichkeit, ähnliche Akkumulationen auf. Zum Beispiel starben 1813 in Rußdorf sechs von 26 Einwohnern (23,08%) größtenteils am Nerven eber, forderte 1879 ein Typhusausbruch in Verbindung mit Schwindsucht 21 Opfer (29,17 %), gingen 34,29 Prozent der Toten 1844 an Nerven eber und Auszehrung zugrunde oder erlagen 30 Prozent der 1814 beerdigten Bräunsdorfer den klassischen Armutskrankheiten. Überdies be elen diese, auch bei punktuellem Auftreten, nicht ausschließlich Angehörige der unteren, mutmaßlich am ehesten materiellen Entbehrungen ausgesetzten Besitzstände. Prominentes Beispiel ist die Schankwirtsfamilie Sebastian in Rußdorf. Im Jahr des Gründerkrachs 1873 verschieden dort 70 Personen, davon 31,43 Prozent an auszehrenden Leiden und „typhösen Fiebern“. Der örtliche „Gasthofs- und Brauereibesitzer“ Wilhelm Theodor Sebastian starb am 17. September gut situiert, einen Tag später

579 580 581 582 583

EPA Kaufungen, KB I, Beerdigungen 1624, Nr. 14. Ebd., Beerdigungsregister Rußdorf 1624, Nr. 1. Vgl. Imhof, Lebensspanne, S. 202. EPA Rußdorf, KB III, Beerdigungen 1855, Nr. 17. Nerven eber ist mit Typhus gleichzusetzen, Abzehrung deutet unter anderem auf Tuberkulose hin. Beides sind typische Mangelkrankheiten. Vgl. Brockhaus, Friedrich Arnold, Bilder-Conversations-Lexikon für das deutsche Volk, Bd. 3, Leipzig 1839, S. 264 f.: „Als eine besondere Form dieser letztern Art von Nerven eber muß der ansteckende Typhus betrachtet werden, der in Kriegszeiten, wie überhaupt bei durch Theuerung, Mangel an der hinreichenden Menge von Nahrungsmitteln, allgemeine Nahrungslosigkeit, außerordentliche und eine große Menge Menschen gleichzeitig betreffende Drangsale, unter Begünstigung der davon abhängigen Trauer oder Muth- und Hoffnungslosigkeit einer ganzen Bevölkerung und vielleicht nach einer der Gesundheit ohnehin nachtheiligen Witterung ausbricht und bald zur weit verbreiteten, mörderischen Epidemie wird“. – Vgl. Meyers Großes Konversations-Lexikon, Bd. 19, Leipzig 1909, S. 787: „Durch ungünstige Lebensverhältnisse (mangelhafte Ernährung, erschöpfende Krankheiten, Zuckerharnruhr) kann eine Disposition zur T[uberkulose] im Laufe des Lebens erworben werden.“

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STERBLICHKEIT

folgte dessen fünfjährige Tochter und weitere zehn Tage darauf erlag auch seine betagte Mutter dem Typhus. 584 Sofern sie durch Schriftzeugnisse nicht ausdrücklich ausgewiesen wurden, lassen sich Subsistenzkrisen als gesamtgesellschaftliche Ereignisse daher mitnichten mikroregional anhand von Indizienbeweisen über die Mortalitätsratenentwicklung und Lebensmittelpreiskurven identi zieren. Weder gleichzeitige Sterblichkeits- und Preisspitzen noch gehäuftes Auftreten der nachweislich alle Bevölkerungsschichten befallenden ausgewiesenen Mangelerkrankungen korrelierten in den betrachteten Ortschaften zwingend mit systemischen Notständen. Sicherlich traten spürbare Teuerungen und Phasen des Hungers mindestens bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts relativ regelmäßig auf und unzweifelhaft spiegeln darin wurzelnde erhöhte Sterbeziffern nie das volle Ausmaß einer historischen Krise. Die enthaltenen eindeutigen Opfer repräsentieren lediglich ein Mindestmaß an Betroffenen. Werden die bekannten, in der Region wirkenden Teuerungskrisen hinsichtlich ihrer unmittelbaren und mittelbaren Letalität verglichen, lässt sich dennoch eine klare Entwicklung erkennen. Die vorgenannte massive Preissteigerung Anfang der 1620er Jahre war im Limbacher Land zweifelsohne spürbar, rief aber offensichtlich keine vermehrte Sterblichkeit hervor. Zwar verzeichneten die Kirchbücher Rußdorfs und benachbarter Orte 1620 am Beginn der kontinuierlichen Teuerung moderat erhöhte Totenzahlen, doch stand die Mortalität in den Folgejahren trotz weiter zunehmender Lebensmittelpreise deutlich dahinter zurück. Bei einer damaligen Population von höchstens 200– 2 250 Personen und einer Bevölkerungsdichte von ca. 42,55-53,19 Einwohnern /km gelang es der zum damaligen Zeitpunkt überwiegend Subsistenzwirtschaft betreibenden, bäuerlich und kleinbäuerlich geprägten Rußdorfer Bevölkerung offensichtlich, die Folgen der Teuerungskrise aus eigener Kraft zu kompensieren. Die oben zitierte, den Schneider Pödger betreffende Randnotiz fügt sich stimmig in dieses Bild ein. Eine gänzlich andere Geschichte erzählen die Beerdigungseinträge der schweren Subsistenzkrise 1769–1772. Die Rußdorfer Flur bot nun bereits ca. 120,21 Personen / 2 km Lebensraum. Obwohl Feld- und Viehwirtschaft noch immer den Lebensunterhalt vieler Einwohner erbrachten bzw. zumindest in Teilen sicherten, spielte gewerbliche Arbeit vor allem im Textilbereich mittlerweile für die Mehrheit mindestens nebenberuflich eine Rolle. Klassische Bauerngüter, die schon 1624 nur noch zwischen zwei Dritteln und der Hälfte aller Hofstellen ausgemacht hatten, waren in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts quantitativ eindeutig in den Hintergrund getreten (Kap. 8.1). Einfache Häuser ohne dem Selbstversorgungsanspruch genügendes Ackerland begannen das Ortsbild zu dominieren. Deren hauptberuflich gewerbetreibende Besitzer hatten vermutlich allgemein von der guten Konjunktur Mitte der 1760er Jahre pro tiert, mussten aber desgleichen die beginnende Absatz aute 1769 in ähnlichem Umfang mittragen. Als ab Herbst 584

Vgl. EPA Rußdorf, KB XIII, Beerdigungen 1873, Nr. 47, 48 u. 52.

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desselben Jahres die Erträge ob schlechter Witterungsverhältnisse über mehrere Ernteperioden kümmerlich aus elen oder vollständig ausblieben, litten unzweifelhaft zuvörderst die nicht in der Nahrungsmittelproduktion beschäftigten oder eine volle Hofstelle ihr Eigen nennenden Bevölkerungsteile, d. h. die untere Mittel- und die Unterschicht. Trotzdem berichten die Quellen des Untersuchungsgebiets bis einschließlich 1771 weder von Hunger und Armut noch unterlag die Mortalität irregulären Schwankungen. Allem Anschein nach griffen wie schon Anfang der 1620er Schutzmechanismen, die das Überleben auch in prekären Verhältnissen gestatteten. Dazu mochten neben schlichter individueller Konsumbeschränkung und außergewöhnlichem Viktualienzukauf aus ersparten oder geliehenen Mitteln kurzfristige Anbau ächenerweiterungen im privaten oder gemeineigenen Rahmen sowie staatlich organisierte Naturalienimporte zählen. Anspann-, Hand- und selbst Gartengutsbesitzer sollten zudem ganz im malthusianischen Sinne normalerweise befähigt gewesen sein, temporal begrenzte Ernteausfälle eigenständig zu überstehen. Als auch die niederländischen Getreidevorräte 1771 zur Neige gingen, die Einfuhren stagnierten, die Preise für Lebensmittel weiter exorbitant stiegen, Handwerksprodukte hingegen nahezu unverkäuflich wurden, die Nachfrage nach Lohnarbeit gegen null tendierte und die Getreideernten abermals hinter dem Bedarf zurückblieben, erreichte der Notstand 1772 seinen Gipfel. Die altenburgische Exklave Rußdorf, zusätzlich von der umgebenden Landes- und Zollgrenze benachteiligt, traf die Subsistenzkrise ausgesprochen hart. „Wegen der großen Theuerung sind dieses Jahr viele aus Mangel und Hunger, sonderlich auf der obern und untern Gaße, gestorben, und wegen des großen Armuths und Elends umsonst beerdiget worden; viele Häuser sind leer stehen geblieben.“ 585 Die in dieser Zeit normalerweise kaum über 20 hinausgehende jährliche Totenzahl stieg auf 70 an, was einer Mortalität von ca. 123,89 entsprach. Ausdrücklich in Hunger, Armut und Elend verstarben 30 Personen (42,86%). Weitere sieben (10 %) standen zu einem eindeutig identi zierten Opfer in enger verwandtschaftlicher Beziehung. Lediglich drei Angehörige der bäuerlichen und ebenso viele der Hausgenossenschicht zählten in die von Häuslern dominierte Teilmenge. Überhaupt waren Bauern, Gärtner und Einwohner unter allen Toten 1772 deutlich unterrepräsentiert (27,14%). Letztere stellten um 1770 nur einen sehr geringen Teil der Dorfbevölkerung (ca. 4,78%). Ihr marginaler Anteil 1772 vermag daher ebenso wenig zu verwundern wie die Tatsache, dass diese sämtlich unter den eindeutigen Krisenopfern vertreten sind. Hingegen fallen die drei bäuerlichen Personen auf den ersten Blick aus dem Rahmen. Bei näherer Betrachtung der jeweiligen individuellen Situation relativiert sich der Eindruck jedoch. Die 19-jährige Eva Maria Engelmann entstammte zwar einer bäuerlichen Familie, allerdings hatte der Vater das Gut 1771 kurz vor seinem Tod veräußert und war die Mutter mit den übrigen Kindern noch 1772 nach Clausnitz verzo585

EPA Rußdorf, KB I, Beerdigungen 1772, Notiz.

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gen. Engelmann blieb allein in ihrem Geburtsort, vermutlich in Diensten, zurück. Dem Hunger vermochte sie dadurch nicht zu ent iehen. Auch die Brüder Samuel (* 1743) und Michael Esche (* 1747) lebten vaterlos, bewirtschafteten aber gemeinsam mit ihrer Mutter und den Geschwistern das väterliche Gut, um es dem 1755 geborenen Kurerben zu erhalten. Im März 1772 fuhren die Gebrüder „nach Merseburg, nach Getraide“. Auf der Reise be el sie ein „hitziges Fieber“, in Anbetracht des langen prämortalen dreiwöchigen Siechtums einschließlich Sinnesverwirrung und Bewusstlosigkeit des Älteren womöglich Typhus. 586 Absolute Armut lag hier sicherlich nicht vor. Die Hauptlast des Versorgungsnotstands trugen in Rußdorf die Hausbesitzer, deren einige ohne Vorerkrankung nach andauernder Mangelernährung plötzlich vor Erschöpfung hinwegstarben. Mancher sah sich zur Bettelei gezwungen: „Der alte Hanß Dölling Häusler u. Handarbeiter allhier gehet in der grosen Theuerung nach dem Brode nach Markersdorf bei Wechselburg [ca. 13 Kilometer Entfernung], als er vor einer Thüre kniet, fällt er um, wird durch die Gerichten in ein Hauß gebracht, wo er curtz darauf verschieden.“ Fünf Monate danach starb im Juli seine etwa 30-jährige ledige Tochter „in gröstem Elend, Hunger u. Armuth“, der fünfjährige Sohn zweiter Ehe überlebte den Oktober des Jahres nicht. Eine infolge guter Ernten Ende 1772 eintretende Verbesserung der Situation vermochte auch Döllings Witwe nicht mehr zu retten. Sie starb im April 1773 in „äusersten Elend u. Armuth, nachdem sie etliche Wochen gelegen, u. Niemand zu ihr gegangen“. Ihre einzige, ledige Schwester war der Krise ebenfalls im Oktober 1772 zum Opfer gefallen, der Vater im April „nach langem Lager [...] in gröstem Elend“ gestorben. Nur ein Kind der Familie überlebte die Subsistenzkrise. 587 Andere Häusler trieb der Mangel zum Diebstahl. Wurden sie gefasst und arretiert, verschlechterte sich die Situation ihrer Angehörigen noch: „Johann Gottfried 2ter Sohn Johann Benjamin Streubels Häuslers allhier starb in Abwesenheit des Vaters der Diebstahls halber sich auf der Leuchtenburg befand, vor Hunger und Elend, den 8ten Mart.“ 588 In Gemeinschaft seiner beiden ältesten, 24- und 18-jährigen Söhne saß zur selben Zeit auch der Häusler und Leineweber Christoph Landgraf Diebstahls halber in dem sachsenaltenburgischen Zuchthaus ein. Während die beiden Brüder nach halbjährigem Freiheitsentzug entlassen wurden, verstarb der Vater in Haft. Dessen Frau vermochte auf sich gestellt nicht, die Versorgung der übrigen vier Sprösslinge zu gewährleisten. Im Alter von zwei bis zehn Jahren gingen sie zwischen Februar und Mai sämtlich „in gröstem Elende“ 589 zugrunde, obwohl Kinder insgesamt einen erstaunlich kleinen Teil der Toten 1772 generaliter (21,43%) wie auch der gesicherten Krisenopfer im Speziellen (24,32 %) ausmachten.

586 587 588 589

Vgl. ebd., Nr. 6 u. 60. Ebd., Beerdigungen 1772, Nr. 3, 37, 64 u. Beerdigungen 1773, Nr. 16. Ebd., Beerdigungen 1772, Nr. 7. Ebd., Nr. 24.

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Ein weiteres Gesicht des grassierenden Hungers stellte der Inwohner Gottlieb Schröter (* 1740) vor, der „in groser Armuth“ im Mai 1772 doch an Nahrung gekommen war und des Maßhaltens offenbar unfähig ironischerweise an „Überladung des Magens in Eßen“ dahinschied. 590 Ohne Frage war die Subsistenzkrise der frühen 1770er Jahre überregional gleichermaßen zu spüren. Trotzdem bestanden signi kante Unterschiede im Wirkungsgrad selbst zwischen benachbarten Ortschaften, wie der Blick auf die Bräunsdorfer Situation beweist. Mit gleicher Symptomatik, Diebereien zumindest der Überlieferung nach exklusive, stand die dort durchaus vorhandene Übersterblichkeit 1772/1773 mit einer Mortalitätsrate von rund 46 sichtlich hinter der Rußdorfer zurück. Eindeutige Hinweise auf die Folgen von Nahrungsmittelmangel und extremer Teuerung sind rar gesät. Der Häusler und Tischler Christian Petzold wanderte, „da er mit einer seiner kleinen Töchter betteln gegangen“ 591, bis ins ca. 65 Kilometer entfernte Krögis bei Meißen, um dort im Juni 1772 zu sterben. Weitere Todesfälle blieben in seiner Familie dennoch aus. Aus ungeklärter Ursache kam der Gärtner und Leineweber Andreas Ludewig auf Tauschaer Flur (ca. 6,5 Kilometer Entfernung) zu Tode. Dessen Familie war aus Armut nicht in der Lage, die Leiche „auszulösen“ und nach Bräunsdorf überführen zu lassen. Hunger galt ihnen allerdings nicht als Grundproblem. Vielmehr hatte ein Feuer im Januar des Jahres die Gebäude des Ludewig'schen Gartengutes in Asche gelegt, weswegen der Hausvater Anfang Februar letztendlich ohne Wiederkehr „nach Göppersdorf gegangen um sich ein Stämmgen Holz zu erbitten“ 592. Die Witwe überlebte ihn zwar nur um fünf Monate, erlag aber statt Unterernährung einem Gebärmuttervorfall. Einzig der Tod des einjährigen Enkels im Juli 1772 könnte unter Umständen direkt der Versorgungskrise in Kombination mit dem Brandunglück geschuldet sein. Die junge Hausgenossenfamilie des ältesten Ludewig'schen Sohnes war ebenfalls Opfer des Feuers geworden, fand danach allerdings bei den bäuerlichen Schwiegereltern gewissermaßen in verbesserten Verhältnissen Unterkunft. Für sich genommen erlauben die wenigen Bräunsdorfer Schriftzeugnisse freilich kaum Rückschlüsse auf die tatsächliche Intensität der Krise vor Ort. Lässt das Rußdorfer Beerdigungsregister 1772 die Umstände kaum eines Todesfalls im Unklaren, macht das Bräunsdorfer in lediglich sieben Fällen meist vage Andeutungen zur Todesursache. Letzteres war im Limbacher Land des späten 18. Jahrhundert eher die Norm denn eine Ausnahme. Zum Beispiel bleiben sowohl die Mittelfrohnaer, Niederfrohnaer und Kaufunger Register bei simultan relativ moderater Übersterblichkeit 1772 ebenso Todesursachen schuldig wie die Kirchbücher Limbachs, wo eine mit Rußdorf vergleichbare temporäre Übersterblichkeit vorherrschte.

590 591 592

Ebd., Nr. 32. EPA Bräunsdorf, KB I, Beerdigungen 1772, Nr. 11. Ebd., Nr. 1.

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Differenzen zwischen den Fallbeispielen treten auch in weiteren Aspekten zu Tage. Die in Rußdorf beobachtbare unverhältnismäßige Überrepräsentation des Häusler- und Einwohnerstandes unter den Toten des Krisenjahres war im benachbarten Bräunsdorf nicht gegeben (44%) und auch das quantitative Untergewicht unkon rmierter Kinder (36 %) erscheint weniger eklatant. Jene Unterschiede inklusive der dezisiv auseinandergehenden Mortalitätsraten liegen mit hoher Wahrscheinlichkeit unter anderem in struk2 turellen Disparitäten begründet. Mit ca. 71,01 Personen /km wies das kursächsische Dorf gegenüber der sachsen-altenburgischen Exklave eine um 40,93 Prozent niedrigere Bevölkerungsdichte auf. Des Weiteren existierte in beiden Ortschaften eine vergleichbare Zahl an Bauern und Gärtnern, dieweil 42 Bräunsdorfer Häusler in 83 Rußdorfer Hausbesitzern ein Pendant fanden. Während Pferde- und Handbauern sowie selbst Gärtner offenbar noch nach mehreren Missernten in der Lage waren, ihre Familien bzw. Haushaltsmitglieder von den eigenen Erträgen oder mithilfe von Lebensmittelzukäufen hinreichend zu versorgen, wobei Verschuldungen insbesondere durch rückständige Abgaben nicht ausblieben, litten im ruralen Raum in erster Linie die Kleinststellenbesitzer der unteren Mittelschicht. Ohne eigenes Ackerland vermochten sie nicht einmal auf eine schlechte eigene Ernte zurückzugreifen. Entsprechend rasch schrumpften etwaige Ersparnisse durch die notwendigen, immer kostspieligeren Viktualienkäufe zusammen. Kredite wurden auf dem Höhepunkt der Subsistenzkrise sicherlich ohnehin spärlich und zu schlechten Konditionen vergeben und blieben den zusätzlich unter der Stockung des Handwerks leidenden Häuslern weitgehend versperrt. Wer nahe Verwandte unter den höheren Besitzständen wusste, mochte in hoher Not auf deren Unterstützung zählen können, ebenso wie die im 18. Jahrhundert quantitativ eine untergeordnete Stellung einnehmenden Hausgenossen, sofern sie im bäuerlichen Milieu mitwohnten, vermutlich oft von der wirtschaftlichen Stärke ihrer Hausherrn pro tierten. Die darin angedeutete positive Verbindung zwischen Häuslerzahl, dörflicher Bevölkerungsdichte und Mortalitätsrate auf dem Höhepunkt der Krise weist zudem auf kommunale, bis zu einem gewissen Besiedlungsgrad erfolgreiche Bewältigungsstrategien hin. Bräunsdorf hätte demnach 1772 den demographischen Grenzwert noch unterschritten, Rußdorf dagegen deutlich übertreten. Folglich starben die Bräunsdorfer schichten- und altersübergreifend relativ zufällig punktuell. Wen die mehrjährig anhaltende Versorgungskrise explizit forderte, der war durch außergewöhnliche Lebensumstände einem höheren Sterberisiko unterworfen. Prinzipiell folgte die Rußdorfer Situation demselben Muster, zeigte aber ein fortgeschrittenes Wirkungsstadium der Krise, in dem letztlich letaler Hunger bereits auf abgesichertere Bevölkerungsgruppen übergriff und vom individuellen Zugriff auf Familien bzw. Hausgemeinschaften abzurücken begann. Eine Missernte vermochten traditionelle Agrarwirtschaft oder protoindustrielle Dorfökonomie ohne sonderliche Opferzahlen bei leichter gesamtgesellschaftlicher Übersterblichkeit durch Jugend, Alter, Krankheit oder ausnehmend schlechte Leben-

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sumstände gefährdeter Gruppen im Limbacher Land abzufedern. Jede weitere direkt angeschlossene Periode signi kant unterdurchschnittlicher Ernteerträge aller Standardkulturen potenzierte den Kriseneffekt freilich und demontierte sukzessive alle geltenden sozioökonomischen Schutzmechanismen vom unteren Ende der Gesellschaft ausgehend. Generell gilt die Regel, je wirkungsvoller die Absicherungen, desto später das Einsetzen der Krisensterblichkeit. In ihrer nalen Ausprägung stellte die Subsistenzkrise 1772 innerhalb des Untersuchungszeitraums ein Unikum dar, in ihrer Wirkungsweise stand sie klar in Tradition früherer agrarwirtschaftlicher Notstände. Wenn spätere Teuerungen ihr Ausmaß nicht kopierten, währten sie schlicht zu kurz. Eine 1804 beginnende, Mitte 1805 den Gipfel überschreitende Lebensmittelpreissteigerung (auf den Scheffel Korn zwischen Mai und August von sieben auf 17 Taler) motivierte laut Niederschrift eines Wittgensdorfer Chronisten „große Hungersnoth“ 593, ging in Rußdorf jedoch lediglich mit einer Mortalität von etwa 40 sowie einer Bräunsdorfer von etwa 25,68 einher. Das „Jahr ohne Sommer“ 1816 forderte einschließlich der vielerorts bis 1817 folgenden Missernten und Teuerungen 594 keine erhöhten Sterbeziffern in den betrachteten Dörfern heraus. Auch der nachweislich mindestens für arme Bevölkerungsteile spürbare Notstand 1855 war von zu geringer Dauer, um Hungersterblichkeit auszulösen. Trotz im Anschluss über 80 Jahre fortschreitender Bevölkerungsverdichtung in Rußdorf und Bräunsdorf, was theoretisch nach altem Muster die Anfälligkeit für systemische Krisen erhöhte, sind Hinweise auf Hungersnöte ab der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts dort vergeblich zu suchen. Die im 18. Jahrhundert überregional einsetzende Intensivierung und Professionalisierung der Landwirtschaft, anfangs mittels modi zierter oder neuer Anbau- bzw. Produktionsmethoden, in Begleitung der industriellen Entwicklung zusätzlich zunehmend durch Mechanisierung von Arbeitsabläufen sowie seit dem späten 19. Jahrhundert unter Verwendung chemischen Düngers etc., passte die Erträge dem Bevölkerungswachstum an. Da die starke demographische Zunahme in Sachsen während der Industrialisierungszeit die Steigerungsrate der inländischen Agrarproduktion fortwährend überragte, wurden traditionell Notzeiten vorbehaltene Importe von Grundnahrungsmitteln alltäglich. Gleichzeitig überregional im Ausbau be ndliche Verkehrsnetze, die Einführung schnellerer, größere Mengen Handelsgüter fassender und relativ witterungsunabhängig einsetzbarer moderner Transportmittel reduzierten Transfer- sowie mittelbar Produktionskosten und ließen die Preise selbst weitgehandelter Waren fallen. Sich verkürzende Transportzeiten beschleunigten Waren- wie Geldströme und gestatteten den Vertrieb verderblicher Konsumgüter in immer größeren Dimensionen. Regionale Produktionsausfälle waren so zunehmend leichter

593 594

Heimatstube Wittgensdorf, Riedel-Richtersche Chronik, 1790–1844, S. 29. Vgl. Krämer, Daniel, „Menschen grasten nun mit dem Vieh“. Die letzte grosse Hungerkrise der Schweiz 1816/17, Basel 2015. – Vgl. Ehmer, Krisen, S. 902.

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kompensierbar. Gesamtgesellschaftliche Versorgungskrisen alten Typs gehörten daher in Sachsen spätestens seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts der Vergangenheit an. Finanzkrisen füllten die Lücke aus, generierten jedoch dank relativ beständiger Verfügbarkeit grundlegender Nahrungsmittel und in Notzeiten, zum Beispiel während der Großen In ation und der Weltwirtschaftskrise 1929, einspringender kommunaler und staatlicher Schutzmechanismen wie der Armenspeisung, kaum noch Hungertote. Hatte der dritte apokalyptische Reiter in Rußdorf und Bräunsdorf nach 1800 seinen Schrecken vorerst dahingehend weitgehend eingebüßt, dass der Hunger nurmehr theoretisch im kollektiven und kulturellen Bewusstsein verharrte sowie nach 1945 in ganz Europa bis in die Gegenwart nahezu umfänglich aus der individuellen Lebenswirklichkeit verschwand, behielten militärische Kon ikte ihre Macht als positive demographische Hemmnisse. Mehr noch nahm die unmittelbare Kriegsmortalität in den Untersuchungsorten im 20. Jahrhundert die größten absoluten Ausmaße an, obwohl die dorfgesellschaftliche Involvierung situationsbedingt zurückging. Im Laufe des Dreißigjährigen Krieges als erster in der Lokalüberlieferung aufscheinender Auseinandersetzung litt das Limbacher Land unter mehrfachen Truppendurchzügen, Einquartierungen und möglicherweise Plünderungen. Direkten Kampfhandlungen wurde die Bevölkerung nicht unterworfen, dennoch blieben die 1630er und frühen 1640er Jahre als unsichere Zeit in Erinnerung. Soldaten unterschiedlicher Nationalität – vorrangig Schweden, Kroaten und Böhmen – hausten in der Region, forderten Versorgungsleistungen ein und brachten Krankheiten. Insbesondere die unter kaiserlichem Banner kämpfenden kroatischen Söldner trieben 1632/1634 schlimme Wirtschaft. Im August 1633 wurde der 39-jährige ledige Wirtsknecht Gregor Frischman in Rußdorf „von Soldaten niedergehawen“ 595, nachdem der örtliche Anspanner und Gerichtsschöppe Blasius Herolt wenige Tage zuvor von Kroaten verschleppt und in deren Händen gestorben war. 596 Ende 1634 erlag auch der ledige Rußdorfer Joannes Rudloff den Schussverletzungen, die ihm ein „Crabate“ beigebracht hatte. 597 Die schwedische Besetzung der schönburgischen Lande 1637 verhieß keine Besserung. Etwa ermordeten Soldaten 1641 einen Sohn des erwähnten Schöppen Herolt. 598 Weitere mehr oder minder direkte Opfer der Kriegsjahre 1618–1648 sind aus den betrachteten Dörfern jedoch nicht bekannt. Ebenso wenig berichten die lokalen Schriftzeugnisse von einheimischen Kriegsteilnehmern oder gar im Kampf Gefallenen. Spätere militärische Kon ikte, wie der Große Nordische Krieg, die Schlesischen Kriege, der Bayerische Erbfolgekrieg, die Koalitionskriege oder die Reichseinigungskriege nahmen unmittelbar keinerlei Ein uss auf die Rußdorfer und Bräunsdorfer Sterb-

595 596 597 598

EPA Kaufungen, KB I, Beerdigungsregister Rußdorf 1633, Nr. 11. Ebd., Nr. 10. Ebd., Beerdigungsregister Rußdorf 1634, Nr. 13. Ebd., Beerdigungsregister Rußdorf 1641, Nr. 4.

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lichkeit. Beide Dörfer wurden nie von Kampfhandlungen und nur selten von Truppenbewegungen tangiert. Belegt sind lediglich für den Januar 1795 im Rahmen des ersten Koalitionskriegs in Bräunsdorf eingerückte „Soldaten, die zum Reichscontingente marschirten“ 599 sowie ein Durchzug französischer Soldaten von Dresden in österreichische Gefangenschaft Ende 1813 in Rußdorf: „Am 4. Dec. 1813 starb allhier ein französischer Soldat der zum Corps des Marschalls St. Cyr gehörte, und nach der Capitulation von Dresden auf dem Marsch nach Böhmen in die Gefangenschaft hier einquartirt war.“ 600 Außerdem berichten die Bräunsdorfer Kirchbücher im Januar 1814 von einem dort gestorbenen österreichischen Soldaten 601. Korrespondierende Sterblichkeitsanstiege werden nicht ersichtlich. Vereinzelte Nachweise den Dorfschaften entstammender Soldaten schließen desgleichen vor 1914 in den seltensten Fällen Gefallenenmeldungen ein. Der Wolkenburger Schäfersohn Johann Michael Kunze war 1757 zum Dienst in der preußischen Armee zwangsverp ichtet und später „bei Mazen von den Oesterreichern gefangen worden“, hatte „sich selbsten aber ranzioniert“ und erlag noch vor Ende des Siebenjährigen Krieges 1762 in Rußdorf bei seinem Bruder der Schwindsucht. 602 Dieses Leiden forderte 1780 auch das Leben des 37-jährigen Rußdorfers Samuel Heinzig, welcher noch vor Kriegsende zu den preußischen Truppen gekommen und „in die 15 Jahr“ bei ihnen geblieben war. 603 Nicht viel mehr Einheimische nahmen aktiv an den Napoleonischen Kriegen teil. Der 1786 geborene Bräunsdorfer Gärtnersohn Johann Samuel Frischmann verp ichtete sich 1803 freiwillig auf 18 Jahre zum Kriegsdienst, kehrte aber „aus dem westreinhischen Feldzug“ 1814 nicht wieder. Zwei Jahre zuvor verlor sich die Spur des Bauernsohns Johann Gottfried Bretschneider im Russlandfeldzug. 604 Einer seiner Halbbrüder, der 1799 als „Mousquetier [...] unterm Commando des Hn. Obristen von Bieala stehenden Regimente und des Herrrn Hauptmanns von Belzig dabei habenden Compagnie“ 605 diente, lebte dagegen bis 1860 in Bräunsdorf. Desgleichen war der einzige überlieferte Rußdorfer Soldat der napoleonischen Zeit, Johann Samuel Schüßler (1788–1864), „einer der wenigen, welche 1809, da die Tyroler ein ganzes Battallion Altenburger oberhalb Matrei verschütteten, ist errettet worden“ 606 und heimkehrte. Strohbach führt in seiner Ortschronik in den 1930er Jahren neun Teilnehmer der Reichseinigungskriege, insbesondere des Deutsch-Französischen Krieges 1870/1871 auf 599 600 601 602 603 604 605 606

EPA Bräunsdorf, KB I, Trauungen 1795, Nr. 1. EPA Rußdorf, KB II, Beerdigungen 1813, Notiz. Vgl. EPA Bräunsdorf, KB II, Beerdigungen 1813, Nr. 24. EPA Rußdorf, KB I, Beerdigungen 1762, Nr. 19. Ebd., Trauungen 1777, Nr. 6. SächsStAL, 20578 Rittergut Wolkenburg mit Kaufungen, Nr. 245: Verzeichniss der aus den leztern Feldzügen nicht zurückgekehrten König. Sächß. Militair-Personen. 1822. EPA Bräunsdorf, KB II: Kirchbuch 1796–1828, Taufen 1799, Nr. 32. EPA Rußdorf, KB XIV, Beerdigungen 1864, Nr. 34.

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und suggeriert dadurch eine im Vergleich zu vorangegangenen Kriegsereignissen deutlich erhöhte Involvierung der lokalen Bevölkerung. Tatsächlich mögen der im Königreich Sachsen wie im Herzogtum Sachsen-Altenburg damals geltenden, allerdings nur selektiv angewandten allgemeinen Wehrp icht geschuldet mehr Einheimische als je zuvor an den Kämpfen beteiligt gewesen sein, doch bleibt die Rußdorfer Überlieferung deren Namen schuldig. Von den bekannten Bräunsdorfer Soldaten hatten vier im Deutschen Bruderkrieg 1866 gestanden und teils verletzt überlebt. Unter diesen nahmen Carl Gottlob Bernhard Franke und Ferdinand Robert Frischmann, „der letzte Veteran von 1870/71“ 607, zusätzlich am Deutsch-Französischen Krieg teil. Im Feld blieben ein aus Langenchursdorf stammender, in Bräunsdorf ansässiger Schneider 608 sowie der Bauernsohn Johann Herrmann Riedel, welcher auf dem Marsch an Typhus erkrankte und daran im Karlsruher Lazarett 1870 verstarb. 609 Keiner der innereuropäischen Kon ikte des 16.–19. Jahrhunderts beein usste die Mortalitätsraten der betrachteten Dörfer nachweislich in signi kantem Maße. Dabei spielte es keine Rolle, ob Truppen längere Zeit vor Ort quartierten bzw. gar marodierend Angst und Schrecken verbreiteten wie im Dreißigjährigen Krieg, Soldaten nur kurzzeitig verweilten bzw. die Dorf uren lediglich durchzogen und vereinzelt Einheimische ins Kampfgeschehen aktiv eingriffen wie in der napoleonischen Zeit oder ob die Abwesenheit einiger Wehrp ichtiger einzige unmittelbare Auswirkung eines Kon ikts auf die örtliche Bevölkerung blieb. Der Erste Weltkrieg, auf vielen Ebenen ein Weltenbrand bis dahin ungekannter Dimensionen, zeigte auch hinsichtlich seiner demographischen Folgen eine neue Qualität. Obwohl das Limbacher Land von den Kriegsschauplätzen weit entfernt lag und weder von feindlichen noch von verbündeten Truppenverbänden heimgesucht wurde, hinterließ allein das Sterben auf den Schlachtfeldern einen permanenten, unverkennbaren demographischen Fingerabdruck. Zweierlei Ursachen bedingten dies vordergründig. Einerseits erfasste die industrielle Entwicklung des 19. Jahrhunderts unter anderem das Kriegshandwerk, trug zur weiteren Professionalisierung und Ef zienzsteigerung des Tötens bei, ermöglichte erst langwierige und oft militärisch gesehen ergebnislose Materialschlachten und verursachte, gepaart mit eher traditionellen, starren Arten der Kriegsführung, immense Opferzahlen. Auf der anderen Seite mobilisierte der in erster Linie gesamteuropäische Kon ikt bis dahin ungesehene Quantitäten aktiver Kriegsteilnehmer. Anfangs zogen Heere kriegsbegeisterter Männer mit idealtypisch heroisch verklärten Kriegsbildern vor Augen und ideologisch radikalisiert freiwillig in die Schlacht, später akquirierte die allgemeine Wehrp icht weniger enthusiastische verbliebene kampffähige Bevölkerungsteile für den Stellungskrieg. Von 86 Bräunsdorfer Soldaten elen 45 (52,33%). Bezogen auf die bekannte Einwohnerzahl 1910 (1352)

607 608 609

EPA Bräunsdorf, KB X: Beerdigungsregister 1920–1991, Beerdigungen 1936, Nr. 7. Vgl. Strohbach, Dorfbuch, S. 111. Vgl. EPA Bräunsdorf, KB VI: Beerdigungsregister 1853–1891, Beerdigungen 1871, zw. Nr. 9 u. 10.

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vereinnahmte der Erste Weltkrieg damit 6,36 Prozent der Dorfbevölkerung und tötete 3,33 Prozent. Dennoch erreichte die höchste Mortalitätsrate dieser Phase 1915 nur 28,11 Promille und stellten die Gefallenen 32,85 Prozent aller Verstorbenen des Zeitraums. Ebenso entsprachen die 142 im Feld gebliebenen Rußdorfer 3,94 Prozent der Einwohnerschaft von 1910 (3600), aber immerhin 62,01 Prozent der in den Kriegsmonaten Verschiedenen. Die höchste Mortalitätsrate 1915 unterschritt die gleichzeitige Bräunsdorfer trotzdem dezisiv (17,78). Letztlich beweisen die niedrigen Sterbeziffern der Kriegsjahre 1914–1918 eindrücklich, in welch geringem Umfang auch relative Werte zuweilen realistische Rückschlüsse auf zeitgleiche Lebens- bzw. Gesellschaftssituationen zulassen. Den unzweifelhaft stärksten Ein uss auf die Sterbezahl per annum nahmen Seuchen. In Abgrenzung von den Alltagskrankheiten forderten diese innerhalb kurzer Zeiträume außergewöhnlich hohe Opferzahlen. Allerdings entfalteten sie ihre letale Wirkung keineswegs zwangsläu g schichten- oder altersgruppenübergreifend. Ebenso wenig traten sie unbedingt epidemisch auf bzw. lassen sie sich in der Regel eindeutig von konventionellen Krankheiten trennen. Ruhr, Typhus, „Schnupfen eber“, „hitziges Fieber“, Blattern und Masern zeichneten in den Untersuchungsorten zum Beispiel immer wieder punktuell für Todesfälle verantwortlich, traten aber gleichfalls sporadisch als Hauptakteure von Mortalitätskrisen in Erscheinung. Anderen, wie der Pest, fehlte das gewöhnliche Gesicht völlig. Seuchenzüge, deren Letalität angesichts unbekannter Erkrankungszahlen durchgängig im Dunkeln bleiben muss, trieben die Sterbeziffern regelmäßig dezisiv nach oben. Der epidemiologische Verlauf mochte dabei mehr oder minder stark variiert haben, die Ursachengemengelage differierte fraglos massiv. Zahlreiche Faktoren, etwa die Intensität der großräumigen Mobilität, Wetterlagen, Ernährungssituation, allgemeiner und individueller Lebensstandard, Bevölkerungsdichte, gesellschaftliche Zusammensetzung, Altersstruktur, momentanes Preisniveau, Einkommenssituation, hygienische und medizinische Versorgung etc. forderten Geltung ein. Unmöglich ist die jeweilige Ausgangssituation in ihrer gesamten Breite hinlänglich rekonstruierbar. Beanspruchte eine Krise freilich Platz in den Beerdigungsregistern, herrschte ungeachtet deren spezi schen Gestalt zweifelsohne eine begünstigende Großwetterlage vor Ort vor. Hierbei stellen sich immanente Differenzen der lokalen Umgebungsbedingungen allein zwischen Nachbardörfern als meist derart gravierend dar, dass nur in Ausnahmefällen Krankheitswellen gleichermaßen tödlich in Rußdorf und Bräunsdorf auftraten (1719, 1814). Ein weiterer gleichzeitiger Ausbruch der Blattern 1773 hatte geringe Folgen für die örtlichen Mortalitätsraten. Deutlich öfter el Übersterblichkeit in nur einer der beiden Dorfschaften mit einer dort nachweisbaren Epidemie zusammen. Gleichwohl sind die überlieferten Seuchen hinsichtlich Art und temporaler Verortung ähnlich gelagert. Ende des 16. und in der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts regierte vornehmlich die Pest, um nach 1639 aus Rußdorf bzw. 1641 aus Bräunsdorf abrupt bis in

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STERBLICHKEIT

die Gegenwart zu verschwinden. Diese regional letzten Ausläufer des Schwarzen Todes 1348–1352 standen hinter ihrem gesamteuropäisch tödliche Kreise ziehenden Vorgänger zurück. Trotzdem verursachten sie die mutmaßlich höchsten Mortalitätsraten des gesamten Untersuchungszeitraums. Bei einer geschätzten Gesamtbevölkerung von 200– 250 Personen starben 1633 insgesamt 38 Rußdorfer. Die daraus ableitbare Sterbeziffer überstieg das bereits immense Ausmaß der Subsistenzkrise 1772 (ca. 123,89 0 00) um mindestens ein Viertel bis maximal die Hälfte (ca. 152–190 0 00). Der maßgebliche Anteil des vielleicht mit den im Lande weilenden kroatischen Söldnern in Verbindung stehenden Pestausbruchs daran ist unstrittig. Von Januar bis April des Jahres bewegte sich die lokale Sterblichkeit im üblichen Rahmen. Unter den sechs Toten gehörten fünf den Standardrisikogruppen der Säuglinge und seniler Personen an. Als die siebenjährige Geraute Möller am 4. Juli „peste“ starb, änderte sich die Situation schlagartig. Wenige Tage trennten fortan die sich häufenden Todesfälle. Ehe die Krankheitswelle Ende Oktober verebbte – das letzte ausdrücklich genannte Opfer verschied am 27. des Monats –, elen der Pandemie 14 Einwohner mit Sicherheit sowie weitere acht unter Vorbehalt zum Opfer. Darunter zählten überwiegend Jugendliche und Erwachsene unter 50 Jahren (15), mithin Angehörige der normalerweise dem geringsten Sterberisiko unterliegenden Bevölkerungsgruppen. Ohne Ausnahme hatten die Pesttoten des Jahres mindestens einen Angehörigen ersten bis dritten Grades unter den übrigen Verstorbenen, was auf eine deutlich höhere Mindestmorbidität schließen lässt. Ganze (Kern-)Familien scheinen betroffen gewesen zu sein. Im Umkehrschluss legte die mutmaßlich höhere Dunkelziffer eine mindere Letalität der Pest selbst nahe, denn ganze Haushalte forderte die Seuche nicht. 610 Nur fünf Jahre hernach wiederholte sich die Krise. Abermals starben mit 39 Personen drei Mal mehr als gewöhnlich. Welche Krankheit von April bis Juni 1639 34 Rußdorfer zu Tode brachte, verschweigen die Quellen. Angesichts der relativ hohen Letalität erscheint die Pest freilich wahrscheinlich. 611 So wütete sie nachweislich nochmals von September bis November 1641 in Bräunsdorf und führte vermutlich 14 von 19 Toten dem sprichwörtlichen Schnitter zu. 612 Mit einer geschätzten Sterbeziffer von 82,9– 87,26 stand dieser Ausbruch gleichwohl, obwohl innerhalb der belegten Bräunsdorfer Demographiegeschichte seinesgleichen suchend, deutlich hinter den Auswirkungen der Rußdorfer Ausbrüche zurück. Mit Sicherheit ist das Dorf aber wenigstens von dem Pestzug 1633, der in den meisten Orten des näheren und weiteren Umkreises seinen Niederschlag fand, nicht verschont geblieben. Seit der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts korrelierten epidemisch bedingte Mortalitätsspitzen bis zum Ende des 18. in den Untersuchungsorten konsequent mit Ausbrüchen der Ruhr (bis 1761) und der Blattern. Deren Auswirkungen erscheinen gegenüber

610 611 612

Vgl. EPA Kaufungen, KB I, Beerdigungen Rußdorf 1633. Vgl. ebd., Beerdigungen Rußdorf 1639. Vgl. EPA Bräunsdorf, KB I, Beerdigungen 1641.

KRIEGE, HUNGER UND SEUCHEN

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denen der Pestausbrüche der 1630er Jahre deutlich verringert. Mutmaßlich vergleichbarer Morbiditätsraten ungeachtet – Todesfälle häuften sich selten innerhalb einer Familie oder unter nahen Verwandten – wurden selbst in absoluten Zahlen bei massiv gewachsener Bevölkerung nie mehr jene Opferzahlen reproduziert. Die geschätzten Sterbeziffern der klassischen Mortalitätskrisen blieben denn auch, obgleich im Verhältnis zum alltäglichen Maß durchaus signi kant erhöht, stark hinter dem Pestniveau zurück und unterschritten die 100 beständig. Ein Blatternausbruch 1767 in Bräunsdorf (33 Tote) ordnet sich mit einer Mortalitätsrate von 94 unter die stärksten Ausbrüche nach 1640 ein. Während des 19. Jahrhunderts, als Scharlach eber, Typhus, Masern und Blattern ihre Opfer abwechselnd meist unter den ohnehin gefährdeten Gruppen in kleineren Aufkommen fanden, verminderte sich deren relativer letaler Wirkungsgrad weiter auf unter 60 Promille. Letztendlich stellte sich seuchenbedingte Übersterblichkeit nach dem Masernausbruch in beiden Orten 1885 überhaupt nicht mehr ein. Des Weiteren verschwanden die typischen Seuchenkrankheiten vor Ende des Betrachtungszeitraums samt und sonders aus den lokalen Todesursachenspektren. Die Pest war, wie bereits geschildert, letztmalig 1641 aufgetreten; an Blattern starben in Rußdorf und Bräunsdorf zuletzt 1875 bzw. 1871 Menschen, die Ruhr verschwand 1908/1876 und die Masern forderten lokal nach 1920/1894 keine Opfer mehr. Nicht anders war es um den 1807/1808 erstmals diagnostizierten Typhus (1919/1902) sowie den ab 1800/1799 nachweislich tödlich vorkommenden Scharlach (1891/1904) bestellt. Gleich dem Hunger verloren Epidemien bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts ihren Schrecken für die Bevölkerungen der untersuchten Dörfer. Damit nicht genug scheinen die typischen Seuchenkrankheiten seit dem Ende des Ersten Weltkrieges verschwunden bzw. hatten sie ihre Letalität eingebüßt. Wiederum vollzog sich der Wandel im 19. Jahrhundert parallel zum gesamtgesellschaftlichen Industrialisierungsprozess. Die Forschung im Geiste Thomas McKeowns sieht eine mittelbare subtile Korrespondenz beider Vorgänge vor allem über Lebensstandard und Ernährung sowie sanitäre Reformen gegeben 613, während in der älteren Literatur vorrangig dem synchron steigenden Medikalisierungsniveau sowie dem medizinisch-technischen Fortschritt im Allgemeinen das Hauptverdienst zugestanden wurde. 614 Allein die hier behandelten Fallbeispiele üben an letzterer These unübersehbar Kritik. Zwar ging die Entdeckung des Pocken- und Typhusimpfstoffs 1796 bzw. 1896 dem jeweiligen Letztnachweis innerhalb der Untersuchungsorte vor 1935 voraus, jedoch ist der Impfstatus selbst für jene Gebiete, wo Impfungen etwa obrigkeitlich schon in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts propagiert wurden, unbekannt und darf eine dahingehende ächendeckende Versorgung in Rußdorf mit nur einem Arzt und dem seinerzeit

613 614

Vgl. McKeown, Thomas/Record, R. G., Reason for the Decline of Mortality in England and Wales During the Nineteenth Century, in: Population Studies, Bd. 16, Nr. 2, o. O. 1962, S. 94–122, S. 120 f. Vgl. Ehmer, Bevölkerungsgeschichte, S. 86ff.

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STERBLICHKEIT

faktisch ganz unversorgten Bräunsdorf bezweifelt werden. Des Weiteren datierte der letzte größere lokale Ausbruch des Nerven ebers noch vor der Impfstoffentwicklung. Gleiches gilt für Masern (1963) und den bis in die Gegenwart eines Immunserums entbehrenden Scharlach bzw. die Ruhr. Offenbar büßten die Seuchen ihre Wirkungsmacht abseits der Medikalisierung ein. Vergleichbares zeigte die in einer anderen Liga als die vorgenannten spielende Pest. Nachdem der Schwarze Tod Europa Mitte des 14. Jahrhunderts nahezu ächendeckend mit extremer Letalität heimgesucht hatte, erlangte die überlebende Bevölkerung einerseits eine gewisse Immunität, sodass ein und dieselbe Generation nachfolgend kaum mehrfach die Seuche zu tragen hatte, andererseits eine prozentual erhöhte physische Widerstandsfähigkeit. Geschuldet dessen forderten die fortan periodisch wiederkehrenden Pestwellen maximal punktuell höhere Mortalitätsraten als zuvor. Trotzdem bewahrte Yersinia Pestis sein Potential, unter günstigen Rahmenbedingungen extreme Opferzahlen hervorzubringen, die andere Erreger vergleichsweise selten oder, zum Beispiel in den Untersuchungsorten, nie erreichten. Lange bevor Alexandre Yersin 1907 das Pestbakterium identi zierte und eine Präventivbehandlung entwickelte, verschwand der Schwarze Tod im 18. Jahrhundert so plötzlich aus Europa, wie er anno 1347 gekommen war. 615 Die übrigen in Rußdorf und Bräunsdorf nachweislich zum Ausbruch gekommenen Seuchen zeigten ihrerseits vom 18. zum 19. Jahrhundert eine leichte Wirkungsabschwächung in den Sterbeziffern, die auf eine gesamtgesellschaftlich wachsende Immunisierung ebenso wie die Infektiösität oder Letalität herabsetzende Mutationen der Bakterien hindeuten könnte. Deren ebenfalls relativ spontanes „Verschwinden“ ist dadurch freilich nicht hinlänglich zu erklären. Eher ist von einer vielschichtigen, die Komplexität der krisenauslösenden Faktorengemengelage spiegelnden Ursachenlage auszugehen, deren konkrete Beschaffenheit aus den gesichteten Quellen nicht restlos erschlossen werden kann bzw. die Überlieferung generell in Teilen verschweigt und verschweigen muss. Anthropometrische Untersuchungen verschiedener deutscher Räume belegen für das 19. Jahrhundert einen Rückgang der durchschnittlichen Körpergröße infolge verschlechterter Ernährungssituation. Im ausgehenden 19. Jahrhundert verbesserte sich die allgemeine Nahrungsmittelversorgung in Sachsen einerseits durch sukzessive Verbreiterung der Angebotspalette, andererseits mittels Absicherung der Versorgungskontinuität für die Allgemeinheit infolge industrieller Produktionsintensivierung, -steigerung und zusammenrückender Märkte. Allein die Vermeidung der bis dahin notorischen, physiologisch belastenden qualitativen wie quantitativen Lebensmittelversorgungsschwankungen trug zweifelsohne zur Steigerung der Gesamtkonstitution und Resistenz der breiten Bevölkerung gegenüber Infektionskrankheiten bei. Erkenntnistheoretische Durchbrüche auf den Gebieten der Antisepsis, Diagnostik und Arzneimittelherstellung bzw. -gabe in medizinischen Einrichtungen während der 1890er Jahre sowie der allgemeine Ausbau 615

Vgl. Bergdolt, Pest, S. 16.

KRIEGE, HUNGER UND SEUCHEN

269

der medizintechnischen Infrastruktur in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts wirkten sicherlich prophylaktisch-kurativ positiv. Letztlich ist der hygienischen Aufklärung bzw. der Etablierung neuer Sauberkeitsstandards innerhalb des kollektiven Normenbewusstseins im ruralen Raum noch vor den nach 1900 folgenden Anschlüssen an die im urbanen Raum ab den 1870er Jahren vorangetriebenen Assanierungsmaßnahmen erhebliche Bedeutung in der Seuchenprävention beizumessen. 616 Schon die aufklärerisch beeinusste Hausväterliteratur des ausgehenden 18. Jahrhunderts hatte unter anderem die Beachtung grundsätzlicher hygienischer Richtlinien angemahnt 617, was vor allen Dingen gastrointestinalen Erkrankungen entgegenwirkte. Über das 19. Jahrhundert hinweg setzte sich die Volksaufklärung in einem wachsenden Angebot ratgebender Literatur verstärkt fort. Wenngleich die ehemals epidemisch vorkommenden mehr oder minder letalen Krankheiten dadurch nicht ausgerottet werden konnten, verloren sie doch nicht zuletzt dank der genannten Entwicklungen peu a peu an Tödlichkeit und Schrecken sowie im Endeffekt ihren Seuchencharakter. Ein Großteil der „schwarzen Zacken“ lässt sich in beiden Untersuchungsorten zweifelsfrei einer Krise zuordnen. Desgleichen gingen zahlreiche lokal nachgewiesene potentiell krisenhafte Ereignisse mit erhöhter Mortalität einher. Deren Ausbleiben nach 1850 korrespondiert entsprechend mit dem parallelen Verschwinden der Zacken. Die Entwicklung der einzelnen positiven Hemmnisse folgte indes differierenden Regeln. Militärische Kon ikte zeichneten bis zum 20. Jahrhundert mehrfacher Truppenpräsenz im Limbacher Land zum Trotz nie eindeutig für signi kant gesteigerte Totenzahlen verantwortlich. Hingegen verursachte der Erste Weltkrieg kontrapunktisch allein durch die dislozierte Vereinnahmung und Tötung eines Großteils der jungen Männer eine neuerliche offene Krise, die in ihrer demographischen Auswirkung in den betrachteten Dörfern dennoch nicht an manche vorindustrielle Mortalitätskrise heranreichte. Subsistenzkrisen traten bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts periodisch auf, wichen im Laufe der Industrialisierung aber gänzlich gewerblich-konjunkturellen bzw. Finanz- und Immobilienkrisen, die einerseits eine relativ konstante Nahrungsmittelversorgung der gesamten Bevölkerung voraussetzen und andererseits nie zu einer tatsächlichen Unterversorgung inklusive starker Krisensterblichkeit führen. Doch auch vordem hatten sie, soweit in Rußdorf und Bräunsdorf nachweisbar, kaum tödliche Folgen. Das Hungerjahr 1772 bildet die große Ausnahme. Wie gezeigt wurde, verfügte die Agrargesellschaft über effektive, landbesitzbasierte Schutzsysteme, die Versorgungs- und Teuerungskrisen bis zu einem gewissen Grade kompensieren konnten. Die gewonnenen Daten legen einen positiven Zusammenhang zwischen Mortalität, der Länge eines Notstandes und der gleichzeitigen Bevölkerungsdichte bzw. dem Anteil unterbäuerlicher Gruppen nahe. Der überwiegende Teil der beobachteten „schwarzen Zacken“ geht auf seuchen616 617

Vgl. Ehmer, Bevölkerungsgeschichte, S. 87ff. Vgl. Becker, Hülfs-Büchlein, S. 161ff.

270

STERBLICHKEIT

bedingte Mortalitätskrisen zurück. Selten (1676, 1806, 1814) ergriffen Epidemien die benachbarten Dörfer zugleich bzw. lösten in beiden eine ähnliche Sterblichkeit aus. Insgesamt deuten die Untersuchungsergebnisse eine Wirkungsabschwächung der auslösenden Krankheiten bis zur relativen Bedeutungslosigkeit in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts an, die sich unabhängig vom medizinischen Fortschritt vollzog. Allgemein verbesserte Hygiene, ein gehobener Lebensstandard oder Mutationen der Erreger selbst kommen als Ursachen in Betracht. Das Ausbleiben offener Krisen ist, wie gezeigt wurde, im Untersuchungsgebiet eng an das Verschwinden epidemisch wirkender Erkrankungen gekoppelt. Von der industriellen Entwicklung wurde dies sicherlich begünstigt, nicht jedoch begründet.

6.3 SAISONALE STERBLICHKEIT Das Exitusrisiko unterliegt im Jahresverlauf merklichen Schwankungen. Deutlich stärker als die Geburtigkeit zeigt sich die Sterblichkeit von natürlichen Faktoren bestimmt. Von Suizidhandlungen, Morden oder Hinrichtungen abgesehen, entzieht sich der Todeszeitpunkt jeder Planung. Selbst bei Absehbarkeit des Lebensendes ist er nur unzuverlässig vorhersagbar. Dennoch folgt auch der Tod Regeln und tritt unter bestimmten Umständen bevorzugt ein. Entsprechende Phasen der Gunst wie Ungunst de nieren die Saisonalität des Sterbegeschehens naturgemäß. Die geltenden Prinzipien sind theoretisch denkbar simpel. Wärme und Sonne fördern die Gesundheit, anhaltende Nässe und Kälte bzw. Hitze und Trockenheit schaden ihr. In der Realität erscheint die Sachlage freilich weitaus komplexer, da zahlreiche endogene und exogene Faktoren die zum Ableben führenden Umstände in hoher regionaler Varianz beein ussen. Für das mitteleuropäische Beispiel gelten bis in die Gegenwart ein Mortalitätstief im Sommer sowie ein Gipfel innerhalb des ersten Quartals als typisch. Oft ndet sich eine zweite kleinere Sterblichkeitsspitze in den Spätsommermonaten. 618 Die Ursachen des charakteristischen Verteilungsmusters sind in der mit den Jahreszeiten schwankenden physischen und psychischen Konstitution zu suchen. Längere nasskalte, sonnenscheinarme Perioden an Jahresende und -anfang schwächen die Immunabwehr sukzessive, wodurch vor allem Infektionskrankheiten der Weg bereitet wird, aber ebenso degenerative Leiden tendenziell ein leichteres Spiel haben. Das vor allem in südlichen Regionen, zum Beispiel in Süddeutschland bzw. im Alpenraum auftretende Sommerhoch an Sterbefällen wird hingegen auf Magen-Darm-Krankheiten wie Ruhr oder Cholera sowie Vergiftungen durch den Genuss verdorbener Lebensmittel zurückgeführt. 619 Knodel sieht in erster Linie Säuglinge und Kleinkinder davon betroffen, deren unentwickeltes Im618 619

Vgl. Scho eld/Wrigley, Population, S. 296ff. Vgl. P ster, Bevölkerungsgeschichte, S. 96f.

SAISONALE STERBLICHKEIT

271

munsystem einer erhöhten Keimbelastung wenig entgegenzusetzen hat. 620 Gleiches mag für altersschwache Menschen gelten, die bei großer Hitze jedoch eher der Gefahr eines Kreislaufkollapses unterliegen. Je nach Grad der ökonomischen Abhängigkeit einer Gesellschaft oder Familie von ihrem naturräumlichen Kontext werden diese natürlichen Schwankungen der saisonalen Sterblichkeit verstärkt oder vermindert. Eine kontinuierliche Nahrungsmittelversorgung, zumal bei gleichbleibender Angebotsvielfalt, sowie optimierte Konservierungsmethoden etwa zeigen abmildernde Wirkung. Analoge Auswirkungen zeitigen wirksame medizinische Behandlungsmethoden, die den jahreszeitlich bedingt mit höherer Morbidität auftretenden bzw. mit höherer Letalität einhergehenden Krankheiten ihre Macht nehmen. Während erst die Entdeckung des Penicillins 1928 der Medizin ein dahingehend effektives Mittel an die Hand gab, nahmen im 19. Jahrhundert unter anderem beschleunigter Warenverkehr, ausgeweiteter transnationaler Lebensmittelhandel sowie die Entwicklung und Verbreitung des Einkochens und der Pasteurisierung zur Haltbarmachung von Nahrungsmitteln noch im Untersuchungszeitraum mildernd Ein uss auf das saisonale Sterben. In den Untersuchungsorten sollte sich dies während des 19. Jahrhunderts in einer Vereinheitlichung der Mortalität im Jahresverlauf niederschlagen. Für die nachfolgende Betrachtung wurde ein monatlicher Index nach der in Kap. 4.2 und 5.2 bereits angewandten Methode Wrigleys erstellt. Dabei steht 100 für den theoretischen Anteil eines Monats bei Gleichverteilung der Sterbefälle über das Jahr. Den unterschiedlichen Monatslängen wurde ebenso Rechnung getragen wie Schaltjahre durch Annahme einer Jahreslänge von 365,25 Tagen Beachtung fanden. Um eventuelle Verfälschungen offenzulegen, wird die Verteilung der Sterbefälle mündiger, d. h. über 21-jähriger Personen mit der aller in Beziehung gesetzt. Zu Recht merkte Knodel an, dass das Sterben kleiner Kinder und insbesondere von Säuglingen vor dem ersten Geburtstag nur bedingt den Gesetzmäßigkeiten der Saisonmortalität unterliegt. 621 Endogen verursachte Tode im ersten Lebensmonat bzw. durch frühes Abstillen begünstigte binden jahreszeitliche Häufungen der Säuglingssterblichkeit an die Saisonalitätsmuster der Geburtigkeit. Bei hohem bis dominantem Anteil toter Kleinstkinder an der Gesamtverstorbenenzahl entsteht leicht ein verfälschter Eindruck des jahreszeitlichen Exitusrisikos. Rußdorf Zu Beginn des Untersuchungszeitraums entspricht die saisonale Sterblichkeit in Rußdorf den Erwartungen für eine vorindustrielle subsistenzwirtschaftlich geprägte Dorfgesellschaft (Abb. 37). Das Frühjahr liegt während des 17. Jahrhunderts mit einer Mor620 621

Vgl. Knodel, Behavior, S. 61f. Vgl. ebd., S. 60.

272

STERBLICHKEIT

Abbildung 37: Monatlicher Index der Rußdorfer Sterbefälle

talitätsspitze im April weit über dem Durchschnitt. Ein Tief im Juni wird von einem zweiten kleinen Hoch im August gefolgt. Die im relativen Über uss frischer und nährstoffreicher Lebensmittel schwelgenden Herbstmonate schlagen mit den niedrigsten Verstorbenenzahlen zu Buche. Bereits das 18. Jahrhundert zeichnet ein völlig differentes Bild. Während Frühjahrsgipfel und Sommertal bestehen bleiben, überraschen zwei ausgeprägte Spitzen unklarer Ursache in Mai und September. Beide gehen bereits im 19. Jahrhundert zugunsten einer äußerst ausgeglichenen Häu gkeitsverteilung mit leicht steigender Übersterblichkeit im ersten Quartal und im August sowie deutlicher Untersterblichkeit im abschließenden Jahresviertel wieder verloren. Sosehr dies der Theorie eines Ausgleiches infolge veränderter Ernährungsumstände entspricht, sowenig passt die Zunahme der Schwankungsbreite im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts in dieses Bild. Mit vermehrtem Sterberisiko im Frühjahr und August und einem erheblich verminderten von Oktober bis Dezember kopiert das damalige Verteilungsmuster tendenziell jenes des 17. Jahrhunderts mit geringeren Extremen. Werden ausschließlich Erwachsenensterbefälle in die Betrachtung einbezogen (Abb. 38), ändert sich das Ergebnis unmaßgeblich. Insbesondere vor 1800 bleiben die Verteilungsmuster nahezu identisch erhalten. Dies geht mit parallel vergleichsweise niedrigen Anteilen der Totgeburten und unter Einjährigen an der Gesamtgestorbenenzahl von 26 bzw. 38 Prozent konform. Zudem spricht es für deren Gleichverteilung über das Jahr. Merkliche Unterschiede treten hingegen nach 1800 hervor. Während des 19. Jahrhunderts fallen 56,71 Prozent vor Vollendung des ersten Lebensjahres Gestorbene prägend ins Gewicht. Die saisonale Homogenität des Sterberisikos weicht bei deren Subtraktion einem kontinuierlichen Gefälle von Februar bis September und einer zuvor nicht angedeuteten Novemberspitze. Im ersten Tertial nahmen immerhin noch 43 Prozent Säuglingsanteil auf das Verteilungsmuster Ein uss. Ohne diese tritt ein

273

SAISONALE STERBLICHKEIT

Abbildung 38: Monatlicher Index der Rußdorfer Erwachsenensterbefälle

Frühjahrshoch in Februar und März pointierter hervor und wandelt sich die vormalige Augustspitze in ein leichtes Septembertief um. Der Gesamteindruck eines unsteten Musters bleibt dessen ungeachtet ebenso bestehen wie der Befund einer zunächst auf Vereinheitlichung zustrebenden, diese aber im 20. Jahrhundert wieder aufbrechenden Risikoverteilung. Entsprechend variabel erscheinen die monatlichen Anteile am Sterbegeschehen unter Ein- wie Ausschluss unmündiger Personen über den Untersuchungszeitraum. Der Tabelle 27: Monatliche Verteilung der Rußdorfer Sterbefälle (Angaben in %) Monatliche Verteilung aller Sterbefälle Monatliche Verteilung der Erwachsenensterbefälle Jan. Feb. März April Mai Juni Juli 1582–1629 1630–1679 1680–1729 1730–1779 1780–1829 1830–1879 1880–1935

Aug.

Sept.

Okt.

Nov.

Dez.

14,85 10,48 11,79 14,85

6,99

3,49

5,68

5,68

6,11

4,37

8,30

7,42

15,33 10,22 12,41 20,44

5,84

2,92

4,38

4,38

5,11

5,11

8,03

5,84

8,10 11,43 10,95 9,52 9,09 12,59 8,39 11,89

7,14 6,29

8,10 11,90 9,52 6,99 13,29 10,49

4,76 4,90

4,29 4,90

6,67 6,29

11,66 11,97 11,80 12,24

6,12 5,13 5,76 5,06

9,33 8,55 6,17 5,27

7,00 4,27 6,72 6,54

8,45 7,26 7,82 6,12

4,96 5,13 7,68 7,17

4,66 5,56 8,23 7,59

7,00 7,26 8,50 9,70

8,98 9,89 9,18 8,73 8,62 8,75

6,59 5,65 9,23 9,19 8,44 7,73

7,50 7,49 8,18 8,27 8,60 7,78

7,41 10,13 7,91 9,04 8,50 7,67 7,26 6,62 9,70 7,99 7,99 6,46

8,40 7,77 7,54 6,89 7,21 7,78

7,83 10,05 7,77 11,16 8,31 8,22 9,65 7,72 6,94 7,04 7,68 8,09

7,62 4,90

10,50 12,24 10,20 7,87 9,40 15,38 11,11 8,97 8,64 8,78 10,97 8,92 9,49 9,92 10,55 10,34 7,99 8,19 7,63 8,36 8,49 8,95

8,32 8,65 8,76 8,62 7,72 8,68 8,55 8,92 8,60 9,27 9,41 10,73

8,15 7,77 9,14 9,83 9,10 8,65

274

STERBLICHKEIT

für Agrargesellschaften als typisch angenommenen saisonalen Sterblichkeit wurde, wie Tabelle 27 zeigt, lediglich Ende des 16. und Anfang des 17. Jahrhunderts vollends entsprochen. Hernach wechselten die Schwerpunkte wiederholt. Auf den gesamten Untersuchungszeitraum bezogen, war das Exitusrisiko allerdings durchaus erwartungsgemäß im März am höchsten sowie im Oktober und Juni am geringsten.

Bräunsdorf Die saisonale Sterblichkeit des Bräunsdorfer Beispiels trug anfänglich zentrale Charakteristika einer vorindustriellen agrarischen Lebensweise. Während des 17. Jahrhunderts verschieden nach Abbildung 39 mit Abstand die meisten Einwohner im März oder April, die wenigsten im Mai. Ein zweites, deutlich acheres Mortalitätshoch ent el auf den neunten Monat, gefolgt von einem sekundären, minder ausgeprägten Tief im letzten Quartal des Jahres. Im 17. Jahrhundert zeigt sich bereits eine Verringerung der jahreszeitlichen Schwankungen. Das Frühjahrsmaximum blieb auf den März beschränkt, das Maitief hatte einem Tal im August Platz gemacht. Auch das unterproportionale Sterbeaufkommen zum Jahresende wurde nun ausschließlich vom neunten Monat getragen. Nach 1800 nimmt das Verteilungsmuster eine ausgeglichene Form an. Dennoch erkennbare Gipfel in April/Mai und September sowie Täler im Spätsommer und Oktober gemahnen an die als natürlich angenommenen Schwerpunkte. Das erste Drittel des 20. Jahrhunderts konterkariert im Bräunsdorfer Fall kaum die gezeigte Homogenisierungstendenz. Sein Bruch mit dem vorangegangenen Abschnitt besteht vielmehr in der abermaligen Verschiebung der Minima und Maxima. Begrenzt auf die Erwachsenensterbefälle zeigt Abbildung 40 keine erheblich abgewandelten Spezi ka. Die saisonalen Häu gkeitsmuster nach 1700 wirken vor allem

Abbildung 39: Monatlicher Index der Bräunsdorfer Sterbefälle

SAISONALE STERBLICHKEIT

275

Abbildung 40: Monatlicher Index der Bräunsdorfer Erwachsenensterbefälle

pointierter, die Extreme ausladender. Etwa erhält der Sterblichkeitsrückgang von März bis August im 18. Jahrhundert eine lineare Form und erinnert das Tal am Jahresende nun eher an die Situation des 17. Jahrhunderts. Die jahreszeitliche Erwachsenenmortalität des 19. Jahrhunderts resultiert in einer seichten Welle mit einem Kamm im März und einem Tal im Spätsommer, womit sie das leicht davon variierende Muster der letzten 35 Jahre des Untersuchungszeitraums prinzipiell vorzeichnet. Desgleichen zeigt die Kurve vor 1700 weiterhin jenes markante Frühjahrshoch und Mai-Juni-Tief, entbehrt jedoch nun der Septemberspitze. Im Ganzen bleibt der Befund eines unsteten Musters auch im Bräunsdorfer Fall gewahrt. Dabei trägt die saisonale Mortalität des 18.– 20. Jahrhunderts ähnliche Züge, während jene des 17. klar aus dem Rahmen schlägt. Ausgleichstendenzen zeichnen sich unzweifelhaft seit dem 18. Jahrhundert ab. Erstaunlich gleichförmig erscheinen demgegenüber die monatlichen Anteile unter Ein- wie Ausschluss unmündiger Personen über den Untersuchungszeitraum (Tab. 28). Obwohl die Schwerpunkte zwischen den Fünfzigjahreskohorten wiederholt wechseln, wird das grundsätzliche Schema kaum angetastet. Von jeweils einer Ausnahme abgesehen – bei den Erwachsenensterbefällen 1680–1729 und bei allen Sterbefällen 1880– 1935 – ist die Mortalitätsspitze im ersten Tertial des Jahres, das geringste Aufkommen im zweiten zu suchen. Insgesamt war das Exitusrisiko im März am höchsten sowie im Juli und August am geringsten. Zusammenfassung Die Entwicklung der saisonalen Sterblichkeit in den Untersuchungsorten brachte nicht nur im zeitlichen Verlauf, sondern auch im Vergleich untereinander teils deutlich differierende Muster hervor. Prinzipielle Konstanzen bestanden zwar im natürlichen Früh-

276

STERBLICHKEIT

Tabelle 28: Monatliche Verteilung der Bräunsdorfer Sterbefälle (Angaben in %) Monatliche Verteilung aller Sterbefälle Monatliche Verteilung der Erwachsenensterbefälle Jan.

Feb.

März

April

Mai

Juni

Juli

Aug.

Sept.

Okt.

Nov.

Dez.

1630–1679

12,63 11,05 11,58 12,63 15,74 12,96 12,04 12,04

5,79 4,63

3,16 1,85

5,79 4,63

8,42 9,26

8,42 5,56

7,89 7,41

5,26 5,56

7,37 8,33

1680–1729

11,56

8,22 14,67 11,11

6,44

7,78

5,78

6,89

8,44

7,11

5,11

6,89

11,81

9,03 17,01 14,58

4,86

7,64

6,94

5,90

5,56

4,86

4,17

7,64

8,87 8,37 8,13

7,65 8,84 8,03

8,41 8,37 7,50

5,66 5,35 6,97

4,89 3,26 4,86

7,65 8,37 9,50

8,10 6,05 8,87

7,03 9,79 8,37 10,00 7,81 8,98

8,72 9,13 9,04 10,13

8,72 9,40

6,49 7,51

6,09 8,31

3,65 7,36

8,72 8,67

9,33 6,92

7,10 9,18

9,13 7,94

7,75 10,38 12,28 7,33 8,89 9,19 8,36 9,74 10,42

8,33 8,95 8,71

5,99 8,83 8,02

7,46 7,69 6,19

5,70 9,13 7,22

6,58 8,41 6,64

7,46 7,45 8,13

9,06 8,05 7,56

9,65 7,21 8,71

1730–1779 1780–1829

11,01 9,02 11,93 10,93 9,53 12,56 9,82 10,35 9,19

1830–1879

11,76 11,16 8,89 6,63

1880–1935

9,36 8,83 10,31

jahrshoch und Sommertief, doch wechselte und unterschied sich deren monatliche Bindung immerzu. Selbst die allgemeine Sterbewahrscheinlichkeit folgte nur partiell demselben Verlauf. Während das Märzhoch für beide Orte Geltung beansprucht, entfallen die Phasen niedrigster Mortalität auf verschiedene Monate. Von einer periodenübergreifenden inter- wie intradörflichen Gleichförmigkeit, wie sie für England beobachtet wurde, kann in vorliegendem Fall keine Rede sein. Dies mag freilich mit dem kleinräumigen Zuschnitt auf einzelne Dörfer in Zusammenhang stehen. Immerhin beobachteten auch Wrigley und Scho eld in einer wenngleich kleinen Gruppe meist urbaner Ortschaften teils erhebliche Abnormalitäten. Insgesamt zeigt ihr Beispiel indes vom 16. bis zum ersten Drittel des 19. Jahrhunderts eine konstante Sterblichkeitsspitze in März und April, ein Tal im Juli sowie einen daran anschließenden relativ kontinuierlichen neuerlichen Risikoanstieg 622, der im Limbacher Land fehlte. Auf welche Ursachen die besonders im Rußdorfer Beispiel erheblichen Variationen des Sterbeaufkommens im Jahresverlauf zurückgehen, muss offen bleiben. Zufällige statistische Deviationen kommen ebenso in Betracht wie an dieser Stelle unberücksichtigte wechselhafte Ausprägungen maßgeblicher Faktoren, zum Beispiel Wetter, Nahrungsmittelversorgung, grassierende Krankheiten und die Menge gefährdeter Personen etc. Je nach Gemengelage ent elen typische saisonale Ausschläge auf einen Monat unter mehreren infrage kommenden oder blieben unter Umständen ganz aus. Die dadurch entstehende Variabilität erschwert es freilich ungemein, systemische Veränderungen an der jahreszeitlichen Sterblichkeit abzulesen.

622

Vgl. Scho eld/Wrigley, Population, S. 293ff.

EPIDEMIOLOGIE

277

An den Rußdorfer und Bräunsdorfer Verteilungsmustern sind keine eindeutigen Entwicklungstendenzen in der Verschiebung von Gipfeln und Tälern abzulesen, noch sind die Hintergründe einer ungewöhnlichen kleineren, beiderorts während des 18. Jahrhunderts auftretenden Übersterblichkeit im September eruierbar. Für eine sich indes seit dem 18. Jahrhundert abzeichnende, in Rußdorf zum Ende des Untersuchungszeitraums jedoch wieder umkehrende Verringerung der saisonalen Mortalitätsschwankungen könnten hingegen Veränderungen der Ernährungssituation verantwortlich zeichnen. Neue ertragssteigernde Agrartechniken, etwa die Umstellung von Dreifelder- auf Fruchtwechselwirtschaft, von Weide- zu Stallhaltung und der Beginn chemischer Düngung im 19. Jahrhundert oder die Kultivierung neuer Produkte wie der nährstoffreichen Kartoffel seit dem frühen 18. Jahrhundert 623, konnten die Versorgungskontinuität über das Jahr ohne Rückgriff auf einen großräumigen Lebensmittelhandel oder innovative Konservierungsmethoden verbessern. Dies hätte die periodisch wiederkehrende Nährstoffunterversorgung mindestens abgemildert und damit einen vor allem die Frühjahrssterblichkeit begünstigenden Faktor eliminiert. Generell stehen die Untersuchungsorte exemplarisch für den auf ein komplexes Ursachenge echt bauenden Variantenreichtum innerhalb eines übergeordneten Musters jahreszeitlich schwankenden Exitusrisikos.

6.4 EPIDEMIOLOGIE Im Jahr 2013 ging das Gros der Todesfälle in Sachsen – das Durchschnittsalter der Verstorbenen betrug 78,6 Jahre – auf Krankheiten des Herz-Kreislauf-Systems (45,4 %) und bösartige Neubildungen (24,3%) zurück. 624 Das gewöhnliche Gesicht des Todes der sächsischen Gegenwart spiegeln Inhalt und Textsprache zeitgenössischer Trauerannoncen. Eine wahllose Stichprobe aus der Freien Presse vom 1. August 2015 umfasst 26 verschiedene Trauerfälle und Lebensspannen von 50–101 Jahren. Allein 14 der Dahingeschiedenen hatten ihren 80. Geburtstag schon hinter sich. Zehn vornehmlich „jüngere“ Verstorbene betreffende Anzeigen lassen Rückschlüsse auf die Todesumstände zu. Es dominieren Termini wie „nach langer, mit großer Geduld ertragener Krankheit“ oder „wenn die Kraft zu Ende geht, ist Erlösung eine Gnade“, welche gleich den mehrfach auftretenden Dankesaussprachen an P ege- und Hospizdienste auf langwierige degenerative Erkrankungen hindeuten. Andere sprechen von „plötzlich“ und „unerwartet“

623 624

Erste Belege des Kartoffelanbaus datieren für Rußdorf auf 1756, für Bräunsdorf bereits auf 1717. – HstA-D, 12613 GB Limbach, Nr. 2, fol. 194, fol. 131 u. fol. 334b. Vgl. Statistisches Landesamt des Freistaates Sachsen, Statistik der Todesursachen im Freistaat Sachsen 2013, Kamenz 2015, online: http://www.statistik.sachsen.de/download/030_SB-Gesundheit/A_IV_3_j_13_a_001.pdf [zuletzt aufgerufen am 20.06.2016].

278

STERBLICHKEIT

erfolgtem Ableben, unter anderem typische Terminologie bei tödlich verlaufenen Kreislauferkrankungen bzw. -ausfällen. 625 Demgegenüber wissen zum Beispiel die Bräunsdorfer Beerdigungsregister 1815 von gänzlich differenten Schicksalen zu erzählen. Die 23 Verstorbenen des Jahres erreichten ein Alter zwischen 11 Tagen und 77 Jahren. Lediglich vier kamen über das Mindestalter des Beispiels von 2015 hinaus. Sechs Kleinstkinder wurden Opfer physischer, vermutlich in falscher Ernährung und daraus resultierenden Magen-Darm-Erkrankungen wurzelnder Schwäche. Weitere sieben Personen erlagen einer Infektionskrankheit wie „Husten“, „Schnupfen“, „Friesel“ und „Staupe“, zwei zeigten zumindest typische Symptome der Tuberkulose. Sechs Individuen erlitten ihren Exitus ursächlich aus inneren Leiden unter „Blutsturz“, „Bauchschmerzen“, „Magenkrämpfen“, „Seitenstechen“ etc. wahrscheinlich recht überraschend bzw. ohne Zweifel trotz teilweise angedeuteter Vorerkrankungen bar längeren Siechtums. 626 Diese einfache Konfrontation zweier zeitlich erheblich auseinanderliegender Momentaufnahmen demonstriert eindrücklich große Unterschiede in der jeweils vorherrschenden Art des Ablebens. Bevor aber auf die eng mit jener der Lebenserwartung verbundene Entwicklung der Todesursachenspektren Rußdorfs und Bräunsdorfs eingegangen wird, sei kurz auf die immanenten überlieferungsbedingten Schwächen beider Statistiken hingewiesen. Fehlende und qualitativ stark variierende Quellen erschweren langfristige Vergleiche bedeutend. Für das 16. und 17. Jahrhundert sind Aussagen zur Epidemiologie des gesamten Limbacher Landes nahezu unmöglich. Die ohnehin in ihrer gebotenen Datendichte extrem von Ort zu Ort bzw. von Schreiber zu Schreiber differierenden Beerdigungseinträge sparen Todesursachen vor 1700 weitestgehend aus. Einzig die Norm signi kant verlassende Ereignisse wie Mord, Suizid, Totgeburten, Unfälle und schwere Seuchen oder sonderbar lange Leidenszeiten bzw. -geschichten fanden Berücksichtigung. Ab den 1720er Jahren setzte in Rußdorf, in Bräunsdorf ab den 1750ern, ein protokollarischer Wandel ein. Nach zehn bis 20 Jahren des Übergangs herrschten bereits gegensätzliche Verhältnisse, gaben nunmehr beinahe jedem Eintrag beigefügte nähere Beschreibungen dem Tod ein Gesicht. Dadurch werden zwar die Todesursachenspektren abschätzbar, doch erweisen sich die Daten nach heutigen Maßstäben als wenig belastbar. Einerseits erfolgte bis ins späte 19. Jahrhundert ein Großteil der Todesfälle ohne ärztliche prä- oder postmortale Diagnostik, andererseits beschränkten sich auch die Diagnosen der Mediziner lange Zeit auf symptomatologische Krankheitsbenennungen. Während Infektionskrankheiten bzw. solche relativ klarer Symptomatik – zum Beispiel die typischen Seuchen- und

625 626

Abschnitt Trauer, in: Chemnitzer Verlag und Druck GmbH & Co. KG (Hg.), Freie Presse Chemnitz, 1. August 2015. Vgl. EPA Bräunsdorf, KB II, Beerdigungen 1815.

EPIDEMIOLOGIE

279

Kinderkrankheiten 627, Blutstürze, Hämorrhoiden, Herz- und Hirnschläge, äußerliche Geschwülste und Geschwüre etc. – relativ treffende Bezeichnungen erhielten, verbargen sich vor allem innere Leiden und generell jene diffuser Anzeichen, so sie überhaupt erkannt wurden, hinter eher allgemeinen, bildhaften Umschreibungen. Demgemäß schöpften die Kirchbuchautoren anfangs aus einem eher begrenzten Bezeichnungskatalog. Eine „Ursache“ teilten sich in den 1720er Jahren durchschnittlich 10,67 Rußdorfer, 1899 noch vier und 1930/1931 lediglich 1,89. Analog verzeichneten die Bräunsdorfer Register in den 1880er Jahren im Mittel 5,38 Personen pro Todesursache, 1899 noch 2,82 und in den frühen 1930ern 1,04. Erkältungs- und Infektionskrankheiten 628 dominierten in Verbindung mit verschiedenen Fiebern und diversen Entzündungen das Sterbegeschehen nach verwendeten Krankheitsbezeichnungen bis weit ins 19. Jahrhundert. Geschwür und Geschwulst wurden selten und ausschließlich unter Verweis auf die betroffenen Körperregionen unterschieden. Fallsuchtartige Erscheinungen rangierten unter Epilepsie, offensichtlich degenerative Leiden mit kontinuierlichem physischem Abbau respektive Abmagerung galten regelmäßig als Entkräftung, Altersschwäche, Ab-, Ver- oder Auszehrung und Schwindsucht, wobei die Letzteren vier gemeinhin synonym für Tuberkulose oder Krebs standen. Wer plötzlicher Atemnot bzw. asthmatischen Beschwerden erlag, erlitt einen Stick- oder Stock uss bzw. -husten. Anderweitig verursachte Kreislaufstillstände wurden unter dem Terminus des Schlag usses vereint. Innere Leiden äußerten sich in Seitenstechen, Brustbeklemmung, Erbrechen oder Blutstürzen. Todesursachen wie Gallen eber oder Magenbeschwerden zählten um 1800 noch zu den eindeutiger spezi zierten gastroenterologischen Erkrankungen. Im Laufe des 19. Jahrhunderts – ab 1800 forderten genormte Kirchbücher die Nennung des Todesgrundes explizit ein – traten „neue“ letale Leiden, beispielsweise „Krämpfe“ und „Schwäche“ hinzu und wurden insbesondere in dessen zweiter Hälfte organische Krankheiten zunehmend eindeutig lokalisiert sowie klassi ziert. Die sich fortschreitend verbessernde medizinische Infrastruktur und Versorgung durch Ortsärzte 629, Krankenhäuser und schließlich Krankenversicherungsleistungen (Kap. 8.2), aber auch der allgemeine medizinische Wissenszuwachs machten sich unzweifelhaft bemerkbar. Zeitgleich starben eher ungenaue Krankheitsbezeichnungen aus. Bei Magen, Herz und Hirn beginnend, differenzierte die Diagnostik sukzessive pro Organ mehrere Erkrankungen zuungunsten des allgemeinen „Leidens“ oder der „Krankheit“. Krebs und TBC wurden ihrerseits zunehmend auf einzelne Organe bezogen. Nach 1900 beschleunigte

627

628 629

Die Pest stellt hierbei eine Ausnahme dar: „Ungeachtet nicht zu läugnen ist, daß die Pest eine eigene Art einer sehr ansteckenden und bösartigen Krankheit ist, so ist doch auch wahr, daß man ehedem ein jedes bösartiges Faul eber, besonders bey der ehemahligen schlechten Behandlung desselben, eine Pest genannt hat.“ – Die Pest, in: Adelung, Johann Christoph, Grammatisch-kritisches Wörterbuch der Hochdeutschen Mundart, Bd. 3, Leipzig 1798, S. 694. Schnupfen, Husten, Staupe, Diphtherie, Blattern, Masern, Ruhr, Rotlauf etc. Seit 1741 war Rußdorf durchgängig mit einem Arzt, anfänglich „Chirurg“ genannt, versorgt. In Bräunsdorf sind über den gesamten Untersuchungszeitraum lediglich Viehärzte belegt.

280

STERBLICHKEIT

sich die Abkehr von symptomatologischen zu ätiologischen Todesursachenbenennungen, welche im Rußdorf und Bräunsdorf der 1930er Jahre bereits quantitativ überwogen. Zudem offenbaren schon die Todesursachenspektren der 1920er eine langsam einsetzende diagnostische Professionalisierung in Anwendung von Fachtermini auch bei seit Jahrhunderten bekannten Leiden wie „Carcinom“ oder „Apoplexie“, was jedoch erst nach 1935 nennenswerte Ausmaße annahm. Allein diese Varianz in Quantität und Qualität der Todesursachenüberlieferung erschwert inhaltliche Vergleiche über längere Zeiträume hinweg extrem. Während die Angaben am Ende der Untersuchungszeit insgesamt relativ zuverlässig erscheinen, bleibt bei den im 18. und 19. Jahrhundert vielfach auftretenden allgemein symptomorientierten Krankheitsbezeichnungen nicht nur die konkrete Todesursache meist fraglich, sondern ist generell die Validität der getroffenen Angaben hochgradig unsicher. Um eine gewisse interperiodische Vergleichbarkeit herzustellen, wurden die einzelnen Nennungen soweit möglich in thematischen Gruppen vereint, die es auf ihren Anteil am gesamten Todesursachenspektrum zu untersuchen galt. Analog zur gesamteuropäischen Entwicklung einer eng mit dem Rückgang der Sterbeziffer zusammenhängenden epidemiologischen Transition sollte dabei eine klare Entwicklungslinie weg vom mittelalterlich-frühneuzeitlichen Überhang gewöhnlicher Infektionserkrankungen, gastroenterologischen und Atemwegskrankheiten in Richtung des gegenwärtigen Schwerpunkts degenerativer, typischer Alters- und sogenannter Zivilisationskrankheiten, allen voran Krebs und Herz-Kreislauf-Erkrankungen, zum Ausdruck kommen. 630 In Rußdorf, wo bereits für das 18. Jahrhundert aussagekräftige Daten vorliegen, machten Infekte, Entzündungen und Atemwegserkrankungen vor 1800 durchschnittlich allein 50 Prozent der überlieferten Todesursachen aus (Tab. 29). Weitere 3,62 Prozent ent elen auf typische, in der Regel ebenfalls bakteriell oder viral verursachte Kinderkrankheiten und auch ausdrücklich genannte Schwindsucht nahm in Verbindung mit mutmaßlichen TBC-Erkrankungen einen nennenswerten Raum innerhalb der Statistik ein. Gleichfalls erwartungsgemäß blieb der Anteil vornehmlich im höheren Erwachsenenalter eintretender kardiovaskulärer Leiden stark begrenzt. Einzig Geschwülste hatten Mitte des 18. Jahrhunderts unvorhergesehen einen relativ hohen Stand. Für das zeitgenössische Bräunsdorf ist von einer gleichartigen Verteilung auszugehen. Trotz wesentlich geringerer Fallzahlen zeigt das Todesursachenspektrum dort zwischen 1730 und 1779 ein vergleichbares Muster. Die nachfolgende Entwicklung folgte entsprechend in beiden Orten parallel demselben Verlauf. Schon im frühen 19. Jahrhundert verlor die vormals dominante Gruppe stark an Macht. Seit den 1830er Jahren erlag kontinuierlich pro Intervall weniger als jeder Vierte einer Erkrankung dieser Kategorie. Bis in die 1920/1930er el deren Anteil in Rußdorf auf 14 Prozent und sank in Bräunsdorf gar in den einstelligen Bereich. Dagegen 630

Vgl. Ehmer, Bevölkerungsgeschichte, S. 40f.

281

EPIDEMIOLOGIE

Tabelle 29: Gewichtung der hauptsächlichen Todesursachen in Rußdorf und Bräunsdorf Rußdorf

1730–1779

1780–1829

1830–1879

1880–1899

1900–1919

1920–1935

4,52% 0,23%

5,24% 0,49%

5,53 % 1,94 %

6,65 % 2,47 %

6,79 % 4,60 %

10,22 % 3,78 %

51,36%

44,27%

21,62 %

16,15 %

16,30 %

14,00 %

0,23% 3,62%

0,98% 4,63%

1,31 % 17,79 %

1,32 % 24,67 %

4,38 % 28,38 %

10,89 % 8,22 %

13,35% 6,11%

5,85% 11,83%

4,27 % 16,92 %

1,21 % 11,37 %

2,64 % 9,81 %

8,22 % 13,56 %

– 6,56%

2,93 % 11,22%

7,61 % 17,40 %

10,93 % 19,45 %

4,83 % 14,04 %

2,00 % 7,11 %

14,03% 442

12,56% 820

5,62 % 2063

5,77 % 1820

8,23 % 1325

22,00 % 450

– –

5,76 % 0,33 %

5,97 % 2,79 %

9,28 % 2,80 %

11,51 % 3,97 %

14,16 % 2,58 %

63,83%

32,40%

22,93 %

13,21 %

13,69 %

5,15 %

Herz-Kreislauf-Erkr.4 Kinderkrankheiten5

4,26%

0,99%

1,43 %

2,03 %

6,35 %

22,32 %



4,11 %

16,24 %

38,63 %

27,78 %

12,02 %

Krebs

8,51% 6,38% –

4,11% 8,88% –

3,18 % 19,82 % –

2,16 % 3,94 % 1,65 %

4,37 % 6,94 % 14,29 %

12,02 % 10,30 % 48,07 %

Altersschwäche1 gastroenterologische Erkr.2 Infekte, Entzünd., Atemwegserkr.3 Herz-Kreislauf-Erkr.4 Kinderkrankheiten5 Krebs neurologische Erkr.6 Schwäche7 Tuberkulose8 Sonstige Gesamt Bräunsdorf Altersschwäche1 gastroenterologische Erkr.2 Infekte, Entzünd., Atemwegserkr.3

neurologische Erkr.6 Schwäche7 Tuberkulose8 Sonstige Gesamt 1 2 3

4

5 6 7 8

6,38%

15,13%

10,51 %

18,30 %

13,29 %

8,58 %

10,64%

28,29%

17,12 %

9,53 %

11,51 %

12,88 %

47

608

1256

787

504

233

Enthält v. a.: Alter, Altersschwäche, hohes Alter, Marasmus. Enthält v. a.: Magenkrampf, -verhärtung, -verschleimung, -vereiterung, -erweichung, -krankheit, -blutung, Darmverschlingung, -verstopfung, -verschluss, -leiden, -lähmung, Gastritis. Enthält v. a.: Steck-, Stick- u. Stöck uss, Pest, Cholera, Dysenteria, Ruhr, Pocken /Blattern, Masern, Scharlach, Typhus, Fieber, Bronchitis, Pneumonie/Lungenentzündung, Friesel, Staupe, Schnupfen, Katarrh, Grippe/In uenza, Diphtherie, Hitze, Husten, Asthma, Polio, Bräune, Brand, Syphilis, Rose, Krätze, böser / weher Hals, Keuchhusten. Enthält v. a.: Herzschlag, -fehler, -leiden, -krampf, -krankheit, -schwäche, -muskelentzündung, -lähmung, -infarkt, -insuf zienz, Arteriosklerose, Adernverkalkung, Thrombose, Embolie, Kreislaufschwäche, -stillstand, Wassersucht. Enthält v. a.: Rachitis, Englische Krankheit, Krampf bzw. Krämpfe, Lebensschwäche, Schwämmchen, Schwämme, Zahn eber, Zahnen, Kindermasern, -blattern, -friesel, -staupe, böse Kinderkrankheit. Enthält v. a.: Apoplexie, Nervenschlag, Schlaganfall, - uss, Epilepsie, Fallsucht, Rückenmarksentzündung, -erkrankung, -leiden, Hirnschlag, Gehirnerweichung, -krampf. Typisches Kinderleiden. Enthält v. a.: Schwindsucht, Ab-, Aus-, Verzehrung.

282

STERBLICHKEIT

stieg die eindeutige und mutmaßliche TBC-Sterblichkeit im Verlauf des 19. Jahrhunderts insgesamt deutlich an. Die langwierige, vor allem bei schlechtem körperlichem Allgemeinzustand bzw. latent herabgesetzter Immunabwehr ausbrechende Infektionskrankheit erlebte in den letzten 20 Jahren des 19. Jahrhunderts, der Zeit der Bevölkerungsexplosion, eine Hochzeit, in der sie beinahe 20 Prozent aller Todesfälle der fraglichen Kohorte verursachte. Anschließend ging ihr Anteil rasch auf unter zehn Prozent zurück, eine Entwicklung, die Burkhardt für ganz Sachsen analog beschrieb. 631 Zeitgleich beanspruchten Kinderkrankheiten korrespondierend mit sowohl zunehmenden Geburtenraten, dem steigenden Säuglingssterberisiko (siehe Kap. 6.4) als auch einem großen Anteil Minderjähriger an der Gesamtverstorbenenzahl die Spitzenposition unter den Todesursachenkategorien. Seit dem späten 18. Jahrhundert nahm ihr Gewicht kontinuierlich zu. Mitte des 19. Jahrhunderts waren sie zu einer signi kanten Größe erwachsen und erreichten an dessen Ende in Bräunsdorf bzw. im frühen 20. Jahrhundert in Rußdorf ihren Höhepunkt. Auf dem Gipfel ihrer Bedeutung zeichneten sie für ein Viertel bis ein Drittel aller Todesfälle verantwortlich. Am Ende des Untersuchungszeitraums nahmen sie jedoch, wiederum mit einem starken Rückgang der Natalitätsziffer sowie dem extrem regressiven Säuglingssterberisiko nach 1900 korrespondierend, nur noch vergleichsweise mäßigen Ein uss auf das Sterbegeschehen. Herz-Kreislauf-Erkrankungen erlebten im Kontrast zu den vorgenannten Gruppen gerade nach 1920 einen spürbaren Aufschwung, kamen aber innerhalb des Untersuchungszeitraums kaum über zehn bzw. 20 Prozentpunkte hinaus. Krebstote, die während des 19. Jahrhunderts nach dem anfänglichen Hoch eine eher untergeordnete Rolle spielten und bis in die 1890er Jahre verhältnismäßig seltener wurden – eine Folge der gegenläu gen Kindersterblichkeit –, hatten ihrerseits ab den 1920ern verstärkten Anteil am Todesursachenspektrum, ohne jemals an die gegenwärtigen Maßstäbe heranzureichen. Andere Krankheitskomplexe wirkten mit jeweils konstant geringer letaler Kraft auf die Dorfbewohnerschaft. Diese Feststellung gibt in Hinblick auf die untergeordnete Rolle zum Beispiel gastrointestinaler Erkrankungen Anlass zur Verwunderung. Oft werden als Ursache der überregional tendenziell hohen frühneuzeitlichen Kindersterblichkeit gerade Magen-Darm-Krankheiten bzw. Sommerdiarrhoe infolge falscher Ernährung und schlechter hygienischer Zustände hervorgehoben. 632 Im Falle der hier betrachteten Dörfer stützt zumindest die epidemiologische Statistik das Bild nicht. Freilich sind die hauptsächlichen Säuglingstodesursachen des 19. Jahrhunderts, Krämpfe und Schwäche, typische Symptome unter anderem anhaltender Verdauungsbeschwerden. Insbesondere die vornehmlich, doch keineswegs ausschließlich Säuglinge „angreifende“ Schwäche war in der Rußdorfer Geburten- und Sterbefallregistratur 1860–1899 bzw. jener Bräunsdorfs 1900–1935 vielfach Gegenstand der Diagnostik. 631 632

Vgl. Burkhardt, Bevölkerung, S. 58ff. Vgl. P ster, Bevölkerungsgeschichte, S. 96f.

EPIDEMIOLOGIE

283

Doch nicht nur bei den natürlichen Todesursachen kristallisieren sich Entwicklungstendenzen heraus. Auch Unfälle und Suizide trugen nicht durchgängig mit gleichbleibender Intensität zu den Sterbeziffern bei, obwohl sie in keiner Periode ausblieben. Für gewöhnlich verharrte ihr Anteil unter einem Prozent einer Sterbedekade. Am Ausgang des betrachteten Zeitraums wurde diese eherne Regel klar gebrochen. Tödliche Unglücke traten im Rußdorf der 1920er Jahre überproportional häu g auf, während sie in Bräunsdorf das traditionelle Niveau bis 1935 hielten. Hingegen wagten nach 1929 auffallend viele Bewohner beider Dörfer den Freitod. Mit dieser Entwicklung standen die Untersuchungsorte nicht allein. In ganz Sachsen häuften sich die Suizide in den 1930er Jahren, was Burkhardt auf die seinerzeitigen desolaten wirtschaftlichen Verhältnisse zurückführte. 633 Von den Rußdorfer und Bräunsdorfer Akten werden die Hintergründe jedoch verschwiegen. Die Statistik zeigt, dass verschiedene Todesursachen zu unterschiedlichen Zeiten mehr oder minder großen Anteil am Sterbegeschehen hatten. Fraglich ist, wo die Gründe dieser Gewichtungsverschiebungen zu suchen sind. Büßten einzelne Krankheiten tatsächlich ihr Gefahrenpotential ein oder wurzelt dieser Eindruck schlicht in einem veränderten quantitativen Verhältnis sozialer bzw. altersmäßiger Risikogruppen? Sind derartige Prävalenzen überhaupt ermittelbar? Traf Ersteres zu, müssten alle gesellschaftlichen Teilmengen unabhängig von etwaiger Übersterblichkeit gleichartige Entwicklungstendenzen bei den einzelnen Krankheitstypen erkennen lassen, wohingegen in letzterem Falle das alte Verteilungsmuster weitestgehend Bestand gehabt hätte. Nach dörflichen Besitzständen und Berufsgruppen aufgeschlüsselt, werden anhand von Stichproben an gegensätzlichen Enden des sozialen Spektrums angesiedelter, in statistisch relevanten Größenordnungen vertretener Klassen, wie aus den Tabellen 30 und 31 hervorgeht, keine signi kanten Unterschiede oder todesursachenspezi sche überdurchschnittliche Betroffenheit erkennbar. In beiden Untersuchungsorten gewannen Altersschwäche und kardiovaskuläre Leiden seit dem späten 19. Jahrhundert stark an Gewicht und wurden auch bei Fabrikanten sowie Leinwebern und Strumpfwirkern prozentual öfter genannt. Krankhafte Gewebeneubildungen gingen nach einem Hoch im 18. Jahrhundert hingegen allgemein anteilig zurück und blieben nach 1800 weitestgehend auf einem Niveau unter zehn Prozent. Die gleiche Entwicklung ist bei infektiösen und entzündlichen Erkrankungen zu beobachten, welche über alle sozialen Gruppen hinweg im 18. Jahrhundert kategorisch mindestens ein Drittel, meist aber die Hälfte bis zwei Drittel der jeweils aktuellen Todesursachenspektren ausmachten, nach 1820 in Rußdorf und 1850 in Bräunsdorf jedoch durchschnittlich nur noch zwischen zehn und 20 Prozentpunkte hielten. Zu weiterer Regression kam es in unwesentlichem Maße nach 1910. Als einziger Bevölkerungsteil litt die Rußdorfer Grundbesitzlosenschicht kontinuierlich zu 20 Prozent prämortal an Infekten. 633

Vgl. Burkhardt, Bevölkerung, S. 66ff.

284

STERBLICHKEIT

Tabelle 30: Todesursachenhäu gkeit nach Altersgruppen, Berufsgruppen u. Ständen in Rußdorf (Angaben in %) unter 1 Jahr

Altersschw.

Krebs

in Prozent Infekte HerzKinder- Schwäche u. Entzün- Kreislauf- krankdungen Krankheiten heiten

absolut Tuber- Todesfälle kulose

1730–1759 1760–1789 1790–1819 1820–1849 1850–1879 1880–1909 1910–1935

– – – – – – –

0,00 1,35 1,00 0,23 1,17 0,13 0,79

81,08 52,70 25,00 13,79 13,86 8,95 13,10

0,00 0,00 0,00 0,00 0,00 0,07 1,19

0,00 1,35 10,00 28,27 29,05 42,64 45,24

0,00 0,00 17,00 2,80 10,85 17,64 13,49

2,70 8,11 2,00 16,59 20,87 18,10 3,17

37 74 100 428 599 1508 252

1–20 Jahre 1730–1759 1760–1789 1790–1819 1820–1849 1850–1879 1880–1909 1910–1935

0,00 0,00 0,00 0,00 0,00 0,78 1,05

7,14 0,00 2,50 1,22 1,69 1,16 1,05

71,43 75,00 82,50 51,22 40,68 50,78 49,47

0,00 0,00 0,00 0,00 0,85 4,65 4,21

3,57 0,00 1,25 1,22 0,85 7,75 5,26

– – – – – – –

10,71 1,67 3,75 17,07 18,64 15,12 20,00

28 60 80 82 118 258 95

– – – – – – –

7,69 3,92 6,06 9,38 5,51 2,60 4,07

53,85 47,06 34,85 11,46 10,24 9,96 16,28

0,00 1,96 1,52 2,08 3,15 4,33 11,05

0,00 0,00 0,00 1,04 0,00 0,87 0,58

– – – – – – –

3,85 25,49 27,27 38,54 34,65 50,65 29,65

26 51 66 96 127 231 172

über 50 Jahre 1730–1759 1760–1789 1790–1819 1820–1849 1850–1879 1880–1909 1910–1935

10,34 12,26 8,62 31,07 22,17 27,60 24,26

29,89 23,58 13,79 11,30 12,61 6,56 11,05

32,18 20,75 28,16 10,17 8,70 11,20 11,59

0,00 0,00 1,15 0,56 5,22 4,37 12,94

0,00 0,00 0,00 2,26 0,87 0,00 0,00

0,00 0,00 1,15 0,56 0,43 0,00 0,54

1,15 16,98 6,90 8,47 6,09 4,10 2,43

87 106 174 177 230 366 371

Bauern 1730–1759 1760–1789 1790–1819 1820–1849 1850–1879 1880–1909 1910–1935

5,26 3,03 6,10 7,87 7,83 9,09 14,00

10,53 7,58 4,88 5,62 4,35 0,91 10,00

52,63 59,09 41,46 15,73 14,78 19,09 8,00

0,00 0,00 1,22 0,00 2,61 2,73 16,00

2,63 0,00 4,88 13,48 18,26 26,36 10,00

2,63 12,12 9,76 21,35 21,74 10,91 18,00

2,63 4,55 4,88 13,48 8,70 15,45 0,00

38 66 82 89 115 110 50

21–49 Jahre 1730–1759 1760–1789 1790–1819 1820–1849 1850–1879 1880–1909 1910–1935

285

EPIDEMIOLOGIE

unter 1 Jahr

Einwohner 1760–1789 1790–1819 1820–1849 1850–1879 1880–1909 1910–1935

Altersschw.

Krebs

in Prozent Infekte HerzKinder- Schwäche u. Entzün- Kreislauf- krankdungen Krankheiten heiten

absolut Tuber- Todesfälle kulose

0,00 5,56 0,93 2,11 3,12 7,37

0,00 5,56 2,80 3,80 1,17 3,69

28,57 38,89 20,56 22,78 15,11 21,13

0,00 0,00 0,93 0,42 1,07 5,90

0,00 5,56 28,04 21,52 33,53 17,44

14,29 16,67 12,15 10,13 8,38 11,06

42,86 11,11 14,95 25,32 20,76 9,58

7 18 107 237 1026 407

0,00 1,92 1,32 3,78 2,09 7,58 19,60

10,00 7,69 3,95 3,49 3,83 2,07 8,00

60,00 55,77 36,84 16,57 19,34 16,73 12,40

0,00 0,00 0,00 0,29 1,05 1,67 10,80

10,00 1,92 3,95 21,80 20,21 24,80 8,80

0,00 7,69 9,21 17,73 18,12 11,42 12,00

5,00 17,31 14,47 18,02 20,56 16,73 8,80

20 52 76 344 574 1016 250

Fabrikanten 1850–1879 1880–1909 1910–1935

0,00 2,90 5,26

0,00 1,45 10,53

10,00 24,64 0,00

0,00 2,90 10,53

30,00 26,09 10,53

20,00 7,25 5,26

20,00 11,59 5,26

10 69 19

Gärtner 1730–1759 1760–1789 1790–1819 1820–1849 1850–1879 1880–1909 1910–1935

4,08 7,77 2,29 15,22 8,11 12,86 25,00

22,45 14,56 5,34 5,80 5,95 3,33 5,36

45,92 36,89 37,40 19,57 22,16 17,14 8,93

0,00 0,00 3,82 0,00 3,24 0,95 10,71

5,10 0,00 3,05 8,70 8,65 15,71 16,07

0,00 0,00 4,58 0,72 4,32 8,57 5,36

2,04 13,59 4,58 10,87 8,11 9,52 3,57

98 103 131 138 185 210 56

Häußler 1730–1759 1760–1789 1790–1819 1820–1849 1850–1879 1880–1909 1910–1935

0,00 2,61 3,33 7,62 4,87 7,87 12,55

9,43 8,70 8,10 4,26 4,48 1,35 10,46

47,17 50,43 47,14 18,83 15,98 17,96 14,64

0,00 0,00 0,00 0,22 1,17 2,46 12,55

16,98 0,87 1,43 19,28 19,49 23,62 8,37

0,00 0,00 3,81 2,24 5,85 9,35 3,35

3,77 14,78 9,52 14,80 16,57 15,13 5,86

53 115 210 446 513 813 239

Leinw./Strumpfw. 1730–1759 1760–1789 1790–1819 1820–1849 1850–1879 1880–1909 1910–1935

286

STERBLICHKEIT

Tabelle 31: Todesursachenhäu gkeit nach Altersgruppen, Berufsgruppen u. Ständen in Bräunsdorf (Angaben in %) unter 1 Jahr

Altersschw.

Krebs

in Prozent Infekte HerzKinder- Schwäche u.Entzün- Kreislauf- krankdungen Krankheiten heiten

absolut Tuber- Todesfälle kulose

1790–1819 1820–1849 1850–1879 1880–1909 1910–1935

– – – – –

0,59% 1,94% 1,26% 0,00% 0,00%

27,65% 24,03% 16,12% 4,82% 5,51%

0,00 % 0,00 % 0,25 % 0,54 % 5,08 %

7,65 % 20,54 % 35,01 % 63,04 % 63,98 %

34,12 % 25,19 % 13,60 % 5,18 % 3,81 %

16,47 % 3,49 % 4,28 % 20,00 % 9,75 %

170 258 397 560 236

1–20 Jahre 1760–1789 1790–1819 1820–1849 1850–1879 1880–1909 1910–1935

0,00% 0,00% 0,00% 0,00% 1,15% 0,00%

0,00 % 1,75 % 2,38 % 1,82 % 1,15 % 1,59 %

88,24 % 59,65 % 61,90 % 41,82 % 71,26 % 47,62 %

0,00 % 1,75 % 2,38 % 3,64 % 4,60 % 17,46%

0,00 % 0,00 % 0,00 % 10,00 % 0,00 % 1,59 %

0,00% 8,77% 0,00% 0,00 % 0,00% 0,00 %

0,00 % 10,53 % 14,29 % 7,27 % 13,79 % 19,05 %

17 57 42 110 87 63

0,00% 100,00% 25,00% 0,00% 4,55% 13,64% 6,00% 26,00% 5,56% 16,67% 7,35% 4,41% 4,17% 12,50%

0,00 % 50,00 % 0,00 % 0,00 % 1,39 % 5,88 % 2,78 %

– – – – – – –

– – – – – – –

0,00 % 25,00 % 31,82 % 30,00 % 43,06 % 50,00 % 43,06 %

12 8 22 50 72 68 72

21–49 Jahre 1730–1759 1760–1789 1790–1819 1820–1849 1850–1879 1880–1909 1910–1935

– – – – – – –

über 50 Jahre 1760–1789 1790–1819 1820–1849 1850–1879 1880–1909 1910–1935

0,00% 20,39% 27,61% 23,03% 47,85% 35,29%

16,67% 9,71 % 8,96 % 4,24 % 5,74 % 13,73%

8,33 % 7,77% 6,72% 9,70% 9,09% 6,86 %

16,67 % 3,88 % 0,75 % 4,24 % 7,18 % 15,69 %

0,00 % 0,00 % 0,75 % 0,00 % 0,00 % 0,00 %

0,00 % 4,85 % 3,73 % 1,21 % 0,00 % 0,00 %

0,00 % 8,74 % 14,93 % 9,09 % 0,96 % 0,49 %

12 103 134 165 209 204

Bauern 1730–1759 1760–1789 1790–1819 1820–1849 1850–1879 1880–1909 1910–1935

8,33% 4,88% 5,56% 8,54% 14,71% 10,34% 10,98%

16,67% 9,76 % 5,56 % 7,32 % 3,92 % 1,15 % 6,10 %

33,33% 58,54 % 40,00 % 18,29 % 15,69 % 14,94 % 9,76%

0,00 % 0,00 % 2,22 % 0,00 % 4,90 % 3,45 % 10,98 %

0,00 % 0,00 % 3,33 % 8,54 % 11,76 % 31,03 % 30,49 %

0,00 % 0,00% 11,11 % 15,85 % 4,90 % 2,30 % 0,00 %

4,17 % 2,44 % 6,67 % 4,88 % 5,88 % 11,49 % 3,66 %

24 41 90 82 102 87 82

Einwohner 1790–1819 1820–1849 1850–1879 1880–1909 1910–1935

5,26% 1,22% 4,98% 4,76% 10,62%

5,26 % 3,66 % 4,52 % 3,08 % 5,14 %

31,58 % 45,12 % 18,55 % 12,04 % 14,73 %

0,00 % 1,22 % 0,90 % 2,80 % 9,25 %

0,00 % 10,98 % 23,53 % 21,29 % 4,45 %

21,05 % 9,76 % 6,79 % 1,68 % 0,34%

10,53 % 12,20 % 17,65 % 29,97 % 20,55 %

19 82 221 357 292

287

EPIDEMIOLOGIE

unter 1 Jahr

in Prozent Infekte HerzKinder- Schwäche u.Entzün- Kreislauf- krankdungen Krankheiten heiten

absolut Tuber- Todesfälle kulose

Altersschw.

Krebs

4,76% 0,00% 2,78% 9,73% 20,15%

0,00 % 2,13 % 2,31 % 2,06 % 8,21 %

33,33 % 40,43 % 17,59 % 12,98 % 8,21%

0,00 % 0,00 % 0,93 % 3,24 % 11,19 %

4,76 % 14,89 % 24,07 % 34,22 % 14,18 %

28,57 % 12,77 % 7,87 % 3,24 % 0,75 %

19,05 % 8,51 % 12,50 % 21,24 % 12,69 %

21 47 216 339 134

– – –

3,03% 0,00% 30,00%

21,21% 10,71% 0,00%

0,00 % 7,14 % 10,00 %

21,21 % 42,86 % 10,00 %

3,03 % 0,00 % 0,00 %

24,24 % 14,29 % 0,00 %

33 28 10

Gärtner 1730–1759 1760–1789 1790–1819 1820–1849 1850–1879 1880–1909 1910–1935

6,90% 11,59% 2,29% 14,09% 8,54% 14,91% 27,27%

36,21% 21,74% 6,87 % 5,37 % 7,93 % 3,73 % 7,79 %

29,31% 26,09% 35,11 % 25,50 % 17,68 % 16,15 % 11,69 %

0,00 % 0,00 % 3,82 % 0,00 % 4,88 % 1,86 % 6,49 %

0,00 % 0,00 % 0,76 % 12,08 % 15,85 % 23,60 % 5,19 %

0,00 % 0,00 % 11,45 % 12,08 % 4,27 % 3,11 % 1,30%

0,00 % 0,00 % 7,63 % 5,37 % 3,05 % 6,21 % 9,09 %

58 69 131 149 164 161 77

Häusler 1730–1759 1760–1789 1790–1819 1820–1849 1850–1879 1880–1909 1910–1935

0,00% 5,00% 3,11% 13,39% 7,05% 10,54% 13,89%

9,09 % 15,00% 7,56 % 6,30 % 3,79 % 2,24 % 9,03 %

59,09 % 36,67% 29,33 % 20,87 % 19,24 % 14,35 % 15,97 %

0,00 % 0,00 % 0,00 % 0,79 % 2,44 % 3,14 % 10,76%

0,00 % 0,00 % 4,00 % 7,09 % 14,09 % 26,91 % 6,25 %

0,00% 0,00 % 13,78 % 9,84% 5,42 % 1,12 % 0,69 %

0,00 % 20,00 % 18,67 % 12,20 % 11,11 % 16,59 % 7,99 %

22 60 225 254 369 446 288

Leinw./Strumpfw. 1790–1819 1820–1849 1850–1879 1880–1909 1910–1935 Fabrikanten 1850–1879 1880–1909 1910–1935

288

STERBLICHKEIT

Von Schwächesterblichkeit waren vor allem die Rußdorfer Bauern, Einwohner und Textilgewerbetreibenden sowie in Bräunsdorf die letzteren beiden Gruppen betroffen. Eine höhere Gefährdung der Unterschichtskinder lässt sich aus dem Befund nicht ableiten. Stärkere soziale Differenzen sind einzig bei Kinderkrankheiten und Tuberkulose zu beobachten. Die Rußdorfer Gärtner- und Bräunsdorfer Bauernschicht erlebte im Laufe des 19. Jahrhunderts eine relative Zunahme letal verlaufender, vornehmlich im Kindesalter auftretender Erkrankungen, während die übrige Gesellschaft jeweils nach einer Hochphase 1820–1909 zum Ende der betrachteten Zeit davon immer seltener tödlich betroffen wurde (< 10 %). TBC-Anteile nahmen dagegen gesamtgesellschaftlich nach hohen Prozentwerten 1880/1899 im frühen 20. Jahrhundert merklich ab. Standesdifferenzen werden dabei eher in der jeweiligen Quantität deutlich. Meist erlag weniger als jeder zehnte verstorbene Angehörige der Bauern- und Gärtnerschaft einer Spielart der Schwindsucht. Bei den Häuslern zeichnete die Tuberkulose im 19. Jahrhundert für zehn bis 20 Prozent der Todesfälle verantwortlich. Angehörige der Einwohner- bzw. der Leinweber- und Strumpfwirkerschaft waren am häu gsten betroffen. Offensichtlich schützte Grundbesitz zu einem gewissen Grad vor dem Tuberkuloseexitus. Nicht umsonst gilt die Krankheit als typisches Armutszeichen. 634 Insgesamt scheiden veränderte Gewichtungsverlagerungen der lokalen sozialen Gruppen als mögliche Ursache einer sich wandelnden Morbidität aus. Selbst die seit dem 19. Jahrhundert in beiden untersuchten Dörfern exzessiv wachsende, vor allen anderen tuberkuloseanfällige Landbesitzlosenschicht verhinderte nicht den gesamtgesellschaftlich massiven Rückgang aller Infektionskrankheiten bzw. deren relativen Letalitätsverlust. Weitaus größere Unterschiede in den Todesursachenverteilungsmustern bestanden zwangsläu g zwischen Altersgruppen. Manche Leiden sind an bestimmte körperliche Entwicklungsstufen gebunden. Altersschwäche kann etwa kaum bei einem Kind erwartet werden, Zahnkrämpfe oder Zahn eber umgekehrt nicht bei Erwachsenen. Andere treten zwar per se altersunabhängig auf, jedoch bevorzugt in bestimmten Lebensabschnitten bzw. entfalten ihre letale Wirkung in einigen eher. Säuglinge unter einem Jahr starben anfangs vor allem, bis 1935 aber in stark abnehmender Häu gkeit an Infekten und Entzündungen sowie an Schwäche. Die Schwächemortalität entwickelte sich in Rußdorf proportional zur Zahl der Säuglingssterbefälle, in Bräunsdorf ging sie dagegen über das gesamte 19. Jahrhundert kontinuierlich zurück. In den Todesursachenspektren der übrigen Altersgruppen spielte sie keine übergeordnete Rolle. Auch die Schwindsucht forderte meistens unter zehn Prozent der Kleinstkinder,

634

Vgl. Schmitt, Andreas, „Leuchten wir mal hinein ...“: Das Waldhaus Charlottenburg in Sommerfeld/Osthavelland 1905–1945. Ein Stück Berliner Tuberkulosemedizin, Diss., Berlin 2004, S. 12 ff.

EPIDEMIOLOGIE

289

konnte allerdings in Hochzeiten bis 20 Prozent einer Sterbekohorte verursachen. Für den Löwenanteil der verstorbenen Säuglinge zeichneten mit seit dem späten 18. Jahrhundert steigender Tendenz und insbesondere ab den 1880er Jahren Kinderkrankheiten verantwortlich. Die verbleibende Bevölkerungsgruppe der Unmündigen hatte letale Schwäche und Kinderkrankheiten kaum noch zu fürchten. Deren Los lag einerseits in der unverändert zwischen zehn und 20 Prozent einer Sterbekohorte fordernden Tuberkulose, andererseits in den zum Ende des Untersuchungszeitraums hin prozentual leicht rückläu gen, kontinuierlich über 40 Prozent einfordernden infektiösen und entzündlichen Leiden. Wer zwischen seinem 21. und 50. Geburtstag verschied, litt mit über das 19. Jahrhundert hinweg zunehmender, nach 1909 jedoch leicht sinkender Wahrscheinlichkeit an einer tuberkulösen Krankheit. Entzündungen und Infektionskrankheiten wurden demgegenüber in Bräunsdorf, wo die Schwindsucht stärkeren Anteil an der altersgruppenspezi schen Mortalität nahm, konstant relativ selten diagnostiziert und pegelten sich in Rußdorf erst im 19. Jahrhundert nach rapidem massivem Bedeutungsverlust auf diesem niedrigen Niveau um zehn Prozent ein. Jenseits des 50. Lebensjahres lauerten neben den mehrfach genannten neue Gefahren. Jedem fünften bis vierten Rußdorfer Verstorbenen höheren Alters wurde seit 1820, denjenigen Bräunsdorfern 1820–1879 desgleichen, hernach aber jedem Dritten bis beinahe Zweiten Altersschwäche bescheinigt. Die in den vorherigen Lebensphasen so bedrohliche Schwindsucht hatte kaum noch Bedeutung und verlor im Laufe des 19. Jahrhunderts ihre altersgruppenspezi sche Wirkungsmacht ganz. Gleichzeitig vereinten Infekte und Entzündungen kontinuierlich ca. zehn Prozent jeder Sterbekohorte auf sich. Herz-Kreislauf-Erkrankungen gewannen dagegen für die älteren Semester seit der Jahrhundertmitte deutlich und nach 1909 massiv an Relevanz. In Bräunsdorf hatte dies abschließend auch für Krebsleiden, deren prozentualer Anteil an den Todesfällen vor 1850 extrem gesunken war, Geltung. Das Rußdorfer Beispiel zeigt nach einer gleichartigen Entwicklung während des 18. Jahrhunderts stattdessen einen weitestgehenden Niveauerhalt (um 10%). Mit Hinblick auf die Veränderungen des Gewichtungsverhältnisses der Altersgruppen innerhalb der Sterbedekaden zeichnen die zu Tage getretenen altersspezi schen epidemiologischen Prävalenzen ein relativ klares Bild des sich seit dem späten 19. Jahrhundert wandelnden Todesursachenverteilungsmusters. Die vier bedeutenden Kategorien Schwäche, Kinder-, Alters- und Infektionskrankheiten sind hierbei von Interesse, verantworteten sie doch zusammengenommen selten unter zwei Drittel aller überlieferten Todesfälle einer Kohorte und dominierten dementsprechend in variierender Konstellation das alterskategorienspezi sche Sterbegeschehen. Letale körperliche Schwäche traf fast ausschließlich Säuglinge. Dennoch folgte die prozentuale Entwicklung ihres Auftretens in den Untersuchungsorten nicht der jeweiligen Säuglingsmortalität nach Sterbekohorten. Die zwischendörflich zeitlich differierenden Gipfelwerte (1870er/1810er)

290

STERBLICHKEIT

lagen deutlich vor den maximalen prozentualen Sterblichkeitsanteilen der jüngsten Altersgruppe (1890er). Deren nachfolgend starke Abnahme auf ein historisches Minimum bzw. der starke Rückgang des Säuglingssterberisikos (siehe 6.4) wurde gleichfalls vorweggenommen. Demzufolge steht ein Zusammenhang beider Entwicklungen nicht zur Debatte. Schwächetode gingen somit entweder aufgrund verbesserter Umweltbedingungen, etwa eines gesteigerten Lebens- bzw. Ernährungsstandards der Eltern oder einer veränderten Stillpraxis, zurück oder die recht allgemeine Krankheitsbezeichnung wich schlicht im Rahmen einer professionalisierteren Diagnostik aussagekräftigeren bzw. zumindest in einer veränderten diagnostischen Norm anderen Termini. Letzteres entspricht mutmaßlich der historischen Realität, da im Falle einer Letalitätsverringerung infolge veränderter Umweltbedingungen sowohl in beiden Dörfern weitestgehend synchrone Kurvenverläufe der Schwächesterblichkeit als auch eine Verringerung der gesamten Säuglingsmortalität zu erwarten gewesen wäre. Ebenfalls fast auf Kleinstkinder beschränkt, orientierte sich die Zahl der an typischen Kinderkrankheiten Verstorbenen an deren Sterbeziffer und stieg im Verlauf des 19. Jahrhunderts auf einen Anteil von einem Drittel 1890/1909 bzw. 1880/1899. Die darauffolgende prozentuale Abwertung folgte dem abnehmenden Quantum versterbender Säuglinge teils proportional nach, teils nahm sie einen weniger steilen Verlauf. Unsicher bleibt, inwiefern sich beides ob dieser tendenziellen Parallelität bedingte. Zweifelsohne senkte der stark rückläu ge Säuglingspart an den Sterbedekaden nach 1900 auch den Anteil letaler Kinderkrankheitsfälle massiv. Gleichzeitig legte deren prozentuale Teilhabe am Säuglingssterbegeschehen im frühen 20. Jahrhundert deutlich zu. Sofern also eine wahrscheinlich sinkende Letalität der Kinderkrankheiten ihrerseits in das sich verringernde Sterberisiko der Jüngsten hineinspielte, stand diese hinter der Wirkungsabschwächung einer oder mehrerer anderer Erkrankungen stark zurück. Hierfür kommt einzig die Gruppe der Infektionskrankheiten infrage. Deren Anteil an den gesamtgesellschaftlichen Todesfällen wies in beiden betrachteten Dorfschaften seit den 1810er Jahren eine regressive Tendenz auf und stürzte 100 Jahre später auf ein Minimum zwischen zehn und 20 Prozent. Was in Rußdorf zunächst altersgruppenübergreifend funktionierte, geriet dort Ende des langen 19. Jahrhunderts und in Bräunsdorf generaliter zum Spezi kum der vor allen anderen gefährdeten altersmäßigen gesellschaftlichen Randgruppen. Insbesondere der Säuglingsanteil ging bei Infektionskrankheiten nach 1879 und Tuberkulose nach 1909 massiv zurück. Umgekehrt schwand seit den 1880er Jahren der Anteil jener Todesursachen an den Säuglingssterbefällen. Die gleiche Entwicklung ist, auf die Fälle letaler Tuberkulose bezogen, mit geringerer Intensität bei den über Fünfzigjährigen zu beobachten. Sonstige Infektionskrankheiten nahmen prozentual bei den Bräunsdorfern dieser Altersgruppe nur leicht ab und in Rußdorf gar leicht zu. In Relation zur übrigen Bevölkerung schwand jedoch lediglich die Beteiligung älterer Bräunsdorfer an der Tuberkulosesterblichkeit.

EPIDEMIOLOGIE

291

Für die mittleren Lebensalter wird demgegenüber kein Bedeutungsverlust der Infektionserkrankungen ersichtlich. Im Gegenteil legten sie 1880/1909 vorübergehend an Wirkungsmacht zu oder fanden nach einer Abschwächung in dieser Zeit nach 1900 auf den alten Stand zurück. Obwohl Infektionskrankheiten offensichtlich seit der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts gesamtgesellschaftlich in Rußdorf und Bräunsdorf sukzessive an Letalität einbüßten, pro tierten überwiegend die niedrigsten und hohen Lebensalter. Dies deutet eine in den beiden nalen Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts für die breite Masse spürbar werdende langfristige Verbesserung der Lebensbedingungen an. Ein einhergehend mit der industriellen Entwicklung allgemein steigendes Lebensniveau wäre der immunologischen Widerstandsfähigkeit insbesondere der immunschwachen altersmäßigen Risikogruppen zugutegekommen. Zusätzlich beugten sich sukzessive hebende hygienische Standards in Verbindung mit einem fortschreitend sensibilisierten kollektiven hygienischen Bewusstsein potentiell letalen Infektionen vor. 635 Letztlich begünstigte die verminderte Mortalität durch Infektionskrankheiten eine Steigerung der durchschnittlichen Gesamtlebenserwartung. Vorrangig nach dem 50. Lebensjahr auftretende degenerative Erkrankungen, allen voran die Anfang des 21. Jahrhunderts das Todesursachenspektrum anführenden Herz-Kreislauf-Krankheiten und Krebsleiden sowie Altersschwäche erhielten dank größerer die fraglichen Alter überhaupt erreichender Bevölkerungsmengen einerseits und deren relativer Zunahme infolge regressiver Säuglingssterblichkeit andererseits größeres Gewicht. Dennoch verharrte der Anteil der beiden letzteren Kategorien an den Rußdorfer Todesfällen über Fünfzigjähriger zwischen 1820 und 1935 auf einem Niveau und wurden kardiovaskulären Leiden erst nach 1909 über den langjährigen Stand hinausgehende Prozentwerte zuteil. Bei den Bräunsdorfern der Altersstufe „50 plus“ erlebten Krebs und Herz-KreislaufErkrankungen gleichermaßen in den nalen 25 Jahren des Untersuchungszeitraums einen spürbaren Bedeutungszuwachs, während die Altersschwäche nach einem Gipfel 1880–1909 auf einem niedrigeren, aber gegenüber dem 19. Jahrhundert erhöhten Niveau endete. Die Alterskrankheiten legten dementsprechend für die Rußdorfer nach einer relativen Konstanz während der vorangegangenen 100 Jahre ab 1890 synchron zum Bedeutungsverlust der Kinder- und Infektionskrankheiten an Wirkungsmacht zu, ein Prozess, der in Bräunsdorf bereits in den 1870er Jahren noch vor der „Abwertung“ der vorgenannten Todesursachen einsetzte, jedoch in den 1910er Jahren parallel zu deren beschleunigter prozentualer Rückläu gkeit an Fahrt gewann. Der in Rußdorf und Bräunsdorf angedeutete, bis 1935 aber vor allem altersgruppenspezi sch zu Tage tretende epidemiologische Übergang der Wendezeit zum 20. Jahrhundert wird von Burkhardt bezogen auf den gesamten sächsischen Raum derselben

635

Vgl. Kröhnert, Steffen/Münz, Rainer, Sterblichkeit und Todesursachen. Lebensspanne und Todesursachen früher und heute, o. O. 2011, online: http://www.berlin-institut.org/ leadmin/user_upload/handbuch_texte/pdf_Kroehnert_Muenz_Mortalitaet_2008.pdf [zuletzt aufgerufen am 20. 06.2016], S. 1 f.

292

STERBLICHKEIT

Zeit weitaus stärker beschrieben. Anfang der 1930er Jahre rangierten hier bereits HerzKreislauf-Erkrankungen an oberster Stelle, gefolgt von Krebs und Tuberkulose. Würden in den Untersuchungsorten freilich, wie bei Burkhardt geschehen, die Infektionskrankheiten nicht zusammengefasst betrachtet, ergäbe sich dort ein analoges Bild. 636

6.5 LEBENSERWARTUNG Es wurde bereits mehrfach angedeutet, welche Unterschiede auch in der theoretisch von allgegenwärtiger Todesgefahr geprägten Neuzeit zwischen den Altersklassen bestanden. Den Industriestaaten bzw. Erste-Welt-Ländern ist es bis zum 21. Jahrhundert ächendeckend bis auf Weiteres gelungen, potentiell tödliche Risiken des Alltags mit fortschreitender Tendenz zu minimieren und die Normvorstellung eines langen, weitgehend gesunden Lebens im kollektiven Bewusstsein zu etablieren. In Sachsen lag die Säuglingssterblichkeit zum Beispiel 2013 bei 2,6 pro 1000 Lebendgeborenen. 637 Ein Tod im Kindes- oder Jugendalter ist ähnlich selten. Erst im mittleren Erwachsenenalter von 40–50 Jahren wird das unvermeidliche Ableben stärker als persönliche Bedrohung wahrgenommen. Dennoch, der agile Senior ist 2015 weniger Idealvorstellung als Realität. Neugeborene Sachsen durften 2010/2012 mit einer Lebensdauer von 77,3 (Jungen) bzw. 83,3 (Mädchen) Jahren rechnen 638 und kommen ihrerseits schon heute im alltäglichen Leben ständig mit Hochbetagten jenseits des 80. oder gar 90. Lebensjahres in Berührung. Die Lebenserwartung steigt global gesehen bis auf wenige Ausnahmen selbst in den Entwicklungs- und Schwellenländern beständig. So verwundert es wenig, dass die höchsten veri zierten Lebensspannen beider Geschlechter 1997 und 2014 639 in die jüngste Vergangenheit datieren. Selbst schwere oder multiple Erkrankungen stellen in den Industriestaaten gemeinhin kein unmittelbares Todesurteil mehr dar. Obgleich die Gefahr durch multiresistente Keime jüngst wächst, sind Infektionskrankheiten in der Regel nur bei massiven Vorerkrankungen bzw. in sehr hohen Lebensaltern eine mehr oder minder latente Bedrohung. Wohlgemerkt erschien wenigstens das 100 Jahre umfassende Leben auch in der Neuzeit nicht als Ding der Unmöglichkeit. Die dem 16. Jahrhundert entstammenden, sich

636 637 638

639

Vgl. Burkhardt, Bevölkerung, S. 58ff. Vgl. Statistisches Landesamt des Freistaates Sachsen, Statistischer Bericht. Gestorbene nach Todesursachen im Freistaat Sachsen 2013. A IV 3 – j/13, Kamenz 2014, S. 5. Vgl. Statistisches Landesamt des Freistaates Sachsen, Lebenserwartung Neugeborener im Freistaat Sachsen bis 2010/2012, Kamenz 2015, online: http://www.statistik.sachsen.de/download/010_GB-Bev/02_03_07_nZ.pdf [zuletzt aufgerufen am 20. 06.2016]. Die Französin Jeanne Louise Calment (21. Februar 1875–4. August 1997) gilt seit ihrem Tod im Alter von 122 Jahren und 164 Tagen als Inbegriff der maximal erreichbaren weiblichen wie menschlichen Lebensspanne. Der Japaner Jiroemon Kimura (19. April 1897–12. Juni 2013) ist analog Maßstab des höchstmöglichen männlichen Alters von 116 Jahren und 54 Tagen.

LEBENSERWARTUNG

293

seit dem 17. Jahrhundert zunehmender Beliebtheit erfreuenden Lebenstreppendarstellungen propagierten etwa die Einteilung des Lebens in zehn Stufen seit alters her 640. Das hohe Alter war dabei im Gegensatz zur heutigen Sichtweise keineswegs positiv konnotiert, die Bewertung der Lebensalter überhaupt eine andere. Schon 70-jährige Personen galten als Greise, 80-jährigen wurde immerhin Weisheit zugebilligt. Diese hielt jedoch nicht für lange, drohte doch bei Existenz jenseits des 90. Geburtstages der Spott der Kinder. Auch die regelmäßig aufscheinende Bemerkung zum 100. Jahr, „Gnad dir Gott“, mutet wenig erbaulich an. 641 Im Limbacher Land traten hochbetagte Personen demgemäß lange vor dem 20. Jahrhundert erstmals in Erscheinung. Mit Skepsis zu betrachtende Fälle häuften sich besonders um 1600. Zum Beispiel starb Georg Rudloff 1591 in Rußdorf angeblich mit 96 Jahren, seine mutmaßlich zweite Ehefrau Hedwig 1593 „bey hundert Jahre alt“ 642. Der alte Rußdorfer Richter Gregorius Frischmann brachte es 1605 auf 98 Jahre und Jacob Bretschneider soll 1608 95-jährig gestorben sein. Zur selben Zeit habe Andreas Vogel (1512–1618) im Ganßhorn ein selbst nach heutigen Maßstäben extremes Alter erreicht. Hernach sind derartige Lebensspannen in den Bräunsdorfer und Rußdorfer Kirchbüchern kaum bis gar nicht mehr anzutreffen, obwohl Neunzigjährige zunächst vereinzelt weiter vorkamen. Die Bräunsdorferin Anna Riedel (1577–1671) blieb in beiden Untersuchungsorten bis 1935 unübertroffen, der Rußdorfer Peter Heupt (1638– 1731) legte 1728 vermeintlich wenigstens den für über ein Jahrhundert letzten 90. Geburtstag vor. 643 In der Zwischenzeit verstarb der Rußdorfer Häusler Peter Esche 1780 mit „nur“ 85 Jahren, „der Älteste der ganzen Gemeinde“, „als ein abgelebter Greis“ 644 und schied der einzige weitere je „Senior“ des Dorfes titulierte Einwohner 1786 im Alter von 88 Jahren aus dem Leben 645. Unter den Bräunsdorfern vermochte Maria Kühnrich (1742–1834) 1833 erstmals wieder einen 91. Geburtstag zu feiern, ohne während des 19. Jahrhunderts noch einen Nachahmer zu nden. Erst Caroline Concordia Goldammer (1819–1911) in Rußdorf und Johanne Christiane Schneider (1822–1912) in Bräunsdorf leiteten in ihren Wohnorten einen neue Serie höchster Lebensalter ein. Das angebliche Niveau des frühen 17. Jahrhunderts wurde bis 1935 jedoch weder hier noch dort erneut erreicht. In Bräunsdorf stellte erst Carl Franke (1841–1936) den Altersrekord Anna Riedels ein. Einem 640 641 642 643

644 645

Vgl. Ehmer, Josef, Lebenstreppe, in: Enzyklopädie der Neuzeit, Bd. 9, Naturhaushalt – Physiokratie, Stuttgart 2009, S. 50–53, S. 53. Vgl. Chvojka, Erhard, Geschichte der Großelternrollen vom 16. bis zum 20. Jahrhundert, Wien/Köln /Weimar 2003, S. 72 ff. Vgl. EPA Kaufungen, KB I, Beerdigungsregister Rußdorf, Beerdigungen 1593, Nr. 3. Tatsächlich war er erst 1644 geboren. Eine Verwechslung seines Taufeintrags mit dem eines älteren, früh gestorbenen Bruders gleichen Namens führte zu einer falschen Altersberechnung. – Vgl. EPA Langenchursdorf, KB I: Kirchbuch 1612–1684, Taufregister 1638, Nr. 2 u. 1644, Nr. 28. Vgl. EPA Rußdorf, KB I, Beerdigungen 1780, Nr. 1. Vgl. ebd., Beerdigungen 1786, Nr. 3.

294

STERBLICHKEIT

Bewohner der benachbarten Exklave gelang dies erstmals zehn Jahre später. Höhere Lebensalter sind anhand keiner der ausgewerteten Personenstandsakten vor 1964 bzw. den 1970ern nachweisbar 646 und traten erst ab 1990 regelmäßig auf. Nun wurden auch Hundertjährige oder noch ältere Personen erwähnt 647. Karl Friedrich Anders (1888–1994) markiert vorläu g den altersmäßigen Gipfelpunkt. Die ab dem frühen 20. Jahrhundert steigenden Maximalaltern zustrebende Tendenz wird von der durchschnittlichen Lebenserwartung in den Untersuchungsorten vorweggenommen. Bis zum 19. Jahrhundert waren Veränderungen der mittleren erreichten Lebensalter in den betrachteten Dorfschaften in geringem Maße feststellbar. Vor 1830 zählten die Rußdorfer einer Sterbedekade (Tab. 32) im Schnitt zwischen 20 und 30 Jahre, was hohe Kinder- und Jugendsterblichkeit andeutet. Lediglich zwischen 1720 und 1749 wurden binnen eines längeren Intermezzos Durchschnittsalter jenseits der 30 verzeichnet. 648 Seit den 1840er Jahren nahm der bis dahin augenscheinlich relativ konstante, signi kante Anteil unmündiger Personen an den dezennial Verstorbenen noch zu, sodass zwischen 1840 und 1909 nicht einmal 20 Jahre das Mittel repräsentierten. Das absolute Minimum von 14,21 Jahren zeigte die nale Dekade des 19. Jahrhunderts. Wie zuvor nahm das mittlere Lebensalter der verstorbenen Rußdorfer danach ohne erkennbare nennenswerte intersexuelle Unterschiede kontinuierlich zu. Schon vier Jahrzehnte nach dem Minimum lag die Lebenserwartung nach Sterbedekaden jenseits 50, deutlich über dem frühneuzeitlichen Gipfelpunkt (1690/1699: 40,01). Keinen anderen Bahnen folgte die Bräunsdorfer Entwicklung. Bis in die 1770er Jahre zählten die dortigen Toten durchschnittlich meist 20–30 Jahre, während der folgenden zehn Dekaden 19–25. Mit einem absoluten Tiefstand von 16,19 Jahren in den 1880ern gerieten die letzten zwei Dekaden des 19. Jahrhunderts auch für die Bräunsdorfer zur Periode geringster altersgruppenübergreifender Lebenserwartung (Ø 17,18), woran sich eine kontinuierliche Wachstumsphase bis über das betrachtete Zeitfenster hinaus anschloss. In beiden Orten konnten erwachsene Männer des 18. und 19. Jahrhunderts auf eine gegenüber den Frauen um mehrere Jahre längere Lebensspanne hoffen. Zeichnete die Kindbettsterblichkeit für die Geschlechterdisparität verantwortlich, wie unter anderem Adler feststellt 649, el diese im 17. Jahrhundert deutlich geringer aus. Wie erst im späten 19. und vor allem im 20. Jahrhundert wieder, überragte damals die weibliche Lebenserwartung jene der Männer tendenziell. Das anhaltende unrealistisch niedrige Niveau

646 647 648 649

Paul Theodor Schmiedel, 1868 in Rußdorf geboren, starb 1964 in Bräunsdorf 95-jährig; die dort ansässigen Eheleute Emil Richard (1877–1974) und Marie Thekla Herrfurth (1877–1975) erlebten ihr 97. bzw. 98. Geburtsjubiläum. Siehe: A. E. Türpe (1886–1990), A. E. Kreßner (1904–2008), M. E. Göpfert (1904–2009), R. M. Sonntag (1907–2012), M. M. Grobe (1911–2012), W. G. Schaarschmidt (1913–2014) und M. D. Finzel (1912–2015). Totgeburten wurden bei der Auswertung außer Acht gelassen. Es erschiene bedenklich und wirkte statistisch verfälschend, die Absenz jeglicher postnataler Lebenszeit als relevante Lebensspanne zu werten. Vgl. Adler, Demographie, S. 279.

LEBENSERWARTUNG

295

ging auf eine bis zum Ersten Weltkrieg massive Kindersterblichkeit zurück. Mündige Personen erreichten in allen Sterbedekaden seit 1640 (Bräunsdorf) bzw. 1680 (Rußdorf) durchschnittlich zwischen 50 und 65 Lebensjahre. Die jeweiligen Maxima mit knapp über 60 Jahren ent elen in der sachsen-altenburgischen Exklave auf die 1590er (63,91), dicht gefolgt vom 1770er- (63,75) und 1930er-Wert (62,67) sowie im Nachbardorf auf die nalen sechs betrachteten Jahre (65,88). Leichte Schwankungen blieben trotz der relativen Einmütigkeit freilich nicht aus. Ein zeitgleich mit der Degression des mittleren Alters aller Verstorbenen vor 1910 zu Tage tretender „Niedrigstand“ 1870–1909 (Rußdorf) bzw. 1870–1889 (Bräunsdorf) zeigte eine gesamtgesellschaftliche Verringerung der Lebenserwartung in beiden Untersuchungsorten an, die im industriellen Rußdorf gleich der Kindersterblichkeit größere Ausmaße annahm. Seine Ursache hatte der Einbruch vermutlich in der gleichzeitig zuwanderungsbedingt prozentual stark wachsenden Gruppe junger Erwachsener bzw. mittlerer Lebensalter. Diese nahmen entsprechend relativ einen erhöhten Anteil am Sterbegeschehen, ohne tatsächlich eine geringere Lebenserwartung aufzuweisen. Mit seiner geringeren wirtschaftlichen Attraktivität zog Bräunsdorf verhältnismäßig weniger junge Menschen in einem kürzeren Intervall an, sodass deren Zuwanderung dort geringere Auswirkungen auf die Lebenserwartung zeigte. 650 Die Hauptursache minderer absoluter Lebenserwartung liegt allerdings weniger in der allgemeinen Kindersterblichkeit denn in jener der Säuglinge. Keine andere Altersgruppe war vor dem 20. Jahrhundert einem derart hohen Sterberisiko ausgesetzt wie Neugeborene bzw. Kinder unter einem Jahr. Dieses Phänomen beschränkte sich keineswegs auf die Fallbeispiele, sondern war vielmehr in unterschiedlicher Ausprägung Charakteristikum aller europäischen Gesellschaften vor dem 19. Jahrhundert, zu denen bislang demographische Studien vorliegen. 651 Es resultiert schlicht aus der Interferenz natürlicher physiologischer und immunologischer Benachteiligung der Jüngsten insbesondere Tage und Wochen nach der Geburt mit alles andere als optimalen Lebensbedingungen. Unzureichender Schutz gegen Wetter bzw. klimatische Erscheinungen, schlechte Hygiene oder unzulängliche Ernährung der Mutter vor der Geburt spielten ebenso dem frühen Tod in die Hände wie nachteilige Behandlung bzw. Versorgung aus kulturellem und traditionellem Verständnis bzw. dem Zeitgeist heraus. Von den Sterbefällen einer Dekade ent elen in den Untersuchungsorten vor 1920 selten unter 30 Prozent auf unmündige Personen, wie Tabelle 33 zeigt. Ende des 16. Jahrhunderts erscheint deren Anteil mit einem Drittel in Rußdorf vergleichsweise moderat,

650

651

Nach Geburtendekaden entwickelte sich die Lebenserwartung simultan. Zwischen 1650 und 1899 lag sie in Rußdorf bei 53–61 Jahren bzw. in Bräunsdorf zwischen 1640 und 1859 bei 52–63 Jahren. Danach konnten rasch höhere Werte gemessen werden. Im Unterschied zur Lebenserwartung nach Sterbedekaden lagen die absoluten Maxima (70,5/71,19) hier im ersten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts. Vgl. Ehmer, Bevölkerungsgeschichte, S. 36f. – P ster, Bevölkerungsgeschichte, S. 35 f.

296

STERBLICHKEIT

Tabelle 32: Durchschnittliche Lebenserwartung nach Sterbejahrgängen in Rußdorf und Bräunsdorf alle Altersgruppen Gesamt Rd.

Männer

Bd.



Rd.

6,98

1590–1599

8,13 26,43

1610–1619 1620–1629 1630–1639

14,76 – 13,23 – 20,72 21,14 6,08 26,50 18,98 20,81 20,47 11,11 21,66 12,75 24,20

1640–1649 1650–1659 1660–1669

2,74

Bd.

1582–1589 1600–1609



Rd.

über 21-Jährige Frauen

Gesamt

Bd.

Rd.

Männer

Bd.

Rd.

Frauen

Bd.

Rd.

Bd.

7,09

– 58,15

– 40,97

– 75,32



– 6,88 – 21,04

– 13,85 – 35,34

– 63,91 – 62,10

– 59,30 – 69,33

– 68,53 – 58,75

– –

33,95

– 26,22

– 39,29

– 54,28

– 49,97

– 58,16



19,93

– 20,83

– 19,02

– 50,76

– 54,44

– 42,64



– 50,38 – 40,63 – 56,22 – 0,40 43,86 54,38 45,45 54,38 42,46 – 3,51 52,37 52,65 54,12 52,85 52,40 52,05

23,95 34,74 36,63 37,84 17,31 32,50 53,99 64,44 58,73 66,65 52,60 62,26

1670–1679 1680–1689

26,15 41,15 23,77 36,44 30,01 44,68 45,29 60,38 52,09 58,47 43,23 62,94

1690–1699

34,84 27,21 35,78 30,83 34,00 23,60 61,50 50,51 59,84 48,75 62,26 51,53 29,83 23,39 35,50 18,21 24,15 28,57 51,64 60,35 54,82 63,31 50,72 56,59 27,40 31,70 25,68 27,20 29,11 36,67 57,84 56,50 57,46 55,92 56,22 56,00

1700–1709 1710–1719 1720–1729 1730–1739 1740–1749 1750–1759 1760–1769 1770–1779

30,58 35,80 38,33 36,13 27,87 37,09 53,94 59,75 54,50 59,25 58,45 59,66

35,70 31,25 41,25 30,73 30,16 31,77 56,79 60,89 57,31 61,38 53,52 60,30 33,47 33,65 30,33 29,70 36,62 37,60 58,68 61,80 65,03 66,60 56,24 58,46 33,29 31,13 32,07 27,03 34,51 35,24 59,19 61,05 61,95 60,56 56,44 58,47 29,14 32,76 28,46 32,93 29,81 32,59 58,54 59,51 58,15 58,26 59,46 59,96 28,62 27,34 28,47 27,70 28,76 26,98 58,75 59,41 62,17 58,47 55,30 61,18 26,75 22,43 28,27 21,47 25,22 23,40 63,75 60,36 65,20 60,80 60,99 56,05

1780–1789

27,84 21,50 27,40 19,23 28,28 23,78 59,31 57,23 60,71 65,26 57,91 51,28

1790–1799 1800–1809

26,59 25,50 25,90 24,70 27,27 26,29 59,90 59,46 60,52 61,93 59,28 56,99

1810–1819 1820–1829

29,30 28,18 28,97 28,41 29,63 27,95 59,98 62,03 63,39 60,24 56,57 64,80 25,49 20,32 23,72 20,57 27,27 20,08 57,32 56,21 60,79 55,42 53,85 56,99 24,47 22,79 24,81 18,67 24,14 26,91 56,55 59,07 58,89 59,57 54,21 58,58

1830–1839 1840–1849

21,32 23,27 21,27 20,68 21,37 25,86 60,44 58,35 59,94 58,36 60,94 58,34 19,97 21,18 19,11 19,49 20,82 22,86 51,58 57,30 51,39 58,76 51,76 55,85

1850–1859 1870–1879 1880–1889

19,94 18,81 20,80 14,25

1890–1899 1900–1909

14,32 19,66 14,62 19,82 14,02 19,51 54,75 60,88 58,42 64,12 51,08 57,64 18,17 23,88 16,59 17,42 20,82 30,34 55,48 60,63 57,62 63,27 53,33 57,99

1910–1919 1920–1929 1930–1935 1600–1699 1700–1799 1800–1899

30,12 43,83 51,99 25,53 29,86 20,87

1900–1935

34,25 39,22 33,66 35,58 35,14 42,86 58,23 62,16 59,73 64,89 56,72 59,44

1860–1869

23,37 21,52 20,86 17,55

32,49 45,02 55,48 26,01 28,06 21,87

18,45 15,43 21,78 14,95

29,22 45,06 50,53 25,94 30,28 20,31

25,66 20,98 19,53 15,82

27,45 44,32 53,13 28,83 25,89 20,96

21,43 22,20 19,83 13,56

31,03 42,60 53,44 27,77 29,44 21,43

21,08 22,07 22,19 19,28

37,54 45,73 57,83 23,63 30,29 22,78

57,85 57,66 54,25 54,08

56,74 59,80 62,67 52,95 58,44 56,45

58,02 58,92 53,70 56,16

59,00 63,14 65,88 57,02 59,66 58,06

56,76 59,96 56,44 55,55

60,06 60,14 62,03 53,73 60,33 58,15

57,02 62,67 54,67 59,33

61,60 69,40 65,30 56,73 61,25 59,02

58,94 55,36 52,06 52,61

53,42 59,45 63,32 52,77 56,85 54,74

59,02 55,18 52,72 52,38

56,41 56,88 66,47 57,69 57,53 57,15

LEBENSERWARTUNG

297

während sie in Bräunsdorf schon damals fast die Hälfte aller Verstorbenen stellten. Seit den 1730er Jahren stieg die Unmündigenquote dauerhaft deutlich an. In Rußdorf lag sie 1730–1779 zwischen 40 und 50, 1780–1829 zwischen 50 und 60 Prozent, in Bräunsdorf wurde die Fünfzigprozentmarke bereits 1760 dauerhaft überschritten. Seit den 1830ern hatten in beiden Dörfern annähernd zwei Drittel der Verstorbenen regelmäßig ihren 21. Geburtstag noch vor sich. Ihren Scheitelpunkt erreichte die Entwicklung in den 1880er Jahren, jedoch ging die hohe Jugendsterblichkeit erst nach 1910 rapide zurück. In den 1930er Jahren wurde schließlich ein historisch gesehen unikales Verhältnis von ca. 1:4 zwischen den unmündigen und mündigen Toten erreicht. Die Hauptlast der Unmündigensterblichkeit wurde konsequent von den unter Einjährigen getragen, deren Anteil an den Sterbekohorten üblicherweise zehn bis 20 Prozent unter demjenigen aller Minderjährigen lag. Noch in den 1930er Jahren machten Säuglinge allein zum Beispiel rund 59 Prozent aller in Rußdorf unmündig Gestorbenen aus. Lediglich 1620–1659 sowie in den 1670ern/1680ern war dieser Stand unterschritten worden. Oft schwankte die betreffende Prozentzahl jedoch zwischen 70 und 79 und beanspruchte zwischen 1820 und 1909 in sechs Jahrzehnten über 80 Prozent der Anteile mit dem absoluten Maximum 1900/1909 (87,07 %). Auf die Gesamtheit der Verstorbenen bezogen, bestimmte die Säuglingssterblichkeit entsprechend maßgeblich über das Verhältnis mündiger zu unmündigen Toten. Zwangsläu g spiegelte die Entwicklung der Mündigensterblichkeit jene der Kinderund Jugendmortalität summarisch, aber nicht altersgruppenspezi sch. Dem geringsten Sterberisiko sahen sich kontinuierlich 21- bis 49-Jährige ausgesetzt, deren nachweislicher Anteil im Ganzen zwischen einem und 22 Prozent schwankte, mehrheitlich allerdings zwischen acht und 16 variierte. An zweiter Stelle bewegte sich regelmäßig die Gruppe der 50- bis 69-Jährigen mit einem maximalen Beitrag von einem Drittel. Tatsächlich standen die Chancen, den Zahlen nach zu urteilen, nach Vollendung des ersten Lebensjahres nicht übermäßig schlecht, auch ein hohes Lebensalter von 70 oder mehr Jahren zu erreichen. Besonders vor 1700 verzeichneten die Rußdorfer Kirchbücher verhältnismäßig viele Greise. Dennoch feierten die Wenigsten vor 1900 ihren 80. oder gar 85. Geburtstag. In der Regel zählten zwischen fünf und zehn Prozent einer Sterbekohorte 70–79 Jahre (1930er 21,96% in Rußdorf u. 23,75% in Bräunsdorf). Allen drei genannten Altersgruppen Mündiger sind relativ geringe Niveauveränderungen vor 1910 gemein. Danach wuchsen die Anteile der jenseits ihres 60. Geburtstags Verstorbenen jedoch deutlich an und schlossen in den 1930ern mit überdurchschnittlichen Prozentwerten ab. Ein Blick auf die Lebenserwartung nach Geburtenkohorten (Tab. 34) erhärtet das anhand der Sterbekohorten gewonnene Bild einer bis um 1900 maßgeblich von Kleinstkindmortalität de nierten Lebenserwartung. Auch hier gab die Säuglingssterblichkeit den Ausschlag für die Gewichtung der vor und nach dem 21. Geburtstag dahinscheidenden Geborenen einer Dekade. Die tatsächliche Quote derer, die im Laufe ihrer Kindheit dem Tod zum Opfer elen, stand allerdings deutlich hinter der bei den

298

STERBLICHKEIT

Tabelle 33: Anteil spezi scher Altersgruppen an der Totenzahl nach Dekaden in Rußdorf und Bräunsdorf (Angaben in %) unter 21-Jährige Rd. 1582–1589 1590–1599 1600–1609 1610–1619 1620–1629 1630–1639 1640–1649 1650–1659 1660–1669 1670–1679 1680–1689 1690–1699 1700–1709 1710–1719 1720–1729 1730–1739 1740–1749 1750–1759 1760–1769 1770–1779

Bd.

über 21-Jährige Rd.

Bd.

unter Einjährige Rd.

Bd.

über 70-Jährige Rd.

Bd.

39,34 51,32

– –

60,66 48,68

– –

29,51 34,21

– –

59,02 46,05

– –

39,29



60,71



25,00



35,71



42,55 50,62 37,74

– – –

57,45 49,38 62,26

– – –

25,53 25,93 21,70

– – –

21,28 24,69 37,74

– – –

32,08 45,00

15,52 53,85

67,92 55,00

84,48 46,15

15,09 22,50

12,07 46,15

37,74 40,00

0,00 0,00

31,11

46,00

68,89

54,00

24,44

36,00

48,89

14,00

30,16 39,53

30,86 46,38

69,84 60,47

69,14 53,62

15,87 20,93

25,93 33,33

36,51 27,91

18,52 8,70

34,43 41,10

44,79 49,28

65,57 58,90

55,21 50,72

26,23 28,77

26,04 39,13

31,15 16,44

9,38 11,59

51,72 37,93

44,93 48,80

48,28 62,07

55,07 51,20

29,89 22,99

30,43 41,60

10,34 19,54

5,80 12,00

46,81 42,74

47,12 53,40

53,19 57,26

52,88 46,60

31,91 32,48

35,58 31,07

13,83 14,53

15,38 11,65

47,20 49,75

45,11 52,73

52,80 50,25

54,89 47,27

35,20 29,44

24,81 33,94

12,00 12,18

17,29 16,36 8,33

48,60

56,82

51,40

43,18

32,96

43,94

24,58

1780–1789

55,69

61,94

44,31

38,06

37,72

48,51

14,37

7,46

1790–1799 1800–1809 1810–1819

55,22 57,20

56,91 58,50

44,78 42,80

43,09 41,50

42,61 40,08

46,96 39,50

12,17 12,84

14,92 13,00

1820–1829 1830–1839

58,97 59,68 65,32

63,05 63,64 63,16

41,03 40,32 34,68

36,95 36,36 36,84

41,03 48,62 53,20

51,23 49,43 48,95

8,79 8,70 10,44

7,88 7,39 10,00

1840–1849

64,72

61,93

35,28

38,07

49,49

53,21

8,38

9,63

1850–1859 1860–1869

63,77 67,74

61,19 63,80

36,23 32,26

38,81 36,20

51,21 56,13

48,60 46,24

13,53 8,82

8,39 10,04

1870–1879 1880–1889 1890–1899

65,36 76,57 76,35

64,47 70,30 68,88

34,64 23,43 23,65

35,53 29,70 31,12

50,00 60,91 63,17

51,89 55,94 57,91

9,46 6,51 4,98

7,55 7,67 11,99

1900–1909

68,85

62,90

31,15

37,10

59,95

51,24

7,79

13,78

1910–1919

50,57 27,69 18,22

46,96 32,50 17,50

49,43 72,31 81,78

53,04 67,50 82,50

35,47 20,43 10,75

31,74 25,00 10,00

14,72 23,12 34,58

18,26 28,75 38,75

1920–1929 1930–1935

LEBENSERWARTUNG

299

Sterbekohorten beobachteten zurück und machte selbst auf dem Gipfelpunkt Mitte des 19. Jahrhunderts lediglich maximal 50 Prozent aus. Diese Diskrepanz verwundert wenig. Bräunsdorf und Rußdorf beherbergten den gesamten Untersuchungszeitraum hindurch wachsende Gesellschaften, womit eine Multiplizierung vor allem jüngerer und jüngster Bevölkerungsteile einherging. Entsprechend größer musste deren Anteil an den Sterbekohorten selbst unveränderter Lebenserwartung ausfallen. Eine zusätzlich seit Mitte des 18. Jahrhunderts stark zunehmende Säuglingsmortalität, die mit vermehrten Reproduktionsraten ausgeglichen wurde (Kap. 7.1), trug ihr Übriges bei. Nichtsdestotrotz geben die bei den Sterbekohorten ersichtlich gewordenen Veränderungen des Verteilungsmusters der Altersgruppen die grundlegenden Tendenzen der Lebenserwartungsentwicklung wenigstens bis zum 21. Geburtstag korrekt wieder. Da nicht von allen in Rußdorf und Bräunsdorf Geborenen das Sterbealter bekannt ist, entsprechen die prozentualen Anteile der einzelnen Altersgruppen nach Geburtenkohorten der Realität nicht umfänglich. „Verluste“ entstanden vornehmlich durch Wegzug der betreffenden Personen. Zum Ende des Untersuchungszeitraums gründeten sie zusätzlich im Ende der Auswertung. Die Verzugswahrscheinlichkeit stieg mit der Mündigkeit sprunghaft an. Daher ist die Zuverlässigkeit der Anteile der minderjährig Verstorbenen vergleichsweise hoch einzuschätzen. Eine anfänglich außerordentlich hohe Unmündigensterblichkeit über 30 Prozent Ende des 16. Jahrhunderts und über 45 Prozent in den 1620er und 1630er Jahren steht im klaren Gegensatz zu einer 1640 bis 1699 relativ niedrigen Quote unter einem Viertel in Rußdorf bzw. zwischen 20 und 30 Prozent in Bräunsdorf. Während das Hoch 1620–1639 eine Verbindung mit der unsicheren Zeit des Dreißigjährigen Krieges andeutet, entbehrt es für die erste Hochphase einer Erklärung. Nach 1700 folgte eine 50-jährige Phase mit 20- bis 40-prozentigem Risiko, das 21. Jahr nicht vollenden zu können. Zwischen 1750 und 1899 starben konsequent vier bis fünf von zehn Geborenen vor ihrem 21. Geburtstag. In Rußdorf ist der Scheitelpunkt in den 1840er, in Bräunsdorf in den 1880er Jahren zu suchen. Realiter blieb das Sterberisiko der Jüngsten in der Exklave zwischen 1830 und 1889 jedoch auf einem Niveau. Wie anhand der Sterbekohorten bereits festgestellt, zeichnete die Säuglingsmortalität, welche meist zehn bis 15 Prozent hinter jene der Minderjährigen insgesamt zurück el, diese vor. Demgemäß erlebten beide nach 1900 eine rasche Regression auf ein ungekannt niedriges Niveau. Obwohl sicherlich leicht verfälscht, wuchs simultan im frühen 20. Jahrhundert vor allem der Anteil der Einheimischen, die ein hohes Alter über 70 Jahre erreichten, unter den Rußdorfer Geborenen auf 33,73 Prozent in den 1910er Jahren bzw. in Bräunsdorf schon seit den 1880er Jahren auf schließlich 38,02 Prozent in den 1910ern an. 652 Ähnlich 652

Seit den 1920er Jahren geht der Anteil alter Menschen schnell stark zurück. Hierfür zeichnet ein quellenbedingtes statistisches Ungleichgewicht verantwortlich. Für die vorliegende Arbeit konnte lediglich auf die angesichts sich

300

STERBLICHKEIT

Tabelle 34: Anteil spezi scher Altersgruppen an der Geburtenzahl nach Dekaden in Rußdorf und Bräunsdorf (Angaben in %) unter 21-Jährige über 21-Jährige unter Einjährige über 70-Jährige Rd. 1582–1589 1590–1599 1600–1609 1610–1619 1620–1629 1630–1639 1640–1649 1650–1659 1660–1669 1670–1679 1680–1689 1690–1699 1700–1709 1710–1719 1720–1729 1730–1739 1740–1749 1750–1759 1760–1769 1770–1779

Bd.

Rd.

Bd.

Rd.

Bd.

Rd.

Bd.

Unbekannt Rd.

Bd.

30,10 33,02

– –

19,42 20,75

– –

18,45 24,53

– –

2,91 2,83

– –

50,49 46,23

– –

23,81



36,90



15,48



10,71



39,29



29,27 46,15 48,78

– – –

21,95 17,58 20,73

– – –

15,85 23,08 30,49

– – –

4,88 6,59 1,22

– – –

48,78 36,26 30,49

– – –

18,75 21,74

18,18 29,29

37,50 41,30

36,36 42,42

14,58 8,70

11,69 24,24

6,25 6,52

9,09 12,12

43,75 36,96

45,45 28,28

21,79

23,86

44,87

45,45

15,38

19,32

8,97

9,09

33,33

30,68

27,87 15,73

28,41 29,09

40,98 44,94

44,32 54,55

16,39 7,87

23,86 20,91

8,20 16,85

12,50 18,18

31,15 39,33

27,27 16,36

22,12 32,38

29,66 27,83

56,73 48,57

44,07 37,39

17,31 21,90

22,03 21,74

16,35 14,29

11,86 6,09

21,15 19,05

26,27 34,78

39,47 22,05

24,06 38,59

50,88 62,20

36,84 27,17

21,93 14,17

16,54 29,89

11,40 10,24

11,28 7,61

9,65 15,75

39,10 34,24

29,89 33,33

43,61 30,57

46,55 44,87

21,05 31,21

19,54 22,44

26,32 19,75

11,49 11,54

3,76 5,73

23,56 21,79

35,34 38,22

42,33 43,40

39,16 42,86

33,74 35,85

30,12 24,87

27,61 26,89

21,08 28,57

7,98 6,60

8,43 4,23

23,93 20,75

30,72 32,28 32,83

47,34

40,40

37,77

26,77

32,98

30,81

11,17

9,60

14,89

1780–1789

42,25

40,89

37,09

24,63

31,92

31,53

11,27

5,91

20,66

34,48

1790–1799 1800–1809 1810–1819

46,64 46,60

44,19 46,72

31,88 35,71

27,13 21,83

34,90 32,65

33,72 35,37

9,73 11,22

8,91 6,99

21,48 17,69

28,68 31,44

1820–1829 1830–1839

43,40 42,78 49,09

42,80 43,19 46,59

30,50 32,09 24,66

29,15 26,85 24,50

31,09 32,89 36,76

35,79 33,85 37,35

6,16 6,95 6,85

10,33 8,95 7,63

26,10 25,13 26,26

28,04 29,96 28,92

1840–1849

52,58

42,55

18,43

23,29

43,15

35,71

4,94

8,70

28,99

34,16

1850–1859 1860–1869

51,04 51,69

44,79 41,67

21,47 20,22

24,74 22,92

40,30 41,73

36,72 31,94

8,29 8,67

9,90 12,27

27,50 28,09

30,47 35,42

1870–1879 1880–1889 1890–1899

48,76 48,44 45,90

45,29 48,33 43,68

17,99 11,10 25,72

25,41 37,61 42,16

36,26 40,08 39,04

33,61 39,19 38,11

7,83 3,04 13,72

15,16 23,02 24,11

33,24 40,46 28,38

29,30 14,06 14,17

1900–1909

36,19

33,87

44,26

55,58

32,29

28,19

26,98

35,09

19,55

10,55

1910–1919

24,59 15,34 9,81

24,79 18,29 5,00

58,98 49,53 33,86

62,26 54,57 35,00

19,48 8,88 6,96

18,73 12,50 4,17

33,73 32,97 17,09

38,02 34,45 18,33

16,43 35,13 56,33

12,95 27,13 60,00

1920–1929 1930–1935

LEBENSERWARTUNG

301

drastisch folgte die Altersgruppe 50–69 prozentual nach, während die vorhergehenden sämtlich stagnierten oder leicht abnahmen. Nach 1900 überschritt der Anteil derer, die den 90. Geburtstag feierten, unter den Geborenen nachweislich erstmals seit 1600/1609 die Einprozentmarke, während erste Einhundertjährige, deren Zahl bis in die Gegenwart unerheblich blieb, in den 1880ern zur Welt kamen. Zusammengefasst entwickelte sich die Lebenserwartung in Rußdorf und Bräunsdorf zwischen 16. und 20. Jahrhundert unter dem Diktat der konsequent massiven Säuglingssterblichkeit in mehreren Perioden. Dagegen zeigt die meist zwischen 50 und 60 Jahren schwankende mittlere Lebensspanne mündiger Personen bestenfalls zwei Entwicklungsphasen. In Anlehnung an das durchschnittliche Alter vor Ort Verstorbener differierte deren Altersprognose im frühen 20. Jahrhundert statistisch nicht merklich von den vorangegangenen Dezennien. Nach Geburtenjahrgängen nahm die mittlere Lebensdauer über 21-Jähriger rasch auf mindestens 65–70 Jahre zu. Zudem zeigt sich dabei, anders als bei den Sterbekohorten, seit den 1880ern erstmals eine konsequente Geschlechterdisparität mit signi kant erhöhter durchschnittlicher Lebensdauer weiblicher Personen. Wie gezeigt wurde, trat die Lebenserwartung erst zum Ende des Untersuchungszeitraums in einen anhaltenden Progress ein, der in zwei Ebenen funktionierte. Die mittlere absolute Lebensspanne war in den letzten Zügen des 19. Jahrhunderts zeitgleich mit dem Geburtengipfel an einen Tiefpunkt gelangt. Nach Sterbedekaden hatte schon in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts, nach Geburtendekaden im ersten Viertel des 18. Jahrhunderts ein bis ins 19. Jahrhundert reichender, in den 1880ern an seinen Höhepunkt gelangender Regressionsprozess infolge zeitgleich anteilmäßig wachsender Säuglingssterblichkeit eingesetzt. Die relative Lebenserwartung der Mündigen (50–60 Jahre) blieb davon geschlechtsübergreifend weitgehend unbenommen. An den Scheitelpunkt der Säuglingssterbeziffer, welcher nach gleitendem neunjährigem Mittel in Rußdorf 1890 und in Bräunsdorf 1886/1887 anzusetzen ist, anschließend, gingen die Geburtenraten gleich der Säuglingssterblichkeit rapide zurück. Die durchschnittliche Lebenserwartung bei Geburt begann sich der relativen (am 21. Geburtstag) anzunähern. Diese leitete allerdings ebenfalls nach Geburtendekaden seit den 1880ern, nach Sterbedekaden seit den 1900ern/1910ern ein auf den extremen Lebensaltern jenseits der 70 Jahre fußendes Wachstum ein. In dessen Verlauf nahm zum einen die Lebenserwartung Mündiger allein bis 1935 um zehn Jahre zu, zum anderen erlangte der physiologisch bedingte Geschlechtsdimorphismus erstmals wirklich Bedeutung. Noch vor Ende der Untersuchungszeit geriet die quantitative Ausweitung der normalen Alterssterblichkeit und deren Verschiebung in immer höhere Lebensalter zum Hauptmotiv der bis in die Gegenwart ansteigenden Lebenserwartung.

mehrender Kirchenaustritte immer dünner werdenden Beerdigungsregister Rußdorfs bis 1964 – in Bräunsdorf bis 1991 – zurückgegriffen werden. Niedrigere Lebensalter sind daher zum Ende des Untersuchungszeitraums in den Geburtendekaden, der Teilabsenz der höheren geschuldet, überrepräsentiert.

302

STERBLICHKEIT

So klar sich die zur Änderung der allgemeinen Lebenserwartung führenden Prozesse zeitlich eingrenzen und hinsichtlich ihres Ablaufs nachvollziehen lassen, so verschwommen erscheinen ihre Ursachen. Im späten 17. und frühen 18. Jahrhundert wuchs die Einwohnerschaft Rußdorfs und Bräunsdorfs infolge der fortschreitenden, zeitweise intensivierten Flurparzellierung und soziostrukturellen Transformation an. Die Zahl junger reproduktiver Familien wuchs, die Geburtigkeit stieg. Trotz augenscheinlich unveränderter bzw. nicht verschlechterter Umweltbedingungen und Lebensverhältnisse mehrten sich die Säuglingssterbefälle in reactio ohne einhergehende feststellbare Steigerung des Säuglingssterberisikos. Daher unterlag das traditionelle Mengengleichgewicht zwischen mündigen und unmündigen Toten nach Geburtendekaden zu dieser Zeit keiner ungewöhnlichen Wandlung, während der prozentuale Anteil Unmündiger nach Sterbedekaden im Rußdorf der 1660er/1670er sowie im Bräunsdorf der 1690er/1700er als Folge der veränderten gesellschaftlichen Zusammensetzung bzw. Verjüngung deutlich zunahm. Die durchschnittliche Lebenserwartung Gestorbener sank infolgedessen temporär begrenzt leicht, die erwachsener Personen veränderte sich nicht. Im Gegensatz dazu trug der anteilmäßige Zuwachs derer, die den 21. Geburtstag nicht erlebten, an den Geburtenkohorten seit den 1720ern eindeutig Züge eines gesteigerten Säuglingssterberisikos, was zur weiteren Verschiebung des Sterblichkeitsverhältnisses bei den Sterbedekaden beitrug. Zunächst reagierte die mittlere Lebenserwartung darauf jedoch nicht. Erst ab Mitte des 18. Jahrhunderts erreichte die Säuglingssterblichkeit derartige Ausmaße, dass die mittlere Lebensdauer in Regression überging. Beide beschriebenen Prozesse kumulierten und verstärkten sich im Laufe des 19. Jahrhunderts, in dem das Säuglingssterberisiko auf dem einmal erreichten hohen Niveau ohne größere Änderungen verharrte, die Anteile verstorbener Säuglinge an den Sterbekohorten durch nun stetige Zuwanderung reproduktiver Bevölkerungsteile dennoch weiter zunahmen. Die langjährige Entwicklung mündete in den 1880er Jahren in einem Tiefstand der durchschnittlichen Lebenserwartung nach Sterbedekaden, einer vollständigen Umkehrung des traditionellen Gewichtungsverhältnisses Mündiger und Unmündiger nach Geburten- wie Sterbedekaden sowie, in Rußdorf stärker denn in Bräunsdorf, in einem leichten Tal der Lebenserwartung über 21-Jähriger nach Sterbedekaden. Letzteres steht der gleichzeitig einsetzenden signi kanten Steigerung der Lebenserwartung Neugeborener nach Geburtendekaden scheinbar entgegen, ist aber vermutlich auf einen abermals überproportionalen Zuwachs mittlerer und junger Altersgruppen infolge starker Zuwanderung Ende des 19. Jahrhunderts zurückzuführen. Um 1890 kam es in Rußdorf und Bräunsdorf gleichermaßen zum Bruch mit der 100-jährigen Entwicklung. Plötzlich ging das Säuglingssterberisiko zu einer rapiden, das Ende des Untersuchungszeitraums überdauernden kontinuierlichen Minderung auf schließlich den absolut niedrigsten Stand seit dem 16. Jahrhundert, synchron zu den rückläu gen Geburtenraten wie -zahlen, über. Die mittlere altersgruppenübergreifende Lebenserwartung nach Sterbedekaden stieg ab 1890/1900 leicht und näherte sich

LEBENSERWARTUNG

303

Abbildung 41: Anteil der Säuglingssterbefälle nach Geburtenkohorten in Rußdorf

bis 1930 deutlich derjenigen Mündiger an. Gleichzeitig wurde das spätmittelalterliche Sterbeverhältnis nach Sterbedekaden bei massivem Übergewicht der über 21-Jährigen restauriert und trugen seit 1900/1910 steigende Anteile der Menschen hohen Alters („70 plus“) zur Erhöhung der Lebenserwartung maßgeblich bei. Zeichneten für die Transformation im 17. Jahrhundert eindeutig endogene gesellschaftliche Faktoren verantwortlich, ist für die Prozesse des 18. und späten 19. bzw. frühen 20. Jahrhunderts in Anbetracht des geänderten Sterberisikos der Säuglinge einerund der Alten andererseits von exogenen Ursachen, mithin grundlegenden strukturellen Wandlungen der Lebensverhältnisse bzw. der Lebenswelt selbst, auszugehen. In beiden Perioden motivierten dorfwirtschaftliche Umbrüche unter anderem soziostrukturelle und wohn- bzw. lebensräumliche Transformationsprozesse. Die gesellschaftliche Zusammensetzung diversi zierte im Bevölkerungswachstum, neue Formen familiären Wirtschaftens traten hinzu und überwogen bald. Mit der Protoindustrialisierung des 18. und der Fabrikindustrialisierung des 19. Jahrhunderts erweiterte sich die Vielfalt der dörflichen Berufsbilder, änderten sich die vorherrschenden Arbeitsweisen und -takte. Nicht zuletzt verloren tradierte Ressourcenbeschaffungs-, -verarbeitungs- u. -verteilungssysteme zugunsten urban anmutender Modelle an Bedeutung. Ihrer individuellen sozialen und wirtschaftlichen Stellung unbenommen, wandelte sich die dörfliche Lebenswelt für alle Gesellschaftsmitglieder. Zumindest Aspekte der gängigen Bevölkerungsweisen mögen davon nicht unbeein usst geblieben sein. Sofern die protoindustrielle Entwicklung des 18. Jahrhunderts in den betrachteten Dörfern tat-

304

STERBLICHKEIT

sächlich zulasten der neonatalen Überlebenswahrscheinlichkeit wirkte, indem sie ein historisch gewachsenes, bewährtes Anpassungssystem, ohne adäquate Kompensationsmechanismen zu bieten, aufbrach, erschiene es paradox, wenn die industrielle Fortführung und Intensivierung dieses Prinzips im späten 19. Jahrhundert jene scheinbar spontane demographische Umkehrung um 1900 verursachte. Allerdings brachte die industrielle Lebenswelt ihren eigenen Regeln entsprechende neue Systeme zum Beispiel sozialer Sicherheit hervor und verbesserte manche Anpassungstechnik. Sicherlich kam medizintechnischem Fortschritt, dem Ausbau der medizinischen Infrastruktur, allgemeiner hygienischer Aufklärung, der Entwicklung neuer Lebensmittelkonservierungsverfahren oder der Steigerung und Absicherung des allgemeinen Ernährungsstandards etc. auf lange Sicht eine erhebliche Bedeutung für das Wachstum der Lebenserwartung zu. Ob diese Faktoren indes einen derart rasanten Rückgang der Säuglingssterblichkeit, wie er in den Untersuchungsorten im frühen 20. Jahrhundert beobachtbar ist, auslösen konnten, ist mehr als fraglich. Zudem ließe dies deren Anstieg im 17. Jahrhundert offen, da eine zeitgleiche Verschlechterung jener Bedingungen nicht zu vermuten steht. Knodel, der in seinen westdeutschen Untersuchungsgebieten eine ähnliche, im 18. Jahrhundert zunehmende, im späten 19. Jahrhundert einen Höhepunkt erreichende und danach rapide rückläu ge Mortalität im Säuglings- und Kindesalter beschrieb, wies auf den maßgeblichen Ein uss des Stillverhaltens hin. Demnach hatte das in Bayern im 18. und 19. Jahrhundert übliche frühe Abstillen ein extremes Exitusrisiko vor dem ersten Geburtstag, hingegen ein niedriges im zweiten bis fünften Lebensjahr zur Folge. Längeres Stillen, wie es in Friesland Sitte war, senkte zwar die Sterblichkeit der Säuglinge massiv, resultierte aber in einer stark erhöhten der Kleinkinder. 653 Eine Veränderung der Stillpraxis hätte durchaus das Potential gehabt, die Säuglingssterblichkeit im Limbacher Land relativ kurzfristig stark zu verändern. Freilich könnten verschlechterte Lebensbedingungen der parallel im 18. Jahrhundert zu gesellschaftlich dominierenden Gruppen aufsteigenden unterbäuerlichen Schichten ebenfalls ein erhöhtes Sterberisiko der Jüngsten zur Folge gehabt haben, was sich durch das zahlenmäßige Übergewicht der betreffenden Bevölkerungsteile in einem insgesamt erhöhten Aufkommen niedergeschlagen hätte. Die Abbildungen 41 und 42 weisen die wachsende Säuglingsmortalität jedoch als schichtenübergreifend gleichartig wirkendes Phänomen aus. Wird die Entwicklung der Säuglingssterblichkeit auf Indizien für ein verändertes Stillverhalten untersucht, ist das Verhältnis zwischen exogener und endogener Sterblichkeit relevant. Endogene Sterblichkeit geht vom körperlichen Zustand des Kindes selbst aus. Ihre Ursachen liegen vornehmlich in Schwangerschafts- oder Geburtskomplikationen. Eine letale Wirkung entfalten diese regelmäßig in den ersten vier Lebenswochen, relativ unabhängig von der Umgebungssituation, eine moderne medizinische Versorgung freilich exklusive. Das Abstillen gehört hingegen den exogenen Todesursachen an. 653

Vgl. Knodel, Behavior, S. 45ff.

LEBENSERWARTUNG

Abbildung 42: Anteil der Säuglingssterbefälle nach Geburtenkohorten in Bräunsdorf

Abbildung 43: Verhältnis endogener zu exogener Säuglingssterblichkeit im ersten Lebensjahr in Rußdorf

305

306

STERBLICHKEIT

Abbildung 44: Verhältnis endogener zu exogener Säuglingssterblichkeit im ersten Lebensjahr in Bräunsdorf

Hervorstechendes Merkmal stillender Gesellschaften ist eine im ersten Jahr prozentual überwiegende endogene Mortalität. Da die Muttermilch das Immunsystem des kindlichen Organismus stärkt und ihn optimal mit Nährstoffen versorgt, ist der Säugling für die Stillzeit besser vor zum Beispiel Krankheit und Fehlernährung geschützt. Eben dies geht entwöhnten oder überhaupt nicht gestillten Kindern ab. Daher zeichnen sich wenig oder gar nicht des Stillens bedienende Gesellschaften durch ein Überwiegen der exogenen Sterblichkeit vom zweiten bis zwölften Lebensmonat aus. Eine Veränderung des Stillverhaltens sollte demnach mit einer Gewichtungsverschiebung der Mortalität im ersten Lebensjahr einhergehen. Wie aus den Abbildungen 43 und 44 hervorgeht, unterlag das Gewichtungsverhältnis zwischen endogener und exogener Säuglingssterblichkeit tatsächlich in beiden Untersuchungsorten einem anhaltenden Wandel im frühen 19. Jahrhundert hin zur prozentualen Stärkung exogener Todesursachen und im frühen 20. hin zu einer endogener Ursachen. Eine veränderte Stillpraxis könnte dem zugrunde gelegen haben. Das steigende Säuglingssterberisiko begünstigte dieser kollektive Verhaltenswandel dagegen höchstens. Immerhin datiert dessen Beginn ein halbes bis dreiviertel Jahrhundert davor. Seine Hintergründe bleiben so gleich denen des neuzeitlichen Sterblichkeitsrückgangs offen.

7. FAMILIE

Bevölkerungswissenschaft arbeitet mit und basiert auf einer Vielzahl persönlicher biographischer Ereignisse, welche über das Bindeglied „Individuum“ hinaus keine unmittelbaren Berührungspunkte teilen, d. h. per se stehen gleichartige wie grundlegend verschiedenartige Lebensdaten aller Personen einer Gesellschaft im demographischen Sinne frei nebeneinander. Selbstredend existiert realiter kein Ereignis isoliert, ebenso wenig wie ein menschliches Leben völlig losgelöst von denen anderer denkbar ist. In einer reaktiven Lebenswelt ist jedes Vorkommnis, jeder Zustand und jede Entwicklung unmittelbare Folge der vorangegangenen. Interpersonelle Bindungen entspringen in biographischen Überschneidungen, die ihrerseits soziale Konstrukte formen. Im Umkehrschluss de niert Gesellschaft nicht nur den institutionellen Rahmen, in welchem Bevölkerungsweise funktioniert. Sie bietet auch den Kontext, individualbiographische Daten derselben Art miteinander statistisch in Beziehung zu setzen. Das folgende Kapitel widmet sich einigen Aspekten der Familie als sprichwörtlicher Keimzelle der Gesellschaft. Von besonderem Interesse ist für eine demographische Untersuchung die quantitative Entwicklung der Kernfamilie, bestehend aus einem Elternpaar und dessen Kindern. Wurde in Kapitel 5 bereits der familiäre Gründungsakt betrachtet, steht nun das vornehmlich ehegebundene generative Verhalten einschließlich der resultierenden Kinderzahl im Fokus. Tiefgreifende Veränderungen familiärer Organisations- und Reproduktionsnormen stehen für die Zeit der Industrialisierung vor allem infolge allgemein veränderter Wohnund Arbeitsverhältnisse sowie die Periode der demographischen Transition in der Wendezeit zum 20. Jahrhundert angesichts stark rückläu gen Menschenumsatzes bzw. der in Mittel- und Westeuropa massiv sinkenden Geburtigkeit zu erwarten 654, allerdings weniger tiefgreifend als im gegenwärtigen Deutschland, wo sich traditionelle, mehrheitlich christlich geprägte Formen familiärer Koexistenz wenn noch nicht konzeptionell, so doch in ihrem Absolutheitsanspruch hinterfragt sehen. Simultan lebt das 50-jährige Idealbild der Zwei-Kind-Familie mit Sohn und Tochter in beständiger medialer und werbetechnischer Reproduktion nicht weniger denn im kollektiven „deutschen“ Bewusstsein paradoxerweise fort. Gewissermaßen paradox deshalb, weil die Landesbevölkerung einerseits einem über die Entstehungszeit des Ideals hinaus zurückreichenden langfristigen Schrumpfungs- und Überalterungsprozess durch unzureichende Reproduktionsraten 655 – durchschnittlich 2,1 Kinder pro Familie wären erforderlich – un654 655

Vgl. Imhof, Einführung, S. 63f. Vgl. Marschalck, Peter, Bevölkerungsgeschichte Deutschlands im 19. und 20. Jahrhundert, Frankfurt a. M. 1984, S. 54 f.

308

FAMILIE

terliegt, was im öffentlichen bzw. politischen Diskurs durchaus problematisch gesehen, aber auch politisch instrumentalisiert wird. Andererseits be nden sich dem Idealbild entsprechende Familien in toto, nicht jedoch unter den Familien mit Kindern, in der Minderheit. 656 Größere familiäre Kinderzahlen werden dagegen oft scheel beäugt, wobei ein historisches Zerrbild 657 traditionell üblicher, inzwischen delegitimierter Großfamilien sowie der Frau als „Gebärmaschine“ zum abschreckenden Referenzrahmen zu dienen scheint. Daraus leitet sich die Frage ab, inwiefern das angerissene Geschichtsbild mit historischen Realitäten in Rußdorf und Bräunsdorf übereinstimmt und welcher Gestalt der Wandel kollektiven generativen Verhaltens war bzw. wo dessen Ursachen lagen. Eine grundlegende Transformation fand um 1900 zweifelsohne statt, wie die vorherigen Kapitel belegen. Die damals explodierende Bevölkerungszahl setzt bei gleichzeitig abnehmenden Natalitätsraten eine Wandlung ehelicher Fertilität zwangsweise voraus. Fraglich ist daher nicht, ob oder in welche Richtung die generative Transition wirkte, sondern wo ihre Ursachen lagen und ob die Entwicklung in der Neuzeit singulär stand.

7.1 GENERATIVES VERHALTEN Die verbreitete Vergangenheitsvorstellung betrachtet besonders für den ruralen Raum Deutschlands multigenerationale Großfamilien und -haushalte 658 als Charakteristikum vor- und frühindustrieller bzw. mittelalterlicher und frühneuzeitlicher europäischer Lebenswelten. Obgleich dieses in seinem Allgemeingültigkeitsanspruch mythische, unter anderem auf Wilhelm Heinrich Riehl 1855 zurückgehende Bild 659 in manchen Regionen stimmig gewesen sein mochte 660, hatte es im Untersuchungsgebiet nur bedingt Geltung. Unabhängig von der Vielfalt denkbarer Spielarten sozialer Strukturierung des einen erweiterten Haushalt umfassenden „Ganzen Hauses“ trugen interfamiliäre Wohngemeinschaften durchweg milieuspezi sche Züge. Unbedingte Voraussetzung war von den besitzenden Bevölkerungsteilen ungenutzter überschüssiger, landbesitzlosen potentiellen Interessenten offerierbarer Wohnraum. Häusler- und Gartengüter vermochten diesen Ansprüchen aus Platzgründen kaum gerecht zu werden. Selbst Gesinde scheint im Rußdorfer und Bräunsdorfer Mittelstand selten eingestellt worden zu sein, zumal anfallende Arbeiten bei den ärmeren Klassen vermutlich höchstens in agrarökonomischen

656 657 658 659 660

Vgl. Schneider, Norbert F., Familie. Zwischen traditioneller Institution und individuell gestalteter Lebensform, in: Hradil, Stefan (Hg.), Deutsche Verhältnisse. Eine Sozialkunde, Bonn 2012, S. 95–122, S. 106 ff. Vgl. Adler, Demographie, S. 5. Vgl. Gestrich, Familie, S. 63. Vgl. Henning, Eckart, Familie und Gesellschaft, in: Ribbe, Wolfgang /Henning, Eckart (Hg.), Taschenbuch für Familiengeschichtsforschung, Neustadt a. d. Aisch 1995, S. 85–94, S. 90. Vgl. Kustatscher, Erika, Alltag in Tiers. Beiträge zur Bevölkerungs- und Sozialgeschichte vom 17. Jahrhundert bis zum Ersten Weltkrieg, Innsbruck 1999, S. 54 ff.

GENERATIVES VERHALTEN

309

Stoßzeiten überhaupt zusätzliche Kräfte erforderten. Lediglich die im Besitz der überwiegenden dörflichen Flur be ndliche Bauernschaft mit ihren Drei- bis Vierseithöfen konnte sich Lohnarbeiter unter Umständen leisten und in Nebengebäuden Einlieger beherbergen. Im Zuge der Diversi zierung der traditionellen besitzständischen Ordnung nebst Partikularisierung der Agrar ächen geriet die Bauernschaft ab dem 17. Jahrhundert in eine Minderheitenposition (siehe Kap. 8.1) und mit ihr die bis dahin offensichtlich üblichen Großhaushalte. Hingegen entbehrt das mythische Großfamilienbild in den Untersuchungsorten einer mittelalterlichen oder frühneuzeitlichen Entsprechung. Zwar lieferte die in der Region ursprünglich übliche patrilokale Haushaltsgründungspraxis innerhalb der bis ins 19. Jahrhundert dominierenden grundbesitzenden Schichten theoretisch durchaus die strukturellen Voraussetzungen, doch zogen hohe durchschnittliche Heiratsalter die Generationen von vornherein auseinander. Dies verringerte, mit relativ niedriger mittlerer Lebenserwartung und gewöhnlichen Erbgängen nach Ultimogeniturprinzip koalierend, die Chancen drastisch, dass Großeltern und ihre meist spätgeborenen, nicht dislozierten Enkel unter einem Dach zusammentrafen. Im Zweifelsfall wurde die Kernfamilie eher um (Stief-/Halb-)Geschwister der Eltern bzw. deren Kinder aus vorangegangenen Ehen erweitert. Zwei Guts- und partielle Einwohnerzählungen von 1733 (Rußdorf) 661 und 1794 (Bräunsdorf) 662 stützen den Eindruck. Der multigenerationale Familienhaushalt erscheint so als Kind des 19. Jahrhunderts und der damaligen vom städtischen Bürgertum ausgehenden Propagierung eines neuen Familienideals inklusive Neude nition sowohl des Kinder- als auch des Großelternbildes. 663 Nachkommenreiche Ehen entsprachen dagegen tatsächlich der vorindustriellen Norm. Stefan Hradil geht von durchschnittlich sechs lebendgeborenen Kindern pro deutscher Familie in Spätmittelalter und Frühneuzeit sowie noch immer fünf Kindern um 1875 aus. Die mittlere Kinderzahl pro reproduktivem Ehepaar müsste demnach noch höher gelegen haben. Synchron zum allgemeinen Geburtenrückgang respektive der demographischen Transition sei die eheliche Fertilitätsrate um 1900 schichtenübergreifend vom städtischen Bürgertum ausgehend rasch degeneriert, sodass jede deutsche Frau 1934 im Schnitt nurmehr 1,8 Kindern Leben gab. 664 Nicht anders sollte sich die Situation in den betrachteten Dörfern gestaltet haben. Diese zu ermitteln unterlag verschiedenen Schwierigkeiten. Vor allem bereitete die im Laufe des Untersuchungszeitraums zunehmende Migration der statistischen, programmbasierten Auswertung Probleme. Sobald Hochzeit und Tod mindestens eines Elternteils nicht im betreffenden Ort verzeichnet waren, herrscht Unklarheit über die 661 662 663 664

Vgl. ThStA Abg, Landesregierung, Nr. 4172. Vgl. SächsStAL, 20578 Rittergut Wolkenburg und Kaufungen, Nr. 229, Das Salz-Wesen zu Kauffungen und Bräunsdorff, 1795–1839. Vgl. Chvojka, Großelternrollen, S. 195ff. Vgl. Hradil, Stefan, Bevölkerung. Die Angst vor der demogra schen Zukunft, in: Hradil, Stefan (Hg.), Deutsche Verhältnisse. Eine Sozialkunde, Bonn 2012, S. 44f.

310

FAMILIE

Länge des ehelichen Fertilitätszeitraums. Aus den Taufregistern eruierbare familiäre Kinderzahlen müssen daher die reale Familiengröße 665, der im vor- oder nachherigen Wohnort schließlich theoretisch Zuwachs zuteilgeworden sein könnte, nicht zwangsläu g wiedergeben. Ebenso geben im 19. und 20. Jahrhundert übliche Hinweise der Beerdigungseintragungen auf noch lebende Kinder bei Zugezogenen keine Garantie auf Vollständigkeit, zumal bereits verstorbene Nachkommen darin selten Erwähnung nden. Zwangsläu g dezimiert dies die Zahl verwertbarer „vollständiger“ Familien stark und schränkt die Aussagekraft der Daten für die Entwicklung einzelner Bevölkerungsgruppen massiv ein. Aus denselben Gründen fehlen repräsentative Daten für Anfang und Ende der Untersuchungsperiode insbesondere en détail, da wahlweise vor Einsetzen oder „Ende“ der zur Verfügung stehenden Überlieferung gegründete oder aufgelöste Familien oft anzeigender Quellen entbehren. Darüber hinaus erschwert die vor 1700 inkonsequente Benennung der Standeszugehörigkeit sowie das zum Ende des Untersuchungszeitraums verschwimmende traditionelle dörfliche Struktursystem automatisierte sozialgruppenspezi sche Analysen. Rußdorf Kinderreichtum scheint im Spätmittelalter keine Seltenheit unter den Rußdorfern gewesen zu sein. Nicht wenige der für die Zeit vor 1582 rekonstruierbaren Familienfragmente reichen allein mit der sicherlich oft lückenhaften relativen familiären Kinderzahl 666 über die Reproduktionsschwelle hinaus. Petrus Esche († 1581) sah exemplarisch mindestens fünf seiner Kinder aufwachsen, Lucas Herolt († 1590) drei bis fünf, Asmus Heiniz († nach 1552) vermutlich vier, ebenso Valten Arnolt († um 1572), Thomas Puschman († vor 1584), Gregor Frischmann (1507–1605) und Gallus Schüßler († 1605) fünf. Jacob Bretschneider (1513–1608) brachte es gleich Balthasar Rudloff (1543–1603) auf mindestens sieben. Jonas Herolt (1535–1605) hatte neun nachweisbare und Georg Rudloff (1496–1591) soll allein neun Söhne durchgebracht haben. Eine weitere Tochter ist belegt. Das Limit reizten Tiburtius Möller (1532–1620), dem zwei seiner drei Frauen mindestens 15 Kinder schenkten, und Bartel Frischman († 1631), der angeblich vier Sprösslinge erster und 15 zweiter Ehe vorweisen konnte, aus. Neben den Bauerngutsbe-

665 666

Der Terminus „Familiengröße“ bezeichnet im Rahmen der vorliegenden Arbeit den Umfang ausschließlich der biologischen Kernfamilie, bestehend aus zwei Eltern und deren leiblichen gemeinsamen Kindern. Die familiäre Kinderzahl hat zwei Dimensionen. Alle jemals geborenen Kinder eines Paares de nieren dessen absoluten Reproduktionserfolg. Dieser steht mit der Menge überlebender, d. h. das reproduktionsfähige bzw. das zur Reproduktion im Allgemeinen ermächtigende Alter erreichender Sprösslinge im Kon ikt. Da insbesondere bei hohen Säuglingssterberaten manche Familien trotz hoher Fertilität effektiv nur wenige Kinder durchbrachten, muss, um die realen Familiengrößen abschätzbar zu machen, der absoluten Kinderzahl eine relative gegenübergestellt werden. Diese beschreibt im vorliegenden Fall das Quantum der Kinder, die ihr 21. Jahr, also die Mündigkeit, erreichten.

GENERATIVES VERHALTEN

311

sitzern zeugten auch die ersten Inhaber kleinerer Güter meist mehr denn zwei Kinder. An die maximalen Familiengrößen einiger Bauern reichte jedoch Anfang des 17. Jahrhunderts keiner heran. Von anderen bäuerlichen wie unterbäuerlichen Einwohnern der 1550er Jahre, etwa Wolff Milchbergk, Thomas Wagner, Georg Schram und Urban Engelman etc., sind demgegenüber keinerlei Nachfahren eruierbar, was freilich ebenso gut auf Überlieferungslücken oder erschöpfende Kindersterblichkeit zurückgeführt werden kann. Die ersten vollständig bekannten, in den 1580er Jahren begründeten Familien bestätigen den gewonnenen Eindruck. Unter den fraglichen zwölf blieb keine kinderlos, zwei Kinder standen am unteren Ende der Skala, elf markierten die Obergrenze. Im Mittel brachte eine verheiratete Frau 5,88 Söhne und Töchter zur Welt, von denen durchschnittlich 5,28 erwachsen wurden. Bereits die anschließende Dekade brachte einen gesamtgesellschaftlichen Wandel mit sich. Aus den 1590–1669 geschlossenen ehelichen Verbindungen gingen im Dekadendurchschnitt meist nur noch zwei bis vier Kinder hervor. Allerdings wurde das Reproduktionsminimum (2,1) pro verheirateter fertiler Frau nie und auf Basis aller verheirateten Frauen lediglich von den Familien der 1660er unterschritten. Ihre mündigen Jahre erreichten regelmäßig zwei bis drei Kinder. Dieses relative Niveau stieg bis ins späte 18. Jahrhundert lediglich moderat (1590/1669: 2,55; 1670/1789: 3,0) um 17 Prozent, während sich die mittlere absolute Kinderzahl um insgesamt 23 Prozent erhöhte, sodass im 18. Jahrhundert Familien mit vier Kindern die Dekadendurchschnitte auch unter Einrechnung aller verheirateten Frauen dominierten. Die seit dem späten 18. Jahrhundert steigende Kindersterblichkeit blieb nicht folgenlos für die nun wachsenden absoluten Familiengrößen (Tab. 35). Synchron sank der Anteil der kinderlosen Ehepaare von 20 auf 13 Prozent. Ebenso begann sich das Spektrum der Familiengrößen im 18. Jahrhundert langsam wieder auszuweiten. Ende des 17. Jahrhunderts wurden erstmals nach 100 Jahren zwei Familien gegründet, die mit mehr als zehn Kindern „gesegnet“ werden sollten. Der Bauer Michael Esche (1663–1717) hatte elf vorzuweisen, sein Namens- und Standesvetter Martin Esche (1678–1735) zeugte als erster Rußdorfer seit T. Möller nachweislich mit einer Frau zwölf Kinder. Samuel Engelmann und seine Frau übertrafen die Zahl mit 13 Kindern binnen 20 Jahren seit 1774. Gottfried Jungmann, Gärtner gleich den Vorgenannten, wurde 1779–1793 Vater von 14. Das Limit erwachsener Kinder pro Elternpaar verharrte derweil bei neun. Ab dieser Zeit erreichten immer mehr Ehepaare auch prozentual hohe bis sehr hohe Kinderzahlen (Tab. 36). Der auf das Minimum der 1660er folgende langfristige Wachstumsprozess Rußdorfer Familien fand entsprechend seine Fortsetzung. In den 1770er Jahren und den angeschlossenen Dekaden heiratende Paare bekamen, so sie reproduktives Verhalten an den Tag legten, im Mittel wieder fünf Kinder. Für zwischen 1820 und 1879 zur Ehe Schreitende gerieten gar sechs zur Normalität. Da das Säuglingssterberisiko weiter zunahm (siehe 6.4), vergrößerte sich zugleich die Diskrepanz zur

312

FAMILIE

Tabelle 35: Durchschnittliche absolute und relative familiäre Kinderzahl in Rußdorf absolut

durchschnittliche Kinderzahl absolut mit Kinderlosen

relativ

1582–1589

5,88

5,88

5,28

1590–1599

3,31 4,50

2,63 3,50

2,00 3,60

4,17

3,96

2,31

3,55

3,16

2,33

3,08 3,75 3,94

2,40 2,70 3,15

2,20 2,55 3,28

2,61 5,00

1,93 3,10

2,28 3,42

4,16 3,44 4,55 4,03

4,16 3,13 3,77 3,13

3,46 2,45 3,37 2,96

4,25 4,50

4,02 4,02

3,30 3,01

4,04 4,97

3,24 4,67

2,58 2,82

3,54 5,25 5,50

3,42 4,06 4,91

2,22 3,23 2,98

5,51

4,87

3,02

5,60 5,65 6,57

4,63 4,44 5,22

3,04 3,62 3,55

6,33 6,75 6,01

4,91 5,04 4,86

2,91 3,98 3,37

6,21 6,12

4,94 5,35

3,44 3,71

1880–1889 1890–1899 1900–1909

6,06 5,83

5,41 4,99

3,74 3,84

3,95

3,37

2,95

1910–1919

2,48

1,55

2,05

1920–1929 1930–1935 1600–1699 1700–1799 1800–1899 1900–1935

1,98 1,13 3,83 4,63 6,11 2,61

1,00 0,39 3,16 4,01 4,98 1,71

1,72 1,00 2,83 2,93 3,52 2,22

1600–1609 1610–1619 1620–1629 1630–1639 1640–1649 1650–1659 1660–1669 1670–1679 1680–1689 1690–1699 1700–1709 1710–1719 1720–1729 1730–1739 1740–1749 1750–1759 1760–1769 1770–1779 1780–1789 1790–1799 1800–1809 1810–1819 1820–1829 1830–1839 1840–1849 1850–1859 1860–1869 1870–1879

313

GENERATIVES VERHALTEN

Tabelle 36: Anteil einzelner Familiengrößen an der Gesamtfamilienzahl ohne Kinderlose in Rußdorf familiäre Kinderzahl absolut 1582–1609 1610–1639 1640–1669

1

2

3

4

5

6–10

11–15

über 15

Familien

8,33% 19,44% 13,89% 2,78% 16,67% 36,11% 11,32% 28,30% 13,21% 22,64% 9,43% 15,09%

2,78 % 0,00 %

0,00 % 0,00 %

36 53

13,95% 25,58% 16,28%

4,65% 11,63% 27,91%

0,00 %

0,00 %

43

1670–1699 1700–1729 1730–1759

8,47% 27,12% 10,17% 20,34% 11,86 % 18,64 % 13,04% 15,94% 11,59% 17,39% 13,04 % 28,99 %

3,39% 0,00%

0,00 % 0,00 %

59 69

10,89% 16,83% 12,87% 18,81% 10,89 % 26,73 %

2,97%

0,00 %

101

1760–1789 1790–1819 1820–1849

19,83% 17,24% 9,48% 10,34% 9,48 % 30,17 % 3,45 % 11,35% 5,67% 12,77% 12,77% 11,35% 33,33% 12,06%

0,00 % 0,71 %

116 141

11,24%

9,47 % 41,42 % 11,83 %

1,18 %

169

1850–1879

8,16% 10,28% 10,28% 12,41% 8,51% 37,94% 11,70% 11,01% 11,67% 11,01% 13,00% 10,13 % 35,68 % 6,61%

0,71 % 0,88 %

282 454

38,30% 24,47% 21,28% 11,70%

1880–1909 1910–1935 relativ 1582–1609 1610–1639 1640–1669 1670–1699 1700–1729

15,63% 29,27% 26,19% 21,43%

8,28%

18,75% 29,27% 19,05% 23,21%

8,28 %

8,28%

2,13%

2,13 %

0,00 %

0,00 %

94

21,88% 9,38% 15,63% 18,75% 24,39% 12,20% 4,88% 0,00 % 21,43% 9,52% 14,29% 9,52 % 21,43% 16,07% 8,93% 8,93 %

0,00 % 0,00 % 0,00 % 0,00 %

– – – –

32 41 42 56

19,70% 22,73% 18,18% 24,24%

3,03% 12,12%

0,00 %



66

23,86% 29,55% 15,91% 10,23%

9,09% 11,36%

0,00 %



88

27,08% 28,13% 17,71% 9,38% 9,38 % 8,33 % 25,38% 18,46% 13,85% 18,46% 10,77 % 11,54 % 16,67% 20,83% 20,14% 15,28% 9,03% 18,06%

0,00 % 1,54% 0,00 %

– – –

96 130 144

1880–1909

23,79% 18,06% 14,98% 13,22% 11,01 % 18,50 % 20,65% 18,14% 17,88% 16,12% 12,09 % 17,13 %

0,44% 0,25%

– –

227 397

1910–1935

45,68% 29,63% 17,28%

0,00 %



81

1730–1759 1760–1789 1790–1819 1820–1849 1850–1879

4,94%

1,23 %

1,23 %

relevanten Kinderzahl trotz simultanen Wachstums. Die maximale Differenz des Untersuchungszeitraums ent el allerdings auf die in den 1830ern begründeten Familien und damit passend leicht vor den Gipfel des Kindersterblichkeitsrisikos. Danach verharrte das mittlere relative Nachwuchsquantum bis in die 1890er bei maximal zwei Dritteln. Ein Fünftel aller Ehepaare lebte während des 19. Jahrhunderts ganz ohne Nachkommenschaft. Auf der anderen Seite erlebte extremer Kinderreichtum fern der Kettenehe damals seine Blüteperiode. Johann Gottlieb Esche, Bauer und Amtsrichter, zeugte in 49-jähriger Ehe ab 1808 insgesamt 16 Kinder. Mit ihren zehn Söhnen und acht Töchtern, von denen lediglich sieben den ersten Geburtstag feierten und fünf das 21. Jahr erlebten, brach die Häusler- und Strumpfwirkerfamilie Baum den Rekord zwischen 1819 und 1844 bereits wieder. An die 19 Kinder des hausbesitzenden Schuhmachers Johann

314

FAMILIE

Gottlieb Illing (1803–1861) reichten jedoch weder sie noch alle übrigen Elternpaare Rußdorfs heran. Bis 1892 banden sich sechs weitere Brautleute, deren Reproduktionserfolg 15 Sprösslinge überstieg. Die relative Familiengröße kam gleichwohl nie über die 13 Kinder des Friedrich Hermann Franke (1865–1953) hinaus. Zugleich blieb dessen Familie einzige Vertreterin der höchsten absoluten Kinderzahlkategorie, welche auch durch relativen Reproduktionserfolg sichtlich aus der Masse hervorstach. Insgesamt gingen aus lediglich vier zwischen 1816 und 1892 geschlossenen Ehen effektiv mehr denn zehn Sprösslinge hervor. Während die meisten extrem kinderreichen Familien ein über das durchschnittliche Maß deutlich hinausgehendes Kindersterblichkeitsrisiko aufwiesen, elen diese durch eine stark unterdurchschnittliche Mortalität auf. Der genannte Bauer Franke musste nur zwei seiner Kinder im Säuglings- bzw. Kleinkindalter sowie eine Totgeburt zu Grabe tragen. Die elf Sprösslinge des Pferdebauers Johann Gottfried Welcker (1796–1871) erlebten allesamt das 21. Jahr; der Bauer und spätere Gärtner Johann Christoph Martin (1798– 1869) verlor nur eines von 13 nach vier Monaten und der strumpfwirkende Hausbesitzer Franz Anton Lesch (1840–1913) musste zwar vier von 15 beerdigen, doch zählten darunter eine Totgeburt und zwei 18- bzw. 19-jährige Töchter. Mit dem Ende des 19. Jahrhunderts und den nun rückläu gen Natalitätsraten endete auch die Periode hoher Fertilitätsraten respektive großer Kernfamilien. Bereits die Brautleute der 1880er Jahre bekamen weniger Kinder als jene der vorherigen Dekade. Bezogen auf alle Familien setzte der Wandel erst in den 1890ern ein. Abhängig von der Bezugsgröße el die durchschnittliche Kinderzahl in nur drei bzw. zwei Jahrzehnten Anfang des 20. Jahrhunderts auf das vorindustrielle Niveau. Wer im Laufe der 1920er heiratete, unterschritt dieses im Mittel schon deutlich. Bei Einrechnung kinderlos bleibender verheirateter Frauen, deren Anteil seit den 1910er Jahren exorbitant anschwoll, wurde die gesellschaftliche Reproduktion in Frage gestellt. Ab den 1920er Jahren genügte auch die Fertilitätsrate ausschließlich der sich fortp anzenden Ehepaare theoretisch nicht mehr. Die relative Kinderzahl durchlief eine gleichförmige, jedoch weitaus schwächere Entwicklung. Während die absolute zwischen den 1880ern und 1910ern um 35 bzw. 37 Prozent abnahm, el die relative gerade einmal um 19 Prozent. Synchron schrumpfte die Differenz beider von einem Drittel auf ein Viertel sowie bis in die 1920er Jahre weiter auf 12,92 Prozent zusammen. Rasch schwanden die maximalen Familiengrößen. Der 1903 zur Ehe schreitende Metallarbeiter Georg Theodor Esche zeugte als letzter Rußdorfer vor 1935 nachweislich über zehn Kinder (11), von denen nur eines minderjährig starb. Eine Dekade später begann die letzte mit neun Sprösslingen und darüber beschenkte Ehe. Zugleich konnte der Bauer Carl Fritz Kirmse (1885–1959) mit sieben überlebenden Kindern letztmalig einen über vier Nachkommen erster Generation hinausgehenden Reproduktionserfolg vorweisen. Anfang der 1930er Jahre kamen pro fertilem Paar in Rußdorf durchschnittlich nur noch 1,67 Kinder auf die Welt. Der Grundstein einer

315

GENERATIVES VERHALTEN

Tabelle 37: Vergleichende intervallübergreifende Verteilungsmuster der absoluten und relativen Familiengrößenkategorien in Rußdorf abs. Kinderzahl

1582–1599

1600–1699

1700–1799

1800–1899

1900–1935

0

0,92%

8,90%

13,19 %

47,85%

29,14%

1

0,48% 2,23%

9,18% 19,64%

23,19 % 23,21 %

41,06% 35,71 %

26,09% 19,20 %

2 3

1,60%

11,70%

21,28 %

43,09 %

22,34 %

4 5 6

0,48% 1,90%

12,56% 12,66%

24,15 % 22,78 %

43,96 % 51,90 %

18,84 % 10,76 %

1,91%

9,55%

19,11 %

57,32%

12,10%

7 8 9

1,56% 0,00%

7,03% 6,90%

21,88 % 25,29 %

65,63% 66,67%

3,91 % 1,15 %

1,32%

3,95%

17,11 %

71,05%

6,58 %

10

1,52% 0,91%

6,06% 1,82%

9,09 % 11,82 %

75,76 % 84,55%

7,58% 0,91 %

11–15 über 15 Familienzahl mit kinderl. Fam. rel. Kinderzahl 1 2 3 4 5 6

0,00%

0,00%

0,00 %

100,00%

0,00 %

1,30%

10,51%

20,90 %

53,00 %

14,29 %

1,21%

10,05%

19,34 %

52,37 %

17,02 %

0,91%

11,21%

22,12 %

45,15 %

20,61 %

1,68% 1,21%

11,41% 14,17%

25,17 % 20,65 %

44,97 % 49,39 %

16,78 % 14,57 %

0,50% 2,17%

10,05% 10,87%

22,11 % 15,94 %

52,26 % 62,32 %

15,08 % 8,70%

0,00%

5,95%

19,05 %

70,24%

4,76 %

7

2,33%

2,33%

13,95 %

72,09%

9,30 %

8 9

6,25%

6,25%

21,88 %

59,38%

6,25 %

10 11–15 rel. kinderl. Fam.

0,00% 0,00% 0,00% 1,38%

25,00% 0,00% 0,00% 7,83%

12,50 % 0,00 % 0,00 % 19,35 %

62,50 % 44,44 % 100,00% 60,37%

0,00% 55,56 % 0,00 % 11,06%

Familienzahl

1,29%

10,93%

21,14 %

51,86 %

14,79 %

schrumpfenden Gesellschaft, wie sie Deutschland im beginnenden 21. Jahrhundert beherrscht, war gelegt. „Moderne“ Ein- und Zweikindfamilien dominierten das Bild. Die beschriebenen Wandlungen der mittleren Familiengröße – eine Verkleinerung im frühen 17. Jahrhundert, ein kontinuierliches Wachstum seit dem späten 17. auf vorheriges Niveau bis ins späte 18. und darüber hinaus auf höhere Werte im späten 19. Jahrhundert sowie ein abschließender rapider Regressionsprozess auf den historisch niedrigsten, modernen Stand unterhalb der Reproduktionsschwelle – fanden ihren Niederschlag auch in der Häu gkeitsverteilung der einzelnen Kinderzahlkategorien des betrachteten Zeitraums (Tab. 37).

316

FAMILIE

Nach Geburtenzahlen Zwei- bis Sechskindfamilien entsprachen als Teilmengen aller ehelichen Verbindungen ihrer jeweiligen Kategorie prozentual über den gesamten Untersuchungszeitraum etwa den Anteilen der Gesamtzahl aller fraglichen Familien derselben Perioden an ihrer periodenübergreifenden Menge, d. h. sie entwickelten sich beinahe idealtypisch proportional zur Bevölkerung. Familien mit sieben bis neun Sprösslingen entsprachen im 18. Jahrhundert ungefähr dem Referenzrahmen und waren im 19. gleich jenen mit mehr als neun Kindern überproportional vertreten. Das frühe 20. Jahrhundert zeigt sich hingegen als Blütezeit der Null- und Einkindfamilien. Die Verteilungsmuster der relativen Familiengrößenkategorien spiegeln dieses Bild zwangsläu g leicht verschoben. Die Menge der Ehepaare mit null bis fünf erwachsenen Kindern folgte der Gesamtfamilienzahl im Ganzen, wobei Einkindfamilien im 20. Jahrhundert eine leichtere Häufung zeigen. Größere Familien waren vor allem im 19. Jahrhundert überrepräsentiert. Soweit erkennbar, wiesen alle Gesellschaftsschichten in etwa dieselben Verteilungsmuster der Kinderzahlkategorien auf. Freilich ging der erste Wandel des generativen Verhaltens im frühen 16. Jahrhundert wenigstens an den damals nur rudimentär vertretenen Häuslern und Einwohnern, ebenso der Umschwung nach 1650/1660 an Letzteren folgenlos vorbei. Die schichtenübergreifende Anwendbarkeit der Verteilungsmuster sämtlicher Familiengrößen impliziert zugleich deren standesunabhängiges Vorkommen. Obwohl erhebliche materielle Klüfte die dörfliche Sozialstruktur prägten, beschränkte sich keine Kinderzahlkategorie selbst höchster Ordnung auf nur eine gesellschaftliche Teilmenge. Dennoch brachten Bäuerinnen dem gleitenden langjährigen Mittel zufolge bis in die 1920er meistenteils mehr Kinder zur Welt als der Durchschnitt bzw. die Frauen niederer, unterbäuerlicher Bevölkerungsgruppen. Die Grundbesitzlosen kontrastierten dieses generative Verhalten tendenziell mit den im Mittel niedrigsten Fertilitätsraten (Tab. 38). Keine abweichende Entwicklung zeigt das Verhältnis der mittleren relativen Kinderzahl nach Ständen. Zwischen 1910 und 1935 zeichnete die Momentaufnahme das Bild einer vom Grundbesitzumfang abhängigen Vermehrung mit von der obersten zur untersten Klasse durchgängigem Gefälle. Bauern und Gärtner bekamen etwa drei Kinder, Häusler und Einwohner etwa zwei, von denen insgesamt 92,64 Prozent das prokreative Alter erlangten. So eindeutig hieraus eine Verbindung von generativem Verhalten und Besitz bzw. Einkommen scheinbar hervorgeht, so schnell gerät der Eindruck im Kontext der vorangegangenen Abschnitte ins Wanken. Vor 1910 wies kein Intervall ein vergleichbares Gefälle auf, weder absolut noch relativ. Im Gegenteil wechselten die Besitzstände aufgrund stark schwankender durchschnittlicher Kinderzahlen kontinuierlich ihre Position innerhalb der Rangfolge. Das mittlere Quantum erwachsen gewordener Sprösslinge zehrte von höherer Konstanz insbesondere bei den Mittelschichten. Insofern kann hinsichtlich der „Ergebnisse“ in Rußdorf schwerlich von starrem schichtenspezi schem generativem Verhalten gesprochen werden. Dessen nachgewiesene Veränderungen funktionierten

317

GENERATIVES VERHALTEN

Tabelle 38: Durchschnittliche absolute und relative Kinderzahl nach Schichten in Rußdorf absolut

Bauern

Gärtner

9,00 3,67

3,25 4,00

– –

– –

4,70 3,58

4,07 6,22

3,17 3,17

– 4,00

1,00 4,00

3,50 4,02

5,36

3,89

3,50



4,27

5,70

4,41

3,76

6,00

4,52

4,51 8,00 5,83

4,13 5,41 6,44

4,86 5,56 5,99

2,67 3,83 6,16

4,76 5,58 6,55

1880–1909

5,99 5,75

6,61 4,64

7,15 5,62

4,31 4,90

6,11 5,28

1910–1935

3,17

3,00

2,08

2,07

2,03

relativ 1582–1609 1610–1639

8,00

2,50





3,67

3,40

2,80





2,28

3,20

2,59



1,00

2,75

4,21 3,96 3,91

2,60 2,87 2,92

3,33 2,63 2,23

3,00 – 3,00

3,04 3,20 2,81

2,99 5,03

2,73 2,81

2,85 3,22

2,00 1,60

2,81 3,21

3,63 3,48 4,35 3,07

4,29 4,05 2,44 3,00

2,88 3,90 3,74 2,11

3,32 2,70 3,19 1,88

3,48 3,51 3,51 1,84

1582–1609 1610–1639 1640–1669 1670–1699 1700–1729 1730–1759 1760–1789 1790–1819 1820–1849 1850–1879

1640–1669 1670–1699 1700–1729 1730–1759 1760–1789 1790–1819 1820–1849 1850–1879 1880–1909 1910–1935

Häusler

Hausgenossen

Gesamt

gesamtgesellschaftlich und sind auf Basis der Datenlage unmöglich auf einzelne soziale Gruppen herunterzubrechen. Lediglich eine Tendenz der bäuerlichen Milieus tritt zu Tage. Bräunsdorf Das spätmittelalterliche generative Verhalten der Bräunsdorfer entzieht sich einer Rekonstruktion konsequent. Lediglich eine Familie, die Bastian Lantgraffs, ist aus dem frühen 16. Jahrhundert nicht nur bruchstückhaft bekannt. Mit zwölf überlebenden Kindern kann diese allerdings selbst nach optimistischen Schätzungen wohl nicht für repräsentativ gelten. Der Kurerbe Lazarus Langraf hatte in der zweiten Jahrhunderthälfte nachweislich mindestens drei, sein älterer Bruder Bonifacius um 1550 mindestens vier Kinder. Ab dem späten 16. Jahrhundert häufen sich Familienfragmente ansässiger Bräunsdorfer langsam. Von einem frühen Häusler Jacob Ludtwig um 1600 erlebten zum

318

FAMILIE

Beispiel ein Sohn und eine Tochter ihren 21. Geburtstag, der Sohn und Erbe hatte um 1620 ihrer je zwei. Über fünf Kinder kam außer dem frühen Bauern Lantgraff vor 1640 kein weiterer lokaler Einwohner nach bisherigem Kenntnisstand hinaus. Realiter sollten sich die durchschnittlichen Bräunsdorfer Familiengrößen aus der Zeit vor Beginn der Kirchbuchüberlieferung nicht grundlegend von den gleichzeitigen Rußdorfer ob similärer ökonomischer, naturräumlicher und soziostruktureller Verfasstheit beider Orte unterschieden haben. Umso mehr verwundert das signi kant höhere Niveau Mitte des 17. Jahrhunderts. Die sechs alle Auswahlkriterien erfüllenden Ehepaare der 1640er bekamen im Schnitt 4,5 Kinder, von denen 3,4 erwachsen wurden (Tab. 39). Im darauffolgenden Jahrzehnt Heiratende brachten es gar auf 6,03, das 1,5-fache des Rußdorfer Werts (3,25), ohne wesentliche Anhebung der relativen Zahl. Während in der altenburgischen Exklave der 1660er das vorläu ge Natalitätstief Raum griff, el die Geburtigkeit pro verheirateter Bräunsdorferin nur auf den vorherigen Stand. Das Minimum wurde hier erst in den 1670ern markiert. Ungeachtet des unmittelbar anschließenden Aufschwungs sank die relative Kinderzahl allerdings erst in den 1680er Jahren auf ihren Tiefpunkt, ohne die Reproduktionsschwelle zu unterschreiten. Entsprechend kamen während des 17. Jahrhunderts 3,37 Kinder pro Familie mit Nachwuchs in den Genuss des mündigen Status. Im Laufe des 18. Jahrhunderts gegründete Familien hielten diesen Stand, benötigten aber deutlich mehr Ressourcen. Forderte der Tod vor 1700 im Mittel ein Kind jedes Ehepaares vor dessen 21. Jahr (22,97%), starben zwischen 1700 und 1799 durchschnittlich 34,9 Prozent einer Geschwisterschar unmündig. Nicht umsonst brachten verheiratete Mütter zwischen 1690 und 1739 im Mittel bereits wieder vier Kinder zur Welt. Danach dominierten absolut durchschnittlich fünf Sprösslinge bei den bis 1809 gegründeten Familien bzw. vier unter Einbeziehung unreproduktiver Paare. Elf Kinder bildeten trotzdem lange Zeit unverändert die Obergrenze individueller Fertilität in Bräunsdorf. Erst ein 1754 heiratendes Handbauernpaar de nierte neue Maßstäbe mit 13 Nachkommen, wurde aber kaum zwei Dekaden später vom generativen Verhalten (15 Kinder) des 1770 verehelichten Hausgenossen und zeitweiligen Gartenpächters Johann Samuel Posern in den Schatten gestellt. Die maximalen tatsächlichen Reproduktionserfolge standen dahinter zunehmend zurück. Nach dem Richter Hanß Frischmann (1644–1721), der alle seine fünf Töchter und vier Söhne durchbrachte, gelang es im verbleibenden 17. Jahrhundert nur zwei Ehepaaren, sieben Kinder und erst einem 1713 verheirateten, acht durchzubringen. Letzteres blieb oberstes Maß bis in die 1770er Jahre, ehe Gottfried Frischmanns, eines Handbauern Familie ein neues Maximum des Kinderreichtums de nierte. Von seinen 16 zwischen 1773 und 1795 geborenen Sprösslingen erlebte allerdings lediglich die Hälfte das prokreative Alter. Zufällig heiratete im selben Jahr der Häusler Johann Samuel Friedrich, dessen elf Nachkommen allesamt ihr 21. Jahr vollenden konnten. Der Regel entsprach dies nicht. Wie im Rußdorfer Fall stiegen die mittleren Familiengrößen im 18. Jahrhundert zeitgleich mit dem

319

GENERATIVES VERHALTEN

Tabelle 39: Durchschnittliche absolute und relative familiäre Kinderzahl in Bräunsdorf absolut

durchschnittliche Kinderzahl absolut im Kinderlosen

relativ

1640–1649

4,50

4,50

3,40

1650–1659

6,06 4,11

5,13 3,64

4,73 3,25

3,11

2,83

2,65

3,68

3,68

2,44

4,78 4,31 4,88

4,09 3,67 4,41

3,78 3,26 3,22

4,21 5,05

3,36 4,66

2,48 3,82

5,12 5,37 4,75 6,89

4,71 5,20 3,68 6,48

3,50 3,93 3,21 3,86

5,63 6,16

5,24 5,47

3,55 3,24

5,18 6,02

3,71 5,00

3,12 3,31

6,30 6,07 6,36

4,51 4,18 5,13

3,26 4,17 4,24

6,13

5,23

3,12

6,07 5,54 6,28

5,07 4,82 5,49

3,64 3,49 3,48

5,72 4,41 3,14

4,12 3,56 2,08

3,87 3,52 2,46

2,28 2,86

1,45 2,16

1,93 2,41

1640–1699 1700–1799 1800–1899

3,83 4,63

3,16 4,01

2,83 2,93

6,11

4,98

3,52

1900–1935

2,61

1,71

2,22

1660–1669 1670–1679 1680–1689 1690–1699 1700–1709 1710–1719 1720–1729 1730–1739 1740–1749 1750–1759 1760–1769 1770–1779 1780–1789 1790–1799 1800–1809 1810–1819 1820–1829 1830–1839 1840–1849 1850–1859 1860–1869 1870–1879 1880–1889 1890–1899 1900–1909 1910–1919 1920–1929 1930–1935

Säuglingssterberisiko bzw. der Kindersterblichkeit an, während die durchschnittliche relative Kinderzahl keinen merklichen Veränderungen unterlag. Die Korrelation lebte über das 19. Jahrhundert hinweg fort. Bräunsdorfer Brautleute der Jahre 1810 bis 1899 bekamen im Schnitt sechs Kinder, inklusive Kinderloser vier bis fünf. Dennoch zeigte sich das relative Quantum gänzlich unbeein usst und sank die Quote der Überlebenden

320

FAMILIE

Tabelle 40: Vergleichende intervallübergreifende Verteilungsmuster der absoluten und relativen Familiengrößenkategorien in Bräunsdorf abs. Kinderzahl

1600–1699

1700–1799

1800–1899

1900–1935

0

4,52%

18,09%

51,26 %

26,13 %

1

13,49% 11,19%

29,37% 27,61%

34,92 % 21,64 %

22,22 % 39,55 %

2 3

10,94%

25,78%

41,41 %

21,88 %

4 5 6

9,24% 11,76%

24,37% 34,12%

40,34 % 45,88 %

26,05 % 8,24 %

11,76%

37,65%

37,65 %

12,94 %

7 8 9

5,80% 11,27%

33,33% 35,21%

52,17 % 47,89 %

8,70 % 5,63 %

2,08%

31,25%

66,67 %

0,00 %

10

6,98% 4,17%

37,21% 12,50%

51,16 % 79,17 %

4,65 % 4,17 %

0,00%

33,33%

66,67 %

0,00 %

9,74%

29,11%

43,61 %

17,55 %

8,90%

27,29%

44,67 %

19,14 %

10,10%

28,28%

39,90 %

21,72 %

11,48% 8,84%

26,78% 28,57%

33,33 % 42,18 %

28,42 % 20,41 %

8,87% 10,47%

34,68% 33,72%

36,29 % 51,16 %

20,16 % 4,65 % 12,73 %

11–15 über 15 Familienzahl mit kinderl. Fam. rel. Kinderzahl 1 2 3 4 5 6

9,09%

38,18%

40,00 %

7

11,11%

16,67%

66,67 %

5,56 %

8 9

9,52%

23,81%

61,90 %

4,76 %

20,00% 0,00% 0,00% 10,01%

0,00% 0,00% 25,00% 29,00%

80,00 % 80,00 % 50,00 % 41,89 %

0,00 % 20,00 % 25,00 % 19,10 %

7,69%

29,91%

56,41 %

5,98 %

10 11–15 rel. kinderl. Fam. Familienzahl

pro Familie auf durchschnittlich beinahe 50 Prozent. Einzig Mitte des 19. Jahrhunderts erreichten vier Kinder pro verheirateter Familie das prokreative Alter. Gleich dem nachbardörflichen Beispiel schlug nun die Stunde der späterhin mystizierten Großfamilie. Obwohl 43,61 Prozent der betrachteten Familien dem 19. Jahrhundert entstammten, brachte das Dezennium die Mehrheit derjenigen mit sieben und mehr Kindern hervor. Insbesondere das Vorkommen der beiden obersten Kategorien konzentrierte sich auf die zweite Jahrhunderthälfte. Auch die geltenden Reproduktionsmaxima erfuhren nochmals eine Erweiterung (Tab. 40). In Nachfolge Gottfried Frischmanns zeugten die Bauern Johann Michael Vogel (1767–1832) und August Wilhelm Türpe (1825–1887) je 16 Nachkommen bei noch unvorteilhafterem Aufwand-Erfolg-

321

GENERATIVES VERHALTEN

Tabelle 41: Durchschnittliche absolute und relative Kinderzahl nach Schichten in Bräunsdorf absolut 1640–1669 1670–1699 1700–1729 1730–1759 1760–1789 1790–1819 1820–1849 1850–1879 1880–1909 1910–1935 relativ 1640–1669 1670–1699 1700–1729 1730–1759 1760–1789 1790–1819 1820–1849 1850–1879 1880–1909 1910–1935

Bauern

Gärtner

Häusler

Hausgenossen

Gesamt

6,97 4,53

4,00 3,19

– 5,00

– 1,00

5,04 3,86

5,94 6,13

3,70 4,69

3,77 4,47

8,00 2,50

4,46 5,18

5,70

5,93

6,37

3,33

5,79

5,45

5,01

6,12

4,33

5,83

7,32 7,20 6,08

5,78 5,35 6,12

6,43 6,36 5,82

4,57 6,00 5,06

6,24 5,91 5,46

2,89

1,67

1,00

2,00

2,73

5,68

2,35





3,88

3,56 3,44

2,16 2,45

2,50 3,15

– 5,00

2,97 2,99

3,78

3,60

3,25



3,75

3,62

3,28

3,79

1,00

3,56

3,09 4,54 4,38

3,18 3,92 3,54

2,89 3,63 3,47

3,50 2,75 3,82

3,23 3,88 3,42

3,67 2,49

4,30 1,67

3,62 1,00

2,78 2,00

3,62 2,23

Verhältnis (7 u. 5). Der Gärtner Johann August Heinzig (1797–1857) und der Häusler Johann Friedrich Wilhelm Grosse (1829–1875) erhöhten die maximale familiäre Kinderzahl auf 17 bei minimalen relativen Reproduktionserfolgen von zwei und vier. Den absoluten Fertilitätsgipfel markierte jedoch das 1866 getraute Strumpfwirkerehepaar Türpe mit seinen 21 Sprösslingen. Effektiv hatte deren Familie am Ende mit fünf erwachsenen Söhnen und Töchtern trotzdem lediglich leicht überdurchschnittliche Größe. Bei Betrachtung der relativen Zahlen tritt die Ungleichverteilung der Familiengrößenkategorien umso deutlicher zu Tage. Familien mit sieben oder acht überlebenden Kindern waren mit über 60-prozentiger Wahrscheinlichkeit, solche mit neun und zehn gar zu 80 Prozent im 19. Jahrhundert angesiedelt. Wie in Rußdorf standen die relativen Spitzenreiter auch absolut in der obersten Kategorie, führten dafür aber das allgemein hohe Kindersterblichkeitsrisiko ad absurdum. Nach J. S. Friedrich im 18. Jahrhundert sah der Gärtner Gottfried Landgraf (1834–1916) von 15 Kindern zwölf erwachsen werden. Eine Tochter kam tot zur Welt, eine starb im zweiten Jahr und der jüngste Sohn el 15-jährig einem chronischen Herzleiden zum Opfer. Säuglingssterblichkeit tangierte die Familie somit nicht. Analog verlor der strumpfwirkende Häusler Hermann Friedrich Pester (1838–1919) nur zwei seiner 14 Kinder vor deren ersten Geburtstag und ein weiteres an Hirnentzün-

322

FAMILIE

dung vor dem mündigen Alter. Leonhard Theodor Türpe, 1900 heiratender Fabrikarbeiter, besaß mit zwölf von 14 den 21. Geburtstag erlebenden Sprösslingen absolut wie relativ die größte Familie im Bräunsdorf des frühen 20. Jahrhunderts. Nach 1890, der Natalitätsgipfel war gerade überschritten, die Kindersterblichkeit trat in rasche Degression über, gingen die Familiengrößen stark zurück. Das 1917 getraute Ehepaar Jost bekam zuletzt mehr denn sieben Kinder (12) und sah desgleichen mehr denn sechs (10) erwachsen werden. Ernst Johann Haberkorn (1905–1972) war der letzte nachweisbare Bräunsdorfer, welcher Vater von sieben bzw. letztlich sechs mündigen Kindern wurde. Was die Extremfälle andeuten, gilt nicht minder für den allgemeinen Durchschnitt. Binnen 30 Jahren el die mittlere absolute Kinderzahl pro reproduktiver Ehefrau um die Hälfte auf 3,14 bzw. inklusive Kinderloser 2,08. Abermals zeigte die relative Kinderzahl kontrastierend zunächst keine nennenswerte Veränderung. Folglich besserte sich die mittlere Aufwand-Erfolg-Bilanz des generativen Verhaltens bis in die 1900er. Schließlich blieb das Verhältnis zwischen absoluter und relativer Familiengröße unverändert, während die Zahl überlebenden Nachwuchses bei in den 1910er Jahren begründeten Ehen um einen Zähler sank (Tab. 39). Am Ende des Untersuchungszeitraums kulminierte beides. Bräunsdorfer Ehepaare der 1920er bekamen im Mittel noch 2,28 Kinder, verharrten in ihrem generativen Verhalten anders als die Rußdorfer dieser Zeit leicht über der Reproduktionsschwelle bzw. unterschritten diese effektiv leicht (1,93) bei gleichzeitig fortschreitender Annäherung beider Werte. Die ausgewerteten Kernfamilien der beginnenden 1930er legten gar nochmals Kinder zu. Demgemäß konzentrierten sich kinderlose und Ein- bis Vierkindfamilien in Bräunsdorf überproportional auf die nalen 35 untersuchten Jahre. Konsequente Standesunterschiede werden in Bräunsdorf, wie Tabelle 41 zeigt, ebenfalls weder hinsichtlich der ablaufenden Prozesse noch der durchschnittlichen Familiengrößen ersichtlich. Jedoch treten die bäuerlichen Schichten analog zum Rußdorfer Fall durch eine tendenziell höhere Reproduktivität hervor.

Zusammenfassung Im Ganzen bestehen in der Entwicklung des generativen Verhaltens zwischen Rußdorfern und Bräunsdorfern keine inhärenten Unterschiede. Auch in Bräunsdorf deuten die Daten auf Interdependenzen der parallel zur lokalen Protoindustrialisierung und Industrialisierung statt ndenden generativen Transition, dem Übergang zu historisch einmalig geringen, kaum oder gar nicht mehr der gesellschaftlichen Reproduktion genügenden über ebenso unikalisch extrem hohe mittlere absolute Familiengrößen und des jeweils zeitgleichen Säuglingssterberisikos hin, welches in Bräunsdorf trotz gegenüber der altenburgischen Exklave seit Mitte des 18. Jahrhunderts geringerer Bevölkerungszahl

FAMILIENPLANUNG

323

und geringeren Bevölkerungswachstums sowie etwas verminderter Säuglingssterblichkeit größtenteils das Rußdorfer in den Schatten stellte. Übereinstimmung herrschte auch bezogen auf das dem statistischen Material abgehende soziale „Gesicht“ der Fortp anzung. Weder hinsichtlich der absoluten wie relativen Familiengrößen noch der zeitlichen Verteilungsmuster einzelner Kinderzahlkategorien trat der eine oder andere Stand sonderlich hervor. Desgleichen war ein ausdrückliches soziales Gefälle bei den durchschnittlichen familiären Kinderzahlen nur in Ausnahmefällen feststellbar, etwa in den 1880er Jahren, und variierte das Verhältnis der einzelnen Klassen von Dekade zu Dekade bis hin zur Umkehrung des Gefälles. Dennoch präsentierten obere Gesellschaftsgruppen insgesamt eine Tendenz zu höherer Reproduktion. In acht von zehn Dreißigjahresabschnitten lag die durchschnittliche Kinderzahl bäuerlicher Familien jenseits der fünf, in fünf bei den Gärtnern, sechs von neun bei den Häuslern und in nur drei von neun bei den Hausgenossen. Hierin scheinen sich jedoch soziale Spezi kationen des generativen Verhaltens in Rußdorf wie Bräunsdorf zu erschöpfen.

7.2 FAMILIENPLANUNG Die Entwicklung von durchschnittlicher Familiengröße und Geburtigkeit in Sonderheit um 1900 wirft die Frage auf, ob in den Untersuchungsorten zumindest Anfang des 20. Jahrhunderts und vielleicht auch schon früher Geburtenplanung praktiziert wurde. Einiges weist in diese Richtung. Wie sonst ist zu erklären, dass die familiären Kinderzahlen nach 1900 binnen weniger Dekaden massiv zurückgingen, teils gar unter die Reproduktionsschwelle elen, obwohl das seinerseits rapide sinkende Säuglingssterberisiko nebst Ausweitung des potentiellen ehelichen Fertilitätszeitraums eher ein sprunghaftes Anschwellen erwarten ließe. Das Phänomen war keineswegs neu. Wie bereits gezeigt wurde, war die mittlere Kinderzahl bereits im frühen 17. Jahrhunderts gesunken und hatte sich im Laufe des 18. und 19. Jahrhunderts proportional zur steigenden Säuglingssterblichkeit erhöht, wodurch die relative Familiengröße beibehalten werden konnte. Es liegt nahe, familienplanerisches Verhalten für diese Erscheinung verantwortlich zu machen. Schon für das europäische Mittelalter und mehr noch die überlieferungsreichere Neuzeit ist ein breiter Volkswissensschatz um kontrazeptive Mittel bzw. Praktiken belegt. 667 Die Kirche versuchte, deren Anwendung mittels zahlreicher Sanktionen entgegenzuwirken, hatte aber nur bedingt Erfolg. Tatsächlich scheinen reformierte Regionen eher zu Familienplanung zu neigen als katholische, doch erschöpfen sich die Unterschiede hierin bereits. Selbst im katholisch beherrschten Frankreich konnte Imhof das Himmeln ungelegener Säuglinge, eine Form postnataler, gewissermaßen nachträglicher 667

Vgl. Fossier, Leben, S. 63ff.

324

FAMILIE

Geburtenkontrolle, empirisch belegen. 668 Andere, weniger offensichtliche, daher statistisch weitaus schwerer bis nicht fassbare Praktiken erschöpften sich nicht im coitus interruptus, der Scheidenspülung oder der Einnahme abtreibender Substanzen. 669 Die denkbaren Motivlagen sind ähnlich mannigfaltig wie das Wissen nicht zuletzt der Wehfrauen umfassend war. Geltendes Realteilungsrecht konnte etwa, zumal wenn soziale (Macht-)Positionen daran gebunden waren, dazu ermutigen, zwecks Wahrung des Familienbesitzes auf einen männlichen Alleinerben zu fokussieren. Ökonomische Nachteile, die zum Beispiel durch Versorgung und Ausstattung mehrerer Töchter drohen konnten, mochten auf die eine oder andere Art umgangen worden sein. Mahnte Ehrverlust etwa bei unehelicher bzw. mehr noch einer unstandesgemäß zustande gekommenen Schwangerschaft, konnte eine Abtreibung unter Umständen aller darauf stehenden Strafen zum Trotz die probate Lösung darstellen. Doch auch deutlich trivialere Gründe kommen in Betracht. Existierte die Familienwirtschaft an ihrem Limit oder brachten weitere Schwangerschaften die Mutter zum Beispiel angesichts schlechter physischer Konstitution in Lebensgefahr, lag es nahe, auf weitere Kinder und Esser zugunsten der Wohlfahrt aller Haushaltsmitglieder zu verzichten. Schließlich mochte eine auf Basis abstrakter Idealvorstellungen gewünschte Kinderzahl das generative Verhalten eines Paares bestimmt haben etc. Fehlende private Schriftzeugnisse lassen der Spekulation großen Raum. Allein der reale Wissensumfang der örtlichen Bevölkerung, grundlegender Indikator des möglichen Ausmaßes geburtenplanerischen Verhaltens sowie zur Verfügung stehender Verfahrensweisen, bleibt im Dunkeln. Generelle Kinderlosigkeit oder solche in höheren Lebensaltern sowie große intergenetische Intervalle oder geringe familiäre Kinderzahlen lassen nicht automatisch auf eine blühende Kontrazeptions- und Abtreibungspraxis schließen. Absolute oder temporäre, zum Beispiel ernährungs-, krankheits- oder anderweitig belastungsbedingte Unfruchtbarkeit eines Ehepartners bzw. die natürliche altersabhängig nachlassende Zeugungs- bzw. Empfängnisfähigkeit können similäre Auswirkungen zeitigen. Umgekehrt deutet kontinuierliche, gleichmäßige, selbst womöglich den gesamten ehelichen Fertilitätszeitraum durchziehende Geburtigkeit ebenso wenig auf fehlendes Wissen um kontrazeptive Techniken bzw. deren unterlassene Anwendung hin wie geringe familiäre Kinderzahlen. Zu erheblich variieren Effektivität und Anwendungssicherheit denkbarer Methoden. Desgleichen beschränkt fehlendes Wissen um Verhütungstechniken zwar pränatale Familienplanung von vornherein, doch ließen auch die vorhandenen Kenntnisse eine Wahl zwischen An-

668 669

Vgl. Imhof, Lebensspanne, S. 63ff. Ruchbar gewordene Abtreibungen wurden seit jeher hart bestraft. Nach dem Reichsstrafgesetzbuch von 1871 harrten überführten Täterinnen und deren Helfern mehrmonatige bis mehrjährige Gefängnis- oder gar Zuchthausaufenthalte. Die spätmittelalterliche Carolina von 1532 drohte auf dem Gebiet des Heiligen Römischen Reich schlimmstenfalls mit dem Tod. Jerouschek, Günter, Die juristische Konstruktion des Abtreibungsverbots, in: Gerhard, Ute (Hg.), Frauen in der Geschichte des Rechts. Von der Frühen Neuzeit bis zur Gegenwart, München 1997, S. 248–261, S. 248 ff.

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325

wendung und Nichtanwendung. Religiöse Dogmen, tradierte kollektive Normen und Wertvorstellungen, gesetzliche Schranken oder etwa sozialer Druck bergen ebenso das Potential, einer entsprechenden Handlung im Wege zu stehen, wie die Mentalität der potentiellen Eltern selbst. Des Weiteren darf kein verallgemeinerbares gesamtgesellschaftliches Idealbild von Familie angenommen werden. Der historischen Realität trägt wahrscheinlich eher die Annahme eines vielfältigen Systems mehrerer koexistierender sozialgruppenspezi scher kollektiver, auf Basis sozioökonomischer Optimierungserwägungen de nierter Wunschbilder und Idealvorstellungen, die beständige Revisionen in Reaktion auf veränderte Lebensrealitäten einforderten, Rechnung. Wenigstens rudimentäre Vorstellungen des Fortp anzungsvorgangs können als gesichert gelten. Der Zusammenhang zwischen vaginalem gottgefälligem Geschlechtsverkehr und Schwangerschaft musste mindestens jedem Erwachsenen bekannt sein. Von Jugend an sahen sich Landkinder mit kopulierenden, schwangeren und gebärenden Nutztieren, mitunter bei räumlich beengten Wohnverhältnissen auch der Eltern konfrontiert. 670 Daraus die richtigen Schlüsse zu verhütendem Verhalten, wie etwa unterbrochenem Verkehr oder Kontrazeption durch Präservative, etwa aus Tierdarm oder Stoff, bzw. präservativartige Mittel etc. zu ziehen, ist nur ein weiterer kurzer Schritt. Wissen um die potentielle Herbeiführung eines Aborts entstammte, analog dem alltäglichen Erleben, der alltäglichen Beobachtung. Wenn der Kaufunger Pfarrer 1756 berichtet, dass „die Mutter über der starcken Einquartirung derer Preußen erschrocken“ 671 eine Frühgeburt erlitt, eine andere 1821 ihr unzeitiges Kind „in Folge d. Falles v. Stege in d. Bach“ 672 gebar, so zeugt die schriftliche Überlieferung bereits von allgemein bekannten Ursachen eines Schwangerschaftsabbruchs und indirekt von Möglichkeiten, einen solchen künstlich herbeizuführen. Inwiefern Aborte in den Untersuchungsorten bewusst provoziert wurden, entzieht sich der nachträglichen Betrachtung. Der christliche Wertekanon verbot dergleichen zwar, doch fehlte die rechtliche Handhabe gegen „Sünderinnen“ außerhalb von Beichte und Buße. Welchen Standpunkt die Dorfgesellschaft in der Frage der Geburtenkontrolle einnahm, bleibt gleichfalls offen. Mit hoher Wahrscheinlichkeit wurden Schwangerschaftsabbrüche bestenfalls kritisch beäugt, brachten wohl eher die Mutter und unter Umständen deren Familie ins Gerede und bedeuteten im Extremfall vielleicht auch den sozialen Tod, sofern keine artikulierte kollektive Legitimation bestand. Es ist freilich anzunehmen, dass die Entscheidung für den Abort nicht öffentlich, im Zweifel nicht einmal familienintern kommuniziert, die Schwangerschaft verheimlicht und über die Abtreibung folglich nach Möglichkeit niemand in Kenntnis gesetzt, geschweige denn dem Ortsgeistlichen Meldung für die Kirchbücher erstattet wurde. Postnatales Engelmachen

670 671 672

Vgl. Weber-Kellermann, Landleben, S. 258. EPA Rußdorf, KB I, Taufen 1756, Nr. 7. Ebd., KB II, Beerdigungen 1821, Nr. 21.

326

FAMILIE

war dagegen unter den Augen der dörflichen Öffentlichkeit schwerer zu bewerkstelligen und zu verbergen. Harte Strafen drohten juristisch, schwere Sanktionen auf sozialer Ebene, wurde solches ruchbar. Sabina Helbig, seit 1705 Witwe eines Rußdorfer Häuslers, brachte in deutlichem zeitlichem Abstand zu ihrer Verwitwung einen unehelichen Sohn zur Welt. Dem damit in dieser Zeit noch vorprogrammierten Ehrverlust versuchte sie offenbar mittels Heimlichkeiten beizukommen. Nachdem die Leiche des Kindes 1710 „in dem Leichenstroh ihres Mannes auf dem Boden gefunden worden“ war, wurde ihr Fall gerichtlich examiniert. Trotz erdrückender Beweislast gestand sie den Mord nicht ein und „stunde darüber der Tortur aus“. Fehlender eindeutiger Belege für die Verbindung Helbigs mit dem Kind halber kam sie davon. Dem Pfarrer schien ihre Schuld dennoch unzweifelhaft: „Hatte als Wittbe ein uneheliches Kind erzeugt und ermordet.“ 673 Ihre fortdauernde Ledigkeit, sie zählte 1710 gerade 44 Jahre, mag gleich dem Heiratsverhalten ihrer ehelichen Kinder, die allesamt Ortsfremde ehelichten, als Indiz eines fortan substanziell beschädigten Leumunds der Mutter und in Abschwächung ihrer Nachkommenschaft gewertet werden. Natürlich spiegelt ein allgemein anerkannter, rechtlich garantierter abstrakter Wertekanon nur bedingt das situative Werte- und Rechtsbewusstsein sowie die tatsächliche Handlungsbereitschaft der einzelnen Gesellschaftsmitglieder. Wer der kollektiv proklamierten Norm generell oder momentan wissentlich seine Gefolgschaft verweigert, muss, um Bestrafung zu entgehen, im Verborgenen agieren. Wenn also Rußdorfer oder Bräunsdorfer Familien nachträglich ihren Reproduktionserfolg zu regulieren suchten, bot bei ohnehin massiver Kindersterblichkeit vor Herausbildung einer ächendeckenden medizinischen Infrastruktur und umfassender medizinisch-behördlicher Kontrollmechanismen im 19. und 20. Jahrhundert die unterlassene oder falsche Versorgung des Säuglings eine probate, relativ subtile Lösung. Etwaige Fälle hätten die Kirchbücher vermerkt, jedoch wären sie im Nachhinein nicht zu identi zieren. Möglicherweise brachte eine künstlich erzeugte außergewöhnlich hohe familiäre Kindersterblichkeitsrate die Eltern ins dörfliche Gerede. Die im Allgemeinen sehr gesprächigen Pfarrmatrikeln des Untersuchungsraums bleiben dahingehende ausdrückliche Hinweise gleichwohl schuldig. Ebenso wenig waren sonderbare Unterschiede in der geschlechtsspezi schen Lebenserwartung feststellbar und zeigten unehelich Geborene, die im Zweifelsfall vor allen anderen zu postnataler Reproduktionskontrolle motivieren mussten, ein nur mäßig erhöhtes Säuglingssterblichkeitsrisiko (Abb. 45), welches eher den ungünstigen Lebensumständen der gefallenen Mütter geschuldet war. Himmeln bzw. nachträgliche Geburtenregulierung hatte in den betreffenden Dörfern nie Tradition. Doch wie verhielt es sich mit präkonzeptiver oder -nataler Familienplanung? Bar individueller autobiographischer Schriftzeugnisse fehlt, wie ausgeführt, 673

EPA Rußdorf, KB I, Trauungen 1688, Notiz bei Nr. 3.

FAMILIENPLANUNG

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Abbildung 45: Allgemeine und uneheliche Säuglingssterblichkeit im Vergleich in Rußdorf und Bräunsdorf

jede Handhabe, einzelnen Familien geburtenplanerisches Verhalten oder dessen Absenz zu unterstellen. Anders liegen die Möglichkeiten auf der gesamtgesellschaftlichen Ebene. Geburtenkontrolle, die im Übrigen nicht automatisch mit aktiver Familienplanung einhergeht, kann auf zwei hauptsächlichen Wegen erfolgen. Einerseits ist es denkbar, die Geburtenabstände künstlich durch sexuelle Enthaltsamkeit, Verhütung oder spätes Abstillen in die Länge zu ziehen. Andererseits kann die Fertilitätsphase der Frau etwa mit vorzeitigem Reproduktionsstopp oder einer späten Hochzeit beschränkt werden. 674 Beides lässt sich, sofern eine majorative Praktizierung bewussten generativen Verhaltens vorlag, statistisch nachweisen. Wrigley legte ein in der demographischen Forschung seitdem vielfach genutztes Analysemodell vor, mit dessen Hilfe bewusste Geburtenkontrolle anhand der durchschnittlichen familiären Geburtenabstände nachvollzogen werden kann. Behufs dessen wurden die mittleren intergenetischen Intervalle in vier Kategorien aggregiert, deren Gewichtung gesamtgesellschaftliche Verhaltensweisen entlarvt. Kennzeichen passiver Gesellschaften sei eine herausstechende Ausprägung der zweiten Gruppe, jener Ehepaare, die alle 1,5–2,5 Jahre ein Kind in die Welt setzen. Typischerweise stehe die dritte Kategorie mit 2,5- bis vierjährigen Geburtenabständen dahinter an zweiter Stelle. Flankiert würden beide Gruppen im gesetzten Fall von den wenig ausgeprägten, beschleunigte oder verzögerte Geburtenfolgen produzierenden Familientypen. 675 674 675

Vgl. Gestrich, Familie, S. 84. Vgl. Wrigley, E. A., Family Limitation in Pre-Industrial England, in: The Economic History Review, New Series, Vol. 19, Nr. 1, o. O. 1966, S. 82–109, S. 92ff.

328

FAMILIE

Ihre Ursache hat diese charakteristische Verteilung in biologischen Mechanismen. Postnatal durchläuft eine jede Mutter natürlicherweise eine mehrmonatige Periode der Schwangerschaftsamenorrhoe, welche über den gesamten Stillzeitraum hinweg bestehen bleibt. Davon ausgehend, das Abstillen erfolge üblicherweise zwischen dem sechsten und neunten Lebensmonat des Säuglings, folgen erneute Empfängnis und mehr noch eine erneute Geburt nur selten mit unter achtzehnmonatigem Abstand auf die vorherige, wird bei kontinuierlich aktivem ungeschütztem Sexualleben danach aber immer wahrscheinlicher. Liegen Aborte oder temporäre Unfruchtbarkeit, zum Beispiel Belastungsamenorrhoe oder eingeschränkte Potenz aufgrund schlechter Ernährung, Krankheiten, psychischen Problemen etc. der Eltern vor, können daraus ungewöhnlich große intergenetische Intervalle von durchschnittlich über vier Jahren erwachsen. Bestimmen dagegen die Eltern mehrheitlich aktiv über den Geburtstermin ihrer Kinder bzw. über das Zustandekommen einer Schwangerschaft selbst, fällt in der Regel der letzten Kategorie typischerweise das größte Gewicht zu. Geringere mittlere Geburtenabstände treten dabei mit proportional rückläu ger Häu gkeit auf. 676 Allerdings wird das Bild einer einheitlichen natürlichen ehelichen Fertilität durch zahlreiche europäische Regionalstudien zugunsten eines diversitären Systems natürlicher Muster gleich dem westeuropäischen Heiratsmuster Hajnals in Frage gestellt. 677 Wird Wrigleys Methode auf die Daten der Untersuchungsorte angewandt, sollten sich eindeutige Tendenzen in Richtung verzögerter intergenetischer Intervalle abzeichnen. Während Adler eine dahingehende Tendenz während des 19. Jahrhunderts ähnlich Wrigleys Befund zu Colyton feststellt 678, erkennt Schmalz im Monschauer Land bis 1875 keine Hinweise auf Geburtenkontrolle. Knodel wiederum machte in seiner Studie den Wandel des generativen Verhaltens zum Ende des 19. Jahrhunderts an der positiven Verbindung zwischen weiblichem Heiratsalter und dem Alter bei Geburt des letzten Kindes fest. Kennzeichen einer künstlichen Limitierung der Kinderzahl wären demnach in erster Linie die Beendigung der Reproduktion vor dem Beginn der Menopause und ein mit proportional zum Eheeintrittsalter schwankender Abbruch der Vermehrung. 679 Im vorhergehenden Kapitel wurde bereits auf klare Indizien für einen kollektiven Mentalitätswandel hin zu aktivem generativem Verhalten in Rußdorf und Bräunsdorf um 1900 hingewiesen. Die durchschnittliche familiäre Kinderzahl sank Anfang des 20. Jahrhunderts rapide, was ausschließlich mit kontrazeptivem Verhalten erklärt werden kann. Fraglich ist indes, ob die Geburtenplanung zu dieser Zeit noch nachträglich oder schon im Vorhinein erfolgte. Motivierte eine allgemein spürbar höhere Überlebenswahrscheinlichkeit von Säuglingen dazu, gemäß überkommenen Verhaltensnor676 677 678 679

Vgl. Imhof, Arthur E., Die gewonnenen Jahre. Von der Zunahme unserer Lebensspanne seit dreihundert Jahren oder von der Notwendigkeit einer neuen Einstellung zum Leben und Sterben, München 1981, S. 58 ff. Vgl. Schlumbohm, Lebensläufe, S. 140f. – Knodel, Behavior, S. 317. Vgl. Adler, Demographie, S. 102. Vgl. Knodel, Behavior, S. 369ff.

FAMILIENPLANUNG

329

men direkt nach der Heirat den Sinn des Lebens bzw. das Ziel der Partnerschaft in persönlicher Reproduktion schnell zu erfüllen und erst bei einer als ideal empfundenen Kinderzahl weitere Schwangerschaften zu vermeiden oder wurde die eigene Fortp anzung bereits sukzessive in der kollektiven Wahrnehmung zu einer gleichwertigen Möglichkeit unter vielen individuell bestimmbaren Lebensentwürfen bzw. gar einer nachgeordneten solchen degradiert? Um Aufschluss über das Wesen und die Veränderungen des generativen Verhaltens mithilfe des beschriebenen Untersuchungsmodells zu erhalten, wurden 1639 Rußdorfer und 982 Bräunsdorfer Familien kategorisiert. Diese erfüllten als grundlegende Bedingung, mindestens zwei in einem der beiden Orte geborene Kinder hervorgebracht zu haben. Die datentechnische „Vollständigkeit“ jener einbezogenen Familien wurde erneut vorausgesetzt, d. h. das Hochzeitsdatum musste bekannt und mindestens eines der Elternteile vor Ort gestorben bzw. bei ab 1880 gegründeten Ehen lediglich das Sterbedatum eines der Eltern vorhanden sein. In die Untersuchung fanden die durchschnittlichen Geburtenabstände zwischen dem ersten und letzten Kind mit bekanntem korrektem Geburtsdatum Eingang. Rußdorf Die Bevölkerung der sachsen-altenburgischen Exklave Rußdorf zeigte meistenteils ein als passiv einzustufendes generatives Verhalten. Sowohl zwischen 1582 und 1609 als auch zwischen 1760 und 1909 entsprach das Mengenverhältnis der natürlichen Idealform: 6,06–17,62 Prozent der Familien einer der angesichts begrenzter Datenmengen auf 30 Jahre ausgedehnten Kohorten 680 unterschritten in den Geburtenabständen durchschnittlich 1,5 Jahre, 6,06–14,23 Prozent reproduzierten sich in ausgesprochen großen Intervallen. Im Abstand von 18–30 Monaten brachten vier bis sechs von zehn Frauen ihre Kinder zur Welt. Rund ein Sechstel bis zwei Fünftel ließen im Mittel maximal 18 weitere Monate verstreichen. Zusätzlich zeigte ein Zeitabschnitt ein variierendes, gleichwohl in dieselbe Richtung weisendes Verteilungsmuster. Ein Viertel aller Paare legte 1610–1639 eine extrem rasche Reproduktion erster Kategorie an den Tag, was diese im Verhältnis an die zweite Stelle setzte. In der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts deutet sich, wie Abb. 46 zeigt, ein Wandel des generativen Verhaltens an, der 1640–1669 insbesondere offenbar wurde. Die Tendenz ging hin zu ausgedehnteren intergenetischen Intervallen. Gerade ein Drittel der 41 betreffenden Ehefrauen gebar seine Kinder im Abstand von weniger denn 30 Monaten. Bei unerheblichem Übergewicht der dritten Kategorie bekamen 62,5 Prozent der Mütter ihre Kinder mit langgezogenen Intervallen. Über die nachfolgenden beiden Dreißigjahreskohorten setzte sich dieses kollektive Verhaltensmuster de facto fort. Zwar standen 680

Über die abschnittsweise Zuordnung einer Familie entscheidet das Heiratsjahr.

330

FAMILIE

Abbildung 46: Entwicklung der durchschnittlichen familiären Geburtenintervalle in Rußdorf in Monaten

durchschnittliche familiäre Geburtenintervalle von über vier Jahren wieder hinter der zweiten Kategorie an dritter Stelle, jedoch erhielten große Zeitfenster zwischen 30 und 48 Monaten nun ein weitaus größeres Gewicht. Die Gebärzyklen von 35 der 62 zwischen 1670 und 1699 erstmals niedergekommenen Müttern entsprachen dem, 1700– 1729 waren es gar 60,32 Prozent. Die folgende Kohorte leitete indes einen Rückfall in das anfängliche, offensichtlich allgemein passive generative Verhalten ein. Woraus resultierte diese episodenweise Verhaltensänderung? Fand sie überhaupt real oder bloß auf dem Papier, bedingt durch statistischen Zufall und zu geringe Datenbasis, statt? Eine temporär lückenhafte Datenlage kann zumindest als Ursache ausgeschlossen werden. Einige wenige Familien „täuschten“ unter Umständen große Geburtenintervalle statistisch vor. Der Gärtner Michael Esche (1609–1664) etwa heiratete zwar 1635 in Rußdorf, bekam dort aber erst zehn Jahre später ein einziges Kind. Zwei weitere zuvor auf die Welt gekommene sind nachweisbar, doch bleibt unklar, wie viele seine Frau tatsächlich gebar. Ebenso hatte Georg Himmelreich († 1696) im Anschluss an seine Hochzeit 1660 erst ein Jahrzehnt auswärts verbracht. Dergleichen Fälle traten freilich marginal zu allen Zeiten auf und können daher kaum als außergewöhnlicher statistischer Zufall gelten. Tatsächlich spiegelt, bei fehlenden Hinweisen auf Unterregistrierung 681, das große Übergewicht hoher familiärer Geburtenintervalle die damalige Situation. Besonders die Kategorie über vierjähriger internataler Abstände wird von Sonderfällen dominiert. Christoph und Sabina Esche, Gärtnersleute, zählten zum Exempel bei Geburt ihres 681

Sehr wohl waren Aborte von Unterregistrierung bzw. genauer unterlassener Registrierung betroffen. Dies galt allerdings genauso für den gesamten Untersuchungszeitraum, sodass daraus per se keine Verfälschungsgefahr abgeleitet werden kann.

FAMILIENPLANUNG

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ersten Sohnes 1667 beide bereits 45 Jahre. Mit weiteren Kindern war ob des fortgeschrittenen Alters der Eltern eher nicht und erst recht nicht mit großer temporaler Distanz zu rechnen. Dennoch kam 1677 ein zweiter Sohn zur Welt. Hingegen spielten bei dem Gärtner Gregor Böhm (1678–1746) und seiner Ehefrau wahrscheinlich genetische bzw. inhärent physiologische Prädispositionen in die Fortp anzung. Deren erstes Kind wurde 1705 erst zwei Jahre nach der Hochzeit geboren. Eine tote Tochter, die der 31-jährigen Mutter aus dem Leib geschnitten werden musste, folgte mit siebenjährigem Abstand. Schließlich wurde die dreiköp ge Familie 1716 um ein zweites lebendiges Kind erweitert. Unikalisch waren derartige individuelle Besonderheiten für den fraglichen Zeitabschnitt 1640–1759 freilich ebenso wenig wie die statistischen Ausnahmen charakteristisch. Symptomatisch mutet eine ungewöhnlich hohe Beteiligung der dörflichen Mittelschicht an der verzögerten Reproduktion an. Von 40 Paaren der vierten Kategorie des fraglichen Zeitraums entstammten 36 den dörflichen Mittelschichten und vier der Bauernschaft, obwohl das Verhältnis der beiden Gesellschaftsgruppen zueinander selbst 1729 noch 3:1 betrug. Die meisten dieser Eheleute (20) bekamen nur zwei, deutlich weniger (12) immerhin drei Kinder. Gleichzeitig schienen die Überlebenschancen ihres Nachwuchses mindestens leicht erhöht. Im Vergleich unterschritt die Kinderzahl der Paare dritter Kategorie, unter denen Bauern häu ger vertreten waren, im selben Zeitraum selten die vier. Charakteristisch für diese Gruppe waren im Ganzen rasche Geburtenfolgen, welche oft nur durch ein Intervall massiv konterkariert wurden. Der Gärtner Hans Buschmann heiratete beispielsweise 1712 eine 20-jährige Rußdorferin. Das erste Kind wurde nach zwei Jahren geboren, dann je eines nach drei, fünf, zwei, zwei, zwei und schließlich, die Mutter zählte nun 40, nach vier Jahren. Regelmäßig beendete ein ausgesprochen langer Geburtenabstand aber die eheliche Reproduktion. Elisabeth Großer brachte ihr viertes und letztes Kind nach 74-monatigem Intervall mit 31 Jahren zur Welt, Christina Haupt (1685–1750) war bei der Geburt ihres sechsten 38, der des siebten Kindes 45 Jahre alt und Susanna Landgraff bekam ihren Nachwuchs zwischen 1717 und 1732 mit Abständen von einem, vier und zehn Jahren. Während bei großen absoluten Kinderscharen die altersgemäß nachlassende mütterliche Fruchtbarkeit in Verantwortung gezogen werden kann 682, spielte solches bei geringen Kinderzahlen wahrscheinlich eine untergeordnete Rolle. Nur wenige Frauen heirateten mit über 35 Jahren und gebärdeten sich danach noch reproduktiv. Von Haus aus individuell zu extrem unterschiedlichen Zeitpunkten einsetzend und zusätzlich hochgradig auf externe Ein üsse reaktiv, wird die nahende Menopause allerdings weder von ausladenden intergenetischen Intervallen bei fortgeschrittenem Alter der Mutter zwangsläu g impliziert noch ist dieser Zusammenhang in relativ jungen Jahren der Mutter unbedingt negierbar. 682

Vgl. Knodel, Behavior, S. 357.

332

FAMILIE

Zwei grundlegende Ursachen kommen ungeachtet der konkreten situativen Ausprägung für das herausragende Aufkommen großer durchschnittlicher familiärer Geburtenabstände neben den statistisch-methodischen bzw. überlieferungsbedingten Unwägbarkeiten in Betracht. Einerseits vermögen, wie vielfach angemerkt, schlechte Umweltbedingungen die Physiologie potentieller Eltern empfängnisverhütend und potenzmindernd anzugreifen. In dem Fall sollte permanenter, zum Beispiel in anhaltendem Hunger, Kriegseinwirkung, Krankheiten, harter körperlicher Arbeit etc. wurzelnder Disstress auf die gesamte Bevölkerung oder einzelne Teilgruppen eingewirkt haben. Andererseits könnte bewusste Kinderplanung einschließlich aktiver Verhütungsmaßnahmen einzelner Bevölkerungsteile für dieselben messbaren Verhaltensänderungen verantwortlich zeichnen. Das überproportionale Auftreten verzögerter Geburtenfolgen bei den vom subsistenz- bzw. agrarwirtschaftlichen Standpunkt her innerhalb des dörflichen Kontextes ökonomisch benachteiligten Kleinbauern und Kleinststellenbesitzern (Tab. 42) sowie deren oft geringerer Reproduktionserfolg könnte als Indiz der ersteren Option gelTabelle 42: Entwicklung der durchschnittlichen familiären Geburtenintervalle in Rußdorf 1610–1819 Bauern

bis 18 Monate

19–30 Monate

31–48 Monate

über 48 Monate

1610–1639 1640–1669 1670–1699

0,00% 5,88%

80,00% 41,18%

0,00 % 29,41 %

20,00 % 23,53 %

5 16

6,25%

50,00%

43,75 %

0,00 %

15

1700–1729 1730–1759

0,00%

47,06%

47,06 %

5,88 %

17

0,00% 18,18% 10,53%

62,50% 45,45% 68,42%

31,25 % 18,18 % 10,53 %

6,25 % 18,18 % 10,53 %

16 18 17

16,67% 9,09%

50,00% 18,18%

33,33 % 36,36 %

0,00 % 36,36 %

5 10

9,68% 5,41%

32,26% 29,73%

35,48 % 51,35 %

22,58 % 13,51 %

28 35

1760–1789 1790–1819 Gärtner 1610–1639 1640–1669 1670–1699 1700–1729 1730–1759

Familien

7,69%

38,46%

35,90 %

17,95 %

36

1760–1789 1790–1819

8,70% 18,18%

60,87% 29,55%

21,74 % 43,18 %

8,70 % 9,09 %

21 36

Häusler 1610–1639











1640–1669 1670–1699 1700–1729 1730–1759 1760–1789 1790–1819

– 0,00% 0,00% 11,11% 5,45% 6,35%

– 50,00% 37,50% 25,00% 52,73% 55,56%

– 50,00 % 50,00 % 41,67 % 34,55 % 25,40 %

– 0,00 % 12,50 % 22,22 % 7,27 % 12,70 %

– 2 8 32 52 59

FAMILIENPLANUNG

333

ten. Gärtner und Häusler hätten sich in dem Fall einem härteren, womöglich im Gegensatz zur Bauernschaft kontinuierlich extrem arbeitsintensiven und dennoch tendenziell beständig am Rande der Existenzsicherung verbleibenden Lebensalltag gegenüber gesehen. Kein Krieg, keine Wirtschaftskrise, keine Seuche wirkte über mehr denn 100 Jahre und griff vornehmlich anhaltend eine gesellschaftliche Gruppe an. Unveränderte, schichtenspezi sche Lebensbedingungen hatten dagegen zweifelsohne das Potential, langwierig und sogar generationenübergreifend in Wechselwirkung mit individuellen Voraussetzungen hemmend auf das generative Verhalten einzuwirken. Gegen diese Möglichkeit spricht jedoch, dass sich die in Rußdorf verlängerten durchschnittlichen Geburtenintervalle ab der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts ohne erkennbare Ursache zurückbildeten. Wenn die rurale Mittelschicht zwischen 1640 und 1759 unter fruchtbarkeitsmindernden Bedingungen lebte, so gibt es keinen Anhaltspunkt anzunehmen, ihren weiter an Zahl gewinnenden Angehörigen vor Beginn der Industrialisierung einen signi kant steigenden Lebensstandard zu unterstellen. Im Gegenteil legte die Subsistenzkrise der frühen 1770er Jahre eine verdeckte strukturbedingte Mangelwirtschaft in Rußdorf offen. Zudem nahm das Säuglingssterberisiko seit Mitte des 17. Jahrhunderts kontinuierlich zu, was einer Aufwertung der Lebensbedingungen eher widerspricht. Drittens fehlen in Bräunsdorf, das denselben Umweltfaktoren unterworfen war, jegliche Hinweise auf Wandlungen im generativen Verhalten. Auf der anderen Seite könnten alle anzuführenden Indizien tendenziell geburtenplanerischen Gehabens unter anderem ob geringer Fallzahlen auch konträr interpretiert werden. Eine Erklärung erscheint gleichwohl plausibel: Die traditionell das nahezu umfassende Reproduktionsmonopol beanspruchende Bauernschaft sah sich entweder aus den unterschiedlichsten Gründen nie bemüßigt, eine Obergrenze des eigenen Nachwuchsquantums zu de nieren oder deren generierte relative Kinderzahl stand konsequent hinter der gewünschten zurück. 683 Infolgedessen ließen die Oberschichtfamilien allem Anschein nach der Natur willentlich oder unwillentlich freien Lauf, wie zwischen 1582 und 1609 zu ersehen. Zeitgleich zeichneten sich bereits damals bei der noch kleinen Mittelschicht geburtenplanerische Tendenzen ab, indem deren Mitglieder im Vergleich zur Bauernschaft überproportional häu g stark verzögerte Geburtenfolgen und geringere Kinderzahlen zeigten. Als Besitzer kleinerer, allein oft nicht subsistenzsichernder Land ächen war den Mittelschichtangehörigen ihr begrenzter Nahrungsspielraum

683

Christoph Sax unterschied in seiner Studie über den Zusammenhang von Wohlstand und Fertilität, referenzierend an die Ökonomisierung des Kindes bei Gary Becker, zwischen möglicher, gewünschter und tatsächlicher Kinderzahl. Dabei strich er die hohe Bedeutung des Verhältnisses der ersteren beiden für die Letztere und implizit die Entscheidung für oder gegen Familienplanung heraus. Steht die mögliche hinter der gewünschten zurück, seien mögliche und tatsächliche tendenziell identisch. Im umgekehrten Fall de nierte der Wunsch tendenziell die reale Kinderzahl. – Vgl. Sax, Christoph, Vom Zwang zur Wahl. Der Zusammenhang zwischen Wohlstand und Fertilität im Wandel der Zeit, Berlin 2006 u. Becker, Gary S., An Economic Analysis of Fertility, in: Universities-National Bureau (Hg.), Demographic and Economic Change in Developed Countries, o. O. 1960, S. 209–240.

334

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durchaus bewusst. Desgleichen mussten sie des positiven Zusammenhangs zwischen Familiengröße und Armutsrisiko gewahr sein. Viele Kinder bedeuteten viele Esser und viele Erben, unter denen die eventuell begrenzten Mittel und Güter aufzuteilen waren. Die Reproduktionsoption war bei verheirateten Paaren nicht verhandelbar, wurde teils gar von der Gesellschaft unter kulturellen, religiösen oder ökonomischen Motiven als P icht kommuniziert und zum Statussymbol stilisiert. Der Umfang der Kinderschar lag hingegen ausschließlich im Ermessen der Eltern. Da das Rußdorfer Erbrecht Mädchen nicht ausschloss, waren Wertigkeitsdifferenzen zwischen Söhnen und Töchtern, so überhaupt vorhanden, wahrscheinlich sehr gering. Insofern bestand wenig oder keine Veranlassung, die eheliche Fertilität in Erwartung eines männlichen Stammhalters auszureizen. Eine hohe familiäre Geburtenrate ergab daher dann Sinn, wenn das Haushaltseinkommen in durchschnittlichen Jahren zur Erhaltung einer größeren Gruppe oberhalb des Existenzminimums ausreichte. Traf dies nicht zu, verschlechterte jeder weitere Esser die Überlebenschancen aller im Extremfall auch abseits gesamtgesellschaftlicher oder persönlicher Krisen. Wenn freilich die Kindersterblichkeit hoch war, mochte eine gehobene absolute Kinderzahl vonnöten gewesen sein, um die als Ideal empfundene relative zu erreichen. Im ausgehenden 16. Jahrhundert starb jedes fünfte Kind vor dem ersten und jedes vierte vor dem 21. Geburtstag. Die Chancen standen demnach nicht schlecht, mit geringen Fertilitätsraten zwei bis vier Kinder durchzubringen. In der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts nahm die Unmündigensterblichkeit zu, die Kinderzahlen sanken und stark beschleunigte wie verzögerte Geburtenfolgen erfuhren anteilmäßig zulasten der mittleren Kategorien durchschnittlicher intergenetischer Intervalle eine Aufwertung. Die demographischen, ökonomischen und psychologischen Folgen der unsicheren Kriegszeit forderten augenscheinlich auch unter den Rußdorfern ihren Tribut. Nach dem Dreißigjährigen Krieg schnellte die Überlebenswahrscheinlichkeit Neugeborener nach oben und die mittlere absolute Kinderzahl fand, zunächst die relative nachziehend, über 100 Jahre auf das vorherige Niveau zurück. Die nun rasant wachsende dörfliche Mittelschicht vertraute unter anderem erfolgreich auf eingeschränkte Geburtigkeit. Warum die Geburtenabstände allerdings mutmaßlich künstlich auseinandergezogen wurden, ist fraglich. Diverse Erklärungsmodelle sind möglich. Unter anderem könnten längere Still- oder intensivere Betreuungszeiten, mithin eine verstärkte Zuwendung gegenüber dem Säugling und Kleinkind, verzögerte Reproduktionsfolgen bedingt haben. Auf dem Scheitelpunkt der Entwicklung setzten zwischen 1700 und 1729 knapp über 60 Prozent der Rußdorfer Ehepaare durchschnittlich vier Kinder mit Abständen jenseits 30 Monaten in die Welt. Synchron wies die Kindersterblichkeit, die 1640–1669 ihren Tiefpunkt erreicht hatte, wieder leicht aufwärts. Ein neuer Umschwung kündigte sich an. Trotz tendenziell aktiver Familienplanung und begrenzter Kinderzahlen scheint die Rußdorfer Bevölkerungsdichte an einen kritischen Punkt gelangt zu sein. Nach 1730 nahm das Sterberisiko besonders für Säuglinge ungeachtet ihrer familiären Ordnungs-

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335

zahl rasch zu. Wollten sie ihr wenngleich geringes Reproduktionsniveau halten, mussten Gärtner und Häusler den potentiellen „Luxus“ der kontrollierten Geburtigkeit aufgeben und konnten maximal nach dem Erreichen der gewünschten Zahl lebender Kinder weitere Konzeptionen vermeiden. Der Menschenumsatz stieg, das Verhältnis der Geburtenintervallkategorien zeigte in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts bereits eine klare Dominanz schneller Geburtenfolgen und den charakteristischen Ausdruck fehlender kollektiver Geburtenkontrolle. Mitte des 19. Jahrhunderts bahnte sich ein abermaliger Verhaltenswandel an. Nach Dreißigjahreskohorten erreichte die relative Kinderzahl bei den Familien der Periode 1820–1849 ihren, der Menschenumsatz seinen Scheitelpunkt. Danach wurde die absolute Reproduktion zaghaft zurückgefahren. Anstatt darauf mit einer rasanten Zunahme zu reagieren, stagnierte die durchschnittliche relative familiäre Kinderzahl bei den bis in die 1910er Jahre gegründeten Familien. Damit ging ein zunächst sachter Umschwung des kollektiven generativen Verhaltens einher. Die zwischen 1820 und 1849 ehelich gebundenen Paare betrieben noch zu 58,97 Prozent eine schnellere (19–30-monatige Abstände) und zu 16,03 Prozent eine sehr schnelle Reproduktion. 40 Jahre später nden sich insgesamt nurmehr 57,75 Prozent der Eheleute in beiden Kategorien generativen Verhaltens wieder. Nach 1900 beschleunigte sich der Prozess exponentiell, sodass schon Paare, welche 1910–1935 heirateten, dem nach Wrigley typischen Muster aktiver Geburtenplanung entsprachen. Veränderte Existenzbedingungen, etwa ein allgemein gehobener Nahrungsspielraum bzw. Lebensstandard, oder neue effektivere Absicherungs- und Kompensationsmethoden gegenüber Krankheiten und Krisen – eine nähere Eingrenzung auf konkrete Ursachen war in Kap. 6.4 nicht möglich – senkten in der Wendezeit zum 20. Jahrhundert vor allem das Säuglingssterberisiko. Dies blieb nicht unbemerkt. Mit einem zeitgleichen historischen Tiefstand der Unmündigensterblichkeit und das Reproduktionsniveau bereits absolut unterschreitenden familiären Kinderzahlen bestimmten stark verzögerte Geburtenfolgen nach 1910 das Bild (37,58 %) bzw. gerieten gestreckte intergenetische Intervalle insgesamt (66,09 %) zur Normalität. Die Betrachtung der einzelnen Dekadenkohorten dieser Periode in Abb. 47 erlaubt es, den offensichtlich stattgefundenen Übergang zeitlich einzugrenzen. Noch in den 1890er Jahren ehelich verbundene Paare ließen den natürlich-biologischen Gesetzmäßigkeiten der Vermehrung offensichtlich freie Hand, was sich in hohen familiären Kinderzahlen und zu 41,30 Prozent mittleren Geburtenabständen zwischen 1,5 und 2,5 Jahren gleichermaßen niederschlug. Über die beiden anschließenden Jahrzehnte strebte zunächst die dritte Kategorie an die erste Position und schließlich die sonst meist unterrepräsentierte vierte Kategorie an zweite Stelle. Der Wandel sollte demzufolge im Laufe der 1890er Jahre eingesetzt haben. Schon ein Drittel der in den 1900ern gegründeten Familien bekam alle 31–48 Monate, ein Fünftel weiterhin in noch größeren Abständen Zuwachs. Wer dagegen zwischen 1910 und 1919 heiratete, reproduzierte sich mit 66,21-prozentiger Wahrscheinlichkeit durchschnittlich minimal alle 2,6 Jahre. Jene, die

336

FAMILIE

Abbildung 47: Entwicklung der durchschnittlichen familiären Geburtenintervalle in Rußdorf 1890– 1935 in Monaten

in den „Goldenen Zwanzigern“ vor den Altar traten, ließen zwischen den Geburtstagen ihrer oft nur zwei Kinder zumeist (42,65%) mindestens vier Jahre verstreichen. Die übrigen Intervallkategorien wurden mit absteigender Wahrscheinlichkeit bedient. Aktive Kontrolle des eigenen generativen Verhaltens war in Rußdorf offensichtlich binnen einer Generation zum allgemeinen Usus geworden und blieb es auch. Es erscheint naheliegend, die Wurzel des dorfgesellschaftlichen Übergangs zu schichtenübergreifend geringerer Fertilität und aktiver Ein ussnahme auf das generative Verhalten in verringertem Säuglingssterblichkeitsrisiko zu suchen. Zwar war die Gefahr, vor dem ersten wie dem 21. Geburtstag zu versterben, für Neugeborene Ende der 1840er Jahre am höchsten und lassen sich die Scheitelpunkte der durchschnittlichen familiären Kinderzahlen nach Heiratsjahrgängen passend in derselben Dekade verorten, doch blieb eine signi kante positive wie negative Veränderung aller drei Kenngrößen bis in die 1880er Jahre aus. Vielmehr hatte sich gesamtgesellschaftlich gesehen Mitte des 19. Jahrhunderts ein Gleichgewicht dieser zur gesicherten realen Umsetzung der scheinbar präferierten Drei- bis Vierkindfamilie etabliert. Obgleich seit den 1860ern kontinuierlich leicht sinkende Unmündigensterblichkeit und mittlere absolute Familiengröße sowie parallel leicht steigende relative Kinderzahlen den folgenden Wandel vorzeichneten, fand dieser erst während der 1900er Jahre statt. Nach 1900 ging das Säuglingssterberisiko auf das Niveau des beginnenden 19. Jahrhunderts zurück. Einige der 1890–1899 gegründeten Familien pro tierten noch davon, weswegen deren durchschnittliche relative Kinderzahl gegenüber den 1880ern geringfügig zunahm. Einige Ehepaare reagierten zudem offenkundig bereits, wahrscheinlich durch eine frühere Umsetzung des gewünschten Nachwuchses motiviert, mit Fertilitätsbegrenzung, sodass sich auch die absoluten mittleren Familiengrößen verringerten. Paare der 1900er-Kohorte gingen unter dem Eindruck rapide schwindender Kinders-

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terblichkeit – zwischen 1910 und 1919 verschied schon nurmehr jedes fünfte Neugeborene vor seinem ersten Geburtstag – einen Schritt weiter. Sie passten nicht nur ihre Reproduktion den neuen Gegebenheiten an, sondern begannen zugleich neue Familiengrößenideale zu de nieren, was auch die mittlere relative Kinderzahl sinken ließ. Während in den 1910ern zur Ehe schreitende Partner unter Umständen aufgrund des Ersten Weltkrieges weniger Nachwuchs produzierten und verzögerte Geburtenfolgen an den Tag legten, indiziert die Fortführung und Intensivierung des Verhaltens durch Eltern der 1920er einen kollektiven Mentalitätswandel hin zu aktiver Geburtenkontrolle und der Zweikindfamilie als Rußdorfer Idealform. Bei der Familienplanung fanden zunächst in den 1900er bis 1920er Jahren die Konzepte der schlichten Reproduktionsbegrenzung nach Erreichen der gewünschten Kinderzahl in natürlichen Rhythmen und der von vornherein aktiven Ein ussnahme auf Konzeptionszeitpunkt und Geburtenquantum gleichermaßen Anwendung. Gegen Ende des Untersuchungszeitraums setzte sich jedoch bei Mehrkindfamilien die letztere Methode durch. Bräunsdorf Völlig gegensätzlich zum Rußdorfer Modell existieren für Bräunsdorf keinerlei Anhaltspunkte bewussten generativen Verhaltens vor dem ausgehenden „langen 19. Jahrhundert“. In jeder der Dreißigjahreskohorten zwischen 1640 und 1909 machen durchschnittliche familiäre Geburtenabstände von 18–30 Monaten den Löwenanteil (42,86– 58,52 %) aus, in deutlichem Abstand gefolgt von der dritten Intervallkategorie (17,04– 32,26 %). Die Gruppen der Geburtenfolgen geringer oder großer intergenetischer Zeiträume ankieren das Geschehen quantitativ in untereinander wechselnder Gewichtung. Eines kurzen Intermezzos 1670–1699 ungeachtet dominierten schnellere Geburtenfolgen mit maximal 2,5-jährigen Geburtenintervallen. Unter dem Eindruck der Rußdorfer Entwicklung springt jedoch eine stärkere Gewichtung der dritten und vierten Intervallkategorie just in der Zeit, als sich in der Exklave erstmals Veränderungen des generativen Verhaltens abzeichneten, ins Auge. Zwischen 1640 und 1759 waren mittlere Geburtenabstände von über vier Jahren in Bräunsdorf häu ger vertreten denn jene unter 18 Monaten. Hernach galt das gegensätzliche Bild bis zum beginnenden 20. Jahrhundert (Abb. 48). Wie im Nachbarort übten sich in erster Linie Vertreter der jungen dörflichen Mittelschichten in verzögerter Reproduktion (Tab. 43). Von 37 Familien vierten Typs des generativen Verhaltens bis 1759 sind nur acht den bäuerlichen Kreisen zuzurechnen. In drei Fällen hatten die Eltern mehrere Jahre nicht im Dorf gelebt oder waren gänzlich zugezogen, weswegen deren überlieferte Nachkommenschaft womöglich vom realen Maß differiert. Kleine absolute Kinderscharen waren auch in Bräunsdorf charakteristische Begleiterscheinung sehr hoher mittlerer Geburtenabstände. Allerdings waren Zwei- und Dreikindfamilien hier gleich oft vertreten (13) und wurden selbst vier Kinder von jedem

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vierten Paar erreicht. Die Reproduktionsfolge prägende Geburtenintervalle entstanden zumeist zwischen dem vorletzten und letzten Sprössling. Außerordentliche Reproduktionspausen über einer Dekade hatten dabei keinen extraordinären Charakter. Die bäuerlichen Eheleute Schönfelt ließen zum Beispiel nach der Geburt ihres zweiten Kindes elf Jahre verstreichen, ehe ihr drittes und letztes 1707 zur Welt kam. Die Handbäuerin Maria Frischmann schenkte 1742–1749 vier Kindern in kurzen Abständen das Leben, ehe sie 1758 noch einen Sohn gebar. Desgleichen bekam das Häuslerehepaar Büchner 1781 zwölf Jahre nach der Geburt ihres fünften Kindes ein weiteres. Deren Beispiel zählt zu den wenigen eindeutiger Familienplanung. Von den BüchnerGeschwistern erreichte keines die Mündigkeit. Eva Maria starb 1763 sechsjährig, Samuel Friedrich erlebte 1765 nicht einmal seinen ersten Geburtstag, Maria Susanna starb im Krisenjahr 1772 zehnjährig und den Kurerben Johann Michael forderte der Tod 1772. Die einzige überlebende Tochter Maria Rosina ehelichte mit 19 Jahren 1780 einen Gärtner, blieb aber ein Jahr später im Kindbett, dicht gefolgt von ihrem Söhnlein. Völlig ohne Nachwuchs zurückgelassen, zeugte der Gärtner Büchner mit seiner 42-jährigen Frau ein weiteres, im Dezember 1781 ziemlich genau neun Monate nach der Tochter Tod geborenes Kind. Welch besondere Fürsorge diesem Sohn zuteil wurde, lässt sich allein daran ermessen, dass er trotz Haustaufe, „weil das Kind schwächlich war“ 684, seine mündigen Jahre erreichte.

Abbildung 48: Entwicklung der durchschnittlichen familiären Geburtenintervalle in Bräunsdorf in Monaten

684

EPA Bräunsdorf, KB I, Taufen 1781, Nr. 22.

339

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Tabelle 43: Entwicklung der durchschnittlichen familiären Geburtenintervalle in Bräunsdorf 1640–1819 Bauern

bis 18 Monate

19–30 Monate

31–48 Monate

über 48 Monate

Familien

1640–1669

0,00%

73,33%

26,67 %

0,00 %

15

1670–1699

12,00% 9,52%

52,00% 61,90%

24,00 % 14,29 %

12,00 % 14,29 %

22 19

1700–1729 1730–1759

0,00%

75,00%

10,00 %

15,00 %

20

12,90% 12,50%

54,84% 45,83%

25,81 % 33,33 %

6,45 % 8,33 %

27 21

1640–1669 1670–1699 1700–1729 1730–1759

7,14% 0,00% 13,33%

42,86% 30,77% 36,67%

35,71 % 34,62 % 33,33 %

14,29 % 34,62 % 16,67 %

13 26 26

10,71%

46,43%

32,14 %

10,71 %

25

1760–1789 1790–1819

17,86% 9,68%

39,29% 48,39%

32,14 % 35,48 %

10,71 % 6,45 %

23 28

Häusler 1640–1669 1670–1699







0,00 %



0,00%

50,00%

0,00 %

50,00 %

2

0,00%

45,45%

45,45 %

9,09 %

11

10,53% 9,52% 15,15%

36,84% 57,14% 63,64%

21,05 % 33,33 % 15,15 %

31,58 % 0,00 % 6,06 %

17 19 28

1760–1789 1790–1819 Gärtner

1700–1729 1730–1759 1760–1789 1790–1819

Klare Vorstellungen artikulierten auch der Häusler Gottfried Heintzig (1715–1776) und seine Ehefrau durch ihr generatives Verhalten. Binnen fünf Jahren hatten sie im Anschluss an ihre Hochzeit zwei Kinder bekommen, die beide das kritische erste Jahr hinter sich ließen. Als die ältere Tochter 1751 aber fast siebenjährig verschied, war die gewünschte geschlechtsunabhängige Kinderzahl wieder unerreicht. Darum zeugten sie ein weiteres Kind. Der Sohn Heinrich kam ein Jahr nach dem Tod seiner älteren Schwester auf die Welt. Weitere Kinder waren offenbar nicht erwünscht und blieben entsprechend aus, ein Indiz für das Funktionieren der Verhütungspraxis, habe sie auch etwa in unterlassenem Geschlechtsverkehr bestanden. Heinrich überlebte jedoch sein elftes Jahr nicht. Anstatt es dabei zu belassen, wagten die Eheleute, nun 47 und 46 Jahre alt, einen letzten erfolgreichen Versuch. Eine Tochter wurde 1764 geboren und blieb zwölfjährig mit ihrem 19-jährigen Bruder 1776 als Vollwaise zurück. Jacob Grobe, ebenfalls ein Gärtner, erhob extreme Geburtenabstände mit seiner Angetrauten ohne erkennbaren Grund bewusst oder unbewusst zu seinem Reproduktionsprinzip. Nachdem er 1678 geheiratet hatte, erblickte die erste Tochter 1679 das Licht der Welt, ein Sohn folgte 1681, nach zehnjähriger Pause eine zweite Tochter und 1702 schließlich der Kurerbe. Alle vier Kinder überlebten. Es scheint, die Eltern revidierten

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über die Jahre wiederholt ihr Familiengrößenideal auf Grundlage persönlicher Referenzen und veränderter Realitäten. In der Regel fehlt es an klar identi zierbaren Ursachen ausladender durchschnittlicher Geburtenintervalle. Ökonomische, letztlich auf die Physiologie der Eltern negativ wirkende oder zumindest eine Re exion des eigenen generativen Verhaltens motivierende Gründe müssen ebenso grundsätzlich in Betracht gezogen werden wie eventuelle ererbte oder erworbene Prädispositionen der Eltern. Allerdings indizieren die genannten Beispiele bereits im 17. Jahrhundert vorhandenes Wissen um effektive Techniken der Geburtenkontrolle im Bedarfsfall inklusive dessen Anwendung. Des Weiteren sprechen mehrere Punkte gegen ökonomische Missstände bei den Familien verzögerter Reproduktionsfolgen. Über die Gerichtsbuchüberlieferung lässt sich für mehrere Bräunsdorfer Güter eine in Einzelfällen ausdrücklich auf das Wesen des Dreißigjährigen Krieges oder die Schwedenzeit Anfang des 18. Jahrhunderts zurückgeführte Verschuldung belegen. Betroffene Familien elen jedoch kaum durch große Geburtenabstände noch durch konsequent geringe Kinderzahlen auf. Der Bauer Georg Friedrich (1630–1685) hinterließ exemplarisch ein „zimblich verwüstetes Pferdtfrohnguth“, auf dem „mehr Schulden vorhanden, als es würdig“. 685 Dennoch zeugte er mit seiner ersten Frau acht Kinder binnen 17 Jahren, von denen fünf das mündige Alter erlebten, sowie eine dann jung verstorbene Tochter mit seiner zweiten, bei der Heirat 1676 schon 40 Jahre zählenden Ehefrau. An diesem Beispiel wird unter anderem deutlich, welch geringe Rückschlüsse auf die Lebenssituation Betroffener belegte momentane Verschuldungssituationen gewähren. Zumeist bleiben zeitlicher Rahmen und Entstehungsumstände einer Verschuldung völlig offen. Ferner ist der höchst schwankende, aus dem momentanen durchschnittlichen Verkaufswert der zugehörigen Immobilien, des Inventars, des Viehs und der in Wuchs stehenden Früchte zusammengesetzte Gutswert in den seltensten Fällen umfassend und auch dann nur punktuell überliefert, sodass die mutmaßlich empfundene Belastung durch Schulden bestimmter Höhe kaum zu ermessen ist. Hinzu kommt, dass über die extrem variable Produktivität der Gutswirtschaften inklusive etwaiger Produktionsüberschüsse zuverlässige Daten fehlen. Im Falle des Friedrich'schen Anspannguts ist somit gänzlich unklar, ob die aufgelaufene massive Schuldenlast schon zu der Zeit bestand, als seine Familie wuchs und welche Auswirkungen sie auf deren Lebensbedingungen nahm. Der 1686 nach Bräunsdorf gezogene Papiermüller Samuel Käferstein (1656–1721) stand einer Familie vierten Geburtenintervalltyps vor, die nachweislich mit Schulden zu kämpfen hatte und bei der die Höhe der Verp ichtungen in Relation zum Gutswert bekannt ist. Nach dem Tod des Vaters 1721 belasteten die auf 1000 Gulden geschätzte Papiermühle 800 Gulden nanzieller Rückstände. Einen signi kanten Teil dessen mach685

HstA-D, 12613 GB Limbach, Nr. 2, fol. 1.

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ten ausstehende Ausstattungs- und Zuchtgelder (40,58%) der acht Kinder aus drei Ehen sowie Begräbnis- und Arztkosten (8,25%) des Vaters aus – darunter allein 47 Gulden 15 Groschen nach Waldenburg gehende für „Trauerwahren“ – welche entweder jüngst entstanden waren oder real noch gar nicht an elen. Die übrigen Posten umfassten geliehenes Privat- und Kirchenkapital sowie offenkundig unbezahlte Arbeitsdienste des ältesten Sohnes, eines Hohensteiner Fleischers, eines Waldenburger Nadlers, des Bräunsdorfer Obermüllers sowie ausstehende gerichtsherrliche, parochiale und schulmeisterliche Zinsen und Fronen. Über welchen Zeitraum diese aufgelaufen waren, lassen die Quellen freilich offen. Inwiefern die Belastungen in den neunjährigen Abstand zwischen Käfersteins vorletztem und letztem Kind spielten, bleibt so Spekulation. Zweifelsohne war hingegen die Verschuldung für Andreas und Juditha Schubert kein Grund, die eigene Reproduktion zu begrenzen. Vier Kinder entsprangen der Verbindung zwischen 1720 und 1727, ehe die Familie ihr Anspanngut 1728 gen Callenberg diverser Rückstände halber verließ. Bereits 1695 hatte Georg Rösche, „weil er der vielen Gaben wegen nicht mehr haußhalten könnte“ 686, es der Gerichtsherrschaft überstellt. Dessen Nachfolger Georg Görner verkaufte nach wenigen Jahren 1699 an Michael Frischmann, von dem es Andreas Schubert als Schwiegersohn übernahm. Dabei scheint die im 17. Jahrhundert aufgelaufene Schuldenlast haften geblieben zu sein. Dem Fortp anzungserfolg Schuberts geriet dies nicht zum Nachteil. Die Bräunsdorfer Zahlen scheinen zu bestätigen, was für Rußdorf attestiert wurde. Nicht die Geburtenintervalle orientierten sich im Zweifelsfall an den individuellen und kollektiven ökonomischen Verhältnissen, sondern die De nition der gewünschten respektive angestrebten Kinderzahl. Einen unbedingten Zusammenhang zwischen dem gebundenen und ungebundenen Vermögen herzustellen, verbietet sich jedoch, wie das aufgeführte Beispiel Johann Friedrich Büchners beweist, der unikalisch als „wohlhabender Mann“ 687 bezeichnet wurde und offenbar trotzdem auf nicht mehr denn drei Kinder spekulierte. Andere hingegen sahen in begrenzten Verhältnissen keinen Grund, auf größere Nachwuchsquantitäten zu verzichten. Das prozentual stärkere Gewicht der Bauernschaft, die tendenziell eher zu höheren Kinderzahlen strebte, woraus zwangsläu g kürzere Geburtenfolgen resultierten, mag den im Bräunsdorf des späten 17. und frühen 18. Jahrhunderts nur unterschwellig zu Tage tretenden gesamtgesellschaftlichen Kurs in Richtung ausgedehnter intergenetischer Intervalle bedingt haben. Gemäß dem zuvor entwickelten Theorem sollten vor allen Dingen die jungen lokalen Mittelschichten zwischen 1640 und 1759 zu Geburtenbeschränkung infolge besitzbedingt geringeren Nahrungsspielraums tendiert haben. Die damalige Säuglingssterblichkeit zwischen einem Fünftel und einem Viertel erlaubte es theoretisch, potentiell angestrebte Familienideale mit weniger Kindern und ausgedehnten internatalen Ab686 687

Ebd., Nr. 1, fol. 86. EPA Bräunsdorf, KB I, Beerdigungseintrag 1772, Nr. 22.

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ständen zu verwirklichen. Gegenüber dem gleichzeitigen Rußdorfer Menschenumsatz war der Bräunsdorfer allerdings leicht erhöht. Allein die Differenz im Säuglingssterberisiko von bis zu 8,37 Prozent (1670–1699) genügte womöglich, leicht gesteigerte absolute Kinderzahlen und eine stärkere gesamtgesellschaftliche Verhaftung in natürlichen Reproduktionszyklen zu motivieren. In der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts stieg die Säuglingssterblichkeit auf ein Drittel, die Wahrscheinlichkeit, das 21. Jahr nicht zu erreichen, auf über 40 Prozent an. Höhere absolute Kinderzahlen wurden nötig, sollte das bisherige Reproduktionsniveau von durchschnittlich drei bis vier Kindern gehalten werden. Damit gingen bei konstanten Heiratsaltern schrumpfende intergenetische Intervalle einher. Stark beschleunigte Reproduktionsfolgen traten nun deutlich häu ger auf denn stark verzögerte. Der Gesamteindruck einer in ihrem generativen Verhalten eher passiven Gesellschaft ändert sich hierdurch freilich nur marginal. Der Übergang zu eindeutig kollektiv praktizierter Familienplanung vollzog sich auch in Bräunsdorf erst um 1900. Noch die Kohorte zwischen 1890 und 1909 gegründeter Familien legte das tradierte Fortp anzungsgehaben mit signi kantem Übergewicht schneller (46,35%) und sehr schneller (14,58 %) Geburtenfolgen an den Tag. Simultan verstarb jedes dritte Neugeborene vor seinem ersten Geburtstag. Hingegen hatte sich in der nachfolgenden nalen betrachteten Kohorte 1910–1935 das nach Wrigley für aktiv auf die Fertilität Ein uss nehmende Gesellschaften typische Verhältnis der Geburtenintervallkategorien durchgesetzt. Allein 47,95 Prozent der damals heiratenden Paare vermehrten sich minimal alle vier Jahre. Die übrigen Gruppen wurden mit absteigender Häu gkeit bedient. Begleitend hatten sich mittlere absolute und relative familiäre Kinderzahl einander auf historisch niedrigem Niveau angenähert und unterschritt die Unmündigensterblichkeit insgesamt erstmals die Zwanzigprozentmarke. Die Betrachtung des offensichtlichen Übergangszeitraums in Dekadenkohorten (Abb. 49) erlaubt es, den Prozess zeitlich näher einzugrenzen. In den 1890er Jahren heiratende Bräunsdorfer setzten durchschnittlich rund sechs Kinder in die Welt, sahen rund vier erwachsen werden und ließen zumeist Sprössling auf Sprössling ohne erkennbare Eingriffe in die eigene Fertilität folgen. Drei Viertel aller Familien mit mehr als einem Kind ließen maximal 30 Monate zwischen den Geburten verstreichen, wobei der Schwerpunkt klar (63,64%) auf der zweiten Intervallkategorie lag. Nur ein Jahrzehnt später, das Säuglingssterberisiko el unter 30 Prozent, zeigt sich ein leichtes Übergewicht jener Familien 2,5–3,5-jähriger (35,53 %) und über vierjähriger (15,79 %) intergenetischer Intervalle gegenüber den Vertretern der beiden Kategorien geringerer Abstände (14,47/34,21 %). Eine klare Tendenz in Richtung kollektiv praktizierter Geburtenkontrolle kommt darin bereits klar zum Ausdruck. Die in den 1910er Jahren heiratenden Bräunsdorfer Paare hatten den Wandel dagegen vollzogen und langgestreckte Geburtenfolgen (33,78/39,19%) zum Primat der Ordnung erhoben. Hernach weitete sich dieses noch aus, indem jedes zweite Ehegespann (53,85 %) der 1920er zwischen der Geburt seiner im Schnitt zwei Kinder mehr denn vier Jahre verstreichen ließ.

FAMILIENPLANUNG

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Abbildung 49: Entwicklung der durchschnittlichen familiären Geburtenintervalle in Bräunsdorf 1890–1935 in Monaten

Wiewohl die sich in dieser Zeit massiv verringernde Kindersterblichkeit mit Sicherheit eine zentrale Rolle für Fertilitätsrückgang, sinkenden Menschenumsatz sowie den allgemeinen Übergang zu Kleinfamilie und eindeutig aktiver Geburtenkontrolle bzw. Familienplanung spielte, offerieren auch die Bräunsdorfer Daten keine eindeutigen reaktiven Wirkungszusammenhänge. Den Gipfelpunkt der absoluten wie relativen Familiengrößen erreichten etwa die in den 1840er Jahren getrauten Paare, die Kindersterblichkeit gelangte dagegen erst in den 1880er Jahren an ihre Spitze. Wenn ein hohes Risiko, jedes dritte bis jedes zweite Kind zu verlieren, gesteigerte Nachwuchsquantitäten motivierte, wäre eine zeitgleiche bzw. in Anbetracht der differierenden temporalen Dimension der betreffenden Kenngrößen zeitlich leicht versetzte Ausprägung der Maxima zu erwarten. Tatsächlich blieben absolute und relative Kinderzahl in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts weitgehend auf einem Niveau bei etwa sechs bzw. 3,5 und unterlag die Unmündigensterblichkeit keiner signi kanten Veränderung. Erst im Anschluss an deren Scheitelpunkt in den 1880er Jahren el die durchschnittliche absolute Kinderzahl der in den 1890ern verheirateten Paare um annähernd denselben Wert wie das Risiko der im selben Zeitraum geborenen Kinder, vor dem 21. Geburtstag zu versterben. Ferner stieg die relative Kinderzahl in ähnlichem Verhältnis. Die Ursachen des Prozesses stehen zur Debatte, denn obgleich hier lediglich zehnprozentige, keineswegs außergewöhnliche Wertveränderungen zu beobachten waren, zeichneten diese die nachfolgende tiefgreifende generative Transformation tendenziell vor, stellten also mit einiger Wahrscheinlichkeit deren Beginn dar. Setzten gesamtgesellschaftlich sinkende Familiengrößen einen lokal realen Kindersterblichkeitsrückgang voraus, ist fraglich, worauf die jungen Eltern der 1890er reagierten. Innerhalb ihrer eigenen Geschwisterschaft mussten sie mehrheitlich Zeuge hohen Menschenumsatzes geworden sein. Das

344

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Säuglingssterberisiko sank zum Ende des 19. Jahrhunderts desgleichen unerheblich und die etwas stärker regressive Unmündigensterblichkeit der 1890er-Kinder konnte ihnen schwerlich vor den 1910er Jahren zu Bewusstsein kommen. Seit den 1900ern ging dagegen nicht nur die Säuglingssterblichkeit rapide zurück, sondern schwanden auch die durchschnittlichen Familiengrößen absolut wie relativ. Die Unmündigenmortalität nahm eine zentrale Rolle im kollektiven Fertilitätsrückgang wie folgt ein: In den 1900er Jahren verbesserten sich die Lebensbedingungen für Neugeborene massiv, mehr Kinder überlebten, die absoluten Kinderzahlen wurden dem via aktiver Limitierung der Reproduktion nach Erreichen einer gewünschten Kinderzahl angeglichen. Einige der in den 1890ern gegründeten Familien kamen noch in den Genuss steigender Überlebenschancen ihrer Säuglinge, weswegen einerseits deren relatives Nachwuchsquantum gegenüber den 1880er-Familien leicht stieg, andererseits das absolute durch Partizipation an der nun aus ökonomischen und ideellen Gesichtspunkten aufkommenden Fertilitätsbegrenzung leicht sank. Obgleich geringere Kinderzahlen durch Vergrößerung des jedem einzelnen zukommenden Anteils an den verfügbaren familiären Ressourcen, zu denen nicht zuletzt elterliche Fürsorge gehörte, theoretisch negativ auf die Kindersterblichkeit wirken konnten, zeichneten für diese rapide Entwicklung Anfang des 20. Jahrhunderts mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit äußere Faktoren, etwa ein neues Hygienebewusstsein 688 oder ein Ausbau der medizinisch-technischen Infrastruktur, verantwortlich. Erst unter dem Eindruck dessen, womöglich in Verbindung mit sich wandelnden Arbeits- und Lebensrealitäten sowie in Revision bzw. Auflösung begriffenen traditionellen Wert- und Normvorstellungen, setzte sich die Praxis bewusst verzögerter und von Beginn geplanter familiärer Geburtenfolgen im kollektiven Handeln durch. Während der 1910er Jahre veränderte sich offenbar zusätzlich gesamtgesellschaftlich das Familienideal. Sofern der Erste Weltkrieg in die Etablierung der realen Zweikindfamilie binnen dieser Dekade hineinspielte, erfuhren dessen Auswirkungen in dem Punkt später keine Revision. Zusammenfassung Die Untersuchungsergebnisse legen nahe, dass Familienplanung und selbst aktive Fertilitätskontrolle in den protestantischen Dörfern Rußdorf und Bräunsdorf keineswegs Phänomene des 20. Jahrhunderts, noch Produkt der vielschichtigen soziokulturellen wie ökonomischen Umwälzungen des 19. waren. 689 Eine profunde, wenn auch sicherlich nicht physiologisch fundierte Vorstellung von Empfängnis, Schwangerschaft und Verhütung muss schon für das ausgehende Mittelalter vorausgesetzt werden. Wenn aktive 688 689

Vgl. Marschalck, Bevölkerungsgeschichte, S. 60. Für protestantische Gebiete ist dieser Befund keineswegs ungewöhnlich. In diversen Städten, darunter Zürich und Oppenheim ist kontrazeptives Verhalten nach dem Ende der Pestzüge Mitte des 17. Jahrhunderts, im ländlichen Raum vorrangig ab dem 18. Jahrhundert nachgewiesen worden. Vgl. P ster, Bevölkerungsgeschichte, S. 33 ff.

FAMILIENPLANUNG

345

Familienplanung gesamtgesellschaftlich weniger deutlich als in der Gegenwart, d. h. mit ihr eindeutig zuordenbaren Folgen praktiziert oder aber unterlassen wurde, so zeichnete vermutlich eine differierende Einstellung hinsichtlich des einem Kind offen oder unterschwellig zugemessenen Sinns und Nutzens bzw. eine differierende kulturelle Bewertung der Fortp anzung inhärent verantwortlich. Stellten Kinder in den christlich geprägten Gesellschaftsformen des Heiligen Römischen Reiches seit dem Mittelalter standardisiert relativ unabhängig von der ökonomischen Situation der Eltern einen zentralen Bestandteil jeder Familie dar – immerhin hatte allein die Ehe traditionell den Charakter eines Privilegs mit verschiedenen anhängigen Rechten und P ichten, durch welche sie ganz im Sinne Malthus', Mackenroths und Hajnals im ruralen Raum soziodemographische Regulierungsfunktionen barg –, wurde im beginnenden 20. Jahrhundert bei fortschreitender Deinstitutionalisierung des Konzepts „Ehe“ zunehmend auch die verbundene Reproduktionsverp ichtung an sich hinterfragt. Das Kind avancierte sukzessive gewissermaßen zum Luxusgut. Über die elterliche Entscheidung dafür oder dagegen konnten leicht im biographischen Sinne momentane Stimmungslagen entscheiden. Hierauf deuten die trotz sehr geringer Kinderzahlen der am Ende des Untersuchungszeitraums heiratenden Paare oftmals ausgesprochen ausladenden Geburtenintervalle hin. Einerseits könnten diese eine verstärkte Zuwendung zu jedem einzelnen Kind indizieren, auf der anderen Seite bestärken sie aber die Vermutung, mehrere Kinder seien nicht von Beginn an geplant gewesen, bestenfalls als Option gesehen worden. Natürlich bedingten ebenso wahrscheinlich wirtschaftliche Erwägungen größere intergenetische Intervalle, indem limitierte materielle wie abstrakte Ressourcen zunächst auf ein bewusst geplantes Kind konzentriert wurden, um den Erfolg der „Anschaffung“ abzusichern und mitunter deren Qualität zu erhöhen. 690 Zu allen Zeiten scheinen von vornherein de nierte oder im Zuge persönlicher Reproduktion gewachsene Vorstellungen idealer bzw. gewünschter Kinderzahlen maßgeblichen Ein uss auf das generative Verhalten genommen zu haben. Neben gesellschaftlichen Wertmaßstäben und dem familiären sowie biographischen Hintergrund der Eltern spielten sicherlich ökonomische Gegebenheiten, mehr empfunden denn real, eine entscheidende Rolle bei Entwicklung eines zu erstrebenden Idealbildes, an dem sich konsequenterweise ausschließlich die relative Kinderzahl messen lassen musste. So alle dafür maßgeblichen Rahmenbedingungen im Wesentlichen unverändert blieben, standen einer Umsetzung des Reproduktionsziels in erster Linie biologische Unwägbarkeiten, zum Beispiel verminderte Fruchtbarkeit eines Elternteils oder der plötzliche Tod eines Familienmitglieds, im Weg. Als entscheidende Determinante der absoluten Kinderzahl eines Paares fungierte daher die familiäre Kinder- bzw. mehr noch die Säuglingssterberate. Je höher diese, desto mehr Nachwuchs war tendenziell nötig, ihre Auswirkungen zu kompensieren und desto höhere absolute Kinderzahlen wurden tendenziell erreicht. Im 690

Vgl. Sax, Fertilität, S. 11f.

346

FAMILIE

kollektiven Bewusstsein scheint sie zudem die Bereitschaft zur reaktiven Reproduktionskontrolle entschieden beein usst zu haben. Die analysierten Daten zeigen einen engen negativen Zusammenhang zwischen Säuglingsmortalität und der Länge durchschnittlicher familiärer intergenetischer Intervalle auf. Standen Eltern durch Erfahrungen aus Kindheit und tagtäglichem Erleben innerhalb der Dorfgesellschaft unter dem Eindruck massiver Kindersterblichkeit, woran sie zwangsläu g ihre eigenen Reproduktionsvorstellungen messen mussten, strebten sie wahrscheinlich eher nach natürlichen bis beschleunigten Geburtenfolgen. Im Zweifelsfall wäre der verbleibende fertile Ehezeitraum ausreichend lang, um zahlreiche Kompensationsversuche zu unternehmen und die Erfolgswahrscheinlichkeit zu erhöhen. Andererseits ermutigen allgemein vorgelebte hohe Erfolgsraten zur bewussten Ausdehnung der Geburtenabstände sowie in der Gegenwart gar zum Aufschub der Fortp anzung in höhere, deutlich ungünstigere Lebensalter zugunsten von Selbstverwirklichung oder in Reaktion auf sozioökonomische Zwänge. Woraus die in beiden betrachteten Dörfern beobachtbaren Veränderungen des Säuglingssterberisikos Mitte des 18. und Anfang des 20. Jahrhundert sowie der rapide kollektive Mentalitätswandel in Richtung reproduktionsunfähiger Klein- und Kleinstfamilien um 1910/1920 resultierte, ist und bleibt indes fraglich. Das breit gefächerte Spektrum denkbarer mehr oder minder etablierter Erklärungsansätze lebt von der Hervorhebung einzelner oder mehrerer hauptsächlicher, teils ausgesprochen abstrakter Faktoren, etwa medizinischer Fortschritt, Nahrungsspielraum 691, hygienisches Bewusstsein, Wohlstand, Sozialpolitik, weibliche Emanzipation unterschiedlichster Facetten, Familien- und Kinderbild etc. 692 Zweifelsohne bedingt jeden demographischen Prozess ein Konglomerat verschiedenartigster, von Fall zu Fall weniger in der Zusammensetzung denn in ihrer Gewichtung untereinander variierender Faktoren. Obwohl jedwede Konstellation zwangsläu g einen bestimmten Fußabdruck in der Bevölkerungsentwicklung hinterlässt, sind die meisten nicht in Gänze rekonstruierbar. Zudem fällt eine Abgrenzung ob ähnlicher Auswirkungen völlig differierender Ursachengemengelagen oft schwer und ist teilweise unmöglich.

691

692

Zum Exempel steht die Einführung der Kartoffel im Verdacht, für vielerorts beobachtete rückläu ge Geburtenintervalle über gesteigerte Fruchtbarkeit in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts verantwortlich zu sein. Vgl. P ster, Bevölkerungsgeschichte, S. 94. – Ob diese These auf die beiden hier betrachteten sächsischen Orte angewendet werden kann, ist mehr als fraglich. Die Ersterwähnung der Kartoffel in den lokalen Quellen datiert ins frühe 18. Jahrhundert. Freilich ist unbekannt, welchen Anteil sie wann am Speiseplan der Menschen hatte und wie viele Bevölkerungsteile sie wann anbauten bzw. konsumierten. Vgl. Marschalck, Peter, Bevölkerungsgeschichte Deutschlands im 19. und 20. Jahrhundert, Frankfurt a. Main 1984, S. 58 ff.

VOREHELICHE ZEUGUNGEN, UNEHELICHE GEBURTEN

347

7.3 VOREHELICHE ZEUGUNGEN, UNEHELICHE GEBURTEN Jedes dritte Kind (34,98%) entsprang 2014 in Deutschland einer unehelichen Verbindung, 68 Jahre zuvor waren es nach Ende des Zweiten Weltkrieges 16,97 Prozent. 693 Weniger linear mit gleichwohl apodiktischer Tendenz erscheint die Entwicklung, werden die Vorkriegszahlen aus Sachsen hinzugezogen. Hier erblickte schon 1930 jeder vierte Säugling (27,41%) im illegitimen Status das Licht der Welt. Die Zwanzigprozentmarke war im Königreich 1923 überschritten worden. Zu Beginn der 1920er glich die sächsische Illegitimitätsquote hingegen dem gesamtdeutschen Wert von 1946 (16,33 %). Weiter in der Vergangenheit erreichte der Anteil unehelicher Kinder ein ähnliches oder leicht gesenktes Niveau (1900: 14,47 %; 1860: 17,88 %; 1830: 13,75%). 694 Die Stichproben erzählen von einer langfristigen, in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts stark beschleunigten Zunahme der vorehelichen bzw. gänzlich unehelichen Geburtigkeit. Ein Anstieg der sexuellen Interaktion Lediger ist nicht unbedingt impliziert. Weniger linear als es auf den ersten Blick scheinen mag, nahm die Entwicklung in Deutschland Ende des 18. Jahrhunderts ihren Anfang. Zuvor wurden in der Regel unter fünf Prozent eines Jahrgangs außer der Ehe geboren, ein Zehntel bis ein Fünftel aber vorehelich gezeugt. Im Laufe des 19. Jahrhunderts legte beides stark zu, ehe um 1870 ein Rückgang der Unehelichkeit einsetzte. Immer wieder von kurzzeitigen, mit Krieg und Wirtschaftskrisen korrelierenden Anstiegen unterbrochen sowie in der Arbeiterschaft bzw. niedrigen Vermögensklassen weniger denn im mittelständischen und bürgerlichen Milieu, hielten starke rechtliche Benachteiligung unverheirateter Mütter inklusive deren Kinder, die politische Propagierung von jedweder „deutscher“ Mutterschaft und Familie im Dritten Reich 695 sowie eine stärkere Betonung und Wertschätzung des bürgerlichen Familienideals im Anschluss des Zweiten Weltkrieges unter dem Eindruck des Wirtschaftsaufschwungs der 1950er/1960er Jahre sowie unter dem Ein uss moderner Kontrazeptiva die uneheliche Natalität auf einem niedrigen Stand. Die Illegitimitätsquote wuchs in Deutschland seit den 1970ern und nach 1990 rapide in Begleitung zunehmender Ehemüdigkeit und Diversität allgemein akzeptierter Lebensentwürfe bzw. Formen

693

694 695

Vgl. Statistisches Bundesamt, Bevölkerung und Erwerbstätigkeit. Zusammenfassende Übersichten. Eheschließungen, Geborene und Gestorbene, Wiesbaden 2015, online: http://www.destatis.de/DE/Publikationen/Thematisch/ Bevoelkerung/Bevoelkerungsbewegung/ZusammenEheschliessungenGeboreneGestorbene5126102147004.pdf?_ _ blob=publicationFile [zuletzt aufgerufen am 20.06.2016]. Vgl. Burkhardt, Bevölkerung, S. 28ff. Zum dabei entstehenden Interessen- bzw. Ideologiekon ikt der angestrebten rechtlichen Gleichstellung unehelicher Kinder versus die rassenhygienische Betonung des familiären Lebens bzw. der ehelichen Fortp anzung siehe: Essner, Cornelia /Conte, Edouard, „Fernehe“, „Leichentrauung“ und „Totenscheidung“. Metamorphosen des Eherechts im Dritten Reich, in: Institut für Zeitgeschichte (Hg.), Vierteljahreshefte für Zeitgeschichte, Jg. 44, Heft 2, München 1996, S. 201–227, S. 202ff.

348

FAMILIE

der familienalternativen Koexistenz, bis in die Gegenwart von einem Maximum zum nächsten strebend. 696 Vor allem die industrialisierungsbegleitende Vermehrung in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts erfuhr in der Forschung Beachtung. Ein abschließendes, überregional anwendbares Erklärungsmodell fehlt allerdings bislang. Unter anderem suchten Tilly, Scott und Cohen die steigenden Raten unehelicher Kinder mit Fokus auf dem urbanen Raum durch einen Kon ikt traditionellen vorehelichen Sexualverhaltens sowie in einem sozial und ökonomisch vorindustriellen Kontext erlernter Verhaltendkodices bzw. gebildeter Erwartungen mit industrialisierungsbedingt grundlegend gewandelten Realitäten zu erklären. Außereheliches Zusammenleben Lediger nebst deren sexueller Interaktion sei insbesondere in den ärmeren Schichten schon vor der Industrialisierung, in der Regel aber nicht immer in Erwartung einer Eheschließung bzw. unter Vorbehalt eines Eheversprechens des Mannes, üblich gewesen. Aus diesen Beziehungen entspringende Kinder wurden entweder späterhin legitimiert oder die Heirat sei noch während der Schwangerschaft, einem zusätzlich beziehungsstärkenden und die Ansprüche der Frau sichernden Band, erfolgt. 697 Gleiches bemerkte Knodel mit Blick auf den ländlichen Raum westdeutscher Gebiete. Zugleich beschrieb er eine positive Verbindung zwischen dem Anstieg bzw. Abfall des durchschnittlichen Erstheiratsalters und der Häu gkeit vorehelicher Sexualität im 19. Jahrhundert sowie eine während des frühen 20. Jahrhunderts zu Tage tretende prozentuale Gegenläu gkeit vorehelicher Zeugungen und nicht legitimierter Erstgeburten. Generell sah Knodel voreheliche Sexualität eng mit Heirat verbunden, wobei er keine signi kanten sozialen Unterschiede feststellte und selbst die uneheliche Geburtigkeit nicht als ausgewiesenes Unterschichtenphänomen wahrnahm. Vor allem wiederholte Illegitimität begriff hingegen Laslett als Merkmal einer spezi schen Unterschicht. 698 Andere Stimmen identi zierten in der nach 1800 fortschreitenden Prekarisierung und den daraus resultierend stark verschlechterten Heiratschancen vieler Unterschichtenangehöriger das entscheidende Moment. Ehmer weist jedoch zu Recht auf die extreme Diversität von Nuptialität und Illegitimität infolge regional-, mikroregional- bis familien- und individualspezi sch hochgradig variabler wirtschaftlicher, soziostruktureller, kultureller und biographischer Kontexte hin. 699 Wie bei allen anderen demographischen Phänomenen auch ist es sinnvoll, behutsam mit allgemeingültigen Erklärungsversuchen zu verfahren und eher auf die Akzentuierung der komplexen Fallspezi ka zu fokussieren. Die Beispiele Rußdorfs und Bräunsdorfs ordnen sich entsprechend teilweise der gesamtdeutschen bzw. sächsischen Entwicklung unter, zeigen in anderen Punkten aber erhebliche Unterschiede. Tatsäch696 697 698 699

Vgl. Ehmer, Bevölkerungsgeschichte, S. 113ff. Vgl. Tilly, Louise A./Scott, Joan W. /Cohen, Miriam, Women's Work and European Fertility Patterns, Ann Arbor 1974, S. 23 ff. Vgl. Knodel, Behavior, S. 197ff. Vgl. Ehmer, Bevölkerungsgeschichte, S. 116f.

349

VOREHELICHE ZEUGUNGEN, UNEHELICHE GEBURTEN

Tabelle 44: Anteil vorehelicher Sexualität an der Geburtigkeit in Rußdorf und Bräunsdorf Geburtenzahl Rußdorf Bräunsd.

uneheliche Zeugungen Rußdorf

uneheliche Geburten

Bräunsdorf

Rußdorf

Bräunsdorf

Gesamt Anteil1 Gesamt Anteil1 Gesamt Anteil1 Gesamt Anteil1 1582–1589

106



4

3,77





2

1,89





1590–1599

107 84

– –

2 –

1,87 –

– –

– –

– –

– –

– –

– –

1610–1619 1620–1629

85



2

2,35













96



2

2,08













1630–1639

89 52 93

– 80 102

2 1 3

2,25 1,92 3,23

– 2 1

– 2,50 0,98

2 – 2

2,25 – 2,15

– 2 1

– 2,50 0,98 –

1600–1609

1640–1649 1650–1659 1660–1669

81

91

2

2,47

3

3,30







1670–1679 1680–1689

63

92

5

7,94

2

2,17

1

1,59





89

120

2

2,25

2

1,67

1

1,12

1

0,83

1690–1699

107 109 122

120 119 141

2 2 2

1,87 1,83 1,64

4 6 6

3,33 5,04 4,26

1 1 4

0,93 0,92 3,28

2 2 4

1,67 1,68 2,84

129

189

5

3,88

9

4,76

2

1,55

3

1,59

177

144

5

2,82

3

2,08

1

0,56

4

2,78

158 174 220

160 172 201

6 6 18

3,80 3,45 8,18

8 10 10

5,00 5,81 4,98

4 7 6

2,53 4,02 2,73

8 2 12

5,00 1,16 5,97

1700–1709 1710–1719 1720–1729 1730–1739 1740–1749 1750–1759 1760–1769 1770–1779

197

204

16

8,12

16

7,84

5

2,54

13

6,37

1780–1789

218

212

12

5,50

12

5,66

8

3,67

7

3,30

1790–1799 1800–1809

315

272

30

9,52

23

8,46

17

5,40

25

9,19

1810–1819 1820–1829

303 345 390

243 284 276

28 21 30

9,24 6,09 7,69

16 17 24

6,58 5,99 8,70

28 48 74

9,24 13,91 18,97

36 47 41

14,81 16,55 14,86

1830–1839 1840–1849

453 463

261 337

33 30

7,28 6,48

22 29

8,43 8,61

44 67

9,71 14,47

61 74

23,37 21,96

1850–1859 1870–1879 1880–1889

548 646 759 1365

395 462 509 604

45 46 69 116

8,21 7,12 9,09 8,50

28 30 40 44

7,09 6,49 7,86 7,28

108 113 99 191

19,71 17,49 13,04 13,99

67 62 75 76

16,96 13,42 14,73 12,58

1890–1899 1900–1909

1569 1461

624 511

93 124

5,93 8,49

34 58

5,45 11,35

207 250

13,19 17,11

79 66

12,66 12,92

1910–1919 1920–1929 1930–1935

943 766 323

373 329 121

75 98 32

7,95 12,79 9,91

34 36 17

9,12 10,94 14,05

120 117 54

12,73 15,27 16,72

47 37 20

12,60 11,25 16,53

1860–1869

1

Werte in Prozent.

350

FAMILIE

lich schwankte die uneheliche Geburtigkeit, wie aus Tabelle 44 hervorgeht, in beiden Dörfern bis ins späte 18. Jahrhundert unterhalb der Fünfprozentmarke und stieg ab den 1780er Jahren rasch stark an. Jedoch fehlt in beiden Orten ein langfristiges Wachstum der Illegitimitätsquote bis ca. 1870 inklusive daran anschließender Regression. Vielmehr wurde der Höhepunkt in Rußdorf schon in den 1850ern (19,71 %), in Bräunsdorf gar in den 1830er Jahren (23,37%) erreicht. Ein kurzer Blick auf die Entwicklung des Anteils vorehelich gezeugter, aber ehelicher geborener Kinder führt zudem das Konzept Tillys, Scotts und Cohens eindrücklich ad absurdum. Auch unter Einrechnung der unehelich Geborenen erfolgte die Konzeption vor 1760 nie bei mehr als zehn Prozent der Neugeborenen einer Dekade vor der elterlichen Heirat. Mehr noch unterschritt der Anteil vorehelicher Zeugungen in Rußdorf regelmäßig fünf Prozent. Auf Geschlechtsverkehr und Schwangerschaft als traditionell normale oder wenigstens nicht ungewöhnliche Komponente der Ehevorbereitung weist dies nicht unbedingt hin. Ebenso wenig stieg das herkömmlich hohe Erstheiratsalter beider Geschlechter am Ende des 18. Jahrhunderts sonderlich an, sodass keine proportional vermehrte Motivation zu vorehelichen Intimitäten vermutet werden kann. Im Gegenteil wurde zumindest Unzucht 700 im Untersuchungsgebiet von alters her rechtlich sanktioniert. „Wegen mit Christoph Steinerten einem Wittber, dem Angeben nach verübter Unzucht und daraus, wie verlauten will, erfolgter Schwängerung“ sah sich Maria Gräffe 1724 eine Zeit lang in Rußdorf und Altenburg inhaftiert. Noch vor ihrer Niederkunft heiratete Steiner sie und galt beider Schuld mit landesherrlicher Genehmigung durch zehn Gulden Strafgeld ab. 701 Weitere in Haftstrafen mündende Fälle sind nicht überliefert, blieben aber mit Sicherheit nicht aus. Ein adulterium duplicatum lag 1759 vor, als Maria Müller ihrem wegen Geldfälscherei ent euchten Gatten vorgeblich noch ein Kind schenkte. „Der eigentliche Vater war ein Nachbar der Müllerin, Mstr: Behnert ein Strumpfwürcker.“ Des beiderseitigen Ehebruchs zum Trotz „kamen sie doch beide mit mäsiger Geldbuse los“. 702 Marias ältere eheliche Tochter wurde 1772 in Verbindung ihrer illegitimen Schwangerschaft zwar durchaus in Verwahrung genommen, jedoch nicht aus strafrechtlichen Gründen: „[Sie] war von Gottlieb Heinigen einem Dienstknechte geschwängert worden, da sie es aber nicht eingestund, u. man ein infanticidium [Kindsmord] besorgete, wurde sie nach Altenburg geholet, u. allda bis nach ihrer Niederkunft detiniert, da das Kind bald wieder starb wurde sie nach Rußdorf zurücke gebracht.“

700

701 702

„In engerer und gewöhnlicherer Bedeutung ist die Unzucht der Mißbrauch des zur Fortp anzung verordneten Naturtriebes auf eine diesem Zwecke zuwider laufende Art, wo es, so wie Hurerey zugleich ein harter Ausdruck ist, welchen man in der glimpflichen und edlern Schreibart gerne vermeidet.“ – Vgl. Unzucht, in: Adelung, Grammatisch-kritisches Wörterbuch der Hochdeutschen Mundart, Bd. 4, Leipzig 1801, S. 953. ThStA Abg, Landesregierung Nr. 19159: Cantzley Acta der Gemeinde und Gerichte zu Rußdorf Beschwerde gegen das Altenburgische Amt Anno 1724. EPA Rußdorf, KB I, Taufen 1759, Nr. 12.

VOREHELICHE ZEUGUNGEN, UNEHELICHE GEBURTEN

351

Eine kurz darauf folgende erneute Haftandrohung, welche Müller in den Selbstmord trieb, resultierte aus den angefallenen Schulden. Nun wollte sie der Stuprator ehelichen, es war auch schon die Verordnung zur Copulation eingeholt: weil aber das Amt Altenburg in deßen Ausbezahlung der verursachten Unkosten drang, die sich auf et. 20 Thl. beliefen, und die Muttere sich nicht dazu verstehen wollte, der Tochter übel mitfuhr, und lezterer gedrohet wurde, sie wieder in die Custodie zurücke zu bringen, bis Bezahlung erfolgete, faßt sie den schwartzen Entschluß sich selbst vom Leben zu helfen. 703

Die Beispiele zeugen davon, dass weniger vorehelicher Geschlechtsverkehr an sich denn spezi sche Begleitumstände eine strafrechtliche Verfolgung einiger Fälle nach sich zogen. Inwiefern uneheliche Sexualität auch sozial negativ besetzt war, geht aus den untersuchten Quellen nicht unmittelbar hervor. Freilich liefern die Kirchbücher durchaus Hinweise auf Gerede bzw. dorfgesellschaftliche Missbilligung illegitimer Schwangerschaften, jedoch ist die Überlieferung aus Pfarrershand zwangsläu g kirchenrechlich und -ethisch gefärbt. Mit den realen gesellschafts- bzw. familieninternen Standpunkten bestand nicht zwangsläu g Übereinstimmung. Brachten körperliche Veränderungen der Mutter eine Schwangerschaft ans Licht, galt es, den Vater und die Umstände der Zeugung auch von Amts wegen zu ermitteln. 704 Bestand bereits eine ernste Liaison, beschleunigten die Umstände eine Heirat eventuell. Andernfalls scheint öffentlicher Druck zuweilen das „gefallene“ Paar zur Ehe gebracht zu haben. Der Rußdorfer Urban Helwig zum Beispiel „hat sich schlecht copulieren lassen, und das ergernis der Kirchen öffentlich abgebeten“ 705, nachdem sein voreheliches Töchterlein zwei Monate eher geboren worden war. Bei anderen Affären ist nicht klar, ob Heiratsbefehle des zuständigen Superintendenten den zu Trauenden oder dem trauenden Geistlichen selbst galten. Die Heirat Jacoff Heintzigs und seiner Magd, der er ein Kind gemacht hatte, erfolgte 1623 auf Befehl höherer Kirchenstelle. Dennoch habe der Kaufunger Pfarrer „Sie vor den Altar [...] nicht treten lassen“. 706 Ein Jahrhundert später wurden der Gärtner George Landgraff und die geschwängerte Bauerntochter Maria Schüßler „Vermöge des allergn. ergangenen Generalbefehls [...] proclamiret [...] und copuliret“. 707 Grundlegende Voraussetzung, um den Vater in die Verantwortung nehmen zu können, war freilich seine öffentliche Anerkennung der Paternität. Unter allen Umständen wurde die Hochzeit „ohne Sang und Klang“ bzw. „in der Stille“ vollzogen, sobald der Pfarrer von einer Schwangerschaft Kenntnis erlangte, und dem

703 704 705 706 707

Ebd., Beerdigungen 1772, Nr. 46. Vgl. „[...] nachdem sie vorher im Amte Waldenburg eidlich erhärtet, daß sie den Vater des Kindes nicht kenne, eine Tochter in Unehren gebohren [...].“ – EPA Bräunsdorf, KB I, Taufen 1768, Nr. 13. EPA Kaufungen, KB I, Heiratsregister Rußdorf, Hochzeiten 1585, Nr. 8. Ebd., Hochzeiten 1623, Nr. 1. EPA Rußdorf, KB I, Hochzeiten 1724, Nr. 9.

352

FAMILIE

Kirchbucheintrag bis ins 20. Jahrhundert ein entsprechender Vermerk 708 im Kontrast zum sonst üblichen „juvenis“ oder „virgo“ der erstmalig heiratenden Personen beigefügt. Inwieweit vorgeblicher Jünglings- bzw. Jungfrauenstatus der Realität Rechnung trug, sei dahingestellt. Eindeutig vorehelich gezeugter, aber ehelich geborener Nachwuchs wurde seinerseits bis ins späte 18. Jahrhundert vom Pfarrer missbilligend als einer unehrenhaften Konzeption entsprungen gekennzeichnet. Der legitimen Geburt tat dies freilich keinen Abbruch. Erblickte ein Kind dagegen unehelich das Licht der Welt, konnte es nur durch nachträgliche Heirat der Eltern legitimiert werden. Ledige Mütter durften nicht unbedingt darauf vertrauen, von ihrem Schwängerer geehelicht zu werden. Angenommen, dieser hatte seine Vaterschaft zugegeben, stand ihm frei, statt Trauung eine Ausgleichszahlung zu wählen. 709 So schwängerte Johann Gottlieb Buschmann 1773 eine Magd, verweigerte eine Hochzeit und zahlte ersatzweise 50 Taler. 710 Welch zentrale Bedeutung der bestätigten Paternität zukam, beweist das Beispiel Gottlieb Sonntags. Der Falkener Bauernsohn hatte 1792 „wieder die Einschreibung seines Namens als Vater schriftlich protestiret und eventualiter appelliret“, die Beschwerde später jedoch fallen gelassen. Daraufhin wurde ihm von Gerichts wegen auferlegt, seine Unschuld entweder beim drohenden Fegefeuer zu schwören „oder der Landgra n 15. G[ulden] pro dotatione u. dem Kinde jährlich 12. G[ulden] Zuchtgeld zu geben“. 711 Im Gegensatz dazu hatte der Leinweber George Richter mit Maria Elisabeth Schnabel 1781 bereits zwei Proklamationen hinter sich, als die Braut niederkam, woraufhin „Richter aber sein Wort zurücke nahm, nicht Vater des Kindes seyn wollte, und auf geraume Zeit sich von Rußdorf entfernte, endlich aber doch wieder kam, und die Schnabelin zu ehelichen, sich bequemte“. 712 Verwahrte sich der angegebene Stuprator allerdings konsequent gegen eine Teilhabe, war die Sache der Mutter in der Regel verloren. Ein solcher Fall ist aus der Mitte des 19. Jahrhunderts belegt: Die Eschin ist zwar nicht verheirathet gewesen, hinterläßt jedoch ein uneheliches Söhnlein [...] angeblich mit August Schüßlern in Rußdorf erzeugt, der aber gegen Einschreibung seines Namens protestirt hat. Dies letztere soll ihren Tod herbeigeführt haben. 713

Uneheliche sexuelle Beziehungen erscheinen im Untersuchungsgebiet von alters und of zieller Seite her dezidiert negativ konnotiert. Neben der bereits erwähnten extra708 709

710 711 712 713

Bei Männern „lapsus“, bei Frauen „lapsa“ oder „(sponsi) de orata“. Frauen konnten eine Hochzeit ebenfalls verweigern: „Benjamin, ein unehelicher Sohn Hannen Rosinen Rudolphin [...], den sie mit Samuel Vogel, Häuslern zu Langenberg erzeuget (mit welchem sie schon 3 mahl proclamiret war und sich doch nicht mit ihm trauen lies, weil eine andre kam und vorgab, dß. sie ebenfalls von ihm schwanger sei, das aber nicht wahr war, und die ihn auch nicht heirathen mochte, wie auch vorhero schon 2 andere gethan, von deren einer er sich losgeschworen).“ – EPA Rußdorf, KB I, Taufen 1785, Nr. 25. Vgl. ebd., Taufen 1773, Nr. 12. Ebd., Taufen 1792, Nr. 2. Ebd., Hochzeiten 1781, Nr. 8. Ebd., KB III, Beerdigungen 1850, Nr. 1.

VOREHELICHE ZEUGUNGEN, UNEHELICHE GEBURTEN

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ordinären Behandlung „gefallener“ Paare bzw. der sonderbaren Betitelung, die ihnen in der Kirchbuchüberlieferung zuteil wurde, spricht die wiederholt auftretende Bezeichnung unehelicher Mütter als „Hure“ eine unzweifelhaft abwertende Sprache. Noch 1799 musste sich Hanne Christiane Schubert „eine dreifache Hure“ 714 nennen lassen. Während der Hurenbegriff fast ausschließlich in Bräunsdorf Anwendung fand, nutzten Rußdorfer Ortsgeistliche im 18. Jahrhundert eine andere, nicht minder aussagekräftige Form, um ihrer Ablehnung des Geschehenen Ausdruck zu verleihen. Taufeinträge unehelich geborener Kinder schrieben sie längs statt wie sonst üblich quer in die Kirchmatrikel ein. Im Gegensatz zu Erläuterungen oder Diffamierungen innerhalb des ießenden Textes springen diese Abschnitte dem Leser schon beim bloßen Durchblättern der Taufregister unweigerlich ins Auge. Schließlich lassen sporadisch auftretende versuchte Verheimlichungen illegitimer Schwangerschaften auf Sanktionsfurcht der betreffenden Mütter schließen. 715 Einiges, vor allem aber die Entwicklung der Fallzahlen, spricht in Rußdorf und Bräunsdorf gegen die Üblichkeit vorehelicher Sexualität bzw. eine inhärente Stellung dieser innerhalb der normalen Eheanbahnung vor Mitte des 18. Jahrhunderts. Andererseits traten Schwangerschaften Lediger seit dem 16. Jahrhundert nachweislich regelmäßig auf. Hier stellt sich die zentrale Frage, ob bei hohen durchschnittlichen Erstheiratsaltern zwischen 25 und 30 jahrelange sexuelle Enthaltsamkeit einer gesellschaftlichen Mehrheit denkbar ist. Wenn nicht, müssten die angewendeten kontrazeptiven Techniken in der Frühen Neuzeit ausgesprochen effektiv gewesen sein, ihre Wirkung jedoch angesichts steigender Illegitimitätsquoten sukzessive eingebüßt haben. Dies ist wenig wahrscheinlich. Stattdessen mögen erst nach der Hochzeit zu Tage tretende pränuptiale geschlechtliche Vereinigungen der Ehefrau mit einem anderen Mann als Indiz gelebter Abstinenz der Verlobten gemäß einem im gesellschaftlichen Norm- und Wertebewusstsein verankerten und weitergegebenen Verantwortungsemp nden gelten. Wie sonst hätte etwa Christina Rudloffs durch Georg Leuschel verursachte Schwangerschaft 1607 nach ihrer Hochzeit mit Veit Heintzig offenbar werden sollen? 716 Prinzipiell bedient die Datenlage sowohl die für mehrere deutsche Gebiete eindeutig bewiesene Theorie der im krassen Gegensatz zur von der weltlichen und geistlichen Obrigkeit propagierten rein ehelichen Sexualität stehenden, alltagsgesellschaftlich tolerierten bis akzeptierten vorehelichen Vereinigung der Geschlechter als auch die konzeptionell gegenläu ge Annahme der allgemein praktizierten vorehelichen Enthaltsamkeit. Beides muss sich freilich nicht ausschließen. Obrigkeitshörigkeit, Sanktionsfurcht, Religiosität, Norm- und Werteverständnis etc. variieren gleich dem Bedürfnis nach Erotik

714 715 716

Ebd., KB I, Hochzeiten 1799, Nr. 8. Siehe: „Nur 2. Tage vorher [der Geburt ihres zweiten unehelichen Sohnes] läugnete die Mutter mit vielem Schwören ihre Schwangerschaft.“ – EPA Bräunsdorf, KB I, Taufen 1769, Nr. 15. Vgl. EPA Kaufungen, KB I, Heiratsregister Rußdorf, Heiraten 1607, Nr. 4.

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bzw. Befriedigung der Fleischeslust sowie deren Intensität von Individuum zu Individuum und orientieren sich gleichermaßen stark positiv oder negativ am elterlichen Vorbild, dem als normal wahrgenommenen Verhalten der eigenen Generation sowie jenem des eigenen gesellschaftlichen Umfelds. Im Limbacher Raum war unehelicher Geschlechtsverkehr allerdings unmöglich ein etabliertes Mittel, die Beziehungen heiratswilliger Personen zu bekräftigen. Dennoch konnten derartige Fälle nicht ausbleiben. Liebe bzw. die sexuelle Anziehungskraft Liebender brachen sich ein ums andere Mal Bahn, wobei das in Schwangerschaft endende Beischlafen ohne Frage nur die Spitze des Eisbergs darstellte. Die Dorfgesellschaft reagierte darauf, so es ruchbar wurde, maximal mit Gerede. Illegitime Konzeptionen unter Ledigen wurden nicht forciert, jedoch akzeptiert. Ein uss auf das Heiratsverhalten nahmen sie desgleichen nur bedingt. Angesichts der Strafandrohungen seitens Kirche und Staat erschien es folgerichtig, sexuelle Kontakte außerhalb der Ehe zu meiden oder dabei große Vorsicht walten zu lassen. Zudem hatten sicherlich die verringerten Heiratschancen sitzen gelassener lediger Mütter eine abschreckende Wirkung. 717 Während des 18. Jahrhunderts zeichnete sich ein Wandel ab. In dessen zweiter Hälfte stiegen die prozentualen Anteile sowohl lediglich vorehelich gezeugter als auch unehelich geborener Kinder an der Geburtenzahl in den hohen einstelligen Bereich, was einer relativen Verdopplung bis Verdreifachung der Fälle gleichkam. Ob Sexualität unter Ledigen zunehmend gesellschaftsfähig wurde oder veränderte sozioökonomische Bedingungen sie begünstigten, ist für die Untersuchungsorte empirisch nicht ermittelbar. Jedoch ist mehr als fraglich, wie andere Aspekte denn verringerte Sanktionsfurcht den vorehelichen Geschlechtsverkehr Heiratswilliger hätten begünstigen sollen. Diverse im 17. Jahrhundert nicht belegte Vorkommnisse stützen die These einer veränderten Mentalität. Elisabeth Kühnrich (* 1683) ist die erste nachweisbare ledige Mutter der Untersuchungsorte, die mehrere uneheliche Kinder zur Welt brachte. Von ihrem ersten Schwängerer, einem Chemnitzer Hutmachergesellen, wusste sie 1710 nur den Nachnamen zu nennen, den zweiten kannte sie 1716 zwar, doch wurde ihre Angabe seines Berufes angezweifelt. Beide Kinder erlebten das Erwachsenenalter und Elisabeth selbst heiratete noch 1724 einen verwitweten ehemaligen Bauern. Allein das offensichtlich rudimentäre Wissen dieser De orata über ihre Stupratoren legt den Schluss nahe, eine engere Beziehung mit Hochzeitsperspektive habe hier nicht bestanden. Den Kindern wurde trotzdem keine messbar verringerte Fürsorge zuteil. Noch ärger trieb es die Bräunsdorferin Anna Maria Macht, „eine leichtfertige Hure u. Vettel“, die 1744 „zum dritten mahle ohne daß sie einen Vater weiß anzugeben [...] ein Söhnlein tauffen“ ließ 718

717

718

Siehe: „Ernst, ein [...] unehelicher Sohn Hannen Christianen, Andreä Friedrichs [...] Tochter, zu deßen Vater sie angiebt Samuel Vogel, [...] einen leichten Burschen, der sie nicht ehelichen wird, zumahl da sie schon ein uneheliches Kind hat [...].“ – EPA Rußdorf, KB I, Taufen 1798, Nr. 23. EPA Bräunsdorf, KB I, Taufen 1744, Nr. 10.

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und ihren Lebtag keine eheliche Bindung einging. Ihre Tochter Rosina (1739–1795) kopierte das mütterliche Verhalten. Sie bekam zwei uneheliche Kinder, brachte beide in das erwachsene Alter und starb als ledige Einwohnerin in Bräunsdorf. Ihre Kinder erfuhren keine ersichtliche biographische Benachteiligung angesichts unehrenhafter Geburt. Der Sohn Gottlieb heiratete 1798 27-jährig als „angehender Häusler“ vermutlich in ein Hartmannsdorfer Häuslergut ein 719, die Tochter Anna Rosina gebar 1797 ebenfalls eine uneheliche Tochter († 1878), welche erst mit der „Familientradition“ brach, und nahm 32-jährig 1800 einen Limbacher Schuhmacher zum Mann. Andere „gefallene“ Frauen wurden weder von ihrem Schwängerer verlassen 720 noch Opfer ungünstiger Umstände, sondern verweigerten ihrerseits selbstsicher eine Eheschließung. So emp ng die Rußdorfer Häuslertochter Anne Rosine Müller 1769 zwar einen Sohn von dem Schuhmacher Samuel Koch, hat „den Vater aber nicht ehelichen wollen“. 721 Schließlich beweist der Fall des Ehepaares Helbig, wie unproblematisch vorehelicher, zumal folgenloser Geschlechtsverkehr zumindest von Teilen der Dorfgesellschaft um 1800 bereits gesehen wurde. Benjamin Helbig konnte als Kurerbe eines Rußdorfer Anspannguts aus ökonomischer Sicht für eine gute Partie gelten, so auch seine Herzensdame Hanna Christiana, einziges Kind des Pferdebauers Samuel Rudolph. Beide fanden 1797 körperlich zueinander, eine uneheliche Tochter wurde 1798 geboren. Helbig erkannte die Vaterschaft an und hätte „die Mutter gerne geehelichet“. Auf rationaler Ebene sollte einer Heirat nichts im Wege gestanden haben. Mehr noch wäre eine schnelle Trauung zu erwarten gewesen, die Ehre der De orata und der gesamten bäuerlichen Familie zu wahren. Dennoch hatte Rudolph dem Brautwerber „solche nicht geben wollen“. 722 Zwei weitere uneheliche Kinder mussten folgen, die wilde Ehe bis 1801 kontinuieren, ehe Rudolph schließlich doch einwilligte. Seit den 1800ern überschritt der Anteil unehelicher Kinder an der Gesamtzahl der Geborenen einer Dekade in Bräunsdorf konsequent die Zehnprozentmarke. Die Rußdorfer überschritten die Grenze ein Jahrzehnt später. Zu diesen Zeitpunkten erfolgten in beiden Dörfern erstmals 20 Prozent aller Konzeptionen außerhalb des via Trauung legitimierten Rahmens. Gebunden an die wachsende Illegitimitätsquote erreichte deren Anteil über die folgenden Dekaden sporadisch in der sächsisch-altenburgischen Exklave zwischen 25 und 28 Prozent (1820er/1850er/1900er/1920er), in Bräunsdorf gar beinahe ein Drittel (1830er/1840er). Im Allgemeinen bewegten sich die Werte in den Untersu-

719 720

721 722

Ebd., KB II, Taufen 1798, Nr. 5. Siehe zum Beispiel Eva Maria Rösch, eine Rußdorfer Gärtnertochter, die mit dem Knecht Samuel Winckler aus Mittelfrohna zusammenkam, der „sie anfangs zu heyrathen versprach, hernach aber davon lief und zu Hartmansdorf wieder als Knecht dienete“. – EPA Rußdorf, KB I, Taufen 1767, Nr. 16. Ebd., Taufen 1770, Nr. 7. Ebd., Taufen 1798, Nr. 4.

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chungsorten über die gesamte betrachtete Zeit auf einem vergleichbaren Niveau. Die herausstechenden Höchststände elen dennoch nie temporal zusammen. Gemeinsames Merkmal war eine starke absolute und relative mengenmäßige Zunahme der Frauen mit mehreren unehelichen Kindern 723 nach 1800 sowie eine Verdopplung der maximal ausgereizten außerehelichen Fertilität im Laufe des 19. Jahrhunderts. Wiederum konterkariert das Verhalten der lokalen Bevölkerung jene Theorien, die den Anstieg der Illegitimitätsquote in Begleitung der Industrialisierung auf Kollision überkommenen Eheanbahnungsverhaltens bzw. tradierter Vorstellungen der Weiblichkeit mit einem in veränderten Wirtschafts- und Lebensweisen wurzelnden neuen Verhalten junger Männer zurückführen. Viele ledige Mütter, welche zugegeben theoriegemäß fast ausschließlich den mittleren und unteren ruralen Besitzständen entstammten, freiten ihren Schwängerer im Nachhinein, ließen also die unehrenhafte Geburt ihres Nachwuchses als Sonderform der vorehelichen Konzeptionen erscheinen. Stand eine Hochzeit mit dem Stuprator nicht zur Debatte, el es den meisten Frauen nicht schwer, binnen Kurzem einen neuen und endgültigen Heiratskandidaten zu nden. 724 Nach 1850 war dieser in zahlreichen Fällen wahrscheinlich mit dem Vater des vorangegangenen unehelichen Kindes identisch, dessen Namen die Kirchbücher gegen Ende des 19. Jahrhunderts zunehmend verschwiegen. Obwohl den Hochzeiten bis 1800 ohnehin selten auftretender „gefallener“ Frauen vormals kaum eine Geburt, noch weniger ein Partnerwechsel voranging, reagierte die Entwicklung des weiblichen Erstheiratsalters weder kongruent auf die deutlich veränderte Illegitimitätsquote noch lag das durchschnittliche Erstheiratsalter der de orierten Mütter selbst über dem gesamtgesellschaftlichen Niveau, wie das angesprochene Theorem vermuten ließe (Abb. 50 u. 51). Allem Anschein nach wirkte stattdessen eine Anfang des 19. Jahrhunderts zunehmende risikofreudigere und den zweifellos zu allen Zeiten ähnlich intensiv empfundenen sexuellen Bedürfnissen tendenziell eher nachgebende Selbstsicherheit insbesondere junger Frauen. Dies setzt sowohl ein hohe Toleranzschwelle der dörflichen Gesellschaft als auch eine steigende Bereitschaft, obrigkeitlich de nierten, im Gegensatz zur kollektiven dörflichen Mentalität stehenden Normen entgegenzutreten, voraus. An der Missbilligung außerehelichen Beischlafs seitens kirchlicher Würdenträger kann noch für das frühe 20. Jahrhundert nicht gezweifelt werden. Mit der Aufhebung der Konsistorialgerichte ging allerdings die Ehegerichtsbarkeit im

723

724

Zwischen 1582 und 1799 brachten in Rußdorf 6,78% der Mütter 14,06% der unehelichen Kinder, in Bräunsdorf 17,65 % der Mütter 32,53% derselben zur Welt. Während der übrigen 135 Jahre lag das Verhältnis in Rußdorf bei 20,94:38,42 %, in Bräunsdorf bei 20,07:37,78%. Von den ledigen Müttern unehelicher Kinder der 1800er heirateten exemplarisch in Rußdorf bzw. Bräunsdorf 24 bzw. 43,33 % den Schwängerer, je 40% einen Anderen und 12 bzw. 6,67 % überhaupt nicht. Das weitere Schicksal von 24 bzw. 10 % der Frauen liegt im Dunkeln.

VOREHELICHE ZEUGUNGEN, UNEHELICHE GEBURTEN

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Abbildung 50: Mittlere Erstheiratsalter und uneheliche Konzeptionen im Vergleich in Rußdorf

Abbildung 51: Mittlere Erstheiratsalter und uneheliche Konzeptionen im Vergleich in Bräunsdorf

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Herzogtum Sachsen-Altenburg 1831 725, im Königreich Sachsen am 26. Oktober 1834 726 in weltliche Hände über. Nun konnten es sich Frauen erlauben, mehrere Kinder außer der Ehe zu bekommen, ohne sonderliche soziale Konsequenzen fürchten zu müssen. Zwei uneheliche Sprösslinge waren im 19. und 20. Jahrhundert inklusive einer späteren Heirat keine Seltenheit. Christiana Steudtmann, Tochter eines Rußdorfer Häuslers und Leinwebers sowie Schwester des Obermeisters der lokalen Strumpfwirkerinnung von 1815, überstieg dieses Maß deutlich. Ein Langenchursdorfer Dienstknecht wurde 1799 Vater ihrer ersten Tochter († 1877), einem aus Taura gebar sie 1803 einen Sohn († 1803). Zwei Jahre später musste ein kursächsischer Soldat die Paternität bei einer zweiten Tochter († 1834) anerkennen. Danach pausierte Christianas Fertilität, ehe sie 1813 von einem Pleißaer Strumpfwirker geschwängert niederkam († nach 1844) und schließlich ein 13 Jahre jüngerer Gärtnersohn 1820 mit ihr einen Sohn († 1896) zeugte. Nach fünf unehelichen Kindern fand sie 47-jährig als mehrfache Großmutter in einem verwitweten Leinweber 1826 schließlich doch einen Ehegatten für weitere 22 Jahre. Eine ähnliche Vita hatte Anna Maria Macht, Häusler- und Leinwebertochter aus Bräunsdorf, vorzuweisen, die 1799, 1805 und 1807 von drei ledigen Burschen je einen Sohn bekam († 1871, 1805 u. 1877). Es folgten 1816 und 1818 zwei weitere illegitime Nachkommen von einem sächsischen Musketier aus Bräunsdorf. Beide heirateten 1818. Sieben weitere Rußdorferinnen und eine zusätzliche Bräunsdorferin brachten es bis 1935 auf fünf uneheliche Kinder. Das Limit reizten sie jedoch keineswegs aus. Wilhelmine Kühn (1801–1863), Häusler- und Strumpfwirkertochter aus Fichtigsthal, zeugte etwa zunächst 1834 ein voreheliches Kind mit dem zehn Jahre jüngeren Strumpfwirker Karl Gottlob Büchner, den sie im Jahr darauf heiratete. In den acht Jahren Ehe bis zu Büchners Tod vergrößerte sich die Zahl der Sprösslinge um vier. Bald trat der 18 Jahre jüngere, landlose Strumpfwirker Rudolph in ihr Leben. Mehrere Jahre der wilden Ehe, aus der 1845 und 1847 zwei Kinder hervorgingen, schlossen sich an. Schon 1848 war das Paar wieder getrennt, denn Anfang 1849 brachte Wilhelmine eine Tochter des 1822 geborenen, ebenfalls landlosen Strumpfwirkers Steinbach zur Welt. Mindestens acht Jahre abermaligen unehelichen Zusammenlebens brachten ihr zwei letzte illegitime Kinder ein, ehe sie schwanger 1856 mit ihm vor den Altar trat. Eine Tochter des Bräunsdorfer Papiermüllers brachte zwischen 1826 und 1844 insgesamt sechs uneheliche Kinder von einem Dienstknecht, einem Handarbeiter und zwei Mühlburschen auf die Welt, ohne je zu heiraten. Sechs Kinder von vier Männern, darunter drei Dienstknechten, bekam auch Wilhelmine Friedrich, Tochter eines Häuslers und 725

726

Vgl. Sächsisches Staatsarchiv Hauptstaatsarchiv Dresden, Bestandsgeschichte des Bestands 13017 Konsistorium Altenburg, online: http://www . archiv . sachsen . de / archiv / bestand . jsp ? oid = 01 . 05 . 06 & bestandid = 13017 & syg _ id=13017#geschichte [zuletzt aufgerufen am 20.06.2016]. Vgl. Richter, Wilhelm Theodor, Codex des im Königreiche Sachsen geltenden Kirchen- und Schul-Rechts mit Einschluß des Rechts der frommen Stiftungen und der Ehe, Leipzig 1840, S. 519.

VOREHELICHE ZEUGUNGEN, UNEHELICHE GEBURTEN

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Zimmermanns, zwischen 1848 und 1856, bevor sie ein Falkener Einwohner 1864 zur Frau nahm. Johanna Christiana Saupe wurde in ihrem Leben Mutter von zehn Sprösslingen, deren sieben sie außerhalb des ehelichen Rahmens gebar. Erstmals kam sie 1810 nieder. Zur Vaterschaft verstand sich der Dienstknecht Johann Gottlob Schönfeld, dem sieben Monate später bei einer Tochter Hanna Sophia Frischmanns ebenfalls federführende Beteiligung zugeschrieben wurde. Zwei Jahre später zeichnete der Handarbeiter Johann Samuel Heil bei einer Tochter Saupes verantwortlich. Die Verbindung zu ihm blieb jedoch Episode, denn bereits 1814 hatte sich Heil mit Hanna Sophia Frischmann „in Unehren zusammengefunden“. Saupe fand zu ihrem ersten Schwängerer zurück und p egte mit ihm mindestens seit 1816 eine intime, 1824 legitimierte Partnerschaft. Im benachbarten Rußdorf ereignete sich lediglich ein Fall derart hoher außerehelicher Fertilität. Auguste Lindner (1831–1864), Tochter eines Häuslers und Schweinehändlers, brachte sieben Kinder von mindestens drei, maximal aber sechs Männern außer der Ehe zur Welt. Ob sie deswegen „dreimal im Zuchthause gewesen“ 727 ist, stünde zu ermitteln. Allerdings starb ihr zweites Kind 1852 zweimonatig im Zuchthaus Hubertusburg und wurde das sechste 1861 dort oder in Waldheim geboren. Nichtsdestotrotz fand sie in ihrem letzten Stuprator, einem landbesitzlosen Strumpfwirker, 1863 letztlich einen Ehegatten. Während die Letztere den quantitativ aufsehenerregendsten Fall aus Rußdorf darstellte, trieb es die Bräunsdorferin Christiane Friedericke Friedrich den Zahlen nach noch ärger. Vier bis sieben Väter, allesamt der Hausgenossenschicht bzw. der Dienstbotenschaft entstammend, zeugten mit der Häuslertochter zwischen 1837 und 1850 insgesamt acht illegitime Kinder, darunter ein Zwillingspaar. Ob weitere folgten oder die Mutter doch noch in den Ehestand fand, ist offen. Friedrich verzog aus Bräunsdorf gen unbekannt. Diese Beispiele abseits üblicher ehelicher Bahnen eine vergleichsweise hohe Fertilität an den Tag legender Frauen sind freilich Ausnahmeerscheinungen, die durch ungewöhnliche Lebensläufe oder dezisiv irreguläres Verhalten aus der Masse unehelicher Verbindungen herausstechen. Während ledige Mütter selbst zweier Kinder zumeist einem, ihrem späteren, regelmäßig aus den üblichen sozialen und geographischen Heiratskreisen stammenden Ehemann nachweislich oder wenigstens den Indizien zufolge treu blieben, rekrutierten sich die Stupratoren mit steigenden Kinderzahlen wahrscheinlicher aus den hochgradig ottanten untersten Gesellschaftsschichten, welche in den dörflichen Heiratsregistern auch im 19. Jahrhundert eine mehr als untergeordnete Rolle spielten. Zwar dokumentiert allein das Vorkommen dieser Fälle sinkende Hemmschwellen der reproduktionsfähigen Bevölkerungsteile gegenüber außerehelicher Sexualität einerseits, eine höhere Toleranz seitens Gesellschaft und Obrigkeiten andererseits, doch stehen sie abseits jeder Repräsentativität. Von den herausstechenden Beispielen wie den

727

EPA Rußdorf, KB XIII, Beerdigungen 1864, Nr. 45.

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FAMILIE

Anfang des 19. Jahrhunderts steigenden Illegitimitätsquoten an sich auf eine sexuelle Revolution zu schließen, erscheint überzogen und verfehlt. Trotzdem deutet im Untersuchungsgebiet einiges auf einen liberaleren Umgang mit den erotischen Bedürfnissen Lediger hin. Möglicherweise schufen unter dem Ein uss von Aufklärung und Romantik, welchen Shorter gegeben sah 728, analog etwa zur österreichischen Situation 729, Kirche und Staat den institutionellen Rahmen für ein ungezwungeneres Sexualverhalten. Zweifelsohne entschied der jeweilige soziale und historische Hintergrund im Zusammenspiel mit dem momentanen Lebensumfeld besonders der „gefallenen“ Frauen darüber, ob und wann eine geschlechtliche Beziehung im ledigen oder Witwenstand aufgenommen wurde. Eltern, Geschwister, anderweitige Hausbewohner und Nachbarn gaben in Wort und Tat Vorbilder, formten Einstellungen und individuelle Wertesysteme, die sich außerdem aus geistlicher und weltlicher Literatur, Medien, dem alltäglichen Gerede und den Lehren der Gottesdienste etc. speisten. Im Zusammenspiel mit eintretenden oder ausbleibenden Gelegenheiten bestimmte die individuelle Weltsicht über das generative Verhalten an sich und dessen illegitime Form im Speziellen. Die Familie der vorgenannten Auguste Lindner illustriert die Bedeutung des privaten Umfelds. Bereits die Eltern Johann Samuel Lindner (1795–1843), Sohn eines Rußdorfer Häuslers und Rosshändlers, und Marie Sophie Cramer (1801–1858), Tochter eines Hartmannsdorfer Häuslers, fanden sich in Unehren zusammen. Ein Zwillingspaar, das keinen Monat lebte, wurde 1821 geboren; 1825 bekam die spätere Braut eine Tochter von einem anderen Mann. Danach folgte 1828 ein unehelicher Sohn mit Lindner, den sie 1830 in anderen Umständen ehelichte. Sieben Sprösslinge gingen aus der Ehe hervor. Einschließlich der separaten Tochter der Mutter erreichten von insgesamt elf Kindern sieben ihr mündiges Alter. Marie Sophie starb 1858 auf der Leuchtenburg in Haft. Der einzige Sohn, ein Strumpfwirker, zeichnete nach bisherigem Kenntnisstand zwar nicht für unehelichen Nachwuchs verantwortlich, gebärdete sich allerdings bis zu seinem Tod 1864 als „ein zum 5. Male mit Zuchthaus bestrafter, unverbeßerlicher Dieb“ 730. Tochter Auguste saß dreifach im Zuchthaus ein und gebar die erwähnten sieben unehelichen Sprösslinge, ehe sie vor den Altar trat. Von ihren Schwestern – die Halbschwester bekam ein uneheliches Kind und heiratete schwanger – brachte Johanne Sophie drei und Johanne Christliebe vier Kinder vor ihrer jeweiligen Eheschließung zur Welt. Die beiden übrigen blieben vermutlich zeitlebens ledig und wurden Mütter von vier bzw. fünf Kindern. Einen Zusammenhang zwischen dem frühen Tod des Vaters, den kriminel-

728 729 730

Vgl. Gestrich, Familie, S. 80. Vgl. Gerhard, Ute, Frauen in der Geschichte des Rechts. Von der Frühen Neuzeit bis zur Gegenwart, München 1997, S. 369 ff. EPA Rußdorf, KB XIII, Beerdigungen 1864, Nr. 45.

VOREHELICHE ZEUGUNGEN, UNEHELICHE GEBURTEN

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len Aktivitäten seiner Witwe und mehrerer seiner Kinder sowie deren gelebter sexueller Freizügigkeit zu sehen, erscheint wenig vermessen. Die raschen signi kanten Änderungen der Rußdorfer und Bräunsdorfer Illegitimitätsquoten Ende des 18. und im Laufe des 19. Jahrhunderts gehen sicherlich mitnichten nur auf veränderte individuelle Lebenssituationen zurück. Vergleichbare Bedeutung kam gesamtgesellschaftlich wirkenden Faktoren zu. Diese, sofern möglich, zu identi zieren, bedarf es einer eingehenderen, zum Beispiel sozial differenzierenden Untersuchung, welche die Möglichkeiten der vorliegenden Studie übersteigt. Dass sich die ökonomischen, sozialen, politischen, naturräumlichen etc. Realitäten im Laufe des 19. Jahrhundert auch für die Landbevölkerung in Sachsen massiv wandelten, steht außer Frage. Doch obwohl das Land damit weder in Europa noch global gesehen allein stand, mag keine der bisher diskutierten Theorien, die im Versuch, die Zunahme unehelicher Geburtigkeit zu erklären, lineare reaktive Beziehungen nachzeichneten, für die betrachteten Dörfer passen. Der offensichtlichen Komplexität des Phänomens werden, wie allen demographischen Ereignissen, nur mehrdimensionale, regionale Spezi ka in den Blick nehmende Erklärungsmodelle gerecht.

8. LEBEN IN DER DORFGEMEINSCHAFT

Bevölkerungsentwicklung ist ohne Gesellschaft de facto undenkbar, ebenso Gesellschaft ohne Bevölkerung. So wie eins das andere bedingt, wirken beide auch aufeinander ein. Dabei de niert die Gesellschaft in Interaktion mit ökonomischen und naturräumlichen Umgebungsbedingungen eine Lebenswelt, in deren veränderlichem Rahmen Bevölkerungsentwicklung funktioniert. Eine Vielzahl traditioneller und kultureller Normen sowie sanktionierter Regeln sichert entweder per intentionem die Fortexistenz eines bestehenden sozioökonomischen Systems oder dient der Umwandlung für unzeitgemäß befundener Strukturen durch kollektiven Konsens oder politisches Dekret. Je nachdem, wie rigide etablierte Werte überwacht werden, besteht mehr oder weniger Raum für eine dynamische wechselseitige demosoziale Entwicklung. Mannigfaltige Aspekte bestimmen über das gesellschaftliche Gesicht. Herrscht Monogamie oder Vielehe vor? Wird uneheliches Zusammenleben bzw. sexuelle Interaktion geduldet, legitimiert oder geahndet? Erfahren Kinder geschlechtsunabhängig soziale Wertschätzung? Existieren materielle, soziale, kulturelle oder religiöse etc. Schranken bei der Lebenspartnerwahl bzw. bei der Familien- und Haushaltsgründung selbst? Erfolgen diese nach dem Neo-, Patri- oder Matrilokalitätsprinzip und dominieren Klein- oder Großfamilien bzw. gar Familienverbände die gängigen Haushaltsformen? Gelten viele oder wenige Kinder als anzustrebendes Ziel? Basieren soziale Absicherungssysteme gegen Krankheit und Alter auf privater Vorsorge, einem gesamtgesellschaftlichen oder einem haushaltsinternen Generationenvertrag?

8.1 SOZIOSTRUKTURELLER WANDEL Die deutsche Gesellschaft des beginnenden 21. Jahrhunderts entbehrt einer klaren, jedem Mitglied eindeutige Positionen dauerhaft zuweisenden Struktur. Materielle Kriterien wie Vermögens- oder Einkommensverhältnisse, berufliche Einordnung, der Bildungsgrad etc. bieten nur kurzfristige und variable Klassi kationsmöglichkeiten. Grenzen zwischen den Schichten erscheinen unabhängig von deren De nition ießend und vertikal in beide Richtungen hochgradig durchlässig. Die gesellschaftliche Zusammensetzung wechselt beständig, keine soziale Position ist, von wenigen Ausnahmen abgesehen, auf lange Sicht garantiert und muss im Laufe eines Lebens erst erworben sowie hernach permanent verteidigt werden. Ansehen und politische Macht existieren bei verfassungsmäßiger Gleichstellung aller Gesellschaftsmitglieder

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und gelebtem Pluralismus der Lebensentwürfe per de nitionem nicht schichtengebunden. 731 Zur Zeit des Heiligen Römischen Reiches gliederte ein ständisches System die Gesellschaft, welches jedoch während des langen 19. Jahrhunderts, beginnend mit der umfassenden Säkularisation im Anschluss an den Reichsdeputationshauptschluss 1803 bis zum Ende der Monarchie in der Novemberrevolution 1918, unter dem Ein uss der aufklärerischen Leitgedanken der Französischen Revolution und der industriellen Entwicklung sukzessive demontiert wurde. Über die Stellung des Einzelnen innerhalb der grob in drei Stände geteilten Gesellschaft und die damit verbundenen politischen Rechte entschied nahezu ausschließlich bereits die Geburt. Die Grenze zwischen dem anfangs qualitativ bestimmenden Adel und dem quantitativ bestimmenden, aber weitgehend machtlosen, alle nichtadeligen Gesellschaftsmitglieder vereinenden dritten Stand waren starr und undurchlässig. Gewissermaßen etwas außerhalb stand der aus eigener Kraft reproduktionsunfähige Klerus. Die Verfügungsgewalt über Grund und Boden entschied neben Privilegien vor allem anderen über die Stellung innerhalb der Gesellschaft, d. h. innerhalb einer Schicht. Alle drei Stände umfassten in eigenen Hierarchien zahlreiche, hochgradig divergente Gesellschaftsgruppen, die teilweise einzig ihre Geburt einte. An sozialer Heterogenität unübertroffen, prägten die unterste Schicht, der die betrachteten Dorfgesellschaften umfänglich angehörten, extreme ökonomische wie politische Gegensätze. Persönlich unfreie Bauern Ostelbiens durften sich dem Nährstand ebenso zugehörig fühlen wie Tagelöhner, Bettler, Vertreter unehrenhafter Professionen, reiche Kaufleute, Ratsherren oder Angehörige des städtischen Großpatriziats. Die Grenzen zwischen den einzelnen sozialen Gruppen waren teils modern ießend und vertikal durchlässig, teils unüberwindbar starr. Innerhalb der nach klaren Regularien stark partikularisierten mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Gesellschaft hatte jede Ortschaft, jede Gemeinde, jede organisatorische Grundeinheit einen spezi schen soziostrukturellen Fingerabdruck, der unter anderem auch Stadt und Land eindeutig trennte. Die beiden betrachteten sächsischen Dörfer beherbergten zur Zeit des Heiligen Römischen Reiches dieselben sozialen Schichten innerhalb des dritten Standes. Eine gleiche Zusammensetzung der gesamtgesellschaftlich gesehen sehr homogenen Dorfgesellschaften resultiert daraus freilich ebenso wenig automatisch wie eine similäre Entwicklung dieser. Als grundlegendes amtliches Klassi kationskriterium fungierte Landbesitz innerhalb der Gemeinde ur. Von Bedeutung war weniger die Güte des besessenen Landes oder dessen Umfang. Noch entschied der Besitz beliebigen Grundes über die Schichten-

731

Vgl. Hradil, Stefan, Soziale Ungleichheit. Eine Gesellschaft rückt auseinander, in: Hradil, Stefan (Hg.), Deutsche Verhältnisse. Eine Sozialkunde, Bonn 2012, S. 155–188, S. 162ff.

SOZIOSTRUKTURELLER WANDEL

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zugehörigkeit. Ausschließlich die Hofstellen de nierten, welche Position ein Hausvater nebst seiner Kernfamilie in der Dorfgesellschaft einnahm. An oberster Stelle durften sich die 1769 in der ersten und zweiten Steuerklasse erfassten Besitzer „derer hauptsächlichsten Pferde- und Handfrohngüter“ sowie der „übrigen beträchtlichen Size und Häuser“ 732, Zeugen der kolonisatorischen Hufenverfassung, sehen. Ihrem Lehnsherren waren jene nach Bedarf spann- oder handdienstp ichtig. Realiter sahen sich die Rußdorfer allerdings seit dem Tauschhandel 1457 ob der räumlichen Entfernung des Altenburger St.-Georgen-Stifts von derlei Arbeitsanforderungen gegen Geldleistungen befreit, ohne die hofstellengebundenen „Eydfrohnpferde“ aufzugeben. Jede dem bäuerlichen Stand zugerechnete Familie vermochte theoretisch von ihrem Land subsistenzwirtschaftlich zu bestehen. Wie im Großen herrschten jedoch auch im Kleinen erhebliche Vermögensunterschiede innerhalb der innerständischen Schichten vor. Welche Ausmaße die Einkommensdifferenzen allein zwischen den Angehörigen der ersten dörflichen Klasse annehmen konnten, geht unter anderem aus einem Rußdorfer Steueranschlag von 1725 hervor. Seinerzeit verfügte der größte Bauer vor Ort, der Schenkwirt Christoph Sebastian, über 19 Scheffel ein Sipmaß altes und zwei Sipmaß neues Feld, ein Scheffel zwei Sipmaß geringe Wiesen, sechs Scheffel drei Sipmaß Holz und fünf Scheffel ein Sipmaß abgetriebenes Holz 733 sowie zwei Scheffel zweieinhalb Sipmaß Teiche, zinste für vier Kühe nebst zwei Kälbern, hatte ein Gemeindefeld in Pacht und besaß eine Mühle sowie ein Schenkhaus. Dafür und für seine Hofstelle inklusive der darauf lastenden Schankgerechtigkeit zinste er jährlich vier Gulden, 20 Groschen und 4,5 Pfennige. Demgegenüber nahm sich der Besitz des damals kleinsten Bauern, Michael Steinbach, äußerst bescheiden aus. Ihm standen annuelle Kosten über 12 Groschen 8,5 Pfennige für drei Scheffel drei Sipmaß altes Feld, zwei Scheffel ein Sipmaß geringe Wiesen, 2,5 Sipmaß Buschholz, eine Kuh und einen „Gemeindeplahn“ ins Haus. 734 Manch Angehöriger der zweiten dörflichen, „Häuser mit etwas, jedoch keinen ganzen Acker betragenden Feld oder Wiese, ingleichen, wo Hof, Scheune und Stallung, obschon kein Feld oder Wiese dabey“ 735 besitzenden Klasse kleinbäuerlicher Gärtner verfügte über ähnlich große Flächen wie Steinbach und zinste mehr als dieser. Die Spanne reichte in Rußdorf von Hans Michael Herold, der 1725 für sein Wohnhaus, zwei Sipmaß Feld und ein Gemeindestück insgesamt vier Groschen erlegte, bis zu Hanß Steiner, der für sein Haus mit drei Scheffeln Feld, einem Scheffel ein Sipmaß geringer Wiese, zwei Kü-

732 733

734 735

ThStA Abg, Obersteuer Kollegium Nr. 274. „Im Forstwesen, Holz abtreiben, ein Revier, einen Wald abtreiben, alle be ndliche Bäume fällen und wegschaffen.“ – Adelung, Johann Christoph, Grammatisch-kritisches Wörterbuch der Hochdeutschen Mundart, Bd. 1, Leipzig 1793, Abtreiben, S. 125f., S. 125. Vgl. ThStA Abg, Obersteuer Kollegium Nr. 262a: I. B. a. Steuer-Anschlag von Rußdorf 1725 No. 33a. ThStA Abg, Obersteuer Kollegium Nr. 274.

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hen und Gewerbesteuer 16 Groschen und vier Pfennige schuldig war. 736 In der Regel genügte schon der Landbesitz eines Gärtners nicht zur Eigenversorgung. Nahrung, Futtermittel und Holz mussten etwa, abhängig von Größe, Art und Güte der besessenen Flurstücke, zugekauft, die jährlichen grundherrlichen Abgaben bezahlt werden. Nebenoder gar hauptberuflich betriebenes Gewerbe bot neben Landarbeit die einzig mögliche Einnahmequelle, wenn der Verkaufserlös eigener agrarischer Produkte die Lebenskosten nicht deckte. Mit derselben Problematik sahen sich in verstärktem Maße die innerhalb des dörflichen Sozialgefüges am unteren Ende stehenden unterbäuerlichen Schichten konfrontiert. Häusler verfügten über keinerlei landwirtschaftliche Fläche, was ihre grundherrlichen P ichten einerseits minimierte, andererseits die Lebensführung erschwerte. Mehr noch als die Gärtner gerieten sie schon in vorindustrieller Zeit zu Spielbällen der Märkte. Auf einträgliche gewerbliche oder Lohnarbeit unbedingt angewiesen, litten sie vor allen anderen ruralen Landbesitzern unter Missernten, Subsistenzkrisen und Absatzkrisen gewerblicher wie agrarischer Produkte. Ihre besitzbedingte Ortsbindung bzw. eingeschränkte Mobilität wirkte im Krisenfall zusätzlich nachteilig. Obwohl die besitztechnische Scheidelinie zwischen Häuslern und Gärtnern weitaus klarer gezogen war als zwischen Gärtner- und Bauernschaft, zeigten 1725 auch einige wenige Hausbesitzer durch ihre Steuerp ichten ein gegenüber den kleinsten Gärtnern höheres Einkommenspotential. Während Jacob Koch und Georg Gräffe am untersten Ende der zinsenden Bevölkerung jährlich lediglich zwei Groschen und acht Pfennige auf Haus und Gewerbe entrichteten, führte Hans Georg Rudolph mit fünf Groschen fünf Pfennigen die doppelte Geldmenge ab. Zwar nannte er zusätzlich, wie nur zwei weitere Häusler, eine Kuh sein eigen und besaß einen Gemeinde eck, doch war allein sein Wohnhaus schon mit vier Groschen taxiert. 737 Den untersten Stand der betrachteten Dörfer bildeten traditionell zur in vielen Regionen in Form pauschaler Arbeitsdienste eingeforderten Miete 738 wohnende Hausgenossen mit ausschließlich mobilen Besitztümern. Gleich der Häuslerschaft unterlagen diese einem unbedingten Zwang zu Gewerbetrieb oder Lohnarbeit, da sie sich aus eigener Kraft nicht direkt selbst erhalten konnten. Ihre manches Mal durch befristete Mietverträge erzwungene Flexibilität gab ihnen theoretisch die Möglichkeit, auf Konjunkturschwankungen oder Krisensituationen kurzfristig durch Ortswechsel zu reagieren. Andererseits fehlte ihnen ohne schützenden Grundbesitz eine probate Absicherung gegen

736

737 738

Vgl. ThStA Abg, Obersteuer Kollegium Nr. 262a. – Die Steuerliste weist ohne nachvollziehbaren Grund insbesondere bei den unterbäuerlichen Schichten notorisch teils erhebliche Diskrepanzen zwischen dem errechenbaren Gesamtwert der einzelnen Posten und der jeweils angegebenen Gesamttaxe auf. Demnach bezahlte Herold drei Gr. neun Pf., Steiner stände mit 14 Gr. fünf Pf. zu Buche. Die höchste Taxe hätte Samuel Schnabel mit 20 Gr. 3,75 Pf. bei einem Vier-Groschen-Häußlein mit 2,5 Sipmaß Feld, einer Kuh und Gewerbesteuer getragen. Vgl. ebd. – Der Steueranschlag nennt für Rudolph eine summierte Last von fünf Gr. zwei Pf. Vgl. Trossbach, Werner, Bauern 1648–1806, München 1993, S. 41 f.

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kurzfristige Einkommensausfälle infolge schlechten Absatzes ihrer Produkte, schlechter Auftragslage oder Teuerungen sowie gegen Alters-, Krankheits- und Invaliditätsarmut. In den meisten Gebieten des Heiligen Römischen Reichs blieben sie innerhalb der Gemeinde ohne politische Rechte. 739 Die steuerrechtliche Verantwortlichkeit Rußdorfer Hausväter für ihre Mitwohner, welche pro erwachsener Person einen Groschen Hausgenossensteuer leisten mussten, mag als Indiz gleichartiger Handhabung in den Untersuchungsorten gelten: Wie denn auch der Hauswirth vor die richtige Zuschreibung und Abtragung nicht nur der Hausgenoßen, sondern auch der Gewerbsteuer derer bey ihm wohnenden Personen zu haften und der Steuereinnehmer sich an ihn zu halten hat. 740

Obwohl das Gesinde unter ähnlichen Bedingungen wie die Hausgenossen bei seinem Dienstherren mitwohnte, zählte es nicht zur selben sozialen Gruppe. Knechte und Mägde standen gleich den heimatberechtigt der gemeinen Armenfürsorge obliegenden Personen und den Auszüglern gewissermaßen abseits der dörflich-besitzständischen Ordnung, allerdings auf unterschiedlichem sozialem Niveau. „Almosenwürdige, Alte, Kranke, Gebrechliche, die einen Auszug genüßen, oder eingekauft sind“, unterlagen nebst den Dienstboten dementsprechend keiner Besteuerung. 741 Wer auf kommunale Unterstützung angewiesen war, fand sich tatsächlich am untersten Ende der Gesellschaft in einer Grauzone zwischen Integration und weitgehendem sozialem Tod wieder. Lebenslanger Gesindedienst stellte die Betroffenen zwischen Armen- und Einwohnerschaft. Vorübergehend in Diensten stehende Jugendliche oder junge Erwachsene harrten einer ersten Klassi kation durch Lehnsnahme oder Heirat und sahen sich über ihr Herkunftsmilieu, ihre momentane Stellung sowie ihre selbstständig erworbene Reputation sozial de niert. Freilich waren die Grenzen innerhalb der Dienstbotenschaft ießend, zumal konzeptionell zeitlich begrenzter Übergangsdienst zwischen Kindheit und Haushaltsgründung leicht in einen Dauerzustand übergehen konnte. Vom Altenteil oder einem sonstigen Auszug Zehrende, zwangsläu g ehemalig Angehörige der landbesitzenden dörflichen Gruppen, waren lediglich steuerrechtlich den Armen und dem Gesinde gleichgestellt. Ihren sozialen Status übernahmen sie ins Ausgedinge. Davon zeugen in der schriftlichen Überlieferung Zusätze zu den Berufsbezeichnungen wie „alter“ oder „gewesener“ 742 sowie während des 19. Jahrhunderts übliche besitzständische Differenzierungen des Auszüglerbegriffs. Aufgrund körperlicher Leiden mit einem Auszug versorgte ledige Personen de nierten sich desgleichen 739 740 741 742

Vgl. ebd., S. 22. ThStA Abg, Obersteuer Kollegium Nr. 274. Ebd. Beispielsweise hatte Hans Wagner (1647–1733) sein Bräunsdorfer Anspanngut nach 50 Jahren in dessen Besitz 1722 seinem jüngsten Sohn erbkäuflich gegen eine Auszugsgarantie ad dies vita überlassen, wurde aber noch 1733 als „alter Bauer“ tituliert. – Vgl. EPA Bräunsdorf, KB I, Beerdigungen 1733, Nr. 9.

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noch Jahre nach dem Tod der Eltern im Gegensatz zum Gesinde primär über den väterlichen Stand. Johann Gottlieb Stiegler (1800–1860), „ein von früher Jugend an elender u. so gebrechlicher Mensch daß er kaum gehen konnte“ 743, wurde noch mit 59 bei seinem Tod auf den Vater bezogen, der selbst bereits seit sechs Jahren unter der Erde lag und sein Rußdorfer Gartengut gegen Auszüge für sich, seine Ehefrau sowie den gebrechlichen Sohn schon 1834 an einen Eidam veräußert hatte 744. Im Gegensatz zum Ständewesen des Heiligen Römischen Reiches beruhte die dörfliche soziale Klassi zierung nur bedingt auf dem Vererbungsprinzip. Freilich entschied die Geburt über die Zugehörigkeit einer Person zum dritten Stand einerseits und der darin eingebetteten ruralen Gesellschaft regionaler Ausprägung andererseits. Innerhalb dieses von Beginn an festgelegten Rahmens bestimmte der Geburtszufall in der Regel lediglich über das materielle und reputierliche „Startkapital“ einer Person. Eine ehrliche Geburt in einer Familie mit ehrlicher Erwerbsarbeit vorausgesetzt, standen jedermann theoretisch alle Tore in die obersten Kreise des dritten Standes offen. Auf der anderen Seite drohte der soziale Abstieg auf das unterste Niveau. Realiter p egten einige, vornehmlich materiell bessergestellte gesellschaftliche Gruppen teils aus ökonomischem Selbstschutz, etwa die zünftigen Gewerke, teils schlicht eines ausgeprägten Standes- bzw. Exklusivitätsbewusstseins wegen, wie zum Beispiel beim städtischen Bürgertum oder mehr noch dem Großpatriziat zu beobachten, rigide und effektive Abschottungsmechanismen gegenüber potentiellen Aufsteigern. Gleichzeitig gewährten geschlossene soziale Kreise ihren Mitgliedern weitgehenden Schutz gegenüber gesellschaftlichem Abstieg, sofern geltende interne Normen und Gesetze nicht übertreten wurden. Folglich vollzog sich signi kante vertikale Mobilität in beide Richtungen meist über mehrere Generationen, obgleich gesellschaftliche, besitzgebundene Positionen leichter und schneller verloren gingen als sie einzunehmen waren. Auf dem achen Land des heutigen Sachsen betrieb keine Gruppe abstrakte Abschottung gegenüber eventuell Hinzutretenden. War die nötige nanzielle Kraft vorhanden, konnte exemplarisch jeder Hausgenosse, jeder Knecht oder Tagelöhner guten Leumunds ohne Weiteres eine bäuerliche Hofstelle erwerben und ohne Umwege von der niedersten in die oberste dörfliche Schicht wechseln. Ähnlich rasch wurde im Zweifelsfall der entgegengesetzte Weg zurückgelegt. Die hohe soziale Durchlässigkeit ermöglichte gesellschaftliche Auf- und Abstiege innerhalb einer Generation und ließ in Verbindung mit den eng gewobenen dörflichen Verwandt- und Bekanntschaftsge echten zugleich Standesdünkel kaum Raum. Die oben beschriebene, in vier Besitzstände geteilte Gesellschaft der Untersuchungsorte entsprach nicht der ursprünglichen kolonisatorischen Form, die lediglich zwischen gleichgestellten Landbesitzern und Landlosen differenzierte. Klein- und unterbäuerli743 744

EPA Rußdorf, KB XIII, Beerdigungen 1860, Nr. 12. Vgl. ThStA Abg, Amtsgericht Altenburg, C I Loc. 1, Nr 482, fol. 329b.

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che Mittelschichten waren in Rußdorf und Bräunsdorf ein Produkt des Spätmittelalters bzw. der Frühen Neuzeit. Folgend werden die Determinanten dieser sozialen Partikularisierung in den Fokus gerückt, um anschließend nach den Auswirkungen der mannigfaltigen kulturellen, politischen und ökonomischen Umbrüche des industrialisierungsgeprägten langen 19. Jahrhunderts auf die dörfliche Sozialstruktur zu fragen. Rußdorf Noch 1539 entsprach die Rußdorfer Gesellschaft vermutlich ihrem Gründungsbild. Obwohl in Kursachsen erst 1628 auf eine gesetzliche Basis gestellt, lag in Bräunsdorf und desgleichen in Rußdorf 745 das Ultimogeniturprinzip einem freien Erbrecht der vorherrschenden Zinsgüter augenscheinlich schon vordem zugrunde. Landbesitz wurde hierbei im Kontrast zur Realteilung an einen ausgewählten Nachkommen weitergegeben. Binnen weniger Generationen zu gesamtgesellschaftlicher Verarmung führender und regelmäßig mit stark wachsender Bevölkerung einhergehender Partikularisierung beugte dies vor, begünstigte freilich auf der anderen Seite die frappante Teilung der Dorfbewohnerschaft in die extrem gegensätzlichen Gruppen der Begüterten und gänzlich Landlosen, indem weichende Erben angesichts fehlenden immobilen Erbteils bei fehlender Aussicht auf Einheirat in ein anderes Gut in die unterbäuerlichen Schichten absanken. Entsprechend hatte sich die kolonisatorische Fluraufteilung Rußdorfs mutmaßlich bis ins 16. Jahrhundert erhalten. Erhebliche Wertdivergenzen der 1539 mit 18–105 Schock taxierten Güter straften den anfänglich zugrundegelegten Gleichheitsanspruch nur scheinbar Lügen. Abseits des Erbgangs waren Grundstücke mit grundherrlichem Einverständnis handelbar. Inwiefern der Dismembration Grenzen gesetzt waren, ist unklar. Dass keine der damaligen 23 bäuerlichen Hofstellen bis zur Bauernbefreiung Mitte des 19. Jahrhunderts gänzlich aufgelöst wurde, lässt aber zumindest auf einen Garantiezwang der hofstellengebundenen Fronen und Abgaben schließen, deren Gewährleistung ohne Frage ein Mindestmaß an Grundbesitz voraussetzte. 746 Abseits der Bauerngüter umfasste die Rußdorfer Gemarkung in der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts gemeinschaftlich nutzbares Gemeindeland, die Allmende, sowie drei walzende Grundstücke, welche Gutsbesitzern in den anrainenden Fluren Falken, Meinsdorf und Limbach gehörten. 747 Letztere zählten dessen ungeachtet nicht in die Rußdorfer Gesellschaft, deren Gesicht aufgrund lückenhafter Überlieferung sowie per se 745

746 747

Für den Thüringer Raum fand geltendes Anerbenrecht 1556 via Landesordnung seine Bestätigung und wurde auf alle unter ernestinischer Herrschaft stehenden Gebiete ausgedehnt. Spätestens ab diesem Zeitpunkt war auch für Rußdorf Anerbenrecht verbindlich festgeschrieben. – Vgl. Kühn, Erich, Die bäuerlichen Güter und ihre Vererbung im Herzogtum Sachsen-Altenburg, Zeulenroda 1941, S. 63 ff. Vgl. ThStA Abg, Landesregierung, Nr. 626. Vgl. ebd.

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begrenzter Aussagekraft der Quellen in demographischen Belangen für das 16. Jahrhundert nur rudimentär rekonstruierbar ist. Außer den 23 namentlich genannten Bauern aus, den Namen nach, 19 Familien bleibt das Güterverzeichnis von 1539 die Erwähnung weiterer Personen und selbst indirekte Hinweise auf andere Bevölkerungsteile gänzlich schuldig. Erst 13 Jahre später beleuchtete ein Steueranschlag die Dorfbewohner schichtenübergreifend. Zwar erschöpften sich biographische Daten abermals in den Namen der weitestgehend mit denen des ersten Verzeichnisses identischen Gutsbesitzer, jedoch fand die Zahl der Landlosen hofstellenspezi sch Erwähnung. Zehn Bauern beschäftigten 1552 insgesamt 17 Dienstboten. Deutlich mehr (16) beherbergten beinahe die doppelte Menge (33) an Hausgenossen. 748 Nur drei bäuerliche Güter unterdurchschnittlicher bis stark unterdurchschnittlicher Taxierung kamen ohne Angehörige der dörflichen Unterschicht aus. 749 Die in ihrem Wert gespiegelte Größe der Höfe hatte im Allgemeinen offenbar geringen Ein uss auf die Zahl der beherbergten Inwohner, des Gesindes oder den ebenfalls steuerlich relevanten Viehbestand. Mit seinem Schenkgut verfügte George Lobel etwa über den mit Abstand größten, auf 115 Gulden gewürdigten Landbesitz des Dorfes, hegte auf sieben Gulden 40 Groschen geschätztes Vieh und hatte zwei Hausgenossen bei sich wohnen. Dagegen zinste Valten Wagner mit leicht den Durchschnitt unterschreitendem Gutsbesitz für neun Gulden 20 Groschen wertigen Nutztierbestand, womit er an zweiter Stelle im innerdörflichen Vergleich stand. Laux Heroldt gab den meisten Dienstboten (3) auf seinem 70-Gulden-Grund Arbeit und Jorg Schram verfügte bei gleichwertigem Landbesitz über das meiste Vieh, beherbergte das größte Hausgenossenquantum (4) sowie die insgesamt meisten Unterschichtenangehörigen (6). 750 In welchem prozentualen Verhältnis die Rußdorfer Gesellschaftsgruppen Mitte des 16. Jahrhunderts zueinander standen, kann nur geschätzt werden. Unter Berücksichtigung der durchschnittlichen lokalen relativen Kinderzahl in den 1580er Jahren geschlossener ehelicher Verbindungen und unter Annahme, Hausgenossen und Dienstboten seien im Steueranschlag vollständig verzeichnet worden, lässt sich für 1552 eine Einwohnerzahl von 226 extrapolieren. Die gesichert der Unterschicht zuordenbaren Inwohner hätten demnach nur 14,62 Prozent der Gesamtbevölkerung gestellt, das Gesinde schlüge mit 7,53, die bäuerliche Oberschicht mit 77,85 Prozent zu Buche. Eine rurale Mittelschicht war rudimentär durch zwei Kleinstellenbesitzer, darunter eine ledige oder verwitwete Hausbesitzerin, „die Steinbachin im Heußlein“ 751, vertreten. 748

749 750 751

Aus der Überlieferung geht nicht hervor, welche Kriterien der Zählung zugrunde lagen. Wurden nur Familienvorstände, mündige Personen, alle Kon rmierten oder sämtliche Mitwohner gezählt? Mit hoher Wahrscheinlichkeit griff das letztere Prinzip. Vgl. ThStA Abg, Obersteuerkollegium Nr. 107. Vgl. ebd. Vgl. ebd.

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Während die unterste soziale Gruppe 1539 unberücksichtigt blieb, existierten unterbäuerliche Landbesitzer schlicht noch nicht. Die Hinzuziehung überlieferter Jahresrechnungen des Altenburger Sankt-Georgen-Stifts erlaubt es, den Beginn der Rußdorfer Flächenpartikularisierung und der damit einhergehenden sozialen Ausdifferenzierung exakt zu bestimmen. An Michaelis 1540 zinste erstmals „Hardtunge vonn eine neuen gepauten Heuß“ 752. Bis mindestens 1546 stand er allein, danach muss der Besitz der „Steinbachin“ spätestens im Frühjahr 1552 hinzugetreten sein. Woher stammten diesen frühen Gärtner und Häusler räumlich bzw. sozial, aus welchen Teilen der Gemarkung wurden ihre Flurstücke herausgelöst und warum? Hatten sie bereits zuvor der lokalen Gesellschaft angehört oder handelte es sich um Zugezogene? Diese Fragen zu klären, muss die Aufmerksamkeit zunächst den Identitäten der Unterschichtsangehörigen, speziell der Hausgenossen gelten. Vor 1552 scheinen lediglich vier Personen im ausgewerteten Quellenmaterial auf, die nicht mit den nachgewiesenen Gutsbesitzern identisch waren. Moritz Gümpel brachte am 30. März 1538 einen Wagen Bretter nach Altenburg, Lorentz Schram zahlte wenige Wochen später Geleitsteuer für eine Fuhre Schindeln. 753 Beide wussten einen Namensvetter unter den Bauern. Vermutlich war Moritz Gümpel ein Bruder des 1539 bereits verheirateten und einer Familie mit mindestens zwei Kindern vorstehenden Matz Gympels, könnte aber auch dessen Vater gewesen sein. Schram war wahrscheinlich ein naher Verwandter Blasius Schrams, allerdings mit Sicherheit nicht dessen Elter. Mitte der 1540er wurde Blasius Engelman in eine Rauferei verwickelt. Eine nahe Verwandtschaft mit einem der Bauern Jacob und Urban Engelman anzunehmen, liegt nahe. Lediglich der um dieselbe Zeit von Valten Wagner mit einem Kohlkopf beworfene Gregor Schneider 754 suchte vergeblich einen Namensvetter in den oberen dörflichen Kreisen. Ob er, der danach nie wieder quellentechnisch fassbar wird, Hausgenosse, Knecht oder ortsfremd war, lässt sich ebenso wenig erschließen wie verwandtschaftliche Beziehungen seiner zu Gemeindemitgliedern beleg- oder negierbar sind. Die wenigen frühen Zeugnisse erwachsener, männlicher Personen ohne Landbesitz deuten an, dass sich die Unterschicht vorwiegend aus weichenden Erben der lokalen Oberschicht zusammensetzte, die noch einer Verheiratung oder eines Immobilienzugangs harrten. Die ersten Häusler tragen dem allerdings nur bedingt Rechnung. „Die Steinbachin“ kann ohne Bedenken der bäuerlichen Familie Steinbach zugeordnet werden, war vielleicht sogar die Witwe des 1539 noch auftretenden, aber 1552 durch den mutmaßlichen Sohn Peter ersetzten Jacob Steinbach. Warum ihr ein separater Haushalt zugemessen wurde, bleibt freilich offen. „Hardtunge“, welcher sicherlich die Identität

752 753 754

ThStA Abg, Herzogliches Finanzrechnungsarchiv, Abt. 14 Rep. XIV, Nr. 4a: Jahresrechnung des St.-Georgen-Stifts zu Altenburg Walpurgis 1540 – Walpurgis 1541. Vgl. ebd., Nr. 1b: Jahresrechnung des Amts Altenburg Walpurgis 1537 – Walpurgis 1538. Vgl. ebd., Nr. 11: Jahresrechnung des St.-Georgen-Stifts zu Altenburg Walpurgis 1545 – Walpurgis 1546.

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mit dem 1552 genannten Kleinstellenbesitzer Mathes Harttung teilte, ist dagegen keiner damals ansässigen Familie zuzuordnen. Seine Herkunft bleibt in jeder Hinsicht im Dunkeln. Wertvolle Hinweise liefert gleichwohl sein Besitznachfolger, der 1554 erstmals auftretende und unter den gegebenen Umständen als Sohn seines Vorgängers zu identi zierende Hanns Hardung. Demzufolge wäre Mathes 1540 bereits verheiratet und seit mindestens sieben Jahren Vater gewesen. Die Profession des Sohnes, der 1555 als „Huttman“ und 1558–1572/1573 als „der Hirtt“ 755 bezeichnet wurde, erlaubt es, Mathes selbst in die Viehwirtschaft einzuordnen. Offenbar etablierte die Gemeinde 1540 mit dem Gemeindehirten, „welcher das Vieh einer ganzen Gemeinde hüten muß“, eine neue, jedoch nach 1595 nicht mehr belegbare Stelle im Dorf. 756 Der Hirte hatte „seine Wohnung gewöhnlich in dem Gemeinde- od. Hirtenhause“ und nährte sich gleich dem Schulmeister und dem Pfarrer üblicherweise von Abgaben der Viehbesitzer in Geld oder Naturalien. 757 Rührte das Steinbach'sche Häuslein wahrscheinlich vom familiären Grundbesitz her, entsprang das Hirtenhaus vermutlich dem Gemeindegrund. Die Anfänge des Rußdorfer Häuslerstandes lagen also einerseits in einer gemeinheitlichen Investition, von der zuwandernde Personen pro tierten, andererseits offenbar in familieninternen Verträgen der dörflichen Oberschicht. Seit Mitte der 1550er Jahre häufen sich Belege für Flurparzellierungen. Dennoch bleibt neben der sozialen Herkunft der Besitzer und dem räumlichen Ursprung oft die konkrete Klassi zierung der Flächen im Dunkeln. Weder erlaubt die Höhe der Erbzinsen Rückschlüsse noch bieten semantische Kategorisierungen nach zum Beispiel „Güthlein“, „Heußlein“ oder „Garten“ ein probates empirisches Mittel, sodass die folgenden Schlussfolgerungen vorrangig auf Indizien basieren müssen. Zwischen 1545 und 1554 gelangten Matz Werner, Hannß Heroldt, Hanns Schram und Ulrich Schuldtes an geringen Grundbesitz im Dorf. Werner war wohl einer der „Jungen Werner“, einer bäuerlichen Erbengemeinschaft von 1539, die 1552 Cyriacus Werner nebst zwei Hausgenossen gewichen war. Als einer der Letzteren dürfte Matz zu identi zieren sein, der zunächst lediglich ein Grundstück unbekannter Herkunft besaß, darauf baute und 1556/1557 sein Haus in Lehen nehmen konnte. Unter dem Nachbesitzer Antonius Rudolff wurde die Hofstelle als „Garten“ tituliert. Der zweite mutmaßliche Werner'sche Bruder und Mitwohner Paul verkaufte 1577/1578 ein hagelgeschädigtes Handfrongut.

755 756

757

Vgl. ebd., Nr. 17a–79: Jahresrechnungen des St.-Georgen-Stifts zu Altenburg Walpurgis 1555–1593. Lediglich das Steuerverzeichnis 1722 weist nochmals auf einen Hirten hin: Der Gärtner Georg Steiner „hat eine Kuhe, füttert sie aber nur im Stalle u. treibet sie nicht vor den Hirten, doch ist sie zu versteuern“. – ThStA Abg, Obersteuerkollegium, Nr. 1226. – Ein mit der Hirtenposition assoziierter Rußdorfer fand jedoch nach 1595 in den Quellen ebenso wenig Erwähnung wie zum Beispiel etwaige Vergütungsmodalitäten etc. Vgl. Pierer, Heinrich August (Hg.), Pierer's Universal-Lexikon der Vergangenheit und Gegenwart, Bd. 7, Altenburg 1859, Gemeindehirt, S. 129.

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Einen weiteren erst in den 1590er Jahren als Garten typisierten Besitz erwarben Hannß Heroldt, wahrscheinlich mit einem gleichnamigen Anspanner 1552 identisch, und Hanns Schram, wohl ein Bruder und ehemaliger Hausgenosse des Bauern Jorg Schram. Schuldtes hingegen erwarb als Oberfrohnaer lediglich eine Wasserquelle innerhalb Rußdorfer Raine. Andere frühe Parzellenbesitzer, wie Matz Arnold 1558/1559, Valten Heintzig 1567/1568 und Ilgen Henitzig 1569/1570, vermutlich den Anspanngütern Valten Arnolts und Asmus Heiniz' 1552 entstammend, nährten ihre Hausgenossenfamilien unter anderem von einem Acker oder Wiesen eck, ohne je eigene Hofstellen in Rußdorf zu erwerben. Mehrere weitere Kleinstellenbesitzer des 16. Jahrhunderts teilten einen Familiennamen mit Angehörigen der Oberschicht. Abraham Moller besaß seit 1567/1568 wahrscheinlich ein Haus oder einen Garten, Gregor Esche erwarb 1562 ein „Guthlein“, Andreß Landgraff 1569 einen Garten und Hadrian Gümpel 1571 desgleichen. Nur wenige Eigner abgesetzter Parzellen kamen dem Namen nach von außerhalb, noch weniger wanderten ohne Einheirat in die bestehende Gesellschaft zu. Für gewöhnlich besetzten Zuzügler generaliter vor 1600 bestehende sozioökonomische Positionen, d. h. vorhandene Hofstellen, freien Wohnraum oder „Arbeitsplätze“. Gregor Frischmann kaufte offenbar mithilfe des Erbteils seiner mutmaßlich zweiten Ehefrau aus Bräunsdorf noch Ende der 1550er Jahre eines der lokalen Anspanngüter. Der Oberfrohnaer Georg Rudloff hatte seinerseits bereits mindestens fünf Kinder, als er 1554/1555 einen der alten Bauern ablöste und der 1552 aufscheinende Jorg Helwig übernahm ebenfalls schlicht bestehenden Besitz. Was in der Bauernschaft funktionierte, fand nicht weniger in den Mittel- und Unterschichten Anwendung. Lorentz Eittener, mutmaßlicher Inwohner, kaufte dem genannten Gregor Frischmann 1564/1565 ein Feldstück ab, welches dieser erst drei Jahre zuvor erworben hatte. Stephan Dietzmann übernahm seinen Erbgarten zwischen 1573 und 1593 vermutlich von Abraham Moller. Woher die Gärten der Zuzügler Lex Treutler, den 1571/1572 Stephan Herolt erstand, und Thomas Reichenbach, welcher 1584 an George Esche verkaufte, rührten, ist nicht zu erschließen. Für den 1560/1561 ein Feldstück in Lehn nehmenden, offenbar ortsfremden Hans Fritzsche sowie den 1562/1563 für eine unterbäuerliche Hofstelle zeichnenden Jacob Ditterich fehlt gleichfalls jeder Herkunftsnachweis. 758 Die ersten nachvollziehbaren Entstehungsgeschichten neuer Hofstellen datieren in die 1590er Jahre, liefern aber nichtsdestotrotz wertvolle Hinweise auf die Vorgänge in den vorangegangenen vier Dekaden. Als Peter Esche 1581 starb, hinterließ er sein Bauerngut der Witwe respektive einer Erbengemeinschaft. Ein Ausgleich zwischen dem Kurerben und seinem Bruder wurde, obwohl beide zu diesem Zeitpunkt bereits Fami758

Vgl. ThStA Abg, Herzogliches Finanzrechnungsarchiv, Abt. 14 Rep. XIV, Nr. 17a–79: Jahresrechnungen des St.-Georgen-Stifts zu Altenburg Walpurgis 1555–1593.

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lien gegründet hatten, erst neun Jahre später amtlich rati ziert. Der ältere Sohn Hannß verlehnwahrte am 4. April 1590 ein später als Gartengut geltendes „Heußlein, beneben einen stuck ackers“, welches er „vonn seinem Bruder Jacob Eschenn, annstad seines gebürenden Vattertheills anngenommen“. 759 Ein Jahr danach übernahm der Kurerbe das väterliche Gut von der Mutter. Analog erhielt der weichende Wirtssohn Philip Richter 1593 seinen Erbteil in Form eines Erbgartens zu Lehen gereicht. 760 Der Vertrag datierte vermutlich bereits in das Sterbejahr des Vaters 1582, als der Kurerbe Jacob Richter die väterliche Schenke übernahm. Christoph Esche, selbst Vertreter der jungen Mittelschicht, verkaufte seinem Schwager 1615 „ein stücke acker zue einer baustadt“ mit der Bedingung, „wo fernen aber ein Heußlein darauff möchte darauff gebauet werdenn, so hatt der Keuffer gewilligett nur 2 Huner zue halttenn“. 761 Das dort errichtete Haus wurde dem Käufer 1618/1619 zu Lehen gereicht. 762 Barthel Landgraf erstand desgleichen 1631 von seiner Schwiegermutter „guth ein Heußlein, Acker und Wiesenplatz“. 763 Im Kontrast zu den Vorgenannten teilte der Kutscher Jacob Schönfeld keine verwandtschaftlichen Beziehungen mit Tobias Herolt, dem er 1628/1629 „ein stücklein gartten und feld zu einer Baustadt“ abkaufte. Gleiches gilt für Georg Heintzig, welcher 1624 von Jacob Landgraff eine Baustadt erwarb. 764 Die überlieferten klaren Fälle einer Kleinstellenetablierung machen Verschiedenes deutlich. Zuzügler ohne direkte Bindung zu einer ansässigen Familie erwarben mehrfach bestehende Güter, beteiligten sich im späten 16. und frühen 17. Jahrhundert jedoch kaum an der Gründung neuer Hofstellen. Ebenso wenig schufen bereits Begüterte gleich welchen Besitzstandes neue Güter. Die typischen Protagonisten der frühen Partikularisierung hatten bereits geheiratet und somit zwangsläu g im Hausgenossenstatus vor Ort gelebt. Ihre umgewidmeten Parzellen entstammten zumeist, aber nicht ausschließlich bestehenden bewohnten Besitzungen anstatt Gemeindeland. Käufer, die mit den Verkäufern nahe verwandt oder verschwägert waren, sahen in den abgespaltenen Parzellen zumeist Erbansprüche befriedigt oder setzten ihr Erbgeld darin um. Wer abseits eines Erbgangs Bauland erwarb, hatte tendenziell längere Zeit im dritten Stand verbracht. Ob diese Personen größeren Vorlauf benötigten, um erforderliche nanzielle Mittel in Lohnarbeit oder anderweitig zu beschaffen, kann nur vermutet werden. Wahrscheinlicher fehlte ihnen schlicht der persönliche Zugang zu potentiellen Landverkäufern bzw.

759 760 761 762 763 764

Ebd., Nr. 73c: Jahresrechnungen des St.-Georgen-Stifts zu Altenburg Walpurgis 1589 – Walpurgis 1590. Vgl. ebd., Nr. 78: Jahresrechnungen des St.-Georgen-Stifts zu Altenburg Walpurgis 1592 – Walpurgis 1593. Vgl. ThStA Abg, Amtsgericht Altenburg, C I Loc. 1, Nr. 136, fol. 116. Vgl. ThStA Abg, Herzogliches Finanzrechnungsarchiv, Abt. 14 Rep. XIV, Nr. 107: Jahresrechnungen des Amts Altenburg und St.-Georgen-Stifts zu Altenburg Walpurgis 1618–1619. Ebd., Nr. 112: Jahresrechnungen des Amts Altenburg und St.-Georgen-Stifts zu Altenburg Walpurgis 1631– 15. 2. 1632, fol. 47r. Ebd., Nr. 110–111: Jahresrechnungen des Amts Altenburg und St.-Georgen-Stifts zu Altenburg 1624–1629.

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scheiterten Kaufgesuche eher an der in sozialer Distanz wurzelnden Skepsis und dem Unwillen der Landbesitzer. Obwohl die Namensgebung darauf hindeutet und bis zur Mitte des 17. Jahrhunderts tatsächlich vorrangig neue Gartengüter entstanden, gingen diese keineswegs auf die von Abgabenlasten und Hut befreiten Gartenstücke 765 der Bauernschaft zurück. Deren Existenz ist für Rußdorf, da Steuerverzeichnisse sie kategorisch unerwähnt lassen, lediglich anhand eines Kirchbucheintrags nachzuweisen: Bevor der bereits genannte Georg Heinzig 1624 zum Bauherren aufstieg, war er 1623 „in Bartel Arrolds Garten wohnend“ anzutreffen. 766 Aufstrebende Gärtner und Häusler griffen durchweg auf besteuertes Ackerland, teils sogar ältere Gartengüter zurück. Die Namensgleichheit der Landstücke zu den bäuerlichen Pendants referenzierte einzig auf die ähnliche Erscheinungsform. Hausbesitzer schöpften zwar aus denselben Quellen, behielten aber nach erfolgter Bautätigkeit keine signi kante nutzbare Landmenge zurück. Seit Mitte des 16. Jahrhunderts hatte die Rußdorfer Gesellschaft binnen eines Jahrhunderts eine merkliche Ausdifferenzierung erfahren. Gegenüber 1552 verdoppelte sich die Güterzahl bis 1651 beinahe. Die Bauernschaft repräsentierten nun 17 Familien auf 22 Gütern, darunter zwei Handfröner. Dem Namen nach war es zehn bis zwölf von ihnen gelungen, die Haushaltskontinuität zu gewährleisten. Acht Namen traten in der Zwischenzeit neu hinzu. Auf fünf Gütern lebte je ein Hausgenosse mit. In zwei Fällen war dieser ledigen Standes, weder mit dem Hausvater verwandt noch verschwägert und entstammte keiner Rußdorfer Familie. Martin Steiner ließ seinen unverheirateten Bruder, der später ohne weiteren Beleg verzog, bei sich wohnen. Die Bauern Andreas Görner und Georg Herolt hatten je einer noch kinderlosen Schwester nebst angetrautem Gatten Wohnraum zugestanden. Nur Georg Herolt „der untere“ ließ eine fünfköp ge Familie, die seines einzigen erwachsenen Kindes, bei sich leben. Der 1651 von Tagelöhnerei zehrende Eidam übernahm später den bedeutenden schwiegerväterlichen Besitz. Der dörfliche Mittelstand war hingegen auf 29 Stellen angewachsen. Jedes dieser kleinbäuerlichen Güter bestand aus Haus und „Gärtlein“, in der Regel einem Stück Acker zwischen einem Achtel und einem Viertel Scheffel. Lediglich ein Besitzer entsprach, bar jeder Agrar äche, der Häuslerde nition. Eine weitere Baustadt über ein halbes Sipmaß Feld war vorübergehend wieder in Ackerland umgewandelt worden. Die 28 bewohnten Häuser wurden im Ganzen von 18 „Familien“ gehalten. Acht Namen hatten 1552 zum ersten ruralen Stand gehört und waren 1651 immer noch darin vertreten. Ein weiterer repräsentierte die Rußdorfer Oberschicht 1552, nicht aber 1651, bei zweien lag der umgekehrte Kasus vor. Sechs Gärtner gaben einem Hausgenossen Raum. In vier Fällen

765 766

Vgl. Pierer, Heinrich August (Hg.), Pierer's Universal-Lexikon der Vergangenheit und Gegenwart, Bd. 6, Altenburg 1858, Gartenrecht, S. 938. Vgl. EPA Kaufungen, KB I, Taufen Rußdorf 1623, Nr. 10.

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bestanden nahe verwandtschaftliche Bindungen, in einem zumindest Namensgleichheit. Drei Mitwohner waren verheiratet, zwei standen einer vierköp gen Kernfamilie vor. Viele der getroffenen Schlussfolgerungen über die Herkunft des neuen Mittelstandes nden in der Bevölkerungssituation Mitte des 17. Jahrhunderts Bestätigung. Neben dem Bauernstand (39,96 %) hatte auch die Inwohnerschicht deutlich an Gewicht eingebüßt (9,18 %), während die zuvor bedeutungslosen Gärtner zur gesellschaftlich dominierenden Gruppe aufstiegen. In absoluten Zahlen bewies die Oberschicht die höchste Statik. Umso deutlicher stechen die Veränderungen bei den Hausgenossen hervor. Mitte des 16. Jahrhunderts kamen auf jede Rußdorfer Hofstelle 1,32 Inwohner. Kaum ein Jahrhundert später waren es nurmehr 0,46. Die anteilig gegenläu ge Entwicklung der dörflichen Mittel- und Unterschicht spricht für einen direkten Zusammenhang dieser Gruppen. Deckungsgleich trugen 22 von 27 Kleinbauern 1651 Familiennamen, die auf eine Nachkommenschaft ehemals vor Ort angesessener Bauern schließen lassen. 767 Selbstredend konnte nicht jeder der teilweise in der Region verbreitete Namen wie Esche oder Landgraf tragenden Gärtner seine agnatische Linie auf ein Rußdorfer Stammgut zurückverfolgen und zählte auf der anderen Seite nicht jeder Angehörige der unteren ruralen Schichten effektiv zu den sozial gefallenen, durch die geltende Vererbungspraxis benachteiligten Bevölkerungsgruppen. Dennoch untermauert der Befund die Vermutung, einheimische Bauernsöhne seien als zentrale Protagonisten der spätmittelalterlichen Landpartikularisierung hervorgetreten. Nach 1651 fand das Wachstum der Gärtnerschaft unter den etablierten Gep ogenheiten zunächst seine Fortsetzung, wobei verwandtschaftliche Beziehungen nun eine untergeordnete Rolle spielten. Jacob Arold spaltete 1654 ein Feldstück seiner Flur zugunsten des Hausgenossen Andreas Heinzig ab. Zwei Jahre danach erwarb Barthol Schüßler 1656 eine Baustadt vom Bauer Michael Heinzig. 768 Beide Kontrakte bildeten die Grundlage nachmaliger Gartengüter, in beiden Fällen waren die Kontrahenten nicht verwandt oder verschwägert. Zu den historisch jüngsten Kleinbauern zählte Georg Schüßler, der 18-jährig 1669 ein Grundstück vom damaligen Schenkwirt erkaufte, ohne es ordentlich in Lehen zu nehmen. Ein reichliches Jahr später forderte ihn der Tod. Das Gut ging an den Vater, der es 1680 an einen Schwiegersohn veräußerte. Erst zu diesem Zeitpunkt erhielt die Grundherrschaft überhaupt Kenntnis von der Existenz des Besitzes. 769 In den 1670er Jahren verebbte die erste Rußdorfer Parzellierungsphase, in deren Rahmen primär die zweite, kleinbäuerliche rurale Besitzklasse entstand. Zu diesem Zeitpunkt hatten Gärtner die Bauernschaft als zahlenmäßig bestimmende Gruppe abgelöst

767 768 769

Vgl. ThStA Abg, Obersteuer Kollegium Nr. 246: Steuer-Revision de ao: 1651. Vgl. ThStA Abg, Herzogliches Finanzrechnungsarchiv, Abt. 14 Rep. XIV, Nr. 125–127: Jahresrechnungen des Amts Altenburg und St.-Georgen-Stifts zu Altenburg 1653–1656. Vgl. Vgl. ThStA Abg, Amtsgericht Altenburg, C I Loc. 1, Nr. 143, fol. 87.

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und die vormals gleichfalls verhältnismäßig häu gen Hausgenossen in eine absolute Minderheitenposition gedrängt. Die ökonomische und strukturelle Ausdifferenzierung der Dorfgesellschaft war damit allerdings keineswegs beendet, pausierte nicht einmal. Im Gegenteil erhielt nun die bislang rudimentär ausgebildete Häuslerschaft bald starken Zuwachs. Dabei fanden die alten Verfahrensweisen gleichwohl kaum Anwendung. Des damals jüngst in Amt und Würden gesetzten Schulmeisters George Roschers 1678 Hausgründung mag exemplarisch für die Fluraufteilungspraxis des späten 17. und frühen 18. Jahrhunderts in Rußdorf stehen. Sein Vertrag mit der Gemeinde bzw. der Herrschaft ist der älteste überlieferte seiner Art für Rußdorf. Roscher wurde „ein klein drey Eckigter Platz alda, an Ober Viehe Weg neben Jacob Schönfeldtens Gemein Heußlein von Gerichten abgestecket, auch in Rein und Stein gesezet [...] welcher Platz in der einen Lenge 120 in der andern Länge 70 und in der Schmiege 42 [Ellen] in sich begreiffet [...], ein Gemeindte Heußlein zubauen“. Im Gegenzug verstand sich der Käufer, „Grundzins wie andere Häusler und mit gewöhnlicher Einlage“ zu geben, sobald das Wohnhaus errichtet war. 770 Über die folgenden 40 Jahre sind 19 Hausgründungen nach einheitlichem Muster belegt. Der zukünftige Inhaber stellte bei den grundherrschaftlichen Gerichten einen Antrag, „ihm einen Plahn zu erbauung eines Häußleins anweisen zulaßen“. 771 Wurde dem stattgegeben, steckte der Altenburger Landrichter einen geeigneten Bauplatz ab, der „von den Ambtsgerichten zu Rusdorff in Reinen und Steine gesetzet“ 772 werden musste, bevor die Lehnsnahme erfolgen konnte. Neben dem üblichen Lehngeld und Schreibeschilling el keine Kaufsumme an. Zudem sah sich der Lehnsnehmer entweder bis zum Bezug des Hauses oder dem Ablauf einer gesetzten Frist über Jahr und Tag, seltener länger, von den üblichen Abgabenlasten befreit. Die Gründung neuer Häuslergüter kam der Herrschaft ganz offensichtlich sehr zupass, „weiln dann das Hochfürst. Ambt Altenburgk iederzeit dahin gemeinet, Gnädigster Herrschafft die Lehn zu verstärcken“, ein Effekt, der bei Grundstücksabspaltungen von bestehenden Gütern ausblieb. In jenen Fällen wurden die ohnehin eingeforderten Lasten lediglich auf mehrere Schultern verteilt. Das Interesse reichte soweit, dass selbst Ortsfremden Konzession erteilt wurde: Zuwißen sey daß [...] in hiesigen Gerichten zu Rußdorff [...] erschienen, Jacob Haupt in Falcken, ins Ambt Waldenburgk gehörig, vorbracht, wie er sein Erbguth alda [...] an seinen Sohn Peter Haupten verkaufft, sich aber ein Stück leeden Feld sein Lebens Zeit vorbehalten und ausgezogen, weiln aber daselbsten sichs nicht füget, daß man eine Baustadt alda ersehe, da ein Häußlein

770 771 772

Vgl. ThStA Abg, Amtsgericht Altenburg, C I Loc. 1, Nr. 139, fol. 5. Ebd., Nr. 146, fol. 63. Ebd., Nr. 141, fol. 23.

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anbauen könnte, ob hochfürst. Durch. Ihm zu einen Unterthanen annehmen, und ein Klein Fleckgen an der Niedern Gemeinde zu einer Baustädt vergönnen möchte. 773

Welche Motivlage dem seitens der Grund- und Landesherrschaft zugrunde lag, geht aus den gesichteten Quellen nicht hervor. Das plötzliche Aufkommen dieser speziellen Vertragswerke könnte für legislative Änderungen wie steigenden Bevölkerungsdruck als auslösendes Moment gleichermaßen sprechen. Lag die Vermehrung der Zinseinnahmen im späten 17. Jahrhundert durch Etablierung neuer Güter auf Gemeindeland im Sinne der Landesherrschaft, muss dies in der vorangegangenen Zeit ebenso gegolten haben. Demnach sollte die treibende Kraft bei den Nutznießern selbst gelegen haben. Wahrscheinlich kam eine auf unterbäuerlichen Besitz ausgerichtete Nachfrage um 1670 erst langsam angesichts fortgeschrittener, näherungsweise an ihr Limit geratender Dismembration privater Besitzungen in Rußdorf überhaupt erst auf. Ein Faktum darf freilich nicht außer Acht bleiben: Fehlte es potentiellen Häuslern an realistischen Verdienstoptionen, etwa in vergüteter kontinuierlicher Landarbeit oder gewerblicher Tätigkeit, und war die Agrarproduktion nicht in der Lage, die zusätzlichen Esser zu versorgen, lösten auch obrigkeitliche Initiativen kein anhaltendes Wachstum unterbäuerlicher Schichten aus. Welch geringen Ein uss herrschaftliche Regulierungsversuche auf die rurale Lebenswelt zuweilen nahmen, beweist schon die genannte, nach elf Jahren erst ruchbar gewordene Gartengutsgründung des Rußdorfers Georg Schüßler. Ähnliches ereignete sich in weit größerem Maßstab während des 18. Jahrhunderts im kursächsischen Schönheide unter der Amtshauptmannschaft Schwarzenberg, wo eine administrative Routinekontrolle zahlreiche unkonzessionierte Hausbauten offenlegte. 774 Formal trennte vieles die Majorität der Rußdorfer Hausgründungen des späten 17. Jahrhunderts von den zuvor erfolgten Gartengutsgründungen. Entstanden diese vornehmlich auf Gemeindeland nach normierten Verträgen, wurden jene überwiegend von bestehenden Gütern nach individuellen, stark konditional variablen Kontrakten abgespalten. Genossen die frischen „Gemeindehäusler“ vorübergehend Abgabenfreiheit und Erlass des Kaufgeldes, trugen Gärtner sofort die volle Steuerlast und mussten zudem eigene Geldmittel allein in den Erwerb ihrer Grundstücke investieren. Hinsichtlich ihrer sozialen Herkunft und Lebensläufe trennte Gärtner und Häusler demgegenüber wenig. Die meisten frühen Hausbesitzer waren, soweit feststellbar, Kinder der bäuerlichen Oberschicht und hatten teils mehr als ein Jahrzehnt im Hausgenossenstatus verbracht. In der Regel stand ihnen bereits eine Ehefrau zur Seite, oft auch Kinder. Vier Personen, deren väterliche Erwerbsquelle entweder unbekannt oder im kleinbäuerlichen Bereich zu suchen ist, betrieben nachweislich ein Gewerbe. Fremdund Einheimischgeborene hielten sich anteilmäßig die Waage, jedoch hatte die Mehrheit

773 774

Ebd., Nr. 150, fol. 97. Vgl. Weiss, Bevölkerung, S. 113.

379

SOZIOSTRUKTURELLER WANDEL

Tabelle 45: Akteure der Rußdorfer Flurparzellierung 1680–1720 Name

Hausgründung

Stand des Vaters

Profession

Heiratsjahr

Michael Fuchß

1683

unbek.

Schmied

1682

3

1682

Jacob Nitzsche

1683

unbek.

1682

2

1683

Gottfried Köhler Adam Seidel

1688

unbek.

1685

2

1688

1689 1689 1690

Bauer Bauer Bauer

1682 1688 1696

4 2 1

1683 1689 1664 (Geb.)

1691 1691

Gärtner Bauer

1692 1692

1 1

1653 (Geb.) 1661 (Geb.)

1691 1691 1698 1705

Bauer Bauer Bauer unbek.

1688 1680/1690 unbek. vor 1704

4 7 unbek. 8

1688 1657 (Geb.) nie 1704

1705

unbek.

vor 1704

3

1704

Jacob Helbig Christoph Steiner Christoph Esche Jacob Esche Hanß Landrock Jacob Rudolph Jacob Haupt Georg Gräffe Andreas Türcke

1705

Bauer

Samuel Pochert Jacob Koch Georg Frischmann

1712 1715 1717 1717

unbek. unbek. Bauer Bauer

Christoph Gimpel

1717

Bauer

Georg Herold Hans Georg Brotmerckel

Schneider

Schuster Zimmermann Bauer Leinweber

Familien- in Rußdorf größe belegt seit (momentan) (Beleg ist nicht Heirat)

1677

2

1642 (Geb.)

vor 1712 vor 1715 1709 1720

3 2 5 1

1712 1715 1683 (Geb.) 1697 (Geb.)

1691/1712

5

1665 (Geb.)

der Letzteren kurz vor der Lehnsnahme eine Rußdorferin geehelicht oder wenigstens eine Zeit in Rußdorf gewohnt. Der Gemeinde waren alle Anwärter vertraut. Selbst Jacob Haupt, der wie seine Angehörigen ersten Grades nie vor Ort ansässig gewesen war, p egte sicherlich dank seiner anrainenden Falkener Grundstücke Kontakte ins Nachbardorf. Hausgründungen nach altem Muster sind in nur zwei Fällen vertraglich überliefert. Das traditionell bedeutsame Streben, Erbansprüche weichender Kinder in Land zu befriedigen, lag beiden zugrunde. Weil sein 29-jähriger zweiter „Sohn Jacob sich in ein Eheverbündnüs eingelaßen, hette deßentwegen, eigene Wohnung höchstnöthig“, spaltete ihm der Bauer Jacob Frischmann „aus Väterlicher Vorsorge“ einen 100 Gulden würdigen Bauplatz von seinen Gütern anstelle einer Geldsumme ab. 775 Der außergewöhnlich begünstigte Bauer Andreas Haupt trieb diese Praxis fast realteilerisch anmutend auf die Spitze. Die glückliche Fügung ließ ihm zwei Bauerngüter zufallen. Eines hatte er nach dem Minoratsprinzip ererbt, eines mit seiner Ehefrau, 775

Vgl. ThStA Abg, Amtsgericht Altenburg, C I Loc. 1, Nr. 147, fol. 149.

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einer Bauernwitwe, erheiratet. Seinen eigenen ehelichen Kindern bzw. deren Ehemännern sprach er verschiedene Stücke Landes zu. Der älteste Sohn erhielt eines der beiden Anspanngüter, von dem er zuvor einem Schwiegersohn ein Feldstück abtrennte sowie einem zweiten „sein auf seine Güther neuerbauetes Hauß“ als Häuslerstelle überschrieb. Das eigene Erbgut teilte Haupt, „nach dem er bereits vor geraumer Zeit deswegen Erlaubnis erhalten“, in ein späteres Garten- und ein Handbauerngut zwischen dem dritten Eidam und seinem Kurerben auf. 776 Insgesamt leitete die Gründung der Häuslerstellen erster Periode von den vorangegangenen Gartengutsgründungen zu der folgenden Kleinststellenetablierung über. Wie zuvor kam der sozialen Komponente, der Bekanntschaft, eine große Rolle zu, obgleich Verwandtschaft an Bedeutung zu verlieren schien. Fremde konnten sich weiterhin in den Ort einkaufen, begründeten aber keine neuen separaten Parzellen. Die normierten Vertragswerke wiesen dagegen klar in die Zukunft. Ebenso kündigte die steigende Zahl auswärts gebürtiger Hausgenossen im Dorf neben dem Auftreten erster ausgebildeter Handwerker unter ihnen und erster Inwohner aus kleinbäuerlichem Milieu eine neue Zeit an. Am Ende der zweiten Phase verstärkter Parzellierung teilte sich die Rußdorfer Flur 1722 in 89 Hof- bzw. Wohnplätze. Gegenüber 1552 entsprach dies einer Verzweieinhalbfachung, im Vergleich zu 1651 hatte ein Wachstum um 78 Prozent stattgefunden. Die bereits bestehenden Schichten erfuhren in diesem Prozess kaum quantitative Veränderungen. Anfang der 1720er Jahre lebten 22 Bauern, darunter nun vier Handfröner, im Dorf. Dem zweiten Besitzstand wurden 26 Güter zugerechnet, die Mitte des 17. Jahrhunderts in zwei Stellen bestehende Häuslerschicht umfasste inzwischen 41. Binnen 100–120 Jahren war die Bauernschaft damit von der anteiligen Spitzenposition auf die dritte Stelle abgerutscht, während Hausbesitzer faktisch aus dem Nichts zur zahlenstärksten Gesellschaftsgruppe avancierten. Abermals ging die Entwicklung zulasten der Hausgenossen. Bei lediglich 15 Stellenbesitzern (16,85 %) lebten insgesamt 33 Inwohner mit (0,37 pro Stelle), davon neun bei vier Bauern, 15 bei sechs Gärtnern und neun bei fünf Häuslern. Hierzu zählten fünf Familien sowie 15 ledige Erwachsene. Zwei Drittel (69,7%) der Hausgenossen standen schichtenübergreifend in einem engen Verwandtschaftsverhältnis zu ihrem Vermieter. An der geschätzten Bevölkerungszahl 1722 über 474 Personen hatten die Rußdorfer Inwohner zu sieben Prozent Anteil. Erster und zweiter Stand stellten je etwa ein Viertel der Einwohnerschaft (23 u. 27,18 %), Häusler bereits 42,86 Prozent. Die Zahl der im Dorf vorkommenden Familiennamen hatte sich seit 1651 auf 51 verdoppelt. In allen Schichten blieben einige der Familien des 16. Jahrhunderts vertreten, wobei deren Anteil mit dem sozialen Gefälle sank. Trugen 68,18 Prozent (15) Bauerngutsbesitzer einen der alten Rußdorfer Namen, waren es 61,54 Prozent (16) der 776

ThStA Abg, Amtsgericht Altenburg, C I Loc. 1, Nr. 156, fol. 146 u. Nr. 157, fol. 103.

SOZIOSTRUKTURELLER WANDEL

381

Gärtner und nur 39,02 Prozent der Häusler. Unwesentlich höhere Werte ergeben sich, werden alle bis dahin in Zusammenhang mit vollbäuerlichem Besitz genannten Namen zum Maßstab genommen (65,38 bzw. 48,78 %). Auch im momentanen Schichtenvergleich sank der Anteil fremder Namen mit dem vertikalen sozialen Aufstieg stetig. Etwa die Hälfte des zweiten Standes teilte 1722 nach rein onomastischem Eindruck die gesellschaftliche Herkunft mit gleichzeitigen Oberschichtsangehörigen. Unter den Kleinststellenbesitzern waren es noch 31,7 Prozent bzw. 41,46 Prozent bezogen auf die Gärtnerschaft. Ganz offensichtlich nahmen weichende agnatische Erben einheimischer Familien deutlich geringeren Anteil an der zweiten Flurparzellierung als an der primären. Die dritte Rußdorfer Dismembrationsperiode, welche völlig neuen Gesetzmäßigkeiten folgte, begann 1729 und reichte bis in die 1760er Jahre, schickte jedoch bereits Anfang der 1720er ihre Vorboten voraus. Nachdem der lokale Wirt Abraham Sebastian 1708 unter Hinterlassung einer Witwe, Tochter des vorherigen Schenkgutsbesitzers, und seiner sieben Söhne verschieden war, blieb sein Gut bis 1721 nicht zum Schlechten in Händen ihrer Erbengemeinschaft. Als die Witwe 1718 auf Mühlenbaukonzession beim Amt Altenburg ersuchte, gingen ihre Pläne womöglich schon deutlich weiter. Wenigstens hatten sie im Todesjahr des Kurerben Israel Sebastian und der Gutsübernahme durch den drittältesten Bruder Christoph 1721 nachweislich konkrete Ausmaße angenommen. Im Prozess um die Wassernutzung der neuen Mühle erklärte die Witwe: „auch wenn die wenigen Fichten von unsern wüsten Felde vollends weg seind, mehr Häußer dahin zubauen wir für haben“. 777 Kaum acht Jahre später verkaufte der neue Wirt, inzwischen zusätzlich „Hochfürstl. Sächß. Gothaisch-Altenburg. hochbestallter Steuer u. Geleits-Einnehmer“ und Amtsrichter, dem Kaufunger Christian Posern am 2. Januar 1729 „ein Stücklein Feldes, von seinen Schenck-Guthe, in der obern Gemeinde am Viehwege zu Auffbauung eines Häußleins, dem Plahne nach von 21 Ellen in der Länge und 24 Ellen in der Breite“. Die geforderten zehn Gulden meißnisch, eine äußerst niedrige Summe, elen benebst den üblichen zwei Groschen Gottespfennig bei Verschreibung des Platzes bar an. Die darauf überschriebenen Abgabenlasten orientierten sich gewohnheitsmäßig an den um dieselben geminderten Beschwerungen des Mutterguts. Darüber hinaus forderte Sebastian allerdings als erste und einzige Privatperson im Dorf Fronen zu seinen eigenen Gunsten. Posern „verspricht anbey vor sich und seine Nachkommen, des Häußleins dem Verkäuffer und deßen Nachkommen oder Besizer des Schenck-Guthes, jährl. drey Fröhn Tage, ohne Lohn und Kost in willkührlicher Arbeit, zu thun, zu welcher Zeit es verlanget werden möchte“. 778

777 778

ThStA Abg, Landesregierung, Nr. 783, Bl. 8ff. ThStA Abg, Amtsgericht Altenburg, C I Loc. 1, Nr. 167, fol. 13.

382

LEBEN IN DER DORFGEMEINSCHAFT

Tabelle 46: Akteure der Rußdorfer Flurparzellierung 1729–1762 Name

Haus- Stand des gründung Vaters

Profession

Samuel Heinzig

1729

Gärtner

Hannß George Fichtner Christian Posern Christoph Schulze Hannß Ittner

1729

Leinwandhändler Einwohner Leinweber

1729 1729 1729

Heinrich Aurich

Heiratsjahr

Familien- Herkunft in größe Rußdorf (momentan) belegt seit (Beleg ist nicht Heirat)

1738

1

1731

1

unbek. Häusler Strumpfwirker Einwohner Leinweber

unbek. 1731 1737

unbek. 1 1

1729

unbek.

unbek.

unbek.

Andreas Löbel Abraham Fuchß

1729 1729

Bauer unbek.

Leinweber

1731 unbek.

1 unbek.

Lorenz Fuchß

1729

Gärtner

Leinweber

1732

1

Johann David Esche George Steinbach Hannß Fischer Joseph Beyer Daniel Francke

1729 1729 1729 1729 1729

Strumpfwirker 1733 Leinweber 1734 Zimmermann vor 1731. Leinweber 1742 Müller unbek.

Abraham Öhme Abraham Sebastian

1729 1733

Benjamin Sebastian

1733

Hannß Samuel Rudolph

1733

Einwohner Bauer unbek. Bauer Mahlmüller unbek. Schenkwirt Schenkwirt Gärtner

Hannß Gimpel

1733

Gärtner

George Buschmann

1733

Gärtner

Samuel Sebastian

1733

Christoph Glänzel Gregor Haupt Gottfried Görner

1733 1734 1734

Schenkwirt Einwohner unbek. unbek.

Abraham Haupt Hanß Saupe

1734 1752

unbek. Bauer

Pfeifenmacher Leinweber

vor 1731

Leinweber Pachtschenkwirt, Leinweber Leinweber

1733

Leinwandhändler Leinwandhändler

1744

Leinweber

Bräunsdorf Limbach

4 1

Kaufungen Limbach Wolkenburg Oberfrohna Pleißa Oberfrohna Oberfrohna Limbach Pleißa Pleißa Pleißa Altzschüllen Liebsdorf Rußdorf

1

Rußdorf

2

Rußdorf

1

Rußdorf

1

Rußdorf

1

Rußdorf

1 1 4 1 unbek.

unbek. unbek. unbek.

unbek. unbek. unbek.

unbek. 1757

unbek. 1

Rußdorf Meinsdorf Oberfrohna Meinsdorf Bräunsdorf

1729 1729 1729 1729 1729 1729 1729 1729. 1729 1729 1729 1729 1729 1729 1729 1687 (Geb.) 1697 (Geb.) 1710 (Geb.) 1710 (Geb.) 1714 (Geb.) 1692 (Geb.) 1733 1734 1734 1734 1752

383

SOZIOSTRUKTURELLER WANDEL

Andreas Dost

1754

unbek.

Paul Gottlob Päßler

1754

unbek.

Töpfer

Johanne Beate Gentzsch Abraham Bergmann

1754

unbek.

1755

Häusler

Tabulatträgerin Schuster

George Friedrich

1756

unbek.

Johann Friedrich Fiedler Hanß Gottlieb Aurig

1756

unbek.

1758

Gärtner

Johann Christoph Berger Johann David Uhle Johann Gottlob Türke Johann Gottfried Kluge Tobias Berger

1758

unbek.

1758 1758 1758 1758

unbek. unbek. unbek. unbek.

Daniel Schulze Christian Schäffler

1759 1759

Michael Bauch

Schneider u. Öhldrucker Glaser u. Tischler Leinweber

unbek.

unbek.

vor 1739

7

unbek.

1

Langenberg Altstadt Waldenburg unbek.

1740/ 1752

6

Rußdorf

1732 unbek.

4 (mind.) unbek.

1754 1717 (Geb.) 1754

Kaufungen

1756

1

Bräunsdorf Mittelfrohna Altendorf Kändler Kändler Göppersdorf Grüna Göppersdorf Oertelshayn Grüna

1758

unbek.

unbek. unbek. unbek. unbek.

unbek. unbek. unbek. unbek.

unbek. unbek.

unbek. unbek.

unbek. unbek.

1759

unbek.

unbek.

unbek.

Johann Daniel Viehweg Johann Gotthelf Öhme

1760

unbek.

unbek.

unbek.

1760

unbek.

Strumpfwirker

unbek.

unbek.

Gottfried Müller

1760

unbek.

Schneider

1756

3

Johann Michael Krebel

1760

unbek.

unbek.

unbek.

Johann Daniel Müller

1760

unbek.

Strumpfwirker

unbek.

unbek.

Johann Christian Bilz Christoph Lindner

1760 1760

unbek. unbek.

Strumpfwirker

unbek. unbek.

unbek. unbek.

Johann Christian Müller Gottlieb Barthel Johann George Aurig Daniel Müller Johann Gottlieb Jung Johann Samuel Franke Johann Gottfried Franke Johann Gottfried Berger

1760

unbek.

unbek.

1761 1761 1761 1761 1761 1761

unbek. unbek. unbek. unbek. unbek. unbek.

1762

unbek.

Strumpfwirker Strumpfwirker

1739

unbek.

unbek.

Schuhmacher

1754

1758 1758 1758 1758 unbek. 1759 1759 1759 1760 1760

unbek.

Reichenbrand Oberfrohna Reichenbach Wüstenbrand Röhrsdorf Oberfrohna Jahnshorn

unbek. unbek. unbek. unbek. unbek. unbek.

unbek. unbek. unbek. unbek. unbek. unbek.

Mittelbach Mittelbach Löbenhain unbek. unbek. unbek.

1761 1761 1761 1761 1761 1761

unbek.

unbek.

Kleinchursdorf

1762

1760 1760 1760 1760 1760 1760

384

LEBEN IN DER DORFGEMEINSCHAFT

Nach demselben Muster trat der Schenkwirt bis 1762 mindestens 56 Bauplätze von seinen Gütern ab. Allein 1729 wurden 15 ausschließlich Ortsfremde, vermutlich ohne Ausnahme ledige Gewerbetreibende aus größtenteils klein- bis unterbäuerlichen Haushalten, bedacht. Während der 1730er erstanden neun dieser ersten sebastianischen Häusler je ein weiteres Gartenstück von ihrem Vorbesitzer. Spätere Käufer erhielten von Beginn an deutlich größere Parzellen. Mit 1638–1743 Quadratellen wurden 1733 sieben Rußdorfer bedacht, unter anderem die drei verbliebenen ledigen Brüder Sebastians. Vier Jahre zuvor hatte er bereits seinem Schwager eine der Parzellen übereignet. Mit drei Bauplätzen, die an zwei Meinsdorfer und einen Oberfrohnaer gingen, beendete der Amtsrichter seine erste Dismembrationsinitiative 1734. Zu diesem Zeitpunkt existierten, auch dank der parallel fortlaufenden sporadischen Hausgründungstätigkeit auf Gemeindeland 98 Hof- und 17 Baustellen in Rußdorf. 779 Nach 20-jährigem Intervall initiierte Christoph Sebastian, 63-jährig und noch immer in Amt und Würden, einen neuerlichen Immobilienverkauf großen Stils, dessen Nutznießer sich stärker als je zuvor aus der Gruppe junger lediger gewerbetreibender Männer des Umlandes rekrutierten. Hanß Saupe aus Bräunsdorf startete den Reigen 1752 mit Ankauf eines 1008 Quadratellen umfassenden Landstücks gegen zehn Gulden meißnisch zu den alten Konditionen. Bis 1762 verzeichneten die Altenburger Gerichtsschreiber 30 weitere derartige Kaufkontrakte über Bauplätze zwischen 598 und 1785 Quadratellen variierender Größe. Kurz vor seinem Tod 1765 konnte Sebastian mit Stolz seinem Landesherren berichten: „ich auch seit der Zeit, daß ich hier gewohnt, zu Beförderung des Hochfürst. Interesse auf meinen Grundstücken 32 Häußer erbauet und noch etliche 20 Baustellen angewiesen habe“. 780 Er verschwieg freilich, dass einige der Stellen nicht dauerhaft besetzt wurden und es den sebastianischen Häuslern schwer el, Haushaltskontinuität herzustellen. Acht der 25 bis 1734 ausgewiesenen Parzellen blieben längere Zeit, teils bis in die 1750er Jahre unbebaut. Ihre Erstbesitzer tauchten nie in den Rußdorfer Kirchbüchern auf. Einige wechselten ungewöhnlich häu g ihren Besitzer, welche mehrheitlich derselben sozialen Gruppe entstammten. Zum Beispiel verkaufte Christian Posern seinen 1729 erworbenen Plan schon 1733 an Israel Pochert aus Rußdorf, der späterhin das Haus seines Vaters übernahm und den Bauplatz 1745 an Gottlieb Dietrich aus Pleißa abtrat. Auch dieser errichtete kein Haus, sondern verkaufte nach fünf Jahren an Carl Friedrich Borstendorf, welcher ihn noch im selben Jahr Johann Salomon Schröpfer übereignete. Heinrich Aurichs Landstück el dagegen gar an Sebastian zurück, der es 1737 an den gestandenen Gärtner Hans Buschmann gab.

779 780

Vgl. ThStA Abg, Landesregierung, Nr. 4172. ThStA Abg, Landesregierung, Nr. 9386: Cantzley-Acta Des Amts Richter Christoph Sebastians zu Rußdorff gesuchte Privilegium exclusivum auf seinen daselbst besitzenden Gasthoff betr. Ao. 1765, Bl. 1 f.

SOZIOSTRUKTURELLER WANDEL

385

Ungenügende Einkommensverhältnisse der jungen Häusler bedingten das in Rußdorf historisch neue Phänomen wahrscheinlich zu großen Teilen. Die äußerst niedrigen Landkaufpreise motivierten junge Männer mit geringen Rücklagen sicherlich eher zu Immobilienkäufen. Immerhin bot die sebastianische Grundstücksveräußerung einmalige sozioökonomische Aufstiegschancen, die einen Risikokauf durchaus rechtfertigen mochten. Der 32-jährige Johann George Kohlsdorf etwa musste trotz Wirkereibetrieb 60 Taler vom damaligen Obermeister der Strumpfwirkerinnung leihen, um ein auf sebastianischem Grund erbautes Haus für 52 Gulden meißnisch erwerben zu können, und die Stelle sogleich mit einer Hypothek belasten. 781 Ein Landstück zu kaufen war ein Ding, ein Haus darauf eigen nanziert ohne anfängliche Steuerfreiheit zu errichten etwas anderes. Dies spürten umso mehr die jungen Häusler zur Zeit des Siebenjährigen Krieges. Von 31 zwischen 1752 und 1762 eines der Flurstücke des Rußdorfer Wirts kaufenden Personen lebten lediglich sechs (19,36 %) dauerhaft in Rußdorf. Ein nicht geringer Teil der jemals ausgelobten sebastianischen Flächen el an das Muttergut zurück. Zum Zeitpunkt des Ablösungsvertrages über die Grundzinsgerechtsamen des Gasthofs 1852 existierten noch 43 Stellen der Dismembration Christoph Sebastians. 782 Bis 1769 waren 33 Häuser auf ehemaligem Schenkgutsboden errichtet und 22 Bauplätze eingetragen, von denen 16 der Gastwirt hielt. Die Zahl der aus einem anderweitigen Entstehungskontext erwachsenen Häuslerstellen stand mit 43 zu Buche. Den Pferdebauern wurden nur noch 16 Güter zugeordnet, zur Handbauernschaft dagegen 39 gezählt und lediglich elf Gärtner genannt. 783 Offensichtlich wandte der Steueranschlag des Jahres die tradierten besitzständischen Klassi kationskriterien episodenweise in neuer Manier an und verwischte die tradierten Schichtengrenzen. Ein anlässlich der Ablösungsverträge 1852 aufgestelltes Güterverzeichnis führte hingegen gemäß alter Denition 25 Oberschichtangehörige und 29 Kleinbauern. 784 In Anbetracht dessen sollte die tatsächliche Kleinststellenzahl 1769 bei 88–93 gelegen haben. Etwa die Hälfte ging auf die zweite Rußdorfer Parzellierungsphase, ein Drittel auf sebastianische Initiative zurück. Spätestens 1734 war die schon Anfang der 1720er dominante Häuslerschaft nach der Stellenzahl zur quantitativ absolut überwiegenden Gesellschaftsgruppe aufgestiegen. Mitte der 1760er hielt sie bereits 1,75 Prozent der Gesamtheit aller anderen besitzenden Schichten. Realiter war ihr Bevölkerungsanteil, den vielen jungen ledigen oder frisch verheirateten Haus- bzw. Hausbauplatzbesitzern geschuldet, deutlich geringer, wog die Übrigen trotzdem mindestens (ca. 57,41%) auf. Der ersten Einwohnerzählung zufolge lebten 1767 insgesamt 565 Personen in Rußdorf. Nurmehr etwa 16,81 Prozent dieser waren der bäuerlichen Oberschicht zuzuordnen.

781 782 783 784

ThStA Abg, Amtsgericht Altenburg, C I Loc. 1, Nr. 187, fol. 128. Vgl. ThStA Abg, Repertorium II, Ablösungsakten d. Generalkommission, Lit. R. Nr. 11. Vgl. ThStA Abg, Obersteuer Kollegium Nr. 274. Vgl. ThStA Abg, Repertorium II, Ablösungsakten d. Generalkommission, Lit. R. Nr. 7.

386

LEBEN IN DER DORFGEMEINSCHAFT

Tabelle 47: Rußdorfer Hausgenossen 1769 Name

Stand des Vaters

Gottfried Engelmann

Profession

Heiratsjahr

Familiengröße (momentan) 1767

in Rußdorf belegt seit (Beleg ist nicht Heirat)

Christian Esche

Häusler Bauer

Leinweber Leinweber

1779 1782

1 1

1738 (Geb.) 1724 (Geb.)

Samuel Brodmerkel

Häusler

Fleischhauer

1765

2

1741 (Geb.)

Christoph Türke

Häusler Häusler

Leinweber Leinweber

1767 1758/1765

2 2

1743 (Geb.) 1735 (Geb.)

unbek.

Strumpfwirker

unbek.

1

1767

Christoph Großer Christian Weber Johann Kramer

Gärtner unbek.

Leinweber kein Gewerbe

1765 unbek.

3 2

1735 (Geb.) 1767

Häusler

Strumpfwirker

1761

3

1761

Johann Christoph Craßel Benjamin Streubel

Bauer

Leinweber

1755

3

1755

unbek. Bauer

Hausbäcker Leinweber

1762 unbek./1767

4 3

1762 1735 (Geb.)

Johann Christoph Steinbach Johann Michael Claus

Johann Gottfried Landgraf

Einzig die Hausgenossen, deren Familienvorstände sich traditionsgemäß überwiegend (58,33 %) aus lokal ansässigen Familien, mittlerweile aber vorrangig der unterbäuerlichen landbesitzenden Schichten rekrutierten, nahmen noch deutlich geringeren Anteil (4,78 %) an der Gesamtbevölkerung. Sofern der Steueranschlag 1767 alle Hausgenossen des Dorfes aufführt, kamen nun auf jedes Gut 0,19 Inwohner. Die Gärtnerschaft stellte maximal 21 Prozent der Dorfbewohner. Um diese Zeit endete die Rußdorfer Flurpartikularisierung insofern, dass bis 1832 nur punktuell neue Hofstellen etabliert wurden. Zehn der 22 unbebauten sebastianischen Flurstücke wurden in den Folgejahren überbaut. Die übrigen elen aufgrund offensichtlich ab achender Nachfrage nach Baugrund entweder an das Schenkgut zurück, konnten gar nicht erst veräußert werden oder sahen sich einer anderweitigen Bestimmung zugeführt. Außerdem wurden je zwei 1769 bereits ausgewiesene sowie später abgesteckte Parzellen anderer Herkunft zu Häuslerstellen aufgewertet. 785 Mitte des 19. Jahrhunderts, als rurale bis dahin grundherrschaftlich gebundene Immobilien infolge der Agrarreformen frei handelbar wurden, existierten in der Gemarkung Rußdorf 17 volle und zwei halbe Anspann- sowie sechs Handfrongüter. Die dörfliche Mittelschicht umfasste 29 Gärtner und 102 Häusler. Über die Größe der unter785

Die Quellen widersprechen sich gegenseitig zuweilen bzw. nennen scheinbar widersprüchliche Zahlen. So sprechen die Adressbücher 1833 von nur 151 Wohnhäusern im Ort, 1838 dagegen von 157. Spiegelt dies die historische Situation korrekt, muss von einer beständigen Variation der Kleinststellenzahl ausgegangen werden. Immer wieder wären einige Häuser weggefallen, andere neu hinzugekommen. Die Häuslerschaft wäre von geringerer Statik denn die oberen Stände gekennzeichnet. Vgl. Staats- und Adreß-Handbuch des Herzogthums Sachsen-Altenburg. 1833, Altenburg 1833 u. Staats- und Adreß-Handbuch des Herzogthums Sachsen-Altenburg. 1838, Altenburg 1838.

SOZIOSTRUKTURELLER WANDEL

387

bäuerlichen Landbesitzlosenklasse existieren keine Aufzeichnungen. Von der nach 1831 stetig und stark steigenden Bevölkerung bei gleichzeitig kaum wachsender Häuserzahl ist nicht automatisch auf einen massiven Bedeutungszuwachs der Hausgenossenschicht zu schließen. Zwischen 1783 (582) und 1831 (885) hatte die Dorfbevölkerung eine Zunahme über 52,06 Prozent erfahren. Bis 1837 traten nochmals 152 Einwohner hinzu (17,18 %) und 1855 verteilten sich bereits 1086 Personen auf inzwischen 163 Häuser. Obwohl eine neue Dismembrationsperiode einsetzte, rechtfertigten die daraus ab 1851 hervorgegangenen sieben Wohngebäude nicht die exzessive Bevölkerungsvermehrung seit 1831. Während das Wachstum der Einwohnerschaft um durchschnittlich jährlich 6,29 Personen zwischen 1782 und 1831 sowie 2,72 zwischen 1837 und 1855 durchaus allein der Rußdorfer Reproduktion entsprungen sein kann – immerhin stieg die mittlere familiäre Kinderzahl seit den 1770ern absolut wie relativ um 1,5 bis zwei an –, muss bei der plötzlichen starken und episodenhaften Zunahme um durchschnittlich 25,3 Personen pro Jahr in den 1830ern Zuwanderung eine bedeutende Rolle zugestanden werden. Deren konkrete temporale Einordnung war allerdings nicht zu ermitteln, zumal das starke Bevölkerungswachstum über kurze Zeiträume vor 1831 begonnen haben kann und nicht zwangsläu g bis 1837 gereicht haben muss. Die anzunehmende Immigration schlug sich jedoch nicht in einem veränderten sozioökonomischem Aufbau Rußdorfs nieder. Ergo kam einzig die Inwohnerschaft als soziales Auffangbecken infrage. Die Größe des zweifelsohne spätestens nach 1850 im Aufschwung be ndlichen Hausgenossenstands muss gleichwohl offen bleiben. Lebten 1769 unter Abrechnung der 27 nachweisbaren Mitwohner im Mittel 3,79 Personen auf jeder der damals 142 bewohnten Stellen, waren es 1833 gemessen an der Gesamtbevölkerungszahl schon 5,86 und 1855 gar 6,66. Wenigstens einen Hausgenossen pro Haushalt zu rechnen, erschiene nicht unrealistisch. Immerhin lebte damit Mitte des 19. Jahrhunderts trotzdem fast eine Person mehr in jedem Haushalt der landbesitzenden Klassen denn 90 Jahre zuvor. Tatsächlich ergäbe selbst die optimistischste Rechnung, die Übertragung der mittleren relativen Kinderzahl der 1840er auf alle Hofstellen von 1855, eine erheblich unter dem realen Bevölkerungsquantum liegende Einwohnerzahl (974,74). Mit demnach mindestens 110 Personen (10,25%) lebten 1855 so viele Inwohner wie nie zuvor im Dorf mit, nachdem ihre Klasse über 250–300 Jahre in einer absoluten Statik in niedrigem Umfang verharrt hatte. Auf jedes Gut kamen nun geschätzt im Schnitt 1,47 Hausgenossen, erstmals mehr als Mitte des 16. Jahrhunderts. Hernach trugen hauptsächlich die Landbesitzlosen das zweifelsohne zu großen Teilen auf Zuwanderung basierende exzessive Bevölkerungswachstum Rußdorfs bis zum Ende des langen 19. Jahrhunderts. Zwischen 1855 und 1869, eine halbe Generation, erweiterten 236 (21,73 %) Personen die Dorfbevölkerung. Gleichzeitig stieg die Zahl der Bauern- und Gartengüter durch Teilung bestehender Hofstellen um eins bzw. vier, während die Häuslerzahl keinen Änderungen unterworfen war. Der Zustand währte nicht

388

LEBEN IN DER DORFGEMEINSCHAFT

für lang. In den 1870er Jahren setzte eine letzte, im Nachhinein beispiellose Flurparzellierung zu Bauzwecken respektive eine starke Bautätigkeit ein. Das Rußdorfer Brandkataster zählte 1879 bereits 189 bewohnte Stellen 786, die Altenburger Adressbücher führten zwei Jahre später 201 Wohngebäude. Auf 1781 Individuen angewachsen, verteilte sich die Dorfbevölkerung 1881 auf 355 Haushaltungen. 787 Im Mittel lebten 1,77 Familien mit je fünf zugehörigen Personen in jedem bewohnten Gebäude. Inwiefern die voll- und kleinbäuerlichen Güter, wie zu vermuten steht, von Mehrfachbelegung weitgehend verschont blieben, geht aus den Quellen nicht hervor. Jedoch erlauben die 1881er Daten nach 120 Jahren erstmals wieder eine relativ zuverlässige Abschätzung des momentanen Verhältnisses der traditionellen Besitzstände untereinander. Unter der Annahme, die landwirtschaftlichen Stellen seien seit 1869 keiner quantitativen Veränderung unterworfen gewesen, stellte die Bauernschaft Anfang der 1880er Jahre noch 7,32 Prozent der Haushaltungen. Unwesentlich größeres Gewicht beanspruchte die Gärtnerschaft (9,01 %) und selbst die inzwischen 141 Häuser umfassende Gruppe der Kleinststellenbesitzer stand mit nurmehr 40,28 Prozentanteilen zu Buche. Wie die Häusler eineinhalb Jahrhunderte eher, waren die Hausgenossen binnen einer Generation zur dominanten sozialen Gruppe der Gemeinde aufgestiegen, sie, die nach alter Lesart jeglicher ökonomischer Grundsicherung gegen persönliche oder allgemeine Krisensituationen, jeder Voraussetzung für eine Familiengründung entbehrten und die ehemals kaum bis kein politisches Mitspracherecht in der Gemeinschaft besessen hatten. Parallel wuchs auch die Häuslerschicht seit den 1860er Jahren stetig. Neue Bauplätze entsprangen nahezu ausschließlich bestehenden Gütern. Einige Gutsbesitzer, zum Beispiel die Gastwirtswitwe Minna Emilie Sebastian, der Maurer Christian Friedrich Ernst Schmiedel, die Witwe Hulda Henriette Landgraf oder der Gärtner Friedrich Wilhelm Franke, legten nach sebastianischem Muster eine in dieser Hinsicht erhöhte Aktivität an den Tag. Andere wie der Zimmerer Johann August Friedrich, die Tischlergattin Winter oder der genannte Schmiedel be eißigten sich offensichtlich mehr oder minder erfolgreich des Immobilienhandels in kleinem Rahmen, indem sie Parzellen erwarben, darauf Wohngebäude errichteten und sie anschließend gewinnbringend losschlugen. Friedrich wurde in den späten 1880ern zum ersten, umstrittenen Bauunternehmer des Dorfes. Weitere folgten ab 1890 und nahmen bis in die 1910er Jahre nicht unbedeutenden Ein uss (mit 38 Bauplätzen) auf die lokale Immobilienwirtschaft. 788 Erst ab 1885 erbauten vermehrt Zugezogene, meist mit Inwohnervorgeschichte und gleich den zeitgenössischen einheimischen Gründern immer öfter aus den unterbäuerlichen Schichten stammend, in Rußdorf neue Häuser. 786 787 788

Vgl. ThStA Abg, Finanzrechnungen, 19. A. 1 Nr. 20: Brandkataster des Gerichtsamts Altenburg II, 3. Band, M bis R., Nr. 67 Rußdorf, 1849–1879. Vgl. Staats- und Adreß-Handbuch des Herzogthums Sachsen-Altenburg. 1881, Altenburg 1881. Vgl. SächsSTAC, 30104 Amtsgericht Chemnitz (1879–1952), Nr. 6019–6032. – ThStA Abg, Steuer- u. Rentamt Altenburg, Nr. 119–121.

SOZIOSTRUKTURELLER WANDEL

389

Zwischen 1881 und 1890, dem Gipfelpunkt der örtlichen Flurpartikularisierung zu Bauzwecken, wurden 57 neue Wohngebäude errichtet und bezogen. 789 Somit verteilten sich Anfang der 1890er bei einer Gesamtbevölkerung von 2744 790 Personen im Mittel 10,63 Individuen auf jedes Wohnhaus. Bei durchschnittlich fünf Familienmitgliedern nach 1881er Vorbild existierten ca. 548,8 Haushaltungen, 2,13 pro Wohnhaus. Die Größe der Einwohnerschaft betrug ca. 1454, d. h. 52,99 Prozent der Dorfbevölkerung. Im Laufe der 1890er wurden erneut 14 Bauplätze ausgewiesen und laut Brandversicherungsschätzung zur Hälfte mit einem Wohnhaus versehen. 791 Das Bevölkerungswachstum achte desgleichen ab. War die Einwohnerschaft zwischen 1881 und 1890 um 54,07 Prozent gewachsen, nahm sie danach bis 1902 (2985 792) nur um 8,78 Prozent zu. Mitnichten hatte Rußdorf seine ökonomischen oder räumlichen Kapazitätsgrenzen erreicht. Bereits in den 1900er Jahren intensivierte sich die Bautätigkeit abermals. Laut Grundbuch kamen bis 1910 weitere 21, danach bis 1920 sogar 40 Bauplätze bzw. potentielle Wohngebäude hinzu. Simultan stieg die Bevölkerungszahl zunächst auf 3600 793 (1910) an, durchlief im Zuge des Ersten Weltkrieges ein leichtes Tal und umfasste 1920 wieder 3616 794 Personen. Gehörten noch immer durchschnittlich fünf Mitglieder zu jedem Haushalt, bestanden 1910 und 1920 ca. 720 separate Kernfamilien im Dorf. Daran hatten grundbesitzlose Einwohner zu etwa 61,25 bzw. 55,89 Prozent Anteil. Ihre im späten 19. Jahrhundert erlangte gesellschaftliche Hegemonialstellung erwies sich als Dauerzustand. Auch am Ende der Untersuchungsperiode zählten etwa sechs von zehn der inzwischen 3983 795 auf mutmaßlich 797 Haushalte in ca. 332 Wohngebäuden (1930) 796 verteilten Dorfbewohner zum untersten Besitzstand alter Klassi kation. Das traditionelle besitzständische Ordnungssystem machte allerdings schon in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts einer modernen diversitären und beweglichen Gesellschaftsstruktur Platz. Kontinuierliche Lohn- bzw. generell Erwerbsarbeit außerhalb des primären Sektors galt dank der neue Erwerbsperspektiven schaffenden industriellen Entwicklung zunehmend als gleichwertiger Ersatz subsistenzsichernden Landbesitzes statt als notwendige Ergänzung zu geringer Erträge infolge zu kleiner Immobilien. Die unterbäuerlichen Schichten vereinten alle Einkommensklassen vom wohlhabenden Fabrikanten bis zum einfachen Heimarbeiter. Landwirtschaftliche Arbeit prägte das Leben prozentual stetig rückläu ger dörflicher Bevölkerungsteile. Die in Entwicklung begriffene Industriegesellschaft etablierte eine neuartige, vorrangig aber nicht ausschließlich

789 790 791 792 793 794 795 796

Vgl. ThStA Abg, Steuer- u. Rentamt Altenburg, Nr. 119–121. Vgl. Eichler, Bürgertum, S. 32. Vgl. ThStA Abg, Steuer- u. Rentamt Altenburg, Nr. 121. Vgl. Eichler, Bürgertum, S. 147. Vgl. Adressbuch der Landgemeinden des Herzogtums Sachsen-Altenburg. Ostkreis, Altenburg 1910. Vgl. StadtACH, A 50a. Vgl. StALO, Rußdorf Nr. 35. Vgl. SächsSTAC, 30104 Amtsgericht Chemnitz (1879–1952), Nr. 6019–6032.

390

LEBEN IN DER DORFGEMEINSCHAFT

einkommensbasierte Gesellschaftsstruktur weicher Schichtengrenzen und hochgradiger vertikaler Durchlässigkeit in beide Richtungen. Traditionelle Stände verwischten rasch, sodass 1910 keine klare Abgrenzung zwischen Bauer und Kleinbauer mehr erfolgte und 1920 alle agrarisch tätigen Rußdorfer Landeigner ohne Ansehung ihrer Fluren unter dem Schlagwort „Gutsbesitzer“ zusammengefasst lediglich eine separate ökonomische Gruppe neben etwa „Fabrikanten“ und „Gewerbetreibenden“ bildeten. Die soziostrukturelle Entwicklung Rußdorfs verlief innerhalb des Untersuchungszeitraums zusammengefasst in vier Phasen. Zwischen 1550 und 1670 wurden von den bestehenden bäuerlichen Stellen nicht selten im Rahmen eines Erbgangs bebaute Gartenstücke abgespalten. Eine neue, bald quantitativ über die Bauern leicht hinauswachsende kleinbäuerliche Schicht erweiterte die traditionelle dörfliche Klassengesellschaft. Protagonisten dieser ersten Flurpartikularisierung entstammten der parallel schrumpfenden, aus weichenden bäuerlichen Erben zusammengesetzten lokalen Hausgenossenschicht. In einer zweiten Periode wurde die junge dörfliche Mittelschicht im großen Stil um unterbäuerliche Kleinststellen erweitert, die zunächst zwischen 1680 und 1720 ebenfalls von lokalen Hausgenossen auf Gemeindeland etabliert wurden. Die Initiative der dörflichen Schankwirtsfamilie, die aus wirtschaftlichen Erwägungen heraus Häuslerstellen en masse aus ihren Gütern löste und nun vorwiegend an zuwandernde ledige Hausgenossen verkaufte, ließ die junge Hausbesitzerklasse im dritten Dismembrationsabschnitt zwischen 1729 und 1762 von der zahlenmäßig bedeutenden zur quantitativ alle anderen sozialen Gruppen summarisch aufwiegenden Schicht aufsteigen. Die vierte Stoßzeit der Flurpartikularisierung schloss ab den 1870ern an die Bauernbefreiung an. Bis zum Ende der Untersuchungsperiode stellten zahlreiche lokale Grundbesitzer Landstücke für den privaten Wohnhausbau, betrieben von „Kindern“ aller traditionellen Schichten und ab 1885 durch Einheimische und Immigranten gleichermaßen, bereit, infolgedessen die Gruppe der Hausbesitzer exorbitant wuchs. Hohe Zuwanderungsraten 1880–1910, welche gleichzeitig die Inwohnerschicht faktisch aus dem Nichts zur quantitativ dominierenden Klasse erwachsen ließen, begleiteten und befeuerten den Rußdorfer Bauboom der Jahrhundertwende. Über die ersten drei Perioden hinweg wurde die überkommene rurale Sozialstruktur Rußdorfs mehrfach verändert, jedoch erst im Zuge der Industrialisierung nach 1850 völlig überformt. Grundlegende Voraussetzung langfristigen Bevölkerungswachstums und wiederholter Gütervermehrung bei weitgehend lückenloser Nutzung aller Hofstellen sind ein angemessener Nahrungsspielraum und adäquate Erwerbsperspektiven. Professionalisierung, Intensivierung und Industrialisierung der landwirtschaftlichen Produktion, unter anderem Folge wie mittelbare Triebkraft der industriellen Entwicklung Sachsens im 19. Jahrhundert, verursachten massive Produktivitätssteigerungen des primären Sektors. Kontinuierliche ergänzende Nahrungsmittelimporte über fortschreitend verbesserte infrastrukturelle überregionale, transnationale bis globale Netzwerke und daraus resultierende stetig verkürzte Warenverkehrszeiten bzw. sukzessive beschleu-

SOZIOSTRUKTURELLER WANDEL

391

nigter Verkehr sicherten spätestens ab der zweiten Jahrhunderthälfte die Versorgungskontinuität der breiten Bevölkerung auch bei regionalen Missernten. Diese optimalen Grundlagen dürfen als ein hauptsächlicher begünstigender Faktor der Bevölkerungsexplosion unter anderem Rußdorfs dieser Zeit begriffen werden. Auch die Abschaffung des grundherrlichen Wächters über den Immobilienhandel sowie die Gewerbefreiheit wirkten Mitte des 19. Jahrhundert befreiend und demographisch gesehen positiv. Ähnliche Folgen zeitigte mit Sicherheit die Einführung der Kartoffel, der energie- und ertragreichen, dabei relativ einfach zu kultivierenden Alternative zum bislang vorherrschenden Roggen, im 17. Jahrhundert auf kursächsischem Gebiet. Wie stark die folgende Bevölkerungs- und Haushaltszahlenentwicklung den noch begrenzten subsistenzwirtschaftlichen Horizont der dörflichen Agrarwirtschaft am Ende ausreizte, beweist die im historischen Vergleich in Rußdorf beispiellose Hungerkrise Anfang der 1770er Jahre (Kap. 6.2). Die erste Dismembrationsperiode Mitte des 16. Jahrhunderts entbehrt hingegen eines ersichtlichen auslösenden Moments. Weder gibt es Hinweise auf eine Agrarrevolution und daraus folgernde landwirtschaftliche Produktivitätssteigerung in dieser Zeit, noch auf einen plötzlich einsetzenden Bevölkerungsdruck seitens unterbäuerlicher Dorfbewohner. Ebenso wenig scheinen veränderte obrigkeitliche Maßgaben verantwortlich gezeichnet zu haben. Immerhin schrieb Sachsen-Altenburg das Anerbenrecht erst 1556 fest. Galt bis dahin auf dessen Territorium mutmaßlich seit der Kolonisationszeit das Realteilungsprinzip, ist dies für die Dörfer des Limbacher Landes ob gleichen Entstehungszusammenhangs ebenfalls anzunehmen, obwohl es offensichtlich bis 1539 nie oder maximal marginal zur Anwendung kam. Bräunsdorf Nicht weniger als Rußdorf entsprach das Bräunsdorf des 16. Jahrhunderts hinsichtlich seiner Hofstellenzahl wahrscheinlich noch größtenteils dem mittelalterlichen Gründungszustand. Auf dem Boden der Kaufunger Grundherrschaft drängten sich 1544 26 Güter, ein weiteres zinste gen Limbach. Da die 1672 einsetzende Bräunsdorfer Gerichtsbuchüberlieferung in Verbindung mit der Limbacher anfänglich 27 bäuerliche Wirtschaften, 22 Anspann- und fünf Handgüter nennt 797, liegt es nahe, diese mit den vorhandenen Besitzungen Mitte des 16. Jahrhunderts gleichzusetzen. Mehr als die Namensliste der damaligen Bauern ist von der spätmittelalterlichen Bräunsdorfer Gesellschaft nicht erhalten geblieben. Aussagen über deren Beschaffenheit werden so erheblich erschwert bzw. gänzlich unmöglich gemacht. Mit relativer Sicherheit muss die frühe Sozialstruktur des Ortes gleich der zeitgenössischen Rußdorfer als zweistu g begriffen werden. 797

Vgl. SächsSTAC, 30597 Herrschaft Penig, Nr. 183: Die Gemeinde zu Breunsdorff und ihre Lehensjunckere die von Maltitz, 1584–1643, Lehenbrieffs uber Breunßdorff Ao. 1544 (Copia).

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LEBEN IN DER DORFGEMEINSCHAFT

Der bäuerlichen, landbesitzenden Oberschicht stand zweifelsohne eine unterbäuerliche, auf den Hofstellen mitwohnende landbesitzlose Gruppe unbekannter Größe gegenüber. Diese Hausgenossen und Dienstboten entstammten unfraglich majorativ dem ruralen Raum sowie als weichende Erben auch den vollbäuerlichen Familien der näheren Umgebung bzw. vermutlich überwiegend Bräunsdorfs selbst. Auf erste soziostrukturelle Transformationen bzw. Güterteilungen in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts geben die Quellen im Bräunsdorfer Fall keine Hinweise. Stattdessen sind zwischen den überlieferten Listen der ansässigen Gutsbesitzer 1544 und 1593 lediglich namentliche Unterschiede, Ergebnis zwischenzeilich erfolgter Besitzwechsel, feststellbar. Teilten sich Mitte des 16. Jahrhunderts noch 18 „Familien“ die örtlichen 27 Hofstellen, waren es Anfang der 1590er Jahre nur noch 15, wovon sechs auf 18 Gütern saßen. Neun der ehemals bäuerlichen Namen waren inzwischen dieses Status verlustig gegangen, sechs neue hinzugetreten. Um 1600 begann auch die Bräunsdorfer Gesellschaft auszudifferenzieren. Ein Verzeichnis der Pfarreinnahmen 1619 und ein Pfarrfrönerverzeichnis 1629 nennen 28 zinsende Grundbesitzer, zwei mehr als 1593, im Kaufunger Anteil und einen Bauern nebst fünf Häuslern Limbacher Anteils. 798 Analog zur frühen Rußdorfer Güterentstehung gingen diese sicherlich ebenfalls aus vorhandenen Wirtschaften hervor. Weitere neue, vornehmlich kleinbäuerliche Hofstellen entstanden im Laufe des 17. Jahrhunderts unter Kaufunger Gerichtsherrschaft. Die lückenlos rekonstruierbare Gutsgeschichte setzt für die ältesten Stellen erst nach deren Etablierung ein. Das Pfarrlehnhaus, wahrscheinlich ein Tochtergut des pfarrherrlichen Lehnbauern, wurde zum Beispiel 1637 von Georg Heinzig an Jacob Riecher veräußert. Georg Bergkhendel erstand seinen Garten 1643 von Hans Landtgraf, Hans Steinbach erhielt den seinigen 1649 aus den Händen Georg Geißlers. Von 22 Garten- und zehn Häuslergütern, die 1671 zu Beginn der Gerichtsbücher vor Ort existierten, waren sechs Häuslerstellen bereits 1637 vorhanden. Vor 1650 reicht die nachweisliche Besitzerfolge vier weiterer Gärten zurück, bis 1660 werden nochmals fünf Gärtner und zwei Häusler identi zierbar. Im Vergleich zu Rußdorf setzte die erste Flurparzellierung sehr spät nach 1629 mit voller Macht ein. Dennoch fand sie, in deren Rahmen eine starke lokale Kleinbauernschaft auf „privatem“ Boden aus dem Nichts erstand und gleichermaßen unterbäuerliche Hofstellen schon zu einer signi kanten Größe erwuchsen, schon in den 1680ern ihren Abschluss. Obwohl den Bräunsdorfern eine größere Gemarkung zur Verfügung stand und dort von Beginn an eine entsprechend erhöhte Stellenzahl präsent war, rüttelten die neuen Besitzstände anders als in der altenburgischen Exklave nicht an der Dominanz der bäuerlichen Oberklasse. Erst mit vereinzelt im Laufe des 18. Jahrhunderts hinzutretenden Gartengütern überstieg deren Zahl jene der Bauernschaft leicht (30).

798

Vgl. Strohbach, Dorfbuch, S. 219.

SOZIOSTRUKTURELLER WANDEL

393

Die letzten kleinbäuerlichen Stellen erwuchsen nach Einsetzen der Gerichtsbuchüberlieferung. Noch vorhandene Kaufverträge liefern wertvolle Hinweise auf die Herkunft der Flächen und den Händeln zugrunde liegende Motivationen der Kontrahenten. Hans Kühnrich, ein Sohn des 1645 verstorbenen Häuslers Limbacher Anteils gleichen Namens, erstand 1673 eine aus dem Bräunsdorfer Rittergutsland herausgelöste Parzelle von seinem Grundherren, welcher an dieser Stelle als faktisch den übrigen Gemeindemitgliedern gleichgestellter Grundeigner auftrat. Es ist dies der erste zweifelsfreie Beleg einer nicht aus verwandtschaftlichen Beziehungen oder erbpolitischem Lavieren privater Vertragspartner entspringenden eigenständigen sozioökonomischen Position vor Ort. Zwar blickte etwa der Hausbesitz Johann Müllers (1638–1674) auf einen ähnlichen Entstehungszusammenhang zurück, jedoch verweist dessen Bezeichnung als „Gemeindehäuslein“ deutlich auf den Ursprung im Gemeindeland. Einen Kaufkontrakt nach vorgenanntem Muster setzten dagegen Hans Herolt und Georg List 1674 auf. Der Bauer Herolt sah sich acht Jahre nach seiner Hochzeit mit Frau und vier kleinen Kindern in einer prekären Lage. „Tringender Schulden wegen und zu fortsetzung seiner Häußlichen Nahrung“ 799 schritt er zum Verkauf einer kleinen Baustadt nebst einem Scheffel Acker seines Landes. Der Bräunsdorfer Hausgenosse List ergriff die Gelegenheit, gegen 50 Gulden die eigene soziale Position zu verbessern, ohne dabei den sicheren immobilen Rückhalt aufs Spiel zu setzen. Aus dem Dorf Schwaben stammend, hatte er das Schusterhandwerk erlernt und nach Herrnsdorf in Kaufunger Parochie geheiratet. Allda wohnte er bis etwa 1668. Drei Jahre später heiratete List, inzwischen verwitwet, die Tochter eines älteren Bräunsdorfer Gärtners. Um diese Zeit hatte er in Bräunsdorf aus Zwangsversteigerung den Garten Jacob Polsters mit allen Schulden erworben. Für 50 Gulden erkauft, konnte er den Besitz 1674 vor dem Handel mit Herolt für 120 Gulden an Thomas Walther losschlagen. Das letzte Gartengut der primären Bräunsdorfer Dismembrationsperiode zeigte gleichsam eine Spielart innerfamiliärer Gutsgründung. Der Pferdebauer Merten Resch übergab 1681 seinen Besitz an seinen zweiten Sohn Georg und setzte sich 66-jährig zur Ruhe. Vier seiner sieben überlebenden Kinder hatten die Mündigkeit zu diesem Zeitpunkt noch nicht erreicht, der Kurerbe David unterlag mit zehn Jahren der elterlichen Fürsorge. Kaum drei Jahre später ließ der Vater das Auszüglerdasein wieder hinter sich, kaufte seinem Sohn ein Feldstück ab und erbaute auf gartenwürdigem Grund ein neues Wohnhaus. Ob ein Zerwürfnis beider dem Handel vorausgegangen war oder Merten den absehbaren Folgen einer Misswirtschaft zu entgehen suchte, die 1695 zur abermaligen Subhastation des Besitzes führte, kann nur spekuliert werden. Als Nutznießer bzw. Protagonisten der ersten Flurpartikularisierung traten wahrscheinlich in erster Linie weichende Erben aus der örtlichen Bauernschaft respektive einheimische Hausgenossen in Erscheinung. Unter den frühesten bekannten Besitzern 799

HstA-D, 12613 GB Limbach, Nr. 1, fol. 95.

394

LEBEN IN DER DORFGEMEINSCHAFT

der 32 vor 1671 begründeten klein- und unterbäuerlichen Stellen trugen 19 einen der bäuerlichen Familiennamen von 1593. Von den übrigen war der Gärtner Marten Ludwich als Sohn des gleichnamigen Häuslers Limbacher Anteils in Bräunsdorf zur Welt gekommen und hatte sich der 1645 verstorbene spätere Gärtner Hans Künrich zunächst 1629 in ein bestehendes Haus eingekauft. Dessen Bruder Barthol folgte ihm aus Mittelfrohna spätestens in den 1630er Jahren nach. Ebenso wussten die drei Vertreter des Schmiedegeschlechts Polster, Michael (1623–1675), Michel (1600–1657) und Jacob († 1632), Angehörige in Bräunsdorf. Wolff Pulster hatte dort bereits 1622 gewirkt und war Vater Jacobs und wahrscheinlich Michels geworden. Michaels Vater arbeitete dagegen wenigstens 1641 im Wohnort seines Schwiegervaters wohl auf der alten Pulster'schen Schmiede, die schließlich sein Sohn übernahm. Die drei nach 1671 hinzutretenden Gärtner führten die gängige Norm gleichsam nicht ad absurdum. Hans Kühnrich behielt maximal einen Geldbetrag aus dem Verkauf des väterlichen Erbes in Bräunsdorf zurück, verschuldete sich aber bei seinem Bruder Georg, was ihn schließlich seinen Landbesitz kostete. List, obschon zugewandert, hatte sich, Jahre bevor er eine neue Hofstelle etablierte, vor Ort ansässig gemacht und Resch entstammte als ehemaliger Pferdebauer ohnehin der ansässigen Oberschicht. Noch im selben Jahr, da die erste Bräunsdorfer Flurparzellierung an ihr Ende kam, schickte eine zweite differenter Couleur ihre Schatten voraus. Wie in Rußdorf be eißigte sich seit den 1680er Jahren die Gemeinde als treibende Kraft der Hofstellenvermehrung. Während bis dahin nur in Ausnahmefällen Gemeindeland zu Bauzwecken vergeben worden war, geriet dies hernach zur Regel. Dagegen ließen die ansässigen Gutseigner ihr Land nun weitgehend unangetastet. Vor 1700 erhielten allerdings lediglich zwei Personen einen Bauplan. Dem einheimischen Bauernsohn Andreas Aurich wurde 1684 ein Platz, „ein Häusgen dorauff zubauen“, zugewiesen, wofür dieser „statt der Kauffsumma, für jährl. 10 Groschen Erbzins [...] an die Gemeine entrichten sol“. Außerdem verp ichtete er sich, jährlich zwölf Groschen Erbzins Schutzgeld an die Gerichtsherrschaft zu zahlen und acht Tage übliche Handfrondienste zu leisten. 800 Ähnliche Konditionen unterzeichnete der aus Waldenburg zuziehende Samuel Käferstein mit dem Ziel, eine Papiermühle zu errichten. Dafür war er bereit, der Gemeinde einen Taler und ein Viertel Bier jährlich in Addition der grundherrschaftlichen Leistungen abzuführen. Ein regelrechter, bis 1738 währender Bauboom nach dem vorgezeichneten Muster begann 1704. Allein 23 Häuser entstanden binnen dieser drei Jahrzehnte. Abgesehen von einer „Landschenkung“ des Ritterguts an die Bauernwitwe Susanna Resch 1704 und dem Abbau eines Hauses Caspar Friedrichs vom väterlichen Anspanngut um 1722, entstanden alle diese neuen Hofstellen auf Allmendeboden, weswegen die Gemeinde und nicht die freilich Genehmigung erteilende Gerichtsherrschaft als handelnde Partei auftrat. Die begünstigten neuen Häusler waren zum überwiegenden Teil in Bräunsdorf gebo800

Ebd., fol. 263.

Gemeinde Gemeinde Gemeinde Gemeinde Gemeinde Gemeinde Gemeinde

1723 1723 1728 1729 1729 1729

1729

1732 1737 1738

Jacob Wagner Eva Landgraf Michael Herold Hanß Heintzig Samuel Friedrich Einhorn Johannes Friedrich

Daniel Hahn

Christian Windisch Christian Ittner Michael Müller Gemeinde Gemeinde Gemeinde

Gemeinde Gemeinde Rittergut Gemeinde Gemeinde Gemeinde Gemeinde Gemeinde Gemeinde Gemeinde Gemeinde Gemeinde Gemeinde Gemeinde väterl. Spanngut

1684 1686 1704 1708 1708 1708 1709 1709 1709 1715 1716 1717 1717 1717 ca.1722

Andreas Aurich Samuel Käferstein Susanna Resch Samuel Heintzig Hanß Richter Jacob Herold George Schönfeld Marten Heinich Johann David Zeeh August Ilgen Abraham Ittner Michael Rüger George Heinig Hannß Heil Caspar Friedrich

Ursprung der Parzelle

Hausgründung

Name

Schulmeister Müller Bauer unbek.

Bauer Bauer Gärtner Gärtner Bauer Gärtner

Bauer unbek. Gärtner Gärtner Inwohner Gärtner Bauer Gärtner unbek. unbek. Häusler Gärtner Bauer Bauer Bauer

Stand des Vaters

Tabelle 48: Akteure der Bräunsdofer Flurparzellierung 1684–1738

Mahlmüller Schuhmacher Pferdehändler

Tischler/Leinweber

Leinwandhändler Zimmermann Schneider

Bauernwitwe

Leinweber

Pachter

Bauer Schmied

Papiermüller Bauernwitwe Leinweber Tagelöhner

Profession

unbek. 1730 1733

1709

1715

1716 1698

1677 vor 1691 1680 1706 1690 1704 1697 1688 1705 1702 1695 1709 1717 1707 vor 1715

Heiratsjahr

unbek. 2 2

1

5 9 1 5 1 5

2 3 1 3 5 4 4 7 3 6 8 5 2 6 6

Familiengröße (momentan)

Wolkenburg Kaufungen Wüstenbrand

Bräunsdorf unbek. Bräunsdorf Bräunsdorf Mittelfrohna Bräunsdorf Bräunsdorf Bräunsdorf Oberschlema unbek. Kaufungen Wolkenburg Bräunsdorf Bräunsdorf Bräunsdorf / unbek. Bräunsdorf Bräunsdorf Bräunsdorf Bräunsdorf Hallbach Bräunsdorf/ Wolkenburg Bräunsdorf

Herkunft

1732 1708 (der Vater) 1738

1697 (Geb.)

1675 (Geb.) 1679 (Geb.) 1694 (Geb.) 1689 (Geb.) 1729 1689 (Geb.)

in Bräunsdorf belegt seit (Beleg ist nicht Heirat) 1652 (Geb.) 1686 1656 (Geb.) 1681 (Geb.) 1691 1670 (Geb.) 1665 (Geb.) 1661 (Geb.) 1706 1703 1708 1709 1691 (Geb.) 1681 (Geb.) 1682 (Geb.)

SOZIOSTRUKTURELLER WANDEL

395

396

LEBEN IN DER DORFGEMEINSCHAFT

ren und hatten in 19 Fällen mehrere Jahre des Hausgenossendaseins oft auch in Familie vor Ort nachweislich durchlebt. Am Ende der zweiten lokalen groß ächigen Parzellierungsphase standen 28 Bauern ebenso viele Gärtner und 38 Häusler gegenüber. Damit war die dörfliche Mittelschicht endgültig zur quantitativ dominierenden Gesellschaftsgruppe aufgestiegen. Deren Wachstum trug majorativ die nun zu voller Bedeutung gelangende Klasse der unterbäuerlichen Kleinststellenbesitzer. Im Hinblick auf die similäre Rußdorfer Entwicklung ist von einer gleichzeitig fortschreitenden Verringerung des Hausgenossenanteils an der Gesamtgesellschaft auch für Bräunsdorf auszugehen. Folgend verharrte die lokale Sozialstruktur, zumindest die landbesitzenden Stände anbelangend, über fünf Dekaden in beinahe umfassender Statik. Veränderungen erfolgten in lediglich einem Fall und auch da nur andeutungsweise. Gottfried Heroldt, seit 1729 durch Heirat einer Witwe Gärtner in Bräunsdorf, schloss 1747 mit dem Pferdebauer Christian Herold einen Wiederkauf auf 20 Jahre über eine wüste Wiese. Der Anspanner forderte dieselbe nach Ende der Frist nicht zurück, was den Weg für eine potentielle Umnutzung bereitete. Dennoch erstand Gottfrieds Enkel Johann Michael Herold sie 1790 unter anderem unverändert erbkäuflich aus den Händen seines Vaters. Erst der Urenkel Samuel Friedrich Herold scheint sie überbaut und 1843 gewinnbringend veräußert zu haben. Die Bräunsdorfer Sozialstruktur des 18. Jahrhunderts blieb demnach von dem Herold'schen Wiederkauf gänzlich unbeein usst. Eine erneute Flurpartikularisierung geringen Ausmaßes setzte 1784 ein. Binnen 30 Jahren traten acht neue Häuser auf Gemeindegrund hinzu. Die neuen Hofstellenbesitzer standen klar in der Tradition ihrer Vorgänger, waren mehrheitlich verheiratet oder verwitwet, zur Hälfte in Bräunsdorf geboren und ausnahmslos Jahre vor dem Kauf dort ansässig sowie größtenteils in ihrer sozialen Herkunft der dörflichen Oberschicht verbunden. Bis in die 1790er galten gleichermaßen die tradierten Vertragsbestimmungen, ab 1799 forderte die Rittergutsherrschaft keine Handfrontage mehr ein. Zwei der Kontrakte aus der Wendezeit zum 19. Jahrhundert beleuchten die Hausbaupraxis auf Gemeindegrund näher. Einerseits berichtete das Vertragswerk Johann Christian Eberts 1785 gegenständlich des Hauses seiner Frau, dass dieser vormals mit „Bewilligung der Gemeinde ein Platz zu Erbauung eines Haußes angewiesen worden“ 801 sei, wonach eher die Begünstigten selbst als die Gemeinde die Aktivrolle in der Allmendeprivatisierung einnahmen. Der Handel mit Johann Christian Nagel weist indes auf den überdauernden Individualismus innerhalb der normierten Pakte und mag zudem für ein Indiz kommunalen „Sozialengagements“ gelten: Ferner hat sich gedachter Christian Nagel verbindlich gemacht, deßweil er diese Baustelle von der Gemeinde zu Bräunsdorf, ohnentgeltlich erhalten, er, weil der Tagewächter Gottlieb Friedrich etliche Stämme Bauholtz habe, er solche zu Aufbauung seines Haußes mit darzu nehmen,

801

Ebd., Nr. 5, fol. 297b.

397

SOZIOSTRUKTURELLER WANDEL

Tabelle 49: Akteure der Bräunsdorfer Flurparzellierung 1784–1814 Name

Hausgründung

Ursprung der Parzelle

Stand des Profession Vaters

Johanne Sophie Ebert

1784

Gemeinde unbek.

Bauernwitwe

Johann Christian Nagel Johann Heinrich Spieß

1794

Gemeinde Bauer

1799

Carl August Wunderlich Johann Gottlieb Schönfeld Eva Rosina Steinbach

Heiratsjahr

unbek./1784

Familien- Herkunft in Bräunsgröße dorf belegt (momentan) seit (Beleg ist nicht Heirat) 8

Ebersbach 1765

Leinweber 1787

3

Bräunsdorf

Gemeinde Pächter

Tagearbei- 1762/1791 ter

2

Connewitz 1762

1802

Gemeinde Schulmeister

Strumpfwirker

1

Bräunsdorf

1786 (Geb.)

1808

Gemeinde Bauer

Zimmermann

1806

5

Niederfrohna

1801

1809

Gemeinde Bauer

Gärtnerehefrau

1790

9

Langen1790 chursdorf

Johann Michael Macht

1813

Gemeinde Häusler/ Bauer

Zimmergeselle

1

Bräunsdorf

1780 (Geb.)

Johann Christian Friedrich

1814

Gemeinde Häusler

Tagelöhner

7

Bräunsdorf

1781 (Geb.)

1806

1758 (Geb.)

und Gottlieb Friedrichen mit seinem Eheweibe zu sich nehmen und ihnen ein kleines Stübigen mit einbauen auch selbige Zeitlebens beherbergen will. 802

Friedrich, seit beinahe 30 Jahren Gemeindediener, war dem Hausgenossendasein nie entkommen und hatte von elf Kindern aus zwei Ehen keines über zehn Jahre gebracht. Mit 72 Jahren hatte er ein relativ hohes Alter erreicht und mit seiner 62-jährigen Ehefrau eine ungewisse Zukunft vor sich. Nagel und ihn verbanden keine verwandtschaftlichen Fäden. Offenbar brachte die Gemeinde auch über das Druckmittel der Baukonzession beide Parteien in einer vorteilhaften Position zusammen. Nagel sparte an Geldmitteln, Friedrich erlangte eine schriftlich xierte und garantierte Altersabsicherung. Zum Zeitpunkt des Wiener Kongresses 1815 teilte sich die Bräunsdorfer Gemeinde in 28 Bauern, 29 Gärtner, 50 Häusler und eine unbekannte Zahl an Hausgenossen. Erst um 1800 hatten die Kleinbauern ihre vollbäuerlichen Nachbarn quantitativ leicht

802

Ebd., fol. 458.

398

LEBEN IN DER DORFGEMEINSCHAFT

überholt. Obgleich die Kleinststellenbesitzer ihre zahlenmäßige Dominanz ebenfalls auszubauen vermochten, fehlte der Bräunsdorfer unteren Mittelschicht noch immer das in Rußdorf beobachtbare absolute gesamtgesellschaftliche Übergewicht. Selbiges stellte sich auch in den Folgejahren nicht mehr ein. Angesichts ausschließlich punktueller Hausgenossennennungen in den Kirchbüchern ist vor der ersten überlieferten Einwohnerzahl 1834 ob anderweitig fehlender sozialer Erhebungen keine annähernd verlässliche Schätzung der Größe des untersten Besitzstandes möglich. Mitte der 1830er Jahre stellten Inwohner – die Hofstellenzahl hatte seit 1815 abermals keinerlei Wandlung erfahren – etwa ein Zehntel der Gesellschaft. Die Häuslerschaft schlug mit etwa 42,15 Prozent zu Buche. Zusammengenommen wogen die unterbäuerlichen Schichten Bräunsdorfs damit die Bauernschaft erstmals auf. Bei ca. 0,57 Hausgenossen pro vorhandener Hofstelle beherbergte eine jede durchschnittlich insgesamt 5,72 Personen. Trotz im Vergleich verzögerter bzw. deutlich schwächerer lokaler Flurpartikularisierung war das Bräunsdorfer Verhältnis zwischen Bevölkerungsmenge und der Zahl verfügbarer sozialer Positionen nahezu mit demjenigen Rußdorfs Anfang der 1830er Jahre identisch. Zwei Jahre nach der ersten überlieferten Einwohnerzählung beginnend, erfuhr die Zahl der lokalen Grundbesitzer in Bräunsdorf eine letztmalige Erweiterung vor Umsetzung der Agrarreformgesetze respektive der Bauernbefreiung. Abermals wurden vom Gemeindeland binnen sechs Jahren zwölf Hausbauplätze abgetrennt und mehrheitlich in Bräunsdorf geborenen Hausgenossen, Kinder aller Schichten, mit Familie überschrieben. Drei weitere Gutsgründungen erfolgten aus privater Hand. Johann Gottlieb Türpe, seines Zeichens Anspanner, verkaufte 1836 ein Grundstück an den nicht mit ihm verwandten, aber sicherlich ortsbekannten, in Bräunsdorf geborenen Häusler und Zimmermann Johann Samuel Ittner. Johann August Illgen erhielt dagegen als weichender Erbe 1833 eine Parzelle des väterlichen Schenkgutes und der Pferdebauer Christian Friedrich Müller trat 1846 eine Gärtnerstelle anlässlich seines Erbverkaufs an den Schwiegersohn Carl Gottlob Heil ab. Nachdem die Ablösungsverträge 1851 Immobilien frei handelbar gemacht hatten, setzte mit 30-jähriger Verzögerung eine letzte, über 1935 hinausreichende Flurpartikularisierungsphase im Verbund mit einer dahinter zurückstehenden, dennoch vergleichsweise starken Bautätigkeit ein. Zwischen 1880 und 1935 wurden wie in Rußdorf auf Basis individueller Verträge zwischen mehrheitlich fremden Privatpersonen insgesamt 65 Baustellen separiert. Mit oft mehrjähriger Verzögerung entstanden darauf in den 1880er Jahren acht, im Lauf der 1890er zehn, zwischen 1900 und 1919 fünf, in den 1920ern sieben und während der nalen sechs Jahre zwölf Häuser. Obwohl die Nutznießer wie zuvor zu bedeutenden Teilen der Bräunsdorfer Einwohnerschaft zuzuordnen sind, drängten immer mehr Fremde bzw. Zugezogene, darunter sporadisch Bauunternehmer der umliegenden Ortschaften, auf den lokalen Grundstücksmarkt. In der zweiten Hälfte der 1920er Jahre nahm der Bau- und Sparverein Bräunsdorf mit neun

399

SOZIOSTRUKTURELLER WANDEL

Tabelle 50: Akteure der Bräunsdorfer Flurparzellierung 1836–1846 Name

Haus- Ursprung gründung der Parzelle

Stand des Profession Heirats- Familien- Herkunft in BräunsVaters jahr größe dorf belegt (momentan) seit (Beleg ist nicht Heirat)

Johann Michael Steinbach

1836

Gemeinde Gärtner

Zimmermann

Johanne Wilhelmine Uhlig

1836

Gemeinde unehelich

Johann Michael Posern

1836

Gemeinde Hausgenosse

Maurer

Johann Christian Friedrich

1836

Gemeinde Häusler

Johann Samuel Winter

1836

August Friedrich

1814

6

Bräunsdorf

1790 (Geb.)

1

Thierfeld

1836

1818

7

Bräunsdorf

1797 (Geb.)

Häusler/ Strumpfw.

1806

3

Bräunsdorf

1781 (Geb.)

Gemeinde Bauer

Schuhmacher

1825

4

Bräunsdorf

1802 (Geb.)

1836

Gemeinde Häusler

Leinweber

1829

5

Bräunsdorf

1797 (Geb.)

Johann Gottlieb Steinbach

1836

Gemeinde Häusler

Maurer

1828

2

Bräunsdorf

1799 (Geb.)

Johann Samuel Ittner

1836

Anspann- Häusler gut

Leinweber/ Zimmermann

1799

2

Bräunsdorf

1778 (Geb.)

Carl Wilhelm Wunderlich

1837

Gemeinde Einwohner

Strumpfwirker

1834

3

Bräunsdorf

1809 (Geb.)

Carl August Niedner

1837

Gemeinde Pfarrer

1

Bräunsdorf

1808 (Geb.)

August Friedrich Wunderlich

1837

Gemeinde Häusler

Handarbeiter

1832

4

Bräunsdorf

1804 (Geb.)

Johann August Illgen

1838

Schenkgut Bauer

Strumpfwirker

1833

6

Bräunsdorf

1810 (Geb.)

Johann August Pester

1839

Gemeinde Einwohner

Zimmermann

1838

4

Bräunsdorf

1814 (Geb.)

Johann Gottlieb Zschocke

1842

Gemeinde Häusler

Leinweber/ Krämer

vor 1814

4

Niederfrohna

1815

Carl Gottlob Heil

1846

Anspann- Häusler gut

Leinweber

1842

4

Bräunsdorf

1817 (Geb.)

400

LEBEN IN DER DORFGEMEINSCHAFT

erbauten Wohnhäusern daran vergleichsweise starken Anteil. Der hierbei entstehende Wohnraum unterlag allerdings eindeutigen Nutzungsbeschränkungen: [...] die im Grundstück be ndliche Wohnung darf nur mit Zustimmung des Bezirksverbandes der Amtshauptmannschaft Chemnitz und nur an Kinderreiche Familien im Sinne der Verordnung des Arbeits- und Wohlfahrtsministeriums über Baubeihilfen für kinderreiche Familien vom 7. Okt. 1926 und späterer vom Ministerium zu erlassender Vorschriften überlassen werden. 803

Auf 124 Hofstellen verteilten sich 1875 205 Haushalte. Jedes Gut beherbergte im Schnitt 1,65 Familien, die im Mittel 4,98 Personen stark waren. Schon zu diesem Zeitpunkt hatte die Hausgenossenschaft den Häuslerstand vermutlich quantitativ an die zweite Stelle innerhalb der Dorfgesellschaft gedrängt. Von den Mitte der 1870er Jahre 1020 Einwohnern wohnten, dem damaligen Familiengrößendurchschnitt nach zu urteilen, etwa 40 Prozent zur Miete. Weitere 31,74 Prozent zählten in die unterste Landbesitzerschicht. Klein- und Vollbauern trugen nurmehr mit etwa 14,65 bzw. 13,67 Prozent zur Ortsbevölkerung bei. In den Folgejahren wuchs die Einwohnerzahl um 5,88 Prozent auf 1080 Anfang der 1880er sowie nochmals um 107 Personen (9,91 %) bis 1890 an. Die nun durchschnittlich 9,13 Bewohner je Hofstelle aufweisende und nach 1875er Familiengrößensatz etwa 238 Haushaltungen zählende Dorfschaft unterlag in der anschließenden Dekade lediglich geringem Wachstum des Wohnraums, nicht aber der Zahl dort lebender Menschen. Erst zwischen 1900 und 1910 kamen nochmals 166 Bräunsdorfer (13,99 Prozent) hinzu. In dieser Zeit erreichten die Landbesitzlosen vermutlich ein alle anderen dörflichen Schichten alter Lesart aufwiegendes quantitatives Gewicht. Nachdem in der Kriegszeit ein leichter Einwohnerschwund stattgefunden hatte, setzte neuerlicher demographischer Progress um 180 Personen (13,77%) bis 1929 und darüber hinaus ein. Am Ende der „Goldenen Zwanziger“ und des Untersuchungszeitraums verteilten sich 1487 Menschen in ca. 400 Haushalten – 48 mehr als noch 1925 804 – auf etwa 150 separate, bewohnte Flurstücke. Eine Familie umfasste damit im Mittel nur noch 3,72 Personen, ein Wohngebäude 2,67 Haushalte. Die vormals dominante Vollund Kleinbauernschaft schlug mit kaum 15 Prozentanteilen zu Buche und auch die Kleinststellenbesitzer stellten nun weniger denn ein Viertel der Gesellschaft. Hingegen waren Mietwohner über 80 Jahre zur sozial prägenden Gruppe aufgestiegen (62,47 %). Inzwischen umfassten die unterbäuerlichen ruralen Klassen wie in Rußdorf alle lokalen Einkommensgruppen und hatten die Landwirtschaft betreibenden Schichten ihr soziales besitzständisches Renommee und ihre kommunalpolitische Bedeutung weitgehend verloren.

803 804

Vgl. SächsSTAC, 30104 Amtsgericht Chemnitz (1879–1952), Nr. 5770–5774, Nr. 6041. Vgl. StALO, Rat der Gemeinde Bräunsdorf, Nr. 31: Akten der Gemeinde-Verwaltung Bräunsdorf. Volkszählungen. 1916, Volks-, Berufs- und Betriebszählung am 16. 6.1925.

SOZIOSTRUKTURELLER WANDEL

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Die Bräunsdorfer soziostrukturelle Entwicklung zwischen dem 16. und 20. Jahrhundert vollzog sich hauptsächlich in drei Phasen. Wie in Rußdorf, allerdings zeitlich versetzt, ging in einer ersten, von etwa 1600 bis in die 1670er Jahre reichenden Periode aus bäuerlichen Hufen und weichenden bäuerlichen Erben eine neue dörfliche Mittelschicht hervor. Diese bestand größtenteils aus kleinbäuerlichen Gärtnern, umfasste aber bereits eine nennbare Zahl kleinststellenbesitzender Häusler. Nicht selten bestanden bei den individuellen Kontrakten vermutlich enge verwandtschaftliche Bindungen zwischen den Vertragspartnern. Nahezu ausschließlich dürften die Käufer Bräunsdorfer Blut in sich getragen haben und der Gemeinde bekannt gewesen sein. Wenig differierenden Regeln folgte der zweite, dreiphasige Parzellierungsabschnitt. Bräunsdorfer Hausgenossen, meist vor Ort geboren und in Familie, erhielten nach einheitlichen Bedingungen in bis dahin ungekannter Menge 1684–1738, 1784–1814 und 1836–1846 Hausbauplätze von der Gemeinde, ohne Kaufgeld erlegen zu müssen. Im Zuge dessen stieg die unterste dörfliche Landbesitzerklasse zur zahlenmäßig stärksten, jedoch nicht überwiegenden Bevölkerungsgruppe auf. Dabei referenzierten die jüngeren Dismembrationen bereits auf die fortschreitenden gesellschaftsstrukturellen Änderungen, indem zunehmend Kinder des klein- und unterbäuerlichen Milieus, ausgenommen jedoch Hausgenossen zweiter Generation, bedacht wurden. Bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts begrenzten wiederkehrende Parzellierungsphasen die Mitwohnerschaft des Dorfes, welche ständig potentiell Gefahr lief, der kommunalen Armenfürsorge nach Heimatrecht anheimzufallen und die Gemeinde wirtschaftlich zu belasten. Nach 1850 nahm die Hausgenossenzahl hingegen stark zu. Ab 1880 wirkte die dritte und letzte Grundpartikularisierung des Untersuchungszeitraums aus privater Hand dem zwar entgegen, jedoch wenig effektiv und nachhaltig. Mittlerweile nahmen, nach Geburt zu urteilen, Angehörige aller dörflichen sozialen Schichten alter Lesart an der Hausbautätigkeit teil. Eine steigende Menge auswärtiger Bauherren weist eine erhöhte Zuwanderung oder Migration zwischen 1880 und 1935 aus (siehe Kap. 5.7). Seit dem späten 16. oder beginnenden 17. Jahrhundert unterlag die Bräunsdorfer Gesellschaft demnach einer stoßweise vollzogenen langfristigen Ausdifferenzierung, in deren Verlauf das traditionelle rurale Zwei- in ein Vierklassensystem überging. Dabei speisten sich die neuen mittleren sozialen Schichten in ihren Gründungsphasen weitgehend aus der ansässigen Bevölkerung, unmittelbar aus der Hausgenossenschaft, mittelbar aber aus den landbesitzenden Gruppen. Parallel wuchs die Bevölkerung von unten her stetig. Da der Bauernstand seine Größe seit dem 16. Jahrhundert nicht veränderte und auch die jüngere kleinbäuerliche Gärtnerschaft nach 1738 nur noch minimalen Zuwachs erfuhr, sah sich die agrargesellschaftlich traditionell auch dorfpolitisch bestimmende Oberschicht zunehmend in eine Minderheitenposition gedrängt. Dennoch beanspruchte das besitzständische Ordnungssystem bis zur Bauernbefreiung Mitte des 19. Jahrhunderts seiner Transformationen ungeachtet Geltung. Erst nach 1850 löste es

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sich im Zuge der Industrialisierung, dem allgemeinen Wandel von der Agrar- zur Industriegesellschaft auf. Obwohl die Agrarproduktion in Bräunsdorf anders als in Rußdorf bedeutend blieb, saß im frühen 20. Jahrhundert nurmehr etwa ein Siebtel der Gesellschaft auf landwirtschaftlicher Nutz äche und gehörte wenig mehr als ein Drittel überhaupt den vormals dominanten landbesitzenden Gruppen an. Die traditionell klar voneinander abgegrenzten Bauern und Gärtner wurden nach 1900 zunehmend einheitlich als Gutsbesitzer bezeichnet und die Einwohnerzählung 1925 unterließ Besitzunterscheidungen zugunsten beruflicher Klassi zierung, wobei „Landwirtschaft“ den gesamten Agrarsektor umschrieb, gänzlich. 805 Tradierte soziale Strukturelemente spielten 1935 in Bräunsdorf keine Rolle mehr. Sie waren wie in Rußdorf einer modernen pluralistischen Ordnung gewichen. Die Ursachen der wiederholten, nicht aber kontinuierlichen und auf unterschiedlicher Basis erfolgenden Dismembrationen liegen für Bräunsdorf im Dunkeln. Ohne Frage darf ein entsprechender Bevölkerungsdruck ebenso als grundsätzliche Bedingung dieser Vorgänge vorausgesetzt werden wie ein ausreichender Nahrungsspielraum, ohne den eine dauerhafte Bewirtschaftung insbesondere der kleineren, nicht oder lediglich bedingt subsistenzfähigen Gärtner- und Häuslergüter auch bei ständigem Besitzerwechsel kaum möglich gewesen wäre. Freilich können für den ausschweifenden Immobilienhandel ab 1880 in Anlehnung an das Rußdorfer Beispiel die lebensmittelwirtschaftlichen Folgen der überregionalen industriellen Entwicklung und die damit einhergehende intensivierte Vernetzung entfernter Wirtschaftsräume und Beschleunigung der Wirtschaftskreisläufe bzw. des Warenverkehrs verantwortlich gemacht werden. Gleichfalls spielte die Einführung des alternativen Grundnahrungsmittels der Kartoffel sicherlich eine nicht zu unterschätzende Rolle für die zahlreichen Hausgründungen auf Gemeindeland just ab den 1680er Jahren 806. Dass zwischen 1680 und 1850 Abspaltungen von bestehenden Hofstellen nahezu ausblieben, mochte in fehlender Bereitschaft der Grundbesitzer, die andernfalls ihre Lebensgrundlage bedroht sehen mussten, oder Konzessionsunwillen der Grundherrschaft begründet gewesen sein. Gründungsereignisse auf Gemeindegrund bargen hingegen viele Vorteile. So vermochte die Herrschaft Kaufungen den ihr zustehenden Zins ohne eigenen Aufwand zu vermehren und die Gemeinde sah sich in der Lage, bedürftige oder potentiell bedürftige Mitglieder zu guten Konditionen in einen höheren, mutmaßlich sichereren Stand zu setzen. Die drei Stoßzeiten der zweiten Parzellierungsphase reagierten wiederum wahrscheinlich auf ein Anund Abschwellen des Bevölkerungsdrucks. Mehr noch als in Rußdorf, wo die Überlieferung zumindest für einige Güter der ersten, spätmittelalterlichen Flurpartikularisierung den Entstehungszusammenhang bis in

805 806

Vgl. ebd., Volkszählungen 1916–1925. Die Erstnennung der Kartoffel in den Bräunsdorfer Quellen datiert auf das Jahr 1717: „Esche aber bekommet von Ittnern annoch 6 Bäthe Kraetz und 2 Bäthe Erdäpffeln.“ – HstA-D, 12613 GB Limbach, Nr. 1, fol. 266.

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die Gegenwart festhält, liegt diese Phase in Bräunsdorf ob fehlender Quellen fast völlig im Dunkeln. Freilich ist der Ursprung der neuen Stellen in vorhandenem Privatland und die soziale Herkunft der frühen Besitzer in lokalen Oberschichten nachvollziehbar anzunehmen und deuten die wenigen Quellen ein breites motivatorisches Spektrum von nanzieller Not der Verkäufer über die Ab ndung weichender Erben bis hin zum Ausbedingen eines immobilen Altensitzes Erblassender an, doch lässt all dies die Frage offen, warum sich die Gärtnerschaft hauptsächlich in einem spezi schen, bei beiden Untersuchungsorten ähnlichen Zeitfenster herausbildete. Weder ist für die vorangegangenen Zeiträume seit der Kolonisation von einem geringeren Bevölkerungsdruck oder vom Ausbleiben genannter und weiterer denkbarer Motivationen auszugehen noch sollte der Nahrungsspielraum des 16. und 17. Jahrhunderts gegenüber etwa dem 15. lokal verschiedene Ausmaße angenommen haben. Hinweise auf ursächliche obrigkeitliche Regulierungs- oder Deregulierungsmaßnahmen fehlen gleichfalls. Fungierte die im 15. und 16. Jahrhundert in Sachsen statt ndende Verbreitung des Massengewerbes der Leinweberei als auslösendes Moment, indem nun Besitzer kleinbäuerlicher Güter durch nebenberuflichen Gewerbetrieb die Möglichkeit erhielten, subsistenzsichernd von nach gängiger Auffassung unzureichenden Acker ächen zu wirtschaften?

8.2 SOZIALE ABSICHERUNGSMECHANISMEN Das Streben nach Sicherheit, nach Absicherung der eigenen Existenz gegen die Unwägbarkeiten des Lebens, ist eine Grundmotivation jedweder Vergesellschaftung. Alle Sozialsysteme tragen spezi sche Schutzmechanismen in sich, welche wahlweise Verwandt- oder Nachkommenschaft, Kernfamilie, Haushalt, Besitz, Nachbarschaft, Kommune oder Staat bzw. ein Konglomerat mehrerer bis sämtlicher Elemente in die P icht nehmen. Unter anderem bestehen Interdependenzen zwischen dem Wesen der Sicherungsmaßnahmen und dem gesellschaftlichen Aufbau, den geltenden biographischen Normvorstellungen bzw. Idealbildern, der gebräuchlichen Wirtschaftsform etc. sowie nicht zuletzt der Bevölkerungsweise. 807 Dies wirft die Frage auf, ob und ab welchem Transformationsgrad die Rückwirkungen veränderter sozialer Sicherungsmechanismen sichtbare demographische Aus807

Übernehmen zum Beispiel Kinder die Versorgung ihrer Eltern und greifen andere gesellschaftliche Instanzen erst nachgeordnet sowie im Zweifelsfall nur existenzsichernd ein, darf von intensiven Reproduktionsbestrebungen und einem gleichzeitig hohen Stellenwert des Kindes bzw. der emotionalen Eltern-Kind-Bindung ausgegangen werden. Liegt die Verantwortung zur bedarfsfälligen Versorgung nicht bei der Familie, sondern in erster Linie bei Genossenschaften oder der Gesellschaft selbst, kommt der eigenen Reproduktion unter Umständen ein geringerer Stellenwert als der Beschaffung nanzieller Mittel zu. Ehepartner und Kinder mögen der persönlichen Karriere gar im Wege stehen bzw. gefühlsmäßig zu viel Zeit und Verantwortung einfordern. Zudem erscheint es in diesem Bild einfach, die „Fortp anzungsp icht“ den übrigen Gesellschaftsmitgliedern zuzuweisen.

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wirkungen zeitigen sowie, welche Ausmaße diese annehmen können. In Deutschland forderte die beschleunigte industrielle Entwicklung, die Erhebung weitgehend ungeregelten marktorientierten Wirtschaftens zum bestimmenden ökonomischen Prinzip und der vom urbanen Raum aus um sich greifende Pauperismus im 19. Jahrhundert eine Reformation des Umgangs mit Alter, Invalidität, Krankheit, Arbeitslosigkeit und Armut ein. Die aus Notwendigkeit und politischen Machtkämpfen erwachsende Bismarck'sche Sozialgesetzgebung der 1880er/1890er Jahre fundierte nicht allein das moderne deutsche staatlich gestützte Wohlfahrtssystem. Sie wurde zudem just kurze Zeit vor dem demographischen Übergang in Rußdorf und Bräunsdorf um 1890/1900 etabliert. Verband beide Entwicklungen mehr denn reine Synchronität, müssten tradierte soziale Absicherungsmaßnahmen in den Dörfern zuvor massiv an Funktionalität oder zumindest Bedeutung verloren haben und ebenso rasch wie umfänglich durch die neuen staatlichen Sozialmaßnahmen adäquat ersetzt worden sein. Dies abschätzen zu können, bedarf es zunächst einer Betrachtung des traditionellen ruralen Systems. Bei Überlieferungsbeginn im 16. Jahrhundert ruhte soziale Sicherheit in den betrachteten Ortschaften nach dem im gesamten Gebiet des Heiligen Römischen Reiches üblichen Prinzip auf drei Säulen: Familie, Besitz und Gemeinde. Die Entscheidung darüber, auf welche dieser zurückzugreifen war, orientierte sich am Einzelschicksal des Bedürftigen respektive dessen spezi schem sozialem und nanziellem Hintergrund. Eine Hofoder Häuslerstelle zu besitzen, war auf dem Dorf Grundlage jeder persönlichen Absicherung im Erwachsenenalter. Dabei galt theoretisch, je größer oder aber wertvoller der Landbesitz, desto höher die Chance auf probate Kompensation einer persönlichen Krise. Grund und Boden konnte mit Hypotheken belastet und verpachtet werden, Ackerboden und Weide ächen gewährleisteten selbst in schlechten Jahren mindestens zu einem gewissen Grad die Nahrungsmittelversorgung, Gehölze lieferten den für Wärme, Nahrungsmittelherstellung und -verarbeitung sowie einige handwerkliche Tätigkeiten zwingend notwendigen Brennstoff und boten Baumaterialien, die auch gehandelt werden konnten. Selbst Häusler waren mit ihrem geringen Grund deutlich selbstständiger als jeder Hausgenosse. Nicht umsonst setzten Heirat und Familiengründung nach überkommener Manier Stellenbesitz voraus. Ohne diesen führten Krankheiten und Unfälle, vom Alter ganz zu schweigen, schnell zur Erwerbslosigkeit, welcher der Bettelstab nicht fern lag. Selbst mit dem eigentlich von den gesellschaftlichen Regulierungsmechanismen vermiedenen familiären Rückhalt standen die Aussichten für Mitwohner schlecht. In der Regel oblag es den nächsten Verwandten, im Notfall einzuspringen. 808 Erst wenn die Familie nicht zur Hilfeleistung in der Lage war, kam die Verantwortung der Gemeinde, in welcher der Bedürftige heimatberechtigt, d. h. bis 1871, wo er geboren und

808

Siehe zum Beispiel: „Martha Caspar Künrichs mutter, von Limpach bürdig, so vor etlichen wochen zu Ihrem Sohn komen, seiner in der kranckheit zu p egen, ist an der hauptkranckheit verschieden.“ – EPA Kaufungen, KB I, Beerdigungsregister Rußdorf, Beerdigungen 1602, Nr. 3.

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danach, wo er ansässig war, zum Tragen. 809 Nach welchem Prinzip die frühe kommunale Armenp ege in den Untersuchungsorten funktionierte, ist unklar. Ein Gemeindeoder Armenhaus verschweigt die Überlieferung gleich einer Armenkasse jeweils bis zum ausgehenden 18. Jahrhundert. Vermutlich wurde zuvor beim selten auftretenden Bedarf von pfarrherrlicher Seite zu Spenden aufgerufen. Einheimische Bettler sind bis auf eine Bräunsdorfer Ausnahme im Hungerjahr 1772 810 zumindest nicht belegt, durchziehende hingegen sporadisch. 811 Unmündige Kinder, deren Eltern eine Stelle besaßen, unterlagen ihrer Fürsorge, sofern sie ledig waren, bei ihnen wohnten und das 21. Jahr noch nicht überschritten hatten. Doch auch später konnte das Elternhaus sicherlich in den meisten Fällen für einen Nothafen gelten. Die Versorgungsp icht war bei Grundbesitzern allerdings in Teilen an das potentiell mehr oder weniger subsistenzsichernde Gut gebunden. Starb der Vater und veräußerten die Erben Haus und Hof, wurden Zucht- und Kleidergeld sowie Ausstattung und eventuelle Ausbezahlung jedem Kind schriftlich zulasten des Kaufpreises unter exakter Festlegung der Zahlungsmodalitäten zugesichert. Dies geschah auch, wenn der Besitzwechsel familienintern und zu Lebzeiten des zukünftigen Erblassers vollzogen wurde. Sofern nicht Geldnöte bzw. Schulden einen Verkauf oder gar eine Versteigerung motivierten und die Verkäuferfamilie nicht auf eine andere Stelle umzog, wurde die auf dem Besitztum gründende soziale Sicherheit ihrer Mitglieder vertraglich auf bestimmte Zeit an das Gut selbst gebunden. Schließlich ging mit dem Handel jedes Zugriffsrecht der Verkäufer darauf verlustig. Die Absicherungspraxis kannte zwei Spielarten, welche sich aus der innerhalb der Dörfer geltenden biographischen Norm landbesitzender Schichten herleitete. Hatte ein Paar, in Besitz einer oder mit begründeter Aussicht auf eine Hofstelle geheiratet, folgten idealiter Reproduktion und Aufzucht der Kinder. Das Gut wurde möglichst lange von den Eltern selbst bewirtschaftet, um es dem (Kur-)Erben zu erhalten und um zugleich unabhängig zu bleiben. Wenn der Erbe das 21. Jahr und mit ihm seine Mündigkeit erreichte, stand theoretisch einem Rückzug auf das Altenteil nichts im Wege. Je nachdem, in welchem Alter die Heirat erfolgte, wie viele Kinder aus der Ehe hervorgingen, ob der Kurerbe überlebte und welches Kind im Zweifelsfall als dessen Nachfolger bestimmt wurde, trat dieser Punkt früher oder später ein. Entsprechend schwankte die Bereitschaft der Eltern, sich aus der Verantwortung zum fraglichen Zeitpunkt direkt zurückzuziehen. 809 810

811

Vgl. Gestrich, Familie, S. 47f. Der Häusler und Tischler Christian Petzold († 1772) sah sich durch die Subsistenzkrise zur Bettelei genötigt. Als Grundbesitzer hatte er vermutlich ohnehin keinen Anspruch auf die kommunale Unterstützung, während die allgemeine Notlage alle Wohlfahrtsmaßnahmen ad absurdum führte. – Vgl. EPA Bräunsdorf, KB I, Beerdigungen 1772, Nr. 11. Siehe: „Christian, ein Bettelman oder der so genannte alte Dreheleyerman“. – EPA Rußdorf, KB I, Beerdigungen 1732, Nr. 14. – „ein fremder u. armer Mann, Namens Johann Georg Sägemüller“. – EPA Bräunsdorf, KB I, Beerdigungen 1785, Nr. 2. – „Dieser Gottfried Wagner kam wenig zu Hause sondern ging auswärts betteln [...].“ – ebd., Beerdigungen 1794, Nr. 3.

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Meistens wurde die Wirtschaft bis zum Tod eines Elternteils fortgeführt und erst danach übergeben. Stand der designierte Erbe dann bereits im mündigen Alter, erbte er beim Tod des Vaters sofort via Erbkaufvertrag mit den anderen Hinterbliebenen und durfte beim zuerst erfolgenden Tod der Mutter auf den Rückzug des Vaters zu gleichen Konditionen spekulieren. Lag hingegen sein 21. Geburtstag noch vor ihm, konnte er das Erbe beim Tod des Vaters unter Umständen mit einem Beistand antreten. Andernfalls suchten die übrigen Hinterbliebenen in der Regel die Wirtschaft bis zur Reife des Erbnehmers gemeinschaftlich zu führen. Seltener heiratete die Mutter neu, was meist entweder einen Wiederkauf des Stiefvaters oder aber die entschädigte Enterbung des eigentlich Vorgesehenen nach sich zog. Eine Verwitwung ließ den Vater bei jüngeren Jahren bzw. mittlerem Alter oft abermals zur Ehe schreiten. Auch dies mochte dem designierten Erben seine Position streitig machen, wenn aus der neuen Verbindung überlebende Stiefgeschwister hervorgingen. Der Wille, dem eigenen Besitz so lange wie möglich vorzustehen, tritt in zahlreichen Kaufkontrakten zu Lebzeiten der Eltern deutlich hervor. Einen möglichen Beweggrund, den eigenen Tod dennoch nicht abzuwarten, gab der an Nerven eber leidende Rußdorfer Christian Esche (1750–1807) zwei Monate vor seinem Ableben zu Protokoll: [W]elchergestalt er gegenwärtig seit einiger Zeit krank sey und bey Verschlimmerung seiner Umstände sich seines Endes und Ablebens gewärtig halten müße, dahero wolle er, damit nach seinem Ableben unter seinen Kindern und Erben, kein Zank und Streit entstehen möge, seine Angelegenheiten in gehörige Ordnung bringen. 812

Dessen ältester Sohn und Gutsnachfolger zählte damals bereits 29 Jahre. Johann Michael Herold (1735–1790) aus Bräunsdorf verkaufte, „kranck und lagerhaft“, sogar erst drei Tage vor seinem Exitus an den zugegeben noch unmündigen 18-jährigen Kurerben. 813 Wer mit einer besseren Gesundheit gesegnet und nicht von einem plötzlichen Tod überfallen wurde, wirtschaftete oft bis ins „hohe Alter“, wobei sich dieser Terminus einer sehr freien Anwendung erfreute. Hans Esche (1661–1737) verkaufte seinen Rußdorfer Garten 1725 „wegen seines hohen Alters und [weil er] Schwachheit halber der Haußhaltung nicht länger vorstehen kann“ an seinen einzigen, 34-jährigen und bei ihm wohnenden Sohn, mit dessen Hilfe er schon seit dem Tod seiner Ehefrau vier Jahre zuvor gewirtschaftet hatte. Ein tatsächlich ausgesprochen hohes Alter wies demgegenüber Hans Steuter (1637–1728) in Rußdorf auf, der nach einem Jahr im Witwenstand 1724 an seinen 27-jährigen Enkelsohn verkaufte. Ohne Frage spielte neben empfundener Notwendigkeit bei einigen die Angst mit, aufs Altenteil und in die Nutzlosigkeit abgeschoben zu werden. Desgleichen mögen Generationenkon ikte oder Unfähigkeit bzw. Unwillen der Alten, das Heft aus der Hand zu geben, manchmal entscheidend ge812 813

ThStA Abg, Amtsgericht Altenburg, C I Loc. 1, Nr. 441, fol. 264. HstA-D, 12613 GB Limbach, Nr. 5, fol. 368b.

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wesen sein. Merten Herolt († 1690) zog sich erst als alter, gebrechlicher Witwer 1689 aus dem Tagesgeschäft zugunsten des jüngsten 37-jährigen Sohnes zurück. Ebenso harrte Michael Schüßler (1609–1689) bis zu seinem 77. Jahr aus, bis „ihm als einen alten, fast blindt- und tauben Witber nunmehro länger Haußzuhalten unmöglichen fallen wolle“ 814, ehe er seinem 25-jährigen Sohn aus zweiter Ehe die Führung überließ. Eine zweite Möglichkeit, den Erbkauf zu vollziehen, sich aber die Haushaltung nach eigenem Ermessen auf unbestimmte Zeit vorzubehalten, zog nur eine marginale Charge aller Gutsbesitzer in Betracht. Unabhängig von Form und biographischem Zeitpunkt eines Erbkaufs galten vom späten 17. Jahrhundert bis Mitte des 19. Jahrhunderts besitzstandsübergreifend dieselben Regularien. Selten und zumeist bei geringen Summen wurde der ausgehandelte Kaufpreis mit einem Male bar bezahlt. Der Norm entsprach die Erlegung eines oder mehrerer Angelder höheren Betrags zu festgesetzten Terminen im halb- bis ganzjährigen Abstand, worauf die Ableistung des restlichen Kaufgeldes in jährlich zahlbaren Tagzeitgeldern minderer Höhe folgte. Die Adressaten wurden in jedem Fall minutiös mit dem Zeitpunkt und dem zu erwartenden Anteil im Kaufkontrakt aufgeführt. Neben der teilweise in Naturalien erfolgten Ausbezahlung weichender Erben und der Begleichung sonstiger situationsbedingter Posten regelten die Erbkaufverträge schließlich die soziale Sicherheit der Verkäuferfamilie. Der noch lebende Vorbesitzer bzw. das -paar – Erbgemeinschaften ausgeschlossen – bedingte sich zur Lebenssicherung einen Auszug in Sachleistungen und Privilegien aus. Im frühen 17. Jahrhundert war eine eher allgemeine Verp ichtung des Käufers, die Verkäuferpartei „mit eßen und trincken uber seinen tische [zu] vorsehen, so gut als ihm unser Herr Gott bescheren wirdt“, welche gegebenenfalls um einzelne, aufs Jahr gerechnete Gaben aufgestockt wurde, nicht unüblich. Exemplarisch musste Nicolaus Bretschneider seinem 91-jährigen Vater Jacob 1604 in dem zitierten Vertragswerk zusätzlich das Folgende zugestehen: Beyhalbem soll er ihm auch geben zwey Schock Eyer, zwey Schock Kese und zwe Kannen Butter und 3/8 Lein zu seen, und mit außzuarbeiten schuldig sein. Mit Bettgewand soll der Keufer seinem Vater auch versehenn. 815

Noch im Laufe desselben Jahrhunderts setzte es sich aber durch, stattdessen sehr konkrete, von den geernteten Erträgen fortschreitend losgelöste jährliche Auszugsleistungen ebenfalls „ad dies vitae“ zu de nieren. Entsprechend hatte die Bräunsdorfer Pferdebauernwitwe Maria Macht (1626–1691) laut Handel ab 1677 von ihrem Sohn Hans Macht (1653–1711) ein Scheffel Korn, ein Maß Weizen, vier Kannen Butter, zwei Schock Käse, ein Schock Eier sowie die Aussaat

814 815

ThStA Abg, Amtsgericht Altenburg, C I Loc. 1, Nr. 143, fol. 96. Ebd., Nr. 136, fol. 17.

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eines selbst herbeigeschafften Sipmaß Lein zu gewärtigen. 816 Inbegriffen war immer die „freie Herberge“ in einer eigens angebauten Ausgedingestube oder, in der großen Mehrheit der Fälle, in einer separaten Kammer, der Wärme halber nicht selten über Wohnstube oder Stall. Jüngere Verträge des späteren 18. und des 19. Jahrhunderts gingen noch einen Schritt weiter und räumten den Altbesitzern die zuvor möglicherweise inhärenten Rechte des freien Waschens und Backens bei Käufers Feuerung, „im Krankheitsfall das Bett in die Stube schlagen zu dürfen und auf diesen Fall freye Wartung und P ege“ 817 sowie, bei Verwandtschaft mit dem Käufer, mitunter auch einen Winkel in der Wohnstube am Fenster, neben dem Ofen oder hinter der Tür explizit ein. Gesetzt den Fall, der gegenwärtige Eigentümer vertrüge sich nicht mit seinen Auszüglern, bestimmten manche Verträge Ausgleichszahlungen oder die Lieferung der Naturalleistungen an den neuen Wohnort des bzw. der Begünstigten auf Kosten des Schuldners. Desgleichen konnte dieser statt eigener P egeleistung eine „Wärterin“ anstellen. Zwangsläu g unterlagen die Auszüge in ihrem Umfang erheblichen Schwankungen, da sie sich an die zum Zeitpunkt des Abschlusses verfügbaren Ressourcen einer Hofstelle anlehnten. Auf der anderen Seite teilten sie sich oskelhafte Grundelemente wie die freie Herberge und die Betreuung im Krankheitsfall. Gemein war ihnen gleichfalls die Grundintention, die Versorgung der Auszügler im Alter zu gewährleisten und sie bei Krankheit oder Lagerhaftigkeit abzusichern. Damit nahm das Auszugsprinzip die Grundgedanken der modernen Alters- und Krankheitsversicherung vorweg. Weiterhin bot es bei Invalidität Rückhalt. Wer im Erwachsenenalter eine die Versorgung aus eigener Kraft stark einschränkende oder gänzlich unmöglich machende physische oder psychische Behinderung erwarb, konnte sich als Stellenbesitzer aus der Wirtschaft in den Auszug zurückziehen. War das Gebrechen hingegen angeboren oder trat noch während der Kindheit bzw. vor der Weitergabe eines elterlichen Gutes bei eigener Grundbesitzlosigkeit auf, wurden die Betroffenen üblicherweise aus ihrem Heimathof versorgt und bei dessen Verkauf gleichfalls mit einem Auszug bzw. einem einfachen Mitwohnrecht inklusive einem allgemeinen Versorgungsanspruch bedacht oder wahlweise extra ausbezahlt. Wie die klassischen Auszüge galten diejenigen Behinderter lebenslänglich, sofern keine Heirat und mit ihr der Übertritt in eine neue Versorgungsgemeinschaft die Verhältnisse neu ordnete. Wie vorher angemerkt, blieben die schriftlich xierten Leistungsversprechen an das jeweilige Gut bis zur einseitigen Vertragsauflösung seitens des Begünstigten fest gebunden, selbst wenn der Besitz an völlig fremde Parteien überging. Beispielsweise verkaufte Samuel Steudtmann (1697–1786) seinen Rußdorfer Garten, den er vier Jahre zuvor von seinem Großvater erworben hatte, an seinen Schwager. Dieser musste unter anderem versprechen, „den alten Groß Vater zeit Lebens freye Herberge, solchen mit reinlicher Wä816 817

HstA-D, 12613 GB Limbach, Nr. 1, fol. 165. ThStA Abg, Amtsgericht Altenburg, C I Loc. 1, Nr. 486, fol. 18b.

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sche zu versehen, demselben kindlichen verp egen und warten, bis an sein Ende“. 818 In gleicher Weise erhielt „die annoch lebende Auszüglerin, Anna Sophia verwitbete Kühnrichin“ 1795 bei abermaliger Veräußerung ihres ehemaligen Hauses an mit ihr nicht verwandte Personen „nach vorigen Kaufe [...] die freye Herberge Zeit Lebens, und nöthigen Gelaß in Käuferin Stube zu ihrer Arbeit, auch bey Käuferin Holtz und Feuer frey und ohnentgeldlich mit zu kochen und zu waschen“ etc. Zusätzlich sollte die Käuferin „sie auch gegen billige Vergütung“ – ein Zugeständnis an die mangelnden Blutsbande – „warten, p egen, und mit reinlicher Wäsche versehen“. 819 In Bräunsdorf verkaufte Johann Christian Esche (1706–1781) sein Mühlengut 1767 an einen Schwiegersohn. Zwei Jahre später erbte es dessen Vater, der es an die Witwe verkaufte, welche es schließlich 1775 nach sechsjähriger Ehe an ihren zweiten Ehemann veräußerte. Der anfangs ausbedungene Auszug Esches blieb von den Besitzübergängen völlig unbeein usst. 820 Ein gleichartiges Beispiel gab Johann Gottlieb Stiegler (1800–1860), von dem das Rußdorfer Kirchbuch berichtet, er „war ein von früher Jugend an elender u. so gebrechlicher Mensch daß er kaum gehen konnte“. 821 Anlässlich der Übergabe des elterlichen Gartens an einen Schwager 1834 wurde ihm lebenslängliche Versorgung in dem Gut zugesprochen, für die pauschal 200 von 900 Talern Kaufpreis standen. 822 Der nächste Käufer Christian Friedrich Sonntag aus Limbach, der in keinem nahen Verwandtschaftsverhältnis zu den Vorbesitzern stand, musste die Verp ichtungen einschließlich des Auszugs der noch lebenden Eltern 1846 übernehmen und der diesmaligen Verkäuferfamilie zusätzlich einen einjährigen solchen verstatten. 823 Johann Christoph Martin kaufte die Hofstelle 1850, zu welcher Gelegenheit die darauf lastenden Verp ichtungen abermals bekräftigt wurden. So hat der Besitzer dieses Gartens [...] auch den Verstorbenen auf seine – des Käufers – Kosten beerdigen zu lassen, kurz in keinem Falle die hiesige Armenkasse, wegen des gebrechlichen Stieglers in Anspruch zu nehmen. 824

Inwiefern das Auszugswesen die Versorgung insbesondere der ehemaligen Kleinstbesitzer tatsächlich sicherstellte, geht aus den Quellen freilich nicht hervor. Es darf jedoch davon ausgegangen werden, dass es sich um ein realitätserprobtes, funktionales System handelte. Bäuerliche Subsistenzwirtschaften neigen nicht dazu, Ressourcen zu verschwenden. Ebenso wenig belohnen sie aber unsoziales Verhalten. Wer von seiner Ab ndung nicht leben konnte, wäre unfraglich der Armenversorgung anheimgefallen 818 819 820 821 822 823 824

Ebd., Nr. 166, fol. 43. Ebd., Nr. 233, fol. 5b. HstA-D, 12613 GB Limbach, Nr. 5, fol. 123b. EPA Rußdorf, KB X, Beerdigungen 1860, Nr. 12. ThStA Abg, Amtsgericht Altenburg, C I Loc. 1, Nr. 482, fol. 329b. Ebd., Nr. 497, fol. 142b. Ebd., Nr. 503, fol. 626.

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und zur Belastung der ganzen Gemeinde geworden. Dies konnte nicht im Interesse des hochkomplexen, auf verwandt- und nachbarschaftlicher Fürsorge basierenden dörflichen sozialen Netzwerks liegen. Noch weniger geben die Quellen Anhaltspunkte für ein systematisches Vorkommen solcher Fälle. Unzulänglichkeiten der Auszüge federten bzw. darüber hinausgehende Bedürfnisse deckten die Tagzeitgelder zumindest bei ehemaligen Gutsbesitzern ab. 825 Genügten diese in einem Jahr nicht, bestand durchaus die Möglichkeit, einen Vorschuss der jährlichen Ratenzahlungen einzufordern. Auf eine Altersabsicherung durften hingegen weichende Erben ohne eigenen Gutsbesitz nicht hoffen, woraus sicherlich ein gesteigertes Streben nach Verheiratung und Sesshaftigkeit erwuchs. Solange sie ledig blieben und „in Diensten“ ein ständig befristetes, unstetes Einkommen hatten, wurde ihnen im Stammgut zumeist der freie Aufenthalt nach dem endjährlich üblichen Abzug zumindest für zwei Wochen, seltener ausdrücklich bis zu einer neuen Anstellung gewährt: „ferner verspricht Käufer seinem Geschwister, wenn sie sich zu Dienst begeben mögten, und zu Weyhnachten dienstlos würden, 14. Tage mit Kost zu versehen.“ 826 Außerdem gewährten manche Kontrakte Zu ucht im Krankheitsfall: „Nicht weniger auch, wann sie krank oder lagerhaft werden solten, aufzunehmen, und eine Bettstelle vor sie in die Stube zu schlagen, und zwar wenn die Krankheit nicht ansteckend oder eine Seuche ist.“ 827 Obwohl die Privilegierung weichender Erben von Vertrag zu Vertrag schwankte, trugen die schriftlich xierten Rechte ebenfalls Charakteristika moderner sozialer Versicherungspraxis. Zweifellos sicherten sie weniger als Auszüge sowie nicht grundlegend gegen individuelle Notlagen ab. Dies war aber gar nicht notwendig, da im Zweifelsfall bei Armut ohnehin nach geltendem Recht Familie oder Gemeinde in die Verantwortung gezogen wurden. Angesichts über den gesamten Untersuchungszeitraum bis 1850 an Detailreichtum gewinnender, dabei meist auf augenscheinlich normierte Formulierungen zurückgreifender Vertragswerke stellt sich die kaum beantwortbare Frage, ob die stetig an Quantität zunehmenden sozialen Sicherungsbestimmungen Realitäten schufen, die Leistungen also zwischen 17. und 19. Jahrhundert stark ausgeweitet wurden, oder traditionelle Realitäten fortschreitend kleinteiliger referierten und Gewohnheitsrechte dadurch zu einklagbaren Rechten erhoben. Das hier überblicksartig dargestellte ursprüngliche Sozialwesen Rußdorfs und Bräunsdorfs war auf das rurale sozioökonomisch statische mittelalterliche System ef zient zugeschnitten. Es basierte auf Subsistenzwirtschaft, stellengebundender Vermehrung und in erster Linie familiärer Verantwortung. Landbesitzlose bzw. landbesitzlos bleibende Ehepaare waren darin nicht vorgesehen und traten entsprechend vor 1800 825

826 827

Siehe: „[...] damit auch der Vater keinen Mangel leide, soll ihm [...] jährlich Zehen Gülden auch nach des Fürst. Ambtes Ermäßigung, noch wohl ein mehrers auf Abschlag der Kauffsaumma abgefolgt sofort von den ersten Kauffgeldern decurtiret [...] werden.“ – Ebd., Nr. 150, fol. 20. Ebd., Nr. 160, fol. 78. Ebd., Nr. 195, fol. 52.

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nur selten auf. Als entscheidendes ausschließendes Kriterium trat deren Heirat hervor. Fälle lebenslänglicher Ledigkeit, die zwangsläu g immer aus bestimmten Einschränkungen und begrenzt vorhandenen Stellen erwuchsen, sowie auf Misswirtschaft oder Unglücke gründende Besitzverluste kompensierte das Sozialsystem in der Theorie als marginale, keiner Vermehrung unterliegende Belastungen. Sobald Besitzlose jedoch heirateten, verloren sie selbst rudimentäre potentielle Versorgungsansprüche in ihre Stammgüter. Kamen sie in ihrem Leben nicht zu einer Stelle, p anzten sich aber dennoch fort, fehlte ihnen und ihren Kindern jegliche Absicherung abseits der öffentlichen Wohlfahrt, zumal ab der zweiten Generation im Hausgenossenstand unter Umständen keine Angehörigen in Stellenbesitz in die P icht genommen werden konnten. Das in der Übergangszeit vom Spätmittelalter zur Frühen Neuzeit seinen Anfang nehmende langfristige Bevölkerungswachstum musste die tradierten Prinzipien sozialer Sicherheit in Rußdorf und Bräunsdorf über kurz oder lang funktionell infrage stellen. Vermutlich setzte die Destabilisierung bereits in der Etablierung zahlreicher Häuslerstellen im 17. und 18. Jahrhundert ein. Deren geringes Grundeigentum gab ihnen unfraglich ein Mindestmaß an materiellem Rückhalt, doch warfen diese Wirtschaften schon den Besitzern nicht genug Naturalien ab, um davon angemessen leben zu können. Ein Nebengewerbe zu betreiben, zu handeln oder einer Lohnarbeit nachzugehen, gereichte den Häuslerfamilien zur ökonomischen Notwendigkeit. Entsprechend geringen Umfang hatten die durchschnittlichen Auszüge der unteren dörflichen Mittelschicht, entsprechend niedrig war schätzungsweise der Lebensstandard ihrer Nutznießer. Bei Krankheit, Invalidität oder Arbeitslosigkeit bzw. schlechter Konjunktur waren Häusler gleichwohl vor dem Bettelstab deutlich besser gefeit als Angehörige des Hausgenossenstands. Diese wohnten zur Miete, mussten sich alle Lebens-, Haushalts- und Wirtschaftsmittel zukaufen und entbehrten im Falle aufgebrauchter Ersparnisse jeder nanziellen Rücklage. Konnten nahe Verwandte einspringen, bot nur die Familie ihnen in der Not einen gewissen Schutz. Solange deren Zahl begrenzt blieb und im Zweifel die Heimatgemeinde zur Versorgung einstehen musste, mochte das rurale Sozialwesen die Mietwohner verkraftet haben. Dennoch zeigten sich schon frühzeitig Bestrebungen, alternative bzw. ergänzende Absicherungsstrukturen zu schaffen. Die 1745 konzessionierte Strumpfwirkerinnung versäumte es nicht, in ihren Statuten den Gesellen eine Hilfskasse nach altem zünftigem Herkommen zu setzen. Dasgleichen sollen auch zu Unterhaltung krancker und anderer nothleidenden Gesellen ebenfalls quartaliter nach vorfallenden Bedürfniß und zwar 1 Gr. so lange die Anlage zu erhöhen nicht nöthig, erlegen, worüber besondere Rechnung zu führen, daß allso diese mit der Meister-Anlage nicht zu vermengen. 828

828

ThStA Abg, Landesregierung, Nr. 11934, Die von denen Strumpffwürckern zu Rußdorff, Johann David Eschen und

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Analoges auf Meisterebene wurde offensichtlich nicht für nötig befunden. Die Solidarität beschränkte sich dort auf Anteilnahme im Todesfall: Bey Ableben eines Meisters, Eheweibes oder Kinder, sollen sämtliche Meister dieser Innung, wie auch ihre Weiber benebst denen Gesellen mit zu Grabe gehen, bey Straffe 2 Groschen wenn auch das Handwerck stärcker werden sollte, sind sie verbunden einander zu Grabe zu tragen. 829

Ein konstantes gesamtgesellschaftliches Fürsorgesystem scheint erst vier Dekaden hernach in beiden Untersuchungsorten, möglicherweise unter dem Eindruck steigender Armutszahlen, welche vielleicht mit dem Wachstum der unterbäuerlichen Schichten einhergingen, eingerichtet worden zu sein. Ab 1794 entrichteten die Bräunsdorfer, ab 1798 auch die Rußdorfer regelmäßig einen schwankenden Betrag in die örtliche Armenkasse. 830 Die Existenz einer solchen verschwieg die vorangegangene Überlieferung beider Orte nahezu konsequent. Einzig 1792 wurde sie von den Bräunsdorfer Quellen angesprochen, als ein „mit Mäuse, Ratten, Schaabenpulver handelnd“ umherziehender armer Mann aus Oberwiesenthal im Ort verstarb und dort „aus der Armencase bezahlt beerdiget“ werden musste. 831 Ein Gemeinde- bzw. Armenhaus, in dem bedürftige Einwohner im Notfall Quartier erhielten, ist in Bräunsdorf seit 1856 belegt 832 und in Rußdorf 1847 833 erstmals nachweisbar. Die 1851 in Vorbereitung der Grundzinsablösung erarbeitete Lehngeldaufstellung für den herzoglichen Fiskus legt eine Einrichtung des Rußdorfer Armenhauses im Jahr 1841 nahe. 834 Strohbach berichtet von in Bräunsdorf Mitte des 19. Jahrhunderts beträchtlich zunehmenden Armenlasten. Die Gemeinde forderte daher seit 1859 von jedem auf Heimatschein im Ort Wohnenden, d. h. nicht dort Geborenen, eine Pro-Kopf-Abgabe über sieben Pfennige an die Armenkasse. Im selben Jahr wurde auf Grundlage der sächsischen Armenordnung von 1840 ein Lokalstatut errichtet, demzufolge jede zuziehende stellenlos bleibende Person abhängig von Familienstand und Gewerbe zwischen 15 Neugroschen und drei Reichstalern, die ansässig Werdenden aber neben einer üblichen Abgabe von zwei Neugroschen fünf Prozent ihrer Kaufsumme in die Wohlfahrt investieren mussten. Für arbeitslose fremde Heimatangehörige schuf die Gemeinde 1860 zudem ein Beschäftigungssystem. Bei Bezahlung des Schuhwerks durch die Armenkasse sollten die Bedürftigen bei den Stellenbesitzern im Dorf der Reihe nach anfallende Arbeiten

829 830 831 832 833 834

Consorten gesuchte Ertheilung einer Innung und Beschwerde über die Pfuscherey betr. Ao. 1744, 1745, 1751 u. 55, Punctation zu einer Strumpffwürcker Innung zu Rußdorff, § 21. Ebd., § 24. Vgl. HstA-D, 12613 GB Limbach, Nr. 5, fol. 448. – ThStA Abg, Amtsgericht Altenburg, C I Loc. 1, Nr. 236, fol. 91. EPA Bräunsdorf, KB I, Beerdigungen 1792, Nr. 19. Vgl. EPA Bräunsdorf, KB VI, Beerdigungen 1855, Nr. 2. Vgl. EPA Rußdorf, KB III, Beerdigungen 1847, Nr. 33. Vgl. ThStA Abg, Repertorium II, Ablösungsakten d. Generalkommission, Lit. R. Nr. 7, Tabelle über Ablösung der Lehngeldgerechtsame des Herzogl. Staats skus in Rußdorf, 1851.

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verrichten, wofür diese sicherlich wenigstens Kost und Logis gewährten. Wer einen Umziehenden „mehr als 8 Tage behält, soll jeden Tag 1 ngr. in die Armenkasse bezahlen; es kann sie natürlich jeder solange behalten, als er sie zur Arbeit gebraucht“. 835 Weitere Fürsorgemaßnahmen sind für Bräunsdorf nicht konkret bzw. nur rudimentär belegt. Mit dem Leichenbestattungsverein führt Strohbach 1938 lediglich eine genossenschaftliche Einrichtung offenkundiger Ausrichtung an, spart jedoch nähere Spezi ka wie Gründungsdatum, Mitgliederzahl oder Statuten der am Ende des Untersuchungszeitraums augenscheinlich noch existenten Vereinigung aus. 836 Die Bräunsdorfer Armenkasse existierte nachweislich bis mindestens 1916. Zu diesem Zeitpunkt stand ihre Finanzierung auf völlig anderen Füßen als noch 50 Jahre zuvor. Im Wesentlichen fundierten die damaligen Einnahmen über 1340,91 Mark auf der lokalen Hundesteuer (21%), zurückgezahlten Unterstützungen (29 %), den Mieten eines Fabrikarbeiters und eines Geschirrführers (18%), der beschlagnahmten Waisenrente einer Almosenempfängerin (17%) sowie dem Reinerlös einer Nachlassversteigerung (7 %). Von den ausgeschütteten 1611 Mark gingen 115 an die Taubstummenanstalt Leipzig zur Verp egung des Fabrikarbeitersohnes Rudolf Flacks und 97 Mark an jene in Dresden be ndliche, um für den Unterhalt des Häusler- und Fabrikarbeitersohnes Erich Müller aufzukommen. Weitere 480 Mark kamen der Witwe Klara Zill und ihren vier Kindern im Alter von zwei bis zehn Jahren zugute. Bertha Wiedemann, Ehefrau eines Fabrikarbeiters, die im Geschäftsjahr einem Magenkarzinom erlag, wurde die Rechnung des Bezirkskrankenhauses Rabenstein über 121,55 Mark Kurkosten beglichen. Desgleichen zahlte die Kasse 162 Mark für eine Krankenhausbehandlung der minderjährigen Martha Berger und 397,40 Mark Kur- und Verp egungsgeld an Herrn Dr. Praeger für die an Brustdrüsenkrebs verstorbene Kettenarbeitergattin Anna Kühnrich. Schließlich hatten die kinderlos verstorbene Witwe Pauline Kilian 48 Mark Almosen, ihre P egerin 52 Mark und die an Kilians Begräbnis beteiligten Dienstleister insgesamt nochmals 53 Mark erhalten. Bei Jahresschluss verfügte die Bräunsdorfer Armenkasse über ein Gesamtvermögen von 9712,40 Mark, wovon 839,71 Mark Kassenbestand einer Verwendung harrten. 837 Anfang des 20. Jahrhunderts trug die unter Gemeindeaufsicht stehende Kasse den Charakter eines Darlehensgebers, der Einwohnern auf Antrag und bei Nachweis der Bedürftigkeit nanziell unter die Arme griff, sofern diese nicht versichert waren und kurzfristig in der Not Geld benötigten. Nach Möglichkeit sollten diese offenbar unverzinsten Anleihen allerdings zurückgezahlt werden. Die Leistungsempfänger von 1916 zählten dabei überwiegend keineswegs zu den Ärmsten, da sie bzw. ihre nächsten Angehörigen

835 836 837

Strohbach, Dorfbuch, S. 66. Vgl. ebd., S. 72. Vgl. StALO, Rat der Gemeinde Bräunsdorf, Nr. 98: Rechnung über die Verwaltung der Armenkasse zu Bräunsdorf bey Chemnitz auf das Jahr 1916.

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zumeist einer geregelten Arbeit nachgingen. Ohne die vermutlich unkomplizierte und rasche Kassenbeihilfe wären sie aber unfraglich in teils erhebliche nanzielle Schwierigkeiten aufgrund von Krankheitsfällen gekommen. Die Armenfürsorge lag anscheinend zur Zeit des Ersten Weltkrieges nicht mehr vordergründig im Blick dieser Gemeindeinstitution. Die geringe Zahl der wirklichen Almosenempfänger spricht für eine marginale Bedeutung der absoluten Armut vor Ort im betrachteten Geschäftsjahr. Mitte des 19. Jahrhunderts wuchs die Zahl derer, die unter dem traditionellen ruralen System sozialer Sicherheit einem signi kant erhöhten Armutsrisiko unterlagen, im Zuge der nun exponentiellen Bevölkerungsvermehrung auf dem Rücken der landbesitzlosen Unterschicht stark an. In Rußdorf, wo die Entwicklung des Versicherungswesens deutlich besser dokumentiert ist als in Bräunsdorf, gründeten 40 ehrenhaft verabschiedete ehemalige Militärangehörige 1858 einen zunächst exklusiven Sterbekassenverein. Mit monatlich abgeführten Beiträgen erwarben dessen Mitglieder einen Anspruch auf drei Taler bei einjähriger, bis zehn Taler Hinterbliebenenunterstützung im Sterbefall bei mindestens fünfjähriger Mitgliedschaft. In ihrem Kon rmationsgesuch merkten die Gründungsväter an: [...] zumal es für hiesigen Ort eine große Wohlthat wäre, wenn bei dergleichen Sterbefällen die Hinterlassenen eine baare Geldunterstützung bekämen, da bei der Mittellosigkeit der Mehrzahl nach dem Tode oft jede Baarschaft fehlt. 838

Kaum zwei Jahre später ersuchte der junge Verein erfolgreich um Erweiterung auf Nichtsoldaten, auf dass er seine Verp ichtungen besser stemmen könne. Rasch wurden neue Mitglieder gewonnen. Zwischen Oktober 1860 und Januar 1861 traten sieben Strumpfwirker, ein Tischler, ein Bäckermeister und der Rußdorfer Gasthofbesitzer bei. Ihrem Beispiel folgten bis Januar 1862 weitere 13 Strumpfwirker, ein Handarbeiter, ein Gärtner, ein Korbmacher und ein Maurergeselle und bis April 1865 nochmals 17 Personen, darunter auch der Ortsmediziner Dr. Heitzsch. 839 Die namentlich bekannten Mitglieder zählten im Durchschnitt bei ihrem Eintritt 35,5 Jahre, standen mehrheitlich einer Familie vor und gingen sämtlich einer festen Beschäftigung nach. Keineswegs gab der Verein völlig verarmten Personen eine Heimstatt. Im Gegenteil besaßen von den 44 nach 1860 eingetretenen Mitgliedern mindestens 17 ein Haus und vier ein Gartengut, verfügten also nach alter Sichtweise über eine ausreichende Absicherung. Wenigstens der Schenkwirt Wilhelm Theodor Sebastian war eines Zuschusses im Todesfall garantiert nicht bedürftig. Überdies führte ein mehr als zweimonatiger Rückstand der Beitragszahlungen eines Mitglieds unweigerlich zu dessen Ausschluss und dem Verlust aller Ansprüche. Andererseits machte die offensichtlich für notwendig befun838 839

Vgl. ThStA Abg, Gerichtsamt II Altenburg, Nr. 297: Die Gründung eines Sterbekassen-Vereins ehrenhaft verabschiedeter Militär-Personen in Rußdorf, 1858–1875. Vgl. Ebd.

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dene Vereinsgründung deutlich, dass tradierte soziale Sicherungsmechanismen Mitte des 19. Jahrhunderts gesamtgesellschaftlich sukzessive an Wirkung verloren bzw. sich die Zahl derer, die schon nach altem Herkommen eine tendenziell prekäre Stellung innerhalb der ruralen Lebenswelt innehatten, unmäßig vermehrte. „Nachdem seit längerer Zeit in hiesiger Gemeinde der Wunsch laut geworden, namentlich in der unbemittelten Classe, daß ein allgemeiner Kranken-Unterstützungs-Verein sehr zweckmäßig sei“, wurde ebenfalls aus privater Initiative heraus 1869 zusätzlich ein Krankenunterstützungs- und Begräbnißkassen-Verein begründet. Dieser erweiterte die Zielrichtung seines lokalen Vorläufers um ein nicht unwesentliches Element. Der Verein hat den Zweck a) den durch Krankheit oder Verunglückung arbeitsunfähig gewordenen Mitgliedern eine Unterstützung und b) zu den Begräbnißkosten verstorbener Mitglieder einen Beitrag zu gewähren. 840

Das Angebot richtete sich an jede gesunde und unbescholtene Person beiderlei Geschlechts, die in Rußdorf wohnhaft und mindestens 14 Jahre bzw. seit 1884 maximal 50 Jahre alt war. 841 Dem arbeitsunfähigen Kranken wurde bis zu einem Jahr Unterstützung gewährt, wobei die Leistungen vierteljährlich 842 verringert und seit 1884 Männer und Frauen unterschiedlichen Ausschüttungsklassen zugeordnet wurden. 843 Schwangere und Sechswöchnerinnen hatten bis 1884 keinen Anspruch, sofern ihre Krankheit mit der Schwangerschaft in Verbindung stand. Hernach erhielten sie in den ersten drei postnatalen Wochen Krankengeld. Die Höhe des gewährten Begräbnisgeldes orientierte sich nach dem Vorbild des älteren Sterbekassenvereins an der Mitgliedschaftsdauer des Betroffenen und schwankte zwischen einem Taler 15 Neugroschen und sechs Talern bzw. ab 1878 zwischen neun und 30 Mark. Im Gegenzug forderte die Aufnahme fünf Neugroschen bzw. ab 1884 60 Pfennig, der Todesfall eines Mitglieds außerordentlich zwei Neugroschen bzw. 20 Pfennig und die wöchentliche Gebühr fünf Pfennig bzw. zehn Pfennig von Männern sowie sechs von Frauen ein. Als erster Kassenarzt wurde wahrscheinlich der in Rußdorf seit 1855 wohnhafte herzogliche Bezirkswundarzt Dr. Johann 840 841 842

843

Ebd., Nr. 313: Die Gründung eines Krankenunterstützungs- und Begräbnißkassen-Vereins im Dorfe Rußdorf. 1869– 1870. Vgl. ebd. Dem Statut von 1870 nach betrugen sie 20 Neugroschen und verringerten sich um jeweils fünf. Das Statut von 1884 gewährte Männern im ersten Halbjahr fünf Mark 63 Pfennig und im zweiten vier Mark 50 Pfennig, Frauen hingegen vier Mark fünf Pfennig im ersten Viertel, drei Mark 25 Pfennig im zweiten, zwei Mark 50 Pfennig im dritten und eine Mark 75 Pfennig im vierten. – Vgl. ThStA Abg, Landratsamt Altenburg, Nr. 4224: Hauptbuch des allgemeinen Kranken-Unterstützungs-Vereins für Rußdorf. Seit der Statutenrenovation von 1887 blieb die Krankenunterstützung auf 26 Wochen beschränkt, wobei uneingeschränkt der halbe ortsübliche Tageslohn gezahlt wurde. Dieser betrug für erwachsene männliche Tagearbeiter 1,25 Mark, für erwachsene weibliche 90 Pfennig sowie für Arbeiter beiderlei Geschlechts unter 16 Jahren 40 Pfennig. Der wöchentliche Beitrag belief sich seitdem in den drei Klassen auf zehn, acht und fünf Pfennige. Freie ärztliche Behandlung und Arznei waren fortan in den Leistungen inbegriffen. Alternativ konnten auf Attest 13 Wochen freie Kur und Verp egung im Krankenhaus gewährt werden. – Vgl. ThStA Abg, Landratsamt Altenburg, Nr. 4224.

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Heitzsch (1828–1888) verp ichtet. Ab 1887 zeichnete Dr. Rubin aus Hohenstein verantwortlich, der täglich seine Sprechstunde in Rußdorf ausrichtete und sich verp ichtete, Tag und Nacht „in ärztlichen Angelegenheiten auf Verlangen der Kasse zu Diensten zu stehen“. Die Zusammenarbeit währte jedoch nicht lang, denn bereits 1888 wurde Dr. Nitzelnadel, ein Schwiegersohn Heitzsch', mit festem Gehalt in Rußdorf angestellt. Die Mitgliederzahl des Vereins stieg bis Ende 1887 kontinuierlich auf 610 Personen, darunter 214 Frauen, an, um danach binnen vier Jahren auf 386 zurückzufallen. 844 Insgesamt traten 1072 Individuen zwischen 1869 und 1891 der Vereinigung bei, von denen 181 freiwillig kündigten, 180 ihre Zugehörigkeit einem Fortzug opferten, elf wegen Vernachlässigung und 126 aus ungenannten Gründen ausschieden sowie 108 verstarben. 845 Die Geschichte der Unterstützungseinrichtung endete 1892 in deren Auflösung, nachdem der Vorstand 1891 festgestellt hatte, dass „die Ausgaben die Einnahmen bedeutend übersteigen [...], die Kasse daher für längere Dauer fernerhin nicht mehr lebensfähig bleiben kann“. 846 Eine dritte Kasse entstand infolge des Reichsgesetzes, betreffend die Krankenversicherung der Arbeiter vom 15. Juni 1883 ein Jahr später, erstmals nicht aus privater Initiative heraus und erstmals unter nanzieller Beteiligung des Arbeitgebers. Das Landratsamt Altenburg ordnete Ende 1883 zunächst eine Zählung der versicherungsp ichtigen Arbeiter in Rußdorf an. Von 1781 erfassten Einwohnern wurden 545 ohne Krankenunterstützungsvereinsangehörigkeit für versicherungsp ichtig befunden, d. h. sie waren kontinuierlich gegen Gehalt oder Lohn im Handwerk tätig oder in einem Betrieb beschäftigt und verdienten weniger denn „sechszweidrittel“ Mark pro Tag. Neben diesen lebten 337 Personen im Dorf, die im Krankheitsfall bereits auf Vereinsbeihilfe hoffen durften. Die sich an jene 545 unversicherten Einwohner richtende neue Kasse wurde 1884 kon rmiert. Unter dem Namen Orts-Krankenkasse der 1. Textilbranche und verwandten Gewerbe, 2. Metallarbeiter, 3. Baugewerke, 4. Schuhmacher und Schneider, 5. Landwirthschaft, 6. Fleischer und Bäcker, 7. Buchbinder und verwandte Gewerbe, 8. Böttcher, Drechsler und Stellmacher, wird im Bezirke der Gemeinde Russdorf eine Ortskrankenkasse errichtet. Der Sitz der Kasse ist in Russdorf. Ausgenommen sind diejenigen den vorbezeichneten Gewerben angehörenden Betriebe, für welche eine Betriebs-, Fabrik- oder Bau-Krankenkasse errichtet ist, sowie die Betriebe von Innungsmitgliedern für deren Gesellen und Lehrlinge auf Grund des Titels VI der Gewerbeordnung eine Innungs-Krankenkasse besteht. 847

844 845 846 847

ThStA Abg, Landratsamt Altenburg, Nr. 4228: die Abänderung der Statuten des Krankenunterstützungs- und Begräbnißkassen-Vereins in Russdorf. 1870–1892. Vgl. ebd., Nr. 4224. Ebd., Nr. 4228. Ebd., Nr. 4240: Das Statut der Orts-Krankenkasse in Rußdorf, 1883–1903.

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Kaum ein Jahr später forderten erste Stimmen die Auflösung der unter Gemeinderatsaufsicht stehenden Institution, weil ein augenkranker 20-jähriger Strumpfwirker nach Beschluss des Landratsamtes aufgenommen werden und ihm Unterstützung gezahlt werden musste. Anhängend dieses Vorgangs wurde angebracht, dass „die hiesigen Arbeitgeber schon erklärt haben, keinen Arbeiter oder Arbeiterin in die Arbeit aufzunehmen, wenn dieselben einer freiwilligen Hilfskasse nicht angehören“. 848 Dennoch und obwohl die vom Gesetzgeber gestattete gemeindeinterne Ausweitung des Versicherungszwangs 849 in Rußdorf voll ausgeschöpft wurde, standen die tatsächlichen Mitgliedszahlen von Beginn an hinter den Erwartungen zurück. Bis Überlieferungsschluss 1901 näherte sich die Versichertenzahl zu keinem Zeitpunkt der vom Landratsamt geschätzten Menge versicherungsp ichtiger Einwohner. Basierte diese nicht auf fehlerhaften Annahmen, sah sich entweder nicht jeder der Angesprochenen zu einer regelmäßigen Beitragsabführung in der Lage oder wurde nicht von allen Einwohnern gleichermaßen die Beitrittsnotwendigkeit anerkannt. Fabrikarbeiter fanden ohne Kassenzugehörigkeit offenbar keine Anstellung, verspürten demnach eindeutigen Versicherungszwang und vermochten die Beiträge unfraglich zu zahlen. Landwirtschaftliche Arbeiter und selbstständige Gewerbetreibende bzw. Heimarbeiter hegten hingegen möglicherweise tatsächlich ökonomische Bedenken oder konnten ob unregelmäßiger und schwankender Einkünfte die nötigen Mittel nicht kontinuierlich aufbringen, weswegen sie vielleicht bereits den älteren Rußdorfer Vereinigungen ferngeblieben waren. Die Zahl der Hausindustriellen wurde vom Altenburger Landratsamt 1883 jedoch nur mit 168 angegeben, wobei im Unklaren blieb, ob diese eine Teilmenge der damals für versicherungsp ichtig Befundenen bildeten. Die Mitgliederzahlen näherten sich erst 1889/1890 den anfänglichen Erwartungen an. Allerdings war die Bevölkerungszahl inzwischen um 1000 Personen angewachsen. Eine Begründung des Ungleichgewichts mag in konkurrierenden Betriebskrankenkassen zu suchen sein. Wenn eine große Zahl der Rußdorfer in Oberfrohnaer oder Limbacher Fabriken arbeitete und bei diesen versichert war, hätte dies den Eintritt in die heimatliche Ortskrankenkasse obsolet gemacht. Die Mitgliederzahl der Rußdorfer Kasse stieg bis 1893 auf etwa 250 an, durchlief bis 1898 ein Tal und nahm erst danach relativ kontinuierlich zu, sodass ihr am Ende der Überlieferung 1901 über 400 Personen angehörten. Bis 1898 schwankte der Frauenanteil durchgängig zwischen einem Drittel und 40 Prozent. Danach el er, einem starken Zuwachs männlicher Versicherter geschuldet, schnell auf ein Fünftel ab. Im Gegensatz zu ihren Vorgängern kämpfte die Ortskrankenkasse von Beginn mit erheblichen Konsolidierungsschwierigkeiten. Nach ersten Auflösungsbestrebungen 1885 aufgrund zu geringer Mitgliedszahlen beschloss der Vorstand Mitte 1890 eine Er-

848 849

Ebd. Vgl. Gesetz, betreffend die Krankenversicherung der Arbeiter, 15. 06. 1883, in: Deutsches Reichsgesetzblatt, Bd. 1883, Nr. 9, S. 73–104, § 2.

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höhung des Eintrittsgeldes freiwillig Versicherter und erkannte Wöchnerinnen die Unterstützung ab, sofern sie nicht mindestens neun Monate eingezahlt hatten, um den Beitritt keiner Versicherungsp icht unterliegender Personen gering und die Kasse lebensfähig zu halten. Eine Novelle des Krankenversicherungsgesetzes verbot 1892 jedoch in Verbindung mit einem Bescheid des zuständigen Landratsamts die Zurückweisung der Freiwilligen. In Reaktion beschloss die Generalversammlung die Kassenauflösung zugunsten der Einrichtung einer Gemeindekrankenversicherung. Der Gemeinderat lehnte das Ansinnen allerdings ab. 850 Hinsichtlich ihrer Leistungen, die anhand einer Statutenfassung von 1893 nachvollzogen werden können, stand die Kasse teils hinter ihren lokalen Vorläufern zurück, indem sie nur die gesetzlichen Mindestunterstützung bot 851. Nach Alter und Geschlecht in drei Klassen unterteilt, trugen die Versicherten mit 18, zwölf oder sechs Pfennigen wöchentlich bei. 852 Im Gegenzug durften sie bei Krankheit oder in einer solchen wurzelnden Erwerbsunfähigkeit unter anderem freie Behandlung, kostenlose Arznei und für bis 13 Wochen Krankenunterstützung in Höhe des halben durchschnittlichen Tageslohns, also zwischen 30 und 80 Pfennigen, erwarten. Alternativ konnte auf Antrag des Kassenarztes und Verfügung des Verstandes ein Krankenhausaufenthalt zu freier Kost und Verp egung gewährt werden. Jedoch bedurfte dies einer Zustimmung des Versicherten, wenn die Krankheit nicht ansteckend, der Aufenthalt nicht zwingend notwendig war oder der Betroffene einen eigenen Haushalt hatte bzw. bei seiner Familie wohnte. Sonst von seinem Verdienst mitlebende Angehörige hatten im Falle einer Einweisung Anspruch auf die Hälfte des üblichen Krankengeldes. Niedergekommene Frauen erhielten für vier Wochen und bei darüber via Gewerbeordnung hinausreichendem Arbeitsverbot auch länger Unterstützung. Im Todesfall wurde das Zwanzigfache des durchschnittlichen Tageslohns gezahlt. Arbeitslos werdende Mitglieder blieben versichert, solange sie in den Grenzen des Deutschen Reichs wohnten, erhielten auch sämtliche Leistungen, allerdings lediglich die Hälfte des Krankengeldes. 853 Bräunsdorf teilte sich eine Ortskrankenkasse mit Oberfrohna, mutmaßlich da die gesetzlich vorgeschriebene Mindestmitgliederzahl von 100 Personen in dem agrarwirtschaftlich geprägten Dorf nicht erreicht wurde. Zu Beginn des Ersten Weltkrieges 1914 reizte diese den möglichen Leistungsspielraum etwas stärker aus als ihr Rußdorfer Ebenbild um 1900. Das Krankengeld betrug hier 60 Prozent des durchschnittlichen Tagelohns, an Angehörige bei Krankenhausaufenthalten gezahlte Mittel sogar 75 Prozent. Dafür standen pro Person und Jahr maximal 20 Mark für Arznei oder andere Heilmittel zur Verfügung. Versicherte erhielten bis zu 26 Wochen am Stück Unterstützung. 850 851 852 853

Vgl. ThStA Abg, Landratsamt Altenburg, Nr. 4240. Vgl. Gesetz, betreffend die Krankenversicherung der Arbeiter, 15. 06. 1883. Die wöchentlichen Beitragsverp ichtungen erhöhten sich auf Grundlage mehrerer Änderungsbeschlüsse bis 1900 auf neun bis 27 Pfennige. Vgl. ThStA Abg, Landratsamt Altenburg, Nr. 4240.

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Wochenhilfe für Schwangere wurde in Höhe des Krankengeldes über acht Wochen gezahlt, von denen mindestens sechs auf die Zeit nach der Niederkunft fallen mussten. Im Todesfall erhielten die Hinterbliebenen eines Kassenmitglieds das 25-fache des durchschnittlichen Tageslohns. Starb der Ehepartner eines Versicherten, erhielt dieser die halbe Summe als Beihilfe. 854 Ortskrankenkassen waren auch nach 1892 nicht die einzigen Institutionen, die im Krankheitsfall eines Rußdorfers oder Bräunsdorfers einspringen mochten. Auf die kommunale Armenp ege wurde bereits eingegangen. Daneben richteten einige Betriebe eigene Kassen für ihre Belegschaft ein. Die Handschuhfabrik C. G. Geissler Nachf. in Rußdorf, 1888 unter dem Namen Geißler & Kuntze gegründet 855, suchte exemplarisch 1894 wiederholt und im November des Jahres schließlich erfolgreich um Genehmigung einer Betriebskrankenkasse beim Landratsamt Altenburg nach. Mit 64 Mitgliedern, darunter 27 Männer, 13 Frauen, fünf Jungen sowie 19 Mädchen, trat sie am 1. Januar 1895 in Kraft. Ihre Leistungen unterschieden sich nicht von denjenigen der Ortskrankenkasse. Nach lediglich drei Jahren erlosch die junge Einrichtung mit dem Konkurs der Firma Geißler wieder. Auf Antrag des Vorsitzenden Otto Mahn wurde der damalige Kassenbestand unter den Mitgliedern aufgeteilt. Zur Begründung dieses Antrags gestatte ich mir die Bemerkung, daß [...] sämmtliche Arbeiter am 31. Dezember [...] entlassen werden und, da es ausgeschlossen ist, daß sich für diese Arbeiter in Rußdorf Arbeit ndet, dieselben vielmehr gezwungen sind, Arbeit in Oberfrohna und Limbach zu suchen, würde eine eventuelle Überweisung des Cassenbestandes an die Ortskrankenkasse in Rußdorf wohl kaum zu rechtfertigen sein. 856

Des Weiteren gewährte der Deutsche Textilarbeiterverband, welcher 1903 eine Filiale in Rußdorf eröffnete und dem vorrangigen Ziel folgte, „möglichst günstige Lohnund Arbeitsbedingungen zu erzielen“, seinen bei Eintritt immer volljährigen Mitgliedern seit 1901 eine wöchentliche Krankenzuschussunterstützung über zwei Mark auf sechs Wochen bei einjähriger, über drei Mark auf acht Wochen bei zweijähriger und über 3,50 Mark auf zehn Wochen bei mindestens vierjähriger Mitgliedschaft, unabhängig von sonstigen Leistungen anderer Kassen. Die Filiale Rußdorf umfasste zu Anfang 92 Mitglieder, die im Durchschnitt 38,49 Jahre zählten und von denen sechs in Falken, neun in Oberfrohna sowie 77 in Rußdorf wohnten. Nur eine Frau gehörte dem lokalen Außenposten des in Berlin sitzenden Vereins seit Beginn an. 857 Nach fünfjährigem Be854 855 856 857

Vgl. StALO, Rat der Stadt Oberfrohna, Nr. 1094: Ortsgesetze, 1894–1933, Satzung der Allgemeinen Ortskrankenkasse für die Gemeinden Oberfrohna und Bräunsdorf in Oberfrohna. Vgl. ThStA Abg, Amtsgericht Altenburg, D IV, Loc. 1 A, Nr. 10: Handels-Register des Herzogl. Sächs. Amtsgerichts zu Altenburg II. Band, S. 459. ThStA Abg, Landratsamt Altenburg, Nr. 4271: Die Gründung einer Betriebskrankenkasse der Firma C. G. Geissler Nachf. i. Rußdorf b. L., 1894–1899. Ebd., Nr. 3345: Das Statut der Filiale Rußdorf und Umgebung des Deutschen Textilarbeiter- und ArbeiterinnenVerbandes (Sitz Berlin), 1903.

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stehen beschloss der Vorstand 1908 – inzwischen gehörten der Filiale 275 Personen an –, zusätzlich „die Unterstützung der Arbeitslosen einzuführen, damit die Mitglieder auch mal für ihr Geld eine Gegenleistung sahen“. 858 Die Sozialgesetzgebung Bismarcks der 1880er Jahre ruhte freilich auf drei Standbeinen. Neben das Kranken- trat 1884 ein Unfallversicherungsgesetz. Abhängig Beschäftigte hatten seitdem gegenüber ihren Arbeitgebern im Falle einer während der Arbeit erworbenen Verletzung ab der 14. Woche nach dem Unfall Anspruch auf eine Schadensersatzrente für die Dauer der Erwerbsunfähigkeit in Höhe von zwei Dritteln des zuletzt erhaltenen einjährigen Durchschnittstagelohns bzw. des ortsüblichen Tagelohns sowie, bei nicht krankenversicherten Personen, auch auf Krankengeld im Sinne des Krankenversicherungsgesetzes in den ersten 13 Wochen. Verlief der fragliche Unfall tödlich, mussten die in Berufsgenossenschaften nach Bezirken organisierten Arbeitgeber einmalig den 20-fachen durchschnittlichen Tagelohn bzw. mindestens 30 Mark an die Hinterbliebenen zahlen. Außerdem erhielt die Witwe bis zur Wiederverheiratung 20 Prozent und jedes Kind des Verstorbenen bis zu seinem 15. Geburtstag 15 Prozent des letzten Durchschnittslohns, alle zusammen aber maximal 60 Prozent dessen. Direkte Vorfahren durften ebenfalls auf 20 Prozent Rente spekulieren, wenn der oder die Geschädigte ihre Versorgung gewährleistet hatte. Die gesetzlich garantierten Entschädigungsleistungen übernahmen die Berufsgenossenschaften, welche von den Arbeitgebern jährliche, an den in einem Betrieb gezahlten Löhnen und Gehältern orientierte Beiträge sowie statutarisch festgelegte Gefahrentarife einforderten. 859 Die dritte Säule Bismarck'scher Sozialpolitik bildete das 1889 in Kraft getretene Invaliditäts- und Altersversicherungsgesetz, welches sich an dasselbe Publikum wie seine beiden Vorläufer richtete. Ein Versicherter, der aufgrund seines körperlichen oder geistigen Zustandes nicht länger in der Lage war, einer zumutbaren Lohnarbeit nachzugehen, die ihm wenigstens ein Sechstel des Durchschnittslohnsatzes seiner letzten fünf beitragsp ichtigen Arbeitsjahre und ein Sechstel des ortsüblichen Tagelohns seines letzten festen Anstellungsortes einbrachte, hatte Anspruch auf eine lebenslange Invalidenrente, sofern dies nicht mit den Zuständigkeiten der Unfallversicherung kollidierte. Eine Altersrente wurde nach Vollendung des 70. Lebensjahres bis zum Lebensende gezahlt. (Landes-)Versicherungsanstalten oder gesondert anerkannte Kasseneinrichtungen koordinierten die dem Umlageverfahren folgenden Leistungen. P ichtversicherte zahlten mit ihren Arbeitgebern zu gleichen Teilen einen an ihrem Lohn orientierten Beitrag, zu dem pro Jahr ein Reichszuschuss über 50 Mark gewährt wurde. Personen, die erwerbsfähig und unter 41 Jahre alt waren sowie nicht dem Versicherungszwang unterlagen,

858 859

Ebd., Nr. 3346: Die Versammlung der Textil-Arbeiter in Rußdorf, 1903–1908. Vgl. Unfallversicherungsgesetz, 06.07. 1884, in: Deutsches Reichsgesetzblatt, Bd. 1884, Nr. 19, S. 69–111.

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konnten sich in der Lohnklasse II selbst versichern, übernahmen damit aber freilich den vollen Beitragssatz. 860 Zur Zeit höchster Fertilitätsraten, Momente vor dem sichtbaren lokalen Umschwung des dorfgesellschaftlichen generativen Verhaltens um 1890, stand den Rußdorfern und Bräunsdorfern offenbar nachgerade ein ganzes Portfolio an Möglichkeiten zur Verfügung, sich gegen kurzfristige und anhaltende Erwerbsunfähigkeit nanziell abzusichern. Bevölkerungswachstum und eine in Begleitung der Industrialisierung Einzug haltende neue Wirtschaftsethik bzw. der Bedeutungsgewinn für den ruralen Raum neuartiger Wirtschaftsweisen, bei denen subsistenz- der marktorientierten Produktion wich, hochgradig arbeitsteilige Massen- die handwerkliche Einzelfertigung verdrängte, Arbeitszeiten ihren Fokus vom Arbeits- auf das Zeitelement verlagerten sowie Geld, Entlohnung und Gewinn die Deutungshoheit über die De nition von Arbeit beanspruchten etc., erodierten die Funktionalität der traditionellen agrarökonomisch geprägten Sicherungsprinzipien. Das alte System setzte auf den Besitz einer sozioökonomischen Stelle, d. h. Grund und Bodens, der im Notfall zumindest zur Eigenversorgung ermächtigte, Gemeinde- und Gesellschaftsrechte mit sich brachte und dem neben anderen P ichten soziale Verantwortung anhängig war. Die Stellenzahl wurde innerhalb der einen in vielerlei Hinsicht abgeschlossenen Raum markierenden Dorf ur aus ökonomischer Notwendigkeit dem Subsistenzanspruch folgend und im Bestreben des Systemerhalts begrenzt. Daraus resultierte theoretisch eine beständige Nachfrage, die ein Wüstfallen und die eventuell einhergehende Notlage eines nicht länger wirtschaftsfähigen Eigentümers unter normalen Bedingungen verhinderte. Nach dem Besitz griff die theoretisch eine Stelle haltende nahe Verwandtschaft bei einer Notlage des theoretisch ledigen und kinderlosen Hausgenossen als zweite Sicherungsinstanz. Erst im Falle, beides fehlte oder genügte nicht zur Grundsicherung, griff die Gemeinde, dieses enge verwandt- und bekanntschaftliche, Anonymität nahezu ausschließende Ge echt, ein. Schon durch die Etablierung kleiner und kleinster neuer Stellen wurde dieses Sicherungssystem zunehmend strapaziert, weil vor allem die auf Lohnarbeit zum Selbsterhalt unbedingt angewiesenen Häusler aus ihrem Grundbesitz im Notfall nur noch bedingt adäquat existenzsichernde Mittel ziehen konnten und so bereits einem höheren Armutsrisiko unterlagen. Individuelle Erwerbsunfähigkeit war zu kompensieren. Beraubte aber ein Stocken des Handels, eine verringerte oder ausbleibende Nachfrage nach deren Erzeugnissen die hausbesitzenden Gewerbetreibenden ihrer Lebensgrundlage, folgten Hunger und Armut auf dem Fuße, wovon freilich nicht nur die Familienväter, sondern das gesamte Haus, die Ehepartner, Kinder und andere Versorgungsberechtigte betroffen waren. Familiäre Beziehungen zur bäuerlichen Schicht halfen wenig, zumal die Gründung einer eigenen Familie bzw. der eigene Stellenbesitz eventuelle Ansprüche 860

Vgl. Gesetz, betreffend die Invaliditäts- und Altersversicherung, 22. 06.1889, in: Deutsches Reichsgesetzblatt, Bd. 1889, Nr. 13, S. 97–144.

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in Heimatgüter aufhob. Die kommunale Fürsorge stieß umso rascher an ihre Grenzen, je größere Ausmaße die unterbäuerliche Gruppe annahm. Erste systemische Krisenerscheinungen traten in Rußdorf 1772 und 1843 deutlich zu Tage. Um einiges schneller gerieten die grundbesitzlosen Einwohner in eine prekäre Situation, da diese bereits krankheitsbedingte kurzzeitige Erwerbsunfähigkeit oder die Auswirkungen des Alters bei fehlenden nanziellen Rücklagen existentiellen Nöten aussetzten konnten. Überhaupt waren Konjunkturschwankungen umso schneller zu spüren, je größeren Raum heimgewerbliche Arbeit in der Ortsökonomie einnahm. Die traditionell oberste Sicherungsinstanz fehlte, familiärer Rückhalt war in der dörflichen Unterschicht meist wenig strapazierfähig und die kommunale Armenfürsorge nicht auf regelmäßige Beanspruchung ausgelegt. Flächendeckender Pauperismus muss im Limbacher Land nicht zwangsläu g existiert haben. Belege dafür fehlen zumindest. Jedoch stellte sich auch hier die soziale Frage. Die Armut hatte in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts merklich zugenommen und wurde nicht umsonst zum Beispiel von den Rußdorfern selbst im öffentlichen Diskurs thematisiert. Was die alte rurale Ordnung zu vermeiden gesucht hatte – ein Wachstum der Hausgenossenschaft –, trat im Zuge der Industrialisierung mit Macht ein. In Rußdorf stellten Mietwohner Ende des 18. Jahrhunderts etwa fünf Prozent der Dorfbevölkerung, 1881 überstieg die Zahl der Haushalte jene der bewohnten Gebäude respektive Stellen um 76,62 Prozent. Ebenso lebten 1794 in Bräunsdorf wahrscheinlich weniger als fünf Inwohner in eigenen Haushalten 861, 1875 waren dort 81 von 205 Haushalten nicht an Grundbesitz gebunden. Die Bevölkerung wuchs auf dem Rücken der Inwohnerschaft massiv, die traditionellen Sicherungsmechanismen brachen ein. Die nach 1850 aufkommenden genossenschaftlichen Vorsorgeeinrichtungen versuchten, ob aus privater, unternehmerischer oder gesetzlicher Initiative heraus, die alten auf engen sozialen Bindungen beruhenden Sicherungsprinzipien aus der Not heraus zu ersetzen, indem sie diese imitierten. Grundbesitz schied als Sicherungsgrundlage aus. Der Rückgriff auf Verwandtschaft setzte im traditionellen System gleichsam auf dort vorhandene ausreichende materielle Mittel. Grundlage der sozialen Sicherheit war aber im eigentlichen Sinne seit jeher der Rückgriff auf die wirtschaftskräftigen Bevölkerungsteile über Geburts- oder Besitzrechte. Die Versicherungen hoben das Prinzip lediglich aus dem Verwandtschaftsbereich auf genossenschaftliche Ebene. Ähnlich dem Auszugswesen sorgten diejenigen erwerbsfähigen Kassenmitglieder unter anderem durch ihre Versicherungsbeiträge für die Unterstützung der bedürftigen Kameraden und durften im Bedarfsfall selbst auf nanzielle Hilfestellung hoffen. Ob das Versicherungswesen indes im ruralen Raum bis 1935 an die Effektivität des Vorläufersystems heranreichte, bleibt angesichts schlechter Vergleichbarkeit der Leistungswertigkeit beider offen. Dennoch drängen sich Zweifel auf. Viele Personengruppen 861

Vgl. SächsStAL, 20578 Rittergut Wolkenburg und Kaufungen, Nr. 229.

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wurden von den Kassen ausgeschlossen. Wer dem falschen Beruf nachging, selbstständig tätig war, zu viel verdiente, bis zu deren Integration 1913 Angestelltenstatus genoss oder die geforderten Beiträge zu zahlen nicht in der Lage war, durfte nicht beitreten. Ehefrauen und Kinder, so nicht selbst erwerbstätig, blieben ebenfalls außen vor. Des Weiteren waren die am eigenen oder dem lokalen Durchschnittslohn orientierten Hilfsgelder nicht unbedingt üppig. Insbesondere die Witwen- und Waisenrenten vermochten die Hinterbliebenen schwerlich zu ernähren. Alters- und Invalidenrenten entsprachen selbst nach jahrzehntelanger Einzahlung deutlich unter 50 Prozent des ehemals erhaltenen Lohns. Zudem lag das Eintrittsalter der Altersbeihilfe, die nie den Anspruch hatte, Einkünfte zu ersetzen bzw. den Ruhestand eines noch arbeitsfähigen Mitbürgers zu ermöglichen, Jahre über der zeitgenössischen Lebenserwartung erwachsener Personen. 862 Konnten diese neuen Mechanismen sozialer Sicherheit für den demographischen Übergang um 1900 mit verantwortlich zeichnen? Als dessen zentraler Faktor wurde bereits (Kap. 6.4) der massive Rückgang des Säuglingssterberisikos nach 1890 identi ziert. Hierauf hatte das Versicherungswesen mit Sicherheit keinen signi kanten Ein uss. Dieses richtete sich erstens gegen Notlagen, kam also nur bei Einzelfällen überhaupt zur Anwendung, und unterstützte zweitens Schwangere nur dann mit Krankengeld, wenn diese selbst versichert, also abhängig beschäftigt waren. Die so gewährte Schonzeit deckt sich meist nicht einmal mit der traditionellen Frist von sechs Wochen nach der Geburt, binnen der die Wöchnerin ihr Haus nach alter Sitte nicht verlassen, geschweige denn arbeiten durfte. Erkrankte der Säugling, übernahm keine Kasse Behandlungs- oder Arzneimittelkosten. Konnte sich die Familie solche nur schwer oder gar nicht leisten, war eine prekäre Situation für alle oder einige Beteiligte nicht zu vermeiden. Ebenso wenig verbesserte das neue die Situation von Senioren im Vergleich zum alten System. Im Gegenteil entbehrten diese trotz Altersrente der Möglichkeit, sich bei fehlender Invalidität aus der Arbeitswelt zurückzuziehen. Außerdem elen Arbeitslose samt Familien bis zur Einführung des Gesetzes über Arbeitsvermittlung und Arbeitslosenversicherung 1927 unverändert der Armut und Armenfürsorge anheim. Die vermutlich einzigen realen Vorteile stellten die Erstattung von Behandlungskosten bei Krankheit, welche vormals auch Grundbesitzer durchaus in Schulden zu stürzen vermocht und womöglich mit gesteigertem Exitusrisiko zum Behandlungsverzicht ermutigt hatten, sowie die Verp ichtung eines regelmäßig ortsanwesenden Kassenarztes dar. Unter den Versicherten könnte besonders die Infektletalität auf Basis dessen zurückgegangen sein, was wiederum zumindest den epidemiologischen Übergang begünstigte. Mit Quellenbelegen lässt sich ein solcher Zusammenhang in den Untersuchungsorten freilich nicht untermauern.

862

Vgl. Wangler, Walter, Bürgschaft des inneren Friedens. Sozialpolitik in Geschichte und Gegenwart, Opladen /Wiesbaden 1998, S. 51f.

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Die demographischen Auswirkungen des Versicherungswesens vor 1935 sind für den ruralen Raum gering zu schätzen. Unfraglich gaben sie einem Teil jener Bevölkerungsgruppe, die nach alter Manier weitgehend sozialer Sicherheit entbehrte, einen neuen Schutzschirm an die Hand. Nicht wenige, darunter die vor allen anderen schutzbedürftigen Kinder, blieben davon aber ausgeschlossen. Auch existierte das traditionelle Auszugswesen nebenher weiter. Bis 1935 verzeichnen die lokalen Grundbücher Auszugsrechte neben anderen auf Grund und Boden ruhenden Belastungen wie Hypotheken oder Wasserleitungsrechten. Die Kirchbücher nennen Auszügler gar bis 1954. Den neuartigen Sicherungsmechanismen des Sozialstaates war es bis 1935 nicht gelungen, die überkommenen und sukzessive überholten älteren Formen adäquat zu ersetzen. Auf die Bevölkerungsentwicklung wirkten andere sozialpolitische Maßnahmen vermutlich weitaus positiver. Hygienische Aufklärung bzw. ein damit eventuell einhergehendes neues hygienisches Bewusstsein hatte das Potential, in allen Gesellschaftsschichten Krankheiten vorzubeugen, die Sterblichkeit und den Menschenumsatz zu minimieren sowie womöglich den schließlich in allen ruralen Bevölkerungsgruppen ablaufenden demographischen Übergang entscheidend zu prägen. Tariflöhne, Arbeitsschutz bzw. eine Verbesserung der Arbeitsbedingungen und die Begrenzung der Arbeitszeiten, wofür sich im Untersuchungsgebiet seit 1903 der Deutsche Textilarbeiterverband engagierte, erhöhten die Lebensqualität kontinuierlich. Die im März des Jahres im Rußdorfer Gasthaus Stadt Altenburg referierende Sozialdemokratin Marie Greifenberg aus Augsburg lies dazu verlauten, „daß die Frau heutzutage gezwungen sei sich dem Arbeitsmarkte hinzugeben, indem der Mann zufolge seines geringen Lohnes nicht mehr im Stande sei seine Familie zu ernähren, damit sie ihre Kinder nicht hungernd versiegen ließen. Die häusliche Familienarbeit müsse bis zur Nachtzeit liegen bleiben, oder durch die Kinder besorgt werden. Auch käme es sehr häu g vor, daß die Frau in die Fabrik auf Arbeit ginge und der Mann müsse zu Hause scheuern und waschen. Sogar Sonn- und Feiertags müßten sich die Frauen in unzulässiger Weise und in sehr häu gen Fällen beschäftigen [...] Das Kind was die Frau unter ihrem Herzen trüge müsse schon im Mutterleibe verkümmern und könnte nur schwach und elend zur Welt kommen und könnte dann etwa noch nicht mal von der Mutter ernährt werden“. 863 Den Rückgang der Familiengrößen, eine zentrale Facette der demographischen Transition, förderte womöglich nicht ein höheres Maß sozialer Sicherheit, sondern konträr eine möglicherweise erzwungene stärkere Einbindung der Frau in kontinuierliche, den eigenen Haushalt verlassende Lohnarbeit.

863

Vgl. ThStA Abg, Landratsamt Altenburg, Nr. 3346.

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8.3 EHEPARTNERWAHLVERHALTEN Stellenbesitz fungierte in den traditionellen Gesellschaften Rußdorfs und Bräunsdorfs als zentraler Faktor sozialer Sicherheit. Je ertragreicher und hochwertiger der Grund, desto besseren Schutz bot er seinen Bewohnern im Krisenfall, desto bessere Versorgung garantierte er im Alltag, wie bei Krankheit, Invalidität oder Alter und einen desto besseren materiellen Start gewährte er den weichenden Erben beim Eintritt in das eigenverantwortliche Leben. Wenn nicht die Zahl der Kinder primär über das Maß potentieller Absicherung entschied, sondern der Betrieb eines eigenen möglichst wirtschaftskräftigen Haushalts, welcher in Kooperation mit einem Ehepartner einerseits theoretisch optimal zu führen war, andererseits nach althergekommener Moral und Sitte nach einer Verheiratung seines Vorstehers verlangte, dann konnte die Ehepartnerwahl keineswegs frei von Zwängen verlaufen. Soziale Aspekte spielten dabei auf dem Dorf im Gegensatz etwa zum Adels-, dem städtisch bürgerlichen oder dem zünftig handwerklichen Milieu etc. kaum eine bis gar keine Rolle. Innerhalb der geburtsständischen Ordnung des Heiligen Römischen Reiches war es Dorfbewohnern ohnehin nahezu unmöglich, unstandesgemäß zu heiraten. Deutlich größer, wenngleich im Ganzen betrachtet noch immer gering, erschien die Gefahr einer unehrenhaften Verehelichung. Doch auch im ideellen Sinne standen die Chancen im Limbacher Land gering, nicht unter „seinesgleichen“ zu wählen. Starres Standesbewusstsein bzw. besitzständisches Abgrenzungsgehaben war in den lokalen ruralen Gesellschaften intern ursprünglich nicht angelegt. Sofern überhaupt praktiziert, richtete sich dieses wahrscheinlich dorfgesellschaftlich gegen den „Fremden“ per se und nochmals zugespitzt gegen (wohlhabende) Städter als Vertreter einer dem Landbewohner mit zunehmender Nähe zur Gegenwart fortschreitend entfremdeten Lebensart und Kultur. Letzteres beruhte auf Gegenseitigkeit. Der Dualismus Stadt – Land ist auch im demographischen Sinne hinlänglich bekannt und wurde vielfach behandelt. 864 Die kolonisatorische Infrastruktur der Untersuchungsorte stellte deren Einwohner materiell gleich. Schwerlich konnten sich auf ihrer Grundlage endogam pauschal kollidierende Gruppenidentitäten herausbilden. Zwar ließ Parzellenhandel über die Jahre eine große Bandbreite der Besitzgrößen entstehen, jedoch blieben die Eigentümer gemeindepolitisch gleichgestellt. Freilich generierten bäuerliche Ausbildungspraxis und praktiziertes Anerbenrecht vermutlich spätestens ab der ersten nachkolonisatorischen Generation eine zweite diametrale rurale Schicht gänzlich Landbesitzloser. Ob deren extrem uktuierenden Charakters war dem Bauernstand eine klare und artikulierte Abschottung, die über das individuelle, von wirtschaftlicher Abhängigkeit und einem dar-

864

Vgl. Knodel, John, Stadt und Land im Deutschland des 19. Jahrhunderts: Eine Überprüfung der Stadt-Land-Unterschiede im demographischen Verhalten, in: Schröder, Wilhelm Heinz (Hg.), Moderne Stadtgeschichte, Stuttgart 1979, S. 238–265.

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aus resultierenden Machtgefälle geprägte Verhältnis zwischen Herrschaft und Dienstboten oder Hausvorstand und Hausgenossen hinausging, schwer möglich. Zum überwiegenden Teil entstammten Gesinde und Mietwohner schließlich vor Herausbildung dörflicher Mittelschichten seit dem 16. Jahrhundert und bei im Ganzen ausbleibender Eigenreproduktion der Unterschicht konsequenterweise der Bauernschaft. Mancher, der sich heute noch als Knecht verdingte, mochte morgen schon einer ererbten, erkauften oder erheirateten Stelle vorstehen. Sozialständische Aspekte hatten daher bei der Ehepartnerwahl in den Untersuchungsorten nachgeordnete Bedeutung. Daraus auf eine relativ unbeschränkte Liebesheiratspraxis zu schließen, wäre allerdings verfehlt. In welchem Maße persönliche Zuneigung auf die Partner ndung Ein uss nahm, verschweigen die intime Berichte aussparenden Quellen. Obgleich die Eltern oder Vormünder wenigstens der Frau ein Vetorecht besaßen und der oder die Zukünftige somit mehreren Parteien zusagen musste, sind zumindest Eheabsprachen auf dem Rücken der Betroffenen im Limbacher Land nicht belegt. Da die späteren Ehegatten offensichtlich eigenständig gefunden werden mussten – Gesellschaft und Dorfjugend bekleideten lediglich Mittlerfunktionen –, nahmen Sympathie und Attraktivität mit Sicherheit erheblichen Raum ein. Zu welchen Teilen vernunftmäßige materielle Erwägungen in das Wahlverhalten spielten, variierte zweifellos von Fall zu Fall und ist im Nachhinein nicht hinlänglich ermittelbar, zumal vermutlich die Grenzen zwischen Ökonomie und Attraktivität verschwammen. Davon zeugen festliche öffentliche Einzüge der Braut und ihrer Morgengabe, wie sie zum Beispiel in Westfalen Brauch waren. 865 Eine signi kante Brautausstattung bzw. eine vorteilhafte Heirat versprachen soziales Prestige und mehrten die Überlebenschancen der jungen Familie. Mit Hinblick auf die proportional zum Eigentumswert steigende theoretische soziale Sicherheit und im Bestreben, den heimatlichen Lebensstandard zu erhalten bzw. diesen zu kopieren, wurde nach Möglichkeit innerhalb des eigenen Besitzstandes oder in einen höheren geheiratet. Der Ehepartnerwahlkreis de nierte sich mutmaßlich über diesen Anspruch, setzte aber zugleich die Fähigkeit zur realistischen Einordnung des eigenen „Wertes“ auf dem Heiratsmarkt voraus. Die De nition materieller Anziehungskraft folgte geschlechtsabhängigen Regeln. Ledige Frauen zogen ihre Reputation aus ihrem Herkunftsgut und der ihnen daraus zustehenden Ausstattung bzw. dem Stand ihrer Eltern. Dadurch el es ihnen, nachdem sich die dörfliche Gesellschaftsstruktur auszudifferenzieren begonnen hatte, potentiell leichter, gemessen an ihrer sozialen Herkunft aufzusteigen oder dieser zu entsprechen. Weibliche Einzelkinder oder bruderlose Erben hatten Anspruch auf das elterliche Besitztum und konnten diesen einsetzen, eine gute Partie für wohlhabendere Männer

865

Vgl. Weber-Kellermann, Landleben, S. 72. – Siehe auch: Troßbach, Werner /Zimmermann, Clemens, Die Geschichte des Dorfes, Stuttgart 2006, S. 137.

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zu machen, oder einem weichenden Erben bzw. Angehörigen niederen Besitzstandes Einheirat und eventuellen sozialen Aufstieg zu ermöglichen. Witwen befanden sich in derselben Position. Abgefundene Heiratswillige mussten umso attraktiver erscheinen, je größer ihr Herkunftsgut war, je besseren ökonomischen und sozialen Ruf ihre Eltern hatten und je weniger Geschwister ihnen zur Seite standen. Tendenziell sank die Höhe der Auszahlung mit der Anzahl ebenfalls abzu ndender Brüder und Schwestern. Männer konnten dagegen nur mittelbar auf ihre Herkunft bauen. Entscheidend war, ob potentielle Bräutigame zur Versorgung einer Familie ausreichende Heiratsfonds mitbrachten, d. h. sich im Besitz einer sozioökonomischen Stelle oder in begründeter Aussicht darauf befanden bzw. ein geregeltes Einkommen vorweisen konnten. Erbende Söhne erfüllten die Voraussetzungen per se und blieben in der Regel an den väterlichen Stand gebunden. Weichende Erben wurden analog zu ihren Schwestern in Abhängigkeit vom Wert des elterlichen Gutes und der Geschwisterzahl ausbezahlt. Dieses Startkapital mochte zum Erwerb einer eigenen Hofstelle genutzt oder in eine handwerkliche Ausbildung investiert werden. Zum Heiratsfonds genügte die reine Barschaft traditionell selten. Zwangsläu g reichte sie meist auch unter Ansparung weiterer Geldmittel nicht aus, um sich in den Besitzstand der Eltern einzukaufen, geschweige denn einen sozialen Aufstieg innerhalb der ruralen Gesellschaft zu vollführen. Die regulierte Vielfalt des Ehepartnerwahlverhaltens soll im Folgenden am konkreten Beispiel mehrerer Familien über den Untersuchungszeitraum hinweg nebst eventuell eintretendem Wandel illustriert werden. Hierbei sei auf die begrenzte Aussagekraft des reinen Datenmaterials hingewiesen. Individuelle Interessenlagen der Akteure, basierend auf deren Persönlichkeit, Biographie, momentanen Stimmungen und Umweltbedingungen bleiben zwangsläu g außen vor. Georg Richter († 1582), seit 15–20 Jahren verheiratet und Vater mindestens dreier Söhne, erwarb 1571/1572 das Löbel'sche Schenkgut, den mit Abstand bedeutendsten Grundbesitz in Rußdorf. Warum die erst zwei Jahre zuvor auf Abel Löbel gekommene Erbschenke bereits wieder zum Verkauf stand, liegt im Dunkeln. Richter nutzte seine Chance. Mit Sicherheit hatte er in einer der umliegenden Ortschaften ein kleineres Bauerngut besessen, dessen Verkauf ihm die nötige Finanzkraft gab. Die Söhne pro tierten davon durch gesteigerte Erbgelder. Philip ließ sich als Bürger in Lichtenstein nieder, Nicolaus heiratete eine Bauerntochter in Oberfrohna und übernahm entweder deren väterliches Gut oder erwarb ein Bauerngut vor Ort. Der Kurerbe Jacob Richter ehelichte 1584 indes eine Tochter des alten Rußdorfer Richters Gregor Frischmann, eine sicherlich nanzkräftige prestigeträchtige Partie. Für die Ehepartnersuche nahm er sich nach dem Erbantritt über ein Jahr Zeit, in dem er die Schenke mit seiner Mutter allein führte. Das gute Auskommen der drei Richter-Brüder verwundert freilich angesichts des Umfangs des elterlichen Besitzes wenig. Desgleichen nagte das junge Eigentümerehepaar, trotz langjährigen mütterlichen Auszugs und der Ab ndungsleistungen, zu denen ein 1608 200 Gulden wertiger Gar-

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ten zählte, nicht eben am Hungertuch. Neun Kinder entsprangen der Verbindung bis 1603, von denen nur ein Sohn wenige Tage nach seiner schweren Geburt starb. Der Tod des Vaters 1604 beendete die ausgesprochen regelmäßige Geburtenfolge mutmaßlich verfrüht. Die Wirtschaftskraft des Schenkguts gestattete es ihm gar, noch 1598 zusätzlich das Pleißaer Lehngericht käuflich an sich zu bringen. Der Werdegang seiner Kinder zollte dem Tribut. Keines blieb unverheiratet und wahrscheinlich, was natürlich angesichts der Anfang des 17. Jahrhunderts in den meisten Ortschaften rudimentär ausgebildeten dörflichen Mittelschicht wenig verwundert, entstammten alle deren Ehepartner dem bäuerlichen Milieu. Der älteste Sohn Nicolaus übernahm das Pleißaer Lehngericht, der zweite, Georg, etablierte sich als Wirt in Altchemnitz, der dritte, Jacob, übernahm die Niederfrohnaer Schenke und der Kurerbe Gregor das Rußdorfer Gut. Von den Töchtern ehelichte Gertrud den Erben eines Anspannguts in Rußdorf, Margareta tat es ihr nach und Maria ging ihre 54-jährige Ehe mit einem erbenden Bräunsdorfer Bauernsohn, der zeitweise zusätzlich über ein Handgut verfügte, ein. Die Familie verfügte über immenses soziales Prestige. Ihre für alle Geschwister vorteilhafte Heiratspolitik war bei einer derart hohen Kinderzahl in dieser Zeit trotz Dominanz des Bauernstandes auf dem Heiratsmarkt keinesfalls selbstverständlich. In der Enkelgeneration Jacob Richters kamen Status uktuation und Facettenreichtum der Attraktivität gleichzeitiger bzw. aufeinanderfolgender Bewohner eines Gutes sowie Angehöriger eines Standes klar zum Ausdruck. Der nunmehrige Rußdorfer Wirt zeugte in zwei Ehen sechs Kinder. Davon starb eine Tochter nach drei Monaten. Das Schicksal des einzigen Kindes zweiter Ehe ist unbekannt. Womöglich litt die Schenke stärker als manch anderes Gut unter den Folgen des Dreißigjährigen Krieges; vielleicht hatte die Ausbezahlung der weichenden Erben nebst dem 26-jährigen mütterlichen Auszug deren Ökonomie geschwächt; vielleicht gebärdete sich Gregor Richter als schlechter Wirtschafter. Das Schenkgut reichte Mitte des 17. Jahrhunderts scheinbar nicht mehr an seine vorherige Bedeutung heran. Das Besitzprestige allein reichte zur Kompensation verminderter nanzieller Kräfte nicht aus. So musste sich der abgefundene Sohn Georg 1656 mit einer erbenden Gärtnertochter aus Rußdorf begnügen, deren Gut er übernahm. Die beiden verheirateten Schwestern schritten ausgesprochen jung mit 18 und 21 Jahren zur Ehe, konnten dafür wahrscheinlich ihren Stand wahren. Abraham, der Kurerbe, ging unter Gregor Richters Kindern die beste Verbindung ein, indem er ebenfalls erst 21-jährig ein Jahr nach dem Tod des Vaters eine Schenkwirttochter aus St. Egidien zur Frau nahm. Noch glückloser erscheint die Nachkommenschaft der Amtsrichtergattin Margareta Rudolph geb. Richter (1603–1641). Die Hälfte ihrer lebendgeborenen vier Kinder kam über das Kleinkindalter nicht hinaus. Eine der beiden verbleibenden Schwestern rutschte in die Unterschicht ab, obwohl der Vater ein Anspanngut hielt. Der einzige Sohn des Rußdorfer Schulmeisters, bis an sein Lebensende ohne Haus und Hof bleibend, wurde ihr Ehemann. Maria, die zweite Schwester, trat 1649 nur 19-jährig mit

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Christoph Helbig vor den Altar. Dieser führte als Kurerbe nach dem Tod der Mutter zwei Jahre zuvor wahrscheinlich allein in Gemeinschaft einer älteren Schwester das väterliche Gut. Die Ausstattung seiner Braut spielte für ihn wohl nicht die Hauptrolle. Auf den ersten Blick bot der 1628 1428 Gulden Kaufgeld würdige väterliche Besitz den Rudolph'schen Töchtern keinen angemessenen Heiratsfonds. Tatsächlich hatten sechs weitere Kinder zweiter Ehe des Vaters, von denen ein Sohn ledig starb, einer es zum Vollbauern brachte und zwei in die Kleinbauernschaft absanken, ebenfalls Ansprüche auf dessen Gut. Demgegenüber zahlte sich die doppelte Gutswirtschaft des Bräunsdorfer Pfarrlehnmanns Benedikt Fiedler (1588–1666) aus. Sieben seiner Kinder erreichten die Mündigkeit. Der einzige Sohn gleichen Namens nahm den Erbausgleich, heiratete 1645 eine Tochter des Waldenburger Bürgermeisters Burghart Schirmer und stand sich in der Stadt gut als Handelsmann. So ging das Pfarrlehen an den Ehemann der jüngsten Tochter Sybilla, selbst ein ausbezahlter Gärtnersohn. Einen solchen nahm auch Catharina zum Gatten, ihm über das väterliche Handgut den sozialen Aufstieg ermöglichend. Einzig Gertrud rutschte durch Ehelichung des Gärtners Paul Grobe in die Mittelschicht ab. Die übrigen drei Schwiegersöhne Fiedlers wurden ein Oberfrohnaer Bauer, ein zweifach verwitweter Bauer in Bräunsdorf sowie Peter Fiedler, Sohn des Kaufunger Holzmüllers Erasmus Fiedler und selbst Mahlmüller auf der Bräunsdorfer Obermühle. Die begrenzten Beispiele zeigen bereits, dass weniger die reine besitzständische Einordnung noch die Reputation der Eltern im Positiven auf die spätere materielle bzw. nanzielle Situation der Kinder Ein uss nahmen. Zeigte die Gutsökonomie starke De zite oder waren zu viele Geschwister auszubezahlen, standen die Chancen der weichenden Erben bei geringen Ausstattungssummen schlecht, innerhalb der vormaligen Klasse einen Partner zu nden. Zugleich kommt hierin ein traditionell erheblicher Stellenwert des Heiratsfonds innerhalb der Ehepartnerwahl zum Ausdruck. Persönliche Zuneigung oder gar Liebe spielten entweder eine geringe Rolle, blieben schichtenübergreifend der Dorfjugend vorbehalten und ordneten sich bei der Heirat dem ökonomischen Aspekt unter oder bewegten sich von vornherein in nach materiellen Gesichtspunkten de nierten Grenzen. Das Prinzip führten die nachfolgenden Generationen auch in protoindustrieller Zeit bei gesellschaftlicher Ausdifferenzierung fort. Der Rußdorfer Wirt Abraham Richter (1637–1681) starb früh unter Hinterlassung einer mündigen Tochter und sechs unmündiger Kinder. Noch vor seinem Tod oder in den anschließenden drei Jahren erbgemeinschaftlicher Wirtschaft liefen auf dem Gut einige Schulden auf, weswegen die Gefahr bestand, dass „die zum theil annoch unerzogenen Kinder aus ihrem Väterlichen Guthe gantz und gar lehr ausgehen müsten“. Abraham Sebastian (1650–1708) aus Limbach, der die älteste Tochter 1684 zur Frau nahm, erkaufte die Schenke im selben Jahr. Einzig diesem Kauf verdankte das Gut eine nanzielle Sanierung. Weil „der Käuffer auff bewegliches Zureden, endlich dahin gewonnen worden, daß Er bloß in Ansehung der Kinder armseeligen Zustandes, denen und sonsten niemand

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es zu guthe gehen solte“ 866, einen höheren als den eigentlich geforderten Betrag bezahlte, mochten die Schwäger eine angemessene Ausstattung erhalten haben und in den Genuss vorteilhafter Heiraten gekommen sein. Während es der abgefundene Kurerbe Gregor nach Ehelichung der Tochter eines Hohensteiner Handwerkers zum Stadtrichter von Ernstthal brachte, wurden mindestens zwei seiner Schwestern an bäuerliche Erben, eine dritte an einen Oberlungwitzer Hufschmied gegeben. So wie die geringe Wirtschaftskraft eines Besitztums also nicht automatisch in geringen Heiratsfonds und schlechten -chancen der daraus hervorgehenden ledigen Personen resultierte, hatte eine gute ökonomische Situation keineswegs zwangsläu g Gegenteiliges zur Folge, wie die nächste Generation Heiratswilliger der Rußdorfer Schenke beweist. Nach dem Tod des Wirts Sebastian 1708 führte abermals die Erbengemeinschaft, bestehend aus Witwe und Kindern, die Wirtschaft interim zur Erhaltung des kurerblichen Anspruchs. Obwohl „sie in guter Einigkeit bey ihrem geführten christlichen Leben und Wandel Gottes Gnade und Seegen verspühret, die Schenck Güther nicht alleine von allen Ansprüchen gäntzlichen liberiret, sondern auch die gantze Hoffe Städte, auch einer Mühle am Teiche [...] vom neuen auffgebauet“ 867, den Gutshaushalt also in hervorragenden Stand brachten, heirateten von neun überlebenden Kindern lediglich zwei. Zwar starb der Kurerbe Israel jung mit 22 Jahren, aber dessen fünf dauerhaft ledige Brüder erreichten Lebensalter zwischen 30 und 78 Jahren. Ihrer drei gelangten auch zumindest zeitweise an Hausbesitz. War deren Ehelosigkeit, insbesondere vor ihrem ökonomischen Hintergrund, bewusst gewählt bzw. Produkt einer familienpolitischen Entscheidung, um die neu erlangte Wirtschaftlichkeit der Schenke nicht zu gefährden? 868 Hatte die familiäre Reputation unter dem Mühlenprojekt, gegen das einige Rußdorfer offen Stellung bezogen, zu sehr gelitten? Der neue Wirt Christoph Sebastian (1689–1765) freite selbst erst fünf Jahre nach der Gutsübernahme 37-jährig eine 19 Jahre jüngere Mahlmüllertochter aus Altzschillen. Finanziell hätte er es vermutlich besser treffen können, jedoch brachte die junge Frau einen vielleicht notwendigen Draht in die Müllerschaft mit, wenngleich die Sebastian'sche Mühle schon 1723 nachweislich von einem Pachtmüller bewirtschaftet wurde. Eine ebenfalls unter den gegebenen Voraussetzungen eher ungewöhnliche Verbindung ging die einzige Sebastian'sche Tochter Elisabeth ein. Zwei Jahre nach ihrem Bruder ließ sie sich bereits 33-jährig vom Gastwirt des städtischen Etablissements „Zum Streu“ in Penig, einem Witwer, heimführen. Bei Christoph Sebastians Kindern war von dergleichen sonderbarem Ehepartnerwahlverhalten nichts mehr zu spüren. Im Gegenteil trafen es die sechs überlebenden 866 867 868

ThStA Abg, Amtsgericht Altenburg, C I Loc. 1, Nr. 141, fol. 77. Ebd., Nr. 162, fol. 118. Einerseits spricht der Kaufvertrag Christoph Sebastians von großem familiären Zusammenhalt: „Und nachdem die Brüderliche Liebe untereinander also verbündlich, daß Sie noch beysammen bleiben wollten, Käuffer auch ieden biß zu seiner Veränderung den freyen Auffenthalt versprochen.“ – Ebd., Nr. 162, fol. 118. – Andererseits werden Verheiratungen der Brüder dadurch nicht ausgeschlossen und im weiteren Textverlauf ausdrücklich in Betracht gezogen.

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Geschwister insgesamt außerordentlich gut und legten erstmals eine Art Standesbewusstsein, das sonst im Untersuchungsgebiet den eher aus Notwendigkeit tendenziell unter sich in einem größeren geographischen Radius bleibenden Pfarrern, Schäfern und Papiermüllern eigen war, an den Tag. Sebastian, über beinahe vier Jahrzehnte Rußdorfer Schenkwirt, Amtsrichter und „Hochfürstlich Sächßisch Gothaisch-Altenburgischer hochbestallter Steuer- und Geleitseinnehmer“, gab seine älteste Tochter 23-jährig an einen vornehmen Glauchauer Bürger, Kauf- und Handelsmann, Sohn des angesehenen „Hochgräflich Schönburgischen Landrichters“ Christoph Friedrich Lochmann, die zweite mit gerade 17 Jahren an den begüterten Einwohner, „Vicelandrichter“ sowie „Königlich Polnisch und Churfürstlich Sächßischen Acciseeinnehmer“ Christian Johann Herold in Abtei Oberlungwitz, die dritte 20-jährig an den verwitweten Wirt, „Königlich Pohlnischen und Churfürstlich Sächsischen Posthalter“ sowie „Hochgräflich Schönburgischen Landgerichtsschöppen“ George Gottlob Herold in Oberlungwitz. 869 Nur die jüngste Tochter musste sich mit einem „einfachen“ verwitweten Pferdebauer in Rußdorf 19-jährig zufriedengeben. Desgleichen machte der Kurerbe, welcher bei seiner ersten Hochzeit zu Vaters Lebzeiten auch gerade 19 Jahre zählte, mit seinen beiden ausbezahlten Bauerntöchtern verhältnismäßig unspektakuläre Partien. Stattdessen stach der ältere Sebastian'sche Sohn Christoph Heinrich völlig aus der ländlichen Norm hervor. Nach seiner Promotion in der Juristerei 1752 in Leipzig fand dieser eine Anstellung als „Hochgräflich Schönburgisch Wechselburgischer Hofsecretair“ und „adjungierter Amtsschießer“. 870 Seine Braut, die er im Alter von 32 Jahren zur Frau nahm, war Tochter des damaligen Leukersdorfer Lehnrichters und Pächters des Wolkenburger Ritterguts. Die beiden Nachfolgegenerationen brachen abermals mit der Ehepartnerwahlpraxis ihrer Väter. Sofern sich Mitte des 18. Jahrhunderts besitzständisches Abgrenzungsgehaben in den ehelichen Verbindungen niederschlug, blieb dieses nur Episode. Obwohl Heinrich Wilhelm Sebastian (1741–1790), der in seiner Jugend als Leinwandhändler tätig geworden war, exklusive des Richteramtes die Funktionen und den (Wohl-)Stand seines Vaters kopierte, musste er fünf seiner sieben Sprösslinge im Kindesalter beerdigen. Die überlebende Tochter heiratete 20-jährig einen gewichenen Gärtnersohn und Häusler – eine der wenigen Ehen, die vor 1800 in Scheidung endeten –, der Kurerbe Gottlob Friedrich Sebastian (1769–1832) erwählte ein Jahr nach des Vaters Tod standesgemäß eine Bauerntochter aus Oberfrohna. Unter seinen überlebenden vier Kindern ehelichte desgleichen nur die jüngste Tochter einen Pferdebauern. Die älteste Tochter wurde immerhin Frau eines begüterten Handelsmanns in Wüstenbrand, der weichende Sohn erwarb ein Anspanngut in Rußdorf und heiratete erst mit 28 Jahren eine Gärtnertochter. Nicht anders agierte der Schenkerbe Gottlob Friedrich Sebastian (1803– 1853) selbst. Zwar hatte er zunächst eine Pferdebauerntochter an der Hand, doch kam 869 870

EPA Rußdorf, KB I, Trauungen 1750, Nr. 6, Trauungen 1753, Nr. 4 u. Trauungen 1759, Nr. 5. Ebd., Trauungen 1763, Nr. 7.

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die Liaison über ein nach zwei Monaten verstorbenes uneheliches Kind nicht hinaus. Schließlich trat er 1833 mit einer Gärtnertochter, zu deren Taufe sein älterer Bruder Pate gestanden hatte, vor den Altar. Zwei Kinder gingen aus der 20-jährigen Ehe hervor. Der Sohn und Erbe Wilhelm Theodor Sebastian (1837–1873) fand in der Grünaer Strumpf- und Handschuhfabrikantentochter Minna Emilie Herold, nach besitzständischer Sicht der unteren dörflichen Mittelschicht entstammend, 1866 eine eheliche Lebensgefährtin. Seine Schwester band sich bereits 1861 mit 20 Jahren an den damaligen Wittgensdorfer Erbgerichtsbesitzer. In der letzten hier betrachteten Generation von Rußdorfer Wirtskindern wurde Grundbesitz offensichtlich kaum noch in Ehepartnerwahlerwägungen einbezogen. Über die soziale Herkunft der jungen Wirtin, die der Kurerbe Theodor William Sebastian (1870–1936) vier Jahre nach völliger Brandzerstörung des alten Schenkguts heiratete, ist nichts bekannt. Seine beiden überlebenden Schwestern banden sich hingegen noch vor dem Feuer jeweils an einen Kaufmann, augenscheinlich ohne Hausbesitz. Grundlegende Veränderungen in der Partnersuche manifestierten sich in der exemplarischen Familie über den gesamten Untersuchungszeitraum hinweg nie. Das Heiratsverhalten der Rußdorfer Wirtskinder erhob in erster Linie die individuelle situative Diversität zum übergeordneten Prinzip und ließ Standesdünkel zumeist außen vor. Allerdings scheint dieser im 19. Jahrhundert mit der gänzlichen Auflösung der traditionellen agrargesellschaftlichen Ordnungsstruktur Aufwind erhalten zu haben. Die neu entstandene Gruppe der Fabrikanten tendierte mit zunehmender Größe des besessenen Unternehmens zur Beschränkung des Heiratskreises auf ihresgleichen, höhergestellte Fabrikarbeiter, Intellektuelle, Handelsmänner und Gutsbesitzer. Zum Beispiel heiratete der Erbe des kleinbetrieblich operierenden Bräunsdorfer Strumpfwarenfabrikanten Ludwig Theodor Illgen (1839–1896) die Tochter eines im selben Ort ansässigen ehemaligen Pferdebauers. Der zweite Sohn wurde Lehrer in Chemnitz. Die beiden Schwestern ehelichten lediglich Gärtnersöhne, der eine Lehrer, der andere Schlosser und später Lokomotivführer. Sein einziger Sohn aus erster Ehe, der ebenfalls als Strumpffabrikant auftrat, nahm desgleichen eine lokale Bauerntochter zur Frau. Unter Gustav Alfred Illgen (1873–1967) wurden zeitweise mehr als 60 Personen größtenteils in Heimarbeit in der Firma Ludwig Illgen beschäftigt. Das orierende Geschäft schlug sich auch in vorteilhaften Heiraten bzw. Lebenswegen seiner Kinder nieder. Von sieben Sprösslingen starb einer im Säuglingsalter und blieb die älteste Tochter zeitlebens ledig. Die zweite heiratete 1917 den Thalheimer Patentpapierfabrikanten Otto Kron, Sohn eines Baseler Privatmanns, die dritte 1922 den Limbacher Bezirksbevollmächtigten und späteren Bankvorsteher Fritz Walther Illgen, Sohn des väterlichen Halbbruders Emil Theodor Illgen, die vierte 1932 einen Molkereiverwalter in Prosigk und die jüngste im selben Jahr den in Schlesien geborenen Bräunsdorfer Lehrer Bunzel. Als einziger Sohn und Nachfolger vermählte sich Johannes Ludwig Illgen (1898–1964) 1925 mit der Tochter eines Berliner Prokuristen.

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Noch deutlicheres Abgrenzungsgehaben legten die Kinder Ernst Theodor Welkers (1863–1920) in Rußdorf an den Tag. Selbst ausbezahlter Sohn eines Rußdorfer Anspanners, heiratete er 1884 die Tochter des Rußdorfer Strumpffabrikanten Samuel Friedrich Engelmann, dessen Betrieb er spätestens nach dessen Tod 1890 übernahm und unter dem neuen Namen Welker & Söhne zu einer global agierenden und namhaften Unternehmung ausbaute. Acht seiner zehn Kinder erlebten ihre mündigen Jahre. Georg Kurt wurde Geschäftsgehilfe und el 27-jährig ledigen Standes in der Somme-Schlacht. Emil Johannes übernahm 1920 die väterliche Fabrik, wurde aber zwei Jahre später gleichfalls ledig Opfer eines Unfalls. Ebenso scheint der jüngste Sprössling bis ins Alter unverheiratet geblieben zu sein. Der einzige verbleibende Sohn Georg William Welker führte die Rußdorfer Strumpffabrik weiter. Seine Schwestern heirateten einen Limbacher Handschuhfabrikanten, einen dort ansässigen Geschäftsführer und Fabrikantensohn, einen Rußdorfer Geschäftsgehilfen und Ziegeleibesitzersohn sowie einen Architekten und Bauunternehmersohn aus Oberfrohna. Machte das Heiratsverhalten der schließlich eine Sonderstellung innerhalb der Dorfökonomie einnehmenden Schankwirte und Industriellen gleichermaßen eine Irregularität aus oder spiegelte es unbenommen ihrer Position die Norm wider? Andere Vertreter der bäuerlichen Oberschicht zeigten keine Unterschiede. Zum Beispiel heiratete der Erbe des Rußdorfer Pferdebauers Christoph Helbig (1627–1688), welcher für sein ererbtes Gut mit 200 Gulden 1648 lediglich ein Zehntel des Kaufpreises Gregor Richters 19 Jahre zuvor gezahlt hatte, eine Anspannertochter aus Rottluff. Zwei Schwestern ehelichten lokale Bauerngutserben, eine stieg in den Häuslerstand ab. Christoph Helbig der Jüngere (1669–1735) hatte nur zwei Kinder zu verheiraten. Tochter Maria wurde standesgemäß an einen Rußdorfer Pferdebauer gegeben, der Sohn Gregor (1692–1775) trat mit der zukünftigen Gartenerbin Sabina Schüßler vor den Altar. Obwohl der Kleinbauernschaft angehörig, gab ihr immobiles Erbe einen deutlich besseren Heiratsfonds als die meisten Ausstattungsleistungen weichender pferde- und handbäuerlicher Erben ab. Nicht zuletzt der doppelte Gutsbesitz mag ihren acht überlebenden Kindern größere Heiratschancen eingeräumt haben. Deren Werdegänge zollten ihrer Anzahl eindeutig Rechnung. Zwar verehelichten sich alle, doch brachte es unter den beiden Söhnen nur der Kurerbe Michael (1735–1811) zum Pferdebauern, mit einer ausbezahlten Gärtnertochter an seiner Seite. Sein Bruder fand zwar eine Standesgenossin, musste sich aber mit dem ehemals mütterlichen Garten begnügen. Zwei Schwestern fanden ein Auskommen als Bäuerinnen in Falken und Löbenhain, eine vermählte sich mit einem verwitweten Handbauern in Kändler, zwei wurden Gartengutsvorsteherinnen in Kändler und Rußdorf. Die letzte stieg in den Häuslerstand ab. So idealtypisch die beiden letzten Generationen der Familie Helbig dem eingangs angenommen negativen Zusammenhang zwischen der Anzahl der Kinder einer Familie und ihren Heiratsfonds bestätigen, so sehr scheinen die folgenden dem zu widersprechen. Während der zukünftige Erbe des 1803 1500 Meißner Gulden Kaufpreises

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würdigen Gutes Benjamin Helbig (1770–1858) durch wiederholte Schwängerung seiner Liebsten endlich sogar eine erbende Anspannertochter ehelichen durfte, heiratete seine jüngere Schwester einen weichenden Bauernsohn und endete als Häuslerin. Die zweite Schwester traf das gleiche Schicksal mit einem hausbesitzenden Witwer in Hellsdorf. Eine Generation später hielt auch der doppelte Gutsbesitz bei sechs erwachsen gewordenen Kindern nicht mehr als zwei in ihrem originären Besitzstand. Zwei Töchter sanken mit einem ausbezahlten Gärtnersohn und einem Häuslererben in die Rußdorfer Häuslerschaft, die beiden anderen Geschwister trotz Verpartnerung mit ihresgleichen in die gewerblich tätige Unterschicht ab. Für den Nachwuchs des Bauern Wilhelm Heinrich Helbig (1808–1888) war der väterliche Besitz augenscheinlich von nachgeordneter Bedeutung. Von zwei überlebenden Töchtern blieb die Erbin freilich mit dem gewichenen Niederfrohnaer Bauernsohn auf dem Eigentum ihrer Vorväter sitzen. Die ausbezahlte Tochter vermählte sich jedoch trotz unfraglich nennenswerter Ab ndungssumme mit einem hausbesitzenden Wirkstuhlbauer in Wasseruhlsdorf. Die niederen Besitzstände kopierten das bäuerliche Ehepartnerwahlverhalten. Der Gärtner Jacob Grobe aus Bräunsdorf (1652–1735) hatte zum Beispiel vier Kinder zu vergeben. Sein Erbe Johannes (1702–1766) konnte mit seinem Heiratsfonds eine standesgemäße Heirat erreichen. Dessen älterer Bruder fand sich hingegen trotz Ehelichung einer Mittelfrohnaer Bauerntochter mit 32 Jahren im Hausgenossenstatus wieder. Einer Schwester gelang der Statuserhalt in Grumbach, die zweite stieg gar in die Oberfrohnaer Handbauernschaft auf. Johannes Grobes Gartenbesitz ging offensichtlich an den unehelichen Sohn Johann Christoph Wetzel (1747–1810) seiner einzigen überlebenden Tochter, die mit ihrem Ehemann ohne Grundbesitz nach dem Tod eines siebenjährigen Sprösslings kinderlos blieb. Wetzel selbst fand in einer Rußdorfer Gärtnertochter seine Lebensgefährtin. Von ihren beiden Kindern überlebte nur die Tochter, welche mit ihrem standesgemäßen Ehemann ohne den väterlichen Garten auskommen musste. Entsprechend blieb deren Nachkommenschaft in Bräunsdorf, soweit nachvollziehbar, der sich im 19. Jahrhundert entwickelnden Unterschicht sowohl in ihrem Besitzstatus als auch in ihrer Ehepartnerwahl verhaftet. Die referierten Beispiele entwerfen das Bild schichtenübergreifend nach demselben Muster ablaufender, generaliter relativ pauschaler Ehepartnerwahl auf dem Lande, deren Prinzipien zwischen dem späten 16. und frühen 20. Jahrhundert keine ersichtlichen Änderungen erfuhren. Selbst eine bis ins späte 19. Jahrhundert zunehmende und zum Ende des Untersuchungszeitraums wieder rückläu ge soziale Heterogenität der Ehepartner hinsichtlich ihres väterlichen wie ihres eigenen (Besitz-)Standes, die auch Volkmar Weiss den sächsischen Landbewohnern attestierte 871, ist kein Indikator transformierter Mechanismen, sondern ergibt sich folgerichtig aus der langfristigen dorfge871

Vgl. Weiss, Volkmar, Bevölkerung und soziale Mobilität. Sachsen 1550–1880, Berlin 1993, S. 125 ff.

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sellschaftlichen Ausdifferenzierung. In der anfänglich effektiven Einklassengesellschaft, in der die durchaus vorhandene Unterschicht zum Durchgangsstand oder Auffangbecken der Glücklosen diente und, sich aus der Oberschicht „nährend“, eine eigene Reproduktion weitgehend unterließ, konnte auf dem Dorf faktisch keine standesübergreifende Hochzeit statt nden. Die einzige Ausbruchsmöglichkeit bot der Gang in den städtischen Raum, der regelmäßig entweder in interbürgerlichen oder bürgerlich-bäuerlichen Vereinigungen resultierte. Mit Herausbildung der in den Untersuchungsorten schnell quantitativ bedeutsam bis vorherrschend werdenden Gärtner- und später der Häuslerschaft wandelten sich die Umgebungsbedingungen, wahrscheinlich aber nicht das Wahlverhalten bzw. die Partnersuche. Vermutlich fußte das Zueinander nden von Mann und Frau weit weniger auf ökonomischen Abwägungen als es das Konzept der Vernunftehe oder die kollektive Forderung nach angemessenen Heiratsfonds erscheinen lässt. Andererseits oss die nach außen sichtbar kommunizierte eigene oder elterliche Wirtschaftskraft sicherlich maßgeblich in die Attraktivität von Personen beiderlei Geschlechts ein. Sympathie und Ökonomie gingen Hand in Hand bei erheblicher Gewichtungsvariabilität. Da Eheabsprachen über die Köpfe der Paare hinweg in den betrachteten Gesellschaften nicht praktiziert wurden, war die Einwilligung beider Partner in eine Verbindung zwingende Voraussetzung, persönliche Zuneigung über Freundschaft bis hin zur Liebe also unbedingt erforderlich. Die Intensität der pränuptialen Bekanntschaft hing zwangsläu g von Art, Ort und Zeitpunkt des Kennenlernens ab. Entstammten Braut und Bräutigam derselben Dorfgemeinschaft oder lebten sie über einen längeren Zeitraum in unmittelbarer Nachbarschaft bzw. auf demselben Gut, dürfte zum Beispiel regelmäßig eine innigere Bindung bestanden haben als bei Kirmesbekanntschaften oder vermittelten Kontakten etc. War der Wille zur Verheiratung vorhanden, musste die Zustimmung der Brautvormünder bzw. -beistände eingeholt werden. Wenn keine sonstigen obrigkeitlich kirchlichen oder weltlichen Ehebeschränkungen bestanden, wachten zumindest diese darüber, dass ein ausreichender Heiratsfonds der Brautleute insgesamt deren eigenständige, als angemessen empfundene Existenz sicherte. Die Ehepartnerwahl funktionierte im ruralen Raum nach einem komplexen System materieller, ideeller und erotischer Ansprüche, Erwartungshaltungen und Interessenlagen verschiedener Parteien in Kollision mit realen Gegebenheiten, Entwicklungen und Zwängen. Der in den Untersuchungsorten scheinbar hohe Wahl- und Handlungsfreiheitsgrad mündete in einer hohen theoretischen System exibilität trotz relativ starrer, aus wirtschaftlicher Notwendigkeit geborener Regularien. Grundsätzlich galt der vielfach genannte versorgungssichernde Heiratsfonds als zwingende Heiratsvoraussetzung. Dessen Umfang wurde durch Erbe, Ausstattungs- und Ausgleichsgelder sowie mittelbar durch die Zahl weiterer gleichzeitiger Erben und Anspruchshalter, durch die Prosperität der eigenen Wirtschaft und durch die aktuelle Marktsituation determiniert. Ansprüche richteten sich bei den Heiratswilligen selbst nach ihrer wirtschaftlichen Situation, ihrer Selbsteinschätzung, ihrer Biographie, ihrem Alter etc., der Art, Länge und Inten-

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sität ihrer Bekanntschaft sowie nach Angebot und Nachfrage auf dem Heiratsmarkt. Desgleichen variierte die Wahrnehmung der Vetoberechtigten mit deren Beziehung zu den Heiratswilligen, deren De nition eines ausreichenden Heiratsfonds und mit dem Grad persönlicher Involvierung. Je nachdem, welche Bedeutung materiellen Erwägungen von den beteiligten spruchfähigen Parteien bewusst oder unbewusst eingeräumt wurde, nahm der Ehepartnerwahlkreis von vornherein einen spezi schen individuellen Umfang an. Im Zweifel gab, von wenigen Einzelfällen abgesehen, die materielle Verfassung und nicht der Besitzstand – der soziale Status bzw. das Renommee fand dagegen sicherlich Beachtung – den Ausschlag. Nur dadurch wurden die seit dem Spätmittelalter überlieferten schichtenübergreifenden Hochzeiten überhaupt erst ermöglicht. Dabei ist anzunehmen: Je größer das vertikale soziale Gefälle zwischen den Ehepartnern, desto wahrscheinlicher überwogen persönliche Gefühle die materiellen Interessen. Zwei Rußdorfer Beispiele aus dem 17. Jahrhundert stützen diese These. Paul Aurich (1602–1693) wurde in eine der wenigen ruralen Hausgenossenfamilien seiner Zeit hineingeboren. Zwischen 1596 und 1615 ging der Vater gleichen Namens in Rußdorf dem Schneiderhandwerk nach, wechselte dann aber nach Pleißa. Aurich konnte sich keine Hoffnung auf ein Erbe machen, erlernte möglicherweise des fehlenden Geldes halber offenbar auch kein Handwerk. Seine Chancen standen extrem schlecht, überhaupt jemals dem ledigen Stand zu ent iehen. Umso mehr verwundert seine 1646 erfolgte Heirat mit der einzigen, 22-jährigen Tochter und Erbin des 1621 1500 Gulden wertigen Anspannguts Georg Herolts des Unteren, welche theoretisch einer weitaus lukrativeren Heirat entgegensah. Noch 1651 rangierte Paul, inzwischen Vater dreier Kinder, als Tagelöhner und Hausgenosse seines nur zehn Jahre älteren Schwiegervaters. Maria Richter (1641–1714), die Schenkgutauszüglerin und Wirtswitwe, ehelichte desgleichen 1690 ihren ehemaligen Knecht Christoph Auerswald, der schon 1684 im Dienst der Familie gestanden hatte. 872 Wirtschaftliche Vorteile durften sich weder die Auszüglerin noch der Dienstbote erhoffen. Ebenso bestand für die Wirtin keine ersichtliche ökonomische Motivation, die diesen Schritt rechtfertigte. Sobald Gärtner und Häusler die Gesellschaftsstruktur bereicherten, war die beständige nuptiale Durchmischung der Besitzstände bei fehlendem kollektivem und gelebtem Klassenbewusstsein selbst mit rein ökonomisch orientierter Ehepartnerwahl unumgänglich. Manch Gärtnerkind hatte einen größeren Heiratsfonds vorzuweisen als einige bäuerliche Sprösslinge etc. Je zahlreicher schichtenübergreifende Hochzeiten wurden, desto schlechter standen die Aussichten der übrigen Kinder eines Besitzstandes, unter ihresgleichen wählen zu können. Den größten Durchmischungsgrad zeigten hinsichtlich sozialer Herkunft bis in die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts jedoch vertikal benachbarte Besitzstände, d. h. Bauernkinder heirateten in der Regel Bauern- und Gärtnerkinder, Gärtnerkinder vorrangig Bauern-, Gärtner- und Häuslernachwuchs etc. 872

ThStA Abg, Amtsgericht Altenburg, C I Loc. 1, Nr. 141, fol. 77.

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Während sozialer Aufstieg in den seltensten Fällen mehrere Klassen überwand, durchmaß sozialer Abstieg nach Etablierung der Häuslerschaft oft mehrere gesellschaftliche Ränge. Ehelichte zum Beispiel ein ausbezahlter Abkömmling der bäuerlichen Oberschicht ein abgefundenes Gärtnerkind, fristete die Familie ihr Dasein seit dem 18. Jahrhundert oftmals in den Kreisen der Kleinststellenbesitzer. Mit der massiven Expansion der inzwischen reproduktiven Hausgenossenschaft im Laufe des 19. Jahrhunderts wuchs die Konkurrenz insbesondere um die limitierten Häuslerstellen stark an. Darum musste es selbst für weichende bäuerliche Erben zu dieser Zeit nicht unbedingt von Nachteil sein, den Erben eines Hausbesitzers zum Ehepartner zu nehmen und sich ein Mindestmaß an traditioneller Absicherung zu erhalten. Das althergebrachte Heiratsverhalten auf dem Dorf war ganz im Sinne eines „preventive check“ nach Malthus bzw. des Stellenmechanismus nach Mackenroth auf die Wahrung sozialer Sicherheit ausgerichtet bzw. operierte unter entsprechenden Rahmenbedingungen. Im 19. Jahrhundert torpedierte die gewerblich tätige aufstrebende Mietwohnerschaft das überkommene System und stellte zugleich die momentane Heiratspraxis infrage. Die Sexualität löste sich von der Ehe, was in steigenden Quoten unehelicher Kinder seinen Ausdruck fand. Gefühl und Liebe gewannen an Bedeutung. Gewerbetrieb bot bei ständig steigender Nachfrage durch Bevölkerungswachstum und sukzessive zunehmende allgemeine Konsumorientierung immer mehr Dorfbewohnern ein Auskommen abseits der Landwirtschaft. Was Gärtner und Häusler in wachsender Entfremdung von der ruralen Existenz vorgelebt hatten, adaptierten die Hausgenossen seit dem späten 18. Jahrhundert. Während die Unterschicht für bäuerlichen und in geringerem Maße auch für kleinbäuerlichen Nachwuchs bis ins 19. Jahrhundert ihre primäre Bedeutung als Durchgangsschicht behielt, avancierte sie für weichende Häuslerkinder ob der wirtschaftlich gesehen übermächtigen Konkurrenz ausbezahlter Sprösslinge oberer Klassen schnell zum Auffangbecken ohne Perspektive. Gewährte ihnen gewerbliche Tätigkeit ein relativ beständiges Einkommen und damit einen durchaus akzeptablen Heiratsfonds, lag es nahe, bei fehlenden obrigkeitlichen Beschränkungen eine Hochzeit zumindest mit ähnlich Glücklosen anzustreben und durch Schaffung familiärer Bindungen unter anderem das Maß eigener sozialer Sicherheit etwas zu erhöhen. Bei Gelegenheit konnte ein besitzständischer Aufstieg immer noch erfolgen. Tatsächlich multiplizierten sich die Chancen bei Summierung zweier Heiratsfonds theoretisch sogar. Einhergehend mit der nun einsetzenden, frei von Stellenbegrenzung rasch exponentielle Züge annehmenden Selbstvermehrung der untersten Klasse bekamen die weichenden Häusler- und in Abschwächung auch die Gärtnerkinder zusätzliche, bis in die 1930er Jahre stetig wachsende Konkurrenz von nach alter Sicht irregulärer Seite. Jede quantitativ sichtbare augenscheinliche Veränderung des Rußdorfer und Bräunsdorfer Ehepartnerwahlverhaltens stellt sich so als Struktureffekt, als Begleiterscheinung soziostrukturellen Wandels dar. Die individuell situativ variierten pauschalen Partnerndungsstrategien behielten parallel Geltung. Erst der endgültige Übergang zur Indus-

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triegesellschaft in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, die vollständige Loslösung majorativer ruraler lokaler Bevölkerungsteile von der Agrarproduktion, die Entstehung eines unbeschränkten Immobilienmarktes mit der Bauernbefreiung, der allgemeine schleichende Bedeutungsverlust landwirtschaftlicher Tätigkeit innerhalb des kollektiven Bewusstseins, die Materialisierung, der Übergang zu einer zunehmend konsumorientierten Gesellschaft und die weitgehende Abkopplung der sozialen Sicherheit vom Grundbesitz für den Großteil der Einwohnerschaft entzog im Zusammenwirken mit anderen kulturell-mentalen Faktoren und Entwicklungen den traditionellen Prinzipien ihre Grundlage. Spätestens in den ersten 30 Jahren des 20. Jahrhunderts standen offenbar mehrere Formen des Ehepartnerwahlverhaltens in den betrachteten Ortschaften nebeneinander. Die Masse der sich nach der Bauernbefreiung einer besitzständischen Klassi zierung entziehenden Einwohner scheint nach 1900 materiellen Erwägungen nurmehr eine untergeordnete Stellung eingeräumt bzw. diese zugunsten gefühlsorientierter Verpartnerungen erheblich beschnitten zu haben. Weder Besitz noch den beruflichen Stellungen der Heiratenden oder ihrer Väter wurde erkennbar tendenziell Bedeutung beigemessen. Weichende Kinder der bäuerlichen Minderheit reihten sich in dieses Verhalten ein, sofern sie den primären Sektor verließen. Lediglich die kleine Gruppe eine weiterhin agrarproduktive Hofstelle Erbender bzw. der Landwirtschaft Verhafteter hielt zumeist an den überkommenen Prinzipien fest. Die Gründe dieser Abschottung lagen vermutlich einerseits in der (arbeits)räumlichen Trennung von Erwerbstätigen des zweiten und dritten Wirtschaftssektors und den dadurch limitierten Berührungspunkten beider Gruppen, daraus resultierenden Gruppenbildungen sowie dem sozioökonomischen Herkunftsprimat. Sprösslingen aus der Landwirtschaft entfremdeten Milieus fehlte einerseits das nötige Fachwissen, um einem Agrarbetrieb vorstehen zu können, andererseits wirkte eben diese tatsächliche wie sicherlich latent vorgeworfene Absenz für die eine Seite abschreckend und diente der anderen zur bewussten Ablehnung der möglicherweise zusätzlich zunehmend abgewerteten „alten“ Lebensart. Ob bewusst oder unbewusst, Landwirtschaft und Industrie wurden nuptial Anfang des 20. Jahrhunderts bereits deutlich klarer getrennt als vordem. Schließlich entwickelte die im Industrialisierungsprozess neu entstandene absolute Minderheit der Fabrikanten offensichtlich ein in ihrer Heiratspraxis deutlich kommuniziertes Standesbewusstsein. Obwohl noch die Großeltern der meisten Fabrikantenkinder aus den unterschiedlichsten Besitzständen gekommen waren, tendierten diese zur Beschränkung ihrer Ehepartnerwahlkreise auf materiell potentiell gut situierte oder intellektuelle Personen. Am Ende des Untersuchungszeitraums hatte sich das effektive soziale Heiratsverhalten völlig gewandelt. In welchem Verhältnis tatsächliche Verhaltensänderungen und schlichte Struktureffekte, die nachweislich einen bedeutenden Raum einnahmen, dabei zueinander standen, bleibt ob fehlender mentalitätsgeschichtlicher Quellen freilich spekulativ. Ein Mechanismus entzog sich zwischen dem 16. und 20. Jahrhundert allerdings unzweifelhaft jeglicher Transformation. Gleich welchen Prinzipien das allgemeine Ge-

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haben folgte, die individuelle Situation der Involvierten determinierte letztendlich deren Handlungen und konnte potentiell früher wie später alle geltenden Regulative ad absurdum führen.

9. DÖRFLICHE ARBEITSWELTEN

Die vorangegangenen Kapitel berichteten bereits von radikalen Wandlungen der Rußdorfer und Bräunsdorfer Gesellschaften wie Bevölkerungsweisen vor allem, aber nicht ausschließlich während der zweiten Hälfte des 19. und des frühen 20. Jahrhunderts. Auf die enge, über bloße Gleichzeitigkeit und darin wurzelnde interaktive Episoden hinausgehende Verbindung dieser Entwicklungen mit dem sächsischen Industrialisierungsprozess wurde ebenso mehrfach hingewiesen. Es steht außer Frage und ist in der Forschung vielfach beschrieben worden, dass momentane Wirtschaftslagen und Gesellschaftsverfassungen starken Interdependenzen unterliegen. 873 Die im Allgemeinen gebräuchliche großräumige Schau makroregionaler, staatsterritorialer oder globaler Prozesse klammert allerdings, obgleich sie dem zumeist überregionalen Charakter der Ökonomie weitgehend durchsiedelter Areale Rechnung zollt, lokale Realitäten insbesondere wirtschaftlich randständiger Gebiete in Totalansichten weitgehend aus. Den allgemeinen Wirtschaftskreisläufen können sich nur wenige bewusst idealistisch oder unbewusst notgedrungen vollständig autarke, beinahe zwangsläu g politisch autonome Einheiten entziehen. Jede andere Gemeinschaft, die in irgendeiner Form in Warenaustausch mit ihrer Umgebung tritt, trägt unmittelbar oder mittelbar mehr oder weniger intensiv zur überregionalen ökonomischen Entwicklung bei. Aus dieser Erkenntnis leitet sich die Frage nach dem notwendigen bzw. eben nicht nötigen Grad lokaler Involvierung zur Hervorbringung ähnlicher bis gleicher damit einhergehender gesellschaftlicher, demographischer etc. Erscheinungen ab. Des Weiteren steht die zeitliche Reihenfolge eventueller Vorgänge im Kleinen verglichen mit denen en gros sowie deren Ausmaß zur Debatte, um die grundsätzliche Prozessdynamik nachzuvollziehen. Fußte wirtschaftlicher Progress, speziell Protoindustrialisierung und Industrialisierung, in den Untersuchungsorten auf endogenen Ressourcen und Entwicklungen, wurde solcher von außen hineingetragen, wirkte lediglich ein externer Sog ohne konkrete dorfwirtschaftliche Beteiligung oder blieb dergleichen gänzlich aus? Dieses zu eruieren, unternehmen die anschließenden Kapitel zunächst einen Rekonstruktionsversuch zum Entwicklungsverlauf der Rußdorfer und Bräunsdorfer Ökonomie und widmen sich danach im mikroskopischen Blick dem sozialen und wirtschaftlichen Hintergrund der maßgebenden Akteure sowie ihren Werdegängen.

873

Vgl. unter anderem Mendels, Population Pressure. – Malthus, Principle. – Scho eld /Wrigley, Population.

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DÖRFLICHE ARBEITSWELTEN

9.1 VERÄNDERUNGEN DES BERUFSGRUPPENSPEKTRUMS Um Aufschlüsse über die Wirtschaftsentwicklung der betrachteten Dörfer zu gewinnen, werden im Folgenden deren Berufsgruppenspektren auf Veränderungen untersucht. Rückschlüsse auf Warenströme, Produktions- und Absatzmengen, Art und Preise der gehandelten Waren, die Marktanbindung etc. verbietet die Qualität der lokalen Überlieferung nahezu vollständig. Doch auch die Rekonstruktion der Beschäftigungsfelder aller Gesellschaftsmitglieder unterlag erheblichen Schwierigkeiten. Keine der verwandten Quellen nennt zuverlässig zu allen Gesellschaftsmitgliedern, sofern diese überhaupt in Gänze Erwähnung nden, den Lebensunterhalt. Regelmäßig schenken Steuerverzeichnisse und Einwohnerlisten nur den zum überwiegenden Teil männlichen Haushaltsvorständen Beachtung. Personenstandsakten gestehen einzig ledigen Frauen – und dies erst seit dem späten 19. Jahrhundert – eine Erwerbstätigkeitsangabe zu und Adressbucheinträge des 20. Jahrhunderts beziehen nur gemeldete Personen ein. Über alle Quellengattungen hinweg bilden gleichzeitige individuelle Mehrfachnennungen, die über die einfache Kombination von Besitzstand und Gewerbe hinausgehen, die Ausnahme. Offenbar wurde zumeist nur der momentane tatsächliche Haupterwerb angegeben. Ob dieser immer von den Betreffenden selbst oder aber seitens der Quellenautoren eigenständig formuliert, also authentisch oder potentiell vermeintlich die Realität spiegelt, ist im Nachhinein nicht feststellbar. Zwei kurze Rußdorfer Beispiele verdeutlichen die Problematik eindrücklich. Gregor Helbig (1692–1775) tritt in den Kirchbüchern ausschließlich als Einwohner und (Pferde-)Bauer auf. Erst das Studium der Gerichtsbücher und Steuerverzeichnisse offenbart seinen zusätzlichen Gartenbesitz und verrät 1733 die zusätzliche Einkommensquelle der Leinwandbleicherei. 874 Desgleichen sprechen die Personenstandsakten von Michael Haupt (1709–1798) als einem Gärtner und Leinwandhändler, welcher diese Profession über seinen Umzug von Meinsdorf nach Rußdorf beibehielt. Dass er zusätzlich Leinen webte, mit Kram handelte und zu den 1769 vier gewerblichen Hausbäckern des Dorfes zählte, berichtet nur ein Steueranschlag des Jahres. Gleichzeitig führt dieser ausdrücklich sieben Bleichpläne vor Ort, derer einen Haupt besaß, ohne gewerbliche Bleicher zu erwähnen. Dies lag in der damals offenbar unterlassenen Besteuerung dieser Profession begründet. Was nicht steuerrechtlich relevant schien, verschweigen die Steuerverzeichnisse in der Regel. Jeder Quellengattung sind abseits der allgemeinen tendenziellen bewussten Informationsbeschränkung spezi sche Vorzüge und Nachteile für die Ermittlung der Berufsgruppenspektren gegeben. Kirchbücher und Standesamtsakten ermöglichen nach Aufnahme der konsequenten Berufsangabe im späten 17. (Bräunsdorf) und frühen 18. Jahrhundert (Rußdorf) eine kontinuierliche Fortschreibung der momentanen Haupttätig874

Vgl. ThStA Abg, Landesregierung, Nr. 4172.

VERÄNDERUNGEN DES BERUFSGRUPPENSPEKTRUMS

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keitsfelder zumindest der männlichen Gesellschaftsmitglieder. Daraus einen probaten punktuellen Überblick abzuleiten, ist nur bedingt praktikabel bis unmöglich. Demgegenüber bieten gesamtgesellschaftliche Listen und Verzeichnisse einen zuverlässigen, in klar de nierten Grenzen umfassenden Abriss, doch geht ihnen vor allem ob ihrer großen zeitlichen Abstände die Flexibilität abhanden. Dennoch stützt sich die folgende überblicksartige Nachzeichnung der dorfwirtschaftlichen Entwicklung vorwiegend auf jene Totalansichten. Rußdorf Seit seiner mittelalterlichen Gründung aus wilder Wurzel im Rahmen der deutschen Ostkolonisationsbewegung bildete landwirtschaftliche Arbeit die Lebensgrundlage der Bevölkerung Rußdorfs. Hufenverfassung und Lebensweise gewährten der Einwohnerschaft ein hohes Maß an Autonomie. Eine jede Hufe setzte sich aus der Hofstelle mit Wohngebäude, Scheune und Stall, Ackerboden, Wiese und Wald sowie einem Nutzungsrecht für die Allmende zusammen. Manche Familien verfügten zusätzlich über einen Teich oder einen Brunnen, andere lediglich über Nutzungsrechte an solchen. Ackerbau und Viehzucht deckten die lebensnotwendigen Bedürfnisse der Bevölkerung ab, boten den Menschen in Getreide und Hülsenfrüchten, Wurzelgemüse, Kraut und Obst, möglicherweise Waldfrüchten sowie tierischen Produkten dank natürlicher Konservierungsmethoden ganzjährig Nahrung. Die Versorgung des Viehs erfolgte auf Weide ächen, im Holz sowie winters im Stall durch Stroh und Heu. Desgleichen schufen Land und Nutztiere – diese über Leder, Borsten, Federn und ausgewählte Innereien – die Grundlage einer Vielzahl bäuerlicher Gebrauchsgegenstände und Kleidungsstücke. Eigens angebauten Hanf oder Flachs verarbeiteten die Hofeigentümer selbst bis hin zu Kleidung und Bettzeug. Die zum Kochen, Waschen und Backen auf jedem Hof benötigte Feuerung wurde gleich dem Bauholz aus den Waldstücken bezogen. Selbst Asche fand zum Beispiel in der Textilherstellung noch Anwendung. Mutmaßlich innerhalb eines Systems gegenseitiger gemeindeinterner Hilfe trieb die Bauernschaft faktisch nahezu alle grundlegenden Gewerbe, womöglich abseits handwerklicher Meisterschaft, aber nichtsdestotrotz in Zweckmäßigkeit. Gänzliche Autarkie ging den Rußdorfern allerdings zumindest Mitte des 16. Jahrhunderts ab. Getreide musste in eine der Mahlmühlen umliegender Ortschaften zur kostenp ichtigen Vermahlung gebracht, Schmiededienste mussten in einer der dortigen Schmieden in Anspruch genommen werden. Zuweilen ersparten Hausmittel und alltagsmedizinisches Wissen nicht den Gang zum Arzt oder einem anderen Heilberufler gegen Entgelt. Das dringend nötige Salz war teuer zu erkaufen etc. Ursprünglich nahm Geld in dem hierfür unerlässlichen Zahlungsverkehr gegenüber dem Tausch Ware gegen Dienstleistung sicherlich einen äußerst geringen Raum ein. Zu Beginn des Untersuchungszeitraums hatte des Leben der Rußdorfer jedoch unfraglich

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DÖRFLICHE ARBEITSWELTEN

eine starke Monetarisierung erfahren. Alle Dienste und Abgaben forderte die Grundherrschaft zu dieser Zeit bereits in barer Münze ein. Freilich mag die seit 1457 durchaus spürbare räumliche Entfernung zwischen Dorf und Grundherrn den Umstieg auf Geldleistungen begünstigt haben, doch spiegelt sich darin eine allgemeine spätmittelalterliche, mit der gleichzeitigen Krise des Agrarwesens einhergehende Tendenz wider. Spätestens im 16. Jahrhundert sahen sich die bäuerlichen Produzenten nicht allein wie vordem zur Überproduktion gezwungen. Ehemalige nun verdinglichte Dienstleistungen forderten ein größeres Mehrprodukt, welches außerdem vor der eigentlichen subsistenzfernen Nutzbringung auf einem der umliegenden Märkte verkauft worden sein wollte. Im Gegensatz etwa zu den zünftigen Handwerkern hatten die ruralen Lebensmittelproduzenten dabei erschwerend keinen Anspruch auf kommunalen oder landesherrlichen Protektionismus. Von Nahrungsmittelverkäufen der spätmittelalterlichen Rußdorfer wissen die ausgewerteten Quellen gleichwohl nichts zu berichten. Im Gegenteil verzollten 27 von 30 zwischen November 1537 und April 1538 die Geleitstelle zu Altenburg passierenden Rußdorfer Fuhrleute in der Stadt geladenes Getreide oder Erbsen. Lediglich vier führten selbst Waren mit. Lorentz Bretschneider und Moritz Gümpel brachten je einen Wagen mit Brettern, Blasius Schram lieferte eine Ladung „Holtzwergk“ und Lorentz Schram entrichtete für ein Fuhrwerk voller Schindeln Taxe. 875 Ob die Anspanner hierbei lediglich als Dienstleister in Erscheinung traten oder für die Herstellung bzw. den Vertrieb der beförderten Güter selbst verantwortlich zeichneten, bleibt offen. Auffällig ist der kleine Kreis in Erscheinung tretender Händler. Die 25 Getreidefuhren besorgten ausschließlich die sechs Gutsbesitzer Hans Herolt, Urban Engelman, Valten Herolt, Valten Wagner, Gregor Vogel und Valten Arnolt. Bretschneider, der singulär Waren ab- und auflud, nahm auf dem Rückweg drei Scheffel „Korn“, begrifflich klar von dem sonst genannten „Getreide“ abgegrenzt, mit. Ebenso erscheint Georg Lobels Erbsenkauf als einmaliger Vorgang. Während den einfachen Pferde- und Handbauern Rußdorfs nur der Handel mit den Produkten ihrer Wirtschaft zur Erlangung von Geldmitteln blieb, vertrat der Besitzer des Schenkguts seit alters her innerhalb der Dorfökonomie alleinig den Tertiärsektor. Er besaß exklusiv das Recht, Bier zu brauen, Branntwein zu brennen und beides auszuschenken. Das Gasthaus bildete neben der Kirche den sozialen Mittel- und Treffpunkt des Dorfes, beherbergte solchergestalt die örtliche Gerichtsstube und gab den regelmäßig statt ndenden Rügegerichten in der Gaststube einen festen Platz. Zu welchem Zeitpunkt das kommerzielle Handwerk im Dorf Einzug hielt, liegt im Dunkeln. Der Steueranschlag von 1651 stellt den klassischen Agrarproduzenten und Tagelöhnern einen Mäusefänger, einen Schneider, vier Spinner und einen Kleber zur Seite.

875

Vgl. ThStA Abg, Herzogliches Finanzrechnungsarchiv, Abt. 14 Rep. XIV, Nr. 1b.

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Mutmaßlich ohne zünftige Ausbildung spezialisierten sich die frühen Dorfhandwerker auf ein Teilgebiet der traditionellen ruralen Hauswirtschaft. Techniken zur Herstellung einfacher Gebrauchstextilien waren der dörflichen Einwohnerschaft seit jeher bekannt. Als Massenware versprachen diese vor dem Hintergrund einer wachsenden, zunehmend ökonomisch spezialisierten Bevölkerung in Stadt und Land relativ sicheren Absatz. So lag es für nicht land üchtige weichende Bauernkinder nahe, in der Textilproduktion ein neben- bis hauptberufliches Einkommen zu suchen. Außerhalb aller zünftigen Bannmeilen gelegene Dorfschaften – Rußdorf war seiner Exklavenposition halber per se jedem Meilenrecht enthoben – boten den ungelernten Handwerkern alleinig einen Arbeits- und Lebensraum. Die ersten amtlich registrierten Rußdorfer Berufe deuten Mitte des 17. Jahrhunderts bereits eine frühindustrielle arbeitsteilige Produktion an. Inwiefern dieser Eindruck der historischen Realität entspricht, muss offen bleiben. Es war weder ermittelbar, welches Material etwa die Spinner versponnen, woher sie ihre Rohstoffe bezogen und an wen sie das Garn weiterverkauften bzw. ob sie überhaupt ausschließlich der angegebenen gewerblichen Arbeit nachgingen. Während Schneider von 1582 bis ins 20. Jahrhundert vielfach Erwähnung fanden, traten Rußdorfer Spinner vor und nach 1651 in der Überlieferung nur zwei weitere Male (1722 u. 1733) auf. Die erstere Profession wurde demnach unabhängig von der Gewebeproduktion kontinuierlich betrieben, die letztere als Teilarbeit dieser in gewerblicher Spezialisierung nur episodenweise praktiziert. Obwohl das Wissen um die Leinenverarbeitung von der Saat bis zum fertigen Produkt Allgemeingut war und 1582–1584 mit Greger Berger ein erster Leinweber in Rußdorf gelebt hatte, fand sich 1651 andererseits keine Person, welche über die Garnfertigung hinaus für den Verkauf Flachs verarbeitete. Steckte die lokale Leinweberei damals tatsächlich noch derart in den Kinderschuhen, arbeiteten die Spinner zwangsläu g für auswärtige Produzenten. Wahrscheinlicher verstiegen sich jedoch um 1650 bereits mehrere Rußdorfer auf die Leinwarenfertigung im Nebengewerbe, ließen der Landwirtschaft aber noch den Vortritt. Da das Steuerverzeichnis 1651 keine Gewerbetaxe berücksichtigte, fand wohl ausschließlich die hauptsächliche Beschäftigung eines Haushaltsvorstandes Eingang. Möglicherweise spezialisierten sich die frühen Rußdorfer Textilarbeiter des Arbeitsaufwandes wegen auf die Weberei und gaben das zeitintensive Spinnen des vermutlich von ihnen selbst angebauten und vorbereiteten Flachses an wenige lokale, gleichfalls spezialisierte Gewerbetreibende gegen Lohn ab. Somit umfasste der junge lokale Sekundärsektor Mitte des 17. Jahrhunderts mutmaßlich mindestens Spinner, Leinweber und Schneider. Obwohl die ansässigen Kleidungshersteller vermutlich ihre Rohstoffe von den lokalen Herstellern bezogen, produzierten die Weber offenbar in erster Linie für größere Märkte. Gemäß dem klassischen Kaufsystem oblag die Distribution örtlichen Leinwandhändlern, deren erster 1669 Erwähnung fand. Diese kauften die Waren entweder auf und vertrieben sie zu höheren Preisen als Zwischenhändler im städtischen Raum unter an-

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derem an überregional agierende Großkaufleute 876, etwa in Chemnitz 877, oder schufen ohne Eigenkapitaleinsatz schlicht gegen Entgelt im Nahhandel eine Marktanbindung für die nicht spannfähigen Kleinproduzenten. In der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts erweiterten vor allem zweifellos gelernte Zuzügler die Gewerbelandschaft auch abseits der Textilherstellung um neue Berufe, die teilweise personengebunden vorerst Episode blieben. Mit Wolffgang Riedel lebte 1689 ein erster Maurer im Dorf zur Miete. Schon drei Jahre später war er nach Bräunsdorf, dem Heimatort seiner Ehefrau, zurückgekehrt, wo er 1696 ein Gartengut erwarb und dieses bis 1705 hielt. Später fand er Aufnahme in die Waldenburger Bürgerschaft und Maurerzunft. Wie lang und ob der ledige Hausgenosse Hans Kempter in Rußdorf das Glaserhandwerk trieb, verschweigen die Quellen. Infolge seines Ablebens 1693 verschwand dieses wieder aus dem lokalen Berufsgruppenspektrum. Beide Gewerbe fassten erst ab 1828 bzw. 1767 dauerhaft Fuß. Die örtliche Tischlerei blickte demgegenüber bereits auf eine 50-jährige Geschichte zurück, bevor sie mit Hans Gräntz um 1675 abzog. Dessen Vater ließ sich um 1624 mit Frau und Kind in Rußdorf nieder, nachdem er vermutlich durch eine Hochzeit im Gesellenstand seine Chancen auf eine zünftige Meisterstelle minimiert hatte. Andere massengewerbliche Beschäftigungsfelder machten sich unentbehrlich, indem sie einen kontinuierlichen Bedarf deckten. Christian Zacharia und Hans Steuter brachten zum Beispiel um 1670 die Fleischerei nach Rußdorf, welche ursprünglich im ruralen Raum vergeblich eine Existenzberechtigung suchte. Die Bauern schlachteten ihr Vieh selbst und übernahmen wie in den meisten Bereichen auch dessen Verarbeitung. Vermutlich schuf die im 16. Jahrhundert hinzutretende soziale Mittelschicht eine neue Nachfrage entweder nach stellvertretenden Schlächtern bis Fleisch- und Wurstwarenproduzenten bei Lieferung des Viehs oder nach Fleisch- und Wursthändlern an sich. Bestehender Bedarf garantierte aber andererseits keineswegs die ungebrochene Präsenz eines Gewerbes. Einen ersten Schmied fanden die Rußdorfer in den frühen 1630er Jahren in Paul Schumann. Dieser suchte sich sein Auskommen jedoch nach etwa drei Jahren anderswo. Erst Michael Fuchß begründete 1682 die bis nach 1935 in Betrieb be ndliche und bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts alleinige Ortsschmiede, eine seit Nutzung metallener Werkzeuge auch für die Landwirtschaft unabdingbare Institution. Gleichermaßen lückenfüllend wirkte die Errichtung der Sebastian'schen Mahlmühle ab 1718. Anfang des 18. Jahrhunderts zeigte sich das Rußdorfer Berufsgruppenspektrum, inzwischen klar protoindustriellen Charakters, gegenüber 1651 signi kant erweitert. Der Steueranschlag von 1722 führt 74 Männer auf, die mindestens teilweise ihr Auskommen

876 877

Seit den 1530ern kauften zum Beispiel oberdeutsche Kaufleute im großen Stil sächsische Rohleinwand auf, um sie in Nürnberg färben bzw. veredeln zu lassen. Vgl. Heitz, Leinenproduktion, S. 58. Vgl. Schäfer /Karlsch, Wirtschaftsgeschichte, S. 19.

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außerhalb des primären Sektors fanden. Unter diesen traten lediglich der Schenkwirt und drei Fuhrmänner als typische Dienstleister in Erscheinung. Zwei Leinwandhändler bildeten die Kaufmannschaft. Die Übrigen gingen gewerblichen Beschäftigungen zumeist des textilen Bereiches nach. Leineweberei ernährte allein 59 Einwohner, zwei gingen dem Schneiderhandwerk, zwei der Spinnerei nach. Sonstige Gewerbe erschöpften sich in Fleischerei (2), Zimmerei (1), Schuhmacherei (2) und Schmiede (1). Ein Leinweber und der Zimmermann zählten Wirken, einer der Fleischer den Leinwandhandel zur Zweitbeschäftigung. Generell genügte eine handwerkliche Tätigkeit nicht immer, das Auskommen zu sichern. Mancher Leinweber und beinahe alle sonstigen Gewerbetreibenden ergänzten ihre Tagelohnarbeit dadurch oder kompensierten physische Einschränkungen. Der Hausgenosse Andreas Winckler, „so Winterszeit den Stuhl bearbeitet“, stand sommers zum Beispiel ebenso bei anderen in Lohn und Brot, wie der arme Hanß Georg Rudolph, „so auch den Winter zuweilen ein Schock Ellen Leinewand verfertiget“. Tobias Herold besserte seinen Lebensunterhalt mit Schuh ickerei auf, wie Abraham Schüßler neben dem Tagelohn der Zimmerei nachging und auch wirken konnte. Mit 61 Jahren galt Hanß Esche als „ein alter Mann, so spinnet“; der wenige Jahre ältere Jacob Nitzsche tat es ihm gleich. Beider Schwiegersöhne betrieben Leineweberei. 878 Insgesamt verdienten 1722 bei einer geschätzten Bevölkerungszahl von 474 (s. Kap. 8.1) mindestens 15,61 Prozent der Einwohner ihren Lebensunterhalt wenigstens teilweise außerhalb der Landwirtschaft. Da Ehefrauen und Kinder gewissermaßen ohne amtliche Registrierung mit Sicherheit oftmals den Gewerbesteuerzahlern zur Hand gingen, lag die Dunkelziffer wahrscheinlich deutlich höher. Entsprechend konnte die Zahl der in Steueranschlägen genannten Dorfhandwerker je nach inhaltlicher Ausrichtung einer Quelle signi kant schwanken. In der Aufstellung über die Rußdorfer Mannschaft 1733 fanden exemplarisch nurmehr 51 Gewerbetreibende, davon 29 Leinweber, Erwähnung. Dabei hatte das örtliche Berufsgruppenspektrum gegenüber 1722 eine Erweiterung erfahren. Die registrativ gewichenen Fuhrleute und der Zimmermann machten einem Getreidehändler, einem Pfeifenmacher und einem Pachtmüller Platz. Zudem trat mit dem Anspanner Gregor Helbig erstmals ein Leinwandbleicher in Erscheinung. Dies mag nebst der leicht gestiegenen Leinwandhändlerzahl trotz scheinbar verringerter Leinweberei auf einen vermehrten Produktionsumfang derselben hindeuten. Offensichtlich fehlten einigen Herstellern, welche vor Ort Rasenbleiche betrieben, nun entweder aufgrund unzureichender Landbesitz ächen, falscher Lagen oder zu hoher individueller Produktivität die Kapazitäten, ihre Leinwand vollständig selbst zu bleichen. Neben die orierende Flachsverarbeitung gesellte sich schließlich Anfang der 1730er Jahre die aufstrebende, späterhin bedeutsame Strumpfwirkerei. Vier Wirker waren 1733 in Rußdorf ansässig, deren drei 1744, nachdem sie zwangsweise in Chemnitz das Meis878

ThStA Abg, Obersteuerkollegium, Nr. 1226.

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terrecht ohne eigene Ausbildungsberechtigung im Anschluss an die dortige vorläu ge Innungsbestätigung 1734 erlangt hatten 879 und dahin zur altenburgischen Gewerbesteuer zusätzliche Abgaben entrichten mussten, die 1745 erfolgte Innungskon rmation anstrengten. Obgleich diese Vereinigung als früheste ihrer Art auf heutigem sächsischem Gebiet durchaus von Bedeutung war, zollte die seit 1685 von Frankreich aus auf deutsches Territorium übergreifende, im Laufe des 18. Jahrhunderts stark intensivierende Wirkwarenherstellung mit Handkulierstühlen 880 in Rußdorf dem eher zögerlich Rechnung. Dieweil die Meisterzahl im benachbarten Limbach von ca. zehn anno 1733 auf 102 im Jahr 1779 nachgerade explodierte, verdoppelte sie sich hier bis 1769 lediglich. Stattdessen erfuhr die protoindustrielle Leinenverarbeitung weiteren Ausbau. Allein 43,92 Prozent der 148 im Steueranschlag des Jahres verzeichneten Hausvorstände webten Leinen. Vier davon handelten zusätzlich mit Kram oder buken gegen Lohn. Der Vertrieb der offenbar recht erheblichen Produktmengen ernährte inzwischen 15 Personen, taugte aber kaum zum vergnüglichen Auskommen. Elf der Händler webten zusätzlich. Weitere 30 Steuerp ichtige übten eines der unter anderem aus Entfremdung wachsender Bevölkerungsteile von der bäuerlichen Lebensweise bzw. der Subsistenzwirtschaft Legitimation ziehenden elf weiteren ansässigen Handwerke aus. Ein Bader, je zwei Tischler und Töpfer sowie vier Hausbäcker erweiterten das Berufsgruppenspektrum gegenüber 1733. Nach der Textilfertigung erfreute sich insbesondere das von sechs Personen ausgeübte Schusterhandwerk großen Zuspruchs. Nur noch knapp ein Drittel der Dorfbewohner lebte Ende der 1760er Jahre ausschließlich von der traditionellen Landwirtschaft. 881 Die synchrone Kirchbuchüberlieferung nennt für dasselbe Jahr zwei zusätzliche, im lokalen Kontext neue Gewerbe: Johann Friedrich Fiedler übte mindestens seit 1767 das Glaserhandwerk aus und Andreas Frischmann nährte sich, obgleich laut Steueranschlag Leinen webend, zwischen 1764 und 1802 den Pfarrmatrikeln zufolge von der Blattsetzerei, der Herstellung von Webstuhlblättern. Über die folgenden Jahrzehnte bis zur Jahrhundertwende stagnierte die dorfwirtschaftliche Entwicklung dem Berufsgruppenspektrum nach zu urteilen. Die protoindustrielle, auf überregionalen Absatz ausgerichtete Leinenherstellung im Kaufsystem blieb ohne sonderliche quantitative Ausweitung tonangebend. Im Jahr 1800 hielt die Leinweberei selbst minimal 50 Einwohner beschäftigt. Drei Anschlussgewerbe gaben vier weiteren Personen Arbeit. Zu dem Blattsetzer hatten sich in den 1780er und 1790er Jahren erneut zwei Bleicher und um 1796 ein erster Kunst-, Schön- und Schwarzfärber gesellt. Dieser, Christian Gottfried Trommer (1763–1846), gab durch die Berufsbezeich879 880

881

Vgl. Esche, Wirkerei, S. 38. Vgl. Reith, Reinhold, Lohn und Leistung. Lohnformen im Gewerbe 1450–1900, Stuttgart 1999, S. 155f. – Frühe sächsische Strumpfwirkerinnungen wurden zum Beispiel in Penig 1750, Chemnitz 1755, Burgstädt 1757, Oberlungwitz 1757, Limbach 1785 und Oelsnitz 1787 landesherrlich kon rmiert. Vgl. ThStA Abg, Obersteuer Kollegium Nr. 274.

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nung seiner Befähigung Ausdruck, auch die wollenen Produkte der langsam wachsenden Strumpfwirkerschaft veredeln zu können. 882 Anders als ihre Benennung vermuten ließe, stellten die 1800 auf mindestens 14 angewachsenen Wirker neben Strümpfen Handschuhe und Mieder aus zugekaufter Wolle verschiedener Art her, deren Färben sie nach den Zunftstatuten selbst besorgen oder eben auslagern durften. 883 Qualitativ entbehrte das protoindustrielle Rußdorfer Berufsgruppenspektrum bis 1800 und weit darüber hinaus nennenswerter Veränderungen. Einige der personengebundenen, prinzipiell zünftigen Gewerbe, die oftmals mit einer Beschäftigung innerhalb der Textilproduktion einhergingen, weil sie im dörflichen Umfeld vermutlich keine existenzsichernde Nachfrage vorfanden, entschwanden mit ihren Vertretern zeitweise (Tischlerei) oder auf lange Sicht (Baderei). Analog traten wenige neue Professionen (Röhrmeisterei) episodenweise hinzu, so wie der noch uniform anmutende Dienstleistungssektor um einen Chirurgen und zwei Musikanten erweitert wurde. Erst die Sogwirkung der Industrialisierung stieß in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts einen erneuten tiefgehenden Wandel des Berufespektrums an. Eine allgemein steigende Nachfrage (baum-)wollener Textilien verursachte gepaart mit der Mechanisierung zunächst der Baumwollspinnerei ab der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts und später auch der Wollspinnerei 50–60 Jahre danach einen massiven Aufschwung unter anderem der Strumpfwirkerei, der klar zulasten der Leinweberei ging. Gegen die billigen Baumwollprodukte konnten die allein in der Rohstoffbeschaffung komplizierteren und teureren Leinenwaren im Preiskampf nicht bestehen. Daran vermochte auch die Einführung der mechanischen Flachsspinnerei in Sachsen während der 1830er Jahre nicht zu rütteln, zumal der Anschluss an die überseeischen Absatzmärkte infolge der Seeblockade während der Napoleonischen Kriege 1806–1814 erheblichen Schaden genommen hatte. 884 Demgemäß zeigte sich die Rußdorfer Leinweberei nach 1800 im Abstieg begriffen. Den Kirchbüchern nach wirkten jedoch vor allem die 1830er Jahre zäsierend. Schon 1830 mag der Produktionsumfang der noch immer mindestens 42 Weber deutlich gesunken sein. Immerhin war das Quantum der nachweisbaren Händler seit 1810 bereits um zwei Drittel von 18 bzw. seit 1820 um die Hälfte auf fünf zurückgegangen. Die Zahl der Leinweber sank nach 1830 kontinuierlich bis auf 23 zur Jahrhundertmitte, denen nurmehr vier Händler gegenüberstanden. Die marginal vorhandenen expliziten Anschlussgewerbe ereilte dasselbe Schicksal. So erstarb die Blattsetzerei 1802 mit ihrem einzigen Vertreter und trat die Leinwandbleicherei in den Quellen nach 1816 882

883 884

Siehe: Adelung, Wörterbuch, Bd. 3, S. 1625: „Der Schönfärber, [...] eine Benennung derjenigen Färber, welche die Zeuge, besonders die wollenen und seidenen, mit allerley hohen und hellen Farben zu färben wissen, Waidfärber, Kunstfärber; zum Unterschiede von den ältern Schwarzfärbern, welche nur schwarz, braun und dunkelblau färben, und auch diese Farben gemeiniglich nur auf Leinwand und halb wollene Zeuge zu setzen wissen.“ Vgl. ThStA Abg, Landesregierung, Nr. 11934. Vgl. Karlsch/Schäfer, Wirtschaftsgeschichte, S. 34.

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lediglich kurzzeitig 1844–1856 nochmals auf. Hingegen erblühte das lokale Strumpfwirkerhandwerk, was seinen Ausdruck in einer ab 1810 stetig steigenden, 1850 wenigstens 92 Personen umfassenden Produzentenzahl fand. Wie viele unter diesen auf eigene Rechnung wirtschafteten oder zum Beispiel bei Esche in Limbach als Heimarbeiter engagiert waren, verschweigen die Quellen. Strumpfhändler oder Verleger sind in Rußdorf zu keinem Zeitpunkt belegt. Allerdings deutet die kurzzeitige (1850/1851) Nennung eines „Strumpffactors“ verlagsmäßige Strukturen an. 885 Insgesamt folgte die gewerbelandschaftliche Entwicklung in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts den hergebrachten Mustern, d. h. einer ständigen qualitativen personengebundenen Fluktuation bei langsam fortschreitender effektiver quantitativer Ausweitung des Berufsgruppenspektrums, die sich aus dem langfristig beständigen Übergewicht neu hinzutretender gegenüber wegfallenden Arbeitsfeldern in erster Linie des Sekundärsektors nährte. Tagelöhner bzw. Handarbeiter, Dienstboten, selbstständig Tätige im landwirtschaftlichen Bereich sowie Schulmeister eingeschlossen, vervierfachte sich die Zahl der genannten „Berufe“ zwischen 1651 und 1850 lediglich von acht auf 33. Während der nachfolgenden fünf Dekaden wuchs sie dagegen geradezu sprunghaft auf 75 an. Eine Teilursache dessen stellt die semantische bis konzeptionelle Ausdifferenzierung einiger Beschäftigungen dar. Bereits 1800 wurde etwa zwischen Krämer, Handelsmann und Viehhändler unterschieden. Desgleichen gesellte sich zu drei einfachen Brotbäckern 1850 ein Weißbäcker. Den Hauptbeitrag leisteten jedoch in Begleitung der Fabrikindustrialisierung des Limbacher Landes wie der industriellen Arbeitsteilung im Allgemeinen neu hinzutretende Erwerbsmöglichkeiten. Mitte des 19. Jahrhunderts steckte die Entwicklung noch in ihren Kinderschuhen, zeitigte aber erste Auswirkungen. So ließ sich etwa 1844 ein erster Schlosshauer in Rußdorf nieder und zeugten vier Maurer seit den 1830er Jahren von einer regen Bautätigkeit im näheren Umkreis. Tatsächlich gesellten sich in der zweiten Jahrhunderthälfte keine gewissermaßen einzelständigen Handwerke nach alter Manier im Übermaß hinzu. Wohl wirkten 1900 erstmals Böttcher, Brauer, Bürsten-, Zigarren-, Schirr- und Uhrmacher vor Ort, doch beerbten diese die weggefallenen Professionen der Drechslerei und Korbmacherei sowie die 1878 mit dem Abbruch der Mühle mangelnder Konkurrenzfähigkeit halber endgültig aus dem Dorfbild entschwundene Müllerei 886. Ein quantitativer Sprung der Zimmerei auf elf wie der Maurerei auf 15 lokale Vertreter entspross dem intensivierten, um 1900 auch das Rußdorfer Ortsbild signi kant verändernden Bauwesen. Als weitere Nutznießer dessen traten erstmals ein Dach-, drei Schiefer- und ein Ziegeldecker, ein Bauunternehmer, zwei Maler und mehrere Ziegeleiarbeiter verschiedener Position auf.

885

886

Vgl. „[...] der Faktor [verteilt] als beauftragter Angestellter des Verlegers die Arbeit an die Heimarbeiter [...]“. – Weddigen, Walter, Grundzüge der Gewerbepolitik. Handwerks-, Industrie- und Energiewirtschaftspolitik, Berlin 1967, S. 67. Vgl. KrA Gl, Limbacher Tageblatt und Anzeiger, 1938, Nr. 242.

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Direkt von dem starken Bevölkerungswachstum des späten 19. Jahrhunderts pro tierten auch viele der ältesten kontinuierlichen Gewerbe am Ort. Nie zuvor beherbergte Rußdorf mehr Tischler (4), Schuhmacher (13), Schneider (5), Fleischer (6), Bäcker (10) und Schmiede (7). Desgleichen orierte der Handel. Neben anonymen Agenten, Kauf- und Handelsmännern bezeugen die Kirchbücher 1900 Eisen-, Flaschen-, Kohlen-, Holz-, Milch-, Schnittwaren- sowie allein sieben Materialwarenhändler. Völlig konträr war die gewerbliche Leinenverarbeitung binnen 50 Jahren aus der Dorfwirtschaft gänzlich gewichen. Die letzten beiden Leinwandbleicher fanden 1856 Erwähnung. Sie starben in den 1870er Jahren als Leinweber bzw. Plumpenbauer. Der Leinwandhandel hielt sich drei Dekaden länger bis etwa 1887, der letzte Leinweber – in Personalunion des letzten Händlers – wurde 1882 genannt. Währenddessen setzte die Strumpfwirkerei den Zahlen nach ihren Aufschwung fort. Für 1900 sind 184 ansässige Wirker nachweisbar. Dies widerspricht scheinbar klar Langes Aussage, die lokale Strumpfwirkerinnung habe sich 1901 mit nurmehr 44 Meistern aufgelöst 887. Die Gewerbefreiheit hatte jedoch 1863 den Zunftzwang aufgehoben. Seither gab die Mitgliederschaft der Innung nicht mehr notwendigerweise vollständig Auskunft über die lokalen Gewerbetreibenden. Offenbar hatte die freiwillige Vereinigung schnell an Attraktivität eingebüßt. Noch 1864 waren in ihr 118 Strumpfwirker organisiert. 888 Während deren Zahl insgesamt weiter stieg, sank jene der Mitglieder rapide. Der überwiegende Teil aller Rußdorfer Wirker war 1900 in Heimarbeit für eine der örtlichen Firmen bzw. solche des näheren Umkreises beschäftigt. Seit den 1860er Jahren nahm die sachsen-altenburgische Exklave an der Fabrikindustrialisierung aktiv Anteil. Zunächst sprossen Strumpfwarenfabriken, denen in den 1870ern erste Betriebe der in Limbach schon dominanten Handschuhfabrikation sowie ab den 1880er Jahren Maschinenbauunternehmen auf dem Fuße folgten. Dementsprechende Ausweitung erfuhr das Berufsgruppenspektrum. Einerseits resultierten schlicht aus dem Einzug zentralisierter arbeitsteiliger fabrikatorischer und zunehmend maschinell unterstützter industrieller Serienproduktion zwangsläu g neuartige Berufsbezeichnungen, die im selbstständigen oder verlegten Dorfhandwerk mit seinen maximal kleinen Werkstätten und der familiären Einbeziehung schlichtweg keinen Raum fanden. Allgemein gehaltene, keinen Rückschluss auf die arbeitgebende Industrie zulassende, wie die des Fabrikarbeiters, Werkmeisters, Fabrikdirektors, Expedienten, Lagerhalters, Geschäftsführers, Geschäftsgehilfen, Buchhalters, Agenten etc. gehören ebenso dazu wie klar einordenbare Tätigkeitskeitsfelder zum Beispiel des Spulers, Scheerers, Appreteurs oder Rundstuhlarbeiters. Andererseits führten die neuen Industriezweige der Handschuhfertigung und

887 888

Vgl. Lange, Allerlei, S. 7. Vgl. ThStA Abg, Gerichtsamt II. Altenburg, Nr. 326, Die beabsichtigte Umwandlung der Strumpfwirkerinnung zu Russdorf in eine Gewerbsgenossenschaft. 1864–1882.

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des Maschinenbaus neue Beschäftigungsmöglichkeiten zum Beispiel des Handschuhnähers, -zuschneiders, Metallarbeiters, Nadelrichters und Platinenmachers ein. Ein Adressbuch der sachsen-altenburgischen Landgemeinden, welches allerdings nur einen Teil der Rußdorfer erfasste, stützt für 1910 den anhand der Kirchbuchüberlieferung gewonnenen Eindruck. Auf 319 gelistete Personen verteilen sich 87 Erwerbsquellen, deren Mengenverhältnis das Bild einer Industriegesellschaft zeichnet. Während im landwirtschaftlichen Bereich nur 55 Personen (17,24%) arbeiteten, gaben klassische Handwerksberufe (21%) und Industrie (32,29 %) der überwiegenden Mehrheit ein Auskommen. In Rußdorf selbst existierten zu diesem Zeitpunkt eine Färberei und Appretur, eine Dampfziegelei, fünf Strumpf-, eine Handschuh-, zwei Metallwaren- und fünf Maschinenfabriken. 889 Die Textilindustrie gab, unter anderem da sie leichter als die von Beginn an zentralistisch organisierte Maschinenfabrikation und Metallverarbeitung mit billigen Heimarbeitern operieren konnte, weiterhin den meisten Rußdorfern Lohn und Brot. Den Personenstandsakten zufolge standen 271 klar der Textilverarbeitung zuordenbare Beschäftigte 1910 zum Beispiel nur 44 eindeutig in der metallverarbeitenden Industrie tätigen Personen gegenüber (1920: 199/61; 1930: 123/42). Daneben nahmen Handel und anderweitige Professionen des Dienstleistungssektors an Bedeutung zu. Lebten exemplarisch 1900 ca. 20 Personen vom Warenvertrieb aller Art, waren es zehn Jahre später bereits 31. Ein Adressbuch der Handel- und Gewerbetreibenden von 1920 führt 24 Material-, Grün- und Schnittwarenhandlungen, zwei Kohlenhändler, ein Schokoladengeschäft, ein Galanterie-, Bijouterie- und Holzwarengeschäft, eine Butterhandlung, ein Porzellan- und Glaswarengeschäft, ein Baugeschäft, einen Flaschenbierhändler, ein Topfwarengeschäft und einen Altwarenhändler. 890 In gleicher Weise betrieben 1900 nur zwei Personen eine Gastwirtschaft, 1910 sieben und 1920 existierten schon ein Gasthof, fünf Gasthäuser, vier Kaffeestuben sowie drei Restaurateure nebeneinander. 891 Einen letzten umfassenden Eindruck des dorfwirtschaftlichen Gepräges Rußdorfs zum Ende des Untersuchungszeitraums Anfang der 1930er Jahre vermittelt die Synthese eines auf 1933 datierenden örtlichen Gewerbeanzeigenverzeichnisses mit einer Fabrikund Heimarbeiterzählung von 1935. Freilich bleibt der Primärsektor in beiden Quellen gänzlich unberücksichtigt, jedoch besteht kein Anlass zu der Annahme, die Zahl landwirtschaftlicher Betriebe habe sich gegenüber 1910 erweitert. Im Gegenteil lässt die Reduzierung um eine Wirtschaft zwischen 1910 und 1920 für die nachfolgende Zeit auf quantitative Konstanz bis weitere Regression schließen. Der Dienstleistungsbereich, vorrangig aus Gastronomie, Handel verschiedenartigster Fokussierung, diversen Reparatur- und Friseurgeschäften bestehend, beschäftigte

889 890 891

Vgl. Adressbuch der Landgemeinden des Herzogtums Sachsen-Altenburg. Ostkreis, Altenburg 1910. Vgl. StadtACH, A 50a. Vgl. ebd.

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1933 mindestens 110 Personen. Ein Handwerk im weitesten Sinne hatten 65 Individuen, darunter allein 17 Herren- und Damenschneider, sechs Fleischer und zehn Bäcker, angemeldet. Zu ihnen gesellten sich 13 ausgewiesene Fabriken, eine Fabrik liale, sechs kleinere Fabrikbetriebe, sieben ausgewiesene Firmen, welche allesamt vorrangig in der Textil- und Textilmaschinenfertigung wirkten, sowie eine Maschinenziegelei. 20 dieser Unternehmen fanden in der Fabrik- und Heimarbeiterzählung 1935 Erwähnung. Ihrer 17 vereinten damals 50 Angestellte, 660 Fabrik- und 146 Heimarbeiter. Diesen standen insgesamt 178 selbstständige Rußdorfer im zweiten und dritten Sektor gegenüber. Das Mengenverhältnis unterstreicht nochmals den nalen industriegesellschaftlichen Charakter des Dorfes, in dem überdies der Dienstleistungssektor bereits den primären auf den dritten Platz verdrängt hatte. Die Bevölkerungsmehrheit verdingte sich mittlerweile in der Industrie. Damit nicht genug, trat die ehemals dominante Heimarbeit, einem überregional ablaufenden Prozess Rechnung tragend, im frühen 20. Jahrhundert hinter die Fabrikarbeit, die zentralisierte serielle Massenproduktion zurück. Gleichwohl gab sie auch 1935 noch mehr Menschen Arbeit als die traditionelle Rußdorfer Agrarwirtschaft. Bräunsdorf Das Nachbardorf Rußdorfs teilte dessen Entstehungsgeschichte bei identischen lebensräumlichen Bedingungen, zeigte eine simultane Hufenverfassung, eine gleiche Bevölkerungsstruktur und ein grundsätzlich gleichartiges ökonomisches Gepräge. Subsistenzwirtschaft auf Acker, Wiese und im Gehölz bestimmte das Leben der Dorfgemeinschaft zu Anfang des Untersuchungszeitraums. Dabei bewies die Ortschaft als geschlossener Raum allerdings ein gegenüber Rußdorf Mitte des 16. Jahrhunderts erhöhtes Maß an Autarkie. Zwei Müller besorgten hier bereits 1544 neben eigener Agrarproduktion gegen Lohn das notwendige Getreidemahlen für die Nachbarschaft und sicherlich auch einige Bewohner umliegender Dörfer. Der Überlieferung nach erschöpfte sich das lokale Handwerk in der Müllerei. Ähnlich übersichtlich gestaltete sich der Dienstleistungssektor, dessen einziger Vertreter als Kretzschmar die Dorfschenke, den sozialräumlichen Mittelpunkt der Gemeinde, betrieb. In ihrer Rolle archetypischer bäuerlicher Selbstversorger stellten die Bräunsdorfer Gutsbesitzer vermutlich den überwiegenden Teil ihrer Ge- und Verbrauchsgüter selbst her. Einem Mindestmaß an geplanter Überschusswirtschaft konnten auch sie sich freilich nicht entziehen. Situativ erforderliche externe Dienstleistungen und Einkäufe in Eigenregie nicht produzierbarer notwendiger Güter mussten bezahlt werden, die reguläre Abgabenlast wollte getilgt sein. Da der Handel im 16. Jahrhundert bereits dem GeldWare-Tauschprinzip folgte, war ein regelmäßiger Verkauf der Überschüsse unerlässlich, um auch für ungeplante Ausgaben Geldmittel zur Verfügung zu haben. Lediglich die grundherrlichen Lasten forderten 1544 neben den monetarisierten Michaelis- und Walpurgiszinsen teilweise noch dingliche Dienste und Abgaben ein. Hanß Petzolt gab zum

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Beispiel zusätzlich zwei Scheffel Hafer nebst zwei Hühnern an die Grundherrschaft und „dienet mit einem ganzen Pluge“. Desgleichen „hawet [Jacob Fiedeler] einen Tagk Holz, und schneidet 2 Tage Korn“ etc. 892 Wie die Bräunsdorfer Bauern des 16. Jahrhunderts konkret unerlässliche Geldmittel beschafften, bleibt wiederum spekulativ. Das Altenburger Geleitsteuerregister nennt 1538 unter anderem mehrere Bräunsdorfer. Die wenigen Aufkommen vermitteln einen zumindest rudimentären Eindruck ihrer ökonomischen Aktivitäten auf dem Binnenmarkt. Unterschiede zu den synchronen Spuren Rußdorfer Engagements treten nicht zu Tage. Von sieben im ersten Quartal registrierten Fuhren dienten sechs dem Getreideaufladen in Altenburg. Nur in einem Fall wurde ein Wagen Bretter abgeladen und Korn aufgenommen. Ob die Fuhrleute herrschaftliche Spanndienste ausführten, speditorisch arbeiteten oder eigene Waren auf den Markt bzw. Waren wahlweise für den Eigengebrauch oder den Weitervertrieb einkauften, sei dahingestellt. Ihre Zahl war allemal stark begrenzt. Fünf Transporte besorgte Philip Geißler, der sechs Jahre später ein Gut in Bräunsdorf hielt, allein. Am sechsten war Stephan Langgraff mit einem zweiten Wagen beteiligt. Für die letzte, ebenfalls aus zwei Wagen bestehende Fuhre, steuerten Blasius Langgraff aus Bräunsdorf und Nickel Langgraff von Langenberg. 893 Wenigstens der Erstere stand sicherlich mit dem genannten Stephan gleichen Namens in einem engen Verwandtschaftsverhältnis. Keiner der beiden Bräunsdorfer Langgraffe erschien in ihrem Heimatdorf 1544 als Gutsbesitzer. Der einzige lokale damalige Vertreter des Geschlechts, der nach Limbach zinsende Bastian Lantgraff, hatte desgleichen 1538 seinen Hof mit hoher Sicherheit bereits in Besitz. Er könnte jedoch diesen potentiellen Brüdern Wohnung und Arbeit gegeben und dadurch Zugang zu einem Gespann verschafft haben. Das Bräunsdorfer Spektrum umfasste demnach im 16. Jahrhundert – zwischen 1544 und 1593 werden keine Differenzen ersichtlich – eine sehr geringe Berufsgruppenzahl. Diese beinhaltet die ausdrücklich quellenmäßig genannten des Landwirts, Müllers und Schenkwirts sowie die impliziten des Pfarrers, Schulmeisters, Dienstboten und Tagelöhners. Andere Erwerbstätigkeiten wurden wahrscheinlich nebenberuflich, nicht kontinuierlich und im gewerblichen Bereich unprofessionell betrieben. Wenige Jahre nach Einsetzen der örtlichen Personenstandsüberlieferung zeigte sich die Gewerbelandschaft Mitte des 17. Jahrhundert etwas breiter aufgestellt. Neben die ältesten nachweisbaren Beschäftigungen, welche ohne Ausnahme bis ins 19. und teils bis 20. Jahrhundert hinein kontinuierten, waren mehrere neue des Sekundär- und Tertiärsektors getreten. Schäferei und Schmiedehandwerk schrieben die Reihe der stellengebundenen und dadurch langfristig bestehenden Erwerbstätigkeiten fort. Auf dem Bräunsdorfer Vor892 893

SächsSTAC, 30597 Herrschaft Penig, Nr. 183: Lehenbrieffs uber Breunßdorff Ao. 1544 (Copia). Vgl. ThStA Abg, Herzogliches Finanzrechnungsarchiv, Abt. 14 Rep. XIV, Nr. 1b.

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werk des Kaufunger Ritterguts mag freilich schon im 17. Jahrhundert Schafzucht betrieben worden sein. Immerhin fand die Kaufunger Schäferei im dortigen Kirchbuch seit dessen Beginn 1582 und analog im Bräunsdorfer seit 1642 Erwähnung. Da die Schafmeister aber auf dem Vorwerk selbst ohne Besitzansprüche und Abgabenlasten wohnten, scheinen sie in den wenigen erhaltenen administrativen Akten vor 1640 nicht auf. Hingegen wurde die Schmiede, gebunden an ein Gartengut, vermutlich tatsächlich erst nach 1600 im Dorf etabliert. Ein nebenberuflicher Schneider, ein Zimmermann und ein Fleischer ergänzten das Berufsgruppenspektrum 1650 demgegenüber personengebunden, aber nichtsdestotrotz in den ersten beiden Fällen nachgewiesen relativ langfristig. Während das Hausschlachten mit Hans Künrich in den 1670er Jahren vorerst den Ort zu verlassen schien, hatte der Zimmermann 1700 nächst den übrigen alteingesessenen Gewerbetreibenden und Dienstleistern einen Nachfolger gefunden. Das Schneiderhandwerk expandierte gar leicht auf drei Personen. Zusätzlich trieben in der Wendezeit zum 18. Jahrhundert zwei Schuster, ein Papiermacher auf der 1686 erbauten Papiermühle und ein Maurer, der um 1692 aus Rußdorf zugezogene und nach 1703 wieder abwandernde Wolfgang Riedel, ihr Gewerk im Dorf. Ein Landfuhrmann bereicherte das Dienstleistungswesen. Schließlich zeigten sich 1700 Anzeichen protoindustrieller Strukturen. Die gewerbliche Leinwarenherstellung hält seit 1650 in die Schriftzeugnisse Einzug. Für diese Zeit wird sie durch einen Leinweber und sechs Leinwandhändler repräsentiert. Der früheste Beleg des Gewerbes am Ort datiert auf 1669, als des Pfarrers Lehnmann Georg Künrich „Leinwadhändler“ 894 genannt wurde. Zahlreiche weitere Hinweise auf professionelle Leinenproduktion folgen in den Personenstandsakten und den Gerichtsbüchern des späten 17. Jahrhunderts gleichermaßen. Das offensichtliche Ungleichgewicht zwischen Händler- und Produzentenzahl an dessen Ende löste sich jedoch zu keinem Zeitpunkt. Während bis 1700 insgesamt 16 Leinwandhändler Erwähnung nden, blieb der 1690 in dieser Funktion erstgenannte Michael Friedrich der einzige belegbare Bräunsdorfer Leinweber bis 1718. Zwar hinterließ auch der Gärtner Hans Esche (1637–1675) „Leinweber Geräthe, als das Gestell, Stuhl Radt, Kämme undt dergleichen“ 895, indes seine potentielle Teilhabe an der marktorientierten Textilherstellung änderte das Verhältnis zwischen Händlern und Produzenten nur unmaßgeblich. Dies lässt zweierlei Schlussfolgerungen zu. Einerseits könnte schlicht eine massive Diskrepanz zwischen Überlieferung und historischer Realität verantwortlich zeichnen. Da kein Grund ersichtlich ist, warum Leinwandhändlern nebst anderen Gewerbetreibenden der Vorzug vor Leinwebern gegeben worden sein sollte und die Indizienbeweislage der Gerichtsbücher das in den Kirchbüchern aufscheinende Ungleichgewicht zumindest in keinster Weise negiert, es gegenteilig durch Mehrfachnennung größerer 894 895

EPA Bräunsdorf, KB I, Taufen 1669, Nr. 10. HstA-D, 12613 GB Limbach, Nr. 1, fol. 183.

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Leinwandmengen bei fehlenden Hinweisen auf Leinwebergerätschaften in den Erbkäufen zu bestätigen scheint, greift es aber wohl zu kurz, von einem Quellenproblem auszugehen. Andererseits, und dieser Interpretation sei hier Vorrang eingeräumt, mag das Missverhältnis zwischen Produzenten und Distributoren symptomatisch für das frühe Bräunsdorfer Leinengewerbe gewesen sein. In dem Fall hätten die lokalen Leinwandhändler vorrangig Waren aus umliegenden Ortschaften aufgekauft, wahrscheinlich in Bräunsdorf gebleicht und hernach an die Märkte gebracht. Hierfür spricht die allerdings auf das 19. Jahrhundert bezogene Aussage des Ortspfarrers Theodor Seifarth, die Leinwandbleicherei, „zu der sich das reine Wasser des Bachs vorzüglich eignete“, und der -handel seien im Dorf ausgesprochen verbreitet gewesen. 896 Desgleichen zitiert Strohbach den 50 Jahre eher lebenden Pfarrer Brückner: „Während des Sommers sind daher fast alle Plätze längs der Dorfbach mit Leinwand belegt.“ 897 Die geringe Zahl jemals in Bräunsdorf quellenmäßig belegbarer Bleicher (6), deren Nennung sich auf die Zeit 1780–1784 konzentrierte, steht der Annahme demnach gleichfalls nicht im Wege. In der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts erfuhr die Bräunsdorfer Leinweberei der Überlieferung nach einen leichten Aufschwung. Zehn Vertreter sind ab 1718 über die Kirchbücher nachweisbar. Dennoch fehlen 1750 eindeutige Belege für Vertreter des Gewerbes, die über Indizien hinausgehen. Doch selbst unter Annahme ihrer Anwesenheit hatte sich das Berufsgruppenspektrum zur Jahrhundertmitte quantitativ zurückentwickelt. Durch den tatsächlichen Wegfall des Maurers sowie die Absenz von Fleischer und Landfuhrmann zumindest in den zeitgenössischen Quellen el die Anzahl der in Bräunsdorf belegten Erwerbstätigkeiten unter das 1700er-Niveau. Innerhalb der kontinuierenden Gewerbe fand dagegen zum Teil ein Wandel statt. Während die Zahl der Leinwandhändler und Zimmerer keinen Veränderungen unterlag, sank jene der Schneider um eine Person und stieg die der Schuhmacher um das Zweieinhalbfache auf fünf. Gleichermaßen bekamen einige statische stellengebundene Professionen Zuwachs. Die Papiermühle ernährte zeitweilig zwei ausgebildete Papiermacher, den Kurerben des ersten Besitzers und dessen Stiefvater. Außerdem hatten Ober- und Niedermüller durch die ab 1732 erbaute „rothe Mühle“ am Dorfteich neue Konkurrenz zu fürchten. Kennzeichnend für die zweite Hälfte des 18. Jahrhunderts war vor allem ein geradezu sprunghaftes Wachstum der Leinweberei ab 1757, was für dieses Mal eindeutig auf einen Wechsel in der Kirchbuchführung zurückging. Pastor Libert überließ das Schreiben seinem Substitut, dem späteren Pfarrer Loos. Verzichtete jener größtenteils auf Berufsbezeichnungen bzw. insbesondere auf die Kennzeichnung der Leinweber, führte dieser sie wieder ein. Alle Nachfolger behielten diese Praxis konsequent bei. 898 Realiter durchlebte die Leinweberschaft vermutlich seit dem späten 17. Jahrhundert ein langsames 896 897 898

Vgl. Seifarth, Bräunsdorf, S. 708. Strohbach, Dorfbuch, S. 150. Die Situation war eine andere als 100 oder 50 Jahre zuvor. Zum Beispiel beteiligten sich die Angehörigen des bäuerlichen Standes selten am professionellen Gewerbebetrieb. Vier der 21 für dieses Jahr genannten Erwerbstätigkeiten

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kontinuierliches Wachstum. Um 1800 stellten mindestens 38 Bräunsdorfer gewerblich Gewebe aus Leinen her. Gleichzeitig ernährten sich noch immer sechs Personen vom Verkauf der Produkte. Anderweitigen Beschäftigungen hatte sich nur eine Minderheit verschrieben, wobei sowohl die Zahl dieser Gewerbetreibenden als auch der ausgeübten Berufe seit 1750 kaum Änderung erfahren hatten. Keine Erwerbstätigkeit war weggefallen. Stattdessen lebte seit Mitte der 1770er Jahre wieder ein Maurer im Dorf, hatte sich in den 1790ern wieder ein Tischler ansässig gemacht – drei frühere Tischler des 18. Jahrhunderts agierten zwischen den Stichproben – und nährten sich nach mehreren sporadischen Auftritten solcher seit 1748 auch zwei Strumpfwirker vor Ort. Generaliter offenbart das Berufsgruppenspektrum von 1800 vor allem einen qualitativen Wandel, indem erstmals mehr Personen im Sekundärsektor beschäftigt waren als es bäuerliche Wirtschaften gab. Insofern bewegten sich die Gewerbe auf die industrialisierungstypische Majoritätsposition zu oder hatten sie bereits erreicht. In der historischen Realität wurde die Schwelle wahrscheinlich bereits in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts erreicht und trug die Bräunsdorfer Dorfökonomie ebenfalls seit dieser Zeit klar protoindustriellen Charakter. Bis in die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts blieben neuerliche Transformationen aus. Noch 1850 entsprach das Berufsgruppenspektrum weitgehend dem der napoleonischen Zeit. Keines der stellengebundenen Gewerbe war weggefallen. Lediglich einer der Müller hatte seitdem seine Arbeit eingestellt. Die personengebundene Gewerbelandschaft entbehrte erneut der Tischlerei. Stattdessen führte die Kirchbuchüberlieferung seit den späten 1820er Jahren wieder Hausschlächter. Die quantitative Gewichtung der einzelnen Handwerke trug hingegen der Entwicklung des Limbacher Raumes Rechnung. Fünf Zimmermänner und zehn Maurer – die jeweils höchste Zahl in der Geschichte des Ortes – verweisen auf verstärktes Bauaufkommen vor allem im Umland. Hingegen zeugte der Rückgang des leinenverarbeitenden Gewerbes auf 27 Weber sowie nurmehr einen Händler von der Weltwirtschaftskrise ab 1837. Der lokalen Strumpfwirkerei schadete diese offensichtlich weniger. Mit 24 Vertretern befand sich das zweite protoindustrielle Leitgewerbe im Aufschwung, reichte zahlenmäßig jedoch noch nicht an die Bedeutung der älteren Leineweberei heran. Lediglich zwei neuartige Arbeitsfelder erweiterten 1850 das Berufsgruppenspektrum. Ein Leinweber besserte durch Materialienhandel seit den frühen 1840er Jahren seinen Lebensunterhalt auf. Desgleichen be eißigte sich ein ansässiger Strumpfwirker ab den späten 1840er Jahren im Auftrag der Gemeinde als Wächter. Beide Beschäftigungsarten verhalfen dem rudimentär ausgebildeten Dienstleistungssektor zu größerer Diversität.

außerhalb der Agrarwirtschaft ent elen 1700 auf die 27 Hausväter der dörflichen Oberschicht. Weitere 16 verteilten sich auf 29 Gärtner und rund elf Häusler. Selbst wenn alle Mitglieder der Mittelschicht, denen die Kirchbücher kein Gewerbe zusprachen, in der Leinweberei arbeiteten, hätten sechs Händlern nur rund 25 Weber gegenübergestanden.

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Im Ganzen unterlag die Menge der nachweisbaren Erwerbstätigkeiten in Bräunsdorf, Dienstboten, Tagelöhner bzw. Handarbeiter, Schulmeister und selbstständig Tätige im landwirtschaftlichen Bereich analog zum Rußdorfer Beispiel inklusive, zwischen 1650 und 1850 einer äußerst gemächlichen Progression von elf auf 19. Bis 1900 beschleunigte die Entwicklung leicht. Dennoch stehen die zur Jahrhundertwende belegten 37 Berufe quantitativ in keinem Verhältnis zum synchronen Rußdorfer Berufsgruppenspektrum. Ungeachtet dessen ließ die industrielle Entwicklung auch Bräunsdorf nicht unbeeinusst. Bereits ansässige stellenungebundene Handwerke pro tierten in erster Linie von Bevölkerungswachstum und steigender Nachfrage, was sich in wachsenden Zahlen Gewerbetreibender bei Fleischerei, Schuhmacherei und Tischlerei sowie des Schmiedehandwerks widerspiegelte. Sattlerei, Stellmacherei und Bäckerei traten zudem neu hinzu. Vom expansiven Bauwesen pro tierten vor allem Maurer (20), Zimmermänner (6) und die sich neu ansiedelnden Glaser (1), Schieferdecker (1) sowie Maler (2). Desgleichen erfuhr der Dienstleistungssektor Erweiterung um drei Geschirrführer, einen Barbier und zwei Waschfrauen. Vier zusätzliche Restaurateure brachen das gastwirtschaftliche Monopol der alten Erbschenke. Der Handel verbreiterte sich in Sonderheit. Strohbach nennt für 1895 zwei Kolonial-, einen Grün- und einen Schnittwarenhändler 899 in Nachfolge des Materialisten 50 Jahre zuvor bzw. des lokal 1877 letztmalig genannten Leinwandumschlags. Dessen Ersterben erscheint freilich angesichts des langfristigen Bedeutungsverlustes des Rohstoffs Leinen für die Massentextilfertigung ab der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts folgerichtig. Die letzten Bräunsdorfer Leinweber verschieden im Laufe der 1880er Jahre oder gaben das traditionsreiche Gewerbe zugunsten rentablerer Beschäftigungen bis 1888 auf. Im Gegensatz dazu setzte die Strumpfwirkerei ihren Aufschwung in der zweiten Jahrhunderthälfte fort, erreichte um 1890 (96) ihren örtlichen Gipfel und war 1900 (75) 900 den Wirkerzahlen nach bereits wieder im Abschwung begriffen. Ein Großteil der Wirker war in Heimarbeit für größere Werkstätten, Protofabriken und Fabriken der Region im Rahmen arbeitsteiliger Produktion protoindustriellen Charakters tätig. In Begleitung zunehmender Zentralisierung der Herstellungsprozesse im Limbacher Land des späten „langen 19. Jahrhunderts“ sank die Zahl der Heimarbeiter und mit ihr der selbstständigen Strumpfwirker zugunsten einer steigenden Fabrikarbeiterzahl kontinuierlich. Demzufolge erlebte die Wirkerei real vor 1914 keinen Abschwung.

899 900

Vgl. Strohbach, Dorfbuch, S. 189. Bei den Strumpfwirkerzahlen treten die systemimmanenten Diskrepanzen zwischen administrativer und kirchlicher Überlieferung besonders deutlich zu Tage. Ein Bräunsdorfer Einwohnerregister nennt 1898 lediglich 45 Strumpfwirker. Weitere merkliche Unterschiede 1898:1900 bestehen bei den Restaurateuren (5:2), Maurern (12:20) und Fabrikarbeitern (6:10). Des Weiteren fehlen die 1898 geführten Maschinenbauer, Klempner, Spuler, Waschfrauen, Agenten und Stahlschweißer in den Personenstandsakten 1900, während Schlosser und Stellmacher nur dort aufscheinen. Vgl. StALO, Rat der Gemeinde Bräunsdorf, Nr. 6: Einwohnerregister der Gemeinde Bräunsdorf 1898.

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Das Bräunsdorfer Berufsgruppenspektrum blieb von der Fabrikindustrialisierung nicht unbeein usst. Neue in der Fabrikarbeit wie in den jungen Industrien der Handschuhfertigung und des Textilmaschinenbaus wurzelnde Arbeitsfelder erweiterten die Liste der Beschäftigungsmöglichkeiten. Dennoch stand die Gesamtheit der Fabrikarbeiter (10), (Handschuh-)Näher (12), Scheerer (2), Schlosser (2), Nadelmacher (1), Maschinenbauer (1), Klempner (1) und Stahlschweißer (1) um 1900 in Bräunsdorf quantitativ noch deutlich hinter den Heimarbeitern zurück. Die zur Jahrhundertwende vor Ort existenten drei Strumpffabriken hatten nebst der aus der Papiermühle hervorgegangenen Pappenfabrik, einer Handschuhfabrik, einer Handschuhstepperei- und -zwickelei sowie einer Maschinenbaufabrik 901 entsprechend geringe Belegschaften im ein- bis unteren zweistelligen Bereich vorzuweisen. Die Situation zur Zeit der Jahrhundertwende hielt sich bis zum Ende des Untersuchungszeitraums relativ unverändert. Anlässlich einer letzten Gewerbe- und Einwohnererhebung wurden 1925 sieben Fabriken, darunter fünf der Strump ndustrie zugeordnete, gezählt, die 143 Personen Arbeit gaben. Davon beschäftigte die Bräunsdorfer Strumpffabrik allein 94 Männer und Frauen. 902 Gleichzeitig überwog die ausdrückliche Heimarbeit (76) eindeutig gegenüber ausgewiesenen oder mutmaßlichen Fabrikberufen (37). Der sekundäre Sektor, dem weitere 24 Einwohner als selbstständige Handwerker angehörten, dominierte somit wie schon im 18. Jahrhundert weiterhin Dorfwirtschaft und Berufsgruppenspektrum, welches inzwischen 44 Arbeitsfelder umfasste, dies jedoch weniger deutlich denn im synchronen Rußdorfer Beispiel. Der Primärsektor vereinte 53 explizit genannte landwirtschaftliche Arbeiter und Landwirte (24,77 %). Dem Dienstleistungsbereich blieb nach wie vor der geringste Anteil (10,28 %). Nichtsdestotrotz zeigte dieser im frühen 20. Jahrhundert den stärksten, vor allem von einer Ausdifferenzierung des Handels getragenen Wandel. Mitte der 1925er lebten in Bräunsdorf ein Vieh-, ein Fahrrad-, drei Schnittwaren-, zwei Grünwaren-, drei Kolonialwaren-, ein Flaschenbier- und ein Tabakwarenhändler. Zwei Barbiere rundeten neben den vier Gastwirten, zwei Lehrern, dem Pfarrer und dem Gemeindebeamten den Dienstleistungsbereich ab. Am Ende des Untersuchungszeitraums dominierte der Sekundärsektor wie in Rußdorf die Bräunsdorfer Wirtschaft. Anders als im Nachbarort war die Vorherrschaft der Heimarbeit bis dahin jedoch ungebrochen und hatte der Tertiärsektor den primären nicht auf den dritten Platz verweisen können.

901 902

Vgl. Strohbach, Dorfbuch, S. 189. Vgl. ebd.

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Zusammenfassung So unterschiedliche Züge die Verfasstheit der Dorfökonomien beider Untersuchungsorte in den 1930er Jahren annahm, so gleichartig verlief deren Entwicklung über weite Strecken, werden die mehr oder minder umfassend rekonstruierten Berufsgruppenspektren als Indikatoren herangezogen. Anfänglich entsprach die Ausrichtung der Dörfer klar einem agrarwirtschaftlichen Typus, bei dem die seit dem Hochmittelalter gewachsene, unter anderem strukturbedingte Produktionsteilung Stadt – Land fest verankert und institutionalisiert war sowie eine klare Grenze zwischen beiden Räumen zog. Das Subsistenzprinzip bestimmte, teils fehlender Notwendigkeit zu marktorientierter Massenproduktion, teils begrenzter Möglichkeiten und obrigkeitlicher Kontrolle geschuldet, das Wirtschaften im Primär- und Sekundärsektor. Die im 16. Jahrhundert nahezu ausschließlich bäuerliche Einwohnerschaft legte den Fokus klar auf den Eigenerhalt. Moderate Überschusswirtschaft und Verkauf der Mehrerzeugnisse waren vonnöten, um Abgabenp ichten nachzukommen, erforderliche Dienstleistungen bezahlen sowie Waren des täglichen Bedarfs bzw. Luxusartikel, die nicht mithilfe der eigenen bzw. nachbarschaftlichen Ressourcen und Fähigkeiten hergestellt werden konnten, auf den städtischen Märkten von spezialisierten Handwerkern käuflich erwerben zu können. Wenige Metiers erfüllten innerhalb der bäuerlichen Lebenswelt ständige Bedürfnisse, weswegen sie, meist stellengebunden und herrschaftlich konzessioniert, ein lose ächendeckendes Anbieternetz auf dem Land hervorbrachten. Müller, Schmiede und Gastwirte waren daher, falls vorhanden, feste Glieder der Dorfgemeinschaft und meist auch genealogisch integriert. Schulmeister und Pfarrer beanspruchten als parochiale Angestellte einen nicht minder festen Platz, standen aber als Fremde und ihrer Profession halber zumeist etwas am Rande der Gesellschaft. Gleiches gilt für die in Bräunsdorf vorhandenen Schäfer. Andere Handwerke und Dienstleistungsberufe fanden zweifellos auch auf dem Land ihre Kunden. Der privilegierten und geschützten zünftigen Konkurrenz außerhalb der städtischen Bannmeilen nur scheinbar ent ohen, durften sie im dünner besiedelten ländlichen Raum mit seiner eher einkommensschwachen Bevölkerung jedoch nur auf geringe Nachfrage, abhängig von der Relevanz des Gewerks für die Landwirte, hoffen. Die sozioökonomischen Vorzüge des zünftigen Lebens machten die Ansiedlung von Handwerksgesellen auf dem Land überdies unattraktiv, zumal die damit meist verbundene Familiengründung im Gesellenstatus für den Anwärter auf eine städtische Meisterstelle nicht tolerabel galt. Erweiterte ein Handwerker die Gewerbelandschaft der Untersuchungsorte, kam er in der Regel von außen, trieb neben dem Handwerk Ackerbau und Viehwirtschaft in geringem Umfang und nahm sein aus der mikroregionalen Perspektive personengebundenes Gewerbe am Ende mit ins Grab. Nur wenige Massengewerbe, zum Beispiel die Schneiderei, hielten sich stellenungebunden kontinuierlich, d. h. generationsübergreifend im dörflichen Raum.

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In einer zweiten, protoindustriellen Phase stieg der Sekundärsektor zum dorfwirtschaftlich bestimmenden auf. Dies geschah allerdings nicht auf Basis in großen Mengen zuwandernder, zünftig ausgebildeter Handwerker eines breiten beruflichen Spektrums oder unter quantitativer Regression der Bauernschaft. Vielmehr reagierten endogame Parteien ab dem 17. Jahrhundert auf eine überregional steigende Nachfrage nach billigen Leinenprodukten. Ohne Ausbildung, aber mit dem bäuerlichen Grundwissen um Flachsanbau, -verarbeitung und Leinwandfertigung versehen, stiegen zahlreiche Einwohner in die Fertigung grober Leinenstoffe ein. Die Ausbildung verlagsähnlicher Strukturen folgte auf dem Fuße, wodurch auch der lokale Dienstleistungssektor im Leinwandhandel eine leichte Ausweitung erfuhr. Eine hohe Produktnachfrage von außerhalb sowie die schiere Masse der Textilarbeiter und -händler hielt diese Gewerbe, obwohl personengebunden, langfristig konstant vor Ort. Das Dorfhandwerk zeigte in der Leinweberei eine neue Qualität, während alle übrigen Professionen den tradierten Schemata weiter folgten. In Begleitung des simultanen Bevölkerungswachstums stieg in dieser zweiten Phase gleichwohl die örtliche Nachfrage gewerblicher Produkte im Allgemeinen sowie die Anziehungskraft der Dörfer auf das Umland, weswegen einerseits das Berufsgruppenspektrum dauerhaft wuchs, andererseits einige grundlegende Handwerke, einmal angesiedelt, kontinuierlichen Charakter annahmen. Seit der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts hielt mit der aufstrebenden baumwollverarbeitenden Strumpfwirkerei ein zweites, nun aber zünftig organisiertes Massengewerbe Einzug in beiden Dorfökonomien. Erst im Laufe des 19. Jahrhunderts, als die industrielle Entwicklung den Fokus in der Massenfertigung von Alltagstextilien auf die Woll- und Baumwollverarbeitung verlegte, verdrängte diese freilich die bis 1890 in den Untersuchungsorten faktisch aussterbende Leinweberei. Zugleich begann spätestens unter dem Eindruck der gesetzlich verordneten Gewerbefreiheit 1861/1863 und der zunehmenden fabrikmäßigen Zentralisierung arbeitsteiliger Produktionsvorgänge im Limbacher Land in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts der dritte dorfwirtschaftliche Entwicklungsabschnitt. Kennzeichen dessen war ein in beiden Orten mit differenter Intensität nachvollziehbares, historisch beispiellos sprunghaft steigendes Berufsaufkommen im Gewerbe- und Dienstleistungsbereich zwischen 1850 und 1900. Heimarbeit für einen regionalen Fabrikanten verdrängte in der dominant bleibenden Textilverarbeitung bis zur Wende zum 20. Jahrhundert das eigenverantwortliche Handwerk im Kaufsystem. Nach 1900 wich es seinerseits sukzessive der zentralisierten, Wohn- und Arbeitsraum trennenden Fabrikarbeit. In Rußdorf, wo mehrere größere Fabriken entstanden, vollzog sich dieser Wandel deutlich schneller als im nahezu fabrikfreien Bräunsdorf. Die Mehrheit der Erwerbstätigkeiten war in der Industrialisierungsphase gleich der ersten agrarwirtschaftlichen und im Gegensatz zur zweiten protoindustriellen an eine Stelle, d. h. an den Besitz eines Hofes oder einen fremdbestimmten Arbeitsplatz gebunden. Des Weiteren zeichnete sich bereits der Übergang zur gegenwärtigen Dienstleistungsgesellschaft ab. Der Anteil des Tertiärsektors an

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den erschließbaren Beschäftigtenzahlen nahm in beiden Dörfern zum Ende des Untersuchungszeitraums hin deutlich zu. Während er in Bräunsdorf, wo sich dezentrale frühindustrielle Strukturen lange hielten und die Agrarwirtschaft weiter von großer Bedeutung blieb, bis 1935 quantitativ noch nicht an die übrigen Sektoren heranreichte, hatte er zur selben Zeit in Rußdorf den Primärsektor bereits überholt.

9.2 AKTEURE DER PROTOINDUSTRIALISIERUNG Obwohl auch sie ohne die Zuarbeit der übrigen Gesellschaftsmitglieder schwerlich in ihrer spätmittelalterlichen Lebens- und Wirtschaftsweise existierten konnten, steht die zentrale Rolle der Bauern für die mitteleuropäische Agrargesellschaft des 16. Jahrhunderts insgesamt und der dörflichen Kleinräume insbesondere außer Frage. Gleichermaßen gaben die im Endeffekt von den landwirtschaftlichen Produzenten abhängigen Gewerbe- und Handeltreibenden im urbanen Raum spätestens nach Überwindung ackerbürgerstädtischer Strukturen schon innerhalb der Agrargesellschaft den Ton an. Unabhängig von der gesamtgesellschaftlichen Ökonomie verfügte und verfügt bis in die Gegenwart jede (Mikro-)Region über eigene, wirtschaftlich bestimmende Akteure, die mit jenen makroökonomischen nicht zwangsläu g übereinstimmen müssen. Entsprechend nahmen in Protoindustrialisierung und Industrialisierung insgemein untereinander sowie im Vergleich zur vorangegangenen Zeit ebenso differierende Professionen eine bestimmende Rolle ein wie insbesondere in unterschiedlichen Regionen während der gleichen Epoche. Um weiteren Aufschluss über die Wirkungsweise lokaler Protoindustrialisierungsund Industrialisierungsvorgänge zu erhalten, gilt es in den folgenden Unterkapiteln, deren maßgebende Akteure in Rußdorf und Bräunsdorf hinsichtlich ihres sozioökonomischen Hintergrunds sowie Werdegangs zu untersuchen. Mithilfe dieser an frühen Vertretern jeder Gruppe exemplarisch vollzogenen Methode soll in erster Linie geklärt werden, ob die Dorfgesellschaften via Teilmengen aktiv oder passiv an den überregionalen Entwicklungen teilnahmen und ob Veränderungen des dorfwirtschaftlichen Gefüges, welches freilich immer auf exogene Prozesse reagierte bzw. mit ihnen interagierte, sich aus lokalen Gemengelagen ergaben oder von außen hereingetragen effektiv auf fruchtbarem Boden gediehen. Des Weiteren steht zu eruieren, welche (individual)strukturellen und individualbiographischen Voraussetzungen ihrer maßgebenden Akteure dorfwirtschaftliche Transformationen rezipierten. Die Betrachtung der Berufsgruppenspektren identi zierte Leinweber, Leinwandhändler und Strumpfwirker als maßgebliche Träger der lokalen Protoindustrialisierung. Für die industrielle Entwicklung Rußdorfs und Bräunsdorfs übernehmen dagegen Fabrikanten und Fabrikarbeiter repräsentative Funktionen. Diese fünf Berufsgruppen liegen daher im Fokus der folgenden Erörterungen.

AKTEURE DER PROTOINDUSTRIALISIERUNG

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9.2.1 Leinweber In den vorangegangenen Kapiteln wurde mehrfach auf die traditionelle Verbindung von Landwirtschaft und Leinweberei hingewiesen. Belege für Flachsanbau und -verarbeitung durchziehen die Überlieferung von Beginn an. Zum Beispiel zählten 1536 zwei „tag achs rauffen und rieffeln und inß wasser legen, und [...] ein stück garn spynnen, wen man Ihnen werck gibt und umbs lohn“ 903, zu den Dienstp ichten der Bräunsdorfer Handfröner unter Kaufunger Herrschaft. In Rußdorf starb sieben Dekaden später die 50-jährige Witwe Justina Vischer vermutlich bei ihrem Vermieter über dem Flachsspinnen. 904 Martin Herolt versprach seiner Mutter 1594 bei Übernahme des hinterlassenen väterlichen Handguts ebenda als Teil ihres Auszugs „Ihr jehrlich 4/8 theil lein [zu] sehen“. 905 Dergleichen Passus fanden seitdem bis zum Ende der Gerichtsbücher in den 1850er Jahren regelmäßig in verschiedenen Variationen Anwendung. Etwa sagte der Rußdorfer Bauer Blasius Herolt seiner Mutter 1605 nicht nur zu, ihr alljährlich einen Scheffel Leinsamen in die Erde zu bringen, sondern auch „denselben mit seinen gesinde außarbeiten zulaßen“. 906 Desgleichen wollte Samuel Fiedler, 1672 Erbe eines der beiden Bräunsdorfer Mühlen- und Handgüter, seiner Mutter auf Lebenszeit jährlich drei Maß Lein mit säen. „Den Flachs, so sie davon erbauet, führet er ihr in die Scheune, weiter aber hat er damit nichts zu thun.“ 907 Der dortige Erbschenkgutsbesitzer Johann Gottlob Illgen versprach seiner Mutter neben vielem anderen, ihr jedes Jahr „ein Sippmaas Lein ins gedüngte Feld zu säen und den erbauten Flachs mit zu beschicken bis an den Rocken“, dies allerdings 1839. 908 „Vier Maas Lein mit zu säen und zu dürren“ gestand abschließend der Rußdorfer Anspanner Christian Gottlob Pester seinen Eltern 1841 auf alle deren weiteren Lebensjahre zu. So wie diese Hinweise auf praktizierte Leinenverarbeitung nicht zwangsläu g eine gewerbliche Textilproduktion indizieren, so wenig kann vorhandenes Leinwebergerät bis hin zum Webstuhl als Beleg einer solchen dienen. Samuel Heil wurden bei Übernahme des väterlichen Hauses in Bräunsdorf 1752 vier Groschen Stuhlzins in Erweiterung der üblichen Abgabenlasten auferlegt. Demzufolge besaß Heil, der 1784 in den Pfarrmatrikeln ausdrücklich Leinweber genannt wurde, zu der Zeit einen Webstuhl. Jedoch war die Steuer nur dann zahlbar, „wenn aufn Kauff oder ums Lohn gearbeitet wird“ 909. Gleiches unterschrieb Heils Sohn und Erbe Johann Gottlieb 25 Jahre später. 910 Die Beispiele beweisen, dass professionelle Arbeitsmaterialien vorhanden sein konnten, 903 904 905 906 907 908 909 910

SächsSTAC, 30597 Herrschaft Penig, Nr. 183, fol. 1f. Vgl. EPA Kaufungen, KB I, Beerdigungen Rußdorf, 1607, Nr. 2. ThStA Abg, Amtsgericht Altenburg, CI Loc 1 Nr. 240. Ebd., Nr. 136, fol. 26. HstA-D, 12613 GB Limbach, Nr. 1, fol. 1. Ebd., Nr. 9: Gerichtsbuch Bräunsdorf 1837–1842, fol. 85b. Ebd., Nr. 4, fol. 90. Vgl. ebd., Nr. 5, fol. 168b.

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ohne kommerziell genutzt zu werden. Entsprechend verwahrte auch die Witwe Maria Esche nach dem Verkauf ihres ererbten Gartenguts 1678 „das vorhandene LeinweberGeräthe, als das Gestell, Stuhl Radt, Kämme und dergleichen [...] undt wil es künfftig denen beyden Söhnen, wenn sie es bedörffen, aushändigen“. 911 Ist die verkaufsorientierte Leinwandherstellung von Interesse, muss daher für die Untersuchungsorte nach klaren Berufsbezeichnungen à la Leinweber, -bleicher, -wirker oder -färber bzw. zumindest eindeutigen Belegen gewerblicher Produktion gefragt werden. Der erste eindeutig nachvollziehbare Leinweber der beiden Dörfer lebte in den frühen 1580er Jahren in Rußdorf. Noch vor Beginn der Kirchbuchüberlieferung wurde Greger Berger, ein Ortsfremder, als Hausgenosse ansässig. Möglicherweise hatte er eine Einheimische geehelicht. Zumindest ließ er 1582 und 1584 je eine Tochter taufen. In dieser Zeit verdiente Berger sein Geld wenigstens teilweise durch die Herstellung linnener Textilien. Woher er seine Rohstoffe erhielt und wie er, wahrscheinlich ein gewichener Bauernsohn, im Zweifel benötigte Finanzmittel generierte, bleibt offen. Die Familie hielt es nicht lange in Rußdorf. Nach 1584 verliert sich ihre Spur. Erst 100 Jahre später identi zieren die lokalen Quellen erneut gewerbliche Leinweber. Michael Esche zählt zu jenen, über die lediglich die Gerichtsbücher diesbezüglich Auskunft geben. Er wurde 1663 in eine Rußdorfer Handbauernfamilie geboren. Der Vater hatte aus seiner ersten, in Böhmen geschlossenen Ehe drei Kinder durchgebracht. Beide Töchter waren zu Michaels Geburt bereits verheiratet, der Halbbruder, „ein lahm gebrechlich Mensch“, lebte noch im väterlichen Gut mit. Aus der zweiten Ehe mit der Erbin besagten Handguts überlebten vier Söhne. Als der Vater, welcher zwischen 1655 und 1660 das Gemeindeamt des Kirchvaters bekleidete, um 1674 starb, ohne im Kirchbuch verzeichnet zu werden, el das Gut an die Witwe zurück. In gemeinschaftlicher Haushaltung der Söhne erhielt sie den Besitz für den Kurerben. Als dessen 21. Geburtstag 1686 heran war, sprach er sich jedoch zunächst aller Ansprüche los. Michael hingegen packte als zweitjüngster die Gelegenheit beim Schopfe: [...] und weiln dieser erst. daß Guth gekauft, Ihm solches auch von der Mutter Vormunden und Geschwister, mit Hand und munde zugeschlagen, Glück gewünschet, der Kuhrerbe auch solch sein Recht willig abgetreten. 912

Weil der jüngere Bruder allerdings „hernach sich eines andern besonnen, solches Guth selber gekaufft, hat er gewilliget, es solte sein Bruder Michael bis zu seiner Verehlichung bey ihn bleiben, ein Wirckerstell sezen, sein Weber Handwerck treiben“. 913 Offenkundig hatte Michael, der schließlich von Kindheit an damit rechnen musste, ausbezahlt zu 911 912 913

Ebd., Nr. 1, fol. 183. ThStA Abg, Amtsgericht Altenburg, C I Loc. 1, Nr. 143, fol. 105. Ebd.

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werden, bereits vor 1686 verkaufsorientierte Leinweberei betrieben, vermutlich um neben der Deckung laufender Kosten seinen Erbteil aufzubessern. Im Alter von 31 Jahren konnte er 40 Gulden aufbringen, um das erst 1691 auf Gemeindeboden erbaute Haus weiland Jacob Rudolphs zu kaufen. Kaum ein Jahr später brachte er im Frühjahr 1695 86 Gulden bares Geld auf, ertauschte unter Einsatz dieses Kapitals von Hanß Esche dessen über 54 Gulden verschuldetes Handgut und heiratete im Sommer eine Rußdorfer Gärtnertochter. Für den Rest seines Lebens trieb er augenscheinlich erfolgreich die Bauernwirtschaft. Von elf Kindern wurden fünf erwachsen und heirateten. Ein Sohn starb jedoch neunjährig und das jüngste Zwillingspaar überlebte den Kindbetttod der Mutter nicht für lang. Michael Esche diente die gewerbliche Leinweberei vermutlich lediglich als intermediäre Erwerbsquelle in Zeiten, in denen er sich von der Landwirtschaft ob fehlenden Besitzes nicht nähren konnte. Ähnliches muss für seine ausbezahlten Brüder gegolten haben, die ohne Dienstverhältnis ebenfalls Wohnrecht im väterlichen Gut besaßen. Jacob Esche (1661–1717) wurde in den Quellen nie mit einer Berufsbezeichnung verbunden. Er ersuchte die Herrschaft 1691, ein Jahr vor seiner Eheschließung, erfolgreich um einen Gemeindeplan inklusive Hausbaukonzession. Von diesem fortan innehabenden Besitztum allein konnte er sich und die Seinen freilich unmöglich versorgen. Der vierte gesunde Bruder Johannes Esche (1658–1744) wurde dagegen 1722 mit den Worten „ist ein alter Leineweber [...] so das Handwerck wenig noch treiben kann“ als Hausgenosse der Erbgemeinschaft seines jüngsten Geschwisters erwähnt. 914 Er blieb dem ledigen, besitzlosen Stand zeitlebens verhaftet. Die Situation einer der zeitgenössischen Engelmann-Familien in Rußdorf glich dem Dargestellten frappierend. Georg Engelmann (1653–1711), später mit dem Prädikat „der Untere“ versehen, erstand 1686 das hinterlassene Anspanngut seines kurz zuvor verschiedenen Vaters aus den Händen seiner Mutter und Geschwister. Ihn als zweitältesten eingeschlossen, wurde keiner der sieben Gebrüder seitens des Ortspfarrers je mit Leineweberei in Verbindung gebracht. Der älteste, war „ein gebrech. krancker Mensch“, weswegen ihm auf Lebenszeit ein Herbergs- und Versorgungsrecht in des Vaters Gut eingeräumt wurde. 915 Der fünfte Bruder kehrte scheinbar aus einem Krieg, in dem er 1686 stand, nicht wieder. Die übrigen Brüder verehelichten sich allesamt. Deren dritter erkaufte 1687 mit einer Barschaft von 40 Gulden ein Bauerngut in Rußdorf, dessen Tochter drei Monate später seine Ehefrau wurde. In den 1710er Jahren trieb er mindestens nebenberuflich die Zimmerei. Ein weiterer, der „das Herz allzu sehr an das zeitliche gehenget“, erkaufte erst 46-jährig 1703 ein Haus im Ort, entkam wenig später der Ledigkeit, erhängte sich jedoch bereits 1704 „aus Geitz [...] durch des Teuffels Antrieb in

914 915

ThStA Abg, Obersteuerkollegium, Nr. 1226. ThStA Abg, Amtsgericht Altenburg, C I Loc. 1, Nr. 143, fol. 111.

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die Ofenhölle“ eines „armen Mann[es]“ in Langenberg. 916 Demgegenüber stand sich der zweitjüngste Bruder vortrefflich, konnte 1696 50 Gulden Angeld für ein Gemeindehaus aufbringen und im selben Jahr heiraten. Ebenso gelangte der eigentliche Kurerbe 1697 gegen 30 Gulden bares Geld an Hausbesitz. Seine Hochzeit folgte 1698. Um den weichenden, lange Jahre unverheirateten Geschwistern ein Auskommen zu sichern, traf die Erbengemeinschaft 1686 eine Abmachung zu rotierendem Gewerbebetrieb im väterlichen Gut, das offenbar lediglich Platz für einen Webstuhl bot. „Es soll außerd. der Bruder Christoph zwey Jahr ein gestell sezen und nach Beliebung Leinwand abwürcken, nach solchen soll ein ander Bruder und so fort wieder zwey Jahr alda wircken.“ 917 Neben der Finanzmittelakkumulation für den täglichen Bedarf bot dies sicherlich den andernfalls in Diensten oder für unregelmäßigen Tagelohn arbeitenden ledigen Männern eine probate Möglichkeit, durch kontinuierliche Erwerbstätigkeit zusätzlich Geld für Stellenbezug und Familiengründung zu sparen. Wahrscheinlich führten zumindest die lediglich Hausbesitz erlangenden Engelmann'schen Brüder das Weben auch nach ihrer Selbstständigmachung fort. Ein weiteres Beispiel gibt die Familie des Bauern Martin Steiner († 1666). Dieser hatte 1643 aus Chursdorf kommend eine Tante des vorgenannten Georg Engelmann geheiratet und augenscheinlich deren elterliches Gut übernommen. Noch im selben Jahr (1644) starb sie jedoch. Steiner heiratete 1646 eine Tochter des ehemaligen Hohensteiner Richters Rudloff und bekam mit ihr zehn Kinder, von denen nur eine Tochter gesichert im Kindesalter starb. Das Schicksal einer weiteren Tochter ist unbekannt. Früh ihres Familienvorstands beraubt – der Nachwuchs zählte zwischen zwei und 20 Jahren –, wirtschaftete die Mutter mithilfe ihrer Kinder wahrscheinlich mehr schlecht als recht. Immerhin war der Besitz Mitte der 1680er Jahre über 116 Gulden verschuldet. Zwar mag die Last teilweise bis vollständig aus früheren Zeiten hergerührt haben, doch war es der Erbengemeinschaft in dem Fall binnen 20 Jahren zumindest nicht gelungen, sie zu tilgen. Freilich wirtschaftete die Familie insofern erfolgreich, als das Gut dem Kurerben Christoph Steiner erhalten blieb. Derselbe trat jedoch nach Erreichen seiner Mündigkeit von allen Ansprüchen zurück. Ein neuer Erbe musste gefunden werden. Die ältesten beiden Schwestern waren bereits verheiratet bzw. verwitwet, die jüngste seit 1676 im Dienst ihrer Mutter. Desgleichen hatte ein Bruder 1677 geheiratet und seinen Geburtsort verlassen. Ein zweiter war 1684 ledig verstorben. Die übrigen zwei Gebrüder lebten noch im Gut. Schließlich verstand sich der älteste, Martin (1649–1721), 1686 zu der Übernahme. Angesichts der kontinuierenden Belastungen durften die noch unverehelichten Erben bis zur Schuldentilgung neben der üblichen Ausstattung auf keine Ausbezahlung hoffen. Um so wichtiger musste die Erschließung anderer Einkommensquellen besonders 916 917

EPA Rußdorf, KB I, Beerdigungen 1704, Nr. 2. Ebd., Nr. 143, fol. 111.

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den weichenden Brüdern scheinen. Martin fand, das Gut in der Hinterhand, 1687 eine Ehefrau, die jüngere Schwester heiratete ihren obbenannten Engelmann'schen Vetter 14 Tage später. Der scheidende Kurerbe erhielt zwar der Norm entsprechend eine zusätzliche Entschädigungssumme über 15 Gulden, entbehrte jedoch fortan eines Lebensunterhalts. Vermutlich in Ansehung seiner Geburtsstellung durfte er „auch ein gestell beym Käuffer sezen und sein gewerb mit wircken beym Bruder haben, biß [er] sich verehliget“. 918 Für Christoph Steiner blieb die Leinweberei keine Übergangsbeschäftigung. Nachdem er 1690 bei der Herrschaft erfolgreich um einen Hausbauplatz einschließlich -konzession ersucht und sich ein Haus errichtet hatte, fungierte das Handwerk mutmaßlich weiterhin als seine hauptsächliche Erwerbsquelle. Erst 1696 trat er 32-jährig mit einer Gärtnerswitwe vor den Altar. So vermochte er in die obere rurale Mittelschicht aufzusteigen und seinen Hausbesitz gegen 64 Gulden loszuschlagen. Dennoch hielt er an der Leinenverarbeitung zur Versorgung seiner ab 1704 siebenköp gen Familie im Nebengewerbe fest. So bewirtschaftete Steiner 1722 zwei Scheffel Feld, besaß ein Stücklein „Grase-Gartten“, hatte zwei Kühe im Stall stehen und entrichtete für das Leinenweben Gewerbesteuer. Der nächstältere Bruder Georg Steiner erstand schon 1692 ein Rußdorfer Gartengut, heiratete kurze Zeit später und brachte drei von vier Kindern durch. Auch ihm genügten der halbe Scheffel Feldes, die im Stall gehaltene Kuh und eine Ziege nicht, ausreichendes Einkommen zu akquirieren. Abermals bot die kommerzielle Leinenverarbeitung, mit der er 1722 belegt ist, ein relativ unkompliziert zu erwirtschaftendes Zubrot. 919 Georg Steiners späterer Schwiegervater, der Gärtner Christoph Herold, starb um 1686 im Witwenstand mit ca. 56 Jahren. Unter den vier hinterlassenen Kindern war nur ein Sohn. Christoph Herold (1671–1749) sah sich minderjährig nicht in der Lage oder zeigte sich willens bzw. wurde von seinen Geschwistern und den Vormunden nicht fähig geachtet, das Gut jetzt oder später zu übernehmen. Stattdessen erstand es der 38-jährige Langenchursdorfer Jacob Resch im Januar 1687 für 200 Gulden Kaufsumme. Keine vier Monate später nahm dieser die älteste, fast 27-jährige Herold'sche Tochter zur Frau. Dem weichenden Kurerben wurden anlässlich des 20. und 21. Geburtstags je fünf Gulden Kurgeld zugesprochen. „Käufer will Ihm auch zwey Jahr in seiner stuben wircken laßen, auch Ihme die Herberge vergönnen, wenn er sich also verhalte, daß nicht Klag vernommen werde.“ 920 Wo Herold sich nach Ablauf dieser Zeit aufhielt und wie er seinen Lebensunterhalt danach bestritt bzw. an einen Heiratsfonds gelangte, bleibt fraglich. Einen Webstuhl konnte er sich als mutmaßlicher Hausgenosse bei Fremden sicherlich nicht einfach setzen. Im Januar trafen Gelegenheit und Finanzstatus für ihn letztlich aber positiv zu-

918 919 920

ThStA Abg, Amtsgericht Altenburg, C I Loc. 1, Nr. 143, fol. 112. Vgl. ThStA Abg, Obersteuerkollegium, Nr. 1226. ThStA Abg, Amtsgericht Altenburg, C I Loc. 1, Nr. 143, fol. 138.

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sammen. Der 30-jährige Junggeselle kaufte mit 20 Gulden Bargeld im Januar 1702 ein Gemeindehaus in Rußdorf. Gegen Ende desselben Jahres führte er eine ehemalige Bauerntochter aus Kaufungen heim. Die Verbindung endete nicht glücklich. Eines der drei Kinder kam tot zur Welt, die anderen starben im Säuglingsalter. Die Geburt des letzten Kindes überlebte die Mutter nicht. Auch eine zweite 1712 geschlossene Ehe blieb effektiv kinderlos. Die ärmlichen Besitzverhältnisse Herolds – 1722 gehörte ihm neben dem Haus lediglich „ein sehr klein Flecklein Garten“ – mögen dazu beigetragen haben. Sein Auskommen suchte daher auch dieser Häusler im Leinengewerbe. 921 Der erste belegbare Bräunsdorfer Leinweber blickte auf vergleichbare Umstände zurück. Michael Friedrich (1657–1715) zog 1658 mit seinen Eltern und vier älteren Geschwistern von Kaufungen, wo der Vater ein Auskommen als Hofknecht auf dem Rittergut hatte und sich möglicherweise zudem in der Zimmerei übte, nach Bräunsdorf. Dort erstand der ehemalig herrschaftliche Knecht das Benedix Bretschneider'sche Anspanngut. Nach 28 Jahren in dessen Besitz beschloss der inzwischen verwitwete 66-jährige Bauer Friedrich, nun Vater von sieben erwachsenen Kindern, sein Gut an den jüngsten lebenden Sohn Gottfriedt, der bereits 1685 geheiratet hatte, abzutreten. Der Kurerbe war 1666 nach einem Monat verstorben. Zum Zeitpunkt der Gutsübergabe waren drei Töchter noch unverehelicht und hatte eine vierte 1678 einen lokalen Häusler zum Mann genommen. Desgleichen lebte der älteste Sohn seit 13 Jahren zunächst als Hausgenosse, ab 1679 als Gärtner und ab 1685 ebenfalls als Bauer im Ehestand. Der mittlere Sprössling Michael Friedrich fristete sein Leben bis in die 1690er Jahre im Hausgenossenstatus. Dennoch fand er 1687 in der Bauerntochter Maria Künrich eine gute Partie. Seit 1689 zeigte sich das Ehepaar in regelmäßigem Abstand alle zwei Jahre reproduktiv. Ohne Gutsbesitz war die schnell wachsende Familie mit Sicherheit nur unter Schwierigkeiten zu versorgen. Die Leinenverarbeitung diente daher als zentrale Erwerbsquelle. Da Friedrich schon 1690 „Leineweber“ tituliert wurde, verfügte er bereits im Hausgenossenstand über einen Webstuhl und die nötigen Rohstoffe. Ob er den Flachs zukaufte oder gegen Lohn bei Bereitstellung der Arbeitsmaterialien webte, bleibt offen. Wahrscheinlich räumte ihm der Bruder und Erbe des väterlichen Besitzes Wohn- und Arbeitsraum sowie Anbau äche ein. Erst 1694 konnte Friedrich das älteste Gemeindehaus Bräunsdorfs nach Absterben des zweiten Besitzers für 90 Gulden Kaufgeld erwerben. Spätestens ab diesem Zeitpunkt kultivierte er auf dem angeschlossenen „bißgen Gartten“ seinen Lein sicherlich selbst. 922 Eine postume Nachricht weist außerdem auf eine zweite gewerbliche Beschäftigung in der Zimmerei hin. Ein letztes Indiz kommerziell praktizierter Leinweberei vor 1700 lenkt den Fokus auf Andreas Aurich (1662–1728) in Rußdorf. Dessen Vater Paul Aurich hatte als Sohn eines unbegüterten Schneiders über die Hälfte seines Lebens um den Tagelohn gedient. In den 921 922

Vgl. ThStA Abg, Obersteuerkollegium, Nr. 1226. Vgl. HstA-D, 12613 GB Limbach, Nr. 1, fol. 77 u. fol. 96.

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1640er Jahren kam er an den Rußdorfer Bauern Georg Herolt den Niederen, welcher nur eine Tochter sein eigen nannte. Aurich heiratete 1646 mit 44 Jahren die 21-jährige Jungfrau, aus seiner Sicht ein außergewöhnlicher Glücksfall. Bis zu dessen Tod 1658 lebte die Familie Aurichs bei dem Schwieger- und Großvater im Hausgenossenstand mit, genoss aber mit Sicherheit schon in dieser Zeit einen bäuerlichen Lebensstandard, der einem Tagelöhner wie Paul Aurich 923 normalerweise nicht anstand. Zwischen 1647 und 1664 bekam das Ehepaar sieben Kinder, von denen fünf ihr mündiges Alter erlebten. Der sozioökonomische Aufstieg des Vaters ermöglichte den Geschwistern auskömmliche bis vorteilhafte Heiraten. Beide Töchter ehelichten sehr jung mit 17 bzw. 21 Jahren einen Bauerngutsbesitzer und auch die älteren Söhne konnten, obgleich sich der soziale Abstieg in die obere Mittelschicht nicht vermeiden ließ, eine Bauerntochter freien. Trotz des erheblichen Altersunterschieds zwischen Aurich und seinen Kindern erlebte dieser die Hochzeiten seiner Nachkommen exklusive des Kurerben bei guter Gesundheit. Obwohl er ein für seine Zeitgenossen biblisches Alter von 92 Jahren erreichte, gab er den errungenen Besitz of ziell nie aus der Hand. Ohne Frage erhielten Aurichs arbeitstechnisch unbedingt nötige Unterstützung durch die Söhne Andreas und Martin. Letzterer hatte auch nach seiner Heirat 1683 kein Gut in Besitz genommen. Offenkundig wurde er seitens des Vaters frühzeitig in der Nachfolgeposition gesehen. Folgerichtig verfügte Martin durchaus über einen berechtigenden Heiratsfonds. Nach des Vaters Tod 1693 übernahm er tatsächlich dessen Gut von der Erbengemeinschaft, fand den ledigen 29-jährigen Kurerben Andreas ab und sicherte ihm das Recht zu, „einen Würckstuhl zusezen und zugebrauchen“ sowie „nach seiner Beliebung bewusten Pleich-Plahn an den Vorhaupten des Dorffs [zu] gebrauchen“. 924 Zwar wurde der Kurerbe nie ausdrücklich mit der Leinenverarbeitung in Verbindung gebracht, jedoch erscheint es unwahrscheinlich, dass er, der offenbar kein anderes Handwerk erlernt hatte und sich doch nähren musste, diese Chance zugunsten der unsteten Tagelöhnerei ausschlug bzw. überhaupt ausschlagen konnte. Allerdings zog er, ohne Grundbesitz zu erlangen, zwischen 1693 und 1697 nach Limbach, wo er im Vergleich zu seinen Geschwistern eine aus wirtschaftlicher Sicht offenbar weniger vorteilhafte Ehe einging. Im Frühjahr 1698 verfügte Andreas zumindest über 151 Gulden, um in Bräunsdorf ein Gartenhaus „nebst ohngefähr 1 Sipmas weit Feldt“ zu erwerben. 925 In den frühen 1690er Jahren gelangte auch Daniel Hahn mit Frau und Kind nach Bräunsdorf, wo er als Schulmeister Anstellung gefunden hatte. Kurz darauf starb seine Gattin. Hahn, der vom Schulzehnten der Gemeinde existierte und in der Schulmeisterwohnung lebte, heiratete 1694 zum zweiten Mal eine Tochter des herrschaftlichen Schäfers in Bräunsdorf. Zwei seiner fünf aus dieser Verbindung hervorgegangenen Söhne

923 924 925

Vgl. ThStA Abg, Obersteuer Kollegium Nr. 246. ThStA Abg, Amtsgericht Altenburg, C I Loc. 1, Nr. 147, fol. 152. HstA-D, 12613 GB Limbach, Nr. 1, fol. 127.

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sind für die Untersuchung von Interesse. Ohne eigenen Grundbesitz vermochte Hahn seinen Kindern gleich einem Hausgenossen keine Immobilie, keine soziale Sicherheit zu verehren. Dennoch stieg ein Sohn auf der Kaufunger Sorge in die Bauernschaft auf, indem er 42-jährig eine Handbauernwitwe zur Frau nahm. 926 Der älteste Sprössling Christoph Hahn (1695–1766) erarbeitete sein Auskommen und eventuelle Rücklagen mit Leinenweberei, offenbar noch nachdem der Vater 1716 verstorben war und bevor er ein eigenes Gut erkaufte. Im Oktober 1718 ehelichte er jung an Jahren eine bereits 36-jährige Tochter des Bräunsdorfer Bauers und Richters Hanß Frischmann. Diese war elf Jahre zuvor „gefallen“ und hatte das daraus entstandene Kind durchgebracht. Ihre Chancen auf eine (standesgemäße) Hochzeit waren seitdem gegen null gesunken. Insofern bot die Verbindung beiden Beteiligten Vorteile. Vier Wochen nach der Trauung nahm Hahn ein mit 149 Gulden bezahltes Bräunsdorfer Gartenhaus in Lehen. Das Erbteil seiner Ehefrau mag in die Summe einge ossen sein. Zur Subsistenz befähigte der auf dem vormaligen Wiesen eck eines Anspannguts ruhende Grundbesitz für sich genommen freilich nicht. Hahn setzte die marktorientierte Leinenverarbeitung daher bis mindestens 1723 fort. 927 Sein jüngerer Bruder Daniel Hahn (1697–1766) versuchte sich zunächst um 1720 in der Tischlerei, bevor er ab 1727 als Leinweber genannt wurde. Wo er in seiner unbegüterten Zeit einen Arbeitsplatz und die notwendigen Rohstoffe fand, ist ebenso unklar wie im Falle Christoph Hahns oder Michael Friedrichs. Nachdem Daniel 1729 einen Hausbauplatz von der Gemeinde erhalten hatte, erübrigte sich zumindest die Platzfrage. Dem Leinengewerbe blieb er zeitlebens hauptberuflich verhaftet, um seine 1731 geehelichte Frau und die binnen 14 Jahren geborenen drei Kinder zu versorgen. 928 Die Sebastian'schen Brüder aus Rußdorf entstammten als Zeitgenossen der Gebrüder Hahn völlig konträren Verhältnissen. Ihr Vater Abraham Sebastian hatte das dortige verschuldete Schenkgut 1684 erworben und in dessen Besitzerfamilie eingeheiratet. Von zehn Kindern des Paares überlebten sieben Söhne und eine Tochter, die nach dem frühen Tod Abrahams 1708 mit ihrer Mutter auf Jahre gemeinsam Haus hielten. Noch nachdem der designierte Erbe 1721 verstorben und das Gut an den älteren Bruder Christoph Sebastian gegangen war, bewirtschafteten die Geschwister es Schulden halber in commune. Die Leineweberei bot eine zusätzliche Einkommensquelle, die sicherlich für den schnelleren Schuldenabbau genutzt wurde. Immerhin trieb Anfang der 1720er Jahre keiner der verbleibenden fünf Brüder des Wirts das Gewerbe isoliert. Im Gegenteil wurde zum Beispiel 1722 „ihre Arbeit im gantzen verhandelt“ 929. Bis spätestens 1733 schien die Schuldenlast getilgt und die Motivation zum gemeinsamen Wirtschaf-

926 927 928 929

Ebd., Nr. 2, fol. 281 u. fol. 36b. Ebd., fol. 281 u. fol. 36b. Ebd. Vgl. ThStA Abg, Obersteuerkollegium, Nr. 1226.

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ten obsolet. Im Rahmen der Sebastian'schen Grundpartikularisierung bauten sich 1733 Andreas, Abraham und Samuel eigene Häuser auf Rußdorfer Flur an. Die ersten beiden führten das Leinweberhandwerk zur Selbstversorgung fort, der Letztere suchte sein Auskommen im Leinwandhandel. Die aufgeführten Beispiele früher belegter oder indizierter Leinweberei zeigen auffällige Gemeinsamkeiten. Ungeachtet ihrer sozialen Herkunft verfügte keiner der Vertreter über bäuerlichen Grundbesitz. Ebenso wenig standen sie in Diensten. Größtenteils entstammten sie einer an ihrem späteren Wohn- und Arbeitsort ansässigen Familie und in jedem Fall dem ruralen Milieu. Zumeist begannen sie im Hausgenossenstatus und als Mitwohner eines nahen Angehörigen den Gewerbetrieb, gelangten hernach an Gutsbesitz sowie Familie und kontinuierten das Handwerk innerhalb der dörflichen Mittelschicht. Tatsächlich war dieses Pro l für die Leinweber in den Untersuchungsorten über den gesamten betrachteten Zeitraum hinweg charakteristisch. Von 52 zwischen 1718 und 1732 erstgenannten Rußdorfer Leinwebern kamen etwa lediglich acht nie an Grund und Boden, von 23 zwischen 1690 und 1761 erstgenannten Bräunsdorfern keiner. Die Übrigen fanden sich im Laufe ihres Lebens leinwebend in der dörflichen Mittelschicht wieder. Zweithandwerke waren selten nachzuweisen. Im Zweifel ergänzten sich meist Tagelöhnerei und Weberei. Obwohl die Zahl extern Geborener seit dem 18. Jahrhundert deutlich zunahm, blieben städtische Herkunftsräume nur sporadisch vertreten. Die soziale Heimat umspannte alle dörflichen Besitzstände einschließlich der gänzlich unbegüterten Bevölkerung. Eventuelle Mehranteile einzelner Schichten resultierten aus deren ohnehin unausgeglichenem Mengenverhältnis. Das protoindustrielle Leinengewerbe griff im 17. Jahrhundert auf ein in den betrachteten Dorfgesellschaften strukturell angelegtes Potential zu. Unbedingter Nebeneffekt eines relativ über bloße Reproduktion hinausgehenden generativen Verhaltens und eines begrenzten lokalen Nahrungsspielraums war bei allgemein geltendem Subsistenzanspruch ein beständiges Missverhältnis zwischen der Zahl sozioökonomischer Stellen und potentieller Haushaltsführer. Wem weder durch Erbe noch durch Einheirat Zugang zu einem örtlichen Gut vergönnt war, dem blieben in der Regel nur Wegzug, lebenslanger Gesindedienst oder die unstete Existenz eines Tagelöhners als Optionen. Lebensund Gebrauchsmittel mussten Unbegüterte vollends zukaufen, das nötige Geld vorher unter weitgehender Absenz von Arbeitsmaterial und -geräten akkumulieren. Außerhalb der Landwirtschaft boten Handel und Handwerk, die sich bis zum Spätmittelalter weitgehend auf Städte und Markt ecken beschränkten sowie strikten Regulierungsmechanismen und Zugangsbeschränkungen unterlagen, ein vergnügliches Auskommen. Auf dem Land, wo sekundärer und tertiärer Sektor ohnehin ein örtlich begrenztes Publikum vorfanden und zünftige Meilenrechte nebst Konzessionierungsverp ichtungen allein den Zugang zur außeragrarischen Erwerbsarbeit deutlich erschwerten bis verschlossen, waren die Perspektiven dagegen stark limitiert. Gleichzeitig verfügte die bäu-

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erliche Bevölkerung zu einem gewissen Grade über handwerkliche Fähigkeiten, die in der Verarbeitung eigener Ressourcen und Produkte vorrangig für den Hausgebrauch Anwendung fanden. Eine Spezialisierung lag theoretisch im Bereich des Möglichen, jedoch fehlte es den Agrarproduzenten an Zeitkapazität und hätten die Produkte auf dem Land unter gleichwertigen Selbstversorgern sowie in den Städten zünftiger Beschränkungen und Konkurrenz halber kaum Absatz gefunden. Selbiges galt nicht zuletzt für die Leinenverarbeitung. Traditionell kultivierten die Bauern Flachs, stellten daraus Leinfasern her, verarbeiteten diese zu gewebten Stoffen und bleichten sie auch. Prinzipiell leisteten die Landbewohner in der Leinenverarbeitung bei geringen Produktionsmengen den städtischen Spinnern, Webern, Bleichern und Schneidern vergleichbare Arbeit. Fähigkeiten und Arbeitskräfte waren demnach in der Leinweberei auf dem Dorf vorhanden. Der entscheidende Impuls für eine protoindustrielle Entwicklung kam jedoch von außerhalb. Eine auf den Märkten der Region seitens überregional agierender oberdeutscher Großkaufleute artikulierte gesteigerte Nachfrage roher linnener Textilien seit der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts 930 bot den von Geburt bäuerlichen Angehörigen der unterbäuerlichen Schichten neue Verdienstmöglichkeiten auf dem Land. Die gegen höhere Bezahlung arbeitenden städtischen Weber, welche selbst auf ländliche Zulieferer angewiesen waren, konnten die neue Nachfrage unzureichend befriedigen und sahen sich bald einer wachsenden Zahl teils illegaler ländlicher Billigproduzenten gegenübergestellt. Diese arbeiteten sowohl im Hausgenossen- und Häuslerstand ohne Landanschluss mit fremden Rohstoffen als auch im Häusler-, Gärtner- und Bauernstand mit selbst angebautem Flachs, den sie teils zusätzlich eigenständig bleichten. Vom väterlichen Besitztum weichende Rußdorfer und Bräunsdorfer Söhne bekamen, sofern sie Raum fanden und Berechtigung ihres Hausvaters erlangten, um einen Webstuhl zu setzen, die Chance, über die Leinenverarbeitung den eigenen Lebensunterhalt aufzubessern und genügend Geld zur Finanzierung einer der Stellen anzusparen, die im Zuge der gleichzeitig bzw. kurz danach einsetzenden Flurpartikularisierungen entstanden. Zudem vermochten sie unter Fortführung des Gewerbebetriebs im begüterten Zustand von kleinen Stellen zu leben sowie eine Familie zu versorgen, was ihnen zuvor ohne handwerkliche Ausbildung kaum möglich gewesen war. Gleichwohl ermöglichte die Leinweberei höchstens bescheidenen Wohlstand. Mit Grundbesitz waren zusätzliche Abgaben und Dienste verbunden, die ein höheres Einkommen erforderten, von der nanziellen Mehrbelastung durch jedes weitere Familienmitglied zu schweigen. Während Gärtner und größere Häusler zumindest den Zukauf von Flachs oder Nahrungsmitteln mittels Eigenanbau minimieren konnten, waren kleine Hausbesitzer ohne nutzbaren Boden gänzlich auf Zukäufe angewiesen. Wenn die Leinwandherstellung für Gärtner noch ein Nebengewerbe darstellen mochte, geriet sie für Häusler gleich den Hausgenossen zur Hauptbeschäftigung. Tagelöhnerei oder eine zweite Erwerbstätigkeit mussten 930

Vgl. Heitz, Leinenproduktion, S. 58.

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deren Familieneinkommen vielfach aufbessern. Die Armutsgrenze war oft nicht fern, wie der Fall des Rußdorfer Häuslers Jacob Koch 1722 beispielhaft illustriert: „Tagelöhner u. Leineweber, ist ein armer Mann mit 4 Kindern, hat den Stuhl versetzen müßen um sich aus der Noth eine weile zu retten.“ 931 9.2.2 Leinwandhändler Ein zentrales Element des protoindustriellen Leinengewerbes Südwestsachsens war der Leinwandhandel. Der von Großhändlern organisierte Export nährte das Massengewerbe, indem er Absatzmöglichkeiten an die immobilen bis höchstens kleinräumig mobilen Produzenten herantrug. Beide Gruppen, die eine im städtischen Raum, die andere auf dem Land agierend, standen allerdings nicht in unmittelbarem Kontakt zueinander. Lokale Händler stellten die Verbindung her. Entweder kauften diese im Auftrag gegen Provision Waren auf, wie Gerhard Heitz annahm 932, oder sie trugen die Leinwand auf eigene Rechnung an die Märkte, weitere Zwischenhändler oder die Großkaufleute selbst heran. Unabhängig von der konkreten Funktionsweise der Warenströme trugen die Leinwandhändler maßgeblich zum laufenden Betrieb der Leinweberei im Untersuchungsgebiet bei. Da beides einander bedingte, starben die Professionen in Rußdorf und Bräunsdorf nahezu gleichzeitig aus. Ebenso liegt es nahe anzunehmen, ihre frühesten Vertreter existierten im selben zeitlichen Kontext. Die explizite Erstnennung eines Leinwandhändlers in den Untersuchungsorten datiert auf das Jahr 1669. Georg Künrich (1632–1671) kam drei Jahre, nachdem seine Eltern von Mittelfrohna gen Bräunsdorf übergesiedelt waren, im dortigen Limbacher Anteil als Sohn eines Mittelschichtangehörigen zur Welt. In seinem neunten Jahr starb die Mutter, mit 13 war er Vollwaise. Ob er nebst seinen beiden jüngeren Brüdern im Bauerngut des zweiten Mannes seiner Stiefmutter, Hans Hahl, erzogen wurde, ist nicht belegt. Ausgesprochen jung ehelichte er 1654 eine Tochter des damaligen Bräunsdorfer Pfarrlehnbauers Bendix Fiedler. Dessen einziger Sohn hatte sich bereits mit einer Bürgermeistertochter in Waldenburg niedergelassen und seinem dinglichen Erbanspruch entsagt. Die übrigen Töchter waren bis auf eine, welche 1659 zur dritten Ehefrau Hans Hahls wurde, in andere Güter verheiratet. So konnte die jüngste, Sybilla Künrich, für sich und ihren Ehemann auf das väterliche Erbe hoffen. Tatsächlich befand sich das Pfarrlehngut spätestens Ende der 1660er Jahre in Künrichs Besitz. Mitte der 1650er nährte er seine Familie vermutlich im Hausgenossenstand vom Hausschlachten, einer Tätigkeit, die sein Bruder Hans im folgenden Jahrzehnt ebenfalls als Mitwohner weiterführte. In den Jahren 1669 und 1670 handelte Künrich neben seiner Agrarwirtschaft Leinwand, sicherlich aus Bräunsdorfer Produktion. Womöglich verkaufte er sie bis nach Leipzig, wo 931 932

ThStA Abg, Obersteuerkollegium, Nr. 1226. Vgl. Heitz, Leinenproduktion, S. 58f.

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er im Januar 1671 überraschend verstarb und seine Witwe mit acht unerzogenen Kindern zurückließ. Nur drei Jahre später hatte ihn Bruder Hans auch im Leinwarenhandel beerbt. Bereits in den 1670er Jahren bot das Geschäft mehreren Familien in Bräunsdorf ein Auskommen. Zu den Begünstigten zählte der in Rußdorf geborene Gärtnersohn Andreas Landtgraff (1624–1690). Nachdem dieser das väterliche Gut 1643 wahrscheinlich einem Schwager überlassen hatte, sah er sich erst 1658 in der Lage, eine Partnerin vor den Altar zu führen. Im Jahr darauf nahm er deren ererbten väterlichen Garten an. Bereits ab 1665 trat Landtgraff Handel treibend in Erscheinung, wurde jedoch erst ab 1670 explizit als Leinwandhändler ausgewiesen. Offenbar war er in dem Geschäft, das er bis zu seinem Tod 1690 trieb, recht erfolgreich. Schon in den frühen 1670er Jahren stiftete er der Bräunsdorfer Kirche ein Kreuz. Bei seiner Beerdigung war die Familie in der Lage, fünf Taler zu testieren, den mit Abstand höchsten in den Kirchbüchern je vermerkten Betrag. Drei Tage später schlugen anlässlich der Beerdigung seiner Ehefrau nochmals 2,5 Taler zu Buche. Auch der Werdegang seiner Kinder zeugte von überdurchschnittlichem Wohlstand. Der Sohn Andreas konnte das Schuster-, Sohn Georg das Sattlerhandwerk erlernen. Letzterer fand Aufnahme in die Glauchauer Bürgerschaft, gleich dem Leinen webenden und handelnden Bruder Wolffgang Landtgraff. Des Weiteren heiratete die einzige überlebende Tochter des Gärtners gar einen Glauchauer Bürger, Sohn eines dortigen Ratsverwandten. Im Gegensatz zu den beiden vorgenannten wurde der Bräunsdorfer Obermüller Peter Fiedler (1605–1671) in der Überlieferung nie ausdrücklich mit dem Leinwandhandel in Verbindung gebracht. Die Verlassenschaft des in Kaufungen geborenen Holzmüllersohns umfasste jedoch neben 200 Gulden baren Geldes, sechs Kühen, einem Schwein, 50 Scheffeln Korn und 102 Talern 23 Groschen drei Pfennig Schulden 42 Schock „weise Leinwadt, halb ächsene und halb mittele“. 933 Für den privaten Gebrauch war diese erhebliche Menge von 2520 Ellen Stoff sicherlich nicht gedacht und ebenso wenig Produkt jahrelanger häuslicher Leinenverarbeitung. Der zweitjüngste Sohn Christoph Fiedler (* 1650) setzte den Handel vermutlich im Rückgriff auf die väterlichen Kontakte bis mindestens 1673 als Gärtner fort. Seine zwei Monate nach dem Tod des Vaters erfolgte Hochzeit mit einer Tochter des Bräunsdorfer Pfarrers Altwein zeugt von der familiären Reputation. Im Laufe seines Lebens wirkte Fiedler vor Ort als Schulmeister, entschuldete zwischen 1682 und 1709 die lokale Schenke und erlangte schließlich in Meerane das Bürgerrecht. Seine acht Geschwister trafen es ähnlich vorteilhaft. Die drei Schwestern heirateten in die bäuerliche Oberschicht ein. Unter den Brüdern übernahm einer die Obermühle, zwei hatten ihr Auskommen in der Bauernschaft und zwei fanden Eingang in die Bürgerschaft Zwickaus und Delitzschs. Bei dieser vergleichsweise hohen Kinderzahl war ein materiell wohlfeiler Werdegang bzw. die sozioökonomisch tadellose 933

HstA-D, 12613 GB Limbach, Nr. 1, fol. 1.

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standesgemäße Verheiratung aller im späten 17. Jahrhundert keineswegs selbstverständlich und die städtische Karriere mehrerer Brüder eher ungewöhnlich. Letzteres kam in den Familien der Leinwandhändler, womöglich bedingt durch ihren regelmäßigen Verkehr im urbanen Raum, offenbar gehäuft vor. Die Verwandtschaft Marten Ludwichs (1619–1674) stellt dahingehend ein weiteres Beispiel dar. Ludwich wurde in eine Bräunsdorfer Häuslerfamilie Limbacher Anteils hineingeboren. Im Alter von 21 Jahren erwarb er 1640 einen Garten unter Kaufunger Gerichtsherrschaft, heiratete jedoch erst zwölf Jahre später. Die Ehe endete nach kaum einem Jahr durch den Tod der Frau im Kindbett. Zu einer zweiten Verbindung, aus der vier erwachsene Kinder hervorgingen, fand er sich 1655 bereit. Als „Händeler“ wurde Ludwich schon 1663 bezeichnet, als „Leinwadthändler“ nicht vor seinem Ableben 1674. 934 Die drei Söhne strebten dem Vater nach. Der älteste Sohn heiratete in ein lokales Gartengut ein und stand sich im fortgeschrittenen Alter nach 1687 gut als Bürger, Lein- und Wollenweber in Ernstthal. Der jüngste, Tobias, nahm sein Erbe an und trieb im ledigen Stande den Leinwandhandel weiter. Gleiches praktizierte der mittlere Bruder Marten Ludewig (1658–1733) mindestens zwischen 1690 und 1733. Womöglich arbeiteten er und Tobias, dem er 1681 das Erbgut abkaufte, gemeinsam. Ende 1681 ehelichte Marten die Tochter des vorgenannten Georg Künrich. Ihre Nachkommenschaft bestimmte den Bräunsdorfer Leinwandhandel bis ins 19. Jahrhundert maßgeblich mit. Die drei Söhne gaben sich der Profession im Gärtner- und Bauernstand hin, die beiden jüngsten Töchter ehelichten in den Vettern Michael und Gottfried Steinbach ihrerseits je einen Leinwandhändler aus der oberen ruralen Mittelschicht, der ein väterliches Geschäft weiterführte. Gottfried Steinbachs älterer Bruder Michael (1687–1755) gehörte zu den ersten in Rußdorf genannten Leinwandhändlern. Bereits 24-jährig verfügte er über eine insbesondere vor dem Hintergrund seiner besitzständischen Herkunft ansehnliche Barschaft von 150 Gulden, die er zum Kauf eines 300 Gulden wertigen bebauten Gartenstücks vom Bauer Haupt im Oktober 1711 einsetzte. Keinen Monat später führte er Haupts mittlere Tochter Rosina vor den Altar. Das Paar bekam vier Töchter, die allesamt das mündige Alter erreichten und deren gute Partien auf den Erfolg des langjährigen väterlichen Handels mit Leinwaren hinweisen. Die Älteste fand 20-jährig in dem Gärtner und Leinwandhändler Martin Gimpel ein Ehegespons, die zweite Tochter heiratete 19-jährig einen lokalen Anspanner. Der Niederfrohnaer Bauer und Mahlmüller Eydner führte die dritte 21-jährig heim und die jüngste geriet mit 20 Jahren de oriert an den Leinwand handelnden Hausbesitzer Buschmann. Als Michael Steinbach 1755 starb, wurde sein Besitztum auf 700 Gulden meißnisch gewürdigt. Sein Geschäft hatte ihm offensichtlich zu Wohlstand verholfen. Es ernährte auch zahlreiche seiner Nachkommen teils bis zum örtlichen Absterben der Profession im späten 19. Jahrhundert.

934

Vgl. EPA Bräunsdorf, KB I, Taufen 1663, Nr. 2 u. Beerdigungen 1674, Nr. 3.

Abbildung 52: Verwandtschaftliche Beziehungen zwischen Leinwandhändlern in Rußdorf (Rd.) und Bräunsdorf (Bd.)

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Noch im späten 17. Jahrhundert vertrieben Jacob Resch (1649–1729), Hans Schubart (1661–1693) und Peter Engellmann (1665–1727) die Produkte Rußdorfer Leinweber. Eine zeitliche Eingrenzung ihrer Tätigkeit ist ob lediglich postumer Nennung unmöglich. Der Häuslersohn Resch zog 1687 von Falken zu, erstand den hinterlassenen Garten Christoph Herolds mit moderaten Angeldern über insgesamt 60 Gulden und heiratete dessen älteste Tochter. Zwei Söhne gingen aus der Ehe hervor, deren einer sich in Pleißa als Schneider mit Hausbesitz niederließ. Der Kurerbe hingegen übernahm den Garten und bestritt seinen Lebensunterhalt durch Leinwandherstellung. Schubart kam ebenfalls von Falken, wo er zunächst die Schenke erbte. Wahrscheinlich blieb er in der Wirtschaftsführung glücklos. Immerhin stellte es in seiner Situation einen signi kanten sozialen Abstieg dar, 1689 einen Garten in Rußdorf anzunehmen, den er sicherlich nicht favorisierte. Seine Zeit in der neuen altenburgischen Exklave stand ebenfalls unter keinem guten Stern. Nach seiner Hochzeit 1690 blieben ihm nur drei Jahre, bevor er „in Melancholia“ 935 verschied. Peter Engellmann dagegen entstammte einer alteingesessenen Rußdorfer Familie. Dem Vater gehörte ein Gartengut, auf dem die Eltern sieben Söhne erzogen. Peter zählte als Zweitjüngster letztlich zu den weichenden Erben. Wie er in den zehn Jahren nach dem Tod seiner Eltern um 1686 sein Leben bestritt, ist unklar. Bis 1696 gelangte Engellmann an ausreichende Mittel, eines der jungen Gemeindehäuser in Rußdorf zu erwerben. Im selben Jahr nahm er eine Bauerntochter zur Frau. Ihre vier Kinder erlebten sämtlich das mündige Alter. Der einzige Sohn Christoph (1705–1758) übernahm 1733 das Gut für 300 Gulden von der Mutter. Vermutlich knüpfte er an das väterliche Geschäft unmittelbar an. Quellenmäßig ist Christoph Engelmann als Leinwandhändler gleichwohl erst ab 1751, dem Jahr seiner Hochzeit, belegt. Der früheste Nachweis des um 1750 breit aufgestellten Geschäftsfeldes datiert allerdings auch in Rußdorf beinahe ein Jahrhundert eher. Hans Reim (1632–1694) wurde bereits 1669 einmalig explizit mit dem Leinwarenhandel in Verbindung gebracht. In Rußdorf als Sohn eines zugewanderten, mutmaßlich zeitlebens zur Miete wohnenden Zimmermanns geboren, wuchs er ab 1634 unter der Zucht seines wenig begüterten Stiefvaters auf und heiratete 32-jährig die Tochter eines Rußdorfer Bauern. Im Jahr darauf erwarb Reim wahrscheinlich das Elternhaus sowie späterhin zusätzlich ein Gartengut, in dem die Familie wohl in eher bescheidenen Verhältnissen existierte. Lediglich zwei Töchter brachte die Gattin im Abstand von 13 Jahren zur Welt. Beide überlebten. Während die jüngere ihrem späteren Ehemann über ihr Erbe zu Grundbesitz verhalf, stand die ältere ab 1700 einem Hohensteiner Bürgerhaushalt vor. Viereinhalb Dekaden nach Reims Auftritt berichten die Pfarrmatrikel von unternehmerischen Aktivitäten Georg Steudtmanns (1674–1717), einem Gartenhäusler- und Fleischersohn. Dessen Vater war um 1674 verheiratet nach Rußdorf gezogen und hatte 935

EPA Rußdorf, KB I, Beerdigungen 1693, Nr. 5.

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dort drei Kinder gezeugt, von denen nur der Sohn überlebte. Gerade mündig geworden, führte Georg 1695 eine erbende Häuslertochter vor den Altar. Obwohl sich beide Eheleute in Aussicht auf eine Mittelschichtstelle befanden und Steudtmann gar als Häusler und Gärtner bezeichnet wurde, gelangte er of ziell nie an Grundbesitz. Mutmaßlich auf dem väterlichen Gut zur Miete wohnend, sicherte er über Leinwandhandel den Lebensunterhalt seiner Familie, die bei Georgs frühem Tod sechs Kinder im Alter von zwei bis 19 Jahren umfasste. Der älteste Sohn Samuel (1697–1786), Hausgenosse und letztlich Erbe seiner 1717 noch lebenden väterlichen Großeltern, führte Steudtmanns Geschäft neben der Fleischerei weiter, ohne den vorhandenen Heiratsfonds in seinem ausgesprochen langen Leben je nutzbringend einzusetzen. Neben ihm stiegen auch zahlreiche weitere Nachkommen Georg Steudtmanns in die Distribution ein, etwa der jüngste Sohn Christoph (1710–1777), der zuvor ein Vierteljahrhundert selbst Leinen webte. Die aufgeführten Kurzbiographien aus der Frühzeit des Rußdorfer und Bräunsdorfer Leinwandhandels können in wesentlichen Punkten repräsentativ für die überwiegende Mehrheit all dessen Vertreter bis ins 19. Jahrhundert stehen. Zum Großteil kamen diese aus den betrachteten Dorfgesellschaften selbst und falls nicht, so doch aus demselben ruralen Milieu. Obgleich alle dörflichen Besitzstände mit Schwerpunkt auf der Gärtner- und Häuslerschaft an dem Geschäft partizipierten, entstammten die Händler selbst via Geburt ausschließlich den begüterten Klassen. Oft kontinuierten Kinder und Kindeskinder den väterlichen Handel bzw. heirateten Töchter einen Professionsgenossen. Weitere gleichzeitige Erwerbstätigkeiten im sekundären oder tertiären Sektor, die Leinenverarbeitung inbegriffen, sind zumindest in der Frühphase selten nachweisbar, allerdings nahmen derartige Fälle nach 1750 deutlich zu. So ging zum Beispiel 1733 von vier im Steueranschlag genannten Leinwandhändlern nur einer einem zweiten Beruf nach. Das Steuerverzeichnis 1769 schrieb hingegen zwölf von 15 ein zweites Gewerbe zu. 936 Gleich der Leinweberei griff der Leinwarenhandel auf lokale Ressourcen zurück. Zwar liegt seine infrastrukturelle Entwicklung ebenso im Dunkeln, wie die Struktur des Handelsnetzwerks im Limbacher Land unbekannt ist, doch bietet der durchschnittliche sozioökonomische Hintergrund der ersten bekannten Distributoren Indizien zur Rekonstruktion grundlegender Prinzipien. Zuerst springt die hohe Orts- und Milieugebundenheit der Händler ins Auge. Dies zeigt mehrerlei an. Einerseits konnte offenbar jedermann in das Geschäft erfolgreich einsteigen. Keine spezi sche Ausbildung war erforderlich. Ob hingegen bestimmte Anforderungen an die Persönlichkeit des Handeltreibenden, an seine monetäre und materielle Verfassung oder sein soziales Netzwerk bestanden, sei dahingestellt. Andererseits bot der Markt Auswärtigen augenscheinlich wenig Zugangsmöglichkeiten. Dies schließt freilich anfängliche Aktivitäten fremder Händler vor Ort nicht aus. Es ist aber ein Hinweis darauf, dass die Distributoren vorrangig die Ware lokaler Produzenten handelten. 936

Vgl. ThStA Abg, Obersteuer Kollegium Nr. 274.

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Womöglich wurde dabei generationenübergreifend auf dieselben Strukturen zurückgegriffen, weswegen enge verwandtschaftliche Bindungen die meisten Händler verbanden. Wie die notwendigen Kontakte zu den überregional agierenden Kaufleuten entstanden und ob die ersten Händler ursprünglich selbst gewebt hatten, wie es ihre Nachfolger im späten 18. Jahrhundert praktizierten, bleibt offen. Ein weiteres zentrales Charakteristikum des Leinwandhandels in den betrachteten Ortschaften ist die Dominanz der dörflichen Mittelschicht, welche zumindest im 17. Jahrhundert nicht einfach dem quantitativen Verhältnis der Besitzstände Rechnung trug. Ebenso wenig lässt sie auf das weitgehende Fehlen grundlegender Voraussetzungen in den gegensätzlichen sozialen Gruppen schließen. Im Gegenteil verfügten die Pferdebauern im Allgemeinen über die besten Transportmöglichkeiten und theoretisch tendenziell über die größten nanziellen Mittel. Beides schien für den Einstieg in den Leinwandhandel von untergeordneter Bedeutung. Andernfalls wäre die hier beschriebene übermäßige Teilhabe der Klein- und Kleinststellenbesitzer wie die von Heitz beschriebene der Hausgenossen im 16. Jahrhundert 937 undenkbar gewesen. Wenn also die Bauernschaft dem Handel mit Leinenprodukten fernblieb, muss eher von fehlender Bereitschaft zur aktiven Beteiligung ausgegangen werden. Womöglich bot die Agrarwirtschaft den meisten einerseits ein ausreichendes Auskommen und ließ andererseits wenig Spielraum für eine zusätzliche regelmäßige Erwerbsarbeit. Hingegen resultierte der geringe Anteil an Hausgenossen mit Sicherheit in erster Linie tatsächlich aus deren geringer frühneuzeitlicher Präsenz. In Bräunsdorf sind mit Georg Steinbach (1651– 1706), Hans Hahl (1650–1732), Hanß Kühnrich (1671–1746) und Georg Aurich (1680– 1753) vier Personen belegt, die vor 1705 als Mitwohner dem Leinwandhandel nachgingen. Jeder von ihnen starb begütert, einer quittierte seine Profession im Bauernstand. Gleich der Linnenherstellung bot der Vertrieb Unbegüterten eine Möglichkeit, genug nanzielle Mittel für den besitzständischen Aufstieg zu akkumulieren und in der Mittelschicht auch bestehen zu können. Da die individuelle Erstnennung einer Erwerbstätigkeit in der Überlieferung normalerweise an die Hochzeit gebunden ist, diese traditionell aber Gutsbesitz voraussetzte, mag die geringe Zahl nachgewiesen handelnder Hausgenossen als Quellenproblem verstanden werden. Die völlige Absenz der Landlosen unter den Vätern der Leinwandhändler folgert indes aus der mehrfach angesprochenen nahezu unabdingbaren Verbindung zwischen Landbesitz und Reproduktion. Gleich der Leinweberei diente der ausbildungsungebundene, keine handwerklichen Fähigkeiten erfordernde, marktregulierte Leinwandhandel jenen der Subsistenzwirtschaft unfähigen dörflichen Gesellschaftsmitgliedern zur probaten Option, den familiären Lebensunterhalt außerhalb der Landwirtschaft und doch im ruralen Raum bei geringem bis fehlendem immobilem Besitz zu bestreiten. Anders als die Leinweberei bot das Geschäft zudem die Chance auf überdurchschnittlichen Wohlstand. Mit zunehmen937

Vgl. Heitz, Leinenproduktion, S. 58.

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der Konkurrenz konnte es jedoch offenbar bereits im Laufe des 18. Jahrhundert seine Vertreter immer seltener allein versorgen. Die sozialen Wurzeln des Rußdorfer und Bräunsdorfer Leinwandhandels liegen wahrscheinlich ebenfalls in der Gruppe weichender lokaler bäuerlicher Erben, die ihre Chancen auf soziale Sicherheit und Familiengründung in Rezeption exogener ökonomischer Entwicklungen durch Teilnahme an denselben unkompliziert steigerten.

9.2.3 Strumpfwirker Die dritte für die protoindustrielle Entwicklung des Limbacher Landes maßgebliche Profession der Strumpfwirkerei unterschied sich grundlegend von den vorgenannten eng verbundenen. Deutlich jünger als die Hanf- und Leinweberei, blieb dieses faktisch mit Er ndung des Strumpfwirkstuhls durch William Lee 1589 begründete, die Strumpfstrickerei gewissermaßen ablösende Handwerk bis zur Gewerbefreiheit vollständig zünftig organisiert. Wer das Gewerbe treiben wollte, musste zuvor zwangsläu g die zünftige Ausbildung durchlaufen und benötigte überdies entsprechendes Arbeitsgerät. Desgleichen differierten die verwendeten Materialien von den Rohstoffen der Leinweber. Strumpfwirker griffen zur Herstellung ihrer Waren auf Wolle, Baumwolle oder gar Seide zurück 938. Keiner dieser Grundstoffe stand der Landbevölkerung Südwestsachsens aus Eigenproduktion zur Verfügung. Zwar waren Schäfer zumindest an der Wollproduktion einiger Rittergutsherren, darunter jene auf Kaufungen und Bräunsdorf, beteiligt, doch freilich ohne Zugriff auf die Produkte selbst zu erlangen. Um an der während des 18. Jahrhunderts aufstrebenden Strumpfwarenproduktion teilzuhaben, fehlte es der frühneuzeitlichen Rußdorfer und Bräunsdorfer Bevölkerung demnach an Rohstoffen, Arbeitsmitteln und dem nötigen Fachwissen, kurzum allen Voraussetzungen einer endogamen Entwicklung lokalen Strumpfwirkereigewerbes. In Rußdorf fasste die Strumpfwirkerei relativ früh Fuß. Johann Esche aus Köthensdorf, einer der ersten sächsischen Strumpfwirker, wurde anlässlich seiner Heirat 1703 erstmals mit dem Handwerk in Verbindung gebracht. Er ließ sich in Limbach nieder, wo er sich bis in die 1730er Jahre zusätzlich als Verleger etablierte und um 1732 die Seidenstrumpfproduktion begann. Noch in den 1700ern nahm in Limbach ein zweiter Strumpfwirker seine Arbeit auf. Weitere folgten nach 1710, jedoch blieb deren Zahl bis Anfang der 1730er im einstelligen Bereich. Selbst in Chemnitz fand das Gewerbe, zu dem Zeitpunkt von drei Meistern betrieben, nicht vor 1718 Erwähnung. 939 Die ab 1731

938

939

„Bey fünff Thaler Straffe niemand das Strumpffwürckens sich unterziehen, oder Mannes und Weibes Strümpffe, HandSchuhe, Hosen, gantze und halbe Weibes Meider, halb oder gantz gewalkte von Seiden, Castor, Baum- oder andern Garn, was sonst eigentlich zum Strumpffwürcker-Handwerck gehörig [...] ums Lohn oder Verkauff weben oder würcken.“ – ThStA Abg, Landesregierung, Nr. 11934: Statut der Rußdorfer Strumpfwirkerinnung, § 2. Vgl. Esche, Wirkerei, S. 2.

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in den Rußdorfer Quellen erscheinenden Wirker zählten damit noch zu einem überschaubaren Kreis von ihresgleichen im Großraum Chemnitz. Der erstgenannte Rußdorfer Strumpfwirker hieß Christoph Schultze (1704–1774). Er entstammte einer hausbesitzenden Limbacher Leinweberfamilie. Vermutlich erlernte er sein Handwerk bei Esche und Konsorten. Die erste Sebastian'sche Grundpartikularisierung lockte ihn 1729 nach Rußdorf. Dort erwarb er das sechste Feldstück gegen zehn Gulden nebst Übernahme der üblichen Frondienst- und Erbzinsverp ichtung gegenüber dem Muttergut. Zwei Jahre danach hatte Schultze ein Haus errichtet, womit er über einen ausreichenden Heiratsfonds verfügte. Mit Christina Frischmann, Tochter eines Rußdorfer Bauern, machte er eine für seine Verhältnisse ausgesprochen gute Partie. Womöglich brachte ihm das Handwerk eine überdurchschnittliche ökonomische Reputation ein. Nicht umsonst zahlten Strumpfwirker 1769 mit einem Groschen und vier Pfennigen ebensoviel Gewerbesteuer wie Hufschmiede und Bader, doppelt so viel wie die meisten anderen Dorfhandwerker, Leinweber und Leinwandhändler eingeschlossen. Lediglich Weißbäcker zahlten noch mehr. 940 Von fünf Kindern Schultzes feierten drei ihren 21. Geburtstag. Der älteste Sohn el 1753 mit 17 Jahren einem hitzigen Fieber zum Opfer. Keiner der Sprösslinge trat in die Fußstapfen seines Vaters, der 1745 zu den Gründungsmeistern der Rußdorfer Strumpfwirkerinnung zählte. Leinwandproduktionund Handel sicherten deren Lebensunterhalt. Schultze selbst ging in seinen späteren Jahren wieder zur kommerziellen Leinenverarbeitung über. Zwei Tage vor Schultze kaufte Johann David Esche (1709–1782) eines der Sebastian'schen Feldstücke zu denselben Konditionen. Als zweiter Sohn des Limbacher Wirkereivorreiters Johann Esche geboren, hatte er sicherlich das väterliche Handwerk bei diesem gleich seinen jüngeren Brüdern erlernt. Johann Georg etablierte sich in Chemnitz bis 1742 mit Bürgerrecht als Seiden- und Wollstrumpfwirker bzw. bis 1767 als Fabrikant und Handelsmann gleich dem Vater. Der jüngste, Johann Michael, studierte offenbar in Holland und Paris die Fabrikation rein seidener Strumpfwaren, machte daraufhin in Limbach sein materielles Glück mit einer Seidenfabrik und zog endlich nach Dresden 941, später nach Ehrenhain bei Altenburg 942. Johann David Esche seinerseits ehelichte 1733, zwei Jahre nach seiner indirekten Ersterwähnung als Strumpfwirker in Rußdorf 943, die hinterlassene Tochter des dortigen Gärtners und Leinwebers Hans Müller. Nach acht Jahren Ehe starb die erste Frau am Kindbett eber. Die Tochter eines Hohensteiner Bürgers, Schneiders und Kramers wurde 1745 seine zweite Gemahlin. Seines Vaters Ableben 1752 führte den dessen Manufaktur erbenden Esche zurück nach Limbach. Während seiner Rußdorfer Zeit hatte 940 941 942 943

Vgl. ThStA Abg, Obersteuer Kollegium Nr. 274. Vgl. ThStA Abg, Familienarchiv Waitz/Wagner, Nr. 68. Vgl. Esche, Wirkerei, S. 64. Vgl. EPA Rußdorf, KB I, Beerdigungen 1731, Nr. 5: „[...] so in der Lehre als ein Strumpffwürcker bey Johann Dav. Eschen stunde [...].“

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Johann David sicherlich im engen Schulterschluss mit Johann Esche, dessen Kon rmationsversuch der bereits konsolidierten Limbacher Strumpfwirkerinnung um 1737 ins Leere gelaufen war, die Innungsgründung auf sächsisch-altenburgischem Gebiet maßgeblich vorangetrieben. Demgemäß bekleidete er auch bis 1751 an deren Spitze die Obermeisterposition. Noch vor dem Rückzug in sein Heimatdorf, wo er als Kauf- und Handelsmann sowie Seidenstrumpffabrikant als ein, wenn nicht gar als einziger Verleger des regionalen Strumpfgewerbes seiner Zeit agierte, gelang Esche der Aufstieg zum sächsisch-gothaischen Ho ieferanten 944. Zugleich stellte er ab 1764 mehrfach auf der Leipziger Messe aus, womit er ein Novum im Limbacher Land schuf. 945 Esches Kinder blieben der Strumpfwirkerei verhaftet. Die Töchter heirateten Strumpfwirker, die Söhne führten die manufakturelle bzw. fabrikatorische Produktion in Limbach fort und trugen maßgeblich zur Organisation des exportorientierten Handels bei. Vermutlich verlegten sie auch die Waren der Rußdorfer und Bräunsdorfer Meister, da Nachweise über in den Orten ansässige Händler oder sogenannte Factoren beinahe gänzlich fehlen. Gottfried Kretzschmar (1712–1772) aus Oberrabenstein, der 1732 in Limbach geheiratet hatte, gehörte gleichsam zu den Nutznießern der privaten Flurteilung von 1729 in Rußdorf. Wie die Vorgenannten hatte er das Handwerk mit Sicherheit in Limbach gelernt, war dann der billigen Chance auf Stellenerwerb nach Rußdorf gefolgt und heiratete schließlich nach erfolgreichem Anbau eines Hauses. Drei Kinder entsprangen der Verbindung, deren zwei ledig starben. Das Schicksal des ältesten Sohnes ist unbekannt. Kretzschmar trieb die Strumpfwirkerei bis an sein Lebensende, ohne je eine weitere Einnahmequelle erschlossen zu haben. Spätestens in seinen letzten Jahren wurde er vom Glück verlassen. Seine Frau starb 1768 an Auszehrung, er selbst wurde „wegen Armuth ohne Predigt“ beerdigt. 946 Dennoch stand er noch 1768 der Innung, die er mitbegründet hatte, als deren vermutlich fünfter Obermeister vor. Der vierte 1745 beteiligte Strumpfwirker, Gottfried Müller (1716–1760), stammte aus einer Rußdorfer Gärtnerfamilie, mag aber nur über den Schwager Johann David Esche an seinen Broterwerb gekommen sein. Müllers älterer Bruder Christoph durchlief zwar ebenfalls eine Strumpfwirkerausbildung, zeigte sich jedoch erst fünf Jahre nach Esches Hochzeit anlässlich der eigenen in der Strumpfwirkerei tätig. Zu dem Zeitpunkt lebte er bereits in Ruppersdorf. Gottfried Müller verdingte sich seinerseits mindestens seit 1741 in dem regional jungen Gewerbe. Im selben Jahr übernahm er den hinterlassenen väterlichen Garten aus der Mutter Hand. Die Hochzeit mit einer Gärtnertochter erfolgte 1743. Nachdem die Strumpfwirkerinnung Konzession erhalten hatte, trat Müller 1747 unter Obermeister Esche als Beisitzer auf. Bald danach wandte sich sein Leben

944 945 946

Ebd., Taufen 1751, Nr. 20. Vgl. ThStA Abg, Familienarchiv Waitz/Wagner, Nr. 68. EPA Rußdorf, KB I, Beerdigungen 1772, Nr. 5.

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zum Schlechten. Er ging unter die Falschmünzer, wurde 1751 inhaftiert und starb 1760 fern seiner Familie in Apolda. Seine einzige Tochter ertränkte sich 1772 in jungen Jahren, der überlebende Sohn etablierte sich als Gewandhändler in Berlin. Drei Jahre nach der Innungsgründung wurde Johann Salomon Schrepffer († 1762) in der Rußdorfer Strumpfwirkerei erstgenannt. Zu dem Zeitpunkt noch Hausgenosse, verarbeitete er 1748 Seide und (Baum-)Wolle. Sicherlich wurde er damals von Johann Esche in Limbach beschäftigt, der allein eine Seidenstrumpffabrikation in der Region betrieb. Diese Erwerbstätigkeit gereichte Schrepffer zum genügenden Heiratsfonds für die Hochzeit mit einer Häusler- und Schuhmachertochter aus Reichenbach. Erst 1750 erstand der Ölmüllersohn aus Vogelsberg eines der Sebastian'schen Feldstücke noch unbebaut aus zweiter Hand. Nach Errichtung eines Hauses legte das Ehepaar ab 1753 rege Fertilität an den Tag. In dieser Zeit hatte der Vater schon die Stelle des Innungsobermeisters in Nachfolge Esches angetreten, die er bis zu seinem Wegzug aus Rußdorf 1762 innehielt. Ihn löste Johann George Kohlsdorff (1717–1796) ab, welcher, Bürgersohn aus Friedrichstadt bei Dresden, wahrscheinlich in Rußdorf das Meisterrecht erworben, 1749 eine Langenchursdorfer Gärtnertochter geehelicht und erst Monate später wiederum ein auf ehemalig Sebastian'schem Grund errichtetes Haus erstanden hatte. Seine erste Ehe endete nach drei totgeborenen Kindern 1752 mit dem Kindbetttod der Frau. Eine zweite Hochzeit verband Kohlsdorf 1754 mit einer Tochter des Rußdorfer Pfeifenmachers Oehme. Von sieben Sprösslingen aus dieser Verbindung erlebten zwei ihre mündigen Jahre. Die Tochter heiratete 23-jährig einen Strumpfwirker, der Sohn wurde gleich zahlreicher seiner Nachkommen ein solcher. Kohlsdorff senior blieb der Strumpfwirkerei ohne zweite Erwerbstätigkeit bis ins hohe Alter verhaftet. In die späten 1740er Jahre el auch die Erstnennung eines Bräunsdorfer Strumpfwirkers. Christoph Müller (* 1714) wurde mit Kurerbenstatus in eine lokale Gärtnerfamilie hineingeboren, nahm das Vorrecht jedoch nie war. Zum Zeitpunkt seiner Hochzeit mit der Tochter eines Bräunsdorfer Gärtners 1748 übte er das Strumpfwirkerhandwerk als Hausgenosse bereits aus. Sofern er es in Limbach oder Rußdorf erlernt haben sollte, schweigen die Quellen darüber. Desgleichen wurde seine Familie weder hier noch dort ansässig, sodass jenes Handwerk in Bräunsdorf vorerst nur Episode blieb. Müllers soziales Umfeld bestand, soweit ersichtlich, aus Agrar- und Leinwarenproduzenten. Mit seiner Ausbildung beschritt er unerwartet Neuland. Warum er nicht in Bräunsdorf ansässig wurde, lässt die Überlieferung offen. Zum kontinuierlichen Sitz der Strumpfwirkerei wurde Bräunsdorf erst Mitte der 1750er Jahre. Vielleicht von der orierenden Limbacher Wirkwarenproduktion angezogen, ließ sich der aus dem thüringischen Vogelsberg stammende Johann Friedrich Büchner (1726–1802), selbst Sohn eines Strumpfwirkers, 1755 in Bräunsdorf nieder. Dort führte er in selbigem Jahr eine Gärtnertochter vor den Altar, kaufte aber erst 1758 für 30 Gulden eines der Gemeindehäuser. Gegen Ende der 1760er Jahre stieg Büch-

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ner zusätzlich zur Wirkerei in die Branntweinbrennerei ein und begann in den frühen 1770ern, mit Kram zu handeln. Mindestens seit 1780 vertrieb er Gewürze. Bereits 1772 hatte er es nach Aussage des Ortspfarrers zu notablem Wohlstand gebracht. Der einzige Sohn führte die Strumpfwirkerei wie den Gewürzhandel fort, beendete das Familiengeschäft allerdings durch seinen frühen Tod mit 31 Jahren. Sowohl er als auch seine Schwester konnten sich bereits mit 20 Jahren standesgemäß verheiraten. Zwischen 1770 und 1800 nden in den Bräunsdorfer Quellen weitere sechs Strumpfwirker Erwähnung, deren nur einer über einen längeren Zeitraum nachgewiesenermaßen dem Gewerbe nachging. Samuel Friedrich Schönfeld (1770), Michael Macht (1778), Johann Samuel Wunderlich (1789), Gottfried Steinbach (1794) und Gottfried Herold (1794) wurden jeweils lediglich einmalig mit dem Handwerk in Verbindung gebracht. Herold und Wunderlich verzogen kurz darauf, Steinbach starb vor Erlangung des Meisterrechts. Machts und Schönfelds Beteiligung erscheint indes an sich zweifelhaft, da jener seinen Lebensunterhalt vorher wie nachdem und sogar im selben Jahr in der Leinweberei bestritt und dieser, der das väterliche Anspanngut neun Jahre eher nicht unvorbereitet übernommen hatte, als Pferdebauer kaum Ambitionen zur Führung eines ausbildungsp ichtigen und arbeitsintensiven Handwerks gehabt haben sollte sowie zusätzlich 1776 einmalig als Leinweber und Leinwandhändler geführt wurde. Einzig Johann Christian Wunderlich (* 1761) wirkte über 40 Jahre zwischen 1784 und 1827 in Bräunsdorf. Als weichender Erbe des Teichmüllers bot ihm ein Gewerbe die besten Chancen, einen ausreichenden Heiratsfonds zu erlangen. Die Strumpfwirkerei allein genügte in seinem Fall völlig. Mit weniger denn 23 Jahren heiratete er um 1783 außerhalb Bräunsdorfs, zog um 1785 zu seinem Vater und expandierte seine Familie im Hausgenossenstatus über 22 Jahre auf sieben Personen. Nachdem der Vater 1789 gestorben war, pachtete Wunderlich gar die Mühle von seinem ältesten Bruder bzw. dessen erbender Tochter ab 1795. Trotzdem quittierte Wunderlich sein Handwerk mit Blick auf das zwangsläu g eintretende Ende der Pacht nicht. Die Mühle wurde 1801 an einen fremden Müller veräußert. Wunderlich blieb dessen ungeachtet ein weiteres Vierteljahrhundert in Bräunsdorf zur Miete wohnen, ehe er wahrscheinlich zu einem seiner Kinder in den Auszug abwanderte. Die beispielhaften Kurzviten der ersten Rußdorfer und Bräunsdorfer Strumpfwirker des 18. Jahrhunderts machen erwartungsgemäß vor allem eines deutlich: Das lokal zweite protoindustrielle und erste industrielle Leitgewerbe gründete sowohl fachkenntnisbezogen, infrastukturell wie personell in von extern nach intern gerichteten Transferprozessen. Während dies im Falle der ersteren Punkte unbedingt erforderlich war, da weder notwendige Grundlagen in Fähigkeiten und Arbeitsmaterialien existierten und es einer Marktanbindung entbehrte, hatte die letztere Komponente keinen zwangsläu gen Charakter, wie das Exempel Limbachs verdeutlicht. Dort herrschten dieselben Voraussetzungen vor. Johann Esche nutzte mithilfe auswärts erworbenen Wissens letztlich erfolgreich lediglich günstige Umgebungsbedingungen in seiner Heimat, etwa die nan-

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zielle Unterstützung und das Protegé seines Grundherrn Antonius II. von Schönberg bzw. dessen Nachfolger, hätte sich dort aber nicht niederlassen müssen. In der Anfang des 18. Jahrhunderts auf das auskömmliche unkomplizierte Leinengewerbe orientierten unterbäuerlichen Bevölkerung der Untersuchungsorte war die Motivation offenbar anfangs äußerst gering, in die Strumpfwirkerei einzusteigen. Die Leistung des Strumpfwaren produzierenden und handelnden Johann Esche bestand insbesondere darin, eine Anbindung an den Großhandel geschaffen bzw. den Limbacher Wirkern Absatzmöglichkeiten geboten zu haben. Ein regionaler Markt bildete sich ebenfalls heraus, jedoch blieb die Strumpfwirkerei gleich der älteren Leinweberei in erster Linie ein Exportgewerbe. Zunächst gewann wahrscheinlich Esche selbst Mitstreiter aus der Umgebung. In der langen Konsolidierungsphase bis etwa 1730/1740 blieb die Zahl der Gewerbetreibenden in Limbach sehr gering. Nur wenige neue Meister traten hinzu, was auch begrenztem Wohnraum 947 geschuldet gewesen sein mag. Die 1729 nach Rußdorf ziehenden drei Junggesellen zählten bereits zur zweiten Strumpfwirkergeneration. Alle drei gehörten dem Hausgenossenstand an, dem es üblicherweise zu entrinnen galt. In dieser Situation kam die Sebastian'sche Flurteilung in Rußdorf, die billiges Land offerierte, gerade recht. Zwar waren die Flächen gering und wollten Wohnhäuser darauf erst errichtet sein, doch hatte der, dem dies zu bezahlen und zu tun gelang, einen ausreichenden Heiratsfonds in Händen. Die 1745 in der altenburgischen Exklave erfolgte Innungsgründung war eine schlicht aus Not und Gelegenheit geborene Reaktion auf die gescheiterte Konzessionierung der Limbacher, zu welcher zwangsläu g enger Kontakt bestand. Schließlich handelte Johann Esche wahrscheinlich auch die Ware der Rußdorfer Produzenten. Von 16 bis 1790 in Rußdorf belegbaren Strumpfwirkern waren 14 unter Rückgriff auf günstigen Wohnraum zugezogen. Der Großteil (14) fand sich in der unteren dörflichen Mittelschicht mit Frondienstp ichten gegenüber der Schenke wieder. Nur zwei Personen, darunter einer der beiden in Rußdorf geborenen, gelangten an ein Gartengut. Die Zuwanderung ist ob ihres geringen Umfangs jedoch als Nebenprodukt der bedeutenderen Limbacher Wirkerei zu begreifen. Ihre im Gegensatz zu Bräunsdorf dennoch erheblichen Ausmaße resultierten aus dem zufälligen Innungssitz. In Bräunsdorf selbst trug die rudimentäre Entwicklung vergleichbare Züge. Der erste langjährige Strumpfwirker zog Familie und Wohnraum von außerhalb nach, der zweite kam zwar daher, hatte jedoch kurzzeitig außerhalb gelebt und kehrte gleichfalls einer günstigen Wohnraumofferte halber mit Familie zurück zu Verwandten. Erst ab den 1790er Jahren beteiligten sich überwiegend in den Untersuchungsorten Geborene mit Wohnsitz am Ort an der Strumpfwirkerei, die inzwischen massengewerbliche Züge angenommen hatte.

947

In Limbach entstanden unter der Ägide Helena Dorothea von Schönbergs erst 1750 und 1785 auf Rittergutsland die expliziten Strumpfwirkersiedlungen Helenenberg und Dorotheenberg.

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Gemein war den extern und intern beheimateten Strumpfwirkern des 18. und frühen 19. Jahrhunderts eine extrem hohe Ansprechbarkeit auf Häuslerstellen, während sie gleich den Leinwebern und Leinwandhändlern allen ruralen Schichten entstammten. Auch die Mitwohnerschaft wurde nicht verschmäht, obwohl sie bei den frühen Vertretern des Gewerbes ganz dem Zeitgeist entsprechend noch die Ausnahme blieb. Diesem Phänomen könnten infrastrukturelle Zwänge ebenso wie praktische Erwägungen der Wirker zugrunde gelegen haben. Durch die privaten und behördlichen Flurteilungen stieg die Zahl der Kleinststellen seit dem späten 17. Jahrhundert exponentiell an. Die Menge der höher klassi zierten Güter blieb dagegen unverändert. Insofern sanken die Chancen besonders für Ortsfremde ohnehin stetig, in höhere Besitzstände durch Kauf Eingang zu erlangen. Auf der anderen Seite benötigten Strumpfwirker die teureren größeren Güter nicht. Ihre von den Verlegern bereitgestellten Rohstoffe konnten sie nicht selbst herstellen und für zusätzliche landwirtschaftliche Arbeiten fehlte es den kontinuierlich unter Einbindung der gesamten Familie produzierenden Wirkern an Zeit. Desgleichen begriffen diese ihr Handwerk, anders als manche Leinweber, offenbar weniger als potentielle Übergangsbeschäftigung. Der bis zu einer möglichen Mutung nötige Ressourceneinsatz mag den meisten zu hoch und ihr Auskommen in normalen Jahren ausreichend gegolten haben, weswegen eine letztlich ins Leere laufende Ausbildung in der Regel geschmäht wurde. Bei Prosperität des Sektors scheuten die organisierten und verlegten Strumpfwirker auch vor dem lebenslangen Verweilen im Hausgenossenstand sowie der dennoch forcierten Reproduktion nicht zurück. Der faktisch garantierten kontinuierlichen Beschäftigung seitens eines Verlegers oder Manufakturisten, gepaart mit dem zünftigen Absicherungsversprechen, geschuldet, galt das Meisterrecht der Wirker nach der regionalen Etablierung des Gewerbes zunehmend eines ausreichenden Heiratsfonds alter Manier ebenbürtig. Somit stellten die protoindustriellen ruralen Strumpfwirker, welche nach der Gewerbefreiheit in Heimarbeiter umgewidmet wurden, eine Übergangsstufe zwischen den ruralen Leinenproduzenten und den späteren Arbeits- und Wohnraum trennenden Fabrikarbeitern gänzlich industriewirtschaftlichen Gepräges dar.

9.3 AKTEURE DER INDUSTRIALISIERUNG Die Industrialisierung, zu deren zentralen Merkmalen die fortschreitende Mechanisierung und Zentralisierung hochgradig arbeitsteiliger Massenproduktion in klarer Abgrenzung von den Wohnräumen der Produzenten zählte, war unter anderem auf zwei nicht zwangsläu g trennbare Personengruppen angewiesen. Es bedurfte Innovatoren und Investoren zur Entwicklung und Finanzierung der Arbeitsmittel bzw. der Arbeitsräume wie die Produktion ausführender Arbeiter gleichermaßen. Freilich war der Übergang von protoindustriellen zu industriellen Strukturen ießend, zumal beide oft lange

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Zeit im selben Raum und ineinander verwoben existierten. Bloße Arbeitgeber-Arbeitnehmer-Verhältnisse sind ebenso wenig exklusive Kennzeichen einer Industrialisierung wie dezentraler Maschineneinsatz oder arbeitsteilige Massenfertigung etc. Die aktive Teilnahme der Untersuchungsorte am sächsischen Industrialisierungsprozess des langen 19. und frühen 20. Jahrhunderts wird für diese Studie an der lokalen Existenz das Werkstättenformat verlassender fabrikmäßiger Produktion unter Maschineneinsatz festgemacht. Fabrikgründer und -besitzer sind relativ leicht identi zierbare maßgebliche, da treibende Akteure der Industrialisierung. Deren Angestellte zählen in diesen Kreis gleichwohl nicht automatisch. Bis in die dreißiger Jahre beschäftigten zum Beispiel die größeren ansässigen Unternehmen der Untersuchungsorte mehr oder minder große Einheiten der Fabrikproduktion zuarbeitender Heimgewerbetreibender. Zwar nahmen diese an der industriellen Entwicklung durchaus teil, blieben dabei aber protoindustriellen Produktionsstrukturen und Existenzweisen verhaftet. Nur die eigentlichen Fabrikarbeiter etablierten einen neuartigen Lebensstil, weswegen ausschließlich sie im Folgenden neben den Unternehmern zu den Industrialisierungsakteuren gerechnet werden. Wie im vorhergehenden Kapitel gilt es folgend zu klären, welchen sozioökonomischen Hintergrund die ersten Vertreter beider Gruppen aufwiesen und welche Formen ihre Biographien annahmen, um den Kontext der lokalen industriellen Entwicklung auf der persönlichen Ebene näher einzugrenzen. Hierbei stehen erneut die Fragen im Mittelpunkt, in welchem Maße endogene Ressourcen Ein uss auf die ablaufenden Prozesse nahmen, ob die ansässigen Bevölkerungen von Beginn an als treibende Kräfte aktiv beteiligt waren und ob die Akteure teilweise oder vollständig idealtypische Viten p egten. 9.3.1 Fabrikanten Nach Adelung 1793 ist ein Fabrikant „ein jeder Arbeiter in einer Fabrik [...]. Besonders, der erste vornehmste unter denselben, welcher die Stelle des Meisters bey den Handwerken vertritt“ 948, nach Pierer 1857 dagegen bereits der „Besitzer einer Fabrik“ 949. Unter einer solchen wollte jedoch auch schon Adelung „In engerer Bedeutung, eine jede Werkstätte, wo Waaren von mehrern Arbeitern im Großen verfertiget werden“ bzw. „In der engsten Bedeutung [...] nur diejenigen Werkstätten dieser Art [...], in welchen die Waaren durch Hülfe des Feuers und Hammers hervor gebracht werden“, verstanden wissen. 950 Die hierin anklingende De nitionsproblematik ist für die Identi zierung der interessierenden fabrikindustriellen Unternehmer Rußdorfs und Bräunsdorfs nicht ohne Belang. Noch bei der Oberfrohnaer Fabrik- und Heimarbeiterzählung 1935 unterschied die 948 949 950

Adelung, Wörterbuch, Bd. 2, Der Fabrikant, S. 4. Pierer, Universal-Lexikon, Bd. 6, Fabrikant, S. 57. Adelung, Wörterbuch, Bd. 2, Die Fabrik, S. 3–4.

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Terminologie unzureichend zwischen Betrieben großer Angestelltenzahlen und kleinen Werkstätten. Franz Emil Wagners Unternehmung gab zum Beispiel zwei Fabrikarbeitern eine Beschäftigung, Welker u. Söhne desgleichen 327. Beide wurden gleichermaßen als „Fabrik“ bezeichnet. 951 Ebenso wies die Bezeichnung als „Fabrikant“ in Kirchbüchern oder Standesamtsregistern keineswegs durchgehend Fabrikbesitzer aus, die unter Maschinenansatz zentralisiert durch bezahlte Arbeitskräfte produzieren ließen. Überdies erschwert es die im frühen 20. Jahrhundert eklatante Ausmaße annehmende Trennung von Wohn- und Arbeitsräumen, die tatsächlich für die lokale industrielle Entwicklung bedeutsamen Fabrikanten von jenen zu trennen, die zeitweise ansässig waren, aber nur außerhalb einen Betrieb führten. Der erste Fabrikant des Untersuchungsgebietes wurde 1788 genannt. Christian Landgraf (1738–1810) hatte in Mittelfrohna als Sohn eines Bauern und späteren Leinwandhändlers das Licht der Welt erblickt. Da er zu den weichenden Erben zählte, ging er nach Limbach, erlernte das Strumpfwirkerhandwerk und fand in das dortige Häuslertum Eingang. Also ausgestattet ehelichte er 1776 eine Tochter des damaligen Pleißaer Lehnrichters Breitfeld. In der Nachfolgezeit stieg Landgraf zusätzlich in den Strumpfwarenhandel ein und war schließlich 1784/1785 in der Lage, ein Gartengut in Rußdorf anzukaufen. Hier setzte er sein Gewerbe zunächst bis mindestens 1786 fort, ehe er zwischen 1788 und 1796 stattdessen als Strumpffabrikant Erwähnung fand, dem Handel dabei jedoch verhaftet blieb. Erst 1801 kehrte Landgraf zur Strumpfwirkerei zurück. Zweifelsohne ist dem Fabrikantenbegriff in dem Zusammenhang nicht die moderne Bedeutung beizumessen. Gleichzeitig wohnt ihm mehr inne denn Dietrich Esche bei gleichzeitiger Referenzierung an die Mehrdeutigkeit nach zum Beispiel Adelung zugesteht: „Das Wort ‚Fabrikant` konnte im damaligen Begriffsverständnis jeden Meister einschließen, der ein Produkt herstellte.“ 952 Wäre jeder Strumpfwirker in dieser Tätigkeit ein potentieller Fabrikant gewesen, hätte einerseits keine Notwendigkeit zur Verwendung verschiedener Begrifflichkeiten bestanden und wären diese andererseits bei synonymer Anwendung durch denselben Kirchbuchführer auf breiter Ebene zufällig zu erwarten. Stattdessen verzichteten die Bräunsdorfer Schreiber bis Mitte des 19. Jahrhunderts ganz auf diese Bezeichnung und setzten sie die Rußdorfer nur punktuell auf wenige Personen konzentriert bereits zuvor ein. Der Rußdorfer Christian Landgraf unterschied sich in seiner Erwerbstätigkeit offensichtlich für einige Jahre merklich von seinen Innungsgenossen. Die dessen Fabrikantentum temporal umspannende handelsmännische Funktion deutet bereits eine davon unabhängige verlegerähnliche bis Verlegerrolle für ihn an. Vermutlich ging Landgraf Ende der 1780er Jahre zusätzlich entweder zur Werkstattproduktion mit fremden Arbeitskräften über oder er ließ an eigenen Wirkstühlen dezentral arbeiten. Letzteres ent951 952

Vgl. StALO, Rat der Stadt Oberfrohna, Nr. 1256. Vgl. Esche, Wirkerei, S. 47.

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sprach wahrscheinlich eher der Realität. Landgraf agierte damit ähnlich Johann David Esche 40 Jahre zuvor in Limbach, wie auch beider Viten starke Analogien aufweisen. 953 Im Unterschied zu Esche brach Landgraf die mutmaßliche, mehrere Jahre selbsttragende manufakturelle Produktion allerdings zwischen 1796 und 1801 ab. Ob Zwang oder freier Wille dahinterstand, war nicht feststellbar. Seine beiden Söhne trieben des Vaters Handwerk weiter, gewährten dessen Strumpfwarenhandel jedoch keine Fortführung. Ebenfalls über mehrere Jahre wurde Carl Gottlob Naumann zwischenzeitlich 1825 bis 1828 „Strumpffactor“ 954 tituliert. Der Sohn eines Limbacher Strumpffabrikanten und Handelsmanns war Mitglied der Rußdorfer Strumpfwirkerinnung geworden, hatte in der altenburgischen Exklave ein Haus erworben, 1815 eine Quedlinburgerin geheiratet und bekleidete 1828 die Stelle des Innungsschreibers. Wahrscheinlich setzte Naumann, der nach 1836 gen Oberfrohna abwanderte, das Geschäft seines nach 1815 verstorbenen Vaters fort. In Oberfrohna bekleidete er noch 1847 die Position eines Strumpfwarenfaktors. Den protoindustriellen manufakturellen Rahmen verließ Naumann gleich Landgraf auf keinen Fall. Ab Mitte des 19. Jahrhunderts häuften sich Faktoren- bzw. Fabrikantennennungen. Einige Strumpfwirker trachteten offenbar danach, eine über das eigenbetriebliche Format hinausgehende Produktion zu etablieren und auf die Industrialisierungswelle aufzuspringen. Obwohl diese Versuche klar in Tradition des dörflichen Heimgewerbes standen und den verlagsmäßigen Strukturen nicht entstiegen, bildeten sie doch unter anderem einen Nährboden für die Entwicklung der lokalen Fabrikindustrie. In Rußdorf teilten zahlreiche frühe Fabrikanten relativ enge verwandtschaftliche Bindungen, oft ohne eine ökonomische Zusammenarbeit erkennen zu lassen. Christian Friedrich Schuster (1805–1870), Sohn eines Rußdorfer Viehhändlers, durchlief eine Strumpfwirkerausbildung in Rußdorf und übernahm noch vor dem Tod seines Vaters 1833 dessen Hausbesitz. Zwei Jahre lang hielt er mit seiner Schwester gemeinsam Haus, ehe beide 1835 in Strumpfwirkerfamilien einheirateten. Schusters Frau gebar fünf Kinder, doch nur das älteste überlebte. Diese geringe Quote mag auf einen niedrigen Lebensstandard der Familie deuten. Dagegen spricht, dass der Vater nie mit einer zweiten Beschäftigung neben der Strumpfwarenherstellung genannt wurde, 1842 in der Lage war, ein zweites Haus zuzukaufen und 1847/1848 kurzzeitig als Strumpfwarenfaktor in Erscheinung trat. Noch 1846 und bereits 1848 wieder galt Schuster schlicht für einen Strumpfwirker. Seine Tochter nahm 1855 20-jährig den Professionsgenossen Carl Traugott Engelmann (1827–1898) zum Mann. Dessen Vater Johann Ernst Engelmann (1799–1877) hatte sich ebenfalls zwischen 1848 und 1851 als Strumpffaktor versucht. Seit 1852 schwenkte auch er konstant auf

953 954

Vgl. ebd., S. 65ff. Spätere wechselweise Nennungen derselben Personen als Faktoren und Fabrikanten belegen, dass beide Bezeichnungen synonym gebraucht wurden.

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einfache Strumpfwirkerei zurück. Der weichende Anspannersohn, ältestes von acht erwachsenen Kindern seiner Eltern, verdiente sich seinen Lebensunterhalt zunächst traditionell in der Leinenverarbeitung. Mit der jüngsten, erst 16-jährigen Tochter des damaligen Gastwirts Sebastian zeugte er 1821 ein uneheliches Kind. Eine Hochzeit folgte nicht. Erst 1827 fand das weiterhin unbegüterte Bauernkind in der Gärtner- und Strumpfwirkerwitwe Justina Herold eine Gattin. Der einzige Nachkomme aus dieser Ehe erblickte kaum sechs Monate nach der elterlichen Heirat im August 1827 das Licht der Welt. Durch die Witwe Herold erlangte Engelmann Eingang in die ansässige Gärtnerschaft und kam wahrscheinlich mit der Strumpfwirkerei in Kontakt. Das notwendige Arbeitsgerät war schließlich bereits vorhanden, lediglich der Ausbildung entbehrte er. Unter den gegebenen Voraussetzungen wurde ihm der Innungseingang vermutlich erheblich erleichtert, sodass Engelmann bereits 1828 Wirkwaren fertigen konnte. Im unmittelbaren Anschluss an die Aufgabe der Faktorenposition seitens Christian Friedrich Schusters fand er 1848 in selbiger Erwähnung. Fehlende Belege gleichzeitiger Fabrikantentätigkeit beider sowie anderer Personen lassen darauf schließen, dass Engelmann den Betrieb Schusters 1848 übernahm. Die Eheschließung ihrer Kinder passt ebenso in das Bild wie der Verkauf eines Gartenstücks von jenem an diesen für 25 Taler 1849. 955 Da eine Besitzübertragung in die entgegengesetzte Richtung 1848 ausblieb, war eine explizite zentrale Produktionsstätte im Zweifelsfall weiterhin nicht vorhanden. Anlässlich des Todes seiner ersten Frau 1850 ging Engelmanns Gartengut endlich auch rechtlich in sein Eigentum über. Im Folgejahr verehelichte er sich zum zweiten Mal mit der Witwe eines ermordeten Gärtners und Rosshändlers aus Langenchursdorf und gab sein Faktorendasein auf. Diesmal ging das Geschäft nicht in dritte Hände über. 956 Engelmann reduzierte seine Faktorei auf die eigenständig zu bewältigende Produktion und blieb dabei bis in die 1870er Jahre. Zwei Jahre nach Engelmanns augenscheinlicher Aufgabe begann Christian Friedrich Aurich (1821–1868) in Bräunsdorf die Strumpffabrikation im größeren Stil. Er war der erste dort genannte „Factor“ im eigentlichen Sinne 957. Aus Niederfrohna kommend, ehelichte der ausgebildete Strumpfwirker und Sohn eines Gutsbesitzers die jüngste Tochter des Bräunsdorfer Leinwebers und Materialienhändlers Zschocke. Dieser hatte 1842 einen Hausbauplatz von der Gemeinde zusätzlich zu dem 1814 erworbenen Garten 955 956

957

Vgl. ThStA Abg, Amtsgericht Altenburg, C I Loc. 1, Nr. 500, fol. 270. Nach 17 Jahren, in denen er konsequent als Strumpfwirker genannt wurde, stand Johann Ernst Engelmann 1868 einmalig erneut in der Rolle des Strumpfwarenfabrikanten Pate. Möglicherweise setzte er das Geschäft doch fort oder er begründete Ende der 1860er Jahre ein neuerliches, das er 1869 an seinen Sohn Carl Traugott Engelmann weitergab. – Vgl. EPA Rußdorf, KB IV: Taufregister 1853–1890, Taufen 1868, Nr. 35. Zwar wurden die Bräunsdorfer Papiermüller bereits seit den 1800er Jahren mit der Bezeichnung „Fabrikant“ versehen, doch unterschied sich deren Arbeitsweise dem Papiermühleninventarium zu schließen noch Mitte des 19. Jahrhunderts in keiner Weise von der traditionellen vorindustriellen. – Vgl. SächsSTAC, 30593 Herrschaft Waldenburg, Nr. 3046: Die auf Requisition des Justizamtes Wechselburg erfolgte Consignation, Taxation und Subhastation der Hzn. Louis Eduard Kohtz zugehörigen Papiermühle zu Bräunsdorf, 1854.

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erkauft und veräußerte denselben 1845 mitsamt einem darauf neu erbauten Wohnhaus an den jungen Schwiegersohn. Aurich, dessen Ehe kinderlos blieb, verdiente bis 1852 durch Strumpfwirkerei sein Geld, offensichtlich genug, um 1853 zusätzliches Produktionsgerät kaufen und gegen Bezahlung arbeiten lassen zu können. Das Geschäft lief gut genug, um bis zum Tod des Gründers 1868 und darüber hinaus bestehen zu können. Zeitweise gestattete Aurichs Einkommen ihm gar, größeren Landbesitz zuzukaufen. So erstand er 1855 das nachgelassene Anspanngut Johann Samuel Engels für 7050 Taler sowie 1856 jenes Johann Gottlieb Thiemes für 3700 Taler. Beide schlug er nach wenigen Jahren 1863 gegen 7510 bzw. 1861 gegen 4275 Taler wieder los. Nachdem Aurich 1868 einer Lungenentzündung erlegen war, führte seine Witwe das Geschäft möglicherweise wenigstens kommissarisch weiter, ehe sie 1870 den verwitweten Mühlauer Handschuhfabrikanten David Fürchtegott Lindner heiratete. Unklar ist, ob jener, der bis 1883 in Bräunsdorf mehrfach als Handschuhfabrikant genannt wurde, den Betrieb seines Vorgängers übernahm oder nur in dessen Haus residierte, während sein eigenes Geschäft in Mühlau weiterlief. Dafür spricht, dass Aurich zuvor nie mit der Handschuhfabrikation in Verbindung gebracht worden war und Lindner dessen Besitz nie eigentümlich übernahm. Vermutlich erstarb Aurichs Betrieb in Bräunsdorf bereits 1868. Denkbar ist auch eine Übernahme der Arbeitskräfte durch Lindner innerhalb der wahrscheinlich dezentralen Produktion. Der vermutlich früheste Begründer einer Fabrik industriellen Formats innerhalb der Untersuchungsorte nahm 1856 die fabrikmäßige Fertigung auf. In den frühen 1840er Jahren zog Johann Gottlob Rauschenbach (1817–1881), weichender Erbe eines Häuslers und Landkrämers unbekannten Wohnorts, nach Bräunsdorf. Zuvor hatte er wahrscheinlich bei einem Meister der Limbacher Innung das Strumpfwirken erlernt und zu dieser Zeit die vier Jahre jüngere Oberfrohnaer Häusler- und Handarbeitertochter Christiane Caroline Heil kennengelernt. Beide heirateten 1842 in Limbach und ließen sich sogleich in Bräunsdorf nieder, wo Rauschenbach als strumpfwirkender Hausgenosse offensichtlich über einen ausreichenden Heiratsfonds verfügte. In Armut lebte die Familie wahrscheinlich nicht. So überlebten von zwölf bis 1863 geborenen Kindern zehn das erste Jahr und erreichten neun ihren 21. Geburtstag. Der Vater erwarb 1846 ein Häuslergut von Johann August Illgen, das dieser erst 1838 vom väterlichen Anspanngut abgespalten hatte, gegen 585 Taler Kaufgeld. Zehn Jahre danach wurde Rauschenbach erstmals als „Strumpffactor“ in den Quellen genannt. Wiederum muss offen bleiben, ob der Betrieb anfänglich verlagsähnlich dezentral oder in räumlich konzentrierter Werkstattarbeit funktionierte. Ungeachtet dessen orierte das Geschäft. Spätestens 1872/1873 ging die Firma zur Fabrikarbeit über. Neben seinem Wohnhaus errichtete Rauschenbach in dieser Zeit eine Fabrikhalle, in der bis zu zehn Beschäftigte an Schlauchstühlen – kleineren Rundstühlen – Strümpfe verfertigten. 958 Als der Fabrikgründer 1881 verschied, 958

Vgl. Frenzel, Geschichten, S. 287f.

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übernahm zunächst der jüngste Sohn die Leitung. Ab 1897 zeichnete hingegen dessen älterer Bruder Robert Emil Rauschenbach (1853–1924) für die eingetragene Strumpffabrik verantwortlich. Er war es auch, der zwischen 1904 und 1913 deren Tore schloss. Ein Jahr vor dem Ersten Weltkrieg trat der gelernte Strumpfwirker nurmehr als ein solcher auf dem väterlichen Besitz in Erscheinung. Sein einziger Sohn arbeitete zur selben Zeit wohl in einer der Maschinenbaufabriken des Umlandes. An dritter Stelle gründete August Frischmann (1821–1883) eine langjährig operierende Strumpfwarenproduktion. Im Gegensatz zu seinen beiden Vorgängern entstammte er einer alteingesessenen Bräunsdorfer Mittelschichtfamilie. Der Vater, ein Gärtner, brachte seine Familie mit sieben Kinder, die allesamt ihr 21. Jahr vollendeten, mit dem Schusterhandwerk durch. Der älteste Sohn August trat zunächst ohne Aussicht auf das väterliche Gewerbe in Verbindung mit der Mitte des 19. Jahrhunderts gefragten Maurerei auf. Gleichzeitig erlernte er das Strumpfwirken. Womöglich setzte ihn erst dessen Praktizierung ab 1849 in den Stand, als Hausgenosse eine Familie gründen zu können. Er nahm die Tochter eines Bräunsdorfer Strumpfwirkers 1849 zur Frau. Sie brachte ein uneheliches Mädchen in die Ehe ein. Vier weitere Kinder folgten bis 1869, davon zwei bis 1850 und zwei ab 1864. Die ersten drei überlebten auch. Obwohl noch immer ohne Grundbesitz, mauserte sich Frischmann 1859 zum Strumpffaktor mit ohne Frage dezentraler Produktion. Erst 1861 erstand er eines der Bräunsdorfer Gemeindehäuser. Spätestens 1875 stieg er in die in Limbach schon seit dem frühen 19. Jahrhundert orierende Handschuhfabrikation ein und führte das Geschäft bis zu seinem Tod 1883. In Rußdorf leitete ca. 1861 Friedrich August Engelmann (1821–1887) der Kirchbuchüberlieferung nach zu urteilen eine zweite Phase des Fabrikantenwesens ein. Jener uneheliche Sohn des ehemaligen Faktors Johann Ernst Engelmann und der jungen Schankwirttochter, welche sich 1826 nach Mülsen in ein Pferdegut verheiratete, wurde bei seinen mütterlichen Großeltern in Rußdorf erzogen. Nach Beendigung seiner Schulzeit trat er 1835 bei Christian Friedrich Steinbach, einem Limbacher Strumpfwirkermeister, in die Lehre. Nach deren Ende 1839 wandte sich Engelmann zunächst als Geselle gen Rußdorf, bezog im großelterlichen Schenkgut Wohnung und fand bei einem örtlichen Meister Arbeit. Dort hielt es ihn nicht lang. Kaum hatte er das „militär eissige Alter“ erreicht, trat er unter Schwierigkeiten in den Militärdienst, den er zwischen 1842 und 1849 leistete. Danach suchte sich Engelmann in Rußdorf als Strumpfwirkermeister niederzulassen, was ihm erst um 1850 gelang. 959 Kurze Zeit später schritt er ohne Aussicht auf eine Stelle mit der Rußdorfer Bauerntochter Johanna Theresia Esche, mit der er 1842 bereits ein Kind gezeugt hatte, 1851 vor den Altar. Das Paar bekam sechs weitere Sprösslinge. Insgesamt überlebten fünf ihre Kindheit. Zwei Jahre nach der Heirat bot Engelmann 850 Taler für ein Haus in Rußdorf auf, 1861 fand er erstmals als 959

Vgl. SächsSTAC, 30040 Kreishauptmannschaft Zwickau, Nr. 1376: Die Staats- und Heimathsangehörigkeit respective Militairp icht Friedrich August Engelmanns aus Rußdorf im Altenburgischen, 1848.

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Strumpffaktor Erwähnung. Danach wurde er allerdings bis 1866 wieder ein Strumpfwirker geheißen, ehe ihm 1867 vermutlich in einem zweiten erfolgreichen Anlauf sein Fabrikantenstatus endgültig erhalten blieb. Das Geschäft orierte, zunächst in protoindustrieller, maximal manufaktureller Struktur. Für 1170 Mark erwarb Engelmann 1878 ein Baugrundstück 960, errichtete darauf ein zweites Wohnhaus mit Seitengebäude inklusive Pferdestall sowie 1881 ein Fabrikgebäude. 961 Demnach ging der Betrieb in den frühen 1880er Jahren noch unter der Ägide seines Gründers zur industriellen Fabrikproduktion über. Von Beginn an band Engelmann seine Familie in das Geschäft ein. Der älteste Sohn Carl Friedrich (1842–1903) wurde seit 1867 als Geschäftsgehilfe geführt und trat ab 1877 auch als Strumpfwarenfabrikant auf. Die väterliche Fabrik übernahm er vollverantwortlich wahrscheinlich 1886, verbunden mit dem Kauf des Fabrikgrundstücks für 25.000 Mark. Nachdem der Gründer gestorben war, benannte sein Erbe die Firma 1892 in August Engelmann & Co. anlässlich des Eintritts Kaufmann Peter Ernst Winnertz' aus Penig sowie nach dessen Ausschied Ende 1893 in August Engelmann Nachf. um. Zu diesem Zeitpunkt nahm der Kaufmann Karl Ernst Breuel (* 1867) aus Limbach, seit Kurzem Ehemann einer Tochter Carl Friedrich Engelmanns, Anteil an dem Betrieb. 962 Über das weitere Schicksal der Firma informiert eine Engelmanns Selbstmord 1903 behandelnde Kirchenbuchnotiz: [W]ar einst ein wohlhabender Fabrikant. Er wurde bankrott, fand denn eine einträgliche Agentur, die er aber durch eigen Schuld wieder verlor u. war schließlich so mittellos, daß er oft den bittersten Hunger leiden mußte. Aus Verzweiflung darüber nahm er sich das Leben. 963

Deutlich höhere Kontinuität bewies die Firma Ludwig Illgen in Bräunsdorf, deren Entstehungsgeschichte durch den Ortschronisten Strohbach festgehalten wurde. Demnach begann Ludwig Theodor Illgen (1839–1896) schon in jungen Jahren 1862 auf dem väterlichen Schenkgut in Bräunsdorf mit der Werkstattfertigung von Strumpfwirkwaren, obwohl er erst ab 1867 als Strumpffabrikant ausdrücklich Erwähnung fand. Das älteste Kind des Wirts erlernte gleich den übrigen bisher genannten Faktoren erster Generation die Strumpfwirkerei. Womöglich schon damals mit Aussicht auf einen Bauplatz nahm er 1862 eines Fichtigsthaler Gärtners und Leinwandhändlers Tochter zur Frau und bezog mit ihr ein Nebengebäude des elterlichen Gasthofs. Dort stellte er einen Handkulierstuhl und eine Schlauchmaschine auf. Bald beschäftigte er zwei Arbeiter. Nach vier Jahren errichtete Illgen auf seinem Erbteil ein eigenes Wohnhaus mit integrierter Werkstatt. Im Frühjahr 1867 erlag seine erste Frau erst 24-jährig der Auszehrung, im Herbst heiratete er eine Strumpffabrikantentochter aus Mittelfrohna. Sein Reproduktionserfolg spiegelte 960 961 962 963

Vgl. SächsSTAC, 30104 Amtsgericht Chemnitz (1879–1952), Nr. 6019–6032, Nr. 245. Vgl. ThStA Abg, Steuer- u. Rentamt Altenburg, Nr. 119, Nr. 193. Vgl. ThStA Abg, Amtsgericht Altenburg, D IV, Loc. 1 A, Nr. 10, S. 9–10. EPA Rußdorf, KB VII, Beerdigungsregister, Beerdigungen 1903, Nr. 79.

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den erfolgreich laufenden Fabrikbetrieb nicht. Von den fünf Kindern erster Ehe überlebte eines, von den 14 der zweiten kamen lediglich vier durch. Illgens Unternehmung zählte zu den Pro teuren der Gründerzeit nach 1871. Der Anbau eines Werksaales 1878 sowie eine Wohnhauserweiterung 1882 zeugen von der Prosperität des Kleinbetriebs. Als der Tod den Gründer 1896 forderte, übernahm der jüngste Sohn Gustav Alfred Illgen (1873–1967), gleich seinem Vater ein ausgebildeter Strumpfwirker, die Geschäfte. Der älteste Sohn Emil Theodor Illgen (1861–1939), ebenfalls ein Strumpfwirker, hatte bis 1889 eine eigene bis 1928 existente Fabrik in Bräunsdorf etabliert, die mit 15 Arbeitern weiße Strümpfe und Handschuhe vorrangig für den Export in die deutschen AfrikaKolonien produzierte. 964 Unter Gustav Alfred Illgen erfuhr die prosperierende ältere Firma Illgen stete Ausweitung. Die Arbeiterschaft wurde aufgestockt, die Produktionsräume fanden Ausbau und neue Maschinen wurden angeschafft. Bis zu 60 Heimarbeiter aus Bräunsdorf selbst wie den umliegenden Ortschaften ergänzten die Fabrikation nach traditioneller Manier. Weitere Zuarbeiten übernahmen die nahezu vollständig durch Illgens Aufträge ausgelasteten kleineren lokalen Lohnwirkereien Wittig, Türpe, Zschocke und Rauschenbach. Mit der Anbindung Bräunsdorfs an das Oberfrohnaer Elektrizitätswerk 1908 ging eine sofortige Elektri zierung der Illgen'schen Produktion, die bis dato gänzlich auf Kraftantrieb verzichtete hatte, einher. Binnen weniger Jahre machte dies den Rückgriff auf die Heimarbeiter obsolet. 965 Anfang das Ersten Weltkrieges spielten selbige für die Herstellungsabläufe der bedeutendsten Bräunsdorfer Firma, die bis zum 31. März 1964 existierte 966, keine Rolle mehr. Auf eine ähnliche Geschichte mag die erfolgreichste Rußdorfer Firma Welker & Söhne zurückblicken. Laut einer Würdigung des 80. Gründungsjubiläums im Limbacher Tageblatt 1928 war das Unternehmen „aus kleinen Anfängen hervorgegangen“ und sei von Samuel Friedrich Engelmann (1825–1890) ins Leben gerufen worden. 967 Inwiefern das Gründungsjahr ngiert war, sei dahingestellt. Engelmann, jüngster Sohn eines Rußdorfer Gärtners, Leinwebers und Leinwandhändlers sowie Vetter des frühen Strumpffabrikanten Johann Ernst Engelmann, wurde erst ab 1869 von der Kirchbuchüberlieferung ausdrücklich als Strumpffaktor bezeichnet. 968 Zwangsläu g führte er sein Geschäft anfänglich verlagsähnlich dezentral, denn bis 1879 zählte der erblose Kurerbe in die dörfliche Hausgenossenschaft. Dessen ungeachtet schritt er 1861 mit einer Rußdorfer Färber- und Häuslertochter zur Ehe. Das Paar begrenzte seine Reproduktivität

964 965 966 967 968

Vgl. Frenzel, Geschichten, S. 300f. Vgl. Strohbach, Dorfbuch, S. 182ff. Vgl. SächsSTAC, 30119 Amtsgericht Limbach, Nr. 428: Die Firma Ludwig Illgen in Bräunsdorf. Vgl. KrA Gl, Limbacher Tageblatt und Anzeiger, 1928, Nr. 231. Eine vorherige Fabrikantentätigkeit kann trotz fehlender Indizien nicht ausgeschlossen werden, zumal das Jahr 1848 nicht mit der Aufnahme seiner Strumpfwirkereitätigkeit koaliert. Vielmehr wurde er bereits ab 1844 als Strumpfwirker genannt.

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auf drei Kinder. Zwei Töchter erreichten ihr 21. Jahr. Elf Jahre nachdem Engelmann erstmalig Fabrikant geheißen worden war, erstand er für 2327 Mark ein Feldstück 969 und erbaute bis 1881 ein Wohnhaus. Einer zentralen Produktionsstätte entbehrte es noch bei seinem Tod 1890. Schon 1884 hatte Engelmanns älteste Tochter den Rußdorfer Strumpfwirker Ernst Theodor Welker (1863–1920) geheiratet, welcher das Geschäft offenbar 1894 übernahm. Zuvor scheint es vier Jahre in Händen der Witwe Engelmann verblieben gewesen zu sein. Unter Welkers Ägide entstand um 1898 – in dem Jahr kaufte er den schwiegerväterlichen Besitz – erstmals eine Werkstelle. Ein Fabrikbau, in dem die 1935 über 300 Fabrikarbeiter Platz fanden, folgte inklusive Produktionszentralisation und Umstellung auf den Kraftantrieb nach der Anbindung Rußdorfs an das Elektrizitätsnetz 1909. Zu einer „der führenden Firmen der Strumpfbranche“ sowie dem größten in Rußdorf ansässigen Arbeitgeber stieg die bis nach Nordamerika exportierende, 1921 in eine Offene Handelsgesellschaft umgewandelte 970 Firma nach 1912 unter dem maßgeblichen Einuss Georg William Welkers (1884–1957) auf. 971 Die aufgeführten Beispiele legen zentrale Merkmale der sich entwickelnden ruralen Industrie offen. Deren Grundlage bildeten in den Untersuchungsorten die vorhandenen frühindustriellen Strukturen. Die frühen Fabrikanten rekrutierten sich aus den Trägerschichten der Protoindustrialisierung. Nicht immer waren sie vor Ort geboren, stammten jedoch konsequent aus dem ruralen Milieu und lebten vor Etablierung ihres Geschäfts über Jahre am Platz. Ihre Väter hatten durchgehend eine Hofstelle, vorrangig unterbäuerlichen Formats, inne, auf die nur ein Teil der späteren Faktoren Anspruch erheben konnte. Wie sich zeigte, war Stellenbesitz auch keine zwingende Voraussetzung für die Teilnahme am Strumpffabrikantentum. Die ersten größeren Produzenten der betrachteten Dörfer einten ausgesprochen similäre Viten. Sie durchliefen zunächst eine Strumpfwirkerausbildung, waren demnach ohne Ausnahme fähig, selbst Wirkwaren zu verfertigen, und übten ihr Handwerk größtenteils mehrere Jahre selbst aus. Ludwig Theodor Illgen nahm, mutmaßlich seiner sozialen Herkunft wegen nanziell begünstigt, eine Sonderstellung ein, als er kaum 23-jährig bereits zwei Wirkstühle setzte. Andere Fabrikanten mag es längere Zeit gekostet haben, das zur Anschaffung der Arbeitsmaterialien und zur Bezahlung von Arbeitern notwendige Grundkapital zu erwirtschaften. Die nötigen Handelsbeziehungen waren dagegen in der prosperierenden Textilfertigung sicherlich schnell geknüpft. An den übrigen Exempeln ist zu ersehen, welch geringe Bedeutung sowohl dem momentanen sozialen Status als auch dem Grundbesitz für die Entscheidung zur Einnahme einer Faktorenposition beizumessen war. Einer Werkstatt bedurfte es nicht zwingend, da die billigen Heimarbeiter dezentral in ihren eigenen

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Grundstücke, Nr. 256. Vgl. SächsSTAC, 30119 Amtsgericht Limbach, Nr. 486: Die Firma Welker & Söhne in Oberfrohna. Vgl. KrA Gl, Limbacher Tageblatt und Anzeiger, 1928, Nr. 231. – Lange, Heimatbild, S. 37.

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Wohnräumen an den potentiell gestellten, handbetriebenen Maschinen geringer Größe probat arbeiten konnten. Der Aufgabenbereich des Fabrikanten umfasste hauptsächlich die Organisation des arbeitsteiligen Herstellungsprozesses, die Versorgung seiner Arbeiter mit Rohstoffen und die Warendistribution. Erst die Umstellung auf kraftgetriebene Produktion mithilfe ausladender Maschinen zwecks Ef zienzsteigerung und Kostenoptimierung erzwang Zentralisierungsmaßnahmen, die wiederum Investitionskapital erforderten und Fabrikbauten innerhalb einer entsprechenden Infrastruktur implizierten. Ungeachtet aller im 19. Jahrhundert vorhandenen theoretischen Möglichkeiten beschritt nicht jeder Betrieb diesen Weg. Einerseits mangelte es in der Wirkwarenfertigung lange Zeit an Notwendigkeit, von der protoindustriellen verlagsähnlichen bzw. manufakturellen Produktionsweise hin zur fabrikatorischen überzugehen. Zumindest auf dem Land war die Heimarbeit bis ins 20. Jahrhundert offenkundig konkurrenzfähig. Andererseits fehlten den ruralen Geschäftsgründern anfangs im Allgemeinen ausreichende Finanzmittel bzw. gar der unerlässliche Landbesitz. Selbst jene, die noch im 19. Jahrhundert auf Fabrikfertigung umstellten, vermochten dies nicht ad hoc zu leisten. Der Strumpfwarenfabrikant Carl Friedrich Engelmann errichtete um 1881 ein erstes Fabrikgebäude, allem Anschein nach, ohne zeitgleich auch auf Kraftantrieb zu setzen. Die von der wenigstens partiellen Zentralisierung zu erwartenden Struktureffekte genügten vermeintlich seinen Ansprüchen. Zum fraglichen Zeitpunkt existierte der bereits in zweiter Generation geführte Betrieb seit mindestens 20 Jahren. Desgleichen entbehrte die um 1869 ihren Anfang nehmende Firma C. T. Engelmann Söhne in Rußdorf, eine Gründung des strumpfwirkenden Häuslers und Gärtnersohns Carl Traugott Engelmann (1827–1898), welche unter dessen Nachkommen bis 1924 Bestand hatte 972, bis 1899 ausgewiesener Fabrikhallen. Deren Funktion erfüllten vielleicht zwei um 1836 und 1888 erbaute Seitengebäude des Engelmann'schen Wohnhauses. 973 Julius Emil Kohlsdorf (1857–1940), der als Sohn eines strumpfwirkenden Hausbesitzers seit 1879 den Rußdorfer Strumpfwirkern und seit 1894 den lokalen Fabrikanten zugerechnet wurde, verfügte seit 1893 über eine Werkstelle, die um 1898 einen Ausbau erfuhr, jedoch gleich Engelmann über kein Fabrikgebäude. 974 Mit analogen Ausgangsbedingungen operierte Carl Gottlob Geißler (1844–1870), Häusler- und Strumpfwirkersohn aus Rußdorf, welcher als ausgebildeter Strumpfwirker um 1870 in die Handschuhfertigung größeren Stils einstieg. Von Pferdebauer August Schüßler erkaufte er 1881 – zu diesem Zeitpunkt besaß Geißler bereits ein Wohnhaus – ein Feldstück 975, auf dem bis 1882 ein Wohnhaus mit Seitengebäude entstand. Ein Fabrik ügel mit Dampfesse, Indiz einer dampfgetriebenen Produktion, folgte erst um 1885, ein zweiter um 1887. 976 972 973 974 975 976

Vgl. ThStA Abg, Amtsgericht Altenburg, D IV Loc 1 Bc. Nr. 165: Firma C. T. Engelmann Söhne in Rußdorf. Vgl. ThStA Abg, Steuer- u. Rentamt Altenburg, Nr. 119, Nr. 49. Vgl. ebd., Nr. 121, Nr. 265. Vgl. SächsSTAC, 30104 Amtsgericht Chemnitz (1879–1952), Nr. 6019–6032, Nr. 262. Vgl. ThStA Abg, Steuer- u. Rentamt Altenburg, Nr. 120, Nr. 206.

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Julius Reinhold Kohlsdorf (1828–1909) stellte eine klare Ausnahme dar. Zeitlebens Strumpfwirker und zu keinem Zeitpunkt durch die Personenstandsüberlieferung mit dem Fabrikantentum in Verbindung gebracht, obwohl ein Bruder, zwei Söhne und zwei Enkelsöhne nach 1891 jenem Kreis zugehörten, wurde doch auf seinem Hausgrundstück um 1886 ein Fabrikgebäude ohne Esse errichtet. 977 Während sich also auf Basis lokaler Strukturen sowie unter Rezeption endogamer Ressourcen Industriebetriebe im eigentlichen Sinne nur schrittweise langsam herausbildeten, ließen zuwandernde Firmen wenig verwunderlich sofort einen industriellen Habitus erkennen. Zu den überschaubaren Beispielen aus dem Untersuchungsgebiet zählte die Limbacher Vereinsappretur Willhain u. Compagnie, welche 1881 die ebenfalls in Limbach beheimatete Appretur-Anstalt Schröder-Schaarschmidt in Rußdorf beerbte. Letztere hatte 1873 auf einem Teil der schon im 16. Jahrhundert einem Limbacher Bauern gehörenden Rußdorfer Feldrain ein Fabrikgebäude erbaut. Der neue Eigentümer fügte in den 1880er Jahren dem 20.000 Mark würdigen Besitz zwei Färbereisäle, ein Kesselhaus, einen Maschinenraum, eine neues Färbereigebäude und eine Dampfesse an. Nach 1885 erfolgten stete Erweiterungen unter anderem um ein Trockenhaus, einen Walkereianbau und eine Diamantschwarzfärberei. Als das Unternehmen den Besitz 1895 veräußerte, schlug dieser mit 55.815 Mark zu Buche. Die weiteren Eigentümer, darunter zwischen 1903 und 1926 die Färberei Wünschmann als einer der größten Arbeitgeber am Ort, kamen sämtlich von außerhalb. 978 Die Entwicklungscharakteristika der Textilindustrie sind nicht unbedingt verallgemeinerbar. Unter leicht differenten Vorzeichen funktionierte die Ansiedlung klassischer Folge- und Zulieferindustrien. Unternehmen des Maschinenbaus und der Metallwarenfabrikation wurden in den betrachteten Ortschaften seit den 1870er Jahren vereinzelt ansässig. Auf die dort vorhandenen Strukturen und Ressourcen bauten sie nur mittelbar auf. Eine hervorstechende Gemeinsamkeit ihrer Gründer war die exogene Geburt. Den Textilmaschinenbau begann in Rußdorf Friedrich Julius Schraps (1847–1877). In einem Strumpfwirkerhaushalt aufgewachsen, lagen seine sozioökonomischen Wurzeln in den protoindustriellen Trägerschichten. Er selbst wandte sich dem Maschinenbau zu, welcher in Schraps Geburtsort Limbach, anders als in Rußdorf und Bräunsdorf auf eine lange Tradition blickend, ein wichtiges Element der Protoindustrialisierung darstellte und zugleich einen Standortvorteil markierte. Seit Johann Esche wurden die hölzernen Wirkstühle vor Ort montiert und deren Bauelemente, überwiegend aus dem Erzgebirge bezogen, zumindest in Teilen produziert. Mitte des 19. Jahrhunderts schwenkte die Fertigung auf metallene, vornehmlich Kettenwirkmaschinen für

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Vgl. ebd., Nr. 119, Nr. 59. Vgl. SächsSTAC, 30104 Amtsgericht Chemnitz (1879–1952), Nr. 6019–6032, Nr. 231. – ThStA Abg, Steuer- u. Rentamt Altenburg, Nr. 119: 184 a.

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den Kraftantrieb um. In Begleitung der Trikotagenindustrie trat um 1870 Nähmaschinenproduktion hinzu. 979 Schraps erlernte wahrscheinlich in einem Limbacher Betrieb den Maschinenbau und ging der Beschäftigung dort noch zum Zeitpunkt seiner Hochzeit mit einer Rußdorfer Schuhmachertochter 1870 nach. Bis 1872 zog er in die sächsisch-altenburgische Exklave um. Da er dort aber erst 1875 für 570 Mark einen Hausbauplatz von der Schankwirtwitwe Sebastian erkaufte, ist fraglich, wo er seiner Beschäftigung nachging. Wohl konnte ein Hausgenosse in seiner Wohnung Textilien fertigen, vielleicht gar hölzerne Wirkstühle herstellen, jedoch keinesfalls Maschinen. Nicht umsonst fügte Schraps seinem Rußdorfer Wohnhaus sofort eine Werkstatt an, die um 1877 ein Kesselhausanbau, klares Indiz kraftgetriebener Produktion, erweiterte. Nachdem Schraps 1877 der Wassersucht erlegen war, erstand der Limbacher Glasersohn Georg Paul Sachse (1858–1896), selbst ein Maschinenbauer, den Besitz für 30.000 Mark inklusive 18.000 Mark wertiger Maschinen und Werkzeuge 1881 aus den Händen der Witwe. Ein halbes Jahr danach traten beide vor den Altar. Unter seiner Regie entstand unter anderem sogleich ein neues Wohnhaus mit Werkstellenanbau nebst einer Dampfesse und wurde das Fabrikgebäude bis 1886 um ein Stockwerk erhöht. 980 In der Namensgebung die Firmenkontinuität herausstreichend, führte Sachse zudem den Betrieb seines Vorgängers fort. Julius Schraps Nachfolger erlebte die Jahrhundertwende jedoch nicht mehr. Sachse starb 1896 verwitwet und kinderlos. Sein erbender Bruder 981 verkaufte das Rußdorfer Betriebsgelände für 27.000 Mark 1899 an den Kaufmann Richard Ludwig Otto Richter und den Fabrikanten William Max Pressler (1861–1930) aus Chemnitz, welche die vorhandene Infrastruktur unter der Marke M. Pressler & Co., Metallwarenfabrik nachnutzten 982 und vor dem Ersten Weltkrieg zwischenzeitlich bis zu 200 Arbeiter beschäftigten. 983 Zugezogen war auch August Friedrich Wagner (1831–1910), der sich als Strumpfwirker jung verheiratet um 1856 in Rußdorf ohne eigenen Grundbesitz niederließ. Hier betätigte er sich 1866 im Stuhlbau, erstand 1870 Hausbesitz und wurde 1872 als Maschinenbauer erwähnt. Zum Fabrikanten brachte es Wagner im Laufe der 1880er, baute 1884 ein Wohnhaus zum Fabrikgebäude um und stellte eine kleine Dampfmaschine auf. Der Betrieb bescheidenen Ausmaßes wurde unter Wagners Schwiegersohn Kurt Anton Ulrich Morgenstern (1862–1918), einem aus Meerane gebürtigen Maschinenbauer, nach 1910 weitergeführt, erlosch aber wahrscheinlich spätestens mit dessen Tod. 984

979 980 981 982 983 984

Vgl. Eichler, Bürgertum, S. 39ff. Vgl. Grundbuch Nr. 272 u. Brandkataster 190. Vgl. ThStA Abg, Amtsgericht Altenburg, D IV. Loc. 1 Bc., Nr. 212: Firma Julius Schraps Nachfolger in Rußdorf. Vgl. SächsSTAC, 30119 Amtsgericht Limbach, Nr. 129: Firma M. Preßler & Co. in Rußdorf, 1900–1937. Vgl. Lange, Heimatbild, S. 36. Vgl. SächsSTAC, 30104 Amtsgericht Chemnitz (1879–1952), Nr. 6019–6032, Nr. 85. – ThStA Abg, Steuer- u. Rentamt Altenburg, Nr. 119, Nr. 90.

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Wenige Jahre nach Wagner ließ sich Karl Reinhard Köhler (1851–1922) samt Frau und Kindern 1882 in Bräunsdorf nieder. Der Bruder des in Limbach seit 1874 eine Spezialnähmaschinenbaufabrik leitenden Julius Köhler war ein ausgebildeter Schlosser. Dem Handwerk ging er in seinem neuen Wohnort zunächst im Hausgenossenstand nach, bevor er 1883 ein Haus im Ort kaufte 985 und dort Maschinenbau im kleinen Rahmen betrieb sowie mindestens zwischen 1899 und 1903 als Strumpffaktor tätig wurde. Köhlers Kleinstbetrieb, der über Pläne für eine Metallwarenfabrik nicht hinauskam 986, blieb bis 1935 der einzige Vertreter der metallverarbeitenden Industrie in Bräunsdorf. Hingegen bereicherten in Rußdorf zwei weitere erwähnenswerte Unternehmen dieser Branche die Industrielandschaft. Eine Wirkmaschinenfabrik gründete Emil Hermann Sonntag (1857–1944) aus Oberrabenstein hier angeblich 1883. Im selben Jahr heiratete der Strumpfwirkersohn eine Rußdorfer Fabrikarbeitertochter. Sonntag hatte mit dem väterlichen Geschäft gebrochen und eine Schlosserlehre durchlaufen. In Rußdorf lebte er als ein solcher bis 1886 ohne Grundbesitz. Erst ab diesem Zeitpunkt verfügte er offensichtlich über eine eigene Werkstatt. Die Geschäfte liefen jedoch anfangs vermutlich wenig erfolgreich, denn kaum neun Jahre später verlor Sonntag sein Eigentum in einer Zwangsversteigerung. Der Maschinenbauer Anton Rößler übernahm die Immobilie. Obwohl Sonntag hernach bis 1928 laut Grundbuch über keinen Grund im Ort mehr verfügte, wurde er in den Kirchbüchern noch bis 1905 als Hausbesitzer und auch darüber hinaus als Schlosser bzw. ab 1909 als Maschinenbauer geführt. Zum Fabrikanten erhoben ihn die Quellen erst 1928 mit dem neuerlichen Kauf eines Hauses. 987 Im selben Jahr gründete er mit seinen Söhnen die Wirkmaschinenfabrik Emil Sonntag GmbH, welche 1933 52 Personen Arbeit gab. 988 Die nach ihrem angegebenen Gründungsdatum jüngste Maschinenfabrik des Untersuchungszeitraums ging auf August Friedrich Wilhelm Niekamp (1876–1940) zurück. Der im nordrhein-westfälischen Schildesche bei Bielefeld geborene Schlosser wanderte zwischen 1900 und 1903 mit Familie ins thüringische Mühlhausen und zog von dort wahrscheinlich im Anschluss des Ersten Weltkrieges nach Limbach. Auf dem Betriebsgelände der Trikotagenfabrik Julius Paul Kohlsdorfs (1884–1958) in Rußdorf erhielt er die Möglichkeit, eine Spezialnähmaschinenfabrikation einzurichten. Kohlsdorf selbst, der zu diesem Zeitpunkt etwa 50 Arbeiter beschäftigte, hielt an der 1921 gegründeten offenen Handelsgesellschaft A. Niekamp & Co. 30.000 Mark Anteile, Niekamp nur 27.000. Über das kleinbetriebliche Format kam der Betrieb, in dem 1921 zehn und 1933 19 Personen angestellt waren, nie hinaus. Gegen eine Ab ndung von 13.000 Mark schied Kohlsdorf 1924 aus der inzwischen auf ein separates Gelände in Rußdorf verzoge985 986 987 988

Vgl. ebd., Nr. 6041, Nr. 73. Vgl. Frenzel, Geschichten, S. 305. Vgl. SächsSTAC, 30104 Amtsgericht Chemnitz (1879–1952), Nr. 6019–6032, Nr. 195 u. 258. – ThStA Abg, Steuer- u. Rentamt Altenburg, Nr. 119, Nr. 195. Vgl. StALO, Rußdorf Gewerbeanzeigen, Nr. 29VA:1820. – StALO, Rat der Stadt Oberfrohna, Nr. 1256.

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nen Firma aus. Unter dem Namen August Niekamp, Spezialnähmaschinenfabrik Rußdorf führte Niekamp das auf 26.000 Mark geschätzte Unternehmen, welches sich die „Herstellung an Spezialnähmaschinen und deren Vertrieb“ auf die Fahnen geschrieben hatte, allein fort. 989 So wie die Lebensläufe der Metallindustriellen in wesentlichen Eckpunkten starke Ähnlichkeiten aufwiesen, teilten sie mit denen der Textilfabrikanten mehrere Elemente. Wer in Rußdorf oder Bräunsdorf ein Unternehmen aufbaute, führte selten bereits einen derartigen Betrieb. Er entstammte in der Regel via Geburt den ruralen Mittelschichten, erlernte unabhängig seiner Erbposition ein Handwerk und trieb das hernach fabrikatorisch aufgezogene Gewerbe zuvor über Jahre einfach. Die an dinglichen Ressourcen starken Bauern nahmen auch als Investoren bzw. Gesellschafter nicht an der Industrialisierung des Sekundärsektors teil. Andererseits zeichneten die Viten der Metallindustriellen in einigen Elementen differierende Bilder. Vor allem war ein jeder von ihnen in die späteren Wirkungsstätten zugezogen und hatte die Mehrheit außerhalb ein metallverarbeitendes Handwerk, zumeist die Schlosserei, erlernt. Dabei kam der beruflichen Ausrichtung des Vaters keinerlei erkennbare fördernde oder hemmende Bedeutung zu. Emil Hermann Sonntag stellte als mutmaßlich autodidaktischer Quereinsteiger eine klare Ausnahme dar. Die Ursache dessen liegt in den strukturellen Ausgangsbedingungen der betrachteten Dörfer. Während die Textilienherstellung dort seit dem 16./17. Jahrhundert einen Großteil der Bevölkerung versorgte, beschränkte sich die Metallverarbeitung bis Mitte des 19. Jahrhunderts auf die landesherrlich gestatteten Dorfschmieden und punktuell hinzutretende Folgeprofessionen der Strumpfwirkerei wie zum Beispiel die Blattsetzerei. Das nötige Wissen fehlte schlicht, um auf Basis lokaler Ressourcen eine Metallindustrie herauszubilden. Desgleichen verwundert die durchgängig temporal unmittelbar mit der Fabrikantenbenennung einhergehende kraftgetriebene Fabrikproduktion wenig. Die komplexen Textilmaschinen, die schwerlich in dezentraler Heimarbeit produzierbar waren, wurden mithilfe von Werkzeugmaschinen gefertigt, deren Aufstellung bereits Fabrikhallen erforderte. Bei ohnehin impliziter Zentralisation lag es nahe, zugleich auf Kraftantrieb zu setzen. Insgesamt zeigt die Rußdorfer und Bräunsdorfer Fabrikindustrialisierung aus Sicht der aktiv beteiligten örtlichen Unternehmer klare Parallelen zur zweistu gen protoindustriellen Entwicklung. Gleich dem Leinengewerbe schälte sich die Textilindustrie aus historisch-kontextual bedingten, gegebenen Strukturen mehrheitlich auf Basis vorhandener personeller Ressourcen und Fachkompetenz in Rezeption exogamer ökonomischer Vorgänge heraus. Demgegenüber basierte die Entwicklung der Metallindustrie gleich der Strumpfwirkerei auf von außen, mehr zufällig denn vorsätzlich auf endogame Veränderungen reagierend, hineingetragenen personengebundenen Potentialen, 989

Vgl. ThStA Abg, Amtsgericht Altenburg, D IV. Loc. 1 Bc., Nr. 545: Firma A. Niekamp & Co., Rußdorf.

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die sich unter Ausnutzung endogamer Ressourcen in Rezeption äußerer ökonomischer Vorgänge entfalteten. Führte die ersten Strumpfwirker vermutlich billiger Grundbesitz und nicht ein ausgemachter ökonomischer Standortvorteil in die betrachteten Dörfer, waren es im Falle der späteren Metallindustriellen mutmaßlich Arbeitsplätze in den sich lokal herausbildenden Strumpffabriken, eine zum Verkauf feilgebotene Fabrikinfrastruktur oder lediglich eine Hochzeit. Den größten Ein uss mag tatsächlich die etablierte Strump ndustrie gehabt haben, was die äußerst begrenzte Gründungstätigkeit der Metallindustrie in Bräunsdorf mit seiner gegenüber Rußdorf deutlich geringeren Zahl textilfabrikatorischer Firmen erklärte.

9.3.2 Fabrikarbeiter Die Identi zierung der Fabrikarbeiter, der den Fabrikanten gegenüberstehenden Industrialisierungsakteure, unterlag ebenfalls Schwierigkeiten, welche jedoch nicht in einer De nitionsproblematik begründet lagen. Wer als ein solcher bezeichnet wurde, hatte zweifelsohne in einer Manufaktur oder Fabrik Anstellung gefunden und verdiente sein Geld innerhalb industrieller Arbeitsstrukturen fern des traditionellen Handwerks oder der Heimarbeit. Es besteht kein Anlass zur Annahme, die in den Quellen der 1920er und 1930er Jahre getroffene inhaltliche Abgrenzung des Fabrikarbeitertyps vom Heimarbeitertyp habe nicht bereits im 18. Jahrhundert gegolten. Erste Belege klarer Differenzierung aus der näheren Umgebung der Untersuchungsorte datieren ins 18. Jahrhundert. So fand zum Beispiel Johann Samuel Friedrich 1757 explizit als „Cattunformschneider und Zeichenmeister bey der König. Pohln. u. Churfrst. Sächß. privilegirten Cattunfabrique [...] Hn. Wagners“ 990 Erwähnung. Ähnlich eindeutig wie die Fabrikarbeiter können Werkführer, Werkmeister, Fabrikschmiede, Heizer, Expedienten, Kontoristen und Lagerhalter der fabrikindustriellen Produktion zugeordnet werden. Desgleichen müssen Ketten- und Rundstuhlarbeiter zwangsläu g in Fabriken angesiedelt werden, da ihre berufsbezeichnenden Arbeitsgeräte nur dort aufgestellt wurden und fehlte es außerhalb der fabrikatorischen Fertigung vor 1900 in den Untersuchungsorten an Beschäftigungsmöglichkeiten für Maschinenbauer, Metallarbeiter, Klempner, Schlosser, Eisengießer, -dreher und -bohrer. Völlig offen bleibt dagegen die Zuordnung zahlreicher Textilberufe. Näher, Zuschneider, Leger, Spuler, Scheerer, Former, Aufstoßer, Zwickler, Appreteure, Sticker, Stepper, Repassierer, Plätter, Posamentierer, Packer, Stricker und Wirker etc. konnten bei gleicher Berufsbezeichnung der Textilherstellung in Heim- wie Fabrikarbeit nachgehen. Ob der unklaren Klassi kation wurden Personen dieser Erwerbstätigkeiten bei der folgenden Betrachtung der Fabrikarbeiterschaft außer Acht gelassen.

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EPA Rußdorf, KB I, Hochzeiten 1757, Nr. 9.

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Im Wesentlichen spiegelten deren unzweifelhaft ausgewiesenen frühen Angehörigen des 19. Jahrhunderts die Charakteristika der Fabrikanten. Wie diese entstammten sie via Geburt mehrheitlich den unterbäuerlichen ruralen Schichten, dabei jedoch auch zu signi kanten Teilen der unbegüterten Landbevölkerung. In denselben Besitzständen nach alter Lesart fanden sie sich selbst durchgängig wieder, wobei das Quantum der zeitlebens zur Miete Wohnenden relativ noch größeres Gewicht erhielt. Ihre Geburtsorte stimmten vielfach nicht mit Rußdorf und Bräunsdorf überein. War dies der in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts allgemein steigenden Fluktuation in Verbindung mit synchronen Zuwanderungen in das gesamte Limbacher Land geschuldet, hatten stark differierende Mengenverhältnisse endogam zu exogam Geborener zwischen Textil- und Metallindustrie keineswegs zufälligen Ursprung. Bis einschließlich 1900 traten in Rußdorf 197 der Fabrikarbeiterschaft zuordenbare Personen auf, darunter 141 Männer und 56 Frauen. Von den Angehörigen des weiblichen Geschlechts, die wahrscheinlich sämtlich zur Textilfertigung beitrugen, war fast jede zweite (25) innerhalb der Exklave geboren. Bei den Männern betrug der Anteil insgesamt nur 21,28 Prozent, war jedoch unter den 40 ausgewiesenen Textilarbeitern wesentlich höher (42,5%), als unter den 86 Metallern (11,53 %). Desgleichen entstammten von 28 Bräunsdorfer Fabrikarbeitern bis 1900 – die im Vergleich zu Rußdorf begrenzte Zahl spiegelt den geringen Umfang der dort ansässigen Fabrikindustrie – 57,14 Prozent einem anderen Ort. Unter den 23 gesicherten Arbeitern der Textilindustrie waren es 52,17 Prozent. Lediglich ein fabrikatorischer Metallarbeiter war vor 1916 dort nachweisbar. Inwiefern die Fabrikindustrie vor allem Auswärtigen attraktiv erschien, wie das Mengenverhältnis zu den Einheimischen suggeriert, war nicht feststellbar. Es liegen keine umfassenden Einwohnerlisten der Untersuchungsorte vor, die vergleichende Aussagen über den Anteil extern Geborener an der erwachsenen arbeitsfähigen unterbäuerlichen Bevölkerung des fraglichen Zeitraums erlauben. Eine generelle Quali kationsunterrepräsentanz bei der Lokalbevölkerung kann zumindest in der Textilienherstellung mit Sicherheit ausgeschlossen werden. Hingegen resultiert die niedrige Quote der von Geburt wegen ansässigen fabrikatorischen Metallarbeiter ganz offensichtlich analog zur Fabrikantenschaft aus der Abwesenheit ansässiger Spezialisten. Einheimische engagierten sich erst in der Metallwarenverarbeitung, als diese sich in den betrachteten Dörfern etabliert hatte. Traten erste Vertreter der Branche in Rußdorf bereits 1870 auf, sind auch dort geborene mit einer Ausnahme 1871 nicht vor 1885 nachweisbar. Generell folgten sie, sofern in einem der örtlichen Betriebe angestellt, den Unternehmern zeitlich nach. In welchem Rahmen indes der früheste Erwähnung ndende Rußdorfer Maschinenbauer, der keine Betriebsgründung vollzog, seit 1870 sein Geld verdiente, ist unklar. Ein Haus erwarb Karl Wilhelm Koch (1831–1909) erst 1879. Zuvor reihte sich der in Reichenbach geborene Gärtnersohn, der 1870 mit Frau und drei Kindern in die Exklave

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zog, in die lokale Hausgenossenschaft ein. Hingegen mag Karl Robert Eidner (1849– 1891), ein aus Chursdorf bei Penig stammendes Gastwirtkind, bei Schraps Anstellung gefunden haben, bevor er, kaum einen Monat in Hausbesitz, 1875 eine Rußdorfer Anspannertochter freite. Für lang blieb Eidner dem Gewerbe jedoch nicht treu, denn seit 1881 ist er nur noch als Strumpfwirker belegt. Über seine gesamte Rußdorfer Zeit verdingte sich der ehelich gebundene, aber kinderlos zugewanderte Franz Stelzner (* 1849) ab 1876 im Maschinenbau bzw. der Platinenmacherei. Ein Haus besaß er lediglich zwischen 1884 und dessen Zwangsversteigerung 1888. Im fortgeschrittenen Alter erkor er nach 1912 vermutlich Limbach zu einem neuen Lebensmittelpunkt. Otto Emil Ernst Hübner (1859–1887) kam aus einer Bernsdorfer Schlosserfamilie und setzte diese Profession seinerseits fort. In Rußdorf mag er in den frühen 1880er Jahren bei Sachse Anstellung als Eisendreher gefunden haben. Hier lernte er eine hausbesitzende Strumpfwirkerwitwe kennen, die er 1883, vermutlich nach Schwängerung, vor den Altar führte. Desgleichen zog der in Korbitz bei Meißen als Sohn eines Schmiedemeisters geborene Franz Paul Ihle (1857–1926) wahrscheinlich einer Verdienstmöglichkeit in der Maschinenschlosserei wegen gen Rußdorf, wo er gleichfalls 1883 die Tochter eines lokalen Zimmermanns ehelichte. Zwei seiner drei Söhne füllten später beruflich des Vaters Fußstapfen. Im Jahr darauf heiratete und starb in Rußdorf Otto Theodor Baum (1857–1884), Spritzenfabrikantensohn aus Leisnig, Fabrikschlosser, „Socialdemokrat und Gottverächter“. 991 Der in Chursdorf aufgewachsene Karl Hermann Kretzschmar (* 1857) hatte als Erster zeitweilig Rußdorfer Metallarbeiter mit dem väterlichen Handwerk gebrochen und sich anstelle des Strumpfwirkens der Schlosserei zugewandt. Mitte der 1890er Jahre war er mit seiner aus der altenburgischen Exklave stammenden, 1885 geheirateten Frau in die nahe Industriestadt Chemnitz abgewandert. Der wirtschaftlichen Anziehungskraft des Limbacher Landes im späten 19. Jahrhundert folgend, kam der Sohn eines Finanzwach-Oberaufsehers Josef Leitinger (* 1861) als Fabrikschlosser von Oberösterreich Mitte der 1880er nach Rußdorf, fand hier auch eine Ehefrau, verzog aber um 1890 ebenfalls in Richtung Chemnitz. Von Ungarn führte sein Weg den Maschinenschlosser und Bauernsohn Martin Hochrein (* 1848) vor 1881 nach Hohenstein. Auf sächsischem Boden lernte er eine Rußdorfer Strumpfwirkertochter, seine Ehefrau ab 1881, kennen. Obschon ohne Hausbesitz im Dorf, nahm das Paar doch dort seinen Wohnsitz, während Hochrein bis mindestens 1882 in Hohenstein arbeitete. In den Jahren 1885 und 1886 fand er in Rußdorf Anstellung, verzog aber nach dem Tuberkulosetod seiner Frau mitsamt den Kindern. Einen schon in der Metallverarbeitung tätigen Vater hatten auch unter den ersten Metallarbeitern der betrachteten Ortschaften die Wenigsten vorzuweisen, wie die Beispiele verdeutlichen. In dieser Hinsicht unterschieden sich ihre Ausgangsbedingungen nicht von denen der Rußdorfer und Bräunsdorfer. Deren zunächst geringe Beteiligung 991

EPA Rußdorf, KB XIV, Beerdigungen 1884, Nr. 49.

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ging sicherlich auf Struktureffekte zurück. Wandte sich ein Kind der Untersuchungsorte der metallverarbeitenden Industrie zu, war es ob fehlender Ausbildungsmöglichkeiten vor Ort mindestens zu vorübergehender Abwanderung gezwungen. Das gleichsam bis ins 20. Jahrhundert geringe Stellenangebot in der Heimat stand einer Rückkehr danach vermutlich oft im Wege, zumal an den ausbildenden größeren Industriestandorten bessere Berufsperspektiven lockten. Überdies wuchsen die Beschäftigungsmöglichkeiten für Metallarbeiter in Rußdorf und Bräunsdorf nur in Abhängigkeit von der Entwicklung ansässiger Betriebe geringen Umfangs. Fehlte es dort punktuell an quali zierten Fachkräften, war es für Ortsansässige zu spät, einen entsprechenden Berufsweg einzuschlagen. Die Fabrikanten wiederum griffen zwangsläu g auf ausgelernte auswärts beheimatete Arbeiter zurück. Deren den nachweisbaren Vertretern vor 1900 nach überwiegende Ledigkeit (61,84%) erscheint klar als Folge der mit einer Verheiratung, welche eine Erwerbstätigkeit voraussetzte, schlagartig einbrechenden Mobilität. Freie Stellen in fremden Ortschaften richteten sich daher immer in erster Linie an lediges Publikum und sprachen erst nachgeordnet ehelich gebundene Parteien an, denen unter Umständen Pendelverkehr oder ein Umzug ihrer Familie ins Haus standen. Von 76 fremdgeborenen Rußdorfer Metallern bis 1900 waren 47 bei ihrer Ersterwähnung unverheiratet, 29 (38,16 % ) zogen mit Frau und Kindern der Arbeit nach zu. Gemein ist ihnen, marginaler Ausnahmen ungeachtet, zeitgleich mit ihrer Erstnennung vor Ort Indizien fabrikatorischer Tätigkeit gezeigt zu haben. Diese Spezi ka treffen auch auf einige der involvierten „Einheimischen“ zu. Ernst Otto Illgen (1863–1907) kam zwar in Rußdorf zur Welt, doch wuchs er in Bräunsdorf und Falken auf. Nach Rußdorf wanderte er als ausgebildeter Schlosser zu und heiratete dort 1885. Ebenso wurde Oskar William Müller (* 1876), Sohn eines Platinenmachers, zunächst in Chemnitz Fabrikschmied und blieb es über seine Hochzeit mit einer Rußdorferin 1898 hinaus, ehe er 1899 in seinem Geburtsort Anstellung fand. Desgleichen verdingte sich der einzige vor 1900 identi zierbare Bräunsdorfer Maschinenbauer zunächst in Rußdorf. Die erste Hochzeit 1885 führte Julius Otto Zschocke (1862–1942), der als Sohn eines Stuhlbauers aufgewachsen war, zurück in das Heimatdorf. Womöglich ging er dort K. R. Köhler zur Hand. Gleich den Vorgenannten betätigten sich auch Johann Friedrich Heinzig (* 1867), Max Otto Pester (* 1872) und Carl Theodor Robert John (1846–1873), obwohl offenbar zuvor nie auswärts ansässig, seit ihrer beruflichen Erstnennung in ihrem Heimatort Rußdorf in der Metallbranche. Letzterer hatte mit Sicherheit bei seinem Vater Carl Robert John (1819–1898) gelernt, einem in Rochlitz geborenen und ab 1846 in Rußdorf wohnenden Schlosshauer sowie Maschinenbauer der 1870er und 1880er Jahre. Ausnahmen markierten hingegen Albin Mäder (1861–1928) und Ferdinand Max Peters (1871–1956), welche in der Rußdorfer Strumpfwirkerei begannen, um in der Mitte ihres Lebens auf die Metallverarbeitung umzuschwenken, sowie Ernst Hermann Beier (1873–1952), August Friedrich Herold (1850–1909) und Ernst Hugo John (1853–1916),

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die, sonst im Strumpfwirkergewerbe, unvermittelt je einmal den Schlossern zugerechnet wurden. Konträr zur Maschinenbau- und Metallverarbeitungsindustrie der Untersuchungsorte, die beinahe ausschließlich auf von außen kommende Arbeitskräfte setzte, nahm die Textilindustrie in hohem Maße lokales Arbeitskräftepotential in Anspruch. Freilich vermag dies wenig zu verwundern. Ohne weitere Ausbildung waren die in großer Zahl vorhandenen protoindustriellen Textilhandwerker in der Lage, nach Einweisung in Fabriken unter Maschineneinsatz de facto dieselben Waren wie zuvor zu fertigen. Vor dem Hintergrund en masse verfügbarer lokaler potentieller Arbeitskräfte erscheint der in beiden Dörfern bei rund 43 Prozent liegende Anteil dort Geborener an den eindeutig identi zierbaren Fabrikarbeitern der Textilbranche erstaunlich niedrig. Eine eingehendere Betrachtung der Lebensläufe fremdgeborener Textilarbeiter vor 1900 indiziert jedoch, dass diese zur Hälfte ohne fabrikatorische Bindung zuwanderten und zuvörderst das dortige Arbeitskräftereservoir vor dem Rückgriff darauf befüllten. So zog exemplarisch der Strumpfwirker Franz Anton Lesch mit Frau und Kindern um 1872 nach Rußdorf, wo er 1884/1886 als Kettenarbeiter belegt ist. Ebenso kam Karl Hermann Weiß (1845–1929), der Strumpfwirkerei verp ichtet, 1880 in Familie von Reichenbach, ein Haus in Rußdorfer Flur kaufend. Erst 1885 brachten die Personenstandsregister ihn mit Kettenarbeit in Verbindung. Karl Emil Marschner, dessen Lebensdaten ob seiner nur zeitweiligen Residenz in Bräunsdorf unbekannt sind, ließ sich um 1888 dort in Gemeinschaft einer Gattin nieder, schien aber erst 1896 nach Jahren der Strumpfwirkerei in Fabrikarbeit auf. Auch der in Niederfrohna geborene Friedrich Hermann Naumann (1891–1936) siedelte um 1890 von Waldenburg nach Bräunsdorf um, ging dort aber nicht vor 1898 zur Fabrikarbeit über. Friedrich Theodor Vogel (* 1861) dagegen gehörte jenen an, die nicht in den Untersuchungsorten geboren, aber dort aufgewachsen waren. Er war als voreheliches Kind wahrscheinlich in Mittelfrohna, dem mütterlichen Geburtsort, zur Welt gekommen und mit ihr im Anschluss an ihre Hochzeit nach Rußdorf gezogen. Desgleichen verbrachten die Gebrüder Max August (* 1876) und Osmar (* 1880) Roscher zumindest ihre Jugendjahre innerhalb der Exklave. Deren Familie, ursprünglich in Falken beheimatet, wechselte 1885/1886 den Wohnort. Die Erstbelege einer dritten Gruppe innerhalb der betrachteten Dörfer gingen mit den Eheschließungen ihrer Protagonisten einher und datieren Jahre vor deren unzweifelhafter Einbindung in den fabrikatorischen Produktionsprozess. Ernst Eduard Zenner (* 1850) aus Mülsen St. Micheln, zu diesem Zeitpunkt offensichtlich bereits als Strumpfwirker dort ansässig, ehelichte etwa 1880 in Bräunsdorf eine Grünaerin. Zum Kettenscheerer erklärten ihn die Personenstandsregister erst 1885. Ein reichliches Jahrzehnt später heiratete der in Neustadt bei Chemnitz geborene Paul August Naumann (1866– 1909), seiner Profession nach Scheerer, eine Ebersdorferin. Da beide auswärts beheimatet waren, die Trauung 1893 trotzdem in Rußdorf stattfand, muss mindestens einer

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der Partner schon dort gewohnt haben. Als Fabrikarbeiter fand Naumann jedoch nicht vor 1899 Erwähnung. Gleiches gilt für den Murschnitzer Franz Linus Gerlach (1873– 1939), der zum Zeitpunkt seiner Heirat mit einer Rußdorferin 1896 in deren Heimatdorf Strumpfwirkerei trieb und 1899 Fabrikarbeiter geheißen wurde. Unter den vor ihrem Erstbeleg in Fabrikarbeit vor Ort aufscheinenden fremdgebürtigen Frauen – Fabrikarbeiterinnen sind bis 1911 ausschließlich in Rußdorf identi zierbar – blieb der erste der drei vorgenannten Typen unvertreten. Dessen Existenz beim weiblichen Geschlecht kann trotzdem nicht automatisch ausgeschlossen werden. Im verheirateten Stand wurden Frauen vielmehr generell von über namentliche Nennungen hinausgehenden charakterisierenden Erwähnungen ausgeschlossen. Bei Hinzurechnung der fremdgeborenen, aber vor ihrer Tätigkeit in der textilen Fabrikindustrie der Untersuchungsorte daselbst nachweislich bar einer diesbezüglichen beruflichen Einordnung ansässig gewesenen Personen, welche also nicht einer entsprechenden Anstellung nachgezogen waren, zu den von Geburt an endogenen, später fabrikatorischen Textilarbeitern, verringert sich der Anteil exogener Fabrikarbeiter der Textilbranche vor 1900 auf 27,12% (Rußdorf) bzw. 19,05 % (Bräunsdorf). Im Gegensatz zur Metallbranche griff die sich entwickelnde lokale Textilindustrie auch im Bereich der Fabrikarbeitskräfte mehrheitlich auf bestehende personelle Ressourcen zurück. Die Einbeziehung der ansässigen Handwerker als Heimarbeiter stand von Beginn außer Frage. Wie die Untersuchungsergebnisse indizieren, kam deren Mitgliedern zusätzlich in der zentralisierten Fabrikproduktion eine integrale Position zu. Nahezu ausschließlich Zuzügler wurden schon in ihrem beruflichen Erstbeleg mit Fabrikarbeit in Verbindung gebracht. Die Textilindustrie Rußdorfs und Bräunsdorfs entwickelte sich in hohem Maße aus den Strukturen der ansässigen protoindustriellen Wirkwarenfertigung in Adaption und Reaktion auf den überregionalen Industrialisierungsprozess des 19. Jahrhunderts. Branchenübergreifend muss aufgrund unklarer Datenlage allerdings offenbleiben, in welchem Umfang Fabrikarbeit insbesondere in der Frühphase der lokalen Fabrikindustrialisierung ihre Arbeiter langfristig ernährte. Den Berufsangaben der Personenstandsregister nach zu urteilen, wurde nur eine Minderheit der einmal ausgewiesenen Fabrikarbeiter dauerhaft beschäftigt. Allerdings kamen auch ausgesprochen langjährige Arbeitsverhältnisse vor, wie eine Stichprobe des Limbacher Tageblatts von 1928 beweist. Im März des Jahres beging zum Beispiel der Werkmeister Arno Schmiedel sein 25. Jubiläum bei Firma Dittrich in Oberfrohna. 992 Dem Klempner Paul Döring wurde für dieselbe Anstellungszeit bei Preßler & Co. im Mai die „Ehrendenkmünze in Bronze für Treue in der Arbeit verliehen“. 993 Desgleichen durfte im September der Klempner Karl Uhl aus Limbach auf 25 Jahre bei Preßler & Co. zurückblicken. 994

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Vgl. KrA Gl, Limbacher Tageblatt und Anzeiger, 24. März 1928, Nr. 72: Arbeitsjubiläum Arno Schmiedel. Ebd., 5. Mai 1928, Nr. 105: Jubiläum Paul Döring. Vgl. ebd., 29. September 1928, Nr. 229: Jubiläum Karl Uhl.

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Keineswegs einer statistischen Betrachtung entzieht sich die besitzständische Einordnung der Fabrikarbeiter bis 1900 nach den traditionellen, im späten 19. Jahrhundert bereits an Bedeutung einbüßenden Kriterien. Den Personenstandsregistern zufolge lebten sie in beiden Untersuchungsorten ausschließlich in den unterbäuerlichen Gesellschaftsschichten. Drei Viertel (76,06% : 75%) aller fraglichen Männer wohnten Zeit ihres Lebens zur Miete. Die übrigen gelangten, mehrheitlich nach Jahren des Mieterdaseins (18,31% : 25%), an Hausbesitz. Höhere Landbesitzklassen wurden nicht angestrebt und entzogen sich, vermutlich einerseits ob fehlender nanzieller Mittel, andererseits meistenteils fehlenden Wissens um bäuerliche Wirtschaftsweisen geschuldet, ohnehin eines Zugriffs. Branchenunterschiede waren nicht feststellbar. Im Ganzen setzte die Fabrikarbeiterschaft Rußdorfs und Bräunsdorfs jene Tendenzen fort, die bereits bei den heimarbeitenden protoindustriellen Textilproduzenten festgestellt werden konnten. Der Subsistenzwirtschaft enthoben und dank der Trennung von Arbeits- und Wohnraum von potentiellen räumlichen Zwängen befreit, genügte ihnen, die ihre Arbeitskraft selbst zur Lebensgrundlage erhoben, einfacher Wohnraum, um prosperieren zu können. Inwieweit solcher auch als ausreichend empfunden wurde, sei dahingestellt. Anders als ihren Standesgenossen ein Jahrhundert zuvor, reichten diese geringen materiellen Voraussetzungen dem gesellschaftlichen Emp nden nach nun offensichtlich bereits aus, auch eine Familie zu gründen. Kaum einer der nachgewiesenen Fabrikarbeiter blieb ledig. Ein idealtypischer Lebenslauf oder Habitus, der für eine Tätigkeit im Fabrikbetrieb prädestinierte, scheint indes nicht existent gewesen zu sein. Hinsichtlich ihrer sozioökonomischen Herkunft zeigten sich die Fabrikarbeiter des Untersuchungsgebiets ausgesprochen diversitär. Vom Bauern- und Bürger- bis zum Handwerker- oder Hausgenossensprössling fanden Vertreter nahezu aller Gesellschaftsschichten den Weg zur Fabrikarbeit. Wenn Kinder aus den unteren, wenig bis unbegüterten Klassen überwogen, ist dies sicherlich auf deren wachsenden gesellschaftlichen Anteil zurückzuführen.

10. SCHLUSSBETRACHTUNG

Rußdorf und Bräunsdorf wurden als Teil des westlich der Industriestadt Chemnitz verorteten Limbacher Landes vorgestellt, das spätestens seit dem 17. Jahrhundert aktiv an der im 16. mit Ausbreitung der dörflichen Leinweberei beginnenden protoindustriellen Entwicklung des südwestsächsischen Raumes teilnahm, im 18. Jahrhundert zum Zentrum der sächsischen Strumpf- und Seidenwirkerei avancierte sowie im 19. im Rahmen der Industrialisierung zum bedeutendsten deutschen, international namhaften Standort der Stoffhandschuhproduktion aufstieg. Beide Untersuchungsorte nahmen an dieser Entwicklung mit identischer Entstehungsgeschichte und vergleichbarer Ausgangslage in unterschiedlichem Maße Anteil. Diesen Umständen zollte deren gesellschaftliche und demographische Entwicklung zwischen dem 16. und 20. Jahrhundert Tribut. Als maßgebende Triebkraft der fortschreitenden Differenzierung trat die wirtschaftliche Entwicklung beider Dörfer hervor. Desgleichen deuten alle Indizien auf die übergeordnete Bedeutung externer ökonomischer Impulse, die langfristige endogene Wandlungsprozesse auslösten. Diese fassten in den betrachteten Ortschaften nahezu gleichzeitig Fuß und wiesen eine identische Stoßrichtung auf, verliefen jedoch oft mit variierender Intensität. Die dorfwirtschaftlichen Veränderungen zeigten erwartungsgemäß konsequent erhebliche Interdependenzen mit der örtlichen Demographie und Gesellschaft sowie den Lebensbedingungen im Allgemeinen. Am auffälligsten schlugen sich die gegenseitigen Abhängigkeiten in der Entwicklung der Bevölkerungszahlen nieder. Seit dem späten 17. Jahrhundert erlebte das räumlich kleinere Rußdorf gegenüber dem angrenzenden Bräunsdorf eine stärkere und in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts beschleunigtere Vermehrung der Einwohnerschaft bei weitaus stärkerer Zunahme der Güter- bzw. Herdstellenzahl, die von einer umfänglicheren Involvierung der Bevölkerung in die regionale (Proto-)Industrialisierung gestützt und befeuert wurde. Ein Beispiel der weniger offenkundigen Manifestationen des Zusammenspiels lieferte etwa die augenscheinlich mit der wachsenden Bevölkerungszahl einhergehende erhöhte dorfgesellschaftliche Anfälligkeit für Subsistenzkrisen bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts. Im Fahrwasser des gewerblichen Aufschwungs strebten die krisengefährdeteren unteren Schichten zu quantitativer gesellschaftlicher Dominanz bei im Übrigen unveränderten Umgebungsbedingungen. Die dadurch neu aufgeworfene Soziale Frage übte indes zugleich einen Reformationsdruck unter anderem auf die traditionellen gesellschaftlichen Organisationsprinzipien aus. Allen beobachteten, nachvollziehbaren Vorgängen war eine prinzipiell gleiche Ausgangssituation gemein. Von außen nach innen gerichtete Transferprozesse weckten auf lokaler Ebene vorhandene Potentiale und lösten eine momentane oder anhaltende Änderung einer lebensweltlichen Komponente aus, welche unter Umständen wellenartig

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weitere Reaktionen in anderen Bereichen motivierte. Zwangsläu g wirken derartige Impulse in unterschiedlicher Ausprägung permanent auf lokal begrenzte Systeme, doch geht mit ihnen keineswegs kategorisch ein Änderungsimpetus einher. Zudem können die äußeren Ein üsse verschiedene Formen annehmen. Zum Teil, das machte der direkte Vergleich zwischen den benachbarten Mikrogesellschaften deutlich, genügen einfache Anstöße, zum Teil ist erst ein „Import“ von Ressourcen im weiteren Sinne oder von Stressoren erforderlich. Die Kraft, das bestehende System in seinen grundsätzlichen Funktionsprinzipien zu verändern, legen indes offenbar nur Verbünde einwirkender und tatsächlich wirksamer Anreize an den Tag. In diesem Kontext ist letztlich auch die Industrialisierung des 19. Jahrhunderts zu begreifen, die gemeinhin als Motor unter anderem grundlegenden gesellschaftlichen und demographischen Wandels beschrieben wird, jedoch davon ihrerseits auch maßgeblich zehrte. Die in den Untersuchungsorten gemachten Beobachtungen unterstreichen deren Charakter als diversitäres breitgefächertes Entwicklungsgefüge, das sämtliche Lebensbereiche beein usste und in seiner Form lokale Bedingungen spiegelte. Die attestierte hohe Abhängigkeit des Wandels von temporären oder kontinuierlichen externen Impulsen stach in den fokussierten Dörfern zu verschiedenen Zeiten mit besonderer Klarheit hervor. Jene mehr oder minder deutlichen kurzfristigen Auswirkungen krisenhafter Ereignisse zuvörderst auf die Demographie außer Acht lassend, sei zunächst an die angenommene lokale Initialzündung der Industrialisierung im 16. Jahrhundert erinnert. Geradezu ein Paradebeispiel der potentiellen nachhaltigen Wirkmacht einzelner Ein ussfaktoren auf eine Lebenswelt, trägt dieses Moment klare Züge einer ortsgebundenen Epochenzäsur. Indizienbeweise zeichnen für die vorangegangene, in der Ostkolonisation des 13. bis frühen 14. Jahrhunderts ihren Anfang nehmenden Epoche das Bild hochgradig statischer agrarischer Lebenswelten in Rußdorf und Bräunsdorf. Am Ende des Mittelalters hatten sich die Dorfgesellschaften und -ökonomien den herrschenden natürlichen wie kultürlichen Umweltbedingungen angepasst. Wirtschaftskreisläufe, Lebensläufe, soziale Kontroll- und Interaktionsmechanismen, die tägliche Arbeitsorganisation, das Mobilitätsverhalten etc. waren durch Zweckmäßigkeit gemäß den Gegebenheiten und Anforderungen der Umwelt charakterisiert, jedoch gleichermaßen durch unterschiedlichste soziokulturelle Zwänge und Traditionen determiniert. Dabei blieben die subsistenzwirtschaftlichen Systeme nicht in sich geschlossen. Um ihre Funktionalität in den beobachteten Mustern zu gewährleisten, bedienten sie sich teils naturgegebener, teils künstlicher Ventile. Bevölkerungszahl und wirtschaftliche Leistungskraft galt es durch soziale und administrative Regulationen im Gleichgewicht zu halten, sollten nicht zusätzlich zu den ohnehin periodisch auftretenden Krisen weitere provoziert werden. Grundsätzlich wirkten diese mehrheitlich einem unbändigen Bevölkerungswachstum entgegen. Die Basis dessen bildete nebst dem religiös motivierten kategorischen Konnex zwischen Ehe und legitimer Reproduktion eine offenbar ohne obrigkeitliche Sanktionierung praktizierte,

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somit allem Anschein nach allgemein anerkannte Bindung der Eheberechtigung an den Besitz einer oder die begründete Aussicht auf eine den Unterhalt einer Familie potentiell kontinuierlich sichernde Position innerhalb des lokalen sozioökonomischen Gefüges. Ob der über Jahrhunderte aufrechterhaltene Stellenzwang indes eine bewusste kollektive Maßnahme zur Vorbeugung sozialer Unsicherheit oder eher Ausdruck „sentimentaler“ Bestrebungen zur Bewahrung einer Haushalts- bzw. Stellenkontinuität war, kann ob fehlender individualbiographischer Quellen nicht veri ziert werden. Beständige Abwanderung weichender Erben auf freie Stellen in umliegenden Dörfern oder den aus genereller Übersterblichkeit auf Zuzug angewiesenen urbanen Raum stellte einen zweiten zentralen Faktor dar. Soziale Sicherheit gewährleistete in erster Linie der Stellenbesitz. Nachgeordnet wurde die Familie sowie letztlich die Heimatgemeinde in die Absicherungsp icht genommen. Städtischer Zunftzwang und herrschaftliche Gewerberegulierung begrenzten bzw. verhinderten nebst meist fehlenden lokalen Märkten auskömmlicher Größenordnung die Herausbildung einer breiten dörflichen Gewerbelandschaft, welche im urbanen Sinne sozioökonomische Positionen mit geringer oder bar jeder Landbindung ermöglicht hätte. So sehr die hochgradig autarke gemeinschaftliche rurale Subsistenzwirtschaft diesen Umstand über laienhafte handwerkliche Eigenproduktion begünstigte, so sehr erscheint sie zugleich als pragmatische Reaktion darauf. Das demographische Verhalten entsprach dem Bild einer statischen Gesellschaft mit langsamen Generationenfolgen und selektiver Reproduktion, genügte aber desgleichen den Anforderungen einer unsicheren Lebenswelt durch beständigen Geburtenüberschuss. Regelmäßig auftretende Krankheitswellen forderten mit einem naturgegebenen immunologisch bedingten Schwerpunkt auf der Kleinstkinder- und Seniorenschaft in allen Altersgruppen Opfer, wodurch zugleich der Markt sozioökonomischer Stellen in steter Bewegung gehalten wurde. Hohe Lebensalter waren unter diesen Umständen eine eher unwahrscheinliche Perspektive. Gleichwohl zählte ein vergleichsweise kleines Quantum alter bis sehr alter Personen zum üblichen Gesellschaftsbild. Nicht weniger alltäglichen Charakter hatten aus Wiederverheiratungen nach Verwitwung hervorgegangene Kernfamilien. Der Tod trat in allen Bereichen als fester Bestandteil des Lebens in Erscheinung. Mit ihm war zu rechnen und wurde auch gerechnet. Ein nach heutiger Lesart verfrühtes, mithin langfristig nicht planbares Lebensende spielte ebenso in das Gleichgewicht der spätmittelalterlichen Bevölkerungsweise wie die mit der präadoleszenten Sterblichkeit kalkulierende, das mögliche Fertilitätslimit unberührt lassende durchschnittliche eheliche Reproduktion. So ausbalanciert sich das sozioökonomisch-demographische System indes darstellte, so paradox und fragil wirkt es im Kontext des gegebenen Rechtswesens. Das prinzipiell bis ins 17. Jahrhundert geltende, aber in Rußdorf und Bräunsdorf nie angewandte Realteilungsprinzip stand einer statischen Gesellschaft konzeptionell im Wege, begünstigte vielmehr ein rasches destruktives, da binnen Kurzem in massenhaft prekären Verhältnissen mündendes Wachstum. Die Gründe der kollektiven Abkehr von diesem noch aus

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den Altsiedelgebieten herrührenden Regularium, mutmaßlich ein ausgeprägtes soziales und wirtschaftliches Bewusstsein, müssen vorerst im Dunkeln bleiben. In der Gegenwart bestimmen Gesellschafts- und Wirtschaftsordnungen sowie Bevölkerungsweisen die betrachteten Dörfer, welche mit jenen des Mittelalters wenig gemein haben. Direkt gegenübergestellt tritt ein geradezu radikaler Wandel deutlich zu Tage. Aus sich heraus gingen die relativ geschlossenen, freilich durch vielfältige wechselseitige Beziehungsge echte in einen agrarisch-demographischen Verbund gleichartiger Mikrosysteme eingebetteten Gemeinschaften keine derart tiefgreifenden Transformationsprozesse ein. Von ausschlaggebender Bedeutung erscheint dabei weniger die prinzipielle Möglichkeit, welche im Rahmen der unveränderlichen oder außerhalb des Zugriffs der lokalen Akteure liegenden natürlichen und kultürlichen Gegebenheiten zu jeder Zeit einen wenigstens kollektiven Entscheidungsspielraum zuließ denn ausgewählte neue Optionen oder veränderte Umweltbedingungen. In Ermangelung hinreichenden autobiographischen Quellenmaterials sind hierbei bewusste Verhaltensänderungen insbesondere im demographischen Bereich teils nur unzulänglich von unbewussten Reaktionen zu scheiden. Einer klaren Musterklassi kation entbehren ebenfalls die Folgeerscheinungen. In Anbetracht der in Rußdorf und Bräunsdorf gemachten Beobachtungen liegt es nahe, Veränderungen der relativ geschlossenen Systeme und ihrer Funktionsweisen kategorisch als Ergebnis in Endkonsequenz externer Impulse zu begreifen. Ohne Frage wirkten diese kontinuierlich infolge wechselhafter Umgebungsbedingungen, elen dabei aber nicht immer auf einen fruchtbaren Nährboden. Zunächst nahm die einsetzende Protoindustrialisierung des Vorerzgebirgsraumes, die beginnende ländliche Vergewerblichung, beide Dörfer in Beschlag. Obgleich die Aktenlage dazu schweigt bzw. höchstens mittelbar Auskunft gibt, sind die Folgen unverkennbar. Als externer Reiz fungierte im 16. Jahrhundert eine überregional gesteigerte Nachfrage billiger Leinwaren an den überregionalen Märkten, welche die städtischen Zünfte adäquat zu bedienen nicht in der Lage waren. Die Aushöhlung der repressiven Zunftzwänge durch eigene Mitglieder, die unter Beschäftigung ländlicher Heimarbeiter als frühe Verleger auftraten, führte schließlich zur obrigkeitlichen Konzessionierung der sich ausbreitenden ländlichen Leinweberei. Der Keim neuer, exogener ökonomischer Optionen traf in den Dorfgesellschaften auf ein reiches Potential an Personen einer- und Fähigkeiten andererseits. Diese fügten sich zudem in ein begünstigendes, notwendige räumliche Ressourcen offerierendes Umfeld ein. Von ebenso zentraler Bedeutung für die tatsächlich einsetzenden Entwicklungen war schließlich die Bereitschaft der Akteure, sich auf die „neuen“ Perspektiven einzulassen. Letztlich sprachen diese freilich lediglich den Gesellschaften ohnehin inhärente Ansprüche an und lösten typisches Verhalten in einem neuen Kontext aus, indem gerade Grundbesitzlose auf dem Land immer bestrebt sein mussten, nanzielle Mittel für ihren Lebensunterhalt und eventuellen Grunderwerb bzw. eine Heirat zu akquirieren. Letzteres setzte einen entsprechenden kollektiven ideo-

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logischen Grundkonsens über die anzustrebende wie einforderbare Norm einer Vita voraus. Die Ausbreitung der marktorientierten dörflichen Textilproduktion unter den Landbesitzlosen mündete in der Erweiterung der traditionellen Sozialstruktur als beinahe zwangsläu ge Reaktion auf die sich ergebende Interessengemengelage. Mit einem de facto geregelten Einkommen hatten die Textilhandwerker gemäß geltender Lebensvorstellungen gewissermaßen Anrecht auf eine Familiengründung, doch entbehrten sie dazu des Grundbesitzes. Die neuen Einkommensmöglichkeiten schufen eine aus bäuerlichem Besitz nicht zu deckende Nachfrage. Abhilfe brachte die stufenweise, zunehmend tollkühnere Parzellierung, welche unter den gegebenen Bedingungen erst durch das Dorfhandwerk ermöglicht wurde. Sie vollzog sich mutmaßlich dennoch nur dank Bedienung persönlicher Interessen auf breiter Ebene. Neben den schneller oder überhaupt eine Perspektive im ländlichen Raum erhaltenden unmittelbaren Akteuren schlugen die Besitzer der Muttergüter aus der Veräußerung kleiner Land ächen Gewinn und pro tierte die vetoberechtigte Herrschaft von zusätzlichen Gewerbesteuer- und Zinseinnahmen. Die sukzessive Aushöhlung des traditionellen Systems sozialer Sicherheit wurde dabei entweder übersehen oder wissentlich ökonomischen Prämissen geopfert. Grundsätzliche Änderungen der gesellschaftlichen Interaktionsprinzipien, etwa im Heiratsverhalten, blieben, der zwangsläu g folgenden soziostrukturellen Ausdifferenzierung ungeachtet, aus. Desgleichen gingen keine qualitativen Änderungen der Bevölkerungsweise daraus hervor. Die alten Regulationsmechanismen, welche Bevölkerungsund Stellenzahl bzw. Nahrungsmittelspielraum in der Waage hielten, bestanden leicht modi ziert fort. Zwangsweise nahm die Einwohnerschaft in den Untersuchungsorten mit Vermehrung der Güter und diese bewohnender Familien zu, jedoch weder exponentiell noch ungehemmt. Der signi kanteste beobachtbare demographische Prozess der protoindustriellen Zeit, die schichtenübergreifende Zunahme der Säuglingssterblichkeit und in Reaktion darauf auch der durchschnittlichen familiären Kinderzahl, zeigt keinen erkennbaren Zusammenhang mit dem sozioökonomischen Wandel. Wiederum kommen in Anbetracht der auffälligen Parallelität zwischen Rußdorf und Bräunsdorf exogene Ursachen als Auslöser in Betracht. Auf beide Dörfer wirkten Reaktionen motivierende, wiederkehrende äußere Einüsse zumeist zeitlich begrenzt und lösten ebenso kurzfristige Reaktionen vor allem im demographischen Bereich aus. Diese manifestierten sich in erster Linie in vermehrter oder verminderter Fertilität, Heiratsfreudigkeit oder Sterblichkeit, sekundär zum Beispiel in veränderten durchschnittlichen familiären Kinderzahlen, veränderten Geburtenintervallen und unter Umständen zeitlich versetzt in erhöhten Zu- oder Abwanderungsraten. Tatsächliche Umformungen der lokalen Bevölkerungsweise, des sozioökonomischen Gefüges oder der bestehenden Ordnung selbst ließen sich dagegen nur in wenigen Ausnahmefällen, durchweg eingebettet in überregionale Vorgänge, nachweisen.

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Gleichfalls auf von außen nach innen gerichteten, diesmal jedoch fachkenntlichen Transferprozessen, beruhte die Ausbreitung der Strumpfwirkerei ab Mitte des 18. Jahrhunderts. Nachdem eine Einzelperson das Gewerbe mit obrigkeitlicher Unterstützung nach Limbach gebracht, als Verleger einen Marktanschluss hergestellt und seine Ausbreitung zur eigenen Gewinnsteigerung vorangetrieben hatte, wurde es bewusst in persona weniger Gewerbetreibender nach Rußdorf eingeführt, um die dort herrschenden strukturellen Bedingungen für eine anders nicht zu erreichende Innungsgründung zu nutzen. Die 1745 erlangte landesherrliche Konzessionierung brachte zugleich eine ökonomisch bedeutsame Möglichkeit zur Kontrolle der Heimarbeiter in der Region mit sich und stellte durch das angebundene Ausbildungsrecht eine wichtige Voraussetzung für die regionale Verbreitung des zünftigen Handwerks dar. Zur Blüte gelangte das Strumpfwarengewerbe in Rußdorf jedoch erst im 19. Jahrhundert, als die gewirkten Textilien zur Massenware mutierten und die traditionelle Leinweberei in die Krise geriet. In Bräunsdorf setzte es sich hingegen nie richtig durch. Vor 1800 blieb die Ansiedlung und Ausbreitung der Strumpfwirkerei in den betrachteten Dörfern ohne nennenswerte demographische oder soziale Auswirkungen, während sie in Limbach zu einem Aufschwung und massiven Bevölkerungszuwachs führte. In Rußdorf mündete die Initiative des Wirts, ungenutztes Land gleich seiner Grundherrschaft zuvor zu parzellieren, gewinnbringend zu veräußern und zudem eine pseudogrundherrliche Abhängigkeit mit separaten Fronen zu schaffen, in einem demographischen Aufschwung. So attraktiv das Angebot gerade für Grundbesitzlose schien, wurde es dennoch nicht erschöpfend genutzt und gerade in einer zweiten Verkaufsphase vornehmlich von Auswärtigen rezipiert. Mitte des 18. Jahrhunderts bestand daher am Ort eindeutig ein Überangebot sozioökonomischer Stellen, obgleich die Rußdorfer Bevölkerungsentwicklung seit dem ausgehenden 17. eine steigende Tendenz zeigte. Doch auch mit den Zuzüglern, die das Verhältnis der Besitzschichten endgültig verschoben, kam keine ungehemmte Zunahme der Einwohnerschaft, kein Aufbruch des auf Beständigkeit ausgerichteten traditionellen Systems zustande. Die zeitlich begrenzte Ausweitung des Berufsgruppenspektrums um einige Gewerbe, die dank des Bevölkerungswachstums nun auch auf dem Land prosperieren konnten, erscheint hier als bedeutendste Auswirkung. Erst 19. und 20. Jahrhundert trugen in vielerlei Hinsicht den Charakter tatsächlicher Wendezeiten. Die vielgestaltige Industrialisierung, die beginnende und den Alltag sukzessive durchdringende Säkularisierung, Gewerbefreiheit und staatliche Agrarreformen waren makrohistorische Entwicklungen, die freilich selten und keinesfalls ausschließlich in den betrachteten Dörfern ihren Anfang nahmen, aber durchaus auch dort stattfanden und interdependent weiter vorangetrieben wurden, mithin also auf unterschiedlichen Wegen von außen in die Lokalsysteme hineingetragen worden waren. Seinen Ausdruck fand dies unter anderem in der Abkehr vom soziodemographischen Regularium des Stellenmechanismus sowie im Beginn eines dörflichen Immobilienhandels, was einem

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von äußeren Faktoren unbeschränkten exponentiellen Bevölkerungswachstum den Boden bereitete. Jedoch offenbarte die Entwicklung der Einwohnerzahlen beider Orte im direkten Vergleich einen entscheidenden Ein uss wirtschaftsstruktureller Diskrepanzen. Während Bräunsdorf weitestgehend der fachlich-personellen Voraussetzungen einer Teilnahme am strumpfwirkereidominierten regionalen Industrialisierungsprozess und damit zur Ausbildung einer starken Sogwirkung entbehrte, weswegen es eher als industrieller Randbezirk in Erscheinung trat, präsentierte sich Rußdorf als Teil eines multilokalen Akkumulationsraumes. Dem Vorbild externer erfolgreicher Verleger und Fabrikanten nacheifernd, stiegen einige Ortsansässige bei wachsenden Absatzmärkten in das Unternehmertum ein. Zuzügler trugen ein weiteres Standbein der sächsischen Industrialisierung, den Maschinenbau, in die Dorfwirtschaft hinein. Die Fabriklandschaft differenzierte aus. Der expandierende Arbeitsmarkt und das sich entwickelnde kleinstädtische Milieu zogen Arbeiter und auch weitere Gewerbe an, wodurch die ohnehin statt ndende Bevölkerungszunahme noch deutlich verstärkt wurde. Mit der Fabrikindustrialisierung hielt eine neue wachstumsorientierte Wirtschaftsethik Einzug. Konsumverhalten wie Zeitvorstellungen unterlagen einem radikalen Wandel und in kultureller Hinsicht griff Säkularisierung weiter Raum, wo zuvor religiöse Dogmen in Verbindung mit sozioökonomischen und natürlichen Zwängen das Leben maßgeblich bestimmt hatten. Letztlich sahen sich auch kleinteilige, teils durch Gemeindegrenzen de nierte Traditionsräume aufgebrochen und durch steigende Mobilität äußeren Ein üssen stärker preisgegeben. Auch infolgedessen elen alte sozioökonomische Regulative und Strukturmechanismen, was die Soziale Frage heraufbeschwor und das moderne Versicherungswesen ersatzweise aufleben ließ. Schließlich bildete sich im späten 19. Jahrhundert eine für die Untersuchungsorte völlig neue Bevölkerungsdynamik heraus. Den Ausschlag gab allem Anschein nach abermals eine überregionale, von außen in die Dörfer getragene, allerdings in Ermangelung autobiographischen Quellenmaterials unbestimmte Entwicklung. Mit hoher Wahrscheinlichkeit ist diese vor allem mit der sich Ende des 19. Jahrhunderts rasch ausbreitenden Hygienebewegung, gepaart mit entscheidenden Fortschritten in der Lebensmittelkonservierung, zu identi zieren, welche unter anderem stark zur Senkung der Säuglings- und Kindersterblichkeit ab den 1890er Jahren beitrug. Die Überlebenswahrscheinlichkeit der Jüngsten stieg im frühen 20. Jahrhundert rasant an. Relativ rasch stellte sich das allgemeine generative Verhalten darauf ein, indem die familiären Kinderzahlen seitens der Eltern sicherlich zum Großteil aus ökonomischen Beweggründen zunächst beschränkt und noch vor Ende des Untersuchungszeitraums 1935 in diesem neuen geringen Quantum geplant wurden. Zur gesellschaftlichen Reproduktion genügte selbst die dörfliche Geburtenrate seit den 1920er Jahren nicht länger. Die traditionelle, über Jahrhunderte konzeptionell unveränderte Bevölkerungsweise hatte sich binnen 30 Jahren radikal gewandelt. Jedoch lag die Veränderung keineswegs im Wechsel von ungebremster Fertilität zu geburten-

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planerischem Verhalten. Vielmehr sahen sich offenbar grundlegende Motivationen zur eigenen Reproduktion und deren Gestaltung sowie die Einstellung zum Kind als solchem hinterfragt. Ohne dies hätte die bloße Senkung der Kleinstkindmortalität kaum in Reduzierung der durchschnittlichen absoluten familiären Kinderzahl gemündet. Andere gleichzeitige Wandlungen, etwa die in den 1920er Jahren steigende Lebenserwartung auch Erwachsener, der epidemiologische Übergang, welcher dem plötzlichen Tod seinen Schrecken nahm, der langfristige arbeitsweltliche Wandel sowie die „Verstädterung“ des protoindustriellen ruralen Raumes und die völlige Neude nition der Prinzipien sozialer Sicherheit etc. spielten unfraglich in die Transition der Bevölkerungsweise um 1900 hinein. Am Ende des Untersuchungszeitraums hatte sich die Gesellschaft Sachsens bereits in eine industrielle gewandelt, die ein modernes Reproduktionsgebaren mit geringem Menschenumsatz p egte und in den meisten Belangen stark von der älteren protoindustriellen bzw. ursprünglichen agrarischen abwich. Berufe des sekundären Sektors, inzwischen meist fabrikindustriellen Habitus, dominierten den Arbeitsmarkt, in Rußdorf bereits dicht gefolgt von jenen des Dienstleistungsbereichs. Monotone Arbeitsrhythmen strukturierten das Leben der Bevölkerungsmehrheit. Der marktwirtschaftliche Puls gab den Takt vor. Traditionelle religiöse und soziale Riten bzw. Kontrollmechanismen hatten ihre Macht weitestgehend eingebüßt. Staatliche Behörden übernahmen deren Funktionen nur elementar, verweigerten etwa geächteten partnerschaftlichen Verbindungen die Anerkennung bzw. sanktionierten sie gar strafrechtlich. Heiraten und Konzeptionen verteilten sich daher nun gleichmäßiger denn je über das Jahr. Die Wahl von Hochzeits- und Taufdaten gehorchte in erster Linie persönlichen Präferenzen und arbeitszeitlichen Diktaten. Hingegen wachten Heiratswillige innerhalb der legislativen Grenzen jetzt selbst nahezu umfänglich über ihre Rechte und de nierten weitgehend eigenständig die Gestalt des einzufordernden Heiratsfonds eines Partners. Das tradierte, bevölkerungsregulierende Stellenprimat büßte rapide fortschreitend an Bedeutung ein, indem Haushaltskontinuitäten ihre Attraktivität verloren, kollektive Absicherungssysteme für Krankheit, Alter und Arbeitslosigkeit familiären und immobilen Rückhalt zunehmend obsolet machten sowie berufliche Ausbildung dem System enger bekannt- und verwandtschaftlicher Netzwerke zugunsten „anonymer“ Dienstleister enthoben wurde. Generell griffen Anonymisierung und Individualismus um sich, auch da der Konnex zwischen sozialer Umgebung des Einzelnen und leistungserbringender Gesellschaft aus dem unmittelbaren persönlichen Emp nden schwand, was freilich im ruralen Raum langsamer denn im urbanen vonstattenging. Das „Ausbleiben“ positiver Hemmnisse, insbesondere von Hunger und Seuchen stärkte das Sicherheitsemp nden der Bevölkerung zwangsläu g mit Ausweitung des zeitlichen Abstands und degradierte gleichzeitig die überkommenen Elemente sozialer Sicherheit. Zum Beispiel dienten Immobilien immer mehr ausnehmend repräsentativen und Komfortzwecken, zumal die sich durchsetzende allgemeine Trennung von Arbeitsplatz und Wohnraum deren Besitz obsolet

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machte. Gänzlich gefeit gegen Krisen alten Typs war jedoch auch die Industriegesellschaft nicht. Wie stark die erlangte Sicherheit trügen konnte, beweisen etwa die beiden Weltkriege des 20. Jahrhunderts, die Weltwirtschaftskrise 1929 oder die Spanische Grippe 1918/1919. Ob ein kollektiv verändertes Risikobewusstsein bzw. eine gewandelte Lebenssicht zusätzlich in die kurzfristige Umstellung des generativen Verhaltens hin zur Reproduktionsminimierung spielte, war nicht nachweisbar. Dennoch darf solches als wahrscheinlich angenommen werden. Anders ist kaum zu erklären, dass der Nutzenfaktor eines Kindes offensichtlich nach 1900 einer kollektiven Neubewertung unterzogen wurde. Das gewonnene Bild zweier Kleinstgesellschaften im quantitativen und qualitativen Wandel verschiedener Faktoren innerhalb mehrerer Jahrhunderte überrascht prinzipiell freilich wenig. Lebensweltliche Veränderungen sind weniger Ausnahme denn Regel und dürfen in kleinen, per se unbeständigen Systemen öfter erwartet werden als in großen Bezugsräumen. Ebenso wenig stellen die nachvollzogenen engen Interdependenzen zwischen Wirtschaft, Gesellschaft und Demographie einen Sonderfall dar. Diese drei hervorgehobenen Bereiche bilden lediglich einen Teil eines unüberschaubaren reaktiven Ge echts das soziale Ökosystem determinierender natürlicher und kultürlicher Faktoren. Schließlich stehen auch die beobachteten Transitionsprozesse nicht allein, sondern können, wenngleich zu unterschiedlichen Zeitpunkten, mit vergleichbaren Ausgangsund Endbedingungen unter dem Ein uss industrieller Entwicklung weltweit nachgewiesen werden. Die Gegenüberstellung der vorgefundenen Situationen und Prozesse in Rußdorf und Bräunsdorf mit den in anderen Untersuchungen identischer Ausrichtung beschriebenen verdeutlicht dagegen einmal mehr die Mannigfaltigkeit in Ausformung und Verlauf lebensweltlichen Wandels in all seinen Facetten. Obgleich einander ähnelnde Dynamiken für gewöhnlich ähnliche Auswirkungen zeitigen, bedingt die Vielfalt insbesondere auf mikroregionaler Ebene eine faktische Unmöglichkeit, umfassende Verlaufstheorien für die soziodemographische Entwicklung zu de nieren. Innerhalb der hochgradig durch individuelle Lebensläufe und -vorstellungen sowie unzählige Umgebungsbedingungen beein ussten Mikrosysteme wird der Sonderfall zur Regel erhoben. Die konsequent hohe Bedeutung exogener Faktoren bzw. von außen nach innen gerichteter personeller, wissens- und erfahrungsbezogener, kultureller etc. Transferprozesse ist Ausdruck dessen und indiziert zugleich eine geringe Veränderungsfreudigkeit oder -fähigkeit grundlegender Mechanismen aus sich heraus, die für Mikrogesellschaften symptomatisch sein mag. Überregionale Entwicklungen wie die Industrialisierung oder der demographische Übergang erscheinen vor diesem Hintergrund als evolutionäre Prozesse, bei denen sich interagierende Mikrosysteme, d. h. einzelne Ortschaften und deren Gesellschaften, gegenseitig selektiv durch interne Veränderungen, die als externe Reize auf andere Systeme abstrahlen, derart beein ussen, dass letztendlich eine Bewegung auf der Makroebene, im nationalen oder globalen Bereich, fassbar wird.

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Zahlreiche mehr oder minder tiefgreifende Veränderungsprozesse in Wirtschaft, Gesellschaft und Bevölkerung konnten zwischen 16. und 20. Jahrhundert beobachtet werden. Kirchliche und weltliche Archive bergen eine Vielzahl personenbezogenen Schriftguts, das teils eindrücklich von den sich wandelnden historischen Lebensrealitäten der vergangenen fünf Jahrhunderte erzählt. Die vorliegende Untersuchung stellt einen aus Sicht der internationalen Forschung weiteren, in Sachsen jedoch in dieser Form ersten Versuch dar, vorhandenes mikrohistorisches Datenmaterial vor allem über Aggregation vitaler Ereignisdaten und Rekonstruktion komplexer sozialer Strukturen im Kontext zeitgenössischer Umgebungsbedingungen zum Sprechen zu bringen. Steuerverzeichnisse, Gerichts- und Handelsbücher, Personenstandsakten etc. entstanden im profanen Leben und sind gleichermaßen Resultat massenhafter individueller Präsenz wie Ausdruck gesellschaftlicher Organisationsprinzipien. Abhängig von ihrer Entstehungsgeschichte geben die Schriftquellen, deren Akkuratesse zudem per se in Frage steht, lediglich ereignisbezogen Bruchstücke historischer Lebenswelten wieder. Isoliert betrachtet beschränkt sich ihr Wert auf die Wiedergabe eines Einzelvorgangs oder eine inhaltlich begrenzte, fragestellungsorientierte Situationsbeschreibung. An Aussagekraft gewinnen die Daten durch Akkumulation in Kohorten eines Ereignistyps und deren Kontextualisierung. Dennoch bleibt das Bild alltäglicher historischer Lebensrealitäten bruchstückhaft. Erst die umfassende Verknüpfung einzelner Ereignisdaten mit den beteiligten Akteuren sowie deren geographische Verortung vermittelt einen organischen, realitätsnahen Eindruck vergangener Lebenswelten. Die moderne computergestützte Quellenexegese bietet diesbezüglich völlig neue, stetig wachsende Möglichkeiten. Bei entsprechender Datendichte bietet sich darüber für die Historiographie erstmalig die potentielle Chance, Geschichte abhängig von der Güte der Überlieferung ganzheitlich zu schreiben. Was auf überregionaler Ebene derzeit noch undenkbar scheint, ist im lokalen und selbst regionalen Bereich theoretisch bereits praktikabel. Der zugrunde liegende Gedanke ist auf eine autonarrative Vergangenheitsbetrachtung, eine weitgehend interpretationsarme Rekonstruktion gerichtet, welche einerseits klassische Auswertungsmethoden vereinfacht und diesen andererseits neue Blickwinkel auf der Metaebene gestattet. Zum Beispiel wird es so denkbar, Gesellschaftsrekonstruktionen für beliebige Zeitpunkte innerhalb der Quellenlaufzeit gewissermaßen per Knopfdruck zu erstellen. Die vorliegende demographische, soziale und ökonomische Analyse der sächsischen Dörfer Rußdorf und Bräunsdorf gründet auf einer solchen relationalen Datensammlung. Obgleich in ihrer Datendichte über Erhöhung der Quellenvielfalt durchaus ausbaufähig, bietet diese bereits heute zahlreiche Forschungsmöglichkeiten, wie die freilich übliche Fragestellungen der Historischen Demographie aufgreifende Untersuchung zeigt. Eine Fortführung des Projekts wäre, ganz im Sinne Franz Blanckmeisters und Felix Burkhardts einerseits zum Ausbau des Potentials sowie zur Verfeinerung der methodisch-technischen Belange, andererseits um das sächsische bevölkerungsgeschichtliche Beispiel kleinteilig auch in größerem Maßstab nachvollziehen zu können,

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wünschenswert. Immerhin war Sachsen nicht nur Vorreiter der deutschen und kontinentaleuropäischen Industrialisierung, sondern verfügt auch über einen ausgesprochen reichhaltigen Fundus bis ins Spätmittelalter reichender, dato weitgehend unerschlossener alltagsgeschichtlicher Quellen.

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LITERATUR

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QUELLEN Abschnitt Trauer, in: Chemnitzer Verlag und Druck GmbH & Co. KG (Hg.), Freie Presse Chemnitz, 1. August 2015. Adressbuch der Landgemeinden des Herzogtums Sachsen-Altenburg. Ostkreis, Altenburg 1910. Adreßbuch der Stadt Chemnitz mit 78 Orten der Umgebung. 1928, Chemnitz 1928. Gesetz, betreffend die Invaliditäts- und Altersversicherung, 22.06.1889, in: Deutsches Reichsgesetzblatt, Bd. 1889, Nr. 13, S. 97–144. Gesetz, betreffend die Krankenversicherung der Arbeiter, 15.06.1883, in: Deutsches Reichsgesetzblatt, Bd. 1883, Nr. 9, S. 73–104. Gesetz über die Beurkundung des Personenstandes und die Eheschließung, in: Deutsches Reichsgesetzblatt, Bd. 1875, Nr. 4, S. 23–40. Sebastian, Christophorus Henricus, Dissertatio iuris gentium de iuramento iure gentium incognito, Leipzig 1752. Staats- und Adreß-Handbuch des Herzogthums Sachsen-Altenburg. 1833, Altenburg 1833. Staats- und Adreß-Handbuch des Herzogthums Sachsen-Altenburg. 1838, Altenburg 1838. Staats- und Adreß-Handbuch des Herzogthums Sachsen-Altenburg. 1843, Altenburg 1843. Staats- und Adreß-Handbuch des Herzogthums Sachsen-Altenburg. 1855, Altenburg 1855. Staats- und Adreß-Handbuch des Herzogthums Sachsen-Altenburg. 1869, Altenburg 1869. Staats- und Adreß-Handbuch des Herzogthums Sachsen-Altenburg. 1881, Altenburg 1881. Töpfer, Johannes, Landeskunde des Herzogthums Sachsen-Altenburg. Das Herzogthum SachsenAltenburg in geographischer, statistischer und topographischer Beziehung beschrieben, sowie mit historischen Bemerkungen versehen, Gera 1867. Unfallversicherungsgesetz, 06.07. 1884, in: Deutsches Reichsgesetzblatt, Bd. 1884, Nr. 19, S. 69– 111. Verordnung zur Ausführung des Personenstandsgesetzes vom 22.11.2008, Kapitel 5, § 31, Abs. 1 u. 2. Statistisches Landesamt des Freistaates Sachsen, Statistischer Bericht. Gestorbene nach Todesursachen im Freistaat Sachsen 2013. A IV 3–j/13, Kamenz 2014.

QUELLEN

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Esche-Museum Limbach-Oberfrohna (EMLO): I /3.1/20: Entstehung von Rußdorf seit 1445, kurzer handschriftlicher Abriss. I /3.15/05: Personenlisten von Rußdorf inkl. Grundstücksangaben und Daten zu den Bauerngütern: 1557, 1647, 1651, 1767, 1846. Chronik der Familie William Sebastian in Russdorf S.-A.

Evangelische Kirchengemeinde Bräunsdorf, Pfarrarchiv (EPA Bräunsdorf): KB I: Kirchbuch 1640–1795. KB II: Kirchbuch 1796–1828. KB III: Kirchbuch 1829–1852. KB IV: Taufregister 1853–1890. KB V: Trauregister 1853–1890. KB VI: Beerdigungsregister 1853–1891. KB VII: Kirchbuch 1891–1919. KB VIII: Taufregister 1920–1982. KB IX: Hochzeitsregister 1920–1997. KB X: Beerdigungsregister 1920–1991.

Evangelische Kirchengemeinde Jahnsdorf, Pfarrarchiv (EPA Jahnsdorf): KB III: Kirchbuch 1714–1782, Chronik.

Evangelische Kirchengemeinde Kaufungen, Pfarrarchiv (EPA Kaufungen): KB I: Kirchbuch 1552–1686.

Evangelische Kirchengemeinde Langenchursdorf, Pfarrarchiv (EPA Langenchursdorf]: KB I: Kirchbuch 1612–1684.

Evangelische Kirchengemeinde Rußdorf, Pfarrarchiv (EPA Rußdorf): KB I: Kirchbuch 1687–1800. KB II: Kirchbuch 1801–1840. KB III: Kirchbuch 1841–1855/1857. KB IV: Taufregister 1857–1873. KB V: Taufregister 1874–1875. KB VI: Taufregister 1876–1891. KB VII: Taufregister 1892–1905. KB VIII: Taufregister 1906–1929.

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LITERATUR

KB IX: Taufregister 1930–1935. KB X: Trauregister 1858–1875. KB XI: Trauregister 1876–1903. KB XII: Trauregister 1904–1935. KB XIII: Beerdigungsregister 1855–1875. KB XIV: Beerdigungsregister 1876–1899. KB XV: Beerdigungsregister 1900–1931. KB XVI: Beerdigungsregister 1932–1935. KB XVII: Beerdigungsregister 1935–1964.

Evangelische Kirchengemeinde Sayda, Pfarrarchiv (EPA Sayda): KB VII: Beerdigungsregister 1760–1799, Chronik.

Heimatstube Wittgensdorf: Riedel-Richtersche Chronik, 1790–1844.

Kreisarchiv des Landkreises Zwickau in Glauchau (KrA Gl): Limbacher Tageblatt und Anzeiger, 3. April 1928, Die Einbezirkung der Gemeinde Rußdorf nach Sachsen. Limbacher Tageblatt und Anzeiger, 24. März 1928, Nr. 72: Arbeitsjubiläum Arno Schmiedel. Limbacher Tageblatt und Anzeiger, 24. März 1928, Nr. 105: Jubiläum Paul Döring. Limbacher Tageblatt und Anzeiger, 29. September 1928, Nr. 229: Jubiläum Karl Uhl. Limbacher Tageblatt und Anzeiger, 1928, Nr. 231: Jubiläum. Limbacher Tageblatt und Anzeiger, 1938, Nr. 242: Zum 60-jähr. Todesjahr der Holzmühle im Rußdorfer Wald.

Sächsisches Staatsarchiv Staatsarchiv Chemnitz (SächsSTAC): 30040 Kreishauptmannschaft Zwickau, Nr. 1376: Die Staats- und Heimathsangehörigkeit respective Militairp icht Friedrich August Engelmanns aus Rußdorf im Altenburgischen, 1848. 30104 Amtsgericht Chemnitz (1879–1952), Nr. 6019–6032: Grund- und Hypotheken-Buch des Herzogl. Gerichtsamts 2 zu Altenburg für das Dorf und die Flur Russdorf. 30104 Amtsgericht Chemnitz (1879–1952), Nr. 6041: Grund- und Hypotheken-Buch des Patrimonialgerichts zu Kaufungen für das Dorf Bräunsdorf, Kaufunger Antheils. 30104 Amtsgericht Chemnitz (1879–1952), Nr. 5770–5772: Grund- und Hypotheken-Buch des Patrimonialgerichts zu Kaufungen für das Dorf Bräunsdorf, Schönburger Anteil. 30104 Amtsgericht Chemnitz (1879–1952), Nr. 5773–5774: Grund- und Hypotheken-Buch des Patrimonialgerichts zu Limbach für das Dorf Braeunsdorf, Limbachschen Antheils.

QUELLEN

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30119 Amtsgericht Limbach, Nr. 129: Firma M. Preßler & Co. in Rußdorf, 1900–1937. 30119 Amtsgericht Limbach, Nr. 428: Die Firma Ludwig Illgen in Bräunsdorf. 30119 Amtsgericht Limbach, Nr. 486: Die Firma Welker & Söhne in Oberfrohna. 30575 Gesamtkanzlei Glauchau, Nr. 704: Privatacten in Sachen des hohen Gesamthauses von Schönburg gegen die Krone Sachsen. Besitzstörung in der Lehnsherrlichkeit Bräunsdorf, 1847. 30575 Gesamtkanzlei Glauchau, Nr. 706: Fascikel die von mir hinsichtlich des Beweises der Afterlehnsherrlichkeit über Bräunsdorf quo ad possesserium und zugleich quo ad petitorium angestellten Erörterungen betr. Adv. Haendel. 30593 Herrschaft Waldenburg, Nr. 2622: des von Sachßen Gotha und Altenburg in Dorffe Rußdorff anzulegender gewißer Jahr- und Wochen Märckte zum Garn und Leinwand Verkauff 1737. 30593 Herrschaft Waldenburg, Nr. 3045: Die Rückgabe der Oeconomiepachtung auf dem Vorwerke Bräunsdorf, Seiten des bisherigen Pachters, Hn. Friedrich Daniel Fischer, an die Gutsherrschaft, 1857. 30593 Herrschaft Waldenburg, Nr. 3046: Die auf Requisition des Justizamtes Wechselburg erfolgte Consignation, Taxation und Subhastation der Hzn. Louis Eduard Kohtz zugehörigen Papiermühle zu Bräunsdorf, 1854. 30597 Herrschaft Penig, Nr. 183: Die Gemeinde zu Breunsdorff und ihre Lehensjunckere die von Maltitz, 1584–1643. 32863 Grundherrschaft Limbach, Nr. 219: Johann Christian Heyln, Bauer in Bräunsdorf, Limbachen Antheils, Impetrant an einem, entgegen Johann Gottfried Hoffmannen, Hochgräf. Einsiedelen Schaafmeistern zu Kaufungen, und deßen Schaafknecht zu Bräunsdorff, Samuel Friedrich Landgrafen, Impetranten andern Theils in pto. der von leztern sich angemaßten Schaaftrifft und Huthung über des erstern Grundstücken, und die daraus erwachßene Abpfändung 8. Stück Hammel, Anno 1767.

Sächsisches Staatsarchiv Hauptstaatsarchiv Dresden (HstA-D): GB Amt Chemnitz Nr. 339: Copialbuch der alten Lehnbriefe und theils darzu gehörige Churfürstl. gnädigste Befehlichte 1500–1625. 12613 GB Limbach, Nr. 1–9: Gerichtsbuch Bräunsdorf, 1672–1842. 12613 GB Penig, Nr. 10: Gerichtsbuch Kaufungen, 1624.

Sächsisches Staatsarchiv Staatsarchiv Leipzig (SächsStAL): 20578 Rittergut Wolkenburg und Kaufungen, Nr. 229, Das Salz-Wesen zu Kauffungen und Bräunsdorff, 1795–1839. 20578 Rittergut Wolkenburg mit Kaufungen, Nr. 245: Verzeichniss der aus den leztern Feldzügen nicht zurückgekehrten König. Sächß. Militair-Personen, 1822. 20578 Rittergut Wolkenburg und Kaufungen, Nr. 312: Rezeß mit den Untertanen der Rittergüter Bräunsdorf und Kaufungen über die Linderung der Frohndienste 1789.

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LITERATUR

20578 Rittergut Wolkenburg und Kaufungen, Nr. 316: Die Ablösung bei dem Ritterguthe Kaufungen mit Bräunsdorf, 1833–1835. 20578 Rittergut Wolkenburg und Kaufungen, Nr. 319: Bräunsdorf, die Ablösung der von den Unterthanen der Herrschaft zu leistenden Dienste, abzuentrichtenden Zinnsen und der von denselben zu erleidenden herrschaftlichen Schaafhuthungsbefugniße, 1836. 20578 Rittergut Wolkenburg und Kaufungen, Nr. 320: Ablösung der Frohnen u. Naturalzinsen bei den Rittergütern Kaufungen u. Bräunsdorf 1838. 20578 Rittergut Wolkenburg und Kaufungen, Nr. 321: Ablösung der Frohnen, Naturalzinsen u. Schaftrift bei den Rittergütern Bräunsdorf u. Kaufungen 1838.

Standesamt Limbach-Oberfrohna (SALO): Standesamt Rußdorf, Geburtenhauptregister: Standesamtliche Geburtenhauptregister Rußdorf 1901–1935. Standesamt Rußdorf, Heiratshauptregister: Standesamtliche Heiratshauptregister Rußdorf 1929– 1935. Standesamt Bräunsdorf, Geburtenhauptregister: Standesamtliche Geburtenhauptregister 1900– 1938. Standesamt Bräunsdorf, Heiratshauptregister: Standesamtliche Heiratshauptregister 1931–1938.

Stadtarchiv Chemnitz (StadtACH): A 50a: Adreßbuch der Umgebung von Chemnitz. Handels rmen und Gewerbetreibende sowie Gutsbesitzer, 1920.

Stadtarchiv Limbach-Oberfrohna (StALO): Chronik Frenzel: Ortschronik von Bräunsdorf. Rat der Gemeinde Bräunsdorf, Nr. 6: Einwohnerregister der Gemeinde Bräunsdorf 1898. Rat der Gemeinde Bräunsdorf, Nr. 31: Akten der Gemeinde-Verwaltung Bräunsdorf. Volkszählungen 1916–1925. Rat der Gemeinde Bräunsdorf, Nr. 98: Rechnung über die Verwaltung der Armenkasse zu Bräunsdorf bey Chemnitz auf das Jahr 1916. Rat der Stadt Oberfrohna, Nr. 1094: Ortsgesetze, 1894–1933. Rat der Stadt Oberfrohna, Nr. 1256: Fabrik- und Heimarbeiter-Zählungen 1935–1942. Rußdorf Gewerbeanzeigen, Nr. 29VA: 1820: Alphabetisches Verzeichnis der erteilten GewerbeAnzeige-Bescheinigungen, Gemeinde Ruhsdorf, 1930–1933. Rußdorf Nr. 35: Nachweisung über die Fortschreibung der Bevölkerung der Gemeinde Rußdorf Kreis Altenburg. Stadtrath zu Limbach, Abt. III. Abschn. 10b Nr. 1: Die Errichtung einer Strumpfwürcker-Innung alhier zu Limbach 1779.

QUELLEN

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Standesamt Bräunsdorf, Geburtenhauptregister: Standesamtliche Geburtenhauptregister Bräunsdorf 1876–1899. Standesamt Bräunsdorf, Heiratshauptregister: Standesamtliche Heiratshauptregister Bräunsdorf 1876–1930. Standesamt Bräunsdorf, Sterbehauptregister: Standesamtliche Sterbehauptregister Bräunsdorf 1876–1935. Standesamt Rußdorf, Geburtenhauptregister: Standesamtliche Geburtenhauptregister Rußdorf 1876–1935. Standesamt Rußdorf, Heiratshauptregister: Standesamtliche Heiratshauptregister Rußdorf 1876– 1935. Standesamt Rußdorf, Sterbehauptregister: Standesamtliche Sterbehauptregister Rußdorf 1876– 1935.

Thüringisches Staatsarchiv Altenburg (ThStA Abg): Amtsgericht Altenburg, C I Loc. 1, Nr. 136–237, 432–503: Handelsbücher des Gerichtsamts II Altenburg, 1604–1850. Amtsgericht Altenburg, C IV Loc. A Nr. 2: Grundbuch über den Gerichts- und Lehnsbezirk des Fürst. Sächß. Kreis-Amtes Altenburg Anno 1730. Amtsgericht Altenburg, D IV, Loc. 1 A, Nr. 10: Handels-Register des Herzogl. Sächs. Amtsgerichts zu Altenburg II. Band. Amtsgericht Altenburg, D IV Loc. 1 Bc. Nr. 165: Firma C. T. Engelmann Söhne in Rußdorf. Amtsgericht Altenburg, D IV. Loc. 1 Bc., Nr. 212: Firma Julius Schraps Nachfolger in Rußdorf. Amtsgericht Altenburg, D IV. Loc. 1 Bc., Nr. 545: Firma A. Niekamp & Co., Rußdorf. Familienarchiv Waitz/Wagner, Nr. 68. Finanzrechnungen, 19. A. 1 Nr. 20: Brandkataster des Gerichtsamts Altenburg II, 3. Band, M bis R., Nr. 67 Rußdorf, 1849–1879. Gerichtsamt II Altenburg, Nr. 297: Die Gründung eines Sterbekassen-Vereins ehrenhaft verabschiedeter Militär-Personen in Rußdorf, 1858–1875. Gerichtsamt II Altenburg, Nr. 313: Die Gründung eines Krankenunterstützungs- und Begräbnißkassen-Vereins im Dorfe Rußdorf, 1869–1870. Gerichtsamt II. Altenburg, Nr. 326, Die beabsichtigte Umwandlung der Strumpfwirkerinnung zu Russdorf in eine Gewerbsgenossenschaft, 1864–1882. Gewerbeverein, E., Nr. 15: Die auf Anordnung Herzoglich Hoher Landesregierung veranstaltete Ausloosung Russdorfer Strumpfwaaren, 1843. Herzogliches Finanzrechnungsarchiv, Abt. 14 Rep. XIV, Nr. 1b–139: Jahresrechnungen des Amts Altenburg und des St.-Georgen-Stifts zu Altenburg, 1537–1679. Landesregierung, Nr. 626: Die Verwechßelung derer Dörffer Ruhßdorff und Wolperndorff. Anno 1539.

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LITERATUR

Landesregierung, Nr. 778: Abraham Sebastians Wittbe und Erben zu Rußdorff erlangte Concession eine Mühle zubauen. Ao. 1718–1722. Landesregierung, Nr. 783: Die von Schönberg zu Limpach gegen Abraham Sebastians Witbe zu Rußdorff wegen angegebene Ableitung des Reinbachs auf ihre Mühle zum Nachtheil des erstern Mühle und Fischerey. Ao. 1721. Landesregierung, Nr. 4172: Die von dem Ambt Altenburg und denen dahinein bezirckten Rittergüthern eingeschickte Speci cationes der jungen Mannschafft 1733. Landesregierung, Nr. 9386: Cantzley-Acta Des Amts Richter Christoph Sebastians zu Rußdorff gesuchte Privilegium exclusivum auf seinen daselbst besitzenden Gasthoff betr. Ao. 1765. Landesregierung, Nr. 11934: Die von denen Strumpffwürckern zu Rußdorff, Johann David Eschen und Consorten gesuchte Ertheilung einer Innung und Beschwerde über die Pfuscherey betr. Ao. 1744, 1745, 1751 u. 55. Landesregierung Nr. 19159: Der Gemeinde und Gerichte zu Rußdorf Beschwerde gegen das Altenburgische Amt Anno 1724. Landratsamt Altenburg, Nr. 3345: Das Statut der Filiale Rußdorf und Umgebung des Deutschen Textilarbeiter- und Arbeiterinnen-Verbandes (Sitz Berlin), 1903. Landratsamt Altenburg, Nr. 3346: Die Versammlung der Textil-Arbeiter in Rußdorf, 1903–1908. Landratsamt Altenburg, Nr. 4224: Hauptbuch des allgemeinen Kranken-Unterstützungs-Vereins für Rußdorf. Landratsamt Altenburg, Nr. 4228: die Abänderung der Statuten des Krankenunterstützungs- und Begräbnißkassen-Vereins in Russdorf, 1870–1892. Landratsamt Altenburg, Nr. 4240: Das Statut der Orts-Krankenkasse in Rußdorf, 1883–1903. Landratsamt Altenburg, Nr. 4271: Die Gründung einer Betriebskrankenkasse der Firma C. G. Geissler Nachf. i. Rußdorf b. L., 1894–1899. Obersteuerkollegium Nr. 107: Steuer-Revision Anno 1552. Obersteuer Kollegium Nr. 246: Steuer-Revision de ao: 1651. Obersteuer Kollegium Nr. 262a: I. B. a. Steuer-Anschlag von Rußdorf 1725 No. 33a. Obersteuer Kollegium Nr. 274: Steuer-Anschlag von Rußdorf de Anno 1769. Obersteuerkollegium, Nr. 1226: Die Steuer-Revision zu Ruhsdorff. Wegen einiger daselbst be ndlichen Huffen Landes, so bißhro nicht vergeben worden, und die darauf bey fürstl. Ober-SteuerEinnahme ergangene Verfügungen anbetreffendl. Ao. 1719, 1720, 1721, 1722, 1723, 1724, 1725, 1726. Repertorium II, Ablösungsakten d. Generalkommission, Lit. R. Nr. 7: Die Ablösung der Lehngeld und Grundzinsgerechtsame des Herzog. Staats skus in Rußdorf betreffen, 1851. Repertorium II, Ablösungsakten d. Generalkommission, Lit. R. Nr. 11: Die Ablösung gewisser Grundzinsgerechtsame des Sebastianischen Gasthofs in Rußdorf, 1852. Repertorium II, Ablösungsakten der Generalkommission, Lit. R. 96: Die Ablösung der Grundzinsgerechtsame der Schule zu Rußdorf, 1859. Repertorium II, Ablösungsakten der Generalkommission, Lit R. 97: Die Ablösung der Grundzinsgerechtsame der Pfarrei Rußdorf, 1859.

QUELLEN

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Sammlung Wagner – Wagners Kollektaneen Bd. 7: Friedrich, A./Wagner, K., Collectanea Zur Geschichte des Herzogtums Altenburg, Bd. 7. Steuer- u. Rentamt Altenburg, Nr. 119: Die Versicherung der Gebäude der Landes-Brandversicherungs-Anstalt zu Altenburg von Rußdorf, Vol. I, 1879–1888. Steuer- u. Rentamt Altenburg, Nr. 120: Allgemeine Revision der Brandversicherungsschätzungen in Russdorf, Vol. II, 1889; Steuer- u. Rentamt Altenburg, Nr. 121: Brandversicherungsschätzungen in Russdorf, Vol. III, 1889–1900.

TABELLENVERZEICHNIS

Tabelle 1: Rußdorfer Geburten nach Dekadenkohorten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Tabelle 2: Bräunsdorfer Geburten nach Dekadenkohorten . . . . . . . . . . . . . . . . . Tabelle 3: Monatliche Verteilung der Rußdorfer Konzeptionen . . . . . . . . . . . . . Tabelle 4: Monatliche Verteilung der Bräunsdorfer Konzeptionen . . . . . . . . . . . Tabelle 5: Totgeburten nach Geschlechtern im Verhältnis zu den Geburtenzahlen Tabelle 6: Saisonale Totgeburtigkeit gemessen an der saisonalen Geburtigkeit . . . Tabelle 7: Wiederholte Totgeburtigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Tabelle 8: Nottaufen nach Geschlechtern im Verhältnis zu den Geburtenzahlen . . Tabelle 9: Rußdorfer Hochzeiten nach Dekadenkohorten . . . . . . . . . . . . . . . . . Tabelle 10: Bräunsdorfer Hochzeiten nach Dekadenkohorten . . . . . . . . . . . . . . Tabelle 11: Monatliche Verteilung der Rußdorfer Hochzeiten . . . . . . . . . . . . . . Tabelle 12: Monatliche Verteilung der Bräunsdorfer Hochzeiten . . . . . . . . . . . . Tabelle 13: Mindestanteil lebenslänglich Lediger nach Geburtenkohorten in Rußdorf und Bräunsdorf . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Tabelle 14: Entwicklung des Heiratsalters nach Dekaden und Jahrhunderten . . . . Tabelle 15: Prozentuale Verteilung der Erstheiratenden nach Altersklassen in Rußdorf und Bräunsdorf . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Tabelle 16: Verteilung der Erstheiratenden nach Altersklassen 16 bis 30 in Rußdorf und Bräunsdorf . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Tabelle 17: Erstheiratsalter der Männer nach eigenem Besitzstand in Rußdorf und Bräunsdorf . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Tabelle 18: Entwicklung des Wiederverheiratungsalters nach Dekaden und Jahrhunderten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Tabelle 19: Prozentuale Verteilung der wiederholt Heiratenden nach Altersklassen in Rußdorf und Bräunsdorf . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Tabelle 20: Ehedauer nach Heiratsjahrgängen in Rußdorf und Bräunsdorf . . . . . Tabelle 21: Herkunftszusammensetzung der Brautpaare und Niederlassungshäu gkeit in Rußdorf . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Tabelle 22: Herkunft ortsfremder Rußdorfer Brautleute . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Tabelle 23: Herkunftszusammensetzung der Brautpaare und Niederlassungshäu gkeit in Bräunsdorf . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Tabelle 24: Herkunft ortsfremder Bräunsdorfer Brautleute . . . . . . . . . . . . . . . . . Tabelle 25: Rußdorfer Sterbefälle nach Dekadenkohorten . . . . . . . . . . . . . . . . . Tabelle 26: Bräunsdorfer Sterbefälle nach Dekadenkohorten . . . . . . . . . . . . . . . Tabelle 27: Monatliche Verteilung der Rußdorfer Sterbefälle . . . . . . . . . . . . . . . Tabelle 28: Monatliche Verteilung der Bräunsdorfer Sterbefälle . . . . . . . . . . . . .

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83 96 109 111 124 125 126 129 143 153 167 168

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185 190

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196

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198

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200

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207

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208 214

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222 226

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230 233 244 249 273 276

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540

TABELLENVERZEICHNIS

Tabelle 29: Gewichtung der hauptsächlichen Todesursachen in Rußdorf und Bräunsdorf . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Tabelle 30: Todesursachenhäu gkeit nach Altersgruppen, Berufsgruppen u. Ständen in Rußdorf . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Tabelle 31: Todesursachenhäu gkeit nach Altersgruppen, Berufsgruppen u. Ständen in Bräunsdorf . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Tabelle 32: Durchschnittliche Lebenserwartung nach Sterbejahrgängen in Rußdorf und Bräunsdorf . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Tabelle 33: Anteil spezi scher Altersgruppen an der Totenzahl nach Dekaden in Rußdorf und Bräunsdorf . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Tabelle 34: Anteil spezi scher Altersgruppen an der Geburtenzahl nach Dekaden in Rußdorf und Bräunsdorf . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Tabelle 35: Durchschnittliche absolute und relative familiäre Kinderzahl in Rußdorf Tabelle 36: Anteil einzelner Familiengrößen an der Gesamtfamilienzahl ohne Kinderlose in Rußdorf . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Tabelle 37: Vergleichende intervallübergreifende Verteilungsmuster der absoluten und relativen Familiengrößenkategorien in Rußdorf . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Tabelle 38: Durchschnittliche absolute und relative Kinderzahl nach Schichten in Rußdorf . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Tabelle 39: Durchschnittliche absolute und relative familiäre Kinderzahl in Bräunsdorf . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Tabelle 40: Vergleichende intervallübergreifende Verteilungsmuster der absoluten und relativen Familiengrößenkategorien in Bräunsdorf . . . . . . . . . . . . . . . . . Tabelle 41: Durchschnittliche absolute und relative Kinderzahl nach Schichten in Bräunsdorf . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Tabelle 42: Entwicklung der durchschnittlichen familiären Geburtenintervalle in Rußdorf 1610–1819 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Tabelle 43: Entwicklung der durchschnittlichen familiären Geburtenintervalle in Bräunsdorf 1640–1819 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Tabelle 44: Anteil vorehelicher Sexualität an der Geburtigkeit in Rußdorf und Bräunsdorf . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Tabelle 45: Akteure der Rußdorfer Flurparzellierung 1680–1720 . . . . . . . . . . . . . Tabelle 46: Akteure der Rußdorfer Flurparzellierung 1729–1762 . . . . . . . . . . . . . Tabelle 47: Rußdorfer Hausgenossen 1769 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Tabelle 48: Akteure der Bräunsdofer Flurparzellierung 1684–1738 . . . . . . . . . . . . Tabelle 49: Akteure der Bräunsdorfer Flurparzellierung 1784–1814 . . . . . . . . . . . Tabelle 50: Akteure der Bräunsdorfer Flurparzellierung 1836–1846 . . . . . . . . . . .

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281

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284

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286

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296

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298

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300 312

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313

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315

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317

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319

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320

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321

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332

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339

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349 379 382 386 395 397 399

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ABBILDUNGSVERZEICHNIS

Abbildung 1: Rußdorfer Bevölkerungs-, Wohnhaus- u. Haushaltsentwicklung . . . . Abbildung 2: Bräunsdorfer Bevölkerungs-, Wohnhaus- u. Haushaltsentwicklung . . Abbildung 3: Jährliche Rußdorfer Konzeptionszahlen und Leipziger Roggenpreisindex 1582–1799 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Abbildung 4: Rußdorfer Geburten- und Konzeptionszahlen 1800–1935 . . . . . . . . Abbildung 5: Jährliche Bräunsdorfer Konzeptionszahlen und Leipziger Roggenpreisindex 1640–1799. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Abbildung 6: Bräunsdorfer Geburten- und Konzeptionszahlen 1800–1935 . . . . . . Abbildung 7: Geburtenzahlen nach Dekaden für Sachsen, Rußdorf und Bräunsdorf im Vergleich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Abbildung 8: Monatlicher Index der Rußdorfer Konzeptionen . . . . . . . . . . . . . . . Abbildung 9: Monatlicher Index der Bräunsdorfer Konzeptionen . . . . . . . . . . . . . Abbildung 10: Intervalle zwischen Geburten und Taufen in Rußdorf . . . . . . . . . . Abbildung 11: Intervalle zwischen Geburten und Taufen in Bräunsdorf . . . . . . . . Abbildung 12: Wochentägliche Verteilung der Rußdorfer Taufen . . . . . . . . . . . . . Abbildung 13: Wochentägliche Verteilung der Bräunsdorfer Taufen . . . . . . . . . . . Abbildung 14: Totgeburtenanteile an den Rußdorfer und Bräunsdorfer Geborenenzahlen nach Dekadenkohorten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Abbildung 15: Nottaufenanteile an den Rußdorfer und Bräunsdorfer Geborenenzahlen nach Dekadenkohorten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Abbildung 16: Extrapolierte Nottaufenanteile an den Rußdorfer und Bräunsdorfer Geborenenzahlen nach Dekadenkohorten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Abbildung 17: Anteil der Nottaufen am Geburtstag an der Gesamtnottaufenzahl . . Abbildung 18: Jährliche Rußdorfer Heiratszahlen und Leipziger Roggenpreisindex 1582–1799 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Abbildung 19: Rußdorfer Heiratszahlen 1800–1935 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Abbildung 20: Jährliche Bräunsdorfer Konzeptionszahlen und Leipziger Roggenpreisindex 1640–1799. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Abbildung 21: Bräunsdorfer Heiratszahlen 1800–1935 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Abbildung 22: Hochzeitszahlen nach Dekaden für Sachsen, Rußdorf und Bräunsdorf im Vergleich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Abbildung 23: Monatlicher Index der Rußdorfer Hochzeiten . . . . . . . . . . . . . . . . Abbildung 24: Monatlicher Index der Bräunsdorfer Hochzeiten . . . . . . . . . . . . . . Abbildung 25: Wochentägliche Verteilung der Rußdorfer Trauungen . . . . . . . . . . Abbildung 26: Wochentägliche Verteilung der Bräunsdorfer Trauungen . . . . . . . . Abbildung 27: Mittlere Ehedauer nach Heiratsjahrgang in Rußdorf und Bräunsdorf

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50 73

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86 86

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99 99

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105 108 110 116 117 119 119

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123

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131

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132 133

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145 146

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154 156

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161 166 168 174 175 213

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542

ABBILDUNGSVERZEICHNIS

Abbildung 28: Häu gkeitsverteilung Rußdorfer Ehedauerkategorien

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215

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215

Abbildung 30: Nuptiale Beteiligung Einheimischer nach Geschlechtern und Anteil heterogener Hochzeiten in Rußdorf in Prozent . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

223

Abbildung 31: Nuptiale Beteiligung Einheimischer nach Geschlechtern und Anteil heterogener Hochzeiten in Bräunsdorf in Prozent . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

231

Abbildung 29: Häu gkeitsverteilung Bräunsdorfer Ehedauerkategorien

Abbildung 32: Jährliche Rußdorfer Sterbezahlen und Leipziger Roggenpreisindex 1582–1799 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

246

Abbildung 33: Rußdorfer Sterbe- und Geburtenzahlen 1800–1935

247

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Abbildung 34: Jährliche Bräunsdorfer Sterbezahlen und Leipziger Roggenpreisindex 1640–1799 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

250

Abbildung 35: Bräunsdorfer Sterbe- und Geburtenzahlen 1800–1935 . . . . . . . . . . . . . .

250

Abbildung 36: Sterbezahlen nach Dekaden für Sachsen, Rußdorf und Bräunsdorf im Vergleich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

252

Abbildung 37: Monatlicher Index der Rußdorfer Sterbefälle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

272

Abbildung 38: Monatlicher Index der Rußdorfer Erwachsenensterbefälle

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273

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274

Abbildung 39: Monatlicher Index der Bräunsdorfer Sterbefälle

Abbildung 40: Monatlicher Index der Bräunsdorfer Erwachsenensterbefälle

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275

Abbildung 41: Anteil der Säuglingssterbefälle nach Geburtenkohorten in Rußdorf . . . . .

303

Abbildung 42: Anteil der Säuglingssterbefälle nach Geburtenkohorten in Bräunsdorf . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

305

Abbildung 43: Verhältnis endogener zu exogener Säuglingssterblichkeit im ersten Lebensjahr in Rußdorf . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

305

Abbildung 44: Verhältnis endogener zu exogener Säuglingssterblichkeit im ersten Lebensjahr in Bräunsdorf . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

306

Abbildung 45: Allgemeine und uneheliche Säuglingssterblichkeit im Vergleich in Rußdorf und Bräunsdorf . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

327

Abbildung 46: Entwicklung der durchschnittlichen familiären Geburtenintervalle in Rußdorf in Monaten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

330

Abbildung 47: Entwicklung der durchschnittlichen familiären Geburtenintervalle in Rußdorf 1890–1935 in Monaten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

336

Abbildung 48: Entwicklung der durchschnittlichen familiären Geburtenintervalle in Bräunsdorf in Monaten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

338

Abbildung 49: Entwicklung der durchschnittlichen familiären Geburtenintervalle in Bräunsdorf 1890–1935 in Monaten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

343

Abbildung 50: Mittlere Erstheiratsalter und uneheliche Konzeptionen im Vergleich in Rußdorf . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

357

Abbildung 51: Mittlere Erstheiratsalter und uneheliche Konzeptionen im Vergleich in Bräunsdorf . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

357

ABBILDUNGSVERZEICHNIS

543

Abbildung 52: Verwandtschaftliche Beziehungen zwischen Leinwandhändlern in Rußdorf (Rd.) und Bräunsdorf (Bd.) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

476

PERSONENREGISTER

Äsche, Barbara († 1620) 172 Albrecht I., Mgr. v. Brandenburg († 1170) 29 Altwein, Caspar (1617–1694) 70, 71, 474 Anders, Karl Friedrich (1888–1994) 294 Arnold Christian Gottlob († nach 1772) 159 Gregorius († 1591) 69 Matz († vor 1596) 373 Arnolt, Valten († um 1572) 310, 373, 444 Arold, Jacob (1585–1657) 376 Arrolt, Bartel (1544–1623) 375 Auerswald, Christoph (1655–1699) 182, 436 Aurich Andreas (1662–1728) 394, 468, 469 Christian Friedrich (1821–1868) 490, 491 George (1680–1753) 102, 479 Heinrich († nach 1729) 382 Martin (1648–1707) 469 Michael (1598–nach 1615) 43 Paul (1602–1693) 217, 436, 468, 469 Aurig Hanß Gottlieb (1739–1769) 383 Johann George (1734–1765) 383 Barthel, Gottlieb (1731–nach 1761) 383 Bauch, Michael († nach 1759) 383 Bauer, Anna (1881–nach 1920) 229 Baum, Otto Theodor (1857–1884) 503 Behnert, Johann (1717–1790) 203, 350 Beier Ernst Hermann (1873–1952) 504 Paul Franz († nach 1758) 235 Berger Christoph († nach 1810) 188 Greger († nach 1584) 53, 445, 464 Johann Christoph († nach 1758) 383 Johann Gottfried († nach 1762) 383 Martha († nach 1916) 413 Tobias († nach 1758) 383 Bergkhendel, Georg (1611–1679) 392 Bergmann, Abraham (1717–1766) 383 Beyer, Joseph (1712–1760) 382 Bien, Gertrud Anna (1898–nach 1949) 235 Bilz, Johann Christian († nach 1760) 383 Böhm Christina (1681–1746) 121, 180 Greger (1678–1746) 121, 331

Boles aw I., Hz. v. Polen (965/967–1025) 23, 26 Boles aw II., Hz. v. Böhmen († 999) 26 Borstendorf, Carl Friedrich († nach 1750) 384 Bretschneider Benedix († nach 1657) 468 Jacob (1513–1608) 293, 310 Johann August (1795–1857) 172 Johann Gottfried (1790 – um 1812) 264 Lorentz († nach 1552) 444 Nicolaus († 1630) 172, 407 Breuel, Karl Ernst (1867–nach 1905) 493 Brodmerckel, Samuel (1741–1794) 386 Brotmerckel, Hans Georg († nach 1736) 379 Brückner, Johann Traugott (1804–1858) 76, 456 Brunesdorf, Janek de († nach 1290) 60 Brunigesdorf, Hermannus de († nach 1275) 60 Büchner Karl Gottlob (1811–1843) 358 Eva Maria (1738–1806) 338 Eva Maria (1756–1763) 338 Johann Friedrich (1726–1802) 77, 232, 338, 341, 483 Johann Michael (1769–1773) 338 Maria Rosina (1760–1781) 338 Maria Susanna (1762–1772) 338 Samuel Friedrich (1764–1765) 338 Wilhelmine (1801–1863) 211, 359 Bunzel, Friedrich Richard (1901–nach 1937) 432 Buschmann George (1714–1790) 382, 475 Hans (1688–1745) 224, 331, 384 Johann Gottlieb (1746–1806) 352 Claus, Johann Michael († nach 1767) 386 Craßel, Johann Christoph (1726–1783) 386 Daffner, Georg (1902–1980) 234 Dietrich, Gottlieb († nach 1750) 384 Dietzmann, Stephan († vor 1592) 373 Ditterich, Jacob († nach 1562) 373 Dölling, Hanß († 1772) 258 Döring, Ernst Paul (1875–1957) 506 Dost, Andreas († nach 1754) 383 Ebert Johann Christian († nach 1785) 396 Johanne Sophie († nach 1785) 397 Eichler, Michael [Identität unklar, Anm. d. V.]

44

546 Eidner, Karl Robert (1849–1891) 503 Einhorn, Samuel Friedrich (1697–1763) 395 Einsiedel Curt Karl Julius von (1873–1926) 70 Detlev Carl von (1737–1810) 62 Hans Abraham von (1710–1756) 62 Hildebrand von († 1461) 41, 42 Karl Friedrich Gert von (1883–1945) 70 Eitel, David († nach 1666) 76 Eittener, Lorentz († nach 1573) 373 Ekkehard I., Mgr. v. Meißen († 1002) 26 Engel, Johann Samuel (1803–1853) 491 Engelman Blasius († nach 1546) 371 Jacob († nach 1552) 371 Urban († nach 1552) 311, 371, 444 Engelmann Carl Friedrich (1842–1903) 492, 496 Carl Traugott (1827–1898) 489, 495 Christiane Bertha (1835–1903) 495 Christoph (1654–1719) 466 Christoph (1705–1758) 477 Eva Maria (1753–1772) 257 Friedrich August (1821–1887) 492 Georg (1653–1711) 465, 466 George [Identität unklar, Anm. d. V.] 44 Gottfried (1738–1785) 386 Gottlieb (1734–1782) 242 Johanna Theresia (1820–nach 1887) 492 Johann Ernst (1799–1877) 489, 490, 492, 494 Justina (1796–1850) 490 Samuel (1752–1822) 311 Samuel Friedrich (1825–1890) 58, 433, 494 Engellmann, Peter (1665–1727) 477 Esche Christian (1724–1803) 386 Christian (1750–1807) 406 Christoph (1587–1649) 374 Christoph (1622–1696) 330 Christoph (1645–1712) 197 Christoph (1653–1722) 379 Eva (1680–1719) 197 Georg (1603–1674) 225 Georg Theodor (1881–1922) 314 George (1547–1610) 373 George († um 1695) 178 Gregor († nach 1562) 373 Hanna Wilhelmine (1828–1850) 352 Hannß († 1591) 374 Hans (1637–1675) 455 Hans (1661–1737) 406, 447 Hanß (1651–1709) 465 Jacob († nach 1640) 374

PERSONENREGISTER

Jacob (1661–1717) 379, 465 Johann (1682–1752) 55, 480, 482, 483, 484, 485, 497 Johann Christian (1706–1781) 409 Johann David (1709–1782) 56, 57, 382, 481, 482, 489 Johann Georg (1713–1782) 481 Johann Gottlieb (1783–1865) 313 Johann Michael (1719–nach 1746) 481 Johannes (1658–1744) 465 Maria († nach 1675) 464 Martin (1678–1735) 197, 311 Michael (1609–1664) 330 Michael (1663–1717) 311, 464, 465 Michael (1747–1772) 258 Peter († 1581) 310, 373 Peter (1695–1780) 293 Sabina (1622–1696) 330 Samuel (1743–1772) 258 Eydner, Christian Heinrich († nach 1740) 475 Fichtner, Johann George (1702–1754) 382 Fiedeler, Jacob († nach 1544) 454 Fiedler Benedikt (1588–1666) 429, 473 Christoph (1650–nach 1712) 71, 199, 474 Erasmus (1567–1633) 429 Johann Friedrich (1737–1805) 383, 448 Maria (1591–1669) 428 Peter (1605–1671) 473 Samuel (1643–1719) 463 Fischer Daniel Friedrich († nach 1845) 77 Hannß († 1772) 382 Hedwig (1907–nach 1932) 235 Flacks, Rudolf († nach 1929) 413 Fleischer, Anna (1661–1739) 232 Follie, Johanne Alexandrine de la († nach 1860) 235 Francke, Daniel († nach 1729) 382 Franke Carl Gottlob Bernhard (1841–1936) 264, 293 Friedrich Hermann (1865–1953) 314 Friedrich Wilhelm (1815–1882) 388 Johann Gottfried († nach 1761) 383 Johann Samuel († nach 1761) 383 Freitag, Emma Frieda (1902–nach 1924) 228 Friedrich I., röm.-dt. Ks. († 1190) 29, 30 Friedrich II., Kf. von Sachsen (1412–1464) 41 Friedrich II., Hz. v. Sachsen-Gotha-Altenburg (1676–1732) 46, 54 Friedrich III., Hz. v. Sachsen-Gotha-Altenburg (1699–1772) 57 Friedrich August I., Kf. v. Sachsen (1670–1733) 55 Friedrich Abraham (1713–1767) 172, 183

547

PERSONENREGISTER

August (1797–1873) 399 Caspar (1682–1742) 394 Christiane Friedericke (1814–nach 1859) 359 Christoph (1672–1737) 197 Eva Maria (1781 – 1781) 129 Georg (1630–1685) 340 George (1710–1757) 383 Gottfriedt (1663–1694) 468 Gottlieb (1743–1814) 396, 397 Johann August (1832–1899) 388 Johann Christian (1781–1859) 397, 399 Johannes (1689–1752) 395 Johann Samuel († nach 1757) 501 Johann Samuel (1753–1799) 318 Michael (1657–1715) 455, 468, 470 Maria (1663–1724) 468 Wilhelmine (1824–nach 1864) 358 Frischman Bartel († 1631) 310 Gregor (1594–1633) 262 Frischmann Andreas (1734–1802) 448 August (1821–1883) 492 Ferdinand Robert (1850–1936) 264 Georg (1697–1773) 379 Gregor (1507–1605) 293, 310, 373, 427 Gottfried (1744–1804) 318, 320 Hanna Sophia (1787–nach 1822) 359 Hanß (1644–1721) 199, 318, 470 Jacob (1636–1707) 379 Jacob (1664–1698) 379 Johann Gottlob (1793–1857) 180 Johann Samuel (1786 – vor 1816) 263 Maria (1716–1789) 338 Michael (1659–1720) 341 Susanna (1645–1706) 217 Fritsche, Georg († um 1677) 63 Fritzsche, Hans († nach 1560) 373 Fuchs, Christoph (1689–nach 1716) 179 Fuchß Abraham († nach 1729) 382 Lorenz (1708–1772) 382 Michael (1646–1717) 379, 446 Gerung, Bf. v. Meißen († 1170) 31 Geißler Anna Maria (1869 – 1869) 128 Carl Gottlob (1844–1870) 496 Georg († 1655) 392 Philip († nach 1544) 454 Gentzsch, Johanne Beate († nach 1754) 383 Gerlach, Franz Linus (1873–1939) 506 Geydell, Blasius († 1604) 74

Gimpel Christoph (1665–1726) 379 Hanne Christliebe (1792–1846) 180 Hannß (1710–1797) 382 Martin (1702–1766) 475 Glänzel, Christoph († nach 1740) 382 Görner Andreas (1650–1677) 197, 375 Georg († nach 1699) 341 Gottfried († nach 1734) 382 Goldammer, Caroline Concordia (1819–1911) 293 Gopner, Georg († nach 1570) 66 Gräfe Auguste Selma (1863–1930) 127 Heinrich Moritz (1862–1943) 127 Maria (1696–1732) 45 Gräffe, Georg (1673–1740) 366, 379 Gräntz, Hans († nach 1674) 446 Granz, Theodor Bernhard (1883 – 1883) 134 Grobe Gertrud (1617–1683) 429 Jacob (1652–1735) 217, 339, 434 Johannes (1702–1766) 434 Paul (1605–1689) 429 Groitzsch, Wiprecht von, Mgr. v. Meißen(† 1124) 28, 29 Grosdietze, Stephan († vor 1607) 165 Grosse, Johann Friedrich Wilhelm (1829–1875) 321 Großer Christoph (1735–1808) 386 Elisabeth (1680–1754) 331 Gümpel, Hadrian († nach 1582) 373 Gümpel, Moritz († nach 1538) 371, 444 Gympel Anna († 1599) 126 Cyprianus (1534–1608) 126 Matz († zw. 1552 u. 1592) 371 Haberkorn Arthur Martin (1897–1949) 235 Emma Anna Helene (1896–nach 1926) Ernst Johann (1905–1972) 322 Hähl, Johannes (1681–1754) 172 Hahl Hans (1618–1698) 473 Hans (1650–1732) 479 Hahn Christoph (1695–1766) 470 Daniel (1642–1716) 395, 470 Daniel (1697–1766) 470 Hartig Albin Theodor (1877–1946) 127 Elisabeth Anna (1903 – 1903) 128 Minna Anna (1881–1937) 127

235

548 Theresia (1820–1851) 181 Harting, Lucas († vor 1682) 71 Hardung, Hanns († nach 1595) 372 Harttung, Mathes († nach 1552) 372 Haupt Abraham († nach 1734) 382 Andreas (1653–1724) 379, 380, 475 Christina (1685–1750) 331 Gregor († nach 1734) 382 Jacob (1632–nach 1698) 377, 379 Johann Gottlieb (1820–1882) 114 Michael (1709–1798) 172, 442 Peter (1667–nach 1698) 377 Heil Carl Gottlob (1817–nach 1870) 398, 399 Hannß (1681–1754) 395 Johann Gottlieb (1756–1826) 463 Johann Samuel (1788–1818) 359 Samuel (1719–1784) 463 Heinich, Marten (1661–1742) 395 Heinig George (1691–1755) 395 Heinrich Curt (1860–nach 1915) 62, 70 Johann Gottlieb († nach 1772) 350 Lina Clara (1874–1952) 211 Heinicken, Maria Rosina († nach 1764) 232 Heinrich I., Hz. v. Sachsen († 936) 25 Heinrich II., röm.-dt. Ks. (973/978–1024) 23 Heinrich IV., röm.-dt. Ks. (1050–1106) 28 Heiniz, Asmus († nach 1552) 310, 373 Heintzig Catharina (1624–1696) 429 Christina († 1633) 353 Georg (1594–1633) 374, 375 Georg (1651–1729) 217 Gottfried (1715–1776) 339 Hanß (1689–1754) 395 Heinrich (1752–1762) 339 Ilgen († 1589) 373 Jacob († nach 1620) 74 Jacoff († 1641) 351 Rosina (1662–1721) 211 Samuel (1681–1758) 395 Samuel (1703–nach 1762) 183 Stephan († nach 1620) 74 Sybilla (1652–1731) 217 Valten († nach 1574) 373 Valten († 1632) 102 Veit († 1626) 353 Heinzig Andreas (1613–1676) 376 Ernst (1797–1881) 47 Georg († nach 1637) 392

PERSONENREGISTER

Johann Friedrich (1867–nach 1905) 504 Johann August (1797–1857) 321 Michael (1623–1699) 376 Michael (1677–1758) 178 Samuel (1704–nach 1738) 382 Samuel (1743–1780) 263 Heitzsch, Dr. Johann (1828–1888) 414, 416 Helbig Benjamin (1770–1858) 355, 434 Christoph (1627–1688) 21, 429, 433 Christoph (1669–1735) 433 Eva Rosina (1785–1785) 128 Gottlieb (1791–1846) 203 Gregor (1692–1775) 433, 442, 447 Hanna Christiana (1776–1829) 355 Jacob (1651–1705) 379 Maria (1630 – um 1686) 428 Michael (1735–1811) 433 Paul (1653–1727) 75 Sabina (1666–1748) 326 Sabina (1698–1762) 433 Susanna (1651–1724) 197 Wilhelm Heinrich (1808–1888) 434 Helwig Jorg († 1597) 373 Urban († 1591) 351 Herold August Friedrich (1850–1909) 504 Christian (1709–1783) 396 Christian Johann (1711–1792) 431 Christoph (1630 – um 1686) 467, 477 Christoph (1650–1736) 51, 52 Christoph (1671–1749) 467, 468 Georg (1608–1692) 44 Georg (1642–1720) 379 George Gottlob († 1793) 431 Gottfried (1764–nach 1794) 484 Hans Michael (1715–nach 1739) 365 Hans (1667–1716) 205 Jacob (1679–1758) 395 Johann Michael (1735–1790) 406 Johann Michael (1772–1840) 396 Michael (1694–1746) 395 Samuel Friedrich (1810–1896) 396 Tobias (1654–1719) 447 Heroldt Gottfried (1701–1756) 396 Hannß († zw. 1552 u. 1582) 372, 373, 444 Laux /Lucas († 1590) 310, 370 Herolt Barbara († 1627) 126 Blasius (1586–1633) 43, 262, 463 Georg [Identität unklar, Anm. d. V.] 43

549

PERSONENREGISTER

Georg (1592–1658) 375, 436, 469 Georg (1618–1667) 375 Gertrud (1589–1645) 428 Hans (1636–1703) 393 Jonas († 1623) 43, 126 Martin († nach 1594) 463 Merten († 1690) 407 Stephan († zw. 1571 u. 1584) 373 Tobias (1590–1634) 374 Valten († nach 1541) 43, 444 Herrfurth Emil Richard (1877–1974) 218 Maria Thekla (1877–1975) 218 Hertel, Johann Peter († nach 1711) 224 Heupt, Peter (1644–1731) 293 Himmelreich Georg († 1696) 331 Gottfried (1665–1741) 45 Hochrein, Martin (1848–nach 1886) 503 Hofmann Max Robert (1887–1887) 128 Emma Elsa (1889–nach 1912) 181 Holk, Heinrich von (1599–1633) 88 Hopffer, Johann Michael († nach 1753) 241 Hübner, Otto Emil Ernst (1859–1887) 503 Hünl, Pauline († nach 1903) 181 Huyer, Amalie (1881–nach 1949) 229 Ihle, Franz Paul (1857–1926) 503 Ilgen, August (1682–1730) 395 Illgen Emil Theodor (1861–1939) 432, 494 Ernst Otto (1863–1907) 504 Fritz Walther (1894–1951) 432 Grete Else Gertrud († nach 1964) 235 Gustav Alfred (1873–1967) 78, 432, 494 Johann August (1810–1875) 398, 399, 491 Johannes Ludwig (1898–1964) 235, 432 Johann Gottlob (1812–1867) 463 Ludwig Theodor (1839–1896) 78, 432, 493, 494 Illing Johann Gottlieb (1803–1861) 314 Johann Michael (1751–1805) 159 Ittner Abraham (1671–1729) 395 Christian (1697–1772) 395 Hannß († vor 1762) 382 Johann Samuel (1778–1850) 398, 399 Jacobi, Johann Ephraim August (1746–1814) 149 Jahn, Johann Gottfried (1788–1853) 228 Johann Friedrich I., Kf. von Sachsen (1503–1554) 42

John Carl Robert (1819–1898) 504 Carl Theodor Robert (1846–1873) 504 Ernst Hugo (1853–1916) 504 Jost Bruno Ernst (1894–1970) 322 Martha Elsa (1897–1977) 322 Jung, Johann Gottlieb († nach 1761) 383 Jungmann, Gottfried (1736–1808) 311 Käferstein, Samuel (1656–1777) 74, 340, 394 Karl der Große, röm.-dt. Ks. (747/748–814) 25 Karl Martell († 741) 25 Kauffungen, Conrad von († nach 1226) 40 Kaufungen Glatz von († nach 1416) 61 Jost von († nach 1416) 61 Kunz von († 1455) 61 Kempter, Hans († 1693) 446 Kerzig, Adam Gottlieb (1713–1779) 92, 158 Kilian, Wilhelmine Pauline (1837–1916) 413 Kirmse, Carl Fritz (1885–1959) 314 Klauß, Georg Heinrich Christian († nach 1842) 234 Kluge, Johann Gottfried († nach 1758) 383 Kmell Anna (1848–1896) 229 Antonie (1862–nach 1898) 229 Jakob († vor 1882) 229 Koch Jacob (1683–1738) 365, 379, 473 Karl Wilhelm (1831–1909) 502 Maria (1690–1750) 433 Rudolf Gerhard (1899–nach 1945) 62 Samuel (1748–nach 1770) 355 Kohlsdorff, Johann George (1717–1796) 483 Kohlsdorf Julius Emil (1857–1940) 496 Julius Paul (1884–1958) 499 Julius Reinhold (1828–1909) 497 Köhler Gottfried (1662–1721) 379 Julius († nach 1876) 499 Karl Reinhard (1851–1922) 499, 504 Kohlsdorf, Johann George (1717–1796) 385 Konrad I., Mgr. v. Meißen († 1157) 29 Konrad III., röm.-dt. Kg. (1193/94–1152) 30 Kramer, Johann (1733–1800) 386 Krause, Christian Friedrich († nach 1842) 203 Krebel, Johann Michael († nach 1760) 383 Kretzschmar Gottfried (1712–1772) 482 Hans († nach 1624) 224 Karl Hermann (1857–nach 1887) 503

550 Kron, Otto (1888–nach 1917) 432 Kruse, Marie Ewalde (1867–1915) 181 Kunze, Johann Michael (1731–1762) 263 Kühn, Anna (1583–1619) 121 Kühnert, Johann Michael (1764–1840) 180 Kühnrich Anna Maria (1856–1916) 413 Anna Sophia (1734–1796) 409 Elisabeth (1683–nach 1724) 354 Hans († 1645) 393 Hans († vor 1701) 393, 394, 473 Maria (1742–1834) 293 Künrich Barthol (1605–1676) 394 Georg (1632–1671) 394, 473, 475 Hans († zw. 1692 u. 1701) 473 Hanß (1671–1746) 479 Sybilla (1629–1703) 429, 473 Kurbitz, Ludwig von ( – ) 60 Lampert, Hulda Emma (1872–nach 1892) 235 Landgraf Barthel († 1656) 374 Christian (1738–1810) 488 Christoph (1721–1772) 46, 258 Eva (1679–1740) 395 Gottfried (1834–1916) 321 Hulda Henriette (1837–1906) 388 Johann Bernhard (1733–nach 1776) 45 Johann Gottfried (1735–1772) 386 Johanna Rosina (1768–nach 1794) 352 Landgraff Andreß († vor 1583) 373 Christoph (1689–1747) 205 Elisabeth (1684–1748) 205 George (1686–1755) 351 Jacob (1589–1634) 374 Maria (1690–1752) 351 Susanna (1691–1764) 331 Landtgraf, Hans († vor 1665) 392 Landtgraff Andreas (1624–1690) 474 Andreas (1667–nach 1690) 474 Georg (1661–nach 1691) 474 Wolffgang (1664–nach 1697) 183, 474 Landrock, Hanß (1666–1743) 379 Langer, Zulma Irma (1913–1967) 235 Langgraff Blasius († nach 1538) 454 Nickel († nach 1538) 454 Stephan († nach 1538) 454 Langraf Bonifacius († vor 1559) 317

PERSONENREGISTER

Lazarus († nach 1592) 317 Matthias (1592–1628) 186 Michael († 1613) 186 Lantgraff, Bastian († um 1559) 317, 454 Lange, Friedrich Johannes (1922–2008) 40, 57, 451 Läßig, Hanß († nach 1711) 102 Lee, William († 1614) 480 Leinungen, Sigena von († vor 1110) 29 Leisnig, Georg von, Burggrf. v. Leisnig (1436–1474/76) Leitinger, Josef (1861–nach 1889) 503 Lesch, Franz Anton (1840–1913) 314, 505 Leupold, Timotheus Quodvultdeus (1723–1766) 167 Leuschel, Georg († nach 1608) 353 Libert, Johann Christoph (1685–1759) 456 Lindner Amalie Juliane (1842–nach 1919) 217 Auguste (1831–1864) 359, 360 Christoph († nach 1760) 383 David Fürchtegott († nach 1883) 491 Johanne Christliebe (1842–nach 1868) 360 Johanne Sophie (1832–nach 1892) 360 Johann Gottlieb (1837–1913) 217 Johann Samuel (1795–1843) 360 Marie Sophie (1801–1858) 360 List Andreas (1706–1770) 186 Elisabeth (1717–1797) 186 Georg (1638–1705) 393, 394 Lobel, George († nach 1552) 370, 444 Löbel Abel († nach 1571) 427 Andreas († nach 1729) 382 Lochmann, Christoph Friedrich († nach 1750) 431 Loos, Johann Christian (1722–1766) 103, 456 Lothar III., röm.-dt. Ks. († 1137) 30 Ludewig Marten (1658–1733) 475 Tobias (1669–1705) 475 Ludtwig, Jacob († vor 1616) 317 Ludwich Marten (1619–1674) 394, 475 Merten († vor 1640) 394 Ludwig Andreas (1716–1772) 183 George († nach 1704) 102 Lutz, Emil Friedrich (1897–nach 1923) 234 Macht Anna Maria († vor 1768) 355 Anna Maria (1781–1850) 358 Anna Rosina (1768–1804) 355 Gottlieb (1772–nach 1798) 355 Hans (1653–1711) 407

41

551

PERSONENREGISTER

Michael (1743–1790) 484 Johann Michael (1780–1830) 397 Maria (1626–1691) 407 Rosina (1739–1795) 355 Mäder, Albin (1861–1928) 504 Mahn, Ernst Otto (1868–nach 1895) 419 Maltitz Hans von († nach 1455) 61 Peter von († nach 1544) 63, 64, 65, 66, 67, 69 Peter von († nach 1569) 66 Marschner, Karl Emil († nach 1896) 505 Martin, Johann Christoph (1798–1869) 314, 409 Meißner, Rahel (1690–1713) 232 Merseburg, Thietmar von (975–1018) 23 Milchbergk, Wolff († nach 1552) 311 Moller, Abraham († nach 1574) 373 Möller Friedrich Wilhelm Hermann (1863–1922) 228 Geraute (1626–1633) 266 Tiburtius (1532–1620) 209, 310 Morgenstern, Kurt Anton Ulrich (1862–1918) 498 Müller Anna Rosina († nach 1791) 355 Christian Friedrich († nach 1846) 398 Christoph (1708–nach 1738) 482 Christoph (1714–nach 1748) 483 Daniel († nach 1761) 383 Erich (1901–1975) 413 Friedrich Wilhelm (1744–1794) 183 Gottfried (1716–1760) 482 Gottfried (1727–1805) 383 Hans (1674–1726) 482 Johann (1638–1674) 393 Johanna Christiana (1747–1772) 46, 350, 351 Johann Christian († nach 1760) 383 Johann Daniel († nach 1760) 383 Johannes [Identität unklar, Anm. d. V.] 183 Maria (1725–1789) 203, 350 Michael (1690–1761) 395 Oskar William (1876–nach 1909) 504 Nagel, Johann Christian (1758–1823) 397 Naumann Carl Gottlob († nach 1847) 489 Friedrich Hermann (1891–1936) 505 Paul August (1866–1909) 505, 506 Naumburg, Walram von, Bf. v. Naumburg († 1111) 29 Niedner, Carl August (1808–nach 1846) 399 Niekamp, August Friedrich Wilhelm (1876–1940) 499, 500 Nitzelnadel, Dr. Ernst August Wilhelm (1862–nach 1892) 416 Nitzsche, Jacob († 1724) 379, 447

Öhme Abraham († 1748) 382, 483 Johann Gotthelf († nach 1760) 383 Osterburg, Adalgod von, Erzbf. v. Magdeburg († 1119) Otto, Mgr. v. Meißen (1125–1190) 29, 30, 31, 32 Otto I., röm.-dt. Ks. (912–973) 26 Otto II. , röm.-dt. Ks. (955–983) 23 Öttinger, Christoph († 1740) 232 Päßler, Paul Gottlob (1717–1767) 383 Paul V., Papst (1552–1621) 18 Pester Christian Gottlob (1809–nach 1878) 463 Johann August (1814–1887) 399 Max Otto (1872–nach 1940) 504 Hermann Friedrich (1838–1919) 322 Peters, Ferdinand Max (1871–1956) 504 Pettendorf, Friedrich I. von († um 1060) 29 Petzold, Christian († 1772) 405 Petzolt, Hanß († nach 1544) 453 P ug, Wolf von († nach 1586) 62 Piltz, Gregorius (1585–1641) 69 Planitz Heinrich Haubold Edler von der († nach 1711) 102 Heinrich Hildebrand Edler von der († nach 1680) 62 Pochert Israel (1716–1792) 384 Michael (1722–nach 1735) 182 Samuel (1681–1741) 379 Polster Jacob († 1632) 393 Michael (1623–1675) 394 Michel (1600–1657) 394 Posern Christian (1699–1765) 381, 382, 384 Johann Michael (1797–1869) 399 Johann Samuel (1749–1804) 318 Pödger, Bartel († 1624) 91, 255, 256 Pressler, William Max (1861–1930) 498 Pulster, Wolff († nach 1622) 394 Puschman, Thomas († vor 1584) 310 Rauschenbach Christiane Caroline (1821–1896) 491 Johann Gottlob (1817–1881) 491 Robert Emil (1853–1924) 492 Reichel, Andreas (1683–1758) 54 Reichenbach Oswald (1591–nach 1617) 44 Thomas († zw. 1584 u. 1599) 373 Reim Hans (1632–1694) 477 Tobias († nach 1704) 102

29

552 Resch David (1671–1749) 393 Georg (1657–1695) 341, 393 Jacob (1649–1729) 467, 477 Merten (1615–1690) 393, 394 Peter (1653–1712) 186 Susanna (1656–1727) 394 Richter Abraham (1637–1681) 429 Christian Friedrich (1763–1833) 93 Elisabeth (1695–1750) 430 Georg († 1582) 427 Georg (1587–nach 1614) 428 Georg (1630–1663) 428 George (1745–1797) 352 Gregor (1599–1658) 428, 433 Gregor (1675–nach 1721) 430 Hanß (1660–1730) 395 Jacob (1558–1604) 43, 45, 374, 427, 428 Jacob (1594–1671) 428 Margareta († 1630) 43 Maria (1641–1714) 205, 436 Maria Elisabeth (1756–nach 1784) 352 Nicolaus († um 1608) 427 Nicolaus (1585–1658) 428 Philip († nach 1590) 374, 427 Richard Ludwig Otto († nach 1899) 498 Riecher, Jacob (1607–1678) 392 Riedel Anna (1577–1671) 293 Johann († nach 1682) 71 Johann Herrmann (1847–1870) 264 Wolffgang († zw. 1714 u. 1726) 183, 446, 455 Riehl, Wilhelm Heinrich (1823–1897) 308 Rippin, Käthe von († nach 1416) 61 Rößler, Anton (1859–1942) 499 Roscher George (1633–1715) 377 Max August (1876–nach 1899) 505 Osmar (1880–nach 1935) 505 Rudloff Andreas († vor 1646) 466 Balthasar (1543–1603) 310 Georg (1496–1591) 293, 310, 373 Hedwig († 1593) 293 Joannes (1598–1634) 89, 262 Rudolff, Antonius (1550–1620) 372 Rudolph Gottfried (1700–1723) 45 Hans Georg (1687–1772) 366, 447 Jacob (1657 – um 1694) 379, 465 Johann Gottlob (1819–1867) 358 Johann Jacob († nach 1724) 45

PERSONENREGISTER

Johann Samuel (1710–1791) 382 Margareta (1603–1641) 428 Michael (1680–1734) 197 Samuel (1749–1821) 355 Rüger, Michael († vor 1745) 395 Sachse, Georg Paul (1858–1896) 497 Saupe, Hanß (1732–1792) 382, 384 Schafuß, Michael (1613–1680) 77 Schäffler, Christian († nach 1759) 383 Scheibe, Johanne Christiane († nach 1804) 188 Schieck, Justinus (1688–1772) 224 Schieke, Johann Ernst (1817–1884) 203 Schindler, Hans (1609–1677) 71 Schirmer, Burghart († nach 1645) 429 Schlieben, Martha von († nach 1756) 62 Schlißler, Christoph († nach 1718) 232 Schmiedel Arno Eugen (1886–nach 1929) 506 Christian Friedrich Ernst (1835–1886) 388 Senta Charlotte (1900–1981) 181 Schmiedt, Gottfriedt († nach 1723) 55 Schneider Gregor († nach 1545) 371 Johanne Christiane (1822–1912) 293 Spies Johann Heinrich (1733–1801) 205, 397 Regina (1728–1788) 205 Schönberg Antonius II.von (1628–1702) 54, 485 Wolff von (1518–1584) 42 Schönburg Carl Heinrich von (1729–1800) 71 Veit II. von (1418–1472) 41 Wolf III. von (1556–1612) 71 Schönfeld Elisabeth (1691–1762) 45 George (1665–1719) 395 Jacob († zw. 1619 u. 1629) 73 Jacob († zw. 1627 u. 1632) 374 Johanna Christiana (1789–1866) 359 Johann Gottlieb (1774–1842) 397 Johann Gottlob (1788–1856) 359 Samuel Friedrich (1740–1789) 484 Schönfeldt, Jacob (1633–1692) 377 Schram Blasius († nach 1539) 371, 444 Hanns († nach 1559) 372, 373 Jorg /Georg († nach 1552) 311, 370, 373 Lorentz († nach 1552) 371, 444 Schraps, Friedrich Julius (1847–1877) 497 Schreiner, Sophia Bertha (1847–nach 1903) 210

553

PERSONENREGISTER

Schrepffer /Schröpfer, Johann Salomon († 1765) 224, 384, 483 Schröter, Gottlieb (1740–1772) 259 Schubart, Hans (1661–1693) 477 Schubert Andreas († nach 1748) 341 Hanne Christiane (1770–1828) 353 Juditha (1697–nach 1738) 341 Schuldtes, Ulrich († nach 1593) 372, 373 Schultze Christina (1705–1777) 481 Christoph (1704–1774) 382, 481 Schulze, Daniel (1740–1814) 383 Schumann, Paul († nach 1636) 446 Schuster, Christian Friedrich (1805–1870) 489, 490 Schüßler Abraham (1687–1753) 447 August (1830–1882) 352, 496 Barthol (1617–1687) 376 Gallus († 1605) 310 Georg (1576–1624) 53 Georg (1611–1688) 378 Georg (1651–1670) 376 Johann Samuel (1788–1864) 263 Martin [Identität unklar, Anm. d. V.] 43 Michael (1609–1689) 407 Paul Georg (1873–1945) 78 Petrus († 1597) 48 Samuel (1759–1797) 46 Sebastian Abraham (1650–1708) 381, 429, 470 Abraham (1687–1754) 382, 471 Andreas (1685–1765) 471 Benjamin (1697–1769) 382 Christoph (1689–1765) 45, 56, 181, 365, 381, 384, 430, 431, 471 Christoph Heinrich (1731–1773) 181, 431 Elisabeth (1660–1736) 54, 55 Gottlob Friedrich (1769–1832) 431, 490 Gottlob Friedrich (1803–1853) 47, 431 Heinrich Wilhelm (1741–1790) 431 Israel (1698–1721) 381, 430 Minna Emilie (1846–1925) 388, 432 Samuel (1692–1770) 186, 382, 471 Theodor William (1870–1936) 432 Wilhelm Theodor (1837–1873) 255, 414, 432 Seidel, Adam (1639–1726) 379 Seifarth, Theodor (1858–1923) 71, 456 Sonntag Christiane Wilhelmine (1835–1911) 127 Christian Friedrich († 1848) 409 Emil Hermann (1857–1944) 499, 500 Gottlieb († nach 1792) 352

Heinrich Ferdinand (1833–1897) 127 Stade, Udo II. von, Mgr. d. Nordmark (1020/30–1082) Steinbach Christian Friedrich († nach 1839) 492 Eva Rosina (1769–1849) 397 Georg (1630–1685) 43 Georg (1651–1706) 479 George (1701–1771) 382 Gottfried (1690–1767) 475 Gottfried (1768–1794) 484 Hans (1615–1683) 392 Jacob († nach 1539) 371 Johann Christoph (1735–nach 1765) 386 Johann Gottlieb (1799–1851) 399 Johann Michael (1790–1847) 399 Karl Friedrich Ferdinand (1822–nach 1901) 358 Michael (1687–1755) 365, 475 Michael (1690–1767) 475 Peter († 1583) 371 Philip (1497–nach 1570) 66, 73 Rosina (1688–1765) 475 Steiner Christoph (1664–1742) 350, 379, 466, 467 Christoph (1732–1786) 186 Georg (1659–1725) 467 Hanß (1702–1767) 365 Maria (1696–1732) 350 Martin († 1666) 375, 466 Martin (1649–1721) 466, 467 Stelzner, Franz (1849 – vor 1930) 503 Steudtmann Christiana (1779–1855) 358 Christoph (1710–1777) 478 Georg (1674–1717) 477, 478 Samuel (1697–1786) 186, 408, 478 Steuter, Hans (1637–1728) 406, 446 Stiegler Georg (1594–1672) 89 Johann Gottlieb (1800–1860) 368, 409 Stoltze, Johann Siegmund (1670–1721) 172 Streu Bruno Richard (1861–1938) 127 Pauline Caroline (1860–1930) 127 Streubel Benjamin (1741–1804) 386 Johann Benjamin (1762–1814) 258 Johann Gottfried († 1772) 258 Tauscher, Gotthelf Michael (1774–1833) 93 Thieme, Johann Gottlieb († nach 1856) 491 Thierbach, Karl Hermann (1858–nach 1889) 78 Trautloff, Julius Robert (1838–1922) 48 Treutler, Lex († nach 1571) 373

28

554

PERSONENREGISTER

Trommer, Christian Gottfried (1763–1846) Türcke, Andreas (1675–1761) 379 Türke Christoph (1743–1793) 386 Johann Gottlob († nach 1758) 383 Türpe August Wilhelm (1825–1887) 320, 321 Johann Gottlieb (1794–1866) 398 Johanna Sophia (1820–1853) 188 Leonhard Theodor (1872–1944) 322 Uhl, Karl († nach 1928) 506 Uhle, Johann David († nach 1758) 383 Uhlig, Johanne Wilhelmine († nach 1836) Yersin, Alexandre (1863–1943)

448

399

268

Viehweg, Johann Daniel (1730–1768) 383 Vieweg, Johann Gottlob (1755–1755) 114 Vischer, Justina (1557–1607) 53, 463 Vogel Andreas (1512–1618) 293 Friedrich Theodor (1861 – zw. 1894 u. 1905) Georg (1613–1666) 43 Gregor († nach 1539) 444 Johann Michael (1767–1832) 320 Wagner August Friedrich (1831–1910) 498 Jacob (1675–1740) 395 Michael (1702–1738) 165 Thomas († nach 1558) 311 Valten († nach 1552) 370, 371, 444 Walther, Thomas († nach 1687) 393 Warzaska, Wanda (1872–nach 1900) 228 Weber Christian († nach 1767) 386 Christian Friedrich (1722–1801) 165 Weise, Elly Frieda († nach 1929) 181 Weiß, Karl Hermann (1845–1929) 505

505

Welcker, Johann Gottfried (1796–1871) 314 Welker Emil Johannes (1897–1922) 433 Ernst Theodor (1863–1920) 433, 495 Georg Kurt (1889–1916) 433 Georg William (1884–1957) 433, 495 Wendler, Hans († nach 1643) 71 Werbel, Johannes Bernd (1945–1945) 128 Werner Cyriacus († zw. 1552 u. 1584) 372 Matz († 1585) 372 Paul († nach 1577) 372 Wetzel, Johann Christoph (1747–1810) 434 Wiedemann, Maria Bertha (1866–1916) 413 Winckler, Andreas († nach 1722) 447 Windisch, Christian (1697–1757) 74, 395 Windolf, Abt v. Pegau († 1156) 29 Winnertz, Peter Ernst († nach 1893) 493 Winter Christiane Wilhelmine (1849–nach 1895) 388 Johann Samuel (1802–1857) 399 Wirtzburg, Nicolaus von ( – ) 60 Wunderlich August Friedrich (1804–1880) 399 Carl August (1786–1855) 397 Carl Wilhelm (1809–1893) 399 Johann Christian (1761–nach 1806) 484 Johann Samuel († zw. 1789 u. 1798) 484 Zacharia, Christian († nach 1673) 446 Zeeh, Johann David (1681–1712) 395 Zeißig, Christian Friedrich († nach 1789) 165 Zeitler, Marie Barbara (1874–nach 1899) 228 Zenner, Ernst Eduard (1850–nach 1887) 505 Zill, Klara († nach 1929) 413 Zschocke Johann Gottlieb († 1854) 399, 490, 494 Julius Otto (1862–1942) 504 Zwickert, Margarethe Antonie (1887–nach 1933)

228