212 64 10MB
German Pages [557] Year 2018
Sebastian Müller
DORFGESELLSCHAFT IM WANDEL Bevölkerungsentwicklung und Industrialisierung im Limbacher Land des 16. bis 20. Jahrhunderts
Sebastian Müller
DORFGESELLSCHAFT IM WANDEL Bevölkerungsentwicklung und Industrialisierung im Limbacher Land des 16. bis 20. Jahrhunderts
BÖHLAU VERLAG WIEN KÖLN WEIMAR
Bibliogra sche Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliogra e; detaillierte bibliogra sche Daten sind im Internet über http://portal.dnb.de abrufbar. Dissertation, Technische Universität Chemnitz, 2016
Umschlagabbildung: Die gebürtige Rußdorferin Milda Marie Nocht, geb. Lösch mit ihrer Familie, um 1914. Das Bild be ndet sich im Besitz des Autors.
© 2018 by Böhlau Verlag GmbH & Cie., Lindenstraße 14, 50674 Köln www.boehlau-verlag.com Alle Rechte vorbehalten. Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig. Korrektorat: Claudia Holtermann, Bonn Umschlaggestaltung: Satz + Layout Werkstatt Kluth, Erftstadt Wissenschaftlicher Satz: satz&sonders GmbH, Dülmen
ISBN 978-3-412-51235-4
„Erstaunlich, aber doch nicht völlig unverständlich.“ Meinem Vater Uwe Müller
INHALT
Vorwort
....................................................
9
1.
Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
11
1.1 1.2 1.3 1.4
Forschungsstand und Forschungsgeschichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Aufbau und Zielstellung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Quellen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Methodik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
12 15 18 20
2.
Sachsen im Mittelalter – ein Abriss . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
23
2.1 2.2
Ostkolonisation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Schwarzer Tod bis Reformation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
27 35
3.
Die Untersuchungsorte im Überblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
39
3.1 3.2
Rußdorf . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Bräunsdorf . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
39 60
4.
Geburtigkeit
............................................
81
4.1 4.2 4.3 4.4
Entwicklung der Geburtenzahlen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Saisonale Geburtenverteilung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Taufverhalten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Totgeburten und Nottaufen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
81 106 113 120
5.
Nuptialität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
135
5.1 5.2 5.3 5.4 5.4.1 5.4.2 5.4.3 5.4.4 5.5 5.6 5.7
Entwicklung der Heiratszahlen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Saisonale Heiratsverteilung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Heiraten nach Wochentagen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Heiratsalter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Voreheliches Leben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Lebenslange Ledigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Hochzeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Heiratsalter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Wiederheirat . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ehedauer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Heiratsmobilität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
138 164 171 176 178 184 187 188 202 212 218
6.
Sterblichkeit
239
6.1
Entwicklung der Sterbezahlen
............................................ ...............................
243
8
INHALT
6.2 6.3 6.4 6.5
Kriege, Hunger und Seuchen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Saisonale Sterblichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Epidemiologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Lebenserwartung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
253 270 277 292
7.
Familie
................................................
307
7.1 7.2 7.3
Generatives Verhalten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Familienplanung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Voreheliche Zeugungen, uneheliche Geburten . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
308 323 347
8.
Leben in der Dorfgemeinschaft
..............................
363
8.1 8.2 8.3
Soziostruktureller Wandel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Soziale Absicherungsmechanismen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ehepartnerwahlverhalten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
363 403 425
9.
Dörfliche Arbeitswelten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
441
9.1 9.2 9.2.1 9.2.2 9.2.3 9.3 9.3.1 9.3.2
Veränderungen des Berufsgruppenspektrums . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Akteure der Protoindustrialisierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Leinweber . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Leinwandhändler . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Strumpfwirker . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Akteure der Industrialisierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Fabrikanten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Fabrikarbeiter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
442 462 463 473 480 486 487 501
10.
Schlussbetrachtung
.......................................
509
Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
521
Tabellenverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
539
Abbildungsverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
541
Personenregister
545
..............................................
VORWORT
„‚Sie müssen dorthin blicken, [...] wo nach Seneca's Ausspruch alle Erdendinge am sichersten verwahrt sind!`“ 1 Die Krux für den Abwesenden oder Nachgeborenen liegt in der Unberühr- und -erfahrbarkeit der hier poetisch umschriebenen, so sicheren Vergangenheit. Jeder, der eine Rückschau halten möchte, sieht sich mit dem Problem konfrontiert, auf Relikte historischer Lebenswelten angewiesen zu sein, die nur einen unzulänglichen Eindruck des Gewesenen vermitteln können. Die Fragmentierung beginnt schon mit der subjektiven Wahrnehmung. Am schnellsten entschwindet zweifelsfrei das Alltägliche dem individuellen wie kollektiven Gedächtnis. Was sich in Routine beständig wiederholt, wird für gewöhnlich weder des Erinnerns oder Erzählens wert befunden noch explizit überliefert. Hingegen nden denkwürdige Ereignisse, Entwicklungen und „bedeutende“ Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens regelmäßig mindestens vorübergehend Eingang in die Erinnerungskultur. Die Vergangenheitsrezeption wird also vom Außergewöhnlichen geprägt, das Alltägliche aber bedarf besonderer Aufmerksamkeit. Die Faszination für das allzu Gewöhnliche, des Berichtens unwürdig Befundene, darum Vergessene und doch für ein Verständnis historischer Lebensrealitäten Unerlässliche, gab der vorliegenden Untersuchung zweier sächsischer Dörfer den Anstoß. Rasch geriet kirchliches und administratives Alltagsschriftgut in den Fokus, welches seit dem Spätmittelalter die rudimentären Ereignisse im Leben eines jeden Menschen innerhalb des Bezugsraums bürokratisch dokumentiert. Hierüber ließ sich einerseits das Grundgerüst der vergangenen menschlichen Lebenswelt rekonstruieren. Andererseits galt es, das Potential der genutzten Massenquellen für die Historiographie unter Verwendung elektronischer Datenbanken auszuloten. Naturgemäß ermöglichten zahlreiche Personen die Verwirklichung eines Forschungsvorhabens durch Hilfestellungen verschiedenster Art. Meinem Doktorvater Prof. Dr. Rudolf Boch danke ich für das langjährig in mich gesetzte Vertrauen, seine Förderung sowie die großen Freiheiten bei der Umsetzung meiner Forschungen. Ebenso gilt Herrn Prof. Dr. Miloš Rezník mein Dank für die Übernahme des Zweitgutachtens. Ohne die freundliche nanzielle Unterstützung der Gerda Henkel Stiftung wäre die Arbeit nicht denkbar gewesen. Ferner danke ich den Mitarbeitern aller genutzten Archive für die Unterstützung meiner Recherchen, besonders aber Frau Lorenz, Frau Dörffelt und Herrn Kirchner für manchen guten Hinweis. Nicht zuletzt bin ich meinen Eltern für das Freihalten meines Rückens einerseits, zahlreiche anregende Diskussionen, Beistand in technischen Fragen und das erste Lektorat andererseits außerordentlich dankbar. 1
Storm, Theodor, Zerstreute Kapitel. Kapitel X, in: Westermann, George (Hg.), Westermann's Jahrbuch der illustrierten deutschen Monatshefte, Bd. 31, Braunschweig 1872, S. 78–94, S. 82.
1. EINLEITUNG
Bis in die neueste Zeit herein galten die Kirchenbücher als Aschenbrödel unter den Denkmalen der Vorzeit. Man achtete sie für viel zu gering, als dass man sie wissenschaftlicher Prüfung und Verwertung für würdig gehalten hätte. Mit wenig Ausnahmen ist die Geschichtswissenschaft [...] ihre Wege gegangen, ohne sich um diese wertvollen Dokumente zu kümmern, deren Studium zur Kenntnis der Zustände der letzten vier Jahrhunderte unerlässlich ist [...]. 2
Obwohl die jüngere Sozialgeschichte unter anderem die kirchliche Überlieferung für sich entdeckt hat, erhält sie nebst manch weiterer alltagsgeschichtlicher Quellengattung längst nicht die verdiente wissenschaftliche Aufmerksamkeit. Geschichte wird keineswegs nur von mehr oder minder bekannten, in kollektiver Erinnerung verbleibenden „Gallions guren“ geschrieben. Jedermann trägt in seinen Handlungen, scheinen sie noch so profan, zum Angesicht der Welt ein Scherflein bei, ist gleichermaßen Kulturerschaffer wie -bewahrer und prägt das ungewisse Zukünftige in seiner Gegenwart. Er ist seinerseits der Erinnerung ebenso wert, fällt aber post mortem regelmäßig relativ rasch dem Vergessen anheim. Der einfache Mann von „gestern“ ist namenlos, gleich seiner Lebenswirklichkeit höchstens als Zerrbild Teil der Erinnerungskultur. Dabei können auf Grundlage entsprechender Aufzeichnungen theoretisch ganze historische Gesellschaften zumindest der Anonymität enthoben werden. Das isländische Íslendingabók gibt hierfür ein leuchtendes Beispiel. Die bis 740 reichende familienkundliche Überlieferung der weitgehend von äußeren Ein üssen frei gebliebenen Inselbevölkerung bietet, digital aufgearbeitet, wissenschaftlichen Untersuchungen unterschiedlichster Ausrichtung einen vorzüglichen Nährboden, wird etwa in der Erforschung von Erbkrankheiten seit Jahren intensiv genutzt, und rückt zugleich die toten Ahnen dank freien Zugriffs für jeden Isländer stärker in das öffentliche Bewusstsein. 3 Freilich bieten sich derartige Gesellschaftsrekonstruktionen vor allem für demographische Forschungen nachgerade an. Die vorliegende Fallstudie eifert etwa dem isländischen Vorbild im Kleinen nach. Sie betrachtet nicht von ungefähr die in unmittelbarer Nachbarschaft liegenden Dörfer Rußdorf und Bräunsdorf in Sachsen, von dem der Statistiker Felix Burkhardt schrieb, es sei „geradezu eine fast unerschöpfliche Fundgrube für tiefgreifende sozialwissenschaftliche Forschungen“ 4.
2 3
4
Blanckmeister, Franz, Die Kirchenbücher im Königreich Sachsen, Leipzig 1901. Vgl. Vaydylevich, Yekaterina, Iceland Study Provides Insights into Disease, Paves Way for Large-scale Genomic Studies, 2015, online: http://www.genome.gov/27561444/iceland-study-provides-insights-into-disease-paves-way-forlargescale-genomic-studies/ [zuletzt aufgerufen am 20.06.2016]. Burkhardt, Felix, Die Entwicklung der sächsischen Bevölkerung in den letzten 100 Jahren, in: Zeitschrift des Sächsischen Statistischen Landesamtes (ZSSL), 77. Jg., 1931, S. 1–69, S. 69.
12
EINLEITUNG
1.1 FORSCHUNGSSTAND UND FORSCHUNGSGESCHICHTE Die Geschichte der Demographie reicht bis ins 18. Jahrhundert zurück. Einer ihrer geistigen Väter, der preußische Pfarrer Johann Peter Süßmilch, verfolgte in seinem 1741 publizierten Werk Die Göttliche Ordnung in den Veränderungen des menschlichen Geschlechts den Anspruch, aus seiner überregional angelegten Untersuchung Vorschläge für eine optimale Sozial- und Landespolitik abzuleiten. So sehr Bevölkerungswachstum darin dem Zeitgeist entsprechend positiv bewertet wurde, so entschieden maß ihm Thomas Robert Malthus 1798 in seiner bis in die Gegenwart vielfach rezipierten und diskutierten Bevölkerungstheorie einen destruktiven Charakter bei. 5 Nehme die Bevölkerung auf natürliche Weise exponentiell, der ihr zur Verfügung stehende Nahrungsspielraum den Möglichkeiten entsprechend jedoch nur linear zu, seien Systemkrisen vorbestimmt. Provozierte repressive Korrektive restituierten ein ausgeglichenes Verhältnis zwischen Lebensmittelangebot und Populationsgröße. Um dergleichen private bis kommunale Notstände, die sich in England um 1800 bereits im sich ausbreitenden Pauperismus zeigten, zu vermeiden, mahnte Malthus präventive Regulative an, welche die Bevölkerungszahl auf ein gesundes Maß beschränken sollten. 6 Als eigene wissenschaftliche Disziplin etablierte sich die makroanalytisch vorgehende Bevölkerungsgeschichte trotz zwischenzeitlicher umfangreicher Diskussion des malthusianischen Theorems jedoch erst im späten 19. Jahrhundert. Seit den 1920er Jahren unterlag die Forschungsrichtung in Deutschland mit dem Erstarken völkischer, rassistischer und eugenischer Tendenzen einem Aufschwung und einer Umdeutung weg von ihrer traditionellen sozialgeschichtlichen hin zu einer biologischen Ausrichtung gleichermaßen. 7 Zwar motivierte dies nebst der im Nationalsozialismus einhergehenden Politisierung der Genealogie eine beispiellose Aufbereitung demographischer Primärquellen insbesondere in Form von Ortssippenbüchern, doch brachte ihr ideologischer Missbrauch die Disziplin im Deutschland der Nachkriegszeit auf Jahre in Verruf. Erlebte die Bevölkerungswissenschaft in der BRD ab den 1970er Jahren eine Renaissance, blieb sie in den ostdeutschen Ländern bis in die Gegenwart auf wenige, zumeist in territorialgeschichtliche Arbeiten eingebettete Untersuchungen beschränkt. 8 In Frankreich bildete sich demgegenüber noch in den 1940er Jahren in der AnnalesSchule eine neue Humanwissenschaft mikroregionalen Zuschnitts heraus. Ein Artikel Jean Meuvrets, der eine enge Verbindung hoher Getreidepreise und Krisensterblich-
5 6 7 8
Vgl. Brocke, Bernhard vom, Bevölkerungswissenschaft – Quo vadis?. Möglichkeiten und Probleme einer Geschichte der Bevölkerungswissenschaft in Deutschland, Opladen 1998, S. 37 ff. Vgl. Malthus, Thomas, An Essay on the Principle of Population, London 1798, S. 23 ff. Vgl. Ehmer, Josef, Bevölkerungsgeschichte und Historische Demographie 1800–2000, München 2004, S. 58. Vgl. P ster, Christian, Bevölkerungsgeschichte und Historische Demographie 1500–1800, München 1994, S. 60.
FORSCHUNGSSTAND UND FORSCHUNGSGESCHICHTE
13
keit im Frankreich des Ancien Régime attestierte 9, diente 1946 zur Initiationsschrift der Historischen Demographie. Pierre Goubert führte die Subsistenzkrisen-Theorie auf Grundlage durch Kirchbuchauswertungen gewonnener Daten Anfang der 1950er, freilich ob ihres Absolutheitsanspruches nicht unwidersprochen, weiter. 10 Beide Aufsätze regten zusammen mit einem umfangreichen Leitfaden der Familienrekonstitution Louis Henrys und Michel Fleurys 1956 insbesondere im französischen Raum zahlreiche historisch-demographische Regionalstudien an. 11 In der BRD vermochte etwa Gerhard Mackenroths Bevölkerungslehre 1953 trotz hervorragender Quellensituation keine vergleichbaren Reaktionen auszulösen. Erst Anfang der 1970er Jahre formierten sich in Berlin um Arthur Imhof sowie unter anderem um Hermann Weber und Walter Rödel in Mainz demographische Forschergruppen. Außerdem legte der Amerikaner John E. Knodel 1988 eine wegweisende Fallstudie unter Berücksichtigung von 14 über die Bundesrepublik verteilten Dörfern nach französischem Vorbild vor. 12 Eine Göttinger Gruppe um Jürgen Schlumbohm, Peter Kriedte und Hans Medick gab der deutschen demographischen Forschung Anfang der 1980er neuerliche, bis in die 1990er Jahre wirkende Impulse. Ausdrücklich in einem mikrohistorischen Rahmen agierend, stellten diese Forscher Bevölkerungsentwicklung in den Kontext von Wirtschaft und Gesellschaft. 13 Besondere Beachtung fanden hierbei die Ein üsse industrieller Entwicklung, die Protoindustrialisierung inklusive. Kaum ein Jahrzehnt zuvor hatte Franklin Mendels das Konzept einer „Industrialisierung vor der Industrialisierung“ begründet, ihre sozioökonomischen Rückwirkungen in den Blick genommen und zugleich am Beispiel Flanderns Korrespondenzen zwischen Heiratsfreudigkeit und Leinenpreisentwicklung festgestellt. 14 Seit den 1960er Jahren setzte schließlich Michael Mitterauer in Wien mit geradezu mikroskopischer Sicht auf einzelne Haushalte, Familien- und Personenschicksale neue Akzente. Dadurch begründete er die anfangs stark historischdemographisch orientierte Historische Familienforschung mit. 15 9 10 11 12 13
14 15
Vgl. Meuvret, Jean, Les crises de subsistances et la démographie de la France d'Ancien Régime, in: Population: revue bimestrielle de l'Institut National d'Études Démographiques, Bd. 1/1946, Paris 1946, S. 643–650. Vgl. Goubert, Pierre, En Beauvaisis: Problèmes démographiques du XVIIe siècle, in: Annales: économies, sociétés, civilisations, Nr. 7, Paris 1952, S. 453–468. Vgl. Imhof, Arthur E., Einführung in die Historische Demographie, München 1977, S. 19. Vgl. Knodel, John E., Demographic Behavior in the Past. A Study of Fourteen German Village Populations in the Eighteenth and Nineteenth Centuries, Cambridge 1988. Vgl. Kriedte, Peter, Eine Stadt am seidenen Faden, Göttingen 1992. – Kriedte, Peter /Medick, Hans/Schlumbohm, Jürgen, Industrialisierung vor der Industrialisierung. Gewerbliche Warenproduktion auf dem Land in der Formationsperiode des Kapitalismus, Göttingen 1977. – Medick, Hans, Weben und Überleben in Laichingen 1650–1900, Göttingen 1997. – Mooser, Josef, Ländliche Klassengesellschaft 1770–1848, Göttingen 1984. – Schlumbohm, Jürgen, Lebensläufe, Familien, Höfe, Göttingen 1994. Vgl. Mendels, Franklin, Industrialization and Population Pressure in Eighteenth-Century Flanders, Diss., Ann Arbor 1970, S. 270. Vgl. Ehmer, Josef /Hareven, Tamara K./Wall, Richard (Hg.), Historische Familienforschung. Ergebnisse und Kontroversen, Frankfurt a. M./New York 1997, S. 11f.
14
EINLEITUNG
Am Beginn des 21. Jahrhunderts ist die „Aufbruchstimmung“ der 1980er/1990er Jahre in der deutschen Forschung abgeklungen. Auf einer Tagung des Arbeitskreises Historische Demographie in Rostock beklagte Rolf Gehrmann die starke Fokussierung jüngerer Studien auf „hochspezialisierte quantitative Analysen“ bei Vernachlässigung der kulturell-ideologischen Komponente einer Bevölkerungsweise. Die bereits von Imhof in den 1970ern geforderte Verbindung mikro- mit makroregionalen bevölkerungsgeschichtlichen Ergebnissen sei weiterhin sträflich unterrepräsentiert. Schlumbohm riet in diesem Zusammenhang eine intensivere Einbeziehung nachgeordneter demographischer Quellen, zum Beispiel Volkszählungslisten, in Familienrekonstitutionen an. Darüber hinaus sprach er Studien zur Geschichte des Stillverhaltens und der personenbezogenen Eheanbahnung als Desiderate an. Im deutschen Raum seien nicht zuletzt weitere Mikroanalysen wünschenswert. 16 Solches gilt umso mehr für thematisch breit gefächerte, über die vergleichsweise oft bemühte Spezialisierung auf einzelne Größen oder Problemfragen der Bevölkerungswissenschaft hinausgehende, grundlegende Fallstudien. Heikel erscheint desgleichen der vielfache, mit geringerem Arbeits- und Zeitaufwand in der Vorbereitungsphase begründete Rückgriff auf vorhandenes, teils bereits ausgewertetes Datenmaterial. Doch auch über den inhaltlichen Aspekt hinausgehend – zum Beispiel entbehrt Deutschland bis in die Gegenwart einer zeitlich und räumlich umfassenden Bevölkerungsgeschichte nach englischem oder niederländischem Vorbild 17 – weist die deutsche Forschungslandschaft erhebliche zeitliche und räumliche Lücken auf. Viele Untersuchungen bleiben auf das in Personenstandsquellen relativ umfassend dargestellte 18. bis frühe 20. Jahrhundert 18 beschränkt und sparen die durch große Überlieferungslücken ungleich schwerer darstellbaren vorhergehenden zwei Jahrhunderte, für welche demographische Analysen in der Regel noch möglich sind, mutmaßlich dem zu erwartenden hohen Aufarbeitungsaufwand geschuldet aus. Ebenso erfuhren die Gebiete der ehemaligen DDR bislang untergeordnete Beachtung. Sachsen, das Vorreiterland der Industrialisierung in Kontinentaleuropa, stellt in dieser Beziehung nahezu einen weißen Fleck dar. Die bekanntesten der wenigen vorhandenen Beiträge lieferten Karlheinz Blaschke und Volkmar Weiss. Jener schrieb, gestützt auf Zinsregister, Einwohner-, Haus- und Herdstellenzählungen sowie die Zeitschrift des
16
17
18
Vgl. Gehrmann, Rolf, Tagungsbericht Bilanz und Perspektiven historisch-demographischer Forschung in Deutschland. 29. 10. 2009-30.10.2009, Rostock, in: H-Soz-u-Kult, 16. 01. 2010, online: http://www.hsozkult.geschichte.huberlin.de/tagungsberichte/id=2927 [zuletzt aufgerufen am 20. 06. 2016]. Vgl. Scho eld, R. S./Wrigley, E. A., The Population History of England 1541–1871, London 1981. – Wintle, Michael, An Economic and Social History of the Netherlands, 1800–1920. Demographic, Economic and Social Transition, Cambridge 2000. Nach dem Ersten Weltkrieg erschwerte die seit dem 19. Jahrhundert stark zunehmende Fluktuation Familienrekonstruktionen erheblich. Außerdem mögen Datenschutzbeschränkungen abschreckend wirken.
AUFBAU UND ZIELSTELLUNG
15
Sächsischen Statistischen Landesamtes eine Bevölkerungsgeschichte Sachsens 19, dieser untersuchte anhand von Ahnenlisten der Zentralstelle für Genealogie in Leipzig die räumliche und soziale Mobilität der sächsischen Bevölkerung. 20 Wenige zusätzliche kleinräumig ausgerichtete Arbeiten beschäftigen sich etwa mit der Bevölkerungsgeschichte des oberen Vogtlandes 21 oder der eines Bauerngeschlechts im Muldental 22. Zuweilen enthalten auch wissenschaftliche 23 und heimatkundliche Abhandlungen anderweitigen Zuschnitts bevölkerungsgeschichtliche Elemente.
1.2 AUFBAU UND ZIELSTELLUNG Die vorliegende Arbeit steht als historisch-demographische Untersuchung auf Basis sogenannter Familienrekonstitution gleichermaßen in der Tradition der französischen Schule wie früherer deutscher Kirchenbuchverkartungen. Ihre Zielstellungen sind zweierlei. Einerseits gilt es, die Abhängigkeiten zwischen Bevölkerungsweise, Gesellschaftsstruktur und Wirtschaftsentwicklung kleinräumig darzustellen. Andererseits soll die rechnergestützte Auswertung einer inhaltlich und formell nicht primär auf die statistischen Ansprüche einer demographischen Fallstudie abgestimmten Datenbank auf ihre Funktionalität hin geprüft werden. Die Auswahl der Untersuchungsorte erfolgte keineswegs beliebig. Rußdorf bildete vom 15. Jahrhundert an einen eigenen politischen und wirtschaftlichen Raum innerhalb seines Umlandes. Diese Sonderstellung beein usste seine Entwicklung nachhaltig, begünstigte die Gründung der frühesten Strumpfwirkerinnung im sächsischen Raum vor Ort und förderte seinen Aufstieg zum einzigen Industriedorf des Herzogtums SachsenAltenburg im späten 19. Jahrhundert. Dadurch stellt die Exklave, mit weit zurückreichender gewerblicher Vergangenheit typischer Vertreter des südwestsächsischen protoindustriellen Ballungsraumes und zugleich in einigen Merkmalen aus der Masse hervorstechend, ein exzellentes Forschungsobjekt dar. Das benachbarte Bräunsdorf, ein am
19
20 21 22
23
Vgl. Blaschke, Karlheinz, Bevölkerungsgeschichte von Sachsen bis zur Industriellen Revolution, Weimar 1967. – Blaschke, Karlheinz, Soziale Gliederung und Entwicklung der sächsischen Landbevölkerung im 16. bis 18. Jahrhundert, in: Zeitschrift für Agrargeschichte und Agrarsoziologie, Bd. 4, Frankfurt a. M. 1956, S. 144–156. Vgl. Weiss, Volkmar, Bevölkerung und soziale Mobilität. Sachsen 1550–1880, Berlin 1993. Vgl. Raunert, Margarete, Zur Bevölkerungsgeschichte des oberen Vogtlandes. Von der Besiedlung bis zum 18. Jahrhundert. Eine genealogische Untersuchung, Bd. 1, Berlin 1970. – Ebd., Bd. 2, Berlin 1975. Vgl. Streller, Karl, Die Geschichte eines nordwestsächsischen Bauerngeschlechtes im Verlaufe von drei Jahrhunderten. Ein Beitrag zur Erforschung einiger im Mündungswinkel der Mulden und an der Eula liegender Siedlungen sowie ihrer wirtschaftlichen and kulturellen Verhältnisse, Diss., Leipzig 1933. Vgl. Schirmer, Uwe, Das Amt Grimma 1485–1548, Demographische, wirtschaftliche und soziale Verhältnisse in einem kursächsischen Amt am Ende des Mittelalters und zu Beginn der Neuzeit, Beucha 1996. – Krauß, Jirko, Ländlicher Alltag und Kon ikt in der späten Frühen Neuzeit. Lebenswelt erzgebirgischer Rittergutsdörfer im Spiegel der kursächsischen Bauernunruhen 1790, Frankfurt a. M. 2012.
16
EINLEITUNG
sächsischen Industrialisierungsprozess nur mittelbar teilnehmendes ehemaliges Bleicherdorf, erscheint nicht minder interessant. An die Vorstellung der hauptsächlich verwendeten Quellen und der Auswertungsbzw. Analysemethoden schließt sich eine Einführung in den geographischen und regionalhistorischen Kontext der betrachteten Dorfschaften sowie ein Abriss ihrer Entwicklung an. Bevölkerungsweisen können nicht von ihrem Umfeld isoliert erklärt werden, weswegen dessen Kenntnis unerlässlich ist. Die quellenmäßig belegbaren Ortsgeschichten setzen prinzipiell erst in der Mitte des 16. Jahrhunderts ein. Um einen Eindruck der vorangegangenen Jahre zu vermitteln, wird die sächsische Geschichte zwischen hochmittelalterlicher Kolonisation des Gebiets und der Reformationszeit kurz dargestellt. Die nachfolgenden Perioden, unter anderem in den landesgeschichtlichen Abhandlungen Czoks, Blaschkes oder Gross' 24 sowie in wirtschafts- und sozialgeschichtlichen Darstellungen Forbergers, Kiesewetters, Schäfers und Karlschs 25 detailliert aufgearbeitet, werden dagegen an dieser Stelle vorrangig im lokalhistorischen Zuschnitt angesprochen. Der Hauptteil beschäftigt sich zunächst mit den zentralen demographischen Kenngrößen der Geburtigkeit, des Heiratens und des Sterbens in den Untersuchungsorten. Hierbei liegt das besondere Augenmerk auf der Identi zierung langfristiger Prozesse innerhalb der Bevölkerungsweise und der sozioökonomischen Entwicklung sowie Indizien der Wirksamkeit eines malthusianischen Systems bzw. dessen Aufhebung. Mehrere Veränderungen sind mit Hinblick auf prinzipiell repetitive Ergebnisse vergleichbarer älterer Studien zu erwarten. Industrialisierung begleitet demnach regelmäßig ein demographischer Übergang, ein grundlegender Wandel des Bevölkerungsverhaltens in konsequent eine Richtung weg von hohem Menschenumsatz durch hohe Mortalitäts- wie Geburtenraten hin zu einem durchgängig niedrigen Niveau dieser Kenngrößen. Frühe Beobachtungen des Phänomens motivierten das Theorem der demographischen Transition, welches neben dem zwingenden Auftritt einen konsequent gleichen Verlauf des Übergangs annahm. Zahlreiche Regionalstudien zeichneten ein differierendes Bild, sodass das Transitionskonzept seines Theoriecharakters beraubt nurmehr auf die Beschreibung eines diversitären Vorgangs reduziert wurde. 26 Das malthusianische System, dessen Existenz in der Forschung seit seinem Postulat umstritten ist, wird durch die Wirkung positiver und präventiver Regulative determiniert. Hinweise auf Letztere, in Geburtenbegrenzung durch aktive innerfamiliäre Reproduktionskontrolle oder Heiratsbeschränkungen zum Beispiel in limitierenden
24 25
26
Vgl. Blaschke, Karlheinz, Geschichte Sachsens im Mittelalter, Berlin 1990. – Czok, Karl (Hg.), Geschichte Sachsens, Weimar 1989. – Gross, Reiner, Geschichte Sachsens, Leipzig 2001. Vgl. Forberger, Rudolf, Industrielle Revolution in Sachsen 1800–1861, Berlin 1982. – Karlsch, Rainer /Schäfer, Michael, Wirtschaftsgeschichte Sachsens im Industriezeitalter, Dresden/Leipzig 2006. – Kiesewetter, Hubert, Die Industrialisierung Sachsens. Ein regional-vergleichendes Erklärungsmodell, Stuttgart 2007. – Kiesewetter, Hubert, Industrielle Revolution in Deutschland. Regionen als Wachstumsmotoren, Stuttgart 2004. Vgl. Imhof, Einführung, S. 60ff.
AUFBAU UND ZIELSTELLUNG
17
Ehegesetzgebungen oder einem festen Gerüst sozioökonomischer Stellen nach Mackenroth 27 funktionierend, gibt eine in ihrem Umfang relativ statische Gesellschaft. Hingegen deuten periodisch wiederkehrende, auf Progress folgende quantitative Einbrüche die Ersteren an. Derartige demographische Krisen, verursacht durch Hunger, Kriege oder Seuchen, sollten mit der Industrialisierung ebenfalls an Wirkung verlieren. 28 In diesem Zusammenhang steht auch Gouberts Subsistenzkrisentheorie bzw. die von ihm angenommene, ebenfalls alsbald als vereinfachend kritisierte direkte negative Korrespondenz von Getreidepreisen und Bevölkerungsentwicklung in vorindustrieller Zeit sowie die von Mendels gesehene positive Verbindung zwischen ökonomischer Entwicklung und Heiratsverhalten 29 zur Debatte. Nicht zuletzt wird die Zuordenbarkeit des Limbacher Landes zu John Hajnals Konzept des Western European Marriage Pattern, einem typisch westeuropäischen Muster später Heirat auf Grundlage eines variablen Systems vielgestalter Strukturelemente und soziokultureller Faktoren sowie infolgedessen proportional zur Einschränkung des potentiellen Fertilitätszeitraums verringerter Kinderzahlen je Frau, überprüft. 30 Das siebte Kapitel knüpft, die einmal konstituierte Familie inklusive des generativen Verhaltens in den Blick nehmend, daran thematisch an. Mit dem demographischen Übergang geht regelmäßig ein starker Rückgang der Familiengrößen einher. Neben dessen Verlauf in den Untersuchungsorten ist fraglich, ob diesen eine Ablösung unbewusster Fertilität durch allgemeine Familienplanung begleitete. Ein für Mütter zwischen ihrem 20. und 30. Lebensjahr entwickeltes Modell Anthony Wrigleys hilft, den Grad des menschlichen Eingriffs in die natürliche Reproduktion zu ermessen. Des Weiteren werden mögliche Ursachen des Aufschwungs der Kleinfamilie im 20. Jahrhundert, etwa die Wohlstandstheorie, diskutiert. Die beiden letzten Kapitel richten den Fokus auf die Wandlungsprozesse von Dorfgesellschaft und -ökonomie. Das Interesse gilt hierbei vorrangig der Darstellung und Erklärung sozialstruktureller Umformung sowie den sozioökonomischen Hintergründen von Protoindustrialisierung und Industrialisierung. Blaschke sah einen in der Frühen Neuzeit wachsenden Bevölkerungsdruck in Sachsen, der sich nach innen in einer Steigerung der Produktivkräfte entladen habe und zum Motiv der Industrialisierung geworden sei. 31 Volkmar Weiss verneinte demgegenüber eine Selbstreproduktion des ländlichen Proletariats als maßgeblicher Trägerschicht industrieller Entwicklung vor
27 28 29 30 31
Vgl. Mackenroth, Gerhard, Bevölkerungslehre. Theorie, Soziologie und Statistik der Bevölkerung, Berlin 1953. Ehmer, Josef, Demographische Krisen, in: Jaeger, Friedrich (Hg.), Enzyklopädie der Neuzeit, Bd. 2, Beobachtung – Dürre, Stuttgart 2005, S. 899–908. Vgl. Mendels, Franklin, Proto-Industrialization. The First Phase of the Industrialization Process, in: The Journal of Economic History, Bd. 32, Nr. 1, The Tasks of Economic History, o. O. 1972, S. 241–261, S. 249 ff. Vgl. Hajnal, John, European Marriage Patterns in Perspective, in: Glass, David Victor /Eversley, David Edward Charles (Hg.), Population in History. Essays in Historical Demography, Bd. 1, London 1965, S. 101–143. Vgl. Blaschke, Bevölkerungsgeschichte, S. 235.
18
EINLEITUNG
1870, jene als dessen Folge begreifend. Vielmehr habe die rurale Unterschicht bis ins späte 19. Jahrhundert als Auffangbecken der bäuerlichen Überschussbevölkerung gedient. 32 Ein die Analyseergebnisse zusammenfassender Vergleich der betrachteten Dörfer, in dessen Rahmen die Interdependenzen zwischen Bevölkerungsweise, Wirtschaft und Gesellschaftsstruktur herausgestellt werden, schließt die Arbeit ab.
1.3 QUELLEN Die vorliegende Studie stützt sich hauptsächlich auf die in den evangelischen Pfarrämtern der betrachteten Dörfer geführten und bewahrten Kirchenbücher. Diese kirchlichen Personenstandsregister, welche in katholischen Gebieten auf die Beschlüsse des Trentinischen Konzils 1563 bzw. das Rituale Romanum Papst Pauls V. 1614 sowie in evangelischen überwiegend auf die landesherrlichen Kirchenordnungen des 16. Jahrhunderts zurückgehen, verzeichnen bis in die Gegenwart vorrangig Kasualhandlungen, d. h. Taufen, Trauungen und Beerdigungen. 33 In Sachsen beginnt die ächendeckende Aufzeichnung in den 1530er Jahren – manches Mal unter erheblichen Beschränkungen etwa auf gewisse Stände oder nur Erwachsene in den Totenbüchern –, wurde aber erst in den sächsischen Generalartikeln 1557 obrigkeitlich verordnet. Die ältesten Verzeichnisse reichen in Annaberg bis 1498 und in Zwickau bis 1502 zurück. 34 In den meisten Gemeinden setzt die Überlieferung verlustbedingt deutlich später im 17. Jahrhundert, oft sogar erst nach dem Dreißigjährigen Krieg, ein. Die Datenqualität schwankt je nach Gusto des Verfassers immens. Zum Beispiel kann ein Taufeintrag inhaltlich auf die Namen des Vaters, des Täuflings und der Gevattern sowie den Tauftag beschränkt bleiben oder im anderen Extrem zusätzlich den Beruf und Stand des Vaters und der Gevattern, den Vor- und Geburtsnamen der Mutter, die Geburtsdaten und -orte der Eltern und des Täuflings nennen. Unter Umständen werden Totgeburten ausgespart und bestehen generell abhängig vom Entstehungszusammenhang Aufzeichnungslücken. Insbesondere ältere Register sind zudem nicht nur nicht vor üblichen Flüchtigkeitsbzw. Übertragungsfehlern im Sinne beispielsweise wechselnder Namen, sondern auch nicht vor fehlerhaften Referenzierungen auf andere Einträge etwa bei der Altersberechnung gefeit. Ab 1800 folgten die Einträge einem normierten Muster, welches eine hohe Standarddatenmenge einforderte und dieselbe zum Ende des 19. Jahrhunderts nochmals ausdehnte. Die Rußdorfer Kirchenbücher beginnen relativ früh, sind bis auf zwei
32 33 34
Vgl. Weiss, Bevölkerung, S. 212ff. Vgl. Ribbe, Wolfgang /Henning, Eckart (Hg.), Taschenbuch für Familiengeschichtsforschung, Neustadt a. d. Aisch 1995, S. 113. Vgl. Blanckmeister, Franz, Die Kirchenbücher im Königreich Sachsen, Leipzig 1901, S. 38 ff.
QUELLEN
19
Lücken bei den Beerdigungen 1638 und 1684–1686 ohne Unterbrechung überliefert und bieten bis ca. 1700 eine gute und hernach eine sehr gute Datenqualität. Die Bräunsdorfer Überlieferung beginnt aufgrund eines Brandschadens erst 1640, steht der Rußdorfer qualitativ jedoch nicht nach. Zwar spart sie Todesursachen bis 1800 weitgehend aus, verzeichnet aber von Beginn an in den Taufanzeigen die Mutternamen sowie bereits ab den 1660ern regelmäßig Berufe und Stände. Eine zweite Hauptquelle bilden die Zivilstandsregister. Diese von den Standesämtern auf Basis des am 1. Januar 1876 in Kraft getretenen Reichsgesetzes über die Beurkundung des Personenstandes und der Eheschließung geführten Akten lösten die Kirchenbücher in ihrer Funktion, die Eckpunkte des Lebens zu beurkunden, ab. Zwar sparen sie die kirchlichen Kasualhandlungen aus und verzichten auch auf die Angabe von Todesursachen, doch verzeichnen sie alle Personen bzw. Geburts-, Hochzeits- und Sterbeereignisse innerhalb ihres klar de nierten Einzugsbereichs ohne Ansehung religiös-weltanschaulicher Ausrichtungen und garantieren via uneingeschränkter gesetzlicher Meldep icht Vollständigkeit. Von Beginn an bieten die standesamtlichen Personenstandsdokumente eine hohe Datenqualität, indem sie Geburtsnamen, Berufe und Adressen einschließen. In der vorliegenden Untersuchung dienten die Zivilstandsregister in erster Linie zur Ergänzung der Kirchenbuchüberlieferung, da ab 1875 ein wachsender Bevölkerungsanteil auch infolge verstärkter Kirchenaustritte Meldungen an das Pfarramt unterließ. Zur Rekonstruktion der Dorfstrukturen respektive der ruralen Besitzverhältnisse wurde in erster Linie auf Gerichtsbücher, von den Ämtern geführte Verzeichnisse vor allem von Grundbesitzveränderungen, Vormundschafts- und Erbschaftssachen zurückgegriffen. In Sachsen reicht deren Überlieferung vom späten 15. Jahrhundert bis zur Bauernbefreiung Mitte des 19. Jahrhunderts, zahlreiche verlustbedingte Lücken inklusive. Daran schließen sich unter anderem Grund- und Hypothekenbücher ähnlichen Inhalts an. Als fünfte Hauptquelle der Arbeit fungieren die 1537 einsetzenden Jahresrechnungen des St.-Georgen-Stifts und Amts Altenburg, in denen unter anderem die bei Lehnreichungen fälligen Lehnwarenzahlungen verzeichnet wurden. Obgleich auf die nötigsten Fakten beschränkt, geben diese Aufzeichnungen wertvolle Hinweise zur Rekonstruktion der Rußdorfer Besitzfolgen bei Gerichtsbuchlücken in den frühen Jahren. Schließlich wurden zahlreiche weitere Akten unterschiedlichster Provenienz, darunter Steuerverzeichnisse, Ablösungsakten, Brandkataster und Gerichtsakten, Adressbücher und Einwohnerverzeichnisse, die Personendaten erhoffen ließen, ergänzend hinzugezogen.
20
EINLEITUNG
1.4 METHODIK In Vorbereitung der eigentlichen Auswertung musste das zur Verfügung stehende Quellenmaterial erfasst und aufbereitet werden. Dem Anspruch folgend, die Daten auch in einem individuellen und familiären Kontext zu betrachten bzw. in Beziehung zueinander zu setzen, genügte eine bloße Aggregation nicht. Daher galt es, Personenbiographien zu erstellen, diese in Familien zu ordnen und dadurch die Gesellschaften der Untersuchungsorte über den betrachteten Zeitraum hinaus zu rekonstruieren. Die zeitliche Begrenzung der Arbeit orientiert sich dabei an den maßgeblichen Quellen. Mit ihrem Beginn 1582 markiert die Rußdorfer Kirchbuchüberlieferung den Anfang der demographischen Analyse. Ihr Ende 1935 ist an der Eingemeindung Rußdorfs nach Oberfrohna ausgerichtet. Anlässlich dessen ging das vormals separate lokale Standesamt in jenem des Nachbarorts auf und gleichsam die getrennte Registerführung verloren. Die notwendigen Daten aus den ab 1935 „gemischten“ Zivilstandsregistern zu extrahieren, hätte eine unbotmäßige Vervielfachung des Arbeitsaufwandes bedeutet und wurde daher unterlassen. Die Rußdorfer Kirchenbücher zwischen 1582 und 1964, deren Bräunsdorfer Pendants 1640–1997 und die Standesamtsregister beider Orte 1876–1935 wurden systematisch in Zehnjahresabschnitten von den Hochzeiten ausgehend über Geburten bis zu den Sterbefällen chronologisch ausgewertet und ad hoc mithilfe der freien Genealogiesoftware „Gramps“ in einer Datenbank erfasst. Eingang fanden Geburts-, Tauf-, Kon rmations-, Hochzeits-, Einsegnungs-, Sterbe- und Beerdigungsereignisse, Todesursachen und Berufs- bzw. Standesbezeichnungen mit dem Jahr des Auftretens bzw. ohne Jahresangabe bei postumen Nennungen. Schreibweisenvereinheitlichungen wurden an keiner Stelle vorgenommen. Im Gegenteil blieben auch orthographische Variationen nicht unberücksichtigt. Lediglich Taufpaten mussten dem ohnehin immensen Arbeitsaufwand geschuldet außer Acht gelassen werden. Die Daten wurden weitestmöglich im „Originalzustand“ gehalten; die Datenbank erfüllt somit ausschließlich ordnende Funktionen. Desgleichen wurde eine Vorabseparierung des Materials beider Untersuchungsorte, wenngleich getrennt analysiert, unterlassen, um eine Ergänzung des Quellenmaterials nicht zu unterbinden. Diese unkonventionelle Auswertungsmethode soll mittelbar das Potential vergleichsweise roher, losgelöst von starren räumlichen Grenzen erhobener (Kirchbuch-)Daten aufzeigen. Die der Studie zugrunde liegende nale Datenbankversion umfasst rund 44.000 Personen in ca. 18.500 Familien. In einem zweiten Arbeitsgang wurde diese, um eine prozedurale Auswertung zu ermöglichen, in eine relationale SQLite-Datenbank exportiert. Mittels eigens erstellter Abfragebefehle konnten die Daten problemorientiert extrahiert, aggregiert und analysiert werden. Die bemühte Vorgehensweise erlaubt im Vergleich zur herkömmlichen Familienrekonstitution, bei der die Auswertungsgrundlage zu Beginn fest auf gesetzte Kriterien
METHODIK
21
erfüllende Bevölkerungsteile gewissermaßen fragestellungsunabhängig reduziert wird, zügige und bedarfsgerechte Variationen der genutzten Datenbasis. Prinzipiell lässt sich zudem die generell schwer fassbare Mobilität bei ausreichendem Material ohne explizite Voruntersuchungen selbst ortsgebunden messen. Der größte Vorteil liegt jedoch zweifelsohne in der Möglichkeit, theoretisch für beliebige Zeitpunkte fernab überlieferter Bevölkerungszählungen relativ akkurate, umfassende Gesellschaftsrekonstruktionen erstellen zu können. Zugleich unterliegt die Nutzung dieser Vorteile merklichen systematisch-technischen Schwierigkeiten. Lückenlose individuelle wie familiäre Biographien stehen und fallen mit der Ereignisdichte. Insbesondere für Familien- und Gesellschaftsuntersuchungen unverzichtbare vitalstatistische Momentaufnahmen bedürfen Extrapolationen, welche auf mindestens zwei Ereignisse derselben Verortung angewiesen sind. Existierte etwa lediglich für 1688 ein Beleg der Beschäftigung Christoph Helbigs als Richter in Rußdorf, könnte er ausschließlich in jenem Jahr in die Berufsstatistik in dieser Funktion ein ießen. Eine analoge Nennung 1667 erlaubt stattdessen, seine Tätigkeit auf 21 Jahre anzusetzen. Ebenso bleibt bei Personen ohne Geburts- oder Sterbedatum unklar, ab bzw. bis zu welchem Zeitpunkt sie im fraglichen Ort ansässig waren. Stellte dies auch die manuelle Auszählung vor Probleme, tritt bei der automatisierten die Komplikation irreführender Ereignisorte hinzu. Zufällig auswärtige Todesfälle oder dergleichen Hochzeiten erschließen sich dem menschlichen Auge rasch, nicht oder nur über Umwege aber der künstlichen Intelligenz. Dabei gilt freilich die Regel, je qualitativ umfangreicher das Datenmaterial, desto akkurater die Auswertung zu beliebigen Zeitpunkten. Parallel zu den Personenstandsregistern wurde die in beiden Untersuchungsorten 1671 einsetzende kontinuierliche Gerichts- und Grundbuchüberlieferung soweit möglich in Besitzfolgerekonstruktionen der lokalen Güter umgesetzt, um deren zahlenmäßige Entwicklung nachzuvollziehen und durch manuelle Bearbeitung Aussagen über gesellschaftlichen Wandel in Ergänzung der demographischen und ökonomischen Analyse auf Grundlage der Kirchenbücher und Standesamtsregister treffen zu können.
2. SACHSEN IM MITTELALTER – EIN ABRISS
Huius adventum leo rugiens cauda subsequenti impedire satagens, in silva, quae Miriquidui dicitur, montem quendam cum sagittariis prorsus intercluso omni aditu rmat. 35
Mit diesen Worten schildert Thietmar von Merseburg in seiner zwischen 1012 und 1018 verfassten Chronik nicht allein einen militärischen Schachzug Boles aw I. Chrobrys, allegorisiert als „Löwe“, während seines Kampfes mit dem ottonischen König Heinrich II. im Jahr 1004. Gleichzeitig charakterisiert er mittels einer Randbemerkung – quae Miriquidui dicitur – die böhmische Grenze des Erzgebirges in ihrer geographischen Beschaffenheit im ausgehenden Frühmittelalter. Der Begriff „Miriquidui“ hat seinen etymologischen Ursprung im altnordischen „Myrkviðr“, welches einen „Dunkelwald“ bezeichnet. 36 Thietmar wählte die Benennung nicht grundlos. Zu seinen Lebzeiten wies der stark bewaldete Erzgebirgsraum keinen signi kanten Besiedlungsgrad auf. Zudem war er territorialherrschaftlich nicht unumstritten. Die Ausdehnung des großen Urwaldes reichte weit ins Erzgebirgsvorland und schloss dabei zum Beispiel den Freiberger, Chemnitzer und Zwickauer Raum ein. Seine Westgrenze markierte die Zwickauer Mulde, wie eine auf den 30. August 974 datierende, in ihrer überlieferten Form gefälschte Urkunde 37 Kaiser Ottos II. nahelegt. Sie bezeugt die Schenkung eines Forstes „inter Salam ac Mildam uvios“ und „Siusili et Plisni provincias“ an die Kirche zu Merseburg, einschließlich des darauf haftenden Wildbanns, der aus dem offensichtlich benachbarten Erzgebirgswald wechselndes Wild einschloss: Qualescumque venationum species in his modo sint terminis vel nutriantur seu ex magna procedant silva, que Miriquido dicitur, ut sint nostra imperiali pace securae admodum auctoritative iubemus. 38
Das Untersuchungsgebiet im Bereich des heutigen Limbacher Landes zwischen Chemnitz und Zwickau befand sich zu Beginn des zweiten Jahrtausends demnach noch inmitten des großen, mindestens seit der Bronzezeit relativ unberührten Waldgebietes. Andreas Eichler berichtet zwar von einigen Funden stein- und bronzezeitlicher Werkzeuge und Waffenfragmente in Penig, Tauscha und Fichtigsthal, jedoch konnte bislang 35
36 37 38
Lappenberg, Johann Martin (Hg.), Thietmari Cronicon, in: Pertz, Georg Heinrich, Monumenta Germaniae Historica inde ab anno Christi quingentesimo usque ad annum millesimum et quingentesimum, Hannover 1839, S. 723–871, S. 807. Vgl. Eggers, Martin, Myrkviðr, in: Beck, Heinrich/Geuenich, Dieter /Steuer, Heiko (Hg.), Reallexikon der Germanischen Altertumskunde, Bd. 20, Berlin 2002, S. 460–461, S. 460. Vgl. Dasler, Clemens, Forst und Wildbann im frühen deutschen Reich. Die königlichen Privilegien für die Reichskirche vom 9. bis zum 12. Jahrhundert, Köln/Weimar/Wien 2001, S. 21. Posse, Otto (Hg.), Codex Diplomaticus Saxoniae Regiae. Urkunden der Markgrafen von Meissen und Landgrafen von Thüringen 948–1099, Leipzig 1882, S. 255.
24
SACHSEN IM MITTELALTER – EIN ABRISS
archäologisch noch kein Hinweis auf eine dauerhafte Ansiedlung zwischen Chemnitz und Zwickauer Mulde in vorchristlicher Zeit erbracht werden. 39 Ebenso konzentrieren sich die bislang nachgewiesenen bronzezeitlichen Befestigungen auf dem Territorium des modernen Freistaats Sachsen auf den ostelbischen Raum und das Gebiet längs der Elbe bis ins Mittelgebirge. Westlich der Elbe konnten ungleich weniger Schutzanlagen ausgemacht werden. Für den Bereich des Miriquidi fehlen sie völlig. 40 Ein ähnliches Bild ergibt der Blick auf die Verteilung von Bodenfunden aus der slawischen Siedlungsperiode. Nachdem die vor allem im Einzugsgebiet von Elster, Pleiße und Elbe lebenden Elbgermanen sowie die in der Oberlausitz ansässigen Odergermanen ihre Siedlungsräume in der Völkerwanderungszeit 41 westwärts verlassen hatten, rückten im 7. Jahrhundert slawische Ackerbauern nach. Lusizer und Milzener wanderten von Osten in die Lausitz ein, die aus Böhmen stammenden Chutizi, Daleminzer, Diedesi und Nisaner siedelten entlang der Elbe und im nordsächsischen Raum. 42 Wie André Thieme am Beispiel des Altenburger Umlands nachweist, 43 erfolgte die Landnahme zunächst entlang der Flüsse, wo die bäuerliche Bevölkerung die besten Böden vorfand. Mit dem Anwachsen der Bevölkerungszahl wurden ab dem 8. Jahrhundert von den Altsiedel ächen ausgreifend angrenzende Gebiete siedlungstechnisch erschlossen, wobei weiterhin für eine agrarische Produktion vielversprechende Lagen bevorzugt Berücksichtigung fanden. Erst gegen Ende des Frühmittelalters wichen die Siedler, mit hoher Wahrscheinlichkeit unter zunehmendem Bevölkerungsdruck, im großen Rahmen von den Wasserläufen in deren Umland und auf landwirtschaftlich weniger wertvolle Böden ab. 44 Dennoch blieb der Miriquidi bis ins 12. Jahrhundert hinein größtenteils von der slawischen Kulturraumschaffung unangetastet, wie bis in die Gegenwart an den Ortsnamen ablesbar ist. 45 Die menschliche Präsenz innerhalb des Urwaldes beschränkte sich bis zum Beginn der Ostkolonisation im 12. Jahrhundert auf den Verkehr entlang der Salzstraßen nach Böhmen sowie wahrscheinlich eher saisonal genutzte Weiler bzw. kleinere Ansiedlun-
39 40 41 42 43
44 45
Vgl. Eichler, Andreas, Bürgertum und Industrie im Limbacher Land, Limbach-Oberfrohna 1999, S. 6. Vgl. Blaschke, Geschichte Sachsens, S. 38 ff. Blaschke grenzt die Abwanderung zeitlich auf die zweite Hälfte des 6. Jahrhunderts ein. Vgl. ebd., S. 41. Vgl. Groß, Reiner, Geschichte Sachsens, Leipzig 2001, S. 14. Thieme macht für das Altenburger Gebiet auf Grundlage einer Synthese aus archäologischen Befunden, onomastischer Typologisierung der Ortsnamen, Systematisierung der Siedlungsformen sowie der Analyse schriftlicher Quellen einen fünfstu gen sorbischen Siedlungsprozess aus: 1. Erstbesiedlung im 7. Jahrhundert, 2. u. 3. Ausbau der Altsiedel ächen im 8. u. 9. Jahrhundert bzw. im 10. u. der ersten Hälfte des 11. Jahrhunderts, 4. Frühkolonisation im späten 11. u. frühen 12. Jahrhundert sowie 5. Übergang zur Hochkolonisation im 12. Jahrhundert. Vgl. Thieme, André, Die Burggrafschaft Altenburg. Studien zu Amt und Herrschaft im Übergang vom hohen zum späten Mittelalter, Leipzig 2001, S. 141–147. Die Siedlungspraxis in den anderen slawischen Einwanderungsgebieten wird sich von dem Altenburger Modell kaum unterschieden haben, wobei der zeitliche Ablauf sicherlich variierte. Vgl. Thieme, Altenburg, S. 142ff. u. Blaschke, Geschichte Sachsens, S. 44 f. Vgl. Blaschke, Geschichte Sachsens, S. 48.
SACHSEN IM MITTELALTER – EIN ABRISS
25
gen, wie zum Beispiel jene quellenmäßig belegbaren von Wolfsjägern im Raum des späteren Altchemnitz, Altendorf, Mühlau und Auerswalde. 46 Bis zum Beginn des 10. Jahrhunderts existierten die slawischen Stämme zwischen Saale und Neiße bzw. Oder politisch weitgehend souverän. Noch im 8. Jahrhundert unterstützen die Sorben fränkische Feldzüge gegen die Sachsen, ohne sich Karl Martell und seinen Nachfolgern, die ihren Herrschaftsbereich sukzessive bis zur Saale ausdehnten, zu unterwerfen. 47 Zu Beginn des 9. Jahrhunderts befanden sie sich allerdings selbst im Kampf mit Karl dem Großen, der die westlich der Elbe lebenden sorbischen Stämme 805/806 besiegte und sie zu Tributen und militärischer Unterstützung verp ichtete. 48 Zudem suchte er 805 über das Diedenhofener Kapitular den Handel mit den Besiegten zu regeln und etablierte die Saale als politische Grenze zwischen fränkischem und slawischem Herrschaftsgebiet. In der ersten Hälfte des 9. Jahrhunderts wurde im Saalegebiet eine sorbische Grenzmark, der Limes Sorabicus, zur Sicherung des Frankenreichs gegen die Sorben, die sich im Laufe des 9. Jahrhunderts mehrfach gegen jenes erhoben, eingerichtet. 49 Die politische Autonomie der Sorben endete im harten Winter 928/929 mit dem Feldzug des sächsischen Herzogs und deutschen Königs Heinrich I. gegen die im Havelland siedelnden Heveller. Nachdem er diese mit dem Ziel, die Ostgrenze seines Reiches gegen wiederkehrende ungarische Einfälle zu sichern, unterworfen hatte, zog er gegen die Daleminzier. Deren Widerstand und Souveränität endete mit Eroberung und Schleifung ihrer Burg Gana im Frühjahr 929. Die Milzener östlich der Elbe ereilte drei Jahre später das gleiche Schicksal. 50 Um seine Herrschaft in den neu erworbenen sorbischen Gebieten zu sichern und zu diesem Zweck Präsenz zu zeigen, ließ Heinrich I. Burgen, unter anderem die Burg Meißen an der Elbe, errichten, teilte die eroberten Gebiete in territorial noch nicht gefestigte Marken und setzte Markgrafen als deren Verwalter ein. Weiterhin wurden im Laufe des 10. und 11. Jahrhunderts unter vielfacher Nachnutzung der vorhandenen sorbischen Anlagen Burgwarde als niedere Verwaltungsbezirke geschaffen. Für den Raum östlich der Saale sind nach Blaschke etwa 50 51 derartige Burgbezirke nachweisbar, die in ihrer Funktion und Organisation bereits starke grundherrschaftliche Züge trugen. 52 Während Heinrich I. den eroberten slawischen Siedlungsraum als Pufferzone des Reiches gen Osten lediglich unter militärische Verwaltung in ein loses Abhängigkeits-
46 47 48 49 50 51 52
Vgl. Richter, Jörn (Hg.), Von der Wolfsjägersiedlung zum Hightech Standort. Eine Chemnitzer Stadtteilgeschichte zu Altchemnitz und Umgebung, Chemnitz 2001, S. 10 f. Vgl. Czok, Karl (Hg.), Geschichte Sachsens, Weimar 1989, S. 70. Vgl. Groß, Geschichte Sachsens, S. 15. Vgl. Czok, Geschichte Sachsens, S. 71. Vgl. Blaschke, Geschichte Sachsens, S. 58 f. Czok geht dagegen von 100 Burgbezirken im Jahr 850 aus. Vgl. Czok, Geschichte Sachsens, S. 90. Vgl. Blaschke, Geschichte Sachsens, S. 59 ff.
26
SACHSEN IM MITTELALTER – EIN ABRISS
verhältnis setzte, suchte sein Sohn und Nachfolger Otto I. dieses Gebiet fest in das Reich zu integrieren und weiter nach Osten vorzustoßen. Diesem Ziel stand in erster Linie das Heidentum der Sorben im Weg. Im Rahmen der angestrebten Slawenmission strengte der ostfränkische König und ab 962 römische Kaiser die Errichtung einer kirchlichen Infrastruktur in den heidnischen Randgebieten an. Seine Bestrebungen resultierten 968 in der Stiftung des Erzbistums Magdeburg sowie der Bistümer Meißen, Merseburg und Zeitz auf der Synode von Ravenna, unter deren Verantwortung nun die Christianisierung der slawischen Bevölkerung el. In den Folgejahren entstanden zahlreiche Pfarrkirchen, mutmaßlich in erster Linie in örtlicher Verbindung mit den Burgwarden. Die Kirche konnte so im täglichen Leben der ansässigen Bevölkerung kontinuierlich Präsenz zeigen und unmittelbar auf diese einwirken. Zumindest formell schritt die Missionierung dadurch relativ rasch fort, sodass zur Jahrtausendwende östlich der Elbe vermutlich bereits ausschließlich getaufte Sorben lebten. Die Gesamtzahl der zu dieser Zeit in den Grenzen des heutigen Sachsens lebenden Bevölkerung schätzt Blaschke auf 20.000 53. 54 Um das Jahr 1000 zählten die Grenzmarken als erobertes Land nach altem deutschem Recht noch immer zum Reichsgut, das direkt dem König unterstand. Die Burgund Markgrafen fungierten weiterhin lediglich als königliche Verwalter. Obgleich die Mark Meißen das Gebiet des modernen Sachsens in der Zeit weitestgehend umfasste 55, stellte sie keineswegs einen vollkommen geschlossenen Herrschaftsraum mit gefestigten Herrschaftsansprüchen dar. Dem meißnischen Markgrafengeschlecht der Ekkehardiner war es zwar durch glückliche Heiratspolitik in der zweiten Hälfte des 10. Jahrhunderts gelungen, Frieden mit dem böhmischen Herzog Boles aw II. zu schließen, jedoch suchte der polnische Herzog Boles aw I. Chrobry nach Markgraf Ekkehard I. Tod 1002 die Westgrenzen seines Herrschaftsraums bis zur Saale zu verschieben. Die militärischen Auseinandersetzungen mit den Polen, in deren Verlauf diese unter anderem 1015 bis zur Burg Meißen vorstießen und 1018 die Niederlausitz und den Bautzener Raum eroberten, endeten erst 1031 mit dem Zweiten Frieden von Bautzen, der die deutsche Herrschaft in der Mark Meißen und der Lausitz endgültig bestätigte. 56
53
54 55 56
Abermals weichen die Zahlen Czoks deutlich von jenen Blaschkes ab. Während Letzterer allerdings seinen Rechenweg schuldig bleibt und einzig auf den hochgradig spekulativen Charakter der angegebenen Zahl hinweist, orientiert sich Czok an der Burgbezirkszahl, für die er im Durchschnitt je zehn Siedlungen mit 20–30 Bewohnern annimmt. Diese Rechnung ergibt für 850 eine Bevölkerungszahl von 25.000 im Saale-Oder-Neiße-Gebiet. Um 1000 sei von einer Verdopplung auszugehen, denn die Burgwardszahl sei unverändert geblieben, jedoch habe sich die Siedlungszahl etwa verdoppelt. Vgl. Blaschke, Geschichte Sachsens, S. 66 u. Czok, Geschichte Sachsens, S. 90. Vgl. Blaschke, Geschichte Sachsens, S. 62 ff. Vgl. Bruckmüller, Ernst/Hartmann, Peter Claus (Hg.), PUTZGER. Historischer Weltatlas, 103. Au ., Berlin 2001, S. 60 f. (Karte). Vgl. Groß, Geschichte Sachsens, S. 16.
OSTKOLONISATION
27
Der Vorerzgebirgsraum war zur Jahrtausendwende noch immer von ausgedehntem Urwald überzogen, unbesiedelt und somit ein herrschaftsfreier Raum, obgleich er de facto dem Königsgut angehörte. Doch selbst die besiedelten slawischen Stammesgebiete waren noch vor dem Jahr 1000 nicht mehr durchgängig dem König bzw. seinen Vertretern unterworfen. Vor allem die jungen Bistümer wurden mit königlichen Schenkungen in Form von Burgwarden bedacht, aus denen sie Naturalleistungen und Dienste bezogen. Des Weiteren kamen zum Beispiel die Markgrafengeschlechter, aber auch deutsche Kleinadlige nachweislich in den Besitz von Burgwarden als Eigengut. Diese im 10. Jahrhundert begonnene Partikularisierung der Grenzmarken setzte sich im 11. und 12. Jahrhundert unter maßgeblicher Beteiligung in das inzwischen befriedete Grenzgebiet vor allem aus dem Saaleraum zuwandernder Edelfreier und Ministerialer verstärkt fort. Von diesem Prozess war insbesondere die noch vor 1100 aufgelöste Mark Zeitz angesichts der daraus resultierenden Vakanz einer in Vertretung des Königs herrschenden Zentralgewalt betroffen. 57 Obwohl die gesellschaftliche Gruppe der Herrschaftsträger stetig wuchs und sich Herrschaft durch die Belehnung von Dienstmannen immer stärker differenzierte und intensivierte sowie steigende Erträge aus den besiedelten Gebieten einforderte, blieb der bis dato unerschlossene bewaldete Erzgebirgsraum bis ins späte 11. Jahrhundert unberührt. Augenscheinlich fand Bevölkerungswachstum in den bewohnten, ehemals sorbischen Siedlungslandschaften nicht in dem Maße statt, dass eine räumliche Expansion notwendig wurde. Diese Annahme deckt sich mit Blaschkes freilich hochgradig spekulativer Berechnung der Bevölkerungszahl in den Grenzen des heutigen sächsischen Gebiets für das Jahr 1100. Auf der Grundlage seines Historischen Ortsverzeichnisses Sachsens ermittelte er 1133 bestehende Ortschaften, von denen keine den dörflichen Maßstab überstieg. Bei Annahme einer durchschnittlichen Haushaltsgröße von fünf Personen errechnete er unter Berücksichtigung der für die nachweisbaren Orte annehmbaren Wohnlagenzahl eine Gesamtbevölkerung von 37.000 58, was das Bild einer noch relativ dünn besiedelten Region vermittelt.
2.1 OSTKOLONISATION Die Wende vom 11. zum 12. Jahrhundert stellt in der Geschichte Sachsens generaliter und in jener des Untersuchungsgebiets im Speziellen eine zentrale Zäsur dar. Während die vorangegangene, 929 beginnende Periode von der Eroberung der sorbischen Stammesgebiete sowie sukzessiver Etablierung eines feudalen Herrschaftsgefüges und vom Aufbau einer kirchlichen Infrastruktur nebst Missionierung der heidnischen Be57 58
Vgl. Blaschke, Geschichte Sachsens, S. 72 f. Vgl. Blaschke, Bevölkerungsgeschichte, S. 62f.
28
SACHSEN IM MITTELALTER – EIN ABRISS
völkerung geprägt war, ist der nachfolgende Zeitabschnitt bis 1300 durch exzessiven Landesausbau und Konsolidierung geschlossener Territorialherrschaften gekennzeichnet. Dem kurzzeitigen meißnischen und lausitzschen Markgrafen Wiprecht von Groitzsch († 1124) kam in diesem Zusammenhang eine in der Geschichtswissenschaft viel beachtete Rolle zu. Wiprecht, einer in der Altmark angesessenen Adelsfamilie entstammend, gelangte durch seinen Onkel und P egevater Graf Udo II. von Stade, welcher dessen Erbgut dagegen eintauschte, in den Besitz des Burgwards Groitzsch an der Weißen Elster. Dieser fungierte mindestens seit den 1080er Jahren als Wiprechts Stammsitz, von dem aus er zunächst zahlreiche kleinere Adelsherrschaften der Umgegend gewaltsam unter seine Ägide brachte und den er schließlich auch symbolisch durch die Verlegung und Neuerrichtung der Burg Groitzsch als Herrschaftssitz ausbaute. In den folgenden ca. 40 Jahren gelangte er durch Belehnungen und Heiratspolitik in den Besitz eines nicht unbedeutenden, allerdings unzusammenhängenden Herrschaftsbereichs. Dazu gehörten unter anderem die Burgwarde Colditz und Polkenberg, die Landschaften Bautzen und Nisane, das obere Muldental sowie das Gleisetal. Insofern vermag es wenig zu verwundern, dass er in den 1090ern in der Lage war, mit Pegau das erste Benediktinerkloster östlich der Saale zu gründen. 59 Obwohl Wiprecht Zeit seines Lebens mit seinen umfangreichen Besitzungen und durch geschickte Heiratspolitik sowie Parteigängerschaft mit dem salischen König Heinrich IV. eine herausragende Machtstellung im Gebiet östlich der Saale erreichte und seiner Familie damit gute Voraussetzungen zum Aufbau einer dauerhaften Landesherrschaft schuf, war sein Wirken auf lange Dauer eher in siedlungspolitischer Hinsicht von Bedeutung. Freilich lagen dem in erster Linie machtpolitische Erwägungen zugrunde. Große Teile seiner Besitzungen waren zu Beginn des 12. Jahrhunderts weitestgehend bewaldet. Insofern verfügte Wiprecht zwar über umfangreichen Territorialbesitz, vermochte ihn aber kaum zu nutzen. Die davon entfallenden Erträge, welche als Naturalabgaben oder Frondienste einzig auf dem kultivierten und zudem bewirtschafteten Land lasteten, elen im Verhältnis zu der von ihm besessenen Land äche mehr als gering aus. Daneben fehlte es an untergeordneten Herrschaftsträgern, die über ein Lehnsverhältnis einerseits militärische Macht versprachen, andererseits zum Erhalt des Landbesitzes unabdingbar waren. In unbesiedeltem Waldgebiet verschwommen die territorialen Grenzen zwangsläu g und waren ob ihrer Unbestimmtheit schwer gegen Eindringlinge bzw. anderweitige Besitzansprüche zu verteidigen. Sicher erkannte Wiprecht von Groitzsch diesen Zusammenhang seiner Zeit keineswegs als Erster bzw. Einziger. Immerhin manifestierten sich erste Besiedlungsbestrebungen, abermals auf sorbische Siedler aus der näheren Umgebung gestützt, östlich der Saale gegen Ende des 11. Jahrhunderts auch beim Kloster Saalfeld im Orlagau, unter Bischof 59
Vgl. Czok, Geschichte Sachsens, S. 98 f.
OSTKOLONISATION
29
Walram von Naumburg und dem Pegauer Abt Windolf. Unstrittig suchte Wiprecht aber, sicherlich nicht zuletzt in dem Bestreben, daraus gegenüber seinen Nachbarn politische, militärische und ökonomische Vorteile zu ziehen, zuerst, Landesausbau mit Menschen aus den deutschen Altsiedelgebieten zu betreiben. Eine Verbindung zu diesen bestand über seine Mutter Sigena von Leinungen, die in zweiter Ehe mit Friedrich I. von Pettendorf verheiratet war. 60 Dessen Herrschaftsbereich in Ostfranken entstammten wohl die ersten bäuerlichen deutschen Siedler, die Wiprecht um 1104 in seinen Herrschaften Groitzsch und Pegau zwischen Weißer Elster und Mulde ansässig machte. 61 Diese von den Groitzschern initiierte frühe Kolonisation blieb jedoch dem lokalen Rahmen verhaftet und für die deutsche Ostsiedlung insgesamt von geringem Belang. Ihre Bedeutung für die sächsische Landesgeschichte liegt eher im ideellen Bereich. Eine differente Konzeption und territoriale Ausrichtung bei faktisch gleicher Zielsetzung lag dem Siedlungsaufruf geistlicher und weltlicher Fürsten der Grenzmarken von 1108 zugrunde. Seit dem Slawenaufstand 983 war es den deutschen Fürsten nicht mehr gelungen, die Nordmark dauerhaft zu beherrschen. Um den Widerstand der slawischen Bevölkerung gegen die Usurpatoren endgültig zu brechen, sollten nun deutsche Siedler das umstrittene Gebiet sukzessive erobern und durch unmittelbare dauerhafte Besiedlung langfristig für das Reich sichern. Der Aufruf, den unter anderem auch Wiprecht von Groitzsch und der Erzbischof von Magdeburg unterstützten, wies in erster Linie eine militärische Ausrichtung auf, folgte aber gleichfalls dem Grundgedanken: keine Herrschaft ohne Beherrschte 62. Dem wenig Anklang ndenden Siedlungsaufruf von 1108 folgten im Laufe des 12. Jahrhunderts weitere deutlich erfolgreichere Aufrufe, zum Beispiel Albrechts des Bären oder der Grafen von Schauenburg. 63 Die vom exzessiven Landesausbau gekennzeichnete „Hohe Kolonisation“, als deren konzeptioneller Vorreiter Wiprecht von Groitzsch aufgetreten war, setzte ca. 20 Jahre nach seinem 1124 erfolgten Ableben ein. Im Unterschied zu allen früheren im Markengebiet stattgefundenen Siedlungsvorgängen griffen die Herrschaftsträger nun aktiv in das Siedlungsgeschehen ein und enthoben es seiner regionalen Ausrichtung sowie seiner weitestgehenden Strukturlosigkeit. Als zentrale Akteure traten in dieser Kolonisationsperiode die Wettiner, darunter vor allem die Markgrafen Konrad der Große und Otto der Reiche, die böhmischen Premyslidenherzöge sowie Friedrich I. Barbarossa 60
61 62
63
Vgl. ebd., S. 103, Walter, Hans, Namenkunde und geschichtliche Landeskunde, Leipzig 2004, S. 366 f. u. Thieme, André, Die herrschaftliche Grundlegung der hohen Kolonisation, in: Bünz, Enno (Hg.), Ostsiedlung und Landesausbau in Sachsen. Die Kührener Urkunde von 1154 und ihr historisches Umfeld, Leipzig 2008, S. 161–206, S. 161 ff. Vgl. Bünz, Enno, Die Rolle der Niederländer in der Ostsiedlung, in: Bünz, Ostsiedlung, S. 95–142, S. 122. „[...] gürtet euch, ihr starken Söhne, und kommt, all ihr Kriegsleute [...] Die Heiden sind schlimm, aber ihr Land ist sehr gut an Fleisch, Honig, Ge ügel und Mehl, und, wenn es bebaut wird, voller Reichtum der Ernten vom Lande, so dass ihm keins verglichen werden kann. [...] hier könnt ihr eure Seele retten und, wenn es euch so gefällt, das beste Land zum Bewohnen gewinnen [...]“; zitiert nach: Bünz, Ostsiedlung, S. 143. Vgl. Hardt, Matthias, Formen und Wege der hochmittelalterlichen Siedlungsgründung, in: Bünz, Ostsiedlung, S. 143–159, S. 143f.
30
SACHSEN IM MITTELALTER – EIN ABRISS
als Herr des erstmals 1172/1173 unter dieser Bezeichnung auftretenden Königslandes „Pleißenland“ (terra Plisnensis), dessen Verwaltung seit König Konrad III. Reichsministerialen oblag 64, auf. Freilich nahmen auch die Inhaber der kleineren Herrschaften ihren Mitteln gemäß an der Siedlungspolitik teil, galt es doch den eigenen Herrschaftsbereich in Konkurrenz zu den anderen kolonialen Mächten so weit wie möglich und strategisch sinnvoll auszubauen, um sich weiterhin behaupten zu können. 65 Zwar ging die Initiative für die Hohe Kolonisation von den Herrschaftsträgern, die sie faktisch auch organisierten, aus, jedoch wurde sie von der siedelnden Bevölkerung selbst getragen. Die Territorialherren wiesen Lokatoren vertraglich Waldstücke mit der Maßgabe zu, in den deutschen Altsiedelgebieten bäuerliche Siedler zu werben 66 und in die neue Heimat zu führen, wo sie die Urbarmachung und schließlich die Bewirtschaftung des neu erschlossenen Landes übernehmen sollten. Als Werbemittel dienten attraktive Vergünstigungen wie zum Beispiel mehrjährige Steuerbefreiung, langfristig vergleichsweise geringe Abgabenlasten sowie Landbesitz im Quantum mindestens einer Hufe pro Hofstelle zu relativ freiem Erbrecht innerhalb der sich konstituierenden Grundherrschaften, denen in der Regel die ehemaligen Lokatoren vorstanden. 67 Über die Herkunft der Siedler schweigen die schriftlichen Quellen zumeist. Sie geben eher über die Chronologie der Erschließungen, welche auch mit den Mitte des 12. Jahrhunderts zunehmenden Klostergründungen in Verbindung standen, Auskunft. Das Benediktinerkloster bei Chemnitz wurde 1136 von Kaiser Lothar III. gegründet und sieben Jahre darauf von Konrad III. mit einem Marktprivileg bedacht. 68 Wiederum sieben Jahre später schenkte der König dem Kloster Bürgel 100 Königshufen pleißenländisches Waldgebiet, wo daraufhin das Kloster Remse entstand. 69 Eine ähnliche Schenkung ist von Markgraf Otto dem Reichen überliefert, der dem Kloster Altzella 1162 800 gerodete Hufen überließ. Für das Jahr 1168 sind Rodungsvorgänge im Rochlitzer Raum und für 1173 bei Aue nachweisbar. 70 Im gleichen Zeitraum gründete Kaiser Friedrich
64 65 66
67 68 69 70
Vgl. Thieme, Altenburg, S. 168f. Vgl. Thieme, Grundlegung, S. 182. Die ältere Forschung nahm als vorrangige Ursache für die Hohe Kolonisation einen starken Bevölkerungsüberschuss in den Altsiedelgebieten an. Diese Ansicht revidierte die jüngere Forschung insofern, dass sie die bäuerlichen Siedler als angeworbene Nutznießer einer territorialherrlichen Siedlungspolitik identi ziert. Ein potentiell vorhandener Bevölkerungsdruck kann freilich angesichts fehlender, in dieser Sache aussagekräftiger Quellen nicht ausgeschlossen werden, ist aber eher unwahrscheinlich. Schließlich hätte ein solcher die zahlreichen Vergünstigungen ad absurdum geführt, da er die Lebensverhältnisse der Bevölkerung derart verschlechtert hätte, dass eine Abwanderung zu gleichen Konditionen angenommen worden wäre. Zudem herrschte in den Abwerbungsgebieten Leibeigenschaft vor, in der Hofteilungen und damit auch ein übermäßiges Anwachsen der Bevölkerung von vornherein verhindert wurde. Vgl. Blaschke, Geschichte Sachsens, S. 82 ff. u. Bünz, Ostsiedlung, S. 187. Vgl. Kobuch, Manfred, Noch einmal: Die Anfänge der Stadt Chemnitz, in: Stadtarchiv Chemnitz (Hg.), Zur Entstehung und Frühgeschichte der Stadt Chemnitz, Chemnitz 2002, S. 26–35, S. 26. Vgl. Gemeinde Callenberg (Hg.), Das Klosterdorf am Kiefernberg. Aus der Geschichte von Grumbach, o. O. 2008, S. 8 f. Vgl. Blaschke, Geschichte Sachsens, S. 79.
OSTKOLONISATION
31
Barbarossa die Frühstadt Chemnitz. 71 Um 1200 wurde die Oberlausitz und 20 Jahre später die Westgrenze des modernen Freistaats Sachsen um Görlitz, Löbau und Kamenz von der Kolonisation erreicht. 72 Die Besiedlung des Pleißenlandes unter Führung Edelfreier und Reichsunmittelbarer begann auf Geheiß Friedrich Barbarossas in der zweiten Hälfte des 12. Jahrhunderts und ließ zum Beispiel die kleineren reichsunmittelbaren Herrschaften Auerswalde, Einsiedel, Erdmannsdorf, Lichtenwalde, Rabenstein, Schellenberg, Stollberg, Wolkenstein, Wiesenburg, Schwarzenberg, Waldenburg und Glauchau entstehen. 73 Zu den wenigen Schriftzeugnissen, welche Aussagen über die Herkunft der Siedler treffen, zählt die Kührener Urkunde des Meißner Bischofs Gerung von 1154. Diese nennt ausdrücklich Flamen als Neusiedler in Kühren bei Wurzen. Eine weitere Quelle von 1186 spricht für Taubenheim bei Meißen von fränkischen Siedlern. 74 Anhand von Ortsnamen und geltenden Rechtsverhältnissen lassen sich neben Flamen und Franken auch Sachsen und Thüringer als zahlenmäßig bedeutsame Volksgruppen unter den Ostsiedlern nachweisen. 75 Die Kolonisatoren entstammten mehrheitlich dem bäuerlichen Milieu, wurden teilweise aber auch aufgrund zur Erschließung benötigter Fähigkeiten gezielt angeworben. Vermutlich betraf dies in erster Linie die ämischen Siedler, deren Fachwissen bei der Melioration von Sümpfen und Flussauen nachgefragt wurde. Eine weitere, wenngleich nur bedingt zu den Erstsiedlern zu zählende Gruppe gezielt angeworbener Facharbeiter bildeten aus dem Harz stammende Bergleute. Kurz nach der Gründung des Dorfes Christiansdorf im markgräflich meißnischen Herrschaftsbereich gelegen, wurden dort 1168 Silbererzfunde gemacht, an denen sich das „Erste Berggeschrey“ entspann. Das außerordentliche wirtschaftliche Potential dieser Entdeckung erkennend, förderte Markgraf Otto, später „der Reiche“ genannt, die rasche Erschließung des Geländes und den Aufbau einer prosperierenden Montanregion. Um ef ziente Erschließung, Abbau und Weiterverarbeitung des Silbererzes zu gewährleisten, wurden Fachkräfte angesiedelt, obgleich es die von Markgraf Otto in Kraft gesetzte Bergbaufreiheit jedermann gestattete, mit begründetem Verdacht überall nach Erz zu schürfen. Zudem wurden die Berg- und Hüttenleute von jeglicher grundherrschaftlichen Bindung freigestellt und genossen signi kante steuerrechtliche Vorteile gegenüber den landwirtschaftlich Tätigen. Die sich bildende immense Wirtschaftskraft des jungen Bergbaustandorts beschleunigte gepaart mit dessen überregional wirkender 71 72 73 74 75
Vgl. Kobuch, Anfänge, S. 28. Vgl. Blaschke, Geschichte Sachsens, S. 79. Vgl. Czok, Geschichte Sachsens, S. 110. Vgl. Blaschke, Geschichte Sachsens, S. 79 f. u. Bünz, Ostsiedlung. Auf ämische Siedler verweisen zum Beispiel ganz offenkundig Ortsnamen wie Flemmingen und spezi sche Rechtsbräuche im Raum Leipzig. Namen wie Frankenhausen, Frankenstein, Frankenau oder schlicht Franken lassen fränkische Gründer annehmen. Zudem galt in weiten Teil Sachsens fränkisches Erbrecht. Orte wie Sachsenburg oder Sachsendorf sind leicht als sächsische Siedlungen zu identi zieren. Auf Thüringer weisen schließlich, wenn auch weniger offensichtlich, Spezi ka in der Ortsnamenform hin. Vgl. Blaschke, Geschichte Sachsens, S. 79 f.
32
SACHSEN IM MITTELALTER – EIN ABRISS
enormer Bevölkerungsanziehungskraft seine Entwicklung entscheidend. 76 Noch in den 1170er Jahren war aus den zehn bis 20 Jahren zuvor in diesem Gebiet auf Rodungsächen entstandenen Waldhufendörfern die Stadt Freiberg geworden, die sich bereits gegen Ende des 12. Jahrhunderts mit der Größe des zeitgenössischen Leipzigs, welches 1165 Stadt- und Marktrecht von Gnaden Markgraf Ottos erhalten hatte, messen konnte. Mit dieser rasanten Entwicklung nahm die Bergstadt Freiberg unter den Kolonistensiedlungen freilich eine absolute Ausnahmestellung ein. Im regulären Siedlungsgeschehen mündete eine bäuerliche Landerschließung wie jene Christiansdorfs in der Etablierung dörflicher Strukturen in gerichtsherrschaftlicher Bindung. Der Aufbau der neu gegründeten Dörfer folgte an den agrarischen Wirtschaftsmethoden ihrer Bewohner orientierten Mustern, trug aber gleichzeitig den lokalen geographischen Gegebenheiten Rechnung. Da die bäuerlichen Siedler die Produktionsweisen aus ihren Heimatgebieten mitbrachten und die Kulturraumschaffung auf dieser Basis betrieben, unterschieden sich deren Siedlungsstrukturen deutlich von jenen der bereits ansässigen Slawen. Letztere betrieben mit dem hölzernen Hakenp ug Feldgraswirtschaft 77 auf ihren unregelmäßig in blockförmige Feldstücke unterteilten Fluren, die sich den weiler- bzw. rundweilerartigen Dörfern angliederten und, sofern sich eine Ortschaft nicht in bereits völlig durchsiedeltem Gebiet befand, keinen festgefügten Begrenzungen unterlagen. Die deutschen Kolonisatoren arbeiteten dagegen mit schwereren eisernen Räderp ügen, deren Nutzung erst eine Bewirtschaftung der lehmigen Böden des Erzgebirgsvorlandes und Erzgebirgsraums selbst ermöglichte. Für die slawischen parzellierten Fluren waren diese Ackergeräte ob ihrer geringen Wendigkeit denkbar ungeeignet. Dagegen war der Typus der in den deutschen Altsiedelgebieten verbreiteten Gewann ur 78 auf die Arbeit mit Räderp ügen zugeschnitten und wurde gleich der dort üblichen, effektiveren Dreifelderwirtschaft in die neuen Siedlungsräume importiert. Der kolonisatorische Vorstoß in die Erzgebirgslandschaft motivierte jedoch Veränderungen der tradierten Flurteilungspraxis. Die Gewanne eigneten sich eher für die achen Landschaften des heutigen nordsächsischen Gebiets, während sie sich im hügeligen Erzgebirgsvorland deutlich schwerer bemessen ließen. Deswegen teilten die dort Siedelnden ihre Dorf uren in breitere Streifen, sogenannte Gelänge, ein. Für den Erzgebirgsraum erwies sich gleichwohl auch der Gelänge ur-Typus, welcher wie die Gewannur regelmäßig in Verbindung mit Straßen- und Straßenangerdörfern sowie Rundlingen entstand, als unzweckmäßig. Ergo bildete sich mit dem Waldhufendorf eine dritte, dem Gelände angepasste Dorfform heraus, bei der die Höfe dem zugehörigen Land direkt
76 77 78
Vgl. Groß, Geschichte Sachsens, S. 22. Vgl. Rösener, Werner, Agrarwirtschaft, Agrarverfassung und ländliche Gesellschaft im Mittelalter, München 1992, S. 20. Vgl. Blaschke, Geschichte Sachsens, S. 92 ff.
OSTKOLONISATION
33
angegliedert wurden, was bei Anwendung der vorgenannten Flurstrukturierungstypen eher die Ausnahme blieb. Ungeachtet der jeweiligen Siedlungsform folgte die Verteilung des erschlossenen Landes einer Siedlergruppe immer denselben Regeln. Jede Kolonistenfamilie erhielt innerhalb der jeweiligen Gemarkung insgesamt eine Hufe Landes gleichen Umfangs, wobei die Hufengröße von Siedlung zu Siedlung variieren konnte. In Anbetracht der nachweislichen Dominanz des fränkischen Rechts im Gebiet des modernen Sachsens ist aber prinzipiell von einer ächendeckenden Orientierung am fränkischen Hufenmaß bei Aufteilung der Dorf uren auszugehen. Eine Hufe sollte größenunabhängig die Versorgung der bewirtschaftenden Familie sichern und idealiter einen Produktionsüberschuss ermöglichen. Jede Hufe eines Dorfes wurde mit speziellen Gemeinderechten sowie Steuern, Naturalleistungen oder auch Arbeitsp ichten belegt, die landbesitz-, aber nicht personengebunden waren. Die Siedler erhielten ihr Land in freiem Erbzinsrecht zu Lehen, waren demnach nicht in Leibeigenschaft an ihren Grundherren gebunden. Nach fränkischem Recht galt zudem im Erbfall das Realteilungsprinzip, demzufolge das Land unter allen männlichen bzw., bei deren Fehlen, unter allen weiblichen Erben aufgeteilt wurde. Neben den bäuerlichen Hufen gehörte zu jedem der Kolonistendörfer ein von allen landbesitzenden Bewohnern gemeinschaftlich genutztes Allmendestück. Sofern eine Kirche im Ort erbaut wurde, erhielt diese gleichfalls eine Hufe Land und auch dem Grundherrn, sofern er vor Ort residierte, stand ein Teil der Flur, meist mehrere Hufen, als in der Regel von den landbesitzenden Grundholden zu bewirtschaftendes Areal zu. In ihrer Größe konnten sich die Siedlerdörfer beträchtlich unterscheiden und von einer Handvoll bis über 50 Hufen reichen. Die Majorität der dörflichen Siedlungen bewegte sich aber im Rahmen von 10–40 Gütern. 79 Völlig anderen Regeln folgte die in der ersten Hälfte des 12. Jahrhunderts auf dem Gebiet des modernen Sachsens einsetzende Entwicklung städtischer Strukturen. Von wenigen Ausnahmen abgesehen gingen die hochmittelalterlichen Städte aus Kaufmannssiedlungen, teilweise mit einer lokalen Konzentration handwerklicher Produktion in Verbindung stehend, hervor. Zwar waren die Grenzmarken schon lange vor Beginn des dortigen Landesausbaus bzw. selbst vor der deutschen Eroberung der sorbischen Stammesgebiete von kontinuierlich frequentierten Fernhandelsstraßen durchzogen, jedoch rechtfertigte ihre dünne Besiedlung und das gänzliche Fehlen früher wirtschaftlicher Ballungsräume innerhalb der Grenzmarken dort keine dauerhaften Niederlassungen von Fernhändlern. Erst mit der Bevölkerungszunahme infolge des zunächst intensiven Landesausbaus östlich der Saale sowie einer gleichzeitigen Erhöhung der agrarischen Produktivität entstand eine ausreichende Nachfrage nach Alltagsgütern,
79
Vgl. ebd., S. 101f.
34
SACHSEN IM MITTELALTER – EIN ABRISS
die nur über Fernhändler bezogen werden konnten, um deren dauerhafte Ansiedlungen entlang der Handelswege zu motivieren. 80 Bis 1150 entwickelten sich im Gebiet von Saale, Elbe und Neiße etwa 20 Kaufmannssiedlungen in günstigen geographischen Lagen wie zum Beispiel Flussübergängen und durchweg in der Nähe von Burgen und Klöstern als Herrschaftszentren, die auch regelmäßig von der dienst- und abgabenp ichtigen Landbevölkerung der Umgebung aufgesucht werden mussten. 81 Das spätere, hierin bereits angelegte arbeitsteilige Wirtschaftsverhältnis zwischen Stadt und Land fußte auf zwei grundlegenden Bedingungen: Kaufleute wie Handwerker waren auf Abnehmer ihrer Waren, also auf eine nanzkräftige Bevölkerung im Umkreis der festen Märkte bzw. der handwerklichen Produktionsstätten angewiesen. Die als Hauptabnehmer der dort vorrangig gehandelten Waren des täglichen Bedarfs infrage kommende quantitativ dominante Landbevölkerung musste gleichzeitig in der Lage sein, das notwendige Kapital durch Erwirtschaftung von Überschüssen zu erlangen. Dies wurde durch die im Zuge der Ausdehnung des Handels während der Kolonisationszeit aufkommende Geldwirtschaft, der sich auch die Grundherren anpassten, ermöglicht. Naturalleistungen und Arbeitsdienste wurden ab dem 12. Jahrhundert sukzessive durch Grundrenten ersetzt. Grundherrschaftlich gebundene Landbewohner hatten somit nicht nur die Möglichkeit, ihren auch durch Verbesserung der Anbaumethoden erzielten Produktionsüberschuss in Geldmittel umzusetzen, sondern waren durch ihre Verp ichtungen gar dazu gezwungen. Als Abnehmer der landwirtschaftlichen Produkte traten wiederum vorrangig Gewerbetreibende und Händler in Erscheinung. Durch die kolonisatorische Erschließung des bis dato weitgehend unbesiedelten Gebiets zwischen Saale und Neiße im 12. und 13. Jahrhundert wurde ein neuer Absatzmarkt geschaffen. Handwerker und Kaufleute folgten den bäuerlichen Siedlern. Doch obgleich sich an deren Siedlungsplätzen städtisch anmutende Strukturen herausbildeten, entbehrten diese eines entscheidenden verfassungsrechtlichen Elements. Erst das Stadtrecht enthob eine Siedlung dem ruralen Rahmen und untermauerte deren Sonderstellung gegenüber dem Umland mittels Privilegien auch de jure. Das wirtschaftliche und politische Machtpotential einer Stadt entdeckten im 13. Jahrhundert auch die Territorialherren östlich der Saale für sich und reihten sich mit zahlreichen Stadtrechtsverleihungen in eine gesamteuropäische Bewegung ein. 82 Sowohl die hochmittelalterliche Blüte des Städtewesens als auch Ostkolonisation und Landesausbau wären sicher ohne die Klimagunst des 12. und 13. Jahrhunderts in dem geschehenen Maße undenkbar gewesen. Eine Wärmeperiode ermöglichte zu dieser Zeit in ganz Europa eine Zunahme der Bevölkerung auf das Zwei- bis Dreifache ihres vor-
80 81 82
Vgl. ebd., S. 111ff. Vgl. ebd., S. 114f. Vgl. ebd., S. 115f.
SCHWARZER TOD BIS REFORMATION
35
herigen Niveaus, wohingegen sie bis ins 11. Jahrhundert vermutlich nur ausgesprochen langsam gewachsen war. 83 Gleichzeitig ereignete sich eine überregionale Agrarrevolution. Sich stark ausbreitende und teilweise weiterentwickelte bekannte Agrotechniken, darunter die Dreifelderwirtschaft und der Hakenp ug, sowie der Anbau neuer Kulturen, zum Beispiel von Hülsenfrüchten, ließen die landwirtschaftlichen Erträge steigen, führten zu einer allgemein verbesserten Nahrungsmittelversorgung und begünstigten die Bevölkerungsexpansion zusätzlich. 84 Dadurch freigesetzte demographische Kräfte ermöglichten erst sowohl jene umfängliche Kolonisation der Grenzmarken des Heiligen Römischen Reiches als auch die gleichzeitige Blüte des Städtewesens. Zwischen Saale und Neiße stieg die Bevölkerung bis 1300 auf etwa 395.000 Personen an, wobei sich Stadt- und Landbevölkerung in der Wendezeit zum 14. Jahrhundert vermutlich im Verhältnis 1:4 gegenüberstanden. 85 Zu dieser Zeit war die Besiedlung des Gebiets weitgehend abgeschlossen und selbst der ehemals stark bewaldete Erzgebirgsraum ächendeckend kolonisiert und infrastrukturell versorgt. Analysen sächsischer Flurkarten von 1840 legen nahe, dass die abgebildeten Dorf uren ob ihrer regelrechten Einteilung in Hufen weitestgehend noch immer das endkolonisatorische Siedlungsgefüge widerspiegelten, bei dem bereits durchgängig Gemarkung an Gemarkung stieß. 86 Inmitten des agrarwirtschaftlich dominierten Gebiets hatten zudem bis Ende des 13. Jahrhunderts 103 Siedlungen das Stadtrecht erhalten. Unter diesen wiesen allerdings nur 28 mehr als 1000 und nur neun mehr als 2000 Einwohner auf. Lediglich Görlitz und das vom Silbererzbergbau pro tierende Freiberg erreichten mit einer Bevölkerung von jeweils 5000 Personen den sächsischen Höchstwert. 87
2.2 SCHWARZER TOD BIS REFORMATION Zum Beginn des 14. Jahrhunderts hatte die hochmittelalterliche Wärmeperiode ihren Höhepunkt überschritten, dennoch herrschten in Europa weiterhin vergleichsweise gute Bedingungen für die demographische Entwicklung. In diesem Kontext ist auch für die Zeit nach 1300 zunächst von einer Fortführung des erheblichen Bevölkerungswachstums auszugehen, wovon die Gebiete östlich der Saale sicherlich nicht auszunehmen sind. Über den Verbleib des so zwangsläu g entstandenen Bevölkerungsüberschusses kann jedoch nur spekuliert werden. Wie die Flurkarten des 19. Jahrhunderts belegen, 83 84 85 86 87
Vgl. Abel, Wilhelm, Agrarkrisen und Agrarkonjunktur. Eine Geschichte der Land- und Ernährungswirtschaft Mitteleuropas seit dem hohen Mittelalter, Hamburg u. Berlin 1978, S. 31ff. Vgl. Rösener, Agrarwirtschaft, S. 19ff. Vgl. Blaschke, Bevölkerungsgeschichte, S. 70. Vgl. ebd., S. 71ff. Vgl. ebd., S. 131.
36
SACHSEN IM MITTELALTER – EIN ABRISS
fand in diesem Raum offensichtlich keine zahlenmäßig ins Gewicht fallende Partikularisierung ländlichen Grundbesitzes bzw. keine signi kante Zunahme der Hofstellen statt. Mit hoher Wahrscheinlichkeit zogen die Städte mit ihren generell höheren Sterberaten große Teile der „überschüssigen“ Landbevölkerung an. Eine weitere Gruppe suchte ihr Glück vermutlich in der noch immer gen Osten fortschreitenden deutschen Kolonisationsbewegung. 88 Dem 200-jährigen Bevölkerungswachstum des Hochmittelalters setzte schließlich, nach bereits rückläu gen Wachstumsraten während des frühen 14. Jahrhunderts 89, eine gesamteuropäische demographische Krise bis dato unbekannten und erst mit den Weltkriegen des 20. Jahrhunderts wieder erreichten Ausmaßes ein Ende. Aus Zentralasien kommend, breitete sich die Pest 1346 zunächst nach Osten aus und gelangte 1347 über Fernhändler auch in die Küstenstädte des Mittelmeers. Von dort aus drang die Seuche ins Hinterland vor. Der hochansteckenden, meist tödlich verlaufenden Krankheit hatte die europäische Bevölkerung wenig entgegenzusetzen. Wo der Schwarze Tod ausbrach, hielt er unter allen gesellschaftlichen Schichten „reiche Ernte“. Binnen fünf Jahren starb schätzungsweise ein Drittel bis die Hälfte der Europäer. Zeitgenössische Chronisten berichten von Sittenverfall, religiöser Desillusionierung, Judenpogromen sowie dem Zusammenbruch sozialer Strukturen und des gesellschaftlichen Wertesystems auf breiter Ebene während des Wütens der Pest. 90 Nur wenigen Gebieten Mitteleuropas blieb das große Sterben erspart. Das nach wie vor herrschaftlich stark partikularisierte Territorium des heutigen Sachsens zählte nicht dazu. Analog zur gesamteuropäischen Situation brach dessen Einwohnerzahl zwischen 1347 und 1352 wahrscheinlich um 30–50 Prozent ein. Erst etwa 200 Jahre später erreichte die Bevölkerung wieder ihre Größe aus der Zeit vor der Pestilenz. Dieser späte demographische Ausgleich war jedoch weniger dem Schwarzen Tod an sich denn den überregional auftretenden Entwicklungen der Folgezeit geschuldet. Über das gesamte Spätmittelalter kehrte die Pest, wenngleich regional begrenzt und mit verminderter Letalität, zyklisch wieder. Daneben traten vor allem im 15. Jahrhundert zahlreiche nasskalte Jahre infolge der die hochmittelalterliche Wärmegunst ablösenden sogenannten Kleinen Eiszeit in Verbindung mit Missernten, Teuerungen und Hungersnöten. Unter diesen Bedingungen war ein langfristiges Bevölkerungswachstum in den meisten Regionen Europas unmöglich. Zudem zeigte sich das 14. Jahrhundert von einer anhaltenden überregionalen Agrarkrise geprägt, die ebenfalls unter anderem aus den massiven Bevölkerungsverlusten der Pestzeit resultierte. 91
88 89 90 91
Vgl. ebd., S. 74. Vgl. Rösener, Agrarwirtschaft, S. 31. Vgl. Bergdolt, Klaus, Der Schwarze Tod in Europa. Die Große Pest und das Ende des Mittelalters, München 1994, S. 33 ff. Vgl. Rösener, Agrarwirtschaft, S. 31ff. und Abel, Agrarkrisen, S. 67 ff.
SCHWARZER TOD BIS REFORMATION
37
Aufgrund deren deutlich höheren Bevölkerungsdichte und schlechteren hygienischen Bedingungen gegenüber dem ruralen Raum breiteten sich Krankheiten in den Städten signi kant schneller aus. Nicht umsonst lag die durchschnittliche Lebenserwartung europäischer Landbewohner bis ins 20. Jahrhundert über jener der in Städten Lebenden. Dieser Unterschied trat in Seuchenzeiten besonders hervor. Durch die sich seit dem Hochmittelalter immer stärker ausbildende städtisch-ländliche Arbeitsteilung blieben ökonomische Folgen bei starken urbanen Bevölkerungsverlusten nicht aus. Der Schwarze Tod verminderte die städtischen Einwohnerzahlen und damit zugleich die Zahl der Hauptabnehmer landwirtschaftlicher Produkte überregional in erheblichem Maße, sodass der Pest eine langfristige Absatzkrise agrarischer Produkte folgte. Die Getreidepreise ver elen ab der zweiten Hälfte des 14. Jahrhunderts. 92 Wiederkehrende Epidemien und ironischerweise auch gute Ernten verstärkten die Entwicklung teils lokal, teils überregional weiter. Gleichzeitig stellte sich ein Mangel der in den Städten konzentrierten Gewerbetreibenden ein, was handwerkliche Erzeugnisse im Preis steigen ließ. Die hierdurch verbesserten Verdienstmöglichkeiten innerhalb der Städte erhöhten deren ohnehin vorhandene Anziehungskraft auf die Landbevölkerung um ein Vielfaches, zumal die wirtschaftliche Attraktivität des Landlebens im Zuge der Agrardepression auf einen Tiefpunkt sank. Land ucht und Entsiedlung des ruralen Raumes waren mit regional deutlich variierender Intensität die Folge. 93 Für das Gebiet des heutigen Sachsens ist der spätmittelalterliche Wüstungsvorgang rekonstruiert worden und relativ gut dokumentiert. Im Ergebnis zeigte sich einerseits eine auffallende Wüstungskonzentration 94 in Nordwestsachsen auf landwirtschaftlich ungünstigen Böden, andererseits ein anteilmäßiger Anstieg der städtischen gegenüber der gesamten Bevölkerung bis zum 16. Jahrhundert. Dieser Befund legt den Schluss nahe, dass die wenigsten Dörfer durch die Pest vollständig entvölkert wurden. Durch das mit der Agrarkrise zu Ungunsten der Landbevölkerung veränderte Lohn-Preis-Gefüge sahen sich vor allem überlebende, auf schlechten Böden ackernde Bauern in ihrer Existenz gefährdet. Nicht wenige Angehörige dieser Gruppe nutzten offensichtlich die Gunst der Stunde. Sie verließen ihre schlechte Scholle in Richtung der Städte oder füllten die Bevölkerungsverluste in Dörfern guter Lage wieder auf 95. Dadurch elen einige Teil-
92 93 94
95
Vgl. Abel, Agrarkrisen, S. 57f. Vgl. Rösener, Agrarwirtschaft, S. 31f. Die Einwohnerzahl der wüst gefallenen Ortschaften wird von Blaschke für die Vorpestzeit auf 28.000-30.000 geschätzt, was neun Prozent der angenommenen Gesamtbevölkerung von 1300 entsprach. In Nordwestsachsen elen sogar 30–40 Prozent der Landbewohner weg. Vgl. Blaschke, Bevölkerungsgeschichte, S. 83f. Dennoch zeugen die wenigen überlieferten spätmittelalterlichen Quellen noch für die Wendezeit vom 15. zum 16. Jahrhundert von zahlreichen Teilwüstungen. Offenbar konnten die meisten verlassenen Bauernstellen lange Zeit weder von Umsiedlern noch von einer wachsenden lokalen Einwohnerschaft neu besetzt werden. Erst 200 Jahre nach der Pest war die Bevölkerung Sachsens soweit angewachsen, dass ein Großteil der wüsten Stellen wieder einer Bewirtschaftung unterworfen werden konnte. Vollwüstungen wurden in der Regel auch während der Frühen Neuzeit nicht wieder besiedelt. Vgl. Blaschke, Geschichte Sachsens, S. 228 ff.
38
SACHSEN IM MITTELALTER – EIN ABRISS
wüstungen und unter Umständen auch ganze von der Seuche kaum in Mitleidenschaft gezogene Orte gänzlich wüst. Eine Minderheit von unter zehn Prozent aller aufgelösten Dörfer ging in einer benachbarten Stadt ur auf. 96 Als Hauptbegünstigte der spätmittelalterlichen Binnenwanderung, die allgemeine Land ucht eingeschlossen, traten in Sachsen die im Erzgebirgsraum liegenden Städte hervor. Insbesondere das „Zweite Berggeschrey“ des späten 15. Jahrhunderts steigerte die Anziehungskraft der neu entstehenden Bergstädte auch über die Grenzen des heutigen Freistaats hinaus massiv. Gleichzeitig verursachte deren Aufschwung eine der Land ucht entgegenlaufende Bewegung, indem sich Nachfolgegewerbe vor allem in den umliegenden Dörfern ansiedelten und einige neue kleinbäuerlich geprägte Ausbausiedlungen zwecks Sicherstellung der Nahrungsmittelversorgung entstanden. In der Endkonsequenz glich die ins Erzgebirge gewandte spätmittelalterliche Migrationsbewegung ein noch aus der Kolonisationszeit herrührendes Ungleichgewicht der durchschnittlichen Bevölkerungsdichten zumindest auf dem Land aus, sodass 1550 im dörflichen Bereich in den Grenzen des heutigen Sachsens beinahe überall zwischen 25 und 30 Personen pro Quadratkilometer lebten. Gleichzeitig wurde das demographische hochmittelalterliche Ballungsgebiet Nordwestsachsens als solches abgelöst. 97 Um 1550 verfügte Sachsen über etwa 557.000 Einwohner. 98 Gegenüber 1300 war die Gesamtbevölkerungszahl um 41 Prozent gewachsen. Die Zunahme verteilte sich ungleichmäßig auf Stadt und Land. Angesichts der umrissenen spätmittelalterlichen Entwicklungen vermag die Vermehrung der urbanen Bevölkerung um 150 Prozent auf rund 171.000 gegenüber dem frühen 14. Jahrhundert wenig zu verwundern. Im Vergleich dazu wuchs die Zahl der Landbewohner im selben Zeitraum um lediglich 21 Prozent auf rund 385.000 an. Somit hatte sich das Verhältnis zwischen Stadt- und Landbevölkerung binnen 250 Jahren auf fast 1:2 verschoben. 99 In der Mitte des 16. Jahrhunderts beginnt die quellenmäßig fassbare Geschichte der Dörfer Rußdorf und Bräunsdorf in Südwestsachsen, jenem Gebiet, welches durch Ausbildung textilgewerblicher protoindustrieller Strukturen in der Folgezeit zu einer Keimzelle der sächsischen Industrialisierung des 19. Jahrhunderts heranwuchs. Als Kinder der Ostkolonisationszeit waren die Untersuchungsorte unmittelbar in die hier kurz umrissenen Prozesse eingebunden. In welcher Form deren Entwicklung ihren Fortgang bis ins 20. Jahrhundert nahm, behandelt das nachfolgende Kapitel.
96 97 98 99
Vgl. Blaschke, Bevölkerungsgeschichte, S. 82ff. Vgl. ebd., S. 85. Im 16. Jahrhundert steigt die Schriftquellendichte in Sachsen deutlich an. So erlaubt die archivalische Überlieferung ab dem 15. Jahrhundert relativ zuverlässige Aussagen zur Bevölkerungsentwicklung dieses Gebiets. Vgl. Blaschke, Bevölkerungsgeschichte, S. 78.
3. DIE UNTERSUCHUNGSORTE IM ÜBERBLICK 3.1 RUSSDORF Das erste im Fokus der Untersuchung stehende Dorf, Rußdorf, eine von zwei Ortschaften dieses Namens in den Grenzen des gegenwärtigen Freistaates Sachsen, liegt inmitten des Erzgebirgsvorlandes sowie der historischen, die Räume Zwickau, Chemnitz, Glauchau und Limbach umfassenden südwestsächsischen Gewerbelandschaft auf einer Höhe von 340–480 Meter. 100 Ursprünglich ein reines Bauerndorf, entwickelte sich der Ort ab dem 18. Jahrhundert unter dem Ein uss von Protoindustrialisierung und Industrialisierung bis 1886 zu einem Industriedorf, dem dato einzigen des gesamten Herzogtums Sachsen-Altenburg. Seines starken Wachstums dieser Zeit zum Trotz blieb die bäuerliche Siedlungsstruktur aus zumeist Drei- und Vierseithöfen im Dorfzentrum um Kirche und ehemaliges Schenkgut erhalten. Bis in die Gegenwart lässt sich daran die originäre Waldhufendorfform der Mitte des 19. Jahrhunderts eine Fläche von 497 Hektar umfassenden Ortschaft erkennen. 101 Die Anfänge Rußdorfs bleiben ob fehlender Schriftzeugnisse im Dunkeln. Unter Berücksichtigung seiner geographischen Lage, strukturellen Verfasstheit und onomastischen Einordnung muss die Ortsgründung im Hinblick auf die Siedlungsgeschichte Sachsens im 13. Jahrhundert aus wilder Wurzel erfolgt sein. Das Rußdorf einschließende Limbacher Land wurde bis zur deutschen Ostkolonisation des Hochmittelalters vom erzgebirgischen Miriquidi, auf dessen Gebiet die Slawen nach bisherigem Kenntnisstand keine Dauersiedlungen unterhielten, eingeschlossen. Eine slawische Gründungsleistung ist auch angesichts der auf einen deutschen Personennamen zurückgehenden Ortsbezeichnung, „Dorf eines Rudolfs /Rulands/Rüdigers“ 102, auszuschließen. Die Waldhufenform Rußdorfs ist charakteristisch für Dorfgründungen der Kolonisationszeit im Vor- und Gebirgsraum. Aus welchen Altsiedelgebieten die ersten Einwohner konkret stammten, bleibt ungeklärt, zumal sich in der weiteren Umgebung auf eine Vermischung unterschiedlicher Siedlerströme in Südwestsachsen hinweisende Ortsnamen wie Hessen, Schwaben, Flemmingen (Flamen) oder Beiern nden. 103 Erste Burgen und Grundherrschaften wurden im größeren Umkreis Limbachs noch im 12. Jahrhundert errichtet. Bodenfunde belegen, dass die im frühen 14. Jahrhundert durch Brand dauerhaft zerstörte kleinere Burg Drachenfels bei Penig, vermutlich Gründung einer rheinfränkischen Familie, 1170/1180 bereits bestand. Architekturhisto100 101 102 103
Vgl. Stadtverwaltung Limbach-Oberfrohna (Hg.), 125 Jahre Stadtrecht Limbach. Limbach-Oberfrohna – eine Stadt, Limbach-Oberfrohna 2008, S. 52. Vgl. Lange, Hans, Rußdorfer Allerlei, o. O. 1998, S. 5f. Vgl. Eichler, Bürgertum, S. 20. Vgl. ebd., S. 8.
40
DIE UNTERSUCHUNGSORTE IM ÜBERBLICK
rische Merkmale an der Burg Kaufungen unweit Rußdorfs, Gründung einer hessischen Familie, weisen diese gleichfalls als Kind des ausgehenden 12. Jahrhunderts aus. Ihre Erstnennung datiert dagegen auf das Jahr 1226, als Conrad von Kauffungen, ein Spross der Erbauerfamilie, mit der Burg belehnt wurde. Burg und Herrschaft Wolkenburg sind für 1241 erstmals quellenmäßig belegbar, obwohl die mit den Drachenfelsern verwandte rheinfränkische Familie von Wolkenberg/Wolkenburg wahrscheinlich auch im späten 12. Jahrhundert an der Zwickauer Mulde ansässig wurde. 104 Zahlreiche Orte in der näheren Umgebung der betrachteten Dörfer erscheinen zum ersten Mal während des 13. Jahrhunderts in der Schriftquellenüberlieferung. Niederfrohna existierte zum Beispiel bereits 1236 105, die Herrschaft Waldenburg wurde 1199 erstgenannt 106, Glauchau 1240 107, Langenchursdorf 1202 108, Grumbach 1208 109 etc. Andere wie Kändler, Limbach, Oberfrohna, Röhrsdorf oder Pleißa sind erst seit dem 14. Jahrhundert belegt. 110 Diese Ortschaften wurden allerdings mit großer Sicherheit spätestens in der zweiten Hälfte des 13. Jahrhunderts gegründet. Schließlich war die Durchsiedlung des sächsischen Gebiets schon um 1300 weitestgehend abgeschlossen. 111 Demzufolge muss die Geschichte Rußdorfs im 13. Jahrhundert ihren Anfang genommen haben. Die ältere wie zeitgenössische Literatur, so zum Beispiel die Jubiläumsschrift zum 125. Jahrestag der Limbacher Stadtrechtsverleihung, gibt regelmäßig 1335 als Jahr der Erstnennung „Rudelsdorfs“ an. Auf welche Quelle hierbei Bezug genommen wird, ließ sich nicht feststellen. Weder führt sie Andreas Eichler in seiner Untersuchung zur wirtschaftlichen Entwicklung des Limbacher Landes noch Karlheinz Blaschke in seinem Historischen Ortsverzeichnis Sachsens auf. Selbst der Rußdorfer Lehrer und langjährige Heimatforscher Hans Lange erwähnt eine solche auch in den persönlichen Aufzeichnungen seines im Limbacher Esche-Museum ruhenden Nachlasses mit keinem Wort. 112 104 105 106 107
108 109 110 111 112
Vgl. Kirchner, Wolkenburg, S. 32 ff. Vgl. Strohbach, Horst, Eyne Chronik der Doerffer tzu der niedern Frohna und tzum Gannßhorn, Oberfrohna 1936, S. 1. Vgl. Gemeinde Callenberg (Hg.), Die Erben Conrads. Acht Jahrhunderte Langenchursdorf, Callenberg 2002, S. 19. Vgl. Blaschke, Karlheinz, Historisches Ortsverzeichnis von Sachsen, Leipzig 2006, in: Institut für Sächsische Geschichte und Volkskunde e. V., Digitales Historisches Ortsverzeichnis von Sachsen, online: http://hov.isgv.de/ [zuletzt aufgerufen am 20.06.2016], Glauchau. Vgl. Callenberg, Langenchursdorf, S. 26. Vgl. Callenberg, Grumbach, S. 15. Vgl. Eichler, Bürgertum, S. 20f. Vgl. Blaschke, Bevölkerungsgeschichte, S. 40f. Vgl. EMLO: I/3.1/20: Entstehung von Rußdorf seit 1445, kurzer handschriftlicher Abriss; Möglicherweise brachte der Heimatforscher und Chronist Horst Strohbach selbst das Jahr 1335 ins Gespräch. So schreibt Lange: „Wenn man den Aussagen von Horst Strohbach glauben darf, dann wurde Rußdorf von allen drei Orten [Limbach, Oberfrohna u. Rußdorf] geschichtlich zuerst genannt und bekannt.“ Vgl. Lange, Allerlei, S. 17. – Womöglich wurde Rußdorf mit Röhrsdorf bei Chemnitz, welches 1335 als „Rursßdorf “ Erwähnung fand, verwechselt. Vgl. Lungwitz, Karlheinz, Zur Besiedlungsgeschichte und Ortsgründung von Röhrsdorf, in: Heimatverein Niederfrohna e. V., Zur Besiedlungsgeschichte der Region Rochlitz – Chemnitz – Glauchau, o. O. 2001, S. 81–82, S. 82.
RUSSDORF
41
Die urkundlich belegbare Geschichte Rußdorfs nahm mit einem Wechsel ihren Anfang. Am Sonntag nach Juliana 1457 überließ der Gerichtsherr Hildebrand von Einsiedel das damalige „Rudelsdorf “ nebst der Ortschaft Erlich dem Altenburger St.-GeorgenStift im Austausch gegen Altenmörbitz: Wir Friderich [...] bekennen,[...] das uns die wirdigen und gestrengen unsere leben andechtigin und getruwen, er Niclas Arnold thumprobst von syn und des ganczen Cappitels wegen zcu Aldenburg und er Hildebrant von Eynsidel Ritter unser Rate und obirmarschalg zcu erkennen haben geben wie das si eyns wechsels untereynander synt eyn worden und In ganzen also das nemlich das Cappittel zcu Aldenburg des dorffs alden Merwicz mit allen synen zcinßen, zcugehorungen und gerechtikeyten, das durch den hochgebornen fursten, unsern liben vettern hern Wilhelm lantgraven in Doringen und marcgraven zcu Myssen [...] seligen und uns zcu der gnanten sante Jorgen kirchen zcu Aldemburg, etwan voreigent ist gewest ern Hildebrande von Eynsidel abgetreten und derselbe er Hildebrant dem capitel die dorfer Erlich und Rudelstorf mit obersten gerichten dargegen gegeben und zcu der gnanten kirchen durch die lehnherren den das geboret voreigent erworben had [...]. 113
Als Oberlehnsherr von Altenmörbitz stand es in der Macht des damaligen sächsischen Kurfürsten Friedrich II., dessen Herrschaftsbereich Altenburg angehörte 114, den Gebietstausch zu gestatten. Sein ebenfalls auf den 20. Februar 1457 datierender „Vorwilligungs und Bestettigungs Brieffe“ fordert allerdings zusätzlich das Einverständnis „unser liben getreuenn, Er George Burggraffe vonn Leißnick Herr zu Penick, unnd Er Veitt vonn Schonburgk Herr zu Glauchau“, da die Tauschobjekte Rußdorf und Erlich „vonn In zu lehenn biß hero gerurtt“. 115 Über die konkrete administrative Verfassung Rußdorfs Mitte des 15. Jahrhunderts geben die beiden in Kopie überlieferten Leißniger und Schönburger „Voraignungs Brieffe“ Auskunft. Vor dem Gebietstausch war Hildebrand von Einsiedel für Erlich und „das halbe Dorffe zu Rudelßdorff “ Veit II. von Schönburg, Herr über das damals böhmische Reichsafterlehen 116 der Herrschaft Glauchau, lehnsp ichtig. Die andere Hälfte Rußdorfs hatte mit Burggraf Georg von Leisnig den Herrn über die ebenfalls reichsunmittelbare Herrschaft Penig zum Oberlehnsherrn. 117 Über die Ursprünge der lehnsherrschaftlichen Zweiteilung schweigen sich die Quellen aus. Ebenso wenig ist die administrative Zuordnung der einzelnen Rußdorfer Güter anhand des bekannten Quellenmaterials rekonstruierbar. Für die neuzeitliche Entwick113 114 115 116 117
ThStA Abg, Sammlung Wagner – Wagners Kollektaneen Bd. 7: Friedrich, A. /Wagner, K., Collectanea zur Geschichte des Herzogtums Altenburg, Bd. 7. Vgl. Bünz, Enno, Die Kurfürsten von Sachsen bis zur Leipziger Teilung 1423–1485, in: Kroll, Frank-Lothar (Hg.), Die Herrscher Sachsens. Markgrafen, Kurfürsten, Könige. 1089–1918, München 2007, S. 39–54, S. 47. ThStA Abg, Landesregierung, Nr. 626: Die Verwechßelung derer Dörffer Ruhßdorff und Wolperndorff. Anno 1539, fol. 8 v f. Vgl. Ruhland, Volker, Verwaltungsgeschichte Sachsens, Dresden 2006, S. 30. Vgl. ThStA Abg, Landesregierung, Nr. 626, fol. 9 r ff.
42
DIE UNTERSUCHUNGSORTE IM ÜBERBLICK
lung des Dorfes ist seine spätmittelalterliche Positionierung innerhalb der Lehnsordnung indes ohne Bedeutung. Der Gebietstausch von 1457 gliederte Rußdorf als Ganzes neu in den Lehnsverband ein und änderte seine politische wie wirtschaftliche Situation nachhaltig. Fortan bildete es als sächsisch-altenburgische Exklave einen eigenständigen Wirtschaftsraum innerhalb des umliegenden, ab 1740 geschlossen kursächsischen Gebiets. Seine Gemarkungsgrenzen wurden zu Landesgrenzen erhoben, sodass sämtlicher, selbst kleinräumiger Warenverkehr von und nach Rußdorf bis zum Ersten Weltkrieg mit Zollabgaben belegt wurde. 118 Die Exklavenstellung blieb bis 1928 bestehen, als das Dorf via Staatsvertrag am 1. April im Tausch gegen Liebschwitz bei Gera an den Freistaat Sachsen kam. Es ist der Sinn der vertraglichen Bestimmungen, durch diesen Grenzausgleich die Einwohner dem [sächsischen] Gebiet auch politisch anzuschließen, zu dem sie bereits jetzt schon wirtschaftlich hinneigen oder ohne die bisherigen verwaltungsmäßigen Bindungen hingeneigt haben würden. 119
Dem tatsächlich erfolgten Austausch waren mehrere Versuche vorangegangen, das seit der Leipziger Teilung 1485 zum ernestinischen Sachsen und seit 1920 zu Thüringen gehörige Rußdorf seiner Sonderstellung zu entheben. Während ein Gesuch Wolff von Schönbergs auf Auswechslung gegen Wolperndorf von Kurfürst Johann Friedrich I. 1539 abschlägig beschieden wurde 120, scheiterten Verhandlungen mit dem Königreich Sachsen über den Tausch Rußdorfs gegen Ziegelhain 1917 am Widerstand der Einwohner selbst. 121 In juristischer Hinsicht unterstand Rußdorf seit 1457 dem Kapitel des Kollegiatstifts St. Georg zu Altenburg. Hildebrand von Einsiedel hatte dem Stift seine beiden Dörfer „mitt allenn yrenn zynsen worann die szindtt, dinstenn, gerichtenn, oberstenn und nidersten, alßo mann das nennet uber halße unnd hanndt“ verschrieben. 122 Der Säkularisierung des Stifts um 1537 123 ungeachtet, galt bis mindestens 1539, dass Rußdorf „mit Gerichten, Obersten und Nidersten, in Felde und Dorffe, auch Volge und Stewer, dem Capittell zu Aldenburgk zustendig“ 124 war. Später wurde die Jurisdiktion des St.-Georgen-Stiftes jener des Fürstlichen Amts Altenburg eingegliedert. Zwischen 1540 und 1679 zeugen neben jährlich verzeichneten, explizit dem Stift zugeordneten Lehngeld- und Erbzinszahlungen der Rußdorfer sporadisch auftretende 118 119 120 121 122 123 124
Vgl. Lange, Heimatbild, S. 10. KrA Gl, Limbacher Tageblatt und Anzeiger, 3. April 1928, Die Einbezirkung der Gemeinde Rußdorf nach Sachsen. Vgl. ThStA Abg, Landesregierung, Nr. 626. Vgl. Lange, Allerlei, S. 11. ThStA Abg, Landesregierung, Nr. 626, fol. 6 v. Vgl. Anhalt, Markus, Das Kollegiatstift St. Georgen in Altenburg auf dem Schloss 1413–1537. Ein Beitrag zur Stiftsforschung, Leipzig 2004, S. 47f. ThStA Abg, Landesregierung, Nr. 626, fol. 2 r.
RUSSDORF
43
Strafgeldleistungen von der Ausübung der niederen Gerichtsbarkeit. Zumeist kamen Schlägereien zur Anzeige. So zahlte etwa Valten Herolt 1541 dafür, „das ehr dem Wirt hatt helffenn rauffen“, 25 Groschen 125 oder mussten 1614/1615 Jonas und Blasius Herolt, Hanns Esche und der Wirtssohn Jacob Richter Strafleistungen in Höhe von fünf Gulden 15 Groschen bis elf Gulden neun Groschen auf sich nehmen, „das sie alle einander ubel geraufft, unnd die Rüge verschwigenn“ 126. Vereinzelt sind Verurteilungen wegen Unterschlagung, Beleidigung und Ungehorsam überliefert. Zum Beispiel wurde die Wirtin Margareta Richter 1606/1607 einer Geldstrafe über 20 Gulden unterworfen, weil „sie 4 Vierttel Bier unttergeschlagen, und der Herrschafft nicht vorsteuret“ 127. Georg Herolt entrichtete ein Vierteljahrhundert später fünf Gulden und 15 Groschen „wegen seines ungehorsambs und das er sich auf unterschiedenes anhero beschehenes erfordernn ins Ampt nicht gestellett“ 128 und Georg Steinbach, „welcher Georg Vogelnn in seinem Hauße überlaufen unnd zimblich gelestert“ 129, büßte 1657 mit 20 Groschen. Zudem ist für 1656 eine Gruppenstrafe über vergleichsweise moderate fünf Gulden 15 Groschen Gesamtstrafgeld belegt, die Georg Herolt, Martin Schüßler und eine unbekannte Zahl weiterer Rußdorfer, „so den Richter doselbst wegenn der Steuer ubel angelassen“ 130, traf. Schwere, der Halsgerichtsbarkeit unterworfene Delikte sind für Rußdorf im 16. und 17. Jahrhundert aus zeitgenössischen Quellen nicht bekannt. Der 17-jährige Schneider Michael Aurich, welcher 1615 einen Ortsbrand 131 in Pleißa verursachte, oh nach Böhmen und entging dadurch einem Gerichtsverfahren. 132 Einem auf Erinnerungen älterer Rußdorfer zurückgreifenden Rezess von 1677 zufolge hatte sich in den vorangegangenen
125 126 127 128 129 130 131
132
ThStA Abg, Herzogliches Finanzrechnungsarchiv, Abt. 14 Rep. XIV, Nr. 5: Jahresrechnung des St.-Georgen-Stifts zu Altenburg Walpurgis 1541 – Walpurgis 1542. Ebd., Nr. 105: Jahresrechnung des Amts Altenburg und St.-Georgen-Stifts zu Altenburg Michaelis 1614 – Michaelis 1615. Ebd., Nr. 99: Jahresrechnung des Amts Altenburg und St.-Georgen-Stifts zu Altenburg Michaelis 1606 – Michaelis 1607. Ebd., Nr. 113a: Jahresrechnung des Amts Altenburg und St.-Georgen-Stifts zu Altenburg 1632–1633, fol. 34 v. Ebd., Nr. 128: Jahresrechnung des Amts Altenburg und St.-Georgen-Stifts zu Altenburg 1657–1658, fol. 50 r. Ebd., Nr. 127: Jahresrechnung des Amts Altenburg und St.-Georgen-Stifts zu Altenburg 1655–1656, fol. 48 v. Vorsätzliche Brandstiftung zählte zu den mit dem Tode bedrohten Kapitalverbrechen: „Doch zeichneten mehrere Rechtssatzungen schon frühzeitig einzelne Arten der B., insbesondere die B. zur Nachtzeit (Nachtstund) u. den Mordbrand, worunter man im Allgemeinen jedes heimliche, hinterlistische Anzünden einer fremden Sache mit Gefahr für Menschen verstand, aus u. bedrohten diese boshaften Brenner, wie sie gewöhnlich genannt werden, gleich den Mördern mit dem Tode [...] Unter Benutzung der Aussprüche des Römischen Rechts werden daher gemeinrechtlich 3 Arten der B. unterschieden: a) der Stadtbrand, gewöhnlicher als quali cirte B. bezeichnet. Wer böslich innerhalb der Stadt (intra oppidum) Feuer anlegt, hat den Feuertod zu erwarten. Eine etwas gelindere Strafe, jedoch auch Todes. od. Capitalstrafe tritt b) bei der B. an einzelnen Gebäuden (einfache B.) ein.“ Pierer, Heinrich August (Hg.), Pierer's Universal-Lexikon der Vergangenheit und Gegenwart, Bd. 3, Altenburg 1857, S. 204. Der Pleißaer Veit Richter hatte dem Rußdorfer Michael Aurich dessen Verlobte Catharina, Tochter des damaligen Rußdorfer Richters Christoph Esche, ausgespannt. Aurich sann, in seiner Ehre verletzt oder aus Liebeskummer, auf Rache. Um Mitternacht des 17. Juli 1615 zündete er das Haus seines Rivalen an. Dem daraus entstandenen Brand elen Haus und Hof Richters ebenso zum Opfer wie die örtliche Schenke, das Pfarrgebäude und ein weiteres Wohnhaus mit Nebengebäuden. Vgl. Strohbach, Horst, Chronik der Gemeinde Pleißa, Pleißa 1939, S. 224.
44
DIE UNTERSUCHUNGSORTE IM ÜBERBLICK
60 Jahren kein Kapitaldelikt in ihrem Heimatdorf ereignet. Im Bestreben, die traditionelle Rechtspraxis in Rußdorf anlässlich eines laufenden Diebstahlverfahrens zu ermitteln und schriftlich zu xieren, wurden Zeitzeugen zu den letzten derartigen Vorfällen befragt. Hierfür kamen unter den Dorfbewohnern, „so meistens junge Leute sind, und dergleichen Actus nicht gedencken“, nur ältere Semester in Betracht. Nach Aussage des 69-jährigen Georg Herolt war zuletzt in den 1610er Jahren der hernach aus Rußdorf verzogene Gärtnersohn Oswald Reichenbach „Diebstahls halber zur Hafft kommen, der Process allso verführet, und Er hernach biß an das Gerichte, darvon noch die Seulen auff der Stelle liegen, zur Staupen geschlagen worden“. Dem Rezess nach zu urteilen, unterstand Rußdorf sowohl mit den Oberen als auch den Niederen Gerichten 1677 dem Fürstlichen Amt Altenburg, hatte „aber ihre eigen Gerichte und diesen Brauch [...], daß die Gefangenen verwahrlich daselbst gehalten, bewachet, der Process daselbst verführet, und nach Urthel und Recht bestraffet werden“. Zur Gerichtsstelle diente die lokale Schenke, wo „jederzeit eine a parte Stube müßen gehalten werden, wie denn auch in offt gesagter Schenke ein a part Gewölbe, so unter der Stube be ndl., zu Vollstreckung der Peinlichkeit vorhanden“ war. 133 Außerordentliche Gerichtsverhandlungen über schwere Straftaten wurden gleich dem alle drei Jahre statt ndenden, in die Zuständigkeit der Niederen bzw. Erbgerichtsbarkeit fallende Delikte verhandelnden Rügegericht im Schankraum abgehalten. Delinquenten mussten in einer separaten Gefängniszelle auf dem Schenkgut verwahrt werden, an der „die Unterthanen im Dorffe Rußdorff die Wache [...] zugleich nach der Reyhe zu verrichten“ hatten. Gerichts- und Prozesskosten teilten sich alle Grundbesitzer der Gemeinde 134. Die Errichtung des „Gerichts“, d. h. der Richtstätte respektive des Galgens, oblag ebenso einem klar de nierten Personenkreis. Anlässlich des Casus von 1677 mussten zum Beispiel „Michael Eichler zum Falcken wegen seines in dieser [Rußdorfer] Fluhr habenden Lehnstücks, zu Erbauung des neuen Gerichts eine Seule, und dann die andere Seule George Engelmann zu Rußdorff, diese beyde aber, oder die Besitzer ihrer Güther und Lehenstücke die Überlage zugleich“ bezahlen. 135 Anders als die Gerichtskostenbeteiligung, die nach einem festen Schlüssel auf dem Grund und Boden der Güter lastete, waren die Rußdorfer Gerichtsämter weder an ein bestimmtes Besitztum geknüpft noch erblich. 136 Allein Christoph Sebastian (1689–
133
134 135 136
Das offenbar noch aus dem Mittelalter stammende Gewölbe war um 1700 baufällig geworden und wurde im frühen 18. Jahrhundert restauriert. Infolgedessen wurde die damalige mutmaßliche, aber nicht verurteilte Kindsmörderin Sabine Helbig im Keller der Schenke examiniert: „Hatte als Wittbe ein uneheliches Kind erzeugt und ermordet, gestund es aber nicht, ob es gleich in dem Leichenstroh ihres Mannes auf dem Boden gefunden worden, stunde darüber der Tortur aus in dem Keller der allhiesigen Schencke.“ EPA Rußdorf, KB I, Kirchbuch 1687–1800, Beerdigungen 1710, Nr. 6. Ein Halbbauer zahlte die Hälfte, ein Gärtner 25 Prozent und jeder Häusler ein Achtel des vollbäuerlichen Anteils. ThStA Abg, Amtsgericht Altenburg, C IV Loc. A Nr. 2, Grundbuch über den Gerichts- und Lehnsbezirk des Fürst. Sächß. Kreis-Amtes Altenburg Anno 1730, Kopie des Rezesses vom 17. 09.1677. Rußdorf stellte in dieser Hinsicht eine Ausnahme dar: „[...] daß wie in allen umliegenden Dörffern [...] in Erbschenken daselbst geschiehet, der Besizer auch das Richter Ambt dabey erblich hat, auch das Richter Ambt bey dem Wirths Hause zu Rußdorff [...] olim gewesen, und in den Kriegszeiten an einen unter denen Rußdorffer 6. Gerichts-Schöppen nach
RUSSDORF
45
1765) trat zugleich als Schenkwirt und Amtsrichter Rußdorfs auf. Dessen Vorfahr, der Wirt Jacob Richter (1558–1604), bekleidete zwar ebenfalls ein Richteramt, jedoch war dieses an das von ihm 1598 erworbene Lehngerichtsgut in Pleißa gebunden. 137 Sowohl der Amtsrichter als auch beide ihm zur Seite gestellten Gerichtsschöppen wurden unter den mit Sicherheit respektabelsten landbesitzenden Hausvorständen des Dorfes gewählt und vom Fürstlichen Amt Altenburg bestellt. Die Rußdorfer Gemeinde hatte bei der Auswahl zumindest ein Vetorecht 138, wahrscheinlich auch das Vorschlagsrecht, inne. Obwohl theoretisch jeder Grundbesitzer der Gemeinde auf eines der beiden juristischen Ämter vereidigt werden konnte, waren Bauern über den gesamten Untersuchungszeitraum deutlich überrepräsentiert. Von 18 zwischen 1582 und 1935 nachgewiesenen Rußdorfer Richtern hatten lediglich vier ein Gärtnergut in Besitz. Mit Johann Bernhard Landgraf übernahm 1776 ein erster Gärtner das Richteramt, während es kein Häusler je bekleidete. Deutlich früher war mit Gottfried Himmelreich erstmals 1710 ein Rußdorfer Kleinstellenbesitzer Gerichtsschöppe geworden. Überhaupt dominierten die Bauern das Schöppenamt nur bis Mitte des 17. Jahrhunderts. Unter den 55 belegten örtlichen Gerichtsschöppen befanden sich 29 Bauerngutsbesitzer, von denen 65,5 Prozent vor 1760 in Amt und Würden standen. Demgegenüber verteilten sich 84,6 Prozent der das Schöppenamt innehabenden 26 Gärtner und Häusler auf die nachfolgenden 150 Jahre. 139 Anders als es ihre Amtstitulatur andeutet, lag es nicht im Verantwortungsbereich der Richter und Schöppen, zu judizieren. Vielmehr fungierten sie als Stellvertreter der Gemeinde gegenüber der Jurisdiktion des Amts Altenburg. Kam es in Rußdorf zu Gerichtsverhandlungen bzw. gerichtlichen Untersuchungen, standen sie vollständig unter dem Vorsitz altenburgischer Beamter. 140 Während diese Kompetenzverteilung der allgemeinen Rechtspraxis innerhalb des Herzogtums Sachsen-Altenburg entsprach, stellten die Rußdorfer Ansprüche auf Gerichtsverfahren, Gefangenenverwahrung und Urteilsvollstreckung vor Ort vermutlich der Exklavenstellung Rechnung tragende Sonderrechte dar. Im Laufe des 18. Jahrhunderts erfuhren diese jedoch scheinbar diverse Einschränkungen. Noch 1723 wurde der Unzuchtsfall zwischen dem Pferdebauern Gottfried Rudolph und Elisabeth Schönfeld in Rußdorf verhandelt. Als der zuständige Amtsfrohn Johann Jacob Rudolph im darauffolgenden Frühjahr die 28-jährige ledige Maria Gräfe
137 138
139 140
gutbefunden des Fürstl. Ambts, kommen seyn soll [...].“ – Abschrift eines Gesuchs der Familie Sebastian an Herzog Friedrich zu Sachsen-Gotha, 1720, in: EMLO, Chronik der Familie William Sebastian in Russdorf S.-A., S. 42. Vgl. HStA-D, GB Amt Chemnitz, Nr. 339, Copialbuch der alten Lehnbriefe und theils darzu gehörige Churfürstl. gnädigste Befehlichte 1500–1625, fol. 98, 1598. Anlässlich der Berufung Christoph Sebastians zum Amtsrichter legte der Gerichtsschöppe Christoph Helbig im Namen der gesamten Gemeinde Widerspruch ein. Die daraufhin erfolgte Untersuchung brachte jedoch zu Tage, „daß außer besagten Helbig und deßen wenigen Anhang von der übrigen Gemeinde hierunter niemand das mindeste einzuwenden vermag, vielmehr von Ihnen angezeiget wird, daß angeführten Umbständen nach gedachter Sebastian zu sothanem Richter-Ambte vor andern sich am besten schicke“. ThStA Abg, Amtsgericht Altenburg, C IV Loc. A Nr. 2, Rescript vom 16.01.1727. Vgl. EPA Rußdorf, KB I – V. Vgl. ThStA Abg, Amtsgericht Altenburg, C IV Loc. A Nr. 2.
46
DIE UNTERSUCHUNGSORTE IM ÜBERBLICK
wegen Unzucht mit Schwangerschaftsfolge nach Altenburg wegführen und sie dort inhaftieren ließ, protestierte die „sämtl[iche] Gemeinde und Gerichten des Dorffes Rußdorff “ bei Herzog Friedrich II. von Sachsen-Gotha-Altenburg unter Berufung auf ihr Gewohnheitsrecht aufs Eindringlichste: „[...] wie auch das solches mit dergleichen in Zukunfft bey sich ereignenden Fällen [...] uns verschonen, vielmehr bey unser hiesiger Gemeinde und Dorfes Gerichten, Gerechtsamen und Gebräuchen ohne neuerl. Beeintrachtigung in unstöhrender Ruhe laßen solle“. 141 Ob gegen die 1772 in Altenburg arretierte De orata Johanna Christiana Müller oder gegen die Diebstahls halber im gleichen Jahr auf der Leuchtenburg einsitzenden Mitglieder der Familie Christoph Landgrafs vor ihrer Inhaftierung in Rußdorf prozessiert worden war, ist unklar. 142 Hingegen beschloss der Mörder Samuel Schüßler (1759–1797) sein Leben keinesfalls am Rußdorfer Galgen, sondern in der Custodie zu Altenburg. 143 Das regelmäßig tagende Rügegericht blieb von den mutmaßlichen Änderungen der Rußdorfer Rechtsp ege unbeein usst. Noch 1850 wird die seit dem späten 18. Jahrhundert nachweisbare, an das Amt Altenburg zu entrichtende Rügegerichtsabgabe in den Rußdorfer Kaufverträgen aufgeführt. Wie diese lastete die ebenso lang belegbare, alljährlich erhobene Schützen- 144 und Scharfrichtergeldverp ichtung auf dem Grundbesitz. Zusätzlich verp ichtete Immobilieneigentum seit der Kolonisationszeit zur Entrichtung halbjährlich an den Tagen Michaelis und Walpurgis vom jeweiligen Grundherrn eingeforderter Erbzinsen. Darüber hinaus konnten auf den Hofstellen, d. h. dem „Sitz“, eine ganze Reihe weitere je nach ihrer Historie differierende Reallasten ruhen. Gleich den genannten zählten die seit dem späten 18. Jahrhundert über die Kaufverträge nachweisbare Postierungssteuer und die situative Gemeinde- und Schulbaueinlage zu den allgemeinen Verp ichtungen. Weiterhin lasteten Schul- und Pfarrdecem 145 auf allen 141 142
143
144
145
Vgl. ThStA Abg, Landesregierung Nr. 19159: Der Gemeinde und Gerichte zu Rußdorf Beschwerde gegen das Altenburgische Amt Anno 1724. Zumindest deutet der Beerdigungseintrag Johanna Christiana Müllers ein vorhergegangenes Verhör an, in dessen Anschluss sie erst nach Altenburg gebracht wurde: „da sie es aber nicht eingestund, u. man ein infanticidium besorgete, wurde sie nach Altenburg geholet, u. allda bis nach ihrer Niederkunft detiniert“. EPA Rußdorf, KB I, Beerdigungen 1772, Nr. 46. „Samuel Schüßler [...] starb d: 31. Ianuar in der Custodie zu Altenburg, und wurde der Anatomie allda übergeben [...] Er war der Mörder des unschuldigen Kindes seiner Schwester [...]. Es kostete diese Mordgeschichte der Commun zu Rußdorf 191. Thl. viele Wege ungerechnet.“ EPA Rußdorf, KB I, Beerdigungen 1797, Nr. 2. Die Rußdorfer Grundherrn hatten in der Dorf ur traditionell ein Jagd- und Fischereirecht inne, welche an das Amt Altenburg übergingen, als die Ortschaft unter dessen Zuständigkeit el. Eine Lehnsrenovationsurkunde von 1837 bezeugt die Belehnung der Rußdorfer Gemeinde mit diesen Rechten. Gegen 400 Taler Kaufgeld und das jährliche Schützengeld erkaufte sich die Gemeinde wahrscheinlich 1787 oder 1812 das alle 25 Jahre renovationsbedürfte Recht der „hohen, mittlern und niedern Jagd innerhalb der Rußdorfer Flur so wie an dem in gedachter Flur be ndlichen Fische und Krebsbache“. ThStA Abg, Amtsgericht Altenburg, C I Loc. 1, Nr. 487, fol 71 ff., Lehnsrenovations-Urkunde der Gemeinde zu Rußdorf über die Jagdgerechtigkeit der dasigen Flur nebst dem Fisch- u. Krebsbache. Der Zehnte diente der Versorgung des örtlichen Pfarrers bzw. des Schulmeisters. Alljährlich schütteten 28 Rußdorfer Grundstücksbesitzer der Pfarrei nach dem Stand von 1850 an Michaelis insgesamt neun Scheffel Gerste. Vgl. ThStA
RUSSDORF
47
Anspanngütern, den Handgütern, der Schenke und einigen davon abgespaltenen Besitzungen. Ehemalige dingliche Hand- oder Pferdefrondienste der Rußdorfer Bauern bei ihrem Grundherrn wurden im Laufe des 18. Jahrhunderts in pekuniäre Verbindlichkeiten umgewandelt und lagen anteilmäßig auch auf Grundstücken, die ehemals den bäuerlichen Besitzungen angehört hatten. Bei zehn Anspannergütern und einem Handgut standen „eiserne Kühe“ im Stall 146, welche gleichfalls noch während des 18. Jahrhunderts durch ein alljährlich der Kirche an Trinitatis abzuführendes und noch Mitte des 19. Jahrhunderts belegtes „eisern Kühgeld“ ersetzt wurden. 147 Schließlich leisteten die Besitzer von 43 seit 1729 vom lokalen Schenkgut abgetrennten Häuslerstellen an dieses je neun Groschen oder drei Handfrontage Grundzins. 148 Die althergebrachten Verp ichtungen der Rußdorfer verloren Mitte des 19. Jahrhunderts ihre Gültigkeit. Dem „Gesetz über die Ablösung von Frohndiensten und gewissen Grundstücksdienstbarkeiten“ sowie dem „Gesetz über die Ablösung einiger Arten von Lehngeld“ vom 23. Mai 1837 folgend 149, wurden alle Grundstücksbesitzer des Ortes zunächst 1851 von der „Herzoglichen Specialkommission für Ablösungen“ angehalten, ihre Lehngeld- und Erbzinsverp ichtungen gegen Zahlung einer festgelegten Geldleistung abzulösen. Letztere schwankte je nach Größe und Wert der jeweiligen Besitzung erheblich. Mit sieben Neugroschen und zwei Pfennigen hatte der Strumpfwirker Ernst Heinzig für einen Wohnhausbauplatz die geringste Ablösesumme zu entrichten. Von 168 Grundbesitzern zahlten 155 unter 100 Talern. Nur 13 überschritten diese Grenze. Der Schenkgutsbesitzer Gottlob Friedrich Sebastian übernahm indes mit 486 Talern und sechs Neugroschen den mit Abstand höchsten Posten. Die Ablösesummen konnten durch einmalige Abzahlung beglichen werden, wurden jedoch in der Regel in Raten an
146
147 148 149
Abg, Repertorium II, Ablösungsakten der Generalkommission, Lit R. 97: Die Ablösung der Grundzinsgerechtsame der Pfarrei Rußdorf. 1859. Der Schulmeister erhielt sein von 29 Rußdorfern entrichtetes Quantum über 62,5 Brote, drei Scheffel, drei Sipmaß und 2,5 Maß Gerste, 121 Eier zu je einem Pfennig sowie acht Kannen Bier am Gründonnerstag. Vgl. ThStA Abg, Repertorium II, Ablösungsakten der Generalkommission, Lit R. 96: Die Ablösung der Grundzinsgerechtsame der Schule zu Rußdorf. 1859. Vgl. ThStA Abg, Obersteuerkollegium, Nr. 1226: Die Steuer-Revision zu Ruhsdorff. Wegen einiger daselbst be ndlichen Huffen Landes, so bißhro nicht vergeben worden, und die darauf bey fürstl. Ober-Steuer-Einnahme ergangene Verfügungen anbetreffendl. Ao. 1719, 1720, 1721, 1722, 1723, 1724, 1725, 1726; „Die Gotteskuh, [...] im gemeinen Leben einiger Gegenden, eine eiserne Kuh, welche auf einem gewissen Gute haftet, und zum Gebrauche der Kirche oder Kirchendiener bestimmt ist.“ Adelung, Johann Christoph, Grammatisch-kritisches Wörterbuch der Hochdeutschen Mundart, Bd. 2, Leipzig 1796, S. 761. Vgl. ThStA Abg, Amtsgericht Altenburg, C I Loc. 1 Nr. 497, fol. 253 r ff. Vgl. ThStA Abg, Repertorium II, Ablösungsakten d. Generalkommission, Lit. R. Nr. 11: Die Ablösung gewisser Grundzinsgerechtsame des Sebastianischen Gasthofs in Rußdorf. 1852. Vgl. Staats- und Adreß-Handbuch des Herzogthums Sachsen-Altenburg 1843, Altenburg 1843, S. 54.
48
DIE UNTERSUCHUNGSORTE IM ÜBERBLICK
die sächsisch-altenburgische Landeskammer abgegolten. 150 Einige Rußdorfer beglichen ihre Schulden schon in den 1860er Jahren, andere zahlten bis 1915. 151 Auf Grundlage desselben Gesetzes kamen die Verp ichtungen gegen das Schenkgut durch einmalige Ablösungszahlung 1852 an ihr Ende. 152 Unter den seit dem Mittelalter erhobenen bäuerlichen Abgabenp ichten blieb der Decem am längsten in Kraft. Das am 6. August 1849 in Altenburg rati zierte „Gesetz, die Ablösung der Zehnten betreffend“ bestimmte in seinem achten Paragraphen, dass „das Zehntrecht, auf dessen Ablösung binnen 10 Jahren, vom Tage der Publikation dieses Gesetzes an gerechnet, nicht angetragen worden ist, [...] mit Ablauf dieser Frist von selbst“ erlöschen solle. 153 Kurz vor Ende der Verjährungsfrist wurde den verp ichteten Gemeindemitgliedern 1858 die Schul- und 1859 die Pfarrdecemablösung abgefordert. 154 Allerdings blieb das Ablösegeld für den Pfarrzehnten nicht auf sächsisch-altenburgischem Gebiet. Rußdorf verfügte zwar aus katholischer Zeit über eine eigene Kirche, jedoch schon im 16. Jahrhundert über keine separate Pfarrstelle. Anfang der 1530er Jahre gehörte es der Parochie des benachbarten Bräunsdorfs an. Als das St.-GeorgenStift in Altenburg im Zuge der Reformation säkularisiert wurde und Rußdorf unter die Zuständigkeit des Amtes Altenburg kam, wurde es 1533 „umb des Ewangeln willen [...] gen Kauffunge geschlagen“. 155 Die Kaufunger Ortsgeistlichen zeichneten fortan für alle Kasualien und sonstigen liturgischen Handlungen der Rußdorfer Gemeinde verantwortlich, wobei mit hoher Sicherheit deren Kirche Nutzung fand. Schließlich verfügte die altenburgische Exklave über einen eigenen Friedhof und nanzierte die Gemeinde seit 1729 für 3571 Meißner Gulden und 15 Groschen den barocken Neubau der noch existenten, am 30. August 1734 geweihten Johanniskirche anstelle des wegen Baufälligkeit in den 1720er Jahren abgebrochenen katholischen Kirchleins. 156 Erst 1869 erhielt die Rußdorfer Gemeinde mit Julius Robert Trautloff einen eigenen Pfarrer. Neun Jahre zuvor war das im Ortskern gegenüber der Kirche 1830 errichtete Schulhaus zum Pfarrhaus umgewandelt worden. 157 Unter die Kompetenzen des Kaufunger Pfarrers el es auch, den Rußdorfer Schulmeister zu bestellen. Über die Kirchbücher lässt sich mit Petrus Schüßler († 1597) für
150 151 152 153 154 155 156 157
Vgl. ThStA Abg, Repertorium II, Ablösungsakten d. Generalkommission, Lit. R. Nr. 7: Die Ablösung der Lehngeld und Grundzinsgerechtsame des Herzog. Staats skus in Rußdorf. 1851. Vgl. SächsSTAC, 30104 Amtsgericht Chemnitz (1879–1952), Nr. 6019–6032: Grund- und Hypotheken-Buch des Herzogl. Gerichtsamts 2 zu Altenburg für das Dorf und die Flur Russdorf. Vgl. ThStA Abg, Repertorium II, Ablösungsakten d. Generalkommission, Lit. R. Nr. 11. Gesetz-Sammlung für das Herzogthum Altenburg auf das Jahr 1849. Nummer 1 bis Nummer 99, Altenburg o. J., Nr. 79, Das Gesetz, die Ablösung des Zehnten betreffend. Vgl. ThStA Abg, Repertorium II, Ablösungsakten der Generalkommission, Lit R. 96 u. 97. ThStA Abg, Landesregierung, Nr. 626. Vgl. EMLO, I/3.1/20. Vgl. Lange, Allerlei, S. 5ff.
RUSSDORF
49
das späte 16. Jahrhundert ein erster Lehrer in Rußdorf quellenmäßig belegen. 158 Ebenso berichtet Lange für das Jahr 1587 von einem lokalen Schulhaus und für 1615 von 42 Schulkindern. 159 Es ist allerdings fraglich, ob alle Kinder der spätmittelalterlichen bzw. frühneuzeitlichen Gemeinde den Schuldienst in Anspruch nahmen. Wohl blieb die Rußdorfer Schulmeisterstelle auch nach Schüßlers Tod bis ins 19. Jahrhundert durchgehend besetzt. Jedoch verp ichtete der sächsische Staat erst mit dem „Gesetz über das Elementar- und Volksschulwesen“ von 1835 alle Kinder zum regelmäßigen Schulbesuch. 160 Dies und das starke Wachstum Rußdorfs nach 1850 ließ die Schülerzahl zwangsläu g nicht unbeein usst. Die 1830 errichtete Schule erwies sich nach 35 Jahren Nutzung als zu klein. Ein neues größeres Schulgebäude wurde 1868 eingeweiht, bedurfte allerdings gleichfalls bereits nach fünf Jahren eines Anbaus. 161 Zur selben Zeit wurde eine zweite Lehrkraft dauerhaft eingestellt. 162 Die weiter kontinuierlich zunehmende Schülerzahl erforderte schließlich den Bau einer zweiten 1888 eingeweihten und 1894 nochmals erweiterten Schule. 163 Beide Gebäude blieben bis zum Ende des Untersuchungszeitraums bei sukzessiver Vergrößerung des Lehrstuhls nach 1900 auf schließlich über zehn Lehrkräfte in Nutzung. 164 Rußdorf war als typisches, aus wilder Wurzel entstandenes Waldhufendorf der deutschen Ostkolonisationszeit anfangs eine Siedlung ausschließlich bäuerlichen Gepräges, dessen ursprüngliche Form vermutlich bis ins 16. Jahrhundert existierte. Das älteste erhaltene Güterverzeichnis des Ortes führt ausschließlich 23 Bauerngüter ansässiger Personen sowie drei Mitgliedern benachbarter Gemeinden gehörende Grundstücke auf. Letztere ausgenommen, schwankte der geschätzte Wert dieser Besitzungen zwischen 18 und 105 Schock. Neun Güter (39,13%) wiesen den gleichen Wert von 40 Schock auf, umfassten demnach ähnlichen Grundbesitz. Weitere acht (34,78 %) wichen davon um maximal zehn Schock ab. 165 Unter Berücksichtigung der kolonisatorischen Flurteilungen in egalitäre Hufen und des allgemein geringen Wachstums der sächsischen Dörfer während des 14. und 15. Jahrhunderts indiziert die sich nach 1539 verlierende relative ächen- bzw. wertmäßige Einheitlichkeit eines Großteils der Bauerngüter, dass die erste Flurordnung Rußdorfs zu der Zeit in Teilen noch bestand. Der naheliegenden Annahme folgend, ein Gutswert von 40 Schock habe 1539 der Fläche einer Hufe entsprochen, las-
158 159 160 161 162 163
164 165
Vgl. EPA Rußdorf, KB I. Vgl. Lange, Allerlei, S. 6. Vgl. Meinel, Angela, Kinderleben und Kinderkultur in Sachsen. Versuch eines Überblicks, Dresden 1998, S. 43. Vgl. ThStA Abg, Steuer- u. Rentamt Altenburg, Nr. 119: Die Versicherung der Gebäude der Landes-Brandversicherungs-Anstalt zu Altenburg von Rußdorf, Vol. I, 1879–1888; Lange, Allerlei, S. 5. Vgl. EPA Rußdorf, KB X1: Trauregister 1858–1875. Vgl. ThStA Abg, Steuer- u. Rentamt Altenburg, Nr. 120: Allgemeine Revision der Brandversicherungsschätzungen in Russdorf, Vol. II, 1889; ThStA Abg, Steuer- u. Rentamt Altenburg, Nr. 121: Brandversicherungsschätzungen in Russdorf, Vol. III, 1889–1900. Vgl. Lange, Allerlei, S. 22f. Vgl. ThStA Abg, Landesregierung, Nr. 626.
50
DIE UNTERSUCHUNGSORTE IM ÜBERBLICK
Abbildung 1: Rußdorfer Bevölkerungs-, Wohnhaus- u. Haushaltsentwicklung
sen sich bei einem Gesamtwert aller Güter der Gemeinde von 958 Schock insgesamt 24 Hufen ausmachen, deren zwei das größte lokale Gut, die Schenke, hielt. 166 Da Ende der 1530er Jahre keine Rußdorfer Hofstelle wüst lag, deckte sich die Zahl der damals vor Ort lebenden 23 bäuerlichen Familien wahrscheinlich mit jener der Gründungsperiode. Bereits in den 1540er Jahren setzte eine gesellschaftliche Ausdifferenzierung ein. Erste klein- bzw. unterbäuerliche Güter wurden etabliert. Ein Steueranschlag von 1552 führt neben den drei separaten Feldstücken 25 Güter, darunter ein „Heußlein“. In 16 Höfen, ausnahmslos Bauerngüter, lebten 33 Hausgenossen. Zudem beschäftigten zehn Bauern insgesamt 17 Dienstboten. 167 Der Abschrift eines Amtssteuerregisters aus Langes Nachlass zufolge traten bis 1557 zwei weitere kleine Hofstellen hinzu. Inzwischen war die Zahl der sich noch immer auf 16 Güter verteilenden Hausgenossen leicht auf 34 angestiegen und ein weiterer Bauer hatte einen Dienstboten in Lohn und Brot genommen. An Nutzvieh verteilten sich auf 26 Güter 74 Kühe, 29 Kälber und 17 Schweine. 168
166
167 168
Die ursprüngliche Größe des kirchlichen Besitzes sowie der Allmende, bestehend aus Viehtrieb und Hutholz, lässt sich ob fehlender Angaben in den ältesten Steuerverzeichnissen nicht ohne Weiteres ermitteln. Als beides in einem Steueranschlag 1769 erstmals näher spezi ziert wurde, war zumindest der Gemeinbesitz schon deutlich dezimiert. Im Jahr 1867 fasste die Gemarkung Rußdorf eine Fläche von 756 sächsisch-altenburgischen Ackern, d. h. in etwa 2 4,87 km . Je nachdem, welches Hufen- bzw. Ackermaß der Rechnung zugrunde gelegt wird, schwankt der Gutsan2 2 teil zwischen 2,87km nach fränkischem und 3,98km nach sächsischem Maß. Vgl. Heinich, Walter, Königshufen, Waldhufen und sächsische Acker, in: Lippert, Woldemar (Hg.), Neues Archiv für Sächsische Geschichte und Altertumskunde, Bd. 51, Dresden 1930, S. 1–10. Vgl. ThStA Abg, Obersteuerkollegium Nr. 107: Steuer-Revision Anno 1552. Vgl. EMLO, I/3.15/05: Personenlisten von Rußdorf inkl. Grundstücksangaben und Daten zu den Bauerngütern: 1557, 1647, 1651, 1767, 1846, Amtssteuerregister 1557.
RUSSDORF
51
Beinahe 100 Jahre später war die gesellschaftliche Differenzierung deutlich fortgeschritten. Von 53 Rußdorfer Höfen wurden 1651 nurmehr 21 als Bauerngüter klassiziert. Zehn Gutsbesitzer, darunter vier Bauern, beherbergten je einen Hausgenossen. Gegenüber 1557 hatte auch der dörfliche Nutzviehbestand signi kant abgenommen. Zwar hatten 43 Familien Vieh im Stall stehen, jedoch wurden kurz nach Ende des Dreißigjährigen Krieges lediglich 59 Kühe, ein Kalb und neun Ziegen im ganzen Dorf gezählt. 169 Eng verbunden mit der sozialen Pluralisierung sowie dem Aufbruch der alten Hufenverfassung Rußdorfs nahm seine gewerbliche Entwicklung ebenfalls im späten 16. Jahrhundert ihren Anfang. Die kolonisatorische Flurteilungspraxis gestand jeder Siedlerfamilie eine Hufe, bestehend aus abgabenp ichtigem Land, einem lastenfreien „Garten“ sowie einem festgelegten Allmendenutzungsrecht, zu, die über das Eigenversorgungsmaß hinausgehende Erträge gewährleisten sollte. Überschüsse mussten zwangsläu g erbracht werden, um die grundherrlichen Lasten tragen und Geldmittel für außerordentliche Ausgaben erarbeiten zu können. Rußdorf verfügte jedoch nicht über die besten naturräumlichen Voraussetzungen. „Die Felder, meist hinter dem Hof gelegen, waren auf Grund ihrer relativ hohen Lage meist steinig und nicht sehr fruchtbar.“ 170 Selbst Vollbauern el es unter diesen Bedingungen in durchschnittlichen Jahren schwer, rentabel zu wirtschaften. Womöglich sind 26 Fuhren in Altenburg angekauften Getreides und eine Karrenladung Erbsen, für die insgesamt acht Rußdorfer Anspanner zwischen dem 16. November 1537 und Ostern 1538 Geleitsteuer entrichteten, Indizien notwendiger Nahrungsmittelzukäufe. 171 Christoph Herold, einer der spannfähigen Bauern seiner Zeit, steuerte 1712 für zwölf Scheffel Feld, je drei Viertel Scheffel Wiese und Holz, drei Kühe, ein Kalb und einen Hausgenossen. Obwohl er mit dieser Abgabenlast innerhalb der Gemeinde an fünfter Stelle stand, gab er gegenüber den altenburgischen Steuerbeamten 1722 an, er könne „doch die Felder nicht beständig nutzen, in Betracht die Tüngung ermangelte u. deren Kosten nicht wieder abgeworfen würden; wenn das Getraydig wohlfeil wäre, wie denn auch wegen Cälte u. Näße derer Felder vorietzo manches wieder unbestellet läge, welches in denen theuren Jahren bestellet worden wäre; da iedermann, der nur ein Stückgen Land gehabt, solches anzubauen gesuchet; und hohlten Sie ihre beste Tingung, welches die Asche wäre, um das Geld in Altenburg da sie vor iegl. Schf . 6 Gr. auf der Stelle bezahlen u. doch hernacher 3 Gr. in Waltenburg auch von den Wege geleite bezahlen müßen“. 172 Im gleichen Jahr legte die Gemeinde Rußdorf eine Beschwerde bei der fürstlich-sächsischen
169 170 171 172
Vgl. ThStA Abg, Obersteuer Kollegium Nr. 246: Steuer-Revision de ao: 1651. Vgl. Lange, Heimatbild, S. 32f. Vgl. ThStA Abg, Herzogliches Finanzrechnungsarchiv, Abt. 14 Rep. XIV, Nr. 1b: Jahresrechnung des Amts Altenburg Walpurgis 1537 – Walpurgis 1538. ThStA Abg, Obersteuerkollegium Nr. 1226: Tabella Die Steuer Revision zu Ruhsdorff anbetreffend. Ao. 1722.
52
DIE UNTERSUCHUNGSORTE IM ÜBERBLICK
Obersteuereinnahme gegen die Anhebung der ohnehin schon als überhöht erachteten Steuerlasten ein: Denn es ist leider! notorisch, daß [...] aller unßerer Consumtion accisbar aus dem Chur Sächß. unß erhohlen, als auch unser Gewerbe auf gleiche Art durch das Chur Sächß. vertreiben, auch besonders unsere Felder, welche wir iedoch ieden Schefel oder 2/3 Acker nur, mit 2 Gr. 6 Pf. versteuern müßen, nicht den 3ten Theil so viel Getraide geben, alß viele andere im Altenburg. Lande gelegene, so bey der geringsten Landes Art, im Amts Bezirck des Obern Crayses, nur mit 1 Gr. von ieden Scheffel termin., besage des Steuer-Anschlages, angeleget, dennoch aber noch 4 mahl mehr erbauen und anstatt, daß wir noch anderthalb mahl so hoch, als diese, bereits im Steuer Ansaz liegen, kaum das liebe Brodt, wiewohl kümmerlich und spärlich, von unsern Feldern jährlich haben können, solche vieles Getraide zu Gelde machen, die fürstl. und andere Gefälle davon abtragen, und sonsten weiter zu ihren Nuzen verwenden, da unß gegentheilß solche abzuführen, wo nicht fast gar unmög. dennoch allzuschwehr, weilen die meisten das Geld darzu am Rade erspinnen müßen. 173
Weiterhin wird Christoph Herolds Urteil unterstrichen: Und da bey dem wenigen Getraidebau und darauß entstehenden Stroh-Mangel, den zu unsern Feldern benöthigten Dünger nicht haben können, an deßen statt, daferne wir etwas Getraide zu unserm höchstbenöthigten Unterhalt anbauen wollen, auf 3 Meilen Weges die Seifensieder Asche aus der Stadt Altenburg herbey schaffen, den Scheffel vor 6 gr. bezahlen, durch das Schönburg. zweymahl vergleithen, nicht minder wegen der großen hohen berge vorspanne haben, und stattsam bezahlen müßen, daß unß also ein zweyspänniger Karn mit Asche auf 5 und mehr Rthlr. zu stehen komt, womit iedoch, daferne etwas wachßen soll, nicht mehr Land, alß 1 oder aufs höchste 1 ½ Sippmaaß darauf zu säen, gedünget werden kann [...]. 174
Anfang des 18. Jahrhunderts lagen mehrere Hufen, den niedrigen Erträgen geschuldet, wüst. Deren Boden sei von derart geringer Qualität, „so nicht einmahl zu Huthwayde mehr wachßbar gewesen“. Eigenmächtige Versuche der Dorfbewohnerschaft, den Boden durch illegales P ügen zumindest soweit nutzbar zu machen, „daß man das Vieh wieder drauf hüthen könne“, liefen ins Leere, „weilen der Boden bey unß gar zu geringe“. Ergänzend heißt es 1725, „[...] was unser wiesen anbelanget, seind solche mehrentheils von geringen Nutz. und wo wohl derer dem ausmeßen nach ein starcker ansatz seind solche doch entweder sumpf g und sauer oder wüstes Feld und Laite [...]“. 175 Hatten selbst Vollbauern berechtigten Grund, ihre Einkommenssituation zu beklagen, muss es im Umkehrschluss Kleinstellenbesitzern trotz geringerer Abgabenlasten deutlich schwerer gefallen sein, ihren Lebensunterhalt auf landwirtschaftlichem Wege 173 174 175
Ebd., fol. 117. Ebd. Ebd., fol. 117ff.
RUSSDORF
53
zu erwirtschaften. Den landbesitzlosen Häuslern und Hausgenossen war selbiges per se unmöglich, zumal der lokale Markt für Tagelöhner und selbst Saisonarbeiter in Anbetracht der offensichtlich eher nanzschwachen Bauern zu Beginn des 18. Jahrhundert von nur geringer Größe gewesen sein kann. War in agrarischer Arbeit kein Auskommen zu nden, blieb neben Abwanderung oder Bettelei nur marktorientierte gewerbliche Tätigkeit. Rußdorf wies hierfür dank seiner Exklavenposition eine im Vergleich zu anderen Landgemeinden der sächsischen Gebiete bevorzugte Lage auf. Keinem städtischen Bannkreis unterworfen, wurde dem Dorf zugestanden: „Von Handwerksleuten mögen allhier wohnen, wem es beliebet, weiln es außerhalb des [sächsisch-altenburgischen] Territorii lieget.“ 176 Erste gewerbetreibende Rußdorfer sind bereits für das späte 16. Jahrhundert nachweisbar. Zum Beispiel trat Greger Berger 1582 bis 1584 als „Leinweber“ bzw. „Leinbeber“ 177 auf und starb Justina Vischer 1607 „blötzlich [...] am achsrädschen bey Georg Schüßlern“. 178 Einhergehend mit der Partikularisierung bäuerlichen Besitzes stieg die Zahl der über die Steuerverzeichnisse nachweisbaren Gewerbetreibenden stetig an. Für 1651 sind neben elf Tagelöhnern, zumeist Hausgenossen, zwei Schneider, drei Spinner, ein Kleber und ein Mäusefänger belegt. 179 Über die folgenden 71 Jahre vergrößerte sich nicht nur das Berufsgruppenspektrum. Ein Steueranschlag von 1722 führt 22 Rußdorfer Bauern und 65 Gärtner bzw. Häusler auf. Unter diesen hielten 55 Vieh im Stall. Gegenüber 1651, als die Folgen des Dreißigjährigen Krieges noch spürbar waren, hatte sich der Viehbestand des Dorfes wieder deutlich erholt. Insgesamt 97 Kühe, 15 Kälber und zwölf Ziegen zählten die Steuerbeamten. Zudem werden erstmals Schafe, sechs an der Zahl, erwähnt. Die absolute Zahl der Hausgenossen war seit 1651 auf 17 angewachsen und auch ihr Anteil an der Dorfgesellschaft leicht gestiegen. Einen signi kanten Aufschwung hatte das dörfliche Handwerk erlebt. Auf acht Gewerbe verteilten sich 63 Rußdorfer Haushaltsvorstände im Jahr 1722. Den Löwenanteil von 87,3 Prozent beschäftigte die unkompliziert auszuführende Herstellung grober, ungefärbter Leinenstoffe für den Alltagsgebrauch. Dazu benötigte Arbeitsgeräte wurden von den Produzenten selbst beschafft bzw. eigenhändig gefertigt. Gleiches galt für den Rohstoff Flachs, der vor Ort angebaut und verarbeitet wurde. Den Vertrieb der Leinenwaren übernahmen Leinwandhändler, deren zwei 1722 in Rußdorf ansässig waren. Diese kauften die Leinwand auf und setzten sie vermutlich auf regionalen Märkten ab. 180 Ob sie die Ware zuvor zur Färbung oder Bedruckung gaben, geht aus den ausgewerteten Quellen nicht hervor. Dagegen ist belegt,
176 177 178 179 180
ThStA Abg, Amtsgericht Altenburg, C IV Loc. A Nr. 2. Vgl. EPA Kaufungen, KB I: Kirchbuch 1552–1686. Ebd., Beerdigungsregister 1607, Nr. 2. Vgl. ThStA Abg, Obersteuer Kollegium Nr. 246. Vgl. ThStA Abg, Obersteuerkollegium Nr. 1226: Tabella Die Steuer Revision zu Ruhsdorff anbetreffend. Ao. 1722.
54
DIE UNTERSUCHUNGSORTE IM ÜBERBLICK
dass die Händler die Leinwand ungebleicht abnahmen und in umliegenden Ortschaften, wie 1737 in Grüna bei Andreas Reichel, bleichen ließen. 181 Anfang des 18. Jahrhundert befand sich Rußdorf in einer wirtschaftlichen Aufschwungphase, was unter anderem aus einem Vergleich des Steueranschlags von 1722 mit einer detaillierteren Bevölkerungserhebung von 1733 deutlich hervorgeht. Binnen acht Jahren waren 25 teils angehende Häusler ohne gleichzeitige Dezimierung der Anspanner zum Kreis der Rußdorfer Grundbesitzer hinzugetreten. Die sich auf 114 Hofstellen verteilende Bevölkerung des Dorfes umfasste in den frühen 1730er Jahren annähernd 480 Personen, davon beinahe die Hälfte Kinder. Unter den Hausvorständen gingen 55 nachweislich einem Gewerbe nach. Weitere 16 verdingten sich als Tagelöhner. Die Zahl der darin inbegriffenen Leinweber hatte sich seit 1722 auf 29 beinahe halbiert. Ebenso führt die Haushaltsliste nur noch einen Leinwandhändler im Dorf auf. Gleichzeitig erweiterte sich das lokale Berufsgruppenspektrum unter anderem um zwei neue, für die weitere wirtschaftliche Entwicklung des Dorfes zentrale Gewerbe: Müllerei und Strumpfwirkerei. 182 Ein erhebliches wirtschaftliches Manko bestand für die Rußdorfer im Fehlen einer örtlichen Mühle. Getreide per Hand zu mahlen, war selbst für den alltäglichen privaten Gebrauch hinsichtlich des relativ hohen Zeitaufwandes eher unpraktikabel. In der Regel wurden größere Chargen Getreides auf Vorrat gegen Gebühr in Mühlen der Umgebung gemahlen. Die Rußdorfer Exklavenbewohner mussten daher traditionell „alles Getreyde in die benachbarthe Churfürst. und Schönburg. Mühle“ 183 bringen und anlässlich der dabei notwendigen Passierung der Orts- respektive Landesgrenze regelmäßig Zölle auf sich nehmen. 184 Zweifelsohne weniger aus sozialem Verantwortungsbewusstsein denn wirtschaftlichem Kalkül suchte die Schenkgutsbesitzerin Elisabeth Sebastian (1660–1736) diesem Umstand 1718 abzuhelfen. Sie hatte mit ihrem Gasthof nicht nur das Schankrecht inne, wofür das Amt Altenburg eine Tranksteuer erhob, sondern war ebenfalls berechtigt, selbst zu mälzen und zu brauen. Um „wegen des Maltzschrothens zum Bierbrauen und Brandeweinbrennen“ 185 Kosten zu sparen, ersuchte sie erstmals im Juni 1718 bei Herzog Friedrich II. um Konzession zur Errichtung einer Mühle an ihrem Teich am Rande der Dorf ur gen Pleißa. Selbst unter der Rußdorfer Bevölkerung stieß dieses Ansinnen trotz der in Aussicht gestellten unverkennbaren Vorteile nicht bei allen auf Gegenliebe. Letztendlich opponierte vor allem Antonius von Schön181 182 183 184 185
Vgl. SächsSTAC, 30593 Herrschaft Waldenburg, Nr. 2622: des von Sachßen Gotha und Altenburg in Dorffe Rußdorff anzulegender gewißer Jahr- und Wochen Märckte zum Garn und Leinwand Verkauff 1737, fol. 4. Vgl. ThStA Abg, Landesregierung, Nr. 4172: Die von dem Ambt Altenburg und denen dahinein bezirckten Rittergüthern eingeschickte Speci cationes der jungen Mannschafft 1733, fol. 8. ThStA Abg, Landesregierung, Nr. 778: Abraham Sebastians Wittbe und Erben zu Rußdorff erlangte Concession eine Mühle zubauen. Ao. 1718–1722. Vgl. KrA Gl, Limbacher Tageblatt und Anzeiger, 1938, Nr. 242, Zum 60-jähr. Todesjahr der Holzmühle im Rußdorfer Wald. ThStA Abg, Landesregierung, Nr. 778, fol. 8.
RUSSDORF
55
berg, Gerichtsherr zu Limbach, bei August dem Starken gegen dieses Vorhaben. Er begründete seine sicherlich in erster Linie aus Sorge um wirtschaftliche Einbußen der in seinem Herrschaftsbereich be ndlichen Mühlen entspringende Abwehrhaltung mit der Befürchtung, dass „eines Theils durch die hin- und wieder gehende Mahlgäste, welche die Besitzerin aus Unserm Territorii an sich zuziehen trachtet, das Wildpreth gestöhret, andern theils [...] allerhand loses Gesindel von Wildpreths Dieben und dergleichen Leuthen, alda sich auffzuhalten, und das auff hiesiger Gränze gefällete Wild, in andere Territoria fortzuschaffen, und sonsten ihre Retirade zunehmen Gelegenheit haben, nicht weniger [...] durch Ableitung des Waßers an seiner Fischerey und der Mühle zu Limpach, desgleichen denen zu Oberfrohna wohnenden Fabricanten und Bleichern an ihrer Nahrung großer Abbruch und Nachtheil zugezogen werden wird und kan“. 186 Da sich diese Einwände als unbegründet erwiesen und die Mühle der wirtschaftlichen Stärkung Rußdorfs zuträglich erachtet wurde, erteilte Friedrich II. der Wirtin am 5. September 1719 die Erlaubnis zu Errichtung und Betrieb einer Mühle gemäß der geltenden Mühlenordnung. 187 Binnen zwei Jahren wurde die eingängige Rußdorfer Getreidemühle erbaut und in Betrieb genommen. Offenbar reihte sich die sebastianische Initiative in eine regionale Bewegung ein, von der Elisabeth Sebastian 1721 schrieb: „aller Orten wo es nur angehen will, in denen Dörffern umb Rußdorff rumb neue Mühlen seind gebauet worden“. Dem Urteil der Wirtin nach bestand damals dazu nicht nur für sie „höchste Nothwendigkeit“, schließlich seien „iezund nur in etzliche 20 Häußern einige Patienten gewesen, die in benachbarten Dörffern sonst mahlende Leute in Mühlen nicht angenommen, sondern daß viele Leute auf die Mühle warteten, abgewiesen worden, daß sie Gott gedencket auf unsern Mühlgen anzukommen und das notdürfftige Brod zu erhalten“. 188 Da kein Mitglied der Familie Sebastian das Müllerhandwerk erlernt hatte, wurde die Mühle von Beginn an verpachtet. Die Pächter, als deren erster nachweisbarer 1723 der ortsfremde Gottfriedt Schmiedt in Erscheinung tritt 189, betätigten sich mehrfach zusätzlich als Bäcker und führten mindestens im 19. Jahrhundert eine prosperierende Aus ugslokalität. 190 Ende der 1720er bis Anfang der 1730er Jahre gelangte die Strumpfwirkerei von Limbach nach Rußdorf. Eine Generation früher hatte der aus Köthensdorf stammende ehemalige Formenstecher Johann Esche (1682–1752) zwischen 1701 und 1703 erstmals einen Strumpfwirkstuhl in Limbach aufgestellt. Ein erst zu entwickelnder Absatzmarkt hielt die Zahl der dort tätigen Strumpfwirker, denn noch in den 1710er Jahren verschrieben sich vier weitere Personen diesem Gewerbe, auf 20 Jahre relativ gering. Ab 1727 ist
186 187 188
189 190
Ebd., fol. 14 ff. Vgl. ebd., fol. 42. ThStA Abg, Landesregierung, Nr. 783: Die von Schönberg zu Limpach gegen Abraham Sebastians Witbe zu Rußdorff wegen angegebene Ableitung des Reinbachs auf ihre Mühle zum Nachtheil des erstern Mühle und Fischerey. Ao. 1721, fol. 31. Vgl. EPA Rußdorf, KB I. Vgl. KrA Gl, Limbacher Tageblatt und Anzeiger, 1938, Nr. 242.
56
DIE UNTERSUCHUNGSORTE IM ÜBERBLICK
der Strumpfstuhlbau in Limbach nachweisbar; ab 1735 weisen Nennungen von Strumpfwirkermeistern und -gesellen in den lokalen Kirchbüchern auf eine Innung vor Ort hin. Nach Dietrich Esche muss ein erster Innungskon rmationsantrag 1739 abschlägig beschieden worden sein. 191 Während die Zahl der Limbacher Meister langsam zunahm, ließen sich 1729 drei Limbacher Strumpfwirker in Rußdorf, wo der damalige Schankwirt Christoph Sebastian mit fürstlicher Genehmigung ein wüstes Feld in Hausbauplätze teilte und veräußerte, in diesem neu entstehenden Ortsteil nieder. Zu ihnen zählte Johann David Esche (1709– 1782), ein Sohn des ab 1732 auch Seide verarbeitenden Johann Esche. Dieser hatte sicherlich maßgeblichen Anteil an den gescheiterten Limbacher Innungsgründungsbestrebungen, ist er doch als Obermeister der dortigen Meisterverbindung verbürgt. Ziel der Unternehmung war es gewesen, sich von der 1729 gegründeten Chemnitzer Innung unabhängig zu machen, deren Statuten der Rat der Stadt Chemnitz 1731 anerkannte und die 1734 erstmals und 1755 endgültig die kurfürstliche Kon rmation erfuhr. 192 Das sich daraus ableitende Zunftregiment galt im gesamten Amt Chemnitz und unterband unter anderem die Strumpfwirkerausbildung durch dörfliche Meister, welche der Innung nur mit minderen Rechten angehörten. Chemnitz fungierte für die 1736 gezählten 150 Land- und 180 Stadtmeister als Gewerbezentrum. Hier bezogen die Wirker auf Kredit von Großhändlern Wolle, die sie selbst zur Weiterverarbeitung an regionale Spinner gaben und hier saßen Verleger, welche in erster Linie ärmere Meister mit Rohstoffen versorgten und deren Produkte abnahmen. 193 Mit hoher Wahrscheinlichkeit in Kooperation mit den Limbacher Meistern, strengten die Rußdorfer Strumpfwirker 1744 ihrerseits eine Innungskon rmation an. Das Motiv, sich von Chemnitz abzukoppeln, wurde auch in diesem Fall bemüht: was gestallt wir in unserer Jugend das Strumpfwürckerhandwerck gebührend erlernet, [...] zu Fortsetzung unserer Profession aber das Meister-Recht in der Chur Sächß. Stadt Chemnitz gewinnen, und die davon fallenden Herrschafftlichen Nutzungen wieder Willen auch dahin entrichten müßen [...] gleichwohl weder Gesellen setzen, noch unsern und andern Kindern das Handwerck zu ihren Fortkommen lernen, einfolglich auch selbiges zu dem nöthigen Erwerb unsers Lebens Unterhalts nicht forttreiben können, wann wir es nicht mit einer fremden Innung weiter halten oder mit einer eignen begnadiget würden. 194
191 192
193 194
Vgl. Esche, Wirkerei, S. 30ff. Vgl. Bräuer, Helmut, Handwerk im alten Chemnitz, Chemnitz 1992, S. 40 f.; Zöllner nennt das Jahr 1765 als Zeitpunkt der zweiten landesherrlichen Kon rmation. Vgl. Zöllner, Curt Wilhelm, Geschichte der Fabrik- und Handelsstadt Chemnitz von den ältesten Zeiten bis zur Gegenwart, Chemnitz 1886, S. 418. Vgl. Bräuer, Handwerk, S. 41. ThStA Abg, Landesregierung, Nr. 11934: Die von denen Strumpffwürckern zu Rußdorff, Johann David Eschen und Consorten gesuchte Ertheilung einer Innung und Beschwerde über die Pfuscherey betr. Ao. 1744, 1745, 1751 u. 55, fol. 1.
RUSSDORF
57
Die unübersehbaren wirtschaftlichen Vorteile sowie die isolierte Lage Rußdorfs fern aller Bannkreise der sächsisch-altenburgischen Städte beförderten das Gesuch, dem Friedrich III. von Sachsen-Gotha-Altenburg durch Bestätigung der Innungsstatuten am 2. März 1745 stattgab. 195 Mit lediglich vier nachgewiesenen Strumpfwirkermeistern zählte die Rußdorfer Innung damit zu den ersten im gesamtdeutschen Raum. Obwohl von lediglich geringer Größe, hatte die Vereinigung doch das Recht, Meister zu ernennen und verlieh Lange zufolge auch zahlreichen Limbacher Strumpfwirkern das Meisterrecht. 196 Für die Rußdorfer Wirtschaft blieb die Innung nichtsdestotrotz lange Zeit von geringerer Bedeutung. Noch 1769 – zwei Jahre zuvor wurden bei der ersten bezeugten lokalen Bevölkerungserhebung 565 Einwohner im Dorf gezählt 197 – gingen von 101 gewerbetreibenden Familienvorständen lediglich acht der Strumpfwirkerei nach. Dagegen betrieben 65 die Leinweberei und betätigten sich 15 im Leinwandhandel. 198 Zur selben Zeit führte der bereits erwähnte Johann David Esche als Verleger in Limbach schon eine Fürstenhöfe beliefernde Seidenstrumpfmanufaktur 199. Unter der Limbacher Gerichtsherrschaft lebte eine deutlich größere Zahl an Strumpfwirkern. Als diese 1779 erneut eine Innungsgründung anstrengten, welche 1785 gelang, zählte die ansässige Meisterschaft 102 Personen. 200 Insgesamt existierten in Rußdorf anno 1769 neben den Berufen des Agrarsektors 16 steuerp ichtige Gewerbe, denen nur noch ein Drittel der damals 148 Haus- bzw. Hofstellenbesitzer hauptberuflich nachging. 201 Die Bedeutung des sekundären Sektors für die Wirtschaft der altenburgischen Exklave nahm über die verbleibenden 160 Jahre des Untersuchungszeitraums kontinuierlich zu. Gleichzeitig wuchs die Bevölkerung vor allem im 19. Jahrhundert stark, was sich nicht zuletzt im Ortsbild widerspiegelte. Anfang der 1830er Jahre lebten bereits beinahe 900 Menschen in 151 Rußdorfer Häusern. 202 Bis 1854 vermehrte sich die Einwohnerzahl um 22,7 Prozent auf 1086, welche sich auf 25 Bauern- und 28 Gartengüter sowie 110 Häuser verteilte. 203 Das Verhältnis zwischen Leinweberei und Strumpfwirkerei kehrte sich bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts um. Lange nennt für 1848 nur noch 24 in der Leinenverarbeitung beschäftigte Einwohner, dafür allerdings eine Färberei und mehrere Bleichen. Hingegen umfasste die Rußdorfer
195 196 197 198 199 200 201 202 203
Vgl. ebd., fol. 51f. Vgl. Lange, Allerlei, S. 6. Vgl. EPA Rußdorf, KB I. Vgl. ThStA Abg, Obersteuer Kollegium Nr. 274: Steuer-Anschlag von Rußdorf de Anno 1769. Vgl. Esche, Wirkerei, S. 58. Vgl. StALO, Stadtrath zu Limbach, Abt. III. Abschn. 10b Nr. 1: Die Errichtung einer Strumpfwürcker-Innung alhier zu Limbach 1779. Vgl. ThStA Abg, Obersteuer Kollegium Nr. 274. Vgl. Staats- und Adreß-Handbuch des Herzogthums Sachsen-Altenburg. 1843, Altenburg 1843, S. 103. Vgl. Staats- und Adreß-Handbuch des Herzogthums Sachsen-Altenburg. 1855, Altenburg 1855, S. 102.
58
DIE UNTERSUCHUNGSORTE IM ÜBERBLICK
Strumpfwirkerinnung zu dieser Zeit 120 Meister. 204 Im selben Jahr begründete Samuel Friedrich Engelmann (1825–1890) eine Strumpffabrik, die seit den 1890er Jahren unter seinen Nachfahren und dem Namen Welker & Söhne zum größten Arbeitgeber der Exklave aufstieg. Mitte der 1930er Jahre beschäftigte die Firma 415 Personen 205 und belieferte die sächsischen Fürstenhöfe ebenso wie sie nordamerikanische Märkte bediente. 206 Die Fabrikindustrialisierung setzte in Rußdorf allerdings erst nach der Gründung des Deutschen Kaiserreichs 1871 ein. Ende der 1860er Jahre wurde dem Ort mit seinen rund 1200 Einwohnern zwar durchaus eine gewerbliche Prägung zugestanden, die sich vor allem in zahlreichen ansässigen Strumpfwirkern, Leinwebern und Färbern ausdrückte 207, doch erst 1886 wurde es als Industriedorf charakterisiert. 208 Zunächst stiegen noch in den 1870er Jahren einige Strumpfwirker auf die fabrikatorische Strumpfproduktion um. Im Laufe der 1880er Jahre traten erste Handschuhfabriken, Appreturanstalten und mehrere Maschinenbaufabriken hinzu, die jedoch oft nicht lange bestanden und zumeist nur kleinbetriebliche Ausmaße erreichten. Heimarbeit blieb, regelmäßig unter Bindung an eine Textilfabrik, analog zur gesamtsächsischen Industrialisierung auch während und nach der Hochindustrialisierungsphase bis in die 1930er Jahre für die dörfliche Textilproduktion von Bedeutung. Vier Jahre vor Beginn des Ersten Weltkrieges führt ein Altenburger Adressbuch zehn Rußdorfer Fabriken 209, mehrheitlich des Textilsektors, auf, deren Zahl sich bis 1920 um sechs vermehrte. 210 Die Gewerbelandschaft der Exklave differenzierte sich generaliter seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert stark aus. Die protoindustriell bedeutenden Leitgewerbe Leinweberei und Strumpfwirkerei waren daran nicht länger beteiligt. Noch vor 1900 starb die Leinenverarbeitung als Berufszweig in Rußdorf nachfragebedingt aus, während die selbstständig produzierenden Strumpfwirker der übermächtigen Konkurrenz fabrikmäßiger Hersteller weichen mussten. Mit nur noch 44 Meistern wurde die örtliche Innung 1901 aufgelöst. 211 Ebenfalls um 1880 setzte ein lang anhaltendes exorbitantes Wachstum der Rußdorfer Bevölkerung ein. Zwischen 1871 und 1880 stieg die Einwohnerschaft von 1446 212 auf 1781 213 Personen an, in der nachfolgenden Dekade wuchs sie um 963 Individuen. 204 205 206 207
208 209 210 211 212 213
Vgl. Lange, Heimatbild, S. 8. Vgl. StALO, Rat der Stadt Oberfrohna, Nr. 1256: Fabrik- und Heimarbeiter-Zählungen 1935–1942. Vgl. KrA Gl, Limbacher Tageblatt und Anzeiger, 1928, Nr. 231, Jubiläum. Vgl. Töpfer, Johannes, Landeskunde des Herzogthums Sachsen-Altenburg. Das Herzogthum Sachsen-Altenburg in geographischer, statistischer und topographischer Beziehung beschrieben, sowie mit historischen Bemerkungen versehen, Gera 1867, S. 68. Vgl. Lange, Allerlei, S. 66f. Vgl. Adressbuch der Landgemeinden des Herzogtums Sachsen-Altenburg. Ostkreis, Altenburg 1910, S. 166. Vgl. StadtACH, A 50a: Adreßbuch der Umgebung von Chemnitz. Handels rmen und Gewerbetreibende sowie Gutsbesitzer, 1920. Vgl. Lange, Allerlei, S. 7. Vgl. Eichler, Bürgertum, S. 32. Vgl. Staats- und Adreß-Handbuch des Herzogthums Sachsen-Altenburg. 1881, Altenburg 1881, S. 172.
RUSSDORF
59
Vier Jahre vor Beginn des Ersten Weltkrieges lebten 3600 214 Personen vor Ort. Bis zum Ende der untersuchten Periode hielt der demographische Aufschwung, wenn auch seit 1914 deutlich verlangsamt, an, sodass Anfang der 1930er Jahre fast 4000 215 Menschen das Industriedorf ihr Zuhause nennen durften. Die parallele Änderung des Ortsbildes trug dem Rechnung. Den 1868 gezählten 171 Wohnhäusern 216 gesellten sich bis 1880 30 weitere hinzu 217. Jahrzehnte vor Rußdorfs administrativer Eingliederung nach Oberfrohna 1935 wuchsen die Ortschaften um 1890 faktisch zusammen. Während der letzten 35 Jahre vor Beginn des Ersten Weltkrieges erlebte die Exklave einen regelrechten Bauboom. Allein zwischen 1880 und 1900 entstanden fast 70 Häuser ohne landwirtschaftlichen Bezug. 218 Im Zuge dessen erfuhr auch die dörfliche Infrastruktur einen unübersehbaren Ausbau. Die Straßen wurden befestigt, erste Ortsteile erhielten 1907 einen Gasanschluss. Elektrische Leitungen wurden erstmalig 1909 verlegt. 219 Hingegen konnte eine 1913 geplante, ökonomische Wachstumsimpulse in Aussicht stellende Eisenbahnanbindung dem Ersten Weltkrieg geschuldet nicht realisiert werden. 220 Krieg, Große In ation und die Weltwirtschaftskrise ab 1929 ließen Rußdorf nicht unbeein usst, wirkten jedoch offenbar in wirtschaftlicher Hinsicht nur kurzfristig negativ auf das Industriedorf. Wohl litt zum Beispiel die 200 Beschäftigten Arbeit gebende Firma Preßler u. Co. stark unter den kriegswirtschaftlichen Umstellungen und war die Färberei Wünschmann, mit 500 Arbeitsplätzen einer der größten Arbeitgeber der Exklave, 1926 gezwungen, Konkurs anzumelden. Trotzdem verharrte die vor 1914 gegen null tendierende Arbeitslosigkeit unter den Dorfbewohnern selbst in den 1920er Jahren auf einem sehr niedrigen Niveau. Die meisten größeren Unternehmen überstanden die wirtschaftlichen Missentwicklungen bis 1935 und zahlreiche zwischen 1920 und 1930 gegründete kleinere Betriebe trugen ihrerseits zu den hohen Beschäftigungsquoten bei, elen allerdings zu nicht geringen Teilen der die 1920er Jahre beschließenden Weltwirtschaftskrise zum Opfer. 221 Als Rußdorf 1928 seine Exklavenposition aufgab und 1935 durch seine Eingemeindung nach Oberfrohna auch administrativ ins Limbach-Oberfrohnaer Industrierevier eingebunden wurde, ließ sich sein ehemals rein agrarisch-dörflicher Charakter durchaus noch an den bis in die Gegenwart größtenteils erhaltenen Bauerngütern erahnen. Die Industrialisierung, Höhepunkt vielschichtiger tiefgreifender gesamtgesellschaftlicher und 214 215 216 217 218 219 220 221
Vgl. Eichler, Bürgertum, S. 32. Vgl. StALO, Rußdorf Nr. 35: Nachweisung über die Fortschreibung der Bevölkerung der Gemeinde Rußdorf Kreis Altenburg. Vgl. Staats- und Adreß-Handbuch des Herzogthums Sachsen-Altenburg. 1869, Altenburg 1869, S. 139. Vgl. Staats- und Adreß-Handbuch des Herzogthums Sachsen-Altenburg. 1881, S. 172. Vgl. ThStA Abg, Steuer- u. Rentamt Altenburg, Nr. 121. Vgl. Lange, Allerlei, S. 5ff. Vgl. Lange, Heimatbild, S. 9. Vgl. ebd., S. 36.
60
DIE UNTERSUCHUNGSORTE IM ÜBERBLICK
-ökonomischer Entwicklungen der Frühneuzeit und Neuzeit in Sachsen, wandelte die extradörfliche Lebenswelt in vielen Punkten grundlegend. Rußdorf partizipierte daran nicht nur passiv. Die innerdörfliche Verfassung wandelte sich ihrerseits seit dem Spätmittelalter in zahlreichen Aspekten, teils autonom, teils in Reaktion auf überregionale Veränderungen. Eine beinahe reine Agrarökonomie wich einer vom sekundären und tertiären Sektor dominierten Dorfwirtschaft, die kolonisatorische Siedlungsstruktur verlor sich in starker Partikularisierung und Umwidmung von Agrar- in Bauland, die Sozialstruktur differenzierte stark aus, weichte auf, und die anfangs sehr geringe Bevölkerungsdichte stieg bis in die 1930er Jahre exorbitant.
3.2 BRÄUNSDORF Der zweite betrachtete Ort, Bräunsdorf, glich seiner Nachbargemeinde Rußdorf anfangs hinsichtlich Historie und Ortsbild grundsätzlich. In denselben geographisch-geologischen Rahmen eingebettet, blickt er mutmaßlich auf eine analoge Entstehungsgeschichte zurück. Sowohl Flurverfassung als auch onomastische Einordnung stützen diesen Befund. Offenbar mit seiner Benennung auf einen Lokator „Brunig“ referenzierend, weist die typische Waldhufendorfform mit angeschlossener Gelänge ur die 694 Hektar umfassende Ortschaft als Kind der deutschen Ostkolonisation aus. Eine diese auf Indizienbeweisen fußende Annahme belegende Gründungsurkunde fehlt erwartungsgemäß. Die Erstnennung des Dorfes, obgleich umstritten, datiert wesentlich früher als jene Rußdorfs. Sowohl Eichler als auch Blaschke nennen für 1275 Hermannus de Brunigesdorf, leider ohne Quellenverweis. 222 Ebenso kann eine 1290 in Rochlitz ausgestellte Urkunde, auf die sich 1990 und 2015 anlässlich Jubiläumsfeierlichkeiten bezogen wurde 223, nicht zwangsläu g als Beleg für die Existenz Bräunsdorfs dienen, da sie einen eindeutigen Bezug des unter anderem genannten „Janek de Brunesdorf “ zu Bräunsdorf bei Limbach vermissen lässt. 224 Erste eindeutig zuordenbare Erwähnungen datieren wahrscheinlich auf die erste Hälfte des 14. Jahrhunderts. Einer Ortschronik von Grumbach bei Waldenburg zufolge wurde Bräunsdorf 1320 unter den elf Parochien des Kirchenbezirks Waldenburg im Archidiakonat Chemnitz aufgeführt. 225 Ein Quellenverweis fehlt allerdings abermals. Hingegen vermag der Ortschronist Horst Strohbach konkrete Urkundenbelege anzuführen, wenn er als erstes erhaltenes, auf Bräunsdorf bezogenes Dokument die Belehnung Nicolaus von Wirtzburgs unter anderem mit dem Dorf in Nachfolge des Ludwig von Kurbitz identi ziert. Zwar entbehrt das Dokument eines Datums,
222 223 224 225
Vgl. Eichler, Bürgertum, S. 21 u. HOV, Bräunsdorf. Vgl. StALO, Chronik Frenzel: Ortschronik von Bräunsdorf, S. 31. Vgl. Frenzel, Siegfried, Bräunsdorfer Geschichten und Geschichte, Nürnberg 2015, S. 16. Vgl. Callenberg, Grumbach, S. 17.
BRÄUNSDORF
61
doch sei es im Hinblick auf andere Beurkundungen spätestens im Jahr 1377 aufgesetzt worden. 226 Im Spätmittelalter gehörte Bräunsdorf nachweislich der 1436 durch Teilung der Herrschaft Zinnberg entstandenen 227 Herrschaft Penig an, hatte somit gleich Rußdorf die Burggrafen von Leisnig, welche die Burggrafen von Altenburg als Eigentümer der Liegenschaften im frühen 14. Jahrhundert ablösten 228, zu Oberlehnsherren. Letztere büßten bis 1365 ihre Reichsunmittelbarkeit vollständig ein, indem die Wettiner seit 1329 schrittweise die Lehnshoheit aller Leisnig'schen Gebiete übernahmen. 229 Als die Burggrafen von Leisnig 1538 ausstarben, el ihr Besitz dementsprechend an die sächsischen Herzöge. Jene tauschten die Herrschaften Penig und Wechselburg 1543 mit den Grafen von Schönburg gegen Hohnstein, Lohmen und Wehlen. 230 Dieser überblicksartige Abriss seiner Verwaltungsgeschichte gilt allerdings nicht für das gesamte Bräunsdorf. Aus ungeklärter Ursache war es schon 1542 zweigeteilt, indem ein Gut nicht der lokalen, sondern der Grundherrschaft des Ritterguts Limbach 231, somit dem Amt Chemnitz bzw. Mitte des 19. Jahrhunderts zeitweise dem Amt Limbach unterstand. 232 Der verhältnismäßig bestimmende Peniger Anteil Bräunsdorfs teilte sich seinen Grund- und Gerichtsherrn seit dem späten Mittelalter mit dem benachbarten Kaufungen. Glatz und Jost von Kaufungen sowie deren Schwester Käthe von Rippin erstanden Bräunsdorf mit Ausnahme des bei den Burggrafen von Leisnig verbleibenden Kirchlehens 1416 wiederkäuflich. 233 Im Anschluss an den Altenburger Prinzenraub 1455, den Kunz von Kaufungen mit seinem Leben büßte, gelangte Hans von Maltitz, einer der tes-
226 227 228 229 230
231 232 233
Vgl. Strohbach, Horst, Dorfbuch Bräunsdorf, Bräunsdorf 1938, S. 258. Vgl. Thieme, Altenburg, S. 560. Vgl. ebd., S. 87. Vgl. Groß, Reiner, Die Wettiner, Stuttgart 2007, S. 55. Vgl. Topographie von Schönburg mit verschiedenen Beylagen, Halle 1802, S. 17. – Im Zuge der Ablösung der grundherrlichen Lasten sah sich das schönburgische Gesamthaus 1841 durch das Königreich Sachsen in seiner Lehnsherrlichkeit über Bräunsdorf gestört. Es kam zum Prozess. Damals erklärten die Schönburger unter Berufung auf im Familienbesitz be ndliche Urkunden, sie hätten sich 1542 geweigert, der Churfürstlich-Sächsischen Türkensteuerforderung für Bräunsdorf nachzukommen. Demnach habe das Dorf schon vor dem Tausch von 1543 den schönburgischen Herrschaften angehört. Davon ausgehend wurde geschlussfolgert, Bräunsdorf sei böhmisches Reichsafterlehen gewesen, welches Friedrich von Schönburg 1297 dem Kloster Geringswalde schenkte. Vgl. SächsSTAC, 30575 Gesamtkanzlei Glauchau, Nr. 706: Fascikel die von mir hinsichtlich des Beweises der Afterlehnsherrlichkeit über Bräunsdorf quo ad possesserium und zugleich quo ad petitorium angestellten Erörterungen betr. Adv. Haendel. – Strohbach vermutete zu Recht einen Irrtum. Bei der Türkensteuerverweigerung wurden die Dörfer „Heyersdorf und Wyra“ im Zusammenhang mit Bräunsdorf erwähnt. Eine gleichartige Verbindung der Orte ndet sich im Amtserbbuch Borna aus der Mitte des 16. Jahrhunderts. Dadurch lässt sich das 1542 erwähnte Dorf als Breunsdorf bei Borna identi zieren. Vgl. Repertorium Saxonicum Institut für Sächsische Geschichte und Volkskunde e. V. (Hg.), Repertorium Saxonicum, Breunsdorf, online: http://repsax.isgv.de/projekt.php [zuletzt aufgerufen am 20. 06. 2016]. Vgl. Strohbach, Dorfbuch, S. 284 u. SächsSTAC GB Limbach, Nr. 16, Bl. 27. Vgl. HOV, Bräunsdorf. Vgl. Kirchner, Wolkenburg, S. 65.
62
DIE UNTERSUCHUNGSORTE IM ÜBERBLICK
tamentarisch bestimmten Vormünder der entführten Prinzen 234, in den Besitz sowohl Kaufungens als auch Bräunsdorfs. 235 Dessen Nachkommen hielten das Lehen bis in die zweite Hälfte des 16. Jahrhunderts. Zwischen 1571 und 1586 gehörten beide Grundherrschaften kurzzeitig nachweislich Wolf von P ug. 236 Anschließend gingen sie in den Besitz derer von Thumbshirn über, bevor Heinrich Hildebrand Edler von der Planitz das „Rittergut Kaufungen mit Bräunsdorf “ 1680 an sich erkaufte. 237 Dessen Familie hielt den Besitz bis 1739, mindestens seit 1728 unter Verpachtung des Ritterguts Bräunsdorf, ehe er 1756 an eine Erbengemeinschaft „Martha v. Schlieben u. Consorten“ el. Im Folgejahr wurde einem namentlich nicht genannten Sohn des 1756 verstorbenen Hans Abraham von Einsiedel eine Hypothek in Höhe von 8000 Talern auf das Rittergut Bräunsdorf eingeräumt. Mit Detlev Graf von Einsiedel erstand ein weiterer Vertreter dieser Familie das Lehen 1766 von der genannten Erbengemeinschaft. 238 Bis in die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts saßen die von Einsiedel unter anderem auf den Rittergütern Kaufungen und Bräunsdorf. Letzteres wurde während der Napoleonischen Kriege mit hohen Hypotheken belastet, die es 1863 formal in den Besitz der Landesbank Altenburg übergehen ließen. Erst mit dem Kauf des Ritterguts durch den 1889 als Pächter auftretenden 239 Burgstädter Heinrich Curt Heinig konnten die Schulden 1894 beglichen werden. Dadurch gelangte der Besitz letztendlich in bürgerliche Hände, wo er bis zur Enteignung des letzten Eigentümers Gerhard Koch 1945 verblieb. Im Anschluss wurde das Rittergut Bräunsdorf abgebrochen. 240 Bis zur Rati zierung des sächsischen Gerichtsverfassungsgesetzes am 11. August 1855, wodurch die Patrimonialgerichtsbarkeit im Königreich an ihr Ende kam bzw. die Befugnisse der Patrimonialgerichtsherren auf den Staat übergingen 241, stand die Jurisdiktion über den Peniger Anteil Bräunsdorfs dem Besitzer des örtlichen Ritter234 235
236 237
238 239 240 241
[RI XIII] H. 11 n. 77, in: Regesta Imperii, online: http://www.regesta-imperii.de/id/ 1447-09-01_1_0_13_11_0_77_ 77 [zuletzt aufgerufen am 20.06.2016]. Einer Urkunde von 1445 zufolge verkaufte Lupphart von Wirtzburg „das Forberg zu Penigk mit wiesen, ackern, hultzen, waßer leufften, und mit aller freiheit, mit kirchlein tzu Steinbach, mit den Leuten daselbst, mit den Leutten tzu Breunigstorff [...]“ an Titze und Albrecht von Meckau. Wie Strohbach anmerkt, ist das darin erwähnte Bräunsdorf nur auf den Limbacher Anteil zu beziehen, nicht auf Rittergut und die gesamte Ortschaft. Vgl. Strohbach, Dorfbuch, S. 258 f. – Die Familie von Meckau befand sich seit dem späten 13. Jahrhundert im Besitz des Ritterguts Limbach. Vgl. Kirchner, Christian, Rittergut Limbach in Sachsen. 100 Jahre im Stadtbesitz von Limbach-Oberfrohna, Bad Langensalza 2013. Vgl. Strohbach, Dorfbuch, S. 260. Wolf von P ug verpachtete die Rittergüter vor dem Besitzwechsel an den Obrist-Lieutnant Carol von Goldtstein, welcher am 26. Oktober 1677 „die Gerichte“ übernahm. Vgl. HstA-D, 12613 GB Limbach, Nr. 1: Gerichtsbuch Bräunsdorf, 1672–1685, fol. 168. Vgl. SächsSTAC, 30575 Gesamtkanzlei Glauchau, Nr. 704: Privatacten in Sachen des hohen Gesamthauses von Schönburg gegen die Krone Sachsen. Besitzstörung in der Lehnsherrlichkeit Bräunsdorf. 1847. Vgl. EPA Bräunsdorf, KB V: Trauregister 1853–1890, Hochzeit des Heinrich Curt Heinig, S. 156, Nr. 1c. – Heinig waren seit 1857 mindestens die Pächter F. D. Fischer, F. H. Gerth u. C. R. Moses vorangegangen. Vgl. Kirchner, Rittergut, S. 16. Vgl. Reichert, Frank, Zur Geschichte der Feststellung und Kennzeichnung von Eigentums- und Herrschaftsgrenzen in Sachsen, Dresden 1999 [Hochschulschrift], S. 62.
BRÄUNSDORF
63
gutes zu, während die wenigen Bewohner des Limbacher Anteils der Rechtsprechung des Limbacher Gerichtsherrn unterworfen waren. Über die konkrete, umfangreiche Kompetenz der Bräunsdorfer Rittergutsherren gibt ein in Abschrift überlieferter Lehnbrief Peter von Maltitz' aus dem Jahr 1544 Auskunft. Letzterer erhielt das Gut und Dorf mit den „Gerichten, Obersten und Niedersten, uber Halß und Handt“. 242 Der Gerichtsort ist nicht explizit überliefert, ist aber vermutlich auch für Bräunsdorf in einer Kaufunger Gerichtsstube mit angeschlossenem Gefängnis und Wächterstube zu identi zieren. 243 Obrigkeitliche Anordnungen wurden hingegen in der Bräunsdorfer Schenke, neben der Kirche gesellschaftlicher Mittelpunkt des Dorfes, vom Ortsrichter öffentlich bekannt gemacht. Die Gerichtsstätte ist dank einer sich darum rankenden Sage bis in die Gegenwart im öffentlichen Bewusstsein der Dorfbevölkerung verblieben. In typischer, an mittelalterliche Gep ogenheiten referenzierender Manier markiert eine Galgenlinde den auf der Flurgrenze zwischen Kaufungen und Bräunsdorf liegenden Exekutivplatz körperlicher Strafen gegen Personen, die unter die Gerichtsherrschaft beider Orte elen. Anders als in Rußdorf existierte offensichtlich zumindest bei Blutgerichtsbarkeitsverfahren kein festes Regularium über die Kostendeckung. So verklagte die Gemeinde Bräunsdorf 1677 anlässlich der Hinrichtung des Diebes Georg Fritsche die Gemeinde Kaufungen auf Kostenbeteiligung, da es „ganz billich wehre, wann Beclagte ihnen die helfte contribuirten, undt sie also fein beysammen stünden“. Die Kaufunger verweigerten sich dem mit Hinweis auf ein analoges Verhalten der Kläger bei einem ähnlichen Fall 50 Jahre zuvor 244. Erst der in dieser Sache geschlossene Vergleich legte die Zuständigkeiten eindeutig fest: Es wil [...] also auch hirführo nach eine jede Gemeinde bey [...] Peinlichen Fällen die Costen für sich alleine ohne Contribution der andern tragen. So viel aber das anitzo uff beyderley Grundt undt Boden stehende Gericht anlanget, so sollen sich desselben beyde theile der gestaldt zu bedie-
242
243 244
SächsSTAC, 30597 Herrschaft Penig, Nr. 183: Die Gemeinde zu Breunsdorff und ihre Lehensjunckere die von Maltitz, 1584–1643, Lehenbrieffs uber Breunßdorff Ao. 1544 (Copia). – Offenbar gestanden die Schönburger denen von Maltitz an dieser Stelle deutlich erweiterte Rechte zu als die sächsischen Herzöge. Im Lehnsbrief der Brüder Heinrich und Peter von Maltitz von 1498 heißt es noch: „die gerichte /obir und nyder [...] was den halsz vnd leben nicht belanget /als nemlich lemden kampfer / Beinschrotigk, iessende Blutrünstige vnd schandmelige wunden /Beulen, eck ader Cyetter geschrey vnd sust ander mynder sachen /das leben nicht betreffende.“ HstA-D, Copial 1307, fol. 351, zitiert nach: Strohbach, Chronik, S. 85. Vgl. SächsSTAC, 30593 Herrschaft Waldenburg, Nr. 3045: Die Rückgabe der Oeconomiepachtung auf dem Vorwerke Bräunsdorf, Seiten des bisherigen Pachters, Hn. Friedrich Daniel Fischer, an die Gutsherrschaft. 1857. Der Kaufunger Michael Fiedler, dessen Fall möglicherweise zur Grundlage der Legende von der Galgenlinde gereichte, starb 1624 am Galgen. Post mortem entfernten ihm Unbekannte beide Daumen – zu der Zeit begehrte Glücksbringer. Nachdem er zwei Jahre hängen geblieben war, wurde sein Leichnam 1626 „vom gerichte herunttergerißen, die Ketten hiervon gestolen undt [...] unter dem gerichte liegen gelaßen“. Vom Peniger Scharfrichter wurde der Körper unter dem Galgen verscharrt. Weder an damals fälligen Gebühren in Höhe eines Neuschockes noch an den eigentlichen Gerichtskosten scheint sich die Bräunsdorfer Gemeinde beteiligt zu haben. Vgl. 12613 GB Penig, Nr. 10: Gerichtsbuch Kaufungen, fol. 43b.
64
DIE UNTERSUCHUNGSORTE IM ÜBERBLICK
nen haben, daß die Kauffunger ihre Diebe an die hierüber stehende Seite, die Breunsdorffer aber ihrer nüber-warts, wo der itzige baumelt, henken laßen sollen. 245
Die Bräunsdorfer Gemeinde wurde gegenüber der Lokal- bzw. den übergeordneten Behörden durch einen Gemeindevorstand, den Ortsrichter 246 vertreten. Ihm oblag es unter anderem auch, obrigkeitliche Anordnungen in der Ortsschenke öffentlich bekannt zu machen sowie die niedere Gerichtsbarkeit bis zu einem gewissen Grad auszuüben 247, wobei ihm zwei Gerichtsschöppen zur Seite gestellt wurden. 248 Wie im benachbarten Rußdorf scheinen diese Ämter grundsätzlich nicht den begütertsten Gemeindemitgliedern respektive den Vollbauern vorbehalten gewesen zu sein. So nden sich unter den 13 zwischen 1600 und 1900 nachweisbaren Bräunsdorfer Richtern durchaus zwei Gärtner und ein Häusler, deren zwei bereits im frühen 17. Jahrhundert amtierten. Jedoch zeigten sich die Bauern deutlich überrepräsentiert. Gleiches gilt für die 22 belegten Gerichtsschöppen, von denen über 77 Prozent der ökonomischen Oberschicht des Dorfes zugehörten, aber kein einziger dem Häuslerstand. 249 Die traditionelle politische Ordnung kam durch die Reformgesetzgebung zwischen 1831 und 1855 an ihr Ende. In deren Rahmen büßten die Grundherren nicht allein ihre juristische und administrative Stellung ein, auch die tradierte Gemeindeordnung erfuhr eine Neuregelung. Die Sächsische Landgemeindeordnung vom 7. November 1838 hob zwar weder Richter- noch Schöppenamt auf, schuf aber mit dem Gemeinderat eine neue Institution der Gemeindevertretung. Der erste 1839 von den damals 91 wahlberechtigten Einwohnern gewählte Bräunsdorfer Rat bestand aus sieben Personen, die sich aus allen sozialen Schichten des Dorfes rekrutierten. Noch im selben Jahr wurde eine erste Gemeindeordnung schriftlich xiert, die unter anderem die Nutzung der Gemeindewiesen und der beiden zur Haltung des „Samenrindes“ genutzten Ochsengärten sowie die Gemeindedienste festlegte. 250 Ebenfalls auf Grundlage der Reformgesetzgebung, in diesem Fall des Agrarreformgesetzes vom 17. März 1832, wurden noch vor 1850, deutlich früher als in Rußdorf, die rechtlichen Voraussetzungen zur Ablösung der auf den Bräunsdorfer Gütern lastenden Frondienste und Naturalzinsen gelegt. 251 Über die Höhe der Verp ichtungen gegenüber dem Besitzer des lokalen Rittergutes gibt erstmals die Kopie des schon erwähnten Lehnbriefs von 1544 Auskunft. Dieser führt 25 Bräunsdorfer und einen Remser Gutsbesitzer auf, die dem damaligen Grundherrn Peter von Maltitz an den üblichen Ter245 246 247 248 249 250 251
HstA-D, 12613 GB Limbach, Nr. 1, Die Peinlichen Costen betreffend, fol. 175f. Im Bräunsdorfer Fall offensichtlich ein Setzrichter. Vgl. Ruhland, Verwaltungsgeschichte, S. 42. Vgl. Wetzel, Michael, Das schönburgische Amt Hartenstein 1702–1878. Sozialstruktur – Verwaltung – Wirtschaftspro l, Leipzig 2004, S. 305f. Vgl. Strohbach, Horst, Bräunsdorfer Bilder-Chronik, Burgstädt 1935, S. 2. Vgl. EPA Bräunsdorf, KB I – VI. Vgl. Strohbach, Dorfbuch, S. 58. – Siehe auch: Die Landgemeindeordnung des Königreichs Sachsen, Leipzig 1839. Vgl. Strohbach, Dorfbuch, S. 194ff.
BRÄUNSDORF
65
minen Walpurgis und Michaelis jährlich zwischen einem Groschen sowie zwei Hennen und 14 Groschen Erbzinsen zu zahlen verp ichtet waren. 252 Hinzu kamen eine Reihe von Frondiensten, welche der benachbarten Rußdorfer Gemeinde wohl angesichts ihrer räumlichen Entfernung vom Sitz des Grundherren „erspart“ blieben. Ein Rezess aus dem Jahr 1536 verp ichtete die Bräunsdorfer Pferdebauern zu jährlich 71 Frondiensttagen, in deren Rahmen eine Vielzahl typischer landwirtschaftlicher Saisonarbeiten, zu denen in der Regel angespannt werden musste, abzuleisten waren. Dies schloss Mist- und mehrerlei Holzfuhren ebenso ein, wie „ii tag Schaff scheren“, „i tag schaiben und decken“ sowie „ii tag Flachs rauffen und rieffeln und ins wasser legen, und einer ein stuck garn spynnen“. Zusätzlich bestand die Verp ichtung, für die Brauerei derer von Maltitz einen Tag Brauholz zu hauen und drei Tage Hopfen zu p ücken. Handfröner, also alle übrigen lokalen Grundbesitzer vom Häusler bis zum Handbauern, sollten „mit den P ugen zu der Handtfrohne thuen, allen mist helffen laden, Mist breithen, zeunen, kleiben, mit stro decken, alles gethreide helffen abladenn, das gethreidt helffen auffbinden, und zu Mandeln, Zaungertthen zu hauen, Zaunstecken machen, den Sahmen zu dreschen“. Eine Vergütung der Arbeitsleistung erfolgte nur in Ausnahmefällen, zum Beispiel für das Dreschen, gemäß dem für auswärts angeworbene Arbeiter gültigen Satz. Allerdings hatten die Frondienstleistenden Anspruch auf Verköstigung während der Arbeit. Entschied sich der Grundherr gegen eine Bewirtschaftung seines Eigengutes bzw. gegen die Beanspruchung der Frondienste, stand es ihm frei, stattdessen adäquate Geldleistungen einzufordern. 253 Über diese klar de nierten jährlichen Dienste hinaus wurden den Bräunsdorfern im 16. Jahrhundert weitere situative Beschwerungen auferlegt. „Gethreide, wein unnd anders [mussten sie] ann andern frembden orttenn, so offt man sie es geheissen mitt pferdt unnd wagenn“ holen. Ihr „Juncker“ konnte jederzeit Fahrdienste für sich und andere, „frembde leutt“ beanspruchen und Frondienste durften in beliebiger Entfernung vom Wohnhaus des P ichtigen eingefordert werden. „Was sie aber uber eine nacht aussennbleiben, müsse man ihnen verlohnen.“ Schließlich wurden die Gemeindemitglieder über agrarische Zuarbeiten hinaus in das herrschaftliche Braugeschäft einbezogen, indem sie „nicht alleine reiffsetzenn sondern auch allerley gefeeß, zu den gebreuen gehorigk, inn den umbliegenden stedtenn unnd orttenn, da büttner wohnen, als zu Limpach, Penigk, Waldenburgk, zu roß und zu fuß holenn“ mussten. 254 Über Abgaben und Dienste hinaus bedungen sich die von Maltitz das Recht des ersten Angebots für zu Markte getragene Ge ügelprodukte ihrer Bräunsdorfer Grundholden aus und verp ichteten die Wirte ihres Herrschaftsbereiches, „nicht alleine zu 252 253 254
Vgl. SächsSTAC, 30597 Herrschaft Penig, Nr. 183, Lehenbrieffs uber Breunßdorff Ao. 1544 (Copia). Vgl. ebd., fol. 1f. Vgl. ebd., Zeugknus Register und Beweisunge des gestrengen Edlen und Ehrenvhestenn Petern von Maltitz zu Breunßdorff gegen unnd wider seine Underthanenn die gemeinde daselbsten etzliche gerechtigkeit Breuenn, schenckenn, unnd anders, belangende, 17.03.1570, fol. 107ff.
66
DIE UNTERSUCHUNGSORTE IM ÜBERBLICK
Breunßdorffe sondern auch zu Kauffungen unnd anders wahr“, das Maltitzer Bier exklusiv auszuschenken, „so lang der Erbherr denn kretzschmar mitt bier zuverlegenn gehabet, gar keines anderswohe holenn dürffenn“. 255 Nicht zum ersten Mal erhoben sich die Bräunsdorfer Bauern 1569 gegen ihren damaligen Herrn, Peter von Maltitz den Jüngern und verklagten ihn ob ihrer P ichten de facto wegen Missbrauchs: „als soltte er wieder ihren altthergebrachten gebrauch, unnd gewohnheitt, ihren wirtt oder kreschmar notigenn seine eingebrauene bier, und seine wein zu vorzapfen unnd auszuschenken, sie auch mitt etzlichenn landtfuhrenn zur unbilligkeitt beschweren“. Der deutlich artikulierte Protest, als dessen Frontmann mehr oder minder freiwillig der damalige Wirt Georg Gopner in Erscheinung trat, richtete sich allerdings in erster Linie gegen das faktische Biermonopol der Beklagten und nur sekundär gegen die angeblich überstrapazierte Fuhrdienstverp ichtung. Alle weiteren Frondienste wurden in keiner Weise hinterfragt. Dabei scheinen sich die Kläger der Haltlosigkeit ihrer mit alten Gewohnheitsrechten begründeten Forderungen durchaus bewusst gewesen zu sein. Philip Steinbach, der nach eigener Zählung 75-jährige Vorgänger Gopners in dessen Schenke, sagte als bestellter Zeuge aus, „das die leute zu Breunsdorff ihne zeugenn selbst mitt worttenn hartt angelassen unnd bedreuen wollen damitt er nichts von dieser althergebrachten gerechtigkeitt das bierschenken belangende sagen soltte“. Entsprechend erfolglos stritt die Gemeinde in diesem Prozess. Gleichwohl wusste Steinbach zumindest von einer personellen, den Bierschank betreffenden Ausnahmeregelung zu erzählen: „bericht zeug als er erstmahls den kretzschmar vorkaufft, habenn seine nachbesitzere des ortts nicht gedeyenn wollenn, da hab Peter von Maltitz der elttere selige angesprochenn er soltte wieder uff den kretzschmar ziehenn, er woltte ihme helffen unnd rathenn unnd ihme selbst breuenn lassenn, darauff zeuge den kretzschmar widerumb kaufft“. Des Weiteren konnte sich Steinbach einer Periode um 1525 entsinnen, in der Peter von Maltitz der Ältere in Mittelfrohna lebte, „alda er der Flohrstedtin haushalttenn helffenn“, ohne den Schankzwang auszusetzen. Die Frondienste forderte er dagegen während dieser Zeit als Geldleistung in Höhe eines Neuschocks ein. „Hernach habe er der von Maltitz ein baurguth auskeufft, unnd ihen Breunsdorff gebauett.“ 256 Diese Bemerkung ist insofern von Interesse, als dadurch die Frage aufgeworfen wird, warum von Maltitz das Bräunsdorfer Rittergut nicht zu seinem Sitz erwählte und mehr noch offenbar erst ein bäuerliches Gut vor Ort erkaufen musste, um sich innerhalb seiner Herrschaft häuslich niederlassen zu können. Es vermag gleichfalls zu verwundern, dass nun eingeforderte Frondienste zunächst strittig wurden: „derwegen sie denn auch etzliche mahl streytigk wordenn, und derenhalb Vortrage auffgericht, also das ihr viere die frohn thun, unnd die andern vier pferdfrohner vier altte schock dafür gebenn müssen“. Anfangs hielten sich die Dienste gegenüber
255 256
Vgl. ebd., fol. 100ff. Vgl. ebd., fol. 98ff.
BRÄUNSDORF
67
den zum Beispiel für 1570 belegten Verp ichtungen deutlich in Grenzen: „unnd hab der von Maltitz nicht viel ackerbau die Zeitt gehabtt das er auch nicht viel frohne dartzu bedurfft unnd weiß sich Zeug ausserhalb der ackerfrohn unnd holtzfuhr keiner andern zu erinnern“. 257 Allen etwaigen Widersprüchen der Bräunsdorfer zum Trotz blieben die umfangreichen Frondienste des späten 16. Jahrhunderts über teils konkretisierende, teils mildernde Rezesse, etwa von 1676 und 1789 258, hinaus im Grundsatz bis zu ihrer Ablösung bestehen. In Reaktion auf das sächsische Agrarreformgesetz von 1832 schlossen die Bräunsdorfer mit ihrer Gerichtsherrschaft 1836 einen Vergleich, der die jährlichen an die jüngst geschaffene Landrentenbank zahlbaren Renten zur Ablösung der auf den Gütern lastenden Frondienste und Naturalzinsen bestimmte. 259 Zwei Jahre später legte ein Rezess die Ablösungsrenten der Kaufunger und Bräunsdorfer Grundholden endgültig fest. Während Häusler und Gärtner größtenteils zur Entrichtung eines einheitlichen Satzes von jährlich 24 Neugroschen und acht Pfennigen verp ichtet wurden, schwankte die Summe bei den Bauerngütern teils beträchtlich. Der niedrigste Rentensatz des ganzen Dorfes betrug bei den Vollzahlern 14 Neugroschen und vier Pfennige für einen Hausbesitzer, während der höchste von 15 Talern 13 Neugroschen und zwei Pfennigen auf ein einfaches Anspanngut ent el. Ging ein Häusler- oder Gärtnergut nicht auf eine Abspaltung vom Gemeindegrund zurück, sondern war aus einem anderen Gut des Dorfes herausgelöst worden, wurde der Besitzer anteilmäßig an den Ablösungsrenten des „Muttergutes“, wie zuvor an dessen Verp ichtungen gegenüber der Grundherrschaft beteiligt. 260 Die Ablösungszahlungen der zehn Bräunsdorfer Güter Limbacher Anteils, die auf einen 1840 geschlossenen Rezess gründeten, schwankten weniger stark zwischen sechs Neugroschen und sechs Talern 24 Neugroschen sowie acht Pfennigen. Unabhängig von der vormaligen administrativen Zugehörigkeit endeten die Zahlungen dieser Amortisierungsrente spätestens 1894 per Gesetz. 261 Überdies zahlten Besitzer eines ehemaligen Gemeindegrundstückes einen Gemeindezins, der oft bereits 1855 via einmaliger Kapitalzahlung abgegolten bzw. 1913 gesetzlich aufgelassen wurde. Von den Ablösungen ebenfalls unbeein usst blieben die an das
257 258 259
260
261
Vgl. ebd., fol. 120f. Vgl. 20578 Rittergut Wolkenburg und Kaufungen, Nr. 312: Rezeß mit den Untertanen der Rittergüter Bräunsdorf und Kaufungen über die Linderung der Frohndienste 1789. Vgl. SächsStAL, 20578 Rittergut Wolkenburg und Kaufungen, Nr. 316: Die Ablösung bei dem Ritterguthe Kaufungen mit Bräunsdorf, 1833–1835. u. SächsStAL, 20578 20578 Rittergut Wolkenburg und Kaufungen, Nr. 319: Bräunsdorf, die Ablösung der von den Unterthanen der Herrschaft zu leistenden Dienste, abzuentrichtenden Zinnsen und der von denselben zu erleidenden herrschaftlichen Schaafhuthungsbefugniße, 1836. Vgl. SächsStAL, 20578 Rittergut Wolkenburg und Kaufungen, Nr. 320: Ablösung der Frohnen u. Naturalzinsen bei den Rittergütern Kaufungen u. Bräunsdorf 1838. u. SächsStAL, 20578 Rittergut Wolkenburg und Kaufungen, Nr. 321: Ablösung der Frohnen, Naturalzinsen u. Schaftrift beim Rittergüter Bräunsdorf u. Kaufungen 1838. Vgl. SächsSTAC, 30104 Amtsgericht Chemnitz (1879–1952), Nr. 5773–5774: Grund- und Hypotheken-Buch des Patrimonialgerichts zu Limbach für das Dorf Braeunsdorf, Limbachschen Antheils.
68
DIE UNTERSUCHUNGSORTE IM ÜBERBLICK
Rittergut Kaufungen zu entrichtenden Erbzinsen, welche erst 1930 ein gesetzlich geregeltes Ende fanden. 262 Neben den weltlichen Lasten lagen zumindest auf den Anspann- und Handgütern sowie einer geringen Zahl aus diesen hervorgegangener Gärtner- bzw. Häuslergüter weitere Verp ichtungen gegenüber Pfarre und Schule. Sowohl der bestellte Lehrer als auch der Ortspfarrer ernährten sich traditionsgemäß von jährlichen Decemzahlungen der Bauern ihres Einzugsbereichs. Der Schulzehnt bestand Mitte des 19. Jahrhunderts in alljährlich insgesamt 121 Dresdner Metzen Korn sowie 28 Erntebroten und 56 Käselaibern, zu denen ausschließlich die Bräunsdorfer Bauern neben differierenden Kornmengen je ein Brot und zwei Käselaibe gaben. Ein Rezess vom 22. August 1855 wandelte diese P icht dem Agrarreformgesetz folgend in eine jährliche Rente um, die gleich dem Gemeindezins 1913 gesetzlich gelöscht wurde. 263 Dem gleichen Schicksal wurden die Getreidezehnten zur Versorgung der Pfarrstelle in Gerste, Korn und Hafer, deren Höhe 1619 mit alljährlich insgesamt 28 gestrichenen Scheffeln beziffert wurde, unterworfen. Neben den lokalen Gutsbesitzern schütteten auch der Rittergutsherr von Kaufungen und drei Oberfrohnaer Bauern ihren Decem in Bräunsdorf. 264 Bis 1530 bzw. 1533 trugen zudem die Meinsdorfer und Rußdorfer Gemeindemitglieder zur Versorgung der Pfarrstelle bei. Des Weiteren umfasste das Bräunsdorfer Pfarrlehn auf vier Gütern, darunter das sogenannte Pfarrlehngut und der Pfarrgarten, lastende Ackerfronen gegen Verköstigung von Mann und Vieh sowie ausschließlich vom Pfarrlehnbauer zu leistende Getreidefuhrdienste zur und aus der Mühle. Gleichermaßen konnte der Pfarrgärtner gegen Lohn zu Bedarfsarbeiten herangezogen werden. 265 Im Gegensatz zu den vorgenannten Naturalzinsen wurden diese Fronen in den frühen 1840er Jahren im Rahmen mehrerer Vergleiche gegen Einmalzahlungen abgelöst. 266 Das hierdurch Mitte des 19. Jahrhunderts zumindest stark eingeschränkte bzw. faktisch abgeschaffte Pfarr- oder Kirchlehn 267 existierte in Bräunsdorf seit dem Mittelalter. Eine erste Erwähnung ndet sich im bereits erwähnten Wiederkauf derer von Kaufungen aus dem Jahr 1416. So wie es damals bei den Burggrafen von Leißnig verblieb, 262 263 264 265 266 267
Vgl. SächsSTAC, 30104 Amtsgericht Chemnitz (1879–1952), Nr. 5770–5772. u. SächsSTAC, 30104 Amtsgericht Chemnitz (1879–1952), Nr. 5773–5774. Vgl. SächsSTAC, 30104 Amtsgericht Chemnitz (1879–1952), Nr. 5770–5772. Vgl. Strohbach, Dorfbuch, S. 219ff. Vgl. ebd., S. 222. Vgl. ebd., S. 197 u. Seifarth, Theodor, Die Parochie Bräunsdorf, in: Buchwald, Georg (Hg.), Neue Sächsische Kirchengalerie. Ephorie I u. II, Leipzig o. J., S. 703–776, S. 761. „Pfarrlehen [...] das Recht und die Gewalt, einen Pfarrer zu berufen; der Pfarrsatz, die Pfarrverleihung, das Pfarrecht, das Kirchlehen, der Kirchensatz, mit einem Lat. Worte, das Patronat-Recht, Jus Patronatus.“ Adelung, Johann Christoph, Grammatisch-kritisches Wörterbuch der Hochdeutschen Mundart, Bd. 3, Leipzig 1798, S. 711f. u. „Pfarrlehen, Lehen von einem Grundstücke, welches bei einer Pfarre genommen werden muß; zuweilen wird auch der gesammte Grundbesitz einer Pfarrei das P. genannt.“ Pierer, Heinrich August (Hg.), Pierer's Universal-Lexikon der Vergangenheit und Gegenwart, Bd. 12, Altenburg 1861, S. 936.
BRÄUNSDORF
69
behielten sich die Schönburger das Lehen allerdings exklusiv der Gerichtsbarkeit ausdrücklich vor, als sie Bräunsdorf 1544 an Peter von Maltitz verliehen. Gleichermaßen heißt es in der Lehnsreichung an die Brüder von Thumshirn 1593: „außgeschlossen daß Kirch Lehen, so uns [den Schönburgern] zu verleihen zustehett [...], Es sollen auch [...] die Thumbshirn Gebrüdere, ihren Leuten nicht gestatten, einen Pfarrherrn daselbsten, einicherley Beschwehrung auffzulegen“. 268 Anders als Rußdorf besaß Bräunsdorf demnach seit dem Mittelalter eine eigene Pfarrstelle. Ursprünglich zählten mehrere Dörfer ganz oder teilweise zur Parochie. Durch den Verlust Rußdorfs und Meinsdorfs infolge früherer Reformation der Dörfer gingen dem Pfarrer Naturalzinsen in emp ndlicher Höhe von zehn Scheffeln Gerste verloren, wodurch die Pfarrstelle selbst in ihrer Existenz bedroht wurde. Daraufhin übernahm die Gemeinde auch diese Lasten, „damit sie einen eigenen pfarher behalten“ konnte. Die angedachte Übergangslösung für die Zeit, bis „die zwey Dorffer wiederum zur pfarr khommen“, geriet allerdings zum Dauerzustand. 269 Auch nachdem die Reformation 1539 Bräunsdorf schließlich erfasst hatte – angeblich unter dem ersten namentlich bekannten und gleichzeitig letzten katholischen Ortsgeistlichen Gregorius Arnold 270 –, verblieben die ehemaligen Filialgemeinden bei ihrer neuen Mutterkirche. Daran vermochten selbst aus der leidigen Praxis, dass „die Pfarrer von Kaufungen unentwegt meist fahrend oder reitend durch Bräunsdorf quer hindurch gezogen, um in ihrem, von hier aus ungefähr ¾ Stunden [...] entfernt gelegenen eingepfarrten Orte [Rußdorf] ihre Pfarrkinder kirchlich zu versorgen“, resultierende, durchaus öffentlich artikulierte Wiedervereinungswünsche der Nachbargemeinde nichts zu ändern. 271 Seit der Reformation blieb die Pfarrstelle beinahe durchgehend besetzt. Am Ende des Untersuchungszeitraums waltete der nach Arnold 27. Ortspfarrer seines Amtes. 272 Durchschnittlich 14 Jahre hatten die Geistlichen in den vorangegangenen knapp vier Jahrhunderten in Bräunsdorf gewirkt. Einzig während der Jahre 1641–1643 wurde die Kontinuität gebrochen. Nachdem der seit 1611 amtierende Gregorius Piltz 1641 gleich seiner Ehefrau in Waldenburg der Pest erlegen war, geriet Bräunsdorf auf schönburgischen Befehl unter Verweis auf die elenden Zeiten, in denen manche Gemeinde kaum zur Selbstversorgung, geschweige denn der Unterhaltung eines eigenen Pfarrers ökonomisch fähig war, für zwei Jahre zum Mühlauer Filial. Der ein Jahr zuvor infolge schwedischen Truppendurchzugs geschehene Kirchenbrand, dem auch die Pfarrwoh-
268 269 270
271 272
30597 Herrschaft Penig, Nr. 183: Die Gemeinde zu Breunsdorff und ihre Lehensjunckere die von Maltitz, 1584–1643, Lehenbrieff uber Breunßdorff Ao. 1593 (Copia). Vgl. Bräunsdorfer Kirchenvisitation 1539, zitiert nach: Strohbach, Dorfbuch, S. 217. Vgl. Seifarth, Bräunsdorf, S. 761f. – Dem Sächsischen Pfarrerbuch zufolge gelangte der aus Radeberg stammende ehemalige Zwickauer Schulmeister und Crimmitschauer Diacon erst 1540 an die Bräunsdorfer Pfarrstelle. Vgl. Grünberg, Reinhold, Sächsisches Pfarrerbuch, Teil I, A – L, Freiberg 1940, S. 16. Vgl. Seifarth, Bräunsdorf, S. 705. Vgl. Strohbach, Dorfbuch, S. 212ff.
70
DIE UNTERSUCHUNGSORTE IM ÜBERBLICK
nung zum Opfer gefallen war, mochte die Maßnahme bedingt haben. In welchem Jahr der sakrale Nachfolgebau geweiht wurde, ist nicht überliefert. Orientiert am Einzug Caspar Altweins in die neu errichtete Pfarrwohnung 1652, ließe sich die Kirchenweihe auf die späten 1640er bzw. frühen 1650er Jahre eingrenzen, wohingegen die Jahreszahlen auf der alten Wetterfahne hierfür das Jahr 1662 wahrscheinlich machen. Der Bau aus der Mitte des 16. Jahrhunderts erlebte das 20. Jahrhundert nicht mehr. Bereits 1864 wurde dessen Baufälligkeit angemerkt. Dennoch vergingen weitere dreieinhalb Dekaden, bis das substanziell angegriffene, mit profaner Architektur und geringer Größe den damaligen Anforderungen nicht länger Rechnung tragende Gotteshaus abgebrochen und binnen Jahresfrist die noch gegenwärtig existente Kirche geweiht wurde. 273 Das Pfarrhaus war zwei Jahre vor dem benachbarten Kirchenneubau seinerseits aufgrund der „äußerst mangelhaften Bauart, wie sie dem Gebäude auf dem ersten Blick anzusehen war“, durch einen Neubau ersetzt worden, dem zweiten nach dem Unglück von 1640, denn 1771 hatte ein neuerlicher Brand den Pfarrhof abermalig in Grund und Asche gelegt. 274 Administrativ unterstand das Kirchdorf Bräunsdorf vor der Reformation unmittelbar der Landdekanei Waldenburg unter dem Archidiakonat des Chemnitzer Benediktinerklosters im Bistum Meißen. Seit 1543 wechselte es zwischen den Superintendenturen Glauchau, Penig und Chemnitz, bevor es 1583 für die folgenden 300 Jahre endgültig unter die Peniger Zuständigkeit el. Anschließend wechselten die Verantwortlichkeiten seit 1874 erneut mehrfach, ehe die Parochie 1895 dem Landkreis II der Ephorie Chemnitz zugeordnet wurde, wo sie über das Ende der betrachtenden Zeit hinaus verblieb. 275 Funktionierte die kirchliche Organisation relativ losgelöst von weltlichen Herrschaftshierarchien und Besitzansprüchen, blieb zumindest das Kirchenpatronat der Lehnsverfassung verbunden. Ursprünglich lag es wahrscheinlich gleich dem Kirchlehen bei den jeweiligen Oberlehensherren der Bräunsdorfer Grundherrschaft, ging jedoch zu einem unbestimmten Zeitpunkt an die Rittergutsherren selbst über. So sind die Grafen Curt Karl Julius (1873–1926) und Karl Friedrich Gert (1883–1945) von Einsiedel als letzte adlige Besitzer des Ritterguts Bräunsdorf nachweislich im Besitz des Patronatsrechts gewesen. Von ihnen übernahm es der ehemalige Pächter Curt Heinig beim Kauf des Ritterguts, denn 1899 hatte das evangelische Landeskonsistorium endgültig verfügt, dass Patronat und Rittergut miteinander verbunden seien, somit Ersteres dem jeweiligen Eigentümer des Letzteren zustand. 276 Einiges deutet daraufhin, dass der Kirchenpatron bis zum Übergang der Volksschulbildung in staatliche Hände gleichzeitig die Position eines „Schulherren“ einnahm
273 274 275 276
Vgl. Seifarth, Bräunsdorf, S. 719ff. u. 763 f. Vgl. ebd., S. 755f. Vgl. Strohbach, Dorfbuch, S. 201f. Vgl. Seifarth, Bräunsdorf, S. 771f.
BRÄUNSDORF
71
und auf die Schulmeisterbestellung, die gleich der Elementarschulausbildung in Sachsen bis ins 19. Jahrhundert der Kirche oblag, Ein uss nehmen konnte bzw. nahm. Von Carl Heinrich von Schönburg (1729–1800) berichten die Pfarramtsakten 1789 als Kirchen- und Schulpatron gleichermaßen 277 und dessen Vorfahre Wolf von Schönburg berief nach Strohbach um 1610 mit Lucas Harting den ersten namentlich bekannten Schulmeister des Ortes, wo 1618 eine neue Schule in Gebrauch genommen wurde. 278 Sein Amtsnachfolger Hans Wendler blieb den Bräunsdorfern als Mitverantwortlicher des Kirchenbrandes von 1640 in unrühmlicher Erinnerung. 279 Freilich lassen sich aus dem bloßen Vorhandensein eines Lehrers nur bedingt Rückschlüsse auf die tatsächliche Schulbildungsverfassung eines Ortes ziehen. Dies muss für Bräunsdorf insbesondere gelten. Seifarth zitiert aus einer ungenannten Quelle von 1619, derzufolge in diesem Jahr bereits Unterricht abgehalten wurde, die Resonanz der Bevölkerung aber gering blieb. Dem war erst mit Einführung der allgemeinen Schulp icht 1835 beizukommen. Noch 1789 wohnten von über 80 Kindern im schulfähigen Alter zur Winterszeit lediglich die Hälfte bis zwei Drittel den Ausführungen des Schulmeisters bei. Während der im Agrarbereich arbeitsreichen Sommermonate sank deren Zahl gar auf 15 ab. 280 Dennoch ndet sich seit Beginn der entsprechenden schriftlichen Überlieferung im 16. Jahrhundert kein Jahr, in dem die Bräunsdorfer Schulmeisterstelle vakant gewesen wäre, obgleich keineswegs jeder der bestellten Lehrer eine entsprechende Ausbildung genossen hatte. Der vierte namentlich bekannte Schulmeister Christoph Fiedler, Sohn des Bräunsdorfer Obermüllers, verdiente zunächst als Leinwandhändler seinen Unterhalt, bevor er die lokale Schenke übernahm und sich 60-jährig noch als Bürger in Meerane niederließ. Nachdem er 1671 eine Tochter des Ortspfarrers Altwein geehelicht hatte, ist er seit 1675 als Stellvertreter des Lehrers Hans Schindler belegt, dessen Position er 1676 übernahm und bis 1682 ausübte. Auch Fiedlers aus Penig stammender Nachfolger im Schulmeisteramt, Johann Riedel, hatte ursprünglich die Profession eines Zeugmachers erlernt. 281 Das seit 1618 Verwendung ndende Schulgebäude wurde über 200 Jahre als solches genutzt und erst 1840 durch einen in unmittelbarer Nachbarschaft errichteten Bau, der neben einem Unterrichtsraum die Lehrerwohnung beherbergte, ersetzt. Die beträcht-
277 278 279
280 281
Vgl. ebd., S. 771. Vgl. Strohbach, Chronik, S. 79. „Dieser Hanß Wendler Schulmeister allhier, hätte in den damahligen 30. Jährigen Kriege die Kirche von ihren ruin erhalten können. [...] als die Schweden sich darinnen aufgehalten und bey ihren Abzuge gemeldten Schulmeister das Feuer in der Kirchen, dabey sie gekö[stigt] aus zulöschen befohlen, so hat er solches aus nachläßigkeit nicht getan. Dahero den das Feuer überhand genommen, und die Kirche, nebst 3 [...]nen Glocken, und deß damahligen Pfarrers Hn. Casparus Altwein [von anderer Hand durchgestrichen, darüber: Gregori Pilzens] Pfarrwohnung nebst dem Haußrath in die Asche gelegt worden.“ EPA Bräunsdorf, KB I: Kirchbuch 1640–1795, Taufen 1640, Nr. 5, nachträglich wahrscheinlich von Pfarrer Leupold (im Amt 1709–1728) eingefügte Notiz. Vgl. Seifarth, Bräunsdorf, S. 772. Vgl. EPA Bräunsdorf, KB I.
72
DIE UNTERSUCHUNGSORTE IM ÜBERBLICK
lichen Baukosten von ca. 2114 Talern hatte die Gemeinde zu tragen. 282 In dieser sogenannten Kirchschule lernten 1901 129 Kinder. Eine zweite Schule mit Lehrerwohnung, die Anfang des 20. Jahrhunderts 119 Schüler verzeichnete, entstand 1871/1872 in Reaktion auf die beständig steigende Zahl der Bräunsdorfer Unterrichtsp ichtigen, welche den älteren Schulbau an seine Kapazitätsgrenzen brachte. 283 Deutlich schwerer als für Rußdorf lässt sich die Bräunsdorfer Bevölkerungs-, Gesellschafts- und Gewerbeentwicklung nachvollziehen. Erst aus dem 19. Jahrhundert sind aussagekräftige statistische Erhebungen überliefert. Dementsprechend lückenhaft bleibt das Bild der Zeit vor 1800. Eine Gründung des Waldhufendorfs aus wilder Wurzel im Rahmen der Ostkolonisation kann als gesichert gelten. Das Dorf teilte sich mit dem benachbarten Rußdorf neben der Entstehungsgeschichte auch die naturräumlichen Bedingungen, gründete seine Entwicklung also faktisch auf dieselben Ausgangsbedingungen. Einzig die Fläche Bräunsdorfs überstieg jene des Nachbarortes um 200 Hektar. Unter der Annahme, die Besiedlung einschließlich der Fluraufteilung unter den Kolonistenfamilien in gleichmäßige Hufen sei, zumindest in der näheren Umgebung, den gleichen Regeln gefolgt, vermag die laut frühester schriftlicher Belege aus der Mitte des 16. Jahrhunderts geringe Diskrepanz in der Güterzahl beider Ortschaften zu verwundern. Die älteste Bräunsdorfer Steuerliste von 1544 führt 25 Gutsbesitzer auf, ohne Auskunft über Größe oder Wert ihrer Grundstücke zu geben. Ob dies, wie im Rußdorfer Fall angenommen, die vormalige Erstsiedlungssituation bis zu einem gewissen Grade widerspiegelt, ist unklar, zumal die dargelegten Steuerlasten der einzelnen Gutsbesitzer extrem schwankten. So betrug der höchste Steuersatz das Zwölffache des niedrigsten. Auch spart die erste Auflistung den unter das Rittergut Limbach gehörigen Bauern aus. Allerdings spiegelt die durch Summierung der Güter Schönburger und Limbacher Anteils für 1544 offenbar werdende Zahl von 26 potentiellen Bauern fast jene Zahl (27) wider, die seit Mitte des 16. Jahrhunderts über die Gerichtsbuchüberlieferung zweifelsfrei nachweisbar ist und bis zum Ende des Untersuchungszeitraums beinahe unverändert bestehen blieb. Anders als in Rußdorf traten in Bräunsdorf zwischen 1550 und 1600 mit hoher Wahrscheinlichkeit noch keine Kleinstellenbesitzer zur traditionellen Bauernschaft hinzu. Der Lehensbrief von 1593 nennt für den Schönburger Anteil erneut 26 zinsp ichtige Personen, wobei er ebenfalls weitere Informationen über Gutswert oder -größe schuldig bleibt. 284
282
283 284
Das Schulgebäude galt gleich der Kirche und Pfarre als Gemeindebauanlage, für welche die Gemeinde selbst aufkommen musste. Bei derartigen Bauvorhaben oder Renovierungen wurden die Kosten als befristete Steuerlast anteilmäßig nach einem festen Satz auf alle Bräunsdorfer Grundbesitzer umgeschlagen. Vgl. Seifarth, Bräunsdorf, S. 773f. Vgl. SächsSTAC, 30597 Herrschaft Penig, Nr. 183, Lehenbrieffs uber Breunßdorff Ao. 1544 (Copia), Lehenbrieff uber Breunßdorff Ao. 1593 (Copia).
BRÄUNSDORF
73
Abbildung 2: Bräunsdorfer Bevölkerungs-, Wohnhaus- u. Haushaltsentwicklung
Bis 1671 hatte sich die Zahl der belegbaren Bräunsdorfer Güter inklusive des Bauernguts Limbacher Anteils seit 1593 mehr als verdoppelt. Die 22 Anspanner und fünf Handbauern sahen sich nun einer quantitativ sogar überwiegenden unterbäuerlichen, aber nichtsdestotrotz landbesitzenden Gesellschaftsgruppe von 23 Gärtnern und fünf Häuslern gegenübergestellt. 285 Mindestens fünf zusätzliche Hausbesitzer lebten spätestens seit 1619 unter Limbacher Jurisdiktion. 286 Außerhalb des dominanten Agrarbereichs nden sich analog zum Rußdorfer Beispiel auch in Bräunsdorf seit dem 16. Jahrhundert Belege für Erwerbstätigkeit im gewerblichen Sektor. Den Aussagen des ersten bekannten Wirts Philip Steinbach nach zu urteilen, kaufte er das damals schon bestehende Wirtshaus mit Schankgerechtigkeit um 1525. 287 Ein zweites zentrales Gewerbe, die Müllerei, scheint erstmals 1544 in den Quellen auf. Bräunsdorf verfügte, in dorfwirtschaftlicher Hinsicht ein klarer Vorteil gegenüber Rußdorf, bereits zu dieser Zeit über zwei Mühlen. Einzig der „Obermüller“ wird, im Gegensatz zu den übrigen zinsenden Bauern allerdings nicht namentlich, genannt. 288 Jedoch indiziert das Prä x „Ober“ die gleichzeitige Existenz eines weiteren Müllers, dessen Erstnennung in persona des Niedermüllers Jacob Schönfeld bis 1619 285 286 287
288
Vgl. HstA-D, 12613 GB Limbach, Nr. 1. Vgl. Strohbach, Dorfbuch, S. 219. Vgl. SächsSTAC, 30597 Herrschaft Penig, Nr. 183, Zeugknus Register und Beweisunge des gestrengen Edlen und Ehrenvhestenn Petern von Maltitz zu Breunßdorff gegen unnd wider seine Underthanenn die gemeinde daselbsten etzliche gerechtigkeit Breuenn, schenckenn, unnd anders, belangende, 17. 03.1570, 116 v ff. Vgl. ebd., Lehenbrieffs uber Breunßdorff Ao. 1544 (Copia).
74
DIE UNTERSUCHUNGSORTE IM ÜBERBLICK
ausblieb. 289 Beide Mühlen, an die Handgüter angeschlossen waren, dienten ausschließlich dem Mahlbetrieb. 290 Eine dritte Mahlmühle ging in den 1730er Jahren in Betrieb. 291 Christian Windisch, herrschaftlicher Pachtmüller zu Wolkenburg, erhielt 1732 von den Edlen von der Planitz eine Konzession zur Errichtung einer Mühle „mit einem Mahlgange und einem liegenden Vorgelege“ 292 am Dorfteich auf Gemeindegrund sowie zum „Brodbacken, Brandeweinbrennen und andere ehrliche Nahrung, so er in der zu erbauenden Mühle treiben könnte, außer den Bierschenken“. 293 Neben den drei Mahlmüllern trieb in Bräunsdorf seit dem späten 17. Jahrhundert ein Papiermüller sein Handwerk. Der aus Waldenburg stammende Samuel Käferstein, Spross einer seit Mitte des 16. Jahrhunderts in Colditz wirkenden Papiermacherfamilie, ließ sich 1686 in Bräunsdorf mit einem Neubau nieder 294 und begründete eine traditionsreiche, bis nach 1935 währende Papier- und seit dem späten 19. Jahrhundert Pappenfabrikation. Hinweise über andere Gewerbetreibende sind trotz fortschreitender Partikularisierung bäuerlichen Besitzes für das 17. Jahrhundert rar gesät bzw. fehlen für die Zeit vor Beginn der Kirchbuchüberlieferung 1640 völlig. Überhaupt nimmt das nachweisbare Berufsgruppenspektrum Bräunsdorfs des späten 16. und frühen 17. Jahrhunderts überaus bescheidene Ausmaße an. Neben den beiden Müllern und dem Wirt werden lediglich je ein Richter (1570), Schmied (1622) und Gerichtsschöppe (1637) explizit erwähnt. Weitere Berufsnennungen entfallen auf einen „Hoffe Trescher“ (1630) und mehrere Rittergutspächter bzw. Hofmeister (1599, 1604, 1619, 1633) 295, deren erster bekannter Vertreter 1604 in der Rußdorfer Schenke vom Sohn eines Kaufunger Richters erschlagen wurde. 296 Ungeachtet der fehlenden Quellennachweise umfasste der dörfliche Gewerbesektor ohne Zweifel auch vor 1640 über das für den ruralen Raum übliche grundsätzliche Maß hinaus 297 und außerhalb der verbreiteten privathandwerklichen Tätigkeit weitere Berufe. Dies ergibt sich beinahe zwangsläu g aus dem Zusammenspiel der beginnenden 289 290 291 292 293 294 295 296
297
Vgl. Strohbach, Dorfbuch, S. 219. Vgl. 30104 Amtsgericht Chemnitz (1879–1952), Nr. 5770, Nr. 18.–30104 Amtsgericht Chemnitz (1879–1952), Nr. 5770, Nr. 106. Diese ist die einzige Mühle, die bis 1935 im Betrieb blieb. Die übrigen Mühlen stellten ihre Arbeit im Laufe des 19. Jahrhunderts ein. Vgl. Strohbach, Dorfbuch, S. 163. HstA-D, 12613 GB Limbach, Nr. 3: Gerichtsbuch Bräunsdorf, 1728–1746, fol. 256 ff. Vgl. ebd., fol. 100ff. Vgl. HstA-D, 12613 GB Limbach, Nr. 2: Gerichtsbuch Bräunsdorf, 1685–1727, fol. 14 ff. Vgl. SächsSTAC, 30597 Herrschaft Penig, Nr. 183. – EPA Kaufungen, KB I. „Blasius Geydell, der Pacht Man aufm Edelhofe zu Breunsdorff ist den 15. July umb Mitternacht, in der Schencke zu Rusdorff, mit einem langhelmig, grossen Peill, von Jacob Stephan Heintzigs Sohne zu Kauffungen tödlich auffm Hirnschädell verwundet und davon den 22 eiusdem mit der sonnen auffgang gestorben [...].“ EPA Kaufungen, KB I, Beerdigungsregister 1604. Schmiede, Fleischer und Gastwirte waren in den meisten Ortschaften aus unbedingter Notwendigkeit heraus vorhanden, da sie eng mit den agrarischen Produktionsmechanismen korrespondierten bzw. integrale Zuarbeiten verrichteten.
BRÄUNSDORF
75
bzw. fortschreitenden Partikularisierung bäuerlichen Besitzes und den gegebenen naturräumlichen Bedingungen. Ähnlich dem Rußdorfer Beispiel wurden die landwirtschaftlich genutzten Pfarrgrundstücke, welche vermutlich exemplarisch für die Verfassung der gesamten Dorf ur stehen können, 1619 eher negativ bewertet: Acker Bau ist gering, darzu scharff feld, wie denn auch Leimicht, kann schwerlich 4 Scheffel über winters geseet werden, Wächßet wenig wegen des angedeuteten unfruchtbaren Bodens, per consequens hat mann wenig ein zu streuen; Und ob es gleich über Sommer ix [...] oder x [...] halbe Scheffel können ausgesaet werden, so tregt es kaum die Unkosten [...]. Wiese wachs ist auch wenig, Darauf samlet mann Zwey füderlein Heu, und Ein Fuder grummet, ist halb sauer Futter. 298
Hatten selbst die lokalen Bauern, deren Güter vielfach seit dem Dreißigjährigen Krieg zusätzlich hoch verschuldet waren, in normalen Jahren nicht mit optimalen Erträgen ihrer landwirtschaftlichen Arbeit zu rechnen, was in Krisenzeiten rasch Hunger und Not bedeuten konnte, so muss dies für Kleinstellenbesitzer umso eher gelten. Subsistenzwirtschaft war für Letztere angesichts ihnen nur in geringem Umfang zur Verfügung stehender landwirtschaftlicher Nutz äche ungleich schwieriger realisierbar. Zusätzliche Lohnarbeit bei den örtlichen Bauern stand unter den gegebenen Umständen der vorindustriellen Agrarökonomie zumeist nicht zur Wahl. Insofern blieb auch den Angehörigen der unterbäuerlichen Bräunsdorfer Besitzstände, die gänzlich auf Lohnarbeit angewiesenen landbesitzlosen Inwohner eingeschlossen, in der Regel nur die gewerbliche Arbeit. Die gewerbliche Leinenverarbeitung bot auch zahlreichen Bräunsdorfern eine Erwerbsperspektive. Allerdings nden sich erst relativ spät ausdrückliche schriftliche Nennungen von Leinwebern. Hingegen führt das örtliche Kirchbuch bereits ab 1663 immer wieder Leinwandhändler auf. 299 Welchen Umfang die Leinweberei schon vor ihrer Ersterwähnung 1690 einnahm, vermitteln jedoch zahlreiche Kaufverträge Bräunsdorfer Gemeindemitglieder, in denen von 1671 an regelmäßig Flachsanbau und -verarbeitung geregelt wurden und rohe Leinwand mehrfach als Teil des Inventariums angeführt wurde. Schließlich beweist der Passus in Paul Helbigs Gartengutskauf 1678, „So viel nun das vorhandene Leinweber Geräthe, als das gestell, Stuhl Radt, Kämme undt dergleichen betrifft, So hat es die witbe undt Mutter zu sich genommen undt wil es künfftig denen beyden Söhnen, wenn sie es bedörffen, aushändigen“ 300, indirekt, dass mindestens seit den 1670er Jahren gewerblich tätige Leinweber in Bräunsdorf ansässig waren. 298
299 300
Verzeichnis des Pfarrlichen einkommens zu Bräunsdorf Anno 1619, zitiert nach: Strohbach, Dorfbuch, S. 219. – Die schlechten Erträge konnten durch verbesserte Anbaumethoden deutlich verbessert werden, wie Seifarth 1901 berichtet: „Im Gegenteile, auf den Pfarrfeldern gedeihen heut ganz herrliche Früchte und die Wiesen geben Futter genug und zwar gutes Futter. Wenn früher der Ertrag der Grundstücke nur ein geringer gewesen ist, so mag dies eine Folge des allgemeinen Tiefstandes der Landwirtschaft, der mangelhaften Düngung und Bearbeitung des Bodens gewesen sein.“ Seifarth, Bräunsdorf, S. 760. Vgl. EPA Bräunsdorf, KB I. HstA-D, 12613 GB Limbach, Nr. 1, fol. 183 ff.
76
DIE UNTERSUCHUNGSORTE IM ÜBERBLICK
Während des 18. und 19. Jahrhunderts avancierte die Leinenverarbeitung zum dörflichen Massengewerbe des Ortes schlechthin. Für 1767 berichten die Quellen, wie „beständig Leinewand gebleichet würde, dergestalt, daß die gantze Dorffgemeinde damit überzogen wäre“. 301 Produktion und Vertrieb wurden allen Anzeichen nach analog zur Rußdorfer Leinweberei im Kaufsystem organisiert. Die jährlich hergestellte Warenmenge lässt sich nur anhand einer überlieferten Beobachtung des Pfarrers Johann Traugott Brückner (1804–1858) aus der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts ermessen. Dieser bezeichnete die orierende Leinenverarbeitung als Haupterwerbszweig des Dorfes und gibt die jährliche Menge im Sommer auf allen freien Flächen entlang des Dorfbaches in Rasenbleicherei veredelte Rohleinwand mit 2000 Schock an. 302 Mindestens seit 1791 existierte zudem ein Bleichhaus 303, „so auf dem herrschaftl. Teich eck erbauet ist“ 304, sich aber in privater Hand befand und bis zum Ende des Untersuchungszeitraums Bestand hatte. Neben dem Leinen wurde innerhalb der Grundherrschaft Kaufungen-Bräunsdorf schon in der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts Wolle produziert, jedoch nicht von Bräunsdorfer Textilhandwerkern verarbeitet. Zwar zählte es 1536 zu den Frondiensten der Bräunsdorfer, Schafe zu scheren und auch zu spinnen, dies allerdings lediglich in Zusammenhang mit der Flachsverarbeitung. Des Weiteren ist nicht belegt, ab welchem Zeitpunkt in Bräunsdorf überhaupt Schafe gehalten bzw. gezüchtet wurden. Sowohl in Kaufungen als auch im nahen Wolkenburg, welches die von Einsiedel zeitgleich mit Bräunsdorf und Kaufungen besaßen, existierten herrschaftliche Schäfereien. Daher lässt sich aus den Schriftquellen des 18. und insbesondere des 17. Jahrhunderts oftmals nicht eindeutig ersehen, wo eventuell genannte Schäfer konkret angestellt waren. Freilich hatten die Wolkenburger Hirten kein Trieb- und Hutrecht innerhalb der Bräunsdorfer Flur. Dagegen konnte die Kaufunger Rittergutschäferei solches durchaus für sich in Anspruch nehmen. Erste Schäfer werden in den Bräunsdorfer Kirchbüchern in den 1640er Jahren genannt, darunter 1642 David Eitel, der 1644 den Namenszusatz „ufn Hoffe“ erhielt. Jedoch fehlt jeder Hinweis auf seine längere Ansässigkeit. Hingegen verdingte sich Eitel in den 1660er Jahren als Schafhirte in Kaufungen. Im Gegensatz dazu hatte der lang301
302 303
304
SächsSTAC, 32863 Grundherrschaft Limbach, Nr. 219: Johann Christian Heyln, Bauer in Bräunsdorf, Limbachen Antheils, Impetrant an einem, entgegen Johann Gottfried Hoffmannen, Hochgräf. Einsiedelen Schaafmeistern zu Kaufungen, und deßen Schaafknecht zu Bräunsdorff, Samuel Friedrich Landgrafen, Impetranten andern Theils in pto. der von leztern sich angemaßten Schaaftrifft und Huthung über des erstern Grundstücken, und die daraus erwachßene Abpfändung 8. Stück Hammel, Anno 1767. Vgl. Strohbach, Dorfbuch, S. 150. „Bleichhaus, [...] wird ein Gebäude genennt, welches [...] zu Beförderung des Bleichens der Leinewand dient. Es muß solches enthalten 1) einige große kupferne Kessel mit Feuerheerden, damit in solchen heises Wasser gemacht, und die Leinewand gelaugt werden kann. 2) Eine Plombe mittelst welcher das Wasser aus dem Fluß gehoben und in die Kessel gebracht werden kann. 3) Eine Kammer zu den zum Bleichen nöthigen Geräthschaften, und 4) Eine Wohnung vor den Bleicher und Aufseher der Bleiche.“ S. 70. Deutsche Enzyclopädie oder Allgemeines Real-Wörterbuch aller Künste und Wissenschaften von einer Gesellschaft Gelehrten, Bd. 4, Frankfurt a. M. 1780. HstA-D, 12613 GB Limbach, Nr. 5: Gerichtsbuch Bräunsdorf, 1768–1802, fol. 385 ff.
BRÄUNSDORF
77
jährige Schäfer Michael Schafuß (1613–1680) seinen festen Wohnsitz in Bräunsdorf, wo er neun seiner elf Kinder taufen ließ und wurde, allerdings postum, als Pachtmann auf dem Hof sowie als Schafmeister erwähnt. Da Schafuß nachweislich kein Land in Bräunsdorf besaß, muss er zwischen 1650 und 1680 als Pächter auf dem Bräunsdorfer Rittergut gelebt haben. 305 Zwar indiziert dies die Existenz einer Bräunsdorfer Schäferei bereits Mitte des 17. Jahrhunderts, kann jedoch nicht als eindeutiger Beleg gelten. Die explizite Ersterwähnung „der Hochgraf. Einsiedel.en Schäferey zu Bräunsdorff “ entfällt nach gegenwärtigem Kenntnisstand auf das Jahr 1767. 306 Spätestens Mitte des 19. Jahrhunderts scheinen die Rittergutsgebäude vorrangig der Viehzucht gedient zu haben. Dieser Funktionswechsel schlug sich auch 1840 in einem in Vorbereitung eines neuen Grundsteuersystems angefertigten Flurplans nieder, der anstelle des mit keinem Worte bedachten Rittergutes eine Schäferei verzeichnet. 307 Ergo durchlebte der Bräunsdorfer Adelssitz wie zahlreiche gleichartige Güter jene für das 19. Jahrhundert in Sachsen typische Umwandlung zum landwirtschaftlichen Großbetrieb. Der Schwerpunkt lag dabei offenkundig auf der Viehzucht. Als der Pächter Daniel Friedrich Fischer 1845 die Wirtschaft für zwölf Jahre übernahm, umfasste deren Nutzviehbestand zwei Gänse, drei Enten, 17 Hühner, acht Pferde, neun Schweine mit drei Ferkeln, 95 Stück Rindvieh und 655 Schafe im Gesamtwert von rund 2460 Talern. Zusätzlich verp ichtete er sich unter anderem, „für die Schäferei [...] alljährlich zwei frische feinwollige Stähre 308 aus hochveredelten Schäfereien des In- oder Auslandes auf seine Kosten anzuschaffen, und, daß solches geschehen, durch schriftliche Bescheinigung nachzuweisen, überhaupt [...] darauf zu sehen und dafür Sorge zu tragen, daß die Schäferei in fortschreitender Veredelung erhalten wird“. 309 Die Interaktionen zwischen quasi nebeneinander existierender Rittergutsökonomie und Bräunsdorfer Dorfwirtschaft blieben gering bzw. verringerten sich noch mit den Ablösungsverträgen des 19. Jahrhunderts, durch welche nicht zuletzt die auf einigen Gütern lastende Schaftrift- bzw. Hutbefugnis der herrschaftlichen Schäfer aufgehoben wurde. Während Erstere bis ins 20. Jahrhunderts gänzlich auf den landwirtschaftlichen Bereich bzw. konkret die Viehzucht xiert blieb, wuchs die Bedeutung der Gewerbe, insbesondere textilverarbeitender Couleur für die dörfliche Wirtschaftsentwicklung seit dem 17. Jahrhundert stetig. Mitte des 18. Jahrhunderts trat wie in den meisten Ortschaften des weiteren Limbacher Landes die Strumpfwirkerei als zweites protoindustrielles Handwerk zur bislang dominanten Leinenproduktion hinzu. Als sich 1755/1756 der erste Strumpfwirker, Johann Friedrich Büchner, in Bräunsdorf niederließ, umfasste die Gemeinde 92 Landbesitzer, darunter 21 Anspanner, sieben Handbauern, 29 Gärtner und 305 306 307 308 309
Vgl. EPA Kaufungen, KB I. u. EPA Bräunsdorf, KB I. Vgl. SächsSTAC, 32863 Grundherrschaft Limbach, Nr. 219. Vgl. Strohbach, Dorfbuch, S. 82. Widder. SächsSTAC, 30593 Herrschaft Waldenburg, Nr. 3045.
78
DIE UNTERSUCHUNGSORTE IM ÜBERBLICK
35 Häusler. Der neue Gewerbezweig fasste nur zögerlich Fuß. Bis 1800 sind lediglich zwei weitere Personen nachweisbar, die über einen längeren Zeitraum unter anderem als Strumpfwirker ihren Lebensunterhalt verdienten und auch im frühen 19. Jahrhundert blieb deren Zahl gering. Erst in den 1820er Jahren begann die Wirkerei sichtlich an Bedeutung zu gewinnen, ohne jedoch an die Leinenverarbeitung heranzureichen. Die globale Wirtschaftskrise der späten 1830er und frühen 1840er Jahre scheint maßgeblich zu diesem Prozess beigetragen zu haben. „Das Gewerbe der Strumpfwirker und Leinweber [ist] gänzlich ins Stocken geraten“, vermerkt das Bräunsdorfer Gemeindebuch für 1843. 310 Über die folgenden Jahrzehnte erlebte die lokale Leinenherstellung eine kontinuierliche Degression, die sich zunächst weniger in unmittelbarer Verminderung der Gewerbetreibenden als in der stark sinkenden Zahl neu hinzutretender Leinweber niederschlug. Binnen 40 Jahren starb die Leinenverarbeitung in Bräunsdorf offenkundig gänzlich aus. Die Kirchbücher nennen mit Karl Hermann Thierbach letztmalig 1888 einen Leinweber. 311 Im Gegensatz dazu erholte sich die Bräunsdorfer Strumpfwirkerei nicht nur relativ zügig, sondern entwickelte sich in kurzer Zeit mit einer stetig steigenden Zahl an Strumpfwirkern zum bestimmenden örtlichen Gewerbe. Gleichwohl gelang dem in den Limbacher Industriebezirk eingebundenen Protoindustriedorf auch in der Blütezeit der lokalen heimgewerblichen Strumpfwirkerei zwischen 1860 und 1914 nicht der Übergang zur Fabrikindustrie. Der Häusler Ludwig Theodor Illgen gründete zwar 1862 einen Strumpfwirkereibetrieb mit Maschineneinsatz, beschäftigte aber in seiner späteren Strumpffabrikation Fa. Ludwig Illgen maximal 60 Lohnwirker. Die Firma überstand unter Leitung des Gründersohns Gustav Alfred Illgen den Ersten Weltkrieg mit Papiergarnspinnerei, erlebte zur Zeit der großen In ation aber eine schwere Krise. Dennoch bestand sie über das Ende des Untersuchungszeitraums hinaus und beschäftigte 1939 noch 38 Arbeiter. Von deutlich größerem Umfang war die 1923 auf dem „Ochsengarten“ errichtete Strumpffabrik des Rußdorfer Handelsmanns Paul Georg Schüßler, deren Belegschaft in wenigen Jahren von 32 auf 60 am Ende der 1920er Jahre und schließlich 130 Personen 1939 anwuchs. Zunächst orientierte die Produktion, deren monatliche Quote 1939 bei 6000 Strümpfen lag, auf Abnehmer im Inland. Jedoch fabrizierte der Betrieb schon 1934 vorrangig für den Export nach England, Dänemark, Frankreich und Griechenland. Vier weitere in Bräunsdorf ansässige Fabriken, darunter die vormalige Papiermühle, reichten in ihrem Umfang von maximal acht Mitarbeitern nicht über das kleinstbetriebliche Format hinaus. 312 Allein die geringe Zahl industrieller Betriebe vor Ort am Ende des Untersuchungszeitraums, die keineswegs aus den wirtschaftlichen Unbillen während des Ersten Weltkrieges bzw. der 1920er Jahre resultierte, zeigt deutlich den am Anfang der 1930er
310 311 312
Gemeindebuch Bräunsdorf, S. 32, zitiert nach: Strohbach, Dorfbuch, S. 156. Vgl. EPA Bräunsdorf, KB IV: Taufregister 1853–1890, Taufe des Max Willy Thierbach, 1888. Vgl. Strohbach, Dorfbuch, S. 182ff.
BRÄUNSDORF
79
geringen Industrialisierungsgrad der Dorfwirtschaft an. Obwohl 1928 die Hälfte von 335 im „Adreßbuch der Stadt Chemnitz und Umgebung“ mit ihrem Beruf aufgeführten Bräunsdorfer Haushaltsvorständen im sekundären, dagegen nur ein Viertel im primären Sektor tätig waren 313, ist der agrarischen Erwerbsarbeit noch Mitte der 1930er Jahre eine prägende Rolle zu attestieren. „Bis heute hat die Landwirtschaft diesen festen Stellenwert im Dorf.“ 314 Hinsichtlich der Bräunsdorfer Bevölkerungsentwicklung liegen erst für die letzten 100 Jahre des betrachteten Zeitabschnitts konkrete Daten vor. Beginnend mit 624 Personen zur Zeit der ersten Zählung 1834 315, wuchs die Bevölkerung bis 1875 auf 1020 und in den folgenden 30 Jahren auf 1232 Individuen an. Gleichzeitig verdoppelte sich die Zahl der Haushalte ohne eine mit Rußdorf vergleichbare massive Wohnungsbautätigkeit von 205 (1875) auf 400. Zwischen 1875 und 1905 entstanden 25 neue Wohnhäuser. 316 Sechs Jahre vor Beginn des Ersten Weltkrieges erfolgte der Anschluss an das Oberfrohnaer Stromnetz. Eine neue Siedlung, für die angesichts der sich 1933 auf 400 Haushalte verteilenden 1519 Einwohner Bedarf angezeigt wurde, zumal „eine ganze Anzahl Bewohner immer noch in schlechten Behausungen sich befänden und zudem der Wunsch allgemeiner bestehe, nicht auswärts, sondern im Orte zu siedeln“, befand sich 1935 im Planungsstadium. 317 Im Laufe des Untersuchungszeitraums wandelte sich Bräunsdorf vom kolonisatorischen Agrardorf zu einem protoindustriellen Standort der Leinenverarbeitung. Obwohl in unmittelbarer Nachbarschaft des industrialisierenden Limbach gelegen, unterblieb hier jedoch die weitere Herausbildung einer markanten Fabrikindustrie. Die Landwirtschaft bewahrte sich einen höheren Stellenwert für die örtliche Ökonomie als etwa in Rußdorf, die Bevölkerung wuchs moderater und die Partikularisierung ehemaliger Nutz ächen erfolgte im Vergleich verzögert sowie weniger intensiv. Den seit dem 19. Jahrhundert vollzogenen Übergang in eine industrielle Lebenswelt erlebte das Dorf eher passiv.
313 314 315 316 317
Vgl. Adreßbuch der Stadt Chemnitz mit 78 Orten der Umgebung. 1928, Chemnitz 1928. Stadtverwaltung, Limbach, S. 55. Vgl. HOV, Bräunsdorf. Vgl. Strohbach, Dorfbuch, S. 92. Ebd., S. 42.
4. GEBURTIGKEIT 4.1 ENTWICKLUNG DER GEBURTENZAHLEN
Die Natalität reiht sich unter die grundlegenden Kenngrößen ein, deren Betrachtung integraler Bestandteil jeder allgemeinen demographischen Untersuchung ist. Personizierte, d. h. in Verbindung mit weiteren Variablen in einen biographischen Zusammenhang gestellte Geburts- bzw. Taufereignisse gestatten es unter anderem, sekundäre Daten wie zum Beispiel individuelle Lebens- und Ereignisalter zu ermitteln. Bei einer zusätzlichen Familienrekonstruktion können diese weiterhin familiär-interpersonell in Beziehung gesetzt und dadurch etwa intergenetische Intervalle errechnet werden. Doch auch die personenungebundenen aggregierten Geburtenzahlen, derer sich insbesondere die makroregional ausgerichtete Bevölkerungswissenschaft bedient, bergen wertvolle, einen grundsätzlichen Eindruck der Entwicklung einer Population vermittelnde Informationen. Fehlen wie vor 1800 notorisch Einwohnerzählungen, zeigt die Geburten- in Verbindung mit der Hochzeits- und Sterbekurve in der Regel am zuverlässigsten den ungefähren Umfang einer Gesellschaft an. Im Zusammenspiel der Graphen werden zudem kurzund langfristige Prozesse abgebildet, welche die im Folgenden praktizierte gesonderte Analyse jeweils eines einzelnen solchen ebenfalls, freilich unter Umständen weniger deutlich, zu Tage fördert. Das Ziel ist, im ersten Schritt Veränderungen der Geburtigkeit zu identi zieren und von der im vorliegenden Fall der relativ kleinen Stichprobe geschuldet hohen latenten statistischen Unruhe abzugrenzen sowie explizite Reaktionsketten auszumachen. Langfristige Entwicklungstendenzen lassen andere Ursachen vermuten als punktuelle Ausschläge. In beiden Fällen nden Veränderungen auf Basis qualitativen oder quantitativen Bevölkerungswandels statt. Bleibt das Geburtenverhalten gleich, vermag eine schwankende Populationsgröße ähnliche Variationen der absoluten Geburtenzahl hervorzurufen wie bei fester Bevölkerungszahl geändertes Verhalten. Da kurzzeitige markante Abweichungen vom Mittelwert von einer raschen Rückkehr zum Status quo ante leben, fußen sie zumeist auf konkreten außergewöhnlichen, regelmäßig krisenhaften Ereignissen. Bereits Malthus postulierte Kriege, Hunger und Epidemien 1798 als demographische Hemmnisse und Goubert attestierte 1952 für 17. und 18. Jahrhundert ein negatives Zusammenspiel von Getreidepreis- und Fertilitätsentwicklung. Überregional beobachtbar verloren demographische Krisen jedoch seit dem späten 18. Jahrhundert sukzessive an
82
GEBURTIGKEIT
statistisch messbarer Schlagkraft. Zuvor typische „schwarze Zacken“ bei das Geburtenniveau übersteigender Mortalität verschwanden während des 19. Jahrhunderts. 318 Als weiterer gesamteuropäischer Prozess erwies sich eine starke, die Industrialisierung begleitende Bevölkerungszunahme im 19. und frühen 20. Jahrhundert, welche einen Wandel der Bevölkerungsweisen überspannte. In dessen Rahmen el unter anderem die Geburtenziffer teils mit, teils ohne vorangehenden Anstieg erheblich. Deutschland trat um 1850 in diesen etwa 70 Jahre andauernden demographischen Übergang ein. 319 In den sächsischen Geburtenzahlen manifestierte sich der Vorgang durch seit 1830 bis in die 1910er Jahre stetig steigende Dekadenkohorten bzw. zwischen 1880 und 1889 auch jährlich ungebrochenes Wachstum sowie in einem ab 1906 relativ stetigen Rückgang bis unter das absolute Niveau der 1840er in den 1930er Jahren. 320 Nachfolgend gilt es zunächst zu klären, inwieweit die Situation in den Untersuchungsorten dem Rechnung trägt. Die Frage nach den Hintergründen beobachtbarer Entwicklungen und Auffälligkeiten ist dem inhärent. Rußdorf Zwischen dem 1. Januar 1582 und dem 31. Dezember 1935 sind über Kirchbücher und Standesamtsakten für Rußdorf insgesamt 13.205 Geburten nachweisbar, die äußerst ungleichmäßig über den Untersuchungszeitraum verteilt sind. Allein in den Jahren 1880– 1919, also 11,3 Prozent der betrachteten 354 Jahre, erfolgten 40,42 Prozent (5338) aller erfassten Geburten. Dagegen ent elen auf die Zeitspanne 1582–1799 (61,58 % des UZ) lediglich 21,74 Prozent (2871). Schon in dieser kurzen Aufstellung kommt eine für die Industrialisierungszeit typische massive Bevölkerungsvermehrung deutlich zum Ausdruck, welche mindestens seit dem Ende des Spätmittelalters ihresgleichen suchte. Eine insgesamt steigende Tendenz der Rußdorfer Geburtenzahl zeichnet sich bereits im 18. Jahrhundert mit einem Zuwachs von knapp 1000 gegenüber dem vorangegangenen Zentennium ab. Freilich steht dies in keinem Verhältnis zu dem im 19. Jahrhundert folgenden Wachstum um 276,66 Prozent. Ein differenzierteres Bild Rußdorfer Natalitätsentwicklung offenbart Tabelle 1. Am Ende des 16. Jahrhunderts stehen in Anbetracht der nachfolgenden Zahlen erstaunlich hohe Werte. Da der primären Dekade überlieferungsbedingt zwei Jahre abgehen, markierte die 1580er-Kohorte realiter ein vorläu ges Maximum. Bereits während des Folge-
318 319
320
Vgl. Imhof, Einführung, S. 65. Vgl. Ehmer, Bevölkerungsgeschichte, S. 34ff. – Zum Vergleich vollzog sich der demographische Übergang in Frankreich ebenfalls etwa zwischen 1860 und 1970, in Italien zwischen 1870 und 1980, in Großbritannien zwischen 1760 und 1920, in Japan zwischen 1930 und 1990 bzw. begann er in Indien um 1940 oder in Mexiko 1930 etc. Vgl. Kernig, Und mehret euch?, S. 54ff. Vgl. Burghardt, Bevölkerung, S. 28ff.
83
ENTWICKLUNG DER GEBURTENZAHLEN
Tabelle 1: Rußdorfer Geburten nach Dekadenkohorten Geburten (1580) 1582–1589 1590–1599 1600–1609
prozentualer Anteil 0,80 % 0,81 %
Wachstum 0,94 % (–0,19 %)1
84 85
0,64 % 0,64 %
96
0,73 %
12,94 %
89
0,67 %
–7,29 %
52 93 81
0,39 % 0,70 % 0,61 %
–41,57 % 78,85 % –12,90 %
63 89
0,48 % 0,67 %
–22,22 % 41,27 %
107 109 122 129
0,81 % 0,83 % 0,92 % 0,98 %
20,22 % 1,87 % 11,93 % 5,74 %
177 158
1,34 % 1,20 %
37,21 % –10,73 %
174 220
1,32 % 1,67 %
10,13 % 26,44 %
197 218 315
1,49 % 1,65 % 2,39 %
–10,45 % 10,66 % 44,50 %
303
2,29 %
–3,81 %
345 390 453
2,61 % 2,95 % 3,43 %
13,86 % 13,04 % 16,15 %
463 548 646
3,51 % 4,15 % 4,89 %
2,21 % 18,36 % 17,88 %
759 1365
5,75 % 10,34 %
17,49 % 79,84 %
1890–1899 1900–1909 1910–1919
1569 1461
11,88 % 11,06 %
14,95 % –6,88 %
943
7,14 %
–35,46 %
1920–1929
766
5,80 %
–18,77 %
1930–1935
323
2,45 %
–57,83 %
1610–1619 1620–1629 1630–1639 1640–1649 1650–1659 1660–1669 1670–1679 1680–1689 1690–1699 1700–1709 1710–1719 1720–1729 1730–1739 1740–1749 1750–1759 1760–1769 1770–1779 1780–1789 1790–1799 1800–1809 1810–1819 1820–1829 1830–1839 1840–1849 1850–1859 1860–1869 1870–1879 1880–1889
1
106 (133)1 107
Hochrechnung durch entsprechende Addition des Durchschnittswertes der Kohorte.
–21,50 % 1,19 %
84
GEBURTIGKEIT
jahrzehnts begann die extreme Geburtenfreudigkeit merklich zurückzugehen. Rußdorf beherbergte um 1600 schätzungsweise zwischen 150 und 200 Einwohner. Eine Fortsetzung der hohen Natalität hätte selbst bei massiver Säuglingssterblichkeit binnen drei bis vier Jahrzehnten zur Verdopplung der Bevölkerungszahl geführt. Keinesfalls entsprach dies dem ursprünglichen eher auf Wachstumsbegrenzung zur Aufrechterhaltung der allgemeinen sozialen Sicherheit ausgelegten agrargesellschaftlichen demographischen System Rußdorfs. Mit jedem zusätzlichen Esser verkleinerte sich der noch stark von regionaler Produktion bestimmte Nahrungsspielraum aller, vergrößerte sich die Belastung jeder einzelnen beteiligten Familie und auf lange Sicht der gesamten Gemeinde. Ohne proportionales, Erwerbsperspektiven bietendes Wirtschaftswachstum stieg das Risiko bei dem geltenden Anerbenrecht für weichende Erben, der kommunalen Armenfürsorge anheimzufallen, mit deren Zahl. Die in den 1590er Jahren erfolgte Abnahme der Geburtenzahlen auf ein trotz wachsender Einwohnerschaft über das 17. Jahrhundert im Ganzen gehaltenes Niveau von 80–90 pro Dekade erscheint so, zumal sie sich bei insgesamt steigender Familienzahl vollzog, als Ausdruck eines demographischen Wandels. Hingegen weisen das absolute Minimum des gesamten Untersuchungszeitraums in den 1640er sowie ein Einbruch in den 1670er Jahren auf Krisenereignisse hin. Das quantitative Niveau des ausgehenden 16. Jahrhunderts wurde erst nach 100 Jahren wieder erreicht. Bereits seit den 1670er Jahren erlebten die Geburtenzahlen ein langfristiges, während des 18. Jahrhunderts wellenförmiges Wachstum. Insbesondere die Kohorten der 1730er bis 1760er und der 1760er bis 1790er Jahre weisen eine auffallende Kongruenz auf. Hier wie da schließt sich einem vorläu gen Maximum ein leichter Abfall um zehn bis elf Prozent an, welcher in der dritten Dekade nahezu ausgeglichen wird. Neuerliche vorläu ge Maxima beenden die Abschnitte. In beiden Fällen gehen die anfänglich starken Wachstumssprünge auf kurzfristige signi kante Erhöhungen der Herdstellenzahl zurück (Kap. 8.1). Die neuen Stellen wurden von jungen Familien besetzt, die durch ihre gewöhnliche Fertilität einen zeitlich begrenzten übermäßigen Anstieg der Geburtenzahl verursachten. Ein abermals massives Wachstum der Geburtenzahl in den 1790er Jahren beruhte hingegen auf anderen Ursachen. In Kombination mit dem anschließenden, vielleicht krisenbedingten, vielleicht aus dem Geburtenhoch resultierenden leichten Rückgang führte es das langjährige wellenförmige Wachstum zum Abschluss. Seit den 1810er Jahren nahm die Zahl der Neugeborenen von Jahrzehnt zu Jahrzehnt bis 1899 kontinuierlich zu. Dennoch kristallisieren sich auch für diese Periode verschiedene Abschnitte heraus. So folgten der leichten Regression zu Beginn des 19. Jahrhunderts binnen drei Dezennien sehr gleichförmige Wachstumsraten zwischen 13 und 16 Prozent. Dieses Bild wiederholte sich ab der 1840er-Dekade, welche gegenüber der vorhergehenden eine nur minimal erhöhte Geburtenzahl aufwies. Daran schlossen sich abermals über drei Jahrzehnte ähnliche Wachstumsraten von 17–18 Prozent an.
ENTWICKLUNG DER GEBURTENZAHLEN
85
Die 30 Jahre zwischen 1880 und 1909 stechen klar aus der vorangegangenen Entwicklung heraus. Binnen eines Jahrzehnts wuchs die Dekadenkohorte in den 1880er Jahren um 79,84 Prozent an, ohne damit einen Höchststand zu erreichen. Das seit dem späten 17. Jahrhundert anhaltende zunächst tendenzielle und im 19. Jahrhundert kontinuierliche Wachstum mündete während der 1890er Jahre in einem absoluten Maximum von 1569 Geburten. Die verbleibenden 35 Jahre des Untersuchungszeitraums prägte kontrastierend eine massive Regression. Trotzdem lag die Rußdorfer Geborenenzahl der 1910er Jahre deutlich über jener der orierenden 1880er und obgleich in den 1920er Jahren nurmehr halb so viele Kinder das Licht der Welt erblickten, überschritt selbst dies noch leicht das Niveau der 1870er Jahre. Obwohl die Betrachtung der Dekadenkohorten bereits Aussagen über langfristige Trends und Brüche innerhalb der Geburtenentwicklung erlaubt, kann einzig eine Untersuchung der zwangsläu g deutlich uneinheitlicheren jährlichen Zahlen Hinweise auf die Ursachen der ablaufenden Prozesse geben sowie deren konkrete Form und zeitliche Eingrenzung offenlegen. Erwartungsgemäß unterliegt die Geburtenzahlenkurve über den gesamten Untersuchungszeitraum hinweg teils erheblichen Schwankungen. Den besonders in den ersten 170 Jahren sehr geringen Werten geschuldet, sind jährliche Wachstums- und Schrumpfungsraten bis 50 Prozent eher Normalität denn Ausnahme. Selbst Ausschläge von 100 Prozent im positiven wie negativen Bereich treten regelmäßig auf, ohne unbedingt krisenhafte Ereignisse anzuzeigen. Unter Berücksichtigung der vorangegangenen Betrachtungen kristallisieren sich sechs Phasen der Rußdorfer Geburtenzahlentwicklung zwischen 1582 und 1935 heraus. Deren erste, gekennzeichnet durch im Vergleich zum nachfolgenden Jahrhundert relativ hohe Jahreswerte im unteren zweistelligen Bereich, endet 1594 markant in einem vorläu gen Maximum von 18 Geburten. Den daran anschließenden zweiten Abschnitt charakterisiert ein wannenförmiger Kurvenverlauf, der zum Beispiel auch in den Geburtenzahlen des englischen Colyton 1650–1800 auftritt und Imhof von einer „mysteriösen Stagnation bzw. Abnahme“ sprechen ließ. 321 Die Talsohle und zugleich das absolute Minimum des gesamten Untersuchungszeitraums wurde 1641 durchschritten. In den 1690er Jahren erreichten die Geburtenzahlen im Mittel bereits wieder eine mit dem späten 16. Jahrhundert annähernd vergleichbare Höhe. Dennoch kann das Tal des 17. Jahrhunderts im Hinblick auf die Größe der Dekadenkohorten frühestens mit den 1700er Jahren als abgeschlossen gelten. Einen präziseren Endpunkt markiert jedoch das Jahr 1715, in dem erstmals wieder der Wert des Geburtenmaximums von 1594 zu Buche stand. Die folgende dritte Phase währte bis zu einem 27 Jahre unübertroffenen vorläu gen Geburtigkeitsgipfel 1798 und zeichnet sich durch ein langfristiges tendenzielles Wachstum aus. Wiederholte, zwischen 321
Vgl. Imhof, Einführung, S. 31f.
86
GEBURTIGKEIT
Abbildung 3: Jährliche Rußdorfer Konzeptionszahlen und Leipziger Roggenpreisindex 1582–1799 Vgl. Rahlf, Thomas, (1996 [2005]) Getreidepreise in Deutschland 1500–1800. Daten entnommen aus: GESIS Datenarchiv, Köln. Histat., Studiennummer 8140, Daten le Version 1.0.0, online: https://histat.gesis.org/histat/de/project/details/CD57E8E43EEB2AEA863536769E9EF5FD [zuletzt aufgerufen am 20. 06. 2016].
Abbildung 4: Rußdorfer Geburten- und Konzeptionszahlen 1800–1935
ENTWICKLUNG DER GEBURTENZAHLEN
87
zehn- und 20-jährige Erholungsphasen nach sich ziehende kurzfristige Einbrüche nach momentanen Höchstständen verleihen diesem ein stufenförmiges Gepräge. Vorläu ge Maxima der Periode entfallen auf die Jahre 1733, 1736, 1767, 1768, 1792 sowie 1798. Ein im Ganzen beschleunigtes Wachstum mit ausgeprägten Schwankungen ist Charakteristikum des vierten, bis 1875 andauernden Abschnitts, während dem in acht Jahren (1825/1826, 1831, 1835, 1861, 1866, 1869, 1873) neuerliche Gipfelwerte markiert wurden. Der stärkste Einbruch gegenüber dem Vorjahreswert seit 1847 grenzt ihn 1875 von der fünften Periode ab. Diese ist als Hauptphase des demographischen Übergangs zu identi zieren. Bis 1890 322 stiegen die Geburtszahlen massiv an. Schon 1876, 1877, 1880 und 1882 wurden vorläu ge Maximalwerte erreicht und ab 1884 über ügelte das Geburtenquantum jährlich jenes der vorangegangenen Jahre. Binnen eineinhalb Jahrzehnten verdoppelte sich die Rußdorfer Geborenenzahl auf das absolute Maximum von 183. Gleichzeitig stieg die Natalität von 52,78 im Jahr 1880 auf 67,42 anno 1890. Schon zu Beginn der sächsischen Hochindustrialisierungsphase kam die Entwicklung der absoluten wie relativen Rußdorfer Geburtszahlen an ihren Wendepunkt. Hernach sank die Natalität rasch auf 50,59 bei einer Gesamtbevölkerung von 2985 Personen im Jahr 1902 sowie auf 30,83 vier Jahre vor Beginn des Ersten Weltkrieges. Die Geburtenzahl folgte dem weniger rasch und kontinuierlich in die Regression nach. Bis 1898 elen die Werte dabei durchaus radikal bis auf ein momentanes Minimum von 135 Geburten ab, woran sich allerdings 1900 nochmals ein kurzfristiger, relativ massiver Anstieg um 27,74 Prozent anschloss. Die nachfolgende regressive Bewegung lief unter erheblichen Schwankungen ab. Obgleich Geburtenzahl und -rate auch nach dem Ersten Weltkrieg, von dem einjährigen Hoch 1920 abgesehen, die Vorkriegsentwicklung tendenziell fortführten, kann die Hauptphase des demographischen Übergangs mit dem Kriegsbeginn 1914 als beendet angesehen werden. Der kriegsbedingte Geburtentiefstand in den Jahren 1915–1918, das darauffolgende Hoch 1920 und die anschließende, 1935 noch andauernde Schrumpfung tragen neben den Zügen der demographischen Transition unverkennbar auch die einer Mortalitätskrise. Beides ist schwerlich trennbar und unterlag zwangsläu g gegenseitiger Beein ussung. Insofern scheint es gerechtfertigt, die letzten 20 Jahre des Untersuchungszeitraums ob ihrer klaren Abgrenzbarkeit als eigene, sechste Phase zu begreifen. An deren Ende stand eine äußerst niedrige Geburtenziffer von 6,81 (1933). Unabhängig von den langfristigen Entwicklungstendenzen zeigt die Kurve mehrere kurzzeitige Auffälligkeiten. Hierzu zählen markante Einbrüche 1640–1645, 1676, 1773, 1781, 1875 und 1915–1918 ebenso wie das einmalige kontinuierliche Wachstum zwischen 1883 und 1890 und eine wiederholt beobachtbare Kombination signi kanter Gipfelwerte mit vorangehenden merklichen Tälern, etwa 1593/1594, 1713–1715, 1814/1815, 1875/1876, 1910–1912 oder 1916–1920.
322
Das Konzeptionsmaximum (188) wurde bereits 1889 erreicht.
88
GEBURTIGKEIT
Kommen als Ursachen größere Zeiträume durchmessender Prozesse nahezu ausschließlich Veränderungen der Lebensweise wenigstens in einigen Facetten in Betracht, gehen temporal eng begrenzte Entwicklungen oft auf konkrete Ereignisse, d. h. in der Regel Krisen, zurück. Jedoch zeichnet die demographische Eigendynamik, der umso größere Bedeutung beizumessen ist, je begrenztere Ausmaße das Datenmaterial annimmt, ähnliche Bilder. Eine Krisensituation verursacht bei der Geburtigkeit typischerweise zeitlich versetzt, indem sie unmittelbar auf die Konzeptionen einwirkt, einen über das Maß normaler jährlicher Schwankungen hinausgehenden Abfall, dem sich meist über mehrere Folgejahre nur langsam zunehmende Geburtenzahlen anschließen. Entweder vermindert erhöhte Sterblichkeit die Zahl prokreativer Personen, entfernen militärische Auseinandersetzungen für den Kampf verp ichtete Männer von ihren Frauen und entziehen beide dadurch temporär der „geregelten“ Reproduktion oder bedingen körperlicher Stress infolge Krankheit, Unterernährung, psychischer und außergewöhnlicher physischer Belastungen eine temporäre Sterilität bzw. Amenorrhoe. Kriege lassen sich hinsichtlich ihrer Auswirkungen am einfachsten nachvollziehen. Militärische Kon ikte nehmen seit dem Ende des Fehdewesens in der Regel überregionale Ausmaße an und sind auch aus diesem Grund hinlänglich dokumentiert. Somit stellt sich bei Betrachtung ihrer demographischen Dimension an dieser Stelle weniger die Frage, ob einer aufgetretenen Abnormität kriegerische Ursachen zugrunde liegen, denn ob ein hinsichtlich seiner Ausdehnung als demographischer Faktor potentiell wirksamer Kon ikt statistische Spuren hinterlassen hat. Der erste innerhalb des Untersuchungszeitraums statt ndende (Dreißigjährige) Krieg wirkte dezisiv auf die demographische Situation des gesamten Limbacher Gebiets ein. In dieser Zeit sind vielfache Truppendurchzüge, Einquartierungen und marodierende Soldaten für die schönburgischen Lande belegt. Dennoch zeigten sich die Auswirkungen auf die Rußdorfer Konzeptionen zunächst gering. Die Einrückung kaiserlicher Truppen 1626 323 scheint keine negativen Folgen gezeitigt zu haben. Stattdessen wurden, wahrscheinlich eine direkte Folge des Minimums 1625, in diesem Jahr die seit 1593 meisten Kinder gezeugt. Hingegen indiziert der 1632 erfolgte Einbruch um 50 Prozent gegenüber dem Vorjahreswert eine Verbindung mit dem Einfall der Kroaten unter dem kaiserlichen General Heinrich von Holk, die Chemnitz belagerten und Hohenstein, Penig, Lichtenstein sowie das Waldenburger Umland plünderten. 324 Ähnliches wiederholte sich bis 1644 mehrfach. Böhmische Söldner hausten 1634 im Churbachstal. 325 Im Oktober des Jahres wurde Hohenstein geplündert 326, im Dezem323 324 325 326
Vgl. Callenberg, Grumbach, S. 29. Vgl. ebd. – Das wüste Treiben der Kroaten und die Angst der leidenden Bevölkerung spiegeln sich deutlich in zahlreichen Kirchbüchern der Rußdorfer Umgebung wider. Vgl. Gemeinde Callenberg (Hg.), Die Ortsgeschichte von Falken, Callenberg 2004, S. 7. Vgl. Callenberg, Grumbach, S. 29.
ENTWICKLUNG DER GEBURTENZAHLEN
89
ber der Rußdorfer Joannes Rudloff von einem Kroaten erschossen. 327 Parallel el die Konzeptionszahl auf den zweitniedrigsten Stand seit Überlieferungsbeginn. Zwei Jahre später, woran sich ein bis 1640 anhaltender kontinuierlicher Rückgang der Rußdorfer Geburten anschloss, hielt sich das Regiment Rogau in den schönburgischen Herrschaften gütlich. Schwedische Truppen plünderten und brandschatzten in der Gegend 1637, 1640 und 1642. Als die Kroaten 1644 abermals im Gebiet um Hohenstein wüteten, kumulierte der aufgestaute bäuerliche Unmut in bewaffneter Gegenwehr unter Führung des Langenchursdorfer Richters und Freigutsbesitzers Georg Stiegler. 328 Die drei Schlesischen Kriege zwischen 1740 und 1763, während derer Kursachsen zunächst nanziell und schließlich auch materiell hart getroffen wurde, vermochten die Lebenswelt innerhalb der sächsisch-altenburgischen Exklave Rußdorf nur mittelbar zu beein ussen. Das Konzeptionstief 1740 ist schwerlich mit dem erst im Oktober 1740 begonnenen Kon ikt in Verbindung zu bringen. An den im Frieden von Dresden 1745 festgesetzten, an Preußen zahlbaren Kriegsentschädigungen über eine Million Taler 329 konnte die Bevölkerung des Dorfes zwangsläu g nicht beteiligt werden und Einquartierungen preußischer Truppen 1756 sind lediglich in einer Nottaufe dokumentiert. 330 Jedoch schlug sich eine Teuerungskrise infolge des Siebenjährigen Krieges 1762/1763 331 in einer Abnahme der Konzeptionen um ein Drittel nieder, ohne in den Geburtenzahlen erhebliche Spuren zu hinterlassen. Dasselbe gilt für den Bayerischen Erbfolgekrieg 1778/1779, welcher eher die sächsisch-böhmische Grenzregion in Mitleidenschaft zog. 332 Von den Napoleonischen Kriegen blieb das Dorf in demographischer Hinsicht wahrscheinlich ebenfalls weitgehend unbeein usst. Ein kurzzeitiger notabler Rückgang der Geburtigkeit 1805 hatte seine Ursachen mit Sicherheit in einer massiven Teuerungskrise 1804/1805 und ein mäßiger Tiefstand 1800 stand im Zweifel eher mit einer gleichzeitigen Mortalitätskrise in Verbindung. Einquartierungen, wie sie zwischen 1805 und 1813 zum Beispiel das nahe Falken mehrfach erdulden musste, sind in Rußdorf lediglich für 1813 belegt. 333 Tatsächlich erlebten die Konzeptions- im selben und die Geburtenzahl im Folgejahr eine leichte Talfahrt, die gut mit derartigen erzwungenen Versorgungsleistungen korrespondierte. Keine der weiteren kriegerischen Auseinandersetzungen des 19. Jahrhunderts schlug sich sichtbar in den demographischen Kenngrößen Rußdorfs nieder. Im Gegensatz dazu 327 328 329 330 331 332 333
Vgl. EPA Rußdorf, KB I, Beerdigungen 1634. Vgl. Callenberg, Grumbach, S. 29 u. Callenberg, Falken, S. 7. Vgl. Groß, Geschichte Sachsens, S. 151. „Emp ng, da es noch unzeitig war als die Mutter über der starcken Einquartirung derer Preußen erschrocken, die Nothtauffe, starb auch gleich des andern tages.“ Vgl. EPA Rußdorf, KB I, Taufen 1756, Nr. 7. Vgl. EPA Jahnsdorf, KB III: Kirchbuch 1714–1782, Chronik, S. 2. Vgl. Groß, Geschichte Sachsens, S. 169. „Am 4. Dec. 1813 starb allhier ein französischer Soldat der zum Corps des Marschalls St. Cyr gehörte, und nach der Capitulation von Dresden auf dem Marsch nach Böhmen in die Gefangenschaft hier einquartirt war.“ EPA Rußdorf, KB II: Kirchbuch 1801–1840, Beerdigungen 1813, Notiz.
90
GEBURTIGKEIT
unterbrach der Erste Weltkrieg, ein militärischer Kon ikt bis dahin ungekannten Ausmaßes und neuer Qualität, die Bevölkerungsentwicklung unverkennbar massiv. Die Abwesenheit zahlreicher wehrfähiger Männer ließ die Geburtenzahl bereits 1915 erstmals seit 1881 auf unter 100 sinken und in den Folgejahren bis 1917/1918 auf 36 zurückgehen. Dies entsprach, orientiert an der bekannten örtlichen Bevölkerungszahl von 1919, einer relativ niedrigen Geburtenrate von 26,34. Eine geringere Anzahl Neugeborener war letztmalig 1833 bei einer gleichzeitigen Geburtenziffer von etwa 38,42 zustande gekommen. Nach Beendigung des Flächenbrandes stiegen die Geburtenzahlen typischerweise infolge nachgeholter Konzeptionen zunächst bis 1920 stark an, ohne sich dem Vorkriegsniveau wieder anzunähern. Seit 1921 signi kant abnehmende Natalitätszahlen gingen unter anderem auf den Verlust 142 gefallener, meist junger Männer im prokreativen Alter zurück. Freilich setzte dies auch den seit 1890 beobachtbaren Trend fort. Als weiteres bedeutendes demographisches Hemmnis nach malthusianischer Lesart hatten epidemische Krankheiten kaum Ein uss auf die Rußdorfer Geburtenratenentwicklung. Vom 16. bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts traten Seuchen in relativer Regelmäßigkeit auf. Insgesamt 26 „schwarze Zacken“ sind unter anderem offenkundiger Ausdruck dessen. Pest, Ruhr, Blattern und ähnliche Infektionskrankheiten konnten die Mortalitätsrate stark erhöhen, minderten die Konzeptionszahl jedoch nur in den seltensten Fällen. Im Gegenteil erreichte die Geburtenzahl im Folgejahr oft ein momentanes Maximum, um erst im zweiten Jahr nach dem Mortalitätshoch wieder abzufallen (siehe 1676–1678, 1709–1711 oder 1761–1763). Nicht selten treten momentane Mortalitätsmaxima und Natalitätsminima zeitgleich auf (1595, 1620, 1633, 1676, 1694, 1719, 1781, 1814 und 1824), was auf eine ökonomische oder klimatische Missentwicklung hindeuten kann, die letztendlich über Herabsetzung der körperlichen Verfassung breiter Bevölkerungsteile sowohl kontrazeptiv als auch immunologisch degenerativ wirkt. Dementsprechend selten gereichen Seuchen, die im Normalfall vorrangig Alte und Säuglinge bzw. Kleinkinder töten, zur Ursache demographischer Krisen. 334 Während des Untersuchungszeitraums ndet sich in Rußdorf keine Mortalitätskrise, die massiv genug gewesen wäre, um auf die Geburtenzahl dezisiv einzuwirken. Völlig konträr wurden zum Beispiel während des Pestjahres 1633 deutlich mehr Kinder gezeugt (13) als im Jahr zuvor und danach (6/4). Zweifelsohne haben Lohn- und Preisentwicklung den größten Ein uss auf das bewusste wie unbewusste generative Verhalten. Sofern keine Geburtenplanung betrieben wird, sollten sich wirtschaftlich günstige Perioden, d. h. Phasen ausreichender bis opti-
334
Die sogenannte Justinianische Pest des 6. Jahrhunderts und der Schwarze Tod Mitte des 14. Jahrhunderts stellen seltene Ausnahmen dieser Regel dar. Freilich ging beiden Pandemien eine klimatische Ungunst voraus bzw. begleitete sie auch, jedoch erklärt dies die immense Letalität beider Seuchen, der Personen jedes Alters unterworfen waren, unzureichend.
ENTWICKLUNG DER GEBURTENZAHLEN
91
maler Nahrungsmittelversorgung und nanzieller Sicherheit in signi kant erhöhter Fertilität bzw. vermehrten Geburten äußern und Perioden erschwerter Lebenshaltung bzw. gar der Existenzgefährdung Gegenteiliges bewirken. Auf der mikroregionalen Ebene der untersuchten Dörfer fehlen zumeist klare Belege für eine lokal empfundene bzw. erlebte ökonomische Gunst oder Ungunst. Je nach Beschaffenheit der lokalen naturräumlichen, wirtschaftlichen oder gar sozialen Verfassung können selbst schwere überregionale Wirtschaftskrisen bis hin zu den einzelnen Haushalten höchst unterschiedliche Auswirkungen von fehlender bis massiver Betroffenheit zeigen. Dennoch indiziert der Vergleich zwischen dem Verlauf der Rußdorfer Natalitätskurve und der gleichzeitigen ökonomischen Entwicklung eine Korrelation beider. Die relativ hohen Konzeptionsraten der 1580er und 1590er Jahre zeugen noch vom Ende der spätmittelalterlichen Agrardepression im frühen 16. Jahrhundert und einem darauffolgenden kontinuierlichen Bevölkerungswachstum. Ebenso scheint sich darin eine durch hohe Getreidepreise und eine starke Zunahme spekulativer Landkäufe gekennzeichnete gesamteuropäische Agrarkonjunktur widerzuspiegeln. Allerdings stellt der faktisch vorgezogene Einbruch der Rußdorfer Konzeptionsziffer 1594 dieses Bild infrage, endete die Konjunktur doch erst 1598–1600 in drei Jahren außerordentlich guter Ernten, was in der ersten Dekade des 17. Jahrhunderts einen anhaltenden Preisverfall verursachte. Eine schleichende Münzentwertung löste die Überproduktionskrise während des Dreißigjährigen Krieges ab. Zwei Versorgungskrisen 1624/1625 und 1637/1638 bewirkten kurzzeitig zusätzliche massive Teuerungen, die unzweifelhaft auch im Untersuchungsgebiet wahrgenommen wurden. 335 Die Kaufunger Gerichtsbücher sprechen für 1624 von einem teuren Jahr und in Rußdorf starb der Schneider Bartel Pödger, der „vor der Zeit das seine verschwendet, das er vor seinem ende, und zu letzt fast, in dieser schanden Teurung, hat noth und mangel leiden müssen“. 336 Nicht umsonst zeugten die Rußdorfer 1625 die wenigsten Kinder seit Beginn der Aufzeichnung. Weit größere Ausmaße nahm allerdings die Krise von 1637/1638 an. Bereits 1636 war ein trockenes Jahr in den schönburgischen Landen gewesen. Entsprechend wies die Rußdorfer Konzeptionsrate in diesem und den Folgejahren eine degressive Tendenz auf. Gleichartige Korrelationen lassen sich für das Jahr 1684 vermuten, in dem ein langer harter Winter und ein sehr trockener Sommer das Winter- und Sommergetreide der Region verdarben und den Getreidepreis zwischen Ostern und Oktober von 30 auf 84 Groschen hochschnellen ließen. 337 Dagegen hinterließ zum Beispiel ein in reichen Ernten zu Beginn des 18. Jahrhunderts sowie mehreren Missernten zwischen 1708 und 1713 gründender gesamteuropäischer Getreidepreisverfall 338 keine klar zuordenbaren
335 336 337 338
Vgl. Abel, Agrarkrisen, S. 152ff. EPA Rußdorf, KB I, Beerdigungen 1624, Nr. 1. Vgl. Callenberg, Grumbach, S. 32. Vgl. Abel, Agrarkrisen, S. 187.
92
GEBURTIGKEIT
Spuren in den Rußdorfer Geburtenzahlen. Konzeptionseinbrüche 1708 und 1712 stehen dabei in Widerspruch zu leicht überdurchschnittlichen bis hohen Werten 1709– 1711 und 1713. Das offenkundigste Zusammenspiel von generativem Verhalten und ökonomischer sowie klimatischer Entwicklung zeigt sich in der schweren Subsistenzkrise der frühen 1770er Jahre. Auf eine massive Teuerung in der „Kipper- und Wipperzeit“ 1762/1763 im sächsischen Raum folgten nach Beendigung des Siebenjährigen Krieges und Rücknahme der schlechten Münzen fette Jahre, wie der Pfarrer Kerzig des unweit Chemnitz gelegenen Jahnsdorf berichtet. Gott schenkte reichhaltige Erndten [...] daß letzlich der Dreßdner Scheffel Korn um 1 Rthl. 12 Gr. [...] zu bekommen war. Aller Handel und Wandel blühete, und deswegen stiegen die Fabriquen immer empor. Besonders mehreten sich [...] die Strumpfwirker [...] auch überhaupt die Anzahl der Einwohner [...].
In Rußdorf wuchsen die Geburtenzahlen im Ganzen bis auf einen neuen Spitzenwert von 27 im Jahre 1768. Schon 1769 kündigte sich eine neue Krise an. „Die Commercia engen an zu stocken, und die Verdienste der Handwerksleute verringerten sich [...]. Ein naßer kalter Herbst el ein, daß die Winter Saat kümmerlich und nicht vollkommen konnte bestellet werden.“ Das folgende Jahr brachte keine Besserung. Die Nachfrage nach gewerblichen Produkten stand weit hinter dem Angebot zurück, sodass die Preise verelen. Ende März el in ganz Deutschland eine Schneemenge, „dergleichen sich auch die ältesten Leute nicht zu erinnern wußten“. Tauwetter setzte erst nach über zwei Wochen ein, sodass das Winterkorn der Stauwärme zum Opfer el. Den Sommerfrüchten erging es nicht besser, denn „in der Erndte selbst el so viel Regenwetter ein, daß das Getrayde überall ungemein grosen Schaden litte“. Binnen Kurzem zogen die Preise stark an. Zum Beispiel galt der Dresdner Scheffel Roggen schon zum Ende des Jahres vier Reichstaler. Die Teuerung setzte sich 1771 weiter fort, obwohl ein abermaliger starker Schneefall im März der Wintersaat keinen merklichen Schaden zufügte, und verstärkte sich nach Ausbringen der Sommersaat gar, „weil die Vorräthe in den Niederlanden [...] sehr abnahmen, nachdem sie stark in das Reich und Böhmen [...] waren abgeführet worden“. Heftige Überschwemmungen Anfang, Mitte und Ende Juni zerstörten vielerorts die Straßen, sodass zunächst auch kein Getreide mehr zugefahren werden konnte und „auch für die reichsten Leute keine Getrayde und Brod zu bekommen“ war. Die Kornpreise stiegen in Mittelsachsen rasch auf zehn und im Gebirge auf elf bis zwölf Reichstaler pro Scheffel Dresdner Maßes. Zwar hatten die Wassermassen die Ernte nicht vernichtet, aber die Nässe verzögerte den Reifungsprozess deutlich und verringerte den Ertrag massiv. „Böhmen, das wegen des Ausdrusches gleiches Schicksal hatte, blieb versperret, und so gar auch Altenburg ließ kein Getrayde aus dem Lande.“ Infolgedessen blieben die hohen Nahrungsmittelpreise bestehen, während gewerbliche Produkte bzw. Luxusgüter wertmäßig auf einem Tiefstand verharrten und Lohnarbeit kaum geboten oder schlecht
ENTWICKLUNG DER GEBURTENZAHLEN
93
bezahlt wurde. Armut grassierte im sächsischen Raum auch nachdem „die hohe Landes Herrschaft diesem vorzubeugen suchte, da von Hamburg 25000 Malter Korn aus Lie and negotiiret wurde, welches mens. Nov. und Decembr. auf der Elbe ankam“ und Bettelwesen wie Diebstahl hatten Hochkonjunktur. Die Not kontinuierte bis 1772. Besonders in diesem Jahr starben viele Menschen am Hunger. Erst eine gute Ernte in den Niederlanden ließ die Kornpreise nach bedeutenden Getreideimporten ab August wöchentlich fallen und sich schließlich Anfang September dank der hinzukommenden inländischen Erträge auf fünf Reichstalern pro Scheffel einpegeln. 339 Die Rußdorfer Konzeptionszahl sank der Krise entsprechend 1770 merklich, stieg 1771 nochmals an und el schließlich 1772 massiv, weswegen die Geburtenzahl erst 1773 einen Tiefstand markierte. Offenbar wirkten erst die länger währende Not bzw. der langfristige Hunger statistisch signi kant kontrazeptiv. Diesen Eindruck bestätigt der Blick auf andere mittelsächsische Ortschaften. In den damals 48 Orten unter der Chemnitzer Kircheninspektion kamen 1771 mit 2673 Kindern sogar 17 mehr als im vorangegangenen Krisenjahr zur Welt. 340 Zu Beginn des 19. Jahrhunderts wurde die Agrarwirtschaft im Abstand einer Dekade von zwei ähnlich starken Versorgungskrisen getroffen. Diacon Tauscher in Sayda südlich Freiberg berichtet 1806 von einer „enormen Theuerung“, die das Jahr 1805 bestimmte. Beym Getritte dieses Jahres galt der Scheffel Korn wegen der vorhergegangenen sparsamen Kornernde 8 bis 9 Rthl. und nach geschehener Aussaat stiegen die Getreydepreise so hoch, daß in den Sommer Monathen der Scheffel Korn mit 15 bis 16 Rthl. [...] bezahlt werden mußte. Das Elend der Armen stieg unter solchen Umständen zu einer fürchterlichen Höhe. 341
In Penig galt der Scheffel am 8. August 1805 gar 21 Reichstaler. 342 Gleichzeitig sank die Anzahl der Rußdorfer Konzeptionen um 28,13 Prozent gegenüber dem Vorjahreswert. Einen geringeren Ein uss auf das generative Verhalten hatte das „Jahr ohne Sommer“ 1816, Teil eines weltweiten vulkanischen Winters. Auf eine schlechte 1815 folgte 1816 im gesamten mitteleuropäischen Raum eine Fehlernte, die auch 1817 angesichts abermals niedriger Erträge nicht ausgeglichen werden konnte. Wiederum ver elen die Löhne bei massiv zunehmenden Getreidepreisen. 343 Der Wittgensdorfer Christian Friedrich Richter berichtet 1816: „Im Monat Juny eng das Gedreide an auszuschlagen, das Korn von 4 bis 7 Rthl. der Dresdner Scheffel.“ Ihren Höhepunkt erreichte die Teuerung bei zehn Talern pro Scheffel Korn im Folgejahr „und lag aller Handel und Gewerbe gantz darnieder, das viele Menschen außer Arbeit und Brod gesetzt wurden [...] so entstand 339 340 341 342 343
EPA Jahnsdorf, KB III, Chronik, S. 2ff. Ebd., S. 13 f. EPA Sayda, KB VII: Beerdigungsregister 1760–1799, Chronik, S. 3. Vgl. Fritzsche, Stefanie (Hg.), Ökonomie und Lebensalltag in der sächsischen Stadt Penig 1748 bis 1810. Die Lebenserinnerungen des Sattlermeisters Johann Ephraim August Jacobi, Dresden 2013, S. 166. Vgl. Abel, Agrarkrisen, S. 224.
94
GEBURTIGKEIT
Hungersnoth und Elend“. 344 Rußdorf scheint von diesen Ereignissen relativ verschont geblieben zu sein. Entsprechend gingen die Konzeptionen 1816 und 1817 nur moderat um 10,26 bzw. 17,14 Prozent zurück. Gleiches gilt für die letzte große gesamteuropäische Hungersnot 1846/1847, die sich noch marginaler im generativen Verhalten der Rußdorfer in einer um 14,29 und 9,76 Prozent sinkenden Konzeptionszahl abzeichnete. Weit größere Auswirkungen hatte die von Amerika ausgehende Finanzkrise der späten 1830er und frühen 1840er Jahre, welche die Rußdorfer Strumpfwirkerei 1843 beinahe gänzlich zum Erliegen brachte. 345 Während dieses kurzen Intermezzos wurden im Dorf 36,84 Prozent weniger Kinder gezeugt als im vorangegangenen Jahr. Nach 1850 lassen die Geburts- wie Konzeptionszahlen sichtbare Reaktionen auf gleichzeitige Nahrungsmittelpreisentwicklungen oder Konjunkturzyklen vermissen. Mit den Roggenpreisspitzen 1874 und 1880 zusammengehende Konzeptionstiefpunkte mögen angesichts der Tiefstände 1858, 1870 und 1878, die mit niedrigen Roggenpreisen korrelierten, zufälligen Charakter haben. Desgleichen vermochten weder der Gründerkrach, die darauffolgende Depression oder der Wirtschaftsaufschwung nach 1895 noch die große In ation Anfang der 1920er Jahre die Rußdorfer Geburtigkeit signi kant zu beein ussen. Insgesamt zeigt sich vor allem die Entwicklung der stark schwankenden Rußdorfer Konzeptionszahl in vor- bzw. protoindustrieller Zeit an der Getreidepreisentwicklung orientiert. Regelmäßig stehen sich Maxima und Minima beider gegenüber. Kriege und Seuchen hatten dagegen nur punktuellen Ein uss bei geringem Wirkungsgrad. In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts hatten Epidemien und Wirtschaftskrisen ihre Macht über die lokale Geburtigkeit offenbar weitgehend eingebüßt. Demgegenüber motivierte der neue Dimensionen zeigende Erste Weltkrieg eine deutlich stärkere Reaktion als alle militärischen Kon ikte vor ihm. Bräunsdorf Die überlieferten Personenstandsakten verzeichnen für Bräunsdorf zwischen dem 1. Januar 1640 und dem 31. Dezember 1935 insgesamt 7748 Geburten, was 59,63 Prozent des Rußdorfer Geburtenquantums dieses Zeitabschnitts entspricht. Auch nach Hochrechnung 346 der im Vergleich zur Überlieferung des Nachbardorfes fehlenden 58 Jah344 345 346
Heimatstube Wittgensdorf, Riedel-Richtersche Chronik, 1790–1844, S. 60f. Vgl. ThStA Abg, Gewerbeverein, E., Nr. 15: Die auf Anordnung Herzoglich Hoher Landesregierung veranstaltete Ausloosung Russdorfer Strumpfwaaren, 1843. Zur Berechnungsgrundlage dient hierbei ein Vergleich der Dekadenkohorten beider Orte 1640–1699. Im Durchschnitt erreichte der Rußdorfer Wert in dieser Zeit 79,3 Prozent des Bräunsdorfers. Wird diese Proportion auf die Rußdorfer Geburtenzahl des Zeitraums 1582 bis 1639 umgeschlagen, errechnet sich für Bräunsdorf in dieser Zeit eine geschätzte Natalitätszahl von rund 715.
ENTWICKLUNG DER GEBURTENZAHLEN
95
reswerte 1582 bis 1639 bleibt die Bräunsdorfer Zahl um mehr als ein Drittel (34,86 %) hinter jener Rußdorfs zurück. Ungeachtet dessen offenbart die zeitliche Streuung der Bräunsdorfer Geburten eine tendenziell gleichartige demographische Entwicklung. Um eine Dekade verschoben fanden hier von 1870 bis 1909, d. h. in 13,51 Prozent der vorhandenen Jahrgänge, 29,01 Prozent (bei Hochrechnung 11,3 % : 26,59 %) der erfassten Geburten statt. In den ersten beiden untersuchten Jahrhunderten (54,1% des UZ) erblickten demgegenüber nur 2419 (31,22%) aller in Bräunsdorf Geborenen das Licht der Welt (bei HR 61,58% : 36,96 %). Hierin zeigt sich abermals das typische, starke Bevölkerungswachstum der Industrialisierungsperiode, welches jedoch im Vergleich zum Rußdorfer Fall deutlich begrenztere Ausmaße annahm. Dementsprechend geringer el das seit dem 17. Jahrhundert erfolgende Geburtszahlenwachstum aus. So verzeichneten die Bräunsdorfer Kirchbücher vom fünften bis zum letzten Jahrzehnt des 18. Jahrhunderts gerade doppelt so viele Geburten wie im Vergleichszeitraum des vorangegangenen Jahrhunderts 347, dabei jedoch nur marginal weniger als die Rußdorfer Personenstandsakten dieser Zeit. Der Bevölkerungszunahme und dem Geburtenhoch seit den 1870er Jahren zum Trotz verharrte die Wachstumsrate des örtlichen Geburtenquantums des 19. Jahrhunderts gleichfalls auf einem signi kant niedrigeren Niveau von 120,23 Prozent. Bereits bei Betrachtung der Geburtenkohorten nach Dekaden vermag eine nach obigem Muster vollführte Hochrechnung der Geburtenzahlen für die fehlenden Jahrzehnte des späten 16. und frühen 17. Jahrhunderts nicht, die Überlieferungslücke adäquat auszufüllen. Allzu vereinfachenden oder aber spekulativen Charakter trüge das Ergebnis. In Anbetracht der von den 1640ern bis ins 18. Jahrhundert gleichförmigen Entwicklung der zusammengefassten Geburtenzahlen Rußdorfs und Bräunsdorfs lässt sich dennoch eine analoge Parallelität für die vorhergehenden sechs Jahrzehnte vermuten. Mit Sicherheit kamen in dem größeren Bräunsdorf auch vor 1640 in der Regel mehr Kinder zur Welt. Darüber hinaus gibt die im Spätmittelalter noch gleichartige Verfassung und die räumliche Nähe beider Dörfer keinen Anlass, von einem grundlegend unterschiedlichen generativen Verhalten ihrer Bevölkerungen auszugehen. Anzeichen eines wannenförmigen Verlaufs der Geburtenkurve während des 17. Jahrhunderts, welche sich zum Beispiel ebenso in den Kaufunger Natalitätszahlen dieser Zeit wieder nden, zeigen auch die Bräunsdorfer Kohorten in Tabelle 2. Sofern den niedrigeren Werten 1640–1679 tatsächlich ebenfalls ein Hochstand vorausging und diesem ein früher soziostruktureller Wandel zugrunde lag, sollte er im frühen 17. Jahrhundert stattgefunden und geringere Ausmaße angenommen haben. Die Bräunsdorfer Güterparzellierung setzte erst um 1600 ein und ging im Vergleich zum Rußdorfer Fall langsamer vonstatten (Kap. 8.1).
347
Werden die Daten des gesamten 18. Jahrhunderts mit den hochgerechneten Werten für das gesamte 17. Jahrhundert verglichen, errechnet sich ein weitaus geringeres Wachstum von 72,27 Prozent.
96
GEBURTIGKEIT
Tabelle 2: Bräunsdorfer Geburten nach Dekadenkohorten Geburten 1640–1649
prozentualer Anteil1
Wachstum
80 102
1,03% 1,32%
(0,95 %) (1,21 %)
27,50 %
91 92
1,17% 1,19%
(1,08 %) (1,09 %)
–10,78 % 1,10 %
120
1,55%
(1,42 %)
30,43 %
120
1,55%
(1,42 %)
0,00 %
119 141 189
1,54% 1,82% 2,44%
(1,41 %) (1,67 %) (2,23 %)
–0,83 % 18,49 % 34,04 %
144 160
1,86% 2,07%
(1,70 %) (1,89 %)
–23,81 % 11,11 %
172 201 204 212
2,22% 2,59% 2,63% 2,74%
(2,03 %) (2,38 %) (2,41 %) (2,51 %)
7,50 % 16,86 % 1,49 % 3,92 %
272 243
3,51% 3,14%
(3,21 %) (2,87 %)
28,30 % –10,66 %
284 276
3,67% 3,56%
(3,36 %) (3,26 %)
16,87 % –2,82 %
261 337 395
3,37% 4,35% 5,10%
(3,08 %) (3,98 %) (4,67 %)
–5,43 % 29,12 % 17,21 %
462
5,96%
(5,46 %)
16,96 %
509 604 624
6,57% 7,80% 8,05%
(6,01 %) (7,14 %) (7,37 %)
10,17 % 18,66 % 3,31 %
1910–1919 1920–1929
511 373 329
6,60% 4,81% 4,25%
(6,04 %) (4,41 %) (3,89 %)
–18,11 % –27,01 % –11,80 %
1930–1935
121
1,56%
(1,43 %)
–63,22 %
1650–1659 1660–1669 1670–1679 1680–1689 1690–1699 1700–1709 1710–1719 1720–1729 1730–1739 1740–1749 1750–1759 1760–1769 1770–1779 1780–1789 1790–1799 1800–1809 1810–1819 1820–1829 1830–1839 1840–1849 1850–1859 1860–1869 1870–1879 1880–1889 1890–1899 1900–1909
1
Die Anteile am hochgerechneten Gesamtwert von 8463 Geburten sind kursiv gehalten.
Bis in die 1720er Jahre überragten die Bräunsdorfer Dekadenkohorten jene Rußdorfs konsequent um mindestens neun Geburten. Anfangs ist die Diskrepanz leicht von der ursprünglich höheren Güter- und Familienzahl abzuleiten. Zwischen 1700 und 1710 überholte die altenburgische Exklave den sächsischen Nachbarort jedoch dahingehend. Den scheinbaren Widerspruch bedingten größere Reproduktionsraten der Bräunsdorfer (Kap. 7.1), was die Annahme eines acheren demographischen Wandels während des 17. Jahrhunderts stützt. Gleichzeitig fehlen in Bräunsdorf signi kante, mutmaßlich krisenbedingte Einbrüche. Ein anfänglicher Tiefstand in den 1640er Jahren deckt sich zwar temporal mit dem in Rußdorf beobachtbaren, reicht aber mit seiner elf- bis 20-prozen-
ENTWICKLUNG DER GEBURTENZAHLEN
97
tigen Unterschreitung des nachmaligen Niveaus nicht an die dortigen Ausmaße heran. Der moderatere Rückgang in den 1670er Jahren fehlt völlig. Zeichneten in Rußdorf für beide Täler exogene, d. h. nicht systembedingte Krisen verantwortlich, ließen sie Bräunsdorf unberührt oder fanden dort schlechteren Nährboden vor. Bereits in den 1680er Jahren erreichten die Bräunsdorfer Dekadenkohorten vermutlich Werte wie vor Beginn des angenommenen langjährigen Geburtentiefs. Das in Rußdorf festgestellte langfristige Wachstum blieb zunächst aus. Zwischen 1680 und 1709 stagnierte die Geburtenzahl. Bis dahin weisen Bräunsdorfer und Rußdorfer Entwicklung dennoch starke Ähnlichkeit auf, da sich die Zunahme in der Exklave aus der um ein Jahrzehnt und sicherlich mindestens teilweise infolge des 1670er-Einbruchs verzögerten Rückkehr zu ehemaligen Verhältnissen und einem minimalen Wachstum in der Folgedekade speiste. Bräunsdorf erlebte danach bis 1729 einen merklichen Anstieg der Geburtenzahl – von 1710ern auf 1720er mit der höchsten Steigerungsrate des gesamten Untersuchungszeitraums –, welcher mit einem gleichzeitigen Wachstum der Hofstellenzahl (Kap. 8.1) zusammen el. Dessen Fortführung bis 1738 bei gleichzeitiger deutlicher Regression der Geburten, erstmals unter das gleichzeitige Rußdorfer Niveau, steht allerdings einem Zusammenhang beider Entwicklungen entgegen. Anders als Rußdorf erlebte Bräunsdorf zwischen 1740 und 1799 ein durchgehendes Wachstum der Dekadenkohorten, das in der Exklave ohne die starke Mehrung in den 1760er Jahren freilich analog stattgefunden hätte. In den 1770er Jahren kamen letztmalig mehr Kinder zur Welt als im Nachbardorf. Die während der 1710er Jahre eingesetzte wellenförmige Zunahme der Geburtenkohorten kontinuierte in Bräunsdorf bis in die 1840er Jahre. Folgte dem Wachstumsschub der 1790er mit angeschlossenem Einbruch 1800/1809 ein bis 1899 ungebrochener Anstieg, erlebte das sächsische Dorf zwischen 1820 und 1839 nochmals einen leichten Rückgang. Veränderungen der Häuserzahl kommen als Ursache der Prozesse nach 1790 nicht in Betracht, sondern konterkarieren sie eher. Eine mit Wachstumsraten von meist zehn bis 20 Prozent kontinuierliche Geburtenvermehrung zeigen die Bräunsdorfer Kohorten von den 1840er bis zu den 1890er Jahren. Ihren im Vergleich zum Rußdorfer Fall gemäßigten Charakter erhält diese durch Ausbleiben einer Geburtenexplosion. Nach 1900 durchliefen die Dekadenkohorten beider Untersuchungsorte wiederum eine parallele, regressive Entwicklung mit mäßigen Schrumpfungsraten in den 1900er und 1920er sowie starken in den 1910er und 1930er Jahren. Schon im Kriegsjahrzehnt unterschritt das Bräunsdorfer Geburtenquantum sein vormaliges Niveau der 1850er und el im folgenden Dezennium gar unter jenes der 1840er Jahre. Die jährliche Geburtenzahlenentwicklung trägt den bisherigen Beobachtungen Rechnung. Seit Beginn der Überlieferung 1640 zeigt sich in Bräunsdorf ein tendenzielles, im Unterschied zu Rußdorf acheres Wachstum bis ins späte 19. Jahrhundert, worauf eine ebenso langfristige Regression folgt. Dabei liegt das absolute Minimum bei drei Geburten im Jahr 1642, während das absolute Maximum mit 71 Geburten
98
GEBURTIGKEIT
auf 1888 348 entfällt. Mehr oder minder erhebliche quantitative Schwankungen über den gesamten Untersuchungszeitraum um bis zu 50 oder gar 100 Prozent sind typische Begleiterscheinung der besonders zu Anfang geringen Werte und nicht unbedingt Indikatoren kurz- bzw. langfristiger demographischer Veränderungen. Bei Einbeziehung der vorangegangenen Analyse lassen sich vier langfristige Phasen Bräunsdorfer Geburtenentwicklung zwischen 1640 und 1935 identi zieren. Deren erste wird einzig über den Vergleich mit den zeitgenössischen Rußdorfer Zahlen überhaupt erkenn- und abgrenzbar. Die nur „fragmentarisch“ belegte Wannenkurve des 17. Jahrhunderts endete 1680 in einem vorläu gen Maximum von 18 Geburten und der anzunehmenden Annäherung an das vormalige Niveau des späten 16. oder frühen 17. Jahrhunderts. Den anschließenden zweiten Abschnitt kennzeichnet ein stufenweises, tendenziell lineares, mäßiges Wachstum, welches immer wieder von kurzen Phasen niedrigerer Geburtenzahlen unterbrochen wird. Vorläu ge Spitzenwerte kommen dabei in schrumpfenden Intervallen konsequent gehäuft vor (1719/1722/1729, 1767/1770, 1793/1799, 1812/1816). Zwischenzeitlich auftretende momentane Minima bewegen sich im Vergleich zu jenen des vorangegangenen Intervalls durchweg auf einer höheren Ebene. Das Ende des Abschnitts markiert ein Tiefpunkt 1827, bei dem letztmalig vor Beginn des Ersten Weltkrieges weniger als 20 Kinder geboren wurden. Hernach steigen die Geburtenzahlen unter fortwährenden Schwankungen weiterhin tendenziell linear, jedoch deutlich beschleunigt bis zu dem absoluten Maximum von 71 Geburten im Jahr 1888 stark an. Vorläu ge Höchstwerte lösten einander binnen kurzer Frist ohne ein je über zwei Jahre hinausgehendes ununterbrochenes Wachstum ab. Gleichzeitig stieg die Geburtenrate von 33,65 (1834) über 47,43 (1871) und 54,63 (1880) auf etwa 62 im Jahr des Geburtenhöchststands. Nach 1888 nahmen die Natalitätszahlen wieder ab, während die Gesamtbevölkerungszahl bis 1902 stagnierte bzw. zwischenzeitlich (1895) leicht zurückging. Bis zu einem Einbruch 1898 verharrte die jährliche Geburtigkeit auf relativ hohem Niveau, sodass die Natalität ebenfalls nur langsam zurückging, und markierte 1899 und 1907 nochmals kurzfristig an das absolute Maximum heranreichende Spitzenwerte. Insgesamt fand die Geburtigkeit in absoluten Zahlen jedoch bis 1910 auf den Stand der 1870er Jahre zurück. Auch in Bräunsdorf beendete der Erste Weltkrieg diese offenkundige Hauptphase des örtlichen demographischen Übergangs. Die beiden verbleibenden Dekaden des Untersuchungszeitraums mögen analog zum Rußdorfer Fallbeispiel als separater Abschnitt verstanden werden. Während des Krieges brachen die Geburtenzahlen typischerweise massiv ein, um 1920 letztmalig an das Vorkriegsniveau heranzureichen. Über die „Goldenen Zwanziger“ hinweg wuchs die im Zuge des Krieges leicht geschrumpfte Bevölkerung kontinuierlich. Die jährliche Geburtenzahl verminderte sich 348
Das absolute Konzeptionsmaximum wurde hingegen erst 1898 mit 74 Konzeptionen erreicht. Anno 1887 wurden 71 Kinder gezeugt, 1890 und 1893 jeweils 72.
ENTWICKLUNG DER GEBURTENZAHLEN
99
Abbildung 5: Jährliche Bräunsdorfer Konzeptionszahlen und Leipziger Roggenpreisindex 1640–1799. Vgl. Rahlf, Getreidepreise.
Abbildung 6: Bräunsdorfer Geburten- und Konzeptionszahlen 1800–1935
100
GEBURTIGKEIT
hingegen rapide und befand sich Anfang der 1930er Jahre auf dem Niveau der Mitte des 18. Jahrhunderts. Analog sank die Geburtenrate auf 11,85 (1933). Beim Vergleich der Geburtenzahlenentwicklungen Rußdorfs und Bräunsdorfs fallen einige Differenzen auf. Überdeutlich springt die große Diskrepanz der Kurvenverläufe in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts ins Auge. Während das Geburtenquantum in Bräunsdorf über 60 Jahre in Fortsetzung eines im Dreißigjährigen Krieg begonnenen langsamen Wachstums leicht beschleunigt zunahm, um nach dem Scheitelpunkt 1888 tendenziell in gleicher Weise abzunehmen, erlebte Rußdorf zwischen 1875 und 1890 nachgerade eine Geburtenexplosion, die klar mit dem vorangegangenen leichten Wachstumsprozess brach. Die auf 1890 folgende Regression durchlief dagegen nach einem ähnlich radikalen Rückgang vor 1900 eine weitaus achere Abnahme. Eine weitere pointiertere Verlaufsform zeigte die Rußdorfer Entwicklung während des Ersten Weltkrieges mit einem Einbruch um 73,13 Prozent zwischen 1914 und 1917 (in Bräunsdorf 59,57 %). Hinsichtlich der übergeordneten Tendenzen erscheinen die Rußdorfer und Bräunsdorfer Geburtenzahlen jedoch äußerst einheitlich. Diese Synchronität lässt zur Rußdorfer Natalität similäre Reaktionen der Bräunsdorfer auf exogene Faktoren vermuten. Tatsächlich korreliert auch die Bräunsdorfer Konzeptionszahl vorrangig mit den Getreide- respektive Grundnahrungsmittelpreisen, während Kriege und Krankheiten offenbar eher geringe Rollen spielten. Im Vergleich mit der überlieferten Leipziger bzw. Roßweiner Roggenpreisentwicklung wird eine besonders in vorindustrieller Zeit markante Gegenläu gkeit deutlich. Meist stieg die Konzeptionszahl in Zeiten relativ niedriger Preise an und umgekehrt. Immer wieder wurden Preisspitzen von Konzeptionsminima begleitet (1675, 1693, 1699, 1762, 1789, 1799, 1843, 1856), lassen andererseits aber nicht in jedem Fall eine Auswirkung erkennen (zum Beispiel 1651, 1719, 1736, 1740). Desgleichen sprach die Bräunsdorfer Bevölkerung in ihrem generativen Verhalten nicht bei allen vorgenannten Teuerungs- bzw. Subsistenzkrisen analog zu den Rußdorfern an. So el mit der im Nachbardorf keinen unmittelbaren Ein uss zeigenden Missernte von 1684 nebst anschließender Kornverteuerung ein Einbruch der Bräunsdorfer Konzeptionen um 63,63 Prozent zusammen. Dies wiederholte sich 1699, als ein Spitzenwert der Leipziger Roggenpreise mit der in Bräunsdorf um 41,67 Prozent zurückgehenden Konzeptionszahl korrelierte. Ebenso deuten Konzeptionsrückgänge der Jahre 1708 und 1712 Reaktionen auf die aus diversen Teilen Europas berichteten Missernten der Jahre 1708–1713 an, werden aber von durchschnittlichen bis überdurchschnittlichen Werten 1709–1711 und 1713 kontrastiert. Von besonderem Interesse ist die Reaktion auf die großen Teuerungen der 1760er und 1770er Jahre sowie des frühen 19. Jahrhunderts. Im Vergleich zur Rußdorfer Situation kam Bräunsdorf, das generative Verhalten betreffend, relativ unberührt durch die Krisenzeit. Dem starken Getreidepreisanstieg zum Trotz ging die Bräunsdorfer Konzeptionszahl 1762 (16) gegenüber dem Vorjahr (18) nur leicht zurück, um unmittelbar
ENTWICKLUNG DER GEBURTENZAHLEN
101
darauf 1763 auf ein vorläu ges Maximum (28) anzuwachsen. Die folgenden Jahre guter Ernten und konjunkturellen Aufschwungs sind an der stark schwankenden Konzeptionsrate nicht abzulesen. Obwohl die Geburtenzahlen der 1760er Jahre bis 1770 einen positiven Trend aufwiesen, deutete die Konzeptionsentwicklung in die entgegengesetzte Richtung. Zwischenzeitlich wurde sogar 1765 (15) und 1767 (14) das möglicherweise krisenbedingte Tief von 1762 unterschritten. Zwar wurden 1769, der beginnenden Teuerung scheinbar angemessen, weniger Kinder gezeugt als im Vorjahr, anschließend nahmen die Konzeptionen jedoch der sich potenzierenden Krise zum Trotz bis 1771 zu. Wie im Rußdorfer Fall brachen sie erst 1772 stark, dabei aber weniger radikal ein als etwa 1684 und 1712. Überhaupt gingen Korrelationen der Bräunsdorfer Konzeptionszahl und ökonomischer Krisen seit dem 18. Jahrhundert sichtlich zurück. In der Teuerung 1805 nahm diese noch um 30,77 Prozent ab, während 1816/1817 und 1846/1847 entsprechende Reaktionen vermissen lassen. Ob ein leichter Einbruch um 20,5 Prozent 1843 analog zu Rußdorf mit der damaligen Strumpfwarenabsatzkrise zusammenspielt, bleibt angesichts der um 1840 noch relativ wenigen ansässigen Strumpfwirker fraglich. Im Laufe des 19. Jahrhunderts treten Korrelationen der Bräunsdorfer Konzeptionszahlenkurve mit Preis- und Konjunkturzyklen immer seltener mit nachlassender Deutlichkeit auf und fallen nach 1850 gänzlich weg, indem mit Preisspitzen beispielsweise keinerlei signi kante und vor allem einheitliche Wandlungen einhergingen. Aber auch der gewerblichen Entwicklung trugen die Bräunsdorfer Konzeptionszahlen nicht eindeutig Rechnung. Der Gründerkrach 1873 und die Große Depression vermochten den Anstieg der Geburtenrate in den 1870er und 1880er Jahren ebenso wenig zu verhindern, wie die im Ganzen gesamtwirtschaftliche Hochphase zwischen 1895 und 1914 der gleichzeitigen Konzeptionsregression entgegenwirkte. Ebenso verursachte die Hyperin ation 1923 keine bedeutenden Einbrüche. Allerdings deckt sich eine Phase der Zeugungsunlust 1929–1933 auffällig mit der unmittelbaren Wirkungszeit der Weltwirtschaftskrise von 1929. Epidemische Erscheinungen und militärische Kon ikte wurden in Bräunsdorf demgegenüber während des gesamten Untersuchungszeitraums selten von sinkenden Konzeptionszahlen begleitet. In zwei Jahren eines krankheitsbedingten Mortalitätshochs gingen die Zeugungen stark zurück. Die „rothe Ruhr“ grassierte 1751. Zeitgleich verringerten sich die Konzeptionen um ein Drittel und verharrten auch im Folgejahr auf diesem niedrigen Niveau. Der zweite stärkere Einbruch um 46,15 Prozent ging mit einer Blatternepidemie 1767 einher. Dennoch spricht einiges gegen einen ursächlichen Zusammenhang dieser Ereignisse. Weder zuvor noch danach zeitigte eine bekannte Seuche derartige Auswirkungen. Die Pest ging 1641 um, während die Konzeptionen zunahmen. Gleiches ist 1685 bei den Blattern, 1806 bei der Ruhr, 1814 und 1857 beim Typhus oder 1887 während der Masern zu beobachten. Überdies ging den Konzeptionseinbrüchen 1751 und 1767 jeweils ein erheblicher momentaner Spitzenwert voraus, sodass sich die
102
GEBURTIGKEIT
Rückgänge auch als natürliche Folge zufälliger Geburtenhäufung und Laktationsamenorrhoe interpretieren lassen. Inwiefern schließlich die verschiedenen militärischen Kon ikte mit sächsischer Beteiligung auf die Bräunsdorfer Bevölkerungsweise einwirkten, lässt sich nur bedingt nachvollziehen, da der Dorfraum selbst bzw. dessen Bevölkerung meist nur mittelbar einbezogen wurden. Sicherlich war der Dreißigjährige Krieg jener militärische Kon ikt innerhalb der betrachteten Zeit mit den spürbarsten Auswirkungen. Zwar irrt Strohbach, wenn er die hohe, pestbedingte Sterbeziffer von 1641 auf „die große Not der Bevölkerung“ zurückführt. 349 Dennoch belegen die Quellen, dass Bräunsdorf von den Truppendurchmärschen, Einquartierungen und marodierenden Haufen, unter denen die schönburgischen Lande in den 1630er und 1640er Jahren litten, nicht ausgenommen blieb. Der Kaufunger Bauer Valten Heintzig wurde hier 1632 von einem Kroaten erschossen 350 und 1640 brannte die örtliche Kirche ab, nachdem schwedische Soldaten darin kampiert hatten. 351 Noch 1670 wird eine Aufstellung des Kircheninventars mit den Worten überschrieben: „Weil des Krieges Fieber, den meisten vorrath verzehret [...].“ 352 Insofern mögen die in den 1680er und 1690er Jahren auf mehreren Bräunsdorfer Gütern lastenden Schulden unbekannten Ursprungs ebenfalls noch vom Dreißigjährigen Krieg herrühren. 353 Siegfried Frenzel geht gar von einer 80-prozentigen Zerstörung der dörflichen Bausubstanz aus. 354 Vor diesem Hintergrund hatte das Konzeptionstief der Jahre 1640–1644 sicherlich keinen zufälligen Charakter. Die Auswirkungen des Großen Nordischen Krieges 1700–1706 auf die Bräunsdorfer Bevölkerung sind hingegen keinesfalls an ihrer Fertilität ablesbar. Diverse Gerichtsbucheintragungen deuten an, wie die sächsische Bevölkerung unter der schwedischen Besatzung 1706 litt. Der Hausgenosse und Leinwandhändler George Aurich (1680– 1753) kaufte 1709 einen offenbar schon zuvor von ihm bewohnten Garten, auf welchem unter anderem Schulden in Höhe von 14 Gulden 16 Groschen und zehn Pfennigen lasteten, „So Käuffer bey den Schwedischen Wesen hergeliehen“. 355 Zwei Jahre später verkaufte der Bräunsdorfer Gerichtsherr Heinrich Haubold Edler v. d. Planitz ein Pferdefrongut, das „Hanß Leßig bey denen neulichsten Schwedischen contributionen abgetreten“. 356 Zur selben Zeit sahen sich auch die Pferdebauern Tobias Reim und George Ludwig dazu ge349 350 351 352 353 354 355 356
Strohbach, Dorfbuch, S. 108. „Valtin Heintzig wird den 9 Novemb. zu Breunsdorff von Crabaten [Kroaten, Anm. d. A.] erschoßen, und den 16 alhier begraben.“ EPA Kaufungen, KB I, Beerdigungen 1631, Nr. 23. Vgl. EPA Bräunsdorf, KB I: Kirchbuch 1640–1795, Taufen 1640, Nr. 5, nachträglich wahrscheinlich von Pfarrer Leupold (im Amt 1709–1728) eingefügte Notiz. Bräunsdorfer Kirchenvisitation 1670, zitiert nach: Strohbach, Dorfbuch, S. 225. HstA-D, 12613 GB Limbach, Nr. 1, fol. 95, fol. 139, fol. 216, fol. 253b, fol. 264, fol. 267, fol. 278. – Ebd. Nr. II, fol. 1, fol. 50, fol. 144, fol. 148, fol. 173, fol. 289. Vgl. Frenzel, Geschichte, S. 38. HstA-D, 12613 GB Limbach, Nr. 2, fol. 236b ff. Ebd., fol. 242. – Hanß Läßig hatte das Gut seinerseits 1705 von der Gerichtsherrschaft mit 50 Gulden zwei Groschen elf Pfennig darauf lastender Schulden erkauft. Der Besitz war offenbar bereits während des Dreißigjährigen Krieges
ENTWICKLUNG DER GEBURTENZAHLEN
103
zwungen, ihre Güter an die Gerichtsherrschaft zurückzugeben. Allerdings hatten beide den Besitz 1700 bzw. 1698 mit hohen Schulden, die wahrscheinlich von der Kriegszeit 1618–1648 herrührten, übernommen. 357 Unter den Anfang des 18. Jahrhunderts verschuldeten Bräunsdorfer Gütern fand sich keines, das nicht bereits vor 1706 in Kalamitäten steckte. Kleinstellen, die drückenden, existenzbedrohenden Belastungen theoretisch am ehesten ausgesetzt gewesen wären, schienen kaum betroffen. Die Kontributionen der Schwedenzeit waren demnach sicherlich drückend, stellten aber für unverschuldete Bevölkerungsteile kein existenzielles Problem dar, welches das generative Verhalten hätte negativ beein ussen können. Selbiges hat für die übrigen militärischen Kon ikte des 18. Jahrhundert mit sächsischer Beteiligung Geltung, sodass Konzeptionsrückgänge zur Zeit des Ersten und Zweiten Schlesischen Krieges sowie des Bayerischen Erbfolgekrieges 1779 nicht auf deren ökonomische Folgen zurückzuführen sind. Ebenso liegen jenem der Jahre 1756/1757 die Handlungen des Siebenjährigen Krieges wahrscheinlich nicht unmittelbar zugrunde. Im Beerdigungseintrag des damaligen Bräunsdorfer Pfarrers Johann Christian Loos wird seine Amtszeit mit den Worten zusammengefasst: „hat in dieser Zeit viel Noth allhier erfahren, indem er gleich zu der Zeit anzog, wie der 7 Jährige Preußische Krieg, als 1756 angieng, welchen er hier ausgestanden und große Gefahr auch große Theurung erfahren hat“. 358 Offen bleibt, ob mit dem Terminus „große Gefahr“ auf eine konkrete, von der Dorfbevölkerung erlebte Situation oder ein allgemein empfundenes Unsicherheitsgefühl angespielt wird. Inwieweit die Napoleonischen Kriege zur teils deutlichen Abnahme der Konzeptionszahl in den Jahren 1796, 1798/1799, 1805, 1808 und 1812/1813 beitrugen, ist unsicher. Zweifelsohne erfuhr die Bräunsdorfer Bevölkerung Aspekte des Krieges am eigenen Leib. Eine „Copulation geschahe wegen hier eingerückter Soldaten, die zum Reichscontingente marschirten erst den 27sten Januar“ 1795 359, 1807 musste eine Milizfuhr nach Waldenburg gestellt und im Januar desselben Jahres auf jeder Magazinhufe eine zusätzliche Belastung über acht Groschen hingenommen werden. Ende 1811 wurde eine außerordentliche, von Januar bis Juni 1812 auf Landbesitz erhobene Quatembersteuer eingeführt. Damit nicht genug, rückten die Kämpfe nach Zeitzeugenberichten 1813 bis in die unmittelbare Nähe des Dorfes. Die Sichtung „fremder Soldaten“ versetzte den Ort in Alarmbereitschaft. Auf einem lokalen Grundstück sollen gar russische
357 358 359
stark in Mitleidenschaft gezogen worden. Georg Kühnrich erstand ihn 1659 im Zuge einer Zwangsversteigerung von seinem Vater und hatte das Gut „sieder dem aber auffgebauet“, bevor er es 1692 an seinen Eidam Martin Heinig gegen 30 Gulden weitergab. Diese äußerst geringe Kaufsumme zeugt von einer noch immer sehr schlechten nanziellen Verfassung des Besitzes. Vgl. ebd., fol. 191 f. u. fol. 67ff. Vgl. ebd., fol. 245ff. u. fol. 256 ff. EPA Bräunsdorf, KB I, Beerdigungsregister 1766, Nr. 16. Ebd., Hochzeitsregister 1794, Nr. 2.
104
GEBURTIGKEIT
Soldaten begraben sein. 360 Dergleichen Ereignisse wiederholten sich erst während des Zweiten Weltkrieges. Zwischen 1815 und 1914 waren zwar auch Bräunsdorfer Soldaten an den Deutschen Einigungskriegen zwischen 1864 und 1871 beteiligt, jedoch nicht in demographisch relevanten Größenordnungen. Ein üsse dieser Großereignisse auf das generative Verhalten der Bräunsdorfer sind nicht nachweisbar. Dem Ersten Weltkrieg sind als einzigem militärischem Kon ikt des Untersuchungszeitraums im Bräunsdorfer Fall klare demographische Folgen anzulasten. Strohbach gibt die Zahl der ortsansässigen Kriegsteilnehmer mit 86 an, von denen 47 den Kriegshandlungen zum Opfer elen. 361 Die meist jungen, nicht selten ledigen Männer unter 30 gingen folglich im Nachhinein der Reproduktion ab. Doch schon während des Krieges machte sich die Abwesenheit junger Familienväter in 1915 bis 1918 äußerst niedrigen Konzeptionszahlen sowie einem unmittelbar folgenden Konzeptionshoch aufgrund „aufgeschobener“ Zeugungen unzweifelhaft bemerkbar und zeichnet hierdurch analog zum Rußdorfer Fallbeispiel das charakteristische Bild einer demographischen Krise alten Typs.
Zusammenfassung Im direkten Vergleich zeigen beide untersuchte Ortschaften im Großen und Ganzen ähnliche Geburtigkeitsentwicklungen. Bis zum Beginn des 18. Jahrhunderts verlaufen sie weitgehend parallel, wobei sich Rußdorf zwischen 1730 und 1789 langsam als geburtenstärkerer Ort etabliert. Danach vergrößert sich die Differenz infolge des exponentiellen Wachstums der Rußdorfer Werte zusehends. Zwischen den 1750er Jahren, während derer in Bräunsdorf lediglich zwei Kinder weniger zur Welt kamen, und dem jeweiligen Geburtenhoch der 1890er Jahre liegt für Rußdorf ein Wachstum um 801,72, für Bräunsdorf dagegen nur eines um 262,79 Prozent. Bereits zuvor wiesen die Rußdorfer Geburtenkohorten seit Mitte des 17. Jahrhunderts gegenüber den Bräunsdorfern (8,61 %) eine deutlich höhere mittlere Wachstumsrate (14,67%) auf. Die Bevölkerungsweisen beider Dörfer werden im 17. Jahrhundert von einem Geburtentief, im 18. und in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts von einer sukzessiven -zunahme sowie in der zweiten Hälfte des 19. und im frühen 20. Jahrhundert von einer -explosion mit angeschlossenem massivem -rückgang charakterisiert. Insofern folgen sie zumindest nach 1800 dem sächsischen Beispiel und tragen für die Industrialisierungsperiode typische Merkmale eines demographischen Wandels, etwa den rapiden Anstieg der Geburtigkeit bis 1890 und deren extreme Degression bis in die 1930er weit unter das vormalige Niveau binnen insgesamt lediglich 50 Jahren. 360 361
Vgl. Strohbach, Dorfbuch, S. 110f. Vgl. ebd., S. 114ff.
ENTWICKLUNG DER GEBURTENZAHLEN
105
Abbildung 7: Geburtenzahlen nach Dekaden für Sachsen, Rußdorf und Bräunsdorf im Vergleich
Unterschiede zwischen den Untersuchungsorten bestehen zuweilen in der Intensität ablaufender Prozesse. Das stärker aktiv an der Industrialisierung teilnehmende Rußdorf erlebte einen um drei Jahrzehnte längeren tendenziellen Anstieg des absoluten Geburtenniveaus im 19. Jahrhundert sowie eine weit extremere Explosion in den 1880er Jahren. Im Vergleich zur sächsischen Entwicklung nach 1830 fällt der beiderseits um ein Jahrzehnt früher beginnende Rückgang der Geburtigkeit sowie eine zeitweilige latente Parallelität der Bräunsdorfer Kurve bis etwa 1899 bzw. der Rußdorfer im frühen 20. Jahrhundert auf (Abb. 7). Während sich in den betrachteten Ortschaften soziostrukturelle Wandlungen im 18. Jahrhundert nebst solchen der Bevölkerungsweise im 17. sowie 19./20. Jahrhundert als Ursachen langfristiger Geburtigkeitsverläufe andeuten, fällt es schwer, temporal begrenzte Ausschläge mit dem Auftreten positiver Hemmnisse eindeutig zu verbinden. Zweifelsohne reagierte das Geburtenverhalten auf Hunger, Krankheiten, Kriege und vor 1850 teilweise mutmaßlich auch auf die Getreidepreisentwicklung. Allerdings korrelierten weder mit denselben krisenhaften Erscheinungen in den Nachbardörfern noch mit verschiedenen Ereignissen gleicher Couleur selbst innerhalb eines Dorfes unter grundsätzlich übereinstimmenden Umgebungsbedingungen konsequent identische Veränderungen der Geburtenzahl. Mehrfach erscheinen derartige Ausschläge in Krisenzeiten zudem typisch, ohne originär zu sein, d. h. vergleichbare bis stärkere fanden auch ohne bekannte Krisen statt. Eine eindeutige Verbindung ist daher auszuschließen. Vielmehr bestimmte ein komplexes System an Determinanten, ob ein Ereignis, ein Bündel
106
GEBURTIGKEIT
von Ereignissen oder ein Prozess letztendlich positiv oder negativ auf die Geburtigkeit wirkte. In gleicher Weise bestätigt sich Gouberts in ihrem Allgemeingültigkeitsanspruch inzwischen vielfach kritisierte These für die Untersuchungsorte nicht, zumal es für eine zuverlässige Einschätzung Berichten über die allgemeine Wirtschaftskraft der Einwohnerschaften und der jährlichen Erträge entbehrt. Vor allem die Bauern saßen bei der Getreidepreisentwicklung zwischen den Stühlen. Die landwirtschaftlichen Erträge waren niemals ächendeckend gleich, konnten gar innerhalb einer Nachbarschaft extrem differieren. Hohe Getreidepreise indizieren eine allgemein schlechte Ernte. Wer in dieser Zeit Getreide verkaufen konnte, pro tierte davon, wessen Frucht verdorben war, litt. Umgekehrt brachten niedrige Preise auf den Verkauf angewiesene kleine Produzenten unter Umständen schnell an den Rand des Ruins, dieweil sie bei lokal geringen Erträgen davor bewahren konnten. Die in den betrachteten Ortschaften seit dem 17. Jahrhundert zunehmende Durchsetzung der traditionellen Bauernschaft durch Kleinbauern und unterbäuerliche Schichten erschwert eine zuverlässige Interpretation zusätzlich.
4.2 SAISONALE GEBURTENVERTEILUNG Die saisonale Verteilung der Geburten bzw. Konzeptionen liefert wertvolle Hinweise auf den ökonomischen Fingerabdruck einer Gesellschaft zu einem gegebenen Zeitpunkt einerseits sowie die Bevölkerungsweise beein ussende Faktoren andererseits. Stellen landwirtschaftliche Arbeit und Produktion die hauptsächliche Erwerbsquelle dar, folgt das generative Verhalten in der Regel anderen Gesetzmäßigkeiten als bei primär gewerblich bzw. industriell ausgerichteten Wirtschaften. Die Häu gkeitsverteilung der Geburten kennt üblicherweise weitaus geringere Schwankungen als jene der Heiraten und Todesfälle. Vorindustrielle Agrargesellschaften werden von einer diesbezüglichen Dreiteilung des Jahres gekennzeichnet. Nach P ster häufen sich Konzeptionen unter starker Orientierung am mitteleuropäischen landwirtschaftlichen Arbeitsjahr in der Zeit von April bis Juli. Während der arbeitsreichen Ernteperiode in Spätsommer und Herbst erfolgen hingegen die wenigsten Zeugungen. Die Monate Dezember bis März stehen mit einer tendenziell steigenden, sich aber stets um das Jahresmittel gruppierenden Konzeptionszahl zwischen den beiden übrigen Phasen. Infolgedessen erfolgt ein überdurchschnittlicher Teil der Geburten in den arbeitstechnisch ruhigeren Spätwinter- und Frühjahrsmonaten, in denen die Arbeitskraft der Frauen eher abkömmlich ist und einem Säugling so erhöhte Aufmerksamkeit zugemessen werden kann. Dies wiederum steigert dessen Überlebenswahrscheinlichkeit. 362 Davon abgesehen durfte eine Wöchnerin das Haus 362
Vgl. P ster, Christian, Bevölkerungsgeschichte und Historische Demographie 1500–1800, München 1994, S. 33.
SAISONALE GEBURTENVERTEILUNG
107
traditionell erst sechs Wochen nach der Geburt wieder verlassen und freilich führte der erste Gang zur Einsegnung in die Kirche. 363 Fraglich ist, inwiefern diese ungleiche Konzeptions- bzw. Geburtenverteilung etwa durch verminderte Fruchtbarkeit infolge harter Arbeit biologisch determiniert ist oder aber auf bewusste Kontrolle durch die Eltern unter Berücksichtigung des Kindeswohls bzw. des arbeitsökonomisch günstigsten Geburtszeitpunkts zurückgeht. 364 Ungeachtet der diskutablen Ursachen jenes vorindustriellen Musters sollten sich die Geburten mit zunehmendem Industrialisierungsgrad einer Gesellschaft bzw. deren zunehmender Entfremdung von einem hauptsächlich in saisonalen Zyklen funktionierenden Wirtschaftsgefüge deutlich gleichmäßiger über das Jahr verteilen. Wird überwiegend in festen zeitlichen Rhythmen gearbeitet, werden Fruchtbarkeitsschwankungen durch eine weitgehend kontinuierliche körperliche Gleichbelastung größtenteils vermieden. Dies nimmt der Geburtenplanung die Notwendigkeit, sich nach zyklisch wiederkehrenden Arbeitsspitzen zu richten. Im Monschauer Land beobachtete A. Schmalz seit Mitte des 19. Jahrhunderts einen Rückgang saisonaler Geburtigkeit, den zum Beispiel auch Knodel 365 und Wrigley 366 beschrieben. Für die nachfolgende Betrachtung wurden die Konzeptionen auf Basis der Geburten bzw. maximal in dreitägigem Versatz statt ndenden Taufen errechnet. Leichte Verfälschungen sind der einheitlichen Subtraktion der Regelschwangerschaftszeit freilich inhärent. Schließlich sind verfrühte Geburten selten gekennzeichnet. Ein monatlicher Index nach Wrigleys Vorbild erleichtert die Vergleichbarkeit. Dabei steht 100 für den theoretischen Anteil eines Monats bei Gleichverteilung der Zeugungen über das Jahr. Den unterschiedlichen Monatslängen wurde ebenso Rechnung getragen, wie Schaltjahre mittels Annahme einer Jahreslänge von 365,25 Tagen Beachtung fanden. Rußdorf Ein erheblicher sozioökonomischer Umbruch sollte sich deutlich in einer veränderten saisonalen Verteilung der Geburten widerspiegeln. Rußdorf durchlebte ohne Frage zwischen dem 16. und 20. Jahrhundert einen eindringlichen Wandlungsprozess. Originär ein reines Bauerndorf, erfüllte es am Ende des Untersuchungszeitraums die Charakteristika eines Industriedorfes, für dessen exponentiell gewachsene Bevölkerung landwirtschaftliche Erwerbsarbeit nur mehr eine untergeordnete Rolle spielte.
363 364 365 366
Vgl. Meinel, Kinderleben, S. 16. Vgl. P ster, Bevölkerungsgeschichte, S. 90. Vgl. Schmalz, Alexander, Historische Demographie mittels Familienrekonstitution. Die Bevölkerung des Monschauer Landes im 19. Jahrhundert, Bonn 2007, S. 101. Vgl. Scho eld/Wrigley, Population, S. 286ff.
108
GEBURTIGKEIT
Abbildung 8: Monatlicher Index der Rußdorfer Konzeptionen
Dennoch genügen die Änderungen des saisonalen Zeugungsverhaltens dem beschriebenen Modell P sters nur bedingt. Zu uneinheitlich erscheinen die jährlichen Verteilungsmuster. Dem genannten dreiphasigen Agrartypus wird in lediglich sechs von 35 Jahrzehnten entsprochen (1590/1599, 1620/1629, 1670/1679, 1690/1699, 1730/1739, 1740/1749), die theoriegemäß sämtlich im vorindustriellen Zeitraum angesiedelt sind. Jedoch werden diese noch in derselben Zeit und darüber hinaus durch insgesamt zwölf Dekaden (1610/1619, 1640/1649, 1650/1659, 1710/1719, 1720/1729, 1790/1799, 1820/1829, 1860/1899, 1920/1929), in denen Konzeptionshäufungen während des landwirtschaftlich arbeitsintensivsten Jahresdrittels auftreten, kontrastiert. Von konsequent gültigen, einander ablösenden Typen saisonaler Verteilungsmuster kann im Rußdorfer Fall aus statistischer Sicht keine Rede sein. Nichtsdestotrotz sind die monatlichen Schwerpunkte Veränderungen unterworfen. Bis Mitte des 18. Jahrhunderts entfallen Konzeptionsspitzen in elf von 17 Dekaden auf die Monate April bis Juli. Gleichzeitig differieren die Anteile der Jahresdrittelwerte an der Gesamtkonzeptionszahl oft erheblich um bis zu 29,77 Prozent (Ø 12,85 %). Über die anschließenden 110 Jahre verlagerte sich der Konzeptionsschwerpunkt in neun Dekaden auf die Zeit von Dezember bis März, bei einer maximalen Tertialwertedifferenz von 11,69 Prozent (Ø 6,89%). Zwischen 1860 und 1929 zeigten die Rußdorfer schließlich während fünf Dekaden in den Monaten August bis November eine gehäufte Zeugungs-
109
SAISONALE GEBURTENVERTEILUNG
Tabelle 3: Monatliche Verteilung der Rußdorfer Konzeptionen (Angaben in %) Jan. 1582–1629 1630–1679 1680–1729 1730–1779 1780–1829 1830–1879 1880–1935
Nov.
Dez.
7,53 5,33
Feb. 6,90 8,27
März
8,16 11,92 7,74 11,09 5,87 8,53 12,27 8,27
April
Mai
Juni
Juli 6,69 8,27
Aug. 6,28 7,73
Sept. 5,02 8,00
Okt.
9,00 10,04 8,27 9,60
9,62 9,60
7,84 9,46
5,70 7,36
6,95 9,04
9,09 8,94
9,09 8,10
8,38 8,83
8,20 8,41
7,31 7,89
8,56 5,99
8,56 6,94
9,63 10,70 8,52 10,52
8,24
7,10
9,77
7,93
7,74
8,24
8,88
8,37
7,55
8,69
8,43
9,07
8,50
8,12
9,50
7,88
7,30
7,54
8,19
8,09
8,71
8,47
8,40
9,29
7,92
7,26
9,51
7,81
7,63
8,39
8,74
8,92
8,69
8,20
8,26
8,67
tätigkeit. Der maximale Schwankungsrahmen verkleinerte sich weiter auf 5,74 Prozent (Ø 3,98 %). Hierin zeichnen sich drei Phasen ab. Gehäufte Konzeptionen in den landwirtschaftlich arbeitsschwachen Monaten und ein Geburtenschwerpunkt im ersten Tertial des Jahres sind offenbar ebenso typische demographische Charakteristika der anfänglichen Rußdorfer Agrargesellschaft wie markante quantitative saisonale Schwankungen der Geburtigkeit. Dem steht in temporaler Überschneidung mit der Fabrikindustrialisierung des Limbacher Raums ein von geringen bis marginalen jahreszeitlichen Ausschlägen gekennzeichneter, industriegesellschaftlicher Typus generativen Verhaltens gegenüber, der sich mit leichten konzeptiven bzw. natalen Spitzen in den aus agrarökonomischer Sicht ungünstigen Monaten vom landwirtschaftlichen Arbeitsjahr losgelöst gibt. Insofern kann die dazwischenliegende Übergangsphase mit ihrem in den Wintermonaten angesiedelten Konzeptionsschwerpunkt sowie den abgemilderten, aber noch immer signi kanten Schwankungen des Tertialwerts als protoindustrielle Erscheinungsform saisonalen generativen Verhaltens verstanden werden. Der monatliche Konzeptionsindex über die Jahrhunderte (Abb. 8) bestätigt diese Beobachtungen im Ganzen. Bereits im 18. Jahrhundert nähert sich die Kurve einer Gleichverteilung merklich an, hält dabei aber an überdurchschnittlichen Werten in November und Dezember sowie unterdurchschnittlicher Fertilität von August bis Oktober fest. Während des 19. Jahrhunderts gehören diese hingegen zu den konzeptionsstärkeren Monaten. Im Kontrast zum mutmaßlich agrarwirtschaftlichen Verhalten gewann der März nach 1700 nachhaltig an Attraktivität, während vor allem April und Mai die ihre einbüßten. Die Ursachen bleiben offen.
Bräunsdorf Für das direkt angrenzende Nachbardorf galten indes auf den ersten Blick andere Gesetzmäßigkeiten. Obwohl dieses zu Beginn der Kirchbuchüberlieferung gleich Rußdorf alle Merkmale eines Agrardorfes trug bzw. bereits eine protoindustrielle Entwicklung erlebte, ähneln sich die Konzeptionsverteilungsmuster nur rudimentär.
110
GEBURTIGKEIT
Im Bräunsdorfer Fall zeigen lediglich fünf von 29 Dekaden (1650/1659, 1710/1719, 1740/1749, 1760/1769, 1770/1779), die auffällig im 18. Jahrhundert konzentriert sind, das eingangs beschriebene, theoretisch für rurale Gesellschaften charakteristische Tertialwerteverhältnis. Zwar überwogen die Konzeptionen der Monate April bis Juli zusätzlich in den 1690er Jahren quantitativ leicht gegenüber jenen der übrigen Jahresdrittel, jedoch stehen mehrfache klare Dominanzen spätsommerlicher und herbstlicher Zeugungen 1640–1649 bzw. 1670–1689 in klarem Kontrast zum erwartbaren Bild einer majorativ auf agrarische Erwerbsarbeit ausgerichteten und dadurch zwangsläug am landwirtschaftlichen Jahr orientierten Bevölkerung, als welche die Bräunsdorfer des 17. Jahrhunderts zweifelsohne zu betrachten ist. Insgesamt überwogen Konzeptionshäufungen im agrarwirtschaftlich intensivsten Jahresabschnitt in 13 Jahrzehnten (1640/1649, 1670/1679, 1680/1689, 1700/1709, 1730/1739, 1780/1789, 1830/1839, 1840/1849, 1850/1859, 1860/1869, 1890/1899, 1900/1909, 1920/1929). Insbesondere die große Streuung der saisonalen Häu gkeitsverteilungsmuster während der primären 100 Jahre erschwert es, klare Perioden einzugrenzen. In Anlehnung an das Rußdorfer Beispiel werden dennoch drei Phasen ersichtlich. Zwischen 1640 und 1779 treten immerhin in 50 Prozent der Dekaden Konzeptionshöchststände in der Zeit von April bis Juli auf, was danach bis 1929 ausbleibt. Gleichzeitig differieren die Tertialwerte generaliter um bis zu 21,05 Prozent (Ø 10,54 %). Eine über die Wintermonate gehobene Zeugungsfreudigkeit konzentriert sich auf die fünf anschließenden Dekaden, wobei die zuvor statistisch bedeutendste Saison meist die zweithöchsten Werte aufweist. In dieser Zeit treten zwischen den Konzeptionszahlen der Jahresdrittel nur
Abbildung 9: Monatlicher Index der Bräunsdorfer Konzeptionen
111
SAISONALE GEBURTENVERTEILUNG
mehr Schwankungen bis 10,94 Prozent auf (Ø 6,12 %). Die verbleibenden zehn Dekaden hindurch liegt der Zeugungsschwerpunkt wiederum vorrangig in den landwirtschaftlich theoretisch ungünstigsten Monaten August bis Oktober bei maximal 7,10 Prozent (Ø 4,03 %) betragenden Tertialwertdifferenzen. Tabelle 4: Monatliche Verteilung der Bräunsdorfer Konzeptionen (Angaben in %) März
April
1630–1679 1680–1729
Jan. 9,90 9,20
6,77 6,86
6,25 7,45
9,11 8,61
1730–1779
8,60 9,74
8,14 8,35
8,05 8,61
8,35 6,64
1780–1829 1830–1879 1880–1935
Feb.
Mai
Juni
Juli
Aug.
Sept.
Okt.
Nov.
Dez.
8,59 8,07 6,72 10,07
7,03 8,03
9,11 8,03
7,81 6,72
8,59 7,81 10,94 7,88 10,66 9,78
8,37 10,41 9,05 7,12
7,81 8,89
8,03 8,20
9,28 8,20
6,45 8,58
7,69 6,81
7,81 7,35
7,47 8,35
9,95 9,36
7,60 9,16
7,85 7,94
8,05 8,06
7,10 8,25
9,21 8,89
9,01 8,45
8,15 8,81
8,61 8,89
8,96 8,10
9,06 8,21
Unterschiede zu Rußdorf bestehen vor allem in der temporalen Eingrenzung der einzelnen Phasen. So orientierte sich die Bräunsdorfer Bevölkerung zu maßgeblichen Teilen etwa 30 Jahre länger an den landwirtschaftlichen Produktionszyklen, zeigte dagegen aber im Hinblick auf den durchschnittlichen jährlichen Konzeptionsschwerpunkt schon 30 Jahre eher Merkmale „industrieller“ saisonaler Geburtigkeit. Der monatliche Konzeptionsindex nach Jahrhunderten (Abb. 9) bestätigt diese Beobachtungen im Ganzen. Im 18. Jahrhundert nähert sich die Kurve einer Gleichverteilung merklich an, hält aber noch an überdurchschnittlichen Werten in Dezember/Januar und April/Juni sowie unterdurchschnittlicher Fertilität in August und September fest. Während des 19. Jahrhunderts gehören diese gar zu den konzeptionsstärksten Monaten. Als einziger Jahresabschnitt weist der immer von einem Einbruch begleitete Mai durchgängig dieselbe Tendenz auf. Des Weiteren fällt in Anlehnung an das Rußdorfer Beispiel eine neuerliche Zunahme der Schwankungen im 20. Jahrhundert auf, welche in ihrer Ausprägung fast an die anfängliche Situation des 17. Jahrhunderts gemahnen und sich einer Erklärung entziehen.
Zusammenfassung In beiden untersuchten Mikroregionen stützt die mit der industriellen Evolution einhergehende zunehmende Verteilungsgleichmäßigkeit der Konzeptionen im Jahresverlauf das bei der Geburtenzahlenentwicklung angedeutete Bild einer demographischen Entfremdung von den originär relevanten natürlichen Umweltein üssen, sofern der Interpretation P sters gefolgt wird. Schmalz führte die charakteristischen Häufungen im Frühjahr demgegenüber auf eine „romantische Vorstellung des menschlichen Sexualverhaltens“ zurück und begriff die Sommer aute als Folge einer entsprechenden vorheri-
112
GEBURTIGKEIT
gen Konzeptionskonzentration. Ferner argumentierte er, das typisch landwirtschaftliche Muster sei auch in stark gewerblich geprägten Landschaften anzutreffen. 367 Manches widerspricht auch im Fall der Untersuchungsorte einem unmittelbaren bzw. ausschließlichen Zusammenhang zwischen Ökonomie und Fertilität. Dazu zählt die von Beginn an starke Variabilität monatlicher Schwerpunkte in den Dekadenkohorten, die freilich auf zu geringe Fallzahlen zurückgehen könnte, ebenso wie die neuerliche Zunahme der Schwankungen im 20. Jahrhundert. Nicht viele Faktoren besitzen das Potential, gesamtgesellschaftlich auf das sexuelle Verhalten Ein uss zu nehmen. Ist die Berechtigung zur Reproduktion an die Ehe gebunden, liegen Ziel und Verantwortung eines Ehepaares darin und geht mit dem Reproduktionserfolg soziale Anerkennung einher, würden mehr noch als bei gänzlich zwanglosem individuellem Kinderwunsch Erstkonzeptionen baldmöglichst an die Hochzeit anschließen und somit zeitlich durch sie determiniert. Gleiches gelte, wenn ohne wirksame Verhütungsmethoden unehelicher Geschlechtsverkehr Teil üblicher Eheanbahnung wäre. Auf den Zeugungszeitpunkt von Nachkommen zweiten oder höheren Ranges wirkte dies allerdings kaum. Angesichts mittlerer familiärer Kinderzahlen (Kap. 7.1), die bis zum Ersten Weltkrieg in den betrachteten Dörfern deutlich über eins lagen, ist keine prägende Rolle der saisonalen Heiratsverteilung auf die Saisonalität der Konzeptionen zu erwarten. Erhebliches Ein usspotential bergen in Gesellschaften hoher Religiosität Glaubensregeln und -zwänge. Der evangelisch-lutherische Protestantismus, welcher auf sächsischem Gebiet während des Untersuchungszeitraums regierte, predigte unter anderem binnen zweier vierzigtägiger Fastenperioden vor Weihnachten und Ostern Enthaltsamkeit, die sexuelle eingeschlossen. Wurde dem mehrheitlich Folge geleistet, müssten Konzeptionsminima vor allem im März und im November /Dezember sowie -maxima durch vorgreifende oder nachholende Sexualität erkennbar sein. Während die Adventszeit durchweg mit überdurchschnittlicher Zeugungslust zu Buche schlägt, demnach als Fastenperiode nachgeordnete bis keine Bedeutung im Alltag beanspruchte, war dem März in beiden Untersuchungsorten während des 17. Jahrhunderts der tiefste, die Sommeraute in den Schatten stellende Einbruch eigen. Daran schloss sich theoriegemäß ein Ersatzhoch im April an. Von einer direkten ursächlichen Verbindung mit der Fastenzeit ist auszugehen. Bereits im 18. Jahrhundert schwand die Religiosität jedoch offensichtlich, indem sich die Bräunsdorfer Zeugungen nun relativ gleichmäßig über das Frühjahr verteilten und die Rußdorfer kontrastierend gar einen Gipfel im März, gefolgt von einem Abfall bis zum Mai zeigten. Letztendlich vermögen zweifelsohne auch wirtschaftliche Faktoren die saisonale Fertilität zu beein ussen. Dies kann bewusst mit dem Ziel erfolgen, Geburten möglichst in arbeitstechnisch günstigere oder für das Kindeswohl vorteilhafte Zeiträume zu legen. 367
Vgl. Schmalz, Familienrekonstitution, S. 100f.
TAUFVERHALTEN
113
Teils bewusst, teils unbewusst erscheint sexuelle Müdigkeit in Monaten hoher körperlicher oder psychischer Belastung, die freilich unter Umständen bei erfolgendem Geschlechtsakt die Zeugungs- bzw. Empfängnisfähigkeit mit ähnlichem Konzeptionserfolg herabsetzen. Die sich in die Zeit von Juli bis September konzentrierenden, kraftzehrenden Erntearbeiten lieferten in ruralen Gesellschaften probate Gründe sinkender Fertilität wie Zeugungslust. Tatsächlich bleiben die Monate in beiden Untersuchungsorten bis ins 18. Jahrhundert mit degressiver Tendenz unterdurchschnittlich frequentiert. Danach schwand die statistisch sichtbare Bedeutung des landwirtschaftlichen Jahres, da unterbäuerliche, relativ kontinuierlicher gewerblicher Arbeit nachgehende Bevölkerungsteile nun in die Mehrheitsposition gerieten. Ob indes bewusste Schwangerschaftsplanung betrieben wurde, ist anhand der Konzeptionszahlen nicht zu ermitteln, zumal die Fixierung entweder auf Mutter respektive Familienökonomie oder Kind differierende Strategien nahelegten. So mochte es für die Überlebenswahrscheinlichkeit eines Säuglings im subsistenzwirtschaftlichen Umfeld vorteilhaft gewesen sein, in den Sommer- oder Frühherbstmonaten zur Welt zu kommen, was sich mit der zum Jahresende steigenden Zeugungslust deckte, doch ging selbst bei einer Geburt im Juli die Arbeitskraft der Mutter in der jede Hand benötigenden Erntezeit wenigstens teilweise verloren. Die sich ab dem 19. Jahrhundert schon in August und September zeigenden Konzeptionshäufungen wären hingegen bei der mehrheitlich gewerblichen Ausrichtung der Gesellschaft nicht von Nachteil gewesen. Wiewohl spekulativ bleibt, welche Prinzipien den relativ deutlich hervortretenden saisonalen Zeugungshäufungen zugrunde lagen, sprechen die Indizien für einen Einuss sowohl soziokultureller wie ökonomischer Faktoren, den bereits Wrigley für das englische Beispiel vermutete 368. Deren strukturabhängige Gewichtungsverschiebungen erklären nicht zuletzt partielle Ähnlichkeiten wirtschaftlich unterschiedlich ausgerichteter Gesellschaften.
4.3 TAUFVERHALTEN In kurzem zeitlichem Abstand folgte der Geburt eines lebendigen Kindes dessen Taufe nach. Dieser stark ritualisierten Kasualhandlung wurde im Kontext des evangelischlutherischen Christentums, welches das Leben der Menschen innerhalb des Untersuchungsgebiets und -zeitraums prägte, eine herausragende Bedeutung beigemessen. Hierdurch wurde der Täufling nicht allein in die Gemeinschaft der Gläubigen aufgenommen und faktisch of ziell benamt, sondern vor allem von der Erbsünde freigesprochen. Daneben konnte eine Taufe durchaus ins Zentrum gesamtdörflichen Interesses 368
Vgl. Scho eld/Wrigley, Population, S. 292f.
114
GEBURTIGKEIT
geraten und zum Statussymbol der Beteiligten dienen. Einerseits zeugte es von gutem Leumund respektive Wohlstand, oft zum Paten gebeten zu werden. Andererseits war es Ausdruck des eigenen sozialen Ansehens bzw. diesem zuträglich, ehrenhafte und nanzkräftige Personen oder deren nahe Angehörige als Taufpaten eigener Kinder gewinnen zu können. 369 Zu den Aufgaben der Gevattern, die voraussetzend selbst in der betreffenden Konfession kon rmiert und regulär mindestens 14 Jahre alt sein mussten, gehörte es, für den Täufling vor Gott zu bürgen und ihm in der Not beizustehen. Dem obligatorischen Patenbrief legten sie meist eine Geldgabe bei, die in Ehren gehalten und bis zur Kon rmation bzw. der Mündigkeit oder Hochzeit nicht angetastet wurde. Anlässlich der Kon rmation, mit der das Patenverhältnis of ziell endete, konnte ein weiteres Geldgeschenk erfolgen. 370 In den Untersuchungsorten standen in der Regel drei Personen pro Taufe Pate. War der Täufling männlichen Geschlechts, wurden ihm traditionell zwei Männer und eine Frau zur Seite gestellt. Bei einem Mädchen kehrte sich das Geschlechterverhältnis der Gevattern um. Diese Praxis fand bei ehelichen wie unehelichen Kindern Anwendung. Frauentaufen, die Meinel als im sächsischen Raum für „Hurenkinder“ bevorzugte und bei Nottaufen übliche Form nennt 371, sind für Rußdorf und Bräunsdorf nicht belegt. Oftmals wurden beim ersten Kind nahe Verwandte bis zu den Großeltern oder ältere Geschwister für die Patenschaft gewonnen. Generell sank die Wahrscheinlichkeit einer Verwandtschaft von Gevatter und Täufling mit dem Ansteigen dessen familiärer Ordnungszahl. Nur in den seltensten Fällen hatte dieses Regelwerk vor 1900 keinen Bestand. Der Rußdorfer Johann Gottlieb Haupt machte sich selbst ohne Not zum Taufpaten seines ersten ehelichen Kindes, wozu der Pfarrer im Kirchbuch vermerkte: „Auf meine Vorstellung, daß es der Natur des Pathenstandes zuwider sei, wenn d. Vater selbst es sei, antwortete er: Ach ich habe keine Freunde weiter.“ 372 Demgegenüber schwelgte das Rußdorfer Findelkind Johann Gottlob Vieweg 1755 geradezu im Über uss. Zehn Männer und elf Frauen mehrheitlich ledigen Standes zwischen zwölf und 58 Jahren erklärten sich damals zur Patenschaft bereit. 373 Seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts erfuhr die überkommene, über Jahrhunderte hinweg statische Taufpraxis in beiden betrachteten Ortschaften formal eine 369
370 371 372 373
Zum Beispiel wurde der Rußdorfer Wirt Jacob Richter zwischen dem Beginn der Rußdorfer Kirchbuchüberlieferung 1582 und seinem Tod 1604 allein bei 19 Rußdorfer Taufen als Pate gebeten. Zusätzlich standen nahe Angehörige, vor allem seine Frau, 19-mal Pate. Gleichzeitig wurde dem maximal eine Kleinststelle besitzenden Balthasar Rudloff († 1603) diese Ehre nie und seinen Angehörigen lediglich zweifach zuteil. – Vgl. EPA Rußdorf, KB I, Taufen 1582– 1604. Vgl. Meinel, Kinderleben, S. 18ff. Vgl. ebd., S. 23. EPA Rußdorf, KB IV: Taufregister 1857–1873, Taufen 1861, Nr. 63. Vgl. EPA Rußdorf, KB I, Taufen 1755, Nr. 3. – Die Taufeinträge der Bräunsdorfer Findelkinder Christoph Kirchthor 1728 und Christiana Pfortin 1772 nennen völlig regulär je drei Paten und beweisen dadurch, wie unüblich die exorbitante Taufpatenzahl Viewegs auch bei seiner Biographie war. Vgl. EPA Bräunsdorf, KB I, Taufen 1728, Nr. 9 u. 1772, Nr. 17.
TAUFVERHALTEN
115
sichtbare Liberalisierung. In den 1880er Jahren nden sich sporadisch erste Taufeinträge, die vier Paten nennen, was schon vor Beginn des Ersten Weltkrieges keine Seltenheit mehr darstellte, und selbst fünf Paten für einen Täufling scheinen im frühen 20. Jahrhundert nicht länger unüblich gewesen zu sein. Gleichzeitig verlor das tradierte geschlechtsorientierte Gevatterwahlprinzip relativ abrupt an Geltung. Noch zu Beginn der 1890er Jahre wurde dem alten Regularium beinahe durchgehend entsprochen, doch nur zehn Jahre später ist dahingehend kein übergeordnetes Auswahlmuster mehr ersichtlich. Neben den kurz angerissenen sozialen Aspekten ist die terminliche Seite des Taufverhaltens von besonderem Interesse. Zu Beginn des Untersuchungszeitraums war der zeitliche Abstand zwischen Geburt und Taufe sehr kurz bemessen. Zwar lässt die Quellenlage für Bräunsdorf erst ab 1730 und für Rußdorf ab 1760 eine kontinuierliche Berechnung der durchschnittlichen Intervalle zu 374, jedoch geben die aus der vorhergehenden Kirchbuchüberlieferung sporadisch ermittelbaren Werte keinen Anlass, für die vorangegangene Zeit von differierenden Zeiträumen auszugehen. In der Regel erlangte ein Säugling zwei Tage nach der Geburt das Taufsakrament, doch auch Abweichungen von einem Tag entsprachen noch immer der Norm. Der Geburt noch am selben Tag nachfolgende Taufen waren Notfällen vorbehalten, bei denen mit dem baldigen Ableben des Kindes gerechnet werden musste. Zwangsläug beschränkten sich die üblichen Rituale dabei auf ein Mindestmaß. Die Paten wurden hinzugebeten, der Pfarrer herbeigeholt. Erlaubten die Umstände – in Rußdorf kam dies mutmaßlich öfter vor, denn dort galt es, den Pastor erst unter großem Zeitaufwand von Kaufungen zu rufen – keinerlei Säume, taufte die Wehmutter oder der Schulmeister. Überlebte das Kind wider Erwarten die ersten Stunden, erhielt es in der Kirche den Segen des Ortsgeistlichen, wodurch die Taufhandlung Bestätigung erfuhr. 375 Auch wenn keine besondere Eile geboten war, säumten Eltern im Untersuchungsgebiet vor 1800 selten länger als drei Tage, ihr Kind in die Kirche zu tragen bzw. tragen zu lassen. Offensichtlich wurde die Gefahr eines jähen Kindstodes stark empfunden. Ungetauft sterbende Kinder blieben nach dem christlichen Weltbild mit der Erbsünde beladen, weswegen ihnen die potentielle Teilhabe am ewigen Heil von vornherein verwehrt wurde, obwohl die evangelisch-lutherische Theologie in dieser vielfach diskutier-
374
375
Die Abstandsmessung setzt voraus, dass Geburts- und Taufdatum bekannt sind. Kirchbücher verzeichnen zuallererst die Kasualien. Besonders in der Frühzeit der kirchlichen Registrierung spielten Geburt und Tod eine untergeordnete Rolle, sodass sie von den Kirchenbuchverfassern selten aufgenommen wurden. Für das 16., 17. und frühe 18. Jahrhundert sind diese eigentlichen Personenstandsdaten oft lediglich als Beiwerk zufällig und hochgradig punktuell überliefert. Erst mit der Kirchenbuchnormierung 1800 wurde deren Aufzeichnung zur P icht. Siehe zum Beispiel die Taufe Christoph Hahns, der „wegen Schwachheit gleich von der Wehmutter getauft, iedoch eod. die noch in die Kirche gebracht und eingesegnet“ wurde oder Maria Pauline Saupes: „Nothtaufe durch H. Schulmeister Hodermann, u. Dom: IV. p. Trin. eingesegnet durch H. P. Brükner in Bräunsdorf “. EPA Rußdorf, KB I, Taufen 1761, Nr. 11 u. KB III: Kirchbuch 1841–1855/1857, Taufen 1846, Nr. 29.
116
GEBURTIGKEIT
Abbildung 10: Intervalle zwischen Geburten und Taufen in Rußdorf
ten Frage eine vergleichsweise gemäßigte Haltung einnahm. 376 Große Verantwortung lastete also auf den Schultern der Eltern. Entsprechend ist in den betrachteten Dörfern, abgesehen von bewussten Kindsmorden, vor 1876 kaum ein Fall bekannt, in dem ein Säugling ohne Taufsakrament zu Tode gekommen wäre. Ein bis drei Tage mögen für die notwendigen Vorbereitungen der Taufriten, unter denen der Kirchgang selbst eine bedeutsame, aber relativ kurze Episode darstellte, je nach gewünschter Opulenz eben ausgereicht haben. Hin und wieder vorkommende Stellvertreterpatenschaften 377 auch in Notfällen legen nahe, dass zumindest die Patenschaftsabsprachen noch vor der Geburt getroffen wurden. Dies indiziert eine Vorauswahl von vier Kandidaten im ausgeglichenen Geschlechterverhältnis, deren drei je nach Geschlecht des Kindes tatsächlich die Gevatternschaft antraten. 376 377
Vgl. Lindenhofer, Petra, „Traufkinder“ – Ein besonderer Umgang mit ungetauft verstorbenen Kindern in der Frühen Neuzeit, Wien 2012 [Hochschulschrift], S. 72. Siehe zum Beispiel: „D. 20. Jun: nachmittags um 3 Uhr ist Johann Michael Richter, d. Z. Haußgenoßen (bey seinem Vater dem Pfarr-Lehn-Häusler, David Richtern) und seinem Eheweibe Evin eine geb. Müllerin aus Marckersdorff das Kind, der Sohn gebohren, und wenige Augenblicke vorher, ehe ich in Richters Stube, das Kind zu tauffen, gebeten von der Großmutter mit dem Nahmen Johann Michael getaufft worden, (welches aber nach empfangener Tauffe augenblicklich wieder verstorben.) Pathen sind gewesen: 1. Jungfer Johanna Sophia, Christian Heintzigs (der niedere) Gärtner allhier aelteste Tochter, 2. Johann Michael Ahnert, ein Pferdte-Bauer allhier, 3. Michael Macht, juv: wyl. Samuel Machts, Bauers allhier hinterl. 3ter Sohn, (deßen Stelle Samuel Posern juv: ein Häusler allhier, Joh. Michael Poserns, Häuslers allhier aeltester Sohn vertreten).“ – EPA Bräunsdorf, KB I, Taufen 1770, Nr. 10.
TAUFVERHALTEN
117
Abbildung 11: Intervalle zwischen Geburten und Taufen in Bräunsdorf
Nach 1800 nahmen die durchschnittlichen Intervalle sukzessive zu. Seit 1803 gaben die Rußdorfer ihren Neugeborenen im Mittel drei Tage bis zum ersten Kirchgang. Nach 1830 wurden vier zur Regel, in den 1850er Jahren fünf bis sieben. Die Bräunsdorfer schlossen sich dieser Praxis mit 30-jährigem Abstand an und zeigten seit Beginn der 1860er Jahre ähnliche Durchschnittsabstände zwischen Geburten und Taufen. Nach 1870 nahmen die mittleren Intervalle in Rußdorf weiter stark zu, sodass 1890 dort ein Monat und 1910 bereits zwei Monate zur Normalität geworden waren. Wiederum zogen die Bräunsdorfer mit zeitlichem Abstand ab 1880 nach und dehnten den üblichen Zeitrahmen bis auf einen Monat im Jahr 1910 aus. Am Ende des Untersuchungszeitraums warteten Eltern in beiden Dörfern meist mehrere Monate mit der Taufe ihres Kindes. Wie ist dieser radikale Bruch mit überkommenen Verhaltensweisen zu erklären? Zweifelsohne drückt sich in den wachsenden Intervallen eine abnehmende Sorge um den frühzeitigen Tod Neugeborener aus. Darin die Folgen zunehmender Säkularisierung der allgemeinen Lebens- oder Vorstellungswelt zu sehen, griffe zu kurz. Hätten die erwarteten Konsequenzen eines der Taufe zuvorkommenden Kindstodes an Schrecken eingebüßt, wäre die Zahl der Nottaufen, welche gerade aus der Furcht ihre Legitimation zogen, vermutlich signi kant zugunsten eines wachsenden Quantums ungetauft verstorbener Säuglinge angestiegen. Die „Bürokratisierung“ von Geburt und Taufe, wie sie mit dem „Gesetz über die Beurkundung des Personenstandes und die Eheschließung“ vom 6. Februar 1875 einher-
118
GEBURTIGKEIT
ging 378, begünstigte die Entwicklung allenfalls, taugt aber ob ihrer zeitlichen Verortung ebenfalls kaum als deren Auslöser. Martina Rommel brachte in ihrer Untersuchung zur demographischen Entwicklung Worms' neben dem während des 19. Jahrhunderts noch relativ zögerlichen medizinischen Fortschritts öffentlich kommunizierte kinderheilkundliche Hypothesen, welche unter anderem allzu frühen Taufen eine Mitschuld an der im 18. und 19. Jahrhundert hohen Säuglingssterblichkeit zumaßen, als mögliche Ein ussfaktoren ins Gespräch. 379 Diverse Ursachen kommen für das veränderte Taufverhalten der Rußdorfer und Bräunsdorfer Bevölkerung in Betracht. Konkrete, über bloße Koinzidenz hinausreichende Hinweise auf das Wirken der einen oder anderen fehlen jedoch. Zu subtil vollziehen sich gerade Mentalitätswandlungen, sodass sich die Akteure selbst kaum der Gründe ihrer Einstellung bzw. ihres Handelns bewusst sind und noch seltener gibt das überlieferte, überwiegend administrative Quellenmaterial darüber Auskunft. Mit Sicherheit spielte ein Konglomerat verschiedenster Faktoren in dem über ein Jahrhundert andauernden Prozess eine Rolle. Die auffallende Ungleichzeitigkeit dessen Beginns in beiden Dörfern, die sich weder aus veränderten Gesetzeslagen oder geistlichen Geboten herleiten noch durch auf Gemeindegrenzen beschränkten Gesinnungs- bzw. Vorstellungswandel rechtfertigen lässt, deutet auf einen ursächlichen sozioökonomischen Strukturwandel hin. Es liegt nahe, die Herausbildung wochentäglicher Taufschwerpunkte Mitte des 19. Jahrhunderts als Ausdruck zunehmender Vergewerblichung bzw. Industrialisierung zu interpretieren. In deren Zuge durchlief das Konzept „Arbeit“ gerade in vormals landwirtschaftlich dominierten Räumen einen grundlegenden Transformationsprozess, weg von vorrangig bedarfs- und ereignis- hin zu mehrheitlich zeitorientierter Tätigkeit. „Arbeit“ und „Freizeit“ gerieten für wachsende Bevölkerungsteile zu inhaltlich grundlegend konträren, klar trennbaren und dadurch terminlich planbaren Lebensbereichen. Taufhandlungen elen eindeutig in den Freizeitbereich. Insofern bot es sich besonders mit der Ausbreitung fester Arbeitszeiten im Zuge der Industrialisierung an, Taufen an den arbeitsfreien Sonn- und Feiertagen zu vollziehen. Immerhin mussten neben den Eltern die Gäste, vor allem aber die Paten anwesend sein können. Diesbezügliche Erwägungen mögen die Wahl des Tauftages der Rußdorfer und Bräunsdorfer nach 1850 zunehmend bestimmt haben. 380
378
379
380
Nach Einrichtung der Standesämter wurde es im Gebiet des Deutschen Reichs P icht, Geburten binnen einer Woche dorthin zu melden. Taufen erfolgten, von Nottaufen abgesehen, seitdem erst unter Vorlage eines standesamtlichen Geburtsnachweises. – Vgl. Gesetz über die Beurkundung des Personenstandes und die Eheschließung, 6. Februar 1875, in: Deutsches Reichsgesetzblatt, Bd. 1875, Nr. 4, S. 23–40, S. 40. Vgl. Rommel, Martina, Zwischen Ancien Régime und Industriezeitalter. Elemente der Kontinuität und Diskontinuität in der demographischen Entwicklung von Worms (1750–1875), in: Matheus, Michael /Rödel, Walter G. (Hg.), Landesgeschichte und historische Demographie, Stuttgart 2000, S. 27–46, S. 33. Dies nachzuweisen genügte es nicht, die elterliche Beschäftigung hinsichtlich ihres Arbeitszeitregimes zu klassi zieren und mit dem Wochentag der Taufe, der vor allem bei Arbeitern und Angestellten auf den Sonntag fallen sollte,
TAUFVERHALTEN
Abbildung 12: Wochentägliche Verteilung der Rußdorfer Taufen
Abbildung 13: Wochentägliche Verteilung der Bräunsdorfer Taufen
119
120
GEBURTIGKEIT
In beiden Orten verteilten sich die Taufen ursprünglich relativ gleichmäßig über die Woche, was den bis 1800 zwanghaft kurzen Abständen zu den Geburten Rechnung trug. Seit Beginn des 19. Jahrhunderts etablierte sich dagegen der Sonntag als mit Abstand begehrtester Tauftag. Damit ging eine sukzessive Zunahme der Intervalle zwischen Taufe und Geburt auf bis zu sieben Tage einher. Mitte des 19. Jahrhunderts ent el bereits die Hälfte aller Taufen auf einen Sonntag, während sich die übrigen 50 Prozent relativ gleichmäßig über den Rest der Woche verteilten. Seit den 1880er Jahren machten die Sonntagstaufen in Rußdorf und nach 1900 auch in Bräunsdorf anteilmäßig kontinuierlich über 70 Prozent aus. Dort emp ngen während der ersten Dekade des 20. Jahrhunderts gar sechs von sieben Kindern das Taufsakrament an diesem Wochentag. Dahinter nahm der Montag auf der Beliebtheitsskala in beiden Dörfern die zweite Stelle ein. Eine Untersuchung R. Scho elds über 26 englische Pfarreien brachte tendenziell ähnliche Ergebnisse. Nach anfänglich mehrfach wechselnder Hinwendung zu und Abkehr von Sonntagstaufen im 16. und 17. Jahrhundert stieg die Beliebtheit des Sonntags in seinem Untersuchungsgebiet bereits während des 18. Jahrhunderts massiv. Scho eld begriff dies als protestantisches Taufverhalten, im Gegensatz zum katholischen Typus, der eine gleichmäßige Verteilung auf die Wochentage propagierte. Nicht alle Gemeinden zeigten allerdings dasselbe Verhalten. Einige wenige präferierten auch oder stattdessen Mittwoche, Freitage und Samstage. 381 Die parallel beobachtbare Tendenz hin zu mehrwöchigen bis -monatlichen Wartezeiten ist in erster Linie als Resultat steigender Geburtenzahlen und der Sonntagsfavorisierung zu begreifen. Zudem leistete womöglich die allgemein nachlassende Sorge um einen frühen Kindstod der Beachtung individueller Präferenzen der Eltern, die zuvor weitestgehend übergangen worden waren, Vorschub. Dem entspräche die fortlaufende Ausdehnung der Intervalle trotz nach 1900 spürbar rückläu ger Geburten. Darin spiegelt sich zudem vielleicht eine gewisse Säkularisierung der Taufpraxis zum Ende des Untersuchungszeitraums, welche es erlaubte, die möglichst rasche Taufe zugunsten eines bestimmten gewünschten Taufdatums aufzugeben.
4.4 TOTGEBURTEN UND NOTTAUFEN Naturgegeben verläuft nicht jede Schwangerschaft optimal. Zahlreiche physische und psychische Faktoren können einen Abort oder eine Frühgeburt verursachen. Medizi-
381
abzugleichen. Dasselbe müsste zusätzlich mit jedem Taufpaten geschehen. Für die vorliegende Studie war dies zu leisten einerseits technisch, andererseits aufgrund des vervielfachten Arbeitsaufwandes unmöglich. Vgl. Scho eld, Roger, „Montags-Kind, schön Angesicht“, Zur Wahl des Wochentags für Taufen, Heiraten und Begräbnisse in England, 1540–1849, in: Ehmer, Josef/Hareven, Tamara K. /Wall, Richard (Hg.), Historische Familienforschung. Ergebnisse und Kontroversen, Frankfurt a. M./New York 1997, S. 88ff.
TOTGEBURTEN UND NOTTAUFEN
121
nischer Fortschritt vermag das Risiko hierfür zu senken sowie die gesundheitlichen Folgen für Mutter und Kind relativ gering zu halten, unterbinden kann er derartige Ereignisse nicht. Ebenso ist ein normaler Schwangerschaftsverlauf kein Garant einer glücklichen Geburt. Vor Risikogeburten schützt selbst die moderne Medizin nicht restlos und Frühgeburten sind auch im Deutschland des frühen 21. Jahrhunderts keine Seltenheit. Im Gegenteil steigt die jährliche Frühgeburtenrate mindestens seit den 1980er Jahren. Zum Beispiel wurden 1994 sechs Prozent aller in Deutschland entbundenen Kinder vor Vollendung der 37. Schwangerschaftswoche geboren. 382 Dank moderner Behandlungsmethoden bzw. medizinischer Versorgung ist die moderne Prä-, Peri- und Postnatalmedizin in der Lage, die gesundheitlichen Folgen von Schwangerschafts- und Geburtskomplikationen bei Müttern und Kindern weitestgehend zu kompensieren. Der frühneuzeitlichen Bevölkerung in den Untersuchungsorten standen demgegenüber nur stark begrenzte Möglichkeiten zur Verfügung. Die volkstümliche Heilkunde kannte zahlreiche mehr oder minder wirksame Mittel gegen den Großteil der zu Bewusstsein gelangenden Krankheiten und Beschwerden, deren Bandbreite von zu einem gewissen Grade wirksamen Hausmitteln bis hin zu Gebeten und archaischen heidnischen bzw. abergläubigen Praktiken reichte. Schwangerschaft und Geburt waren einerseits Mysterien, andererseits nach Jahrtausenden kollektiver Erfahrung hinsichtlich ihres Ablaufs und ihrer Auswirkungen wohlbekannt. Das Wissen um Möglichkeiten zur Wehenverzögerung oder -beschleunigung war ebenso Allgemeingut wie kontrazeptive und einen Abort auslösende Mittel, beispielsweise Mutterkorn, physische Gewalt oder körperlicher Stress 383, einen festen Platz im bäuerlichen Bewusstsein hatten. Darüber hinaus boten medizinische Kenntnisse von Hebammen oder Ärzten einen vor allem um chirurgische und invasive Verfahren erweiterten Handlungsspielraum. Zumindest die Dienste ausgebildeter Mediziner waren jedoch kostspielig und wurden daher nur in absoluten Notsituationen in Anspruch genommen. Ein solcher Fall vom September 1712 mag exemplarisch dafür stehen: Den 24 Septembris hat Christina, Greger Böhmens des jüngern Weib in einen sehr miserabeln Zustande ein junges Töchterlein zur Welt gebohren, indem das Kind stückweise von ihr hat müßen geschnitten werden, wozu der berühmte Chirurgus Tannhauer, als welcher in dergleichen Fällen wohl erfahren, von Chemnitz dazu erfordert werden müßen. 384
Kaiserschnitte sind in den Untersuchungsorten nicht belegt. Alle Anzeichen deuten darauf, dass hier noch in der Neuzeit galt, was Robert Fossier für das europäische Mittelalter attestierte. Die Baucheröffnung an der lebenden Mutter war nicht bekannt, die postume 382 383 384
Vgl. Linderkamp, Otwin, Eine Chance für Leichtgewichte, in: Ruperto Carola, Nr. 1, 1994, online: http://www.uniheidelberg.de/uni/presse/rc5/3.html [zuletzt aufgerufen am 20. 06. 2016]. Zum Beispiel stand die Ursache einer Frühgeburt Marie Rosine Pröhls außer Frage. Sie hatte „1 unzeitiges Kind geboren, in Folge d. Falles v. Stege in d. Bach“. EPA Rußdorf, KB II, Beerdigungen 1821, Nr. 21. EPA Rußdorf, KB I, Taufen 1712, Nr. 16.
122
GEBURTIGKEIT
hingegen durchaus. 385 Entsprechend musste die Rußdorferin Johanne Theresie Weise 1857 erst ihr Leben lassen, bevor „ein todtes Sohnlein [...] v. ihrem Leichnam genommen“ werden konnte. 386 200 Jahre zuvor starb im Nachbarort Kaufungen Anna Kühn in den Kindesnöten, „die wehemutter hat es dafür gehalten, das Zwillinge in ihrem leibe gewesen“, ohne postmortale Entbindung ihrer Leibesfrucht. 387 Unzureichende medizinische Versorgung sowie mangelndes Wissen um den Ein uss externer Faktoren auf die Embryonalentwicklung gefährden den positiven Schwangerschaftsverlauf. Das Risiko einer Tot- oder Frühgeburt erhöht sich durch psychischen und physischen Stress, den Konsum toxischer Genussmittel sowie ein fortgeschrittenes Alter der Mutter beträchtlich. Im modernen Deutschland stellen Totgeburten keine statistisch relevante Größe dar. Von 788.224 im Jahr 1998 geborenen Kindern kamen laut Statistischem Bundesamt nur 3190 (0,41%) tot auf die Welt. Bis 2008 sank deren Anteil gar auf 0,35 Prozent. 388 In Anbetracht der nach modernen Maßstäben desolaten medizinischen Infrastruktur der neuzeitlichen Untersuchungsorte steht für diese ein deutlich höherer Totgeburtenanteil zu erwarten, welcher im 19. und frühen 20. Jahrhundert in Verbindung mit einer sukzessive verbesserten ärztlichen Versorgung freilich eine regressive Tendenz aufweisen sollte. 389 Tatsächlich erscheinen die Rußdorfer und Bräunsdorfer Totgeburtenraten äußerst hoch. Selbst in den 1930er Jahren lag der Totgeburtenanteil noch auf einem rund sechsbzw. neunfach höheren Niveau denn 70 Jahre später im gesamtdeutschen Raum. Ein Rückgang der Totgeburten ist dennoch in beiden Fällen, aber mit differierender Ausprägung, nachweisbar, wie Abb. 14 verdeutlicht. Die in Dekadenkohorten zusammengefassten Vorkommnisse folgen tendenziell der Geburtenzahlenkurve. Der Rußdorfer Gipfelwert wurde in den 1890er Jahren erreicht (1891), jener Bräunsdorfs bereits im vorhergehenden Jahrzehnt (1888). Die prozentualen Anteile der Totgeburten an den Gesamtgeborenenzahlen schwankten bis ins 19. Jahrhundert hinein massiv zwischen 0 und 8,62 Prozent (Rußdorf) bzw. 1,67 und
385 386 387 388
389
Vgl. Fossier, Robert, Das Leben im Mittelalter, München 2009, S. 65. EPA Rußdorf, KB XIII: Beerdigungsregister 1855–1875, Beerdigungen 1857, Nr. 18. EPA Kaufungen, KB I, Taufen 1619, Nr. 19. Vgl. Nöthen, Manuela, Familienzuwachs: Mutter und Kind wohlauf?, Wiesbaden 2010, online: http://www.destatis. de/DE/Publikationen/STATmagazin/Gesundheit/2010_10/PDF2010_10.pdf?__blob=publicationFile [zuletzt aufgerufen am 20.06.2016], S. 3. Den quantitativen Vergleich zwischen modernen und frühneuzeitlichen Totgeburten erschweren zwei Faktoren. Einerseits ist für Totgeburten vor Beginn der standesamtlichen Überlieferung keine Überlieferungssicherheit gegeben, da Totgeburten in den Kirchbüchern nicht immer erfasst bzw. dem Pfarrer nicht konsequent angezeigt wurden. Welches Ausmaß die daraus resultierende potentielle Überlieferungslücke annimmt, ist nicht feststellbar. Andererseits liegt den modernen Zählungen ein engeres Totgeburtenverständnis zugrunde. Per de nitionem ist ein Kind nach deutschem Recht gegenwärtig nur dann als Totgeburt zu klassi zieren, wenn es über 500 g Geburtsgewicht und postnatal weder natürliche Lungenatmung, Herzschlag oder Nabelschnurpuls aufgewiesen hat. Vgl. Verordnung zur Ausführung des Personenstandsgesetzes vom 22.11.2008, Kapitel 5, § 31, Abs. 1 u. 2.
TOTGEBURTEN UND NOTTAUFEN
123
Abbildung 14: Totgeburtenanteile an den Rußdorfer und Bräunsdorfer Geborenenzahlen nach Dekadenkohorten
8,33 Prozent (Bräunsdorf). Maximal- wie Minimalwerte sind ebenfalls lange vor 1800 zu suchen. In Rußdorf pendelten sich die Dekadenkohortenanteile ab den 1820ern bei drei bis vier Prozent ein und gingen nach 1900 zu einem abnehmenden Trend über. Die drastischen prozentualen Schwankungen endeten dagegen in Bräunsdorf erst in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Übergangslos trat die dortige Totgeburtenrate damit in einen bis in die 1930er Jahre anhaltenden Regressionsprozess ein. Tabelle 5 offenbart pointierter für Bräunsdorf zunächst, wiederum auf die Gesamtgeburtenzahlen bezogen, ein frühneuzeitliches prozentuales Wachstum der Totgeburten mit angeschlossenem Rückgang nach 1850 bzw. für Rußdorf eine von höherem Niveau ausgehende wellenförmige Abnahme. Der anhaltende Niedergang der Mortinatalität begann jedoch in beiden Orten erst um 1900. Die teils signi kanten Schwankungen der vorangegangenen Perioden resultierten vermutlich auch aus einer latenten, mal mehr, mal weniger stark ausgeprägten Unterregistrierung. Wird nach den Ursachen der hohen Totgeburtenzahlen bzw. ihres Rückgangs im frühen 20. Jahrhundert gefragt, stehen exo- und endogene Faktoren zur Debatte. Ein eindeutiger Zusammenhang zwischen Mortinatalitätsentwicklung und exogenen extraindividualbiographischen Ereignissen ist anhand der vorliegenden Daten nicht erkennbar. Die Totgeburtigkeit erscheint völlig unabhängig von Konjunkturzyklen und gesamtwirtschaftlichen Prozessen. Selbst Krisensituationen ließen die Quote offenbar
124
GEBURTIGKEIT
Tabelle 5: Totgeburten nach Geschlechtern im Verhältnis zu den Geburtenzahlen Rußdorf
Anzahl
Anteil an Totgeburten
Anteil an Geburten
männl.
weibl.
unbek.
männl.
weibl.
unbek.
Gesamt
1582–1599
5
2
5
41,67 %
16,67 %
41,67 %
12
5,63 %
1600–1699
13
5
12
43,33 %
16,67 %
40,00 %
30
3,58 %
1700–1799
54
35
3
58,70 %
38,04 %
3,26 %
92
5,06 %
1800–1849
33 119
29 68
0 3
53,23 % 62,63 %
46,77 % 35,79 %
0,00 % 1,58 %
62 190
3,17 % 3,89 %
50
51
2
48,54 %
49,51 %
1,94 %
103
2,95 %
1850–1899 1900–1935 Bräunsdorf
Anzahl
Anteil an Totgeburten
Anteil
Anteil an Geburten
männl.
weibl.
unbek.
männl.
weibl.
unbek.
Gesamt
1640–1699
16
10
3
55,17 %
34,48 %
10,34 %
29
4,79 %
1700–1799
48 43 87
29 30 46
3 0 0
60,00 % 58,90 % 65,41 %
36,25 % 41,10 % 34,59 %
3,75 % 0,00 % 0,00 %
80 73 133
4,41 % 5,21 % 5,13 %
24
22
0
52,17 %
47,83 %
0,00 %
46
3,45 %
1800–1849 1850–1899 1900–1935
Anteil
unbeein usst. Zum Beispiel begleitete die schwere Subsistenzkrise der frühen 1770er Jahre in Rußdorf ein Totgeburtenanteil von maximal 11,11 Prozent (1772), welcher jener aus der wirtschaftlichen Blüteperiode 1768 entsprach. Für dasselbe Jahr verzeichnen die Bräunsdorfer Kirchbücher sogar vier Totgeburten (21,05 %), hingegen 1772 keine einzige. Saisonale Ein üsse lassen sich gleichfalls nur bedingt ableiten, zumal in den betrachteten Ortschaften, wie Tabelle 6 zeigt, unterschiedliche und überdies wechselnde monatliche Schwerpunkte bestanden. Im Allgemeinen folgt die Verteilung der Totgeburten im Jahresverlauf jener der Geburten. Einzig im ersten Jahresdrittel zeigt die Mortinatalität insgesamt kontinuierlich in beiden Dörfern ein größeres anteilmäßiges Gewicht. Winter und beginnendes Frühjahr könnten demnach über steigenden physiologischen Stress der Mütter, etwa infolge verschlechterter Lebensmittelversorgung, anhaltender Kälte und vermehrt grassierender Krankheiten, ein höheres Sterberisiko Ungeborener geborgen haben. Endogene biologische Faktoren bzw. natürliche Dispositionen spielten demgegenüber eindeutig eine zentrale Rolle. Tabelle 5 zeigt für beide Dörfer einen signi kanten, vor 1900 konsequenten Überhang totgeborener Kinder männlichen Geschlechts. Das natürliche humane Geschlechterverhältnis liegt für 100 Geburten bei etwa 51 Jungen zu 49 Mädchen. Im Gegenzug kennzeichnet die weibliche Physiologie eine tendenziell höhere Widerstandsfähigkeit, weswegen Frauen zum einen mit geringerer Wahrscheinlichkeit Opfer von partus mortuus oder postnataler Sterblichkeit sind, zum anderen eine höhere durchschnittliche Lebenserwartung vorweisen können. Die ausgewerteten Daten tragen dem prinzipiell Rechnung. Das Geschlechterverhältnis des nalen
125
TOTGEBURTEN UND NOTTAUFEN
Tabelle 6: Saisonale Totgeburtigkeit gemessen an der saisonalen Geburtigkeit (Angaben in %) Anteil der monatlichen Totgeburten- an der Gesamttotgeburtenzahl Anteil der monatlichen Geburten- an der Gesamtgeburtenzahl Rußdorf
Jan.
März
April
1582–1599
16,67 13,15
Feb.
0,00 25,00 5,16 11,27
8,33 8,45
1600–1699
15,63
9,38 15,63 12,50
Juni
8,33 6,10
0,00 5,16
Juli
Aug.
Sept.
8,33 16,67 8,33 6,57 9,86 13,15
Okt. 0,00 7,04
Nov. 0,00 4,23
Dez. 8,33 9,86
9,38
3,13
9,38
0,00
3,13
0,00 12,50
9,38
7,87
6,79
7,03
9,18
9,06
9,18
7,03
5,13
9,78 14,13 1,09 7,97 8,69 8,03 6,45 8,06 11,29
7,61 7,70 6,45
7,61 7,53 8,06
9,78 7,92 4,84
4,35 9,29 6,45
9,78 9,90 8,06
4,35 11,96 10,87 8,36 7,15 9,68 6,45 11,29 8,06
10,25 10,61 1700–1799
Mai
9,89
7,87
1800–1849
8,70 8,80 14,52
1850–1899
7,52 9,47
7,22 9,47
8,14 7,37
8,65 7,89
8,44 8,95
7,16 8,42
8,34 9,47
8,39 8,42
9,31 6,32
9,26 7,37
8,85 8,70 6,84 10,00
1900–1935
8,41 11,65 7,82
7,39 9,71 7,33
7,71 9,71 9,56
7,63 7,77 9,05
8,90 8,59 7,77 12,62 8,67 9,08
8,43 0,97 8,13
9,21 8,76 3,88 12,62 7,90 7,99
7,96 5,83 7,87
8,08 8,74 7,62
Bräunsdorf
Jan.
März
April
1640–1699
6,90 8,93 10,98
1700–1799 1800–1849 1850–1899 1900–1935
Feb.
3,45 13,79 10,34 6,78 10,25 6,45 8,54 17,07 4,88
Mai
Juni
Juli
Aug.
Sept.
Okt.
Nov.
8,92 8,74 8,93 Dez.
3,45 7,44 2,44
6,90 7,60 8,54
0,00 13,79 13,79 6,90 10,34 10,34 9,26 10,58 10,74 9,26 7,44 5,95 7,32 3,66 6,10 14,63 7,32 8,54
7,61 9,59
7,22 6,85
7,55 8,21 4,11 12,33
8,28 6,02 8,71 4,35
7,78 8,49 7,42 9,06 7,52 8,27 12,03 11,28 7,75 8,33 7,29 9,14 6,52 13,04 10,87 6,52
7,00 9,02 9,18 2,17
9,60
7,42
8,40
8,93 8,27 8,65 8,22 12,33 10,96
8,25
8,71 6,85
8,02
8,92
8,27 6,85
8,27 8,22
7,71 9,42 8,99 5,26 6,77 10,53 7,90 8,56 8,79 6,52 10,87 15,22
8,78 9,14 6,02 11,28 8,40 8,10 8,70 13,04
7,92 6,02 8,06 2,17
9,75
8,70
8,10
9,22
8,99 4,11
7,65
9,37 9,59
7,12
Bräunsdorfer Abschnitts gleicht gar auffallend dem deutschen zwischen 2003 und 2011 (53:47). 390 Die vorhergehenden Prozentanteile der Geschlechter muten hingegen ortsübergreifend meist unrealistisch hoch bzw. niedrig an. Dies legt den Schluss nahe, Mädchen seien bis ins späte 19. Jahrhundert seltener zur Anzeige gebracht worden denn Jungen. Solches Verhalten wurzelte in einer latenten Überhöhung des maskulinen Geschlechts und wäre freilich keineswegs ein Alleinstellungsmerkmal. Extrem niedrige Zahlen weiblicher Totgeburten bei nur moderat geminderten männlicher und fast ebenso hohen jener unbekannten Genus stützen diesen Eindruck unter Annahme unterlassener schriftlich xierter Geschlechtsbestimmung bevorzugt von Mädchen. Andererseits ist die Sinn390
Vgl. Hübner, Johanna Hildegard, Totgeburten in Deutschland: Retrospektive Datenanalyse von 168 Fällen zwischen 2003 und 2011, Diss., Bonn 2014, online: http://hss.ulb.uni-bonn.de/2014/3592/3592.pdf [zuletzt aufgerufen am 20. 06. 2016], S. 63.
126
GEBURTIGKEIT
haftigkeit differierender Registrierpraxis auch im Kontext Frauen eine nachgeordnete Stellung zuweisender Gesellschaften diskutabel und widerspricht das realistische Geschlechterverhältnis der Rußdorfer Totgeburten in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts einer stiefmütterlichen Behandlung der Weiblichkeit. Neben geschlechtsspezi schen Dispositionen der betroffenen Kinder treten Vorprägungen der Eltern, ob genetisch oder biographisch bedingt sei dahingestellt, als ausschlaggebende Faktoren in Erscheinung. Vom 16.–20. Jahrhundert nahmen immer wieder einige wenige Familien durch ihr generatives Verhalten maßgebenden Ein uss auf die gesamte lokale Totgeburtenzahl. Anna Gympel brachte zwischen 1593 und 1599 fünf tote Kinder zur Welt, deren erstes zumindest „auff die Zeitt gewest“ 391, und starb unmittelbar im Anschluss an die Geburt des letzten. Sie war bereits in zweiter Ehe verheiratet. Schon aus Altersgründen unterlag sie einem gesteigerten Risiko. Ihr Mann Cyprianus Gympel (1534–1608), Vater von sieben teils erwachsenen Kindern, hatte ebenfalls ein fortgeschrittenes Alter vorzuweisen. Diese eine Familie zeichnet für 55,56 Prozent der Rußdorfer Totgeburten der 1590er Jahre verantwortlich. Jonas (ca. 1573–1623) und Barbara Herolt (ca. 1588– 1627) mussten desgleichen zwischen 1617 und 1621 vier ihrer acht Kinder ohne jedes Lebenszeichen verloren geben. Die Aufzählung ließe sich für beide Dörfer um 102 Fälle erweitern, in denen ein Ehepaar bzw. eine ledig bleibende Frau mehr als eine Totgeburt in mindestens zwei Geburtsvorgängen erlitt. Tabelle 7: Wiederholte Totgeburtigkeit Familien vermehrter Totgeburtigkeit
Anteil der Totgeburten
Anteil der Familien
Rußdorf
2
3
4
5
6
7
8
Summe Anteil Summe Anteil
1582–1599 1600–1699 1700–1799
– 2
– 1
– –
1 –
– –
– –
– –
5 7
41,67 % 23,33 %
1 3
14,29 % 12,00 %
6
3
–
–
1
–
–
27
29,35 %
10
15,38 %
1800–1849
3
2
1
–
–
–
–
16
25,81 %
6
13,04 %
1850–1899 1900–1935
22 2
7 –
3 –
1 –
– –
1 –
– –
89 4
46,84 % 3,88 %
34 2
33,66 % 2,02 %
Bräunsdorf
2
3
4
5
6
7
8
1640–1699
3
1
–
–
–
–
–
Summe Anteil Summe Anteil 29
1700–1799 1800–1849 1850–1899
5 6 7
5 4 5
2 – 2
– – 1
– 1 2
– – 1
– – 1
33 30 63
100,00 % 41,25 % 41,10 % 47,37 %
1900–1935
3
–
–
–
1
–
–
12
26,09 %
391
EPA Kaufungen, KB I, Taufregister Rußdorf, 1593, Nr. 3.
4
20,00 %
12 10 19
25,53% 23,26 % 27,14 %
4
11,76 %
TOTGEBURTEN UND NOTTAUFEN
127
Wie aus Tabelle 7 hervorgeht, überwogen dabei Familien mit zwei bis drei Totgeburten zahlenmäßig zu jeder Zeit. Höhere Quoten waren, mit den erst ab dem späten 18. Jahrhundert substanziell steigenden absoluten Familiengrößen korrespondierend (Kap. 7.1), besonders vor dem 19. selten, traten aber bis ins 20. Jahrhundert vereinzelt auf. Der Handarbeiter Albin Theodor Hartig (1877–1946) und dessen Frau Minna Anna (1881–1937) zählen zu fünf Ehepaaren, welche mit sechs totgeborenen Kindern im extremen Bereich zu verorten sind. Das Rußdorfer Bäckerehepaar Heinrich Moritz (1862– 1943) und Auguste Selma Gräfe (1863–1930) musste sieben seiner 16 Kinder schon bei der Geburt verloren geben. Ebenso erreichte keiner der acht Sprösslinge des Bräunsdorfer Stellmachers Bruno Richard Streu (1861–1938) und seiner Ehepartnerin Pauline Caroline (1860–1930) ein höheres Alter. Der erste Sohn überlebte vier Tage, seine Geschwister kamen allesamt tot zur Welt. Die höchste familiäre Totgeburtenrate hatten jedoch Heinrich Ferdinand (1833–1897) und Christiane Wilhelmine Sonntag (1835– 1911) mit acht von neun Kindern zu erleiden. Insgesamt zeichneten 16,03 Prozent der prokreativen Partnerschaften mit totgeborenen Säuglingen in Rußdorf für 30,14 Prozent aller Totgeburten verantwortlich. In Bräunsdorf lag das Verhältnis bei 22,90 zu 40,72 Prozent. Elterliche Prädisposition durch fortgeschrittene Lebensalter begünstigte zudem sicherlich wenigstens die intrafamiliär singulären Totgeburtenschicksale hohen bis höchsten Geburtenrangs. Angesichts im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts stark abnehmender Familiengrößen mochte die nahezu umfassende Aussetzung dieses Risikofaktors zum Rückgang der Mortinatalität beigetragen haben. Das Ausbleiben ihres entsprechenden Anstiegs in Begleitung des Wachstums der durchschnittlichen Kinderzahlen im 19. Jahrhundert steht der These allerdings entgegen. Ohnehin offenbart die Quellensituation für die überwiegende Mehrheit der Totgeburtenfälle kaum korrelierende Variablen, die wirksame Kausalketten andeuten. Schwangerschaftskomplikationen äußern sich nicht nur in pränatalem Säuglingstod. Nottaufereignisse indizieren, obgleich mit minderer Zuverlässigkeit, ebenfalls Missentwicklungen. Wie in Kapitel 4.3 ausgeführt, fanden Not- oder Haustaufen ausschließlich Anwendung, wenn das baldige Ableben des Täuflings zu befürchten stand. Mit der Ausweitung des mittleren Geburt-Taufe-Intervalls häufte sich insbesondere nach 1876 die Zahl in mehrtägigem bis mehrwöchigem Abstand zur Geburt notgetaufter Kinder, welche zweifelsohne postnatal erworbene oder zu Tage getretene Erkrankungen in Todesnähe brachten. Schwerlich ist daraus auf Schwangerschaftsanomalien zu schließen. Einzig direkt an die Geburt in maximal 24-stündigem Abstand angeschlossene Nottaufen bieten stichhaltige Hinweise auf Unregelmäßigkeiten in der Embryonalentwicklung, da potentielle Infektionen in diesem kurzen Zeitfenster selten letale Wirkung zu entfalten vermögen. Dadurch erfährt das Spektrum infrage kommender Todesursachen eine starke Begrenzung auf Fehlbildungen, Geburtsfolgeerscheinungen, Lebensschwäche und in utero erworbene Krankheiten.
128
GEBURTIGKEIT
Geburtsfehler gehen größtenteils auf zufällige Genmutationen zurück, werden aber durch Mangelernährung und bestimmte Erkrankungen der Mutter während der Schwangerschaft, zum Beispiel den Röteln, begünstigt. In Deutschland lag die jährliche Rate mit Missbildungen geborener Kinder Mitte der 2000er Jahre bei sechs bis sieben Prozent. 392 Welche Höhe sie in den Untersuchungsorten erreichte, ist aufgrund mangelnder Überlieferung nicht nachvollziehbar. Die wenigsten Geburtsfehler führen zudem selbst ohne medizinische Behandlung, wenn nicht im fetalen Stadium erfolgt, unmittelbar zum Tode. Entsprechend selten sind Kirchbucheinträge über Nottaufen in Folge sichtbarer anatomischer Anomalien. Die 1785 nach zwölf Lebenstagen verstorbene Eva Rosina Helbig „hatte ganz keine Nase, Wolfsmaul, u. am Genicke ein Gewächse in der Gröse eines großen Apfels“. 393 Anna Maria Geißler „ward [1869] mit einem völligen Wolfsrachen geboren“, erhielt aber erst drei Tage danach die Haustaufe. Ihren drei Monate später datierten Beerdigungseintrag schloss der Rußdorfer Pfarrer mit den äußerst pragmatisch anmutenden Worten: „[G]elobt sei Gott, daß er es hinweg genommen hat.“ 394 Gleichfalls in mehrtägigem Abstand zur Geburt wurde 1887 Max Robert Hofmann in Rußdorf notgetauft. „Das Kind hatte ein gespaltenes Rückgrat; es verstarb an dem dazugetretenen Brande.“ 395 Ein nicht näher klassi zierter Geburtsfehler zeichnete 1903 für die unmittelbare Nottaufe der Elisabeth Anna Hartig verantwortlich. 396 Ähnlich selten werden perinatale Komplikationen explizit ursächlich mit einer Nottaufe in Verbindung gebracht. Die für ihn im Endeffekt tödliche Steißlagengeburt Johannes Bernd Werbels 1945 397 bleibt der einzige aus Rußdorf und Bräunsdorf bekannte Fall dieser Art. Nachrichten über pränatal erworbene, postnatal unmittelbar lebensgefährliche Krankheiten fehlen für den Untersuchungszeitraum gleichfalls völlig. Die große Mehrheit der in beiden Dörfern erfolgten Nottaufen ist wahrscheinlich auf entwicklungsbedingte Lebensschwäche des Säuglings zurückzuführen, welche bis ins 20. Jahrhundert für einen erheblichen Teil der neonatalen Todesfälle verantwortlich gemacht wurde. Verfrühte Geburten und geringe Geburtsgewichte unter 2500 g trotz regulärer Schwangerschaftsdauer gehen als Ursachen Hand in Hand und erhöhen das Sterberisiko insbesondere in medizinisch primitiven Gesellschaften während des ersten Lebensjahres immens. Chronische partielle oder absolute Nährstoffunterversorgung
392 393 394 395 396 397
Vgl. Spranger, Jürgen/Queißer-Luft, Annette, Fehlbildungen bei Neugeborenen, Mainz 2006, online: http://www. aerzteblatt.de/archiv/52795/Fehlbildungen-bei-Neugeborenen [zuletzt aufgerufen am 20. 06. 2016]. EPA Rußdorf, KB I, Taufen 1785, Nr. 19. EPA Rußdorf, KB XIII, Beerdigungen 1869, Nr. 28. EPA Rußdorf, KB XIV: Beerdigungsregister 1876–1899, Beerdigungen 1887, Nr. 48. Vgl. EPA Rußdorf, KB VII: Taufregister 1892–1905, Taufen 1903, Nr. 143. Vgl. EPA Rußdorf, KB XVII: Beerdigungsregister 1935–1964, Beerdigungen 1945, Nr. 12.
129
TOTGEBURTEN UND NOTTAUFEN
Tabelle 8: Nottaufen nach Geschlechtern im Verhältnis zu den Geburtenzahlen Rußdorf
Anzahl
Anteil an Nottaufen weibl.
1582–1599
0
0
–
–
0
0,00 %
1600–1699
2 16
1 13
66,67 % 55,17 %
33,33 % 44,83 %
3 29
0,36 % 1,59 %
19 184 63
12 147 53
61,29 % 55,59 % 54,31 %
38,71 % 44,41 % 45,69 %
31 331 116
1,59 % 6,77 % 3,32 %
1700–1799 1800–1849 1850–1899 1900–1935 Bräunsdorf 1640–1699 1700–1799 1800–1849 1850–1899 1900–1935
Anzahl
männl.
weibl.
Anteil an Geburten
männl.
Anteil an Totgeburten
Gesamt
Anteil
Anteil an Geburten
männl.
weibl.
männl.
weibl.
Gesamt
Anteil
0 27
5 25
0,00 % 51,92 %
100,00% 48,08 %
5 52
0,83 % 2,87 %
15 87 28
14 47 20
51,72 % 64,93 % 58,33 %
48,28 % 35,07 % 41,67 %
29 134 48
2,07 % 5,17 % 3,60 %
Schwangerer wird in der Forschung als typisches Entwicklungslandproblem identi ziert, allerdings ohne die modernen Industriestaaten davon ledig zu sprechen. 398 Wie vertraut schwächliche Neugeborene der frühneuzeitlichen Bevölkerung des Untersuchungsgebiets waren, beweist unter anderem der Taufeintrag Eva Maria Friedrichs von 1781. Aus heiterem Himmel in der Nacht nach ihrer Geburt von „Epilepsie“, d. h. Krämpfen bzw. krampfartigen Erscheinungen überfallen, „wie es sehr offt bey solchen kleinen Cindern zu geschehen p egt“, erhielt sie von der Wehmutter sogleich die Haustaufe und verstarb. 399 Sogenannte Neugeborenenanfälle, die typischerweise in den ersten sieben Lebenstagen auftreten, gelten in der Gegenwart als seltene Erscheinungen. Sie zeichnen für unter ein Prozent aller kindlichen Epilepsien verantwortlich. 400 Frühgeburten vervielfachen Erkrankungsrisiko wie Letalität. Desgleichen unterliegen Jungen einer höheren Anfälligkeit 401, welcher das Geschlechterverhältnis der Haustäuflinge in Rußdorf und Bräunsdorf bis ins 20. Jahrhundert Rechnung trägt (Tab. 8). Das offensichtlich gehäufte Auftreten derartiger Krampfanfälle im 18. Jahrhundert weist, wenn nicht auf hohe Frühgeburtigkeit, so doch auf weit verbreitete Entwicklungsde zite Neugeborener hin. Ursache dessen waren sicherlich zumeist Nährstoffunterversorgungen
398 399 400 401
Vgl. Biesalski, Hans Konrad, Der verborgene Hunger. Satt sein ist nicht genug, Heidelberg 2013, S. 97 ff. EPA Bräunsdorf, KB I, Taufen 1781, Nr. 19. Vgl. Krämer, Günter, Das große TRIAS-Handbuch Epilepsie, Stuttgart 2005, S. 107. Vgl. Atiye, Fatima, Epidemiologie neonataler Krampfanfälle im Einzugsgebiet der Universitätskinderklinik Heidelberg, online: http://archiv.ub.uni-heidelberg.de/volltextserver/11143/1/Atiye_ .pdf [zuletzt aufgerufen am 20. 06. 2016], S. 38.
130
GEBURTIGKEIT
während der Schwangerschaft. Diese nahmen allerdings selten massive, unmittelbar ins Auge springende physiologische Erscheinungsformen an, welche in der Überlieferung explizit Erwähnung fanden. Daraus erklärt sich gleichermaßen, warum Nottaufen auch bei solchergestalt geschädigten Kindern keineswegs in ationär Anwendung fanden. Mehr noch zeigten sich die Anwesenden oft völlig unvorbereitet vom Sterben des Säuglings getroffen. Im Falle Friedrichs etwa waren in der Schnelle „die ordent. erwählten Taufzeugen nicht zu erlangen gewesen“, sodass die Großeltern deren Stelle vertreten mussten. 402 Der überlieferten Datenlage nach zu urteilen, waren Nottaufen hauptsächlich ein Phänomen des 19. und 20. Jahrhunderts. So sind nicht nur vor 1700 in Rußdorf und Bräunsdorf insgesamt lediglich acht Fälle belegt, auch im Verhältnis zur Geburtenzahl respektive den Taufen nahm ihr Vorkommen nach 1700 zu. Die höchste Konzentration weist die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts auf, in dem, obschon nur 14,12 bzw. 16,89 Prozent des Untersuchungszeitraums abdeckend, 69,9 bzw. 50 Prozent aller Nottaufereignisse stattfanden. Abbildung 15 verdeutlicht nochmals den Niveausprung Mitte des 19. Jahrhunderts in Rußdorf. Wurden dort bis in die 1830er nie mehr als drei Prozent einer Kohorte notdürftig getauft, stieg deren Anteil bis in die 1860er auf das Doppelte und erreichte in den 1890ern bei 7,65 Prozent einen Gipfel. Der folgende Rückgang auf schließlich unter ein Prozent gestaltete sich ebenso rapide. Das Bräunsdorfer Beispiel kennzeichnen demgegenüber seit dem 18. Jahrhundert wiederholte massive Ausschläge. Zugleich trägt die prozentuale Entwicklung nach 1850 differierende Züge. An die Rußdorfer reichen die Bräunsdorfer Werte einzig in den 1860er und, inklusive des Maximums bei 8,25 Prozent, den 1870er Jahren heran. Gegenüber dem Nachbardorf erscheint die unmittelbar anschließende abrupte anteilige Abnahme verfrüht, dafür langfristig deutlich weniger intensiv. Inwiefern die schriftliche Überlieferung das Haustaufgeschehen akkurat wiedergibt, ist fraglich. Sicherlich unterschied sich die als Hauptrisikofaktor pränataler Entwicklungsstörungen und damit der Nottaufen identi zierte Ernährungssituation in den betrachteten Nachbardörfern einerseits zu keinem Zeitpunkt grundlegend und konnte andererseits ebenso schwerlich innerhalb eines Ortes binnen Dekaden wiederholt massiven Wandlungen unterliegen, sodass die vorgefundenen inter- wie intradörflichen Schwankungen daraus resultiert hätten. Desgleichen scheidet schwankende oder im 19. Jahrhundert gar zunehmende Religiosität aus. Vielmehr deuten teils äußerst hohe absolute wie prozentuale Differenzen aufeinanderfolgender Jahrzehnte qualitative Brüche innerhalb des Quellenmaterials an. Der Nottaufvermerk zählte nicht zu den obligatorischen Kirchbuchdaten und obwohl die meisten Pfarrer irreguläre Taufen durchaus kennzeichneten, machte es sich offenbar keiner zur konsequent befolgten Regel. Die 402
Vgl. Bräunsdorf, KB I, Taufen 1781, Nr. 19.
TOTGEBURTEN UND NOTTAUFEN
131
Abbildung 15: Nottaufenanteile an den Rußdorfer und Bräunsdorfer Geborenenzahlen nach Dekadenkohorten
tatsächliche, potentiell das überlieferte Niveau übersteigende Nottaufenzahl wird dadurch schwer rekonstruierbar. Unter der Annahme, Taufen am Tag der Geburt seien aus organisatorischen Gründen Notfällen vorbehalten gewesen, ließe sich das ermittelte Quantum um diese „Dunkelziffer“ ergänzen (Abb. 16). Die hohe statistische Unsicherheit bliebe jedoch für die Frühe Neuzeit unverändert bestehen. Geburtsdaten, die als Berechnungsgrundlage zwingend vorhanden sein müssen, wurden in Bräunsdorf erst seit den 1730er und in Rußdorf seit den 1760er Jahren in relevantem Maße verzeichnet, weswegen für die vorangegangene Zeit Rückschlüsse auf potentielle Nottaufereignisse in beiden Orten kaum möglich sind. Nach 1840 bzw. 1850 ändern sich die Zahlen auch unter Addition mutmaßlich einer selektiven Überlieferung zum Opfer gefallener Geschehnisse unmaßgeblich. Für das dazwischenliegende Jahrhundert treten allerdings signi kante Veränderungen zu Tage. In Rußdorf bleibt das Übergewicht der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts dennoch unverändert, obwohl nun ein anhaltender Niveausprung auf fünf Prozent in den 1790er Jahren zu verzeichnen ist. Hingegen verlagert sich der Bräunsdorfer Nottaufenschwerpunkt in die erste Hälfte des 19. Jahrhunderts, während die markanten prozentualen Schwankungen relativiert fortexistierten. Die Phase zwischen 1800 und 1829 zeigt nun die höchste Quote des gesamten Untersuchungszeitraums mit einem absoluten Maximum über 21,48 Prozent in den 1810er Jahren, aus denen keine einzige anormale Taufe explizit überliefert ist. Eine extreme Nottaufenhäufung in jenen drei Dekaden wirkt in-
132
GEBURTIGKEIT
Abbildung 16: Extrapolierte Nottaufenanteile an den Rußdorfer und Bräunsdorfer Geborenenzahlen nach Dekadenkohorten
des im Kontext der vorhergehenden und nachfolgenden Bräunsdorfer bzw. der gesamten Rußdorfer Entwicklung nicht weniger irreal als ihre gänzliche zeitweilige Absenz. Vermag die Nottaufenkurve trotzdem Hinweise auf historische Lebensbedingungen zu geben? Unter der Annahme, in erster Linie seien entwicklungsretardierte Säuglinge betroffen gewesen, deren physiologische De zite in Nährstoffunterversorgung während der Schwangerschaft wurzelten, ließen sich Veränderungen der durchschnittlichen Ernährungssituation durch sie abbilden. Eine Steigerung der Nottaufenquote indizierte eine Verschlechterung der Nahrungslage, die freilich nicht in anhaltendem Hunger, sondern zuerst in einseitigem Lebensmittelkonsum resultiert hätte. Tatsächlich war die Landwirtschaft Sachsens dessen starkem Bevölkerungswachstum bereits im späten 18. Jahrhundert immer weniger gewachsen. Auf dem Lande gerieten zuallererst die unterbäuerlichen Schichten in eine prekäre Lage, da sie zur Selbstversorgung nicht fähig waren und zugleich unter den hohen Nahrungsmittelpreisen litten. Besonders in Jahren schlechter Ernten trat die Not offen zu Tage. In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts besserte sich die Situation infolge der Agrarreformgesetzgebung und der industriellen, staatlich geförderten Professionalisierung der Agrarökonomie jedoch. Schon um 1850 brachte Sachsen im innerdeutschen Vergleich die höchsten Erträge hervor und verdoppelte sich etwa der durchschnittliche Fleischverbrauch pro Kopf zwischen 1834 und 1875. Obwohl wachsende Ernteerträge und zunehmende Fleischproduktion noch zu Beginn des Ersten Weltkrieges hinter der Bevölkerungsvermehrung zurückstanden, war
TOTGEBURTEN UND NOTTAUFEN
133
Abbildung 17: Anteil der Nottaufen am Geburtstag an der Gesamtnottaufenzahl
die Ernährungslage der Bevölkerung im späten 19. Jahrhundert besser als zu dessen Beginn. 403 Der Nottaufenhäufung zur selben Zeit im Untersuchungsgebiet steht diese Entwicklung klar entgegen. Entweder gibt die Überlieferung die tatsächliche Situation also nur verfälschend bzw. unzureichend wieder oder kam anderweitigen Faktoren entscheidende Bedeutung zu. Rückschlüsse auf die allgemeinen Lebensbedingungen von den häuslichen Taufen abzuleiten, verbietet sich daher. Parallel zur Totgeburten- nahm die Nottaufenzahl und -rate nach der Wende zum 20. Jahrhundert in Rußdorf und Bräunsdorf spürbar ab. Zugleich erlebte die industrielle Entwicklung des Großraums Limbach bis 1914 ihre höchste Blüte. Eine klare Verbindung zwischen wirtschaftlichem und soziodemographischem Prozess ist nicht erkennbar. Die rückläu gen Nottaufen resultierten wahrscheinlich aus dem Zusammenwirken kultureller Veränderungen, medizinischen Fortschritts und administrativer Reformen. Seit der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts zeugte das Taufverhalten von zunehmender Säkularisierung. So war die Festlegung des Tauftermins auf maximal den dritten Lebenstag zwar alter Kirchenbrauch, jedoch keine P icht. Die zuvor beschriebene Ausweitung der durchschnittlichen Geburt-Taufe-Intervalle ist Ausdruck der Abkehr von kirchlichen Dogmen hin zu individualisiertem Denken und Handeln, welches sich der Toleranz seitens einer liberalisierenden Gesellschaft in Grenzen sicher sein konnte. Darunter litt offenbar nicht zuletzt die Limbusgläubigkeit bzw. -furcht, wie die ebenfalls seit den 1840er Jahren anwachsenden mittleren temporalen Abstände zwischen Geburten
403
Vgl. Schäfer /Karlsch, Wirtschaftsgeschichte, S. 66ff.
134
GEBURTIGKEIT
und Nottaufen deutlich machen. Abbildung 17 zeigt exemplarisch den rapiden Rückgang der unmittelbar an die Geburt anschließenden Nottaufen nach 1850. Theoretisch damit in Kauf genommene präbaptistische Tode blieben dennoch zunächst beinahe aus. Erst ab 1875, auffällig parallel zur Einrichtung der sächsischen Standesämter 1876, verschieden regelmäßig ungetaufte Säuglinge meist im Alter mindestens eines Tages. Theodor Bernhard Granz wurde 1883 als erstes vor der Taufe verstorbenes Kind namentlich aktenkundig. Nach der Jahrhundertwende bleibt der amtliche Gebrauch der Begriffe „Sohn“ und „Tochter“ ohne Namenszusatz bereits wieder fast ausschließlich auf Totgeburten beschränkt. Obwohl das Säuglingssterberisiko im späten 19. Jahrhundert weiterhin hoch war und für unterentwickelte Neugeborene, nach wie vor Hauptbetroffene der frühen neonatalen Mortalität, auch im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts nur langsam zurückging, geriet der Taufritus sukzessive zum Ritual.
5. NUPTIALITÄT
„Die Eheschließung ist nicht in erster Linie ein demographisches, sondern viel mehr ein soziales, kulturelles und wirtschaftliches Phänomen.“ 404 Ihre demographische Dimension wurzelt in der Moralisierung, Normierung und Sanktionierung generativen Verhaltens. Mit der Christianisierung des west- und mitteleuropäischen Raums übernahm die Kirche schrittweise die Ehejurisdiktion und damit die Deutungshoheit über die Ehe, einem zentralen Element der Gesellschaftsstruktur. Während des 12. Jahrhunderts erlangte der eheliche Bund in der Westkirche den Sakramentsstatus. Heterosexuelle Lebenspartnerschaften wurden in der Folge sukzessive institutionalisiert. Zunächst beanspruchte die Kirche angesichts eines anhaltenden Diskurses um den Ehebeginn 405 lediglich das Recht für sich, die Verbindung aus klar de nierten Gründen, worunter etwa eine enge Verwandtschaft der Ehepartner oder ein unterschrittenes Mindestalter el, trennen zu können. Vormalige Scheidungsargumente wurden noch im Hochmittelalter in Ehehindernisse umgedeutet, welche eine Nichtigkeitserklärung seitens der Kirche motivieren konnten. 406 Obwohl der liturgische Trauritus bereits Jahrhunderte zuvor praktiziert wurde, denierte erst das auf dem Konzil von Trient 1563 beschlossene Dekret Tametsi verbindliche Verfahrensregeln, um die wirkungslos verbotenen klandestinen Eheschließungen endgültig unterbinden zu können. In Adaption der Beschlüsse des IV. Laterankonzils von 1215 sollten fortan nur jene Hochzeiten Geltung behalten, die in drei aufeinanderfolgenden Messen vom trauenden Geistlichen öffentlich angekündigt und danach durch beiderseitige Einverständniserklärung der Heiratswilligen bei Anwesenheit eines Priesters sowie mehrerer Zeugen geschlossen wurden. Über die ordentlich gespendeten Sakramente war Buch zu führen. 407 Erst seitdem rangierte Sexualität als Folge der formgerechten legitimen ehelichen Verbindung, während Geschlechtsverkehr bis dahin einem Eheversprechen gleichkam bzw. den Vollzug der Hochzeit anzeigte. Die tridentinischen Beschlüsse hatten nur Geltung, wo sie seitens Vertretern der katholischen Kirche coram publico verkündet wurden. Zwangsläu g blieben die reformierten Länder,
404 405
406 407
Vgl. Ehmer, Bevölkerungsgeschichte, S. 46. Einer Konsenstheorie, die der bloßen Einverständniserklärung beider Ehepartner die maßgebliche Bedeutung zumaß, stand die Kopulationstheorie gegenüber, laut der erst der vollzogene Beischlaf den Bund besiegele (matrimonium consummatum). Vgl. Rhode, Ulrich, Vorlesung „Das kirchliche Eherecht“, 2014, online: http://www.kirchenrecht-online.de/lehrv/ehe/e-skriptum.pdf [zuletzt aufgerufen am 20. 06. 2016], S. 6. Vgl. ebd., S. 6ff. Vgl. Fabritz, Peter, Sanation in radice. Historie eines Rechtsinstitus und seine Beziehung zum sakramentalen Eheverständnis der katholischen Kirche, Frankfurt a. M. 2010, S. 135 ff.
136
NUPTIALITÄT
darunter die sächsischen Gebiete, ausgeschlossen. 408 Nach Luther besaß die Ehe keinen Sakramentscharakter, stellte aber ebenfalls den moralisch-rechtlichen Rahmen für zulässige sexuelle Verbindungen dar. In protestantischen Territorien oblag das inhaltlich dem kanonischen ähnelnde Eherecht dem Landesherrn, dessen ausführende Organe geistlich-weltliche Konsistorien verkörperten. 409 Unabhängig von Ort und Zeit waren Heiraten im mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Europa von einer differierenden Mischung aus ökonomischen, religiösen, juristischen und brauchtümlichen Zwängen determiniert. Deren Missachtung, soweit möglich, zog in der Regel Sanktionen nach sich, die bis zu materiellen oder körperlichen Strafen bzw. sozialer Ausgrenzung reichen konnten. Vor allen Dingen wirtschaftliche Erwägungen spielten bei Ehepartnerwahl und Hochzeit eine zentrale Rolle. Die Familien bzw. die Haushaltsvorstände Heiratswilliger leiteten aus ihrer ökonomischen Beteiligung, sei es die Verp ichtung zur Auszahlung eines Erbteils bzw. der Morgengabe, sei es der Anspruch, die Kontinuität des eigenen Haushalts zu wahren und dessen Wert zu mehren etc., ein Vetorecht ab. Darüber hinaus griffen Herrschaftsträger in das Heiratsgeschehen bestimmter sozialer Gruppen aktiv ein. In Leibeigenschaftsgebieten entschied der Gutsherr letztendlich über die Umsetzung der Verlöbnisse jedes seiner unfreien Grundholden. Landesherrliche Konzessionen waren unter Umständen vorzuweisen, wenn der Bräutigam zum Beispiel ohne festen Wohnsitz, mittellos, Beamter oder Handwerksgeselle bzw. die Braut verwitwet war. Wer eine Trauung im städtischen Milieu anstrebte, mochte hingegen am geforderten Bürgerrecht scheitern. Allein auf dem Gebiet des Heiligen Römischen Reiches galt eine Vielzahl von Bezugsraum zu Bezugsraum unterschiedlicher, mehr oder minder restriktiver obrigkeitlicher Verordnungen, die zudem abhängig von der jeweiligen aktuellen Bevölkerungssituation oder wirtschaftspolitischen Prämissen mit zeitlich variierender Stringenz Umsetzung fanden. Im Endeffekt zielten Ehekonzessionierungen darauf ab, das Prekariat durch Ausschluss von der Reproduktion gering zu halten und dadurch die kommunale Armenfürsorge zu entlasten bzw. Vagantentum und Bettelwesen einzuschränken sowie exklusive sozioökonomische Kreise abzusichern. Heiraten sollte im Idealfall nur, wen die persönliche Lebenssituation zur Ernährung einer Familie befähigte. 410 John Hajnal erkannte in der ausgeprägten Orientierung an wirtschaftlichen Aspekten ein zentrales Element spezi schen west- und mitteleuropäischen Heiratsverhaltens. Dieses habe sich, so sein 1965 proklamiertes theoretisches Konzept des Western European Marriage Pattern, seit dem Frühmittelalter herausgebildet und basiere auf einer obligatorischen Verbindung zwischen Hochzeit und Haushaltsgründung. Einerseits 408 409 410
Vgl. Ehehinderniß, in: Deutsche Encyclopädie oder Allgemeines Real-Wörterbuch aller Künste und Wissenschaften, Bd. 7, Frankfurt a. M. 1783, S. 986–998, S. 995. Vgl. Ehehindernisse, in: Deutsche Encyclopädie oder Allgemeines Real-Wörterbuch aller Künste und Wissenschaften, Bd. 7, Frankfurt a. M. 1783, S. 998–999, S. 998. Vgl. P ster, Bevölkerungsgeschichte, S. 25f.
NUPTIALITÄT
137
folgten daraus relativ späte Heiraten mit entsprechend verkürzten ehelichen Fertilitätsphasen, da in der Regel der zukünftige Ehemann erst das nötige Vermögen akkumulieren musste. Entweder war ein Erbgang abzuwarten, eine der zahlenmäßig begrenzten Hofstellen zu erwerben oder waren schlicht in jahrelanger Lohnarbeit entsprechende Geldmittel anzusparen. Andererseits habe das ressourcengebundene Heiratsverhalten charakteristisch hohe Raten lediger Personen, die an den nanziellen oder strukturellen Hürden scheiterten, hervorgebracht. 411 Ganz im Sinne der malthusianischen „preventive checks“ habe die Fixierung generativen Verhaltens auf limitierte materielle Güter und Mittel zur relativen demographischen Selbstregulierung, mithin einer statischen agrarischen Bevölkerungsweise geführt. Ehmer, der den wirtschaftszentrierten Erklärungsansatz kritisierte, plädierte dafür, die konzessionierte Ehe als Mittel der Wahrung einer etablierten Sozialstruktur zu begreifen. Das im 18. Jahrhundert europaweit einsetzende Bevölkerungswachstum lässt seiner Einschätzung nach nicht auf hemmende Effekte begrenzter Ressourcen, insbesondere des für Agrargesellschaften maßgeblichen Nahrungsspielraums, schließen. Stattdessen hätten knappe, oft an Erbgang gebundene soziale Positionen die Haushaltszahl im Vorhinein begrenzt und das westeuropäische Heiratsmuster bedingt. 412 Kritiklos ist auch dieses in der Tradition Gerhard Mackenroths Theorems des „Stellenmechanismus“ stehende Konzept nicht geblieben. 413 Desgleichen relativieren zahlreiche jüngere Regionalstudien dezidiert die Vorstellung eines einheitlichen west- und mitteleuropäischen Heiratsmusters. Weder hohes Heiratsalter und hohe Ledigenquoten waren an jedem Ort kontinuierlich zu verzeichnen noch folgte das Heiratsverhalten überall denselben Prinzipien. Von den äußerst variablen rechtlichen Rahmenbedingungen und kulturellen Traditionen zu schweigen, wirkten etwa in Städten andere Regularien als auf dem Land, in Realteilungsgebieten andere als bei geltendem Anerbenrecht, in protestantischen Gegenden andere als in katholischen etc. Selbst zwischen den verschiedenen sozialen Gruppen innerhalb eines Bezugsraums konnten differierende Muster auftreten. Die Diversitätsfeststellung brachte bereits Knodel in seiner verschiedene deutsche Gebiete in den Blick nehmenden Arbeit dahin, das europäische Heiratsverhalten eher als Verbund anpassungsfähiger Systeme denn als einheitliches Muster zu begreifen. 414 Gemeinsam waren allen Heiratssystemen des mittelalterlichen und frühneuzeitlichen christlich geprägten west- und mitteleuropäischen Kulturraums die grundlegenden Merkmale eheliche Monogamie, gegen null tendierende Scheidungsraten sowie eine hohe Relevanz ökonomischer Faktoren für Ehepartnerwahl und Heiratszeitpunkt. Frag411 412 413 414
Vgl. Hajnal, Marriage, S. 101ff. Vgl. P ster, Bevölkerungsgeschichte, S. 81f. Vgl. Tobolka, Christian, Historisch Demographische Analyse des Dorfes Kucerov in Mähren 1682–1849 anhand von Kirchenmatriken, Wien 2013 [Hochschulschrift], S. 31. Vgl. Knodel, Behavior, S. 120.
138
NUPTIALITÄT
lich ist, in welchem Grade wirtschaftliche Interessen der bewussten Eingrenzung des individuell gewählten Kreises der Heiratskandidaten dienten, ihn in Form unbewusst erlernter und umgesetzter Verhaltensparadigmen beein ussten oder erst durch den Eingriff dritter Instanzen Relevanz erlangten. Zwischen dem 18. und 20. Jahrhundert begann in sämtlichen dem Geltungsbereich des westeuropäischen Heiratsmusters zugerechneten Territorien ein tiefgreifender Wandel weg von der statischen agrarischen hin zu einer wachstumsorientierten Bevölkerungsweise. Das Heiratsverhalten blieb davon nirgends unbetroffen. Traditionelle gesellschaftliche Normen verloren im Geiste von Romantik, Liberalismus und Säkularisierung an Bedeutung, nachdem die Vernunftehe 415 noch von der Aufklärung propagiert worden war. Zugleich entwickelte sich im Laufe des 19. Jahrhunderts innerhalb des aufgeklärten Bildungsbürgertums ein Gefühl und Vernunft verbindendes Familienideal. 416 Die Ehejurisdiktion wechselte vollständig in staatliche Hände über und das Heiratsverhalten selbst entzog sich zusehends dem ökonomischen Primat sowie dem Zugriff sonstiger externer Zwänge. 417 Ehe und Sexualität wandelten sich zu reinen Privatangelegenheiten.
5.1 ENTWICKLUNG DER HEIRATSZAHLEN Gleich der Natalität zählt die Nuptialität zu den grundlegenden demographischen Kenngrößen. Ihrem Wesen gemäß gehören Hochzeiten zu den wenigen Eckpunkten einer Vita, die in derselben Art primär das Leben mehrerer Personen beein ussen. Verbunden mit weiteren personi zierten biographischen Daten erlauben es Trauereignisse, sekundäre Faktoren wie zum Beispiel das Heiratsalter zu eruieren. Bei einer Familienrekonstruktion erweitert sich das mögliche Spektrum um den Ehezeitraum, den ehelichen Fertilitätszeitraum, den Abstand zwischen Hochzeit und erstem ehelichen bzw. letztem vorehelichen Kind etc. Zusätzlich bergen die bloßen aus der persönlichen Ebene herausgelösten aggregierten Heiratszahlen zuverlässigere Hinweise auf die Bevölkerungsentwicklung als etwa die Geburtenzahlen. Die nachfolgende Diskussion der Hochzeitskurve stellt zunächst über die übliche statistische Unruhe hinausgehende Veränderungen im Heiratsverhalten heraus und dient der Identi kation beein ussender Faktoren. Analog zur Geburtigkeitsentwicklung lassen kurzzeitige Ausschläge andere Hintergründe als langfristige Prozesse vermuten, obwohl beide entweder auf qualitative oder quantitative Änderungen der Bevölkerungs-
415 416 417
Vgl. Becker, Rudolph Zacharias, Noth- und Hülfs-Büchlein für Bauersleute. Nachdruck der Erstausgabe von 1788, Dortmund 1980, S. 188ff. Vgl. Gestrich, Andreas, Geschichte der Familie im 19. und 20. Jahrhundert, München 1999, S. 5 f. Vgl. Ehmer, Bevölkerungsgeschichte, S. 51.
ENTWICKLUNG DER HEIRATSZAHLEN
139
weise zurückgehen. Der sozioökonomische Charakter der Heirat bedingt eine im Vergleich zu anderen demographischen Kenngrößen geringe Ursachenvarianz langfristiger Tendenzen. Wirkende Zulassungsbeschränkungen im Sinne malthusianischer präventiver Regulative resultieren ungeachtet ihrer Art in relativ statischen Trauzahlen bzw. stufenartigen Niveauveränderungen. Hingegen zeichnet sich „freies“ Heiraten durch relativ stetiges Wachstum aus. Atypische punktuelle Ausschläge stehen per se in Verdacht, krisenbedingt aufzutreten. Typischerweise begleiten Einbrüche infolge vorübergehender Dezimierung der Heiratskandidaten durch Abwesenheit, anhaltender durch Tod oder Heiratsunlust das ursächliche Ereignis und schließt ein durch aufgeschobene Trauungen erzeugtes Hoch unmittelbar daran an, bevor der Graph auf den Status quo ante zurück ndet. Darüber hinaus vermutete Mendels auf Basis seiner Flandern-Studie einen allgemeingültigen positiven reaktiven Zusammenhang zwischen Nuptialität und gewerblichkonjunktureller Entwicklung in ruralen Protoindustrieregionen. 418 In reinen Agrargesellschaften steht dergleichen nicht zu erwarten, da die inhärente Stellenbindung den Hochzeitszeitpunkt erheblich determinierte. Die sozioökonomischen Rahmenbedingungen lassen in den Untersuchungsorten einen Wandel des Heiratsverhaltens erwarten. Trotz schlechter Böden bildete seit ihrer Entstehung im Hochmittelalter Ackerbau die hauptsächliche Lebensgrundlage der aus zwei Besitzständen zusammengesetzten Dorfgesellschaften. Den hofstellen- und landbesitzenden Vollbauern stand eine in deren Gütern mitlebende Bevölkerungsgruppe gänzlich Grundbesitzloser gegenüber. Dieser gehörten im erwerbsbiographischen Durchgangsstadium des Dienstboten be ndliche, bei ihrem Hausherrn in Diensten stehende und in der Regel ledige Personen ebenso an wie die zur Untermiete oder in einem mietähnlichen Verhältnis mitwohnenden Hausgenossen, welche ledig oder verheiratet de facto separate Haushalte symbolisierten. Der herrschaftliche Zugriff erstreckte sich in beiden Orten ausschließlich auf Grund und Boden, sodass Heiratsbeschränkungen per se maximal von landesherrlicher Seite ausgesprochen werden konnten. Des Weiteren herrschte in den betreffenden Grundherrschaften ein freies Erbrecht vor, wobei traditionell Anerbenrecht nach dem Ultimogeniturprinzip zur Anwendung kam. Weichende Erben wurden nach Gutdünken des pater familias vor dem Erbfall, meist anlässlich der Hochzeit oder bei Aufnahme eines Gewerbes bzw. beim Erbkauf nach schriftlich xierter vertraglicher Vereinbarung mit dem nachfolgenden Besitzer ausbezahlt. Der Erbgang der Immobilien selbst erfolgte nicht zwangsläu g in Form des Erbfalls, sondern wurde oft noch zu Lebzeiten des scheidenden Erblassers geregelt und vollzogen. Eine eventuelle Eheschließung des sogenannten Kurerben konnte zu jeder Zeit, auch vor dessen Gutsübernahme erfolgen. Fern jeder legislativen Regulierung heirateten traditionell nur jene Dorfbewohner, die potentiell der Ernährung einer Fa418
Vgl. Mendels, Population Pressure, S. 276 f.
140
NUPTIALITÄT
milie fähig erachtet wurden. Wer über Grundbesitz verfügte oder sich als designierter Erbe in Aussicht darauf befand, hatte auf dem Heiratsmarkt gute Chancen, wohingegen grundbesitzlose Einwohner, so sie kein einträgliches Gewerbe betrieben, meist dauerhaft ledigen Standes blieben. Die Zahl der Hofstellen de nierte im Zusammenspiel mit dem darin verfügbaren Wohnraum sowie der daran gebundenen Land äche ein Maximum an Haushaltungen. Freilich orientierte sich die Güterzahl ihrerseits an der durchschnittlichen Ertragskapazität der Dorf ur. Neue Familien konnten erst ansässig werden, wenn eine der quantitativ begrenzten sozioökonomischen Positionen vakant el. Sowohl die absolute jährliche Hochzeitszahl als auch die Nuptialität sollten in diesen statischen Agrargesellschaften unter geringen natürlichen Schwankungen auf einem niedrigen Niveau verharren. Vergewerblichung und später industrielle Entwicklung unterwarfen die Ortschaften einer tiefgreifenden strukturellen Transformation. Ab dem 16. Jahrhundert bildeten sich mit der Gärtner- und Häuslerschaft dritte und vierte Besitzstände heraus (Kap. 8.1), die ihren Lebensunterhalt teils aus agrarischer Lohn-, teils aus massengewerblicher Arbeit bezogen. Während des 19. Jahrhunderts avancierte die nun vorrangig in Industrie und Handwerk tätige Einwohnerschaft zur bestimmenden sozialen Größe. Spätestens in dieser Zeit sollten die Heiratszahlen in einen langfristigen Wachstumsprozess übergehen. Infolge der Ablösungsverträge wurde der bäuerliche Besitz ab der zweiten Hälfte des 19. Jahrhundert zur frei handelbaren Ware. Wohnraum konnte seitdem potentiell jederzeit bedarfsgerecht neu geschaffen werden. Die mit der industriellen Lohnarbeit einhergehende Trennung von Wohnraum und Arbeitsplatz leistete der Aushebelung alter struktureller Bevölkerungsregulative zusätzlich Vorschub, während ökonomische Sättigungseffekte einer ungehemmten Bevölkerungsvermehrung weiter im Weg gestanden haben müssten. Sachsen erlebte in Begleitung seines zwischen 1827 und 1914 kontinuierlichen Bevölkerungswachstums eine fast ebenso stetige Zunahme der Hochzeitszahlen bei kaum schwankender Nuptialität von sieben bis elf Eheschließungen pro 1000 Einwohnern. Der Erste Weltkrieg unterbrach die Progression, welche in einem Gipfel 1920 endgültig endete. 419 Eine analoge Entwicklung ist für Rußdorf und Bräunsdorf erwartbar. Schließlich ist mit einer Neuorientierung des Heiratsverhaltens in den Untersuchungsorten an gewerblichen Konjunkturzyklen im 19. Jahrhundert zu rechnen, sah doch Burkhardt eine Verbindung dessen für Sachsen bereits seit 1827 als gegeben an. 420
419 420
Vgl. Burkhardt, Bevölkerung, S. 28ff. Vgl. ebd., S. 22.
ENTWICKLUNG DER HEIRATSZAHLEN
141
Rußdorf Die Hochzeitszahlenentwicklung offenbart eine von Geburtigkeit und Mortalität differierende Verlaufsform, der die charakteristische glockenförmige Kurve im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert abgeht. Über den gesamten Untersuchungszeitraum sind 3710 Eheschließungen bezeugt, an denen mindestens ein Ortsansässiger teilnahm. 421 Diese verteilten sich, wie angesichts der wachsenden Bevölkerung zu erwarten, ähnlich den Geburten sehr ungleichmäßig über die betrachteten 354 Jahre. Zwischen 1880 und 1929 (14,12 % des UZ) verzeichneten die Personenstandsakten 34,21 Prozent (1269) aller Trauungen, wohingegen auf die 218 Jahre vor 1800 lediglich 30,85 Prozent (1145) entelen. Während des 19. Jahrhunderts überstieg die Gesamtheiratszahl jene des 17. Jahrhunderts um das Vierfache und wuchs selbst gegenüber dem dazwischenliegenden Zentennium noch um 135,79 Prozent an. Obwohl die markanten Steigerungsraten der Natalitätszahlen dadurch noch weit unterschritten wurden, spiegeln auch die Rußdorfer Hochzeitszahlen ein kontinuierliches, Frühneuzeit und Neuzeit durchziehendes Bevölkerungswachstum wider. Die nach Dekaden zusammengelegten Trauungen zeichnen in Tabelle 9 eine differenzierte Entwicklung. Am Beginn der Untersuchung steht zwischen 1590 und 1629 eine hohe Nuptialität von teils durchschnittlich ca. 20–25 Eheschließungen pro 1000 Einwohnern jährlich, unmittelbar gefolgt von einem anhaltenden Heiratstief in den 1630er bis 1670er Jahren. Lag diesem keine Unterregistrierung durch Aussparung in Rußdorf lediglich proklamierter Paare zugrunde, wurzelte es in stärkerer Ausrichtung des Ehepartnerwahlverhaltens nach innen. Während zwischen 1590 und 1619 durchgängig 20 Prozent der Ehen zwischen Einheimischen geschlossen wurden, waren es zwischen 1620 und 1679 bis zu 45 Prozent (Kap. 5.7). Darin eine Reaktion auf Krisen zu vermuten, wäre verfehlt. Einzig der Dreißigjährige Krieg barg überhaupt das Potential, durch Erzeugung eines längerfristigen Unsicherheitsemp ndens der Lokalbevölkerung die kleinräumige Mobilität anhaltend einzuschränken. Jedoch blieb der Einbruch der Rußdorfer Heiratszahlen nicht auf dessen Zeit beschränkt, noch el das absolute Minimum der 1670er in seinen unmittelbaren Wirkungshorizont. Freilich könnte dieses als ein demographisches Echo der Kriegsereignisse, verursacht durch verminderte Geburtenzahlen bzw. erhöhte Sterblichkeit, gelesen werden. Warum sich die Rußdorfer in einigen Jahrzehnten allerdings stärker untereinander ehelich banden, bleibt offen. Die Trauzahlen des Tiefs selbst erklären sich hingegen wie folgt: In Jahren vermehrten exogenen Heiratens stehen höhere Werte zu erwarten denn in Jahren endogener Ausrichtung. Treten zwei Einheimische miteinander vor den Altar, resultiert daraus eine Hochzeit. Wählen beide außerhalb ihres Heimatdorfs, verzeichnen die Kirchenbücher 421
Hierunter sind nicht nur vor Ort statt ndende Hochzeiten (2959) zusammengefasst, sondern ebenso alle Proklamationen. Die dreifache Hochzeitsankündigung erfolgte in der Regel in den aktuellen Wohnorten beider Ehepartner, musste also nicht mit dem Trauort identisch sein.
142
NUPTIALITÄT
zwei Trauungen. Wenn in den 1620er Jahren ein relativ großer Anteil einheimischer Ehen (38,89 %) mit einer vergleichsweise hohen Heiratszahl zusammenfällt, indiziert dies eine mit den beiden vorangegangenen Jahrzehnten vergleichbare Menge heiratsfähiger Personen vor Ort. In den beiden folgenden Jahrzehnten sanken beide Werte, was auf eine entsprechend geringere Zahl Heiratsfähiger schließen lässt. Obwohl die Rußdorfer Hochzeitszahl während der 1660er und 1670er Jahre weiter auf ein Allzeittief zurückging, verkleinerte sich das Quantum der beteiligten Einheimischen gegenüber 1640 nicht, da deren Ehen untereinander nun über 40 statt der vormals 28 Prozent aller Trauungen ausmachten. Dergleichen Wechselwirkungen bestimmen die Nuptialitätsentwicklung des gesamten Untersuchungszeitraums, sodass die bloßen Heiratszahlen nur bedingt Rückschlüsse auf die Bevölkerungsentwicklung erlauben. Über die beiden letzten Dekaden des 17. Jahrhunderts weist die Menge der Heiratsfähigen einen progressiven Trend auf, der zwischen 1700 und 1719 stagniert, sich 1720–1739 sowie in den 1750ern zeitgleich mit einer massiven Mehrung der Häuslerstellen (Kap. 8.1) erneut aufwärts richtet, um über den restlichen Zeitraum des 18. Jahrhunderts abermals zu ruhen. Weitere signi kante Niveausteigerungen entfallen auf das erste, vierte und sechste Jahrzehnt des 19. sowie den Beginn des 20. Jahrhunderts bis zum Ersten Weltkrieg. Dessen negativer Ein uss auf die Heiratsfreudigkeit ist angesichts des Rückgangs der Eheschließungen der 1910er Jahre unverkennbar, fällt aber verglichen mit älteren Einbrüchen nicht übermäßig ins Gewicht. Im Ganzen weisen die Rußdorfer Trauzahlen seit dem ausgehenden 17. Jahrhundert eine linear steigende Tendenz auf. Negative Reaktionen auf Krisensituationen deuten sich in den Dekadenkohorten ausschließlich im Umfeld des Dreißigjährigen Krieges und des Ersten Weltkrieges an. Eine deutlich engere, positive Bindung scheint demgegenüber mit soziostrukturellen Prozessen bestanden zu haben. Die Entwicklung der jährlichen Eheschließungszahl zeigt unter relativ starken Schwankungen ein ähnliches, freilich weiter differenziertes und dadurch unruhigeres Bild. Abweichungen um bis zu 50 Prozent vom langjährigen Mittel im Positiven wie Negativen gehören über den gesamten Untersuchungszeitraum ob geringer Werte zum Normalzustand. Selbst Positiv- und Negativausschläge um 100 Prozent kommen immerhin in einem Drittel der Jahre vor, ohne zwangsläu g auf Krisen hinzuweisen. Ausgehend von den vorangegangenen Ausführungen werden vier Phasen der Rußdorfer Trauzahlentwicklung ersichtlich. Vor dem Überlieferungsbeginn 1582 einsetzend, reicht die erste Periode bis in die 1620er Jahre. Ihr Kennzeichen ist eine relative quantitative Statik auf, gemessen an der damaligen Gesamtbevölkerung von über 150– 200 Personen, hohem Niveau von durchschnittlich vier Hochzeiten pro Jahr, die dem Konzept des westeuropäischen Heiratsmusters bzw. einer statischen Agrargesellschaft zu entsprechen scheint. Der zweite, bis in die 1670er Jahre währende Abschnitt kopiert die Charakteristika des ersten vollumfänglich, bewegt sich aber auf einem niedrigeren
143
ENTWICKLUNG DER HEIRATSZAHLEN
Tabelle 9: Rußdorfer Hochzeiten nach Dekadenkohorten Trauungen (1580) 1582–1589 1590–1599 1600–1609 1610–1619 1620–1629 1630–1639 1640–1649 1650–1659 1660–1669 1670–1679 1680–1689 1690–1699 1700–1709 1710–1719 1720–1729 1730–1739 1740–1749 1750–1759 1760–1769 1770–1779 1780–1789 1790–1799 1800–1809
Wachstum
0,76 % 1,08 %
52 40
1,40 % 1,08 %
42
1,13 %
5,00 %
35
0,94 %
–16,67 %
33 38 30
0,89 % 1,03 % 0,81 %
–5,71 % 15,15 % –21,05 %
27 51
0,73 % 1,38 %
–10,00 % 88,89 %
50 37 44 64
1,35 % 1,00 % 1,19 % 1,73 %
–1,96 % –26,00 % 18,92 % 45,45 %
67 67
1,81 % 1,81 %
4,69 % 0,00 %
81 76
2,19 % 2,05 %
20,90 % –6,17 %
72 75 93
1,94 % 2,02 % 2,51 %
–5,26 % 4,17 % 24,00 %
42,85 % (14,29 %)1 30,00 % –23,08 %
99
2,67 %
6,45 %
117 117 134
3,16 % 3,16 % 3,61 %
18,18 % 0,00 % 14,53 %
110 180 200
2,97 % 4,86 % 5,40 %
–17,91 % 63,64 % 11,11 %
191 232
5,15 % 6,26 %
–4,50 % 21,47 %
1890–1899 1900–1909 1910–1919
221 288
5,96 % 7,77 %
–4,74 % 30,32 %
247
6,66 %
–14,24 %
1920–1929
281
7,58 %
13,77 %
1930–1935
148
3,99 %
–47,33 %
1810–1819 1820–1829 1830–1839 1840–1849 1850–1859 1860–1869 1870–1879 1880–1889
1
prozentualer Anteil
28 (35)1 40
Hochrechnung durch entsprechende Addition des Durchschnittswertes der Kohorte.
144
NUPTIALITÄT
Niveau von durchschnittlich drei Eheschließungen per annum sowie infolge sukzessive wachsender Einwohnerschaft umso mehr verringerter Nuptialität. Daraus resultiert eine leichte tendenzielle Wannenform der Kurve. Eine dritte Phase umspannt das gesamte 18. und 19. Jahrhundert, ehe sie in den Wirren des Ersten Weltkrieges ihr Ende ndet. Deren hauptsächliches Spezi kum ist ihre diametral zur traditionellen Statik stehende langfristige Wachstumsorientierung. Das absolute jährliche Heiratsquantum nahm stufenweise, tendenziell linear zu. Vorläu ge Spitzenwerte lösten einander in fortschreitend kürzeren Abständen ab (1726, 1808, 1826, 1853, 1856, 1867, 1872, 1884, 1886, 1899, 1900, 1903). Unterdessen nahmen auch die momentanen Minima höhere Werte an, während die Schwankungsbreite merklich anstieg. In den einstelligen Bereich rutschten die Werte letztmalig 1877. Zwei Dekaden später heirateten zuletzt weniger denn 20 Paare. Ebenfalls in den 1890er Jahren sank die Nuptialität, nachdem sie seit Mitte des 17. Jahrhunderts durchschnittlich bei 12–14 Promille gelegen hatte und in den 1850/1860er Jahren vorübergehend auf rund 16 gestiegen war, als Folge exorbitanten Bevölkerungswachstums auf durchschnittlich acht ab. Der Erste Weltkrieg unterbrach das anhaltende Wachstum der Heiratszahl radikal. Allerdings knüpft der Kurvenverlauf der Kriegsjahre 1914–1917 mit seiner moderaten Regression an einen 1912 begonnenen Schrumpfungsprozess an. Erst das momentane Minimum von 1918, welches dem Tiefstand von 1834 entspricht, ist zäsierender Natur. Die Entscheidung, die Nachkriegsjahre als eigene, nale Periode zu deklarieren, leitet sich aus der Entwicklung der Dekadenkohorten mit ihrer nach 1909 rückläu gen Tendenz ab. Keineswegs schlagen die Trauzahlen dieser Zeit konsequent mit vergleichsweise niedrigem Niveau zu Buche. Im Gegenteil wird 1919/1920 nochmals ein neues, absolutes Maximum (je 47) de niert. Jedoch bleibt das Ausmaß des maximalen Schwankungsrahmens (12–47) des letzten Abschnitts über den gesamten Untersuchungszeitraum ohne Beispiel und verleiht ihm den Anstrich hoher Inkonsistenz. Dieser endet in den 1930er Jahren mit einem historischen Tiefstand der Rußdorfer Heiratshäu gkeit von 6,81 Eheschließungen pro 1000 Einwohnern (1933). Unklar bleibt, ob ursächliche Interdependenzen zwischen dem Wachstum der Einwohnerzahl und dem lokalen Heiratsverhalten bestanden bzw. welche Gestalt diese im Zweifelsfall annahmen. Führte erst eine Bevölkerungszunahme zur Vermehrung der Heiratsfähigen ohne erwähnenswerten zeitlichen Versatz bei massiver Zuwanderung lediger Personen oder im Versatz bis zu einer Generation bei starkem Zuzug von Familien bzw. Steigerung der Kinderzahlen? Verursachten gehobene Heiratszahlen infolge vermehrter dislozierter Ehepartnerwahl, d. h. auf Basis derselben Menge ansässiger heiratsfähiger Personen Bevölkerungswachstum? War dieses nicht gemäß des „Stellenmechanismus“ nach Mackenroth an die Zahl der verfügbaren sozioökonomischen Stellen gebunden? Weiterhin ist fragwürdig, ob und wie das Rußdorfer Heiratsverhalten auf kurzzeitig wirkende Ein ussfaktoren reagierte. Temporäre Positiv- oder Negativausschläge der
ENTWICKLUNG DER HEIRATSZAHLEN
145
Abbildung 18: Jährliche Rußdorfer Heiratszahlen und Leipziger Roggenpreisindex 1582–1799 Vgl. Rahlf, Getreidepreise.
Heiratszahl um ein unverändertes Mittel sollten, sofern ihnen nicht statistische Streuung zugrunde lag, auf die Einwirkung positiver Hemmnisse zurückgehen. Zwei Formen der Beein ussung sind denkbar. Einerseits vermögen Krisen in die personellen wie materiellen Voraussetzungen des Heiratsgeschehens direkt massiv dezimierend einzugreifen und ihm dadurch kurzzeitig oder auf lange Sicht die Grundlage zu entziehen. Andererseits senken unmittelbar erfahrene Kriege, Teuerungen oder Krankheiten unter Umständen die Heiratslaune. Sichtbare Reaktionen des Heiratsverhaltens wurden durch drei der entweder Rußdorf oder dessen Bewohner unmittelbar einbeziehenden kriegerischen Kon ikte des 16. bis 20. Jahrhunderts angeregt. Während des Dreißigjährigen Krieges wirkte ein Konglomerat aller „positive checks“, sodass keine eindeutigen Kausalitäten identi zierbar sind. Belege für kriegerisches Treiben im Limbacher Land liefern die Kirchbücher ab Oktober 1632. Die einzigen beiden Hochzeiten des Jahres unter Rußdorfer Beteiligung fanden jedoch in eben diesem letzten Jahresviertel statt. Analog lag die Trauzahl 1633 leicht über dem Durchschnitt der vorangegangenen 50 Jahre bei fünf, obwohl die Kroaten noch bis in den September vor Ort marodierten. Andererseits lassen die zwischen 1636 und 1644 äußerst wenigen Eheschließungen (Ø 1,67) eine Korrelation mit den häu gen Truppendurchmärschen bzw. Plünderungszügen vermuten. In gleicher Weise mag die für das gesamte Jahr 1813 bezeugte Truppenpräsenz im Großraum Chemnitz 422 während des Sechsten Koalitionskrieges den
422
Vgl. Heimatstube Wittgensdorf, Riedel-Richtersche Chronik, 1790–1844, S. 46 ff.
146
NUPTIALITÄT
Abbildung 19: Rußdorfer Heiratszahlen 1800–1935
zeitgleichen moderaten Einbruch der Heiratszahl auf neun verantwortet haben. Das für schwere demographische Krisen typische anschließende Nuptialitätshoch fehlt allerdings in beiden Fällen. Im Gegensatz dazu reagierte das Rußdorfer Heiratsverhalten mustergültig auf den Ersten Weltkrieg. Die vorgenannten militärischen Kon ikte spürte die gesamte Dorfbevölkerung am eigenen Leib. An den Kampfhandlungen selbst nahmen jedoch, wie auch bei den restlichen Kriegen des 18. und 19. Jahrhundert mit sächsischer bzw. deutscher Involvierung, nur wenige Einwohner aktiv teil. Die „Urkatastrophe Europas“ wirkte hingegen auf die lokale Bevölkerungsentwicklung vorrangig durch die Einbeziehung bedeutender Teile der jungen ledigen bzw. potentiell prokreativen Männerschaft fern der Heimat. Deren Abwesenheit verminderte nicht nur die Konzeptionszahl in signi kantem Maße, sondern beeinträchtigte auch das Heiratsgeschehen. Bereits 1914 waren vier der elf seit Kriegsbeginn geschlossenen Ehen Kriegstrauungen 423. Über die Folgejahre sank die Hochzeitszahl nur leicht. Gleichzeitig stieg der Anteil der beschleunigten Eheschließungen vorerst an. Im Jahr 1915 lag er bei 50, 1916 bei 100 Prozent. Während der beiden nalen Kriegsjahre gingen Trauungen wie Kriegshochzeitenanteile zurück. Die zunehmende Verschlechterung der wirtschaftlichen Situation trug hierzu sicherlich bei. Von größerer Relevanz war aber vermutlich ein nuptialer Ermüdungseffekt. Mit je-
423
Eine vereinfachte und beschleunigte Form der Hochzeit etwa ohne Aufgebote oder durch Ferntrauung unter Anwesenheit lediglich der Braut. Auch postume Eheschließungen Gefallener sind möglich, um den Witwenstatus der hinterbliebenen Verlobten rechtlich zu legitimieren.
ENTWICKLUNG DER HEIRATSZAHLEN
147
dem Kriegsjahr stieg die Menge der beteiligten Soldaten, welche im Umkehrschluss dem heimischen Heiratsmarkt abgingen. Wer im Heimaturlaub den Bund fürs Leben schloss, hatte seine Partnerin mit Sicherheit meist schon vor dem Militärdienst näher kennengelernt. Für Frauen, die vor Kriegsbeginn keine Beziehung führten bzw. deren tatsächlicher oder potentieller Verlobter el, verkleinerte sich das „Angebot“ beständig. Von den 1917 heiratenden 17 Männern standen dementsprechend zwölf im Krieg und waren fünf weitere Ortsfremde offenbar vom Kriegsdienst verschont geblieben. Im letzten Kriegsjahr erreichte die Absenz ihren Höhepunkt. Nurmehr sieben Hochzeiten von Rußdorfer Einwohnern sind für 1918 bezeugt, derer sechs vor Kriegsende stattfanden. Unter den Bräutigamen befanden sich ein 23-jähriger Kanonier, ein 24-jähriger Unterof zier sowie ein 28-jähriger Gefreiter, die allesamt im Schnellverfahren vor den Altar traten. Einen verwitweten 58-jährigen Fabrikarbeiter und einen 51-jährigen ostpreußischen Schuhmacher hatte das fortgeschrittene Alter vor der Einberufung bewahrt. Der Letzte im Bunde, ein 22-jähriger Oberleitungsgehilfe bei der Leipziger Straßenbahn, war offensichtlich ebenfalls nicht eingezogen worden oder zumindest reklamiert. Unmittelbar nach Kriegsende schossen die Hochzeitszahlen trotz 142 Gefallener unter der Rußdorfer Männerschaft erwartungsgemäß für zwei Jahre, mit einem Kriegswitwenanteil von 11,7 Prozent, exorbitant in die Höhe. 424 Weitaus öfter und konsequenter als Kriege griffen epidemisch auftretende Infektionskrankheiten in das Bevölkerungsgefüge Rußdorfs ein. Dies lässt jedoch keineswegs automatisch auf eine stärkere Anfälligkeit des Heiratsverhaltens dafür schließen. Binnen dreieinhalb Jahrhunderten traten in Rußdorf lediglich zwei nachweisbare epidemische Ereignisse auf, mit denen das übliche Maß verlassende Nuptialitätsminima einhergingen. Nachdem sie schon von Juli bis Oktober 1633 im Dorf gewütet hatte, regierte die Pest während April und Mai 1639 mit voller Stärke. Waren 1633 trotzdem fünf Paare in den Frühjahrsmonaten bzw. zum Jahresende im November vor den Altar getreten, heiratete sechs Jahre später auch in den übrigen Monaten niemand. Ein anschließendes Hochzeitshoch blieb in beiden Fällen aus. Hingegen stieg die Heiratszahl 1795 auf einen nicht übermäßig hohen, aber durchaus beachtlichen Wert (13 gegenüber Ø von 7,9 zw. 1785 u. 1794). Im Vorjahr hatte ein markantes Nuptialitätstief mit einem ganzjährig grassierenden Fieber korrespondiert. Warum sich die drei Trauungen des Jahres auf den Mai konzentrierten, ist nicht nachvollziehbar, zumal der Monat keineswegs von Fiebertoten frei blieb. Den bedeutendsten Ein uss auf die Heiratsfreudigkeit sollten wirtschaftliche Veränderungen nehmen. Die Hochzeit in ihrer Funktion als sozioökonomischer Lebens- und Sicherungsvertrag mit demographischen Elementen setzte in Spätmittelalter und Neuzeit einen angemessenen Heiratsfonds in gebundenem oder ungebundenem Vermögen beider Ehepartner voraus. Theoretisch galt dessen Umfang dann für ausreichend, wenn 424
Vgl. EPA Rußdorf, KB XII: Trauregister 1904–1935.
148
NUPTIALITÄT
der Bräutigam und zukünftige Haushaltsvorstand in der Lage war, eine Familie respektive einen Haushalt dauerhaft zu versorgen. In der Praxis trat die gesamte „familia“ als Wirtschaftseinheit in Erscheinung. Ihre Mitglieder erfüllten variabel klar de nierte Aufgabenbereiche, weswegen auch jegliches Ausscheiden Einzelner nicht ohne Weiteres kompensiert werden konnte. Eheeintrittsvermögen des Mannes bzw. Einbringen der Frau waren in erster Linie für die persönliche Stellung innerhalb des Heiratsmarkts relevante Größen. Bis zu einem gewissen Grade ließ sich daran unter anderem ermessen, welche ökonomische Zukunft die Verbindung mit einem potentiellen Partner versprach. Der für angemessen erachtete Umfang des Heiratsfonds musste erheblich differieren. Selbst staatliche, lediglich Mindestanforderungen de nierende Heiratsschranken variierten erheblich je nach Ort, Zeit und Intention bzw. Motivation. Individuelle Ansprüche zogen aus dem persönlichen sozialen und wirtschaftlichen Hintergrund, dem eigenen Lebensalter, dem Selbstverständnis, dem Kulturraum, der Epoche, den geltenden politischen und ökonomischen Rahmenbedingungen, dem realen Lebensumfeld etc. Nahrung. Ungeachtet der konkreten Gestalt benötigter Vermögenswerte entwickelten sich die Beschaffungsbedingungen proportional zur individuellen Wirtschaftssituation, die sich ihrerseits mehr oder minder an der konjunkturellen Entwicklung orientierte. Ökonomische Krisen lassen daher Einbrüche vor allem der Hochzeitszahl erwarten. Gleichwohl wirkte nicht jede Missentwicklung auf die gesamte Gesellschaft bzw. für jede Gruppe in ähnlicher Intensität. Des einen Krise mochte des anderen Konjunktur bedeuten. Während Nahrungsmittelproduzenten respektive die zur Selbstversorgung fähigen Bauern zumindest von gewerblichen Krisen nur indirekt betroffen waren, litten im zweiten und dritten Sektor Beschäftigte sowohl unter diesen als auch den gesamtgesellschaftlich wirkenden Subsistenzkrisen unmittelbar. Materielles Vermögen konnte je nach Ausprägung und Situation einen mit dessen Umfang zunehmenden Schutzeffekt bieten. Teuerungen mussten demnach auch auf das Heiratsverhalten der einzelnen dörflichen Schichten verschiedenartig Ein uss nehmen. Grundbesitzlose und Kleinstellenbesitzer waren zuvorderst substanziell gefährdet. Heiratswillige dieser sozialen Kreise sahen ihren zum großen Teil oder vollständig monetären Heiratsfonds entweder rasch schwinden oder standen schlicht erschwerten Akkumulationsbedingungen gegenüber. Weichende Erben mussten darüber hinaus in wirtschaftlich schwierigen Zeiten unter Umständen vorläu g Abstriche ihrer Auszahlungssummen bzw. längere Wartezeiten hinnehmen. Der Heiratsfreudigkeit vollbäuerlicher Anerben dürften indes in erster Linie die erwartbaren Kosten der auch zum Statussymbol dienenden Hochzeitsfeierlichkeiten selbst Abbruch getan haben. Sie konnten mit relativer Sicherheit auf ihr Erbe als ausreichender Vermögensvoraussetzung vertrauen und bei Absenz anderweitiger triftiger Gründe das Ende einer Krise abwarten. Dennoch zeitigte nicht jede im Raum Limbach spürbare Teuerung eindeutig zuordenbare Reaktionen der Nuptialität. Zwischen 1616 und 1624 stieg der Getreidepreis um
ENTWICKLUNG DER HEIRATSZAHLEN
149
das Zehnfache 425 – der Scheffel Roggen galt 1622 zeitweise 44 Gulden 426 – und die Lebensmittelpreise im Allgemeinen zogen stark an 427. Die Rußdorfer Heiratszahl verharrte allerdings bis 1621 auf mittlerem bis leicht überdurchschnittlichem Niveau. Ab 1622 ging sie zwar zurück, jedoch erfolgte erst 1624/1625 ein Einbruch moderaten Ausmaßes von vier auf schließlich zwei Hochzeiten. Eine weitaus geringere Teuerung – der Scheffel Roggen stieg von 30 auf 84 Groschen 428 – el 1684 mit einem gleichwertigen momentanen Minimum zusammen. Die leichte Teuerung von 1746 lässt weder quantitative noch qualitative Auswirkungen erkennen. Zu den sieben, das gesamte Spektrum der ruralen Besitzstände widerspiegelnden Bräutigamen dieses Jahres (Ø 1736–1745 bei 6,9) zählten ein Anspanner, ein Handbauer, vier Kleinstellenbesitzer sowie ein Einwohner. Ebenso existiert keine Evidenz einer Reaktion auf die sächsische „Kipper- und Wipperzeit“ zum Ende des Siebenjährigen Krieges 1762/1763. Zwar befand sich die Rußdorfer Hochzeitszahl 1762 auf dem niedrigsten Stand (6) der gesamten Kriegszeit bzw. seit 1754 (Ø 1752–1761 bei 8,2), erreichte aber andererseits 1763 einen Hochstand (11). Zudem entstammten die Heiratenden beider Jahre wiederum allen Schichten. Die schwere Subsistenz- und Gewerbekrise 1769–1772 beein usste sicherlich auch die bereits ab 1768 niedrige Nuptialität. Zwei Drittel der 19 in diesem Zeitraum vor den Altar tretenden Männer rekrutierten sich allerdings aus unterbäuerlichen, zumeist gewerblich tätigen und im Verdacht geringerer Krisenresistenz stehenden Bevölkerungskreisen. Die Liste ließe sich unverändert bis ins 20. Jahrhundert fortsetzen, ohne dass mit den verwendeten Untersuchungsmethoden anhand der Rußdorfer Daten Hinweise auf eine potentielle Schichtenvarianz in der Reaktion des Heiratsverhaltens auf exogene Faktoren erkennbar wären. Der Peniger J. E. A. Jacobi berichtet 1791, „eine sechs bis sieben jährige heimliche Theuerung, nehmlich das Sipmaas Korn zu 1 rth. 18 gr. Gerste 30 gr. und Haver zu 22 bis 24 gr. hatte viel arme Leute gemacht“ 429, und tatsächlich brachen die Rußdorfer Heiratszahlen 1787–1789 deutlich ein. Keine 20 Jahre später „entstand große Hungersnoth“, „nachdem in diesem Jahr [1805] der Gedreitepreis sehr hoch“ gestiegen war. 430 Dem mag das Heiratsverhalten der Rußdorfer Rechnung getragen haben, doch mutet das Niveau der Hochzeitszahl lediglich auf die positive Spitze des Vorjahres bezogen verringert an, indem es jenem der Jahre 1800–1803 exakt entspricht. Mit einem ebenso hohen Preisniveau scheint 1810 ein signi kanter Einbruch auf vier Trauungen (Ø 1800–1809 bei 9,9) zu korrelieren. Dem steht allerdings Jacobis Bericht vom November 1810 entge-
425 426 427 428 429 430
Vgl. Callenberg, Falken, S. 7. Zum Vergleich verkaufte der Rußdorfer Christoph Lindner 1613 sein volles Anspanngut für 800 Gulden. – Vgl. ThStA Abg, Amtsgericht Altenburg, C I Loc. 1, Nr. 136, fol. 103. Vgl. Callenberg, Grumbach, S. 29. – Ein Meißner Gulden hielt 23 Groschen. Vgl. ebd., S. 31. Fritzsche, Jacobi, S. 140. Heimatstube Wittgensdorf, Riedel-Richtersche Chronik, 1790–1844, S. 29.
150
NUPTIALITÄT
gen: „Das beste aber war, daß der liebe Gott die seit vielen Jahren gehabte Theuerung wieder gemildert.“ 431 Wirkten hohe Lebensmittelpreise dämpfend auf die Heiratsfreudigkeit der Rußdorfer, sollten die vorangegangenen Jahre dementsprechend gleichfalls mit niedriger Nuptialität zu Buche geschlagen haben. Stattdessen wurde 1808 einer neuer Hochzeitsgipfel verzeichnet. Das europäische „Jahr ohne Sommer“ 1816 provozierte keine erkennbare Reaktion des Heiratsverhaltens und selbst die schwere Krise des protoindustriellen Textilgewerbes der späten 1830er und frühen 1840er Jahre, die das damals bereits gewerblich dominierte Dorf bis 1843 hart traf, hinterließ keine eindeutigen Spuren, obgleich das Hochzeitsquantum per annum zwischen 1835 und 1845 ein Tal durchlief. Weitaus markantere Züge trägt auf den ersten Blick das mit neun Trauungen 1854 relativ niedrige Heiratsquantum (Ø 1844–1853 bei 14,9). Eine alte ledige Magd starb 1855 in Rußdorf, wohin sie „zu Besuch gekommen u. hatte gern dableiben wollen, da sie in d. theuren Zeit kein Brod gehabt hat“. 432 Unter Umständen korrespondierten die wenigen Eheschließungen mit dem Getreidepreisanstieg. Wiederum lag die Hochzeitszahl aber auf dem Gipfel der Teuerung höher, unterschritt den zehnjährigen Durchschnitt nur geringfügig und entsprach einer größeren Nuptialität als zum Beispiel 1837, 1843 und 1848. Die Majorität der genannten aus Südwestsachsen überlieferten vor- bzw. protoindustriellen Wirtschafts- und Subsistenzkrisen ging in Rußdorf mit rückläu gen Trauzahlen einher. Ob diese Koinzidenz auf eine Korrelation schließen lässt, geht aus den aggregierten Personenstandsdaten nicht eindeutig hervor, da die Heiratsquantitäten in zahlreichen Jahren ohne bekannte Krisenerscheinung auf ein analoges Niveau elen bzw. dieses gar unterschritten. Ein Vergleich der Rußdorfer Heiratszahlenkurven mit den Leipziger Roggenpreisindizes bis 1800 offenbart gleichwohl seit dem späten 16. Jahrhundert eine auffällige Häufung regressiver Nuptialität in Zeiten hoher Getreidepreise. Momentane Maxima und Minima kontrastieren sich dabei oftmals direkt (1675, 1684, 1713, 1748, 1754, 1762) oder mit leichtem temporalem Versatz (1610/1611, 1621/1625, 1638/1639, 1693/1694, 1770/1771, 1788/1789). Allerdings weisen beide Kurven keine konsequente tendenzielle Gegenläu gkeit auf. Zwischen 1720 und 1744 entwickelten sie sich relativ parallel und teilten sich mehrfach Gipfel und Täler (1722, 1724, 1725, 1734, 1738, 1740). Die sich darin im Ganzen andeutende Reaktionsfreudigkeit des Heiratsverhaltens ließ in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts deutlich nach. Bis in die 1850er Jahre standen sich immer wieder Roggenpreisspitzen und niedrige Nuptialität gegenüber, danach verliefen beide Kurven unsystematisch abwechselnd in Parallelität oder Kontrast zueinander. Nach dieser erwartungsgemäßen Loslösung des Rußdorfer Heiratsverhaltens von den Lebensmittelpreisen bleibt es eindeutige Reaktionen auf die Konjunkturzyklen des 431 432
Fritzsche, Jacobi, S. 237 f. EPA Rußdorf, KB III, Beerdigungen 1855, Nr. 17.
ENTWICKLUNG DER HEIRATSZAHLEN
151
1871 begründeten Deutschen Kaiserreichs schuldig. Zwar wurde während der Gründerzeit ein neuer Heiratsgipfel erklommen, jedoch lag die Nuptialität damit dennoch deutlich unter dem Stand von zum Beispiel 1867. Auf den Gründerkrach folgten zeitgleich mit der ersten großen Depression unmittelbar Jahre mäßig bis äußerst geringer Heiratslust und -raten (1874, 1876/1877), denen allerdings 1875 ein vergleichsweise hoher Wert entgegenstand. Noch vor der leichten konjunkturellen Erholung 1879–1882 nahm die Heiratshäu gkeit wieder zu, markierte jedoch erst in der zweiten Depressionsphase 1882–1886 neue Höchstwerte, die selbst in der weltwirtschaftlichen Hochkonjunkturphase 1897–1913 nicht durchgängig erreicht bzw. überschritten wurden und hinter denen sogar das Maximum der Heiratszahl von 1903 zurückstand. Eine unzweifelhafte Reaktion rief erst die Weltwirtschaftskrise 1929 hervor. In den beiden darauffolgenden Krisenjahren el die Rußdorfer Heiratszahl um insgesamt 54,54 Prozent, erholte sich 1932 wieder und zeigte 1933 bzw. insbesondere 1934 Anzeichen eines Ersatzhochs. Bräunsdorf Die Traubücher Bräunsdorfs setzen im Januar 1644 ein. Hierin sowie in den 1876 beginnenden örtlichen Standesamtsunterlagen wurden bis zum 31. Dezember 1935 insgesamt 2893 Eheschließungen registriert 433. Analog zum Verhältnis der Gesamtgeburtenzahlen beider Orte steht auch das Bräunsdorfer Hochzeitsquantum hinter jenem Rußdorfs zurück (22,02 %). Unter Extrapolation 434 der überlieferungsbedingt fehlenden 62 Jahreswerte des Bleicherdorfes verringert sich die Differenz auf lediglich 13,67 Prozent. Während des 17. und 18. Jahrhunderts herrschte gemäß dem anfänglichen Bevölkerungsübergewicht Bräunsdorfs ein umgekehrtes Verhältnis zwischen den Hochzeitszahlen der Untersuchungsorte vor. Dessen ungeachtet glich sich die Nuptialitätsentwicklung. Auf lange Sicht nahm das absolute Bräunsdorfer Heiratsquantum zu, kam dabei dem Rußdorfer Wachstum allerdings nicht nahe. Gegenüber den hochgerechneten Werten des 17. verzeichneten die lokalen Kirchbücher des 18. Jahrhunderts 43,6 Prozent zusätzliche Eheschließungen. Im nachfolgenden Dezennium betrug das Wachstum nochmals vergleichsweise moderate 63,93 Prozent. Wie im Rußdorfer Fall konzentriert sich ein nicht unbedeutender Teil aller Hochzeiten, der nach oben weisenden Bevölkerungsentwicklung Rechnung tragend, am Ende des Untersuchungszeitraums. Zwischen 433
434
Hierunter sind nicht nur vor Ort statt ndende Hochzeiten (1908) zusammengefasst, sondern ebenso alle Proklamationen. Die dreifache Hochzeitsankündigung erfolgte in der Regel in den aktuellen Wohnorten beider Ehepartner, musste also nicht mit dem Trauort identisch sein. Zur Berechnungsgrundlage dient hierbei ein Vergleich der Dekadenkohorten beider Orte 1644–1699. Im Durchschnitt erreichte der Rußdorfer Wert in dieser Zeit 79,63 Prozent des Bräunsdorfers. Wird diese Proportion auf die Rußdorfer Heiratszahl des Zeitraums 1582–1643 umgeschlagen, errechnet sich für Bräunsdorf zeitgleich eine geschätzte Hochzeitszahl von rund 310.
152
NUPTIALITÄT
1880 und 1929 (17,12 % des UZ) verzeichneten die Bräunsdorfer Personenstandsakten 30,66 Prozent aller darin überlieferten Trauungen (bei EP 14,12 % : 27,66 %). Das Verteilungsungleichgewicht blieb ebenfalls hinter den Rußdorfer Ausmaßen zurück. Auf die ersten 156 von den Kirchbüchern abgedeckten Jahre (53,43 % des UZ) ent elen 34,29 Prozent der bekannten Eheschließungen (bei EP 61,58 % : 40,68 %). Die in Dekadenkohorten gefassten Hochzeitszahlen zeigen in Tabelle 10 eine über den gesamten Untersuchungszeitraum anhaltende tendenzielle Zunahme. Einer in Rußdorf beobachtbaren Wanne des 17. Jahrhunderts entbehrt das Bräunsdorfer Beispiel. Bei einer geschätzten Gesamtbevölkerung über anfänglich 250–300 Personen indizieren die Werte dieser Zeit im Gegenteil eine hohe Nuptialität von 16–20 Hochzeiten pro 1000 Einwohnern. Markante Einbrüche der Heiratszahlen in den 1650er und 1680er Jahren korrelieren wie im Rußdorfer Fall mit vergleichsweise großen Anteilen endogener Eheschließungen über 31 bzw. 43 Prozent (Kap. 5.7). Hingegen fallen hohe Werte in den 1640ern und 1660ern mit niedrigem Aufkommen „einheimischer“ Trauungen über sieben bzw. 18 Prozent zusammen. Unter Berücksichtigung dieser offensichtlichen Wechselwirkung erscheint das im Ganzen gehaltene Niveau zwischen 1640 und 1729 in einem anderen Licht. Beiderseits hohe Werte in den 1670er, 1700er und 1720er Jahren sprechen etwa für eine leichte Zunahme der Heiratsfähigen. Zugleich wuchs die dörfliche Häuslerschaft bis in die 1730er deutlich (Kap. 8.1). Entsprechend erlebte die Hochzeitszahl im ersten Drittel des 18. Jahrhunderts einen Niveausprung. Ab den 1770ern deutet sich eine neuerliche Mehrung der Heiratsfähigen an, die jedoch erst zwischen 1790 und 1809 mit weiteren Hofstellengründungen korrespondieren konnte. Im selben Zeitraum fallen die Zahlen aus dem Rahmen. So ging ein identischer Anteil endogener Trauungen 1790/1799 und 1810/1819 mit erheblich differierenden Hochzeitszahlen einher. Desgleichen sticht die Nuptialität der 1790er im langfristigen Vergleich überproportional heraus. Ein zweiter nachhaltiger Niveausprung wird erst in den 1820ern erkennbar. Weitere Wachstumsschübe sind seit den 1860ern nach Inkrafttreten der Feudalablöseverträge mit zehnjährigen Intervallen leicht rückläu ger Nuptialität bis zum Ende des Untersuchungszeitraums feststellbar. Hinweise auf Krisenhörigkeit der Bräunsdorfer Nuptialität geben die Dekadenkohorten maximal mit dem moderaten Einbruch während des Ersten Weltkrieges. Vielmehr deutet sich wie im Rußdorfer Fallbeispiel eine enge, positive Bindung an soziostrukturelle Entwicklungen an. Durch die Zusammenfassung der einzelnen Jahreswerte werden freilich an den Kohorten nur langfristige Entwicklungslinien ersichtlich. Die Hochzeitszahlen per annum schwankten dagegen über den gesamten Untersuchungszeitraum massiv um bis zu 100 Prozent, ohne dadurch zwangsläu g auf äußere Ein üsse zu reagieren. Drei Perioden Bräunsdorfer Hochzeitszahlenentwicklung zwischen 1644 und 1935 sind vor dem Hintergrund der getroffenen Beobachtungen zu unterscheiden: Ein erster Entwicklungsabschnitt, den geringe Schwankungen der Trau- wie der lokalen Hei-
153
ENTWICKLUNG DER HEIRATSZAHLEN
Tabelle 10: Bräunsdorfer Hochzeiten nach Dekadenkohorten prozentualer Anteil1
Trauungen (1640) 1644–1649
2
Wachstum
29 (48) 33
1,00 % (1,51 %) 1,14 % (1,04 %)
13,79 % (–31,25 %)2
53 66
1,83 % (1,67 %) 2,28 % (2,08 %)
60,61 % 24,53 %
38
1,31 % (1,20 %)
–42,42 %
56
1,94 % (1,76 %)
47,37 %
55 58 61
1,90 % (1,73 %) 2,01 % (1,83 %) 2,11 % (1,92 %)
–1,79 % 5,45 % 5,17 %
73 75
2,52 % (2,30 %) 2,59 % (2,36 %)
19,67 % 2,74 %
70 79 79 68
2,42 % (2,21 %) 2,73 % (2,49 %) 2,73 % (2,49 %) 2,35 % (2,14 %)
–6,67 % 12,86 % 0,00 % –13,92 %
100 84
3,46 % (3,15 %) 2,90 % (2,65 %)
47,06 % –16,00 %
79 104
2,73 % (2,49 %) 3,60 % (3,28 %)
–5,95 % 31,65 %
94 117 100
3,25 % (2,96 %) 4,04 % (3,69 %) 3,46 % (3,15 %)
–9,62 % 24,47 % –14,53 %
152
5,25 % (4,79 %)
52,00 %
149 172 126
5,15 % (4,69 %) 5,95 % (5,42 %) 4,36 % (3,97 %)
–1,97 % 15,44 % –26,74 %
1910–1919 1920–1929
191 172 225
6,60 % (6,02 %) 5,95 % (5,42 %) 7,78 % (7,09 %)
51,59 % –9,95 % 30,81 %
1930–1935
135
4,67 % (4,25 %)
–40,00 %
1650–1659 1660–1669 1670–1679 1680–1689 1690–1699 1700–1709 1710–1719 1720–1729 1730–1739 1740–1749 1750–1759 1760–1769 1770–1779 1780–1789 1790–1799 1800–1809 1810–1819 1820–1829 1830–1839 1840–1849 1850–1859 1860–1869 1870–1879 1880–1889 1890–1899 1900–1909
1
Die Anteile am extrapolierten Gesamtwert von 3203 Hochzeiten sind kursiv gehalten.
2
Extrapolation durch entsprechende Addition des Durchschnittswertes der Kohorte.
ratsfähigenzahl auszeichnen, umfasst die zweite Hälfte des 17. sowie das erste Fünftel des 18. Jahrhunderts. Eine hohe Zahl von durchschnittlich fünf Hochzeiten pro Jahr bei einer leicht wachsenden Gesamtbevölkerung von schätzungsweise 250–350 Personen scheint dem Konzept des westeuropäischen Heiratsmusters sowie einer statischen Agrargesellschaft zu entsprechen. Die anschließende Periode kopiert bis in die 1810er Jahre die Charakteristika des ersten Abschnitts auf höherem absolutem Niveau von durchschnittlich sieben bis acht jährlichen Trauungen und mutmaßlich unveränderter
154
NUPTIALITÄT
Abbildung 20: Jährliche Bräunsdorfer Konzeptionszahlen und Leipziger Roggenpreisindex 1640– 1799. Vgl. Rahlf, Getreidepreise.
Heiratsfreudigkeit. Eine deutlich zu Tage tretende dauerhafte Wachstumsorientierung beweist erst die dritte, den Untersuchungszeitraum abschließende Phase. Bei zunächst bis Mitte des 19. Jahrhunderts auf durchschnittlich 19 Hochzeiten pro mille steigender und danach regressiver Nuptialität auf den vorangegangenen langjährigen Stand von 14–15 Promille nahm das Hochzeitsaufkommen wellenförmig zu. Vorläu ge Maxima lösten sich in einer Stoßzeit Mitte des 19. Jahrhunderts in kurzen Abständen (1846, 1867, 1874) ab. Die nächstfolgenden Gipfelwerte 1919/1920 sind als Ersatzhoch in Reaktion auf den Einbruch während des Ersten Weltkrieges zu werten. Der Scheidepunkt in der Bräunsdorfer Heiratszahlenentwicklung stand bis 1935 im Gegensatz zur Rußdorfer Entwicklung offenbar aus. Desgleichen sank die Nuptialität erst 1933 auf einen im Vergleich noch immer beachtlichen Wert von neun Hochzeiten pro mille. Das Bräunsdorfer Heiratsverhalten lässt starke Anzeichen einer Korrelation mit der dorfgesellschaftlichen Entwicklung erkennen, was eine regulierende Funktion sozialer Strukturelemente anzeigt. Diskutabel ist auch in diesem Fall die Ausrichtung der Reaktionskette bei langfristigen Prozessen. Bedingte ein Wandel der Sozialstruktur Veränderungen im Heiratsaufkommen gemäß des „Stellenmechanismus“ oder motivierten diese erst dessen Anpassung? Aus der bloßen jährlichen Heiratsmenge kann vordergründig auf die Bedeutung in das demographische Geschehen mit vorübergehender Wirkung eingreifender Ereignisse, in aller Regel Krisen, geschlossen werden. Wie eingangs beschrieben und dem Beispiel Rußdorfs folgend sollten vor allem konjunkturelle Entwicklungen Ein uss auf die Bräunsdorfer Nuptialität genommen haben, während Krankheiten und militärische Kon ikte kaum signi kante Reaktionen erwarten ließen.
ENTWICKLUNG DER HEIRATSZAHLEN
155
Auf den ersten Blick widersprechen die mit überlieferten Seuchen einhergehenden Heiratszahlen im 17. und 18. Jahrhundert den Annahmen. Ob fehlender Daten ist eine Reaktion auf die Pest von 1641 nicht zu ermessen. Hingegen verzeichneten die Bräunsdorfer Kirchbücher im Blatternjahr 1685 lediglich zwei Eheschließungen außerhalb der Seuchenmonate (Januar bis Februar). Mit der „roten Ruhr“ 1751 ging ein Einbruch von zehn auf sechs Trauungen einher und die abermals 1767 Opfer fordernden Blattern korrelierten mit einem Rückgang von zwölf auf fünf Hochzeiten. Demgegenüber lässt die lokale Heiratszahl weder eine Reaktion auf Blattern und Ruhr 1806, noch auf den Typhus 1814 und 1857 oder die Masern 1887 vermuten. Im Gegenteil traten Paare in diesen Jahren auch zeitgleich zu den grassierenden Krankheiten vor den Altar. Daraus ließe sich auf eine nuptiale Wirkungsherabsetzung epidemischer Krankheiten spätestens während des 19. Jahrhunderts schließen. Jedoch fehlen eindeutige Belege einer kausalen Beziehung zwischen Ereignis und statistischen Variablen in den vor 1800 gelagerten Fällen. So war die Mitte der 1680er Jahre erreichte Hochzeitszahl zwar zweifelsohne niedrig, trat aber unter anderem auch 1657, 1683 und 1689 ohne konkrete Ursache auf. Überdies wütetete die damalige Seuche den spärlichen Belegen zufolge von Januar bis Februar, den Sterbezahlen nach maximal bis April und dezimierte die Zahl der heiratsfähigen Personen nicht. Dennoch wagten in den mindestens verbleibenden zwei Jahrdritteln nur zwei Paare den Eheschluss. Die niedrige Nuptialität des Jahres könnte angesichts dessen auch eine Spätfolge schlechter Ernten 1684 darstellen. Mit der „roten Ruhr“ ging 1751 eine die übliche Varianzbreite (zw. 1731 u. 1771 Ø 7,6) nur leicht verlassende Heiratszahl einher, die in erster Linie infolge hoher Jahreswerte unmittelbar davor und danach niedrig erscheint. Zeichnete die Krankheit für geringere Heiratslust verantwortlich, müsste unter deren Regime von August bis November ein nuptialer Tiefstand fallen. Stattdessen wurden allein im Oktober drei der sechs Ehen des Jahres geschlossen. Einzig für den 1767 zu beobachtenden Einbruch der Hochzeitszahlen auf fünf mag die Blatternepidemie vom Januar und Februar verantwortlich zeichnen. Zwar lag auch dieser im seinerzeit üblichen Schwankungsrahmen, wurde in anderen Jahren des näheren temporalen Umkreises scheinbar grundlos erreicht oder noch unterschritten (zum Beispiel 1768, 1776) und könnte aus den hohen Nuptialitätsraten 1765/1766 resultieren, doch blieben die Trauungen des Jahres außergewöhnlich auf dessen zweite Hälfte beschränkt. Umso stärker wiegen die Indizien für eine Ansprechbarkeit der Heiratslust auf militärische Kon ikte. Die in der Region während der 1630er und frühen 1640er Jahre unzweifelhaft spürbaren Wirren des Dreißigjährigen Krieges gingen mit hoher Wahrscheinlichkeit am Bräunsdorfer Heiratsverhalten nicht spurlos vorbei. Relativ hohe Heiratsziffern 1644 und 1646, womöglich aus aufgeschobenen Trauungen resultierend, stützen diese überlieferungsbedingt nicht veri zierbare Annahme. Unklar bleiben die Hintergründe der 1647 bzw. 1649 äußerst niedrigen Hochzeitszahlen (je 1). 60 Jahre
156
NUPTIALITÄT
Abbildung 21: Bräunsdorfer Heiratszahlen 1800–1935
später korrelierten die schwedischen Kontributionen 1706 mit einem nur moderaten, den normalen Schwankungsrahmen nicht verlassenden Rückgang der Eheschließungen. Abermals waren dem allerdings zwei Jahre hoher und höchster Werte vorangegangen. Gleiches galt, als die Hochzeitszahl 1756 um 58,86 Prozent unter das langjährige Mittel (zw. 1736 u. 1776 Ø 7,29) el. Dies und die folgenden vier Jahre gleichbleibend geringer Heiratsfreudigkeit muten dem Siebenjährigen Krieg geschuldet an: Für viele Einwohner war es nicht möglich, die hohen Steuern und Abgaben zu bezahlen. Es gab [im gesamten Schönburgischen Raum Waldenburg] zahlreiche Einquartierungen von Soldaten und viele Truppendurchmärsche. 435
Für eine kausale Beziehung sprechen auch die überdurchschnittlichen, Merkmale eines Ersatzhochs tragenden Trauzahlen der Jahre 1761/1762. Die Koalitionskriege des späten 18. und frühen 19. Jahrhunderts tangierten die Bräunsdorfer sowohl durch zusätzliche Steuerlasten, Truppendurchmärsche und Einquartierungen als auch durch Einbeziehung eines mengenmäßig unbestimmten geringen Teils der ledigen jungen männlichen Einwohnerschaft in die aktiven Kampfhandlungen. Sofern dies demographische Auswirkungen zeitigte, gehen solche aus der Gegenüberstellung der stark alternierenden jährlichen Hochzeitszahlen 1792–1815 und quellenmäßig belegter, Bräunsdorf involvierender Ereignisse nicht eindeutig hervor.
435
Vgl. Callenberg, Falken, S. 7.
ENTWICKLUNG DER HEIRATSZAHLEN
157
Dasselbe muss für die Reichseinigungskriege 1864, 1866 und 1870/1871 gelten, an denen einige Dorfbewohner aktiv teilnahmen. Während die Hochzeitszahlen 1864 und 1870/1871 weder positiv noch negativ ungewöhnliche Ausmaße annahmen, korrespondierte ein moderater Einbruch (9) 1866 vielleicht mit den Kampfhandlungen im Juni und Juli des Jahres bzw. reagierten sie auf die den Sachsen im Friedensschluss vom 21. Oktober 1866 auferlegten zehn Millionen Taler an Kriegskontributionen. 436 Die ungleiche Verteilung der Hochzeitsereignisse des Jahres – sechs von neun fanden in der ersten Jahreshälfte statt – stützt den Eindruck. Eine unbestreitbare und zugleich die markanteste Beein ussung der Nuptialität ist jedoch dem Ersten Weltkrieg beizumessen. Mindestens 86 Einwohner, zumeist ledige junge Männer, leisteten zwischen 1914 und 1918 aktiven Kriegsdienst, 45 kehrten nicht wieder und wurden dem lokalen Heiratsmarkt so dauerhaft entzogen. Die Abwesenheit der Soldaten schlug sich in den Heiratszahlen jedoch erst 1918 merklich nieder. Mit ihren Jahreswerten entsprachen 1914 (18) und 1917 (15) dem Vorkriegszustand (Ø 1904– 1913 bei 18,8) und selbst die geringe Zahl 1915/1916 (je 12) war binnen 20 Vorkriegsjahren ohne ersichtlichen Grund mehrfach erreicht (1895, 1907) oder gar unterschritten (1897, 1899) worden. Zunächst äußerte sich der Kriegszustand wie im Rußdorfer Fall in zahlreichen Kriegstrauungen, deren Anteil 1915 bei 58,3 und 1916 gar bei 91,67 Prozent lag, um 1917 wieder auf sieben von 15 Eheschließungen zurückzugehen. Indes referenziert die bescheidene Hochzeitszahl 1918 unmissverständlich auf den sicherlich leer gefegten Heiratsmarkt und die desolate ökonomische Gesamtsituation gleichermaßen. Fünf der sechs Eheschließungen dieses Jahres fanden vor Kriegsende statt. Darunter war allerdings nur eine Kriegstrauung. Ein weiterer Bräutigam trat als Soldat unter vollständigem Zeremoniell in die Ehe ein. Über die Armeezugehörigkeit der übrigen drei Kandidaten, eines 23-jährigen Heizers in Piesteritz, eines 29-jährigen Rußdorfer Wirtschaftsgehilfen sowie eines 31-jährigen Kleingraupaer Werkmeisters, kann nur spekuliert werden, da der Bräunsdorfer Pfarrer seinerzeit auf die Kennzeichnung von Soldaten verzichtete. Die beiden Jahre nach Kriegsende stachen mit bis dahin ungekannten Heiratsmengen aus dem gesamten Untersuchungszeitraum heraus. Aufgeschobene Eheschließungen und Ersatztrauungen runden damit das Bild des einzigen unzweifelhaft demographisch einschneidend auf Bräunsdorf wirkenden militärischen Großereignisses in Manier einer Krise „alten Typs“ 437 ab. Gegenüber den, sofern vorhanden, meist unsicheren Anzeichen kausaler Verbindungen zwischen Bräunsdorfer Nuptialität und kriegsbedingten bzw. epidemischen Krisen deutet vieles auf eine Ansprechbarkeit des lokalen Heiratsverhaltens auf Konjunkturzyklen hin. Ein Vergleich der jährlichen Bräunsdorfer Heiratszahlen- mit der gleichzeitigen Roggenpreisentwicklung des 17. und 18. Jahrhunderts in Leipzig bzw. des 436 437
Vgl. Czok, Geschichte Sachsens, S. 377 f. Vgl. Ehmer, Krisen, S. 899ff.
158
NUPTIALITÄT
19. in Roßwein offenbart eine diskontinuierliche, aber dennoch beachtliche, bis etwa 1850 reichende tendenzielle Gegenläu geit der Kurven. Ihren Ausdruck ndet diese vor allem in wiederholt gleichzeitigen (1651, 1673, 1684, 1693, 1699, 1734, 1745, 1748, 1754, 1756, 1794, 1855, 1891) oder zeitlich leicht verschobenen Extremen (1771/1772, 1787/1789, 1847/1848, 1799/1800). Parallele bzw. nah beieinanderliegende Spitzen- oder Tiefstwerte (1656, 1675, 1689, 1719, 1724, 1736, 1745, 1761/1763, 1841, 1843, 1844, 1860/1861, 1867, 1874) konterkarieren den Eindruck allerdings, zumal sie sich nicht auf mindere Ausschläge beschränken, sondern teils nachweislich in Bräunsdorf emp ndlich spürbare Teuerungen einschließen. Zum Beispiel stiegen die Hochzeitszahlen trotz beginnender In ation 1761 auf ein hohes Niveau von annähernd 100 Prozent über dem langjährigen Mittel und verblieben dort bis 1762. Allein im dritten teuren Jahr gingen sie um 50 Prozent zurück, ohne das normale Maß zu verlassen. Den augenscheinlichen Antagonismus relativiert der Bericht des damaligen Jahnsdorfer Pfarrers Adam Gottlieb Kerzig: So elend nun die damahligen Zeiten schienen, [...] so war doch überall Geld zu verdienen, daß niemand leiden durfte. Die Commercia waren im schönsten Flor, und es konnten nicht genug Waaren vorfertiget und herbey geschaft werden. Die hiesigen Strumpfwirker und Leinweber nehreten und mehreten sich ungemein. Jedwede Profession hatte ähnliche Verdienste. Nur allein die Bauersleute und andere Hausväter waren in gewißermaßen übel daran. Da alles den Fabriquen und Professionen zulief, so waren Gesinde und Arbeits Leute rar, und mußten übertheuer bezahlt und alle Unarten an ihnen erdultet werden. Die geringsten Leute waren Herren und mußten zu dem vielen Gelde noch gute Worte bringen. 438
Entsprechend vertraten die Bräutigame 1761–1763 jährlich fast das gesamte dorfgesellschaftliche Spektrum von der Hausgenossen- bis zur Vollbauernschaft in einem repräsentativen Verhältnis mit unverändertem Schwerpunkt auf den unterbäuerlichen Besitzklassen. In der Regel korrelierten mit den überlieferten, die regionale Wirtschaft einbeziehenden vor- bzw. frühindustriellen Agrarkrisen jedoch relativ niedrige Heiratszahlen. Schichtenspezi sche Auswirkungen werden anhand der Bräunsdorfer Daten zu keinem Zeitpunkt ersichtlich. Als die Kombination aus hartem Winter und trockenem Sommer die Getreideernte wie „Wiesewachs“ 1684 verdarb und die Kornpreise explodieren ließ, konnte der Bräunsdorfer Pfarrer analog zum Teuerungsjahr 1651 keine einzige Hochzeit verzeichnen. Mit der gesamteuropäischen Schlechtwetter- und Misserntenperiode 1708–1713, deren Ein uss auf die sächsische Agrarwirtschaft allerdings scheinbar nur begrenzte Ausmaße annahm, gingen demgegenüber keine eindeutigen Reaktionen der Heiratsfreudigkeit einher. Hingegen dämpfte die schwere Subsistenzkrise der frühen
438
EPA Jahnsdorf, KB III: Kirchbuch 1714–1782, Chronik, S. 2.
ENTWICKLUNG DER HEIRATSZAHLEN
159
1770er Jahre die Bräunsdorfer Nuptialität signi kant. Zwar wuchs die Zahl der Eheschließungen zunächst seit 1768 stark bis auf 61,31 Prozent (1770) über das langjährige Mittel (zw. 1750 u. 1790 Ø 7,4) an und sank noch in der Krise 1771 nur leicht ab, brach aber zumindest auf deren Höhepunkt massiv auf einen zuletzt 1699 tangierten absoluten Grad ein. Entgegen allen Erwartungen rekrutierten sich die Heiratswilligen von 1772 keineswegs aus dem theoretisch krisenfesteren vollbäuerlichen Milieu. So ehelichte zum einen der Weißbecker und Limbacher Einwohner Christian Gottlob Arnold, Sohn eines Grünhainer Eisenhändlers, die älteste Tochter des Bräunsdorfer Papiermüllers, zum anderen der Bräunsdorfer Leineweber und Häusler Johann Michael Illing, Erbe seines Vaters, die älteste Tochter eines ansässigen Gärtners. Mit der Teuerung von 1805 el die geringste Heiratszahl seit dem Siebenjährigen Krieg zusammen. Da dem eine seit 1803 anhaltende Regression vorausgegangen war und trotz angeblich bis 1810 fortwährend hoher Kornpreise in dem dazwischenliegenden Intervall normale bis hohe jährliche Trauzahlen auftraten, kann über eine Korrespondenz beider Ereignisse nur gemutmaßt werden. Sowohl 1805 als auch 1810 heiratete kein ausschließlich im agrarischen Bereich Tätiger aus oder nach Bräunsdorf. Im Gegensatz dazu vertraten die wenigen (4) Bräutigame des „Jahres ohne Sommer“ 1816 das gesamte dörfliche Besitzklassenspektrum. Abermals bleibt trotz der mit den damaligen erheblichen Nahrungsmittelpreisen korrelierenden geringen Nuptialität ein kausaler Zusammenhang fraglich, da die Hochzeitszahl im Vorjahr, zu Beginn der Misserntenperiode, noch tiefer (3) gefallen war. Ähnliches gilt für die normalen bis niedrigen Werte in den Agrarkrisenjahren 1847 (8) und 1855 (5), denen ein stärkerer Rückgang der Eheschließungen 1852 (4) ohne bekannte Ursache gegenüberstand. Unter allen Bräutigamen dieser drei Jahre ndet sich lediglich 1855 ein Angehöriger der Vollbauernschaft. Nach 1850 verloren Agrarkrisen im Zuge der fortschreitenden industriellen Entwicklung für die Industriestaaten global zugunsten überregional und meist international wirkender gewerblicher, nanzieller und Immobilienkrisen an Bedeutung. Die im Limbacher Land stark empfundene Krise der Strumpfwirkerei der späten 1830er und frühen 1840er Jahre hinterließ in den Bräunsdorfer Heiratsregistern keine zuordenbaren Spuren. Angesichts der zu diesem Zeitpunkt noch unbedeutenden örtlichen Strumpfwirkerei stand anderes nicht zu erwarten. Zudem heirateten selbst auf dem Höhepunkt der Krise – der Rußdorfer Situation nach zu urteilen – 1843 allein sieben von 19 dem Strumpfwirkerhandwerk nachgehende Bräutigame des Zeitraums 1837–1843. Desgleichen zeigte sich die Heiratsfreudigkeit der Bräunsdorfer von der konjunkturellen Entwicklung des ausgehenden 19. und frühen 20. Jahrhunderts wenig beein usst. Während der Gründerjahre blieb die Heiratszahl auf durchschnittlichem Niveau, erreichte dagegen ein Jahr nach dem Gründerkrach 1874 einen neuen, bis 1919 geltenden Spitzenwert (26), freilich um danach wieder zurückzugehen bzw. in der fortwährend schwachen Konjunktur 1878 einen Tiefstand (8) zu markieren. Zwischen 1879 und 1882, zeitgleich mit einer leichten ökonomischen Erholungsphase, stieg die jährliche Trauzahl
160
NUPTIALITÄT
zwar sukzessive wieder in den gehobenen Bereich (22), doch wurde dieser während der folgenden kräftigen Depression 1884 bei nur minimal zurückgehender Nuptialität kopiert. Niedrige bis durchschnittliche Werte (8–17) begleiteten die schwache Depression 1890–1895, setzten sich allerdings auch in der anschließenden Hochkonjunktur weiter fort. Die 1899 bei 5,06 Promille liegende Nuptialität kontrastierte diese ebenso wie jene des Folgejahres (16,86) deren gleichzeitige kurze Unterbrechung. Eine relativ hohe Heiratsfreudigkeit begleitete die In ationsjahre Anfang der „Goldenen Zwanziger“ bis zur Hyperin ation 1923. Erst 1924 ging die Heiratsziffer, möglicherweise als Reaktion auf die vorangegangene Krise, kurzzeitig signi kant zurück. Die den Untersuchungszeitraum abschließende Weltwirtschaftskrise 1929 vermochte in die Bräunsdorfer Nuptialität ebenfalls nicht sichtbar einzugreifen. Anstatt in kontinuierliche Stagnation oder massive Regression zu verfallen, verharrten die Zahlen 1929–1931 zwar tatsächlich auf einem relativ hohen Niveau (17/18), wuchsen aber noch im Laufe der Depression bis 1932–1934 auf Spitzenwerte an (21–34). Insgesamt indizieren die besonders in Jahren wirtschaftlicher Krisen oft niedrigen Heiratszahlen tatsächlich eine gegenüber anderen positiven Regulativen erhöhte Ansprechbarkeit der Bräunsdorfer Nuptialität zumindest auf agrarische Konjunkturzyklen. Nach deren Bedeutungsverlust in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts büßte die Wirtschaftsentwicklung ihren Ein uss auf das lokale Heiratsverhalten allerdings weitgehend ein. Zusammenfassung Einander gegenübergestellt weisen die Nuptialitätskurven der Untersuchungsorte sichtliche Ähnlichkeiten auf. Gleich den Natalitätsgraphen verlaufen sie bis zum Beginn des 19. Jahrhunderts im Ganzen parallel, um nachfolgend auseinanderzustreben. Weniger konsequent als die Geburtenkohorten, aber dennoch regelmäßig, elen die aggregierten Trauzahlen Rußdorfs bis in die 1710er Jahre hinter die Bräunsdorfer zurück. Während der folgenden neun Dekaden überwogen im Vergleich bald diese, bald jene, bevor das ursprüngliche Verhältnis endgültig umgekehrt wurde und die Rußdorfer Zahlen abhoben. Demgemäß liegt zwischen dem absoluten Maximum der Hochzeitszahl 1920 und dem Durchschnitt der 1800er in Rußdorf ein Wachstum über 374,75 Prozent, während es in Bräunsdorf von den 1790ern mit derselben Quote ausgehend lediglich 260 Prozent beträgt. Ebenso stehen die mittleren Wachstumsraten zwischen den 1650er Jahren und der Wende zum 19. Jahrhundert in Bräunsdorf (6%) deutlich hinter denen in der altenburgischen Exklave (12,15%) zurück. Das Heiratsverhalten beider Dorfgesellschaften resultierte zu Anfang in relativ gleichbleibenden Werten. Während Rußdorf aber im 17. Jahrhundert zunächst einen leichten Niveaueinbruch erlebte, an den sich ein bis zum Ersten Weltkrieg reichendes tendenzielles stufenartiges Wachstum angliederte, erlebte Bräunsdorf bar jeden
ENTWICKLUNG DER HEIRATSZAHLEN
161
Abbildung 22: Hochzeitszahlen nach Dekaden für Sachsen, Rußdorf und Bräunsdorf im Vergleich Quelle: Burkhardt, S. 28 ff.
Einbruchs im frühen 18. Jahrhundert lediglich einen Niveausprung und erst seit den 1820ern eine anhaltende wellenförmige Progression. Zur Zeit der sächsischen Industrialisierung im 19. und frühen 20. Jahrhundert folgten die Untersuchungsorte derselben aufwärts gerichteten Hochzeitszahlenentwicklung, wenngleich mit unterschiedlichem Grad. Dabei legen die Kurven nach 1850 eine auffallende Parallelität an den Tag, die sie im Vergleich mit dem sächsischen, beinahe linearen Verlauf vermissen lassen. Abseits der identischen Entwicklungsrichtung teilen die drei Graphen lediglich das kriegsbedingte Tal in den 1910er Jahren (Abb. 22). In beiden Dörfern indizieren zeitliche Verortung und Verlauf der langfristigen Wachstumsprozesse enge Interdependenzen zwischen Nuptialität und soziostruktureller Entwicklung. Insbesondere im 18. Jahrhundert fallen Niveausprünge der einen mit Veränderungen der anderen zusammen. Die frühneuzeitlichen Agrar- und Protoindustriegesellschaften tragen dabei Anzeichen von Homöostaten. Wie die Stellenzahl blieb auch die Hochzeitszahl oft über mehrere Dekaden relativ statisch. Ein kontinuierlicher, das malthusianisch anmutende Stellenprinzip nach Mackenroth verlassender, mit der Industrialisierung Sachsens einhergehender weitgehend kontinuierlicher Anstieg begann nicht vor 1800. Eine Rückschau auf die ökonomischen Verhältnisse der Dorfgesellschaften beleuchtet die Hintergründe dieses Zusammenhangs im lokalen Kontext. Ursprünglich nährten sich die Einwohner Rußdorfs und Bräunsdorfs fast ausschließlich von der Landwirtschaft. Wenige notwendige Gewerbe wie Fleischerei, Müllerei, Gastwirtschaft und Schmiede blieben dauerhaft einem klar begrenzten Personenkreis vorbehalten. In gleicher Weise war die Zahl der auf ertragsarmen Böden ruhenden
162
NUPTIALITÄT
Bauerngüter x, die dadurch de nierte Maximalbevölkerung dem Nahrungsspielraum angepasst. Um funktionstüchtig bzw. langfristig unter denselben Bedingungen lebensfähig zu bleiben, waren die Dorfgesellschaften auf Begrenzung der (Herd-)Stellenzahl angewiesen. Heiraten konnte in der Regel nur, wer eine Stelle besaß oder eine solche designiert in Aussicht hatte und eine Familie auf absehbare Zeit versorgen konnte, ohne auf befristete landwirtschaftliche Lohnarbeit ausweichen zu müssen. Bevölkerungswachstum wurde durch diese Regularien verhindert und ein folgenschweres Versorgungsungleichgewicht präventiv ausgeschlossen. Zwangsläu g musste die so rein reproduktive Nuptialität langfristig auf einem Niveau verharren. Das schon im 17. und 18. Jahrhundert vonstattengehende leichte Wachstum der Heiratszahlen korrespondierte mit dem Zuzug ländlicher Handwerker. Die sich seit dem Spätmittelalter etablierenden protoindustriellen ländlichen Massenhandwerke schufen zunächst den strukturellen Rahmen für eine prosperierende unterbäuerliche Grundbesitzerschicht. Wachsende Absatzmärkte ermöglichten eine sukzessive Vermehrung der sozioökonomischen Stellen beider Untersuchungsorte. Folglich nahmen auch die Heiraten zu, blieben aber auf einem entsprechend gehobenen Niveau erneut stehen. Die traditionellen Korrektive behielten zunächst ihre Wirksamkeit. Erst im 19. Jahrhundert erfolgte ein Bruch mit überkommenen Regulationsmechanismen. Der Industrialisierungsprozess, in dessen Zuge neue Erwerbsmöglichkeiten im sekundären wie tertiären Sektor entstanden und der zunehmend marktorientierte primäre Sektor durch Professionalisierung, Produktionsoptimierung sowie Anwendung effektiverer Produktionstechniken deutlich leistungsfähiger wurde, ermöglichte es auch gänzlich landbesitzlosen Personen, im ruralen Raum auf Basis rein gewerblicher Arbeit eine Familie zu versorgen. Was freilich schon im 18. Jahrhundert prinzipiell möglich war, wurde von der Hausgenossenschaft bei gleichzeitiger Herabsetzung tradierter Heiratsfondsansprüche genutzt, um ohne Grundbesitz Familien zu gründen und dauerhaft ansässig zu werden. Anfangs blieben die verfügbaren Hausgenossenstellen über den Wohnraum an die existierende Güterzahl geknüpft. Nach der Bauernbefreiung entstanden seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts zusätzlich reine Wohnhäuser, die neuen Platz für eine zunehmende Einwohnerschaft schufen. Dabei mag das tradierte, regulierend auf die Heiratszahl wirkende Herdstellenprimat eine Umdeutung erfahren haben. Außer Kraft gesetzt wurde es faktisch nicht, denn die Nuptialität reagierte ihrerseits im 20. Jahrhundert regressiv. Allein auf Basis dieser Beobachtungen lässt sich mehr als eine bloße Korrespondenzfeststellung allerdings kaum treffen. Rückschlüsse auf die Gestalt der wirkenden Reaktionsketten erlauben die Hochzeitszahlen eines Ortes ob zu großer Ungenauigkeit nicht. Einen zuverlässigeren Einblick ermöglicht die Betrachtung der Zahl heiratender Einheimischer, die jedoch ihrerseits vor allem in kleinen, nicht abgeschlossenen Räumen stark von exogenen Entwicklungen determiniert ist. So widerspricht es dem „Stellenmechanismus“ keineswegs, wenn eine veränderte soziostrukturelle Situation ei-
ENTWICKLUNG DER HEIRATSZAHLEN
163
ner Ortschaft die Heiratsfreudigkeit der umliegenden beein usste. Daher ist auch die in Kapitel 5.7 behandelte Frage nach der Menge vor Ort bleibender Paare von Bedeutung, soll die lokale Nuptialität mit der lokalen Stellenzahl in Verbindung gebracht werden. Temporal begrenzte Ausschläge der Heiratskurve können in beiden Untersuchungsorten mit Krisenereignissen in Verbindung gebracht werden. Zumeist fehlen jedoch, wiederum den geringen Fallzahlen bzw. der hohen statistischen Unruhe geschuldet, klare Belege eines Zusammenwirkens. Manch außergewöhnlicher Gipfelwert oder Tiefstand entbehrt eines überlieferten möglichen Auslösers. In anderen Fällen waren die Dörfer nachweislich von Krisen betroffen, ohne anhand der Trauzahlen ein verändertes Heiratsverhalten zu zeigen. Insgesamt scheinen Kriege und Seuchen nur in schweren Fällen nuptial hemmend gewirkt zu haben. Größere Bedeutung ist, angesichts des ökonomischen Charakters der Hochzeit wenig verwunderlich, der Wirtschaftsentwicklung beizumessen. Obwohl die Korrelationen mit der Roggenpreisentwicklung keineswegs durchweg einheitlich aus elen, ist doch bis in die erste Hälfte des 19. Jahrhunderts eine tendenzielle Gegenläu gkeit der Hochzeitskurve erkennbar. Nachdem der Nahrungsspielraum nach 1850 im Zuge der Industrialisierung international stark erweitert und durch Intensivierung des globalen Handelsverkehrs zusätzlich gegen regionale Agrarkrisen abgesichert war, ging die Orientierung an Konjunkturzyklen in Rußdorf und Bräunsdorf augenscheinlich verloren. Gewerbe- bzw. Finanzkrisen, welche die agrarischen in ihrer Bedeutung ablösten, betrafen ihrerseits nie die gesamte Bevölkerung und verursachten seltener unmittelbar Hunger- und Notsituationen. Insofern konnten sie von vornherein nur begrenzt auf das Heiratsverhalten einwirken. Andererseits deutet die Entwicklung der Hochzeitszahlen beider Untersuchungsorte vor allem seit Mitte des 19. Jahrhunderts Änderungen des Heiratsmusters durch gesamtgesellschaftliche Neubewertung von Eheschließung und Ehe sowie Liberalisierung und Restrukturierung des Heiratsprozesses selbst an. Die im Mittelalter etablierte Verschränkung von Besitz und Berechtigung zur Familiengründung begann sich langsam zu lösen, sodass auch der Zugriff ökonomischer Prozesse auf die Nuptialität nachließ. Eine Neuorientierung an gewerblichen Konjunkturzyklen im 19. Jahrhundert, wie sie beispielsweise Burkhardt für Sachsen, Mendels in Flandern und Schmalz für das Monschauer Land 439 feststellten, war im Falle der textilgewerblich geprägten Untersuchungsorte nicht ermittelbar. Negative Reaktionen des Heiratsverhaltens auf die Krise der Strumpfwirkerei in den späten 1830er und frühen 1840er Jahren sowie den Niedergang der Leinweberei bis in die 1880er sind etwa nicht im Ansatz erkennbar.
439
Vgl. Schmalz, Familienrekonstitution, S. 45f.
164
NUPTIALITÄT
5.2 SAISONALE HEIRATSVERTEILUNG Die Eheschließung als rein abstrakter, die dauerhafte private (sexuelle) Verbindung der Ehepartner versinnbildlichend in die Öffentlichkeit tragender und diese zugleich gesellschaftlich legitimierender Vertrag unterliegt im Gegensatz zur Geburtigkeit und mehr noch zur Mortalität keinerlei natürlichen terminlichen Zwängen. Wohl können wirtschaftliche Erwägungen sowie kulturelle und brauchtümliche Diktate den Heiratszeitpunkt determinieren oder dessen freie Wahl zumindest einschränken. Die mitteleuropäischen spätmittelalterlichen und frühneuzeitlichen, christlich geprägten Gesellschaften referenzierten mit ihrem saisonalen Heiratsverhalten im Allgemeinen deutlich auf den kulturell bestimmenden religiösen Hintergrund. In katholischen Gebieten mehr noch als in protestantischen waren entsprechende nuptiale Tiefs in den beiden Fastenperioden vor Ostern und in der Adventszeit üblich. Gaben hier kirchliche Gebote den Ausschlag, resultierten konfessionsunabhängig geringe Trauzahlen in ländlichen Regionen im August und September nach P sters und Knodels Schlussfolgerungen aus landwirtschaftlichen Arbeitsspitzen. 440 Hochzeitshäufungen ent elen dagegen traditionell besonders auf den ersten Monat des Jahres bzw. in katholisch geprägten Territorien zusätzlich auf den November. 441 Am Beispiel des protoindustriell geprägten Monschauer Landes beobachtete Schmalz hingegen keine spätsommerliche arbeitsbedingte Unlust im 19. Jahrhundert, konnte dafür aber die Fastentiefs mit vorgezogenen oder nachgeholten Ersatzhochs in November, Januar und April bestätigen. Ein extremes Maximum im Mai erklärte er mit persönlichen Vorlieben der Heiratenden für den „Wonnemonat“. 442 Die zu Beginn des Untersuchungszeitraums rein evangelischen, agrarisch orientierten Gesellschaften Rußdorfs und Bräunsdorfs sollten demnach anfangs religiös und arbeitstechnisch bedingte saisonale Heiratshäufungen zeigen. Parallel zum Bedeutungsverlust des primären Sektors für die Dorfwirtschaften steht insbesondere für das auch an der Fabrikindustrialisierung partizipierende Rußdorf spätestens in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts ein Ausgleich des mutmaßlichen spätsommerlichen Nuptialitätstiefs zu erwarten. Des Weiteren ist für beide Dörfer mit einer weitestgehenden Egalisierung des saisonalen Heiratsverhaltens im ausgehenden 19. und beginnenden 20. Jahrhundert, dem damals offenbar werdenden bzw. teils beginnenden latenten Bedeutungsverlust tradierter religiöser, brauchtümlicher und gesellschaftlicher Normen, Zwänge und Rücksichten geschuldet, zu rechnen. 443
440 441 442 443
Vgl. P ster, Bevölkerungsgeschichte, S. 24f. u. Knodel, Behavior, S. 144. Vgl. Rödel, Walter G., Die demographische Entwicklung in Deutschland 1770–1820, online: http://www.regionalgeschichte.net/bibliothek/texte/aufsaetze/roedel-entwicklung.html [zuletzt aufgerufen am 20.06. 2016]. Vgl. Schmalz, Familienrekonstitution, S. 80f. Vgl. Ehmer, Bevölkerungsgeschichte, S. 51.
SAISONALE HEIRATSVERTEILUNG
165
Für die nachfolgende Betrachtung wurde ein monatlicher Index nach der in Kapitel 4.2 bereits angewandten Methode Wrigleys erstellt. Dabei steht 100 für den theoretischen Anteil eines Monats bei Gleichverteilung der Hochzeiten über das Jahr. Den unterschiedlichen Monatslängen wurde ebenso Rechnung getragen, wie Schaltjahre mittels Annahme einer Jahreslänge von 365,25 Tagen Beachtung fanden.
Rußdorf Die Entwicklung der saisonalen Heiratsverteilung in Rußdorf entspricht den getroffenen Annahmen vollumfänglich (Abb. 23). Während des 17. Jahrhunderts traten klar Februar und November, der allein bis zu 45 Prozent aller Trauungen einer Kohorte auf sich vereinte, als Monate höchsten Heiratsaufkommens in Erscheinung. Dezember, März und April wurden demgegenüber als Fastenmonate gemieden 444. Ein weiteres Tal im Spätsommer deutet zusätzlich zu den religiösen wirtschaftliche Ein üsse an. Dies bestätigt P sters Feststellung, wonach „der Jahres-Rhythmus [...] in protestantischen Gebieten im Sinne einer strikteren Rücksichtnahme auf die Feldarbeiten ‚agrarisch` geprägt“ war. 445 Schon im 18. Jahrhundert zeichnen sich Vereinheitlichungstendenzen durch leichte Abschwächung des Novemberhochs sowie signi kante Stärkung des vierten und fünften Monats ab. Nach 1800 entwickelte sich der Mai gemäß Schmalz' Ergebnissen zur beliebtesten Jahreszeit. Anfang des 20. Jahrhunderts sind die vormaligen Gipfel und Täler noch erkennbar, aber kaum ausgeprägt. Ein Wandel des tradierten Heiratsverhaltens zeichnet sich seit dem späten 18. Jahrhundert ab. Zuerst geriet die Aussparung des Spätsommers ins Wanken. Zwischen 1582 und 1770 sind in Rußdorf lediglich fünf Augusthochzeiten belegt. Der mutmaßliche Hausgenosse Stephan Grosdietze heiratete 1582 eine Braut aus maximal kleinbäuerlichen Kreisen, der Sohn des ansässigen Hufschmieds 1716 die Tochter eines königlichen Leibkutschers in Dresden, der Gärtner Michael Wagner 1726 eine Häuslerwitwe aus Limbach, der strumpfwirkende Inwohner Christian Friedrich Weber 1758 eine Chemnitzer Postillionswitwe und der Waldenburger Strumpfwirker Christian Friedrich Zeißig 1760 die Tochter eines Rußdorfer Häuslers. 446 Keiner der Genannten verdiente seinen Lebensunterhalt im agrarischen Bereich und nur einer besaß überhaupt agrarische Nutz äche. An das landwirtschaftliche Arbeitsjahr waren sie demnach nicht gebunden. Seit 1773 traten Augusttrauungen immer häu ger auf, obwohl sich der Monat innerhalb der Beliebtheitsskala weiterhin am unteren Ende einordnete. Spannfähige oder handdienstp ichtige Bauern waren bis zum
444 445 446
Das jährliche Intervall der 40-tägigen vorösterlichen Fastenperiode schwankte abhängig vom Datum des Ostersonntags zwischen 4. Februar bis 22. März und 10. März bis 25. April. P ster, Bevölkerungsgeschichte, S. 24 f. Vgl. EPA Rußdorf, KB I, Hochzeitsregister.
166
NUPTIALITÄT
Abbildung 23: Monatlicher Index der Rußdorfer Hochzeiten
Ende der Untersuchungsperiode lediglich in Ausnahmefällen darunter. Offensichtlich wählten nur Angehörige der gewerbetreibenden unterbäuerlichen Schichten, die in den Erntemonaten kein erhöhtes Arbeitsaufkommen kalkulieren mussten, diese Jahreszeit. Die seit dem 18. Jahrhundert steigenden Hochzeitszahlen im August und mehr noch im September gehen mit einem gleichzeitigen Wachstum der geringlandbesitzenden bzw. der landbesitzlosen Bevölkerungsteile konform. An der trotzdem bis in die 1930er Jahre, im Gegensatz zum September, der freilich schon in der Frühneuzeit weniger stringent gemieden worden war, unterdurchschnittlichen Belegung des achten Monats mit Hochzeitsterminen wird jedoch offenbar, wie fest das rationalökonomisch entstandene bäuerliche Heiratsmuster im Brauchtum der zu diesem Zeitpunkt überwiegend industrialisierten Gesellschaft verankert war. Seit den 1790er Jahren musste das traditionelle quantitative Übergewicht im November statt ndender Eheschließungen Abstriche hinnehmen. Zwar blieben Termine im elften Monat bis in die 1930er Jahre gefragt, doch hob sich die weit überdurchschnittliche Häufung zugunsten eines ausgeglicheneren saisonalen Heiratsgeschehens auf. Gleich dem erntemonatlichen Tief zog der spätherbstliche Gipfel seine Nahrung wahrscheinlich in erster Linie aus agrarwirtschaftlich bedingten Rücksichten und Zwängen. Mit Blick auf die Fastenzeit vorgezogene Hochzeiten spielten eine untergeordnete Rolle. Gefüllte Speisekammern und das Ruhen saisonal zu verrichtender Feldarbeiten begünstigten sicherlich die Feierlaune. Ursprünglich stand der Oktober ähnlich hoch in der Gunst Heiratender, verlor aber schon Anfang des 18. Jahrhunderts sichtlich an Beliebtheit.
167
SAISONALE HEIRATSVERTEILUNG
Tabelle 11: Monatliche Verteilung der Rußdorfer Hochzeiten (Angaben in %) Jan. 1582–1629 1630–1679 1680–1729 1730–1779 1780–1829 1830–1879 1880–1935
Feb.
März
April
Mai
Juni
Juli
Aug.
Sept.
Okt.
Nov.
Dez.
20,69 12,64 8,06 16,94
1,72 2,42
2,30 1,61
3,45 5,65
4,60 4,03
2,87 1,61
0,57 0,00
0,00 16,67 32,18 4,03 20,97 33,06
2,30 1,61
5,29 14,12 14,19 12,21
1,76 1,32
4,12 9,24
5,88 6,93
2,94 4,95
2,94 4,29
1,18 1,65
4,71 17,65 38,82 3,30 11,22 30,03
0,59 0,66
14,32 15,06
0,74
8,89 12,10
5,93
5,19
4,20
6,42 10,62 16,54
0,00
14,07 11,22
2,01
6,70 10,22
8,21
8,54
1,51 10,39
6,70 18,26
2,18
4,77
9,38 12,04
8,13
8,62
5,31
9,00 11,01
8,62
6,72
6,45
9,92
Das Gebot, in der Fastenzeit auf Festlichkeiten wie die Hochzeitsfeier zu verzichten, befolgten die Rußdorfer in abgeschwächter Form bis ins 20. Jahrhundert. Eine gewisse gesamtgesellschaftliche Säkularisierung der Heiratspraxis verdeutlicht nichtsdestotrotz Tabelle 11. Seit Einführung der Zivilehe 1876 wurde der vorweihnachtlichen Fastenperiode immer weniger Bedeutung beigemessen. Binnen fünf Jahrzehnten stieg der zwölfte zum drittbeliebtesten Hochzeitsmonat auf, obwohl von 1582–1875 nur 15 Dezembertrauungen über die Rußdorfer Kirchbücher belegbar sind. Parallel verlor auch die vorösterliche Buß- und Fastenperiode an Geltung. Dennoch fand sie bis zum Ende des Untersuchungszeitraums im Gegensatz zur adventlichen weiter Beachtung, indem der März am Ende die niedrigste Nuptialität aller Monate vorzuweisen hatte. Die ohne Frage auf ideelle Beweggründe zurückgehende Favorisierung des Mai erlebte ihren Durchbruch nach 1890. Von einem sicherlich kriegsbedingten Einbruch in den 1910er Jahren abgesehen, stand der Frühlingsmonat in der Beliebtheit der Rußdorfer seitdem durchgängig an oberster Stelle.
Bräunsdorf Die Entwicklung des saisonalen Heiratsaufkommens in Bräunsdorf zeichnet in Abbildung 24 dasselbe Bild. Seit Überlieferungsbeginn Mitte des 17. Jahrhunderts präsentiert der elfte Monat die höchste nuptiale Frequentierung, dicht gefolgt vom Oktober. Eine weitaus kleinere, kaum den Durchschnitt überschreitende Spitze zeigt der Februar. Demgegenüber schlagen März, August und Dezember als Jahresabschnitte niedrigster Heiratslust zu Buche. Schon im 18. Jahrhundert begannen die Extreme wie im Rußdorfer Beispiel, sich einander anzunähern. Der Februargipfel wuchs, das Novemberhoch schrumpfte, März und August wurden etwas weniger rigoros gemieden. Im Laufe des 19. Jahrhunderts deutete sich die neue Beliebtheit des Mai bei fortschreitender saisonaler Egalisierung an. Am Ende des Untersuchungszeitraums zeigt er die höchste Spitze, während sich die ehemals bestimmenden Maxima und Minima nurmehr schematisch andeuten.
168
NUPTIALITÄT
Gleich der Rußdorfer Situation setzte im 18. Jahrhundert ein Wandel des lokalen Heiratsverhaltens ein. Zuerst führte das Wachstum der unterbäuerlichen, primär gewerblich tätigen und des landwirtschaftlichen Arbeitsjahrs enthobenen Schichten seit den 1760er Jahren zur stärkeren, wenngleich weiterhin marginalen Nutzung des Spätsommers (Tab. 12). Der in Gornsdorf ansässig gewordene Schulmeister und Bräunsdorfer Pastorensohn Timotheus Quodvultdeus Leupold heiratete 1766 als erster Bräunsdorfer nachweislich im August. 447 Weitere mehrfach durch zuvor erfolgte Schwängerung der Braut beschleunigte Hochzeiten in unterbäuerlichen Kreisen folgten hernach diesem Beispiel. Dennoch zählte insbesondere der achte Monat auch am Ende der Untersuchungsperiode zu den unbeliebtesten Jahresabschnitten. Der ebenfalls aus landwirtschaftlicher Sicht arbeitsintensive September lag hingegen trotz ähnlichem Hintergrund seit den 1830ern durchschnittlich in der Gunst heiratender Paare. Tabelle 12: Monatliche Verteilung der Bräunsdorfer Hochzeiten (Angaben in %) Jan.
Feb.
März
April
Mai
Juni
Juli
Aug.
Sept.
Okt.
Nov.
Dez.
1640–1679 1680–1729 1730–1779 1780–1829
5,77 9,62 9,47 10,00 12,73 17,08 17,79 15,14
0,96 1,58 3,11 1,92
0,96 5,77 3,68 3,16 4,04 6,52 8,17 11,06
5,77 2,11 4,97 6,73
0,96 3,16 4,35 6,97
0,00 0,00 1,86 2,88
0,96 25,00 42,31 4,21 16,84 44,21 1,55 11,18 32,30 5,53 5,29 18,27
1,92 1,58 0,31 0,24
1830–1879
13,69 10,27 7,57 6,67
1,33 4,41
9,89 11,60 9,72 12,43
7,03 9,94
8,17 8,25
1,14 4,52
9,89 11,22 15,40 9,49 7,68 10,06
0,38 9,27
1880–1935
Abbildung 24: Monatlicher Index der Bräunsdorfer Hochzeiten
447
Vgl. ebd., Hochzeiten 1766, Nr. 5.
SAISONALE HEIRATSVERTEILUNG
169
Die Meidung der vorösterlichen Fastenzeit unterlag kaum Veränderungen. Obwohl der März seit den 1910ern im Verhältnis leicht vermehrten Zuspruch erfuhr, blieb er doch deutlich unterrepräsentiert. Die weihnachtliche Fastenperiode verlor ihre Bedeutung wie in Rußdorf seit den 1870er Jahren in auffallender Gleichzeitigkeit mit der Einführung der Zivilehe. Vor allem nach 1900 wurde der Dezember oft gewählt und stand in den frühen 1930er Jahren sogar an der Spitze der Beliebtheitsskala. Parallel büßten Januar und November zugunsten gleichmäßigeren saisonalen Heiratsgeschehens weiter an Popularität ein. Tatsächlich hatte der November bereits seit den 1770er Jahren seine Dominanz verloren. Der Oktober war desgleichen schon 40 Jahre eher seiner vormaligen Bevorzugung verlustig gegangen. Die tradierten, die Wahl des Trautermins maßgeblich bestimmenden Prinzipien bewahrten analog zum Rußdorfer Beispiel in Bräunsdorf bis ins 20. Jahrhundert nurmehr partiell Geltung und traten hinter individuelle Vorlieben der Heiratenden zurück. Nicht umsonst erfuhr der Mai auch in Bräunsdorf während des 19. Jahrhunderts erhöhten Zuspruch und stieg im ersten Drittel des 20. an die Spitze der Beliebtheitsskala.
Zusammenfassung Die saisonale Heiratshäu gkeit Rußdorfs und Bräunsdorf ist über den gesamten Untersuchungszeitraum in hohem Maße gleichartig und zeigt entsprechend in beiden Orten eine identische Entwicklung. Ähnliche Verteilungsmuster wurden des Weiteren im mitteleuropäischen Raum mehrfach beschrieben. Unter anderem zeichnen Wrigley und Scho eld für England ein analoges Bild. 448 Diverse Elemente, etwa das Novemberhoch und die Tiefstände in März, August und Dezember dürfen gar als typisch angesehen werden. Wie gezeigt wurde, nehmen Faktoren verschiedenster Art in spezi scher Weise auf das Heiratsverhalten Ein uss. Jahreszeitliche Gipfel und Täler geben daher zuverlässige Hinweise auf gesellschaftliche Funktionsweisen, so wie deren Verschiebung, Maximierung oder Minimierung Veränderungen der Lebensweise indizieren. Rücksichten auf das „landwirtschaftliche Jahr“ konnten als eine zentrale Determinante saisonalen Heiratsaufkommens identi ziert werden. Die arbeitsintensive Erntezeit in August und September wurde gemieden, Ruheperioden erfreuten sich hingegen hoher Popularität. Insbesondere Oktober und November pro tierten davon. Ein für England beschriebenes analoges Frühsommerhoch entbehrt allerdings einer Entsprechung im Untersuchungsgebiet. Dagegen mag eine dort festgestellte Verbindung zwischen Novemberhoch und Gesindedienstwechsel auch in Sachsen Geltung gehabt
448
Vgl. Scho eld/Wrigley, Population, S. 298ff.
170
NUPTIALITÄT
haben. Demzufolge wurde der Stellungswechsel bevorzugt zum Anlass genommen, den Familienstand und damit die gesamte Lebenssituation zu verändern. 449 Religiöse Gebote bestimmten traditionell mittelbar über die Wahl das Trautermins. Die beiden Fastenzeiten vor Ostern und um Weihnachten waren der Kirche heilig und daher den Heiratswilligen ein Tabu. Tatsächlich beanspruchten März und Dezember in beiden Untersuchungsorten anfänglich die niedrigsten Anteile am Heiratsaufkommen. Individuelle Vorlieben und Abneigungen Verlobter spielten eine weitere zentrale Rolle, entziehen sich aber im Allgemeinen ob fehlender schriftlicher Überlieferung der nachträglichen Erklärung. Möglicherweise spielten sie in das anfängliche Oktober- und länger anhaltende Novemberhoch ob guter Bedingungen mit hinein. Für diese Annahme spricht die ohne erkennbare Ursache seit dem späten 17. Jahrhundert abnehmende Neigung zu Oktoberhochzeiten. Die sich wandelnde Mode liefert eine probate Begründung des Vorgangs. Gleichsam mutet die zunehmende Favorisierung des Mai seit Ende des 19. Jahrhunderts eher ideell denn rationell bedingt an und entbehrt das in Rußdorf wie Bräunsdorf bis ins 20. Jahrhundert herrschende Augusttief zum Ende hin jeder rationalökonomischen Legitimation. Immerhin verloren landwirtschaftliche saisonale Arbeitsrhythmen spätestens mit der Industrialisierung nach 1800 für die Bevölkerungsmajorität jedwede Relevanz. Insofern erscheint das Beibehalten der Meidung als zur Tradition gewandelte Notwendigkeit. Einen vierten den Heiratszeitpunkt beein ussenden Faktor stellten soziale und private ökonomische Zwänge dar. Zum Beispiel musste eine Hochzeit binnen Jahresfrist nach der Verlobung erfolgen. Andernfalls galt diese für gelöst. Desgleichen strebte manch verwitwete Person eine rasche neuerliche Zweckheirat an, um etwa die Funktionsfähigkeit des Haushalts aufrechtzuerhalten. Dabei mussten Witwen ein Trauerjahr abwarten. Weit größere Auswirkungen hatten jedoch voreheliche Konzeptionen. Wurden diese bzw. mehr noch uneheliche Geburten, wie in den Untersuchungsorten bis ins 19. Jahrhundert geschehen, gesellschaftlich geschmäht oder gar mit Strafen belegt, war eine frühe Hochzeit das beste Mittel, den Schaden möglichst gering zu halten. Um Schwangerschaften nicht offenbar werden zu lassen, wurden Trauungen oftmals in Ansehung einer verbotenen Zeit vorgezogen. Stand hingegen nurmehr die illegitime Geburt zu vermeiden, konnte der Hochzeitstermin auch in die sonst gemiedenen Monate fallen. Wie Schmalz am Beispiel des Monschauer Landes bemerkte, trugen vorgezogenen Eheschließungen vorrangig zu saisonalen Häufungen vor den Fastenperioden bei. 450 Zweierlei Prozesse bedingten eine in Rußdorf und Bräunsdorf gleichförmig verlaufende sukzessive Verminderung saisonaler nuptialer Heterogenität: Einerseits verloren die Gesetzmäßigkeiten des landwirtschaftlichen Arbeitsjahres an Bedeutung. Zwar 449 450
Vgl. ebd., S. 303. Vgl. Schmalz, Familienrekonstitution, S. 86.
HEIRATEN NACH WOCHENTAGEN
171
nahmen Bauern bis ins 20. Jahrhundert auf Arbeitsspitzen Rücksicht, doch drängte das im späten 17. Jahrhundert seinen Anfang nehmende und in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts exponentielle Ausmaße annehmende Wachstum unterbäuerlicher Schichten, welche sich von kontinuierliches Arbeitsaufkommen bringenden Gewerben oder Dienstleistungsgeschäften nährten und daher zu gleichmäßigerem saisonalen Heiraten neigten, die Voll- und Kleinbauernschaft in eine Minderheitenposition. Andererseits trägt das aufklärerisch geprägte „lange 19. Jahrhundert“ auch im Limbacher Land klare Züge einer Säkularisierung. Dieser elen unter anderem die Fastenperioden zum Opfer. Wurde die Osterzeit bis ins 20. Jahrhundert nur zaghaft angetastet, el das Heiratsverbot der Adventszeit mit der Einführung der Zivilehe 1876. Hierin bestätigt sich die geringere Bedeutung der weihnachtlichen Buß- und Fastenzeit in protestantischen Gebieten. Ganz offensichtlich zeichneten vor allem die Ortspfarrer und nicht religiöse Rücksichten der Bevölkerung für die vorhergehende Einhaltung des Verbots im Dezember verantwortlich. Ohne die Einwilligung der Pfarrherren konnte eine Trauung nicht vollzogen werden. Die seit dem 16. Jahrhundert leicht überdurchschnittliche Konzeptionsfreudigkeit des Dezembers (Kap. 4.2) lässt über die Haltung der Ortsbewohner wenig Zweifel aufkommen. Sobald der Staat die Ehe der kirchlichen Deutungshoheit enthoben hatte, trugen dem auch die Hochzeitstermine Rechnung.
5.3 HEIRATEN NACH WOCHENTAGEN Vielerlei Zwänge determinierten die Wahl des Heiratsmonats. So verwundert es wenig, dass auch die Entscheidung für einen konkreten Wochentag Einschränkungen unterlag. Ökonomisch orientierte Erwägungen spielten hierbei in vorindustrieller Zeit eine eher untergeordnete Rolle. Pauschal festgesetzte Arbeitszeiten waren den gesellschaftlich dominierenden, weitgehend eigenverantwortlich schaffenden Familien- bzw. Hauswirtschaften gerade im ruralen Raum unbekannt. Feste konnten nach Gutdünken der Ausrichtenden faktisch jederzeit angesetzt werden. Einzig der trauende Pfarrer vermochte in den christlich geprägten Regionen Mitteleuropas Ein uss auf den Hochzeitstermin zu nehmen, indem er im Interesse religiöser Gebote gegen Eheschließungen an oder kurz vor kirchlichen Festtagen insistierte. Wurde die Autorität des Geistlichen nicht anerkannt bzw. die pastorale Intervention ignoriert, konnte dieser zumindest an keinem Wochentag nach eigenem Gutdünken seine ausführende Mitwirkung verweigern. „Die Copulation geschahe, wieder meinen willen, den 10. 9br, solte den 8 geschehen, damit der Sontag nicht zum Fraß u. Sauffetage gemacht würde. Es wird diese Priester Teuschung diesen Ehleuten keinen Seegen bringen.“, vermerkte der Bräunsdorfer Pfar-
172
NUPTIALITÄT
rer Johann Siegmund Stoltze 1707 im Traueintrag des Hausgenossen Johannes Hähl. 451 Die hierin zum Ausdruck kommende Sorge war nicht unberechtigt. Hochzeitsfeiern gestalteten sich selbst in ärmeren Kreisen auf dem Land als ausladende Feste. Nicht grundlos zählte das Viertel Bier, nach Fritzsche 25,98 Liter 452, neben weiteren variablen Gütern und Geldmitteln in den betrachteten Dörfern zur traditionellen, anlässlich ihrer Eheschließung ausbezahlten Ausstattung weichender Grundbesitzerben beiderlei Geschlechts. Der früheste Beleg dieser Praxis datiert 1605. Anlässlich des Erbkaufs seines väterlichen Anspanngutes verp ichtete sich der Rußdorfer Nicol Bretschneider: „Was des Keufers Schwester die Barbara ahnbelanget zu ihren ehren, so soll der Keufer der Gutter der Schwester gebenn 3 Neu Schock zu Kleidern, 1 Virtel Bier, 1 zimlich gemestes Schwein, Thrunen und Küsten, und 1 Sipmaß Lein ihr seen alle ihar, biß sie sich verehlichet.“ 453 Diese Tradition zeichnete sich durch hohe Kontinuität aus. Mindestens bis ins frühe 19. Jahrhundert wurde sie prinzipiell beibehalten. Noch 1812 versprach der Bräunsdorfer Johann August Bretschneider, „seinen Geschwistern bey ihrer Verheurathung oder beym Auszuge jedem eine halbe Tonne Bier, ein Sipmaas Korn, ein Sipmaas Gerste, ein Gerichte Fleisch, Butter, Käse und Brod zu geben“. 454 Gefeiert wurde üblicherweise über mehrere Tage, wie die zitierte Notiz beim Traueintrag Hähls beweist. Die Hochzeit am 10. September, einem Samstag, geschah bereits gegen den erklärten Willen des Ortsgeistlichen, wohingegen sie am Donnerstag ohne Vorbehalte vollzogen worden wäre. Davon ausgehend betrug die traditionelle Feierzeit im Untersuchungsgebiet maximal drei Tage. Den Befund eines gebräuchlich ausschweifenden, mehrtägigen Hochzeitszeremoniells stützt auch der Beerdigungseintrag eines Rußdorfer Inwohners. Am Donnerstag dem 11. Juni 1767 ehelichte der „Pachtschenckwirth der Entenschencke in der Mittelstadt Waldenburg“ eine Tochter des Rußdorfer Gärtners und Leinwandhändlers Michael Haupt. 455 Abraham Friedrich [...] gehet d. 12. Jun: gegen Morgen ins Hochzeithauß bei Michael Haupten [...]. übernimmt sich nicht allein selbst aufs äuserste in Eßen u. Trincken, sondern wird auch von einigen Hochzeitgästen übermäsig zum Brandewein genöthiget, mit Schwärtzen im Gesichte u. dergl. gemißhandelt, worauf ihn Andreas Frischmann [...] ein Stücke vom Hause heimweg geführet, u. unter freien Himmel liegenlaßen bis ihn gegen 7 Uhr Michael Schultze [sein Schwager] zu sich ins Hauß genommen, u. alles an ihm versucht, um ihn wied. zu sich selbst zu bringen, iedoch vergebens, so dß. er abends 6 Uhr ohne alle Vernunft dahin gefahren. 456
451 452 453 454 455 456
Vgl. EPA Bräunsdorf, KB I, Trauungen 1707, Nr. 3. Vgl. Fritzsche, Jacobi, S. 163. ThStA Abg, Amtsgericht Altenburg, C I Loc. 1, Nr. 136, fol. 17. HstA-D, 12613 GB Limbach, Nr. 7: Gerichtsbuch Bräunsdorf, 1810–1821, fol. 187b. EPA Rußdorf, KB I, Hochzeiten 1767, Nr. 6. Ebd., Beerdigungen 1767, Nr. 7.
HEIRATEN NACH WOCHENTAGEN
173
Mit Sicherheit ließen derartige Traditionen die Wahl eines konkreten Hochzeitstermins ebenso wenig unbeein usst wie kirchliche Gebote und wirtschaftliche Zwänge dessen saisonale Verortung. Ohne Frage entschieden sich die Rußdorfer und Bräunsdorfer, wenn es ans Heiraten ging, bewusst für einen Wochentag. Zu uneinheitlich ist die Häu gkeitsverteilung der Trauungen über die Woche während des gesamten Untersuchungszeitraums. Ebenso wenig blieb die Beliebtheit einzelner Tage unverändert. In auffälliger zeitlicher Kongruenz wechselten die Geschmäcker der Heiratenden beider Dörfer mehrfach. Vom späten 16. Jahrhundert bis in die 1640er Jahre favorisierten Rußdorfer Brautpaare nach Abbildung 25 die erste Wochenhälfte. Während das lokale Kirchbuch in manchen Dekaden von Donnerstag bis Samstag keine einzige Trauung verzeichnete, vereinten Sonntag bis Mittwoch in den primären sieben Jahrzehnten minimal 83,33 Prozent aller Eheschließungen auf sich. Den Löwenanteil hielt durchgängig der Dienstag, bevor er seiner Spitzenposition ab den 1650er Jahren verlustig ging. Kurzzeitig stieg die Beliebtheit der Wochenmitte (1660–1679), dann verschob sich der Schwerpunkt für neun Dezennien auf den Donnerstag (zw. 32,84 % u. 62,96 %). Etwa 30 Jahre lang lagen Sonntag, Dienstag und Donnerstag in der Gunst heiratender Rußdorfer 1740– 1769 gleichauf. Anschließend verloren die letzten beiden zugunsten des Sonntags stark an Gewicht. Seit den 1790ern ent elen darauf kontinuierlich weit über 50 Prozent der Trauungen eines Jahrzehnts. Ein absoluter Beliebtheitshöhepunkt wurde in den 1830er Jahren mit 91,78 Prozentpunkten erreicht. Nach dem Ersten Weltkrieg ging die über eineinhalb Jahrhunderte währende Favorisierung wieder rapide über 30,42 (1920/1929) auf 2,44 Prozent (1930/1935) 457 zurück. Allein hierin wird offenbar, dass sich auch zum Ende des betrachteten Zeitraums keine prinzipielle Änderung der Rußdorfer Heiratspraxis hin zu gleichmäßiger Nutzung der Woche abzeichnete. Im Gegenteil avancierte letztendlich der Sonnabend zum meistgefragten Tag, während sich die übrigen mit Ausnahme des Montags (11,22 %) anteilmäßig dem Durchschnitt (14,29 %) nicht im Mindesten annäherten. Das Heiratsverhalten der Bräunsdorfer spiegelte die Rußdorfer Entwicklung größtenteils, wie Abbildung 26 verdeutlicht. Ob auch dort die Dienstagstrauungen vor Überlieferungsbeginn dominierten, sei dahingestellt. Mitte des 17. Jahrhunderts stand der Sonntag hoch in der Gunst, während Dienstag und Mittwoch an zweiter bzw. dritter Stelle mit je 15–20 Prozent Anteil nah beieinanderlagen. Nach einem abrupten Wechsel wurde von 1660–1739 klar der Donnerstag favorisiert (zw. 26,09% 1720/1729 u. 61,11 % 1670/1679), zumindest der Dienstag jedoch gleichzeitig nie verschmäht (zw. 18,75 %
457
Bei den Einsegnungen, die ab 1876 mit den vormaligen kirchlichen Hochzeiten gleichzusetzen sind, blieb die Beliebtheit des Samstags bis in die 1930er Jahre hinter der bei den standesamtlichen Hochzeiten zurück, während der Sonntag höhere Anteile verbuchen durfte und in den 1930ern noch von 14,1 Prozent der Rußdorfer Paare genutzt wurde.
174
NUPTIALITÄT
Abbildung 25: Wochentägliche Verteilung der Rußdorfer Trauungen
1660/1669 u. 47,83% 1720/1729). Anschließend näherte sich die Beliebtheit beider Tage einander binnen drei Dekaden auf niedrigerem Niveau an, während Sonntagshochzeiten abermals in der Gunst stiegen. Bereits in den 1770er Jahren fanden 55,22 Prozent der Bräunsdorfer Heiraten am damals ersten Tag der Woche statt. Die lokale Favorisierung des Sonntags gelangte in den 1820er Jahren auf ihren Höhepunkt (93,27%) und ging danach analog zum Rußdorfer Fall sukzessive zurück, um im Anschluss an den Ersten Weltkrieg gänzlich abzuebben (4,44% 1930/1935) 458. Stattdessen wurden zwischen 1880 und 1919 auch Montage kurzzeitig gern gewählt und der Samstag ab 1920 zum beliebtesten Hochzeitstag (78,52% 1930/1935) erhoben. Statistische Gleichverteilungstendenzen werden auch im Bräunsdorfer Fall zu keinem Zeitpunkt ersichtlich. Welcher Gestalt die offenkundig in beiden Dörfern gleichermaßen zur Anwendung kommenden Prinzipien der Wochentagswahl waren, bleibt unklar. Scho eld vermutete hinter der Favorisierung von Sonntagen und Montagen ein protestantisches Phänomen. In 26 englischen Pfarreien beobachtete er zwischen 1570 und 1660 eine abnehmende Be458
Bei den Bräunsdorfer Einsegnungen blieb die Beliebtheit des Samstags bis in die 1930er Jahre hinter der bei den standesamtlichen Hochzeiten deutlich zurück, während der Sonntag höhere Anteile verbuchen durfte und in den 1930ern noch von 33,04 Prozent der Rußdorfer Paare genutzt wurde.
HEIRATEN NACH WOCHENTAGEN
175
Abbildung 26: Wochentägliche Verteilung der Bräunsdorfer Trauungen
liebtheit des Sonntags zugunsten von Donnerstagshochzeiten. Diese verloren zwischen 1660 und 1780 ihre Popularität an Montagstrauungen, welche nach 1800 durch samstägliche ersetzt wurden. 459 Die Unterschiede zu den sächsischen Untersuchungsorten sind offenkundig, ein übergreifendes Muster ist nicht feststellbar. Gleichfalls kann die von Scho eld bestätigte, Montagsheiraten als protoindustrielles Charakteristikum wertende These am Beispiel Rußdorfs und Bräunsdorfs nicht unterstützt werden. Anfänglich scheint die Wahl im Limbacher Land brauchtümlichen oder ideellen Erwägungen gefolgt zu sein. Ein kollektiver Vorliebenwechsel über zwei Tage in der Wochenmitte, wie er im späten 17. Jahrhundert zu beobachten war, lässt sich kaum ökonomisch begründen 460. Ebenso wenig kommen Veränderungen eventueller kirchlicher Gebote als Ursache in Betracht, da sich der Bedeutungsverlust des Dienstags zugunsten des Donnerstags nur schrittweise und nicht umfassend vollzog. Die Einbeziehung des 459 460
Vgl. Scho eld, Montagskind, S. 92f. Möglicherweise ist der Wandel an das gleichzeitige Wachstum der unterbäuerlichen, neben- oder hauptberuflich gewerbetreibenden Schichten geknüpft. Gegenüber der zuvor gesellschaftlich bestimmenden Bauernschaft einem veränderten Arbeitsrhythmus gehorchend, erschien es den Gärtnern und Häuslern vielleicht wirtschaftlich vorteilhafter, die dreitägige arbeitsfreie Hochzeitsfeier dem ohnehin freien Sonntag voranzustellen, als die Arbeitswoche zu zerreißen.
176
NUPTIALITÄT
Mittwochs unterstreicht den Übergangscharakter dieses Prozesses. Die ab 1740 sprunghaft zunehmende Nutzung des Sonntags 461 weist hingegen auf die Aussetzung eines Gebots, am unstrittig beliebten „Tag des Herrn“ auf Hochzeiten zu verzichten, hin. Solches könnte einzig von kirchlicher Seite ausgesprochen worden sein. Die erneute, nale Verlagerung des Häu gkeitsschwerpunkts nach dem Ersten Weltkrieg mag indes durch individuell ideelle oder ökonomische Beweggründe motiviert sein. Ein Großteil der Einwohner beider Dörfer verdiente seinen Lebensunterhalt im frühen 20. Jahrhundert bereits unter fremder Ägide mit festen Arbeitszeiten außerhalb des eigenen Wohnraums. Die Tradition mehrtägiger Hochzeitsfeiern wurde in den 1920er und 1930er Jahren höchstens in bäuerlichen Kreisen noch gep egt. Lohnarbeiter nutzten ihren Anspruch auf Sonderurlaub im Hochzeitsfall vermutlich für einen „verlängerten“ Sonntag durch Eheschließungen an Samstagen oder seltener Montagen. Das gleichförmige Muster und die synchrone Entwicklung der nuptialen Wochentagswahl in Rußdorf und Bräunsdorf beweisen indes ungeachtet der unklaren Ursachenlage, dass die Wandlungen der Heiratspraxis im Speziellen bzw. die daran offenbar werdenden Änderungen der dörflichen Lebenswelt und Alltagskultur über Gemeindegrenzen hinweg wirkten.
5.4 HEIRATSALTER Das Konzept der Heirat ist, wie bereits festgestellt, ein rein abstraktes Konstrukt und existiert als solches fast zur Gänze von natürlichen Ein üssen losgelöst. Infolgedessen orientiert sich das Eheeintrittsalter ausschließlich an soziokulturellen und -ökonomischen Traditionen, Rücksichten und Zwängen. Das Hajnal'sche Theorem des westeuropäischen Heiratsmusters geht für das vorindustrielle Europa von einem ächendeckend relativ hohen Erstheiratsalter, d. h. einem den bis etwa zum 25. Lebensjahr reichenden Lebensabschnitt höchster Fertilität hinter sich lassenden, aus. Da Eheschließung und Familiengründung an die Erlangung spezi scher Heiratsfonds bzw. limitierter wirtschaftlicher und sozialer Positionen gebunden gewesen seien, hätten Erben vor ihrer Trauung meist den Erbfall abwarten und weichende Erben einerseits unter Umständen erst die benötigten Mittel akkumulieren respektive erarbeiten sowie andererseits vakant fallender Stellen harren müssen. 462 Dies habe insbesondere die potentiellen Bräutigame, deren durchschnittliches Heiratsalter darum leicht über jenem potentieller Bräute lag, betroffen. Des Weiteren habe auf dem 461
462
In Rußdorf wurden 1582–1739 insgesamt 31 Sonntagshochzeiten gefeiert, was einem Anteil von 6,28 Prozent der gleichzeitigen Gesamthochzeitszahl entspricht. Allein in den 1740er und 1750er Jahren wurden 33 Sonntagshochzeiten, 33,67 Prozent der Gesamthochzeitszahl geschlossen. Das Bräunsdorfer Verhältnis lag bei 25 (7,46 %) zu 26 (20 %). Vgl. Hajnal, Patterns, S. 130ff.
HEIRATSALTER
177
platten Land im Allgemeinen ein enger Zusammenhang zwischen sozialer Herkunft und Erstheiratsalter der weiblichen Bevölkerung bestanden. Je höher der sozioökonomische Rang des Vaters, desto eher hätten sich dessen Töchter tendenziell verheiratet. 463 Generaliter liefen im ruralen Raum Kinder aus wirtschaftlich besser gestellten Familien seltener Gefahr, lebenslänglich ohne sozialen Absicherungsmechanismus gegen die Folgen von Alter und Krankheit im Ledigenstatus verbleiben zu müssen. Heimgewerbliche Arbeit, welche im Zuge der protoindustriellen Entwicklung mancher Gebiete zum Massenphänomen avancierte, bot theoretisch Gelegenheit, einige Regulative des westeuropäischen Heiratsmusters zu umgehen, da sie die Familiengründung im ländlichen Raum prinzipiell ihrer Bindung an den Erbgang enthob. Darum neigten protoindustrielle Regionen, wie Mendels feststellte, zu starkem Bevölkerungswachstum. 464 Außerdem wurden Hochzeiten in jungen Jahren dadurch nicht allein eher möglich, sondern konnten auch zum wirtschaftlichen Vorteil geraten. Das typische protoindustrielle Heimgewerbe bezog die gesamte Familie in den Produktionsprozess ein. Somit hätten höhere familiäre Kinderzahlen mehr Arbeiter und eine höhere Produktionskapazität bedeutet. Aus dieser materialistischen Sicht heraus, die das generative Verhalten einem ökonomischen Primat unterstellt, erschiene ein möglichst ausgedehnter ehelicher Fertilitätszeitraum als erstrebenswert. Dennoch folgte auch das modi zierte protoindustriegesellschaftliche Heiratsverhalten grundlegend den tradierten agrargesellschaftlichen Prinzipien. Deren maßgebliches Gewicht hob sich in Deutschland erst etwa zwischen 1870 und 1970 auf. 465 Der Staat beschränkte seine Ein ussnahme mit dem einheitlichen Eherecht von 1875 auf die Festsetzung eines Mindestalters von zunächst 16 Jahren für Frauen und 20 Jahren für Männer 466 sowie auf De nition einer praxis- und nachfrageorientierten, religiöse Gebote und politische Interessen berücksichtigenden Eheordnung. Wirtschaftliche Zwänge zählten nicht darunter. Zunehmend rückte die Hochzeit aus dem Zugriff öffentlicher Kontrolle in die rein private Verantwortung der Ehepartner. Die Liberalisierung von Eherecht und Heiratspraxis vergrößerte den individuellen Entscheidungsspielraum und die persönliche Partnerwahlfreiheit. Der Aufbruch der wirtschaftlichen Kerneinheiten Familie und Haushalt infolge fortschreitender Durchindustrialisierung der Lebenswelt sowie der Verlust ihrer Absicherungsfunktion parallel zum sich entwickelnden Sozialstaat trugen ihr Übriges bei. Ein sinkendes Heiratsalter resultierte daraus nicht unbedingt. Grundsätzlich durchlebten die Heiratsmuster vieler westeuropäischer Gebiete im 19. und 20. Jahrhundert denselben Wandel von traditioneller restriktiver zu moder-
463 464 465 466
Vgl. P ster, Bevölkerungsgeschichte, S. 28. Vgl. Mendels, Proto-Industrialization, S. 252. Vgl. Ehmer, Bevölkerungsgeschichte, S. 51. Vgl. Gestrich, Familie, S. 29.
178
NUPTIALITÄT
ner liberaler Prägung. Dessen konkrete Verlaufsform variierte jedoch im regionalen und mikroregionalen Bereich extrem. Zu vielfältig sind die jeweils auf die Heiratspraxis wirkenden Systeme relevanter Strukturelemente. Welche Determinanten über das individuelle Heiratsalter bestimmten, wird anhand ortstypischer, an Sozialsystem, Traditionen, Gesetzen und ökonomischen Notwendigkeiten ausgerichteter präcopulativer Lebensverlauftypen ersichtlich. 5.4.1 Voreheliches Leben Innerhalb dörflicher Agrargesellschaften auf dem Gebiet des spätmittelalterlichen und neuzeitlichen Heiligen Römischen Reichs folgten Lebensläufe männlicher wie weiblicher Personen bis zur Eheschließung einem dreiteiligen Schema. Der erste Abschnitt währte etwa vier bis fünf Jahre, in denen Säuglinge bzw. Kleinkinder als passive Glieder der Hauswirtschaften mitliefen und von ihren Eltern, älteren Geschwistern, anderen im heimischen Haushalt lebenden Familienmitgliedern oder dem Gesinde betreut und erzogen wurden. 467 Ab einem Alter von vier bis fünf Jahren galten Kinder als arbeitsfähig. Um ihnen in alltäglicher Praktizierung lebensnotwendige Arbeitsabläufe, Fertigkeiten und soziale Kompetenzen zu vermitteln, wurden sie im Rahmen ihrer Möglichkeiten geschlechtsspezi sch in anfallende Arbeiten eingebunden. 468 Dabei entschied neben der traditionellen pragmatisch geschlechtsphysiologisch begründeten Rollen- bzw. Aufgabenverteilung, die Männern und Frauen klar getrennte Verantwortungsbereiche innerhalb der Familienwirtschaft zuteilte, auch die wirtschaftliche Ausrichtung des betreffenden Haushalts über die Art der Tätigkeiten. Lebten die Heranwachsenden in einer reinen Bauernwirtschaft, erstreckte sich ihr Aufgabenkreis über Arbeiten am und im Haus und Stall sowie auf Feld und Wiese, während der Nachwuchs rein handwerklich tätiger Hausgenossen ausschließlich an haus- und familienwirtschaftlichen sowie heimgewerblichen Aufgaben beteiligt werden konnte. Zusätzlich bestand für Kinder die Möglichkeit, außerhalb des Heimes leichte Dienstleistungen gegen Entlohnung innerhalb des Dorfes zu verrichten, wozu in manchen Fällen sicherlich die schlechte Einkommenssituation der Eltern zwang. Michael Heinzig, 1685 „des Pastoris Altweins Kühjunge von 8 Jahren“ 469, ist der einzige im Untersuchungsgebiet zweifelsfrei belegte infantile Lohnarbeiter aus vorindustrieller Zeit. Immer wieder wurde die Arbeitsp icht der Kinder in Gutskaufverträgen schriftlich xiert. Zum Beispiel verstand sich der Niederfrohnaer George Esche 1694 im Wiederkauf über seines Sohnes Gut nur unter der Bedingung, „daß sie mit ihren Vermögen arbeiten helffen“, dazu, seine Enkel „ohne entgeld [...] vollendts zuerziehen“. 470 Neben 467 468 469 470
Vgl. Meinel, Kinderleben, S. 31ff. Vgl. Weber-Kellermann, Landleben, S. 243ff. EPA Bräunsdorf, KB I, Taufregister 1677, Nr. 6, 1758 eingefügte Notiz. ThStA Abg, Amtsgericht Altenburg, C I Loc. 1, Nr. 148, fol. 88.
HEIRATSALTER
179
den täglichen, mit zunehmendem Alter intensivierten familiären Verp ichtungen prägten mehr oder weniger regelmäßige Unterrichtsstunden in der Kirchschule den zweiten Lebensabschnitt. Obwohl Dorfschulen mindestens seit dem 16. Jahrhundert unter anderem in den betrachteten Ortschaften unter kirchlicher Ägide existierten, wurde die allgemeine Schulp icht erst deutlich später, im Herzogtum Sachsen-Gotha-Altenburg 1642 471 (6 Jahre) und im Königreich Sachsen 1835 472 (8 Jahre) eingeführt. Neben der Vermittlung grundlegenden Schulwissens lag vor allem die Vorbereitung auf die Konrmation durch Gesangsunterricht und Religionslehre im Verantwortungsbereich der Elementarschulen. Selbst Schreiben wurde nicht zwangsläu g gelehrt. So erachtete es der Kaufunger Pfarrer 1716 für bemerkenswert, dass der Rußdorfer Christoph Fuchs „der Schreiberey be ießen“ 473 war. Eine rigorose Durchsetzung der Schulp icht fand nicht statt. Gerade in ökonomischen Stoßzeiten wurde der lebensnotwendigen Arbeit oft Vorrang vor dem Schulbesuch eingeräumt. Unabhängig davon weisen bis ins 19. Jahrhundert Passus in zahlreichen Kaufverträgen der untersuchten Orte, in denen sich Käufer verp ichteten, ihre Zöglinge „zur Schule zu halten“, die kontinuierliche Teilnahme am Unterricht nicht als Selbstverständlichkeit aus. Entsprechend variabel erschien die Dauer der Schulzeit. Gemeinhin erlebten Kinder ihre Einschulung spätestens im sechsten Lebensjahr. 474 Bis in die 1870er Jahre endete die Kirchschulzeit mit der „Zulassung“ zur Kon rmation: Da die einzige Tochter erster Ehe [...] erst zu Ostern künftiges Jahr das heilige Abendmahl zum ersten Mal genießen wird, und mithin bis dahin die Schule besuchen muß, so soll Käufer selbige bis dahin [...] ununterbrochen in die Schule schicken auch das Schulgeld aus seinen Mitteln entrichten, und ihr die benöthigten Kleider zur Communion aus seine Mitteln anschaffen. 475
In der Regel zählten Kon rmanden zwölf oder 13 Jahre, jedoch reichte die im Rußdorfer Kon rmandenregister des 18. Jahrhunderts zu Tage tretende Altersspanne von zehn bis 15. 476 Schulische Ausbildung und Kon rmation trennten sich im Deutschen Kaiserreich erst 1872 durch Übertragung der Schulaufsicht von der Kirche auf den Staat. Die übliche P ichtschulzeit betrug nun ächendeckend acht Jahre. Der dritte typische voreheliche Lebensabschnitt schloss sich an die Kon rmation bzw. regulär an den 12. (17. Jahrhundert) 477 und später 14. Geburtstag an. Im religiösen
471 472 473 474 475 476 477
Vgl. Beck, August, Ernst der Fromme, Herzog zu Sachsen-Gotha und Altenburg. Ein Beitrag zur Geschichte des siebenzehnten Jahrhunderts, 1. Teil, Weimar 1865, S. 507. Vgl. Meinel, Kinderleben, S. 43. EPA Rußdorf, KB I, Hochzeitsregister 1716, Nr. 4. Abraham Frischmann verp ichtete sich 1695, seine Stiefkinder „wo nicht vor, doch in 6.sten Jahre zur Schule halten“ zu wollen. – ThStA Abg, Amtsgericht Altenburg, C I Loc. 1, Nr. 148, fol. 199. Ebd., Nr. 436, fol. 237. Vgl. ebd., Kon rmandenregister. „[...] weswegen der Stieffvater auch jährlich 3 Nso. Zuchtgeld von ieglichen Kinde biß und mit 12ten Jahr, gewöhnli-
180
NUPTIALITÄT
Sinne trennte die Berechtigung zur Teilnahme am heiligen Abendmahl das Kind altersunabhängig vom Erwachsenen mit allen Rechten und P ichten, im juristischen endete offenbar mit dem 12. bzw. 14. Lebensjahr der Anspruch auf Fremdversorgung. Zum Beispiel musste Johann Gottlob Frischmann seiner Halbschwester 1816 versprechen, „die nöthigen Schuhe zu besorgen, bis sie 14 Jahr alt ist“ 478, und sollte Johann Michael Kühnert laut Kaufkontrakt von 1796 seine Stiefkinder in selbigem Alter ausbezahlen und bis dahin für deren Erziehung sorgen oder aufkommen. 479 Desgleichen vermerkte der Gerichtsschreiber 1837 im Kaufvertrag der Hanne Christliebe Gimpel: Die Käuferin [...] ist verp ichtet ihren noch unerzogenen Kindern vollends unentgeldliche zu erziehen, sie mit allen Lebensbedürfnissen zu versorgen, auch allen Aufwand für Schulunterricht, Medicin und ärztliche Bemühung auf ihre [...] Kosten zu bestreiten. [...] Wenn wieder Erwarten die Altersvormünder wegen erweißlicher Vernachläßigung und schlechter Behandlung ihrer Tugenden sich genöthiget sehen sollten, dieselben mit Obrigkeitl. Bewilligung von der Mutter wegzunehmen, und für deren Erziehung anderweit zu sorgen, so soll die Käuferin verbunden sein, nicht nur der Kinder Erbtheil baar auszuzahlen, [...] sondern auch für ein jedes Kind Ziehthaler conv. jährl. Zuschuß zu Bestreitung des Erziehungsaufwandes bis nach zurückgelegten 14ten Lebensjahre zuzahlen. 480
Allerdings wurde die Mündigkeit bzw. der rechtliche Erwachsenenstatus, der unter anderem zu Kauf oder Übernahme von Grundbesitz ermächtigte, erst mit dem 21. Lebensjahr, anlässlich dessen weichende Erben gerne ausbezahlt wurden, erreicht. Den Dorfjugendlichen stand nach ihrer Kon rmation eine begrenzte Zahl an Möglichkeiten offen, ins „Erwerbsleben“ einzusteigen und gegebenenfalls einen Heiratsfonds zu erwirtschaften. Frauen hatten die geringsten Wahlmöglichkeiten. Unabhängig von ihrer sozialen Herkunft blieb ihnen vor der Industrialisierung einzig der Gesindedienst in Dorf oder Stadt. In der Regel suchten sich junge Frauen eine Anstellung außerhalb des heimischen Haushalts, in dem sie lediglich aus wirtschaftlicher Notwendigkeit bzw. mangels freier Stellen verblieben. Analog zur Walz hatte die Praxis des externen Dienens neben dem schlichten Unterhaltsgedanken den Effekt, die im Idealfall demselben ökonomischen Kontext wie ihr Dienstherr entstammenden Knechte und Mägde in Vorbereitung der potentiellen eigenständigen Wirtschaftsführung zusätzlich zur heimischen Praxis mit anderen Formen dieser vertraut zu machen. Zudem mochte die Dienstzeit in teils erheblicher räumlicher Entfernung vom Heimatort der Erweiterung des individuellen Partnerwahlkreises sowie der ruralen Mobilität und genetischen Diversität zuträglich gewesen sein. Christina Böhm (* 1681), Tochter eines Seitenhainer
478 479 480
chermaßen von jährl. Zahlung davor inne behalten soll.“ – ThStA Abg, Amtsgericht Altenburg, C I Loc. 1, Nr. 148, fol. 199. HstA-D, 12613 GB Limbach, Nr. 7, fol. 401. Ebd., Nr. 5, fol. 465b. ThStA Abg, Amtsgericht Altenburg, C I Loc. 1, Nr. 487, fol. 94.
HEIRATSALTER
181
Wirts, verdingte sich exemplarisch nachweislich zwischen 1693 und 1701 beim damaligen Rußdorfer Amtsrichter, einem Cousin ihres Vaters, bevor sie 1702 einen Rußdorfer Gärtnersohn ehelichte und bis zu ihrem Tod vor Ort blieb. Die Dienstbotenzeit war innerhalb der „normalen“ ländlichen Erwerbsbiographie ein Durchgangsstadium, welches bei Frauen mit der Eheschließung sein Ende fand. Mitte des 19. Jahrhunderts trat infolge industrieller Entwicklung selbstständige ausbildungslose heimgewerbliche Arbeit in der Textilproduktion als Perspektive hinzu, die in erster Linie von Frauen klein- und unterbäuerlicher Schichten genutzt wurde. Die in Rußdorf geborene Theresia Hartig erscheint zum Beispiel 1847 im nahegelegenen Herrnsdorf als erste nachweisbare Spinnerin. Zu einem quellenmäßig belegbaren Massenphänomen avancierte die weibliche Heimarbeit jedoch erst in den 1870er Jahren. Nach 1900 begannen Frauen schließlich gleich ihren männlichen Altersgenossen langsam auch außerhalb der Textilherstellung bzw. -veredlung zuhause oder in Fabriken Berufe zu ergreifen und diesen ungeachtet einer etwaigen Eheschließung weiter nachzugehen. Pauline Hünl aus Komotau arbeitete 1903 als Kellnerin in Limbach, Emma Elsa Hofmann aus Cämmerswalde verdiente 1912 als Verkäuferin ihren Lebensunterhalt in Rußdorf, wo die Lehrerin Marie Ewalde Kruse 1915 ledig starb, Elly Frieda Weise aus Falken seit 1929 selbstständig frisierte oder etwa Senta Schmiedel 1922 ein Putzgeschäft eröffnete etc. 481 Adoleszente männlichen Geschlechts hatten demgegenüber seit Beginn der Untersuchungsperiode einen deutlich erweiterten Entscheidungsspielraum. Obgleich in seltensten Fällen genutzt, stand ihnen in Fortsetzung der Kirchschulschulzeit eine akademische Ausbildung an städtischen Bildungseinrichtungen theoretisch offen. Wie viele Jungen aus Rußdorf und Bräunsdorf diesen Weg gingen, ist nicht bekannt. Da sie ihren Heimatort dauerhaft verließen, schweigen die Kirchbücher in der Regel über ihren Verbleib bzw. Lebensweg. Eine Ausnahme stellt Christoph Heinrich Sebastian (1731–1773) dar. Als ältester Sohn des Rußdorfer Schenkwirts und langjährigen Steuer- und Geleitseinnehmers Christoph Sebastian promovierte er 1752 in Leipzig 482 und fungierte mindestens seit 1760 als „Hochgräflich Schönburgisch Wechselburgisch bestallter Hofsecretair“ und „adjungirter Amtschießer“ (1763) sowie Erb- und Lehnrichter (1772) in Leukersdorf. Der in den betrachteten Orten vorindustrieller Zeit üblicherweise eingeschlagene Weg männlicher Jugendlicher führte wie jener der Frauenschaft unter denselben Prämissen über den Gesindedienst. Designierte Erben, welche aus ihrer Sonderstellung ein Bleiberecht im elterlichen Haushalt ableiten durften, waren von dieser faktischen P icht vermutlich ausgenommen. Deren auszubezahlenden Brüdern bot die Dienstbotenzeit einerseits Möglichkeiten, sich unter Umständen nanziell aufzubessern, andererseits
481 482
Vgl. StALO, Rußdorf Gewerbeanzeigen, Nr. 29VA:1820: Alphabetisches Verzeichnis der erteilten Gewerbe-AnzeigeBescheinigungen, Gemeinde Ruhsdorf, 1930–1933. Sebastian, Christophorus Henricus, Dissertatio iuris gentium de iuramento iure gentium incognito, Leipzig 1752.
182
NUPTIALITÄT
in eventuell vakant fallende Stellen verstorbener Dienstherren einzuheiraten bzw. ihren Ehepartnerwahlkreis unter anderem um erbende Töchter zu vergrößern. Derartiges gelang Christoph Auerswald (1655–1699), der bei der Rußdorfer Schankwirtsfamilie Anstellung fand und seine verwitwete Herrin schließlich ehelichte. 483 Über das Mündigkeitsalter hinausgehendes Dienen oder kontinuierliche Ernährung durch die konzeptionell verwandte Tagelöhnerei nach dem 21. Geburtstag zählte allerdings zum nicht erstrebenswerten Schicksal ledig bleibender Männer. Eine Aufstellung über die männlichen Rußdorfer Einwohner jedweden Alters exklusive der landbesitzlosen Schicht weist die Praxis des dislozierten Gesindedienstes jedoch als rurales Unterschichtenphänomen aus. Alle lokalen Pferde- und Handbauern ließen ihre Söhne 1733 in der eigenen Wirtschaft dienen, während die männliche Nachkommenschaft der Gärtner und besonders der Häusler sich zumeist in anderen Dörfern verdingte. Zu Letzteren zählten noch Unkon rmierte wie zum Beispiel der neunjährige, in Oberfrohna angestellte Michael Pochert, der zwei Jahre danach erstmalig dem Abendmahl beiwohnte. 484 Sicherlich lagen dem in erster Linie ökonomische Erwägungen zugrunde. Bauern sparten sich durch den Rückgriff auf die Arbeitskraft eigener Kinder kostspieliges Dienstpersonal, Mittelschichtsangehörige durch den Dienstgang des Nachwuchses dessen Versorgung. Wen ausbezahlt die Abwanderung in den urbanen Raum schreckte, der konnte in den rein agrarischen Dorfgesellschaften des Spätmittelalters dem unsicheren Status des landwirtschaftlichen Lohnarbeiters und damit der mit relativer Sicherheit vorprogrammierten lebenslänglichen Ledigkeit ausschließlich durch Übernahme einer Hofstelle ent iehen. Wer die Stadtluft indes nicht scheute, einen zünftigen Lehrmeister fand und das Lehrgeld zu zahlen bereit und imstande war bzw. wessen Fürsorgep ichtigen sich dazu bereit erklärten, konnte in dritter Alternative schon in vorindustrieller Zeit einem zünftigen Handwerk zustreben, unterwarf sich damit aber prinzipiell bis zur nicht garantierten Erlangung des Meisterrechts einem zölibatären Lebenswandel und durch die mitunter vorgeschriebene Walz einem gewerbeabhängig mehr oder minder strikten Mobilitätszwang. Die Ausbildung konnte wahlweise im Gesellenstatus zugunsten einer vorgezogenen Verehelichung „abgebrochen“ und einer Niederlassung als Landhandwerker außerhalb zünftiger Bannmeilen ohne wirtschaftliche Protektion der Vorzug gegeben werden. 485 Gewiss bot das urbane Leben einige weitere Verdienstmöglichkeiten, unter anderem im Handel oder dem konzessionierten Dienstleistungsbereich. Diese standen indes unmündigen Personen nur bedingt offen.
483 484 485
Vgl. ThStA Abg, Amtsgericht Altenburg, C I Loc. 1, Nr. 141, fol. 77. Vgl. ThStA Abg, Landesregierung, Nr. 4172. Vgl. Schultz, Helga, Das ehrbare Handwerk. Zunftleben im alten Berlin zur Zeit des Absolutismus, Weimar 1993, S. 64 ff.
HEIRATSALTER
183
Den betrachteten dörflichen Raum in Richtung Stadt verlassende adoleszente oder erwachsene Einwohner lassen sich in der Überlieferung der Untersuchungsorte selten identi zieren. Geriet städtisches Leben, etwa in einer vorübergehenden Anstellung, zur Episode, geht dies ereignisungebunden aus den Kirchbüchern ebenso wenig hervor wie dauerhafte Binnenemigration, welche ausnahmslos in ausbleibendem quellenmäßigem Aufscheinen betreffender Personen angedeutet wird. Zu den wenigen Ausnahmen zählte der Maurer Wolffgang Riedel, Schulmeistersohn aus Diethensdorf, der 1687 als Geselle nach Bräunsdorf einheiratete, dort 1696 ein Gartengut erwarb und bis 1705 besaß, ohne dem Maurerhandwerk abzuschwören. Schließlich siedelte er in die nahe gelegene Kleinstadt Waldenburg um, wo er 1714 als Bürger und Maurermeister belegt ist. Dessen Zeitgenosse Wolffgang Landtgraff, 1664 geborener Sohn eines Bräunsdorfer Gärtners und Leinwandhändlers, etablierte sich im Glauchauer Leinwandhandel, erlangte das Bürgerrecht und ehelichte 1688 eine Weißbäckertochter aus der lokalen Bürgerschaft. Seinem drei Jahre älteren Bruder gelang bis 1691 der Eintritt in die Glauchauer Sattlerschaft, nachdem er schon 1678 als Sattler in seinem Heimatdorf erwähnt worden war. Bisweilen überbrückten die Abwandernden erhebliche Entfernungen. Der Rußdorfer Strumpfwirkersohn Friedrich Wilhelm Müller (* 1744) verschied 1794 als Gewandhändler in Berlin, Abraham Friedrich (* 1763) „soll als ein Schmiedegesell zu Erfurt gestorben seyn“ 486 und ein nicht eindeutig identi zierbarer Johannes Müller aus Rußdorf „soll sein Glück in Amsterdam gemacht und allda Nachkommen hinterlaßen haben“ 487. Mit dem Einsetzen der Protoindustrialisierung während des 16. Jahrhunderts geriet die unzünftige Arbeit im Landhandwerk zur lukrativen Option weichender Erben bzw. aus landbesitzlosen Familien stammender Jugendlicher bzw. junger Erwachsener. Eine Ausbildung im Massengewerbe der Leinweberei war einschließlich des notwendigen Arbeitsgeräts vergleichsweise günstig und wurde nicht selten von nahen Verwandten oder Bekannten organisiert. So versprach Samuel Heintzig aus Bräunsdorf 1735 seinem Stiefsohn Andreas Ludwig schriftlich im Kaufvertrag über dessen Vaters ehemaliges Gärtnergut, ihm, „Käuffern das Leineweber-Handwerck zuerlernen“ 488. Zumindest die in den Untersuchungsorten zwischen 1600 und 1850 stark verbreitete Leinenverarbeitung unterlag in dieser Zeit keinem Konzessionszwang oder zünftigen bzw. obrigkeitlichen Regulierungen. Heiratsverbot und Wanderzwang existierten nicht. Junge Männer, die sich auf dieses Gewerbe orientierten, konnten abseits der landwirtschaftlichen Arbeit und im Zweifelsfall auch bar jeden Landbesitzes bestehen, erlangten dadurch die geforderte materielle Berechtigung zur Familiengründung und vermochten dennoch in ihrem angestammten Umfeld zu verbleiben.
486 487 488
EPA Rußdorf, KB I, Taufregister 1763, Nr. 12, nachträglich eingefügte Notiz. Ebd., 1712, Nr. 10, nachträglich fälschlich eingefügte Notiz – das Kind starb vier Jahre später. Vgl. EPA Rußdorf, KB I, Beerdigungsregister 1716, Nr. 11. HstA-D, 12613 GB Limbach, Nr. 3, fol. 202b.
184
NUPTIALITÄT
Zwar war die seit Mitte des 18. Jahrhunderts in Rußdorf und seit etwa 1800 in Bräunsdorf Bedeutung erlangende Strumpfwirkerei durch ihre feste Innungsstruktur straffer organisiert und der Zugang stärker reglementiert, jedoch richtete sich der ausgeübte Protektionismus eher gegen freie Landhandwerker und „Pfuscher“ in Dörfern, die im Gegensatz zu den betrachteten nicht dem Zugriff der Innungen unterlagen. Bei gutem Leumund und ehrlichem Lebenswandel konnte jedweder Anwärter, der bei einem Innungsmeister Anstellung fand – „Gesellen aber mag er so gleich nach erlangtem Meister-Rechte halten, so viel er kan, inmaßen er dann auch so bald alß er einen Lehr Jungen loßgegeben, wiederum einen andern in die Lehre zunehmen befugt seyn soll“ –, gegen ein entsprechendes, im Vergleich zum städtisch-zünftigen eher geringes Lehrgeld die Ausbildung absolvieren und das Meisterrecht erlangen. Die Rußdorfer Innungsordnung forderte das Walzen: „sollen diejenigen, so das Strumpff-Würcker Handwerck zu Rußdorff treiben wollen es mit solcher Innung gehörig halten, ihre Lehr- und Wander-Jahre würcklich ausgestanden, und das Meister-Recht gewonnen haben“ 489, es ist aber nicht nachvollziehbar, inwieweit ortsansässige bzw. in der Region heimatberechtigte Strumpfwirker der P icht entsprachen. Sofern die Statuten eingehalten wurden, kehrten zahlreiche Gesellen an ihren Geburtsort zurück. Die hohe Ledigenquote unter den mündigen Meisteranwärtern der Region impliziert die stillschweigende Voraussetzung des Ledigenstatus, den die Gesetze zumindest der Rußdorfer Innung nicht ausdrücklich festschrieben. An den Organisationsstrukturen bzw. -regulativen der beiden dominanten protoindustriellen Textilgewerke änderte sich mit Einführung der Gewerbefreiheit 1861 in Sachsen bzw. 1863 in Sachsen-Gotha-Altenburg 490, wodurch die traditionellen gewerblichen Zwänge eine realiter längst vollzogene Liberalisierung 491 erfuhren, wenig. Selbstredend vergrößerten sich die Berufswahlmöglichkeiten dörflicher Jugendlicher und deren Chancen, lebenslanger Ledigkeit zu ent iehen, damit weiter. Einen ähnlichen Ein uss lässt freilich die im Limbacher Land um 1870/1880 in relevantem Maße einsetzende Fabrikindustrialisierung erwarten. 5.4.2 Lebenslange Ledigkeit Welchen Umfang die lokale Ledigenquote in den Untersuchungsorten annahm, ist unklar. Für den gesamten Untersuchungszeitraum fehlen in Rußdorf und Bräunsdorf umfassende Einwohnerlisten, die temporal-punktuell jede ansässige Person einschließlich ihres sozialen Status und familiären Standes aufführen. Zumindest im ruralen Raum, 489 490
491
ThStA Abg, Landesregierung, Nr. 11934. Vgl. Institut für Europäische Geschichte Mainz/Institut für Raumbezogene Informations- und Messtechnik der Fachhochschule Mainz, HGIS Germany, Sachsen-Altenburg (1826–1914), online: http://www.hgisg-ekompendium. ieg-mainz.de/Dokumentation_Datensaetze/Multimedia/Staaten/Sachsen-Altenburg.pdf [zuletzt aufgerufen am 20. 06. 2016]. Vgl. Lenger, Friedrich, Sozialgeschichte der deutschen Handwerker seit 1800, Frankfurt a. M. 1988, S. 80.
185
HEIRATSALTER
Tabelle 13: Mindestanteil lebenslänglich Lediger nach Geburtenkohorten in Rußdorf und Bräunsdorf Rußdorf 1582–1629 1630–1679 1680–1729 1730–1779 1780–1829 1830–1879 1880–1935
Bräunsdorf
Männer
Frauen
Männer
Frauen
0,21% 1,59%
0,00% 1,06%
– 3,29 %
– 2,19 %
3,24%
0,72%
1,31 %
2,18 %
2,70% 3,63% 1,50%
1,40% 2,04% 1,60%
1,25 % 1,79 % 1,17 %
1,93 % 1,17 % 1,22 %
1,14%
0,93%
1,87 %
1,41 %
vor Beginn des intensiven Wohnungsbaus im späten 19. Jahrhundert, hatten Ledige in den seltensten Fällen einen eigenen Hausstand, weswegen sie nicht zur politischen Gemeinde gehörten und zum Beispiel in Herdstellenzählungen regelmäßig unerwähnt blieben. Ihre hohe in Ortsungebundenheit und befristeten Anstellungsverhältnissen gründende Mobilität macht sie in mikroregionalen Alltagsquellen schwer fassbar. Die Anwesenheit eines Ledigen lässt sich anhand der Kirchbücher nahezu ausschließlich über dessen Beteiligung an einer örtlichen Taufe oder seine Beerdigung nachweisen. Gerichtsbücher sparen Landbesitzlose per se ganz aus. Rückschlüsse auf die Verweildauer, welche Mehrfachnennungen verschiedenen Datums bedürfen, können nur in seltenen Fällen gezogen werden. Die Ledigenquote eines beliebigen oder selbst überlieferungsbedingt diktierten Zeitpunkts ist daher nicht fassbar. Geburtenjahrgänge bilden zumindest eine feste Bezugsgröße, an der theoretisch bei Kenntnis aller Lebensläufe der Betreffenden ein Ledigenanteil sicher zu ermessen ist. Realiter verhindern ohne Verbleibsnachweis zu unbekannten Zeitpunkten verzogene Ortsgebürtige in den betrachteten offenen Dorfgesellschaften die Examination aller Biographien einer Geburtenkohorte. In Konsequenz ist für die Ledigenquote lediglich ein sicherer Minimalrichtwert ermittelbar, der nie die Zehnprozentmarke tangierte und in 29 (Rußdorf) bzw. 25 (Bräunsdorf) Dekaden unter fünf Prozent lag. Männer scheinen den Minimalwerten nach generaliter häu ger von Ledigkeit betroffen und Rußdorfer Männer öfter als Bräunsdorfer (Tab. 13). Umso deutlicher geht aus dem vorhandenen Datenmaterial der angenommene Zusammenhang zwischen sozialem Status und Ledigkeitsrisiko hervor. Hierbei galt insbesondere für Männer das Prinzip, je höher der eigene sozioökonomische Stand, desto geringer die Wahrscheinlichkeit einer lebenslänglichen Ehelosigkeit. Finanzstärke spielte ebenso eine eher untergeordnete Rolle wie die soziale Herkunft bzw. der Stand der Eltern. Weichende Erben landbesitzender Familien waren nicht weniger häu g betroffen als Hausgenossenkinder. Selbst die Kurerbenstellung gab keine völlige Sicherheit, solang der damit verbundene rechtliche Anspruch nicht Umsetzung fand.
186
NUPTIALITÄT
Zum Exempel ging das Gut des Rußdorfer Handbauern Michael Langraf um 1613 nicht an seinen mündigen designierten Erben Matthias, der 1628 ledig verstarb, sondern an dessen älteren Bruder, der 1617 heiratete. Christoph Steiner (1732–1786) verfügte trotz Landbesitzlosigkeit und ohne Kurerbe seines Vaters gewesen zu sein, über genügend Geld, um „ein Vermögen von etl. 1000 Gulden“ durchzubringen, gewann jedoch keine Frau für sich. Neben der Trunksucht mag seine Persönlichkeit – er war angeblich „von ungeschliffnen Sitten, daß auch die Amtleute wenig mit ihm anfangen konnten“ – einer festen Beziehung nicht eben zuträglich gewesen sein. 492 Selbstredend sprachen auf dem Heiratsmarkt neben dem ohne Frage beachtenswerten ökonomischen Hintergrund weitere schwer fassbare Faktoren wie Persönlichkeit, Aussehen oder schlicht Sympathie für oder gegen ein Individuum. Augenfällige bzw. schwerwiegende körperliche und geistige De zite programmierten ein Leben in Ledigkeit mit nahezu 100-prozentiger Sicherheit vor, weswegen betroffenen Mitgliedern landbesitzender Familien von vornherein regelmäßig lebenslange Bleiberechte im elterlichen Gut eingeräumt wurden. Johann Gottlieb Stiegler „war ein von früher Jugend an elender u. so gebrechlicher Mensch daß er kaum gehen konnte“. Er starb 1860 in Rußdorf ledig im Alter von 59 Jahren. 493 Der Bräunsdorfer Peter Resch (1653– 1712), „blöder“ Sohn eines Bauern 494, blieb gleichfalls unverheiratet. „Wegen ihres blöden Gesichts“ teilte sich Elisabeth List (1717–1797) die Wohnstatt mit ihrem zeitlebens ledig gebliebenen Bruder, dem Häusler Andreas List (1706–1770). 495 Eine liberale Lebenseinstellung scheint hingegen den Ausschlag für das Junggesellendasein Samuel Steudtmanns (1697–1786), seinerzeit „Senior der ganzen Gemeinde“, gegeben zu haben. Er „hatte in seinen jüngren Jahren ein sehr ausschweifendes Leben geführet“. 496 Woher indes das Schicksal der Gebrüder Sebastian Anfang des 17. Jahrhunderts rührte, verschweigen die Quellen. Doch selbst dem zeitgenössischen Pfarrer dünkte deren Lebenssituation bemerkenswert, sodass er im Kirchbuch anlässlich Samuel Sebastians (1692–1770) Beerdigung notierte: „der letzte von den 8 Brüdern dieses Geschlechts starb im ledigen Stande, wie 6 sr. Brüder“. 497 Ökonomische Ursachen ihrer dauerhaften Ehelosigkeit werden nicht ersichtlich, entstammten sie doch dem Rußdorfer Schenkgut, welches bis Anfang der 1720er Jahre gar von seiner ehemals schweren Schuldenlast befreit worden war. Obwohl von den acht erwachsenen Geschwistern der Familie lediglich der Kurerbe in seinen Zwanzigern verstorben war, verehelichten sich ausschließlich die einzige Tochter (mit 33 Jahren) und der dritte Sohn (mit 37 Jahren), während die übrigen Söhne im Alter von 68, 67, 78, 30 und 72 Jahren ledigen Standes 492 493 494 495 496 497
EPA Rußdorf, KB I, Beerdigungen 1786, Nr. 4. EPA Rußdorf, KB X, Beerdigungen 1860, Nr. 12. HstA-D, 12613 GB Limbach, Nr. 2, fol. 120. Ebd., Nr. 5, fol. 54b. EPA Rußdorf, KB I, Beerdigungen 1786, Nr. 3. Ebd., 1770, Nr. 3.
HEIRATSALTER
187
dahinschieden. Völlig gegensätzlich verzichtete keines der sechs überlebenden Kinder der hochverschuldeten Vorbesitzerfamilie 498 auf eine Hochzeit (mit 24, 19, 25, 23, 21 und 26 Jahren). Die wenigen stellvertretenden individualbiographischen Beispiele bezeugen eindrücklich, welch facettenreiches Phänomen lebenslängliche Ledigkeit schon in vor- bzw. protoindustrieller Zeit in den Untersuchungsorten war. Über Standesgrenzen und ökonomische Determinanten hinweg, jedoch nicht davon unabhängig existierend, unterwarf sich dieses keinem mit den verwendeten Mitteln eindeutig identi zierbaren Muster. Inwieweit etwa Knodels Feststellung einer zehnprozentigen Ledigenquote bei Frauen und einer leicht darunterliegenden der Männer in westdeutschen Räumen des späten 19. Jahrhunderts 499 oder Adlers Befund einer zehn- bis zwölfprozentigen Quote zwischen 1750 und 1900 mit geringerer Betroffenheit des weiblichen Geschlechts 500 auch im Limbacher Land Gültigkeit beanspruchen kann, bleibt offen. 5.4.3 Die Hochzeit Unabhängig davon, welchen „Ausbildungsweg“ die in der Regel frisch Kon rmierten in ihrer dritten Lebensperiode einschlugen, endete diese erst mit der Hochzeit. War ein Ehepartner gefunden, das Eheversprechen gegeben und die Zustimmung aller potentiellen Vetoberechtigten 501 eingeholt, wurde beim trauenden Pfarrer um die öffentliche Proklamation nachgesucht. Sah der Geistliche triftige Widerspruchsgründe, zum Beispiel formalen Ehebruch 502, konnte er das Aufgebot verweigern. Andernfalls wurde das Paar an drei aufeinanderfolgenden Sonntagen im Rahmen des Gottesdienstes abwechselnd in den Geburts- bzw. Wohnorten von Braut und Bräutigam proklamiert. Diese Bekanntmachungsmaßnahme diente zugleich als soziales Kontrollinstrument. Sollten den überwachenden Parteien etwaige Ehehindernisse bis dato unbekannt geblieben 498 499 500 501
502
Vgl. ThStA Abg, Amtsgericht Altenburg, C I Loc. 1, Nr. 162, fol. 77. Vgl. Knodel, Behavior, S. 136. Vgl. Adler, Demographie, S. 257. Nicht zuletzt die Zustimmung der Eltern konnte unter Umständen schwer zu erlangen sein, wie ein Fall aus Kaufungen belegt. Der dort 1594 geborene Hans Pester ehelichte 1626 seine Frau, „umb welche er sieben Jhar, wie Jacob umb Rachel, gedienet“. – EPA Kaufungen, KB I, Heiratsregister 1626, Nr. 3. Auch der Rußdorfer Benjamin Helbig bekam mit seiner Geliebten 1798–1801 drei uneheliche Kinder. Er hätte „auch die Mutter gerne gehelichet, der Vater ihm aber solche nicht geben wollen“, ehe die konsequent geführte wilde Ehe der Kinder eine Heirat faktisch erzwang. – EPA Rußdorf, KB I, Taufregister 1798, Nr. 4. Siehe zum Beispiel: „Zu wissen, weilt ich diese zwo personen nicht habe proclamiren wollen, weil Georg Riedell, sonst der schwartze Georg genandt, vor etlichen Jharen wegkommen. So hat Martha seine gelassenes weib, Hans Kölern einen Bergkman von S. Annebergk, Steygern auff S. Michelsbergk in Behem gelegen, zum Zeugen den 11 Augusti dieses 1605 Jhars gebracht, welcher ausgesagt und bekandt, das Georg Riedell sein vetter bey im gewesen, dem Herrn von Schwambergk, bey nacht und nebel ge schet, darüber ergrieffen, und ohngefähr vor zehent halb Jharen zu haft gebracht, torquirt, und gerichtet werden sollen, wo in nicht die bergleute loß geboten; Darauf er sich wider ein zeitlang bey im auf gehalten, gearbeitet, endlich heimziehen wollen, zum Einsiedell im Städlein, 7 Meile von Michelsberge gelegen, gestorben, und auff eine wiese von bawern begraben wordenn.“ – EPA Kaufungen, KB I, Heiratsregister 1605, Nr. 4.
188
NUPTIALITÄT
sein, traten diese mit hoher Sicherheit nach allgemeiner Ausrufung zu Tage. So „appellirte Johanne Christiane Scheibin aus Hartmannsdorff, untern 24.ten Novembr.“ 503 1804 gegen eine Hochzeit und erhob etwa Sophie Türpe 1846 Einspruch, der „sich auf ein mit Zustimmung des Vater gegebenes Eheversprechen u. rückständige tamenta auch 10 T[haler] für den Jungfernkranz bezog“ 504. Anlässlich der Trauzeremonie selbst, die unter Zeugen vollzogen wurde, mussten spätestens glaubhafte Zeugnisse über den Familienstand der Brautleute vorgewiesen werden. Christoph Berger, „abgehalten durch Kranckheit“, erschien 1810 „ohne test[imonium] integrit[atis]“ zu seiner Hochzeit in Rußdorf, weshalb er nicht getraut werden konnte. „So bat er, um den weiten Weg zu vermeiden, um ein Zeugniß der Ledigkeit der Selbmannin, und reißte mit ihr wieder zurück, und wird in Bockendorff copuliret.“ 505 Mit Einführung der standesamtlichen Heirat erübrigte sich diese Prozedur größtenteils, indem nun die staatliche Administration die Aufsichtsfunktion erfüllte. Kirchliche Aufgebote blieben nach 1876 dennoch üblich, variierten aber zunehmend in der Zahl und dienten nurmehr ausschließlich der öffentlichen Hochzeitsankündigung.
5.4.4 Heiratsalter Die dargestellten, für beide Geschlechter relativ klar umreißbaren präcopulativen ruralen Lebenslauftypen vermitteln den Eindruck insoweit normierten Heiratsverhaltens, dass sich daraus für die einzelnen sozioökonomischen Bevölkerungsgruppen in Kombination mit individualbiographischen Schemata relativ spezi sche Heiratszeitpunkte vorhersagen ließen. Designierte bäuerliche Hoferben, deren Heiratsberechtigung theoretisch bereits durch ihre soziale Stellung erfüllt und nicht an die vollzogene Hofübernahme, welche ohnehin in den betrachteten Dörfern bei geltendem minorativem Anerbenrecht in jungen Jahren zu erwarten wäre, gebunden war, sollten zum Exempel in vorindustrieller Zeit tendenziell ein deutlich niedrigeres Heiratsalter sowie eine höhere Nuptialität aufweisen denn Kinder landbesitzloser Hausgenossen, die ihren Heiratsfonds weitestgehend eigenständig erarbeiten mussten. Realiter greift dieses zahlreiche bedeutsame Aspekte bzw. Ein ussfaktoren aussparende Modell zu kurz. Allein Krisenerscheinungen und bestimmte konjunkturelle Wetterlagen vermochten die Heiratswahrscheinlichkeit und mit ihr das mittlere Heiratsalter der einen oder anderen sozialen Gruppe zu verändern. Herrschte zum Beispiel ein Mangel an Dienstboten wie in vielen deutschen Gebieten nach dem Dreißigjährigen Krieg 506, stiegen deren Löhne, wodurch sie eher die zur Heirat erforderliche materielle
503 504 505 506
Vgl. EPA Rußdorf, KB II, Heiratsregister 1804, Nr. 11. Vgl. EPA Rußdorf, KB III, Heiratsregister 1846, Nr. 6. Vgl. EPA Rußdorf, KB II, Heiratsregister 1810, Nr. 1. Vgl. P ster, Bevölkerungsgeschichte, S. 25.
HEIRATSALTER
189
Stärke erreichten. Ließ eine gesteigerte Mortalität unter Erwachsenen sozioökonomische Positionen in Größenordnungen vakant fallen, sank das allgemeine Heiratsalter, während Sättigungseffekte zu dessen Anhebung führten und die Ledigenquote erhöhten. Weiterhin ist der Ein uss profaner, unter anderem in der Familiengeschichte, in der Persönlichkeit der Heiratenden bzw. ihrer Eltern oder Vormünder, in individuellem Emp nden der eigenen Lebenssituation sowie dieser in Relation zum Lebensumfeld, im subjektiven wie gesellschaftlichen Norm- und Wertebewusstsein bzw. -verständnis etc. wurzelnder Gründe frühen wie späten Heiratens nicht zu unterschätzen. Unter Berücksichtigung der Annahmen, eine Heirat habe zu Beginn des Untersuchungszeitraums in erster Linie wirtschaftliche Interessen bedient und sich erst unter dem Ein uss der Romantik seit dem 19. Jahrhundert langsam zum Produkt einer vorrangig emotionalen Beziehung gewandelt 507, sowie, eine Heiratsbefähigung sei an den tatsächlichen oder sicheren zukünftigen Besitz einer sozioökonomischen Stelle gebunden gewesen und habe sich ebenfalls erst seit dem späten 19. Jahrhundert davon gelöst, stehen für das Rußdorfer und Bräunsdorfer Heiratsalter zwei grundlegende Prinzipien und daraus resultierende Entwicklungen zu erwarten. Gemäß Hajnals Theorem sollten anfänglich gesamtgesellschaftlich relativ späte Heiraten gegen Mitte (Frauen) bzw. Ende (Männer) Zwanzig bei stetig hohen Ledigenzahlen üblich gewesen sein. Nach Scho eld müsste im Zuge der Protoindustrialisierung des 18. und frühen 19. Jahrhunderts einerseits eine steigende Heiratshäu gkeit, andererseits ein durch verbesserte wirtschaftliche Möglichkeiten und strukturelle Notwendigkeit verursachtes sinkendes Durchschnittsalter aufkommen. 508 Der Höhepunkt der Entwicklung steht in der fabrikindustriellen Phase infolge gleichzeitiger tiefgreifender ökonomischer und sozialer Wandlungsprozesse um und nach 1900 zu erwarten. Zweitens müsste in vorindustrieller Zeit ein vertikales soziales Gefälle des Erstheiratsalters zu Tage treten, bei dem designierte Erben der agrarwirtschaftlich-rural bestimmenden Bauerngüter zuerst, gefolgt von ihren Geschwistern, den designierten Erben des nächstfolgenden Standes usw. die Ehe schlossen. Mit der (proto)industriellen Entwicklung deutlich verbesserte Verdienstmöglichkeiten unterbäuerlicher Schichten sollten dieses Verhältnis bis ins frühe 20. Jahrhundert sukzessive aufbrechen, ohne die bäuerliche Heiratspraxis grundlegend infrage zu stellen. Nach Tabelle 14 waren in Rußdorf und Bräunsdorf über den gesamten Untersuchungszeitraum hohe Heiratsalter üblich, die von Dekade zu Dekade teils erheblichen Schwankungen unterlagen. Im 17. und 18. Jahrhundert verweilten die Rußdorfer mit rückläu ger Tendenz durchschnittlich bis zu zwei Jahre länger im ledigen Stand als die Bräunsdorfer, deren Alter im Gegenteil anstieg. Unterlag dasselbe in der Exklave zum 19. Jahrhundert keiner Veränderung, stieg es in Bräunsdorf währenddessen 507 508
Vgl. Gestrich, Familie, S. 4ff. Vgl. Mooser, Josef, Ländliche Klassengesellschaft 1770–1848, Göttingen 1984, S. 87.
190
NUPTIALITÄT
Tabelle 14: Entwicklung des Heiratsalters nach Dekaden und Jahrhunderten mittleres Heiratsalter
1582–1589 1590–1599 1600–1609 1610–1619 1620–1629 1630–1639 1640–1649 1650–1659 1660–1669 1670–1679 1680–1689 1690–1699 1700–1709 1710–1719 1720–1729 1730–1739 1740–1749 1750–1759 1760–1769 1770–1779 1780–1789 1790–1799 1800–1809 1810–1819 1820–1829 1830–1839 1840–1849 1850–1859 1860–1869 1870–1879 1880–1889 1890–1899 1900–1909 1910–1919 1920–1929 1930–1935 1600–1699 1700–1799 1800–1899 1900–1935
Rußdorf
Bräunsdorf
30,05 31,94 32,28 28,67 31,04 29,58 31,92 27,58 27,26 31,47 27,57 28,16 27,28 30,54 28,78 27,50 29,46 28,74 28,49 27,58 27,28 27,17 28,16 28,24 28,91 28,04 28,59 30,31 29,64 28,17 26,22 26,75 26,43 27,26 27,74 28,12 29,46 28,28 28,30 27,30
– – – – – – 27,37 26,48 28,43 28,68 27,17 26,99 26,74 28,73 28,68 28,28 28,42 27,03 27,97 27,75 27,16 27,29 28,20 28,74 29,76 28,46 29,40 30,29 29,94 28,79 26,51 27,46 26,63 27,39 27,41 27,64 27,52 27,80 28,76 27,26
mittleres Erstheiratsalter Männer Rußdorf Bräunsdorf 28,46 25,90 26,90 28,10 31,56 35,27 32,77 28,50 29,55 26,75 30,67 31,03 28,15 26,45 29,69 29,56 27,75 28,32 27,11 29,21 28,54 29,31 28,96 28,52 29,89 28,27 27,27 28,68 28,30 26,75 25,66 25,65 25,50 25,56 26,33 27,05 30,21 28,42 27,79 26,00
– – – – – – 34,98 27,86 26,20 25,98 27,65 28,47 29,45 28,02 28,89 28,79 26,29 28,63 26,43 26,40 27,02 27,99 27,56 28,03 27,71 28,48 27,82 29,09 28,07 28,59 26,25 26,74 25,65 25,30 25,45 26,46 27,98 27,80 27,83 25,63
mittleres Erstheiratsalter Frauen Rußdorf Bräunsdorf 22,96 26,47 22,92 23,65 23,67 24,19 22,29 24,71 23,90 21,93 24,67 24,43 22,56 26,28 26,07 24,45 24,23 24,10 25,21 25,75 24,57 24,75 26,04 25,51 25,67 25,78 25,86 26,93 25,11 24,50 23,72 24,18 24,25 24,21 24,65 24,81 23,71 24,78 25,33 24,45
– – – – – – 25,09 24,60 24,10 24,23 23,68 26,22 23,57 24,78 26,78 25,74 25,34 25,70 26,32 24,70 24,58 24,97 26,53 25,63 27,62 26,74 26,23 25,85 26,11 25,95 24,12 24,85 23,80 24,39 24,82 24,95 24,60 25,24 25,96 24,44
HEIRATSALTER
191
sprunghaft über das nachbardörfliche Niveau. Hingegen unterschieden sich die Altersvorlieben am Ende der betrachteten Zeit kaum. Klare mit der gewerblichen und industriellen Entwicklung korrespondierende gleichartige Tendenzen werden nicht ersichtlich. Freilich ist die Aussagekraft des mittleren Gesamtheiratsalters gering. Erstheiraten unterlagen anderen Gesetzmäßigkeiten als Folgeehen, Männer waren anderen Regularien unterworfen als Frauen bzw. wurde deren Verhalten von anderen Faktoren beein usst. Dem Rechnung tragend behandelt die nachfolgende Analyse geschlechtsspezi sch ausschließlich das durchschnittliche Erstheiratsalter. Dazu wurde jede in der lokalen Überlieferung heiratend auftretende Person mit vollständigem Geburts- und Hochzeitsdatum ihrem Familienstand zum Zeitpunkt der Trauung entsprechend klassi ziert und gegebenenfalls ausgeschlossen. Im Ergebnis entsteht ein deutlich differenzierteres Bild. Zu den grundlegenden Gemeinsamkeiten der dörflichen Heiratsmuster zählt ein von einer Ausnahme im Rußdorf der 1590er Jahre abgesehen konsequentes periodenübergreifendes Altersgefälle zwischen den Geschlechtern. Dieses hatte auch nach Dekadendurchschnitten und unabhängig von der geschlechtsspezi schen Entwicklung ohne Ausnahme Geltung. Dessen Ursache ist im tradierten hausgemeinschaftlichen Arbeitsteilungsprinzip zu suchen. Insbesondere die von körperlichen Arbeiten geprägte Agrarwirtschaft wies unter Berücksichtigung anatomischer Eigenheiten nach dem Optimierungsgedanken Männern und Frauen unterschiedliche einander ergänzende Aufgaben, der Hausmutter die hauswirtschaftliche sowie dem -vater die versorgungstechnische Hoheit zu. 509 Dementsprechend oblag es auch in erster Linie dem Bräutigam, eine materielle Heiratsbefähigung zu erlangen bzw. vorzuzeigen. Erwartungsgemäß glückte dies oft erst in der zweiten Hälfte des dritten bzw. zu Anfang des vierten Lebensjahrzehnts. Brautschauende wählten normalerweise jüngere Partnerinnen, es sei denn, eine lukrative Stelle stand zu erheiraten. Daraus resultierten in beiden Untersuchungsorten Abstände um bis zu einer Dekade zwischen den durchschnittlichen männlichen und weiblichen Heiratsaltern. Schmalz sah im Altersunterschied der Ehegatten einen Indikator für die Art der Beziehung. Je größer der Abstand, desto hierarchischer sei das Verhältnis, je geringer, desto partnerschaftlicher. 510 Verbunden mit dem Bedeutungsgewinn der Liebesehe, den Shorter unter dem Ein uss der Romantik im 19. Jahrhundert gegeben sah 511, wäre danach
509
510 511
Vgl. Wunder, Heide, Arbeiten, Wirtschaften, Haushalten: Geschlechterverhältnisse und Geschlechterbeziehungen im Wandel der deutschen Agrargesellschaft des 18. und 19. Jahrhunderts, in: Prass, Reiner /Schlumbohm, Jürgen / Béaur, Gérard/Duhamelle, Christophe (Hg.), Ländliche Gesellschaften in Deutschland und Frankreich, 18.–19. Jahrhundert, Göttingen 2003, S. 187–204, S. 201ff. Vgl. Schmalz, Familienrekonstitution, S. 74. Vgl. van de Putte, Bart /Matthijs, Koen, Romantic Love and Marriage. A Study of Age Homogamy in 19th Century Leuven, o. J., online: https://lirias.kuleuven.be/bitstream/123456789/84605/3/Romantic+love.pdf [zuletzt aufgerufen am 20.06. 2016], S. 1.
192
NUPTIALITÄT
parallel mit einer Verringerung des Gefälles zu rechnen. Ein ähnlicher Effekt mochte jedoch von der industriellen Beschäftigungsweise ausgegangen sein. Diese bot beiden Partnern Möglichkeiten, dem nötigen nanziellen Heiratsfonds zuzuarbeiten, was unter Umständen ein früheres Erreichen desselben und vor allem eine Herabsetzung des männlichen Eheeintrittsalters bedeutet hätte. Tatsächlich verringerte sich die Differenz im Laufe der Neuzeit sukzessive in mehreren mit der langfristigen wirtschaftlichen Entwicklung korrespondierenden Stufen. Während des 17. Jahrhunderts war das mittlere männliche Hochzeitsalter am höchsten, jenes der Frauen blieb etwa sieben bzw. vier Jahre darunter. In der Periode protoindustriellen Aufschwungs respektive des Aufstiegs der unteren Mittelschicht zwischen 1700 und 1800 verehelichten sich Männer etwa ein bzw. zwei Jahr(e) eher. Im Zuge des industrialisierungsgeprägten 19. und 20. Jahrhunderts nahm der Abstand schließlich bis auf weniger denn ein Jahr ab. Ob der in beiden Untersuchungsorten gleichermaßen ablaufende Prozess mit der Verbreitung außeragrarischer kontinuierlicher Lohnarbeit einherging, ist freilich fraglich. Immerhin war die Heim- und mehr noch die Fabrikindustrie in Rußdorf deutlich stärker ausgeprägt als in Bräunsdorf. Dennoch erscheinen die Geschlechterdifferenzen beim Erstheiratsalter dort bis in die 1930er Jahre eindeutig ausgeprägter. Nach Geschlechtern getrennt zeigt die Entwicklung des Eheeintrittsalters unterschiedliche Verläufe, die zudem bei den Männern nochmals zwischendörflich auseinandergehen. Das Durchschnittsalter der Rußdorfer Bräutigame ging vom 17. bis zum 20. Jahrhundert um vier von rund 30 auf 26 zurück. Jenes der Bräunsdorfer blieb bis zum 19. Jahrhundert auf einem niedrigeren Niveau und nahm erst, als es mit dem nachbardörflichen gleichauf lag, im 20. Jahrhundert merklich von rund 28 auf rund 26 Jahre ab. Von Jahrzehnt zu Jahrzehnt spürbare Schwankungen um teils mehrere Jahre sind in beiden Orten zu beobachten. Während jeweils in den ersten Jahrzehnten nach Kirchbuchbeginn geringe Fallzahlen Deviationen begünstigen, scheidet überlieferungsbedingte Unruhe in der Folgezeit aus. Unklar bleibt somit, woraus das beständige Auf und Ab resultierte. Eine insgesamt verschiedenartige Entwicklung verbietet Rückschlüsse auf kurzfristige Ereignisse anhand temporär synchroner Ausschläge. Einige Abschnitte stechen dennoch mit konkreten Mustern heraus. Zur Zeit des Dreißigjährigen Krieges etwa schoben die Männer den Gang zum Altar am längsten hinaus. Das Durchschnittsalter der Bräunsdorfer lag in den 1640ern fünf Jahre über dem nächsten Maximum in den 1700er Jahren. Desgleichen entfallen die drei höchsten Rußdorfer Kohortenwerte auf das dritte bis fünfte Jahrzehnt des 17. Jahrhunderts. Die Jahre zwischen 1770 und 1819 in Rußdorf bzw. 1780 und 1829 in Bräunsdorf fallen durch vergleichsweise geringe Schwankungen um zusammen maximal ein Jahr auf. In beiden Orten deckt sich dies mit einer Zeit geringen soziostrukturellen Wandels. Ein Zusammenhang ist dennoch fraglich. Einerseits durchlebte Bräunsdorf zwischen den
HEIRATSALTER
193
1730er und 1760er Jahren eine Phase höherer Statik mit weitaus unruhigerer Erstheiratsaltersentwicklung, andererseits sind mit vermehrten Hofstellengründungen einhergehende gleichartige Tendenzen nicht feststellbar. Zum Beispiel heirateten die Rußdorfer trotz erheblich vermehrten Stellenangebots um 1730 in den 1720er und 1730er Jahren ähnlich spät und später als in den ankierenden Jahrzehnten. Hingegen sank das Heiratsalter in den 1760er nach einer ebensolchen Phase um 1760 in Bezug auf die vorangegangenen und nachfolgenden zehn Jahre. Ein dritter Abschnitt fällt durch seine hohe Konstanz niedrigster Erstheiratsalter in Rußdorf zwischen 1880 und 1919 sowie in Bräunsdorf zwischen 1900 und 1929 ins Auge. Die Verbindung mit dem wirtschaftlichen Aufschwung des Limbacher Landes steht außer Frage. Neue Verdienstmöglichkeiten unter anderem in der Fabrikarbeit und der Wirkungsverlust alter Regulationsmechanismen erlaubten eine rasche Beschaffung von Heiratsfonds in Geld und Wohnraum, was frühere Eheschließungen gestattete. Das spätere Einsetzen der Entwicklung im an der Industrialisierung eher passiv beteiligten Bräunsdorf stützt dieses Bild ebenso wie der neuerliche Anstieg der männlichen Erstheiratsalter in beiden Dörfern in den Krisenjahren nach 1920. Die durchschnittlichen weiblichen Eheeintrittsalter zeigen demgegenüber in den Untersuchungsorten einen tendenziell identischen Hergang, obgleich die Extreme im Rußdorfer Fall abermals stärker ausfallen. Bei relativ niedrigen Werten im 17. Jahrhundert beginnend, wuchsen sie bis zum 19. Jahrhundert um ein bis eineinhalb Jahre auf ein ähnliches Niveau an, um im 20. Jahrhundert in gleicher Weise zurückzugehen. Wie die männlichen Erstheiratsalter unterliegen auch die weiblichen nach Dekaden teils signi kanten Schwankungen, die keinem einheitlichen Muster zu folgen scheinen. Desgleichen teilen sie deren charakteristische Abschnitte kaum. Insbesondere der Dreißigjährige Krieg lässt keinerlei Auswirkungen erkennen. Längere Perioden außergewöhnlich geringer Deviationen um insgesamt maximal ein Jahr sind in Rußdorf für die Jahre 1730–1769 und 1800–1849 sowie 1730–1769 und 1830–1879 in Bräunsdorf feststellbar, wobei das Niveau der zweiten Phase jeweils um ein Jahr höher lag. Eine Verbindung mit ökonomischen oder soziostrukturellen Veränderungen ist nicht erkennbar. Dagegen geht ein dritter Abschnitt geringer Schwankungen bei ca. 24 Jahren 1870–1935 bzw. 1880–1935 mit dem regionalen industriellen Aufschwung konform. Anders als bei den Männern motivierte dieser eine nur leichte Absenkung des Erstheiratsalters, nachdem es seit 1800 auf einem gehobenen Stand verharrt hatte. Analog fällt der neuerliche Anstieg nach 1920 bei den Frauen kaum ins Gewicht. Eindeutige Prinzipien, denen die kurzfristige Entwicklung des mittleren Eheeintrittsalters folgte, können anhand der getroffenen Beobachtungen kaum de niert werden. Der Blick auf Vergleichsstudien mag zusätzlichen Aufschluss bringen. Für den gesamtsächsischen Raum beobachtete auch Burkhardt eine konjunkturabhängige Verschiebung des durchschnittlichen Erstheiratsalters beider Geschlechter nach oben im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts, wobei er konsequent um bis zu ein Jahr
194
NUPTIALITÄT
leicht erhöhte Zahlen angab. 512 Anhand des niedersächsischen protoindustriellen Kirchspiels Belm beschrieb Schlumbohm zwischen 1651 und 1860 eine parallele langfristige Abnahme des Eheeintrittsalters von Bräuten und Bräutigamen unter Beibehaltung des Altersabstands von etwa zwei Jahren. Der Rückgang bei den Männern von rund 31 auf etwa 28 Jahre ist mit dem Rußdorfer Beispiel vergleichbar, derjenige von 27–28 auf 25– 26 bei den Frauen ndet eine wertmäßige Entsprechung im Limbacher Land erst während des 19. Jahrhunderts. Darüber hinaus stellte Schlumbohm eine mit dem sozialen Stand zunehmende Tendenz zu frühen Heiraten der Bräute, hingegen einen umgekehrten Zusammenhang bei deren Gatten fest. 513 Demgegenüber beschrieb Adler im württembergischen, bäuerlich geprägten Aach eher einen Rückgang des männlichen Erstheiratsalters von 27 auf rund 25 Jahre während des 18. und einen neuerlichen Anstieg auf 27–28 Jahre im 19. Jahrhundert, im benachbarten protoindustriell geprägten Schönmünzach dagegen ein im Ganzen zwischen 27 und 29 Jahren variierendes. Das weibliche stieg in beiden Orten von 24 Jahren Anfang des 18. Jahrhunderts auf 25–26 im 19. Jahrhundert an. Dabei erkannte Adler unter anderem eine insgesamt senkende Wirkung wirtschaftlichen Progresses. Desgleichen habe die Möglichkeit zu frühen Heiraten mit dem sozialen Stand geschlechtsunabhängig abgenommen. Was für Frauen bis zur Wende zum 20. Jahrhundert Bestand hatte, verlor bei den Männern nach 1830 seine Gültigkeit, indem die bäuerliche Oberschicht zu späteren Eheschließungen überging, Fabrikarbeiter, wenngleich erst in Verbindung mit einem gewissen Lebensstandard, hingegen zur Absenkung des Heiratsalters neigten. 514 Knodel bemerkte stattdessen im westdeutschen Raum überregional kaum Klassenunterschiede beim Eheeintrittsalter, welches in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts leicht gestiegen, zu dessen Ende hin wiederum gefallen sei. 515 Ein einheitliches Heiratsmuster bäuerlicher oder protoindustrieller Gesellschaften ist an den Beispielen nicht erkennbar. Als übergeordnete Motive sind ein zwischengeschlechtliches, im 19. Jahrhundert abnehmendes Altersgefälle, eine in Abhängigkeit vom Grad der Subsistenzwirtschaft variierende Orientierung an Konjunkturzyklen und zum Ende des 19. Jahrhunderts hin mehrheitlich rückläu ge Erstheiratsalter auszumachen. Zudem zeigen Rußdorf und Bräunsdorf gemäß Hajnals Theorem mit den Vergleichsbeispielen einhellige Werte. Über den Heiratszeitpunkt entschied immer ein komplexes Faktorengefüge, in dem die persönlichen Umstände erheblichen Raum einnahmen. Gesamtgesellschaftlich wirkende Prozesse konnten im durchschnittlichen Heiratsalter ihre Prägung nur dann hinterlassen, wenn die Rahmenbedingungen es erlaubten, d. h. eine Gruppe hinläng-
512 513 514 515
Vgl. Burkhardt, Bevölkerung, S. 22. Vgl. Schlumbohm, Lebensläufe, S. 100. Vgl. Adler, Demographie, S. 179ff. Vgl. Knodel, Behavior, S. 121ff.
HEIRATSALTER
195
lichen Ausmaßes eine Lebenssituation weitgehend teilte. Dementsprechend vollzogen sich die frappierendsten Änderungen des Heiratsverhaltens der Rußdorfer und Bräunsdorfer zeitgleich zur regionalen Durchsetzung industrieller Strukturen in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, als die ländliche Unterschicht unter massivem Bevölkerungswachstum sowie dem Zuzug zahlreicher lediger Personen zur gesellschaftlich beherrschenden Gruppe aufstieg. Wird die Verteilung der Erstheiratenden auf einzelne Altersklassen über den Untersuchungszeitraum hinweg betrachtet (Tab. 15), lassen sich Verhaltensänderungen kleinteiliger nachvollziehen. Männer schritten schon zu Beginn des Untersuchungszeitraums in den betrachteten Ortschaften bevorzugt vor dem 30. Geburtstag vor den Altar. Gleichwohl war es bis ins 19. Jahrhundert mit abnehmender Tendenz nicht unüblich, erst im vierten Lebensjahrzehnt den ehelichen Bund einzugehen. Dergleichen Fälle kamen von Beginn an in Rußdorf häu ger vor als in Bräunsdorf. Dies korrespondiert mit dem im Untersuchungsgebiet bis 1850 Geltung beanspruchenden Stellenmechanismus. Nach alter Sitte wurde ein Heiratsfonds in erster Linie ererbt oder via Erbkauf weitergeben. Nicht selten zählten die Erblasser zum Zeitpunkt der Gutsübertragung mehr denn 60 Jahre. Selbst der Kurerbe hatte seine Mündigkeit zu dem Zeitpunkt meist schon weit hinter sich. Belegte der Nachfolger unter seinen Geschwistern einen der vorderen Geburtsränge oder hielt der alte Besitzer von guter Gesundheit gesegnet bis ins hohe Alter an der Haushaltung fest, war schnell das 30. Jahr erreicht, ehe der neue Stelleninhaber eine Familie gründen konnte. Mancher mochte so lange nicht warten und heiratete mit Anrecht auf das Erbe schon im Hausgenossenstatus unter der väterlichen Ägide. In Bräunsdorf scheint diese Möglichkeit im 17. und 18. Jahrhundert stärker Gebrauch gefunden zu haben, was den verglichen mit Rußdorf geringeren Anteil über Dreißigjähriger erklärte. Andere, die sich in ein Gut einkaufen oder in Mitwohnerschaft via Gewerbetrieb erst einen genügenden nanziellen Hintergrund schaffen mussten, hatten ebenfalls länger ledig auszuharren. Solange das eherne Stellenprinzip galt, vermochte beispielsweise auch eine gute Konjunktur keine verfrühten Hochzeiten in großem Maßstab zu motivieren. Kein Gutsbesitzer zog sich freiwillig von seiner existenzsichernden Stelle und seinem sozialen Status zurück. Nur die Schaffung neuer Stellen, wie seit Beginn des Untersuchungszeitraums unter dem Ein uss einer konstanten ökonomischen Großwetterlage wiederholt geschehen, begünstigte in dem agrarischen bzw. protoindustriellen System um Jahre vorgezogene Trauungen. Erst mit der sukzessiven Auflösung des Stellenmechanismus unter dem Ein uss der Industrialisierung im 19. Jahrhundert gingen die höheren Eheeintrittsalter deutlich zurück und elen anteilig in der Hochindustrialisierungsphase kaum mehr ins Gewicht. Desgleichen setzte sich bei beiden Geschlechtern Ende des 19. Jahrhunderts eine gleichmäßige Verteilungskurve der Heiratsalter mit einem Schwerpunkt im 23. oder 24. Lebensjahr durch. Während die Heiratswahrscheinlichkeit zuvor in jedem Intervall mehrere, teils auseinanderliegende Spitzen aufwies, stieg sie nun kontinuier-
1880–1935
1830–1879
1780–1829
1730–1779
1680–1729
Bräunsdorf 1630–1679
1880–1935
1830–1879
1780–1829
1730–1779
1680–1729
1630–1679
Rußdorf 1582–1629
Männer Frauen Männer Frauen Männer Frauen Männer Frauen Männer Frauen Männer Frauen
Männer Frauen Männer Frauen Männer Frauen Männer Frauen Männer Frauen Männer Frauen Männer Frauen unter 21 1 1,41 % 21 21,65 % 4 2,44 % 34 18,38 % 10 5,00% 41 16,40 % 13 5,94% 30 9,68 % 1 0,28 % 40 9,64 % 4 0,45 % 99 10,36 % 51 62 96 116 126 164 134 221 259 301 769 768
21–29 71,83 % 63,92 % 58,54 % 62,70 % 63,00 % 65,60 % 61,19 % 71,29 % 73,58 % 72,53 % 86,21 % 80,33 %
unter 21 21–29 0 0,00 % 25 54,35 % 14 22,22 % 46 73,02 % 1 1,37 % 44 60,27 % 29 33,33 % 45 51,72 % 5 3,33 % 80 53,33 % 40 21,51 % 113 60,75 % 6 2,70 % 132 59,46 % 58 20,35 % 181 63,51 % 7 2,41 % 179 61,72 % 56 15,43 % 255 70,25 % 6 0,90 % 475 71,00 % 93 13,19 % 489 69,36 % 10 0,60% 1448 86,86 % 201 11,35 % 1429 80,69 %
17 11 61 33 56 42 65 52 77 62 106 78
19 2 23 11 61 31 76 42 86 46 170 113 180 120 30–39 23,94 % 11,34 % 37,20 % 17,84 % 28,00 % 16,80 % 29,68 % 16,77 % 21,88 % 14,94 % 11,88 % 8,16 %
30–39 41,30 % 3,17 % 31,51 % 12,64 % 40,67 % 16,67 % 34,23 % 14,74 % 29,66 % 12,67 % 25,41 % 16,03% 10,80 % 6,78 %
1 3 3 2 7 3 7 7 15 12 13 11
2 1 4 2 4 2 8 4 15 6 17 9 25 17 40–49 1,41 % 3,09 % 1,83 % 1,08 % 3,50% 1,20 % 3,20% 2,26 % 4,26% 2,89 % 1,46 % 1,15 %
40–49 4,35 % 1,59 % 5,48 % 2,30 % 2,67 % 1,08 % 3,60 % 1,40 % 5,17% 1,65 % 2,54 % 1,28 % 1,50 % 0,96 %
Tabelle 15: Prozentuale Verteilung der Erstheiratenden nach Altersklassen in Rußdorf und Bräunsdorf
1 0 0 0 1 0 0 0 0 0 0 0
0 0 1 0 0 0 0 0 3 0 0 1 4 4 50–59 1,41 % 0,00 % 0,00 % 0,00 % 0,50 % 0,00 % 0,00 % 0,00 % 0,00 % 0,00 % 0,00 % 0,00 %
50–59 0,00 % 0,00 % 1,37 % 0,00 % 0,00 % 0,00 % 0,00 % 0,00 % 1,03 % 0,00 % 0,00 % 0,14% 0,24 % 0,23 % über 60 0 0,00 % 0 0,00 % 0 0,00 % 0 0,00 % 0 0,00 % 0 0,00 % 0 0,00 % 0 0,00 % 0 0,00 % 0 0,00 % 0 0,00 % 0 0,00 %
über 60 0 0,00 % 0 0,00% 0 0,00 % 0 0,00 % 0 0,00 % 0 0,00 % 0 0,00 % 0 0,00 % 0 0,00 % 0 0,00 % 1 0,15 % 0 0,00 % 0 0,00 % 0 0,00 %
Summe 71 97 164 185 200 250 219 310 352 415 892 956
Summe 46 63 73 87 150 186 222 285 290 363 669 705 1667 1771
196 NUPTIALITÄT
HEIRATSALTER
197
lich bis zu einem Scheitelpunkt an und nahm danach ebenso kontinuierlich wieder ab (Tab. 16). Unverändert selten heirateten Männer über den gesamten Untersuchungszeitraum im unmündigen Status oder mit über 40 Jahren. Regelmäßig nutzten die fast ausnahmslos dem Einwohnermilieu angehörenden älteren Semester durch Heirat einer Witwe ihre letzte Chance, noch in den Genuss sozialer Absicherung zu gelangen. Hingegen vertraten etwa die Minderjährigen das gesamte Spektrum der dörflichen Besitzstände. Einschneidende familiäre, die Haushaltskontinuität bedrohende Ereignisse motivierten oder erzwangen teilweise eine Gutsübertragung auf unmündige Söhne, die sich dadurch entweder in die Lage versetzt sahen, eine gewählte Partnerin faktisch verfrüht heimzuführen oder eine frühe Heirat forcieren mussten, um den Hausstand führen zu können. Ihre Bräute waren ebenfalls maximal 21 Jahre alt. Zu den jüngsten Eheleuten zählen, 1667 vermählt, Susanna Helbig (1651–1724) und Andreas Görner (1650–1677). Dessen verwitwete Mutter starb wahrscheinlich 1667 und hinterließ ihrem Sohn ein Bauerngut, welches der Jugendliche allein unmöglich zu bewirtschaften vermocht hätte. Ähnlich war die Situation Martin Esches (1678–1735) gelagert. Binnen zwei Wochen starben 1694 seine Eltern, die selbst kaum ein Jahr in der Wirtschaftsführung des vormals großväterlichen Anspanngutes gestanden hatten. Außer dem hinfälligen, Mitte des Jahres gleichfalls verschiedenen Großvater entbehrten die vier hinterbliebenen unmündigen Söhne eines näheren Verwandten vor Ort. Der in Niederfrohna lebende väterliche Ahn übernahm den Besitz, „weil der jüngste Sohn nur 7 Jahr alt, und welcher unter den andern Kindern sich am besten zum Guthe und deßen Bestreitung schicken würde, man noch zur Zeit nicht wißen könnte, Er vor sich und seine Erben schuldig seyn wolte, dem jenigen Sohne, so darzu tüchtig befunden würde, es künfftig gegen wieder Bezahlung des KauffLehn- und Schreibegeldes [...] wieder abzutreten“. 516 Nur ein Jahr darauf stand die Besitzfrage erneut zur Debatte. Da der älteste Enkel „Martin Esche ziemlich erwachsen und solches zu reluiren vermeinet, auch bereit eine gewiße Person, nahmentlich Christoph Esche zu Rußdorff erbethen, daß er ihme seine Tochter zu ehelichen und eines weil die Haußhaltung führen zuhelffen versprochen“. 517 Die Jugendhochzeit zwischen dem 17-jährigen Gutserben und der 15-jährigen Bauerntochter Eva Esche erfolgte im November 1695. Wie ungewöhnlich derart frühe Trauungen waren, beweist das Beispiel des 1699 mit 18 Jahren eine gleichaltrige Pleißaerin ehelichenden Michael Rudolph, der anlässlich seines Erbkaufs 1698 eigentlich „zu heyrathen noch zu jung“ 518 galt. Auch die Bräunsdorfer Unmündigen blickten teils auf sicherlich nicht ungewöhnliche, aber doch aus dem majorativen Muster herausstechende familiäre Verhältnisse zurück. Der 19-jährige Christoph Friedrich verlor etwa nach dem Tod des Vaters 1685
516 517 518
ThStA Abg, Amtsgericht Altenburg, C I Loc. 1, Nr. 148, fol. 88. Ebd., Nr. 148, fol. 225. Ebd., Nr. 150, fol. 20.
– – – – – – – 0,46 – – – –
1630–1679
1880–1935
1830–1879
1780–1829
1730–1779
1680–1729
15
Bräunsdorf
1880–1935
1830–1879
1780–1829
1730–1779
1680–1729
Männer Frauen Männer Frauen Männer Frauen Männer Frauen Männer Frauen Männer Frauen
– – – 1,37 – – – – – – – – – –
1630–1679
15
1582–1629
Männer Frauen Männer Frauen Männer Frauen Männer Frauen Männer Frauen Männer Frauen Männer Frauen
Rußdorf
– – – – – – – 0,46 – 0,28 – –
16
– 2,17 – 1,37 – 1,33 – 0,90 – 0,34 – 0,15 – –
16
– 4,23 – 1,83 – 1,00 – 0,46 – 0,85 – 0,11
17
– 4,35 1,37 5,48 0,67 2,67 0,90 0,90 0,34 0,69 – 1,05 – –
17
– 5,63 0,61 6,10 1,50 5,50 0,91 0,91 – 1,42 – 1,23
18
– 6,52 – 5,48 0,67 4,00 – 7,21 – 3,45 0,15 1,35 – 0,66
18
– 12,68 0,61 5,49 0,50 6,00 0,91 3,65 – 2,84 – 2,57
19
– 6,52 – 15,07 1,33 10,00 1,35 8,11 1,38 7,59 – 4,33 0,06 3,18
19
1,41 7,04 1,22 7,32 3,00 8,00 4,11 7,76 0,28 5,97 0,45 7,16
20
– 10,87 – 10,96 0,67 8,67 0,45 9,01 0,69 7,24 0,75 7,03 0,54 7,92
20
4,23 18,31 1,83 6,10 5,00 8,00 2,28 8,68 2,56 7,67 3,58 13,09
21
6,52 19,57 2,74 9,59 2,67 9,33 4,05 13,51 2,07 10,00 2,09 8,22 3,48 13,44
21
7,04 9,86 4,27 10,37 9,00 7,00 6,39 15,98 4,83 8,81 9,96 14,77
22
2,17 15,22 6,85 9,59 5,33 12,00 7,66 13,51 4,14 12,76 5,98 10,01 12,06 15,12
22
8,45 19,72 5,49 10,98 10,00 9,00 5,94 19,18 9,94 13,35 15,32 17,90
23
2,17 6,52 8,22 9,59 3,33 14,00 3,60 12,16 6,90 10,34 7,32 9,12 15,78 15,42
23
8,45 11,27 9,76 7,93 8,50 12,50 9,13 10,05 10,80 14,49 16,22 12,30
24
6,52 17,39 2,74 9,59 7,33 6,00 6,31 10,36 9,31 9,31 12,71 9,87 14,46 13,74
24
7,04 8,45 6,10 7,32 7,50 14,00 9,59 10,96 7,67 11,08 12,64 8,50
25
6,52 10,87 4,11 6,85 2,67 8,00 9,01 7,21 10,34 12,07 9,57 9,27 12,48 10,44
25
11,27 7,04 7,32 9,76 7,50 7,00 9,13 11,42 10,51 9,94 11,30 8,17
26
10,87 4,35 8,22 5,48 9,33 9,33 4,95 9,46 7,59 9,66 9,57 8,07 11,58 7,32
26
Tabelle 16: Verteilung der Erstheiratenden nach Altersklassen 16 bis 30 in Rußdorf und Bräunsdorf (Angaben in %) 27
12,68 0,00 6,10 8,54 6,00 11,00 7,76 8,68 10,23 6,25 7,16 5,15
27
4,35 13,04 10,96 5,48 11,33 5,33 7,21 4,95 7,24 10,34 8,82 8,37 7,44 4,56
28
9,86 4,23 9,76 4,88 3,00 6,00 5,94 7,31 8,52 8,52 5,48 3,02
28
4,35 4,35 5,48 4,11 7,33 4,00 8,11 4,05 6,55 7,59 8,22 5,98 5,34 3,12
29
2,82 8,45 7,93 4,88 6,50 7,50 5,02 8,68 8,52 5,40 4,36 3,02
29
10,87 8,70 10,96 1,37 4,00 7,33 8,56 6,31 7,24 5,86 6,73 4,19 4,20 2,58
30
2,82 4,23 3,66 2,44 6,00 3,00 2,74 1,83 1,70 1,42 1,90 0,78
30
4,35 2,17 2,74 4,11 2,67 2,00 4,50 1,35 0,34 1,38 2,54 1,49 1,32 0,84
198 NUPTIALITÄT
HEIRATSALTER
199
sein Anrecht auf dessen „zimblich verwüstetes Pferdtfrohnguth“, welches „unmöglich uff viel Kinder erhalten werden könne“ 519, erschien aber trotz der vergleichsweise geringen Entschädigungssumme und seiner folglichen Grundbesitzlosigkeit einer Oberfrohnaer Inwohnerfamilie bzw. deren Tochter 1691 attraktiv genug. Hingegen gaben für die beinahe volljährigen Hanß Frischman (1644–1721) und Christoph Fiedler (* 1650) kurz zuvor erfolgte Erbgänge 1664 bzw. 1671 den Ausschlag. Die Altersverteilung erstmalig heiratender Frauen zeigte in vorindustrieller Zeit leicht differierende Schwerpunkte. Im vierten oder einem höheren Lebensjahrzehnt vermählten sie sich im Unterschied zu ihren Partnern kaum. Insbesondere die 40-JahresGrenze nahm für das weibliche Geschlecht eine dezisive Bedeutung an. „Alte Jungfern“, deren Fruchtbarkeit sich spätestens nach dem 40. Geburtstag rasant ihrem Ende zuneigte, durften selten noch auf einen Ehemann und Zugang zu einer relativ gesicherten Existenz hoffen. Die Majorität der im fünften Lebensjahrzehnt be ndlichen erstmaligen Bräute, von der Inwohner- bis zur Bauerntochter, ehelichte einen älteren Witwer. Über 50-jährige ledige Bräute waren lediglich in Rußdorf ab 1848 nachweisbar. Allesamt ehelichten sie einen Witwer und mindestens zwei hatten mehrere uneheliche Kinder. Die klare Mehrheit der Frauen willigte in Rußdorf und Bräunsdorf vor dem 30. Geburtstag in eine Ehe ein. Darunter war im Unterschied zu den Bräutigamen von Beginn an ein erheblicher Prozentsatz Unmündiger, der in Bräunsdorf meist nur geringfügig niedriger lag. Dabei handelte es sich keinesfalls um Legitimationshochzeiten nach erfolgter Schwängerung. Im Gegenteil nahm deren Quote diametral zum Anstieg der unehelichen Geburtigkeit seit dem späten 17. Jahrhundert kontinuierlich ab. Dabei stand die Praxis weiblicher Jugendhochzeiten nicht im Widerspruch zu deren Vermeidung bei den Männern. Diese übernahmen mit der Heirat die eheliche Vormundschaft über ihre Frau. Gleichzeitig selbst noch bevormundet zu werden, war wenig zweckdienlich. Ihren Heiratsfonds gewissermaßen selbst repräsentierend bzw. durch Aussteuer und eventuell zu erwartendes Erbe bar etwaiger langwieriger Akquirierungs- oder schlichtweg Wartezeiten innehabend, bedurften potentielle Bräute hingegen lediglich eines Kandidaten und der Vormünder Zustimmung, um schon in jugendlichen Jahren an einen eigenen Hausstand zu gelangen. Dennoch war die Ehe mindestens vor dem 18. Geburtstag beim weiblichen Geschlecht gleich der Unmündigenheirat beim männlichen bis ins 20. Jahrhundert standesunabhängig außergewöhnlichen Umständen vorbehalten. Die Hochzeit im normalen Rahmen lässt dagegen in Anbetracht ihrer starken ökonomischen Prägung über Ausmaß und Gestalt der Feierlichkeiten hinausgehende Unterschiede zwischen den sozialen Schichten erwarten. Das Erstheiratsalter insbesondere der Männer, denen zuvörderst die Bringschuld des Heiratsfonds oblag, war maßgeblich an den Zeitpunkt seiner Erlangung gebunden. Theoretisch sollten daher die gut situierten Angehörigen der bäuerlichen 519
HstA-D, 12613 GB Limbach, Nr. 2, fol. 1.
200
NUPTIALITÄT
Tabelle 17: Erstheiratsalter der Männer nach eigenem Besitzstand in Rußdorf und Bräunsdorf Rußdorf
Bauern
Gärtner
Häusler
Hausgenossen
Gesamt
1582–1629 1630–1679 1680–1729 1730–1779 1780–1829 1830–1879 1880–1935
28,33 29,91 28,06 28,39 27,95 29,17 28,06
29,50 29,05 28,76 28,38 29,60 27,98 27,44
– 29,00 31,36 28,53 29,09 28,36 26,19
– 32,00 29,83 32,27 29,00 28,19 25,29
28,82 30,52 29,27 28,39 29,04 27,85 25,88
Bräunsdorf 1630–1679 1680–1729 1730–1779 1780–1829 1830–1879 1880–1935
27,38 28,10 27,68 26,64 28,93 28,13
30,45 27,81 26,69 27,12 27,86 26,91
– 29,26 27,57 28,38 29,11 28,52
26,00 30,56 28,25 28,54 28,38 25,60
27,92 28,51 27,33 27,66 28,41 25,94
Oberschicht bei ihrer ersten Trauung tendenziell jünger an Jahren denn Mitglieder der unteren Besitzstände gewesen sein. Tatsächlich stützt Tabelle 17 diese Annahme in einigen Punkten. In der Entstehungsperiode der oberen Mittelschicht am Anfang des Untersuchungszeitraums heirateten Gärtner in Rußdorf durchschnittlich ein Jahr, in Bräunsdorf gar drei Jahre später als bäuerliche Bräutigame. Dies ließe sich leicht durch die zeitgleiche Parzellierungspraxis erklären. Als weichende Erben mussten die frühen Gartengutsbesitzer entweder erst die nötige Finanzkraft zum Kauf einer Immobilie oder aber den Erbfall des väterlichen Gutes an einen jüngeren Bruder abwarten, bevor ihnen Land von den bestehenden Hufen abgespalten und zugestanden wurde. Bereits die zweite Generation der Gartenbesitzer p egte ein bäuerliches Heiratsgebaren. Die in ihrer Anzahl spätestens ab den 1670er Jahren unveränderlichen Kleinbauernstellen wurden in der Regel vererbt. Demgemäß differierte das Erstheiratsalter der Gärtner rasch kaum mehr von jenem der Bauern, lag teils über, teils leicht unter diesem und stand bis ins 19. Jahrhundert ebenfalls regelmäßig hinter dem allgemeinen Durchschnitt zurück. Die Häuslerschaft kopierte diese Entwicklung seit ihrer Aufschwungphase im späten 17. Jahrhundert. Zwischen 1680 und 1729 zeigten junge, ihre unterbäuerlichen Stellen meist selbst einrichtende Hausbesitzer in beiden Untersuchungsorten gegenüber der Ober- und der oberen Mittelschicht im Durchschnitt erhöhte Erstheiratsalter. Bereits während des folgenden Intervalls glich sich deren ebenfalls auf dem Erbgang fußendes Heiratsverhalten dem der übrigen besitzenden Stände an. Allerdings unterschritt deren mittleres Eheeintrittsalter dabei zu keinem Zeitpunkt den allgemeinen Durchschnitt. Der herausstechend niedrige Wert des zweiten Rußdorfer Intervalls hat, auf einer einzigen Hochzeit fußend, keine Aussagekraft.
HEIRATSALTER
201
Das Verhalten der Hausgenossenschaft zollt ihrer besitzständischen Benachteiligung Tribut. Deren Altersdurchschnitt vor 1680 bildet zu geringen Fallzahlen geschuldet keinen Maßstab, obwohl er in Rußdorf ins Bild passt. In der altenburgischen Exklave verehelichten sich Mitwohner bis ins frühe 19. Jahrhundert konsequent später als Angehörige der Bauernschaft, nicht jedoch immer später als Gärtner oder Häusler. Ebenso wurde das allgemeine Heiratsalter von der Hausgenossenschaft schon zwischen 1780 und 1829 freilich unmaßgeblich unterschritten. In Bräunsdorf hatten dieselben Prinzipien ein Intervall länger Geltung. In beiden Ortschaften verloren die traditionellen Regeln während des 19. Jahrhunderts, sicherlich in enger Verbindung mit der ökonomischen Entwicklung der Region, ihre Wirksamkeit. Die Rußdorfer Bauernschaft heiratete nach 1830 bei wieder steigendem Altersniveau später als alle anderen Besitzstände, die Mitwohner, welche, ohne einen Erbfall abwarten zu müssen, durch gewerbliche bzw. industrielle Arbeit nun leichter an ein hinreichendes Auskommen gelangen konnten, nahmen den gegensätzlichen Weg. Nach 1880 hatte sich das traditionelle Erstheiratsaltersgefälle zwischen den Schichten gänzlich umgekehrt. Weniger umfassend, doch in ihrer Tendenz vergleichbar, vollzog sich die Entwicklung in Bräunsdorf. Auch dort wuchs das bäuerliche Durchschnittsalter nach 1830 über den allgemeinen Mittelwert wieder an und el jenes der Hausgenossen im nalen Intervall an das untere Ende der Skala. Sowohl Schmalz 520 als auch Adler beobachteten bei (proto)industriellen Arbeitern ebenfalls eine Tendenz zu vergleichsweise niedrigen Erstheiratsaltern. Zudem stellte Letztere einen dem vorliegenden Beispiel ähnlichen Anstieg des Durchschnittsalters in der Oberschicht ihrer württembergischen Untersuchungsorte nach 1830 fest. 521 Knodel bemerkte gleichfalls überregional leicht verminderte Heiratsalter unter Handwerkern und einen leichten Anstieg bei den Landwirten, attestierte jedoch für das 18. und 19. Jahrhundert nur geringe Veränderungen. 522 Im Tagelohn arbeitende Landbewohner benötigten laut allen drei Studien durchgängig am längsten, um einen angemessenen Heiratsfonds zu erlangen. Zusammenfassung Entsprechend dem Hajnal'schen Bild des westeuropäischen Heiratsmusters zeigen die Untersuchungsorte vergleichsweise hohe Erstheiratsalter beider Geschlechter, die durch Unterordnung der Hochzeit unter wirtschaftliche Motive und die daraus resultierende Bindung an eine sozioökonomische Stelle determiniert sind. Ein Altersgefälle in Richtung des weiblichen Geschlechts erscheint im Vergleich mit anderen Studien ebenso 520 521 522
Vgl. Schmalz, Familienrekonstitution, S. 72f. Vgl. Adler, Demographie, S. 191ff. Vgl. Knodel, Behavior, S. 130ff.
202
NUPTIALITÄT
üblich wie folgerichtig, wird die Verp ichtung des Bräutigams zum Vorweis des Heiratsfonds einerseits und andererseits seine Autoritätsposition in der ehelichen Hauswirtschaft bedacht. Zwischen den Besitzständen bestehende Unterschiede im Heiratsalter gehen in der Regel auf außerordentliche vertikale soziale Mobilität in den Phasen der lokalen Flurparzellierung und soziostrukturelle Ausdifferenzierung zurück. Lediglich die weitestgehend von der Ehe ausgeschlossenen Hausgenossen können kategorisch mit überdurchschnittlichen Eheeintrittsaltern in Verbindung gebracht werden. Weitere maßgebliche Ein ussfaktoren abseits des Stellenmechanismus, der freilich auf langfristig wirkende ökonomische Großwetterlagen oder grundsätzliche Systemänderungen reagieren mochte, konnten nicht festgestellt werden. Insbesondere im Laufe des 19. Jahrhunderts bzw. auf dessen letzte drei Dekaden konzentriert zeichnet sich ein Rückgang des Erstheiratsalters in Rußdorf und Bräunsdorf ab. Das gleichzeitig starke Wachstum der landbesitzlosen, vorrangig heimindustriell tätigen Unterschicht zur gesellschaftlich dominierenden Gruppe nebst massiver Absenkung konkret deren mittleren Heiratsalters zeigt eine Korrespondenz beider Prozesse an und deutet zugleich auf den Funktionsverlust des Stellenregulativs während der Industrialisierung hin. Gegen Ende des 19. Jahrhunderts wurden Miets- bzw. Mehrfamilienhäuser fern jedem agrarwirtschaftlichen Bezug geschaffen, wodurch der jungen heiratswilligen Landbevölkerung in Ergänzung des mannigfaltige Stellen vor allem im Sekundärsektor bietenden industriellen Arbeitsmarkts ausreichend Wohnraum zur Verfügung gestellt wurde. Unter weitgehender Fortführung tradierter Eheanbahnungs- und Heiratsmechanismen musste das durchschnittliche Erstheiratsalter der Bräutigame demnach im Zuge industrieller Entwicklung sinken.
5.5 WIEDERHEIRAT Der einmal geschlossene „Bund fürs Leben“ kann potentiell in zwei Szenarien gelöst werden: durch Scheidung oder den Tod. Im Gegensatz zur modernen pluralistischen westeuropäischen Praxis, nach der Ehen faktisch beliebig jederzeit geschlossen und getrennt werden können und die Hochzeit ihres verp ichtend bindenden Charakters auch in der öffentlichen Wahrnehmung zusehends beraubt wird, nahm die Scheidungsrate in Mittelalter und Frühneuzeit verschwindend geringe Ausmaße an. Bis der deutsche Staat 1875 das Eherecht in seine Hände nahm, oblag es allein der Kirche, zu binden und zu scheiden. Letzteres wurde nur in klar de nierten Fällen gewährt, zu denen schlichte Zerstrittenheit der Ehepartner nicht unbedingt zählte. Christian Friederich Krause, der sich um 1837 „von seiner zirniten Gattin [...] mit der Erlaubniß einer anderweitigen Verheirathung“ 523 scheiden ließ, bildet eine klare Ausnahme. Der Strumpfwirker Johann Ernst 523
EPA Bräunsdorf, KB III: Kirchbuch 1829–1852, Trauregister 1837, Nr. 4.
WIEDERHEIRAT
203
Schieke (1817–1884), „ein wenig beliebter Mann“, lebte zum Beispiel ungeschieden von seiner dritten Ehefrau in Pleißa getrennt im Rußdorfer Armenhaus 524 und Gottlieb Helbig (1791–1846) „hat jahrelang mit Weib und Kind im Streit gelebt u. noch auf d. Todtbette [...] sie von sich verstoßen“ 525. Das für die betreffenden Parochien zuständige Leipziger Konsistorium annullierte Ehen aus dem Untersuchungsgebiet, soweit die Gründe überliefert sind, vor allem nach Ehebrüchen. Nicht allein die oft ehrenrüchigen Ursachen, auch die Scheidung selbst stigmatisierte die Betroffenen im Sinne eines schwindenden religiösen Wertekanons und brachte sie in verstärktem Maße ins Gerede. Entsprechend selten sind Scheidungen aus Rußdorf und Bräunsdorf überliefert. Im benachbarten Kaufungen heiratete 1622 ein externer geschiedener Mann, dessen Frau mit seinem Knecht durchgebrannt war. 526 Demgegenüber folgte 1759 keine Trennung, als der verheiratete Rußdorfer Strumpfwirker Johann Behnert 1758 seine Nachbarin Maria Müller, deren Ehemann als Falschmünzer inhaftiert bzw. nach abgesessener Haftstrafe nicht wiedergekehrt war, schwängerte. „Ob es gleich ein adulterium duplicatum war, kamen sie doch beide mit mäsiger Geldbuse los.“ 527 Der erste Scheidungsfall eines Rußdorfer Ehepaars ist für 1793 belegt, Bräunsdorfer wurden erstmals 1796 geschieden. 528 Danach traten während des 19. Jahrhunderts hin und wieder Dispensationen auf 529, wobei die ebenfalls äußerst geringe Zahl geschieden heiratender Auswärtiger deutlich überwog. Das Attestat eines zeitgenössischen Beobachters (1838), „daß geradezu die Leichtigkeit der Scheidung das Verlangen nach derselben steigert, wie sich dieß leider bei den Protestanten zur Genüge nachweiset“, unterstützen die gewonnenen Daten in keinster Weise. 530 Allerdings schnellte die Scheidungszahl im Anschluss an den Ersten Weltkrieg nach oben, sodass zwischen 1920 und 1935 mehr lokal ansässige Ehepaare getrennt wurden als in der gesamten vorangegangenen Zeit. Die Majorität der Ehen endete freilich über den Untersuchungszeitraum hinaus wie schon im Mittelalter durch den Tod eines Ehepartners. Dem zurückbleibenden Lebensgefährten stand es frei, sich abermals zu vermählen. Witwer mochten unmittelbar nach dem Dahinscheiden der Ehefrau eine neue Bindung eingehen, wohingegen Witwen regulär ein Jahr ausharren mussten, um eventuell bestehende Schwangerschaften
524 525 526 527 528 529
530
EPA Rußdorf, KB XIV, Beerdigungsregister 1884, Nr. 47. EPA Rußdorf, KB III, Beerdigungsregister 1846, Nr. 6. Vgl. EPA Kaufungen, KB I, Trauregister 1623, Nr. 1. Vgl. EPA Rußdorf, KB I, Taufregister 1759, Nr. 12. Vgl. ebd., Trauregister 1786, Nr. 7. – Vgl. EPA Bräunsdorf, KB I, Trauregister 1789, Nr. 3. Lediglich sechs sind mit Datumsangabe belegt. Die Dunkelziffer mag höher gelegen haben. In den Personenstandsakten wurden Scheidungen nicht verzeichnet. Einzig Notizen der Verfasser geben Auskunft. Nur für die in den Untersuchungsorten verheirateten und gestorbenen Personen kann eine Dunkelziffer ausgeschlossen werden, da der Familienstand spätestens anlässlich des Todes Erwähnung fand. Fuchs, Johann B., Der Ehescheidungs-Prozess kirchenrechtlich-historisch behandelt für werdende Seelsorger, Eichstätt 1838.
204
NUPTIALITÄT
erkennen zu können und Kuckuckskinder zu verhindern. 531 Gegen Entrichtung einer Gebühr bestand jedoch die Möglichkeit, die vorgeschriebene Trauerphase vorzeitig zu beenden. 532 Abseits des emotionalen Aspekts regten mit Sicherheit vor allem ökonomische Beweggründe eine erneute Partnersuche an. Besonders im bäuerlichen Milieu mit seinen relativ klar begrenzten haus- bzw. familienwirtschaftlichen Verantwortungsbereichen vermochte selbst vorhandenes Gesinde einen fehlenden Ehepartner arbeitstechnisch schwer zu ersetzen, zumal es entlohnt werden wollte und den Haushalt somit zusätzlich belastete. Obwohl beiden Geschlechtern eine Folgeehe theoretisch ähnlich attraktiv erscheinen musste, gingen Männer diesen Schritt im Untersuchungsgebiet in deutlicher, das Mengenverhältnis zwischen Witwern und Witwen nicht widerspiegelnder Überrepräsentanz. Entsprechend stehen zwischen 1582 und 1935 in Rußdorf 482 abermals heiratenden Bräutigamen mit eruierbarem Heiratsalter lediglich 257 Bräute gegenüber und liegt die Relation in Bräunsdorf 1640–1935 bei 395:154 533. Dieses kontinuierliche Ungleichgewicht könnte systembedingte Partner ndungsschwierigkeiten ebenso wie fehlende Motivation des weiblichen Geschlechts andeuten 534. In der betrachteten patriarchalisch organisierten Gesellschaft el es Witwern mit Sicherheit leichter, eine neue Partnerin zu nden, da sie zwangsläu g bereits über ausreichende Heiratsfonds verfügten und selbst mit einer neuen Frau die Familienkontinuität wahrten. Zusätzlich wird der extramatrimonial nur unter Inkaufnahme gesellschaftlicher bis juristischer Restriktionen auslebbare Sexualtrieb besonders bei jüngeren Männern zum erneuten Ehewunsch beigetragen haben. Ältere Frauen sowie Mütter mit „unerzogenen“ 535 Kindern hatten auf dem Heiratsmarkt von vornherein einen schwereren Stand. Wer sie ehelichte, durfte nur auf vergleichsweise geringen eigenen Reproduktionserfolg hoffen bzw. musste obendrein die Nachkommenschaft seines Vorgängers versorgen und aufziehen. Andererseits stieg die Attraktivität einer Witwe, ihres Alters und ihrer Kinder ungeachtet desto mehr, je bedeutender die Verlassenschaft des dahingeschiedenen Gatten aus el. Im Zunftwesen war die Meisterwitwenheirat gängige Praxis und den Handwerksgesellen ein probates Mittel, unkompliziert an eine existenzsichernde Meisterstelle zu gelangen. 536 Analoge
531 532
533 534
535 536
Vgl. Ehmer, Josef/Gutschner, Peter (Hg.), Das Alter im Spiel der Generationen, Wien/Köln /Weimar 2000, S. 164. Siehe zum Beispiel die Rußdorfer Schenkwirtwitwe Sibylle Sebastian 1791: „Weil ihre Trauerzeit erst d: 26. April: zu Ende ging, so mußten sie beim Oberconsistorio dispensation suchen, welches 8 Th[aler] gekostet.“ – EPA Rußdorf, KB I, Trauregister 1791, Nr. 4. Personen, welche mehrere Folgeehen aufweisen, wurden adäquat mehrfach gezählt. Bei allen demographischen Phänomenen, die sich nicht umfassend menschlichem Ein uss entziehen, ermöglicht nur der Blick auf individualbiographische Muster annähernd realistische Aussagen über maßgebliche Verhaltensmotivlagen. In der vorliegenden Fallstudie kann dies einerseits aus methodischen Gründen nicht erbracht werden. Andererseits erlaubten die geringen Fallzahlen keine repräsentativen Aussagen. Ein Kind, welches die Kon rmation noch vor sich hatte und elterliche Versorgung beanspruchen konnte. Vgl. Schultz, Handwerk, S. 58f.
WIEDERHEIRAT
205
Muster sozialer Mobilität sind für den ruralen Raum anzunehmen. Gerade Witwen mit Kindern mussten jedoch auch deren Ansprüche, über deren Wahrung die bestätigten Vormünder wachten, bei etwaigen Heiratswünschen berücksichtigen. Ein neuer Ehemann übernahm in der Regel den familiären Landbesitz. Designierte Erben des früheren Besitzers hatten in diesem Fall zwar Anspruch auf eine Entschädigungszahlung und wurden meist bis zum 14. Geburtstag weiter im ehemals väterlichen Gut erzogen und versorgt, waren damit aber üblicherweise nicht mehr erbberechtigt. Aus familienpolitischer Sicht barg ein derartiger Bruch der Haushaltskontinuität unverkennbare Nachteile, weswegen er vermieden wurde. Die geringere Wiederverheiratungsquote der Frauen resultierte sicherlich unter anderem aus einer davon beein ussten Bindungsskepsis. Zweifelsohne sind die Hauptursachen aber an anderer Stelle zu suchen. Es existierten diverse Mittel, die Haushaltskontinuität trotz Folgeehe zu sichern. Maria Richter (1641–1714), Wirtswitwe aus Rußdorf, steht stellvertretend für den Typus erst nach der Gutsübergabe an ein leibliches Kind heiratender Frauen. Drei Jahre nach ihrer Verwitwung 1681 verkaufte sie in Erbengemeinschaft mit ihren unmündigen Kindern das Schenkgut an den Ehemann ihrer ältesten Tochter und heiratete zum zweiten Mal erst 1690 als Auszüglerin ihren 14 Jahre jüngeren ledigen langjährigen Knecht. Eine weitere relativ oft in Anspruch genommene Möglichkeit boten „Wiederkäufe“, die dem Kurerben ein Rückkaufrecht einräumten. Hiervon machte zum Beispiel die Rußdorferin Elisabeth Herold (1684–1748) Gebrauch. Diese verlor nach zwölf Jahren Ehe 1716 ihren ersten Mann, den Gärtner Hans Herold. Mit zwei Kleinkindern heiratete sie 1719 den Gärtnersohn Christoph Landgraff, der ihren ererbten Garten 1721 annahm und dem Sohn erster Ehe einen Wiederkauf anlässlich dessen 21. Geburtstags zusicherte. Zudem übernahm er 1725 den Erbgarten seines Schwiegervaters, an dem er seinen Stiefkindern zumindest den Anbot 537 verbriefte. 538 Sehr selten griffen Witwen in dritter Alternative auf Verpachtungen zurück, so exemplarisch die Bräunsdorferin Regina Steinbach (1728–1788). Die Witwe des lokalen Pfarrlehnbauers blieb 1761 mit drei Kindern zwischen einem Jahr und sechs Jahren sowie dem 71-jährigem Schwiegervater im Ausgedinge zurück. In dieser Konstellation war das mindestens seit 1544 im Besitz derselben Familie be ndliche Gut, auf dem außergewöhnliche Verp ichtungen gegenüber dem Pfarrer lasteten, schwer zu erhalten. Relativ zügig heiratete Steinbach noch vor Ablauf des Trauerjahres den Häusler Johann Heinrich Spieß, dem die Erbengemeinschaft das Anspanngut allerdings erst eineinhalb Jahre nach der Hochzeit für zunächst drei Jahre verpachtete. 539 Am Ende hielt er die Pacht über zwölf Jahre, ehe der Kurerbe 1781 an sein Recht gelangte. Zwischenzeitlich
537 538 539
Vorkaufsrecht. ThStA Abg, Amtsgericht Altenburg, C I Loc. 1, Nr: 164, fol. 182 u. Nr. 162, fol. 65. HstA-D, 12613 GB Limbach, Nr. 4: Gerichtsbuch Bräunsdorf 1746–1768, fol. 361.
206
NUPTIALITÄT
übernahm allerdings ein verheirateter Schäfer die Gutsführung 540, weil Spieß 1768 eines „grossen Geld- und Leinewand-Diebstahl[s]“ halber für drei Jahre ins Zuchthaus Waldheim eingewiesen worden war. 541 Eine Mischung aus Bindungsmüdigkeit, verminderter physischer, sozialer und ökonomischer Attraktivität, kulturell determiniertem geschlechtsspezi schem Verhalten sowie soziostrukturellen Rücksichten und Notwendigkeiten bestimmte die Heiratsfreudigkeit der erneut Heiratenden. Während zwischen 16. und 20. Jahrhundert Gewichtungsänderungen innerhalb der Gemengelage über eine Wiederheirat entscheidender Faktoren in Anbetracht einer transformierenden Lebenswelt geradezu zwangsläu g anzunehmen sind, unterlag das resultierende Gebaren in seinen Grundelementen keinen maßgeblichen statistisch ersichtlichen Wandlungen. Nicht nur die Beteiligung des weiblichen Geschlechts an Folgeehen blieb im Verhältnis zur männlichen nahezu unverändert. Witwen heirateten Anfang des 20. Jahrhunderts wie in vorindustrieller Zeit maximal drei Mal, während Männer bis zu vier Frauen ehelichten. Allerdings waren mehr als drei Hochzeiten bei Angehörigen des männlichen Geschlechts ähnlich selten wie mehr als zwei bei jenen des weiblichen. Das durchschnittliche Wiederverheiratungsalter veränderte sich gleichfalls nur unmaßgeblich. In beiden Ortschaften zählten Bräutigame bei einer Folgeehe vom 16. bis zum 20. Jahrhundert im Mittel zwischen 41 und 49 Jahre. Die Dekadendurchschnitte in Tabelle 18 unterliegen freilich, geringen Fallzahlen geschuldet, weitaus stärkeren Schwankungen. Rußdorfer Witwer schritten gegenüber den Bräunsdorfern meist in etwas höherem Alter nochmals vor den Altar. Die Hälfte bis zwei Drittel vermählte(n) sich durchgängig im vierten oder fünften Lebensjahrzehnt (Tab. 19). Nach einer Verwitwung in diesem Alter standen die Betroffenen oft mit mehreren Kindern allein da. Die Erstheiratshäufungen im dritten Lebensjahrzehnt hatten zur Folge, dass eheliche Kinder meist erst nach dem 50. Geburtstag der Eltern ihre Mündigkeit erreichten und nicht selten, bedingt durch relativ hohe familiäre Kinderzahlen, gar die Kon rmation noch vor sich hatten. Vor dem sechsten Lebensjahrzehnt verwitwete Elternteile mussten demnach gewöhnlich noch minderjährigen Nachwuchs versorgen. Guts- bzw. Hausbesitzer konnten die Verantwortung theoretisch mit ihrem Besitz an einen Erben verschreiben. Eines solchen entbehrte es den unter Fünfzigjährigen jedoch aus den genannten Gründen oft noch. Außerdem war ein Rückzug auf das Ausgedinge vor dem 50. Jahr ebenso unüblich wie sicherlich psychologisch bedenklich. Der ohne neue Partnerschaft in diesem Alter drohende jahrzehntelange Witwenstand sollte neben wirtschaftlichen Interessen und faktischen Zwängen die alternative erneute Bindung begünstigt haben. Nach dem 50. Geburtstag sank die Wiederverheiratungswahrscheinlichkeit proportional zur sukzessiven Aufhebung der aufgeführten pragmatischen Beweggründe und 540 541
Ebd., Nr. 5, fol. 11B u. fol. 242. EPA Bräunsdorf, KB I, Heiratsregister 1767, Nr. 4.
207
WIEDERHEIRAT
Tabelle 18: Entwicklung des Wiederverheiratungsalters nach Dekaden und Jahrhunderten mittleres Wiederverheiratungsalter Männer Rußdorf Bräunsdorf 1582–1589 1590–1599 1600–1609 1610–1619 1620–1629 1630–1639 1640–1649 1650–1659 1660–1669 1670–1679 1680–1689 1690–1699 1700–1709 1710–1719 1720–1729 1730–1739 1740–1749 1750–1759 1760–1769 1770–1779 1780–1789 1790–1799 1800–1809 1810–1819 1820–1829 1830–1839 1840–1849 1850–1859 1860–1869 1870–1879 1880–1889 1890–1899 1900–1909 1910–1919 1920–1929 1930–1935 1600–1699 1700–1799 1800–1899 1900–1935
38,47 51,50 66,99 47,02 33,08 38,80 42,03 52,13 49,69 34,06 – 47,17 38,77 55,52 41,51 35,12 48,10 45,78 36,72 49,09 48,43 48,50 42,95 48,72 48,26 36,37 43,32 42,53 42,07 41,17 42,68 40,16 42,57 45,44 48,26 46,08 49,22 45,83 43,00 45,44
– – – – – – – 48,65 – 44,14 30,11 43,83 44,31 44,12 53,13 42,71 38,86 47,41 52,66 37,67 42,23 39,69 43,90 41,55 44,04 46,54 44,85 44,36 42,97 42,01 37,44 40,06 39,01 43,62 46,05 46,53 44,40 43,34 42,22 43,42
mittleres Wiederverheiratungsalter Frauen Rußdorf Bräunsdorf – 60,39 – 41,83 47,68 27,35 37,07 47,74 31,48 36,70 31,02 34,31 31,58 46,04 36,40 27,74 44,35 43,96 32,42 33,96 40,08 43,08 36,82 37,43 35,47 39,94 37,12 42,53 45,47 38,51 32,91 38,62 40,91 37,03 40,27 41,98 37,16 39,08 38,87 39,99
– – – – – – – – 29,08 26,08 33,75 31,37 29,10 – 37,01 – – 40,67 34,43 43,89 40,19 33,73 34,63 45,17 49,32 33,61 41,92 41,24 38,76 39,88 40,33 41,57 40,09 38,88 38,26 45,95 30,36 36,38 40,49 39,38
1880–1935
1830–1879
1780–1829
1730–1779
1680–1729
Bräunsdorf 1630–1679
1880–1935
1830–1879
1780–1829
1730–1779
1680–1729
1630–1679
Rußdorf 1582–1629
Männer Frauen Männer Frauen Männer Frauen Männer Frauen Männer Frauen Männer Frauen
Männer Frauen Männer Frauen Männer Frauen Männer Frauen Männer Frauen Männer Frauen Männer Frauen
1 3 1 4 3 3 7 3 7 5 13 7
0 0 2 5 1 4 2 2 3 2 8 12 20 20
4,76 % 100,00 % 4,17 % 30,77 % 9,68 % 17,65 % 12,50 % 13,04 % 6,42 % 12,50 % 8,84 % 13,21 %
21–29
0,00 % 0,00 % 11,76 % 50,00 % 6,25 % 33,33 % 5,88 % 15,38 % 5,26 % 7,41 % 5,88 % 15,79 % 10,58 % 17,86 %
21–29
6 0 6 6 13 7 14 10 37 18 43 19
4 2 4 2 5 4 13 6 11 15 51 25 62 50 30–39 28,57 % 0,00 % 25,00 % 46,15 % 41,94 % 41,18 % 25,00 % 43,48 % 33,94 % 45,00 % 29,25 % 35,85 %
30–39 33,33 % 33,33 % 23,53 % 20,00 % 31,25 % 33,33 % 38,24 % 46,15 % 19,30 % 55,56 % 37,50 % 32,89 % 32,80 % 44,64 %
6 0 9 3 9 6 25 5 41 16 48 18
1 2 6 3 5 2 9 3 20 8 48 23 52 28 40–49 28,57 % 0,00 % 37,50 % 23,08 % 29,03 % 35,29 % 44,64 % 21,74 % 37,61 % 40,00 % 32,65 % 33,96 %
40–49 8,33 % 33,33 % 35,29 % 30,00 % 31,25 % 16,67 % 26,47 % 23,08 % 35,09 % 29,63 % 35,29 % 30,26 % 27,51 % 25,00 %
3 0 6 0 4 1 8 5 23 0 30 8
3 1 2 0 2 2 7 2 17 2 22 16 37 11 50–59 14,29 % 0,00 % 25,00 % 0,00 % 12,90 % 5,88 % 14,29 % 21,74 % 21,10 % 0,00 % 20,41 % 15,09 %
50–59 25,00 % 16,67 % 11,76 % 0,00 % 12,50 % 16,67 % 20,59 % 15,38 % 29,82 % 7,41 % 16,18 % 21,05 % 19,58 % 9,82 %
Tabelle 19: Prozentuale Verteilung der wiederholt Heiratenden nach Altersklassen in Rußdorf und Bräunsdorf
5 0 2 0 2 0 2 0 1 1 13 1
4 1 3 0 3 0 3 0 6 0 7 0 18 3 über 60 23,81 % 0,00 % 8,33 % 0,00 % 6,45% 0,00 % 3,57 % 0,00 % 0,92 % 2,50 % 8,84 % 1,89 %
über 60 33,33 % 16,67 % 17,65 % 0,00 % 18,75 % 0,00 % 8,82% 0,00 % 10,53 % 0,00 % 5,15 % 0,00 % 9,52 % 2,68 %
Summe 21 3 24 13 31 17 56 23 109 40 147 53
Summe 12 6 17 10 16 12 34 13 57 27 136 76 189 112
208 NUPTIALITÄT
WIEDERHEIRAT
209
tendierte jenseits der 60 schnell gegen null. Wer ein Alter „60 plus“ erreichte, kämpfte zusehends mit physischen Verfallserscheinungen unter anderem infolge langjähriger anspruchsvoller körperlicher Arbeit. Dennoch suchten Landbesitzer ihrem Haushalt möglichst lang vorzustehen. Gutsverkäufe an den Erben oder eine dritte Partei erfolgten größtenteils bei Hinfälligkeit des pater familias. Andernfalls war dessen Tod abzuwarten. Verwitweten Auszüglern fehlte daher neben der Motivation meist auch die Konstitution für eine erneute Verpartnerung. Gleichzeitig sank mit steigendem Lebensalter generell die Wahrscheinlichkeit, den Tod der überwiegend jüngeren Ehefrau überhaupt erleben zu müssen. Diejenigen nach ihrem 60. Geburtstag nochmals zur Ehe schreitenden Witwer standen mitten im Leben, führten ihre Wirtschaft selbst und erzogen selten noch unkon rmierte Kinder. Ihre Heiratsmotivation zogen sie wahrscheinlich gleich ihren jüngeren Leidensgenossen entweder aus körperlich-seelischen Bedürfnissen oder wirtschaftlichen Nöten. Längeres Verweilen im Witwenstand indiziert Ersteres 542, eine kurze intermatrimoniale Phase (0,5–1 Jahr) 543 das Letztere. Zweckgemeinschaften in höherem Alter wurden vorrangig von männlichen Grundbesitzern mit einer dislozierten oder ohne Nachkommenschaft geschlossen. Demgemäß überwogen bis zur zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts in dieser Altersgruppe kurze Intervalle der Witwerschaft. Erst im 19. Jahrhundert traten überhaupt Mitwohner auf, die nach ihrem 60. Geburtstag und meist längeren „Trauerzeiten“ eine Folgeehe anstrebten. Des Weiteren stieg das maximale Heiratsalter im Zuge rapider Industrialisierung und steigender Lebenserwartung seit dem späten 19. Jahrhundert nicht bzw. kaum an. In Rußdorf wurde die Obergrenze 1606 bei 74,37 Jahren markiert und lag der Altersgipfel nach 1850 bei 67,62 Jahren (1893), während in Bräunsdorf zwar 1911 die einzigen beiden belegbaren über Siebzigjährigen heirateten, aber das nächstfolgende Heiratsaltermaximum aus der Zeit nach 1850 bei 67,69 Jahren (1922) hinter vor- und protoindustriellen Spitzenwerten rangierte. Parallel nahm der Anteil sehr junger Witwer (unter 30 Jahre) über den Betrachtungszeitraum diskontinuierlich leicht zu. Diese Entwicklung korrespondiert mit der 542
543
Tiburtius Möller (1532–1620) blieb zum Beispiel nach dem Tod seiner zweiten Frau drei Jahre mit fünf unmündigen Kindern (17–1) ledig, bevor er 1606 nochmals heiratete. Sein Anspanngut ging erst nach dem Tod des Greises an dessen jüngsten Sohn über. Der Häusler Peter Wiedemann (1649–1720) lebte seit 1705 acht Jahre als Witwer allein in seinem 1720 an die älteste Tochter vererbten Haus. Diese hatte 1695 einen exogenen Häusler geehelicht. Die zweite Tochter heiratete 1706 nach Falken. Kaum fünf Monate wartete hingegen der kinderlose Strumpfwirker Ernst Richard Pester (1855–1933), nachdem sich seine erste Frau vermutlich dessen Fremdgehens wegen in einen Teich gestürzt hatte. Die Annahme, er habe seine Liebschaft, personi ziert in einer 33 Jahre jüngeren Wirtschafterin, geheiratet, liegt nahe. Exemplarisch wartete der Gärtner Johann Gottfried Meyer (1751–1823) 1811 fünf Monate, ehe er sich kinderlos und mit dem Auszügler Samuel Aurich (1743–1821) im Haus zum zweiten Mal verheiratete. Dem Bauer Cyprian Gympel (1534–1608) genügten 3,5 Monate, um in einer dritten Ehe 1599 die verwitwete Mutter einer seiner Schwiegertöchter zur Frau zu nehmen. Auch er bewirtschaftete seinen Besitz bis zum Tode. Hans Reichenbach (1603–1676), ein größerer Häusler mit zwei erwachsenen Kindern mittleren Alters, vermählte sich gar schon 2,5 Monate im Anschluss des Todes seiner zweiten Ehefrau mit einer vermutlich deutlich jüngeren Falkener Jungfer.
210
NUPTIALITÄT
gleichzeitigen Regression des durchschnittlichen Erstheiratsalters. Männer verwitweten daher nicht per se zunehmend eher, sondern steigerten durch frühere Hochzeiten ihr Risiko einer frühen Witwerschaft. Der jüngste nochmals zur Ehe schreitende Rußdorfer des 20. Jahrhunderts heiratete 1900 mit 23 Jahren. Seine erste Frau hatte er etwa zwei Jahre zuvor geheiratet und bei der Entbindung einer Totgeburt drei Monate später wieder verloren. Dasselbe Zweitheiratsalter wies der jüngste Bräunsdorfer Witwer 1789 auf. Seine erste, zweijährige und ebenfalls im Kindbett endende Ehe hatte er mit 19 geschlossen. Bräute traten in den untersuchten Dörfern vom 17.–20. Jahrhundert mit durchschnittlich 37–40 Jahren zum wiederholten Male vor den Altar. Anfänglich ging die Hälfte bis drei Viertel aller betreffenden Frauen zwischen ihrem 21. und 40. Geburtstag eine Folgeehe ein. Nach 1700 verschob sich der Schwerpunkt für die verbleibenden 235 betrachteten Jahre auf das vierte und fünfte Lebensjahrzehnt. Ob sich der hohe Anteil schon vor Ende des 30. Lebensjahres einen zweiten Mann nehmender Bräute im 17. Jahrhundert allein auf die damals relativ niedrigen mittleren Erstheiratsalter zurückführen lässt, sei dahingestellt. Unfraglich referenzieren die Häu gkeitsschwerpunkte an die auch für verwitwete Bräutigame geltende Wiederverheiratungsmotivation einerseits sowie die geschlechtsspezi sch wirkenden Hemmnisse andererseits. Vor ihrem 50. Geburtstag den Mann verlierende Ehefrauen mussten in der Theorie aus wirtschaftlichen Gründen darauf bedacht sein, sich baldigst neu zu liieren. Dies galt umso mehr, je größer die eigene potentielle Restlebenszeit, je geringer der familiäre Rückhalt, je größer der zu erhaltende bzw. zu bewirtschaftende Besitz, je niedriger das Alter eventuell vorhandener Kinder und je schlechter die Einkommenssituation war. Diese Prinzipien blieben des sozioökonomischen Wandels beider Dörfer ungeachtet bis in die 1930er Jahre intakt. Einzig die Wahrscheinlichkeit einer Wiederverheiratung jenseits des fünften Lebensjahrzehnts und der Menopause nahm leicht zu. Dabei lässt sich auch mit Blick auf die individuelle Situation nur spekulieren, ob eher wirtschaftliche Zwänge oder körperlich-seelische Bedürfnisse den Ausschlag für die erneute Verpartnerung der älteren Damen gaben. Unter anderem durch das Trauerjahr bedingt verharrten Frauen durchschnittlich deutlich länger im Witwenstand als Männer. Selten blieb es bei der vorgeschriebenen Trauerzeit. Jedoch impliziert dies nicht automatisch, dass kein Partnerwunsch existierte bzw. einer Liebesbeziehung der Vorrang gegenüber Vernunft- bzw. Zweckehen eingeräumt wurde. Vielmehr können lange intermatrimoniale Intervalle bei Witwen auch als Zeichen ihrer verminderten „Attraktivität“ auf dem Heiratsmarkt interpretiert werden. Letzteres deuten lange Witwenjahre vor erneuten Hochzeiten trotz unmündigen Nachwuchses an. Zum Beispiel verlor die Bräunsdorfer Teichmüllerin Sophia Bertha Schreiner 1885 mit 37 Jahren und drei minderjährigen Kindern (15, 13, 5) ihren Ehemann. Die Mühle ging 1896 an ihren ältesten Sohn. Schreiner vermählte sich erst 1899 wieder mit einem verwitweten Kirchberger Wollhändler von 63 Jahren und verzog.
WIEDERHEIRAT
211
Rosina Heintzig (1662–1721) blieb nach dem Unfalltod ihres Mannes 1703 mit fünf Kindern (18, 16, 14, 5) über eine Dekade allein, ehe sie einen 64-jährigen Witwer ehelichte. Zwei Monate zuvor hatte sie ihr über die gesamte Zeit allein bewirtschaftetes Bauerngut an den ledigen zweitältesten Sohn verkauft, ohne sich einen Auszug zu bedingen. 544 Wilhelmine Büchner (1801–1863) wartete nach 1843 gar 13 Jahre mit ihren fünf Kindern (8, 7, 5, 3, 1). Allerdings gab sie eindeutig der Liebe den Vorzug, indem sie sich auf eine wilde Ehe mit einem Armenhäusler einließ und ihm zwei uneheliche Kinder gebar. Diese und zwei ihrer ehelichen überlebten nicht. Zudem verlor sie bereits in der Anfangszeit der Beziehung ihr ererbtes Haus in „nothwendiger Subhastation“ 545. Der zwei- bis fünfjährigen Liaison folgte eine ebenfalls uneheliche Beziehung mit einem 21 Jahre jüngeren Strumpfwirker, dem sie erst nach sieben gemeinsamen Jahren und drei unehelichen Kindern die Hand zur Ehe reichte. Die längste Wartezeit wies Lina Clara Heinig (1874–1952) auf, welche nach Verwitwung 1905 mit zwei unehelichen und zwei ehelichen Kindern von drei verschiedenen Vätern (10, 8, 7 und 3 Jahre) über 26 Jahre unverheiratet lebte. Andererseits fand manch ältere Witwe mit mehreren zu erziehenden Kindern und geringem Besitz zügig einen neuen Partner oder verharrten kinderlose Witwen trotz auf den ersten Blick ansprechenden ökonomischen Hintergrunds längere Zeit im Witwenstand. Generaliter waren abermalige Hochzeiten beim weiblichen Geschlecht jenseits der Fünfzigjahresgrenze relativ selten. In der lokalen traditionellen Agrargesellschaft bestand dazu kaum Notwendigkeit. Starb der Ehemann unter Zurücklassung eines volljährigen Erben, wurde der Besitz an diesen gegeben und die Witwe zur Auszüglerin umgewidmet. In dieser Position versorgt, fehlte meist die Motivation für eine erneute Bindung. Musste das Gut dem noch unmündigen Erben für wenige Jahre durch die Wirtschaftsführung der Erbengemeinschaft erhalten werden, lohnte eine neue Partnersuche ebenfalls nicht. Vor 1800 sind daher nur wenige ältere Bräute in Bräunsdorf (1753) oder Rußdorf (1622, 1712, 1713, 1758, 1759, 1796) belegt, deren drei jüngere Witwer und drei 20–30 Jahre jüngere ledige Männer ehelichten. Die Altersgrenze von 60 Jahren wurde erst im 19. bzw. 20. Jahrhundert marginal und deutlich unter dem männlichen Maximum überschritten 546. Des Weiteren vermählten sich Witwen nach 1850 vornehmlich mit Witwern desselben oder eines höheren Alters. Inwiefern dabei eher physischen bzw. psychischen oder ökonomischen Interessen Rechnung getragen wurde, lässt sich nur spekulieren. 544 545 546
ThStA Abg, Amtsgericht Altenburg, C I Loc. 1, Nr. 157, fol. 300. SächsSTAC, 30104 Amtsgericht Chemnitz (1879–1952), Nr. 6023, Nr. 133. Eine kuriose Hochzeit im Jahr 1596 sei an dieser Stelle ausgenommen. Mit 25 Jahren heiratete der Rußdorfer Schneider Nicolaus Engelman die 80-jährige Hohensteiner Witwe Ursula Weisse. Selbst Zeitgenossen registrierten diese Verbindung als höchst ungewöhnlich. So vermerkte der Pfarrer im Heiratsregister einmalig das Alter des Paares und setzte hinzu: „Were dreymahl mit ehren seine Mutter.“ – EPA Kaufungen, KB I, Heiratsregister Rußdorf 1596, Nr. 3.
212
NUPTIALITÄT
Zusammenfassend lassen die Rußdorfer und Bräunsdorfer Durchschnittswerte bei beiden Geschlechtern keine klaren Veränderungen des Wiederverheiratungsverhaltens im Zuge industrieller Entwicklung erkennen. Umstellungen geltender tradierter grundlegender Prinzipien deuten sich gleichwohl im Wandel der altersmäßigen Verteilungsmuster an, von dem in erster Linie die Randgruppen sehr junger und vergleichsweise alter Folgeehekandidaten betroffen waren. Besonders die Betrachtung älterer Beteiligter bietet sich an, da von deren ökonomischer Situation, ihrem sozialen Hintergrund, der temporalen Ausdehnung ihrer Witwenschaft etc. eher auf mögliche Heiratsmotive abseits für Verwitwete im Allgemeinen geltungslos gewordener kultureller Konventionen geschlossen werden kann. Obwohl methodisch sowie im Hinblick auf den Umfang der Stichprobe von minderer Validität, vermögen die indizienbasierten Beobachtungen kollektive Verhaltenswechsel aufzuzeigen. Solche deuten sich ab der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts zeitgleich mit der fabrikindustriellen Entwicklung des Limbacher Raumes an. Sich verlängernde durchschnittliche Wartezeiten der älteren Bräutigame vor Beginn einer Folgeehe, die zunehmende Beschränkung älterer Damen bei der Partnerwahl auf annähernd gleichaltrige Männer mit eigener ehelicher Erfahrung und die steigende Beteiligung Angehöriger des Einwohnermilieus weisen auf transformierende Verhaltensmuster bei der Wiederheirat und eine rückläu ge Hörigkeit gegenüber traditionell bedeutsamen Notwendigkeiten und Rücksichtnahmen hin. Das Wiederverheiratungsverhalten der Rußdorfer und Bräunsdorfer stellt keinen Sonderfall dar. Nahezu identische Beobachtungen machte etwa Knodel in mehreren westdeutschen Räumen, obgleich dessen Hinweis auf steigende Durchschnittsalter im 19. Jahrhundert keine Entsprechung im Limbacher Land ndet. 547
5.6 EHEDAUER Sinkende durchschnittliche Erstheiratsalter der Männer und steigende mittlere Wiederverheiratungsalter der Frauen lassen unter Annahme mindestens gleichbleibender Lebenserwartung sowie unter Berücksichtigung der nachgewiesenermaßen bis ins 20. Jahrhundert minimalen Scheidungsrate eine entgegengesetzt proportional aufwärts gerichtete mittlere Ehedauerentwicklung erwarten. In der Realität überstieg das Wachstum des durchschnittlichen Ehezeitraums 548 selbst die starke Schrumpfungsrate des mittleren männlichen Erstheiratsalters, werden die Werte des frühen 20. mit jenen des 547 548
Vgl. Knodel, Behavior, S. 163ff. In die Ehedauerstatistik wurden ausschließlich Ehepaare einbezogen, bei denen mindestens das Hochzeitsjahr sowie die Sterbejahre beider Partner bekannt waren. Weder Heirats- noch Lebens- oder Sterbeort sind für die Stichprobenzuordnung von Belang. Sämtliche Ehen, die alle vorgenannten Kriterien erfüllen und deren Hochzeitsdatum aus einem ortsspezi schen Personenstandsregister hervorgeht, fanden Eingang. Für den gesamten Untersuchungszeitraum umfasst die verwendete Stichprobe für Rußdorf 1861 und für Bräunsdorf 1269 Ehen.
EHEDAUER
213
17. Jahrhunderts verglichen, um etwa das Drei- (Rußdorf) bis Fünffache (Bräunsdorf). Abermals ähnelten sich die Wandlungsprozesse in den betrachteten Gesellschaften im Ganzen, differierten aber en détail hinsichtlich ihrer Verlaufsform. Zwischen 1640 und 1679 geschlossene Ehen der Bräunsdorfer Kohorte währten im Schnitt 24,51 Jahre und damit rund fünf Jahre länger als jene des Nachbarorts aus demselben Zeitraum (Ø 19,06) bzw. dem gesamten 17. Jahrhundert (Ø 19,92). In Rußdorf erfolgte der bedeutendste quantitative Sprung auf durchschnittlich 26,55 Jahre zwischen 1680 und 1729. Hernach lag die mittlere Ehedauer beider Untersuchungsorte für 150 Jahre gleichauf und verharrte auf einem Niveau um 25 Jahre. Erst seit dem späten 19. Jahrhundert nahmen die Ehezeiträume wieder zu. Allerdings reichte die damalige Wachstumsrate in Rußdorf nicht an die frühneuzeitliche heran. 549 Völlig gegensätzlich stieg der Bräunsdorfer Mittelwert gleichzeitig um sieben Jahre an (Ø 33,69), wodurch das statistische Verhältnis beider Orte des 17. Jahrhunderts in verstärktem Maße restituiert wurde. Ein Blick auf die Dekadenkohortenentwicklung erlaubt es, die zu Tage tretenden Sprünge temporal näher einzugrenzen und unterstreicht gleichsam die hohe Simultanität der lokalen Wandlungsverläufe. Relativ geringer Lebenserwartung geschuldet, mussten vor 1700 heiratende Paare mit eher kurzen Ehezeiträumen rechnen. Bis in die 1670er Jahre geschlossene Rußdorfer Ehen hielten im Durchschnitt selten mehr als
Abbildung 27: Mittlere Ehedauer nach Heiratsjahrgang in Rußdorf und Bräunsdorf
549
Dienen ausschließlich die in den nalen 20 Jahren des 19. Jahrhunderts geschlossenen Ehen als Bemessungsgrundlage (Ø 32,58), überstieg auch das Wachstum der durchschnittlichen Dauer Rußdorfer Ehen die frühneuzeitliche Steigerungsrate.
214
NUPTIALITÄT
Tabelle 20: Ehedauer nach Heiratsjahrgängen in Rußdorf und Bräunsdorf (Angaben in %) unter 5
5–9
1582–1629
12,70
17,46
22,22
15,87
12,70
3,17
7,94
1,59
3,17
1,59
1,59
0,00
1630–1679 1680–1729
10,53 7,80
14,47 4,26
7,89 9,22
19,74 7,80
11,84 14,89
10,53 12,77
9,21 12,77
3,95 9,93
5,26 14,18
6,58 4,96
0,00 0,71
0,00 0,71
1730–1779
5,83
10,76
10,76
5,38
8,97
15,25
12,56
12,56
9,42
7,17
1,35
0,00
1780–1829
5,56 9,96
11,11 8,19
10,07 9,96
11,46 8,85
13,54 7,74
12,50 11,28
10,76 10,62
7,29 11,06
7,64 9,29
5,21 6,42
3,13 4,87
1,74 1,77
6,80
6,96
7,28
7,28
9,71
12,30
11,00
10,36
7,12
5,83
10–14 15–19 20–24 25–29 30–34 35–39 40–44 45–49 50–54
über 54
1830–1879 1880–1935
10–14 15–19 20–24 25–29 30–34 35–39 40–44 45–49 50–54
über 54
6,96
8,41
unter 5
5–9
1630–1679
6,06
10,61
7,58
16,67
12,12
6,06
16,67
10,61
4,55
6,06
0,00
3,03
1680–1729
11,45 5,10 6,01
8,40 12,74 13,11
6,11 6,37 9,84
7,63 8,92 11,48
12,98 7,01 12,57
8,40 10,19 10,38
15,27 19,75 10,38
12,98 9,55 11,48
9,92 12,10 6,01
5,34 7,01 7,10
0,76 1,27 0,55
0,76 0,00 1,09
7,66 4,46
9,58 5,52
13,03 5,94
11,88 7,64
8,43 6,58
11,88 6,79
11,88 8,92
5,75 9,34
7,66 12,53
6,13 13,80
4,60 8,49
1,53 9,98
1730–1779 1780–1829 1830–1879 1880–1935
20 Jahre (1600/1609 u. 1650/1659) und waren nach Tabelle 20 bis über die Silberhochzeit hinaus zusammenlebende Partner eindeutig in der Minderzahl. Ihren 35. Hochzeitstag vermochten von den vor 1629 Verheirateten nur 7,94 Prozent zu feiern, 3,18 Prozent erreichten das 45. Jubiläum. Bereits in den folgenden 50 Jahren verdoppelte sich der Anteil dergestalt länger währender Ehen allerdings. Demgegenüber brachten es Bräunsdorfer Ehegespanne des 17. Jahrhunderts im Mittel konsequent auf 20–25 Jahre. Lediglich in den 1640er Jahren begründete Ehen schlugen durchschnittlich positiv aus diesem Rahmen. Über die Hälfte (53,03%) der zwischen 1640 und 1679 geschlossenen ehelichen Partnerschaften hielt mehr denn 25, beinahe jede vierte existierte über 35 Jahre. Erst jenseits dieser Marke näherten sich die Anteile quantitativ den Rußdorfern von vor 1670 an. Seit den 1680er Jahren in Rußdorf bzw. den 1700ern in Bräunsdorf dominierten mittlere Ehedauern von 25–30 Jahren die Dekadenkohorten. In den 1870er Jahren endend, zeigte sich die zweite Entwicklungsphase von Schwankungen der Durchschnitte zwischen 22,8 und 29,6 (Rußdorf) bzw. 23,17 und 30,76 (Bräunsdorf) gekennzeichnet. Mehr denn 50 Prozent der zwischen 1680 und 1779 getrauten Ehepaare blieb länger als 25 Jahre vereint. Rund 30 Prozent der Heiratenden erlebten den 35. Hochzeitstag und immerhin sechs bis acht Prozent durften zusätzlich ihren 45. feiern. Über die Goldene Hochzeit kam weiter nur ein marginaler, aber wachsender Anteil der Paare hinaus. Zwischen 1780 und 1829 sank die Wahrscheinlichkeit, die Silberhochzeit feiern zu können, nochmals leicht auf unter 50 Prozent, um hernach zu einem kontinuierlichen Wachstum überzugehen.
EHEDAUER
215
Abbildung 28: Häu gkeitsverteilung Rußdorfer Ehedauerkategorien
Abbildung 29: Häu gkeitsverteilung Bräunsdorfer Ehedauerkategorien
Ihren vorläu gen Höhepunkt erreichte die Ausdehnung der mittleren Ehedauer im letzten Abschnitt des Untersuchungszeitraums. Während der 55 Jahre vor 1935 avancierten Dekadenkohortendurchschnitte von über 30 Jahren zur Norm. Annähernd zwei Drittel aller fraglichen in dieser Zeit geschlossenen Rußdorfer Ehen überspannten dementsprechend 25 Jahre und beinahe die Hälfte (46,6%) existierte auch nach zehn weiteren Jahren noch immer. Selbst 45-jährige eheliche Partnerschaften verloren nun ihren Seltenheitswert (23,3%). Deren anteilmäßige Position aus der zweiten Periode
216
NUPTIALITÄT
nahmen nun 50 Jahre und länger währende Ehen ein. Das Diamantene Jubiläum etablierte sich gleichzeitig als marginal (0,81%) erreichte Obergrenze. Nach 1900 geschlossene Ehen sind in Rußdorf allerdings, da die Beerdigungsregister nur bis 1964 ausgewertet werden konnten, nicht mehr umfänglich nachvollziehbar. Ein verfälschendes Gewicht kürzerer Ehen ist die Folge. Werden die Jahre 1880–1899 als Ende der Untersuchung angenommen, tritt das Wachstum der Ehedauer in der Exlave noch deutlicher hervor. Auf mindestens 25 Ehejahre brachten es 66,57 Prozent der Paare dieses Zeitraums, 51,48 Prozent erreichten 35, immerhin 29,88 Prozent 45 Jahre. Die Goldene Hochzeit vermochten 17,16, die Eiserne 1,48 Prozent zu feiern. Im Bräunsdorfer Fall kann eine Verfälschung angesichts bis in die 1990er Jahre ausgewerteter kirchlicher Beerdigungsregister weitgehend ausgeschlossen werden. Von den dortigen Paaren des letzten Abschnitts blieben immerhin 3,19 Prozent mindestens sechs Jahrzehnte verbunden. Fünf Jahrzehnte ehelicher Zweisamkeit war noch 18,47 Prozent vergönnt, nachdem fast ein Drittel (32,37%) ihren 45. und mehr als die Hälfte (54,14 %) zumindest den 35. Hochzeitstag gefeiert hatte. Annähernd 70 Prozent (69,85 %) aller Ehepaare der Bräunsdorfer Kohorte 1880–1935 erlebten die Silberhochzeit. Das relativ starke Wachstum der mittleren Ehedauer in beiden Untersuchungsorten zeigt sich unter anderem eindrücklich am Verteilungsverhältnis besonders langjähriger Ehen auf die drei Phasen, wodurch jenes aller in die Statistik einbezogenen Familien kontrastiert wird. Standen die Anteile über 4,5 Jahrzehnte haltender Partnerschaften bis 1879 hinter dem referenziellen Anteil des maßgebenden Phasenkontingents zurück, überragten sie diesen in der letzten Periode merklich. Wie aus den Abbildungen 28 und 29 ersichtlich, galt hierbei die Regel, je größer der Ehezeitraum, desto massiver die prozentualen Abweichungen. So gründeten sich exemplarisch 37,12 Prozent der fraglichen Partnerschaften Bräunsdorfs zwischen 1880 und 1935, zu denen aber bereits über die Hälfte (56,03%) aller 45–50 Jahre haltenden Beziehungen, knapp ein Viertel (74,23 %) aller 50–60 Jahre währenden und gar 100 Prozent der mindestens sechs Dekaden umspannenden zählten. Dasselbe Prinzip ndet stark abgeschwächt mit umgekehrt proportionaler Entwicklung bei den weniger als ein Vierteljahrhundert dauernden Ehen Anwendung. Worin gründete die langfristige Vermehrung der bei Heirat zu erwartenden Ehejahre? Zwei Ursachen kommen in Betracht. Einerseits führen verminderte Heiratsalter bei gleichbleibender Lebenserwartung zur Anhebung der Ehedauer, andererseits hat eine steigende Lebenserwartung bei unverändertem Heiratsalter denselben Effekt. Die Kombination beider Faktoren wirkte in den vorliegenden Fallbeispielen, steht doch der feststellbare Rückgang des maßgebenden durchschnittlichen männlichen Erstheiratsalters um insgesamt etwa drei Jahre zwischen dem 17. und 20. Jahrhundert frappant hinter dem Zuwachs des mittleren Ehezeitraums von etwa zehn Jahren zurück. Vor allem seit dem späten 19. Jahrhundert nahmen die mittleren Erstheiratsalter sichtlich ab und mehr noch die relative Lebenserwartung (Kap. 6.4) signi kant zu. Starben Erwach-
EHEDAUER
217
sene vor 1700 oft mit weniger als 60 Jahren, hatte ein durchschnittliches Ehepaar mit mehrjährigem Altersgefälle zwischen Mann und Frau geringe Aussichten, über mehr denn zwei Dekaden zusammenzubleiben. Gelang dies doch, erreichten beide entweder ein vergleichsweise hohes Lebensalter oder sie waren relativ jung vor den Altar getreten. Bedeutende und herausstechende Ehedauern von über 35 bzw. 45 Jahren, welche den gesamten Betrachtungszeitraum hindurch standesübergreifend auftraten, waren daher zwangsläu g dünn gesät und von außergewöhnlichen Konstellationen abhängig. Die erste belegbare späterhin „vergoldete“ Hochzeit wurde 1612 zwischen dem 24-jährigen Bräunsdorfer Pfarrlehnbauern und einer 20-jährigen Tochter des Rußdorfer Wirts geschlossen. Da es die Eheleute am Ende auf weit über 70 Jahre brachten, vermochten sie 54 Hochzeitstage zu feiern. Die 1673 relativ jung (22/21) heiratenden Georg und Sybilla Heintzig erlebten nach demselben Prinzip 55 gemeinsame Jahre und der Bräunsdorfer Gärtner Jacob Grobe starb 1735 mit 83 Jahren sogar nach 56-jähriger Ehe. Hingegen ehelichte Paul Aurich im Alter von 44 Jahren 1646 seine zwei Jahrzehnte jüngere erste Frau und vermochte dennoch 47 Jahre im Ehestand zu verbleiben. Ein markantes Gegenbeispiel bot die 1706 nach moderaten 61 Lebensjahren verstorbene Rußdorferin Susanna Frischmann, welche trotzdem 46 Jahre mit ihrem Ehemann verlebt hatte. Da die Lebenserwartung bis ins späte 19. Jahrhundert keinen merklichen Veränderungen unterlag, blieben sogenannte Jubelhochzeiten 550, die nicht selten unter Anteilnahme der gesamten Familie bzw. gar der Gemeinde mit einer abermaligen Einsegnung verbunden mehr oder minder öffentlich zelebriert wurden, trotz deutlich steigender mittlerer Ehedauer lange Zeit außergewöhnliche Ereignisse. Nicht umsonst begriff sie Adelung 1796 ausschließlich als „feyerliche Andenken einer vor funfzig Jahren begangenen Hochzeit“ 551. Eine anteilige Zunahme vorrangig mittlerer Lebensalter zwischen 40 und 60 Jahren zeichnete dafür verantwortlich. Nur sehr langsam vergrößerte sich auch der Anteil höherer Altersklassen als grundlegende Voraussetzung besonders langjähriger Beziehungen jenseits der Fünfzigjahresgrenze. Insofern verwundert es wenig, dass noch bis mindestens zum Ersten Weltkrieg „goldene“ Paare von landesherrlicher Seite mit „Ehren- und Gnadengeschenken“ bedacht wurden. So begingen die Eheleute Lindner zum Beispiel 1912 „im Kreise ihrer Kinder u. Enkelkinder das Jubelfest ihrer goldenen Hochzeit. Der Ortspfarrer besuchte sie in ihrer Wohnung u. segnete das Paar nach einer vorangegangenen Ansprache nochmals ein. Auch überreichte er dem Paar eine von Sr. Hoheit dem Herzog geschenkte Prachtbibel“. 552
550 551 552
Belege dieser Praxis erbringen die Rußdorfer Kirchbücher seit 1846. Zu den Jubelhochzeiten zählen die gängigen großen Jubiläen der Goldenen, Diamantenen, Eisernen und Gnadenhochzeit. Adelung, Wörterbuch, Bd. 2, Die Jubelhochzeit, S. 1441. EPA Rußdorf, KB VII: Kirchbuch 1891–1919, Heiratsregister 1912, zw. Nr. 13. u. 14.
218
NUPTIALITÄT
Erst in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts schlug sich die nun wachsende durchschnittliche Lebenszeit im stark vermehrten Auftreten höherer Semester (über 60 Jahre) nieder. Folglich erfuhr die zu erwartende mittlere Dauer neu geschlossener Ehen etwa seit den 1870er Jahren eine kontinuierliche und über den Untersuchungszeitraum hinausreichende, abermalig signi kante Verlängerung. Deutliche Indikatoren dessen sind die ausschließlich nach 1900 vorkommenden Ehejubiläen obersten Ranges. Eine erste Diamantene Hochzeit feierten zwei Rußdorfer 1919 im Alter von 87 und 79 Jahren. Vermehrt traten derartige Jubiläen jedoch nicht vor den 1940er Jahren auf. Eiserne Jahrestage wurden von den vor 1935 Heiratenden kaum erreicht. Für Rußdorf ist kein Fall belegt, in Bräunsdorf konnte zumindest ein 1934 getrautes Paar 2002 seinen 68. Hochzeitstag feiern. Die vorläu ge, während Spätmittelalter und Frühneuzeit undenkbare Obergrenze der möglichen Ehedauer de nierte allerdings das 1900 vermählte Bräunsdorfer Maurerehepaar Emil Richard (1877–1974) und Maria Thekla Herrfurth (1877– 1975).
5.7 HEIRATSMOBILITÄT Wird nach demographisch-sozialen Veränderungen im Ganzen sowie Wandlungen des Heiratsverhaltens im Speziellen gefragt, darf die Heiratsmobilität nicht unbeachtet bleiben. Innerhalb der zu analysierenden ruralen Gesellschaftssysteme zählte die Hochzeit zu den wenigen Ereignissen innerhalb individueller Lebensläufe, welche per intentionem theoretisch 553 einen dauerhaften Wohnortwechsel erzwangen. Weder impliziert dieses Faktum geographisch messbare Wanderungsbewegungen noch folgte die resultierende Mobilität einem traditionsbedingten, soziokulturelle Normen und rituelle Handlungen in den Vordergrund rückenden Muster. Neo-, Viri- und Uxorilokalität standen gesamtgesellschaftlich realiter als gleichberechtigte Konzepte nebeneinander. Ökonomische Notwendigkeiten entschieden über den zukünftigen Wohnort des Ehepaars und verp ichteten dadurch Bräutigam oder Braut zum Verlassen des bisherigen Wohnraums. Es liegt freilich in der Natur sowohl des geltenden biautoritären Haus- bzw. Familienwirtschaftsprinzips als auch des damit korrespondierenden Erbrechtssystems und der latenten soziokulturellen Bevorzugung des männlichen Geschlechts, dass mehrheitlich die Ehefrau dem Gatten nachzog. Im zur Norm erklärten Idealfall war die dörfliche Haushaltsgründung an Landbesitz gebunden, den der Bräutigam entweder in Kurerbenposition ererbte oder noch vor der Trauung vom väterlichen Gut weichend erkaufte, während die Braut bei Existenz mindestens eines Bruders von vornherein nicht an Grund und Boden gelangen konnte. Die Praxis offenbarte jedoch zahlreiche Unwägbarkeiten. Nicht jedes Ehepaar bekam 553
In der Praxis wurde dieser nicht selten schon zuvor vollzogen.
HEIRATSMOBILITÄT
219
einen Sohn bzw. sah diesen das mündige Alter erreichen. Starb der Familienvater, ging das Gut an die Witwe, die sich womöglich nochmals verehelichte, oder wurde dessen Besitz an einen Schwiegersohn bzw. gänzlich Fremden verkauft, sofern es die ökonomische Situation erforderte. War der Kurerbe dem Vater nicht genehm oder hatte er bereits in Gutsbesitz eingeheiratet, ging die väterliche Immobilie oftmals an ein anderes Kind oder in den freien Verkauf. Der denkbaren sozioökonomischen Konstellationen, welche die idealtypische pränuptiale Besitz- bzw. Heiratsfondsverteilung unter den Verlobten konterkarierten, waren bereits in den vorindustriellen statischen Agrargesellschaften Rußdorfs und Bräunsdorf des Spätmittelalters und der Frühen Neuzeit viele. Innerhalb des parallel zur landgewerblichen und industriellen Entwicklung aufstrebenden Hausgenossenwesens folgte die Heiratsmobilität schließlich situationsbedingt zwar ebenfalls wirtschaftlichen und wohnräumlichen Zwängen, zeigte sich aber vom Landbesitz völlig losgelöst. Die Mikromigration bei Familiengründung lässt sich direkt am Quellenmaterial ausschließlich anhand der Trauregister nachvollziehen, sofern diese die Herkunftsräume der Ehepartner nennen. Andernfalls ist einzig die Synthese sämtlicher Personenstandsregister von annähernd gleichwertiger Aussagekraft. Geburts-, Heimat- und Heiratsorte eines Brautpaares spiegeln, miteinander in Beziehung gesetzt, dessen voreheliche Mobilität bis zu einem gewissen Grad und prognostizieren gleichzeitig faktisch dessen zukünftigen Wohnort. Dieser war entweder mit demjenigen des Mannes oder jenem der Frau zum Zeitpunkt ihrer Vermählung identisch. Ein Blick auf die folgenden Lebensläufe identi ziert letztlich im zweiten Schritt den tatsächlich gewählten Ort. Unter Heiratsmobilität seien somit an dieser Stelle prä- und postnuptiale Wanderungsbewegungen gleichermaßen verstanden. Ohne Frage diente voreheliche Mobilität per primam intentionem nicht der Ehevorbereitung bzw. -anbahnung, jedoch trug sie inhärent maßgeblich zur Erweiterung des Partnerwahlkreises bei. Insofern beein usste sie unter Umständen die Heiratsmobilität und ist daher als Teilaspekt dieser zu begreifen. Migration und Mobilität sind gewiss konzeptionell differierende, aber in Verbindung mit dem Heiratsverhalten kaum trennbare Vorgänge. Beide eröffnen neue gesellschaftliche Begegnungsräume außerhalb des eigenen Haushalts oder der eigenen Gemeinde. Die im Heiratsfall über die jeweiligen Lebensorte zu Tage tretende Mobilität gibt lediglich einen Ausschnitt des realen vorehelichen Bewegungsradius des Brautpaares wieder, welcher zudem keinem Partner eindeutig zuordenbar ist 554 und mitunter von Geburts-, Wohn- und Heiratsorten fälschlich repräsentiert wird. Ohne Kenntnis des selten mit letzter Sicherheit eruierbaren Begegnungsraums der Brautleute entzieht sich selbst die situationsbezogene individuelle räumliche Mobilität jedem Eingrenzungsversuch. Zu vielfältig sind die denkbaren Konstellationen, von berufsbedingter Wanderung des einen Partners in den Heimatort des anderen bis hin zu beiderseitiger Gelegenheitsmobilität 554
Ehepartner desselben Geburts- und Wohnorts sind ausgenommen.
220
NUPTIALITÄT
innerhalb sich überschneidender persönlicher sozialer und geographischer gemeindeübergreifender (Inter)aktionsräume. Selbst die alltägliche Bewegungssphäre blieb im Untersuchungsgebiet nachweislich nicht auf die Heimatgemeinde beschränkt. Sonn- und Feiertage wurden nach dem obligatorischen Kirchgang innerdörflich zu Geselligkeit sowie mit Sicherheit auch für gelegentliche Verwandt- oder Bekanntschaftsbesuche in benachbarten Orten genutzt. Regelmäßig wiederkehrende Festivitäten, allen voran die jährlichen Kirmesfeierlichkeiten der Kirchdörfer, lockten auch weiter entfernt beheimatete Besucher an. Wochen- und Jahrmärkte bezogen ihr stetig wechselndes Publikum aus noch größeren Umkreisen und selbst überregionale Großveranstaltungen wie die Messe in Leipzig wurden von Rußdorfern und Bräunsdorfern angelaufen. Außer der Reihe motivierten Hochzeiten sowie Taufen bei eigener Gevatternschaft durchaus kleinere Reisen oder konnten P egefälle in der näheren Verwandtschaft längere Aufenthalte außerhalb des Heimatorts notwendig machen. Handwerksburschen ließ die Walz oft erhebliche Strecken überbrücken 555 und selbst der Gesindedienst führte zuweilen über ausgedehnte Entfernungen etc. Im Allgemeinen funktionierte Freizeit- bzw. Ereignismobilität traditionell eher kleinräumig, während ökonomischen Notwendigkeiten gehorchende Bewegung bzw. Migration nicht selten auch größere Gebiete und längere Zeiträume durchmaß. Folgerten Bekanntschaften und letztendlich Vermählungen aus den kurzfristigen bis dauerhaften Ortswechseln, lassen sich individuelle Aktionsradien erahnen. Für die demographische und Sozialforschung sind jedoch in erster Linie kollektive Bewegungsund Begegnungsmuster von Interesse, die Rückschlüsse sowohl auf die gesellschaftliche Verfassung als auch die Entwicklung der dörflichen Wirtschaft erlauben. Rußdorf In den letzten 18 Jahren des 16. Jahrhunderts verzeichneten die Rußdorfer Heiratsregister 68 Trauungen mit Ort und Datum. Über die Hälfte (49) der Paare setzte sich aus einem extern und einem intern 556 beheimateten Part zusammen, wobei heterogene Partnerschaften mit weiblichem Fremdanteil überwogen. Die zweitgrößte Gruppe machten mit 25 Prozent zwischen Rußdorfern geschlossene Ehen aus. Gänzlich fremde Gespanne hatten demgegenüber nur geringe Bedeutung (2,94 %). Insgesamt lag das Verhältnis in Rußdorf aufgewachsener Männer zu den Auswärtigen bei ca. 2:1, während sich jenes der Frauen mit ebenfalls leichtem quantitativem Übergewicht der Einheimischen annähernd ausglich. 555 556
Siehe zum Beispiel Fritzsche, Jacobi, Kartenbeilage. Unter „intern“ werden eindeutig in Rußdorf aufgewachsene Personen zusammengefasst. Diese müssen entweder in Rußdorf geboren sein oder zumindest einer vor ihrer Heirat ansässig gewordenen Familie entstammen bzw. an einer solchen in Elterfunktion beteiligt gewesen sein. „Extern“ Klassi zierte mochten zum Teil der fraglichen Gemeinde bereits vor der Hochzeit angehört haben, jedoch lässt sich dies nur in seltenen Fällen aus den Quellen erschließen.
HEIRATSMOBILITÄT
221
Ortsfremde Beteiligte beiderlei Geschlechts entstammten zum überwiegenden Teil Siedlungen aus einem Umkreis von fünf Kilometern, somit der erweiterten unmittelbaren Nachbarschaft. Zwei Drittel der Familien, vorwiegend mit einheimischem Bräutigam, ließen sich nach der Hochzeit zunächst vor Ort nieder. Die höchste Wahrscheinlichkeit eines dauerhaften postnuptialen Aufenthalts hatten naturgemäß jene Paare mit beiderseitigem elterlichem Wohnsitz innerhalb Rußdorfs, gefolgt von den rein externen, deren Männer oft schon lokalen Gutsbesitz erworben hatten. Stammte nur der Ehemann von dort, war ein Verbleib ebenfalls wahrscheinlicher als ein Wegzug. Die um 1600 gesamtgesellschaftlich noch relativ statische Zahl verfügbarer sozioökonomischer Positionen verlieh der zur Bereitstellung des Heiratsfonds hauptsächlich verp ichteten Männerschaft insgesamt eine gegenüber dem weiblichen Geschlecht deutlich höhere räumliche Agilität. Scheidende Erben verließen im ruralen Raum oft ihr Heimatdorf auf Stellensuche. Siedelten sie sich außerhalb fest an, woraus ein Wechsel ihrer Heimatangehörigkeit resultierte, wurden etwaig folgende Trauungen nicht immer an den zuständigen Pfarrer des Geburtsorts gemeldet und kaum in demselben proklamiert. Im Umkehrschluss hatten sich die übrigen durch Ehelichung einer auswärtigen Frau im Heiratsregister aufscheinenden einheimischen Männer meist zuvor in ihrem Heimatort ansässig gemacht. Gelangten sie freilich über ihre Zukünftige an eine externe Stelle, folgte ein Wegzug der Hochzeit auf dem Fuße nach. Die höchste Verzugsrate wiesen nach den beschriebenen Prinzipien Ehepaare mit ortsfremdem Bräutigam auf. Sich vorerst im Untersuchungsort niederlassende Familien unterlagen in ihrer Migration differenten Regeln. Art und Umfang eventuellen Grundbesitzes bzw. der Besitzstand entschieden unter anderem über Beibehaltung oder Veränderung des Lebensmittelpunkts. Vollbauern zeigten die geringste Motivation, diesen zu verlagern. Hausgenossen bildeten die mobilste unter den dörflichen Gesellschaftsgruppen. Bis zu ihrer Trennung im Tode blieben letztendlich von den im späten 16. Jahrhundert ehelich gebundenen Rußdorfer Paaren nur 38,71 Prozent im Dorf. Dieses auf die Rahmenbedingungen einer Agrargesellschaft zugeschnittene Mobilitätsverhalten hatte in Rußdorf bis ins 19. Jahrhundert ohne prinzipielle Veränderungen Bestand, wie Tabelle 21 veranschaulicht. Heiraten zwischen Einheimischen machten selten weniger denn ein Fünftel oder über 40 Prozent der Gesamthochzeitszahl aus. Desgleichen blieben solche zwischen fremdgeborenen Partnern mit meist unter zehn Prozentpunkten ohne Gewicht. Demgegenüber schwankten die Teilmengen gemischter vor allem in sich stark um bis zu 40 Prozentpunkte, während sie zusammen konsequent die Hälfte, teilweise bis zu drei Viertel aller Ehen stellten. Insgesamt weisen Verbindungen zwischen Rußdorfer Bräutigamen und fremden Frauen eine rückläu ge, die zwischen Rußdorfer Bräuten und fremden Männern eine aufsteigende Tendenz auf. Unterbrochen wurde dieser im 18. Jahrhundert deutliche Züge annehmende Prozess zwischen 1770 und 1799. Die Entwicklung der Brautpaarzusammensetzung spiegelt tendenziell die in Kapitel 8.1 behandelten soziostrukturellen Veränderungen. Zwar sind die
222
NUPTIALITÄT
Tabelle 21: Herkunftszusammensetzung der Brautpaare und Niederlassungshäu gkeit in Rußdorf Anteil an Gesamtfamilienzahl1
1582–1589 1590–1599 1600–1609 1610–1619 1620–1629 1630–1639 1640–1649 1650–1659 1660–1669 1670–1679 1680–1689 1690–1699 1700–1709 1710–1719 1720–1729 1730–1739 1740–1749 1750–1759 1760–1769 1770–1779 1780–1789 1790–1799 1800–1809 1810–1819 1820–1829 1830–1839 1840–1849 1850–1859 1860–1869 1870–1879 1880–1889 1890–1899 1900–1909 1910–1919 1920–1929 1930–1935 1
bis 1. Kind bleibender Familien
bis Tod bleibender Familien
beide Partner heimisch
Bräutigam heimisch
Braut heimisch
beide Partner fremd
77,27 65,79 48,94 53,57 75,00 83,33 84,00 77,42 91,30 72,73 66,67 91,67 68,97 75,00 62,00 73,68 68,63 52,94 74,65 66,22 69,57 72,34 62,96 61,73 62,50 61,22 60,81 66,37 70,77 74,58 83,73 78,69 72,25 68,06 56,61 38,38
54,55 31,58 36,17 50,00 63,89 66,67 68,00 61,29 82,61 63,64 66,67 87,50 65,52 67,50 60,00 71,05 56,86 47,06 69,01 64,86 65,22 68,09 54,32 54,32 56,25 54,08 56,76 57,52 59,23 58,76 64,07 58,42 48,95 28,06 19,54 10,61
32,14 20,00 17,02 17,86 38,89 33,33 28,00 32,26 43,48 45,45 14,81 37,50 31,03 30,00 24,00 31,58 31,37 38,24 38,03 31,08 28,99 21,28 27,16 23,46 30,00 32,65 35,14 42,48 35,38 27,12 16,61 19,93 19,90 21,29 23,56 14,14
46,43 42,50 36,17 32,14 38,89 27,78 24,00 54,84 34,78 18,18 40,74 41,67 17,24 25,00 26,00 26,32 25,49 10,29 29,58 35,14 40,58 40,43 19,75 25,93 17,50 9,18 9,46 5,31 7,69 15,82 16,61 19,93 18,32 14,52 13,51 20,20
21,43 32,50 42,55 42,86 16,67 27,78 44,00 12,90 21,74 31,82 37,04 20,83 44,83 30,00 48,00 28,95 33,33 45,59 30,99 22,97 27,54 29,79 50,62 50,62 48,75 52,04 52,70 49,56 51,54 41,81 43,05 33,68 39,53 46,77 51,72 53,54
– 5,00 4,26 7,14 5,56 11,11 4,00 – – 4,55 7,41 – 6,90 15,00 2,00 13,16 9,80 5,88 1,41 10,81 2,90 8,51 2,47 – 3,75 6,12 2,70 2,65 5,38 15,25 23,73 26,46 22,25 17,42 11,21 12,12
alle Werte in Prozent.
HEIRATSMOBILITÄT
223
Abbildung 30: Nuptiale Beteiligung Einheimischer nach Geschlechtern und Anteil heterogener Hochzeiten in Rußdorf in Prozent
wahrscheinlich natürlichen Schwankungen des 17. Jahrhunderts damit nicht zu erklären, jedoch korrespondiert die Zunahme fremder Bräutigame mit der Schaffung neuer Hofstellen, die von der einheimischen Unterschicht offenbar nicht vollständig besetzt werden konnten. Dies lockte Fremde an, die sich erst ansässig machten und danach unter der Dorfbevölkerung Brautschau hielten. Als die Güterparzellierung Ende des 18. Jahrhunderts pausierte, verlor sich der Effekt. Nach 1800 zog der Aufschwung auch der Rußdorfer Strumpfwirkerei wahrscheinlich vornehmlich Lehrlinge und Gesellen ins Dorf, von denen einige eine Braut wegführten, andere sich mit einer Einheimischen vor Ort niederließen. Generell gingen ausgesprochen hohe Anteile gemischter Ehen tendenziell eher zulasten der homogen internen. Zwischen 1600 und 1619 heirateten in lediglich 17,02 bzw. 17,86 Prozent aller Fälle Rußdorfer untereinander. Gleichzeitig machten die Partnerschaften mit nur einem lokal beheimateten Part drei Viertel statt der obligaten drei Fünftel bis zwei Drittel aus. Similäre Situationen waren in den 1680er, 1720er sowie den 1810er Jahren zu beobachten. Hohe und maximale Anteile gänzlich fremder Paare von 10,61 (1730/39) und 15,91 Prozent (1710/19) vermochten die Gewichtung hingegen nicht zu beein ussen. Externe Brautleute beiderlei Geschlechts entstammten, wie Tabelle 22 zeigt, vor 1800 überwiegend zu einem bis zwei Dritteln dem Fünf-Kilometer-Umkreis. Zusätzliche,
224
NUPTIALITÄT
innerhalb eines Radius von zehn Kilometer liegende Ortschaften trugen gleich den übrigen sächsischen Gebieten in meist abgeschwächter Form zum Partnerreservoir bei. Nur in begrenzten Zeitabschnitten nahm der Anteil in Sachsen außerhalb der näheren Ortsumgebung beheimateter Männer (1630er, 1660er, 1710–1729) bzw. Frauen (1630er) einen höheren Stellenwert (über 20% bzw. 25 %) ein. Aus weiter entfernten Ge lden fanden, angesichts des vornehmlich den großen Handelswegen folgenden Fernverkehrs wenig überraschend, nur sporadisch Personen den Weg nach Rußdorf. Erstmals scheint 1711 ein außerhalb der Grenzen des heutigen Sachsens beheimateter Bräutigam in den Rußdorfer Kirchbüchern auf. Allerdings unterstand der Altenburger Bürger und Sattler Johann Peter Hertel demselben Landesherren wie seine Braut, eine Gärtner- und Leinwandhändlertochter. Ein Jahrhundert zuvor hatte der umherziehende Spielmann Hans Kretzschmar aus „Tirschen“ 557 eine Rußdorfer Kutschertochter in Grumbach geheiratet und mit sich genommen. Im Gegensatz zu diesen Paaren ließen sich Hans Buschmann, bayerischer Wollkämmer sowie der aus dem sachsen-altenburgischen Haina zugewanderte Schmiedesohn Justinus Schieck nach ihrer Vermählung 1712 und 1714 in Rußdorf nieder. Dem Schmiedegesellen el die schwiegerväterliche Dorfschmiede zu, deren designierter Erbe nach Dresden in die Familie eines königlichen Leibkutschers einheiratete. Johann Salomon Schrepffer wanderte in den 1740er Jahren aus dem Herzogtum Sachsen-Weimar-Eisenach zu. Der Sohn eines Ölmüllers erlernte vermutlich bei einem Limbacher Meister die Strumpf- und Seidenwirkerei, heiratete 1748 eine Reichenbacherin und kaufte erst 1750 ein Rußdorfer Haus, um schon 1762 nach dem Verlust dreier Kinder an die Ruhr nach Altenburg überzusiedeln. 558 Ähnliche Lebensläufe wiesen auch die beiden übrigen vor 1800 aus jenseits sächsischer Grenzen liegenden deutschen Gebieten zugewanderten Bräutigame, ein Tabakspfeifenmacher aus Halle 1771 sowie ein strumpfwirkender Musketiersohn ebendaher 1786, auf. Noch um vieles rarer machten sich außerhalb des kursächsischen Raums geborene Frauen. Unter die zwei Vertreterinnen dieser Gruppe aus der Zeit vor 1800 zählte die Tochter eines Bürgers und Tuchmachers aus Schmölln im sachsen-altenburgischen Territorium. Dem Vermuten nach entstand der Kontakt zu ihrem späteren, einer Rußdorfer Familie entstammenden Mann, im Jahr der Hochzeit 1757 „Cattunformschneider und Zeichenmeister bey der König. Pohln. u. Churfrst. Sächß. privilegirten Cattunfabrique [...] Hn. Wagners in Burgstädt“ 559, über dessen Geschäftsbeziehungen. Eine im vorherge-
557 558 559
Gemeint ist wahrscheinlich das bayerische Tirschenreuth. ThStA Abg, Amtsgericht Altenburg, C I Loc. 1, Nr. 188, fol. 108. EPA Rußdorf, KB I, Heiratsregister 1757, Nr. 9. – Gemeint ist „die schon vor dem Jahre 1768 in Burgstädt bei Chemnitz bestehende, in diesem Jahre nach amtlichen Nachrichten aber zuerst erwähnte Druckerei des Kaufmanns Johann Friedrich Wagner“. – Wieck, Friedrich Georg, Industrielle Zustände Sachsens. Das Gesammtgebiet des sächsischen Manufaktur- und Fabrikwesens, Handels und Verkehrs, Chemnitz 1840, S. 165.
HEIRATSMOBILITÄT
225
henden Jahr vor den Altar tretende Geschlechtsgenossin hatte ihren Zukünftigen als Pachtmüllertochter aus „Gärtzen“ mit Sicherheit während dessen Gesellenzeit kennengelernt. Die Ehe kam in Rußdorf zustande, wo der Bräutigam vermutlich eine erste Stellung in Eigenregie durch Pacht der sebastianischen Mühle erhielt. Bevor Rußdorf im 18. Jahrhundert sukzessive an wirtschaftlicher Bedeutung gewann, wurde es vom zumindest eine Zeit lang verweilenden Durchgangsverkehr, von Berufsmigranten bzw. selbst von den hochgradig ottanten Gruppen walzender Gesellen, Müllern, Kaufleuten, fahrendem Volk etc. kaum frequentiert und auch nach 1700 nahm sich die Anziehungskraft des abseits größerer Städte und viel befahrener Handelswege liegenden Ortes ohne Marktrecht eher bescheiden aus. Zuziehende „Ausländer“ fehlten vor 1800 erwartungsgemäß vollständig. Der Exulant Georg Esche „der Böhme“ (1603–1674) mochte als Glaubens üchtling theoretisch jener Gruppe angehören, indes, er kehrte auf seines emigrierten Vaters 20 Jahre zuvor wüst stehengelassenes Gut zurück. Johann Gabriel Walther emigrierte gleichsam Mitte des 18. Jahrhunderts aus Österreich nach Penig, wo er als „Pleiger“ ein Auskommen fand, bevor er eine Rußdorferin heimführte. Wessen Hochzeit ins lokale Trauregister Eingang fand, der wurde auch im 17. und 18. Jahrhundert mit über 50-prozentiger Wahrscheinlichkeit dauerhaft vor Ort ansässig (Tab. 21). Lediglich von den 1610–1619 sowie den 1750–1759 verheirateten Paaren blieben unter 50 Prozent, während sich vermutlich ebenso zufallsgeneriert von anderen Dekadenkohorten über 70 Prozent (1640er/1710er) niederließen. Die Teilmenge von der Hochzeit bis zum Tod in Rußdorf wohnender Paare lag im Regelfall unverändert null bis zehn Prozent unter jener der zunächst verbliebenen. Hingegen machten sich von diesen selten weniger denn 80 Prozent bis zum Lebensende ansässig. Eindeutig begünstigte das agrargesellschaftliche, zu Grundbesitz de facto verp ichtende Heiratsmuster Ortsgebundenheit. Ein Wandel des Heiratsverhaltens fand im 19. Jahrhundert statt. Seit dessen erster Dekade stellten in Rußdorf Geborene oder Aufgewachsene kontinuierlich unter 50 Prozent der Bräutigame. Zugleich verschob sich das zuvor stark alternierende zwischengeschlechtliche Verhältnis einheimischer und ortsfremder Heiratender untereinander im frühen 19. Jahrhundert zu einem statischen Ungleichgewicht. Ab den 1820er Jahren blieb der Anteil interner Bräutigame kontinuierlich hinter jenem der fremden Bräute zurück. Bis in die 1860er Jahre lagen die Zahlen noch relativ nah beieinander, danach vergrößerte sich die Kluft sprunghaft immens. Fortan erreichte die Teilmenge einheimischer Männer maximal 61,44 Prozent (1890/1899) derjenigen einheimischer Frauen. Völlig gegensätzlich verloren die externen Bräute anteilmäßig ab 1900 stark an Gewicht, wobei das niedrige Niveau der 1820er bis 1860er Jahre nicht unterschritten wurde. Homogene Ehen zwischen Rußdorfern verharrten bis in die 1870er Jahre auf traditionellem Anteilsniveau zwischen 23 und 42 Prozent. Ein Tal zwischen 1880 und 1910
226
NUPTIALITÄT
Tabelle 22: Herkunft ortsfremder Rußdorfer Brautleute Anteil nach Herkunft1 5km Umkreis
10km Umkreis
Sachsen
Deutschland
Ausland
unbekannt
Mann Frau Mann Frau Mann Frau Mann Frau Mann Frau Mann Frau 1582–1589
50,00 54,55
1590–1599
63,16 36,84 10,53 15,79
–
–
–
–
– 16,67 45,45
– 15,79
–
–
–
– 26,32 31,58
1600–1609 1610–1619 1620–1629 1630–1639 1640–1649
61,90 42,11 54,55 13,33
44,44 9,52 16,67 9,52 22,22 52,94 15,79 29,41 10,53 5,88 58,82 9,09 11,76 9,09 11,76 28,57 13,33 14,29 26,67 50,00
– 5,26 – –
– – – –
– – – –
– – – –
1650–1659 1660–1669
35,71 50,00 28,57 12,50 14,29 25,00
–
–
–
– 21,43 12,50
44,44 41,18 22,22 17,65 11,11 17,65
–
–
–
– 22,22 23,53
33,33 75,00 – 8,33 33,33 36,36 57,14 18,18 28,57 9,09 72,00 82,35 8,00 5,88 12,00
8,33 – –
– – –
8,33 – –
– – –
– 33,33 – – 36,36 14,29 – 8,00 11,76
66,67 70,00 0,00 5,00 20,00 42,11 63,64 21,05 18,18 5,26
– 9,09
– –
5,00 –
– –
– 13,33 20,00 – 31,58 9,09
1710–1719 1720–1729 1730–1739 1740–1749
20,00 55,56 10,00 – 30,00 22,22 15,00 36,67 56,52 6,67 13,04 33,33 13,04 – 59,26 70,97 11,11 3,23 11,11 12,90 –
– – –
– – –
5,56 25,00 16,67 – 23,33 17,39 – 18,52 12,90
46,15 62,50 19,23
–
–
– 15,38
1750–1759
48,78 57,89 14,63 10,53 14,63 10,53 56,00 60,00 8,00 16,00 16,00 24,00
2,44 10,53 – –
– –
– 19,51 10,53 – 20,00 0,00
60,00 41,67 52,78 41,30
69,70 4,00 9,09 12,00 12,12 77,14 12,50 – 20,83 14,29 58,70 16,67 10,87 22,22 21,74 74,07 13,04 7,41 32,61 7,41
4,00 4,17 – 2,17
3,03 – – –
– – – –
– 20,00 6,06 – 20,83 8,57 – 8,33 8,70 – 10,87 11,11
42,55 50,00 21,28 22,92 17,02 10,42 36,17 46,94 25,53 22,45 27,66 18,37
4,26 2,13
2,08 2,04
– –
– 14,89 14,58 – 8,51 10,20
1860–1869 1870–1879
48,33 42,00 40,00 53,75 54,35
17,02 15,79 19,67 26,39 17,39
– 2,00 8,00 5,00 5,43
– 2,63 4,92 2,78 5,80
– – – – –
– 13,33 14,89 – 12,00 2,63 – 4,00 6,56 – 3,75 4,17 – 4,35 4,35
1880–1889
43,40 48,57 12,58 14,29 28,93 28,57
6,92
5,71
6,29
1890–1899 1900–1909 1910–1919 1920–1929 1930–1935
43,75 50,86 44,94 50,79 51,33
3,13 7,25 3,43 4,17 6,33 6,25 9,42 3,33 7,08 12,12
1670–1679 1680–1689 1690–1699 1700–1709
1760–1769 1770–1779 1780–1789 1790–1799 1800–1809 1810–1819 1820–1829 1830–1839 1840–1849 1850–1859
1
alle Werte in Prozent.
53,19 71,05 52,46 55,56 55,07
–
16,67 20,00 12,00 18,75 14,13
– 33,33
6,25 15,38 21,88
14,89 7,89 16,39 11,11 17,39
21,67 24,00 36,00 18,75 21,74
46,38 14,06 13,04 35,94 30,43 44,44 6,86 12,50 34,29 31,94 43,75 8,86 2,08 36,71 41,67 40,00 8,38 16,67 26,70 23,33 33,33 13,27 6,06 18,58 33,33
3,85
19,05 16,67 26,32 11,76 27,27 17,65 46,67 7,14
9,38
2,86
1,89
–
3,13 2,90 4,57 6,94 3,16 6,25 3,14 13,33 5,31 6,06
– – – 1,57 4,42
– – – 3,33 9,09
HEIRATSMOBILITÄT
227
leitete zu einem insgesamt niedrigeren Stand über. Ehen zwischen Ortsfremden hielten ihre traditionelle Quote unter zehn Prozent, erlangten jedoch nach 1870 bis in die 1910er Jahre Bedeutung in bis dahin ungekanntem Ausmaß. Zweifelsohne geht diese Gewichtungsverschiebung auf die industrielle Entwicklung Rußdorfs zurück. In der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts stieg die wirtschaftliche Zugkraft des Dorfes an. Vor allem auswärts geborene Textilgewerbetreibende ließen sich vor Ort nieder und schöpften aus dem lokalen Frauenangebot. Parallel sank offensichtlich die voreheliche Mobilität der Rußdorfer Männerschaft, weswegen sie prozentual seltener eine fremde Braut heimführten. Auf die Niederlassungsfreudigkeit wirkte dies zunächst allerdings, vielleicht unter anderem begrenzten Wohnraums halber, nicht positiv. Erst als die industrielle Entwicklung des Dorfes seit den 1860er Jahren Fahrt aufnahm, ließen sich mehr Paare wenigstens vorübergehend im Ort nieder. Ab den 1870er Jahren drängten zunehmend auch ledige Frauen ins Dorf bzw. trug steigender Pendlerverkehr in Oberfrohnaer und Limbacher Industriebetriebe zur Erweiterung des Ehepartnerwahlkreises bei. Der Anteil interner Bräute schwand, jener der Ehen zwischen extern Gebürtigen wuchs. Ebenso erreichte die Quote zunächst bzw. dauerhaft ansässig werdender Paare in den 1880er Jahren ihren Höhepunkt. Mit dem Ende des Wirtschaftsaufschwungs zur Zeit des Ersten Weltkrieges kehrte sich die Entwicklung wieder um, was sich vor allem in einer prozentual wieder vermehrten Beteiligung einheimischer Bräute und einer rückläu gen Niederlassungsquote niederschlug. Der Anteil bis zum Tod vor Ort verweilender Paare sank entsprechend schon seit den 1890er/1900er Jahren deutlich. Unrealistisch niedrige prozentuale Anteile dieser Gruppe nach 1910 gehen freilich auch auf quellenbedingt fehlende Sterbedaten nach 1935 bzw. 1964 zurück. Immerhin stieg die Bevölkerungszahl bis zum Ende des Untersuchungszeitraums kontinuierlich an. Die dennoch vorhandene Quotendegression wurde wahrscheinlich im beständigen Ausgleich des Verzugs durch Zuwanderung wieder ausgeglichen. In anderen Dörfern aufgewachsene Heiratskandidaten rekrutierten sich auch im 19. und 20. Jahrhundert trotz kräftigerer wirtschaftlicher Entwicklung Rußdorfs und seiner mindestens im späten 19. Jahrhundert stark gehobenen Attraktivität aus denselben geographischen Kreisen und demgemäß vermutlich nach denselben Begegnungs- bzw. Interaktionsprinzipien wie zuvor innerhalb kaum räumlich veränderter sozialer und ökonomischer Netzwerke. Ein Großteil der fremden Bräute und Bräutigame (zwischen 40 % und 55 %) hatte seine Kindheit weiterhin in maximal fünf Kilometern Entfernung verbracht. Dem übrigen sächsischen Raum entstammte insgesamt traditionell eine vergleichbare Ehepartnerzahl. Grundlegende Veränderungen stellten sich einzig bei den Gruppen außerhalb sächsischer Grenzen beheimateter Personen ein. Schon in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts traten aus den übrigen Gebieten Deutschlands der gegenwärtigen Ausdehnung stammende Heiratende gehäuft in den lokalen Registern auf und stellten schließlich
228
NUPTIALITÄT
geschlechtsübergreifend seit den 1840er Jahren permanent einen geringen Teil (max. 9,42 % bzw. 12,12%) der jeweiligen Dekadenkohorten. Aus dem heutigen Thüringen, vor allem aber dem sachsen-altenburgischen Territorium, sowie seltener dem Anhaltinischen oder dem südlichen Preußen wanderte die überwiegende Mehrheit dieser Gruppe zu. Größere Entfernungen legten nur wenige zurück. Zu jenen zählten beispielsweise 1818 der Schuhmacher Johann Gottfried Jahn aus dem etwa 53 Wegstunden entfernten Neuruppin und F. W. H. Möller aus Rinteln in Niedersachsen 1886. Fremde Männer verdingten sich nahezu ausschließlich im sekundären Sektor, waren Gewerbetreibende oder Industriearbeiter. Die Situation fremder Bräute war ähnlich gelagert, zumal diese in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts ebenfalls durch gehobene voreheliche Mobilität auf elen. Neben 70 Prozent nach gegenwärtiger Lesart thüringischen und 13,33 Prozent anhaltinischen traten nur partiell Heiratskandidatinnen aus anderen deutschen Gebieten auf. Die Tochter eines preußischen Hauptmanns in Grabow gelangte vor ihrer Hochzeit 1881 nach Rußdorf, wo sie als Fabrikarbeiterin einen Oberfrohnaer Strumpfwirker ehelichte. Gleiches Verhalten zeigte 1898 Marie Barbara Zeitler aus dem bayerischen Marienweiher, welche sich mit einem Rußdorfer Strumpfwirker ehelich verband. Eine zweite Bayerin unbekannter Profession hatte 1888 in Auerbach und 1890 in Rußdorf uneheliche Kinder zur Welt gebracht und heiratete den mutmaßlichen Vater des zweiten, einen Rußdorfer Fleischer 1890. Wanda Warzaska, Berliner Kaufmannstochter, erhielt eine Stelle im Rußdorfer Schulwesen, ehe sie sich 1900 mit einem Leipziger Kaufmann vermählte und das Dorf verließ. Ebenfalls aus Berlin stammte die Rußdorfer Weißnäherin Emma Frieda Freitag, derer sich 1924 ein Kleinhessener Landwirt annahm. Den wohl weitesten Weg überbrückte die Malermeistertochter Margarethe Antonie Zwickert aus dem bergischen Solingen, die als Wirtschafterin in Rußdorf 1916 den verwitweten örtlichen Krankenkassengeschäftsführer zum Ehemann nahm. Von außerhalb der gegenwärtigen Grenzen Deutschlands stammende, in die Rußdorfer Heiratsregister eingegangene Heiratskandidaten traten bei den Männern erstmals in den 1880er Jahren und danach, bezogen auf die Dekadenkohorten, geschlechtsübergreifend kontinuierlich auf. Die Majorität der mit einer Ausnahme dem sekundären bzw. seltener dem tertiären Sektor verbundenen Bräutigame wanderte aus Schlesien (44,44%) oder den übrigen deutschen Ostgebieten (13,89%) zu. Nahezu ein weiteres Drittel (30,56 %), vornehmlich in Rußdorf vor ihrer Hochzeit ansässig gewordene Handwerker und Fabrikarbeiter sowie ein in Chemnitz lebender Kutscher und ein daselbst wohnhafter Handarbeiter, hatte seine Jugend in Böhmen verbracht. Die größten Entfernungen legten zweifelsohne 1885 der Sohn eines Wiener Finanzwachoberaufsehers, Fabrikschlosser in Rußdorf, und ein ungarischer Bauernsohn zurück. Letzterer ließ sich ohne Landbesitz in der altenburgischen Exklave nieder, fand dort 1881 auch seine Ehefrau, arbeitete jedoch zum Zeitpunkt der Hochzeit 1881 als Maschinenschlosser in Hohenstein. Ein Großteil der Bräutigame letzter Herkunftskategorie war abseits wirtschaftlicher Beweggründe oder
HEIRATSMOBILITÄT
229
etwa mit Familie nach Sachsen bzw. Rußdorf emigriert. Dennoch mochte das letztendliche Ziel ihrer Migration zufällig situativ gewählt worden sein. Weibliche voreheliche Fernwanderung funktionierte bei den fraglichen Rußdorfer Bräuten prinzipiell gleichartig. Allerdings standen dabei einerseits die deutschen Ostgebiete mit Schwerpunkt Schlesien als Herkunftsräume in ihrer Bedeutung (47,06 %) hinter Böhmen (52,94%) zurück und fungierte individuelle Mobilität andererseits keineswegs als dominantes Konzept. Amalie Huyer aus Pirten lebte etwa zum Zeitpunkt ihrer Hochzeit mit einem Rußdorfer Klempner 1906 in Gemeinschaft ihrer verwitweten Mutter in Chemnitz. Ebenso beherbergte Anna Bauer aus Eidlitz, welche 1907 in Diensten eines Rußdorfers stand, die ihrige bei sich. Jakob Kmells Kinder aus Wilkeschau wanderten ihrerseits gemeinschaftlich nach Sachsen ein. Ein Sohn verblieb in Cranzahl, die Schwestern Antonie und Barbara heirateten 1882 und 1889 zwei Rußdorfer Handwerker. Eine uneheliche Enkelin kam 1890 in Rußdorf unverheiratet nieder und vermählte sich dort 1899. Ihr Auskommen fanden die pränuptial fernwandernden Bräute ausschließlich in textiler Heim- und Fabrikarbeit oder im landwirtschaftlichen bzw. häuslichen Dienstleistungsbereich. Gleich ihren männlichen Gruppengenossen folgte ihre Ehepartnersuche den traditionellen lokalen Mustern bei zwingend vorangegangener Ansiedlung. Da ihnen der Eingang via Geburt in die komplexen sozialen, das nähere dörfliche Umfeld überspannenden Netzwerke abging, heirateten sie häu ger innerhalb ihres Wohnortes und unterlagen deswegen gleichfalls einer weit überdurchschnittlichen Wahrscheinlichkeit postnuptialen Verbleibs. Bräunsdorf Die Bräunsdorfer Situation weist, obgleich erst ab 1644 nachvollziehbar, ähnliche Züge auf (Tab. 23). Relativ beständig orientierte sich der Anteil rein Bräunsdorfer Ehepaare an der Gesamthochzeitszahl zwischen 20 und 30 Prozent, während die Menge gänzlich Auswärtiger selten die Fünfprozentmarke überschritt und gemischte Verbindungen mit regelmäßig 60–80 Prozent den Löwenanteil verbuchten. Aus dem Rahmen schlagende hohe (1650er, 1680er) wie niedrige (1640er, 1760er) Anteile der internen Ehen korrespondierten mit entsprechend geminderten bzw. gesteigerten Teilmengen der heterogenen Verbindungen beider Gestalt. Allerdings reagierte die Gruppe männlichen Fremdanteils in jeder Richtung ungleich stärker als ihr Widerpart, wie auch jene weiblichen Kontingents externer Herkunft bereits vor dem 19. Jahrhundert kontinuierlich unterrepräsentiert erscheint. Pro Dekade ent elen turnusmäßig zwischen 29 und 39 Prozent aller Hochzeiten auf diesen Typus sowie 32–45 Prozent auf den anderen. Ein Zusammenhang zwischen der soziostrukturellen Entwicklung und dem Gewichtungsverhältnis der Brautpaarkategorien wird im Bräunsdorfer Beispiel allenfalls ange-
230
NUPTIALITÄT
Tabelle 23: Herkunftszusammensetzung der Brautpaare und Niederlassungshäu gkeit in Bräunsdorf Anteil an Gesamtfamilienzahl1 bis 1.Kind bleibender Familien
bis Tod bleibender Familien
1640–1649
61,54
1650–1659
85,71 54,84
1660–1669 1670–1679 1680–1689 1690–1699 1700–1709 1710–1719 1720–1729 1730–1739 1740–1749 1750–1759
beide Partner heimisch
Bräutigam heimisch
Braut heimisch
beide Partner fremd
46,15
7,69
30,77
61,54
–
85,71 41,94
42,86 29,03
19,05 22,58
28,57 48,39
9,52 –
78,38
72,97
45,95
32,43
21,62
–
88,46 70,00
80,77 56,67
61,54 36,67
19,23 20,00
19,23 36,67
– 6,67
65,00 62,79 70,59
57,50 48,84 54,90
40,00 27,91 35,29
20,00 25,58 27,45
37,50 41,86 35,29
2,50 4,65 1,96
50,91 44,62
43,64 38,46
23,64 23,08
27,27 32,31
45,45 44,62
3,64 –
58,21
53,73
28,36
35,82
34,33
1,49
1760–1769 1770–1779 1780–1789
51,47 56,72
41,18 50,75
19,12 34,33
35,29 26,87
42,65 34,33
2,94 4,48
63,49
60,32
36,51
25,40
36,51
1,59
1790–1799
60,47 54,76 67,09
46,51 42,86 55,70
32,56 28,57 27,85
23,26 20,24 37,97
43,02 46,43 31,65
1,16 4,76 2,53
48,08 55,32
38,46 44,68
22,12 23,40
30,77 28,72
42,31 45,74
4,81 2,13
58,12
45,30
23,93
29,91
40,17
5,98
1860–1869 1870–1879
73,03 58,06 63,73
57,30 48,39 44,12
31,46 21,77 28,43
25,84 26,61 13,73
34,83 46,77 54,90
7,87 4,84 2,94
1880–1889
71,43
46,62
33,83
18,05
42,86
5,26
1890–1899 1900–1909 1910–1919 1920–1929 1930–1935
63,39 61,96
41,07 42,93
33,04 21,74
19,64 28,26
33,04 42,39
14,29 7,61
63,16 55,09
38,01 28,70
22,81 16,20
23,98 26,85
47,95 48,61
5,26 8,33
48,12
19,55
12,03
33,83
46,62
7,52
1800–1809 1810–1819 1820–1829 1830–1839 1840–1849 1850–1859
1
alle Werte in Prozent.
deutet (Abb. 31). Obgleich eine tendenzielle Gegenläu gkeit der beiden heterogenen Typen feststellbar ist, fehlt ihnen eine langfristige auf- oder abwärts gerichtete Orientierung. Zwischen 1770ern und 1810ern sowie zwischen 1820er und 1870er Jahren ging der Anteil fremder Bräute, tatsächlich mit einer Vermehrung der Stellenzahl bzw. im 18. Jahrhundert mit dem industriellen Aufschwung des Limbacher Landes korreli-
HEIRATSMOBILITÄT
231
Abbildung 31: Nuptiale Beteiligung Einheimischer nach Geschlechtern und Anteil heterogener Hochzeiten in Bräunsdorf in Prozent
erend, leicht zurück. Desgleichen wuchs der Prozentsatz einheimischer Bräutigame in den Dekaden ohne Güterparzellierung 1740–1760 leicht. Ende des 17. und Anfang des 18. Jahrhunderts deutet eine im Ganzen stagnierende Teilmenge in Bräunsdorf beheimateter Männer bei steigendem Anteil heterogener Ehen unter ihrer Beteiligung auf eine Verbindung mit den synchron vermehrten Hofstellen an. In den späteren Abschnitten offenbar unterrepräsentierte grundbesitzlose Einheimische nutzten hier eine Chance, vor Ort bleiben zu können. Dabei mussten oder wollten sie anders als späterhin auf auswärtige Frauen zurückgreifen. Die Ehepartnerwahl der Bräunsdorfer folgte erwartungsgemäß auch in ihrer räumlichen Dimension dem Rußdorfer Beispiel. Zwischen einem Viertel und der Hälfte der externen Ehepartner einer Dekadenkohorte hatte während des 17. Jahrhunderts seine familiären Wurzeln innerhalb von fünf Kilometern um Bräunsdorf. Seit den 1720er Jahren geriet ein Anteil von einem Drittel zur Unter- bei unveränderter Obergrenze. Aus dem erweiterten Umkreis rekrutierten sich selten über 15 Prozent (1670er, 1710er, 1800er) und maximal 23,26 Prozent, wohingegen dem übrigen sächsischen Raum eine erhöhte Bedeutung zukam. In der Regel 20–30 Prozent der auswärtig beheimateten Ehepartner stellend, schwankte die Quote bei den Bräutigamen der dritten Herkunftskategorie vor 1800 zwischen 9,68 (1660/1669) und 55,56 Prozent (1680/1689) sowie bei den Bräuten gar bis 36,84 Prozent (1700/1709).
232
NUPTIALITÄT
Aus Territorien außerhalb sächsischer Grenzen fanden dagegen wenige Personen, ausschließlich dem Gebiet des modernen Deutschlands entstammend, Eingang in die örtlichen Heiratsregister (Tab. 24). Unter vier Frauen aus dem 17. und 18. Jahrhundert nahm die 1680 einen Bräunsdorfer Schneider ehelichende Anna Fleischer aus Lucka im Sachsen-Altenburgischen die Vorreiterrolle ein. Sicherlich entstand der Kontakt zu ihrem späteren Ehemann durch beider Väter, die als Schäfer einer hochgradig mobilen Bevölkerungsgruppe angehörten. 30 Jahre später fand Rahel Meißner, Pfarrerstochter aus Ehrenhain in Sachsen-Altenburg als Gattin des lokalen Pastors den Weg nach Bräunsdorf. Der selbst in Penig geborene Ortsgeistliche hatte sein Amt im vorhergehenden Jahr angetreten. Seine zweite Ehefrau, standesgemäß ebenfalls Pastorentochter, kam 1715 aus dem anhaltinischen Bündorf. Während die vorgenannten nach Bräunsdorf zuzogen, wurde die vierte außersächsische Braut nie in Bräunsdorf ansässig. Ihren Ehemann, einen weichenden Gärtnersohn, lernte die Tochter eines altenburgischen Perückenmachers Maria Rosina Heinicken mit Sicherheit in ihrem Heimatort kennen, der späterhin auch zum Wohnort das Ehepaares gedient haben mochte. Der erste belegbare „ausländische“ Bräutigam, Schulmeistersohn aus dem teils sachsen-altenburgisch, teils kursächsisch regierten Thonhausen wanderte als Schuster nach Bräunsdorf, wo er sich schon zum Zeitpunkt seiner Hochzeit mit einer einheimischen Gärtnertochter 1710 ansässig gemacht hatte. Christoph Schlißler von Kloster Posa im Anhaltinischen heiratete hingegen 1718 lediglich hier. Die Braut stammte vermutlich aus seiner eigenen Heimat. Ihre Familie lebte in den 1710er Jahren nur vorübergehend ohne Landbesitz in Bräunsdorf. Auch die übrigen jenseits moderner sächsischer Grenzen aufgewachsenen Bräutigame aus der Zeit vor 1800 gehörten ottanten Berufsgruppen an. Christoph Öttinger, Sohn eines Posamentierers mit Bürgerrecht im seinerzeit unter kursächsischer Verwaltung stehenden Bitterfeld, verdingte sich 1719 in der Fleischhauerei, Johann Friedrich Büchner aus Vogelsberg im Herzogtum SachsenWeimar-Eisenach verdiente seinen Unterhalt 1755 mit der Herstellung von Strumpfwaren und Michael Oertel suchte 1766 in der Tagelöhnerei sein Auskommen. Heiratsmobilität in größeren räumlichen Dimensionen stellt sich auch im Bräunsdorfer Beispiel vor dem 19. Jahrhundert als exklusives Phänomen zwangsläu g agiler Bevölkerungsteile und damit innerhalb der agrarischen Gesellschaftsstruktur der unteren Schichten dar. Bar einer signi kanten wirtschaftlichen Attraktivität und überregionalen Anziehungskraft des betrachteten Ortes führten in erster Linie persönliche Beziehungen Fremde aus entlegeneren Gebieten herbei bzw. entstanden Kontakte zwischen späteren Ehepartnern in erheblich voneinander entfernten Heimatorten über ein bestehendes soziales Ge echt von Familie und Bekannten. Soweit nachvollziehbar, überbrückte selbst die innerdeutsche Heiratsmobilität selten Wege über 100 Kilometer. Die in den Bräunsdorfer Trauregistern erfassten Ehepaare ließen sich im 17. Jahrhundert insgesamt zu 46,82 Prozent, während des 18. Jahrhunderts mit 54-prozentiger Wahrscheinlichkeit zunächst im Untersuchungsort nieder. Der erste bis 1729 reichende
233
HEIRATSMOBILITÄT
Tabelle 24: Herkunft ortsfremder Bräunsdorfer Brautleute 5km Umkreis 10km Umkreis
Anteil der nach Herkunft1 Sachsen Deutschland
Ausland
unbekannt
Mann Frau Mann Frau Mann Frau Mann Frau Mann Frau Mann Frau 1640–1649 1650–1659 1660–1669 1670–1679 1680–1689 1690–1699 1700–1709 1710–1719 1720–1729 1730–1739 1740–1749
8,33 12,50
– 7,14
– –
– 7,14
– –
– –
– –
– 91,67 100,00 – 75,00 85,71
32,26 63,64 6,45 9,09 9,68 9,09 25,00 66,67 16,67 16,67 25,00 16,67 22,22 46,15 11,11 23,08 55,56 23,08
– – –
– – 7,69
– – –
– 51,61 – 33,33 – 11,11
18,18 – –
32,00 44,44
5,56 32,00 27,78
–
–
–
– 28,00
22,22
55,00 42,11 10,00 15,79 20,00 36,84
–
5,26
–
– 15,00
–
28,00 48,00 20,00 4,00 20,00 28,00 12,00 31,82 57,14 – 9,52 22,73 14,29 – 40,63 60,00 6,25 20,00 25,00 16,00 –
8,00 – –
– – –
– 20,00 – 45,45 – 28,13
12,00 19,05 4,00
8,00
– – – 12,50
51,52 53,57
9,09 10,71 12,12 14,29
–
–
–
– 27,27
21,43
1750–1759
46,15 53,85
3,85 15,38 15,38 26,92
3,85
–
–
– 30,77
3,85
1760–1769 1770–1779
35,29 48,48
2,94 18,18 32,35 21,21
2,94
6,06
–
– 26,47
6,06
48,28 61,54 13,79 15,38 34,48 19,23 36,00 50,00 4,00 30,00 44,00 10,00 36,59 61,29 14,63 16,13 29,27 6,45
– – –
3,85 – –
– – –
– 3,45 – 16,00 – 19,51
– 10,00 16,13
37,21 47,62 23,26 23,81 23,26 19,05 51,85 62,50 14,81 0,00 11,11 31,25
2,33 –
4,76 –
– –
– 13,95 – 22,22
4,76 6,25
40,43 65,71
1780–1789 1790–1799 1800–1809 1810–1819 1820–1829 1830–1839 1840–1849 1850–1859 1860–1869 1870–1879 1880–1889 1890–1899 1900–1909 1910–1919 1920–1929 1930–1935 1
2,86 17,02 20,00
4,26
–
–
– 29,79
11,43
38,64 60,71 13,64 3,57 25,00 21,43 42,59 50,00 11,11 11,36 22,22 27,27 58,97 40,54 – 13,51 23,08 40,54
8,51
2,27 5,56 5,13
– 4,55 2,70
– – –
– 20,45 – 18,52 – 12,82
14,29 6,82 2,70
32,31 56,90 10,77 12,07 29,23 25,86 42,03 50,00 10,14 10,00 30,43 31,67
4,62 1,45
3,45 5,00
1,54 1,45
– 21,54 – 14,49
1,72 3,33
45,59 55,74 14,71 4,92 35,29 34,43 47,27 46,67 9,09 11,11 36,36 24,44
1,47 1,64 5,45 13,33
1,47 1,82
– 2,22
1,47 –
3,28 2,22
51,61 53,73 53,93 70,21
3,23 2,25
4,48 2,13
6,45 4,49
– –
– –
1,49 –
2,54 5,71
4,41 5,66
2,54 4,29
– 3,77
– 1,43
– 1,89
4,30 13,43 34,41 26,87 6,74 2,13 32,58 25,53
41,53 57,35 11,86 45,71 56,60 10,00
8,82 41,53 29,41 3,77 32,86 28,30
alle Werte in Prozent.
Zeitabschnitt weist die höchste Schwankungsbreite der Dekadenkohorten auf (Tab. 23). Korrespondenzen mit den Flurparzellierungen bzw. Hofstellengründungen dieser Zeit deuten sich an. Kongruent fällt die Periode unveränderter Güterzahl zwischen 1730 und 1779 mit verringerten Niederlassungsquoten auf. Verglichen mit dem Rußdorfer Fallbeispiel lässt das Bräunsdorfer im 19. und frühen 20. Jahrhundert hinsichtlich der Heiratsmobilität nur geringfügige Unterschiede zur Praxis der vorangegangenen Zeit erkennen. Seit den 1820er Jahren überwogen in
234
NUPTIALITÄT
den örtlichen Heiratsregistern durchweg einheimische Frauen zahlenmäßig gegenüber den einheimischen Männern sowie in noch stärkerem Maße den auswärts beheimateten Bräuten. Zusätzlich el das Quantum aus lokalen Familien stammender Bräutigame seit der Wende zum 20. Jahrhundert hinter jenes der externen zurück. Ab den 1870er Jahren deutet sich eine steigende Attraktivität Bräunsdorfs an. Wie in Rußdorf hielt dies zunächst die einheimische Junggesellenschaft länger vor Ort und zog fremde Männer an. Die Anteile homogen interner Ehen und der einheimischen Bräute stiegen, jene der Bräunsdorfer Bräutigame und der heterogenen Ehen unter ihrer Beteiligung gingen zurück. Ab den 1880ern erweiterten auswärts beheimatete Frauen aufgrund erhöhten Zuzugs oder gesteigerten Berufspendlerverkehrs den Partnerwahlkreis. Folglich unterlagen nun auch die heterogenen Paare mit internem Frauenanteil einer anteiligen Regression und erreichte die Quote der Hochzeiten zwischen Fremdgebürtigen in den 1890er Jahren ihren Höhepunkt. Desgleichen zeigt die Niederlassungsfreudigkeit der 1880er einen leichten Positivausschlag. Bereits in den 1900er Jahren büßte Bräunsdorf seine Anziehungskraft wieder ein. Spätestens in den 1910ern entsprach das Ehemobilitätsmuster im Ganzen dem des frühen 19. Jahrhunderts respektive der vorindustriellen Periode. Lediglich die sinkende Wahrscheinlichkeit vor allem einer dauerhaften postnuptialen Ansässigkeit zeugt von einer erhöhten Mobilität der Bevölkerung bzw. die weiter rückläu ge Häu gkeit rein interner Ehen von einer solchen der Männerschaft. Wie im Rußdorfer Fall wird der massive Rückgang bis zum Tod verbleibender Familien seit den 1920er Jahren quellenbedingt verschärft. Die im direkten Vergleich höhere Verweilrate korrespondiert dessen ungeachtet mit dem am Ende des Untersuchungszeitraums noch immer geringen Industrialisierungsgrad Bräunsdorfs. Die Ausdehnung der aus den Herkunftsorten ortsfremder Heiratender ableitbaren geographischen Ehepartnerwahlkreise der ansässigen Bevölkerung entbehrte ebenfalls während des 19. Jahrhunderts eines grundlegenden Wandels. Beinahe konsequent lag der Geburtsort mindestens 40 Prozent der fremdstämmigen Bräutigame und meist über 50 Prozent derjenigen Bräute wie in vorindustrieller Zeit im Umkreis von fünf Kilometern um Bräunsdorf. Wenigstens ein weiteres Viertel bis ein Drittel war in einer jenseits des engen Areals liegenden sächsischen Siedlung beheimatet. Bereits seit den 1820er Jahren gerieten Männer aus dem außersächsischen Deutschland seiner gegenwärtigen territorialen Ausdehnung zu einer festen Dekadenkohortengröße und überbrückten vornehmlich nach 1900 immer größere Entfernungen. Der Papiermachergeselle G. H. C. Klauß zum Beispiel wuchs im etwa 230 Kilometer entlegenen niedersächsischen Lautenthal auf, ehe er im Zuge seiner Walz nach Bräunsdorf gelangte und dort 1842 die Schwester seines Meisters ehelichte. Über 410 Kilometer legte der Goldschmied Emil Friedrich Lutz aus Pforzheim vor seiner Hochzeit 1923 zurück und Georg Daffner, 1932 Hilfsarbeiter in Pleißa, wanderte aus dem bayerischen Gumpenried ca. 240 Kilometer zu. Die Majorität der außersächsischen Bräutigame war jedoch weiterhin im nahen thüringischen Raum beheimatet und fand nach den tradi-
HEIRATSMOBILITÄT
235
tionellen Prinzipien Eingang in den Ehepartnerwahlkreis der Bräunsdorfer. Selbiges hat für die nach 1850 sporadischer auftretenden Bräute der betrachteten Kategorie Geltung. Zu diesen zählten Johanne Alexandrine de la Follie, Sprachlehrertochter aus Bremen, die 1860 den damaligen Bräunsdorfer Pfarrer heiratete, welcher sie mit Sicherheit nicht im Dorf kennengelernt hatte. Die Berliner Prokuristentochter Günther begegnete dem Bräunsdorfer Kaufmann Illgen, den sie 1925 ehelichte, vermutlich in ihrer Heimat. Emma Anna Helene Höhne aus dem vorpommerschen Zemitz heiratete den Berliner Kaufmann A. M. Haberkorn lediglich an dessen Geburtsort. Demgegenüber durchmaß Hedwig Fischer aus dem ca. 280 Kilometer entfernten bayerischen Hengersberg 1932 eine eher kurze Strecke. Ab den 1860er Jahren erweiterten schließlich außerhalb Deutschlands der heutigen Ausdehnung aufgewachsene Personen den lokalen Ehepartnerwahlkreis zusätzlich. Lediglich drei Bräute sind dieser Gruppe mit Vorbehalt zuzurechnen. Hulda Emma Lampert war in der deutschen Provinz Posen geboren, heiratete jedoch 1892 aus Lugau zu, Gertrud Anna Bien aus Groß Ellguth in Schlesien verdingte sich zum Zeitpunkt ihrer Trauung 1930 als Wirtschaftsgehil n in Bräunsdorf und die Lageristin Zulma Irma Langer hatte zwar in Antwerpen das Licht der Welt erblickt, war aber mit ihren Eltern schon vor ihrer Hochzeit 1931 in Limbach ansässig geworden. Die als ausländisch klassi zierten Bräutigame entstammten zum überwiegenden Teil (75 %) den deutschen Ostgebieten, insbesondere Schlesien, so auch der erste Vertreter dieser Gruppe, der 1862 heiratende Limbacher Maschinenschlosser Beier aus Oberglogau. Drei weitere, ein Bräunsdorfer Strumpfwirker 1879, ein Rußdorfer Schlosser 1910 und ein Crimmitschauer Drechsler 1912, hatten ihre Kindheit in Böhmen verbracht, ein Thalheimer Patentpapierfabrikant kam 1917 aus Basel und 1922 bereicherte ein Wiener Buchbinder den Kandidatenkreis. Trotz minimaler prozentualer Zunahme außersächsischer Teilhaber an den Bräunsdorfer Hochzeiten zog der Ort im Vergleich zur vorindustriellen Situation nicht mehr Menschen an. Dem anteilmäßigen Wachstum liegt stattdessen eine im Zuge der Industrialisierung progressive allgemeine Beweglichkeit zugrunde. Nicht länger bildeten Angehörige inhärent mobiler ökonomischer Gruppen im betrachteten ruralen Raum die Hauptakteure der Fernwanderung. Die Partnersuchmechanismen blieben dabei intakt. Besonders aus entfernteren Gebieten zugezogene Heiratskandidaten hatten sich durchweg vor ihrer Trauung in Bräunsdorf selbst oder den umliegenden Orten niedergelassen und erst danach den maßgeblichen Kontakt zur einheimischen Bevölkerung gefunden, die, wie aus den Zahlen deutlich hervorgeht, noch in den 1930er Jahren zuvörderst im engeren Dorfumfeld intime Beziehungen suchte bzw. aufbaute. Hierbei galt für alle Ortsfremden die Regel, je weiter entfernt ihr letzter Wohnort lag, desto größer die Wahrscheinlichkeit einer dauerhaften lokalen Ansiedlung.
236
NUPTIALITÄT
Zusammenfassung Die Heiratsmobilität wurde in den betrachteten Dörfern einerseits vom Besitzstand der Ehepartner, andererseits von der Verfügbarkeit sozioökonomischer Stellen bestimmt. In ihren grundlegenden Prinzipien unterlag sie vom 16. bis zum frühen 20. Jahrhundert keiner Veränderung. Gleiches hat für das Ehepartnerwahlverhalten Geltung. Der alltägliche Bewegungsradius de nierte in Verbindung mit dem individuellen sozialen Netzwerk aus Freunden, Nachbarn und Bekannten, weiterer Auswahlkriterien wie dem persönlichen materiellen Hintergrund, der Attraktivität oder des Alters ungeachtet, den Partnerwahlkreis im Vorhinein. Je mobiler eine Person, desto größer war ihr Spielraum. Obwohl der traditionelle Stellenmechanismus im 19. Jahrhundert an Gewicht verlor, blieb der gesellschaftlich sanktionierte Zwang zur Erbringung eines Heiratsfonds bestehen. Ein zentrales Element dessen stellte der fest an eine kontinuierliche Erwerbstätigkeit gebundene Wohnsitz dar. Auf dessen näheren räumlichen Umkreis xierte die Partnerwahl gewohnheitsmäßig. Angehörige des weniger mobilen weiblichen Geschlechts dominierten die Brautschaft ihrer Heimatorte. Der Anteil einheimischer Bräutigame schwankte hingegen gleich dem Anteil interner Hochzeiten in Abhängigkeit von der Gestalt der örtlichen Junggesellenschaft. Hierbei galt die Regel, je größer das Aufkommen lediger Zuwanderer, desto niedriger die Quote der Trauungen zwischen Einheimischen. Die Verfügbarkeit sozioökonomischer Positionen entschied maßgeblich über den Fremdanteil der Bräutigame einerseits und die postnuptiale Verweilrate andererseits. Bei einer anfänglich statischen Güterzahl, wie in den Untersuchungsorten bis zum 16. Jahrhundert gegeben, konnten auswärtige Männer dort einzig durch Kauf einer Hofstelle, die Heirat einer Witwe oder die Belegung einer Hausgenossenposition ansässig werden. Alle diese Optionen traten jedoch limitiert auf und wurden in erster Linie von weichenden einheimischen Erben genutzt. Fremde kamen in größerer Zahl erst zum Zuge, wenn neue Stellen geschaffen wurden. Daher ging in beiden Untersuchungsorten mit den Flurparzellierungen des späten 17. bis frühen 19. Jahrhunderts, in deren Rahmen die Häuslerschaft entstand, eine prozentual stärkere Beteiligung der auswärtig beheimateten Bräutigame einher. Diese blieb in ihrer vollen Ausprägung, immer mit einer temporalen Steigerung der Niederlassungsfreudigkeit einhergehend, auf die Stoßzeiten der Partikularisierung begrenzt. Danach galten wiederum die traditionellen Regularien. In der lokalen Industrialisierungsperiode des späten 19. Jahrhunderts entstanden zahlreiche neue sozioökonomische Positionen abseits des Grundbesitzzwangs durch mehrheitlich industrielle Lohnarbeit. Gemäß den tradierten Prinzipien hielt dies zunächst Einheimische am Ort, bevor die Erwerbsmöglichkeiten auch Fremde beiderlei Geschlechts anlockten, die den lokalen Ehepartnerwahlkreis erweiterten. Die Gewichtung der Herkunftsräume zeigte sich mit jener der vorindustriellen Zeit identisch. Eine leicht steigende Zunahme ferngewanderter Brautleute ist als Begleiterscheinung einer
HEIRATSMOBILITÄT
237
gesamtgesellschaftlich anwachsenden Mobilität zu sehen und steht nicht mit der Entwicklung der Untersuchungsorte in unmittelbarem Zusammenhang. Lediglich deren höherer Prozentsatz im Rußdorfer Beispiel mag der höheren Anziehungskraft des Dorfes geschuldet gewesen sein. Die Rückkehr zu alten Partnerwahlmustern nach dem Ende des Wirtschaftsaufschwungs im Ersten Weltkrieg unterstreicht deren latente Gültigkeit. Die Heiratsmobilität blieb prinzipiell unverändert, bewies aber festen Formen folgend Ansprechbarkeit auf sozioökonomische Wandlungen. In ihren westdeutschen Untersuchungsgebieten kommen Adler und Schmalz zu identischen Ergebnissen. Im Monschauer Land rekrutierten sich externe Brautleute im 19. Jahrhundert ebenfalls vornehmlich aus einem Umkreis von fünf Kilometern, wobei die Zuwanderung aus weiter entfernten Ortschaften proportional zum gesellschaftlichen Anteil hochgradig mobiler, d. h. vornehmlich besitzloser Gruppen zunahm. 560 Gleiches attestierte Adler für den Schwarzwälder Raum. Des Weiteren erkannte sie einen positiven Zusammenhang zwischen Realteilungspraxis und dem Anteil externer Hochzeiten, welche zusätzlich negativ proportional an die Größe bzw. das Wachstum einer Ortschaft gebunden sei. 561
560 561
Vgl. Schmalz, Familienrekonstitution, S. 91ff. Vgl. Adler, Demographie, S. 231ff.
6. STERBLICHKEIT
„Jeder Augenblick des Lebens ist [...] ein Schritt zum Tode, der nur des Lebens letzte Folge ist“ 562, konstatierte der französische Mediziner Joseph-Henri Réveillé-Parise (1782– 1852) treffend. Alles Leben wird wie durch die Geburt auch durch das Sterben begrenzt. Nicht umsonst zählt die Mortalität neben der Natalität und Nuptialität zu den grundlegenden Kenngrößen der Demographie, welche in der Bevölkerungswissenschaft durch Aggregation von Einzelschicksalen gelöster Daten über die Entwicklung einer Population Auskunft geben können. Erst durch die Kenntnis des Todes lassen sich zudem in Verbindung mit anderen personi zierten biographischen Variablen wichtige sekundäre Werte, allen voran die Lebensdauer, ermitteln. In der Familienrekonstruktion wird das Spektrum etwa um den Ehezeitraum oder die Dauer der Verwitwung etc. erweitert. Des Weiteren bietet die Examination des Sterbens in all seinen Facetten, d. h. unter Einbeziehung von Todesursachen und Beerdigung im Kontext des sozialen und ökonomischen Stands wertvolle Informationen zur Rekonstruktion von Lebensbedingungen und -risiken. Nachfolgend liegt der Fokus zunächst auf der allgemeinen Sterblichkeit. So wie Veränderungen der Bevölkerungsweise die Gestalt der Geburten- und Hochzeitskurve beein ussen, schlagen sie sich auch in der Sterbekurve nieder. Punktuelle Ausschläge oder anhaltende Niveauverschiebungen lassen daher unterschiedliche Rückschlüsse auf die demographische Entwicklung einer Gesellschaft zu. Obwohl sich die denkbaren Ursachen in lediglich zwei Gruppen teilen lassen, fällt die Rekonstruktion von Reaktionsketten ohne Kenntnis der Populationsgröße schwer. Der in kleinen Räumen wie den Untersuchungsorten teils erheblichen statistischen Unruhe ungeachtet, zeitigen qualitative und quantitative Änderungen einer Bevölkerung ähnliche Auswirkungen auf die Sterblichkeit. Ändert sich die Einwohnerschaft eines Gebiets, folgt daraus bei gleichbleibender Sterbeziffer ein entsprechend verändertes Sterbeaufkommen. Wenngleich üblicherweise langfristig orientiert, schließt dieser Zusammenhang einen zeitlich eng begrenzten Wirkungshorizont, etwa infolge außerordentlicher vorübergehender Migration oder kurzfristiger Schwankungen der Geburtenrate, nicht aus. Majorativ in kurzzeitigen Deviationen der Mortalitätsrate resultierende Gunst- oder Ungunstphasen können bei entsprechender Intensität konträr langwierige Effekte, zum Beispiel durch Übersterblichkeit nur einer Altersgruppe, auslösen. Aus Sicht der demographischen Forschung besitzt der Tod eine wichtige Zeigerfunktion existenzieller gesellschaftlicher Notsituationen. Vor allen Dingen die Sterblichkeit 562
Réveillé-Parise, Joseph-Henri, Lebenskunst für geistig beschäftigte Menschen, herausgegeben und übersetzt von Moritz Kalisch, Berlin 1835, S. 272.
240
STERBLICHKEIT
reagiert leicht und eindrücklich. Epidemien lassen die Mortalitätsrate selbst bei optimalen Behandlungsbedingungen nicht unbeein usst. Militärische Auseinandersetzungen verursachen ihrerseits oft nicht nur über unmittelbare Opfer, sondern ebenso durch immunologische Degeneration der Zivilbevölkerung infolge verschlechterter Lebensbedingungen einen Anstieg der Totenzahlen. Grundlegende Versorgungskrisen zeitigen je nach Schweregrad ähnliche Auswirkungen. Malthus begriff diese positiven Hemmnisse unter anderem als Ausdruck eines bestehenden Ungleichgewichts zwischen Bevölkerungszahl und Nahrungsspielraum infolge unkontrollierten übermäßigen Wachstums jener. 563 Für die vorindustrielle Zeit sind sogenannte schwarze Zacken, d. h. die Geburten übersteigenden Ausschläge der Sterbezahl, eindeutige Hinweise auf krisenhafte Ereignisse. Im Laufe des 19. Jahrhunderts und der Industrialisierung verschwanden diese charakteristischen Zeichen in Mitteleuropa nebst der klassischen Mortalitätskrise weitestgehend. Im Allgemeinen werden eine verlängerte durchschnittliche Lebenserwartung, eine exponentiell rückläu ge Säuglingssterberate sowie die gänzliche Ablösung offener Krisen zugunsten verdeckter, d. h. mit die Sterbeziffer nicht unterschreitender Geburtenziffer, als Begleiterscheinungen industrieller Entwicklung beschrieben. 564 Typisch ist zudem ein demographischer Übergang von Bevölkerungsweisen, womit eine Verringerung des Menschenumsatzes infolge massiv rückläu ger Geburten- und Mortalitätsraten einhergeht. 565 In Sachsen nahm die Zahl der Sterbefälle seit Beginn der jährlichen Erhebungen 1827 dem Bevölkerungswachstum entsprechend bis in die 1890er Jahre relativ kontinuierlich zu, erreichte 1897 einen Scheitelpunkt und el bis in die 1920er wieder auf das absolute Niveau der vorherigen Jahrhundertmitte. Parallel schwankte die Sterbeziffer bis in die 1880er Jahre meistenteils zwischen 26 und 30 Todesfällen auf 1000 Einwohner. Seit 1887 wies auch sie eine rückläu ge Tendenz auf. Am Ende des Untersuchungszeitraums lag die Mortalität im Freistaat nurmehr bei 10,5. 566 Unabhängig vom Verlauf der Sterbekurve durchlief der kollektive Umgang mit dem Ableben spätestens im 20. Jahrhundert auf der physischen wie der gedanklichen Ebene einen tiefgreifenden Wandel. Bis weit nach 1900 war der Tod nicht mehr oder weniger alltäglich, spielte sich aber im unmittelbaren Umfeld aller Lebenden ab, wodurch er ungleich greifbarer war. Vor Etablierung des heutigen groß ächigen Netzwerks medizinischer Einrichtungen wie Krankenhäuser, Hospize, Alten- und P egeheime etc. fanden P ege bei Krankheit oder im Alter sowie das Sterben selbst regelmäßig im gewohnten Lebensumfeld der Betreffenden statt. Gleichermaßen liefen die ersten Beerdigungsri-
563 564 565 566
Vgl. Malthus, Principle, S. 23ff. Vgl. Imhof, Einführung, S. 65ff. Vgl. Kernig, Und mehret euch?, S. 49ff. Vgl. Burkhardt, Bevölkerung, S. 29ff.
STERBLICHKEIT
241
ten wie Leichenwaschung und -herrichtung, Sarglegung oder Aufbahrung meist in der Wohnung des Verstorbenen ab. Die unvermeidliche Endlichkeit des Lebens wurde allen beteiligten Familien- und Haushaltsmitgliedern ungeachtet ihres Alters dadurch wiederholt schonungslos vorgeführt. Obgleich bestimmte Alters- und Berufsgruppen unzweifelhaft überproportionalen Sterberisiken unterlagen, konnte der Tod zugleich nicht nur theoretisch jedermann jederzeit treffen, sondern gestattete auch in der Praxis niemandem zu keinem Zeitpunkt seines Lebens Hoffnung auf Schonung. Nichtsdestotrotz wurde der Tod einschließlich der Verheißung eines von diesseitigen Handlungen beein ussten jenseitigen Nachlebens höchstwahrscheinlich als natürlicher Teil der Existenz akzeptiert. Jedes Gesellschaftsmitglied wurde von frühester Kindheit an, wenn nicht in unmittelbarem „praktischem“ Erleben, so doch in Wort, Bild und Schrift zumindest während des regelmäßigen Gottesdienstes in der Kirche mit der Endlichkeit des Irdischen konfrontiert. Daraus folgerte ein pragmatischer Umgang mit dem Sterben, der sicherlich gleichsam einen individuellen Schutzmechanismus gegenüber einer weitgehend unkontrollierbar anmutenden Lebenswelt darstellte. Offensichtlicher Ausdruck dessen war zum Beispiel die bei älteren Personen vielfach belegte Vorbereitung der eigenen Beerdigung ohne physische Indikation durch Anschaffung eines Sarges und der Totenkleidung 567 oder die ausdrückliche Ausbedingung der Beerdigungskosten als Teil des Angeldes bei Gutsverkäufen. Letzteres betraf vorrangig in den Auszug gehende Verkäufer, konnte aber durchaus auf andere bedürftige Familienmitglieder ausgeweitet werden. Exemplarisch verp ichtete sich Johann Michael Hopffer 1751 beim Kauf eines schuldenbeladenen Hauses in Rußdorf, die hinterlassene Witwe des Vorbesitzers einschließlich ihrer Kinder zwölf Jahre bei sich unentgeltlich wohnen zu lassen und dessen gebrechlichen Tochter, die 1759 verstarb, zeitlebens freie Herberge zuzugestehen sowie fünf Gulden Begräbnisgeld zu zahlen. 568 War der permanent drohende Tod dann tatsächlich eingetreten, bestimmten Stand, Ansehen, Vermögen und regionale Tradition über das Zeremoniell des letzten Weges. In allen Kulturen erfüllen Abschieds- bzw. Beerdigungsriten zweierlei Funktion: Zum einen tragen sie dem Leben des Verstorbenen mehr oder minder beschönigend öffentlich Rechnung, dienen zum Statussymbol sowohl des Verstorbenen als auch dessen Angehöriger und prägen im kollektiven sozialen Gedächtnis dessen Bild und Andenken. Andererseits sind sie ein zentraler Teil der Verlustbewältigung Hinterbliebener. Über die konkrete postmortale Verfahrensweise in den Untersuchungsorten geben die Quellen nur bedingt und beiläu g Auskunft. So bleiben die Vorgänge im Sterbehaus vollständig verborgen. Konvergenzen mit den überlieferten Bräuchen anderer deutscher Räume sind freilich anzunehmen. Für gewöhnlich wurde der daheim Verschiedene bzw. vom Todesort in seine Wohnung Verbrachte wahlweise von den nächsten Angehörigen 567 568
Vgl. Weber-Kellermann, Ingeborg, Landleben im 19. Jahrhundert, München 1987, S. 276. Vgl. ThStA Abg, Amtsgericht Altenburg, C I Loc. 1, Nr. 189, fol. 32.
242
STERBLICHKEIT
oder einer bestellten Leichenwäscherin gewaschen und zur Aufbahrung im trauernden Haushalt hergerichtet. Diese öffentliche Zurschaustellung erfolgte üblicherweise im offenen Sarg, wie der Beerdigungseintrag des Rußdorfer Pferdebauers Gottlieb Engelmann (1734–1782) indiziert: „s. Körper ging so schnell in Verwesung, dß. man ihn im Sarge nicht konnte sehen“ 569. Trauergästen wurde die Möglichkeit geboten, vom Toten von Angesicht zu Angesicht Abschied zu nehmen. Eine nächtliche Totenwache des engeren sozialen Umkreises schloss die Aufbahrung ab. 570 Die Beerdigung selbst fand in der Regel zwei bis drei Tage nach erfolgtem Ableben, aus hygienischen Gründen wochentagsunabhängig statt. Der Sarg, bei einfachen Leuten eine simple Holzkiste, wurde von den Angehörigen vernagelt bzw. geschlossen und den Sargträgern überantwortet. Vermögenden und hochgeachteten Persönlichkeiten bzw. deren Angehörigen leiteten Pfarrer und „Schule“ das Zeremoniell mit Chorgesang vor dem Sterbehaus ein und begleiteten den Leichenzug zum Friedhof. Dort folgten wahlweise eine „Altarrede“ vor der mehr oder weniger vollständig versammelten Gemeinde, eine Leichenpredigt oder die schlichte Aussegnung, unter Umständen mit Kollekte. Gesang am Grabe und Glockengeläut während der Grablegung konnten die Prozedur abrunden. Eine jede Leistung wollte entlohnt sein, weswegen erweiterte Beerdigungspraktiken vorrangig Erwachsenen oder Kindern wohlhabender Eltern zuteilwurden. Noch Anfang des 19. Jahrhunderts traten stille Beerdigungen und solche mit Leichenpredigt unabhängig vom Alter des Verstorbenen auf. Bestattungen bar eines Zeremoniells bildeten die Ausnahme. Binnen 50 Jahren vollzog sich in Bräunsdorf wie Rußdorf dahingehend ein deutlicher Wandel. Predigt, Abdankungsrede, Gesang und Geläut gerieten zu größtenteils den Erwachsenen reservierten Diensten, dieweil Segen mit Kollekte und insbesondere die Grablegung in der Stille nun überwiegend bei Kinderleichen Anwendung fanden. Eine außerordentliche Behandlung ausgewählter Persönlichkeiten wurde dagegen nicht länger praktiziert. Grundsätzliche Konstanten bildeten neben den Riten an sich allerdings die auf das zeremonielle Mindestmaß reduzierten Beerdigungen von Totgeborenen, Ortsfremden und armen Leichen ohne nahe Angehörige. Gleichermaßen mussten Selbstmörder mit einer de facto heimlichen Bestattung auf gesondertem Areal am Rande des Gottesackers vorliebnehmen. 571 Hingerichtete wurden traditionell am Richtort zu Abschreckungszwecken offen der Verwesung preisgegeben (17. Jahrhundert) oder alternativ der medizinischen Forschung überantwortet (18. Jahrhundert).
569 570 571
EPA Rußdorf, KB I, Beerdigungsregister 1782, Nr. 10. Vgl. Weber-Kellermann, Landleben, S. 276f. Vor dem 17. Jahrhundert wurde Selbstmördern in der Region ein Platz auf dem Gottesacker offenbar gänzlich verweigert. Siehe hierzu: „Anna Wolff Pfawens weib ist den 16 Augusti früe auff gestanden und [...] sich untern bei edelhoff in teich ohn alle Ursachen erseuffet, darinnen den ersten tag hora 3 a meridie gefunden wordenn und folgendes Sontags auch noch darinnen geblieben, und den 18 eiusdem von Hencker zu Penigk herrauß gezogen, auff den gemeine Viehweg ubern Dorffe begraben wordenn.“ – EPA Kaufungen, KB I, Beerdigungsregister 1600, Nr. 14.
ENTWICKLUNG DER STERBEZAHLEN
243
Neuerliche Änderungen der Beerdigungspraxis stellten sich seit dem Ersten Weltkrieg ein. Neben die klassischen Erdbestattungen traten nach Inbetriebnahme des Chemnitzer Krematoriums 1906 seit den späten 1920er Jahren erste Einäscherungen mit anschließender Urnenbeisetzung im Heimatort oder auf dem Städtischen Friedhof Chemnitz. Deutlich früher hielten „moderne“ Sterbeorte im dörflichen Raum Einzug. Vereinzelte Todesfälle im Stadtkrankenhaus zu Limbach wurden ab 1869 572 beurkundet, nach 1900 erweiterten das Landeskrankenhaus Altenburg, das Königliche Krankenstift in Zwickau, die Stadtkrankenhäuser in Chemnitz und Penig sowie das Bezirkskrankenhaus zu Rabenstein das Spektrum. Trotzdem stellten Sterbefälle von Rußdorfern und Bräunsdorfern in Einrichtungen des Gesundheitswesens auch am Ende des Untersuchungszeitraums die Ausnahme dar. Alters- und P egeheime spielten desgleichen vor 1935 für die lokale Bevölkerung kaum eine Rolle.
6.1 ENTWICKLUNG DER STERBEZAHLEN Rußdorf Im Unterschied zur Entwicklung der örtlichen Hochzeitszahlen spiegelt die Rußdorfer Sterblichkeits- den Verlauf der synchronen Geburtigkeitskurve langfristig in wesentlichen Grundelementen. Allein dies deutet auf eine enge Kopplung von Mortalität und Natalität, bedingt durch hohe Säuglingssterberaten, hin. Die Rußdorfer Beerdigungsregister geben über 9387 zwischen dem 1. Januar 1582 und dem 31. Dezember 1935 verstorbene bzw. begrabene Personen Auskunft. In Anlehnung an die im späten 19. Jahrhundert explodierende Bevölkerungszahl sind die Fälle sehr ungleich über die betrachtete Zeit verteilt. So starben in den drei Dekaden höchster Totenzahlen 1880–1909 (8,33% des UZ) allein 29,85 Prozent (2803) aller verzeichneten Personen, ebenso viele wie zwischen 1582 und 1819 (66,67% des UZ). Dementsprechend betrug die Zunahme der Beerdigungszahl vom 17. zum 18. Jahrhundert 129,55 Prozent und überstieg die Kohortengröße des 19. Jahrhunderts jene des vorangegangenen nochmals um beinahe das Zweieinhalbfache. Die nach Dekaden zusammengefassten Zahlen zeichnen in Tabelle 25 ein differenzierteres Bild der Entwicklung. Auf vergleichsweise hohe Werte im ausgehenden 16. Jahrhundert folgt jene an den Geburtenzahlen bereits beobachtete Wanne des 17. Jahrhunderts mit Normwerten von 45–65 pro Kohorte. Lag dem ein Wandel der Bevölkerungsweise zugrunde, betraf er wahrscheinlich das generative Verhalten. Gemessen am quantitativen Verhältnis zwischen Geburten- und Sterbefällen – diese machten bis in die 1690er üblicherweise zwischen 55 und 70 Prozent jener aus – fand keine Verän572
Die 62-jährige Bräunsdorferin Hanne Eleonore Sonntag starb als erste Person aus den Untersuchungsorten nachweislich in einem Krankenhaus. – Vgl. EPA Bräunsdorf, KB VI, Beerdigungen 1869, o. Nr.
244
STERBLICHKEIT
Tabelle 25: Rußdorfer Sterbefälle nach Dekadenkohorten Beerdigungen (1580) 1582–1589 1590–1599 1600–1609 1610–1619 1620–1629
Wachstum
0,68 % 0,82 %
55 49
0,59 % 0,52 %
–28,57 % –10,91 % 77,55 %
20,31 % (–3,75 %)1
87
0,93 %
129
1,37 %
48,28 %
57 41 50
0,61 % 0,44 % 0,53 %
–55,81 % –28,07 % 21,95 %
65 45
0,69 % 0,48 %
30,00 % –30,77 %
65 81 100 96
0,69 % 0,86 % 1,07 % 1,02 %
44,44 % 24,62 % 23,46 % –4,00 %
104 129
1,11 % 1,37 %
8,33 % 24,04 %
142 207
1,51 % 2,21 %
10,08 % 45,77 %
195 174 248
2,08 % 1,85 % 2,64 %
–5,80 % –10,77 % 42,53 %
266
2,83 %
7,26 %
277 272 312
2,95 % 2,90 % 3,32 %
4,14 % –1,81 % 14,71 %
414 431 489
4,41 % 4,59 % 5,21 %
32,69 % 4,11 % 13,46 %
590 925
6,29 % 9,85 %
20,65 % 56,78 %
1890–1899 1900–1909 1910–1919
1030 848
10,97 % 9,03 %
11,35 % –17,67 %
657
7,00 %
–22,50 %
1920–1929
395
4,21 %
–39,88 %
1930–1935
221
2,35 %
–44,05 %
1630–1639 1640–1649 1650–1659 1660–1669 1670–1679 1680–1689 1690–1699 1700–1709 1710–1719 1720–1729 1730–1739 1740–1749 1750–1759 1760–1769 1770–1779 1780–1789 1790–1799 1800–1809 1810–1819 1820–1829 1830–1839 1840–1849 1850–1859 1860–1869 1870–1879 1880–1889
1
prozentualer Anteil
64 (80)1 77
Hochrechnung durch entsprechende Addition des Durchschnittswertes der Kohorte.
ENTWICKLUNG DER STERBEZAHLEN
245
derung statt. Eine derart konstante Bindung ohne zeitlichen Versatz funktioniert einzig über eine relativ statische Säuglingssterblichkeit. Tatsächlich gingen die durchschnittlichen Familiengrößen während des 17. Jahrhunderts zurück (Kap. 7.1). Vier Jahrzehnte zeigen jedoch abweichende Formen. In den 1640er und 1670er Jahren wurde das sonst übliche Verhältnis in einer Angleichung ad absurdum geführt, obwohl die Sterbekohorten nicht von der Wannennorm abwichen. Von 1670–1679 starben gar mehr Menschen als geboren wurden. Gleiches geschah während der 1620er und 1630er Jahre. Allerdings zeichnete dafür eine anormale, krisenbedingte Vermehrung der Sterbefälle bis hin zu ihrer Verdopplung verantwortlich. Eine Wiederholung dessen blieb bis zum Ende des Untersuchungszeitraums aus. Dennoch näherte sich die Totenzahl jener der Geburten soweit an, dass sie zwischen 1700 und 1879 pro Dekade im Durchschnitt 80 Prozent dieser betrug. Nachdem die Wanne des 17. Jahrhunderts am Beginn des 18. ausgelaufen, d. h. das absolute Niveau der 1580er wieder erreicht war, stagnierten die Werte in den 1710er bis 1730er Jahren. Ein anschließender Anstieg gleicher Dauer korreliert vielleicht mit dem parallel starken Wachstum der unteren Mittelschicht (Kap. 8.1). Der nachfolgende 20-jährige Sterblichkeitsrückgang steht der These freilich entgegen. Beginnend in den 1790er Jahren durchzog das 19. Jahrhundert eine nahezu ungebrochene Zunahme mit mehreren Zeiträumen massiver Anstiege in den 1840er, 1870er und 1880er Jahren. Auf den quantitativen Höhepunkt während der 1890er folgte eine noch steilere Regression auf das Niveau des späten 18. Jahrhunderts bei gleichzeitig weiter wachsender Bevölkerungszahl. Selbst die Folgen des Ersten Weltkrieges vermochten den Prozess nicht zu bremsen. Im selben Zeitraum vergrößerte sich der Abstand zwischen den Geburtenund Totenzahlen wieder hin zu ihrem vormaligen, spätmittelalterlichen Verhältnis. Ein Blick auf die im Ganzen gleichförmige Entwicklung der jährlichen Sterblichkeit dient vor allem der Darstellung kurzfristiger Veränderungen. Die Ursachen der aus dem Rahmen schlagenden Größe einiger Dekadenkohorten lassen sich daran ermessen, ein eventueller Prozesscharakter derselben ersehen. Zwangsläu g unterliegen die Jahreswerte heftigen Schwankungen. Den geringen Fallzahlen geschuldet, sind positive und negative Ausschläge um bis 50 Prozent gegenüber dem Vorjahreswert der normalen statistischen Unruhe zuzurechnen. Desgleichen können solche um bis zu 100 Prozent ob ihrer Häu gkeit nicht automatisch zum Indikator einer besonderen demographischen Gunst- oder Ungunstphase dienen. Unter Berücksichtigung der vorigen Betrachtungen kann der Verlauf der Rußdorfer Sterblichkeit über den Untersuchungszeitraum in vier Abschnitte unterteilt werden. Deren erster umfasst die beiden nalen Jahrzehnte des 16. Jahrhunderts. Sein im Vergleich zur zweiten Periode erhöhtes Werteniveau wird in erster Linie an den Dekadenkohorten ersichtlich. Die nachfolgende Phase im Allgemeinen einstelliger jährlicher Zahlen überspannt das gesamte 17. Jahrhundert und wird durch ihre tendenzielle Wannenform mit einer Talsohle in den 1650er Jahren charakterisiert. Mehrfach überstiegen Maxima in dieser Zeit die gleichzeitige Geburtenzahl. Das Sterbeaufkommen 1620, 1628, 1643,
246
STERBLICHKEIT
Abbildung 32: Jährliche Rußdorfer Sterbezahlen und Leipziger Roggenpreisindex 1582–1799 Vgl. Rahlf, Getreidepreise.
1664, 1676, 1694 und 1709 deutet in dieser Weise auf Mortalitätskrisen hin. Zwei Gipfel 1633 (38) und 1639 (39) durchbrachen den Normalzustand derart massiv, dass sie mit Sterbeziffern von ca. 152 statt der üblichen 24 pro 1000 Einwohner zu Buche schlugen. Mit ebenfalls überdurchschnittlicher Sterblichkeit im jeweiligen Folgejahr sowie auffallend wenigen Todesfällen während des zweiten Anschlussjahres tragen beide Spitzen unverkennbare Zeichen schwerer Systemkrisen. Derartige Fälle blieben auch in der dritten, von den 1710ern bis in die 1820er Jahre reichenden Periode nicht aus. Mäßige „schwarze Zacken“ treten in den Jahren 1719, 1721, 1794, 1800, 1806 und 1814 zu Tage. Desgleichen überstieg eine Mortalitätsspitze 1824 die Natalität, nicht jedoch die Konzeptionszahl. Zwei weitere unzweifelhaft krisenbedingte Fälle extremer Übersterblichkeit 1761 und 1772 gingen wie ihre Vorgänger in den 1630ern mit geringeren im Folgejahr sowie durchschnittlichen bis unterdurchschnittlichen Zahlen im dritten Jahr einher. Die Besonderheit des Abschnitts liegt, verglichen mit dem vorangegangenen, in seinem langfristigen, tendenziell linearen Wachstum. Während der abschließenden vierten Phase nahm dieses unter teils starken Schwankungen exponentielle Formen an. Nachdem der vorläu ge Gipfelwert von 1639–1761 Geltung gehabt hatte und jener des Jahres 1772 erst 1869 überboten worden war, bereiteten erneute Sterbespitzen 1882 (102) und 1886 (122) das absolute Maximum von 1891 mit 132 Sterbefällen vor, in dem das anhaltende Wachstum sein Ende fand. Gleichzeitig stieg die Sterberate, welche während des 18. Jahrhunderts die Grenze von 30 Personen pro Jahr und 1000 Einwohnern überschritten hatte, auf bis zu 40 und in den 1880ern im Mittel auf rund 52 an. Ganz den Spezi ka eines demographischen Übergangs entsprechend, gingen die jährlichen Totenzahlen nach 1891 in einen
ENTWICKLUNG DER STERBEZAHLEN
247
Abbildung 33: Rußdorfer Sterbe- und Geburtenzahlen 1800–1935
bis in die 1930er Jahre reichenden Schrumpfungsprozess über. Bereits in den „Goldenen Zwanzigern“ war in absoluten Zahlen der Stand der vorherigen Jahrhundertmitte erreicht, freilich bei vervierfachter Gesamtbevölkerung Rußdorfs. Am Ende des Untersuchungszeitraums lag die Mortalitätsziffer nurmehr bei fünf bis sechs. Wird die seit dem Spätmittelalter bestehende Bindung der Sterblichkeit an die Geburtigkeit bedacht, erscheint die Glockenkurve der vierten Periode folgerichtig. Nicht aus dieser Orientierung lässt sich hingegen das zweite zentrale Merkmal des letzten Abschnitts erklären. „Offene Krisen“ fehlen in seiner Zeit völlig. Zudem schwächte sich der Wirkungsgrad eventueller krisenhafter Erscheinungen in Anbetracht ihrer relativ zur Standardmortalität verringerten Sterbequoten fortschreitend dezidiert ab. Sofern schwere Notzeiten nach 1850 im Untersuchungsgebiet auftraten, hinterließen sie nicht länger unverkennbare Signaturen in der Mortalitätskurve. Lediglich der Erste Weltkrieg motivierte durch zahlreiche Gefallene eine nochmals an die Krisen alten Typs gemahnende Übersterblichkeit und „schwarze Zacken“ 1915–1918. Bräunsdorf Gleich dem Rußdorfer Beispiel entsprach im Bräunsdorfer Fall die Verlaufsform der Mortalitäts- jener der Natalitätskurve langfristig ohne zeitlichen Versatz weitestgehend, sodass auch hier von einer Kopplung von Geburtigkeit und Sterblichkeit über die Säuglingsmortalität auszugehen ist. Die Gesamtzahl der zwischen 1641 und 1935 überlieferten Bräunsdorfer Todesfälle beläuft sich auf 5404. Obwohl ebenfalls uneinheitlich über den Untersuchungs-
248
STERBLICHKEIT
zeitraum gestreut, steht deren Verteilungsmuster in keinem Vergleich zum Rußdorfer. Exemplarisch erscheint die örtliche Wachstumsrate über 120,74 Prozent vom 18. zum 19. Jahrhundert relativ moderat. 573 Gemäß der ursprünglich höheren Bevölkerungszahl Bräunsdorfs lag die dortige Bestattungszahl anfänglich über jener Rußdorfs. Dieses Verhältnis blieb bis zum Ende des 17. Jahrhunderts bestehen, kehrte sich 1700–1719 erstmals um und erfuhr ab den 1740er Jahren eine endgültige Wandlung. Danach unterlag die Differenz der Sterbezahlen beider Orte einer steten Vergrößerung. In der Folge zeigte Bräunsdorf eine deutlich achere Mortalitätskurve und ein weitaus weniger schwankendes Mengenverteilungsmuster. Sicherlich verschieden in der Phase der höchsten absoluten Sterblichkeit 1860–1909 mehr Personen (1816) als zwischen 1641 und 1799 (1734), jedoch kam dies den Rußdorfer Verhältnissen nicht nahe. Zu Dekadenkohorten aggregiert (Tab. 26), beschreiben die Bräunsdorfer Totenzahlen beinahe seit Überlieferungsbeginn eine sanfte Aufwärtsbewegung. Dennoch deutet sich die im Rußdorfer Beispiel beschriebene charakteristische Wanne des 17. Jahrhunderts an. Unklar bleibt, da das vorherige Sterbeaufkommen im Dunkeln liegt, ob ihr Ende bereits in den 1670er oder erst in den 1710er Jahren anzusetzen ist. Mit ihrer starken Annäherung an die gleichzeitige Geburtenzahl – 50–65 Prozent entsprachen der Normalität, 93 bzw. 81 Prozent wurden erreicht – muss die erhöhte Mortalität der 1670er und 1690er Jahre im Verdacht stehen, krisenbedingt gewesen zu sein. Die Menge der Sterbefälle in den 1680er, 1700er und 1710er Jahren trüge zudem als ursprünglicher Standard der höheren Bräunsdorfer Bevölkerungszahl nicht Rechnung. In Anlehnung an das Geburtigkeitsverhältnis der Untersuchungsorte sollte Bräunsdorf Ende des 17. Jahrhunderts eine bei etwa 100 Personen pro Kohorte liegende Normsterblichkeit aufgewiesen haben. Bereits im dritten Jahrzehnt wird das absolute Minimum des gesamten Untersuchungszeitraums markiert. Es folgt, in Begleitung der wachsenden Bevölkerung, eine anhaltende wellenförmige Zunahme der durchschnittlichen Kohortengröße. An einen stärkeren Niveausprung schließen regelmäßig Dezennien niedrigerer oder gleichartiger Werte an, bevor ein neuerlicher Spitzenwert erreicht wird. In der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts (1750/1760er) lösen zwei vorläu ge Sterblichkeitsgipfel einander erstmals unmittelbar ab. Insgesamt verharrte das Sterbeaufkommen zwischen 1720 und 1789 bzw. 1790 und 1849 jeweils auf einem Stand mit geringer Vermehrungsrate. Mit der fünften Dekade des 19. Jahrhunderts setzte ein ununterbrochener linearer Wachstumsprozess ein, der nach einem keineswegs sonderlich herausstechenden Schub (+29,50 %) in den 1880er Jahren seinen sowie den absoluten Höhepunkt (439) erklomm.
573
Gleiches steht für das Verhältnis der Werte des 17. und 18. Jahrhunderts anzunehmen. Laut Hochrechnung auf Basis der Relation zwischen Rußdorfer und Bräunsdorfer Zahlen 1641–1699 sowie der Rußdorfer Werte 1600–1640 sollten in Bräunsdorf 1600–1640 etwa 467 Personen zu Grabe getragen worden sein. Daraus ergäbe sich ein lokales Totenzahlenwachstum um lediglich 44,82 Prozent.
249
ENTWICKLUNG DER STERBEZAHLEN
Tabelle 26: Bräunsdorfer Sterbefälle nach Dekadenkohorten Beerdigungen (1640) 1641–1649
2
prozentualer Anteil1
Wachstum
62 (69) 55
1,15% (1,06 %) 1,02% (0,94 %)
54 86
1,00% (0,92 %) 1,59% (1,46 %)
–1,82 % 59,26 %
78
1,44% (1,33 %)
–9,30 %
97
1,79% (1,65 %)
24,36 %
74 77 130
1,37% (1,26 %) 1,43% (1,31 %) 2,41% (2,21 %)
–23,71 % 4,05 % 68,83 %
114 103
2,11% (1,94 %) 1,91% (1,75 %)
–12,31 % –9,65 %
139 178 149 143
2,57% (2,37 %) 3,29% (3,03 %) 2,76% (2,54 %) 2,65% (2,44 %)
34,95 % 28,06 % –16,29 % –4,03 %
195 215
3,61% (3,32 %) 3,98% (3,66 %)
36,36 % 10,26 %
216 195
4,00% (3,68 %) 3,61% (3,32 %)
0,47 % –9,72 %
205 233 297
3,79% (3,49 %) 4,31% (3,97 %) 5,50% (5,06 %)
5,13 % 13,66 % 27,47 %
309
5,72% (5,26 %)
4,04 %
339 439 426
6,27% (5,77 %) 8,12% (7,48 %) 7,88% (7,26 %)
9,71 % 29,50 % –2,96 %
1910–1919 1920–1929
303 240 169
5,61% (5,16 %) 4,44% (4,09 %) 3,13% (2,88 %)
–28,87 % –20,79 % –29,58 %
1930–1935
84
1,55% (1,43 %)
–50,30 %
1650–1659 1660–1669 1670–1679 1680–1689 1690–1699 1700–1709 1710–1719 1720–1729 1730–1739 1740–1749 1750–1759 1760–1769 1770–1779 1780–1789 1790–1799 1800–1809 1810–1819 1820–1829 1830–1839 1840–1849 1850–1859 1860–1869 1870–1879 1880–1889 1890–1899 1900–1909
1
Die Anteile am extrapolierten Gesamtwert von 5871 Sterbefällen sind kursiv gehalten.
2
Extrapolation durch entsprechende Addition des Durchschnittswertes der Kohorte.
–11,29 % (–20,29 %)2
Zwar starben 1890–1899 nur marginal weniger Bräunsdorfer ( – 2,96 %), doch setzte bereits damals eine kontinuierliche, das lokale Sterbegeschehen des frühen 20. Jahrhunderts bestimmende lineare Schrumpfung ein. Schon in den 1920er Jahren verzeichneten die Personenstandsregister trotz verdoppelter bis verdreifachter Bevölkerungszahl weniger Sterbefälle als 1790–1799. Die im Ganzen unstete Verlaufsform der Bräunsdorfer Mortalitätskurve offenbart en détail eine noch verstärkte jährliche Unruhe. Dennoch nehmen die Schwankungen prozentual keine größeren Ausmaße als in Rußdorf an. 50-prozentige Abweichungen
250
STERBLICHKEIT
Abbildung 34: Jährliche Bräunsdorfer Sterbezahlen und Leipziger Roggenpreisindex 1640–1799 Vgl. Rahlf, Getreidepreise.
Abbildung 35: Bräunsdorfer Sterbe- und Geburtenzahlen 1800–1935
von der Standardsterblichkeit treten regelmäßig auf und 100-prozentige sind ebenfalls häu g genug, um ihnen eine unbedingte Krisenindikation zuzusprechen. Die Bräunsdorfer Mortalitätsentwicklung durchwanderte drei in der vorstehenden Analyse bereits angedeutete Perioden. Auf die anfängliche, regionaltypisch agrargesellschaftliche demographische Statik wurde bereits mehrfach hingewiesen. Auch die Bräunsdorfer Totenzahlen tragen zunächst deren Merkmale. Der erste Kurvenabschnitt
ENTWICKLUNG DER STERBEZAHLEN
251
bis 1717, die Wanne des 17. Jahrhunderts, ist von dieser langfristig gesehen hohen quantitativen Stabilität gekennzeichnet. Unter zehn Sterbefälle verzeichneten die Beerdigungsregister in vier Fünfteln der primären 77 Jahre. Nur 14 Jahreswerte gingen mit leicht erhöhter Sterblichkeit von maximal 19 Toten darüber hinaus, wovon lediglich sechs (1641, 1666, 1676, 1685, 1695, 1697) mit „schwarzen Zacken“ überhaupt eine außergewöhnliche Ursache vermuten lassen. Eindeutig mittels exorbitant hoher Sterbezahlen auf Mortalitätskrisen hinweisende Ereignisse blieben in der ersten Periode aus und auch in den nachfolgenden eine Seltenheit. Mit dem zweiten, bis in die 1830er Jahre reichenden Abschnitt setzten sich zuerst jährliche Totenquantitäten zwischen zehn und 20 und seit den 1790ern zwischen 20 und 30 als Norm durch. Indizien krisenbedingter Übersterblichkeit liefern die einerseits signi kant aus dem Rahmen schlagenden, andererseits typischerweise von unterdurchschnittlichen Werten abgelösten und die gleichzeitige Geburtigkeit überragenden Sterbeaufkommen der Jahre 1733, 1741, 1751, 1767, 1772/1773, 1806, 1814 und 1822. Disparat zum Rußdorfer Beispiel zeigen die mutmaßlichen Mortalitätskrisen auch in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts keine relevante Wirkungsverringerung. Im Gegenteil stellt die Spitze 1806 sämtliche überlieferten Sterblichkeitsgipfel der vorangegangenen Jahre absolut wie relativ in den Schatten. Noch 1857 ließ ein ähnlich starker Ausschlag die zeitgleiche Geburtenzahl, wenngleich in geringerem Ausmaß und von einer höheren Standardmortalität ausgehend, hinter sich. Der nale Abschnitt der Bräunsdorfer Sterbekurve zeigt nach 1857 ebenfalls, so vorhanden, nurmehr verdeckte Krisen. Lediglich die kaum aus dem Rahmen schlagende Übersterblichkeit des Ersten Weltkrieges ging nochmals über das Geburtenaufkommen hinaus. Eine unter starken Schwankungen tendenziell glockenförmige Entwicklung ist das zentrale Charakteristikum der Industrialisierungszeit. In den 1840er Jahren beginnend, stieg das Sterbeaufkommen langfristig kontinuierlich bis zu einem Scheitelpunkt 1887, der dieselbe Höhe wie der Krisengipfel 1806 erreichte, an. Parallel nahm die seit Mitte des 18. Jahrhunderts durchschnittlich bei ca. 30–35 Toten pro 1000 Einwohnern jährlich liegende Mortalität in den 1880ern auf rund 41 zu. Nach einer bis zur Jahrhundertwende währenden relativen Stagnation der Totenzahl trotz Bevölkerungsvermehrung folgte eine rasche Regression derselben auf den Stand des 18. Jahrhunderts in den 1930er Jahren. Die Mortalitätsrate el auf einen historischen Tiefstand von rund sechs ab. Zusammenfassung Die Sterblichkeitsentwicklung nahm in Rußdorf und Bräunsdorf vergleichbare Formen an. Quantitative Differenzen sind in erster Linie natürliche Folge unterschiedlicher Populationsgrößen und divergierende Wachstumsfaktoren zeugen vor allem von ungleicher Bevölkerungsentwicklung. Übereinstimmungen herrschen hingegen in der grundsätzlichen Entwicklungstendenz bzw. hinsichtlich Ausgangslage und Endsituation sowie den durchlaufenen Phasen. Anfangs bestimmten typisch vorindustriell-agrarge-
252
STERBLICHKEIT
Abbildung 36: Sterbezahlen nach Dekaden für Sachsen, Rußdorf und Bräunsdorf im Vergleich
sellschaftlich hohe Mortalitätsraten (ca. 25), wiederkehrende Übersterblichkeitsphasen und eine relativ konstante Durchschnittsmortalität das Sterbegeschehen. Beide Ortschaften erlebten steigenden Güterzahlen und der daraus ableitbaren mutmaßlichen Zunahme der Einwohnerschaften zum Trotz, gleichwohl in Parallelität zur Natalitätsund Nuptialitätskurve, eine anhaltende Niveauminderung des durchschnittlichen Sterbeaufkommens im 17. Jahrhundert. Das 18. Jahrhundert und die erste Hälfte des 19. Jahrhunderts durchlief ein tendenziell lineares langfristiges Wachstum der Totenzahlen, beiderseits in Korrelation mit einer begleitenden, schrittweise vollzogenen Aufstockung zuerst der dörflichen Mittelschicht und nach 1800 auch der Unterschicht. Hierbei zeigt die altenburgische Exklave gemäß ihrer stärkeren Bevölkerungszunahme die höheren Vermehrungssätze. Dessen ungeachtet ist in beiden Orten Mitte des 18. Jahrhunderts ein Zuwachs der Sterbeziffer zu beobachten. Dieser geht, damit nochmals die enge Bindung von Mortalität und Natalität unterstreichend, mit einem synchronen Anstieg der Geburtenziffer sowie der Säuglingssterblichkeit konform. Signi kante Unterschiede der Graphen bleiben auf das 19. Jahrhundert beschränkt. Zum einen erlebte Rußdorf eine deutlich frühere Wirkungsabschwächung potentieller Mortalitätskrisen. „Schwarze Zacken“ büßen nach 1772 stark an Ausdruckskraft ein und treten seit den 1820ern nicht mehr auf. Dagegen entfällt deren herausragendes Exemplar in Bräunsdorf auf das Jahr 1806 und sind offene Krisen dort bis in die 1850er Jahre nachweisbar. Zum anderen durchlief die Rußdorfer Totenzahl zwischen der Jahrhundertmitte und ihrem Scheitelpunkt 1891 ein tendenziell exponentielles Wachstum, diejenige Bräunsdorfs bis 1887 lediglich ein lineares, beide unter Orientierung an der Natalitätskurve. Das ebenso unterschiedliche Bevölkerungswachstum der Industriali-
KRIEGE, HUNGER UND SEUCHEN
253
sierungsperiode nahm demgegenüber nur geringen Ein uss auf die differierenden Vermehrungssätze, wie der deutlich stärkere Anstieg der durchschnittlichen Mortalitätsrate in Rußdorf beweist. Von rund 52 bzw. 41 jährlichen Todesfällen pro 1000 Einwohnern auf ihrem Höhepunkt in den 1880er Jahren – auf ihren Scheitelpunkten war sie in beiden Fällen mit ca. 50 Promille tatsächlich nahezu identisch – el die Sterbeziffer hingegen bis zum Ende des Untersuchungszeitraums auf ein gleiches, historisch gesehen extrem niedriges Niveau von fünf Promille. Im Vergleich mit Sachsen zeigen die Untersuchungsorte seit 1830 eine tendenziell analoge Entwicklung. Jedoch begannen deren Mortalitätsraten ihren massiven Anstieg auf einem deutlich höheren Niveau und beschlossen ihre Regression auf merklich niedrigerem. Die sächsische Kurve fügt sich indes, wie Abbildung 36 zeigt, im Mittelfeld ein. Den Rußdorfer Fall kennzeichnet nach 1870 ein weitaus steilerer, den Bräunsdorfer ein sichtlich abge achter Verlauf. Typische Merkmale eines demographischen Übergangs während der Hochindustrialisierung tragen alle drei Graphen.
6.2 KRIEGE, HUNGER UND SEUCHEN Im vorangegangenen Kapitel konnte gezeigt werden, dass die Sterblichkeitsentwicklung der Untersuchungsorte insgesamt einem für die industrialisierenden europäischen Gesellschaften charakteristischen Muster folgte, dessen Kernelement ein Übergang der Bevölkerungsweisen im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert darstellte. Als nicht weniger typische Begleiterscheinung der Industrialisierungszeit gilt das Verschwinden offener Krisen. Letztlich auf breite Bevölkerungsteile tödlich wirkende Versorgungskrisen verloren in der agrarökonomischen Professionalisierung und der Beschleunigung des überregionalen Handels und Warenverkehrs ihre Angriffs äche, Krankheiten wichen – die Gewichtung der Faktoren ist in der Forschung umstritten – einem steigenden Lebensstandard, dem medizinisch-technischen Fortschritt und einer Hebung des allgemeinen Hygienestandards. 574 Um eine Einschätzung der Situation und des Wandels in den Untersuchungsorten zu ermöglichen, werden nachfolgend zunächst bekannte, im Limbacher Land nachgewiesene krisenhafte Ereignisse auf ihre Wirkung bzw. die festgestellten „schwarzen Zacken“ als Krisenindikatoren auf ihre Ursachen hin untersucht. Die drei maßgebenden Krisentypen und repressiven Populationsregulatoren nach Malthus nehmen potentiell unmittelbar positiv auf die Sterblichkeit Ein uss. In ihrer Letalität begünstigen sie sich gegenseitig, woraus einerseits kumuliert höhere Sterbezahlen folgern können, andererseits aber ihre Abgrenzbarkeit erschwert wird. Letztendlich entscheidet die Quellenqualität, ob Kausalketten zuverlässig rekonstruierbar sind. Erst eine 574
Vgl. Ehmer, Bevölkerungsgeschichte, S. 86ff.
254
STERBLICHKEIT
lokal nachgewiesene Ursache weist den einzelnen Todesfall einem auslösenden Ereignis zu und identi ziert kurzfristige krisenbedingte Übersterblichkeit mit letzter Sicherheit. Den geringsten direkt an den Todeszahlen ablesbaren Wirkungshorizont sollten Teuerungen und Subsistenzkrisen zeigen. Obgleich Hunger zu Recht Furcht gebiert, führt Mangelernährung selbst nur sehr langsam zum Tod. Wohl mündet unzureichender oder einseitiger Nahrungsmittelkonsum über einen längeren Zeitraum in immunologischer wie physiologischer Degeneration, wodurch Mangelerkrankungen und Infektionskrankheiten begünstigt werden. Bei schlechtem körperlichem Allgemeinzustand entfalten gar im Grunde harmlosere „Alltagskrankheiten“ eine tödliche Wirkung. Das typischerweise bei schweren Subsistenzkrisen erfolgende Ausweichen auf wenig nahrhafte, schlecht verdauliche, teils in großen Mengen schadende Ersatzmittel wie Wurzeln, Gräser, Kräuter, Blätter oder unkonventionelle Waldfrüchte bzw. der Genuss verdorbener oder im Regelfall für ungenießbar geltender „normaler“ Nahrung fördert die Infektionsgefahr zusätzlich. 575 Jean Meuvret attestierte 1946 nicht umsonst für die Region Dijon des späten 17. sowie des 18. Jahrhunderts unter anderem einen ursächlichen Zusammenhang zwischen Getreidepreis- und Mortalitätsentwicklung, der in simultanen Höchstständen seinen Ausdruck fand. 576 In den Untersuchungsorten ist eine derartige Korrespondenz gleichwohl nicht offensichtlich. Verglichen mit den Leipziger Roggenpreisen bis 1800 bzw. den Roßwitzern des 19. Jahrhunderts durchlief die Rußdorfer und Bräunsdorfer Sterblichkeit oft zeitlich divergierende Höhen und Tiefen. Wiederholt, zum Beispiel 1622, 1633, 1651, 1684, 1693, 1713, 1748, 1756, 1771, 1794, 1799 oder 1849, standen sich momentane Minima und Maxima konträr gegenüber. Exakt oder marginal um ein Jahr versetzt synchrone Preis- und Mortalitätsspitzen traten ähnlich häu g auf. (1638/39, 1675/1676, 1703/1704, 1719, 1724, 1740, 1762, 1771/1772, 1806, 1810, 1846/1847, 1855, 1862, 1873, 1891). Ein unmittelbarer Zusammenhang ist aus diesen Korrelationen nicht ableitbar, zumal nicht jede Teuerung in grassierender Not mündete, welche darüber hinaus nie ächendeckend mit einheitlicher Intensität wirkte. Unter den Jahren paralleler Höchststände sind wenige für das Untersuchungsgebiet und dessen nähere Umgebung überhaupt als von der Bevölkerung empfundene außergewöhnliche wirtschaftliche Notzeiten quellenmäßig belegt (1762, 1771/1772, 1806, 1810, 1855). Andere dort zweifelsohne spürbare Teuerungskrisen gingen mit keiner übermäßig vermehrten Sterblichkeit einher. Exemplarisch verzehnfachte sich der Getreidepreis Anfang der 1620er Jahre 577, der Kaufunger Gerichtsschreiber vermerkte 1624 unikalisch ein „theures Jahr“ 578 und eine daselbst ansässige 27-jährige gebrechliche Jungfrau wurde im Juni des Jahres faktisch 575 576 577 578
Vgl. Imhof, Einführung, S. 44. Vgl. Meuvret, Jean, Les crises de subsistances et la démographie de la France d'Ancien Régime, in: Population: revue bimestrielle de l'Institut National d'Études Démographiques, Bd. 1/1946, Paris 1946, S. 643–650, S. 646. Vgl. Callenberg, Falken, S. 7 u. Callenberg, Grumbach, S. 29. HstA-D, 12613 GB Penig, Nr. 10.
KRIEGE, HUNGER UND SEUCHEN
255
zu Tode geschlagen, „da sie auff der Sorge, brodt aus dem Backofen, den leuten nehmen wollen“ 579. Dennoch traf die damalige Not zumindest in Rußdorf offenbar nur ohnehin ökonomisch Benachteiligte, wie der Beerdigungseintrag des landbesitzlosen Schneiders Bartel Pödger nahelegt. Dieser „hat vor der Zeit das seine verschwendet, das er vor seinem ende, und zu letzt fast, in dieser schanden Teurung, hat noth und mangel leid müssen“. 580 Die örtliche Totenzahl war entsprechend 1620–1624 nur leicht (Ø 8,2) erhöht, die „schwarze Zacke“ 1620 von unmaßgeblicher Ausprägung. Zugleich zeigte die Geburtigkeit keinen von Imhof für Subsistenzkrisen als typisch bezeichneten Rückgang. 581 Mancher Mortalitätsgipfel el zwar temporal mit einer Getreidepreisspitze zusammen, entbehrte jedoch der eindeutig krisenhaften Konnotation. In der „theuren Zeit“ 582 1855 etwa ging eine moderat gesteigerte Sterblichkeit in Rußdorf mit ungewöhnlich gehäuften Nerven eber- und Abzehrungstodesfällen (21,82 %) einher. 583 Ebenso erlagen 25,93 Prozent der Rußdorfer 1846 bzw. 25 Prozent 1847 sowie 18,52 Prozent der Bräunsdorfer 1847 den beiden mustergültigen Mangelerkrankungen. Diverse Sterbejahrgänge in Zeiten vergleichsweise niedriger Roggenpreise wiesen allerdings, zusätzlich oft bar jeder Übersterblichkeit, ähnliche Akkumulationen auf. Zum Beispiel starben 1813 in Rußdorf sechs von 26 Einwohnern (23,08%) größtenteils am Nerven eber, forderte 1879 ein Typhusausbruch in Verbindung mit Schwindsucht 21 Opfer (29,17 %), gingen 34,29 Prozent der Toten 1844 an Nerven eber und Auszehrung zugrunde oder erlagen 30 Prozent der 1814 beerdigten Bräunsdorfer den klassischen Armutskrankheiten. Überdies be elen diese, auch bei punktuellem Auftreten, nicht ausschließlich Angehörige der unteren, mutmaßlich am ehesten materiellen Entbehrungen ausgesetzten Besitzstände. Prominentes Beispiel ist die Schankwirtsfamilie Sebastian in Rußdorf. Im Jahr des Gründerkrachs 1873 verschieden dort 70 Personen, davon 31,43 Prozent an auszehrenden Leiden und „typhösen Fiebern“. Der örtliche „Gasthofs- und Brauereibesitzer“ Wilhelm Theodor Sebastian starb am 17. September gut situiert, einen Tag später
579 580 581 582 583
EPA Kaufungen, KB I, Beerdigungen 1624, Nr. 14. Ebd., Beerdigungsregister Rußdorf 1624, Nr. 1. Vgl. Imhof, Lebensspanne, S. 202. EPA Rußdorf, KB III, Beerdigungen 1855, Nr. 17. Nerven eber ist mit Typhus gleichzusetzen, Abzehrung deutet unter anderem auf Tuberkulose hin. Beides sind typische Mangelkrankheiten. Vgl. Brockhaus, Friedrich Arnold, Bilder-Conversations-Lexikon für das deutsche Volk, Bd. 3, Leipzig 1839, S. 264 f.: „Als eine besondere Form dieser letztern Art von Nerven eber muß der ansteckende Typhus betrachtet werden, der in Kriegszeiten, wie überhaupt bei durch Theuerung, Mangel an der hinreichenden Menge von Nahrungsmitteln, allgemeine Nahrungslosigkeit, außerordentliche und eine große Menge Menschen gleichzeitig betreffende Drangsale, unter Begünstigung der davon abhängigen Trauer oder Muth- und Hoffnungslosigkeit einer ganzen Bevölkerung und vielleicht nach einer der Gesundheit ohnehin nachtheiligen Witterung ausbricht und bald zur weit verbreiteten, mörderischen Epidemie wird“. – Vgl. Meyers Großes Konversations-Lexikon, Bd. 19, Leipzig 1909, S. 787: „Durch ungünstige Lebensverhältnisse (mangelhafte Ernährung, erschöpfende Krankheiten, Zuckerharnruhr) kann eine Disposition zur T[uberkulose] im Laufe des Lebens erworben werden.“
256
STERBLICHKEIT
folgte dessen fünfjährige Tochter und weitere zehn Tage darauf erlag auch seine betagte Mutter dem Typhus. 584 Sofern sie durch Schriftzeugnisse nicht ausdrücklich ausgewiesen wurden, lassen sich Subsistenzkrisen als gesamtgesellschaftliche Ereignisse daher mitnichten mikroregional anhand von Indizienbeweisen über die Mortalitätsratenentwicklung und Lebensmittelpreiskurven identi zieren. Weder gleichzeitige Sterblichkeits- und Preisspitzen noch gehäuftes Auftreten der nachweislich alle Bevölkerungsschichten befallenden ausgewiesenen Mangelerkrankungen korrelierten in den betrachteten Ortschaften zwingend mit systemischen Notständen. Sicherlich traten spürbare Teuerungen und Phasen des Hungers mindestens bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts relativ regelmäßig auf und unzweifelhaft spiegeln darin wurzelnde erhöhte Sterbeziffern nie das volle Ausmaß einer historischen Krise. Die enthaltenen eindeutigen Opfer repräsentieren lediglich ein Mindestmaß an Betroffenen. Werden die bekannten, in der Region wirkenden Teuerungskrisen hinsichtlich ihrer unmittelbaren und mittelbaren Letalität verglichen, lässt sich dennoch eine klare Entwicklung erkennen. Die vorgenannte massive Preissteigerung Anfang der 1620er Jahre war im Limbacher Land zweifelsohne spürbar, rief aber offensichtlich keine vermehrte Sterblichkeit hervor. Zwar verzeichneten die Kirchbücher Rußdorfs und benachbarter Orte 1620 am Beginn der kontinuierlichen Teuerung moderat erhöhte Totenzahlen, doch stand die Mortalität in den Folgejahren trotz weiter zunehmender Lebensmittelpreise deutlich dahinter zurück. Bei einer damaligen Population von höchstens 200– 2 250 Personen und einer Bevölkerungsdichte von ca. 42,55-53,19 Einwohnern /km gelang es der zum damaligen Zeitpunkt überwiegend Subsistenzwirtschaft betreibenden, bäuerlich und kleinbäuerlich geprägten Rußdorfer Bevölkerung offensichtlich, die Folgen der Teuerungskrise aus eigener Kraft zu kompensieren. Die oben zitierte, den Schneider Pödger betreffende Randnotiz fügt sich stimmig in dieses Bild ein. Eine gänzlich andere Geschichte erzählen die Beerdigungseinträge der schweren Subsistenzkrise 1769–1772. Die Rußdorfer Flur bot nun bereits ca. 120,21 Personen / 2 km Lebensraum. Obwohl Feld- und Viehwirtschaft noch immer den Lebensunterhalt vieler Einwohner erbrachten bzw. zumindest in Teilen sicherten, spielte gewerbliche Arbeit vor allem im Textilbereich mittlerweile für die Mehrheit mindestens nebenberuflich eine Rolle. Klassische Bauerngüter, die schon 1624 nur noch zwischen zwei Dritteln und der Hälfte aller Hofstellen ausgemacht hatten, waren in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts quantitativ eindeutig in den Hintergrund getreten (Kap. 8.1). Einfache Häuser ohne dem Selbstversorgungsanspruch genügendes Ackerland begannen das Ortsbild zu dominieren. Deren hauptberuflich gewerbetreibende Besitzer hatten vermutlich allgemein von der guten Konjunktur Mitte der 1760er Jahre pro tiert, mussten aber desgleichen die beginnende Absatz aute 1769 in ähnlichem Umfang mittragen. Als ab Herbst 584
Vgl. EPA Rußdorf, KB XIII, Beerdigungen 1873, Nr. 47, 48 u. 52.
KRIEGE, HUNGER UND SEUCHEN
257
desselben Jahres die Erträge ob schlechter Witterungsverhältnisse über mehrere Ernteperioden kümmerlich aus elen oder vollständig ausblieben, litten unzweifelhaft zuvörderst die nicht in der Nahrungsmittelproduktion beschäftigten oder eine volle Hofstelle ihr Eigen nennenden Bevölkerungsteile, d. h. die untere Mittel- und die Unterschicht. Trotzdem berichten die Quellen des Untersuchungsgebiets bis einschließlich 1771 weder von Hunger und Armut noch unterlag die Mortalität irregulären Schwankungen. Allem Anschein nach griffen wie schon Anfang der 1620er Schutzmechanismen, die das Überleben auch in prekären Verhältnissen gestatteten. Dazu mochten neben schlichter individueller Konsumbeschränkung und außergewöhnlichem Viktualienzukauf aus ersparten oder geliehenen Mitteln kurzfristige Anbau ächenerweiterungen im privaten oder gemeineigenen Rahmen sowie staatlich organisierte Naturalienimporte zählen. Anspann-, Hand- und selbst Gartengutsbesitzer sollten zudem ganz im malthusianischen Sinne normalerweise befähigt gewesen sein, temporal begrenzte Ernteausfälle eigenständig zu überstehen. Als auch die niederländischen Getreidevorräte 1771 zur Neige gingen, die Einfuhren stagnierten, die Preise für Lebensmittel weiter exorbitant stiegen, Handwerksprodukte hingegen nahezu unverkäuflich wurden, die Nachfrage nach Lohnarbeit gegen null tendierte und die Getreideernten abermals hinter dem Bedarf zurückblieben, erreichte der Notstand 1772 seinen Gipfel. Die altenburgische Exklave Rußdorf, zusätzlich von der umgebenden Landes- und Zollgrenze benachteiligt, traf die Subsistenzkrise ausgesprochen hart. „Wegen der großen Theuerung sind dieses Jahr viele aus Mangel und Hunger, sonderlich auf der obern und untern Gaße, gestorben, und wegen des großen Armuths und Elends umsonst beerdiget worden; viele Häuser sind leer stehen geblieben.“ 585 Die in dieser Zeit normalerweise kaum über 20 hinausgehende jährliche Totenzahl stieg auf 70 an, was einer Mortalität von ca. 123,89 entsprach. Ausdrücklich in Hunger, Armut und Elend verstarben 30 Personen (42,86%). Weitere sieben (10 %) standen zu einem eindeutig identi zierten Opfer in enger verwandtschaftlicher Beziehung. Lediglich drei Angehörige der bäuerlichen und ebenso viele der Hausgenossenschicht zählten in die von Häuslern dominierte Teilmenge. Überhaupt waren Bauern, Gärtner und Einwohner unter allen Toten 1772 deutlich unterrepräsentiert (27,14%). Letztere stellten um 1770 nur einen sehr geringen Teil der Dorfbevölkerung (ca. 4,78%). Ihr marginaler Anteil 1772 vermag daher ebenso wenig zu verwundern wie die Tatsache, dass diese sämtlich unter den eindeutigen Krisenopfern vertreten sind. Hingegen fallen die drei bäuerlichen Personen auf den ersten Blick aus dem Rahmen. Bei näherer Betrachtung der jeweiligen individuellen Situation relativiert sich der Eindruck jedoch. Die 19-jährige Eva Maria Engelmann entstammte zwar einer bäuerlichen Familie, allerdings hatte der Vater das Gut 1771 kurz vor seinem Tod veräußert und war die Mutter mit den übrigen Kindern noch 1772 nach Clausnitz verzo585
EPA Rußdorf, KB I, Beerdigungen 1772, Notiz.
258
STERBLICHKEIT
gen. Engelmann blieb allein in ihrem Geburtsort, vermutlich in Diensten, zurück. Dem Hunger vermochte sie dadurch nicht zu ent iehen. Auch die Brüder Samuel (* 1743) und Michael Esche (* 1747) lebten vaterlos, bewirtschafteten aber gemeinsam mit ihrer Mutter und den Geschwistern das väterliche Gut, um es dem 1755 geborenen Kurerben zu erhalten. Im März 1772 fuhren die Gebrüder „nach Merseburg, nach Getraide“. Auf der Reise be el sie ein „hitziges Fieber“, in Anbetracht des langen prämortalen dreiwöchigen Siechtums einschließlich Sinnesverwirrung und Bewusstlosigkeit des Älteren womöglich Typhus. 586 Absolute Armut lag hier sicherlich nicht vor. Die Hauptlast des Versorgungsnotstands trugen in Rußdorf die Hausbesitzer, deren einige ohne Vorerkrankung nach andauernder Mangelernährung plötzlich vor Erschöpfung hinwegstarben. Mancher sah sich zur Bettelei gezwungen: „Der alte Hanß Dölling Häusler u. Handarbeiter allhier gehet in der grosen Theuerung nach dem Brode nach Markersdorf bei Wechselburg [ca. 13 Kilometer Entfernung], als er vor einer Thüre kniet, fällt er um, wird durch die Gerichten in ein Hauß gebracht, wo er curtz darauf verschieden.“ Fünf Monate danach starb im Juli seine etwa 30-jährige ledige Tochter „in gröstem Elend, Hunger u. Armuth“, der fünfjährige Sohn zweiter Ehe überlebte den Oktober des Jahres nicht. Eine infolge guter Ernten Ende 1772 eintretende Verbesserung der Situation vermochte auch Döllings Witwe nicht mehr zu retten. Sie starb im April 1773 in „äusersten Elend u. Armuth, nachdem sie etliche Wochen gelegen, u. Niemand zu ihr gegangen“. Ihre einzige, ledige Schwester war der Krise ebenfalls im Oktober 1772 zum Opfer gefallen, der Vater im April „nach langem Lager [...] in gröstem Elend“ gestorben. Nur ein Kind der Familie überlebte die Subsistenzkrise. 587 Andere Häusler trieb der Mangel zum Diebstahl. Wurden sie gefasst und arretiert, verschlechterte sich die Situation ihrer Angehörigen noch: „Johann Gottfried 2ter Sohn Johann Benjamin Streubels Häuslers allhier starb in Abwesenheit des Vaters der Diebstahls halber sich auf der Leuchtenburg befand, vor Hunger und Elend, den 8ten Mart.“ 588 In Gemeinschaft seiner beiden ältesten, 24- und 18-jährigen Söhne saß zur selben Zeit auch der Häusler und Leineweber Christoph Landgraf Diebstahls halber in dem sachsenaltenburgischen Zuchthaus ein. Während die beiden Brüder nach halbjährigem Freiheitsentzug entlassen wurden, verstarb der Vater in Haft. Dessen Frau vermochte auf sich gestellt nicht, die Versorgung der übrigen vier Sprösslinge zu gewährleisten. Im Alter von zwei bis zehn Jahren gingen sie zwischen Februar und Mai sämtlich „in gröstem Elende“ 589 zugrunde, obwohl Kinder insgesamt einen erstaunlich kleinen Teil der Toten 1772 generaliter (21,43%) wie auch der gesicherten Krisenopfer im Speziellen (24,32 %) ausmachten.
586 587 588 589
Vgl. ebd., Nr. 6 u. 60. Ebd., Beerdigungen 1772, Nr. 3, 37, 64 u. Beerdigungen 1773, Nr. 16. Ebd., Beerdigungen 1772, Nr. 7. Ebd., Nr. 24.
KRIEGE, HUNGER UND SEUCHEN
259
Ein weiteres Gesicht des grassierenden Hungers stellte der Inwohner Gottlieb Schröter (* 1740) vor, der „in groser Armuth“ im Mai 1772 doch an Nahrung gekommen war und des Maßhaltens offenbar unfähig ironischerweise an „Überladung des Magens in Eßen“ dahinschied. 590 Ohne Frage war die Subsistenzkrise der frühen 1770er Jahre überregional gleichermaßen zu spüren. Trotzdem bestanden signi kante Unterschiede im Wirkungsgrad selbst zwischen benachbarten Ortschaften, wie der Blick auf die Bräunsdorfer Situation beweist. Mit gleicher Symptomatik, Diebereien zumindest der Überlieferung nach exklusive, stand die dort durchaus vorhandene Übersterblichkeit 1772/1773 mit einer Mortalitätsrate von rund 46 sichtlich hinter der Rußdorfer zurück. Eindeutige Hinweise auf die Folgen von Nahrungsmittelmangel und extremer Teuerung sind rar gesät. Der Häusler und Tischler Christian Petzold wanderte, „da er mit einer seiner kleinen Töchter betteln gegangen“ 591, bis ins ca. 65 Kilometer entfernte Krögis bei Meißen, um dort im Juni 1772 zu sterben. Weitere Todesfälle blieben in seiner Familie dennoch aus. Aus ungeklärter Ursache kam der Gärtner und Leineweber Andreas Ludewig auf Tauschaer Flur (ca. 6,5 Kilometer Entfernung) zu Tode. Dessen Familie war aus Armut nicht in der Lage, die Leiche „auszulösen“ und nach Bräunsdorf überführen zu lassen. Hunger galt ihnen allerdings nicht als Grundproblem. Vielmehr hatte ein Feuer im Januar des Jahres die Gebäude des Ludewig'schen Gartengutes in Asche gelegt, weswegen der Hausvater Anfang Februar letztendlich ohne Wiederkehr „nach Göppersdorf gegangen um sich ein Stämmgen Holz zu erbitten“ 592. Die Witwe überlebte ihn zwar nur um fünf Monate, erlag aber statt Unterernährung einem Gebärmuttervorfall. Einzig der Tod des einjährigen Enkels im Juli 1772 könnte unter Umständen direkt der Versorgungskrise in Kombination mit dem Brandunglück geschuldet sein. Die junge Hausgenossenfamilie des ältesten Ludewig'schen Sohnes war ebenfalls Opfer des Feuers geworden, fand danach allerdings bei den bäuerlichen Schwiegereltern gewissermaßen in verbesserten Verhältnissen Unterkunft. Für sich genommen erlauben die wenigen Bräunsdorfer Schriftzeugnisse freilich kaum Rückschlüsse auf die tatsächliche Intensität der Krise vor Ort. Lässt das Rußdorfer Beerdigungsregister 1772 die Umstände kaum eines Todesfalls im Unklaren, macht das Bräunsdorfer in lediglich sieben Fällen meist vage Andeutungen zur Todesursache. Letzteres war im Limbacher Land des späten 18. Jahrhundert eher die Norm denn eine Ausnahme. Zum Beispiel bleiben sowohl die Mittelfrohnaer, Niederfrohnaer und Kaufunger Register bei simultan relativ moderater Übersterblichkeit 1772 ebenso Todesursachen schuldig wie die Kirchbücher Limbachs, wo eine mit Rußdorf vergleichbare temporäre Übersterblichkeit vorherrschte.
590 591 592
Ebd., Nr. 32. EPA Bräunsdorf, KB I, Beerdigungen 1772, Nr. 11. Ebd., Nr. 1.
260
STERBLICHKEIT
Differenzen zwischen den Fallbeispielen treten auch in weiteren Aspekten zu Tage. Die in Rußdorf beobachtbare unverhältnismäßige Überrepräsentation des Häusler- und Einwohnerstandes unter den Toten des Krisenjahres war im benachbarten Bräunsdorf nicht gegeben (44%) und auch das quantitative Untergewicht unkon rmierter Kinder (36 %) erscheint weniger eklatant. Jene Unterschiede inklusive der dezisiv auseinandergehenden Mortalitätsraten liegen mit hoher Wahrscheinlichkeit unter anderem in struk2 turellen Disparitäten begründet. Mit ca. 71,01 Personen /km wies das kursächsische Dorf gegenüber der sachsen-altenburgischen Exklave eine um 40,93 Prozent niedrigere Bevölkerungsdichte auf. Des Weiteren existierte in beiden Ortschaften eine vergleichbare Zahl an Bauern und Gärtnern, dieweil 42 Bräunsdorfer Häusler in 83 Rußdorfer Hausbesitzern ein Pendant fanden. Während Pferde- und Handbauern sowie selbst Gärtner offenbar noch nach mehreren Missernten in der Lage waren, ihre Familien bzw. Haushaltsmitglieder von den eigenen Erträgen oder mithilfe von Lebensmittelzukäufen hinreichend zu versorgen, wobei Verschuldungen insbesondere durch rückständige Abgaben nicht ausblieben, litten im ruralen Raum in erster Linie die Kleinststellenbesitzer der unteren Mittelschicht. Ohne eigenes Ackerland vermochten sie nicht einmal auf eine schlechte eigene Ernte zurückzugreifen. Entsprechend rasch schrumpften etwaige Ersparnisse durch die notwendigen, immer kostspieligeren Viktualienkäufe zusammen. Kredite wurden auf dem Höhepunkt der Subsistenzkrise sicherlich ohnehin spärlich und zu schlechten Konditionen vergeben und blieben den zusätzlich unter der Stockung des Handwerks leidenden Häuslern weitgehend versperrt. Wer nahe Verwandte unter den höheren Besitzständen wusste, mochte in hoher Not auf deren Unterstützung zählen können, ebenso wie die im 18. Jahrhundert quantitativ eine untergeordnete Stellung einnehmenden Hausgenossen, sofern sie im bäuerlichen Milieu mitwohnten, vermutlich oft von der wirtschaftlichen Stärke ihrer Hausherrn pro tierten. Die darin angedeutete positive Verbindung zwischen Häuslerzahl, dörflicher Bevölkerungsdichte und Mortalitätsrate auf dem Höhepunkt der Krise weist zudem auf kommunale, bis zu einem gewissen Besiedlungsgrad erfolgreiche Bewältigungsstrategien hin. Bräunsdorf hätte demnach 1772 den demographischen Grenzwert noch unterschritten, Rußdorf dagegen deutlich übertreten. Folglich starben die Bräunsdorfer schichten- und altersübergreifend relativ zufällig punktuell. Wen die mehrjährig anhaltende Versorgungskrise explizit forderte, der war durch außergewöhnliche Lebensumstände einem höheren Sterberisiko unterworfen. Prinzipiell folgte die Rußdorfer Situation demselben Muster, zeigte aber ein fortgeschrittenes Wirkungsstadium der Krise, in dem letztlich letaler Hunger bereits auf abgesichertere Bevölkerungsgruppen übergriff und vom individuellen Zugriff auf Familien bzw. Hausgemeinschaften abzurücken begann. Eine Missernte vermochten traditionelle Agrarwirtschaft oder protoindustrielle Dorfökonomie ohne sonderliche Opferzahlen bei leichter gesamtgesellschaftlicher Übersterblichkeit durch Jugend, Alter, Krankheit oder ausnehmend schlechte Leben-
KRIEGE, HUNGER UND SEUCHEN
261
sumstände gefährdeter Gruppen im Limbacher Land abzufedern. Jede weitere direkt angeschlossene Periode signi kant unterdurchschnittlicher Ernteerträge aller Standardkulturen potenzierte den Kriseneffekt freilich und demontierte sukzessive alle geltenden sozioökonomischen Schutzmechanismen vom unteren Ende der Gesellschaft ausgehend. Generell gilt die Regel, je wirkungsvoller die Absicherungen, desto später das Einsetzen der Krisensterblichkeit. In ihrer nalen Ausprägung stellte die Subsistenzkrise 1772 innerhalb des Untersuchungszeitraums ein Unikum dar, in ihrer Wirkungsweise stand sie klar in Tradition früherer agrarwirtschaftlicher Notstände. Wenn spätere Teuerungen ihr Ausmaß nicht kopierten, währten sie schlicht zu kurz. Eine 1804 beginnende, Mitte 1805 den Gipfel überschreitende Lebensmittelpreissteigerung (auf den Scheffel Korn zwischen Mai und August von sieben auf 17 Taler) motivierte laut Niederschrift eines Wittgensdorfer Chronisten „große Hungersnoth“ 593, ging in Rußdorf jedoch lediglich mit einer Mortalität von etwa 40 sowie einer Bräunsdorfer von etwa 25,68 einher. Das „Jahr ohne Sommer“ 1816 forderte einschließlich der vielerorts bis 1817 folgenden Missernten und Teuerungen 594 keine erhöhten Sterbeziffern in den betrachteten Dörfern heraus. Auch der nachweislich mindestens für arme Bevölkerungsteile spürbare Notstand 1855 war von zu geringer Dauer, um Hungersterblichkeit auszulösen. Trotz im Anschluss über 80 Jahre fortschreitender Bevölkerungsverdichtung in Rußdorf und Bräunsdorf, was theoretisch nach altem Muster die Anfälligkeit für systemische Krisen erhöhte, sind Hinweise auf Hungersnöte ab der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts dort vergeblich zu suchen. Die im 18. Jahrhundert überregional einsetzende Intensivierung und Professionalisierung der Landwirtschaft, anfangs mittels modi zierter oder neuer Anbau- bzw. Produktionsmethoden, in Begleitung der industriellen Entwicklung zusätzlich zunehmend durch Mechanisierung von Arbeitsabläufen sowie seit dem späten 19. Jahrhundert unter Verwendung chemischen Düngers etc., passte die Erträge dem Bevölkerungswachstum an. Da die starke demographische Zunahme in Sachsen während der Industrialisierungszeit die Steigerungsrate der inländischen Agrarproduktion fortwährend überragte, wurden traditionell Notzeiten vorbehaltene Importe von Grundnahrungsmitteln alltäglich. Gleichzeitig überregional im Ausbau be ndliche Verkehrsnetze, die Einführung schnellerer, größere Mengen Handelsgüter fassender und relativ witterungsunabhängig einsetzbarer moderner Transportmittel reduzierten Transfer- sowie mittelbar Produktionskosten und ließen die Preise selbst weitgehandelter Waren fallen. Sich verkürzende Transportzeiten beschleunigten Waren- wie Geldströme und gestatteten den Vertrieb verderblicher Konsumgüter in immer größeren Dimensionen. Regionale Produktionsausfälle waren so zunehmend leichter
593 594
Heimatstube Wittgensdorf, Riedel-Richtersche Chronik, 1790–1844, S. 29. Vgl. Krämer, Daniel, „Menschen grasten nun mit dem Vieh“. Die letzte grosse Hungerkrise der Schweiz 1816/17, Basel 2015. – Vgl. Ehmer, Krisen, S. 902.
262
STERBLICHKEIT
kompensierbar. Gesamtgesellschaftliche Versorgungskrisen alten Typs gehörten daher in Sachsen spätestens seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts der Vergangenheit an. Finanzkrisen füllten die Lücke aus, generierten jedoch dank relativ beständiger Verfügbarkeit grundlegender Nahrungsmittel und in Notzeiten, zum Beispiel während der Großen In ation und der Weltwirtschaftskrise 1929, einspringender kommunaler und staatlicher Schutzmechanismen wie der Armenspeisung, kaum noch Hungertote. Hatte der dritte apokalyptische Reiter in Rußdorf und Bräunsdorf nach 1800 seinen Schrecken vorerst dahingehend weitgehend eingebüßt, dass der Hunger nurmehr theoretisch im kollektiven und kulturellen Bewusstsein verharrte sowie nach 1945 in ganz Europa bis in die Gegenwart nahezu umfänglich aus der individuellen Lebenswirklichkeit verschwand, behielten militärische Kon ikte ihre Macht als positive demographische Hemmnisse. Mehr noch nahm die unmittelbare Kriegsmortalität in den Untersuchungsorten im 20. Jahrhundert die größten absoluten Ausmaße an, obwohl die dorfgesellschaftliche Involvierung situationsbedingt zurückging. Im Laufe des Dreißigjährigen Krieges als erster in der Lokalüberlieferung aufscheinender Auseinandersetzung litt das Limbacher Land unter mehrfachen Truppendurchzügen, Einquartierungen und möglicherweise Plünderungen. Direkten Kampfhandlungen wurde die Bevölkerung nicht unterworfen, dennoch blieben die 1630er und frühen 1640er Jahre als unsichere Zeit in Erinnerung. Soldaten unterschiedlicher Nationalität – vorrangig Schweden, Kroaten und Böhmen – hausten in der Region, forderten Versorgungsleistungen ein und brachten Krankheiten. Insbesondere die unter kaiserlichem Banner kämpfenden kroatischen Söldner trieben 1632/1634 schlimme Wirtschaft. Im August 1633 wurde der 39-jährige ledige Wirtsknecht Gregor Frischman in Rußdorf „von Soldaten niedergehawen“ 595, nachdem der örtliche Anspanner und Gerichtsschöppe Blasius Herolt wenige Tage zuvor von Kroaten verschleppt und in deren Händen gestorben war. 596 Ende 1634 erlag auch der ledige Rußdorfer Joannes Rudloff den Schussverletzungen, die ihm ein „Crabate“ beigebracht hatte. 597 Die schwedische Besetzung der schönburgischen Lande 1637 verhieß keine Besserung. Etwa ermordeten Soldaten 1641 einen Sohn des erwähnten Schöppen Herolt. 598 Weitere mehr oder minder direkte Opfer der Kriegsjahre 1618–1648 sind aus den betrachteten Dörfern jedoch nicht bekannt. Ebenso wenig berichten die lokalen Schriftzeugnisse von einheimischen Kriegsteilnehmern oder gar im Kampf Gefallenen. Spätere militärische Kon ikte, wie der Große Nordische Krieg, die Schlesischen Kriege, der Bayerische Erbfolgekrieg, die Koalitionskriege oder die Reichseinigungskriege nahmen unmittelbar keinerlei Ein uss auf die Rußdorfer und Bräunsdorfer Sterb-
595 596 597 598
EPA Kaufungen, KB I, Beerdigungsregister Rußdorf 1633, Nr. 11. Ebd., Nr. 10. Ebd., Beerdigungsregister Rußdorf 1634, Nr. 13. Ebd., Beerdigungsregister Rußdorf 1641, Nr. 4.
KRIEGE, HUNGER UND SEUCHEN
263
lichkeit. Beide Dörfer wurden nie von Kampfhandlungen und nur selten von Truppenbewegungen tangiert. Belegt sind lediglich für den Januar 1795 im Rahmen des ersten Koalitionskriegs in Bräunsdorf eingerückte „Soldaten, die zum Reichscontingente marschirten“ 599 sowie ein Durchzug französischer Soldaten von Dresden in österreichische Gefangenschaft Ende 1813 in Rußdorf: „Am 4. Dec. 1813 starb allhier ein französischer Soldat der zum Corps des Marschalls St. Cyr gehörte, und nach der Capitulation von Dresden auf dem Marsch nach Böhmen in die Gefangenschaft hier einquartirt war.“ 600 Außerdem berichten die Bräunsdorfer Kirchbücher im Januar 1814 von einem dort gestorbenen österreichischen Soldaten 601. Korrespondierende Sterblichkeitsanstiege werden nicht ersichtlich. Vereinzelte Nachweise den Dorfschaften entstammender Soldaten schließen desgleichen vor 1914 in den seltensten Fällen Gefallenenmeldungen ein. Der Wolkenburger Schäfersohn Johann Michael Kunze war 1757 zum Dienst in der preußischen Armee zwangsverp ichtet und später „bei Mazen von den Oesterreichern gefangen worden“, hatte „sich selbsten aber ranzioniert“ und erlag noch vor Ende des Siebenjährigen Krieges 1762 in Rußdorf bei seinem Bruder der Schwindsucht. 602 Dieses Leiden forderte 1780 auch das Leben des 37-jährigen Rußdorfers Samuel Heinzig, welcher noch vor Kriegsende zu den preußischen Truppen gekommen und „in die 15 Jahr“ bei ihnen geblieben war. 603 Nicht viel mehr Einheimische nahmen aktiv an den Napoleonischen Kriegen teil. Der 1786 geborene Bräunsdorfer Gärtnersohn Johann Samuel Frischmann verp ichtete sich 1803 freiwillig auf 18 Jahre zum Kriegsdienst, kehrte aber „aus dem westreinhischen Feldzug“ 1814 nicht wieder. Zwei Jahre zuvor verlor sich die Spur des Bauernsohns Johann Gottfried Bretschneider im Russlandfeldzug. 604 Einer seiner Halbbrüder, der 1799 als „Mousquetier [...] unterm Commando des Hn. Obristen von Bieala stehenden Regimente und des Herrrn Hauptmanns von Belzig dabei habenden Compagnie“ 605 diente, lebte dagegen bis 1860 in Bräunsdorf. Desgleichen war der einzige überlieferte Rußdorfer Soldat der napoleonischen Zeit, Johann Samuel Schüßler (1788–1864), „einer der wenigen, welche 1809, da die Tyroler ein ganzes Battallion Altenburger oberhalb Matrei verschütteten, ist errettet worden“ 606 und heimkehrte. Strohbach führt in seiner Ortschronik in den 1930er Jahren neun Teilnehmer der Reichseinigungskriege, insbesondere des Deutsch-Französischen Krieges 1870/1871 auf 599 600 601 602 603 604 605 606
EPA Bräunsdorf, KB I, Trauungen 1795, Nr. 1. EPA Rußdorf, KB II, Beerdigungen 1813, Notiz. Vgl. EPA Bräunsdorf, KB II, Beerdigungen 1813, Nr. 24. EPA Rußdorf, KB I, Beerdigungen 1762, Nr. 19. Ebd., Trauungen 1777, Nr. 6. SächsStAL, 20578 Rittergut Wolkenburg mit Kaufungen, Nr. 245: Verzeichniss der aus den leztern Feldzügen nicht zurückgekehrten König. Sächß. Militair-Personen. 1822. EPA Bräunsdorf, KB II: Kirchbuch 1796–1828, Taufen 1799, Nr. 32. EPA Rußdorf, KB XIV, Beerdigungen 1864, Nr. 34.
264
STERBLICHKEIT
und suggeriert dadurch eine im Vergleich zu vorangegangenen Kriegsereignissen deutlich erhöhte Involvierung der lokalen Bevölkerung. Tatsächlich mögen der im Königreich Sachsen wie im Herzogtum Sachsen-Altenburg damals geltenden, allerdings nur selektiv angewandten allgemeinen Wehrp icht geschuldet mehr Einheimische als je zuvor an den Kämpfen beteiligt gewesen sein, doch bleibt die Rußdorfer Überlieferung deren Namen schuldig. Von den bekannten Bräunsdorfer Soldaten hatten vier im Deutschen Bruderkrieg 1866 gestanden und teils verletzt überlebt. Unter diesen nahmen Carl Gottlob Bernhard Franke und Ferdinand Robert Frischmann, „der letzte Veteran von 1870/71“ 607, zusätzlich am Deutsch-Französischen Krieg teil. Im Feld blieben ein aus Langenchursdorf stammender, in Bräunsdorf ansässiger Schneider 608 sowie der Bauernsohn Johann Herrmann Riedel, welcher auf dem Marsch an Typhus erkrankte und daran im Karlsruher Lazarett 1870 verstarb. 609 Keiner der innereuropäischen Kon ikte des 16.–19. Jahrhunderts beein usste die Mortalitätsraten der betrachteten Dörfer nachweislich in signi kantem Maße. Dabei spielte es keine Rolle, ob Truppen längere Zeit vor Ort quartierten bzw. gar marodierend Angst und Schrecken verbreiteten wie im Dreißigjährigen Krieg, Soldaten nur kurzzeitig verweilten bzw. die Dorf uren lediglich durchzogen und vereinzelt Einheimische ins Kampfgeschehen aktiv eingriffen wie in der napoleonischen Zeit oder ob die Abwesenheit einiger Wehrp ichtiger einzige unmittelbare Auswirkung eines Kon ikts auf die örtliche Bevölkerung blieb. Der Erste Weltkrieg, auf vielen Ebenen ein Weltenbrand bis dahin ungekannter Dimensionen, zeigte auch hinsichtlich seiner demographischen Folgen eine neue Qualität. Obwohl das Limbacher Land von den Kriegsschauplätzen weit entfernt lag und weder von feindlichen noch von verbündeten Truppenverbänden heimgesucht wurde, hinterließ allein das Sterben auf den Schlachtfeldern einen permanenten, unverkennbaren demographischen Fingerabdruck. Zweierlei Ursachen bedingten dies vordergründig. Einerseits erfasste die industrielle Entwicklung des 19. Jahrhunderts unter anderem das Kriegshandwerk, trug zur weiteren Professionalisierung und Ef zienzsteigerung des Tötens bei, ermöglichte erst langwierige und oft militärisch gesehen ergebnislose Materialschlachten und verursachte, gepaart mit eher traditionellen, starren Arten der Kriegsführung, immense Opferzahlen. Auf der anderen Seite mobilisierte der in erster Linie gesamteuropäische Kon ikt bis dahin ungesehene Quantitäten aktiver Kriegsteilnehmer. Anfangs zogen Heere kriegsbegeisterter Männer mit idealtypisch heroisch verklärten Kriegsbildern vor Augen und ideologisch radikalisiert freiwillig in die Schlacht, später akquirierte die allgemeine Wehrp icht weniger enthusiastische verbliebene kampffähige Bevölkerungsteile für den Stellungskrieg. Von 86 Bräunsdorfer Soldaten elen 45 (52,33%). Bezogen auf die bekannte Einwohnerzahl 1910 (1352)
607 608 609
EPA Bräunsdorf, KB X: Beerdigungsregister 1920–1991, Beerdigungen 1936, Nr. 7. Vgl. Strohbach, Dorfbuch, S. 111. Vgl. EPA Bräunsdorf, KB VI: Beerdigungsregister 1853–1891, Beerdigungen 1871, zw. Nr. 9 u. 10.
KRIEGE, HUNGER UND SEUCHEN
265
vereinnahmte der Erste Weltkrieg damit 6,36 Prozent der Dorfbevölkerung und tötete 3,33 Prozent. Dennoch erreichte die höchste Mortalitätsrate dieser Phase 1915 nur 28,11 Promille und stellten die Gefallenen 32,85 Prozent aller Verstorbenen des Zeitraums. Ebenso entsprachen die 142 im Feld gebliebenen Rußdorfer 3,94 Prozent der Einwohnerschaft von 1910 (3600), aber immerhin 62,01 Prozent der in den Kriegsmonaten Verschiedenen. Die höchste Mortalitätsrate 1915 unterschritt die gleichzeitige Bräunsdorfer trotzdem dezisiv (17,78). Letztlich beweisen die niedrigen Sterbeziffern der Kriegsjahre 1914–1918 eindrücklich, in welch geringem Umfang auch relative Werte zuweilen realistische Rückschlüsse auf zeitgleiche Lebens- bzw. Gesellschaftssituationen zulassen. Den unzweifelhaft stärksten Ein uss auf die Sterbezahl per annum nahmen Seuchen. In Abgrenzung von den Alltagskrankheiten forderten diese innerhalb kurzer Zeiträume außergewöhnlich hohe Opferzahlen. Allerdings entfalteten sie ihre letale Wirkung keineswegs zwangsläu g schichten- oder altersgruppenübergreifend. Ebenso wenig traten sie unbedingt epidemisch auf bzw. lassen sie sich in der Regel eindeutig von konventionellen Krankheiten trennen. Ruhr, Typhus, „Schnupfen eber“, „hitziges Fieber“, Blattern und Masern zeichneten in den Untersuchungsorten zum Beispiel immer wieder punktuell für Todesfälle verantwortlich, traten aber gleichfalls sporadisch als Hauptakteure von Mortalitätskrisen in Erscheinung. Anderen, wie der Pest, fehlte das gewöhnliche Gesicht völlig. Seuchenzüge, deren Letalität angesichts unbekannter Erkrankungszahlen durchgängig im Dunkeln bleiben muss, trieben die Sterbeziffern regelmäßig dezisiv nach oben. Der epidemiologische Verlauf mochte dabei mehr oder minder stark variiert haben, die Ursachengemengelage differierte fraglos massiv. Zahlreiche Faktoren, etwa die Intensität der großräumigen Mobilität, Wetterlagen, Ernährungssituation, allgemeiner und individueller Lebensstandard, Bevölkerungsdichte, gesellschaftliche Zusammensetzung, Altersstruktur, momentanes Preisniveau, Einkommenssituation, hygienische und medizinische Versorgung etc. forderten Geltung ein. Unmöglich ist die jeweilige Ausgangssituation in ihrer gesamten Breite hinlänglich rekonstruierbar. Beanspruchte eine Krise freilich Platz in den Beerdigungsregistern, herrschte ungeachtet deren spezi schen Gestalt zweifelsohne eine begünstigende Großwetterlage vor Ort vor. Hierbei stellen sich immanente Differenzen der lokalen Umgebungsbedingungen allein zwischen Nachbardörfern als meist derart gravierend dar, dass nur in Ausnahmefällen Krankheitswellen gleichermaßen tödlich in Rußdorf und Bräunsdorf auftraten (1719, 1814). Ein weiterer gleichzeitiger Ausbruch der Blattern 1773 hatte geringe Folgen für die örtlichen Mortalitätsraten. Deutlich öfter el Übersterblichkeit in nur einer der beiden Dorfschaften mit einer dort nachweisbaren Epidemie zusammen. Gleichwohl sind die überlieferten Seuchen hinsichtlich Art und temporaler Verortung ähnlich gelagert. Ende des 16. und in der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts regierte vornehmlich die Pest, um nach 1639 aus Rußdorf bzw. 1641 aus Bräunsdorf abrupt bis in
266
STERBLICHKEIT
die Gegenwart zu verschwinden. Diese regional letzten Ausläufer des Schwarzen Todes 1348–1352 standen hinter ihrem gesamteuropäisch tödliche Kreise ziehenden Vorgänger zurück. Trotzdem verursachten sie die mutmaßlich höchsten Mortalitätsraten des gesamten Untersuchungszeitraums. Bei einer geschätzten Gesamtbevölkerung von 200– 250 Personen starben 1633 insgesamt 38 Rußdorfer. Die daraus ableitbare Sterbeziffer überstieg das bereits immense Ausmaß der Subsistenzkrise 1772 (ca. 123,89 0 00) um mindestens ein Viertel bis maximal die Hälfte (ca. 152–190 0 00). Der maßgebliche Anteil des vielleicht mit den im Lande weilenden kroatischen Söldnern in Verbindung stehenden Pestausbruchs daran ist unstrittig. Von Januar bis April des Jahres bewegte sich die lokale Sterblichkeit im üblichen Rahmen. Unter den sechs Toten gehörten fünf den Standardrisikogruppen der Säuglinge und seniler Personen an. Als die siebenjährige Geraute Möller am 4. Juli „peste“ starb, änderte sich die Situation schlagartig. Wenige Tage trennten fortan die sich häufenden Todesfälle. Ehe die Krankheitswelle Ende Oktober verebbte – das letzte ausdrücklich genannte Opfer verschied am 27. des Monats –, elen der Pandemie 14 Einwohner mit Sicherheit sowie weitere acht unter Vorbehalt zum Opfer. Darunter zählten überwiegend Jugendliche und Erwachsene unter 50 Jahren (15), mithin Angehörige der normalerweise dem geringsten Sterberisiko unterliegenden Bevölkerungsgruppen. Ohne Ausnahme hatten die Pesttoten des Jahres mindestens einen Angehörigen ersten bis dritten Grades unter den übrigen Verstorbenen, was auf eine deutlich höhere Mindestmorbidität schließen lässt. Ganze (Kern-)Familien scheinen betroffen gewesen zu sein. Im Umkehrschluss legte die mutmaßlich höhere Dunkelziffer eine mindere Letalität der Pest selbst nahe, denn ganze Haushalte forderte die Seuche nicht. 610 Nur fünf Jahre hernach wiederholte sich die Krise. Abermals starben mit 39 Personen drei Mal mehr als gewöhnlich. Welche Krankheit von April bis Juni 1639 34 Rußdorfer zu Tode brachte, verschweigen die Quellen. Angesichts der relativ hohen Letalität erscheint die Pest freilich wahrscheinlich. 611 So wütete sie nachweislich nochmals von September bis November 1641 in Bräunsdorf und führte vermutlich 14 von 19 Toten dem sprichwörtlichen Schnitter zu. 612 Mit einer geschätzten Sterbeziffer von 82,9– 87,26 stand dieser Ausbruch gleichwohl, obwohl innerhalb der belegten Bräunsdorfer Demographiegeschichte seinesgleichen suchend, deutlich hinter den Auswirkungen der Rußdorfer Ausbrüche zurück. Mit Sicherheit ist das Dorf aber wenigstens von dem Pestzug 1633, der in den meisten Orten des näheren und weiteren Umkreises seinen Niederschlag fand, nicht verschont geblieben. Seit der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts korrelierten epidemisch bedingte Mortalitätsspitzen bis zum Ende des 18. in den Untersuchungsorten konsequent mit Ausbrüchen der Ruhr (bis 1761) und der Blattern. Deren Auswirkungen erscheinen gegenüber
610 611 612
Vgl. EPA Kaufungen, KB I, Beerdigungen Rußdorf 1633. Vgl. ebd., Beerdigungen Rußdorf 1639. Vgl. EPA Bräunsdorf, KB I, Beerdigungen 1641.
KRIEGE, HUNGER UND SEUCHEN
267
denen der Pestausbrüche der 1630er Jahre deutlich verringert. Mutmaßlich vergleichbarer Morbiditätsraten ungeachtet – Todesfälle häuften sich selten innerhalb einer Familie oder unter nahen Verwandten – wurden selbst in absoluten Zahlen bei massiv gewachsener Bevölkerung nie mehr jene Opferzahlen reproduziert. Die geschätzten Sterbeziffern der klassischen Mortalitätskrisen blieben denn auch, obgleich im Verhältnis zum alltäglichen Maß durchaus signi kant erhöht, stark hinter dem Pestniveau zurück und unterschritten die 100 beständig. Ein Blatternausbruch 1767 in Bräunsdorf (33 Tote) ordnet sich mit einer Mortalitätsrate von 94 unter die stärksten Ausbrüche nach 1640 ein. Während des 19. Jahrhunderts, als Scharlach eber, Typhus, Masern und Blattern ihre Opfer abwechselnd meist unter den ohnehin gefährdeten Gruppen in kleineren Aufkommen fanden, verminderte sich deren relativer letaler Wirkungsgrad weiter auf unter 60 Promille. Letztendlich stellte sich seuchenbedingte Übersterblichkeit nach dem Masernausbruch in beiden Orten 1885 überhaupt nicht mehr ein. Des Weiteren verschwanden die typischen Seuchenkrankheiten vor Ende des Betrachtungszeitraums samt und sonders aus den lokalen Todesursachenspektren. Die Pest war, wie bereits geschildert, letztmalig 1641 aufgetreten; an Blattern starben in Rußdorf und Bräunsdorf zuletzt 1875 bzw. 1871 Menschen, die Ruhr verschwand 1908/1876 und die Masern forderten lokal nach 1920/1894 keine Opfer mehr. Nicht anders war es um den 1807/1808 erstmals diagnostizierten Typhus (1919/1902) sowie den ab 1800/1799 nachweislich tödlich vorkommenden Scharlach (1891/1904) bestellt. Gleich dem Hunger verloren Epidemien bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts ihren Schrecken für die Bevölkerungen der untersuchten Dörfer. Damit nicht genug scheinen die typischen Seuchenkrankheiten seit dem Ende des Ersten Weltkrieges verschwunden bzw. hatten sie ihre Letalität eingebüßt. Wiederum vollzog sich der Wandel im 19. Jahrhundert parallel zum gesamtgesellschaftlichen Industrialisierungsprozess. Die Forschung im Geiste Thomas McKeowns sieht eine mittelbare subtile Korrespondenz beider Vorgänge vor allem über Lebensstandard und Ernährung sowie sanitäre Reformen gegeben 613, während in der älteren Literatur vorrangig dem synchron steigenden Medikalisierungsniveau sowie dem medizinisch-technischen Fortschritt im Allgemeinen das Hauptverdienst zugestanden wurde. 614 Allein die hier behandelten Fallbeispiele üben an letzterer These unübersehbar Kritik. Zwar ging die Entdeckung des Pocken- und Typhusimpfstoffs 1796 bzw. 1896 dem jeweiligen Letztnachweis innerhalb der Untersuchungsorte vor 1935 voraus, jedoch ist der Impfstatus selbst für jene Gebiete, wo Impfungen etwa obrigkeitlich schon in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts propagiert wurden, unbekannt und darf eine dahingehende ächendeckende Versorgung in Rußdorf mit nur einem Arzt und dem seinerzeit
613 614
Vgl. McKeown, Thomas/Record, R. G., Reason for the Decline of Mortality in England and Wales During the Nineteenth Century, in: Population Studies, Bd. 16, Nr. 2, o. O. 1962, S. 94–122, S. 120 f. Vgl. Ehmer, Bevölkerungsgeschichte, S. 86ff.
268
STERBLICHKEIT
faktisch ganz unversorgten Bräunsdorf bezweifelt werden. Des Weiteren datierte der letzte größere lokale Ausbruch des Nerven ebers noch vor der Impfstoffentwicklung. Gleiches gilt für Masern (1963) und den bis in die Gegenwart eines Immunserums entbehrenden Scharlach bzw. die Ruhr. Offenbar büßten die Seuchen ihre Wirkungsmacht abseits der Medikalisierung ein. Vergleichbares zeigte die in einer anderen Liga als die vorgenannten spielende Pest. Nachdem der Schwarze Tod Europa Mitte des 14. Jahrhunderts nahezu ächendeckend mit extremer Letalität heimgesucht hatte, erlangte die überlebende Bevölkerung einerseits eine gewisse Immunität, sodass ein und dieselbe Generation nachfolgend kaum mehrfach die Seuche zu tragen hatte, andererseits eine prozentual erhöhte physische Widerstandsfähigkeit. Geschuldet dessen forderten die fortan periodisch wiederkehrenden Pestwellen maximal punktuell höhere Mortalitätsraten als zuvor. Trotzdem bewahrte Yersinia Pestis sein Potential, unter günstigen Rahmenbedingungen extreme Opferzahlen hervorzubringen, die andere Erreger vergleichsweise selten oder, zum Beispiel in den Untersuchungsorten, nie erreichten. Lange bevor Alexandre Yersin 1907 das Pestbakterium identi zierte und eine Präventivbehandlung entwickelte, verschwand der Schwarze Tod im 18. Jahrhundert so plötzlich aus Europa, wie er anno 1347 gekommen war. 615 Die übrigen in Rußdorf und Bräunsdorf nachweislich zum Ausbruch gekommenen Seuchen zeigten ihrerseits vom 18. zum 19. Jahrhundert eine leichte Wirkungsabschwächung in den Sterbeziffern, die auf eine gesamtgesellschaftlich wachsende Immunisierung ebenso wie die Infektiösität oder Letalität herabsetzende Mutationen der Bakterien hindeuten könnte. Deren ebenfalls relativ spontanes „Verschwinden“ ist dadurch freilich nicht hinlänglich zu erklären. Eher ist von einer vielschichtigen, die Komplexität der krisenauslösenden Faktorengemengelage spiegelnden Ursachenlage auszugehen, deren konkrete Beschaffenheit aus den gesichteten Quellen nicht restlos erschlossen werden kann bzw. die Überlieferung generell in Teilen verschweigt und verschweigen muss. Anthropometrische Untersuchungen verschiedener deutscher Räume belegen für das 19. Jahrhundert einen Rückgang der durchschnittlichen Körpergröße infolge verschlechterter Ernährungssituation. Im ausgehenden 19. Jahrhundert verbesserte sich die allgemeine Nahrungsmittelversorgung in Sachsen einerseits durch sukzessive Verbreiterung der Angebotspalette, andererseits mittels Absicherung der Versorgungskontinuität für die Allgemeinheit infolge industrieller Produktionsintensivierung, -steigerung und zusammenrückender Märkte. Allein die Vermeidung der bis dahin notorischen, physiologisch belastenden qualitativen wie quantitativen Lebensmittelversorgungsschwankungen trug zweifelsohne zur Steigerung der Gesamtkonstitution und Resistenz der breiten Bevölkerung gegenüber Infektionskrankheiten bei. Erkenntnistheoretische Durchbrüche auf den Gebieten der Antisepsis, Diagnostik und Arzneimittelherstellung bzw. -gabe in medizinischen Einrichtungen während der 1890er Jahre sowie der allgemeine Ausbau 615
Vgl. Bergdolt, Pest, S. 16.
KRIEGE, HUNGER UND SEUCHEN
269
der medizintechnischen Infrastruktur in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts wirkten sicherlich prophylaktisch-kurativ positiv. Letztlich ist der hygienischen Aufklärung bzw. der Etablierung neuer Sauberkeitsstandards innerhalb des kollektiven Normenbewusstseins im ruralen Raum noch vor den nach 1900 folgenden Anschlüssen an die im urbanen Raum ab den 1870er Jahren vorangetriebenen Assanierungsmaßnahmen erhebliche Bedeutung in der Seuchenprävention beizumessen. 616 Schon die aufklärerisch beeinusste Hausväterliteratur des ausgehenden 18. Jahrhunderts hatte unter anderem die Beachtung grundsätzlicher hygienischer Richtlinien angemahnt 617, was vor allen Dingen gastrointestinalen Erkrankungen entgegenwirkte. Über das 19. Jahrhundert hinweg setzte sich die Volksaufklärung in einem wachsenden Angebot ratgebender Literatur verstärkt fort. Wenngleich die ehemals epidemisch vorkommenden mehr oder minder letalen Krankheiten dadurch nicht ausgerottet werden konnten, verloren sie doch nicht zuletzt dank der genannten Entwicklungen peu a peu an Tödlichkeit und Schrecken sowie im Endeffekt ihren Seuchencharakter. Ein Großteil der „schwarzen Zacken“ lässt sich in beiden Untersuchungsorten zweifelsfrei einer Krise zuordnen. Desgleichen gingen zahlreiche lokal nachgewiesene potentiell krisenhafte Ereignisse mit erhöhter Mortalität einher. Deren Ausbleiben nach 1850 korrespondiert entsprechend mit dem parallelen Verschwinden der Zacken. Die Entwicklung der einzelnen positiven Hemmnisse folgte indes differierenden Regeln. Militärische Kon ikte zeichneten bis zum 20. Jahrhundert mehrfacher Truppenpräsenz im Limbacher Land zum Trotz nie eindeutig für signi kant gesteigerte Totenzahlen verantwortlich. Hingegen verursachte der Erste Weltkrieg kontrapunktisch allein durch die dislozierte Vereinnahmung und Tötung eines Großteils der jungen Männer eine neuerliche offene Krise, die in ihrer demographischen Auswirkung in den betrachteten Dörfern dennoch nicht an manche vorindustrielle Mortalitätskrise heranreichte. Subsistenzkrisen traten bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts periodisch auf, wichen im Laufe der Industrialisierung aber gänzlich gewerblich-konjunkturellen bzw. Finanz- und Immobilienkrisen, die einerseits eine relativ konstante Nahrungsmittelversorgung der gesamten Bevölkerung voraussetzen und andererseits nie zu einer tatsächlichen Unterversorgung inklusive starker Krisensterblichkeit führen. Doch auch vordem hatten sie, soweit in Rußdorf und Bräunsdorf nachweisbar, kaum tödliche Folgen. Das Hungerjahr 1772 bildet die große Ausnahme. Wie gezeigt wurde, verfügte die Agrargesellschaft über effektive, landbesitzbasierte Schutzsysteme, die Versorgungs- und Teuerungskrisen bis zu einem gewissen Grade kompensieren konnten. Die gewonnenen Daten legen einen positiven Zusammenhang zwischen Mortalität, der Länge eines Notstandes und der gleichzeitigen Bevölkerungsdichte bzw. dem Anteil unterbäuerlicher Gruppen nahe. Der überwiegende Teil der beobachteten „schwarzen Zacken“ geht auf seuchen616 617
Vgl. Ehmer, Bevölkerungsgeschichte, S. 87ff. Vgl. Becker, Hülfs-Büchlein, S. 161ff.
270
STERBLICHKEIT
bedingte Mortalitätskrisen zurück. Selten (1676, 1806, 1814) ergriffen Epidemien die benachbarten Dörfer zugleich bzw. lösten in beiden eine ähnliche Sterblichkeit aus. Insgesamt deuten die Untersuchungsergebnisse eine Wirkungsabschwächung der auslösenden Krankheiten bis zur relativen Bedeutungslosigkeit in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts an, die sich unabhängig vom medizinischen Fortschritt vollzog. Allgemein verbesserte Hygiene, ein gehobener Lebensstandard oder Mutationen der Erreger selbst kommen als Ursachen in Betracht. Das Ausbleiben offener Krisen ist, wie gezeigt wurde, im Untersuchungsgebiet eng an das Verschwinden epidemisch wirkender Erkrankungen gekoppelt. Von der industriellen Entwicklung wurde dies sicherlich begünstigt, nicht jedoch begründet.
6.3 SAISONALE STERBLICHKEIT Das Exitusrisiko unterliegt im Jahresverlauf merklichen Schwankungen. Deutlich stärker als die Geburtigkeit zeigt sich die Sterblichkeit von natürlichen Faktoren bestimmt. Von Suizidhandlungen, Morden oder Hinrichtungen abgesehen, entzieht sich der Todeszeitpunkt jeder Planung. Selbst bei Absehbarkeit des Lebensendes ist er nur unzuverlässig vorhersagbar. Dennoch folgt auch der Tod Regeln und tritt unter bestimmten Umständen bevorzugt ein. Entsprechende Phasen der Gunst wie Ungunst de nieren die Saisonalität des Sterbegeschehens naturgemäß. Die geltenden Prinzipien sind theoretisch denkbar simpel. Wärme und Sonne fördern die Gesundheit, anhaltende Nässe und Kälte bzw. Hitze und Trockenheit schaden ihr. In der Realität erscheint die Sachlage freilich weitaus komplexer, da zahlreiche endogene und exogene Faktoren die zum Ableben führenden Umstände in hoher regionaler Varianz beein ussen. Für das mitteleuropäische Beispiel gelten bis in die Gegenwart ein Mortalitätstief im Sommer sowie ein Gipfel innerhalb des ersten Quartals als typisch. Oft ndet sich eine zweite kleinere Sterblichkeitsspitze in den Spätsommermonaten. 618 Die Ursachen des charakteristischen Verteilungsmusters sind in der mit den Jahreszeiten schwankenden physischen und psychischen Konstitution zu suchen. Längere nasskalte, sonnenscheinarme Perioden an Jahresende und -anfang schwächen die Immunabwehr sukzessive, wodurch vor allem Infektionskrankheiten der Weg bereitet wird, aber ebenso degenerative Leiden tendenziell ein leichteres Spiel haben. Das vor allem in südlichen Regionen, zum Beispiel in Süddeutschland bzw. im Alpenraum auftretende Sommerhoch an Sterbefällen wird hingegen auf Magen-Darm-Krankheiten wie Ruhr oder Cholera sowie Vergiftungen durch den Genuss verdorbener Lebensmittel zurückgeführt. 619 Knodel sieht in erster Linie Säuglinge und Kleinkinder davon betroffen, deren unentwickeltes Im618 619
Vgl. Scho eld/Wrigley, Population, S. 296ff. Vgl. P ster, Bevölkerungsgeschichte, S. 96f.
SAISONALE STERBLICHKEIT
271
munsystem einer erhöhten Keimbelastung wenig entgegenzusetzen hat. 620 Gleiches mag für altersschwache Menschen gelten, die bei großer Hitze jedoch eher der Gefahr eines Kreislaufkollapses unterliegen. Je nach Grad der ökonomischen Abhängigkeit einer Gesellschaft oder Familie von ihrem naturräumlichen Kontext werden diese natürlichen Schwankungen der saisonalen Sterblichkeit verstärkt oder vermindert. Eine kontinuierliche Nahrungsmittelversorgung, zumal bei gleichbleibender Angebotsvielfalt, sowie optimierte Konservierungsmethoden etwa zeigen abmildernde Wirkung. Analoge Auswirkungen zeitigen wirksame medizinische Behandlungsmethoden, die den jahreszeitlich bedingt mit höherer Morbidität auftretenden bzw. mit höherer Letalität einhergehenden Krankheiten ihre Macht nehmen. Während erst die Entdeckung des Penicillins 1928 der Medizin ein dahingehend effektives Mittel an die Hand gab, nahmen im 19. Jahrhundert unter anderem beschleunigter Warenverkehr, ausgeweiteter transnationaler Lebensmittelhandel sowie die Entwicklung und Verbreitung des Einkochens und der Pasteurisierung zur Haltbarmachung von Nahrungsmitteln noch im Untersuchungszeitraum mildernd Ein uss auf das saisonale Sterben. In den Untersuchungsorten sollte sich dies während des 19. Jahrhunderts in einer Vereinheitlichung der Mortalität im Jahresverlauf niederschlagen. Für die nachfolgende Betrachtung wurde ein monatlicher Index nach der in Kap. 4.2 und 5.2 bereits angewandten Methode Wrigleys erstellt. Dabei steht 100 für den theoretischen Anteil eines Monats bei Gleichverteilung der Sterbefälle über das Jahr. Den unterschiedlichen Monatslängen wurde ebenso Rechnung getragen wie Schaltjahre durch Annahme einer Jahreslänge von 365,25 Tagen Beachtung fanden. Um eventuelle Verfälschungen offenzulegen, wird die Verteilung der Sterbefälle mündiger, d. h. über 21-jähriger Personen mit der aller in Beziehung gesetzt. Zu Recht merkte Knodel an, dass das Sterben kleiner Kinder und insbesondere von Säuglingen vor dem ersten Geburtstag nur bedingt den Gesetzmäßigkeiten der Saisonmortalität unterliegt. 621 Endogen verursachte Tode im ersten Lebensmonat bzw. durch frühes Abstillen begünstigte binden jahreszeitliche Häufungen der Säuglingssterblichkeit an die Saisonalitätsmuster der Geburtigkeit. Bei hohem bis dominantem Anteil toter Kleinstkinder an der Gesamtverstorbenenzahl entsteht leicht ein verfälschter Eindruck des jahreszeitlichen Exitusrisikos. Rußdorf Zu Beginn des Untersuchungszeitraums entspricht die saisonale Sterblichkeit in Rußdorf den Erwartungen für eine vorindustrielle subsistenzwirtschaftlich geprägte Dorfgesellschaft (Abb. 37). Das Frühjahr liegt während des 17. Jahrhunderts mit einer Mor620 621
Vgl. Knodel, Behavior, S. 61f. Vgl. ebd., S. 60.
272
STERBLICHKEIT
Abbildung 37: Monatlicher Index der Rußdorfer Sterbefälle
talitätsspitze im April weit über dem Durchschnitt. Ein Tief im Juni wird von einem zweiten kleinen Hoch im August gefolgt. Die im relativen Über uss frischer und nährstoffreicher Lebensmittel schwelgenden Herbstmonate schlagen mit den niedrigsten Verstorbenenzahlen zu Buche. Bereits das 18. Jahrhundert zeichnet ein völlig differentes Bild. Während Frühjahrsgipfel und Sommertal bestehen bleiben, überraschen zwei ausgeprägte Spitzen unklarer Ursache in Mai und September. Beide gehen bereits im 19. Jahrhundert zugunsten einer äußerst ausgeglichenen Häu gkeitsverteilung mit leicht steigender Übersterblichkeit im ersten Quartal und im August sowie deutlicher Untersterblichkeit im abschließenden Jahresviertel wieder verloren. Sosehr dies der Theorie eines Ausgleiches infolge veränderter Ernährungsumstände entspricht, sowenig passt die Zunahme der Schwankungsbreite im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts in dieses Bild. Mit vermehrtem Sterberisiko im Frühjahr und August und einem erheblich verminderten von Oktober bis Dezember kopiert das damalige Verteilungsmuster tendenziell jenes des 17. Jahrhunderts mit geringeren Extremen. Werden ausschließlich Erwachsenensterbefälle in die Betrachtung einbezogen (Abb. 38), ändert sich das Ergebnis unmaßgeblich. Insbesondere vor 1800 bleiben die Verteilungsmuster nahezu identisch erhalten. Dies geht mit parallel vergleichsweise niedrigen Anteilen der Totgeburten und unter Einjährigen an der Gesamtgestorbenenzahl von 26 bzw. 38 Prozent konform. Zudem spricht es für deren Gleichverteilung über das Jahr. Merkliche Unterschiede treten hingegen nach 1800 hervor. Während des 19. Jahrhunderts fallen 56,71 Prozent vor Vollendung des ersten Lebensjahres Gestorbene prägend ins Gewicht. Die saisonale Homogenität des Sterberisikos weicht bei deren Subtraktion einem kontinuierlichen Gefälle von Februar bis September und einer zuvor nicht angedeuteten Novemberspitze. Im ersten Tertial nahmen immerhin noch 43 Prozent Säuglingsanteil auf das Verteilungsmuster Ein uss. Ohne diese tritt ein
273
SAISONALE STERBLICHKEIT
Abbildung 38: Monatlicher Index der Rußdorfer Erwachsenensterbefälle
Frühjahrshoch in Februar und März pointierter hervor und wandelt sich die vormalige Augustspitze in ein leichtes Septembertief um. Der Gesamteindruck eines unsteten Musters bleibt dessen ungeachtet ebenso bestehen wie der Befund einer zunächst auf Vereinheitlichung zustrebenden, diese aber im 20. Jahrhundert wieder aufbrechenden Risikoverteilung. Entsprechend variabel erscheinen die monatlichen Anteile am Sterbegeschehen unter Ein- wie Ausschluss unmündiger Personen über den Untersuchungszeitraum. Der Tabelle 27: Monatliche Verteilung der Rußdorfer Sterbefälle (Angaben in %) Monatliche Verteilung aller Sterbefälle Monatliche Verteilung der Erwachsenensterbefälle Jan. Feb. März April Mai Juni Juli 1582–1629 1630–1679 1680–1729 1730–1779 1780–1829 1830–1879 1880–1935
Aug.
Sept.
Okt.
Nov.
Dez.
14,85 10,48 11,79 14,85
6,99
3,49
5,68
5,68
6,11
4,37
8,30
7,42
15,33 10,22 12,41 20,44
5,84
2,92
4,38
4,38
5,11
5,11
8,03
5,84
8,10 11,43 10,95 9,52 9,09 12,59 8,39 11,89
7,14 6,29
8,10 11,90 9,52 6,99 13,29 10,49
4,76 4,90
4,29 4,90
6,67 6,29
11,66 11,97 11,80 12,24
6,12 5,13 5,76 5,06
9,33 8,55 6,17 5,27
7,00 4,27 6,72 6,54
8,45 7,26 7,82 6,12
4,96 5,13 7,68 7,17
4,66 5,56 8,23 7,59
7,00 7,26 8,50 9,70
8,98 9,89 9,18 8,73 8,62 8,75
6,59 5,65 9,23 9,19 8,44 7,73
7,50 7,49 8,18 8,27 8,60 7,78
7,41 10,13 7,91 9,04 8,50 7,67 7,26 6,62 9,70 7,99 7,99 6,46
8,40 7,77 7,54 6,89 7,21 7,78
7,83 10,05 7,77 11,16 8,31 8,22 9,65 7,72 6,94 7,04 7,68 8,09
7,62 4,90
10,50 12,24 10,20 7,87 9,40 15,38 11,11 8,97 8,64 8,78 10,97 8,92 9,49 9,92 10,55 10,34 7,99 8,19 7,63 8,36 8,49 8,95
8,32 8,65 8,76 8,62 7,72 8,68 8,55 8,92 8,60 9,27 9,41 10,73
8,15 7,77 9,14 9,83 9,10 8,65
274
STERBLICHKEIT
für Agrargesellschaften als typisch angenommenen saisonalen Sterblichkeit wurde, wie Tabelle 27 zeigt, lediglich Ende des 16. und Anfang des 17. Jahrhunderts vollends entsprochen. Hernach wechselten die Schwerpunkte wiederholt. Auf den gesamten Untersuchungszeitraum bezogen, war das Exitusrisiko allerdings durchaus erwartungsgemäß im März am höchsten sowie im Oktober und Juni am geringsten.
Bräunsdorf Die saisonale Sterblichkeit des Bräunsdorfer Beispiels trug anfänglich zentrale Charakteristika einer vorindustriellen agrarischen Lebensweise. Während des 17. Jahrhunderts verschieden nach Abbildung 39 mit Abstand die meisten Einwohner im März oder April, die wenigsten im Mai. Ein zweites, deutlich acheres Mortalitätshoch ent el auf den neunten Monat, gefolgt von einem sekundären, minder ausgeprägten Tief im letzten Quartal des Jahres. Im 17. Jahrhundert zeigt sich bereits eine Verringerung der jahreszeitlichen Schwankungen. Das Frühjahrsmaximum blieb auf den März beschränkt, das Maitief hatte einem Tal im August Platz gemacht. Auch das unterproportionale Sterbeaufkommen zum Jahresende wurde nun ausschließlich vom neunten Monat getragen. Nach 1800 nimmt das Verteilungsmuster eine ausgeglichene Form an. Dennoch erkennbare Gipfel in April/Mai und September sowie Täler im Spätsommer und Oktober gemahnen an die als natürlich angenommenen Schwerpunkte. Das erste Drittel des 20. Jahrhunderts konterkariert im Bräunsdorfer Fall kaum die gezeigte Homogenisierungstendenz. Sein Bruch mit dem vorangegangenen Abschnitt besteht vielmehr in der abermaligen Verschiebung der Minima und Maxima. Begrenzt auf die Erwachsenensterbefälle zeigt Abbildung 40 keine erheblich abgewandelten Spezi ka. Die saisonalen Häu gkeitsmuster nach 1700 wirken vor allem
Abbildung 39: Monatlicher Index der Bräunsdorfer Sterbefälle
SAISONALE STERBLICHKEIT
275
Abbildung 40: Monatlicher Index der Bräunsdorfer Erwachsenensterbefälle
pointierter, die Extreme ausladender. Etwa erhält der Sterblichkeitsrückgang von März bis August im 18. Jahrhundert eine lineare Form und erinnert das Tal am Jahresende nun eher an die Situation des 17. Jahrhunderts. Die jahreszeitliche Erwachsenenmortalität des 19. Jahrhunderts resultiert in einer seichten Welle mit einem Kamm im März und einem Tal im Spätsommer, womit sie das leicht davon variierende Muster der letzten 35 Jahre des Untersuchungszeitraums prinzipiell vorzeichnet. Desgleichen zeigt die Kurve vor 1700 weiterhin jenes markante Frühjahrshoch und Mai-Juni-Tief, entbehrt jedoch nun der Septemberspitze. Im Ganzen bleibt der Befund eines unsteten Musters auch im Bräunsdorfer Fall gewahrt. Dabei trägt die saisonale Mortalität des 18.– 20. Jahrhunderts ähnliche Züge, während jene des 17. klar aus dem Rahmen schlägt. Ausgleichstendenzen zeichnen sich unzweifelhaft seit dem 18. Jahrhundert ab. Erstaunlich gleichförmig erscheinen demgegenüber die monatlichen Anteile unter Ein- wie Ausschluss unmündiger Personen über den Untersuchungszeitraum (Tab. 28). Obwohl die Schwerpunkte zwischen den Fünfzigjahreskohorten wiederholt wechseln, wird das grundsätzliche Schema kaum angetastet. Von jeweils einer Ausnahme abgesehen – bei den Erwachsenensterbefällen 1680–1729 und bei allen Sterbefällen 1880– 1935 – ist die Mortalitätsspitze im ersten Tertial des Jahres, das geringste Aufkommen im zweiten zu suchen. Insgesamt war das Exitusrisiko im März am höchsten sowie im Juli und August am geringsten. Zusammenfassung Die Entwicklung der saisonalen Sterblichkeit in den Untersuchungsorten brachte nicht nur im zeitlichen Verlauf, sondern auch im Vergleich untereinander teils deutlich differierende Muster hervor. Prinzipielle Konstanzen bestanden zwar im natürlichen Früh-
276
STERBLICHKEIT
Tabelle 28: Monatliche Verteilung der Bräunsdorfer Sterbefälle (Angaben in %) Monatliche Verteilung aller Sterbefälle Monatliche Verteilung der Erwachsenensterbefälle Jan.
Feb.
März
April
Mai
Juni
Juli
Aug.
Sept.
Okt.
Nov.
Dez.
1630–1679
12,63 11,05 11,58 12,63 15,74 12,96 12,04 12,04
5,79 4,63
3,16 1,85
5,79 4,63
8,42 9,26
8,42 5,56
7,89 7,41
5,26 5,56
7,37 8,33
1680–1729
11,56
8,22 14,67 11,11
6,44
7,78
5,78
6,89
8,44
7,11
5,11
6,89
11,81
9,03 17,01 14,58
4,86
7,64
6,94
5,90
5,56
4,86
4,17
7,64
8,87 8,37 8,13
7,65 8,84 8,03
8,41 8,37 7,50
5,66 5,35 6,97
4,89 3,26 4,86
7,65 8,37 9,50
8,10 6,05 8,87
7,03 9,79 8,37 10,00 7,81 8,98
8,72 9,13 9,04 10,13
8,72 9,40
6,49 7,51
6,09 8,31
3,65 7,36
8,72 8,67
9,33 6,92
7,10 9,18
9,13 7,94
7,75 10,38 12,28 7,33 8,89 9,19 8,36 9,74 10,42
8,33 8,95 8,71
5,99 8,83 8,02
7,46 7,69 6,19
5,70 9,13 7,22
6,58 8,41 6,64
7,46 7,45 8,13
9,06 8,05 7,56
9,65 7,21 8,71
1730–1779 1780–1829
11,01 9,02 11,93 10,93 9,53 12,56 9,82 10,35 9,19
1830–1879
11,76 11,16 8,89 6,63
1880–1935
9,36 8,83 10,31
jahrshoch und Sommertief, doch wechselte und unterschied sich deren monatliche Bindung immerzu. Selbst die allgemeine Sterbewahrscheinlichkeit folgte nur partiell demselben Verlauf. Während das Märzhoch für beide Orte Geltung beansprucht, entfallen die Phasen niedrigster Mortalität auf verschiedene Monate. Von einer periodenübergreifenden inter- wie intradörflichen Gleichförmigkeit, wie sie für England beobachtet wurde, kann in vorliegendem Fall keine Rede sein. Dies mag freilich mit dem kleinräumigen Zuschnitt auf einzelne Dörfer in Zusammenhang stehen. Immerhin beobachteten auch Wrigley und Scho eld in einer wenngleich kleinen Gruppe meist urbaner Ortschaften teils erhebliche Abnormalitäten. Insgesamt zeigt ihr Beispiel indes vom 16. bis zum ersten Drittel des 19. Jahrhunderts eine konstante Sterblichkeitsspitze in März und April, ein Tal im Juli sowie einen daran anschließenden relativ kontinuierlichen neuerlichen Risikoanstieg 622, der im Limbacher Land fehlte. Auf welche Ursachen die besonders im Rußdorfer Beispiel erheblichen Variationen des Sterbeaufkommens im Jahresverlauf zurückgehen, muss offen bleiben. Zufällige statistische Deviationen kommen ebenso in Betracht wie an dieser Stelle unberücksichtigte wechselhafte Ausprägungen maßgeblicher Faktoren, zum Beispiel Wetter, Nahrungsmittelversorgung, grassierende Krankheiten und die Menge gefährdeter Personen etc. Je nach Gemengelage ent elen typische saisonale Ausschläge auf einen Monat unter mehreren infrage kommenden oder blieben unter Umständen ganz aus. Die dadurch entstehende Variabilität erschwert es freilich ungemein, systemische Veränderungen an der jahreszeitlichen Sterblichkeit abzulesen.
622
Vgl. Scho eld/Wrigley, Population, S. 293ff.
EPIDEMIOLOGIE
277
An den Rußdorfer und Bräunsdorfer Verteilungsmustern sind keine eindeutigen Entwicklungstendenzen in der Verschiebung von Gipfeln und Tälern abzulesen, noch sind die Hintergründe einer ungewöhnlichen kleineren, beiderorts während des 18. Jahrhunderts auftretenden Übersterblichkeit im September eruierbar. Für eine sich indes seit dem 18. Jahrhundert abzeichnende, in Rußdorf zum Ende des Untersuchungszeitraums jedoch wieder umkehrende Verringerung der saisonalen Mortalitätsschwankungen könnten hingegen Veränderungen der Ernährungssituation verantwortlich zeichnen. Neue ertragssteigernde Agrartechniken, etwa die Umstellung von Dreifelder- auf Fruchtwechselwirtschaft, von Weide- zu Stallhaltung und der Beginn chemischer Düngung im 19. Jahrhundert oder die Kultivierung neuer Produkte wie der nährstoffreichen Kartoffel seit dem frühen 18. Jahrhundert 623, konnten die Versorgungskontinuität über das Jahr ohne Rückgriff auf einen großräumigen Lebensmittelhandel oder innovative Konservierungsmethoden verbessern. Dies hätte die periodisch wiederkehrende Nährstoffunterversorgung mindestens abgemildert und damit einen vor allem die Frühjahrssterblichkeit begünstigenden Faktor eliminiert. Generell stehen die Untersuchungsorte exemplarisch für den auf ein komplexes Ursachenge echt bauenden Variantenreichtum innerhalb eines übergeordneten Musters jahreszeitlich schwankenden Exitusrisikos.
6.4 EPIDEMIOLOGIE Im Jahr 2013 ging das Gros der Todesfälle in Sachsen – das Durchschnittsalter der Verstorbenen betrug 78,6 Jahre – auf Krankheiten des Herz-Kreislauf-Systems (45,4 %) und bösartige Neubildungen (24,3%) zurück. 624 Das gewöhnliche Gesicht des Todes der sächsischen Gegenwart spiegeln Inhalt und Textsprache zeitgenössischer Trauerannoncen. Eine wahllose Stichprobe aus der Freien Presse vom 1. August 2015 umfasst 26 verschiedene Trauerfälle und Lebensspannen von 50–101 Jahren. Allein 14 der Dahingeschiedenen hatten ihren 80. Geburtstag schon hinter sich. Zehn vornehmlich „jüngere“ Verstorbene betreffende Anzeigen lassen Rückschlüsse auf die Todesumstände zu. Es dominieren Termini wie „nach langer, mit großer Geduld ertragener Krankheit“ oder „wenn die Kraft zu Ende geht, ist Erlösung eine Gnade“, welche gleich den mehrfach auftretenden Dankesaussprachen an P ege- und Hospizdienste auf langwierige degenerative Erkrankungen hindeuten. Andere sprechen von „plötzlich“ und „unerwartet“
623 624
Erste Belege des Kartoffelanbaus datieren für Rußdorf auf 1756, für Bräunsdorf bereits auf 1717. – HstA-D, 12613 GB Limbach, Nr. 2, fol. 194, fol. 131 u. fol. 334b. Vgl. Statistisches Landesamt des Freistaates Sachsen, Statistik der Todesursachen im Freistaat Sachsen 2013, Kamenz 2015, online: http://www.statistik.sachsen.de/download/030_SB-Gesundheit/A_IV_3_j_13_a_001.pdf [zuletzt aufgerufen am 20.06.2016].
278
STERBLICHKEIT
erfolgtem Ableben, unter anderem typische Terminologie bei tödlich verlaufenen Kreislauferkrankungen bzw. -ausfällen. 625 Demgegenüber wissen zum Beispiel die Bräunsdorfer Beerdigungsregister 1815 von gänzlich differenten Schicksalen zu erzählen. Die 23 Verstorbenen des Jahres erreichten ein Alter zwischen 11 Tagen und 77 Jahren. Lediglich vier kamen über das Mindestalter des Beispiels von 2015 hinaus. Sechs Kleinstkinder wurden Opfer physischer, vermutlich in falscher Ernährung und daraus resultierenden Magen-Darm-Erkrankungen wurzelnder Schwäche. Weitere sieben Personen erlagen einer Infektionskrankheit wie „Husten“, „Schnupfen“, „Friesel“ und „Staupe“, zwei zeigten zumindest typische Symptome der Tuberkulose. Sechs Individuen erlitten ihren Exitus ursächlich aus inneren Leiden unter „Blutsturz“, „Bauchschmerzen“, „Magenkrämpfen“, „Seitenstechen“ etc. wahrscheinlich recht überraschend bzw. ohne Zweifel trotz teilweise angedeuteter Vorerkrankungen bar längeren Siechtums. 626 Diese einfache Konfrontation zweier zeitlich erheblich auseinanderliegender Momentaufnahmen demonstriert eindrücklich große Unterschiede in der jeweils vorherrschenden Art des Ablebens. Bevor aber auf die eng mit jener der Lebenserwartung verbundene Entwicklung der Todesursachenspektren Rußdorfs und Bräunsdorfs eingegangen wird, sei kurz auf die immanenten überlieferungsbedingten Schwächen beider Statistiken hingewiesen. Fehlende und qualitativ stark variierende Quellen erschweren langfristige Vergleiche bedeutend. Für das 16. und 17. Jahrhundert sind Aussagen zur Epidemiologie des gesamten Limbacher Landes nahezu unmöglich. Die ohnehin in ihrer gebotenen Datendichte extrem von Ort zu Ort bzw. von Schreiber zu Schreiber differierenden Beerdigungseinträge sparen Todesursachen vor 1700 weitestgehend aus. Einzig die Norm signi kant verlassende Ereignisse wie Mord, Suizid, Totgeburten, Unfälle und schwere Seuchen oder sonderbar lange Leidenszeiten bzw. -geschichten fanden Berücksichtigung. Ab den 1720er Jahren setzte in Rußdorf, in Bräunsdorf ab den 1750ern, ein protokollarischer Wandel ein. Nach zehn bis 20 Jahren des Übergangs herrschten bereits gegensätzliche Verhältnisse, gaben nunmehr beinahe jedem Eintrag beigefügte nähere Beschreibungen dem Tod ein Gesicht. Dadurch werden zwar die Todesursachenspektren abschätzbar, doch erweisen sich die Daten nach heutigen Maßstäben als wenig belastbar. Einerseits erfolgte bis ins späte 19. Jahrhundert ein Großteil der Todesfälle ohne ärztliche prä- oder postmortale Diagnostik, andererseits beschränkten sich auch die Diagnosen der Mediziner lange Zeit auf symptomatologische Krankheitsbenennungen. Während Infektionskrankheiten bzw. solche relativ klarer Symptomatik – zum Beispiel die typischen Seuchen- und
625 626
Abschnitt Trauer, in: Chemnitzer Verlag und Druck GmbH & Co. KG (Hg.), Freie Presse Chemnitz, 1. August 2015. Vgl. EPA Bräunsdorf, KB II, Beerdigungen 1815.
EPIDEMIOLOGIE
279
Kinderkrankheiten 627, Blutstürze, Hämorrhoiden, Herz- und Hirnschläge, äußerliche Geschwülste und Geschwüre etc. – relativ treffende Bezeichnungen erhielten, verbargen sich vor allem innere Leiden und generell jene diffuser Anzeichen, so sie überhaupt erkannt wurden, hinter eher allgemeinen, bildhaften Umschreibungen. Demgemäß schöpften die Kirchbuchautoren anfangs aus einem eher begrenzten Bezeichnungskatalog. Eine „Ursache“ teilten sich in den 1720er Jahren durchschnittlich 10,67 Rußdorfer, 1899 noch vier und 1930/1931 lediglich 1,89. Analog verzeichneten die Bräunsdorfer Register in den 1880er Jahren im Mittel 5,38 Personen pro Todesursache, 1899 noch 2,82 und in den frühen 1930ern 1,04. Erkältungs- und Infektionskrankheiten 628 dominierten in Verbindung mit verschiedenen Fiebern und diversen Entzündungen das Sterbegeschehen nach verwendeten Krankheitsbezeichnungen bis weit ins 19. Jahrhundert. Geschwür und Geschwulst wurden selten und ausschließlich unter Verweis auf die betroffenen Körperregionen unterschieden. Fallsuchtartige Erscheinungen rangierten unter Epilepsie, offensichtlich degenerative Leiden mit kontinuierlichem physischem Abbau respektive Abmagerung galten regelmäßig als Entkräftung, Altersschwäche, Ab-, Ver- oder Auszehrung und Schwindsucht, wobei die Letzteren vier gemeinhin synonym für Tuberkulose oder Krebs standen. Wer plötzlicher Atemnot bzw. asthmatischen Beschwerden erlag, erlitt einen Stick- oder Stock uss bzw. -husten. Anderweitig verursachte Kreislaufstillstände wurden unter dem Terminus des Schlag usses vereint. Innere Leiden äußerten sich in Seitenstechen, Brustbeklemmung, Erbrechen oder Blutstürzen. Todesursachen wie Gallen eber oder Magenbeschwerden zählten um 1800 noch zu den eindeutiger spezi zierten gastroenterologischen Erkrankungen. Im Laufe des 19. Jahrhunderts – ab 1800 forderten genormte Kirchbücher die Nennung des Todesgrundes explizit ein – traten „neue“ letale Leiden, beispielsweise „Krämpfe“ und „Schwäche“ hinzu und wurden insbesondere in dessen zweiter Hälfte organische Krankheiten zunehmend eindeutig lokalisiert sowie klassi ziert. Die sich fortschreitend verbessernde medizinische Infrastruktur und Versorgung durch Ortsärzte 629, Krankenhäuser und schließlich Krankenversicherungsleistungen (Kap. 8.2), aber auch der allgemeine medizinische Wissenszuwachs machten sich unzweifelhaft bemerkbar. Zeitgleich starben eher ungenaue Krankheitsbezeichnungen aus. Bei Magen, Herz und Hirn beginnend, differenzierte die Diagnostik sukzessive pro Organ mehrere Erkrankungen zuungunsten des allgemeinen „Leidens“ oder der „Krankheit“. Krebs und TBC wurden ihrerseits zunehmend auf einzelne Organe bezogen. Nach 1900 beschleunigte
627
628 629
Die Pest stellt hierbei eine Ausnahme dar: „Ungeachtet nicht zu läugnen ist, daß die Pest eine eigene Art einer sehr ansteckenden und bösartigen Krankheit ist, so ist doch auch wahr, daß man ehedem ein jedes bösartiges Faul eber, besonders bey der ehemahligen schlechten Behandlung desselben, eine Pest genannt hat.“ – Die Pest, in: Adelung, Johann Christoph, Grammatisch-kritisches Wörterbuch der Hochdeutschen Mundart, Bd. 3, Leipzig 1798, S. 694. Schnupfen, Husten, Staupe, Diphtherie, Blattern, Masern, Ruhr, Rotlauf etc. Seit 1741 war Rußdorf durchgängig mit einem Arzt, anfänglich „Chirurg“ genannt, versorgt. In Bräunsdorf sind über den gesamten Untersuchungszeitraum lediglich Viehärzte belegt.
280
STERBLICHKEIT
sich die Abkehr von symptomatologischen zu ätiologischen Todesursachenbenennungen, welche im Rußdorf und Bräunsdorf der 1930er Jahre bereits quantitativ überwogen. Zudem offenbaren schon die Todesursachenspektren der 1920er eine langsam einsetzende diagnostische Professionalisierung in Anwendung von Fachtermini auch bei seit Jahrhunderten bekannten Leiden wie „Carcinom“ oder „Apoplexie“, was jedoch erst nach 1935 nennenswerte Ausmaße annahm. Allein diese Varianz in Quantität und Qualität der Todesursachenüberlieferung erschwert inhaltliche Vergleiche über längere Zeiträume hinweg extrem. Während die Angaben am Ende der Untersuchungszeit insgesamt relativ zuverlässig erscheinen, bleibt bei den im 18. und 19. Jahrhundert vielfach auftretenden allgemein symptomorientierten Krankheitsbezeichnungen nicht nur die konkrete Todesursache meist fraglich, sondern ist generell die Validität der getroffenen Angaben hochgradig unsicher. Um eine gewisse interperiodische Vergleichbarkeit herzustellen, wurden die einzelnen Nennungen soweit möglich in thematischen Gruppen vereint, die es auf ihren Anteil am gesamten Todesursachenspektrum zu untersuchen galt. Analog zur gesamteuropäischen Entwicklung einer eng mit dem Rückgang der Sterbeziffer zusammenhängenden epidemiologischen Transition sollte dabei eine klare Entwicklungslinie weg vom mittelalterlich-frühneuzeitlichen Überhang gewöhnlicher Infektionserkrankungen, gastroenterologischen und Atemwegskrankheiten in Richtung des gegenwärtigen Schwerpunkts degenerativer, typischer Alters- und sogenannter Zivilisationskrankheiten, allen voran Krebs und Herz-Kreislauf-Erkrankungen, zum Ausdruck kommen. 630 In Rußdorf, wo bereits für das 18. Jahrhundert aussagekräftige Daten vorliegen, machten Infekte, Entzündungen und Atemwegserkrankungen vor 1800 durchschnittlich allein 50 Prozent der überlieferten Todesursachen aus (Tab. 29). Weitere 3,62 Prozent ent elen auf typische, in der Regel ebenfalls bakteriell oder viral verursachte Kinderkrankheiten und auch ausdrücklich genannte Schwindsucht nahm in Verbindung mit mutmaßlichen TBC-Erkrankungen einen nennenswerten Raum innerhalb der Statistik ein. Gleichfalls erwartungsgemäß blieb der Anteil vornehmlich im höheren Erwachsenenalter eintretender kardiovaskulärer Leiden stark begrenzt. Einzig Geschwülste hatten Mitte des 18. Jahrhunderts unvorhergesehen einen relativ hohen Stand. Für das zeitgenössische Bräunsdorf ist von einer gleichartigen Verteilung auszugehen. Trotz wesentlich geringerer Fallzahlen zeigt das Todesursachenspektrum dort zwischen 1730 und 1779 ein vergleichbares Muster. Die nachfolgende Entwicklung folgte entsprechend in beiden Orten parallel demselben Verlauf. Schon im frühen 19. Jahrhundert verlor die vormals dominante Gruppe stark an Macht. Seit den 1830er Jahren erlag kontinuierlich pro Intervall weniger als jeder Vierte einer Erkrankung dieser Kategorie. Bis in die 1920/1930er el deren Anteil in Rußdorf auf 14 Prozent und sank in Bräunsdorf gar in den einstelligen Bereich. Dagegen 630
Vgl. Ehmer, Bevölkerungsgeschichte, S. 40f.
281
EPIDEMIOLOGIE
Tabelle 29: Gewichtung der hauptsächlichen Todesursachen in Rußdorf und Bräunsdorf Rußdorf
1730–1779
1780–1829
1830–1879
1880–1899
1900–1919
1920–1935
4,52% 0,23%
5,24% 0,49%
5,53 % 1,94 %
6,65 % 2,47 %
6,79 % 4,60 %
10,22 % 3,78 %
51,36%
44,27%
21,62 %
16,15 %
16,30 %
14,00 %
0,23% 3,62%
0,98% 4,63%
1,31 % 17,79 %
1,32 % 24,67 %
4,38 % 28,38 %
10,89 % 8,22 %
13,35% 6,11%
5,85% 11,83%
4,27 % 16,92 %
1,21 % 11,37 %
2,64 % 9,81 %
8,22 % 13,56 %
– 6,56%
2,93 % 11,22%
7,61 % 17,40 %
10,93 % 19,45 %
4,83 % 14,04 %
2,00 % 7,11 %
14,03% 442
12,56% 820
5,62 % 2063
5,77 % 1820
8,23 % 1325
22,00 % 450
– –
5,76 % 0,33 %
5,97 % 2,79 %
9,28 % 2,80 %
11,51 % 3,97 %
14,16 % 2,58 %
63,83%
32,40%
22,93 %
13,21 %
13,69 %
5,15 %
Herz-Kreislauf-Erkr.4 Kinderkrankheiten5
4,26%
0,99%
1,43 %
2,03 %
6,35 %
22,32 %
–
4,11 %
16,24 %
38,63 %
27,78 %
12,02 %
Krebs
8,51% 6,38% –
4,11% 8,88% –
3,18 % 19,82 % –
2,16 % 3,94 % 1,65 %
4,37 % 6,94 % 14,29 %
12,02 % 10,30 % 48,07 %
Altersschwäche1 gastroenterologische Erkr.2 Infekte, Entzünd., Atemwegserkr.3 Herz-Kreislauf-Erkr.4 Kinderkrankheiten5 Krebs neurologische Erkr.6 Schwäche7 Tuberkulose8 Sonstige Gesamt Bräunsdorf Altersschwäche1 gastroenterologische Erkr.2 Infekte, Entzünd., Atemwegserkr.3
neurologische Erkr.6 Schwäche7 Tuberkulose8 Sonstige Gesamt 1 2 3
4
5 6 7 8
6,38%
15,13%
10,51 %
18,30 %
13,29 %
8,58 %
10,64%
28,29%
17,12 %
9,53 %
11,51 %
12,88 %
47
608
1256
787
504
233
Enthält v. a.: Alter, Altersschwäche, hohes Alter, Marasmus. Enthält v. a.: Magenkrampf, -verhärtung, -verschleimung, -vereiterung, -erweichung, -krankheit, -blutung, Darmverschlingung, -verstopfung, -verschluss, -leiden, -lähmung, Gastritis. Enthält v. a.: Steck-, Stick- u. Stöck uss, Pest, Cholera, Dysenteria, Ruhr, Pocken /Blattern, Masern, Scharlach, Typhus, Fieber, Bronchitis, Pneumonie/Lungenentzündung, Friesel, Staupe, Schnupfen, Katarrh, Grippe/In uenza, Diphtherie, Hitze, Husten, Asthma, Polio, Bräune, Brand, Syphilis, Rose, Krätze, böser / weher Hals, Keuchhusten. Enthält v. a.: Herzschlag, -fehler, -leiden, -krampf, -krankheit, -schwäche, -muskelentzündung, -lähmung, -infarkt, -insuf zienz, Arteriosklerose, Adernverkalkung, Thrombose, Embolie, Kreislaufschwäche, -stillstand, Wassersucht. Enthält v. a.: Rachitis, Englische Krankheit, Krampf bzw. Krämpfe, Lebensschwäche, Schwämmchen, Schwämme, Zahn eber, Zahnen, Kindermasern, -blattern, -friesel, -staupe, böse Kinderkrankheit. Enthält v. a.: Apoplexie, Nervenschlag, Schlaganfall, - uss, Epilepsie, Fallsucht, Rückenmarksentzündung, -erkrankung, -leiden, Hirnschlag, Gehirnerweichung, -krampf. Typisches Kinderleiden. Enthält v. a.: Schwindsucht, Ab-, Aus-, Verzehrung.
282
STERBLICHKEIT
stieg die eindeutige und mutmaßliche TBC-Sterblichkeit im Verlauf des 19. Jahrhunderts insgesamt deutlich an. Die langwierige, vor allem bei schlechtem körperlichem Allgemeinzustand bzw. latent herabgesetzter Immunabwehr ausbrechende Infektionskrankheit erlebte in den letzten 20 Jahren des 19. Jahrhunderts, der Zeit der Bevölkerungsexplosion, eine Hochzeit, in der sie beinahe 20 Prozent aller Todesfälle der fraglichen Kohorte verursachte. Anschließend ging ihr Anteil rasch auf unter zehn Prozent zurück, eine Entwicklung, die Burkhardt für ganz Sachsen analog beschrieb. 631 Zeitgleich beanspruchten Kinderkrankheiten korrespondierend mit sowohl zunehmenden Geburtenraten, dem steigenden Säuglingssterberisiko (siehe Kap. 6.4) als auch einem großen Anteil Minderjähriger an der Gesamtverstorbenenzahl die Spitzenposition unter den Todesursachenkategorien. Seit dem späten 18. Jahrhundert nahm ihr Gewicht kontinuierlich zu. Mitte des 19. Jahrhunderts waren sie zu einer signi kanten Größe erwachsen und erreichten an dessen Ende in Bräunsdorf bzw. im frühen 20. Jahrhundert in Rußdorf ihren Höhepunkt. Auf dem Gipfel ihrer Bedeutung zeichneten sie für ein Viertel bis ein Drittel aller Todesfälle verantwortlich. Am Ende des Untersuchungszeitraums nahmen sie jedoch, wiederum mit einem starken Rückgang der Natalitätsziffer sowie dem extrem regressiven Säuglingssterberisiko nach 1900 korrespondierend, nur noch vergleichsweise mäßigen Ein uss auf das Sterbegeschehen. Herz-Kreislauf-Erkrankungen erlebten im Kontrast zu den vorgenannten Gruppen gerade nach 1920 einen spürbaren Aufschwung, kamen aber innerhalb des Untersuchungszeitraums kaum über zehn bzw. 20 Prozentpunkte hinaus. Krebstote, die während des 19. Jahrhunderts nach dem anfänglichen Hoch eine eher untergeordnete Rolle spielten und bis in die 1890er Jahre verhältnismäßig seltener wurden – eine Folge der gegenläu gen Kindersterblichkeit –, hatten ihrerseits ab den 1920ern verstärkten Anteil am Todesursachenspektrum, ohne jemals an die gegenwärtigen Maßstäbe heranzureichen. Andere Krankheitskomplexe wirkten mit jeweils konstant geringer letaler Kraft auf die Dorfbewohnerschaft. Diese Feststellung gibt in Hinblick auf die untergeordnete Rolle zum Beispiel gastrointestinaler Erkrankungen Anlass zur Verwunderung. Oft werden als Ursache der überregional tendenziell hohen frühneuzeitlichen Kindersterblichkeit gerade Magen-Darm-Krankheiten bzw. Sommerdiarrhoe infolge falscher Ernährung und schlechter hygienischer Zustände hervorgehoben. 632 Im Falle der hier betrachteten Dörfer stützt zumindest die epidemiologische Statistik das Bild nicht. Freilich sind die hauptsächlichen Säuglingstodesursachen des 19. Jahrhunderts, Krämpfe und Schwäche, typische Symptome unter anderem anhaltender Verdauungsbeschwerden. Insbesondere die vornehmlich, doch keineswegs ausschließlich Säuglinge „angreifende“ Schwäche war in der Rußdorfer Geburten- und Sterbefallregistratur 1860–1899 bzw. jener Bräunsdorfs 1900–1935 vielfach Gegenstand der Diagnostik. 631 632
Vgl. Burkhardt, Bevölkerung, S. 58ff. Vgl. P ster, Bevölkerungsgeschichte, S. 96f.
EPIDEMIOLOGIE
283
Doch nicht nur bei den natürlichen Todesursachen kristallisieren sich Entwicklungstendenzen heraus. Auch Unfälle und Suizide trugen nicht durchgängig mit gleichbleibender Intensität zu den Sterbeziffern bei, obwohl sie in keiner Periode ausblieben. Für gewöhnlich verharrte ihr Anteil unter einem Prozent einer Sterbedekade. Am Ausgang des betrachteten Zeitraums wurde diese eherne Regel klar gebrochen. Tödliche Unglücke traten im Rußdorf der 1920er Jahre überproportional häu g auf, während sie in Bräunsdorf das traditionelle Niveau bis 1935 hielten. Hingegen wagten nach 1929 auffallend viele Bewohner beider Dörfer den Freitod. Mit dieser Entwicklung standen die Untersuchungsorte nicht allein. In ganz Sachsen häuften sich die Suizide in den 1930er Jahren, was Burkhardt auf die seinerzeitigen desolaten wirtschaftlichen Verhältnisse zurückführte. 633 Von den Rußdorfer und Bräunsdorfer Akten werden die Hintergründe jedoch verschwiegen. Die Statistik zeigt, dass verschiedene Todesursachen zu unterschiedlichen Zeiten mehr oder minder großen Anteil am Sterbegeschehen hatten. Fraglich ist, wo die Gründe dieser Gewichtungsverschiebungen zu suchen sind. Büßten einzelne Krankheiten tatsächlich ihr Gefahrenpotential ein oder wurzelt dieser Eindruck schlicht in einem veränderten quantitativen Verhältnis sozialer bzw. altersmäßiger Risikogruppen? Sind derartige Prävalenzen überhaupt ermittelbar? Traf Ersteres zu, müssten alle gesellschaftlichen Teilmengen unabhängig von etwaiger Übersterblichkeit gleichartige Entwicklungstendenzen bei den einzelnen Krankheitstypen erkennen lassen, wohingegen in letzterem Falle das alte Verteilungsmuster weitestgehend Bestand gehabt hätte. Nach dörflichen Besitzständen und Berufsgruppen aufgeschlüsselt, werden anhand von Stichproben an gegensätzlichen Enden des sozialen Spektrums angesiedelter, in statistisch relevanten Größenordnungen vertretener Klassen, wie aus den Tabellen 30 und 31 hervorgeht, keine signi kanten Unterschiede oder todesursachenspezi sche überdurchschnittliche Betroffenheit erkennbar. In beiden Untersuchungsorten gewannen Altersschwäche und kardiovaskuläre Leiden seit dem späten 19. Jahrhundert stark an Gewicht und wurden auch bei Fabrikanten sowie Leinwebern und Strumpfwirkern prozentual öfter genannt. Krankhafte Gewebeneubildungen gingen nach einem Hoch im 18. Jahrhundert hingegen allgemein anteilig zurück und blieben nach 1800 weitestgehend auf einem Niveau unter zehn Prozent. Die gleiche Entwicklung ist bei infektiösen und entzündlichen Erkrankungen zu beobachten, welche über alle sozialen Gruppen hinweg im 18. Jahrhundert kategorisch mindestens ein Drittel, meist aber die Hälfte bis zwei Drittel der jeweils aktuellen Todesursachenspektren ausmachten, nach 1820 in Rußdorf und 1850 in Bräunsdorf jedoch durchschnittlich nur noch zwischen zehn und 20 Prozentpunkte hielten. Zu weiterer Regression kam es in unwesentlichem Maße nach 1910. Als einziger Bevölkerungsteil litt die Rußdorfer Grundbesitzlosenschicht kontinuierlich zu 20 Prozent prämortal an Infekten. 633
Vgl. Burkhardt, Bevölkerung, S. 66ff.
284
STERBLICHKEIT
Tabelle 30: Todesursachenhäu gkeit nach Altersgruppen, Berufsgruppen u. Ständen in Rußdorf (Angaben in %) unter 1 Jahr
Altersschw.
Krebs
in Prozent Infekte HerzKinder- Schwäche u. Entzün- Kreislauf- krankdungen Krankheiten heiten
absolut Tuber- Todesfälle kulose
1730–1759 1760–1789 1790–1819 1820–1849 1850–1879 1880–1909 1910–1935
– – – – – – –
0,00 1,35 1,00 0,23 1,17 0,13 0,79
81,08 52,70 25,00 13,79 13,86 8,95 13,10
0,00 0,00 0,00 0,00 0,00 0,07 1,19
0,00 1,35 10,00 28,27 29,05 42,64 45,24
0,00 0,00 17,00 2,80 10,85 17,64 13,49
2,70 8,11 2,00 16,59 20,87 18,10 3,17
37 74 100 428 599 1508 252
1–20 Jahre 1730–1759 1760–1789 1790–1819 1820–1849 1850–1879 1880–1909 1910–1935
0,00 0,00 0,00 0,00 0,00 0,78 1,05
7,14 0,00 2,50 1,22 1,69 1,16 1,05
71,43 75,00 82,50 51,22 40,68 50,78 49,47
0,00 0,00 0,00 0,00 0,85 4,65 4,21
3,57 0,00 1,25 1,22 0,85 7,75 5,26
– – – – – – –
10,71 1,67 3,75 17,07 18,64 15,12 20,00
28 60 80 82 118 258 95
– – – – – – –
7,69 3,92 6,06 9,38 5,51 2,60 4,07
53,85 47,06 34,85 11,46 10,24 9,96 16,28
0,00 1,96 1,52 2,08 3,15 4,33 11,05
0,00 0,00 0,00 1,04 0,00 0,87 0,58
– – – – – – –
3,85 25,49 27,27 38,54 34,65 50,65 29,65
26 51 66 96 127 231 172
über 50 Jahre 1730–1759 1760–1789 1790–1819 1820–1849 1850–1879 1880–1909 1910–1935
10,34 12,26 8,62 31,07 22,17 27,60 24,26
29,89 23,58 13,79 11,30 12,61 6,56 11,05
32,18 20,75 28,16 10,17 8,70 11,20 11,59
0,00 0,00 1,15 0,56 5,22 4,37 12,94
0,00 0,00 0,00 2,26 0,87 0,00 0,00
0,00 0,00 1,15 0,56 0,43 0,00 0,54
1,15 16,98 6,90 8,47 6,09 4,10 2,43
87 106 174 177 230 366 371
Bauern 1730–1759 1760–1789 1790–1819 1820–1849 1850–1879 1880–1909 1910–1935
5,26 3,03 6,10 7,87 7,83 9,09 14,00
10,53 7,58 4,88 5,62 4,35 0,91 10,00
52,63 59,09 41,46 15,73 14,78 19,09 8,00
0,00 0,00 1,22 0,00 2,61 2,73 16,00
2,63 0,00 4,88 13,48 18,26 26,36 10,00
2,63 12,12 9,76 21,35 21,74 10,91 18,00
2,63 4,55 4,88 13,48 8,70 15,45 0,00
38 66 82 89 115 110 50
21–49 Jahre 1730–1759 1760–1789 1790–1819 1820–1849 1850–1879 1880–1909 1910–1935
285
EPIDEMIOLOGIE
unter 1 Jahr
Einwohner 1760–1789 1790–1819 1820–1849 1850–1879 1880–1909 1910–1935
Altersschw.
Krebs
in Prozent Infekte HerzKinder- Schwäche u. Entzün- Kreislauf- krankdungen Krankheiten heiten
absolut Tuber- Todesfälle kulose
0,00 5,56 0,93 2,11 3,12 7,37
0,00 5,56 2,80 3,80 1,17 3,69
28,57 38,89 20,56 22,78 15,11 21,13
0,00 0,00 0,93 0,42 1,07 5,90
0,00 5,56 28,04 21,52 33,53 17,44
14,29 16,67 12,15 10,13 8,38 11,06
42,86 11,11 14,95 25,32 20,76 9,58
7 18 107 237 1026 407
0,00 1,92 1,32 3,78 2,09 7,58 19,60
10,00 7,69 3,95 3,49 3,83 2,07 8,00
60,00 55,77 36,84 16,57 19,34 16,73 12,40
0,00 0,00 0,00 0,29 1,05 1,67 10,80
10,00 1,92 3,95 21,80 20,21 24,80 8,80
0,00 7,69 9,21 17,73 18,12 11,42 12,00
5,00 17,31 14,47 18,02 20,56 16,73 8,80
20 52 76 344 574 1016 250
Fabrikanten 1850–1879 1880–1909 1910–1935
0,00 2,90 5,26
0,00 1,45 10,53
10,00 24,64 0,00
0,00 2,90 10,53
30,00 26,09 10,53
20,00 7,25 5,26
20,00 11,59 5,26
10 69 19
Gärtner 1730–1759 1760–1789 1790–1819 1820–1849 1850–1879 1880–1909 1910–1935
4,08 7,77 2,29 15,22 8,11 12,86 25,00
22,45 14,56 5,34 5,80 5,95 3,33 5,36
45,92 36,89 37,40 19,57 22,16 17,14 8,93
0,00 0,00 3,82 0,00 3,24 0,95 10,71
5,10 0,00 3,05 8,70 8,65 15,71 16,07
0,00 0,00 4,58 0,72 4,32 8,57 5,36
2,04 13,59 4,58 10,87 8,11 9,52 3,57
98 103 131 138 185 210 56
Häußler 1730–1759 1760–1789 1790–1819 1820–1849 1850–1879 1880–1909 1910–1935
0,00 2,61 3,33 7,62 4,87 7,87 12,55
9,43 8,70 8,10 4,26 4,48 1,35 10,46
47,17 50,43 47,14 18,83 15,98 17,96 14,64
0,00 0,00 0,00 0,22 1,17 2,46 12,55
16,98 0,87 1,43 19,28 19,49 23,62 8,37
0,00 0,00 3,81 2,24 5,85 9,35 3,35
3,77 14,78 9,52 14,80 16,57 15,13 5,86
53 115 210 446 513 813 239
Leinw./Strumpfw. 1730–1759 1760–1789 1790–1819 1820–1849 1850–1879 1880–1909 1910–1935
286
STERBLICHKEIT
Tabelle 31: Todesursachenhäu gkeit nach Altersgruppen, Berufsgruppen u. Ständen in Bräunsdorf (Angaben in %) unter 1 Jahr
Altersschw.
Krebs
in Prozent Infekte HerzKinder- Schwäche u.Entzün- Kreislauf- krankdungen Krankheiten heiten
absolut Tuber- Todesfälle kulose
1790–1819 1820–1849 1850–1879 1880–1909 1910–1935
– – – – –
0,59% 1,94% 1,26% 0,00% 0,00%
27,65% 24,03% 16,12% 4,82% 5,51%
0,00 % 0,00 % 0,25 % 0,54 % 5,08 %
7,65 % 20,54 % 35,01 % 63,04 % 63,98 %
34,12 % 25,19 % 13,60 % 5,18 % 3,81 %
16,47 % 3,49 % 4,28 % 20,00 % 9,75 %
170 258 397 560 236
1–20 Jahre 1760–1789 1790–1819 1820–1849 1850–1879 1880–1909 1910–1935
0,00% 0,00% 0,00% 0,00% 1,15% 0,00%
0,00 % 1,75 % 2,38 % 1,82 % 1,15 % 1,59 %
88,24 % 59,65 % 61,90 % 41,82 % 71,26 % 47,62 %
0,00 % 1,75 % 2,38 % 3,64 % 4,60 % 17,46%
0,00 % 0,00 % 0,00 % 10,00 % 0,00 % 1,59 %
0,00% 8,77% 0,00% 0,00 % 0,00% 0,00 %
0,00 % 10,53 % 14,29 % 7,27 % 13,79 % 19,05 %
17 57 42 110 87 63
0,00% 100,00% 25,00% 0,00% 4,55% 13,64% 6,00% 26,00% 5,56% 16,67% 7,35% 4,41% 4,17% 12,50%
0,00 % 50,00 % 0,00 % 0,00 % 1,39 % 5,88 % 2,78 %
– – – – – – –
– – – – – – –
0,00 % 25,00 % 31,82 % 30,00 % 43,06 % 50,00 % 43,06 %
12 8 22 50 72 68 72
21–49 Jahre 1730–1759 1760–1789 1790–1819 1820–1849 1850–1879 1880–1909 1910–1935
– – – – – – –
über 50 Jahre 1760–1789 1790–1819 1820–1849 1850–1879 1880–1909 1910–1935
0,00% 20,39% 27,61% 23,03% 47,85% 35,29%
16,67% 9,71 % 8,96 % 4,24 % 5,74 % 13,73%
8,33 % 7,77% 6,72% 9,70% 9,09% 6,86 %
16,67 % 3,88 % 0,75 % 4,24 % 7,18 % 15,69 %
0,00 % 0,00 % 0,75 % 0,00 % 0,00 % 0,00 %
0,00 % 4,85 % 3,73 % 1,21 % 0,00 % 0,00 %
0,00 % 8,74 % 14,93 % 9,09 % 0,96 % 0,49 %
12 103 134 165 209 204
Bauern 1730–1759 1760–1789 1790–1819 1820–1849 1850–1879 1880–1909 1910–1935
8,33% 4,88% 5,56% 8,54% 14,71% 10,34% 10,98%
16,67% 9,76 % 5,56 % 7,32 % 3,92 % 1,15 % 6,10 %
33,33% 58,54 % 40,00 % 18,29 % 15,69 % 14,94 % 9,76%
0,00 % 0,00 % 2,22 % 0,00 % 4,90 % 3,45 % 10,98 %
0,00 % 0,00 % 3,33 % 8,54 % 11,76 % 31,03 % 30,49 %
0,00 % 0,00% 11,11 % 15,85 % 4,90 % 2,30 % 0,00 %
4,17 % 2,44 % 6,67 % 4,88 % 5,88 % 11,49 % 3,66 %
24 41 90 82 102 87 82
Einwohner 1790–1819 1820–1849 1850–1879 1880–1909 1910–1935
5,26% 1,22% 4,98% 4,76% 10,62%
5,26 % 3,66 % 4,52 % 3,08 % 5,14 %
31,58 % 45,12 % 18,55 % 12,04 % 14,73 %
0,00 % 1,22 % 0,90 % 2,80 % 9,25 %
0,00 % 10,98 % 23,53 % 21,29 % 4,45 %
21,05 % 9,76 % 6,79 % 1,68 % 0,34%
10,53 % 12,20 % 17,65 % 29,97 % 20,55 %
19 82 221 357 292
287
EPIDEMIOLOGIE
unter 1 Jahr
in Prozent Infekte HerzKinder- Schwäche u.Entzün- Kreislauf- krankdungen Krankheiten heiten
absolut Tuber- Todesfälle kulose
Altersschw.
Krebs
4,76% 0,00% 2,78% 9,73% 20,15%
0,00 % 2,13 % 2,31 % 2,06 % 8,21 %
33,33 % 40,43 % 17,59 % 12,98 % 8,21%
0,00 % 0,00 % 0,93 % 3,24 % 11,19 %
4,76 % 14,89 % 24,07 % 34,22 % 14,18 %
28,57 % 12,77 % 7,87 % 3,24 % 0,75 %
19,05 % 8,51 % 12,50 % 21,24 % 12,69 %
21 47 216 339 134
– – –
3,03% 0,00% 30,00%
21,21% 10,71% 0,00%
0,00 % 7,14 % 10,00 %
21,21 % 42,86 % 10,00 %
3,03 % 0,00 % 0,00 %
24,24 % 14,29 % 0,00 %
33 28 10
Gärtner 1730–1759 1760–1789 1790–1819 1820–1849 1850–1879 1880–1909 1910–1935
6,90% 11,59% 2,29% 14,09% 8,54% 14,91% 27,27%
36,21% 21,74% 6,87 % 5,37 % 7,93 % 3,73 % 7,79 %
29,31% 26,09% 35,11 % 25,50 % 17,68 % 16,15 % 11,69 %
0,00 % 0,00 % 3,82 % 0,00 % 4,88 % 1,86 % 6,49 %
0,00 % 0,00 % 0,76 % 12,08 % 15,85 % 23,60 % 5,19 %
0,00 % 0,00 % 11,45 % 12,08 % 4,27 % 3,11 % 1,30%
0,00 % 0,00 % 7,63 % 5,37 % 3,05 % 6,21 % 9,09 %
58 69 131 149 164 161 77
Häusler 1730–1759 1760–1789 1790–1819 1820–1849 1850–1879 1880–1909 1910–1935
0,00% 5,00% 3,11% 13,39% 7,05% 10,54% 13,89%
9,09 % 15,00% 7,56 % 6,30 % 3,79 % 2,24 % 9,03 %
59,09 % 36,67% 29,33 % 20,87 % 19,24 % 14,35 % 15,97 %
0,00 % 0,00 % 0,00 % 0,79 % 2,44 % 3,14 % 10,76%
0,00 % 0,00 % 4,00 % 7,09 % 14,09 % 26,91 % 6,25 %
0,00% 0,00 % 13,78 % 9,84% 5,42 % 1,12 % 0,69 %
0,00 % 20,00 % 18,67 % 12,20 % 11,11 % 16,59 % 7,99 %
22 60 225 254 369 446 288
Leinw./Strumpfw. 1790–1819 1820–1849 1850–1879 1880–1909 1910–1935 Fabrikanten 1850–1879 1880–1909 1910–1935
288
STERBLICHKEIT
Von Schwächesterblichkeit waren vor allem die Rußdorfer Bauern, Einwohner und Textilgewerbetreibenden sowie in Bräunsdorf die letzteren beiden Gruppen betroffen. Eine höhere Gefährdung der Unterschichtskinder lässt sich aus dem Befund nicht ableiten. Stärkere soziale Differenzen sind einzig bei Kinderkrankheiten und Tuberkulose zu beobachten. Die Rußdorfer Gärtner- und Bräunsdorfer Bauernschicht erlebte im Laufe des 19. Jahrhunderts eine relative Zunahme letal verlaufender, vornehmlich im Kindesalter auftretender Erkrankungen, während die übrige Gesellschaft jeweils nach einer Hochphase 1820–1909 zum Ende der betrachteten Zeit davon immer seltener tödlich betroffen wurde (< 10 %). TBC-Anteile nahmen dagegen gesamtgesellschaftlich nach hohen Prozentwerten 1880/1899 im frühen 20. Jahrhundert merklich ab. Standesdifferenzen werden dabei eher in der jeweiligen Quantität deutlich. Meist erlag weniger als jeder zehnte verstorbene Angehörige der Bauern- und Gärtnerschaft einer Spielart der Schwindsucht. Bei den Häuslern zeichnete die Tuberkulose im 19. Jahrhundert für zehn bis 20 Prozent der Todesfälle verantwortlich. Angehörige der Einwohner- bzw. der Leinweber- und Strumpfwirkerschaft waren am häu gsten betroffen. Offensichtlich schützte Grundbesitz zu einem gewissen Grad vor dem Tuberkuloseexitus. Nicht umsonst gilt die Krankheit als typisches Armutszeichen. 634 Insgesamt scheiden veränderte Gewichtungsverlagerungen der lokalen sozialen Gruppen als mögliche Ursache einer sich wandelnden Morbidität aus. Selbst die seit dem 19. Jahrhundert in beiden untersuchten Dörfern exzessiv wachsende, vor allen anderen tuberkuloseanfällige Landbesitzlosenschicht verhinderte nicht den gesamtgesellschaftlich massiven Rückgang aller Infektionskrankheiten bzw. deren relativen Letalitätsverlust. Weitaus größere Unterschiede in den Todesursachenverteilungsmustern bestanden zwangsläu g zwischen Altersgruppen. Manche Leiden sind an bestimmte körperliche Entwicklungsstufen gebunden. Altersschwäche kann etwa kaum bei einem Kind erwartet werden, Zahnkrämpfe oder Zahn eber umgekehrt nicht bei Erwachsenen. Andere treten zwar per se altersunabhängig auf, jedoch bevorzugt in bestimmten Lebensabschnitten bzw. entfalten ihre letale Wirkung in einigen eher. Säuglinge unter einem Jahr starben anfangs vor allem, bis 1935 aber in stark abnehmender Häu gkeit an Infekten und Entzündungen sowie an Schwäche. Die Schwächemortalität entwickelte sich in Rußdorf proportional zur Zahl der Säuglingssterbefälle, in Bräunsdorf ging sie dagegen über das gesamte 19. Jahrhundert kontinuierlich zurück. In den Todesursachenspektren der übrigen Altersgruppen spielte sie keine übergeordnete Rolle. Auch die Schwindsucht forderte meistens unter zehn Prozent der Kleinstkinder,
634
Vgl. Schmitt, Andreas, „Leuchten wir mal hinein ...“: Das Waldhaus Charlottenburg in Sommerfeld/Osthavelland 1905–1945. Ein Stück Berliner Tuberkulosemedizin, Diss., Berlin 2004, S. 12 ff.
EPIDEMIOLOGIE
289
konnte allerdings in Hochzeiten bis 20 Prozent einer Sterbekohorte verursachen. Für den Löwenanteil der verstorbenen Säuglinge zeichneten mit seit dem späten 18. Jahrhundert steigender Tendenz und insbesondere ab den 1880er Jahren Kinderkrankheiten verantwortlich. Die verbleibende Bevölkerungsgruppe der Unmündigen hatte letale Schwäche und Kinderkrankheiten kaum noch zu fürchten. Deren Los lag einerseits in der unverändert zwischen zehn und 20 Prozent einer Sterbekohorte fordernden Tuberkulose, andererseits in den zum Ende des Untersuchungszeitraums hin prozentual leicht rückläu gen, kontinuierlich über 40 Prozent einfordernden infektiösen und entzündlichen Leiden. Wer zwischen seinem 21. und 50. Geburtstag verschied, litt mit über das 19. Jahrhundert hinweg zunehmender, nach 1909 jedoch leicht sinkender Wahrscheinlichkeit an einer tuberkulösen Krankheit. Entzündungen und Infektionskrankheiten wurden demgegenüber in Bräunsdorf, wo die Schwindsucht stärkeren Anteil an der altersgruppenspezi schen Mortalität nahm, konstant relativ selten diagnostiziert und pegelten sich in Rußdorf erst im 19. Jahrhundert nach rapidem massivem Bedeutungsverlust auf diesem niedrigen Niveau um zehn Prozent ein. Jenseits des 50. Lebensjahres lauerten neben den mehrfach genannten neue Gefahren. Jedem fünften bis vierten Rußdorfer Verstorbenen höheren Alters wurde seit 1820, denjenigen Bräunsdorfern 1820–1879 desgleichen, hernach aber jedem Dritten bis beinahe Zweiten Altersschwäche bescheinigt. Die in den vorherigen Lebensphasen so bedrohliche Schwindsucht hatte kaum noch Bedeutung und verlor im Laufe des 19. Jahrhunderts ihre altersgruppenspezi sche Wirkungsmacht ganz. Gleichzeitig vereinten Infekte und Entzündungen kontinuierlich ca. zehn Prozent jeder Sterbekohorte auf sich. Herz-Kreislauf-Erkrankungen gewannen dagegen für die älteren Semester seit der Jahrhundertmitte deutlich und nach 1909 massiv an Relevanz. In Bräunsdorf hatte dies abschließend auch für Krebsleiden, deren prozentualer Anteil an den Todesfällen vor 1850 extrem gesunken war, Geltung. Das Rußdorfer Beispiel zeigt nach einer gleichartigen Entwicklung während des 18. Jahrhunderts stattdessen einen weitestgehenden Niveauerhalt (um 10%). Mit Hinblick auf die Veränderungen des Gewichtungsverhältnisses der Altersgruppen innerhalb der Sterbedekaden zeichnen die zu Tage getretenen altersspezi schen epidemiologischen Prävalenzen ein relativ klares Bild des sich seit dem späten 19. Jahrhundert wandelnden Todesursachenverteilungsmusters. Die vier bedeutenden Kategorien Schwäche, Kinder-, Alters- und Infektionskrankheiten sind hierbei von Interesse, verantworteten sie doch zusammengenommen selten unter zwei Drittel aller überlieferten Todesfälle einer Kohorte und dominierten dementsprechend in variierender Konstellation das alterskategorienspezi sche Sterbegeschehen. Letale körperliche Schwäche traf fast ausschließlich Säuglinge. Dennoch folgte die prozentuale Entwicklung ihres Auftretens in den Untersuchungsorten nicht der jeweiligen Säuglingsmortalität nach Sterbekohorten. Die zwischendörflich zeitlich differierenden Gipfelwerte (1870er/1810er)
290
STERBLICHKEIT
lagen deutlich vor den maximalen prozentualen Sterblichkeitsanteilen der jüngsten Altersgruppe (1890er). Deren nachfolgend starke Abnahme auf ein historisches Minimum bzw. der starke Rückgang des Säuglingssterberisikos (siehe 6.4) wurde gleichfalls vorweggenommen. Demzufolge steht ein Zusammenhang beider Entwicklungen nicht zur Debatte. Schwächetode gingen somit entweder aufgrund verbesserter Umweltbedingungen, etwa eines gesteigerten Lebens- bzw. Ernährungsstandards der Eltern oder einer veränderten Stillpraxis, zurück oder die recht allgemeine Krankheitsbezeichnung wich schlicht im Rahmen einer professionalisierteren Diagnostik aussagekräftigeren bzw. zumindest in einer veränderten diagnostischen Norm anderen Termini. Letzteres entspricht mutmaßlich der historischen Realität, da im Falle einer Letalitätsverringerung infolge veränderter Umweltbedingungen sowohl in beiden Dörfern weitestgehend synchrone Kurvenverläufe der Schwächesterblichkeit als auch eine Verringerung der gesamten Säuglingsmortalität zu erwarten gewesen wäre. Ebenfalls fast auf Kleinstkinder beschränkt, orientierte sich die Zahl der an typischen Kinderkrankheiten Verstorbenen an deren Sterbeziffer und stieg im Verlauf des 19. Jahrhunderts auf einen Anteil von einem Drittel 1890/1909 bzw. 1880/1899. Die darauffolgende prozentuale Abwertung folgte dem abnehmenden Quantum versterbender Säuglinge teils proportional nach, teils nahm sie einen weniger steilen Verlauf. Unsicher bleibt, inwiefern sich beides ob dieser tendenziellen Parallelität bedingte. Zweifelsohne senkte der stark rückläu ge Säuglingspart an den Sterbedekaden nach 1900 auch den Anteil letaler Kinderkrankheitsfälle massiv. Gleichzeitig legte deren prozentuale Teilhabe am Säuglingssterbegeschehen im frühen 20. Jahrhundert deutlich zu. Sofern also eine wahrscheinlich sinkende Letalität der Kinderkrankheiten ihrerseits in das sich verringernde Sterberisiko der Jüngsten hineinspielte, stand diese hinter der Wirkungsabschwächung einer oder mehrerer anderer Erkrankungen stark zurück. Hierfür kommt einzig die Gruppe der Infektionskrankheiten infrage. Deren Anteil an den gesamtgesellschaftlichen Todesfällen wies in beiden betrachteten Dorfschaften seit den 1810er Jahren eine regressive Tendenz auf und stürzte 100 Jahre später auf ein Minimum zwischen zehn und 20 Prozent. Was in Rußdorf zunächst altersgruppenübergreifend funktionierte, geriet dort Ende des langen 19. Jahrhunderts und in Bräunsdorf generaliter zum Spezi kum der vor allen anderen gefährdeten altersmäßigen gesellschaftlichen Randgruppen. Insbesondere der Säuglingsanteil ging bei Infektionskrankheiten nach 1879 und Tuberkulose nach 1909 massiv zurück. Umgekehrt schwand seit den 1880er Jahren der Anteil jener Todesursachen an den Säuglingssterbefällen. Die gleiche Entwicklung ist, auf die Fälle letaler Tuberkulose bezogen, mit geringerer Intensität bei den über Fünfzigjährigen zu beobachten. Sonstige Infektionskrankheiten nahmen prozentual bei den Bräunsdorfern dieser Altersgruppe nur leicht ab und in Rußdorf gar leicht zu. In Relation zur übrigen Bevölkerung schwand jedoch lediglich die Beteiligung älterer Bräunsdorfer an der Tuberkulosesterblichkeit.
EPIDEMIOLOGIE
291
Für die mittleren Lebensalter wird demgegenüber kein Bedeutungsverlust der Infektionserkrankungen ersichtlich. Im Gegenteil legten sie 1880/1909 vorübergehend an Wirkungsmacht zu oder fanden nach einer Abschwächung in dieser Zeit nach 1900 auf den alten Stand zurück. Obwohl Infektionskrankheiten offensichtlich seit der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts gesamtgesellschaftlich in Rußdorf und Bräunsdorf sukzessive an Letalität einbüßten, pro tierten überwiegend die niedrigsten und hohen Lebensalter. Dies deutet eine in den beiden nalen Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts für die breite Masse spürbar werdende langfristige Verbesserung der Lebensbedingungen an. Ein einhergehend mit der industriellen Entwicklung allgemein steigendes Lebensniveau wäre der immunologischen Widerstandsfähigkeit insbesondere der immunschwachen altersmäßigen Risikogruppen zugutegekommen. Zusätzlich beugten sich sukzessive hebende hygienische Standards in Verbindung mit einem fortschreitend sensibilisierten kollektiven hygienischen Bewusstsein potentiell letalen Infektionen vor. 635 Letztlich begünstigte die verminderte Mortalität durch Infektionskrankheiten eine Steigerung der durchschnittlichen Gesamtlebenserwartung. Vorrangig nach dem 50. Lebensjahr auftretende degenerative Erkrankungen, allen voran die Anfang des 21. Jahrhunderts das Todesursachenspektrum anführenden Herz-Kreislauf-Krankheiten und Krebsleiden sowie Altersschwäche erhielten dank größerer die fraglichen Alter überhaupt erreichender Bevölkerungsmengen einerseits und deren relativer Zunahme infolge regressiver Säuglingssterblichkeit andererseits größeres Gewicht. Dennoch verharrte der Anteil der beiden letzteren Kategorien an den Rußdorfer Todesfällen über Fünfzigjähriger zwischen 1820 und 1935 auf einem Niveau und wurden kardiovaskulären Leiden erst nach 1909 über den langjährigen Stand hinausgehende Prozentwerte zuteil. Bei den Bräunsdorfern der Altersstufe „50 plus“ erlebten Krebs und Herz-KreislaufErkrankungen gleichermaßen in den nalen 25 Jahren des Untersuchungszeitraums einen spürbaren Bedeutungszuwachs, während die Altersschwäche nach einem Gipfel 1880–1909 auf einem niedrigeren, aber gegenüber dem 19. Jahrhundert erhöhten Niveau endete. Die Alterskrankheiten legten dementsprechend für die Rußdorfer nach einer relativen Konstanz während der vorangegangenen 100 Jahre ab 1890 synchron zum Bedeutungsverlust der Kinder- und Infektionskrankheiten an Wirkungsmacht zu, ein Prozess, der in Bräunsdorf bereits in den 1870er Jahren noch vor der „Abwertung“ der vorgenannten Todesursachen einsetzte, jedoch in den 1910er Jahren parallel zu deren beschleunigter prozentualer Rückläu gkeit an Fahrt gewann. Der in Rußdorf und Bräunsdorf angedeutete, bis 1935 aber vor allem altersgruppenspezi sch zu Tage tretende epidemiologische Übergang der Wendezeit zum 20. Jahrhundert wird von Burkhardt bezogen auf den gesamten sächsischen Raum derselben
635
Vgl. Kröhnert, Steffen/Münz, Rainer, Sterblichkeit und Todesursachen. Lebensspanne und Todesursachen früher und heute, o. O. 2011, online: http://www.berlin-institut.org/ leadmin/user_upload/handbuch_texte/pdf_Kroehnert_Muenz_Mortalitaet_2008.pdf [zuletzt aufgerufen am 20. 06.2016], S. 1 f.
292
STERBLICHKEIT
Zeit weitaus stärker beschrieben. Anfang der 1930er Jahre rangierten hier bereits HerzKreislauf-Erkrankungen an oberster Stelle, gefolgt von Krebs und Tuberkulose. Würden in den Untersuchungsorten freilich, wie bei Burkhardt geschehen, die Infektionskrankheiten nicht zusammengefasst betrachtet, ergäbe sich dort ein analoges Bild. 636
6.5 LEBENSERWARTUNG Es wurde bereits mehrfach angedeutet, welche Unterschiede auch in der theoretisch von allgegenwärtiger Todesgefahr geprägten Neuzeit zwischen den Altersklassen bestanden. Den Industriestaaten bzw. Erste-Welt-Ländern ist es bis zum 21. Jahrhundert ächendeckend bis auf Weiteres gelungen, potentiell tödliche Risiken des Alltags mit fortschreitender Tendenz zu minimieren und die Normvorstellung eines langen, weitgehend gesunden Lebens im kollektiven Bewusstsein zu etablieren. In Sachsen lag die Säuglingssterblichkeit zum Beispiel 2013 bei 2,6 pro 1000 Lebendgeborenen. 637 Ein Tod im Kindes- oder Jugendalter ist ähnlich selten. Erst im mittleren Erwachsenenalter von 40–50 Jahren wird das unvermeidliche Ableben stärker als persönliche Bedrohung wahrgenommen. Dennoch, der agile Senior ist 2015 weniger Idealvorstellung als Realität. Neugeborene Sachsen durften 2010/2012 mit einer Lebensdauer von 77,3 (Jungen) bzw. 83,3 (Mädchen) Jahren rechnen 638 und kommen ihrerseits schon heute im alltäglichen Leben ständig mit Hochbetagten jenseits des 80. oder gar 90. Lebensjahres in Berührung. Die Lebenserwartung steigt global gesehen bis auf wenige Ausnahmen selbst in den Entwicklungs- und Schwellenländern beständig. So verwundert es wenig, dass die höchsten veri zierten Lebensspannen beider Geschlechter 1997 und 2014 639 in die jüngste Vergangenheit datieren. Selbst schwere oder multiple Erkrankungen stellen in den Industriestaaten gemeinhin kein unmittelbares Todesurteil mehr dar. Obgleich die Gefahr durch multiresistente Keime jüngst wächst, sind Infektionskrankheiten in der Regel nur bei massiven Vorerkrankungen bzw. in sehr hohen Lebensaltern eine mehr oder minder latente Bedrohung. Wohlgemerkt erschien wenigstens das 100 Jahre umfassende Leben auch in der Neuzeit nicht als Ding der Unmöglichkeit. Die dem 16. Jahrhundert entstammenden, sich
636 637 638
639
Vgl. Burkhardt, Bevölkerung, S. 58ff. Vgl. Statistisches Landesamt des Freistaates Sachsen, Statistischer Bericht. Gestorbene nach Todesursachen im Freistaat Sachsen 2013. A IV 3 – j/13, Kamenz 2014, S. 5. Vgl. Statistisches Landesamt des Freistaates Sachsen, Lebenserwartung Neugeborener im Freistaat Sachsen bis 2010/2012, Kamenz 2015, online: http://www.statistik.sachsen.de/download/010_GB-Bev/02_03_07_nZ.pdf [zuletzt aufgerufen am 20. 06.2016]. Die Französin Jeanne Louise Calment (21. Februar 1875–4. August 1997) gilt seit ihrem Tod im Alter von 122 Jahren und 164 Tagen als Inbegriff der maximal erreichbaren weiblichen wie menschlichen Lebensspanne. Der Japaner Jiroemon Kimura (19. April 1897–12. Juni 2013) ist analog Maßstab des höchstmöglichen männlichen Alters von 116 Jahren und 54 Tagen.
LEBENSERWARTUNG
293
seit dem 17. Jahrhundert zunehmender Beliebtheit erfreuenden Lebenstreppendarstellungen propagierten etwa die Einteilung des Lebens in zehn Stufen seit alters her 640. Das hohe Alter war dabei im Gegensatz zur heutigen Sichtweise keineswegs positiv konnotiert, die Bewertung der Lebensalter überhaupt eine andere. Schon 70-jährige Personen galten als Greise, 80-jährigen wurde immerhin Weisheit zugebilligt. Diese hielt jedoch nicht für lange, drohte doch bei Existenz jenseits des 90. Geburtstages der Spott der Kinder. Auch die regelmäßig aufscheinende Bemerkung zum 100. Jahr, „Gnad dir Gott“, mutet wenig erbaulich an. 641 Im Limbacher Land traten hochbetagte Personen demgemäß lange vor dem 20. Jahrhundert erstmals in Erscheinung. Mit Skepsis zu betrachtende Fälle häuften sich besonders um 1600. Zum Beispiel starb Georg Rudloff 1591 in Rußdorf angeblich mit 96 Jahren, seine mutmaßlich zweite Ehefrau Hedwig 1593 „bey hundert Jahre alt“ 642. Der alte Rußdorfer Richter Gregorius Frischmann brachte es 1605 auf 98 Jahre und Jacob Bretschneider soll 1608 95-jährig gestorben sein. Zur selben Zeit habe Andreas Vogel (1512–1618) im Ganßhorn ein selbst nach heutigen Maßstäben extremes Alter erreicht. Hernach sind derartige Lebensspannen in den Bräunsdorfer und Rußdorfer Kirchbüchern kaum bis gar nicht mehr anzutreffen, obwohl Neunzigjährige zunächst vereinzelt weiter vorkamen. Die Bräunsdorferin Anna Riedel (1577–1671) blieb in beiden Untersuchungsorten bis 1935 unübertroffen, der Rußdorfer Peter Heupt (1638– 1731) legte 1728 vermeintlich wenigstens den für über ein Jahrhundert letzten 90. Geburtstag vor. 643 In der Zwischenzeit verstarb der Rußdorfer Häusler Peter Esche 1780 mit „nur“ 85 Jahren, „der Älteste der ganzen Gemeinde“, „als ein abgelebter Greis“ 644 und schied der einzige weitere je „Senior“ des Dorfes titulierte Einwohner 1786 im Alter von 88 Jahren aus dem Leben 645. Unter den Bräunsdorfern vermochte Maria Kühnrich (1742–1834) 1833 erstmals wieder einen 91. Geburtstag zu feiern, ohne während des 19. Jahrhunderts noch einen Nachahmer zu nden. Erst Caroline Concordia Goldammer (1819–1911) in Rußdorf und Johanne Christiane Schneider (1822–1912) in Bräunsdorf leiteten in ihren Wohnorten einen neue Serie höchster Lebensalter ein. Das angebliche Niveau des frühen 17. Jahrhunderts wurde bis 1935 jedoch weder hier noch dort erneut erreicht. In Bräunsdorf stellte erst Carl Franke (1841–1936) den Altersrekord Anna Riedels ein. Einem 640 641 642 643
644 645
Vgl. Ehmer, Josef, Lebenstreppe, in: Enzyklopädie der Neuzeit, Bd. 9, Naturhaushalt – Physiokratie, Stuttgart 2009, S. 50–53, S. 53. Vgl. Chvojka, Erhard, Geschichte der Großelternrollen vom 16. bis zum 20. Jahrhundert, Wien/Köln /Weimar 2003, S. 72 ff. Vgl. EPA Kaufungen, KB I, Beerdigungsregister Rußdorf, Beerdigungen 1593, Nr. 3. Tatsächlich war er erst 1644 geboren. Eine Verwechslung seines Taufeintrags mit dem eines älteren, früh gestorbenen Bruders gleichen Namens führte zu einer falschen Altersberechnung. – Vgl. EPA Langenchursdorf, KB I: Kirchbuch 1612–1684, Taufregister 1638, Nr. 2 u. 1644, Nr. 28. Vgl. EPA Rußdorf, KB I, Beerdigungen 1780, Nr. 1. Vgl. ebd., Beerdigungen 1786, Nr. 3.
294
STERBLICHKEIT
Bewohner der benachbarten Exklave gelang dies erstmals zehn Jahre später. Höhere Lebensalter sind anhand keiner der ausgewerteten Personenstandsakten vor 1964 bzw. den 1970ern nachweisbar 646 und traten erst ab 1990 regelmäßig auf. Nun wurden auch Hundertjährige oder noch ältere Personen erwähnt 647. Karl Friedrich Anders (1888–1994) markiert vorläu g den altersmäßigen Gipfelpunkt. Die ab dem frühen 20. Jahrhundert steigenden Maximalaltern zustrebende Tendenz wird von der durchschnittlichen Lebenserwartung in den Untersuchungsorten vorweggenommen. Bis zum 19. Jahrhundert waren Veränderungen der mittleren erreichten Lebensalter in den betrachteten Dorfschaften in geringem Maße feststellbar. Vor 1830 zählten die Rußdorfer einer Sterbedekade (Tab. 32) im Schnitt zwischen 20 und 30 Jahre, was hohe Kinder- und Jugendsterblichkeit andeutet. Lediglich zwischen 1720 und 1749 wurden binnen eines längeren Intermezzos Durchschnittsalter jenseits der 30 verzeichnet. 648 Seit den 1840er Jahren nahm der bis dahin augenscheinlich relativ konstante, signi kante Anteil unmündiger Personen an den dezennial Verstorbenen noch zu, sodass zwischen 1840 und 1909 nicht einmal 20 Jahre das Mittel repräsentierten. Das absolute Minimum von 14,21 Jahren zeigte die nale Dekade des 19. Jahrhunderts. Wie zuvor nahm das mittlere Lebensalter der verstorbenen Rußdorfer danach ohne erkennbare nennenswerte intersexuelle Unterschiede kontinuierlich zu. Schon vier Jahrzehnte nach dem Minimum lag die Lebenserwartung nach Sterbedekaden jenseits 50, deutlich über dem frühneuzeitlichen Gipfelpunkt (1690/1699: 40,01). Keinen anderen Bahnen folgte die Bräunsdorfer Entwicklung. Bis in die 1770er Jahre zählten die dortigen Toten durchschnittlich meist 20–30 Jahre, während der folgenden zehn Dekaden 19–25. Mit einem absoluten Tiefstand von 16,19 Jahren in den 1880ern gerieten die letzten zwei Dekaden des 19. Jahrhunderts auch für die Bräunsdorfer zur Periode geringster altersgruppenübergreifender Lebenserwartung (Ø 17,18), woran sich eine kontinuierliche Wachstumsphase bis über das betrachtete Zeitfenster hinaus anschloss. In beiden Orten konnten erwachsene Männer des 18. und 19. Jahrhunderts auf eine gegenüber den Frauen um mehrere Jahre längere Lebensspanne hoffen. Zeichnete die Kindbettsterblichkeit für die Geschlechterdisparität verantwortlich, wie unter anderem Adler feststellt 649, el diese im 17. Jahrhundert deutlich geringer aus. Wie erst im späten 19. und vor allem im 20. Jahrhundert wieder, überragte damals die weibliche Lebenserwartung jene der Männer tendenziell. Das anhaltende unrealistisch niedrige Niveau
646 647 648 649
Paul Theodor Schmiedel, 1868 in Rußdorf geboren, starb 1964 in Bräunsdorf 95-jährig; die dort ansässigen Eheleute Emil Richard (1877–1974) und Marie Thekla Herrfurth (1877–1975) erlebten ihr 97. bzw. 98. Geburtsjubiläum. Siehe: A. E. Türpe (1886–1990), A. E. Kreßner (1904–2008), M. E. Göpfert (1904–2009), R. M. Sonntag (1907–2012), M. M. Grobe (1911–2012), W. G. Schaarschmidt (1913–2014) und M. D. Finzel (1912–2015). Totgeburten wurden bei der Auswertung außer Acht gelassen. Es erschiene bedenklich und wirkte statistisch verfälschend, die Absenz jeglicher postnataler Lebenszeit als relevante Lebensspanne zu werten. Vgl. Adler, Demographie, S. 279.
LEBENSERWARTUNG
295
ging auf eine bis zum Ersten Weltkrieg massive Kindersterblichkeit zurück. Mündige Personen erreichten in allen Sterbedekaden seit 1640 (Bräunsdorf) bzw. 1680 (Rußdorf) durchschnittlich zwischen 50 und 65 Lebensjahre. Die jeweiligen Maxima mit knapp über 60 Jahren ent elen in der sachsen-altenburgischen Exklave auf die 1590er (63,91), dicht gefolgt vom 1770er- (63,75) und 1930er-Wert (62,67) sowie im Nachbardorf auf die nalen sechs betrachteten Jahre (65,88). Leichte Schwankungen blieben trotz der relativen Einmütigkeit freilich nicht aus. Ein zeitgleich mit der Degression des mittleren Alters aller Verstorbenen vor 1910 zu Tage tretender „Niedrigstand“ 1870–1909 (Rußdorf) bzw. 1870–1889 (Bräunsdorf) zeigte eine gesamtgesellschaftliche Verringerung der Lebenserwartung in beiden Untersuchungsorten an, die im industriellen Rußdorf gleich der Kindersterblichkeit größere Ausmaße annahm. Seine Ursache hatte der Einbruch vermutlich in der gleichzeitig zuwanderungsbedingt prozentual stark wachsenden Gruppe junger Erwachsener bzw. mittlerer Lebensalter. Diese nahmen entsprechend relativ einen erhöhten Anteil am Sterbegeschehen, ohne tatsächlich eine geringere Lebenserwartung aufzuweisen. Mit seiner geringeren wirtschaftlichen Attraktivität zog Bräunsdorf verhältnismäßig weniger junge Menschen in einem kürzeren Intervall an, sodass deren Zuwanderung dort geringere Auswirkungen auf die Lebenserwartung zeigte. 650 Die Hauptursache minderer absoluter Lebenserwartung liegt allerdings weniger in der allgemeinen Kindersterblichkeit denn in jener der Säuglinge. Keine andere Altersgruppe war vor dem 20. Jahrhundert einem derart hohen Sterberisiko ausgesetzt wie Neugeborene bzw. Kinder unter einem Jahr. Dieses Phänomen beschränkte sich keineswegs auf die Fallbeispiele, sondern war vielmehr in unterschiedlicher Ausprägung Charakteristikum aller europäischen Gesellschaften vor dem 19. Jahrhundert, zu denen bislang demographische Studien vorliegen. 651 Es resultiert schlicht aus der Interferenz natürlicher physiologischer und immunologischer Benachteiligung der Jüngsten insbesondere Tage und Wochen nach der Geburt mit alles andere als optimalen Lebensbedingungen. Unzureichender Schutz gegen Wetter bzw. klimatische Erscheinungen, schlechte Hygiene oder unzulängliche Ernährung der Mutter vor der Geburt spielten ebenso dem frühen Tod in die Hände wie nachteilige Behandlung bzw. Versorgung aus kulturellem und traditionellem Verständnis bzw. dem Zeitgeist heraus. Von den Sterbefällen einer Dekade ent elen in den Untersuchungsorten vor 1920 selten unter 30 Prozent auf unmündige Personen, wie Tabelle 33 zeigt. Ende des 16. Jahrhunderts erscheint deren Anteil mit einem Drittel in Rußdorf vergleichsweise moderat,
650
651
Nach Geburtendekaden entwickelte sich die Lebenserwartung simultan. Zwischen 1650 und 1899 lag sie in Rußdorf bei 53–61 Jahren bzw. in Bräunsdorf zwischen 1640 und 1859 bei 52–63 Jahren. Danach konnten rasch höhere Werte gemessen werden. Im Unterschied zur Lebenserwartung nach Sterbedekaden lagen die absoluten Maxima (70,5/71,19) hier im ersten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts. Vgl. Ehmer, Bevölkerungsgeschichte, S. 36f. – P ster, Bevölkerungsgeschichte, S. 35 f.
296
STERBLICHKEIT
Tabelle 32: Durchschnittliche Lebenserwartung nach Sterbejahrgängen in Rußdorf und Bräunsdorf alle Altersgruppen Gesamt Rd.
Männer
Bd.
–
Rd.
6,98
1590–1599
8,13 26,43
1610–1619 1620–1629 1630–1639
14,76 – 13,23 – 20,72 21,14 6,08 26,50 18,98 20,81 20,47 11,11 21,66 12,75 24,20
1640–1649 1650–1659 1660–1669
2,74
Bd.
1582–1589 1600–1609
–
Rd.
über 21-Jährige Frauen
Gesamt
Bd.
Rd.
Männer
Bd.
Rd.
Frauen
Bd.
Rd.
Bd.
7,09
– 58,15
– 40,97
– 75,32
–
– 6,88 – 21,04
– 13,85 – 35,34
– 63,91 – 62,10
– 59,30 – 69,33
– 68,53 – 58,75
– –
33,95
– 26,22
– 39,29
– 54,28
– 49,97
– 58,16
–
19,93
– 20,83
– 19,02
– 50,76
– 54,44
– 42,64
–
– 50,38 – 40,63 – 56,22 – 0,40 43,86 54,38 45,45 54,38 42,46 – 3,51 52,37 52,65 54,12 52,85 52,40 52,05
23,95 34,74 36,63 37,84 17,31 32,50 53,99 64,44 58,73 66,65 52,60 62,26
1670–1679 1680–1689
26,15 41,15 23,77 36,44 30,01 44,68 45,29 60,38 52,09 58,47 43,23 62,94
1690–1699
34,84 27,21 35,78 30,83 34,00 23,60 61,50 50,51 59,84 48,75 62,26 51,53 29,83 23,39 35,50 18,21 24,15 28,57 51,64 60,35 54,82 63,31 50,72 56,59 27,40 31,70 25,68 27,20 29,11 36,67 57,84 56,50 57,46 55,92 56,22 56,00
1700–1709 1710–1719 1720–1729 1730–1739 1740–1749 1750–1759 1760–1769 1770–1779
30,58 35,80 38,33 36,13 27,87 37,09 53,94 59,75 54,50 59,25 58,45 59,66
35,70 31,25 41,25 30,73 30,16 31,77 56,79 60,89 57,31 61,38 53,52 60,30 33,47 33,65 30,33 29,70 36,62 37,60 58,68 61,80 65,03 66,60 56,24 58,46 33,29 31,13 32,07 27,03 34,51 35,24 59,19 61,05 61,95 60,56 56,44 58,47 29,14 32,76 28,46 32,93 29,81 32,59 58,54 59,51 58,15 58,26 59,46 59,96 28,62 27,34 28,47 27,70 28,76 26,98 58,75 59,41 62,17 58,47 55,30 61,18 26,75 22,43 28,27 21,47 25,22 23,40 63,75 60,36 65,20 60,80 60,99 56,05
1780–1789
27,84 21,50 27,40 19,23 28,28 23,78 59,31 57,23 60,71 65,26 57,91 51,28
1790–1799 1800–1809
26,59 25,50 25,90 24,70 27,27 26,29 59,90 59,46 60,52 61,93 59,28 56,99
1810–1819 1820–1829
29,30 28,18 28,97 28,41 29,63 27,95 59,98 62,03 63,39 60,24 56,57 64,80 25,49 20,32 23,72 20,57 27,27 20,08 57,32 56,21 60,79 55,42 53,85 56,99 24,47 22,79 24,81 18,67 24,14 26,91 56,55 59,07 58,89 59,57 54,21 58,58
1830–1839 1840–1849
21,32 23,27 21,27 20,68 21,37 25,86 60,44 58,35 59,94 58,36 60,94 58,34 19,97 21,18 19,11 19,49 20,82 22,86 51,58 57,30 51,39 58,76 51,76 55,85
1850–1859 1870–1879 1880–1889
19,94 18,81 20,80 14,25
1890–1899 1900–1909
14,32 19,66 14,62 19,82 14,02 19,51 54,75 60,88 58,42 64,12 51,08 57,64 18,17 23,88 16,59 17,42 20,82 30,34 55,48 60,63 57,62 63,27 53,33 57,99
1910–1919 1920–1929 1930–1935 1600–1699 1700–1799 1800–1899
30,12 43,83 51,99 25,53 29,86 20,87
1900–1935
34,25 39,22 33,66 35,58 35,14 42,86 58,23 62,16 59,73 64,89 56,72 59,44
1860–1869
23,37 21,52 20,86 17,55
32,49 45,02 55,48 26,01 28,06 21,87
18,45 15,43 21,78 14,95
29,22 45,06 50,53 25,94 30,28 20,31
25,66 20,98 19,53 15,82
27,45 44,32 53,13 28,83 25,89 20,96
21,43 22,20 19,83 13,56
31,03 42,60 53,44 27,77 29,44 21,43
21,08 22,07 22,19 19,28
37,54 45,73 57,83 23,63 30,29 22,78
57,85 57,66 54,25 54,08
56,74 59,80 62,67 52,95 58,44 56,45
58,02 58,92 53,70 56,16
59,00 63,14 65,88 57,02 59,66 58,06
56,76 59,96 56,44 55,55
60,06 60,14 62,03 53,73 60,33 58,15
57,02 62,67 54,67 59,33
61,60 69,40 65,30 56,73 61,25 59,02
58,94 55,36 52,06 52,61
53,42 59,45 63,32 52,77 56,85 54,74
59,02 55,18 52,72 52,38
56,41 56,88 66,47 57,69 57,53 57,15
LEBENSERWARTUNG
297
während sie in Bräunsdorf schon damals fast die Hälfte aller Verstorbenen stellten. Seit den 1730er Jahren stieg die Unmündigenquote dauerhaft deutlich an. In Rußdorf lag sie 1730–1779 zwischen 40 und 50, 1780–1829 zwischen 50 und 60 Prozent, in Bräunsdorf wurde die Fünfzigprozentmarke bereits 1760 dauerhaft überschritten. Seit den 1830ern hatten in beiden Dörfern annähernd zwei Drittel der Verstorbenen regelmäßig ihren 21. Geburtstag noch vor sich. Ihren Scheitelpunkt erreichte die Entwicklung in den 1880er Jahren, jedoch ging die hohe Jugendsterblichkeit erst nach 1910 rapide zurück. In den 1930er Jahren wurde schließlich ein historisch gesehen unikales Verhältnis von ca. 1:4 zwischen den unmündigen und mündigen Toten erreicht. Die Hauptlast der Unmündigensterblichkeit wurde konsequent von den unter Einjährigen getragen, deren Anteil an den Sterbekohorten üblicherweise zehn bis 20 Prozent unter demjenigen aller Minderjährigen lag. Noch in den 1930er Jahren machten Säuglinge allein zum Beispiel rund 59 Prozent aller in Rußdorf unmündig Gestorbenen aus. Lediglich 1620–1659 sowie in den 1670ern/1680ern war dieser Stand unterschritten worden. Oft schwankte die betreffende Prozentzahl jedoch zwischen 70 und 79 und beanspruchte zwischen 1820 und 1909 in sechs Jahrzehnten über 80 Prozent der Anteile mit dem absoluten Maximum 1900/1909 (87,07 %). Auf die Gesamtheit der Verstorbenen bezogen, bestimmte die Säuglingssterblichkeit entsprechend maßgeblich über das Verhältnis mündiger zu unmündigen Toten. Zwangsläu g spiegelte die Entwicklung der Mündigensterblichkeit jene der Kinderund Jugendmortalität summarisch, aber nicht altersgruppenspezi sch. Dem geringsten Sterberisiko sahen sich kontinuierlich 21- bis 49-Jährige ausgesetzt, deren nachweislicher Anteil im Ganzen zwischen einem und 22 Prozent schwankte, mehrheitlich allerdings zwischen acht und 16 variierte. An zweiter Stelle bewegte sich regelmäßig die Gruppe der 50- bis 69-Jährigen mit einem maximalen Beitrag von einem Drittel. Tatsächlich standen die Chancen, den Zahlen nach zu urteilen, nach Vollendung des ersten Lebensjahres nicht übermäßig schlecht, auch ein hohes Lebensalter von 70 oder mehr Jahren zu erreichen. Besonders vor 1700 verzeichneten die Rußdorfer Kirchbücher verhältnismäßig viele Greise. Dennoch feierten die Wenigsten vor 1900 ihren 80. oder gar 85. Geburtstag. In der Regel zählten zwischen fünf und zehn Prozent einer Sterbekohorte 70–79 Jahre (1930er 21,96% in Rußdorf u. 23,75% in Bräunsdorf). Allen drei genannten Altersgruppen Mündiger sind relativ geringe Niveauveränderungen vor 1910 gemein. Danach wuchsen die Anteile der jenseits ihres 60. Geburtstags Verstorbenen jedoch deutlich an und schlossen in den 1930ern mit überdurchschnittlichen Prozentwerten ab. Ein Blick auf die Lebenserwartung nach Geburtenkohorten (Tab. 34) erhärtet das anhand der Sterbekohorten gewonnene Bild einer bis um 1900 maßgeblich von Kleinstkindmortalität de nierten Lebenserwartung. Auch hier gab die Säuglingssterblichkeit den Ausschlag für die Gewichtung der vor und nach dem 21. Geburtstag dahinscheidenden Geborenen einer Dekade. Die tatsächliche Quote derer, die im Laufe ihrer Kindheit dem Tod zum Opfer elen, stand allerdings deutlich hinter der bei den
298
STERBLICHKEIT
Tabelle 33: Anteil spezi scher Altersgruppen an der Totenzahl nach Dekaden in Rußdorf und Bräunsdorf (Angaben in %) unter 21-Jährige Rd. 1582–1589 1590–1599 1600–1609 1610–1619 1620–1629 1630–1639 1640–1649 1650–1659 1660–1669 1670–1679 1680–1689 1690–1699 1700–1709 1710–1719 1720–1729 1730–1739 1740–1749 1750–1759 1760–1769 1770–1779
Bd.
über 21-Jährige Rd.
Bd.
unter Einjährige Rd.
Bd.
über 70-Jährige Rd.
Bd.
39,34 51,32
– –
60,66 48,68
– –
29,51 34,21
– –
59,02 46,05
– –
39,29
–
60,71
–
25,00
–
35,71
–
42,55 50,62 37,74
– – –
57,45 49,38 62,26
– – –
25,53 25,93 21,70
– – –
21,28 24,69 37,74
– – –
32,08 45,00
15,52 53,85
67,92 55,00
84,48 46,15
15,09 22,50
12,07 46,15
37,74 40,00
0,00 0,00
31,11
46,00
68,89
54,00
24,44
36,00
48,89
14,00
30,16 39,53
30,86 46,38
69,84 60,47
69,14 53,62
15,87 20,93
25,93 33,33
36,51 27,91
18,52 8,70
34,43 41,10
44,79 49,28
65,57 58,90
55,21 50,72
26,23 28,77
26,04 39,13
31,15 16,44
9,38 11,59
51,72 37,93
44,93 48,80
48,28 62,07
55,07 51,20
29,89 22,99
30,43 41,60
10,34 19,54
5,80 12,00
46,81 42,74
47,12 53,40
53,19 57,26
52,88 46,60
31,91 32,48
35,58 31,07
13,83 14,53
15,38 11,65
47,20 49,75
45,11 52,73
52,80 50,25
54,89 47,27
35,20 29,44
24,81 33,94
12,00 12,18
17,29 16,36 8,33
48,60
56,82
51,40
43,18
32,96
43,94
24,58
1780–1789
55,69
61,94
44,31
38,06
37,72
48,51
14,37
7,46
1790–1799 1800–1809 1810–1819
55,22 57,20
56,91 58,50
44,78 42,80
43,09 41,50
42,61 40,08
46,96 39,50
12,17 12,84
14,92 13,00
1820–1829 1830–1839
58,97 59,68 65,32
63,05 63,64 63,16
41,03 40,32 34,68
36,95 36,36 36,84
41,03 48,62 53,20
51,23 49,43 48,95
8,79 8,70 10,44
7,88 7,39 10,00
1840–1849
64,72
61,93
35,28
38,07
49,49
53,21
8,38
9,63
1850–1859 1860–1869
63,77 67,74
61,19 63,80
36,23 32,26
38,81 36,20
51,21 56,13
48,60 46,24
13,53 8,82
8,39 10,04
1870–1879 1880–1889 1890–1899
65,36 76,57 76,35
64,47 70,30 68,88
34,64 23,43 23,65
35,53 29,70 31,12
50,00 60,91 63,17
51,89 55,94 57,91
9,46 6,51 4,98
7,55 7,67 11,99
1900–1909
68,85
62,90
31,15
37,10
59,95
51,24
7,79
13,78
1910–1919
50,57 27,69 18,22
46,96 32,50 17,50
49,43 72,31 81,78
53,04 67,50 82,50
35,47 20,43 10,75
31,74 25,00 10,00
14,72 23,12 34,58
18,26 28,75 38,75
1920–1929 1930–1935
LEBENSERWARTUNG
299
Sterbekohorten beobachteten zurück und machte selbst auf dem Gipfelpunkt Mitte des 19. Jahrhunderts lediglich maximal 50 Prozent aus. Diese Diskrepanz verwundert wenig. Bräunsdorf und Rußdorf beherbergten den gesamten Untersuchungszeitraum hindurch wachsende Gesellschaften, womit eine Multiplizierung vor allem jüngerer und jüngster Bevölkerungsteile einherging. Entsprechend größer musste deren Anteil an den Sterbekohorten selbst unveränderter Lebenserwartung ausfallen. Eine zusätzlich seit Mitte des 18. Jahrhunderts stark zunehmende Säuglingsmortalität, die mit vermehrten Reproduktionsraten ausgeglichen wurde (Kap. 7.1), trug ihr Übriges bei. Nichtsdestotrotz geben die bei den Sterbekohorten ersichtlich gewordenen Veränderungen des Verteilungsmusters der Altersgruppen die grundlegenden Tendenzen der Lebenserwartungsentwicklung wenigstens bis zum 21. Geburtstag korrekt wieder. Da nicht von allen in Rußdorf und Bräunsdorf Geborenen das Sterbealter bekannt ist, entsprechen die prozentualen Anteile der einzelnen Altersgruppen nach Geburtenkohorten der Realität nicht umfänglich. „Verluste“ entstanden vornehmlich durch Wegzug der betreffenden Personen. Zum Ende des Untersuchungszeitraums gründeten sie zusätzlich im Ende der Auswertung. Die Verzugswahrscheinlichkeit stieg mit der Mündigkeit sprunghaft an. Daher ist die Zuverlässigkeit der Anteile der minderjährig Verstorbenen vergleichsweise hoch einzuschätzen. Eine anfänglich außerordentlich hohe Unmündigensterblichkeit über 30 Prozent Ende des 16. Jahrhunderts und über 45 Prozent in den 1620er und 1630er Jahren steht im klaren Gegensatz zu einer 1640 bis 1699 relativ niedrigen Quote unter einem Viertel in Rußdorf bzw. zwischen 20 und 30 Prozent in Bräunsdorf. Während das Hoch 1620–1639 eine Verbindung mit der unsicheren Zeit des Dreißigjährigen Krieges andeutet, entbehrt es für die erste Hochphase einer Erklärung. Nach 1700 folgte eine 50-jährige Phase mit 20- bis 40-prozentigem Risiko, das 21. Jahr nicht vollenden zu können. Zwischen 1750 und 1899 starben konsequent vier bis fünf von zehn Geborenen vor ihrem 21. Geburtstag. In Rußdorf ist der Scheitelpunkt in den 1840er, in Bräunsdorf in den 1880er Jahren zu suchen. Realiter blieb das Sterberisiko der Jüngsten in der Exklave zwischen 1830 und 1889 jedoch auf einem Niveau. Wie anhand der Sterbekohorten bereits festgestellt, zeichnete die Säuglingsmortalität, welche meist zehn bis 15 Prozent hinter jene der Minderjährigen insgesamt zurück el, diese vor. Demgemäß erlebten beide nach 1900 eine rasche Regression auf ein ungekannt niedriges Niveau. Obwohl sicherlich leicht verfälscht, wuchs simultan im frühen 20. Jahrhundert vor allem der Anteil der Einheimischen, die ein hohes Alter über 70 Jahre erreichten, unter den Rußdorfer Geborenen auf 33,73 Prozent in den 1910er Jahren bzw. in Bräunsdorf schon seit den 1880er Jahren auf schließlich 38,02 Prozent in den 1910ern an. 652 Ähnlich 652
Seit den 1920er Jahren geht der Anteil alter Menschen schnell stark zurück. Hierfür zeichnet ein quellenbedingtes statistisches Ungleichgewicht verantwortlich. Für die vorliegende Arbeit konnte lediglich auf die angesichts sich
300
STERBLICHKEIT
Tabelle 34: Anteil spezi scher Altersgruppen an der Geburtenzahl nach Dekaden in Rußdorf und Bräunsdorf (Angaben in %) unter 21-Jährige über 21-Jährige unter Einjährige über 70-Jährige Rd. 1582–1589 1590–1599 1600–1609 1610–1619 1620–1629 1630–1639 1640–1649 1650–1659 1660–1669 1670–1679 1680–1689 1690–1699 1700–1709 1710–1719 1720–1729 1730–1739 1740–1749 1750–1759 1760–1769 1770–1779
Bd.
Rd.
Bd.
Rd.
Bd.
Rd.
Bd.
Unbekannt Rd.
Bd.
30,10 33,02
– –
19,42 20,75
– –
18,45 24,53
– –
2,91 2,83
– –
50,49 46,23
– –
23,81
–
36,90
–
15,48
–
10,71
–
39,29
–
29,27 46,15 48,78
– – –
21,95 17,58 20,73
– – –
15,85 23,08 30,49
– – –
4,88 6,59 1,22
– – –
48,78 36,26 30,49
– – –
18,75 21,74
18,18 29,29
37,50 41,30
36,36 42,42
14,58 8,70
11,69 24,24
6,25 6,52
9,09 12,12
43,75 36,96
45,45 28,28
21,79
23,86
44,87
45,45
15,38
19,32
8,97
9,09
33,33
30,68
27,87 15,73
28,41 29,09
40,98 44,94
44,32 54,55
16,39 7,87
23,86 20,91
8,20 16,85
12,50 18,18
31,15 39,33
27,27 16,36
22,12 32,38
29,66 27,83
56,73 48,57
44,07 37,39
17,31 21,90
22,03 21,74
16,35 14,29
11,86 6,09
21,15 19,05
26,27 34,78
39,47 22,05
24,06 38,59
50,88 62,20
36,84 27,17
21,93 14,17
16,54 29,89
11,40 10,24
11,28 7,61
9,65 15,75
39,10 34,24
29,89 33,33
43,61 30,57
46,55 44,87
21,05 31,21
19,54 22,44
26,32 19,75
11,49 11,54
3,76 5,73
23,56 21,79
35,34 38,22
42,33 43,40
39,16 42,86
33,74 35,85
30,12 24,87
27,61 26,89
21,08 28,57
7,98 6,60
8,43 4,23
23,93 20,75
30,72 32,28 32,83
47,34
40,40
37,77
26,77
32,98
30,81
11,17
9,60
14,89
1780–1789
42,25
40,89
37,09
24,63
31,92
31,53
11,27
5,91
20,66
34,48
1790–1799 1800–1809 1810–1819
46,64 46,60
44,19 46,72
31,88 35,71
27,13 21,83
34,90 32,65
33,72 35,37
9,73 11,22
8,91 6,99
21,48 17,69
28,68 31,44
1820–1829 1830–1839
43,40 42,78 49,09
42,80 43,19 46,59
30,50 32,09 24,66
29,15 26,85 24,50
31,09 32,89 36,76
35,79 33,85 37,35
6,16 6,95 6,85
10,33 8,95 7,63
26,10 25,13 26,26
28,04 29,96 28,92
1840–1849
52,58
42,55
18,43
23,29
43,15
35,71
4,94
8,70
28,99
34,16
1850–1859 1860–1869
51,04 51,69
44,79 41,67
21,47 20,22
24,74 22,92
40,30 41,73
36,72 31,94
8,29 8,67
9,90 12,27
27,50 28,09
30,47 35,42
1870–1879 1880–1889 1890–1899
48,76 48,44 45,90
45,29 48,33 43,68
17,99 11,10 25,72
25,41 37,61 42,16
36,26 40,08 39,04
33,61 39,19 38,11
7,83 3,04 13,72
15,16 23,02 24,11
33,24 40,46 28,38
29,30 14,06 14,17
1900–1909
36,19
33,87
44,26
55,58
32,29
28,19
26,98
35,09
19,55
10,55
1910–1919
24,59 15,34 9,81
24,79 18,29 5,00
58,98 49,53 33,86
62,26 54,57 35,00
19,48 8,88 6,96
18,73 12,50 4,17
33,73 32,97 17,09
38,02 34,45 18,33
16,43 35,13 56,33
12,95 27,13 60,00
1920–1929 1930–1935
LEBENSERWARTUNG
301
drastisch folgte die Altersgruppe 50–69 prozentual nach, während die vorhergehenden sämtlich stagnierten oder leicht abnahmen. Nach 1900 überschritt der Anteil derer, die den 90. Geburtstag feierten, unter den Geborenen nachweislich erstmals seit 1600/1609 die Einprozentmarke, während erste Einhundertjährige, deren Zahl bis in die Gegenwart unerheblich blieb, in den 1880ern zur Welt kamen. Zusammengefasst entwickelte sich die Lebenserwartung in Rußdorf und Bräunsdorf zwischen 16. und 20. Jahrhundert unter dem Diktat der konsequent massiven Säuglingssterblichkeit in mehreren Perioden. Dagegen zeigt die meist zwischen 50 und 60 Jahren schwankende mittlere Lebensspanne mündiger Personen bestenfalls zwei Entwicklungsphasen. In Anlehnung an das durchschnittliche Alter vor Ort Verstorbener differierte deren Altersprognose im frühen 20. Jahrhundert statistisch nicht merklich von den vorangegangenen Dezennien. Nach Geburtenjahrgängen nahm die mittlere Lebensdauer über 21-Jähriger rasch auf mindestens 65–70 Jahre zu. Zudem zeigt sich dabei, anders als bei den Sterbekohorten, seit den 1880ern erstmals eine konsequente Geschlechterdisparität mit signi kant erhöhter durchschnittlicher Lebensdauer weiblicher Personen. Wie gezeigt wurde, trat die Lebenserwartung erst zum Ende des Untersuchungszeitraums in einen anhaltenden Progress ein, der in zwei Ebenen funktionierte. Die mittlere absolute Lebensspanne war in den letzten Zügen des 19. Jahrhunderts zeitgleich mit dem Geburtengipfel an einen Tiefpunkt gelangt. Nach Sterbedekaden hatte schon in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts, nach Geburtendekaden im ersten Viertel des 18. Jahrhunderts ein bis ins 19. Jahrhundert reichender, in den 1880ern an seinen Höhepunkt gelangender Regressionsprozess infolge zeitgleich anteilmäßig wachsender Säuglingssterblichkeit eingesetzt. Die relative Lebenserwartung der Mündigen (50–60 Jahre) blieb davon geschlechtsübergreifend weitgehend unbenommen. An den Scheitelpunkt der Säuglingssterbeziffer, welcher nach gleitendem neunjährigem Mittel in Rußdorf 1890 und in Bräunsdorf 1886/1887 anzusetzen ist, anschließend, gingen die Geburtenraten gleich der Säuglingssterblichkeit rapide zurück. Die durchschnittliche Lebenserwartung bei Geburt begann sich der relativen (am 21. Geburtstag) anzunähern. Diese leitete allerdings ebenfalls nach Geburtendekaden seit den 1880ern, nach Sterbedekaden seit den 1900ern/1910ern ein auf den extremen Lebensaltern jenseits der 70 Jahre fußendes Wachstum ein. In dessen Verlauf nahm zum einen die Lebenserwartung Mündiger allein bis 1935 um zehn Jahre zu, zum anderen erlangte der physiologisch bedingte Geschlechtsdimorphismus erstmals wirklich Bedeutung. Noch vor Ende der Untersuchungszeit geriet die quantitative Ausweitung der normalen Alterssterblichkeit und deren Verschiebung in immer höhere Lebensalter zum Hauptmotiv der bis in die Gegenwart ansteigenden Lebenserwartung.
mehrender Kirchenaustritte immer dünner werdenden Beerdigungsregister Rußdorfs bis 1964 – in Bräunsdorf bis 1991 – zurückgegriffen werden. Niedrigere Lebensalter sind daher zum Ende des Untersuchungszeitraums in den Geburtendekaden, der Teilabsenz der höheren geschuldet, überrepräsentiert.
302
STERBLICHKEIT
So klar sich die zur Änderung der allgemeinen Lebenserwartung führenden Prozesse zeitlich eingrenzen und hinsichtlich ihres Ablaufs nachvollziehen lassen, so verschwommen erscheinen ihre Ursachen. Im späten 17. und frühen 18. Jahrhundert wuchs die Einwohnerschaft Rußdorfs und Bräunsdorfs infolge der fortschreitenden, zeitweise intensivierten Flurparzellierung und soziostrukturellen Transformation an. Die Zahl junger reproduktiver Familien wuchs, die Geburtigkeit stieg. Trotz augenscheinlich unveränderter bzw. nicht verschlechterter Umweltbedingungen und Lebensverhältnisse mehrten sich die Säuglingssterbefälle in reactio ohne einhergehende feststellbare Steigerung des Säuglingssterberisikos. Daher unterlag das traditionelle Mengengleichgewicht zwischen mündigen und unmündigen Toten nach Geburtendekaden zu dieser Zeit keiner ungewöhnlichen Wandlung, während der prozentuale Anteil Unmündiger nach Sterbedekaden im Rußdorf der 1660er/1670er sowie im Bräunsdorf der 1690er/1700er als Folge der veränderten gesellschaftlichen Zusammensetzung bzw. Verjüngung deutlich zunahm. Die durchschnittliche Lebenserwartung Gestorbener sank infolgedessen temporär begrenzt leicht, die erwachsener Personen veränderte sich nicht. Im Gegensatz dazu trug der anteilmäßige Zuwachs derer, die den 21. Geburtstag nicht erlebten, an den Geburtenkohorten seit den 1720ern eindeutig Züge eines gesteigerten Säuglingssterberisikos, was zur weiteren Verschiebung des Sterblichkeitsverhältnisses bei den Sterbedekaden beitrug. Zunächst reagierte die mittlere Lebenserwartung darauf jedoch nicht. Erst ab Mitte des 18. Jahrhunderts erreichte die Säuglingssterblichkeit derartige Ausmaße, dass die mittlere Lebensdauer in Regression überging. Beide beschriebenen Prozesse kumulierten und verstärkten sich im Laufe des 19. Jahrhunderts, in dem das Säuglingssterberisiko auf dem einmal erreichten hohen Niveau ohne größere Änderungen verharrte, die Anteile verstorbener Säuglinge an den Sterbekohorten durch nun stetige Zuwanderung reproduktiver Bevölkerungsteile dennoch weiter zunahmen. Die langjährige Entwicklung mündete in den 1880er Jahren in einem Tiefstand der durchschnittlichen Lebenserwartung nach Sterbedekaden, einer vollständigen Umkehrung des traditionellen Gewichtungsverhältnisses Mündiger und Unmündiger nach Geburten- wie Sterbedekaden sowie, in Rußdorf stärker denn in Bräunsdorf, in einem leichten Tal der Lebenserwartung über 21-Jähriger nach Sterbedekaden. Letzteres steht der gleichzeitig einsetzenden signi kanten Steigerung der Lebenserwartung Neugeborener nach Geburtendekaden scheinbar entgegen, ist aber vermutlich auf einen abermals überproportionalen Zuwachs mittlerer und junger Altersgruppen infolge starker Zuwanderung Ende des 19. Jahrhunderts zurückzuführen. Um 1890 kam es in Rußdorf und Bräunsdorf gleichermaßen zum Bruch mit der 100-jährigen Entwicklung. Plötzlich ging das Säuglingssterberisiko zu einer rapiden, das Ende des Untersuchungszeitraums überdauernden kontinuierlichen Minderung auf schließlich den absolut niedrigsten Stand seit dem 16. Jahrhundert, synchron zu den rückläu gen Geburtenraten wie -zahlen, über. Die mittlere altersgruppenübergreifende Lebenserwartung nach Sterbedekaden stieg ab 1890/1900 leicht und näherte sich
LEBENSERWARTUNG
303
Abbildung 41: Anteil der Säuglingssterbefälle nach Geburtenkohorten in Rußdorf
bis 1930 deutlich derjenigen Mündiger an. Gleichzeitig wurde das spätmittelalterliche Sterbeverhältnis nach Sterbedekaden bei massivem Übergewicht der über 21-Jährigen restauriert und trugen seit 1900/1910 steigende Anteile der Menschen hohen Alters („70 plus“) zur Erhöhung der Lebenserwartung maßgeblich bei. Zeichneten für die Transformation im 17. Jahrhundert eindeutig endogene gesellschaftliche Faktoren verantwortlich, ist für die Prozesse des 18. und späten 19. bzw. frühen 20. Jahrhunderts in Anbetracht des geänderten Sterberisikos der Säuglinge einerund der Alten andererseits von exogenen Ursachen, mithin grundlegenden strukturellen Wandlungen der Lebensverhältnisse bzw. der Lebenswelt selbst, auszugehen. In beiden Perioden motivierten dorfwirtschaftliche Umbrüche unter anderem soziostrukturelle und wohn- bzw. lebensräumliche Transformationsprozesse. Die gesellschaftliche Zusammensetzung diversi zierte im Bevölkerungswachstum, neue Formen familiären Wirtschaftens traten hinzu und überwogen bald. Mit der Protoindustrialisierung des 18. und der Fabrikindustrialisierung des 19. Jahrhunderts erweiterte sich die Vielfalt der dörflichen Berufsbilder, änderten sich die vorherrschenden Arbeitsweisen und -takte. Nicht zuletzt verloren tradierte Ressourcenbeschaffungs-, -verarbeitungs- u. -verteilungssysteme zugunsten urban anmutender Modelle an Bedeutung. Ihrer individuellen sozialen und wirtschaftlichen Stellung unbenommen, wandelte sich die dörfliche Lebenswelt für alle Gesellschaftsmitglieder. Zumindest Aspekte der gängigen Bevölkerungsweisen mögen davon nicht unbeein usst geblieben sein. Sofern die protoindustrielle Entwicklung des 18. Jahrhunderts in den betrachteten Dörfern tat-
304
STERBLICHKEIT
sächlich zulasten der neonatalen Überlebenswahrscheinlichkeit wirkte, indem sie ein historisch gewachsenes, bewährtes Anpassungssystem, ohne adäquate Kompensationsmechanismen zu bieten, aufbrach, erschiene es paradox, wenn die industrielle Fortführung und Intensivierung dieses Prinzips im späten 19. Jahrhundert jene scheinbar spontane demographische Umkehrung um 1900 verursachte. Allerdings brachte die industrielle Lebenswelt ihren eigenen Regeln entsprechende neue Systeme zum Beispiel sozialer Sicherheit hervor und verbesserte manche Anpassungstechnik. Sicherlich kam medizintechnischem Fortschritt, dem Ausbau der medizinischen Infrastruktur, allgemeiner hygienischer Aufklärung, der Entwicklung neuer Lebensmittelkonservierungsverfahren oder der Steigerung und Absicherung des allgemeinen Ernährungsstandards etc. auf lange Sicht eine erhebliche Bedeutung für das Wachstum der Lebenserwartung zu. Ob diese Faktoren indes einen derart rasanten Rückgang der Säuglingssterblichkeit, wie er in den Untersuchungsorten im frühen 20. Jahrhundert beobachtbar ist, auslösen konnten, ist mehr als fraglich. Zudem ließe dies deren Anstieg im 17. Jahrhundert offen, da eine zeitgleiche Verschlechterung jener Bedingungen nicht zu vermuten steht. Knodel, der in seinen westdeutschen Untersuchungsgebieten eine ähnliche, im 18. Jahrhundert zunehmende, im späten 19. Jahrhundert einen Höhepunkt erreichende und danach rapide rückläu ge Mortalität im Säuglings- und Kindesalter beschrieb, wies auf den maßgeblichen Ein uss des Stillverhaltens hin. Demnach hatte das in Bayern im 18. und 19. Jahrhundert übliche frühe Abstillen ein extremes Exitusrisiko vor dem ersten Geburtstag, hingegen ein niedriges im zweiten bis fünften Lebensjahr zur Folge. Längeres Stillen, wie es in Friesland Sitte war, senkte zwar die Sterblichkeit der Säuglinge massiv, resultierte aber in einer stark erhöhten der Kleinkinder. 653 Eine Veränderung der Stillpraxis hätte durchaus das Potential gehabt, die Säuglingssterblichkeit im Limbacher Land relativ kurzfristig stark zu verändern. Freilich könnten verschlechterte Lebensbedingungen der parallel im 18. Jahrhundert zu gesellschaftlich dominierenden Gruppen aufsteigenden unterbäuerlichen Schichten ebenfalls ein erhöhtes Sterberisiko der Jüngsten zur Folge gehabt haben, was sich durch das zahlenmäßige Übergewicht der betreffenden Bevölkerungsteile in einem insgesamt erhöhten Aufkommen niedergeschlagen hätte. Die Abbildungen 41 und 42 weisen die wachsende Säuglingsmortalität jedoch als schichtenübergreifend gleichartig wirkendes Phänomen aus. Wird die Entwicklung der Säuglingssterblichkeit auf Indizien für ein verändertes Stillverhalten untersucht, ist das Verhältnis zwischen exogener und endogener Sterblichkeit relevant. Endogene Sterblichkeit geht vom körperlichen Zustand des Kindes selbst aus. Ihre Ursachen liegen vornehmlich in Schwangerschafts- oder Geburtskomplikationen. Eine letale Wirkung entfalten diese regelmäßig in den ersten vier Lebenswochen, relativ unabhängig von der Umgebungssituation, eine moderne medizinische Versorgung freilich exklusive. Das Abstillen gehört hingegen den exogenen Todesursachen an. 653
Vgl. Knodel, Behavior, S. 45ff.
LEBENSERWARTUNG
Abbildung 42: Anteil der Säuglingssterbefälle nach Geburtenkohorten in Bräunsdorf
Abbildung 43: Verhältnis endogener zu exogener Säuglingssterblichkeit im ersten Lebensjahr in Rußdorf
305
306
STERBLICHKEIT
Abbildung 44: Verhältnis endogener zu exogener Säuglingssterblichkeit im ersten Lebensjahr in Bräunsdorf
Hervorstechendes Merkmal stillender Gesellschaften ist eine im ersten Jahr prozentual überwiegende endogene Mortalität. Da die Muttermilch das Immunsystem des kindlichen Organismus stärkt und ihn optimal mit Nährstoffen versorgt, ist der Säugling für die Stillzeit besser vor zum Beispiel Krankheit und Fehlernährung geschützt. Eben dies geht entwöhnten oder überhaupt nicht gestillten Kindern ab. Daher zeichnen sich wenig oder gar nicht des Stillens bedienende Gesellschaften durch ein Überwiegen der exogenen Sterblichkeit vom zweiten bis zwölften Lebensmonat aus. Eine Veränderung des Stillverhaltens sollte demnach mit einer Gewichtungsverschiebung der Mortalität im ersten Lebensjahr einhergehen. Wie aus den Abbildungen 43 und 44 hervorgeht, unterlag das Gewichtungsverhältnis zwischen endogener und exogener Säuglingssterblichkeit tatsächlich in beiden Untersuchungsorten einem anhaltenden Wandel im frühen 19. Jahrhundert hin zur prozentualen Stärkung exogener Todesursachen und im frühen 20. hin zu einer endogener Ursachen. Eine veränderte Stillpraxis könnte dem zugrunde gelegen haben. Das steigende Säuglingssterberisiko begünstigte dieser kollektive Verhaltenswandel dagegen höchstens. Immerhin datiert dessen Beginn ein halbes bis dreiviertel Jahrhundert davor. Seine Hintergründe bleiben so gleich denen des neuzeitlichen Sterblichkeitsrückgangs offen.
7. FAMILIE
Bevölkerungswissenschaft arbeitet mit und basiert auf einer Vielzahl persönlicher biographischer Ereignisse, welche über das Bindeglied „Individuum“ hinaus keine unmittelbaren Berührungspunkte teilen, d. h. per se stehen gleichartige wie grundlegend verschiedenartige Lebensdaten aller Personen einer Gesellschaft im demographischen Sinne frei nebeneinander. Selbstredend existiert realiter kein Ereignis isoliert, ebenso wenig wie ein menschliches Leben völlig losgelöst von denen anderer denkbar ist. In einer reaktiven Lebenswelt ist jedes Vorkommnis, jeder Zustand und jede Entwicklung unmittelbare Folge der vorangegangenen. Interpersonelle Bindungen entspringen in biographischen Überschneidungen, die ihrerseits soziale Konstrukte formen. Im Umkehrschluss de niert Gesellschaft nicht nur den institutionellen Rahmen, in welchem Bevölkerungsweise funktioniert. Sie bietet auch den Kontext, individualbiographische Daten derselben Art miteinander statistisch in Beziehung zu setzen. Das folgende Kapitel widmet sich einigen Aspekten der Familie als sprichwörtlicher Keimzelle der Gesellschaft. Von besonderem Interesse ist für eine demographische Untersuchung die quantitative Entwicklung der Kernfamilie, bestehend aus einem Elternpaar und dessen Kindern. Wurde in Kapitel 5 bereits der familiäre Gründungsakt betrachtet, steht nun das vornehmlich ehegebundene generative Verhalten einschließlich der resultierenden Kinderzahl im Fokus. Tiefgreifende Veränderungen familiärer Organisations- und Reproduktionsnormen stehen für die Zeit der Industrialisierung vor allem infolge allgemein veränderter Wohnund Arbeitsverhältnisse sowie die Periode der demographischen Transition in der Wendezeit zum 20. Jahrhundert angesichts stark rückläu gen Menschenumsatzes bzw. der in Mittel- und Westeuropa massiv sinkenden Geburtigkeit zu erwarten 654, allerdings weniger tiefgreifend als im gegenwärtigen Deutschland, wo sich traditionelle, mehrheitlich christlich geprägte Formen familiärer Koexistenz wenn noch nicht konzeptionell, so doch in ihrem Absolutheitsanspruch hinterfragt sehen. Simultan lebt das 50-jährige Idealbild der Zwei-Kind-Familie mit Sohn und Tochter in beständiger medialer und werbetechnischer Reproduktion nicht weniger denn im kollektiven „deutschen“ Bewusstsein paradoxerweise fort. Gewissermaßen paradox deshalb, weil die Landesbevölkerung einerseits einem über die Entstehungszeit des Ideals hinaus zurückreichenden langfristigen Schrumpfungs- und Überalterungsprozess durch unzureichende Reproduktionsraten 655 – durchschnittlich 2,1 Kinder pro Familie wären erforderlich – un654 655
Vgl. Imhof, Einführung, S. 63f. Vgl. Marschalck, Peter, Bevölkerungsgeschichte Deutschlands im 19. und 20. Jahrhundert, Frankfurt a. M. 1984, S. 54 f.
308
FAMILIE
terliegt, was im öffentlichen bzw. politischen Diskurs durchaus problematisch gesehen, aber auch politisch instrumentalisiert wird. Andererseits be nden sich dem Idealbild entsprechende Familien in toto, nicht jedoch unter den Familien mit Kindern, in der Minderheit. 656 Größere familiäre Kinderzahlen werden dagegen oft scheel beäugt, wobei ein historisches Zerrbild 657 traditionell üblicher, inzwischen delegitimierter Großfamilien sowie der Frau als „Gebärmaschine“ zum abschreckenden Referenzrahmen zu dienen scheint. Daraus leitet sich die Frage ab, inwiefern das angerissene Geschichtsbild mit historischen Realitäten in Rußdorf und Bräunsdorf übereinstimmt und welcher Gestalt der Wandel kollektiven generativen Verhaltens war bzw. wo dessen Ursachen lagen. Eine grundlegende Transformation fand um 1900 zweifelsohne statt, wie die vorherigen Kapitel belegen. Die damals explodierende Bevölkerungszahl setzt bei gleichzeitig abnehmenden Natalitätsraten eine Wandlung ehelicher Fertilität zwangsweise voraus. Fraglich ist daher nicht, ob oder in welche Richtung die generative Transition wirkte, sondern wo ihre Ursachen lagen und ob die Entwicklung in der Neuzeit singulär stand.
7.1 GENERATIVES VERHALTEN Die verbreitete Vergangenheitsvorstellung betrachtet besonders für den ruralen Raum Deutschlands multigenerationale Großfamilien und -haushalte 658 als Charakteristikum vor- und frühindustrieller bzw. mittelalterlicher und frühneuzeitlicher europäischer Lebenswelten. Obgleich dieses in seinem Allgemeingültigkeitsanspruch mythische, unter anderem auf Wilhelm Heinrich Riehl 1855 zurückgehende Bild 659 in manchen Regionen stimmig gewesen sein mochte 660, hatte es im Untersuchungsgebiet nur bedingt Geltung. Unabhängig von der Vielfalt denkbarer Spielarten sozialer Strukturierung des einen erweiterten Haushalt umfassenden „Ganzen Hauses“ trugen interfamiliäre Wohngemeinschaften durchweg milieuspezi sche Züge. Unbedingte Voraussetzung war von den besitzenden Bevölkerungsteilen ungenutzter überschüssiger, landbesitzlosen potentiellen Interessenten offerierbarer Wohnraum. Häusler- und Gartengüter vermochten diesen Ansprüchen aus Platzgründen kaum gerecht zu werden. Selbst Gesinde scheint im Rußdorfer und Bräunsdorfer Mittelstand selten eingestellt worden zu sein, zumal anfallende Arbeiten bei den ärmeren Klassen vermutlich höchstens in agrarökonomischen
656 657 658 659 660
Vgl. Schneider, Norbert F., Familie. Zwischen traditioneller Institution und individuell gestalteter Lebensform, in: Hradil, Stefan (Hg.), Deutsche Verhältnisse. Eine Sozialkunde, Bonn 2012, S. 95–122, S. 106 ff. Vgl. Adler, Demographie, S. 5. Vgl. Gestrich, Familie, S. 63. Vgl. Henning, Eckart, Familie und Gesellschaft, in: Ribbe, Wolfgang /Henning, Eckart (Hg.), Taschenbuch für Familiengeschichtsforschung, Neustadt a. d. Aisch 1995, S. 85–94, S. 90. Vgl. Kustatscher, Erika, Alltag in Tiers. Beiträge zur Bevölkerungs- und Sozialgeschichte vom 17. Jahrhundert bis zum Ersten Weltkrieg, Innsbruck 1999, S. 54 ff.
GENERATIVES VERHALTEN
309
Stoßzeiten überhaupt zusätzliche Kräfte erforderten. Lediglich die im Besitz der überwiegenden dörflichen Flur be ndliche Bauernschaft mit ihren Drei- bis Vierseithöfen konnte sich Lohnarbeiter unter Umständen leisten und in Nebengebäuden Einlieger beherbergen. Im Zuge der Diversi zierung der traditionellen besitzständischen Ordnung nebst Partikularisierung der Agrar ächen geriet die Bauernschaft ab dem 17. Jahrhundert in eine Minderheitenposition (siehe Kap. 8.1) und mit ihr die bis dahin offensichtlich üblichen Großhaushalte. Hingegen entbehrt das mythische Großfamilienbild in den Untersuchungsorten einer mittelalterlichen oder frühneuzeitlichen Entsprechung. Zwar lieferte die in der Region ursprünglich übliche patrilokale Haushaltsgründungspraxis innerhalb der bis ins 19. Jahrhundert dominierenden grundbesitzenden Schichten theoretisch durchaus die strukturellen Voraussetzungen, doch zogen hohe durchschnittliche Heiratsalter die Generationen von vornherein auseinander. Dies verringerte, mit relativ niedriger mittlerer Lebenserwartung und gewöhnlichen Erbgängen nach Ultimogeniturprinzip koalierend, die Chancen drastisch, dass Großeltern und ihre meist spätgeborenen, nicht dislozierten Enkel unter einem Dach zusammentrafen. Im Zweifelsfall wurde die Kernfamilie eher um (Stief-/Halb-)Geschwister der Eltern bzw. deren Kinder aus vorangegangenen Ehen erweitert. Zwei Guts- und partielle Einwohnerzählungen von 1733 (Rußdorf) 661 und 1794 (Bräunsdorf) 662 stützen den Eindruck. Der multigenerationale Familienhaushalt erscheint so als Kind des 19. Jahrhunderts und der damaligen vom städtischen Bürgertum ausgehenden Propagierung eines neuen Familienideals inklusive Neude nition sowohl des Kinder- als auch des Großelternbildes. 663 Nachkommenreiche Ehen entsprachen dagegen tatsächlich der vorindustriellen Norm. Stefan Hradil geht von durchschnittlich sechs lebendgeborenen Kindern pro deutscher Familie in Spätmittelalter und Frühneuzeit sowie noch immer fünf Kindern um 1875 aus. Die mittlere Kinderzahl pro reproduktivem Ehepaar müsste demnach noch höher gelegen haben. Synchron zum allgemeinen Geburtenrückgang respektive der demographischen Transition sei die eheliche Fertilitätsrate um 1900 schichtenübergreifend vom städtischen Bürgertum ausgehend rasch degeneriert, sodass jede deutsche Frau 1934 im Schnitt nurmehr 1,8 Kindern Leben gab. 664 Nicht anders sollte sich die Situation in den betrachteten Dörfern gestaltet haben. Diese zu ermitteln unterlag verschiedenen Schwierigkeiten. Vor allem bereitete die im Laufe des Untersuchungszeitraums zunehmende Migration der statistischen, programmbasierten Auswertung Probleme. Sobald Hochzeit und Tod mindestens eines Elternteils nicht im betreffenden Ort verzeichnet waren, herrscht Unklarheit über die 661 662 663 664
Vgl. ThStA Abg, Landesregierung, Nr. 4172. Vgl. SächsStAL, 20578 Rittergut Wolkenburg und Kaufungen, Nr. 229, Das Salz-Wesen zu Kauffungen und Bräunsdorff, 1795–1839. Vgl. Chvojka, Großelternrollen, S. 195ff. Vgl. Hradil, Stefan, Bevölkerung. Die Angst vor der demogra schen Zukunft, in: Hradil, Stefan (Hg.), Deutsche Verhältnisse. Eine Sozialkunde, Bonn 2012, S. 44f.
310
FAMILIE
Länge des ehelichen Fertilitätszeitraums. Aus den Taufregistern eruierbare familiäre Kinderzahlen müssen daher die reale Familiengröße 665, der im vor- oder nachherigen Wohnort schließlich theoretisch Zuwachs zuteilgeworden sein könnte, nicht zwangsläu g wiedergeben. Ebenso geben im 19. und 20. Jahrhundert übliche Hinweise der Beerdigungseintragungen auf noch lebende Kinder bei Zugezogenen keine Garantie auf Vollständigkeit, zumal bereits verstorbene Nachkommen darin selten Erwähnung nden. Zwangsläu g dezimiert dies die Zahl verwertbarer „vollständiger“ Familien stark und schränkt die Aussagekraft der Daten für die Entwicklung einzelner Bevölkerungsgruppen massiv ein. Aus denselben Gründen fehlen repräsentative Daten für Anfang und Ende der Untersuchungsperiode insbesondere en détail, da wahlweise vor Einsetzen oder „Ende“ der zur Verfügung stehenden Überlieferung gegründete oder aufgelöste Familien oft anzeigender Quellen entbehren. Darüber hinaus erschwert die vor 1700 inkonsequente Benennung der Standeszugehörigkeit sowie das zum Ende des Untersuchungszeitraums verschwimmende traditionelle dörfliche Struktursystem automatisierte sozialgruppenspezi sche Analysen. Rußdorf Kinderreichtum scheint im Spätmittelalter keine Seltenheit unter den Rußdorfern gewesen zu sein. Nicht wenige der für die Zeit vor 1582 rekonstruierbaren Familienfragmente reichen allein mit der sicherlich oft lückenhaften relativen familiären Kinderzahl 666 über die Reproduktionsschwelle hinaus. Petrus Esche († 1581) sah exemplarisch mindestens fünf seiner Kinder aufwachsen, Lucas Herolt († 1590) drei bis fünf, Asmus Heiniz († nach 1552) vermutlich vier, ebenso Valten Arnolt († um 1572), Thomas Puschman († vor 1584), Gregor Frischmann (1507–1605) und Gallus Schüßler († 1605) fünf. Jacob Bretschneider (1513–1608) brachte es gleich Balthasar Rudloff (1543–1603) auf mindestens sieben. Jonas Herolt (1535–1605) hatte neun nachweisbare und Georg Rudloff (1496–1591) soll allein neun Söhne durchgebracht haben. Eine weitere Tochter ist belegt. Das Limit reizten Tiburtius Möller (1532–1620), dem zwei seiner drei Frauen mindestens 15 Kinder schenkten, und Bartel Frischman († 1631), der angeblich vier Sprösslinge erster und 15 zweiter Ehe vorweisen konnte, aus. Neben den Bauerngutsbe-
665 666
Der Terminus „Familiengröße“ bezeichnet im Rahmen der vorliegenden Arbeit den Umfang ausschließlich der biologischen Kernfamilie, bestehend aus zwei Eltern und deren leiblichen gemeinsamen Kindern. Die familiäre Kinderzahl hat zwei Dimensionen. Alle jemals geborenen Kinder eines Paares de nieren dessen absoluten Reproduktionserfolg. Dieser steht mit der Menge überlebender, d. h. das reproduktionsfähige bzw. das zur Reproduktion im Allgemeinen ermächtigende Alter erreichender Sprösslinge im Kon ikt. Da insbesondere bei hohen Säuglingssterberaten manche Familien trotz hoher Fertilität effektiv nur wenige Kinder durchbrachten, muss, um die realen Familiengrößen abschätzbar zu machen, der absoluten Kinderzahl eine relative gegenübergestellt werden. Diese beschreibt im vorliegenden Fall das Quantum der Kinder, die ihr 21. Jahr, also die Mündigkeit, erreichten.
GENERATIVES VERHALTEN
311
sitzern zeugten auch die ersten Inhaber kleinerer Güter meist mehr denn zwei Kinder. An die maximalen Familiengrößen einiger Bauern reichte jedoch Anfang des 17. Jahrhunderts keiner heran. Von anderen bäuerlichen wie unterbäuerlichen Einwohnern der 1550er Jahre, etwa Wolff Milchbergk, Thomas Wagner, Georg Schram und Urban Engelman etc., sind demgegenüber keinerlei Nachfahren eruierbar, was freilich ebenso gut auf Überlieferungslücken oder erschöpfende Kindersterblichkeit zurückgeführt werden kann. Die ersten vollständig bekannten, in den 1580er Jahren begründeten Familien bestätigen den gewonnenen Eindruck. Unter den fraglichen zwölf blieb keine kinderlos, zwei Kinder standen am unteren Ende der Skala, elf markierten die Obergrenze. Im Mittel brachte eine verheiratete Frau 5,88 Söhne und Töchter zur Welt, von denen durchschnittlich 5,28 erwachsen wurden. Bereits die anschließende Dekade brachte einen gesamtgesellschaftlichen Wandel mit sich. Aus den 1590–1669 geschlossenen ehelichen Verbindungen gingen im Dekadendurchschnitt meist nur noch zwei bis vier Kinder hervor. Allerdings wurde das Reproduktionsminimum (2,1) pro verheirateter fertiler Frau nie und auf Basis aller verheirateten Frauen lediglich von den Familien der 1660er unterschritten. Ihre mündigen Jahre erreichten regelmäßig zwei bis drei Kinder. Dieses relative Niveau stieg bis ins späte 18. Jahrhundert lediglich moderat (1590/1669: 2,55; 1670/1789: 3,0) um 17 Prozent, während sich die mittlere absolute Kinderzahl um insgesamt 23 Prozent erhöhte, sodass im 18. Jahrhundert Familien mit vier Kindern die Dekadendurchschnitte auch unter Einrechnung aller verheirateten Frauen dominierten. Die seit dem späten 18. Jahrhundert steigende Kindersterblichkeit blieb nicht folgenlos für die nun wachsenden absoluten Familiengrößen (Tab. 35). Synchron sank der Anteil der kinderlosen Ehepaare von 20 auf 13 Prozent. Ebenso begann sich das Spektrum der Familiengrößen im 18. Jahrhundert langsam wieder auszuweiten. Ende des 17. Jahrhunderts wurden erstmals nach 100 Jahren zwei Familien gegründet, die mit mehr als zehn Kindern „gesegnet“ werden sollten. Der Bauer Michael Esche (1663–1717) hatte elf vorzuweisen, sein Namens- und Standesvetter Martin Esche (1678–1735) zeugte als erster Rußdorfer seit T. Möller nachweislich mit einer Frau zwölf Kinder. Samuel Engelmann und seine Frau übertrafen die Zahl mit 13 Kindern binnen 20 Jahren seit 1774. Gottfried Jungmann, Gärtner gleich den Vorgenannten, wurde 1779–1793 Vater von 14. Das Limit erwachsener Kinder pro Elternpaar verharrte derweil bei neun. Ab dieser Zeit erreichten immer mehr Ehepaare auch prozentual hohe bis sehr hohe Kinderzahlen (Tab. 36). Der auf das Minimum der 1660er folgende langfristige Wachstumsprozess Rußdorfer Familien fand entsprechend seine Fortsetzung. In den 1770er Jahren und den angeschlossenen Dekaden heiratende Paare bekamen, so sie reproduktives Verhalten an den Tag legten, im Mittel wieder fünf Kinder. Für zwischen 1820 und 1879 zur Ehe Schreitende gerieten gar sechs zur Normalität. Da das Säuglingssterberisiko weiter zunahm (siehe 6.4), vergrößerte sich zugleich die Diskrepanz zur
312
FAMILIE
Tabelle 35: Durchschnittliche absolute und relative familiäre Kinderzahl in Rußdorf absolut
durchschnittliche Kinderzahl absolut mit Kinderlosen
relativ
1582–1589
5,88
5,88
5,28
1590–1599
3,31 4,50
2,63 3,50
2,00 3,60
4,17
3,96
2,31
3,55
3,16
2,33
3,08 3,75 3,94
2,40 2,70 3,15
2,20 2,55 3,28
2,61 5,00
1,93 3,10
2,28 3,42
4,16 3,44 4,55 4,03
4,16 3,13 3,77 3,13
3,46 2,45 3,37 2,96
4,25 4,50
4,02 4,02
3,30 3,01
4,04 4,97
3,24 4,67
2,58 2,82
3,54 5,25 5,50
3,42 4,06 4,91
2,22 3,23 2,98
5,51
4,87
3,02
5,60 5,65 6,57
4,63 4,44 5,22
3,04 3,62 3,55
6,33 6,75 6,01
4,91 5,04 4,86
2,91 3,98 3,37
6,21 6,12
4,94 5,35
3,44 3,71
1880–1889 1890–1899 1900–1909
6,06 5,83
5,41 4,99
3,74 3,84
3,95
3,37
2,95
1910–1919
2,48
1,55
2,05
1920–1929 1930–1935 1600–1699 1700–1799 1800–1899 1900–1935
1,98 1,13 3,83 4,63 6,11 2,61
1,00 0,39 3,16 4,01 4,98 1,71
1,72 1,00 2,83 2,93 3,52 2,22
1600–1609 1610–1619 1620–1629 1630–1639 1640–1649 1650–1659 1660–1669 1670–1679 1680–1689 1690–1699 1700–1709 1710–1719 1720–1729 1730–1739 1740–1749 1750–1759 1760–1769 1770–1779 1780–1789 1790–1799 1800–1809 1810–1819 1820–1829 1830–1839 1840–1849 1850–1859 1860–1869 1870–1879
313
GENERATIVES VERHALTEN
Tabelle 36: Anteil einzelner Familiengrößen an der Gesamtfamilienzahl ohne Kinderlose in Rußdorf familiäre Kinderzahl absolut 1582–1609 1610–1639 1640–1669
1
2
3
4
5
6–10
11–15
über 15
Familien
8,33% 19,44% 13,89% 2,78% 16,67% 36,11% 11,32% 28,30% 13,21% 22,64% 9,43% 15,09%
2,78 % 0,00 %
0,00 % 0,00 %
36 53
13,95% 25,58% 16,28%
4,65% 11,63% 27,91%
0,00 %
0,00 %
43
1670–1699 1700–1729 1730–1759
8,47% 27,12% 10,17% 20,34% 11,86 % 18,64 % 13,04% 15,94% 11,59% 17,39% 13,04 % 28,99 %
3,39% 0,00%
0,00 % 0,00 %
59 69
10,89% 16,83% 12,87% 18,81% 10,89 % 26,73 %
2,97%
0,00 %
101
1760–1789 1790–1819 1820–1849
19,83% 17,24% 9,48% 10,34% 9,48 % 30,17 % 3,45 % 11,35% 5,67% 12,77% 12,77% 11,35% 33,33% 12,06%
0,00 % 0,71 %
116 141
11,24%
9,47 % 41,42 % 11,83 %
1,18 %
169
1850–1879
8,16% 10,28% 10,28% 12,41% 8,51% 37,94% 11,70% 11,01% 11,67% 11,01% 13,00% 10,13 % 35,68 % 6,61%
0,71 % 0,88 %
282 454
38,30% 24,47% 21,28% 11,70%
1880–1909 1910–1935 relativ 1582–1609 1610–1639 1640–1669 1670–1699 1700–1729
15,63% 29,27% 26,19% 21,43%
8,28%
18,75% 29,27% 19,05% 23,21%
8,28 %
8,28%
2,13%
2,13 %
0,00 %
0,00 %
94
21,88% 9,38% 15,63% 18,75% 24,39% 12,20% 4,88% 0,00 % 21,43% 9,52% 14,29% 9,52 % 21,43% 16,07% 8,93% 8,93 %
0,00 % 0,00 % 0,00 % 0,00 %
– – – –
32 41 42 56
19,70% 22,73% 18,18% 24,24%
3,03% 12,12%
0,00 %
–
66
23,86% 29,55% 15,91% 10,23%
9,09% 11,36%
0,00 %
–
88
27,08% 28,13% 17,71% 9,38% 9,38 % 8,33 % 25,38% 18,46% 13,85% 18,46% 10,77 % 11,54 % 16,67% 20,83% 20,14% 15,28% 9,03% 18,06%
0,00 % 1,54% 0,00 %
– – –
96 130 144
1880–1909
23,79% 18,06% 14,98% 13,22% 11,01 % 18,50 % 20,65% 18,14% 17,88% 16,12% 12,09 % 17,13 %
0,44% 0,25%
– –
227 397
1910–1935
45,68% 29,63% 17,28%
0,00 %
–
81
1730–1759 1760–1789 1790–1819 1820–1849 1850–1879
4,94%
1,23 %
1,23 %
relevanten Kinderzahl trotz simultanen Wachstums. Die maximale Differenz des Untersuchungszeitraums ent el allerdings auf die in den 1830ern begründeten Familien und damit passend leicht vor den Gipfel des Kindersterblichkeitsrisikos. Danach verharrte das mittlere relative Nachwuchsquantum bis in die 1890er bei maximal zwei Dritteln. Ein Fünftel aller Ehepaare lebte während des 19. Jahrhunderts ganz ohne Nachkommenschaft. Auf der anderen Seite erlebte extremer Kinderreichtum fern der Kettenehe damals seine Blüteperiode. Johann Gottlieb Esche, Bauer und Amtsrichter, zeugte in 49-jähriger Ehe ab 1808 insgesamt 16 Kinder. Mit ihren zehn Söhnen und acht Töchtern, von denen lediglich sieben den ersten Geburtstag feierten und fünf das 21. Jahr erlebten, brach die Häusler- und Strumpfwirkerfamilie Baum den Rekord zwischen 1819 und 1844 bereits wieder. An die 19 Kinder des hausbesitzenden Schuhmachers Johann
314
FAMILIE
Gottlieb Illing (1803–1861) reichten jedoch weder sie noch alle übrigen Elternpaare Rußdorfs heran. Bis 1892 banden sich sechs weitere Brautleute, deren Reproduktionserfolg 15 Sprösslinge überstieg. Die relative Familiengröße kam gleichwohl nie über die 13 Kinder des Friedrich Hermann Franke (1865–1953) hinaus. Zugleich blieb dessen Familie einzige Vertreterin der höchsten absoluten Kinderzahlkategorie, welche auch durch relativen Reproduktionserfolg sichtlich aus der Masse hervorstach. Insgesamt gingen aus lediglich vier zwischen 1816 und 1892 geschlossenen Ehen effektiv mehr denn zehn Sprösslinge hervor. Während die meisten extrem kinderreichen Familien ein über das durchschnittliche Maß deutlich hinausgehendes Kindersterblichkeitsrisiko aufwiesen, elen diese durch eine stark unterdurchschnittliche Mortalität auf. Der genannte Bauer Franke musste nur zwei seiner Kinder im Säuglings- bzw. Kleinkindalter sowie eine Totgeburt zu Grabe tragen. Die elf Sprösslinge des Pferdebauers Johann Gottfried Welcker (1796–1871) erlebten allesamt das 21. Jahr; der Bauer und spätere Gärtner Johann Christoph Martin (1798– 1869) verlor nur eines von 13 nach vier Monaten und der strumpfwirkende Hausbesitzer Franz Anton Lesch (1840–1913) musste zwar vier von 15 beerdigen, doch zählten darunter eine Totgeburt und zwei 18- bzw. 19-jährige Töchter. Mit dem Ende des 19. Jahrhunderts und den nun rückläu gen Natalitätsraten endete auch die Periode hoher Fertilitätsraten respektive großer Kernfamilien. Bereits die Brautleute der 1880er Jahre bekamen weniger Kinder als jene der vorherigen Dekade. Bezogen auf alle Familien setzte der Wandel erst in den 1890ern ein. Abhängig von der Bezugsgröße el die durchschnittliche Kinderzahl in nur drei bzw. zwei Jahrzehnten Anfang des 20. Jahrhunderts auf das vorindustrielle Niveau. Wer im Laufe der 1920er heiratete, unterschritt dieses im Mittel schon deutlich. Bei Einrechnung kinderlos bleibender verheirateter Frauen, deren Anteil seit den 1910er Jahren exorbitant anschwoll, wurde die gesellschaftliche Reproduktion in Frage gestellt. Ab den 1920er Jahren genügte auch die Fertilitätsrate ausschließlich der sich fortp anzenden Ehepaare theoretisch nicht mehr. Die relative Kinderzahl durchlief eine gleichförmige, jedoch weitaus schwächere Entwicklung. Während die absolute zwischen den 1880ern und 1910ern um 35 bzw. 37 Prozent abnahm, el die relative gerade einmal um 19 Prozent. Synchron schrumpfte die Differenz beider von einem Drittel auf ein Viertel sowie bis in die 1920er Jahre weiter auf 12,92 Prozent zusammen. Rasch schwanden die maximalen Familiengrößen. Der 1903 zur Ehe schreitende Metallarbeiter Georg Theodor Esche zeugte als letzter Rußdorfer vor 1935 nachweislich über zehn Kinder (11), von denen nur eines minderjährig starb. Eine Dekade später begann die letzte mit neun Sprösslingen und darüber beschenkte Ehe. Zugleich konnte der Bauer Carl Fritz Kirmse (1885–1959) mit sieben überlebenden Kindern letztmalig einen über vier Nachkommen erster Generation hinausgehenden Reproduktionserfolg vorweisen. Anfang der 1930er Jahre kamen pro fertilem Paar in Rußdorf durchschnittlich nur noch 1,67 Kinder auf die Welt. Der Grundstein einer
315
GENERATIVES VERHALTEN
Tabelle 37: Vergleichende intervallübergreifende Verteilungsmuster der absoluten und relativen Familiengrößenkategorien in Rußdorf abs. Kinderzahl
1582–1599
1600–1699
1700–1799
1800–1899
1900–1935
0
0,92%
8,90%
13,19 %
47,85%
29,14%
1
0,48% 2,23%
9,18% 19,64%
23,19 % 23,21 %
41,06% 35,71 %
26,09% 19,20 %
2 3
1,60%
11,70%
21,28 %
43,09 %
22,34 %
4 5 6
0,48% 1,90%
12,56% 12,66%
24,15 % 22,78 %
43,96 % 51,90 %
18,84 % 10,76 %
1,91%
9,55%
19,11 %
57,32%
12,10%
7 8 9
1,56% 0,00%
7,03% 6,90%
21,88 % 25,29 %
65,63% 66,67%
3,91 % 1,15 %
1,32%
3,95%
17,11 %
71,05%
6,58 %
10
1,52% 0,91%
6,06% 1,82%
9,09 % 11,82 %
75,76 % 84,55%
7,58% 0,91 %
11–15 über 15 Familienzahl mit kinderl. Fam. rel. Kinderzahl 1 2 3 4 5 6
0,00%
0,00%
0,00 %
100,00%
0,00 %
1,30%
10,51%
20,90 %
53,00 %
14,29 %
1,21%
10,05%
19,34 %
52,37 %
17,02 %
0,91%
11,21%
22,12 %
45,15 %
20,61 %
1,68% 1,21%
11,41% 14,17%
25,17 % 20,65 %
44,97 % 49,39 %
16,78 % 14,57 %
0,50% 2,17%
10,05% 10,87%
22,11 % 15,94 %
52,26 % 62,32 %
15,08 % 8,70%
0,00%
5,95%
19,05 %
70,24%
4,76 %
7
2,33%
2,33%
13,95 %
72,09%
9,30 %
8 9
6,25%
6,25%
21,88 %
59,38%
6,25 %
10 11–15 rel. kinderl. Fam.
0,00% 0,00% 0,00% 1,38%
25,00% 0,00% 0,00% 7,83%
12,50 % 0,00 % 0,00 % 19,35 %
62,50 % 44,44 % 100,00% 60,37%
0,00% 55,56 % 0,00 % 11,06%
Familienzahl
1,29%
10,93%
21,14 %
51,86 %
14,79 %
schrumpfenden Gesellschaft, wie sie Deutschland im beginnenden 21. Jahrhundert beherrscht, war gelegt. „Moderne“ Ein- und Zweikindfamilien dominierten das Bild. Die beschriebenen Wandlungen der mittleren Familiengröße – eine Verkleinerung im frühen 17. Jahrhundert, ein kontinuierliches Wachstum seit dem späten 17. auf vorheriges Niveau bis ins späte 18. und darüber hinaus auf höhere Werte im späten 19. Jahrhundert sowie ein abschließender rapider Regressionsprozess auf den historisch niedrigsten, modernen Stand unterhalb der Reproduktionsschwelle – fanden ihren Niederschlag auch in der Häu gkeitsverteilung der einzelnen Kinderzahlkategorien des betrachteten Zeitraums (Tab. 37).
316
FAMILIE
Nach Geburtenzahlen Zwei- bis Sechskindfamilien entsprachen als Teilmengen aller ehelichen Verbindungen ihrer jeweiligen Kategorie prozentual über den gesamten Untersuchungszeitraum etwa den Anteilen der Gesamtzahl aller fraglichen Familien derselben Perioden an ihrer periodenübergreifenden Menge, d. h. sie entwickelten sich beinahe idealtypisch proportional zur Bevölkerung. Familien mit sieben bis neun Sprösslingen entsprachen im 18. Jahrhundert ungefähr dem Referenzrahmen und waren im 19. gleich jenen mit mehr als neun Kindern überproportional vertreten. Das frühe 20. Jahrhundert zeigt sich hingegen als Blütezeit der Null- und Einkindfamilien. Die Verteilungsmuster der relativen Familiengrößenkategorien spiegeln dieses Bild zwangsläu g leicht verschoben. Die Menge der Ehepaare mit null bis fünf erwachsenen Kindern folgte der Gesamtfamilienzahl im Ganzen, wobei Einkindfamilien im 20. Jahrhundert eine leichtere Häufung zeigen. Größere Familien waren vor allem im 19. Jahrhundert überrepräsentiert. Soweit erkennbar, wiesen alle Gesellschaftsschichten in etwa dieselben Verteilungsmuster der Kinderzahlkategorien auf. Freilich ging der erste Wandel des generativen Verhaltens im frühen 16. Jahrhundert wenigstens an den damals nur rudimentär vertretenen Häuslern und Einwohnern, ebenso der Umschwung nach 1650/1660 an Letzteren folgenlos vorbei. Die schichtenübergreifende Anwendbarkeit der Verteilungsmuster sämtlicher Familiengrößen impliziert zugleich deren standesunabhängiges Vorkommen. Obwohl erhebliche materielle Klüfte die dörfliche Sozialstruktur prägten, beschränkte sich keine Kinderzahlkategorie selbst höchster Ordnung auf nur eine gesellschaftliche Teilmenge. Dennoch brachten Bäuerinnen dem gleitenden langjährigen Mittel zufolge bis in die 1920er meistenteils mehr Kinder zur Welt als der Durchschnitt bzw. die Frauen niederer, unterbäuerlicher Bevölkerungsgruppen. Die Grundbesitzlosen kontrastierten dieses generative Verhalten tendenziell mit den im Mittel niedrigsten Fertilitätsraten (Tab. 38). Keine abweichende Entwicklung zeigt das Verhältnis der mittleren relativen Kinderzahl nach Ständen. Zwischen 1910 und 1935 zeichnete die Momentaufnahme das Bild einer vom Grundbesitzumfang abhängigen Vermehrung mit von der obersten zur untersten Klasse durchgängigem Gefälle. Bauern und Gärtner bekamen etwa drei Kinder, Häusler und Einwohner etwa zwei, von denen insgesamt 92,64 Prozent das prokreative Alter erlangten. So eindeutig hieraus eine Verbindung von generativem Verhalten und Besitz bzw. Einkommen scheinbar hervorgeht, so schnell gerät der Eindruck im Kontext der vorangegangenen Abschnitte ins Wanken. Vor 1910 wies kein Intervall ein vergleichbares Gefälle auf, weder absolut noch relativ. Im Gegenteil wechselten die Besitzstände aufgrund stark schwankender durchschnittlicher Kinderzahlen kontinuierlich ihre Position innerhalb der Rangfolge. Das mittlere Quantum erwachsen gewordener Sprösslinge zehrte von höherer Konstanz insbesondere bei den Mittelschichten. Insofern kann hinsichtlich der „Ergebnisse“ in Rußdorf schwerlich von starrem schichtenspezi schem generativem Verhalten gesprochen werden. Dessen nachgewiesene Veränderungen funktionierten
317
GENERATIVES VERHALTEN
Tabelle 38: Durchschnittliche absolute und relative Kinderzahl nach Schichten in Rußdorf absolut
Bauern
Gärtner
9,00 3,67
3,25 4,00
– –
– –
4,70 3,58
4,07 6,22
3,17 3,17
– 4,00
1,00 4,00
3,50 4,02
5,36
3,89
3,50
–
4,27
5,70
4,41
3,76
6,00
4,52
4,51 8,00 5,83
4,13 5,41 6,44
4,86 5,56 5,99
2,67 3,83 6,16
4,76 5,58 6,55
1880–1909
5,99 5,75
6,61 4,64
7,15 5,62
4,31 4,90
6,11 5,28
1910–1935
3,17
3,00
2,08
2,07
2,03
relativ 1582–1609 1610–1639
8,00
2,50
–
–
3,67
3,40
2,80
–
–
2,28
3,20
2,59
–
1,00
2,75
4,21 3,96 3,91
2,60 2,87 2,92
3,33 2,63 2,23
3,00 – 3,00
3,04 3,20 2,81
2,99 5,03
2,73 2,81
2,85 3,22
2,00 1,60
2,81 3,21
3,63 3,48 4,35 3,07
4,29 4,05 2,44 3,00
2,88 3,90 3,74 2,11
3,32 2,70 3,19 1,88
3,48 3,51 3,51 1,84
1582–1609 1610–1639 1640–1669 1670–1699 1700–1729 1730–1759 1760–1789 1790–1819 1820–1849 1850–1879
1640–1669 1670–1699 1700–1729 1730–1759 1760–1789 1790–1819 1820–1849 1850–1879 1880–1909 1910–1935
Häusler
Hausgenossen
Gesamt
gesamtgesellschaftlich und sind auf Basis der Datenlage unmöglich auf einzelne soziale Gruppen herunterzubrechen. Lediglich eine Tendenz der bäuerlichen Milieus tritt zu Tage. Bräunsdorf Das spätmittelalterliche generative Verhalten der Bräunsdorfer entzieht sich einer Rekonstruktion konsequent. Lediglich eine Familie, die Bastian Lantgraffs, ist aus dem frühen 16. Jahrhundert nicht nur bruchstückhaft bekannt. Mit zwölf überlebenden Kindern kann diese allerdings selbst nach optimistischen Schätzungen wohl nicht für repräsentativ gelten. Der Kurerbe Lazarus Langraf hatte in der zweiten Jahrhunderthälfte nachweislich mindestens drei, sein älterer Bruder Bonifacius um 1550 mindestens vier Kinder. Ab dem späten 16. Jahrhundert häufen sich Familienfragmente ansässiger Bräunsdorfer langsam. Von einem frühen Häusler Jacob Ludtwig um 1600 erlebten zum
318
FAMILIE
Beispiel ein Sohn und eine Tochter ihren 21. Geburtstag, der Sohn und Erbe hatte um 1620 ihrer je zwei. Über fünf Kinder kam außer dem frühen Bauern Lantgraff vor 1640 kein weiterer lokaler Einwohner nach bisherigem Kenntnisstand hinaus. Realiter sollten sich die durchschnittlichen Bräunsdorfer Familiengrößen aus der Zeit vor Beginn der Kirchbuchüberlieferung nicht grundlegend von den gleichzeitigen Rußdorfer ob similärer ökonomischer, naturräumlicher und soziostruktureller Verfasstheit beider Orte unterschieden haben. Umso mehr verwundert das signi kant höhere Niveau Mitte des 17. Jahrhunderts. Die sechs alle Auswahlkriterien erfüllenden Ehepaare der 1640er bekamen im Schnitt 4,5 Kinder, von denen 3,4 erwachsen wurden (Tab. 39). Im darauffolgenden Jahrzehnt Heiratende brachten es gar auf 6,03, das 1,5-fache des Rußdorfer Werts (3,25), ohne wesentliche Anhebung der relativen Zahl. Während in der altenburgischen Exklave der 1660er das vorläu ge Natalitätstief Raum griff, el die Geburtigkeit pro verheirateter Bräunsdorferin nur auf den vorherigen Stand. Das Minimum wurde hier erst in den 1670ern markiert. Ungeachtet des unmittelbar anschließenden Aufschwungs sank die relative Kinderzahl allerdings erst in den 1680er Jahren auf ihren Tiefpunkt, ohne die Reproduktionsschwelle zu unterschreiten. Entsprechend kamen während des 17. Jahrhunderts 3,37 Kinder pro Familie mit Nachwuchs in den Genuss des mündigen Status. Im Laufe des 18. Jahrhunderts gegründete Familien hielten diesen Stand, benötigten aber deutlich mehr Ressourcen. Forderte der Tod vor 1700 im Mittel ein Kind jedes Ehepaares vor dessen 21. Jahr (22,97%), starben zwischen 1700 und 1799 durchschnittlich 34,9 Prozent einer Geschwisterschar unmündig. Nicht umsonst brachten verheiratete Mütter zwischen 1690 und 1739 im Mittel bereits wieder vier Kinder zur Welt. Danach dominierten absolut durchschnittlich fünf Sprösslinge bei den bis 1809 gegründeten Familien bzw. vier unter Einbeziehung unreproduktiver Paare. Elf Kinder bildeten trotzdem lange Zeit unverändert die Obergrenze individueller Fertilität in Bräunsdorf. Erst ein 1754 heiratendes Handbauernpaar de nierte neue Maßstäbe mit 13 Nachkommen, wurde aber kaum zwei Dekaden später vom generativen Verhalten (15 Kinder) des 1770 verehelichten Hausgenossen und zeitweiligen Gartenpächters Johann Samuel Posern in den Schatten gestellt. Die maximalen tatsächlichen Reproduktionserfolge standen dahinter zunehmend zurück. Nach dem Richter Hanß Frischmann (1644–1721), der alle seine fünf Töchter und vier Söhne durchbrachte, gelang es im verbleibenden 17. Jahrhundert nur zwei Ehepaaren, sieben Kinder und erst einem 1713 verheirateten, acht durchzubringen. Letzteres blieb oberstes Maß bis in die 1770er Jahre, ehe Gottfried Frischmanns, eines Handbauern Familie ein neues Maximum des Kinderreichtums de nierte. Von seinen 16 zwischen 1773 und 1795 geborenen Sprösslingen erlebte allerdings lediglich die Hälfte das prokreative Alter. Zufällig heiratete im selben Jahr der Häusler Johann Samuel Friedrich, dessen elf Nachkommen allesamt ihr 21. Jahr vollenden konnten. Der Regel entsprach dies nicht. Wie im Rußdorfer Fall stiegen die mittleren Familiengrößen im 18. Jahrhundert zeitgleich mit dem
319
GENERATIVES VERHALTEN
Tabelle 39: Durchschnittliche absolute und relative familiäre Kinderzahl in Bräunsdorf absolut
durchschnittliche Kinderzahl absolut im Kinderlosen
relativ
1640–1649
4,50
4,50
3,40
1650–1659
6,06 4,11
5,13 3,64
4,73 3,25
3,11
2,83
2,65
3,68
3,68
2,44
4,78 4,31 4,88
4,09 3,67 4,41
3,78 3,26 3,22
4,21 5,05
3,36 4,66
2,48 3,82
5,12 5,37 4,75 6,89
4,71 5,20 3,68 6,48
3,50 3,93 3,21 3,86
5,63 6,16
5,24 5,47
3,55 3,24
5,18 6,02
3,71 5,00
3,12 3,31
6,30 6,07 6,36
4,51 4,18 5,13
3,26 4,17 4,24
6,13
5,23
3,12
6,07 5,54 6,28
5,07 4,82 5,49
3,64 3,49 3,48
5,72 4,41 3,14
4,12 3,56 2,08
3,87 3,52 2,46
2,28 2,86
1,45 2,16
1,93 2,41
1640–1699 1700–1799 1800–1899
3,83 4,63
3,16 4,01
2,83 2,93
6,11
4,98
3,52
1900–1935
2,61
1,71
2,22
1660–1669 1670–1679 1680–1689 1690–1699 1700–1709 1710–1719 1720–1729 1730–1739 1740–1749 1750–1759 1760–1769 1770–1779 1780–1789 1790–1799 1800–1809 1810–1819 1820–1829 1830–1839 1840–1849 1850–1859 1860–1869 1870–1879 1880–1889 1890–1899 1900–1909 1910–1919 1920–1929 1930–1935
Säuglingssterberisiko bzw. der Kindersterblichkeit an, während die durchschnittliche relative Kinderzahl keinen merklichen Veränderungen unterlag. Die Korrelation lebte über das 19. Jahrhundert hinweg fort. Bräunsdorfer Brautleute der Jahre 1810 bis 1899 bekamen im Schnitt sechs Kinder, inklusive Kinderloser vier bis fünf. Dennoch zeigte sich das relative Quantum gänzlich unbeein usst und sank die Quote der Überlebenden
320
FAMILIE
Tabelle 40: Vergleichende intervallübergreifende Verteilungsmuster der absoluten und relativen Familiengrößenkategorien in Bräunsdorf abs. Kinderzahl
1600–1699
1700–1799
1800–1899
1900–1935
0
4,52%
18,09%
51,26 %
26,13 %
1
13,49% 11,19%
29,37% 27,61%
34,92 % 21,64 %
22,22 % 39,55 %
2 3
10,94%
25,78%
41,41 %
21,88 %
4 5 6
9,24% 11,76%
24,37% 34,12%
40,34 % 45,88 %
26,05 % 8,24 %
11,76%
37,65%
37,65 %
12,94 %
7 8 9
5,80% 11,27%
33,33% 35,21%
52,17 % 47,89 %
8,70 % 5,63 %
2,08%
31,25%
66,67 %
0,00 %
10
6,98% 4,17%
37,21% 12,50%
51,16 % 79,17 %
4,65 % 4,17 %
0,00%
33,33%
66,67 %
0,00 %
9,74%
29,11%
43,61 %
17,55 %
8,90%
27,29%
44,67 %
19,14 %
10,10%
28,28%
39,90 %
21,72 %
11,48% 8,84%
26,78% 28,57%
33,33 % 42,18 %
28,42 % 20,41 %
8,87% 10,47%
34,68% 33,72%
36,29 % 51,16 %
20,16 % 4,65 % 12,73 %
11–15 über 15 Familienzahl mit kinderl. Fam. rel. Kinderzahl 1 2 3 4 5 6
9,09%
38,18%
40,00 %
7
11,11%
16,67%
66,67 %
5,56 %
8 9
9,52%
23,81%
61,90 %
4,76 %
20,00% 0,00% 0,00% 10,01%
0,00% 0,00% 25,00% 29,00%
80,00 % 80,00 % 50,00 % 41,89 %
0,00 % 20,00 % 25,00 % 19,10 %
7,69%
29,91%
56,41 %
5,98 %
10 11–15 rel. kinderl. Fam. Familienzahl
pro Familie auf durchschnittlich beinahe 50 Prozent. Einzig Mitte des 19. Jahrhunderts erreichten vier Kinder pro verheirateter Familie das prokreative Alter. Gleich dem nachbardörflichen Beispiel schlug nun die Stunde der späterhin mystizierten Großfamilie. Obwohl 43,61 Prozent der betrachteten Familien dem 19. Jahrhundert entstammten, brachte das Dezennium die Mehrheit derjenigen mit sieben und mehr Kindern hervor. Insbesondere das Vorkommen der beiden obersten Kategorien konzentrierte sich auf die zweite Jahrhunderthälfte. Auch die geltenden Reproduktionsmaxima erfuhren nochmals eine Erweiterung (Tab. 40). In Nachfolge Gottfried Frischmanns zeugten die Bauern Johann Michael Vogel (1767–1832) und August Wilhelm Türpe (1825–1887) je 16 Nachkommen bei noch unvorteilhafterem Aufwand-Erfolg-
321
GENERATIVES VERHALTEN
Tabelle 41: Durchschnittliche absolute und relative Kinderzahl nach Schichten in Bräunsdorf absolut 1640–1669 1670–1699 1700–1729 1730–1759 1760–1789 1790–1819 1820–1849 1850–1879 1880–1909 1910–1935 relativ 1640–1669 1670–1699 1700–1729 1730–1759 1760–1789 1790–1819 1820–1849 1850–1879 1880–1909 1910–1935
Bauern
Gärtner
Häusler
Hausgenossen
Gesamt
6,97 4,53
4,00 3,19
– 5,00
– 1,00
5,04 3,86
5,94 6,13
3,70 4,69
3,77 4,47
8,00 2,50
4,46 5,18
5,70
5,93
6,37
3,33
5,79
5,45
5,01
6,12
4,33
5,83
7,32 7,20 6,08
5,78 5,35 6,12
6,43 6,36 5,82
4,57 6,00 5,06
6,24 5,91 5,46
2,89
1,67
1,00
2,00
2,73
5,68
2,35
–
–
3,88
3,56 3,44
2,16 2,45
2,50 3,15
– 5,00
2,97 2,99
3,78
3,60
3,25
–
3,75
3,62
3,28
3,79
1,00
3,56
3,09 4,54 4,38
3,18 3,92 3,54
2,89 3,63 3,47
3,50 2,75 3,82
3,23 3,88 3,42
3,67 2,49
4,30 1,67
3,62 1,00
2,78 2,00
3,62 2,23
Verhältnis (7 u. 5). Der Gärtner Johann August Heinzig (1797–1857) und der Häusler Johann Friedrich Wilhelm Grosse (1829–1875) erhöhten die maximale familiäre Kinderzahl auf 17 bei minimalen relativen Reproduktionserfolgen von zwei und vier. Den absoluten Fertilitätsgipfel markierte jedoch das 1866 getraute Strumpfwirkerehepaar Türpe mit seinen 21 Sprösslingen. Effektiv hatte deren Familie am Ende mit fünf erwachsenen Söhnen und Töchtern trotzdem lediglich leicht überdurchschnittliche Größe. Bei Betrachtung der relativen Zahlen tritt die Ungleichverteilung der Familiengrößenkategorien umso deutlicher zu Tage. Familien mit sieben oder acht überlebenden Kindern waren mit über 60-prozentiger Wahrscheinlichkeit, solche mit neun und zehn gar zu 80 Prozent im 19. Jahrhundert angesiedelt. Wie in Rußdorf standen die relativen Spitzenreiter auch absolut in der obersten Kategorie, führten dafür aber das allgemein hohe Kindersterblichkeitsrisiko ad absurdum. Nach J. S. Friedrich im 18. Jahrhundert sah der Gärtner Gottfried Landgraf (1834–1916) von 15 Kindern zwölf erwachsen werden. Eine Tochter kam tot zur Welt, eine starb im zweiten Jahr und der jüngste Sohn el 15-jährig einem chronischen Herzleiden zum Opfer. Säuglingssterblichkeit tangierte die Familie somit nicht. Analog verlor der strumpfwirkende Häusler Hermann Friedrich Pester (1838–1919) nur zwei seiner 14 Kinder vor deren ersten Geburtstag und ein weiteres an Hirnentzün-
322
FAMILIE
dung vor dem mündigen Alter. Leonhard Theodor Türpe, 1900 heiratender Fabrikarbeiter, besaß mit zwölf von 14 den 21. Geburtstag erlebenden Sprösslingen absolut wie relativ die größte Familie im Bräunsdorf des frühen 20. Jahrhunderts. Nach 1890, der Natalitätsgipfel war gerade überschritten, die Kindersterblichkeit trat in rasche Degression über, gingen die Familiengrößen stark zurück. Das 1917 getraute Ehepaar Jost bekam zuletzt mehr denn sieben Kinder (12) und sah desgleichen mehr denn sechs (10) erwachsen werden. Ernst Johann Haberkorn (1905–1972) war der letzte nachweisbare Bräunsdorfer, welcher Vater von sieben bzw. letztlich sechs mündigen Kindern wurde. Was die Extremfälle andeuten, gilt nicht minder für den allgemeinen Durchschnitt. Binnen 30 Jahren el die mittlere absolute Kinderzahl pro reproduktiver Ehefrau um die Hälfte auf 3,14 bzw. inklusive Kinderloser 2,08. Abermals zeigte die relative Kinderzahl kontrastierend zunächst keine nennenswerte Veränderung. Folglich besserte sich die mittlere Aufwand-Erfolg-Bilanz des generativen Verhaltens bis in die 1900er. Schließlich blieb das Verhältnis zwischen absoluter und relativer Familiengröße unverändert, während die Zahl überlebenden Nachwuchses bei in den 1910er Jahren begründeten Ehen um einen Zähler sank (Tab. 39). Am Ende des Untersuchungszeitraums kulminierte beides. Bräunsdorfer Ehepaare der 1920er bekamen im Mittel noch 2,28 Kinder, verharrten in ihrem generativen Verhalten anders als die Rußdorfer dieser Zeit leicht über der Reproduktionsschwelle bzw. unterschritten diese effektiv leicht (1,93) bei gleichzeitig fortschreitender Annäherung beider Werte. Die ausgewerteten Kernfamilien der beginnenden 1930er legten gar nochmals Kinder zu. Demgemäß konzentrierten sich kinderlose und Ein- bis Vierkindfamilien in Bräunsdorf überproportional auf die nalen 35 untersuchten Jahre. Konsequente Standesunterschiede werden in Bräunsdorf, wie Tabelle 41 zeigt, ebenfalls weder hinsichtlich der ablaufenden Prozesse noch der durchschnittlichen Familiengrößen ersichtlich. Jedoch treten die bäuerlichen Schichten analog zum Rußdorfer Fall durch eine tendenziell höhere Reproduktivität hervor.
Zusammenfassung Im Ganzen bestehen in der Entwicklung des generativen Verhaltens zwischen Rußdorfern und Bräunsdorfern keine inhärenten Unterschiede. Auch in Bräunsdorf deuten die Daten auf Interdependenzen der parallel zur lokalen Protoindustrialisierung und Industrialisierung statt ndenden generativen Transition, dem Übergang zu historisch einmalig geringen, kaum oder gar nicht mehr der gesellschaftlichen Reproduktion genügenden über ebenso unikalisch extrem hohe mittlere absolute Familiengrößen und des jeweils zeitgleichen Säuglingssterberisikos hin, welches in Bräunsdorf trotz gegenüber der altenburgischen Exklave seit Mitte des 18. Jahrhunderts geringerer Bevölkerungszahl
FAMILIENPLANUNG
323
und geringeren Bevölkerungswachstums sowie etwas verminderter Säuglingssterblichkeit größtenteils das Rußdorfer in den Schatten stellte. Übereinstimmung herrschte auch bezogen auf das dem statistischen Material abgehende soziale „Gesicht“ der Fortp anzung. Weder hinsichtlich der absoluten wie relativen Familiengrößen noch der zeitlichen Verteilungsmuster einzelner Kinderzahlkategorien trat der eine oder andere Stand sonderlich hervor. Desgleichen war ein ausdrückliches soziales Gefälle bei den durchschnittlichen familiären Kinderzahlen nur in Ausnahmefällen feststellbar, etwa in den 1880er Jahren, und variierte das Verhältnis der einzelnen Klassen von Dekade zu Dekade bis hin zur Umkehrung des Gefälles. Dennoch präsentierten obere Gesellschaftsgruppen insgesamt eine Tendenz zu höherer Reproduktion. In acht von zehn Dreißigjahresabschnitten lag die durchschnittliche Kinderzahl bäuerlicher Familien jenseits der fünf, in fünf bei den Gärtnern, sechs von neun bei den Häuslern und in nur drei von neun bei den Hausgenossen. Hierin scheinen sich jedoch soziale Spezi kationen des generativen Verhaltens in Rußdorf wie Bräunsdorf zu erschöpfen.
7.2 FAMILIENPLANUNG Die Entwicklung von durchschnittlicher Familiengröße und Geburtigkeit in Sonderheit um 1900 wirft die Frage auf, ob in den Untersuchungsorten zumindest Anfang des 20. Jahrhunderts und vielleicht auch schon früher Geburtenplanung praktiziert wurde. Einiges weist in diese Richtung. Wie sonst ist zu erklären, dass die familiären Kinderzahlen nach 1900 binnen weniger Dekaden massiv zurückgingen, teils gar unter die Reproduktionsschwelle elen, obwohl das seinerseits rapide sinkende Säuglingssterberisiko nebst Ausweitung des potentiellen ehelichen Fertilitätszeitraums eher ein sprunghaftes Anschwellen erwarten ließe. Das Phänomen war keineswegs neu. Wie bereits gezeigt wurde, war die mittlere Kinderzahl bereits im frühen 17. Jahrhunderts gesunken und hatte sich im Laufe des 18. und 19. Jahrhunderts proportional zur steigenden Säuglingssterblichkeit erhöht, wodurch die relative Familiengröße beibehalten werden konnte. Es liegt nahe, familienplanerisches Verhalten für diese Erscheinung verantwortlich zu machen. Schon für das europäische Mittelalter und mehr noch die überlieferungsreichere Neuzeit ist ein breiter Volkswissensschatz um kontrazeptive Mittel bzw. Praktiken belegt. 667 Die Kirche versuchte, deren Anwendung mittels zahlreicher Sanktionen entgegenzuwirken, hatte aber nur bedingt Erfolg. Tatsächlich scheinen reformierte Regionen eher zu Familienplanung zu neigen als katholische, doch erschöpfen sich die Unterschiede hierin bereits. Selbst im katholisch beherrschten Frankreich konnte Imhof das Himmeln ungelegener Säuglinge, eine Form postnataler, gewissermaßen nachträglicher 667
Vgl. Fossier, Leben, S. 63ff.
324
FAMILIE
Geburtenkontrolle, empirisch belegen. 668 Andere, weniger offensichtliche, daher statistisch weitaus schwerer bis nicht fassbare Praktiken erschöpften sich nicht im coitus interruptus, der Scheidenspülung oder der Einnahme abtreibender Substanzen. 669 Die denkbaren Motivlagen sind ähnlich mannigfaltig wie das Wissen nicht zuletzt der Wehfrauen umfassend war. Geltendes Realteilungsrecht konnte etwa, zumal wenn soziale (Macht-)Positionen daran gebunden waren, dazu ermutigen, zwecks Wahrung des Familienbesitzes auf einen männlichen Alleinerben zu fokussieren. Ökonomische Nachteile, die zum Beispiel durch Versorgung und Ausstattung mehrerer Töchter drohen konnten, mochten auf die eine oder andere Art umgangen worden sein. Mahnte Ehrverlust etwa bei unehelicher bzw. mehr noch einer unstandesgemäß zustande gekommenen Schwangerschaft, konnte eine Abtreibung unter Umständen aller darauf stehenden Strafen zum Trotz die probate Lösung darstellen. Doch auch deutlich trivialere Gründe kommen in Betracht. Existierte die Familienwirtschaft an ihrem Limit oder brachten weitere Schwangerschaften die Mutter zum Beispiel angesichts schlechter physischer Konstitution in Lebensgefahr, lag es nahe, auf weitere Kinder und Esser zugunsten der Wohlfahrt aller Haushaltsmitglieder zu verzichten. Schließlich mochte eine auf Basis abstrakter Idealvorstellungen gewünschte Kinderzahl das generative Verhalten eines Paares bestimmt haben etc. Fehlende private Schriftzeugnisse lassen der Spekulation großen Raum. Allein der reale Wissensumfang der örtlichen Bevölkerung, grundlegender Indikator des möglichen Ausmaßes geburtenplanerischen Verhaltens sowie zur Verfügung stehender Verfahrensweisen, bleibt im Dunkeln. Generelle Kinderlosigkeit oder solche in höheren Lebensaltern sowie große intergenetische Intervalle oder geringe familiäre Kinderzahlen lassen nicht automatisch auf eine blühende Kontrazeptions- und Abtreibungspraxis schließen. Absolute oder temporäre, zum Beispiel ernährungs-, krankheits- oder anderweitig belastungsbedingte Unfruchtbarkeit eines Ehepartners bzw. die natürliche altersabhängig nachlassende Zeugungs- bzw. Empfängnisfähigkeit können similäre Auswirkungen zeitigen. Umgekehrt deutet kontinuierliche, gleichmäßige, selbst womöglich den gesamten ehelichen Fertilitätszeitraum durchziehende Geburtigkeit ebenso wenig auf fehlendes Wissen um kontrazeptive Techniken bzw. deren unterlassene Anwendung hin wie geringe familiäre Kinderzahlen. Zu erheblich variieren Effektivität und Anwendungssicherheit denkbarer Methoden. Desgleichen beschränkt fehlendes Wissen um Verhütungstechniken zwar pränatale Familienplanung von vornherein, doch ließen auch die vorhandenen Kenntnisse eine Wahl zwischen An-
668 669
Vgl. Imhof, Lebensspanne, S. 63ff. Ruchbar gewordene Abtreibungen wurden seit jeher hart bestraft. Nach dem Reichsstrafgesetzbuch von 1871 harrten überführten Täterinnen und deren Helfern mehrmonatige bis mehrjährige Gefängnis- oder gar Zuchthausaufenthalte. Die spätmittelalterliche Carolina von 1532 drohte auf dem Gebiet des Heiligen Römischen Reich schlimmstenfalls mit dem Tod. Jerouschek, Günter, Die juristische Konstruktion des Abtreibungsverbots, in: Gerhard, Ute (Hg.), Frauen in der Geschichte des Rechts. Von der Frühen Neuzeit bis zur Gegenwart, München 1997, S. 248–261, S. 248 ff.
FAMILIENPLANUNG
325
wendung und Nichtanwendung. Religiöse Dogmen, tradierte kollektive Normen und Wertvorstellungen, gesetzliche Schranken oder etwa sozialer Druck bergen ebenso das Potential, einer entsprechenden Handlung im Wege zu stehen, wie die Mentalität der potentiellen Eltern selbst. Des Weiteren darf kein verallgemeinerbares gesamtgesellschaftliches Idealbild von Familie angenommen werden. Der historischen Realität trägt wahrscheinlich eher die Annahme eines vielfältigen Systems mehrerer koexistierender sozialgruppenspezi scher kollektiver, auf Basis sozioökonomischer Optimierungserwägungen de nierter Wunschbilder und Idealvorstellungen, die beständige Revisionen in Reaktion auf veränderte Lebensrealitäten einforderten, Rechnung. Wenigstens rudimentäre Vorstellungen des Fortp anzungsvorgangs können als gesichert gelten. Der Zusammenhang zwischen vaginalem gottgefälligem Geschlechtsverkehr und Schwangerschaft musste mindestens jedem Erwachsenen bekannt sein. Von Jugend an sahen sich Landkinder mit kopulierenden, schwangeren und gebärenden Nutztieren, mitunter bei räumlich beengten Wohnverhältnissen auch der Eltern konfrontiert. 670 Daraus die richtigen Schlüsse zu verhütendem Verhalten, wie etwa unterbrochenem Verkehr oder Kontrazeption durch Präservative, etwa aus Tierdarm oder Stoff, bzw. präservativartige Mittel etc. zu ziehen, ist nur ein weiterer kurzer Schritt. Wissen um die potentielle Herbeiführung eines Aborts entstammte, analog dem alltäglichen Erleben, der alltäglichen Beobachtung. Wenn der Kaufunger Pfarrer 1756 berichtet, dass „die Mutter über der starcken Einquartirung derer Preußen erschrocken“ 671 eine Frühgeburt erlitt, eine andere 1821 ihr unzeitiges Kind „in Folge d. Falles v. Stege in d. Bach“ 672 gebar, so zeugt die schriftliche Überlieferung bereits von allgemein bekannten Ursachen eines Schwangerschaftsabbruchs und indirekt von Möglichkeiten, einen solchen künstlich herbeizuführen. Inwiefern Aborte in den Untersuchungsorten bewusst provoziert wurden, entzieht sich der nachträglichen Betrachtung. Der christliche Wertekanon verbot dergleichen zwar, doch fehlte die rechtliche Handhabe gegen „Sünderinnen“ außerhalb von Beichte und Buße. Welchen Standpunkt die Dorfgesellschaft in der Frage der Geburtenkontrolle einnahm, bleibt gleichfalls offen. Mit hoher Wahrscheinlichkeit wurden Schwangerschaftsabbrüche bestenfalls kritisch beäugt, brachten wohl eher die Mutter und unter Umständen deren Familie ins Gerede und bedeuteten im Extremfall vielleicht auch den sozialen Tod, sofern keine artikulierte kollektive Legitimation bestand. Es ist freilich anzunehmen, dass die Entscheidung für den Abort nicht öffentlich, im Zweifel nicht einmal familienintern kommuniziert, die Schwangerschaft verheimlicht und über die Abtreibung folglich nach Möglichkeit niemand in Kenntnis gesetzt, geschweige denn dem Ortsgeistlichen Meldung für die Kirchbücher erstattet wurde. Postnatales Engelmachen
670 671 672
Vgl. Weber-Kellermann, Landleben, S. 258. EPA Rußdorf, KB I, Taufen 1756, Nr. 7. Ebd., KB II, Beerdigungen 1821, Nr. 21.
326
FAMILIE
war dagegen unter den Augen der dörflichen Öffentlichkeit schwerer zu bewerkstelligen und zu verbergen. Harte Strafen drohten juristisch, schwere Sanktionen auf sozialer Ebene, wurde solches ruchbar. Sabina Helbig, seit 1705 Witwe eines Rußdorfer Häuslers, brachte in deutlichem zeitlichem Abstand zu ihrer Verwitwung einen unehelichen Sohn zur Welt. Dem damit in dieser Zeit noch vorprogrammierten Ehrverlust versuchte sie offenbar mittels Heimlichkeiten beizukommen. Nachdem die Leiche des Kindes 1710 „in dem Leichenstroh ihres Mannes auf dem Boden gefunden worden“ war, wurde ihr Fall gerichtlich examiniert. Trotz erdrückender Beweislast gestand sie den Mord nicht ein und „stunde darüber der Tortur aus“. Fehlender eindeutiger Belege für die Verbindung Helbigs mit dem Kind halber kam sie davon. Dem Pfarrer schien ihre Schuld dennoch unzweifelhaft: „Hatte als Wittbe ein uneheliches Kind erzeugt und ermordet.“ 673 Ihre fortdauernde Ledigkeit, sie zählte 1710 gerade 44 Jahre, mag gleich dem Heiratsverhalten ihrer ehelichen Kinder, die allesamt Ortsfremde ehelichten, als Indiz eines fortan substanziell beschädigten Leumunds der Mutter und in Abschwächung ihrer Nachkommenschaft gewertet werden. Natürlich spiegelt ein allgemein anerkannter, rechtlich garantierter abstrakter Wertekanon nur bedingt das situative Werte- und Rechtsbewusstsein sowie die tatsächliche Handlungsbereitschaft der einzelnen Gesellschaftsmitglieder. Wer der kollektiv proklamierten Norm generell oder momentan wissentlich seine Gefolgschaft verweigert, muss, um Bestrafung zu entgehen, im Verborgenen agieren. Wenn also Rußdorfer oder Bräunsdorfer Familien nachträglich ihren Reproduktionserfolg zu regulieren suchten, bot bei ohnehin massiver Kindersterblichkeit vor Herausbildung einer ächendeckenden medizinischen Infrastruktur und umfassender medizinisch-behördlicher Kontrollmechanismen im 19. und 20. Jahrhundert die unterlassene oder falsche Versorgung des Säuglings eine probate, relativ subtile Lösung. Etwaige Fälle hätten die Kirchbücher vermerkt, jedoch wären sie im Nachhinein nicht zu identi zieren. Möglicherweise brachte eine künstlich erzeugte außergewöhnlich hohe familiäre Kindersterblichkeitsrate die Eltern ins dörfliche Gerede. Die im Allgemeinen sehr gesprächigen Pfarrmatrikeln des Untersuchungsraums bleiben dahingehende ausdrückliche Hinweise gleichwohl schuldig. Ebenso wenig waren sonderbare Unterschiede in der geschlechtsspezi schen Lebenserwartung feststellbar und zeigten unehelich Geborene, die im Zweifelsfall vor allen anderen zu postnataler Reproduktionskontrolle motivieren mussten, ein nur mäßig erhöhtes Säuglingssterblichkeitsrisiko (Abb. 45), welches eher den ungünstigen Lebensumständen der gefallenen Mütter geschuldet war. Himmeln bzw. nachträgliche Geburtenregulierung hatte in den betreffenden Dörfern nie Tradition. Doch wie verhielt es sich mit präkonzeptiver oder -nataler Familienplanung? Bar individueller autobiographischer Schriftzeugnisse fehlt, wie ausgeführt, 673
EPA Rußdorf, KB I, Trauungen 1688, Notiz bei Nr. 3.
FAMILIENPLANUNG
327
Abbildung 45: Allgemeine und uneheliche Säuglingssterblichkeit im Vergleich in Rußdorf und Bräunsdorf
jede Handhabe, einzelnen Familien geburtenplanerisches Verhalten oder dessen Absenz zu unterstellen. Anders liegen die Möglichkeiten auf der gesamtgesellschaftlichen Ebene. Geburtenkontrolle, die im Übrigen nicht automatisch mit aktiver Familienplanung einhergeht, kann auf zwei hauptsächlichen Wegen erfolgen. Einerseits ist es denkbar, die Geburtenabstände künstlich durch sexuelle Enthaltsamkeit, Verhütung oder spätes Abstillen in die Länge zu ziehen. Andererseits kann die Fertilitätsphase der Frau etwa mit vorzeitigem Reproduktionsstopp oder einer späten Hochzeit beschränkt werden. 674 Beides lässt sich, sofern eine majorative Praktizierung bewussten generativen Verhaltens vorlag, statistisch nachweisen. Wrigley legte ein in der demographischen Forschung seitdem vielfach genutztes Analysemodell vor, mit dessen Hilfe bewusste Geburtenkontrolle anhand der durchschnittlichen familiären Geburtenabstände nachvollzogen werden kann. Behufs dessen wurden die mittleren intergenetischen Intervalle in vier Kategorien aggregiert, deren Gewichtung gesamtgesellschaftliche Verhaltensweisen entlarvt. Kennzeichen passiver Gesellschaften sei eine herausstechende Ausprägung der zweiten Gruppe, jener Ehepaare, die alle 1,5–2,5 Jahre ein Kind in die Welt setzen. Typischerweise stehe die dritte Kategorie mit 2,5- bis vierjährigen Geburtenabständen dahinter an zweiter Stelle. Flankiert würden beide Gruppen im gesetzten Fall von den wenig ausgeprägten, beschleunigte oder verzögerte Geburtenfolgen produzierenden Familientypen. 675 674 675
Vgl. Gestrich, Familie, S. 84. Vgl. Wrigley, E. A., Family Limitation in Pre-Industrial England, in: The Economic History Review, New Series, Vol. 19, Nr. 1, o. O. 1966, S. 82–109, S. 92ff.
328
FAMILIE
Ihre Ursache hat diese charakteristische Verteilung in biologischen Mechanismen. Postnatal durchläuft eine jede Mutter natürlicherweise eine mehrmonatige Periode der Schwangerschaftsamenorrhoe, welche über den gesamten Stillzeitraum hinweg bestehen bleibt. Davon ausgehend, das Abstillen erfolge üblicherweise zwischen dem sechsten und neunten Lebensmonat des Säuglings, folgen erneute Empfängnis und mehr noch eine erneute Geburt nur selten mit unter achtzehnmonatigem Abstand auf die vorherige, wird bei kontinuierlich aktivem ungeschütztem Sexualleben danach aber immer wahrscheinlicher. Liegen Aborte oder temporäre Unfruchtbarkeit, zum Beispiel Belastungsamenorrhoe oder eingeschränkte Potenz aufgrund schlechter Ernährung, Krankheiten, psychischen Problemen etc. der Eltern vor, können daraus ungewöhnlich große intergenetische Intervalle von durchschnittlich über vier Jahren erwachsen. Bestimmen dagegen die Eltern mehrheitlich aktiv über den Geburtstermin ihrer Kinder bzw. über das Zustandekommen einer Schwangerschaft selbst, fällt in der Regel der letzten Kategorie typischerweise das größte Gewicht zu. Geringere mittlere Geburtenabstände treten dabei mit proportional rückläu ger Häu gkeit auf. 676 Allerdings wird das Bild einer einheitlichen natürlichen ehelichen Fertilität durch zahlreiche europäische Regionalstudien zugunsten eines diversitären Systems natürlicher Muster gleich dem westeuropäischen Heiratsmuster Hajnals in Frage gestellt. 677 Wird Wrigleys Methode auf die Daten der Untersuchungsorte angewandt, sollten sich eindeutige Tendenzen in Richtung verzögerter intergenetischer Intervalle abzeichnen. Während Adler eine dahingehende Tendenz während des 19. Jahrhunderts ähnlich Wrigleys Befund zu Colyton feststellt 678, erkennt Schmalz im Monschauer Land bis 1875 keine Hinweise auf Geburtenkontrolle. Knodel wiederum machte in seiner Studie den Wandel des generativen Verhaltens zum Ende des 19. Jahrhunderts an der positiven Verbindung zwischen weiblichem Heiratsalter und dem Alter bei Geburt des letzten Kindes fest. Kennzeichen einer künstlichen Limitierung der Kinderzahl wären demnach in erster Linie die Beendigung der Reproduktion vor dem Beginn der Menopause und ein mit proportional zum Eheeintrittsalter schwankender Abbruch der Vermehrung. 679 Im vorhergehenden Kapitel wurde bereits auf klare Indizien für einen kollektiven Mentalitätswandel hin zu aktivem generativem Verhalten in Rußdorf und Bräunsdorf um 1900 hingewiesen. Die durchschnittliche familiäre Kinderzahl sank Anfang des 20. Jahrhunderts rapide, was ausschließlich mit kontrazeptivem Verhalten erklärt werden kann. Fraglich ist indes, ob die Geburtenplanung zu dieser Zeit noch nachträglich oder schon im Vorhinein erfolgte. Motivierte eine allgemein spürbar höhere Überlebenswahrscheinlichkeit von Säuglingen dazu, gemäß überkommenen Verhaltensnor676 677 678 679
Vgl. Imhof, Arthur E., Die gewonnenen Jahre. Von der Zunahme unserer Lebensspanne seit dreihundert Jahren oder von der Notwendigkeit einer neuen Einstellung zum Leben und Sterben, München 1981, S. 58 ff. Vgl. Schlumbohm, Lebensläufe, S. 140f. – Knodel, Behavior, S. 317. Vgl. Adler, Demographie, S. 102. Vgl. Knodel, Behavior, S. 369ff.
FAMILIENPLANUNG
329
men direkt nach der Heirat den Sinn des Lebens bzw. das Ziel der Partnerschaft in persönlicher Reproduktion schnell zu erfüllen und erst bei einer als ideal empfundenen Kinderzahl weitere Schwangerschaften zu vermeiden oder wurde die eigene Fortp anzung bereits sukzessive in der kollektiven Wahrnehmung zu einer gleichwertigen Möglichkeit unter vielen individuell bestimmbaren Lebensentwürfen bzw. gar einer nachgeordneten solchen degradiert? Um Aufschluss über das Wesen und die Veränderungen des generativen Verhaltens mithilfe des beschriebenen Untersuchungsmodells zu erhalten, wurden 1639 Rußdorfer und 982 Bräunsdorfer Familien kategorisiert. Diese erfüllten als grundlegende Bedingung, mindestens zwei in einem der beiden Orte geborene Kinder hervorgebracht zu haben. Die datentechnische „Vollständigkeit“ jener einbezogenen Familien wurde erneut vorausgesetzt, d. h. das Hochzeitsdatum musste bekannt und mindestens eines der Elternteile vor Ort gestorben bzw. bei ab 1880 gegründeten Ehen lediglich das Sterbedatum eines der Eltern vorhanden sein. In die Untersuchung fanden die durchschnittlichen Geburtenabstände zwischen dem ersten und letzten Kind mit bekanntem korrektem Geburtsdatum Eingang. Rußdorf Die Bevölkerung der sachsen-altenburgischen Exklave Rußdorf zeigte meistenteils ein als passiv einzustufendes generatives Verhalten. Sowohl zwischen 1582 und 1609 als auch zwischen 1760 und 1909 entsprach das Mengenverhältnis der natürlichen Idealform: 6,06–17,62 Prozent der Familien einer der angesichts begrenzter Datenmengen auf 30 Jahre ausgedehnten Kohorten 680 unterschritten in den Geburtenabständen durchschnittlich 1,5 Jahre, 6,06–14,23 Prozent reproduzierten sich in ausgesprochen großen Intervallen. Im Abstand von 18–30 Monaten brachten vier bis sechs von zehn Frauen ihre Kinder zur Welt. Rund ein Sechstel bis zwei Fünftel ließen im Mittel maximal 18 weitere Monate verstreichen. Zusätzlich zeigte ein Zeitabschnitt ein variierendes, gleichwohl in dieselbe Richtung weisendes Verteilungsmuster. Ein Viertel aller Paare legte 1610–1639 eine extrem rasche Reproduktion erster Kategorie an den Tag, was diese im Verhältnis an die zweite Stelle setzte. In der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts deutet sich, wie Abb. 46 zeigt, ein Wandel des generativen Verhaltens an, der 1640–1669 insbesondere offenbar wurde. Die Tendenz ging hin zu ausgedehnteren intergenetischen Intervallen. Gerade ein Drittel der 41 betreffenden Ehefrauen gebar seine Kinder im Abstand von weniger denn 30 Monaten. Bei unerheblichem Übergewicht der dritten Kategorie bekamen 62,5 Prozent der Mütter ihre Kinder mit langgezogenen Intervallen. Über die nachfolgenden beiden Dreißigjahreskohorten setzte sich dieses kollektive Verhaltensmuster de facto fort. Zwar standen 680
Über die abschnittsweise Zuordnung einer Familie entscheidet das Heiratsjahr.
330
FAMILIE
Abbildung 46: Entwicklung der durchschnittlichen familiären Geburtenintervalle in Rußdorf in Monaten
durchschnittliche familiäre Geburtenintervalle von über vier Jahren wieder hinter der zweiten Kategorie an dritter Stelle, jedoch erhielten große Zeitfenster zwischen 30 und 48 Monaten nun ein weitaus größeres Gewicht. Die Gebärzyklen von 35 der 62 zwischen 1670 und 1699 erstmals niedergekommenen Müttern entsprachen dem, 1700– 1729 waren es gar 60,32 Prozent. Die folgende Kohorte leitete indes einen Rückfall in das anfängliche, offensichtlich allgemein passive generative Verhalten ein. Woraus resultierte diese episodenweise Verhaltensänderung? Fand sie überhaupt real oder bloß auf dem Papier, bedingt durch statistischen Zufall und zu geringe Datenbasis, statt? Eine temporär lückenhafte Datenlage kann zumindest als Ursache ausgeschlossen werden. Einige wenige Familien „täuschten“ unter Umständen große Geburtenintervalle statistisch vor. Der Gärtner Michael Esche (1609–1664) etwa heiratete zwar 1635 in Rußdorf, bekam dort aber erst zehn Jahre später ein einziges Kind. Zwei weitere zuvor auf die Welt gekommene sind nachweisbar, doch bleibt unklar, wie viele seine Frau tatsächlich gebar. Ebenso hatte Georg Himmelreich († 1696) im Anschluss an seine Hochzeit 1660 erst ein Jahrzehnt auswärts verbracht. Dergleichen Fälle traten freilich marginal zu allen Zeiten auf und können daher kaum als außergewöhnlicher statistischer Zufall gelten. Tatsächlich spiegelt, bei fehlenden Hinweisen auf Unterregistrierung 681, das große Übergewicht hoher familiärer Geburtenintervalle die damalige Situation. Besonders die Kategorie über vierjähriger internataler Abstände wird von Sonderfällen dominiert. Christoph und Sabina Esche, Gärtnersleute, zählten zum Exempel bei Geburt ihres 681
Sehr wohl waren Aborte von Unterregistrierung bzw. genauer unterlassener Registrierung betroffen. Dies galt allerdings genauso für den gesamten Untersuchungszeitraum, sodass daraus per se keine Verfälschungsgefahr abgeleitet werden kann.
FAMILIENPLANUNG
331
ersten Sohnes 1667 beide bereits 45 Jahre. Mit weiteren Kindern war ob des fortgeschrittenen Alters der Eltern eher nicht und erst recht nicht mit großer temporaler Distanz zu rechnen. Dennoch kam 1677 ein zweiter Sohn zur Welt. Hingegen spielten bei dem Gärtner Gregor Böhm (1678–1746) und seiner Ehefrau wahrscheinlich genetische bzw. inhärent physiologische Prädispositionen in die Fortp anzung. Deren erstes Kind wurde 1705 erst zwei Jahre nach der Hochzeit geboren. Eine tote Tochter, die der 31-jährigen Mutter aus dem Leib geschnitten werden musste, folgte mit siebenjährigem Abstand. Schließlich wurde die dreiköp ge Familie 1716 um ein zweites lebendiges Kind erweitert. Unikalisch waren derartige individuelle Besonderheiten für den fraglichen Zeitabschnitt 1640–1759 freilich ebenso wenig wie die statistischen Ausnahmen charakteristisch. Symptomatisch mutet eine ungewöhnlich hohe Beteiligung der dörflichen Mittelschicht an der verzögerten Reproduktion an. Von 40 Paaren der vierten Kategorie des fraglichen Zeitraums entstammten 36 den dörflichen Mittelschichten und vier der Bauernschaft, obwohl das Verhältnis der beiden Gesellschaftsgruppen zueinander selbst 1729 noch 3:1 betrug. Die meisten dieser Eheleute (20) bekamen nur zwei, deutlich weniger (12) immerhin drei Kinder. Gleichzeitig schienen die Überlebenschancen ihres Nachwuchses mindestens leicht erhöht. Im Vergleich unterschritt die Kinderzahl der Paare dritter Kategorie, unter denen Bauern häu ger vertreten waren, im selben Zeitraum selten die vier. Charakteristisch für diese Gruppe waren im Ganzen rasche Geburtenfolgen, welche oft nur durch ein Intervall massiv konterkariert wurden. Der Gärtner Hans Buschmann heiratete beispielsweise 1712 eine 20-jährige Rußdorferin. Das erste Kind wurde nach zwei Jahren geboren, dann je eines nach drei, fünf, zwei, zwei, zwei und schließlich, die Mutter zählte nun 40, nach vier Jahren. Regelmäßig beendete ein ausgesprochen langer Geburtenabstand aber die eheliche Reproduktion. Elisabeth Großer brachte ihr viertes und letztes Kind nach 74-monatigem Intervall mit 31 Jahren zur Welt, Christina Haupt (1685–1750) war bei der Geburt ihres sechsten 38, der des siebten Kindes 45 Jahre alt und Susanna Landgraff bekam ihren Nachwuchs zwischen 1717 und 1732 mit Abständen von einem, vier und zehn Jahren. Während bei großen absoluten Kinderscharen die altersgemäß nachlassende mütterliche Fruchtbarkeit in Verantwortung gezogen werden kann 682, spielte solches bei geringen Kinderzahlen wahrscheinlich eine untergeordnete Rolle. Nur wenige Frauen heirateten mit über 35 Jahren und gebärdeten sich danach noch reproduktiv. Von Haus aus individuell zu extrem unterschiedlichen Zeitpunkten einsetzend und zusätzlich hochgradig auf externe Ein üsse reaktiv, wird die nahende Menopause allerdings weder von ausladenden intergenetischen Intervallen bei fortgeschrittenem Alter der Mutter zwangsläu g impliziert noch ist dieser Zusammenhang in relativ jungen Jahren der Mutter unbedingt negierbar. 682
Vgl. Knodel, Behavior, S. 357.
332
FAMILIE
Zwei grundlegende Ursachen kommen ungeachtet der konkreten situativen Ausprägung für das herausragende Aufkommen großer durchschnittlicher familiärer Geburtenabstände neben den statistisch-methodischen bzw. überlieferungsbedingten Unwägbarkeiten in Betracht. Einerseits vermögen, wie vielfach angemerkt, schlechte Umweltbedingungen die Physiologie potentieller Eltern empfängnisverhütend und potenzmindernd anzugreifen. In dem Fall sollte permanenter, zum Beispiel in anhaltendem Hunger, Kriegseinwirkung, Krankheiten, harter körperlicher Arbeit etc. wurzelnder Disstress auf die gesamte Bevölkerung oder einzelne Teilgruppen eingewirkt haben. Andererseits könnte bewusste Kinderplanung einschließlich aktiver Verhütungsmaßnahmen einzelner Bevölkerungsteile für dieselben messbaren Verhaltensänderungen verantwortlich zeichnen. Das überproportionale Auftreten verzögerter Geburtenfolgen bei den vom subsistenz- bzw. agrarwirtschaftlichen Standpunkt her innerhalb des dörflichen Kontextes ökonomisch benachteiligten Kleinbauern und Kleinststellenbesitzern (Tab. 42) sowie deren oft geringerer Reproduktionserfolg könnte als Indiz der ersteren Option gelTabelle 42: Entwicklung der durchschnittlichen familiären Geburtenintervalle in Rußdorf 1610–1819 Bauern
bis 18 Monate
19–30 Monate
31–48 Monate
über 48 Monate
1610–1639 1640–1669 1670–1699
0,00% 5,88%
80,00% 41,18%
0,00 % 29,41 %
20,00 % 23,53 %
5 16
6,25%
50,00%
43,75 %
0,00 %
15
1700–1729 1730–1759
0,00%
47,06%
47,06 %
5,88 %
17
0,00% 18,18% 10,53%
62,50% 45,45% 68,42%
31,25 % 18,18 % 10,53 %
6,25 % 18,18 % 10,53 %
16 18 17
16,67% 9,09%
50,00% 18,18%
33,33 % 36,36 %
0,00 % 36,36 %
5 10
9,68% 5,41%
32,26% 29,73%
35,48 % 51,35 %
22,58 % 13,51 %
28 35
1760–1789 1790–1819 Gärtner 1610–1639 1640–1669 1670–1699 1700–1729 1730–1759
Familien
7,69%
38,46%
35,90 %
17,95 %
36
1760–1789 1790–1819
8,70% 18,18%
60,87% 29,55%
21,74 % 43,18 %
8,70 % 9,09 %
21 36
Häusler 1610–1639
–
–
–
–
–
1640–1669 1670–1699 1700–1729 1730–1759 1760–1789 1790–1819
– 0,00% 0,00% 11,11% 5,45% 6,35%
– 50,00% 37,50% 25,00% 52,73% 55,56%
– 50,00 % 50,00 % 41,67 % 34,55 % 25,40 %
– 0,00 % 12,50 % 22,22 % 7,27 % 12,70 %
– 2 8 32 52 59
FAMILIENPLANUNG
333
ten. Gärtner und Häusler hätten sich in dem Fall einem härteren, womöglich im Gegensatz zur Bauernschaft kontinuierlich extrem arbeitsintensiven und dennoch tendenziell beständig am Rande der Existenzsicherung verbleibenden Lebensalltag gegenüber gesehen. Kein Krieg, keine Wirtschaftskrise, keine Seuche wirkte über mehr denn 100 Jahre und griff vornehmlich anhaltend eine gesellschaftliche Gruppe an. Unveränderte, schichtenspezi sche Lebensbedingungen hatten dagegen zweifelsohne das Potential, langwierig und sogar generationenübergreifend in Wechselwirkung mit individuellen Voraussetzungen hemmend auf das generative Verhalten einzuwirken. Gegen diese Möglichkeit spricht jedoch, dass sich die in Rußdorf verlängerten durchschnittlichen Geburtenintervalle ab der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts ohne erkennbare Ursache zurückbildeten. Wenn die rurale Mittelschicht zwischen 1640 und 1759 unter fruchtbarkeitsmindernden Bedingungen lebte, so gibt es keinen Anhaltspunkt anzunehmen, ihren weiter an Zahl gewinnenden Angehörigen vor Beginn der Industrialisierung einen signi kant steigenden Lebensstandard zu unterstellen. Im Gegenteil legte die Subsistenzkrise der frühen 1770er Jahre eine verdeckte strukturbedingte Mangelwirtschaft in Rußdorf offen. Zudem nahm das Säuglingssterberisiko seit Mitte des 17. Jahrhunderts kontinuierlich zu, was einer Aufwertung der Lebensbedingungen eher widerspricht. Drittens fehlen in Bräunsdorf, das denselben Umweltfaktoren unterworfen war, jegliche Hinweise auf Wandlungen im generativen Verhalten. Auf der anderen Seite könnten alle anzuführenden Indizien tendenziell geburtenplanerischen Gehabens unter anderem ob geringer Fallzahlen auch konträr interpretiert werden. Eine Erklärung erscheint gleichwohl plausibel: Die traditionell das nahezu umfassende Reproduktionsmonopol beanspruchende Bauernschaft sah sich entweder aus den unterschiedlichsten Gründen nie bemüßigt, eine Obergrenze des eigenen Nachwuchsquantums zu de nieren oder deren generierte relative Kinderzahl stand konsequent hinter der gewünschten zurück. 683 Infolgedessen ließen die Oberschichtfamilien allem Anschein nach der Natur willentlich oder unwillentlich freien Lauf, wie zwischen 1582 und 1609 zu ersehen. Zeitgleich zeichneten sich bereits damals bei der noch kleinen Mittelschicht geburtenplanerische Tendenzen ab, indem deren Mitglieder im Vergleich zur Bauernschaft überproportional häu g stark verzögerte Geburtenfolgen und geringere Kinderzahlen zeigten. Als Besitzer kleinerer, allein oft nicht subsistenzsichernder Land ächen war den Mittelschichtangehörigen ihr begrenzter Nahrungsspielraum
683
Christoph Sax unterschied in seiner Studie über den Zusammenhang von Wohlstand und Fertilität, referenzierend an die Ökonomisierung des Kindes bei Gary Becker, zwischen möglicher, gewünschter und tatsächlicher Kinderzahl. Dabei strich er die hohe Bedeutung des Verhältnisses der ersteren beiden für die Letztere und implizit die Entscheidung für oder gegen Familienplanung heraus. Steht die mögliche hinter der gewünschten zurück, seien mögliche und tatsächliche tendenziell identisch. Im umgekehrten Fall de nierte der Wunsch tendenziell die reale Kinderzahl. – Vgl. Sax, Christoph, Vom Zwang zur Wahl. Der Zusammenhang zwischen Wohlstand und Fertilität im Wandel der Zeit, Berlin 2006 u. Becker, Gary S., An Economic Analysis of Fertility, in: Universities-National Bureau (Hg.), Demographic and Economic Change in Developed Countries, o. O. 1960, S. 209–240.
334
FAMILIE
durchaus bewusst. Desgleichen mussten sie des positiven Zusammenhangs zwischen Familiengröße und Armutsrisiko gewahr sein. Viele Kinder bedeuteten viele Esser und viele Erben, unter denen die eventuell begrenzten Mittel und Güter aufzuteilen waren. Die Reproduktionsoption war bei verheirateten Paaren nicht verhandelbar, wurde teils gar von der Gesellschaft unter kulturellen, religiösen oder ökonomischen Motiven als P icht kommuniziert und zum Statussymbol stilisiert. Der Umfang der Kinderschar lag hingegen ausschließlich im Ermessen der Eltern. Da das Rußdorfer Erbrecht Mädchen nicht ausschloss, waren Wertigkeitsdifferenzen zwischen Söhnen und Töchtern, so überhaupt vorhanden, wahrscheinlich sehr gering. Insofern bestand wenig oder keine Veranlassung, die eheliche Fertilität in Erwartung eines männlichen Stammhalters auszureizen. Eine hohe familiäre Geburtenrate ergab daher dann Sinn, wenn das Haushaltseinkommen in durchschnittlichen Jahren zur Erhaltung einer größeren Gruppe oberhalb des Existenzminimums ausreichte. Traf dies nicht zu, verschlechterte jeder weitere Esser die Überlebenschancen aller im Extremfall auch abseits gesamtgesellschaftlicher oder persönlicher Krisen. Wenn freilich die Kindersterblichkeit hoch war, mochte eine gehobene absolute Kinderzahl vonnöten gewesen sein, um die als Ideal empfundene relative zu erreichen. Im ausgehenden 16. Jahrhundert starb jedes fünfte Kind vor dem ersten und jedes vierte vor dem 21. Geburtstag. Die Chancen standen demnach nicht schlecht, mit geringen Fertilitätsraten zwei bis vier Kinder durchzubringen. In der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts nahm die Unmündigensterblichkeit zu, die Kinderzahlen sanken und stark beschleunigte wie verzögerte Geburtenfolgen erfuhren anteilmäßig zulasten der mittleren Kategorien durchschnittlicher intergenetischer Intervalle eine Aufwertung. Die demographischen, ökonomischen und psychologischen Folgen der unsicheren Kriegszeit forderten augenscheinlich auch unter den Rußdorfern ihren Tribut. Nach dem Dreißigjährigen Krieg schnellte die Überlebenswahrscheinlichkeit Neugeborener nach oben und die mittlere absolute Kinderzahl fand, zunächst die relative nachziehend, über 100 Jahre auf das vorherige Niveau zurück. Die nun rasant wachsende dörfliche Mittelschicht vertraute unter anderem erfolgreich auf eingeschränkte Geburtigkeit. Warum die Geburtenabstände allerdings mutmaßlich künstlich auseinandergezogen wurden, ist fraglich. Diverse Erklärungsmodelle sind möglich. Unter anderem könnten längere Still- oder intensivere Betreuungszeiten, mithin eine verstärkte Zuwendung gegenüber dem Säugling und Kleinkind, verzögerte Reproduktionsfolgen bedingt haben. Auf dem Scheitelpunkt der Entwicklung setzten zwischen 1700 und 1729 knapp über 60 Prozent der Rußdorfer Ehepaare durchschnittlich vier Kinder mit Abständen jenseits 30 Monaten in die Welt. Synchron wies die Kindersterblichkeit, die 1640–1669 ihren Tiefpunkt erreicht hatte, wieder leicht aufwärts. Ein neuer Umschwung kündigte sich an. Trotz tendenziell aktiver Familienplanung und begrenzter Kinderzahlen scheint die Rußdorfer Bevölkerungsdichte an einen kritischen Punkt gelangt zu sein. Nach 1730 nahm das Sterberisiko besonders für Säuglinge ungeachtet ihrer familiären Ordnungs-
FAMILIENPLANUNG
335
zahl rasch zu. Wollten sie ihr wenngleich geringes Reproduktionsniveau halten, mussten Gärtner und Häusler den potentiellen „Luxus“ der kontrollierten Geburtigkeit aufgeben und konnten maximal nach dem Erreichen der gewünschten Zahl lebender Kinder weitere Konzeptionen vermeiden. Der Menschenumsatz stieg, das Verhältnis der Geburtenintervallkategorien zeigte in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts bereits eine klare Dominanz schneller Geburtenfolgen und den charakteristischen Ausdruck fehlender kollektiver Geburtenkontrolle. Mitte des 19. Jahrhunderts bahnte sich ein abermaliger Verhaltenswandel an. Nach Dreißigjahreskohorten erreichte die relative Kinderzahl bei den Familien der Periode 1820–1849 ihren, der Menschenumsatz seinen Scheitelpunkt. Danach wurde die absolute Reproduktion zaghaft zurückgefahren. Anstatt darauf mit einer rasanten Zunahme zu reagieren, stagnierte die durchschnittliche relative familiäre Kinderzahl bei den bis in die 1910er Jahre gegründeten Familien. Damit ging ein zunächst sachter Umschwung des kollektiven generativen Verhaltens einher. Die zwischen 1820 und 1849 ehelich gebundenen Paare betrieben noch zu 58,97 Prozent eine schnellere (19–30-monatige Abstände) und zu 16,03 Prozent eine sehr schnelle Reproduktion. 40 Jahre später nden sich insgesamt nurmehr 57,75 Prozent der Eheleute in beiden Kategorien generativen Verhaltens wieder. Nach 1900 beschleunigte sich der Prozess exponentiell, sodass schon Paare, welche 1910–1935 heirateten, dem nach Wrigley typischen Muster aktiver Geburtenplanung entsprachen. Veränderte Existenzbedingungen, etwa ein allgemein gehobener Nahrungsspielraum bzw. Lebensstandard, oder neue effektivere Absicherungs- und Kompensationsmethoden gegenüber Krankheiten und Krisen – eine nähere Eingrenzung auf konkrete Ursachen war in Kap. 6.4 nicht möglich – senkten in der Wendezeit zum 20. Jahrhundert vor allem das Säuglingssterberisiko. Dies blieb nicht unbemerkt. Mit einem zeitgleichen historischen Tiefstand der Unmündigensterblichkeit und das Reproduktionsniveau bereits absolut unterschreitenden familiären Kinderzahlen bestimmten stark verzögerte Geburtenfolgen nach 1910 das Bild (37,58 %) bzw. gerieten gestreckte intergenetische Intervalle insgesamt (66,09 %) zur Normalität. Die Betrachtung der einzelnen Dekadenkohorten dieser Periode in Abb. 47 erlaubt es, den offensichtlich stattgefundenen Übergang zeitlich einzugrenzen. Noch in den 1890er Jahren ehelich verbundene Paare ließen den natürlich-biologischen Gesetzmäßigkeiten der Vermehrung offensichtlich freie Hand, was sich in hohen familiären Kinderzahlen und zu 41,30 Prozent mittleren Geburtenabständen zwischen 1,5 und 2,5 Jahren gleichermaßen niederschlug. Über die beiden anschließenden Jahrzehnte strebte zunächst die dritte Kategorie an die erste Position und schließlich die sonst meist unterrepräsentierte vierte Kategorie an zweite Stelle. Der Wandel sollte demzufolge im Laufe der 1890er Jahre eingesetzt haben. Schon ein Drittel der in den 1900ern gegründeten Familien bekam alle 31–48 Monate, ein Fünftel weiterhin in noch größeren Abständen Zuwachs. Wer dagegen zwischen 1910 und 1919 heiratete, reproduzierte sich mit 66,21-prozentiger Wahrscheinlichkeit durchschnittlich minimal alle 2,6 Jahre. Jene, die
336
FAMILIE
Abbildung 47: Entwicklung der durchschnittlichen familiären Geburtenintervalle in Rußdorf 1890– 1935 in Monaten
in den „Goldenen Zwanzigern“ vor den Altar traten, ließen zwischen den Geburtstagen ihrer oft nur zwei Kinder zumeist (42,65%) mindestens vier Jahre verstreichen. Die übrigen Intervallkategorien wurden mit absteigender Wahrscheinlichkeit bedient. Aktive Kontrolle des eigenen generativen Verhaltens war in Rußdorf offensichtlich binnen einer Generation zum allgemeinen Usus geworden und blieb es auch. Es erscheint naheliegend, die Wurzel des dorfgesellschaftlichen Übergangs zu schichtenübergreifend geringerer Fertilität und aktiver Ein ussnahme auf das generative Verhalten in verringertem Säuglingssterblichkeitsrisiko zu suchen. Zwar war die Gefahr, vor dem ersten wie dem 21. Geburtstag zu versterben, für Neugeborene Ende der 1840er Jahre am höchsten und lassen sich die Scheitelpunkte der durchschnittlichen familiären Kinderzahlen nach Heiratsjahrgängen passend in derselben Dekade verorten, doch blieb eine signi kante positive wie negative Veränderung aller drei Kenngrößen bis in die 1880er Jahre aus. Vielmehr hatte sich gesamtgesellschaftlich gesehen Mitte des 19. Jahrhunderts ein Gleichgewicht dieser zur gesicherten realen Umsetzung der scheinbar präferierten Drei- bis Vierkindfamilie etabliert. Obgleich seit den 1860ern kontinuierlich leicht sinkende Unmündigensterblichkeit und mittlere absolute Familiengröße sowie parallel leicht steigende relative Kinderzahlen den folgenden Wandel vorzeichneten, fand dieser erst während der 1900er Jahre statt. Nach 1900 ging das Säuglingssterberisiko auf das Niveau des beginnenden 19. Jahrhunderts zurück. Einige der 1890–1899 gegründeten Familien pro tierten noch davon, weswegen deren durchschnittliche relative Kinderzahl gegenüber den 1880ern geringfügig zunahm. Einige Ehepaare reagierten zudem offenkundig bereits, wahrscheinlich durch eine frühere Umsetzung des gewünschten Nachwuchses motiviert, mit Fertilitätsbegrenzung, sodass sich auch die absoluten mittleren Familiengrößen verringerten. Paare der 1900er-Kohorte gingen unter dem Eindruck rapide schwindender Kinders-
FAMILIENPLANUNG
337
terblichkeit – zwischen 1910 und 1919 verschied schon nurmehr jedes fünfte Neugeborene vor seinem ersten Geburtstag – einen Schritt weiter. Sie passten nicht nur ihre Reproduktion den neuen Gegebenheiten an, sondern begannen zugleich neue Familiengrößenideale zu de nieren, was auch die mittlere relative Kinderzahl sinken ließ. Während in den 1910ern zur Ehe schreitende Partner unter Umständen aufgrund des Ersten Weltkrieges weniger Nachwuchs produzierten und verzögerte Geburtenfolgen an den Tag legten, indiziert die Fortführung und Intensivierung des Verhaltens durch Eltern der 1920er einen kollektiven Mentalitätswandel hin zu aktiver Geburtenkontrolle und der Zweikindfamilie als Rußdorfer Idealform. Bei der Familienplanung fanden zunächst in den 1900er bis 1920er Jahren die Konzepte der schlichten Reproduktionsbegrenzung nach Erreichen der gewünschten Kinderzahl in natürlichen Rhythmen und der von vornherein aktiven Ein ussnahme auf Konzeptionszeitpunkt und Geburtenquantum gleichermaßen Anwendung. Gegen Ende des Untersuchungszeitraums setzte sich jedoch bei Mehrkindfamilien die letztere Methode durch. Bräunsdorf Völlig gegensätzlich zum Rußdorfer Modell existieren für Bräunsdorf keinerlei Anhaltspunkte bewussten generativen Verhaltens vor dem ausgehenden „langen 19. Jahrhundert“. In jeder der Dreißigjahreskohorten zwischen 1640 und 1909 machen durchschnittliche familiäre Geburtenabstände von 18–30 Monaten den Löwenanteil (42,86– 58,52 %) aus, in deutlichem Abstand gefolgt von der dritten Intervallkategorie (17,04– 32,26 %). Die Gruppen der Geburtenfolgen geringer oder großer intergenetischer Zeiträume ankieren das Geschehen quantitativ in untereinander wechselnder Gewichtung. Eines kurzen Intermezzos 1670–1699 ungeachtet dominierten schnellere Geburtenfolgen mit maximal 2,5-jährigen Geburtenintervallen. Unter dem Eindruck der Rußdorfer Entwicklung springt jedoch eine stärkere Gewichtung der dritten und vierten Intervallkategorie just in der Zeit, als sich in der Exklave erstmals Veränderungen des generativen Verhaltens abzeichneten, ins Auge. Zwischen 1640 und 1759 waren mittlere Geburtenabstände von über vier Jahren in Bräunsdorf häu ger vertreten denn jene unter 18 Monaten. Hernach galt das gegensätzliche Bild bis zum beginnenden 20. Jahrhundert (Abb. 48). Wie im Nachbarort übten sich in erster Linie Vertreter der jungen dörflichen Mittelschichten in verzögerter Reproduktion (Tab. 43). Von 37 Familien vierten Typs des generativen Verhaltens bis 1759 sind nur acht den bäuerlichen Kreisen zuzurechnen. In drei Fällen hatten die Eltern mehrere Jahre nicht im Dorf gelebt oder waren gänzlich zugezogen, weswegen deren überlieferte Nachkommenschaft womöglich vom realen Maß differiert. Kleine absolute Kinderscharen waren auch in Bräunsdorf charakteristische Begleiterscheinung sehr hoher mittlerer Geburtenabstände. Allerdings waren Zwei- und Dreikindfamilien hier gleich oft vertreten (13) und wurden selbst vier Kinder von jedem
338
FAMILIE
vierten Paar erreicht. Die Reproduktionsfolge prägende Geburtenintervalle entstanden zumeist zwischen dem vorletzten und letzten Sprössling. Außerordentliche Reproduktionspausen über einer Dekade hatten dabei keinen extraordinären Charakter. Die bäuerlichen Eheleute Schönfelt ließen zum Beispiel nach der Geburt ihres zweiten Kindes elf Jahre verstreichen, ehe ihr drittes und letztes 1707 zur Welt kam. Die Handbäuerin Maria Frischmann schenkte 1742–1749 vier Kindern in kurzen Abständen das Leben, ehe sie 1758 noch einen Sohn gebar. Desgleichen bekam das Häuslerehepaar Büchner 1781 zwölf Jahre nach der Geburt ihres fünften Kindes ein weiteres. Deren Beispiel zählt zu den wenigen eindeutiger Familienplanung. Von den BüchnerGeschwistern erreichte keines die Mündigkeit. Eva Maria starb 1763 sechsjährig, Samuel Friedrich erlebte 1765 nicht einmal seinen ersten Geburtstag, Maria Susanna starb im Krisenjahr 1772 zehnjährig und den Kurerben Johann Michael forderte der Tod 1772. Die einzige überlebende Tochter Maria Rosina ehelichte mit 19 Jahren 1780 einen Gärtner, blieb aber ein Jahr später im Kindbett, dicht gefolgt von ihrem Söhnlein. Völlig ohne Nachwuchs zurückgelassen, zeugte der Gärtner Büchner mit seiner 42-jährigen Frau ein weiteres, im Dezember 1781 ziemlich genau neun Monate nach der Tochter Tod geborenes Kind. Welch besondere Fürsorge diesem Sohn zuteil wurde, lässt sich allein daran ermessen, dass er trotz Haustaufe, „weil das Kind schwächlich war“ 684, seine mündigen Jahre erreichte.
Abbildung 48: Entwicklung der durchschnittlichen familiären Geburtenintervalle in Bräunsdorf in Monaten
684
EPA Bräunsdorf, KB I, Taufen 1781, Nr. 22.
339
FAMILIENPLANUNG
Tabelle 43: Entwicklung der durchschnittlichen familiären Geburtenintervalle in Bräunsdorf 1640–1819 Bauern
bis 18 Monate
19–30 Monate
31–48 Monate
über 48 Monate
Familien
1640–1669
0,00%
73,33%
26,67 %
0,00 %
15
1670–1699
12,00% 9,52%
52,00% 61,90%
24,00 % 14,29 %
12,00 % 14,29 %
22 19
1700–1729 1730–1759
0,00%
75,00%
10,00 %
15,00 %
20
12,90% 12,50%
54,84% 45,83%
25,81 % 33,33 %
6,45 % 8,33 %
27 21
1640–1669 1670–1699 1700–1729 1730–1759
7,14% 0,00% 13,33%
42,86% 30,77% 36,67%
35,71 % 34,62 % 33,33 %
14,29 % 34,62 % 16,67 %
13 26 26
10,71%
46,43%
32,14 %
10,71 %
25
1760–1789 1790–1819
17,86% 9,68%
39,29% 48,39%
32,14 % 35,48 %
10,71 % 6,45 %
23 28
Häusler 1640–1669 1670–1699
–
–
–
0,00 %
–
0,00%
50,00%
0,00 %
50,00 %
2
0,00%
45,45%
45,45 %
9,09 %
11
10,53% 9,52% 15,15%
36,84% 57,14% 63,64%
21,05 % 33,33 % 15,15 %
31,58 % 0,00 % 6,06 %
17 19 28
1760–1789 1790–1819 Gärtner
1700–1729 1730–1759 1760–1789 1790–1819
Klare Vorstellungen artikulierten auch der Häusler Gottfried Heintzig (1715–1776) und seine Ehefrau durch ihr generatives Verhalten. Binnen fünf Jahren hatten sie im Anschluss an ihre Hochzeit zwei Kinder bekommen, die beide das kritische erste Jahr hinter sich ließen. Als die ältere Tochter 1751 aber fast siebenjährig verschied, war die gewünschte geschlechtsunabhängige Kinderzahl wieder unerreicht. Darum zeugten sie ein weiteres Kind. Der Sohn Heinrich kam ein Jahr nach dem Tod seiner älteren Schwester auf die Welt. Weitere Kinder waren offenbar nicht erwünscht und blieben entsprechend aus, ein Indiz für das Funktionieren der Verhütungspraxis, habe sie auch etwa in unterlassenem Geschlechtsverkehr bestanden. Heinrich überlebte jedoch sein elftes Jahr nicht. Anstatt es dabei zu belassen, wagten die Eheleute, nun 47 und 46 Jahre alt, einen letzten erfolgreichen Versuch. Eine Tochter wurde 1764 geboren und blieb zwölfjährig mit ihrem 19-jährigen Bruder 1776 als Vollwaise zurück. Jacob Grobe, ebenfalls ein Gärtner, erhob extreme Geburtenabstände mit seiner Angetrauten ohne erkennbaren Grund bewusst oder unbewusst zu seinem Reproduktionsprinzip. Nachdem er 1678 geheiratet hatte, erblickte die erste Tochter 1679 das Licht der Welt, ein Sohn folgte 1681, nach zehnjähriger Pause eine zweite Tochter und 1702 schließlich der Kurerbe. Alle vier Kinder überlebten. Es scheint, die Eltern revidierten
340
FAMILIE
über die Jahre wiederholt ihr Familiengrößenideal auf Grundlage persönlicher Referenzen und veränderter Realitäten. In der Regel fehlt es an klar identi zierbaren Ursachen ausladender durchschnittlicher Geburtenintervalle. Ökonomische, letztlich auf die Physiologie der Eltern negativ wirkende oder zumindest eine Re exion des eigenen generativen Verhaltens motivierende Gründe müssen ebenso grundsätzlich in Betracht gezogen werden wie eventuelle ererbte oder erworbene Prädispositionen der Eltern. Allerdings indizieren die genannten Beispiele bereits im 17. Jahrhundert vorhandenes Wissen um effektive Techniken der Geburtenkontrolle im Bedarfsfall inklusive dessen Anwendung. Des Weiteren sprechen mehrere Punkte gegen ökonomische Missstände bei den Familien verzögerter Reproduktionsfolgen. Über die Gerichtsbuchüberlieferung lässt sich für mehrere Bräunsdorfer Güter eine in Einzelfällen ausdrücklich auf das Wesen des Dreißigjährigen Krieges oder die Schwedenzeit Anfang des 18. Jahrhunderts zurückgeführte Verschuldung belegen. Betroffene Familien elen jedoch kaum durch große Geburtenabstände noch durch konsequent geringe Kinderzahlen auf. Der Bauer Georg Friedrich (1630–1685) hinterließ exemplarisch ein „zimblich verwüstetes Pferdtfrohnguth“, auf dem „mehr Schulden vorhanden, als es würdig“. 685 Dennoch zeugte er mit seiner ersten Frau acht Kinder binnen 17 Jahren, von denen fünf das mündige Alter erlebten, sowie eine dann jung verstorbene Tochter mit seiner zweiten, bei der Heirat 1676 schon 40 Jahre zählenden Ehefrau. An diesem Beispiel wird unter anderem deutlich, welch geringe Rückschlüsse auf die Lebenssituation Betroffener belegte momentane Verschuldungssituationen gewähren. Zumeist bleiben zeitlicher Rahmen und Entstehungsumstände einer Verschuldung völlig offen. Ferner ist der höchst schwankende, aus dem momentanen durchschnittlichen Verkaufswert der zugehörigen Immobilien, des Inventars, des Viehs und der in Wuchs stehenden Früchte zusammengesetzte Gutswert in den seltensten Fällen umfassend und auch dann nur punktuell überliefert, sodass die mutmaßlich empfundene Belastung durch Schulden bestimmter Höhe kaum zu ermessen ist. Hinzu kommt, dass über die extrem variable Produktivität der Gutswirtschaften inklusive etwaiger Produktionsüberschüsse zuverlässige Daten fehlen. Im Falle des Friedrich'schen Anspannguts ist somit gänzlich unklar, ob die aufgelaufene massive Schuldenlast schon zu der Zeit bestand, als seine Familie wuchs und welche Auswirkungen sie auf deren Lebensbedingungen nahm. Der 1686 nach Bräunsdorf gezogene Papiermüller Samuel Käferstein (1656–1721) stand einer Familie vierten Geburtenintervalltyps vor, die nachweislich mit Schulden zu kämpfen hatte und bei der die Höhe der Verp ichtungen in Relation zum Gutswert bekannt ist. Nach dem Tod des Vaters 1721 belasteten die auf 1000 Gulden geschätzte Papiermühle 800 Gulden nanzieller Rückstände. Einen signi kanten Teil dessen mach685
HstA-D, 12613 GB Limbach, Nr. 2, fol. 1.
FAMILIENPLANUNG
341
ten ausstehende Ausstattungs- und Zuchtgelder (40,58%) der acht Kinder aus drei Ehen sowie Begräbnis- und Arztkosten (8,25%) des Vaters aus – darunter allein 47 Gulden 15 Groschen nach Waldenburg gehende für „Trauerwahren“ – welche entweder jüngst entstanden waren oder real noch gar nicht an elen. Die übrigen Posten umfassten geliehenes Privat- und Kirchenkapital sowie offenkundig unbezahlte Arbeitsdienste des ältesten Sohnes, eines Hohensteiner Fleischers, eines Waldenburger Nadlers, des Bräunsdorfer Obermüllers sowie ausstehende gerichtsherrliche, parochiale und schulmeisterliche Zinsen und Fronen. Über welchen Zeitraum diese aufgelaufen waren, lassen die Quellen freilich offen. Inwiefern die Belastungen in den neunjährigen Abstand zwischen Käfersteins vorletztem und letztem Kind spielten, bleibt so Spekulation. Zweifelsohne war hingegen die Verschuldung für Andreas und Juditha Schubert kein Grund, die eigene Reproduktion zu begrenzen. Vier Kinder entsprangen der Verbindung zwischen 1720 und 1727, ehe die Familie ihr Anspanngut 1728 gen Callenberg diverser Rückstände halber verließ. Bereits 1695 hatte Georg Rösche, „weil er der vielen Gaben wegen nicht mehr haußhalten könnte“ 686, es der Gerichtsherrschaft überstellt. Dessen Nachfolger Georg Görner verkaufte nach wenigen Jahren 1699 an Michael Frischmann, von dem es Andreas Schubert als Schwiegersohn übernahm. Dabei scheint die im 17. Jahrhundert aufgelaufene Schuldenlast haften geblieben zu sein. Dem Fortp anzungserfolg Schuberts geriet dies nicht zum Nachteil. Die Bräunsdorfer Zahlen scheinen zu bestätigen, was für Rußdorf attestiert wurde. Nicht die Geburtenintervalle orientierten sich im Zweifelsfall an den individuellen und kollektiven ökonomischen Verhältnissen, sondern die De nition der gewünschten respektive angestrebten Kinderzahl. Einen unbedingten Zusammenhang zwischen dem gebundenen und ungebundenen Vermögen herzustellen, verbietet sich jedoch, wie das aufgeführte Beispiel Johann Friedrich Büchners beweist, der unikalisch als „wohlhabender Mann“ 687 bezeichnet wurde und offenbar trotzdem auf nicht mehr denn drei Kinder spekulierte. Andere hingegen sahen in begrenzten Verhältnissen keinen Grund, auf größere Nachwuchsquantitäten zu verzichten. Das prozentual stärkere Gewicht der Bauernschaft, die tendenziell eher zu höheren Kinderzahlen strebte, woraus zwangsläu g kürzere Geburtenfolgen resultierten, mag den im Bräunsdorf des späten 17. und frühen 18. Jahrhunderts nur unterschwellig zu Tage tretenden gesamtgesellschaftlichen Kurs in Richtung ausgedehnter intergenetischer Intervalle bedingt haben. Gemäß dem zuvor entwickelten Theorem sollten vor allen Dingen die jungen lokalen Mittelschichten zwischen 1640 und 1759 zu Geburtenbeschränkung infolge besitzbedingt geringeren Nahrungsspielraums tendiert haben. Die damalige Säuglingssterblichkeit zwischen einem Fünftel und einem Viertel erlaubte es theoretisch, potentiell angestrebte Familienideale mit weniger Kindern und ausgedehnten internatalen Ab686 687
Ebd., Nr. 1, fol. 86. EPA Bräunsdorf, KB I, Beerdigungseintrag 1772, Nr. 22.
342
FAMILIE
ständen zu verwirklichen. Gegenüber dem gleichzeitigen Rußdorfer Menschenumsatz war der Bräunsdorfer allerdings leicht erhöht. Allein die Differenz im Säuglingssterberisiko von bis zu 8,37 Prozent (1670–1699) genügte womöglich, leicht gesteigerte absolute Kinderzahlen und eine stärkere gesamtgesellschaftliche Verhaftung in natürlichen Reproduktionszyklen zu motivieren. In der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts stieg die Säuglingssterblichkeit auf ein Drittel, die Wahrscheinlichkeit, das 21. Jahr nicht zu erreichen, auf über 40 Prozent an. Höhere absolute Kinderzahlen wurden nötig, sollte das bisherige Reproduktionsniveau von durchschnittlich drei bis vier Kindern gehalten werden. Damit gingen bei konstanten Heiratsaltern schrumpfende intergenetische Intervalle einher. Stark beschleunigte Reproduktionsfolgen traten nun deutlich häu ger auf denn stark verzögerte. Der Gesamteindruck einer in ihrem generativen Verhalten eher passiven Gesellschaft ändert sich hierdurch freilich nur marginal. Der Übergang zu eindeutig kollektiv praktizierter Familienplanung vollzog sich auch in Bräunsdorf erst um 1900. Noch die Kohorte zwischen 1890 und 1909 gegründeter Familien legte das tradierte Fortp anzungsgehaben mit signi kantem Übergewicht schneller (46,35%) und sehr schneller (14,58 %) Geburtenfolgen an den Tag. Simultan verstarb jedes dritte Neugeborene vor seinem ersten Geburtstag. Hingegen hatte sich in der nachfolgenden nalen betrachteten Kohorte 1910–1935 das nach Wrigley für aktiv auf die Fertilität Ein uss nehmende Gesellschaften typische Verhältnis der Geburtenintervallkategorien durchgesetzt. Allein 47,95 Prozent der damals heiratenden Paare vermehrten sich minimal alle vier Jahre. Die übrigen Gruppen wurden mit absteigender Häu gkeit bedient. Begleitend hatten sich mittlere absolute und relative familiäre Kinderzahl einander auf historisch niedrigem Niveau angenähert und unterschritt die Unmündigensterblichkeit insgesamt erstmals die Zwanzigprozentmarke. Die Betrachtung des offensichtlichen Übergangszeitraums in Dekadenkohorten (Abb. 49) erlaubt es, den Prozess zeitlich näher einzugrenzen. In den 1890er Jahren heiratende Bräunsdorfer setzten durchschnittlich rund sechs Kinder in die Welt, sahen rund vier erwachsen werden und ließen zumeist Sprössling auf Sprössling ohne erkennbare Eingriffe in die eigene Fertilität folgen. Drei Viertel aller Familien mit mehr als einem Kind ließen maximal 30 Monate zwischen den Geburten verstreichen, wobei der Schwerpunkt klar (63,64%) auf der zweiten Intervallkategorie lag. Nur ein Jahrzehnt später, das Säuglingssterberisiko el unter 30 Prozent, zeigt sich ein leichtes Übergewicht jener Familien 2,5–3,5-jähriger (35,53 %) und über vierjähriger (15,79 %) intergenetischer Intervalle gegenüber den Vertretern der beiden Kategorien geringerer Abstände (14,47/34,21 %). Eine klare Tendenz in Richtung kollektiv praktizierter Geburtenkontrolle kommt darin bereits klar zum Ausdruck. Die in den 1910er Jahren heiratenden Bräunsdorfer Paare hatten den Wandel dagegen vollzogen und langgestreckte Geburtenfolgen (33,78/39,19%) zum Primat der Ordnung erhoben. Hernach weitete sich dieses noch aus, indem jedes zweite Ehegespann (53,85 %) der 1920er zwischen der Geburt seiner im Schnitt zwei Kinder mehr denn vier Jahre verstreichen ließ.
FAMILIENPLANUNG
343
Abbildung 49: Entwicklung der durchschnittlichen familiären Geburtenintervalle in Bräunsdorf 1890–1935 in Monaten
Wiewohl die sich in dieser Zeit massiv verringernde Kindersterblichkeit mit Sicherheit eine zentrale Rolle für Fertilitätsrückgang, sinkenden Menschenumsatz sowie den allgemeinen Übergang zu Kleinfamilie und eindeutig aktiver Geburtenkontrolle bzw. Familienplanung spielte, offerieren auch die Bräunsdorfer Daten keine eindeutigen reaktiven Wirkungszusammenhänge. Den Gipfelpunkt der absoluten wie relativen Familiengrößen erreichten etwa die in den 1840er Jahren getrauten Paare, die Kindersterblichkeit gelangte dagegen erst in den 1880er Jahren an ihre Spitze. Wenn ein hohes Risiko, jedes dritte bis jedes zweite Kind zu verlieren, gesteigerte Nachwuchsquantitäten motivierte, wäre eine zeitgleiche bzw. in Anbetracht der differierenden temporalen Dimension der betreffenden Kenngrößen zeitlich leicht versetzte Ausprägung der Maxima zu erwarten. Tatsächlich blieben absolute und relative Kinderzahl in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts weitgehend auf einem Niveau bei etwa sechs bzw. 3,5 und unterlag die Unmündigensterblichkeit keiner signi kanten Veränderung. Erst im Anschluss an deren Scheitelpunkt in den 1880er Jahren el die durchschnittliche absolute Kinderzahl der in den 1890ern verheirateten Paare um annähernd denselben Wert wie das Risiko der im selben Zeitraum geborenen Kinder, vor dem 21. Geburtstag zu versterben. Ferner stieg die relative Kinderzahl in ähnlichem Verhältnis. Die Ursachen des Prozesses stehen zur Debatte, denn obgleich hier lediglich zehnprozentige, keineswegs außergewöhnliche Wertveränderungen zu beobachten waren, zeichneten diese die nachfolgende tiefgreifende generative Transformation tendenziell vor, stellten also mit einiger Wahrscheinlichkeit deren Beginn dar. Setzten gesamtgesellschaftlich sinkende Familiengrößen einen lokal realen Kindersterblichkeitsrückgang voraus, ist fraglich, worauf die jungen Eltern der 1890er reagierten. Innerhalb ihrer eigenen Geschwisterschaft mussten sie mehrheitlich Zeuge hohen Menschenumsatzes geworden sein. Das
344
FAMILIE
Säuglingssterberisiko sank zum Ende des 19. Jahrhunderts desgleichen unerheblich und die etwas stärker regressive Unmündigensterblichkeit der 1890er-Kinder konnte ihnen schwerlich vor den 1910er Jahren zu Bewusstsein kommen. Seit den 1900ern ging dagegen nicht nur die Säuglingssterblichkeit rapide zurück, sondern schwanden auch die durchschnittlichen Familiengrößen absolut wie relativ. Die Unmündigenmortalität nahm eine zentrale Rolle im kollektiven Fertilitätsrückgang wie folgt ein: In den 1900er Jahren verbesserten sich die Lebensbedingungen für Neugeborene massiv, mehr Kinder überlebten, die absoluten Kinderzahlen wurden dem via aktiver Limitierung der Reproduktion nach Erreichen einer gewünschten Kinderzahl angeglichen. Einige der in den 1890ern gegründeten Familien kamen noch in den Genuss steigender Überlebenschancen ihrer Säuglinge, weswegen einerseits deren relatives Nachwuchsquantum gegenüber den 1880er-Familien leicht stieg, andererseits das absolute durch Partizipation an der nun aus ökonomischen und ideellen Gesichtspunkten aufkommenden Fertilitätsbegrenzung leicht sank. Obgleich geringere Kinderzahlen durch Vergrößerung des jedem einzelnen zukommenden Anteils an den verfügbaren familiären Ressourcen, zu denen nicht zuletzt elterliche Fürsorge gehörte, theoretisch negativ auf die Kindersterblichkeit wirken konnten, zeichneten für diese rapide Entwicklung Anfang des 20. Jahrhunderts mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit äußere Faktoren, etwa ein neues Hygienebewusstsein 688 oder ein Ausbau der medizinisch-technischen Infrastruktur, verantwortlich. Erst unter dem Eindruck dessen, womöglich in Verbindung mit sich wandelnden Arbeits- und Lebensrealitäten sowie in Revision bzw. Auflösung begriffenen traditionellen Wert- und Normvorstellungen, setzte sich die Praxis bewusst verzögerter und von Beginn geplanter familiärer Geburtenfolgen im kollektiven Handeln durch. Während der 1910er Jahre veränderte sich offenbar zusätzlich gesamtgesellschaftlich das Familienideal. Sofern der Erste Weltkrieg in die Etablierung der realen Zweikindfamilie binnen dieser Dekade hineinspielte, erfuhren dessen Auswirkungen in dem Punkt später keine Revision. Zusammenfassung Die Untersuchungsergebnisse legen nahe, dass Familienplanung und selbst aktive Fertilitätskontrolle in den protestantischen Dörfern Rußdorf und Bräunsdorf keineswegs Phänomene des 20. Jahrhunderts, noch Produkt der vielschichtigen soziokulturellen wie ökonomischen Umwälzungen des 19. waren. 689 Eine profunde, wenn auch sicherlich nicht physiologisch fundierte Vorstellung von Empfängnis, Schwangerschaft und Verhütung muss schon für das ausgehende Mittelalter vorausgesetzt werden. Wenn aktive 688 689
Vgl. Marschalck, Bevölkerungsgeschichte, S. 60. Für protestantische Gebiete ist dieser Befund keineswegs ungewöhnlich. In diversen Städten, darunter Zürich und Oppenheim ist kontrazeptives Verhalten nach dem Ende der Pestzüge Mitte des 17. Jahrhunderts, im ländlichen Raum vorrangig ab dem 18. Jahrhundert nachgewiesen worden. Vgl. P ster, Bevölkerungsgeschichte, S. 33 ff.
FAMILIENPLANUNG
345
Familienplanung gesamtgesellschaftlich weniger deutlich als in der Gegenwart, d. h. mit ihr eindeutig zuordenbaren Folgen praktiziert oder aber unterlassen wurde, so zeichnete vermutlich eine differierende Einstellung hinsichtlich des einem Kind offen oder unterschwellig zugemessenen Sinns und Nutzens bzw. eine differierende kulturelle Bewertung der Fortp anzung inhärent verantwortlich. Stellten Kinder in den christlich geprägten Gesellschaftsformen des Heiligen Römischen Reiches seit dem Mittelalter standardisiert relativ unabhängig von der ökonomischen Situation der Eltern einen zentralen Bestandteil jeder Familie dar – immerhin hatte allein die Ehe traditionell den Charakter eines Privilegs mit verschiedenen anhängigen Rechten und P ichten, durch welche sie ganz im Sinne Malthus', Mackenroths und Hajnals im ruralen Raum soziodemographische Regulierungsfunktionen barg –, wurde im beginnenden 20. Jahrhundert bei fortschreitender Deinstitutionalisierung des Konzepts „Ehe“ zunehmend auch die verbundene Reproduktionsverp ichtung an sich hinterfragt. Das Kind avancierte sukzessive gewissermaßen zum Luxusgut. Über die elterliche Entscheidung dafür oder dagegen konnten leicht im biographischen Sinne momentane Stimmungslagen entscheiden. Hierauf deuten die trotz sehr geringer Kinderzahlen der am Ende des Untersuchungszeitraums heiratenden Paare oftmals ausgesprochen ausladenden Geburtenintervalle hin. Einerseits könnten diese eine verstärkte Zuwendung zu jedem einzelnen Kind indizieren, auf der anderen Seite bestärken sie aber die Vermutung, mehrere Kinder seien nicht von Beginn an geplant gewesen, bestenfalls als Option gesehen worden. Natürlich bedingten ebenso wahrscheinlich wirtschaftliche Erwägungen größere intergenetische Intervalle, indem limitierte materielle wie abstrakte Ressourcen zunächst auf ein bewusst geplantes Kind konzentriert wurden, um den Erfolg der „Anschaffung“ abzusichern und mitunter deren Qualität zu erhöhen. 690 Zu allen Zeiten scheinen von vornherein de nierte oder im Zuge persönlicher Reproduktion gewachsene Vorstellungen idealer bzw. gewünschter Kinderzahlen maßgeblichen Ein uss auf das generative Verhalten genommen zu haben. Neben gesellschaftlichen Wertmaßstäben und dem familiären sowie biographischen Hintergrund der Eltern spielten sicherlich ökonomische Gegebenheiten, mehr empfunden denn real, eine entscheidende Rolle bei Entwicklung eines zu erstrebenden Idealbildes, an dem sich konsequenterweise ausschließlich die relative Kinderzahl messen lassen musste. So alle dafür maßgeblichen Rahmenbedingungen im Wesentlichen unverändert blieben, standen einer Umsetzung des Reproduktionsziels in erster Linie biologische Unwägbarkeiten, zum Beispiel verminderte Fruchtbarkeit eines Elternteils oder der plötzliche Tod eines Familienmitglieds, im Weg. Als entscheidende Determinante der absoluten Kinderzahl eines Paares fungierte daher die familiäre Kinder- bzw. mehr noch die Säuglingssterberate. Je höher diese, desto mehr Nachwuchs war tendenziell nötig, ihre Auswirkungen zu kompensieren und desto höhere absolute Kinderzahlen wurden tendenziell erreicht. Im 690
Vgl. Sax, Fertilität, S. 11f.
346
FAMILIE
kollektiven Bewusstsein scheint sie zudem die Bereitschaft zur reaktiven Reproduktionskontrolle entschieden beein usst zu haben. Die analysierten Daten zeigen einen engen negativen Zusammenhang zwischen Säuglingsmortalität und der Länge durchschnittlicher familiärer intergenetischer Intervalle auf. Standen Eltern durch Erfahrungen aus Kindheit und tagtäglichem Erleben innerhalb der Dorfgesellschaft unter dem Eindruck massiver Kindersterblichkeit, woran sie zwangsläu g ihre eigenen Reproduktionsvorstellungen messen mussten, strebten sie wahrscheinlich eher nach natürlichen bis beschleunigten Geburtenfolgen. Im Zweifelsfall wäre der verbleibende fertile Ehezeitraum ausreichend lang, um zahlreiche Kompensationsversuche zu unternehmen und die Erfolgswahrscheinlichkeit zu erhöhen. Andererseits ermutigen allgemein vorgelebte hohe Erfolgsraten zur bewussten Ausdehnung der Geburtenabstände sowie in der Gegenwart gar zum Aufschub der Fortp anzung in höhere, deutlich ungünstigere Lebensalter zugunsten von Selbstverwirklichung oder in Reaktion auf sozioökonomische Zwänge. Woraus die in beiden betrachteten Dörfern beobachtbaren Veränderungen des Säuglingssterberisikos Mitte des 18. und Anfang des 20. Jahrhundert sowie der rapide kollektive Mentalitätswandel in Richtung reproduktionsunfähiger Klein- und Kleinstfamilien um 1910/1920 resultierte, ist und bleibt indes fraglich. Das breit gefächerte Spektrum denkbarer mehr oder minder etablierter Erklärungsansätze lebt von der Hervorhebung einzelner oder mehrerer hauptsächlicher, teils ausgesprochen abstrakter Faktoren, etwa medizinischer Fortschritt, Nahrungsspielraum 691, hygienisches Bewusstsein, Wohlstand, Sozialpolitik, weibliche Emanzipation unterschiedlichster Facetten, Familien- und Kinderbild etc. 692 Zweifelsohne bedingt jeden demographischen Prozess ein Konglomerat verschiedenartigster, von Fall zu Fall weniger in der Zusammensetzung denn in ihrer Gewichtung untereinander variierender Faktoren. Obwohl jedwede Konstellation zwangsläu g einen bestimmten Fußabdruck in der Bevölkerungsentwicklung hinterlässt, sind die meisten nicht in Gänze rekonstruierbar. Zudem fällt eine Abgrenzung ob ähnlicher Auswirkungen völlig differierender Ursachengemengelagen oft schwer und ist teilweise unmöglich.
691
692
Zum Exempel steht die Einführung der Kartoffel im Verdacht, für vielerorts beobachtete rückläu ge Geburtenintervalle über gesteigerte Fruchtbarkeit in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts verantwortlich zu sein. Vgl. P ster, Bevölkerungsgeschichte, S. 94. – Ob diese These auf die beiden hier betrachteten sächsischen Orte angewendet werden kann, ist mehr als fraglich. Die Ersterwähnung der Kartoffel in den lokalen Quellen datiert ins frühe 18. Jahrhundert. Freilich ist unbekannt, welchen Anteil sie wann am Speiseplan der Menschen hatte und wie viele Bevölkerungsteile sie wann anbauten bzw. konsumierten. Vgl. Marschalck, Peter, Bevölkerungsgeschichte Deutschlands im 19. und 20. Jahrhundert, Frankfurt a. Main 1984, S. 58 ff.
VOREHELICHE ZEUGUNGEN, UNEHELICHE GEBURTEN
347
7.3 VOREHELICHE ZEUGUNGEN, UNEHELICHE GEBURTEN Jedes dritte Kind (34,98%) entsprang 2014 in Deutschland einer unehelichen Verbindung, 68 Jahre zuvor waren es nach Ende des Zweiten Weltkrieges 16,97 Prozent. 693 Weniger linear mit gleichwohl apodiktischer Tendenz erscheint die Entwicklung, werden die Vorkriegszahlen aus Sachsen hinzugezogen. Hier erblickte schon 1930 jeder vierte Säugling (27,41%) im illegitimen Status das Licht der Welt. Die Zwanzigprozentmarke war im Königreich 1923 überschritten worden. Zu Beginn der 1920er glich die sächsische Illegitimitätsquote hingegen dem gesamtdeutschen Wert von 1946 (16,33 %). Weiter in der Vergangenheit erreichte der Anteil unehelicher Kinder ein ähnliches oder leicht gesenktes Niveau (1900: 14,47 %; 1860: 17,88 %; 1830: 13,75%). 694 Die Stichproben erzählen von einer langfristigen, in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts stark beschleunigten Zunahme der vorehelichen bzw. gänzlich unehelichen Geburtigkeit. Ein Anstieg der sexuellen Interaktion Lediger ist nicht unbedingt impliziert. Weniger linear als es auf den ersten Blick scheinen mag, nahm die Entwicklung in Deutschland Ende des 18. Jahrhunderts ihren Anfang. Zuvor wurden in der Regel unter fünf Prozent eines Jahrgangs außer der Ehe geboren, ein Zehntel bis ein Fünftel aber vorehelich gezeugt. Im Laufe des 19. Jahrhunderts legte beides stark zu, ehe um 1870 ein Rückgang der Unehelichkeit einsetzte. Immer wieder von kurzzeitigen, mit Krieg und Wirtschaftskrisen korrelierenden Anstiegen unterbrochen sowie in der Arbeiterschaft bzw. niedrigen Vermögensklassen weniger denn im mittelständischen und bürgerlichen Milieu, hielten starke rechtliche Benachteiligung unverheirateter Mütter inklusive deren Kinder, die politische Propagierung von jedweder „deutscher“ Mutterschaft und Familie im Dritten Reich 695 sowie eine stärkere Betonung und Wertschätzung des bürgerlichen Familienideals im Anschluss des Zweiten Weltkrieges unter dem Eindruck des Wirtschaftsaufschwungs der 1950er/1960er Jahre sowie unter dem Ein uss moderner Kontrazeptiva die uneheliche Natalität auf einem niedrigen Stand. Die Illegitimitätsquote wuchs in Deutschland seit den 1970ern und nach 1990 rapide in Begleitung zunehmender Ehemüdigkeit und Diversität allgemein akzeptierter Lebensentwürfe bzw. Formen
693
694 695
Vgl. Statistisches Bundesamt, Bevölkerung und Erwerbstätigkeit. Zusammenfassende Übersichten. Eheschließungen, Geborene und Gestorbene, Wiesbaden 2015, online: http://www.destatis.de/DE/Publikationen/Thematisch/ Bevoelkerung/Bevoelkerungsbewegung/ZusammenEheschliessungenGeboreneGestorbene5126102147004.pdf?_ _ blob=publicationFile [zuletzt aufgerufen am 20.06.2016]. Vgl. Burkhardt, Bevölkerung, S. 28ff. Zum dabei entstehenden Interessen- bzw. Ideologiekon ikt der angestrebten rechtlichen Gleichstellung unehelicher Kinder versus die rassenhygienische Betonung des familiären Lebens bzw. der ehelichen Fortp anzung siehe: Essner, Cornelia /Conte, Edouard, „Fernehe“, „Leichentrauung“ und „Totenscheidung“. Metamorphosen des Eherechts im Dritten Reich, in: Institut für Zeitgeschichte (Hg.), Vierteljahreshefte für Zeitgeschichte, Jg. 44, Heft 2, München 1996, S. 201–227, S. 202ff.
348
FAMILIE
der familienalternativen Koexistenz, bis in die Gegenwart von einem Maximum zum nächsten strebend. 696 Vor allem die industrialisierungsbegleitende Vermehrung in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts erfuhr in der Forschung Beachtung. Ein abschließendes, überregional anwendbares Erklärungsmodell fehlt allerdings bislang. Unter anderem suchten Tilly, Scott und Cohen die steigenden Raten unehelicher Kinder mit Fokus auf dem urbanen Raum durch einen Kon ikt traditionellen vorehelichen Sexualverhaltens sowie in einem sozial und ökonomisch vorindustriellen Kontext erlernter Verhaltendkodices bzw. gebildeter Erwartungen mit industrialisierungsbedingt grundlegend gewandelten Realitäten zu erklären. Außereheliches Zusammenleben Lediger nebst deren sexueller Interaktion sei insbesondere in den ärmeren Schichten schon vor der Industrialisierung, in der Regel aber nicht immer in Erwartung einer Eheschließung bzw. unter Vorbehalt eines Eheversprechens des Mannes, üblich gewesen. Aus diesen Beziehungen entspringende Kinder wurden entweder späterhin legitimiert oder die Heirat sei noch während der Schwangerschaft, einem zusätzlich beziehungsstärkenden und die Ansprüche der Frau sichernden Band, erfolgt. 697 Gleiches bemerkte Knodel mit Blick auf den ländlichen Raum westdeutscher Gebiete. Zugleich beschrieb er eine positive Verbindung zwischen dem Anstieg bzw. Abfall des durchschnittlichen Erstheiratsalters und der Häu gkeit vorehelicher Sexualität im 19. Jahrhundert sowie eine während des frühen 20. Jahrhunderts zu Tage tretende prozentuale Gegenläu gkeit vorehelicher Zeugungen und nicht legitimierter Erstgeburten. Generell sah Knodel voreheliche Sexualität eng mit Heirat verbunden, wobei er keine signi kanten sozialen Unterschiede feststellte und selbst die uneheliche Geburtigkeit nicht als ausgewiesenes Unterschichtenphänomen wahrnahm. Vor allem wiederholte Illegitimität begriff hingegen Laslett als Merkmal einer spezi schen Unterschicht. 698 Andere Stimmen identi zierten in der nach 1800 fortschreitenden Prekarisierung und den daraus resultierend stark verschlechterten Heiratschancen vieler Unterschichtenangehöriger das entscheidende Moment. Ehmer weist jedoch zu Recht auf die extreme Diversität von Nuptialität und Illegitimität infolge regional-, mikroregional- bis familien- und individualspezi sch hochgradig variabler wirtschaftlicher, soziostruktureller, kultureller und biographischer Kontexte hin. 699 Wie bei allen anderen demographischen Phänomenen auch ist es sinnvoll, behutsam mit allgemeingültigen Erklärungsversuchen zu verfahren und eher auf die Akzentuierung der komplexen Fallspezi ka zu fokussieren. Die Beispiele Rußdorfs und Bräunsdorfs ordnen sich entsprechend teilweise der gesamt