Dokumente zur Geschichte der neugermanistischen Edition 9783110926927, 9783484297012

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Dokumente zur Geschichte der neugermanistischen Edition
 9783110926927, 9783484297012

Table of contents :
Einleitung
Vorrede der Herausgeber [zur Opitz-Ausgabe] (1745)
[Unterdrückte Anzeige der Lessing-Ausgabe] (1840)
Rede auf Schiller (1859)
Über Kritik und Geschichte des Goetheschen Textes (1866)
[Vorworte zur Schiller-Ausgabe]
Vorwort [zu Bd. 11: Gedichte] (1871)
Vorwort [zu Bd. 15,1: Letzte Dichtungen und Nachlaß] (1876)
Vorwort [zu Bd. 15,2: Nachlaß (Demetrius)] (1876)
Über die Anordnung Goethescher Schriften. III (1884)
Vorrede [zu Bd. 1 der 3. Auflage von Karl Lachmanns Lessing-Ausgabe] (1886)
Vorreden zur Weimarer Goethe-Ausgabe, Bd. 1 (1887)
Vorwort
Vorbericht
Prolegomena zu einer Wieland-Ausgabe. IV. Gestaltung des Textes und Einrichtung des Apparates (1905)
Anmerkungen [zur Goethe-Jubiläums-Ausgabe. Bd. 10: Götz von Berlichingen] (1906)
Über Doppeldrucke (1913)
Grundsätze kritischer Ausgaben neuerer deutscher Dichterwerke (1921)
Textkritik und Editionstechnik neuerer Schriftwerke. Ein methodologischer Versuch (1924)
Die Gestaltung des Apparates in den kritischen Ausgaben neuerer deutscher Dichter. Mit besonderer Berücksichtigung der großen Grillparzer-Ausgabe der Stadt Wien (1924)
Die Gottfried Keller-Ausgaben. Ein Kapitel neuester Philologie (1928)
Die Entwicklung der Grimmschen Kinder- und Hausmärchen seit der Urhandschrift. Nebst einem kritischen Texte der in die Drucke übergegangenen Stücke (1932)
Neue Wieland-Handschriften (1938)
Arbeit an der Gottfried Keller-Ausgabe (1945)
Prolegomena zu einer Goethe-Ausgabe (1950/51)
Aufgaben und Probleme der modernen Goetheedition (1952)
Edition (1956/58)
Die neugermanistische Edition. Zu den Grundsätzen kritischer Gesamtausgaben (1957)
Zur gegenwärtigen Aufgabe der Editionstechnik. Ein Versuch, komplizierte Handschriften darzustellen (1958)
Der Helian-Komplex in Trakls Nachlaß mit einem Abdruck der Texte und einigen editorischen Erwägungen (1959)
Zum Problem der Wiedergabe von Lesarten (1959)
Grundlagen der Goethe-Ausgabe. Ausgearbeitet von den Mitarbeitern der Goethe-Ausgabe (1961)
Zu Fragen der Darbietung von Lesarten in den Ausgaben neuerer Dichter (1962)
Untersuchungen zur Methode der Herausgabe deutscher Texte (1963)
Editionsmethoden der neueren deutschen Philologie (1964)
Textkritik. II. Neuere Philologie (1965)
Edition und Interpretation. Antrittsvorlesung (1966)
Wissenschaft auf Abwegen? Zur Edition von Werken der neueren deutschen Literatur (1966)
Probleme der Editionstechnik. Überlegungen anläßlich der neuen kritischen Ausgabe des ,Geistlichen Jahres‘ der Annette von Droste-Hülshoff (1967)
Prolegomena zu einer historisch-kritischen Ausgabe der Werke Heinrich von Kleists. Theorie und Praxis einer modernen Klassiker-Edition (1970)
Die Funktions- und Gegenstandsbedingtheit der Edition. Untersucht an poetischen Werken Bertolt Brechts (1970)
Zu den Autoren
Bibliographische Nachweise

Citation preview

Bausteine zur Geschichte der Edition Herausgegeben von Rdiger Nutt-Kofoth und Bodo Plachta

Band 1

Dokumente zur Geschichte der neugermanistischen Edition Herausgegeben von Rdiger Nutt-Kofoth

Max Niemeyer Verlag Tbingen 2005

n

Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet ber http://dnb.ddb.de abrufbar. ISBN 3-484-29701-8

ISSN 1860-1820

3 Max Niemeyer Verlag, Tbingen 2005 Ein Unternehmen der K. G. Saur Verlag GmbH, Mnchen http://www.niemeyer.de Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschtzt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzul;ssig und strafbar. Das gilt insbesondere fr Vervielf;ltigungen, ) saß in dem gel. Th. Bei Meyer liegt in einem solchen Fall meistens nicht eine nachträgliche, sondern eine sofortige Änderung vor, bei der man aber, im Gegensatz zu I, annehmen darf, die Fortsetzung in dem gel. Th. sei schon von Anfang an beabsichtigt.

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(VI) Bei Meyer kommt noch eine Korrekturart vor, für die ich in den HölderlinFaksimilia kein Beispiel finde: saß steht anstelle von radiertem stund. Für diese und andere selten vorkommende Fälle verwende ich wahrscheinlich kein eignes Zeichen, sondern bemerke die Änderungsart in der Fußnote. Diesen sechs verschiedenen Korrekturarten liegen wenigstens fünf verschiedene Vorgänge, fünf verschiedene Textgeschichten im kleinen zugrunde. Sie dürfen also nicht durch ein einziges Schema dargestellt werden. Der Herausgeber kann sie zu deuten versuchen, muß aber die Deutung als solche kennzeichnen und den handschriftlichen Befund eindeutig mitteilen, auch dann, wenn sich z. B. die Korrektur durch graphische Unterschiede vom getilgten Wort (durch den handschriftlichen Duktus, Tintenfärbung, anderes Schreibmittel usw., was wieder anzugeben ist) als spätere Änderung erweist, nicht bloß zur Kontrolle, sondern damit sich der Leser von der Hs ein Bild machen kann. Mir wenigstens ist es ein Bedürfnis, die gedruckte Wiedergabe in die Hs zurückzuübersetzen. Eine Dichter-Handschrift ist etwas Lebendiges; davon soll die Textübertragung möglichst viel bewahren. Gibt sie nur den Wortlaut und die vermutliche Abfolge der Änderungen wieder, so ist sie tot. Sprechend wird sie erst, wenn sie die Änderungen auf die angegebene Weise charakterisiert. Dann kann man sich die Hs vorstellen oder sie auf dem Papier rekonstruieren. Sind die Verhältnisse kompliziert, so muß der Übertragung der Hs ihre Reproduktion zur Seite treten. Wir wenden uns zu den am Schluß dieses Aufsatzes wiedergegebenen Textproben. Himmelsnähe ist die zeitlich zweite von vier Hss dieses Gedichts, hier ohne Überschrift, eigenhändig datiert 16. Juli 1864. Von den neun Strophen der Hs geben wir in Abbildung und Übertragung nur die ersten beiden wieder. Die zweite Darstellungsprobe umfaßt vollständig die zeitlich fünfte von zehn handschriftlichen Fassungen des später Jungfrau betitelten Gedichts. Die Hs, deren fotographische Reproduktion sich auf die schwierigere zweite Strophe beschränkt, ist überschrieben Nächtliche Wanderung und datiert 15. Juni 1869. Die Schwierigkeiten der Darstellung in beiden Texten sind verschieden: die erste Probe bietet einen Text mit Häufungen von „Varianten“ an einzelnen Stellen, deren Reihenfolge an sich und deren Korrespondenz mit andern Korrekturen zum Teil problematisch ist. In der zweiten Probe laufen mehrere Überarbeitungen durch das ganze Gedicht durch; ihr Zusammenhang kann aus graphischen und inhaltlichen Merkmalen erschlossen werden. Der Leser wird nun gebeten, sich mit der Übersicht „Verwendete Zeichen“ am Schluß dieses Artikels bekanntzumachen. Kursive: Der Text des Dichters erscheint in aufrechter, alles andere in kursiver Antiqua, außer wo dies aus technischen Gründen nicht möglich ist wie bei den griechischen Buchstaben und den hochgestellten Ziffern. Aus ästhetischen Gründen stehen die Klammern um die Lesartensymbole aufrecht. (Versehentlich blieben im Text Nächtliche Wanderung die Klammern um die griechischen Buchstaben in v. 11 kur-

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siv, die um das Wort „abgebr(ochen)“ in v. 2 und 10 aufrecht stehen. Die Klammer um das Symbol s in Himmelsnähe v. 4 ist zu streichen. Den beschädigten Buchstaben S. 7, Zeile 1, ergänze man zu einem kursiven a; S. 6 ist nach v. 10 ein aus einem Punkt entstandenes Komma nachzutragen.) Ein kursives Fragezeichen (z. B. v. 6c und 6f in Himmelsnähe) bedeutet, daß das davorstehende Wort nicht oder nicht sicher lesbar sei. Fettdruck: Der Übersichtlichkeit halber ist die letzte auf einer Hs gültige Textstufe durch Fettdruck hervorgehoben. Er dient bloß als Lesehilfe und hat keine kritische Bedeutung. Vers 3/4 des Gedichts Himmelsnähe (mit dem wir uns zunächst ausschließlich beschäftigen) lauten also in dieser Hs zuletzt: Ein blendend Silberhorn blickt über mir / Hervor aus einem grünen Meer von Eis. (Dieser Text erfährt in den spätern Hss und Drucken bis 1882 noch weitere Wandlungen). Auf der jeweils ersten Zeile, auf der Höhe der Versziffer, steht die erste Stufe der Hs, die von 3/4 heißt also: Ein riesig Bergeshaupt schwebt über mir / Den Fuß versteckt in blauem Gletschereis. So sind die wichtigsten Stufen, die erste und die letzte, sogleich abzulesen. Dazwischen findet man die mittleren Stufen. Ort der Korrekturen in der Hs (Bedeutung der kursiven Buchstaben und Böglein): Die Lesarten, die in der Wiedergabe zitiert werden müssen, z. B. als Bezugspunkt für den Ort einer andern Korrektur, sind durch davorstehende lateinische Buchstaben (Lesartensymbol) bezeichnet. Bei den Korrekturen folgt hinter diesem Symbol die Angabe, wo diese Korrektur auf dem Blatt steht (Positionsangabe). Die davorstehenden Indices werden nachher erklärt. Vom Anfang von v. 3 (Himmelsnähe) gilt also: die Lesart i (strahlend) steht über dem Wort a (Ein); schimmernd steht links vor strahlend, und leuchtend steht in der Mitte über schimmernd und strahlend. Es ist geplant, aber nicht durchgeführt, die durch einen Einschaltstrich an ihren Ort verwiesenen Korrekturen (z. B. in Jungfrau v. 9δ) mit einem besonderen, sinnfälligen Zeichen hinter der Positionsangabe zu versehen, da ja in solchen Fällen dem Zuweisungsstrich eine viel größere Bedeutung zukommt als dem Ort der Korrektur. Gebrauch der Tilgungs-Klammern: Man beachte, daß sie futurische Bedeutung haben. (Streng genommen können Tilgungsklammern in einer Textwiedergabe überhaupt nur einen Sinn haben, wenn ihre Bedeutung so definiert wird.) Sie geben nicht einen Zustand, sondern einen Vorgang wieder. In der ersten Stufe von v. 2 (Himmelsnähe): In der Gebirge blendend weißem Kreis, wird blendend weißem beim Übergang auf die zweite Stufe gestrichen und durch weißgezacktem ersetzt. In v. 3 wird ebenso Bergeshaupt zugunsten von Felsenhorn getilgt. Dieses wiederum steht in Eckklammern, weil es auf der nächsten Stufe durch Silberhorn ersetzt wird. Der futurischen Bedeutung der Klammern gemäß ist also der eingeklammerte Text für die Stufe (Zeile), auf der wir uns gerade befinden, noch nicht als gestrichen zu betrachten, sondern erst für die nächstfolgende. Zu den davorstehenden Adjektiven riesig und strahlend:

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Ist eine Lesart aus der ersten Stufe in der zweiten noch gültig, wird sie aber beim Übergang zur dritten getilgt, so kommt die Klammer auf die zweite Stufe zu stehen. Da nun nach einem noch zu erörternden Prinzip ein in der Hs nur einmal vorkommendes Wort auch in der Wiedergabe nur einmal gedruckt werden soll, steht auf der zweiten Stufe (Zeile) die Klammer allein. In v. 3 heißt also die erste Stufe: Ein riesig Bergeshaupt, die zweite: Ein riesig Felsenhorn, die dritte: Ein strahlend Silberhorn, die vierte: Ein schimmernd Silberhorn (mit neuerdings geschriebenem Ein) usf. Es ergibt sich die einfache Regel, daß beim Lesen einer bestimmten Stufe aller darüberstehende nichteingeklammerte Text – aber nur dieser – noch gilt und mitzulesen, „herunterzunehmen“ ist. So lassen sich auch die komplizierteren Verhältnisse in v. 6 leicht überblicken: auf der 6. Zeile (h) heißt es: Ein nah getrenntes Paar von kleinen Seen, dann wird nah getrenntes gestrichen und der Vers vorn erweitert zur neuen Form Vom Felsenjoch getrennt Ein Paar von kleinen Seen (eine Hebung zuviel!). Bei ganz einfachen Verhältnissen stelle ich die Korrektur nicht unter, sondern neben das dadurch ersetzte Wort (so in v. 1 und auf der letzten Stufe von v. 6), nämlich dann, wenn die Korrektur nur aus einem Wort besteht und sich unmittelbar über oder unter, links oder rechts neben der ersetzten Lesart befindet und wenn durch diese Anordnung eine Zeile eingespart wird. Dadurch wirkt der Vers geschlossener und kommt bei der Darstellung einfacherer Hss die Strophe als Einheit auch optisch besser zur Geltung. Bezeichnung der Schichten (Bedeutung der Indices): Die beiden Gedicht-Manuskripte weisen einen je verschiedenen, in sich aber einheitlichen handschriftlichen Duktus auf. Doch lassen sich in beiden je zwei Schichten unterscheiden.7 In Himmelsnähe gibt sich die zweite Schicht nur an der etwas dunkleren Tinte zu erkennen; sie ist von der helleren ersten Schicht nicht überall sicher zu trennen, im Original aber mit größerer Sicherheit als in der fotographischen Reproduktion. Eine hochgestellte Ziffer (Index) vor dem Lesartensymbol gibt an, welcher Schicht eine Lesart angehört. In v. 2 ist also die obere Zeile mit hellerer, weißgezacktem mit dunklerer Tinte geschrieben. Wo die Lesarten in der Wiedergabe untereinander geschrieben sind, gehört natürlich aller Text, der auf der obersten Zeile auf der Höhe der Versziffer steht, der ersten Schicht (und der ersten Stufe) an (Himmelsnähe v. 2–6). In v. 1, wo die Lesarten nebeneinandergeschaltet sind, stammt dagegen das Wort schmalem aus der zweiten Schicht. Wo keine Korrekturen vorkommen (v. 7 und 8), gehört der ganze Text der ersten Schicht an. Sie muß nicht bezeichnet werden, da sie keine Lücken aufweist und als eine erste Niederschrift nicht der zweiten Schicht angehören ———— 7

Die Kriterien für die Unterscheidung mehrerer „Schichten“ sind in der Regel graphische Verschiedenheiten (Duktus, Schreibmittel usw). „Stufen“ nenne ich die Änderungen innerhalb einer Schicht. Der Zusammenhang dieser Änderungen untereinander läßt sich selten durch das ganze Gedicht oder auch nur über mehrere Verse verfolgen. Die erste Niederschrift mit den zeitlich unmittelbar anschließenden Änderungen bildet also die erste Schicht, eine spätere Überarbeitung mit ihren Korrekturen stellt, sofern sie sich irgendwie unterscheiden läßt, eine neue Schicht dar. Inhaltlich entspricht der „Schicht“ die „Fassung“. Die Begriffe bedürfen noch der Klärung.

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kann. Wo es nicht sicher ist, ob eine Korrektur noch aus der ersten oder schon aus der zweiten Schicht stamme, bleibt der Index vor dem Lesartensymbol weg (v. 4d). Die Schicht kann, wenn nötig, auch in der Sigle der Hs ausgedrückt werden. Die Sigle der vorliegenden Hs von Himmelsnähe, wenn die Hs als ganzes gemeint ist, heißt M2 (d. h. es handelt sich um die zeitlich zweite Hs dieses Gedichts, und sie ist von Meyers Hand). Soll nur die erste oder zweite Schicht dieser Hs bezeichnet werden, so heißt der Exponent nicht 2, sondern 2.1 oder 2.2 (z. B. im Text der Fußnote S. 375 [= S. 212] oben). Die Ziffer nach dem Punkt im Exponenten entspricht dem Index vor dem Lesartensymbol. Die Verwendung der griechischen Buchstaben läßt sich am besten an Himmelsnähe v. 5/6 zeigen. Die Änderungen in v. 1–4 dieser Probe könnte man (fälschlich) so verstehen, als handle es sich um „Varianten“ im alten Wortsinn, um den Ersatz eines Wortes durch ein anderes ohne Rücksicht auf den Zusammenhang, als ob z. B. jede Stufe der zweiten Schicht in v. 3 mit jeder in v. 4 zu kombinieren wäre. Wie die verschiedenen Lesarten miteinander zu verbinden sind, ist in v. 3/4 (zum Teil) nicht auszumachen, wohl aber in v. 5/6: innerhalb der zweiten Schicht findet hier eine Überarbeitung statt, die den Umfang eines Verses nachweisbar überschreitet, indem sie den Inhalt der beiden Verse vertauscht. Es sind also nur die α-Stufen in v. 5 und 6 und die β-Stufen in v. 5 und 6 miteinander zu verbinden, nicht etwa eine α- mit einer β-Stufe. Diese griechischen Buchstaben sind nur eine orientierende Lesehilfe; gleichzeitig geben sie die Chronologie der Korrekturen im groben an: zuerst wurden die α-Stufen beider Verse geschrieben, dann die β-Stufen, also 6α vor 5β. Inhaltlich geht das aus dem Textzusammenhang hervor, graphisch daraus, daß die α-Stufen im Strophenblock stehen, die β-Stufen links am Rand (in der Fotografie nicht mehr sichtbar). Im Gedicht Nächtliche Wanderung unterscheiden sich die Schichten inhaltlich durch das Metrum und graphisch z. T. durch den Ort. Die erste Hauptschicht ist iambisch, die zweite trochäisch. In der ersten und großenteils in der zweiten Strophe gewinnt Meyer den trochäischen Vers aus dem iambischen meistens dadurch, daß er links vor die iambische Zeile ein Wort hinzufügt. Während in der ersten Strophe nur die beiden Hauptschichten zu unterscheiden sind, beginnt in der zweiten Strophe innerhalb der iambischen Schicht eine Überarbeitung (siehe dort Fußnote S. 376 [= S. 213]), die mehrere Verse umfaßt. Die Verse da glänzt auf Fels u. Trümmer / Herab die Firne mild! fungieren zuerst als Überarbeitung β der ursprünglichen Verse 11–12, dann werden sie, nach der Streichung der vorhergehenden Verse, zum Strophenanfang und bilden jetzt die Stufe γ. Die erste trochäische Fassung (δ) der zweiten Strophe erfährt dann nochmals eine durchgehende Überarbeitung (ε). Liest man je die hinter dem gleichen griechischen Buchstaben stehenden Zeilen, so hat man die zwei vollständigen Fassungen der ersten Strophe und die drei vollständigen (γ, δ, ε) der zweiten; mit andern Worten: liest man zuerst alle α-, dann alle βZeilen usw., so liest man den Text in der Folge, wie er vom Dichter im Laufe der Entstehung niedergeschrieben wurde.

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Die Trennung der Stufen erfolgte großenteils nach dem inhaltlichen Gesichtspunkt des Textzusammenhangs. Insofern die Stufen γ, δ, ε hier durch die ganze Strophe durchgehen, dürfte man sie wohl auch Schichten nennen, auch wenn sie sich graphisch z. T. nicht nachweisen lassen. (Indessen sollte in der allgemeinen Erklärung der griechischen Symbole auf S. 377 [= S. 214] richtiger von Stufen als von Schichten gesprochen werden.) Die zeitliche Abfolge und die Korrespondenz der Korrekturen untereinander (die Bedeutung der Klammern bei den Symbolen, die Bedeutung der Zeilen und der Weichen): Bereits bei der Erörterung über den Gebrauch der Indices und der griechischen Buchstaben mußten diese Dinge gestreift werden, die nun im Zusammenhang darzustellen sind. Sie bieten die größten Schwierigkeiten sowohl bei der Entzifferung der Hss als bei der Darstellung in der Edition und sind oft nicht eindeutig und nicht mit Sicherheit zu lösen. Die Ursache liegt nicht im System, sondern in den Hss selbst. Von einem sog. Lesartenapparat, der die Abweichungen mehrerer Quellen gegenüber dem kritischen Text wiedergibt, verlangen wir, daß er die Quellen in streng chronologischer Reihenfolge aufführe. In der Darstellung einer einzigen, mehrfach korrigierten Hs erwarten wir, daß die Ansätze in der Reihenfolge der Niederschrift mitgeteilt werden. Diese Reihenfolge ist aber vielfach nicht sicher zu ermitteln. Zwar läßt sich meistens feststellen, welches die erste und die letzte Lesart sei, aber oft nicht, wie die dazwischenliegenden Ansätze einander folgen. In Himmelsnähe v. 3 heißt das Prädikat, wenn wir die Fassung am Rand (FaR) ignorieren, sicher zuerst schwebt (es steht auf der Zeile) und zuletzt sicher lauscht (weil nicht gestrichen), es läßt sich aber nur vermuten, nicht erweisen, daß schwebt in lauscht, nicht in ist korrigiert wurde. In einer stark korrigierten Hs steht nun aber eine Änderung praktisch nie allein, sondern in Zusammenhang mit Korrekturen der weitern Umgebung, im gleichen Vers oder in einem andern. Im ursprünglichen v. 9 der Nächtlichen Wanderung hängt z. B. der Ersatz von Da durch Hoch zweifellos zusammen mit der Änderung von Hoch in Da in v. 10. Selbst so isoliert scheinende Änderungen wie die des Attributs zu Seen in Himmelsnähe v. 6b–h, die mit keiner der übrigen Korrekturen dieser Strophe in Zusammenhang stehen, wollen nicht für sich betrachtet werden, sondern zusammen mit den keineswegs belanglosen Änderungen des Attributs zu Gletschereis in v. 4. (Da wäre es wichtig zu wissen, ob 4d grünem der ersten oder der zweiten Schicht angehöre.) Eine vollständige Interpretation der Textwandlungen in einer Gedicht-Hs setzte voraus die Kenntnis der relativen Chronologie nicht nur aller Änderungen zusammen, sondern der Niederschrift jedes Buchstabens auf diesem Blatt. Das ist fast nie möglich. Aber der anspruchsvolle Benutzer darf vom Herausgeber erwarten, daß er diesem Ziel möglichst nahe zu kommen sucht. Schwierigkeiten ganz verschiedenen Ursprungs lassen die Aufgabe fast unlösbar scheinen. Einmal ist, wie gesagt, die Chronologie der Änderungen an einer Stelle oft nur z. T. mit Sicherheit festzustellen, ebenso der Zusammenhang mit den Korrekturen

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an andern Stellen. Zu diesen Schwierigkeiten der Ermittlung kommt die der Mitteilung an den Leser. Außerdem beruhen die Feststellungen des Herausgebers z. T. auf objektiven graphischen, z. T. auf stilistischen Indizien, oder sie sind sonst aus dem Zusammenhang des Textes erschlossen. Diese Unterscheidung ist wichtig und muß auch in der Darstellung durchgeführt werden. Die hier zu erklärenden Darstellungsmaßnahmen dienen u. a. der Bezeichnung dieses Unterschieds. Dem Leser des Apparats sind nur die inhaltlichen Kriterien in vollem Umfang zugänglich. Den auf ihnen beruhenden Entscheidungen haftet aber eine gewisse Subjektivität an. Völlig zwingend sind hingegen die graphischen Indizien, die sich aber dem Leser selbst durch die ausführlichste Beschreibung nicht hinreichend vermitteln lassen. Auch wenn der Herausgeber seiner Entscheide völlig sicher ist, muß er es darum ehrlich mitteilen, wenn sie bloß durch den Zusammenhang des Textes gesichert sind. Der kritische Leser wird sie in diesem Falle nachprüfen. Wie soll sich der Herausgeber verhalten, wenn er selbst einen Entscheid für nicht sicher, aber doch für wahrscheinlich hält? Das eine Extrem: diese Unsicherheit, etwa aus Eitelkeit, zu verbergen, schiene mir ebenso unangebracht wie das andere Extrem: die für wahrscheinlich gehaltene Lesung zu verschweigen und die Entscheidung ganz dem Leser zu überlassen. Ich halte den Herausgeber für verpflichtet, dem Leser seine Auffassung mitzuteilen. In der Regel kann nur er seine Entscheidungen auf Grund des Originals treffen. Zudem erlauben ihm seine Spezialkenntnisse, die er während Jahren erworben haben muß, ein sichereres Urteil darüber, was in einem konkreten Fall möglich oder nicht möglich oder wahrscheinlich sei. Er darf sich aber auch nicht wie ein allein zu Entscheidungen Befähigter in einer Weise zwischen den Dichtertext und den Leser stellen, daß dieser der Interpretation des „Vermittlers“ preisgegeben ist. Auch ein Herausgeber ist nicht unfehlbar und muß damit rechnen, daß ihm z. B. einmal die richtige Kombination von Lesarten verborgen bleibe. Er muß den Text so mitteilen, daß sowohl seine Auffassung als der handschriftliche Befund deutlich werden, sodaß der kritische Benutzer die Möglichkeiten selbst erwägen, die Entscheide des Herausgebers kontrollieren und sich ein eignes Urteil bilden kann. Die zeitliche Abfolge der Korrekturen innerhalb eines Verses gebe ich durch die alphabetische Folge der Lesartensymbole an. Wo sich die Chronologie nicht auf graphische Indizien stützt, sind die Lesartensymbole eingeklammert; ebenso, wenn die Symbole keine chronologische Bedeutung haben (praktisch bildet sich der Herausgeber natürlich immer eine Meinung über die wahrscheinliche Reihenfolge; in dieser erscheinen dann die eingeklammerten Symbole). Dasselbe gilt für die griechischen Buchstabensymbole. In Himmelsnähe v. 3 ist also h Silberhorn vor i strahlend niedergeschrieben worden, sodaß es einen Augenblick lang hieß: Ein riesig Silberhorn, was freilich vom Dichter nie gemeint war. Die Änderung von Felsenhorn in Silberhorn inkludierte auch die von riesig in strahlend, nur konnten nicht beide gleichzeitig erfolgen. Daher nehme ich das Recht, strahlend auf die gleiche Zeile zu setzen wie das vorher geschriebene Silberhorn, indem ich aufeinander bezogene Korrekturen eines Verses auf die gleiche Zeilenhöhe setze. Diese Maßnahme ist Interpretation des Her-

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ausgebers, aber sie stützt sich auf die Reihenfolge der Korrekturen, über deren Grundlage das Vorhandensein oder Fehlen jener Klammern Auskunft gibt. Wie das letzte Beispiel zeigt, ist eine Entscheidung manchmal auch dann problematisch, wenn die Reihenfolge der Korrekturen objektiv (graphisch) feststeht. Aber selbst in so einfachen Fällen wie Himmelsnähe v. 5β kennen wir auch die Chronologie der Änderungen nicht. Dann ergeben sich mehrere Möglichkeiten. Konstruieren wir ein Beispiel: In einer Hs heiße eine Stelle „im tiefen Tal“, über gestrichenem „tiefen“ stehe „düstern“, über separat gestrichenem „Tal“ stehe „Wald“. Stellt man das so dar: im (1) tiefen (2) düstern (a) Tal (b) Wald, so heißt das oder scheint doch zu heißen, der Text sei in dieser Reihenfolge geschrieben worden: im [tiefen] düstern [Tal] Wald. Die Darstellung im (1) tiefen Tal (2) düstern Wald wiederum entspricht nur dann dem tatsächlichen Vorgang der Textentstehung, wenn der Dichter den Vers von vorn nach hinten „korrigiert“ hat und „tiefen“ sich nie auf „Wald“ bezogen hat – eine meist willkürliche Voraussetzung. Wenn man annimmt, die erste Fassung habe geheißen „im tiefen Tal“ und Abfolge und Bezug der Korrekturen zueinander seien infolge graphischer Kriterien bekannt, so ist der Text auf eine der drei folgenden Arten wiederzugeben, wobei die zweite Stufe jedesmal anders lautet (die Zeichen haben die besprochene Bedeutung): (I) im

a [tiefen] b [Tal] c düstern d Wald

(II) im a [tiefen] b Tal c düstern [ ] d Wald (III) im a tiefen b [Tal] [ ] c Wald d düstern. Habe ich dagegen über Abfolge und Bezug der Korrekturen bloß Vermutungen, so kommen die Lesartensymbole in Klammern. In der Regel bleiben dann mehrere Kombinationen von Lesarten möglich, die ich in der Wiedergabe andeuten möchte. Dann verwende ich die in der Übersicht S. 377 [= S. 214] angegebenen Weichen, deren Bedeutung leicht zu merken ist: der oder die nach oben weisenden Kreuzbalken weisen den Blick in die Richtung der auch noch möglichen Kombination der Lesarten.8 ————

8

Aus satztechnischen Gründen stehen sie in den vier folgenden Beispielen nicht zur Verfügung. Anstelle des Kreuzes steht hier ein x, anstelle des schräg nach rechts oben weisenden Kreuzbalkens der Schrägstrich /, statt des schräg nach links oben weisenden Balkens ein y.

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(IV) im (a) [tiefen] (c) düstern

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(b) [Tal] /(d) Wald

(d. h., möglich sind die oben unter I und II aufgeführten Kombinationen). (V) im (a) [tiefen] (c) düstern

(b) [Tal] y(d) Wald

(möglich sind die Kombinationen I und III). (VI) im (a) [tiefen] (c) düstern

(b) [Tal] x(d) Wald

(möglich sind die Kombinationen I, II und III).9 In Himmelsnähe v. 5β ist auf diese Weise ausgedrückt, daß aus der Hs nicht zu entnehmen ist, ob und wie die Änderung c/e/g mit der Änderung d/f zusammenhänge. Vielleicht ist zu lesen: I 1) Vom … begrenzt, 2) Von … begrenzt, 3) Von … umgrenzt; vielleicht auch: II 1) Vom … begrenzt, 2) Vom … umgrenzt, 3) Von … umgrenzt. Vielleicht oder wahrscheinlich ist Vom sofort in Von korrigiert worden; dann entfallen I 1, II 1 und II 2. Vgl. noch die Stelle v. 4p; über v. 3gkn gibt die Fußnote S. 374 [= S. 211] f. Auskunft. Die Korrespondenz mehrerer Korrekturen in verschiedenen Versen wird in der angezeigten Weise durch griechische Buchstaben ausgedrückt. Die fernere Korrespondenz von Änderungen in verschiedenen Versen, die nicht durch die griechischen Buchstaben angegeben wird, ist in der Regel graphisch nicht nachzuweisen und wird darum nicht ausgedrückt. Sie ist dann bloß aus dem Inhalt zu erschließen. Das ist reine Interpretation und darf dem Leser überlassen bleiben. Graphische Anhaltspunkte dafür werden in der Fußnote mitgeteilt (z. B. über Himmelsnähe 4k/3g). Gewisse Zusammenhänge ergeben oder schließen sich aus durch die mit den Indices ausgedrückte Schichtzugehörigkeit der Lesarten. Abgekürzte Darstellung: Wenn eine Lesart nicht zitiert werden muß, erhält sie kein Lesartensymbol. So z. B. in Himmelsnähe v. 6 leuchten. Die Schicht braucht hier nicht angegeben zu werden, da ja schon das zeitlich vorhergehende schimmern der zweiten Schicht angehört. Umgekehrt erhält in v. 1 schmalem ein Lesartensymbol nur als Indexträger zur Bezeichnung der zweiten Schicht. In v. 5 wiederum erhält (f) um nur darum das Symbol, um durch die Klammern die chronologische Unsicherheit an dieser Stelle anzuzeigen. Ein weggelassenes Symbol ist gleichbedeutend mit einem nichteingeklammerten. Die chronologische Folge ergibt sich dann aus der Anordnung von selbst: man lese den Text wie Prosa Zeile um Zeile von links nach rechts. ———— 9

Ohne die Voraussetzung, daß die Lesarten a und b die erste Stufe bilden, sind diese Möglichkeiten u. U. mit den S. 360–362 [= S. 198–200] erwähnten zu multiplizieren. Sind es gar mehrfache statt nur einfache Korrekturen an den beiden Stellen des Verses, so dürfte mit Hunderten verschiedener Kombinationsmöglichkeiten zu rechnen sein.

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Keine interpretierende Wiederholung des Textes: Grundsätzlich wird in der Wiedergabe kein Wort wiederholt, das nicht auch in der Hs wiederholt ist. Der Leser könnte sonst den Text nicht wiedergewinnen. (Ein im Rahmen einer akademischen Uebung unternommener Versuch bewies, daß eine solche Rekonstruktion auf Grund bloß der Wiedergabe möglich ist und mit der vorher nicht bekanntgegebenen Hs fast überraschend genau übereinstimmte.) Der Grundsatz erleidet nur eine Ausnahme, wo ein gestrichenes Wort wieder in Kraft gesetzt ist. Dann gibt aber das Zeichen dafür selbst an, daß es sich zweimal um das gleiche Wort handelt (z. B. Himmelsnähe v. 4e und 6g). In gewissem Sinne verstößt auch das spitze Zeichen mit der Bedeutung „entstanden aus“ gegen das Prinzip. Es erscheint dann, wenn ein Wort aus einem andern auf die in der Zeichenerklärung S. 377 [= S. 214] angegebene Weise entstanden ist, indem z. B. ein Buchstabe angehängt wird (Nächtliche Wanderung v. 5, v. 10), oder indem ein Teil eines Worts oder eines Buchstabens gestrichen wird (Himmelsnähe v. 5c/e), oder indem ein Teil gestrichen und ein anderer zugefügt wird (ebda. v. 5a/b, v. 4n/p), oder indem ein Wort oder Wortteil überschrieben wird (Nächtliche Wanderung, v. 11a und 12ε). Hier wird allerdings nicht genau angegeben, wie ein Wort aus einem andern hergestellt wurde, ob z. B. im letzten Fall Gewalt/Gestalt das w gestrichen ist und darüber ein st steht, oder ob, wie es hier der Fall ist, dem w ein st überschrieben ist. Aber eine Differenzierung in diesen unwichtigen Dingen hätte eine untragbare Vermehrung der kritischen Zeichen gebracht. Es muß einmal eine Grenze gemacht werden zwischen dem, was noch mitgeteilt, und dem, was ignoriert werden soll. Ich rechne indessen eher mit dem Vorwurf, es seien der Zeichen bereits zu viele und die Darstellung sei zu kompliziert und zu unübersichtlich. Tatsächlich ist dieser Apparat nicht einfach. Eine gewisse Schwierigkeit sehe ich aber nur in der Darstellung der Reihenfolge und der Korrespondenz der Änderungen, zumal wegen der damit verbundenen Unsicherheit und Mehrdeutigkeit. Da diese Zusammenhänge aber zum Wichtigsten gehören, was der Apparat geben soll, nämlich die Entwicklung des Textes, glaube ich auf ihre Darstellung nicht verzichten zu dürfen. Nur so kann dem Benützer die Möglichkeit geboten werden, sich über den Text eigne Gedanken zu machen. Zudem ist eben die Kompliziertheit der Darstellung durch die Kompliziertheit des Gegenstandes bedingt. Der muß, wo er vieldeutig ist, in eben dieser Vieldeutigkeit, und wo er eindeutig ist, in seiner Eindeutigkeit wiedergegeben werden. Man könnte einwenden, in so verwickelten Fällen sei die Hs nicht darzustellen, sondern fotographisch wiederzugeben. Man fordert mit Recht, daß die Darstellung bei solchen Verhältnissen durch eine Reproduktion ergänzt werde; sie aber dadurch zu ersetzen, hieße, daß sich der Herausgeber, der doch aus langjährigem Umgang mit den Schreibgewohnheiten des Dichters vertraut sein muß, der Aufgabe entzöge, sie darzustellen, d. h. vorsichtig interpretierend wiederzugeben. Um die Verhältnisse einer solchen Hs auch nur abzuklären, nicht um sie schriftlich darzustellen, benötigt er viele Stunden oder Tage anhaltender Konzentration. Diese Arbeit hätte dann der Benutzer zu leisten. In der gedruckten Wiedergabe findet er sich dagegen mit wenig Übung rasch zurecht und kann, wenn er will, fast beliebig tiefer dringen. Wer sich –

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vielleicht nur für den Augenblick – mit dem Text nicht eingehender auseinandersetzen mag, gewöhnt sich schnell daran, die kursiven Symbole und die übrigen Zeichen des Herausgebers zu übersehen. Den einzigartigen Nachlaß C. F. Meyers, der in weit mehr als hundert Fällen das Werden von Kunstwerken im Laufe oft mancher Jahrzehnte anhand von fünf, zehn und noch mehr eigenhändigen, meist vielfach korrigierten Hss zu verfolgen erlaubt, dieses Unicum eines Dichternachlasses dem unkritischen Leser zulieb unzulänglich zu edieren, schiene mir ein Unrecht gegenüber dem anspruchsvolleren Leser. Jener erhebe sich zu dem Standpunkt Lessings: Was mir nicht dienet, dienet einem andern. Es bleibt mir noch übrig zu danken. Es ist einleuchtend, daß ein System wie das vorgelegte in mehrfacher Hinsicht nicht die Leistung eines einzelnen sein kann. Es kamen ihm die Erfahrungen der Editoren seit Seuffert zugut. Nach Beissners neuartiger Darbietung der Lesarten stellte sich die Aufgabe, die ihr anhaftenden Unzulänglichkeiten zu überwinden, ohne ihre Vorzüge preiszugeben, indem man Backmanns Grundsätze in ihrer ganzen Strenge ernst nahm. Die hier vorgelegte Darstellung ist in den meisten Teilen in Zusammenarbeit mit Herrn Dr. H. W. Seiffert und Herrn Dr. Beda Allemann entstanden. Sie ist im besonderen die Weiterentwicklung eines Entwurfs, den mir Herr Seiffert, der an der Wieland-Ausgabe in derselben Situation an eben diesen Problemen arbeitet, nach mehreren Versuchen meinerseits im August 1957 vorlegte und der bereits grundlegende Züge der gegenwärtigen Darstellung aufwies, indem die einander ersetzenden Lesarten untereinanderstanden und durch Buchstabensymbole zur Angabe ihres Orts, wenn auch in anderer Weise, zitiert wurden. Auch die Verwendung der griechischen Buchstaben in der jetzigen Bedeutung und den Gedanken, sich des Fettdrucks zu bedienen, verdanke ich Herrn Seiffert. Großenteils in Beratungen mit Herrn Allemann, dessen Scharfblick und vorurteilslos-unkonventionellem Denken die Meyer-Ausgabe zu Dank verpflichtet ist, ergab sich mit die heutige Ausbildung des Systems, also die Definition der Tilgungsklammern, die Stellung der ersten Stufe auf einer Zeile mit der Versziffer, die Bezeichnung der Schichten, die Angaben über die Chronologie und Korrespondenz der Lesarten untereinander und die Kennzeichnung der Interpretationsanteile gegenüber den graphischen Gegebenheiten.10 Ein solches Unternehmen konnte nur gewagt und ausgeführt werden, weil die Edition von einem Verlag betreut wird, der sie nicht als ein Spekulationsobjekt, sondern als eine wissenschaftliche Aufgabe betrachtet, die nur mit der größten Sorgfalt, mit Ausdauer und Mut zu bewältigen ist. Dafür danke ich dem Verlag Benteli AG in Bern-Bümpliz und zumal seinem Hersteller Herrn M. Caflisch. Der Verlag hat auch Satz und Clichés für den Probetext unentgeltlich zur Verfügung gestellt. Die vorliegende Publikation möchte in erster Linie ein Beitrag zur Diskussion über das Editionsproblem sein. Obwohl ich gegenwärtig mein System nicht zu verbessern wüßte, halte ich es nicht für unmöglich, es noch zu vervollkommnen und zu vereinfachen, und werde Anregungen dazu mit Dank entgegennehmen. Zuschriften sind an den Verf. (C. F. Meyer-Ausgabe, Zentralbibliothek Zürich) zu richten.

Mai 1958.

————

10

H. W. Seiffert beabsichtigt zu diesen Fragen an anderm Ort in einem größern Zusammenhang selbst Stellung zu nehmen.

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Walther Killy

Walther Killy

Der Helian-Komplex in Trakls Nachlaß mit einem Abdruck der Texte und einigen editorischen Erwägungen (1959) Der Helian-Komplex in Trakls Nachlaß

[…] So, wie innerhalb eines großen Trakl-Gedichtes die einzelnen sich wandelnden Bilder in der vielfältigsten und nicht eigentlich fixierbaren Beziehung zu einander stehen, so stehen auch im größeren Komplex die einzelnen Gedichte in Beziehung. Abendlied ist Untergang so nahe wie den Entwurfstufen – wohin gehört es? Mit dieser Frage ist nicht nur – wieder einmal – die Frage nach der Natur der Traklschen Poesie aufgeworfen; für den mit der Textherstellung befaßten Philologen ergeben sich zugleich eine Anzahl schwerwiegender Probleme. Er muß einen Weg suchen, der den Entstehungsvorgang ebenso deutlich macht wie die Verknüpftheit der Schichten und – unter Umständen – Gedichte. Dabei sollen die Lesarten im Zusammenhang lesbar sein, ohne daß Feststellungen getroffen werden, welche der Wirklichkeit der schwierigen Handschriften nicht entsprechen. Das bedeutet bei Trakl vor allem, daß nicht als scheinbar selbständiges Gedicht fixiert werden darf, was nur Durchgang war. Dennoch müssen auch in der Lesartendarstellung der überaus poetische Charakter der Entwicklungsstufen – deren jede potentielles Gedicht ist – und ihr vollständiger Wortlaut erhalten bleiben. In vieler Hinsicht entsprechen diese Forderungen den Tendenzen, welche in den letzten Jahrzehnten bei der Herstellung kritischer Texte und der Darbietung ihrer Lesarten hervorgetreten sind.1 Das bekannteste Beispiel gewährt Beißners in der Großen Stuttgarter Ausgabe geübte Darstellungsweise. Sie möchte dem Leser erlauben, „sich ernsthaft darin zu vertiefen, nach wie vielen erwogenen und durchprobten Möglichkeiten sich schließlich die scheinbar selbstverständliche und allein mögliche Form ausgeprägt“, ja sie zielt auf eine „lebendig mitgehende und mitdichtende Betrachtung“. Sie zu ermöglichen, gilt es vor allem, „die Entwicklungsstufen zeitlich auseinanderzuhalten“.2 Diesem Zwecke diente ein übersichtliches Darstellungssystem, welches ganz darauf abzielte, das Nacheinander der Entfaltung, der Satzbildung und Wortwahl abzubilden. Übersichtlichkeit wurde vor allem durch die Technik der Kolumnierung erzielt, welche die zusammengehörigen, auf einen endgültigen Wortlaut hinarbeitenden einzelnen Entwurfstellen untereinander ordnete. Diese „sich treppenweise gestaltende Anordnung“ in ihrer von oben nach unten vorschreitenden Gruppierung ließ auf der letzten (untersten) Stufe den nach dem Urteil des Herausgebers vom Dichter intendierten ———— 1

2

Kürzlich zusammenfassend dargestellt von H. Zeller, Zur gegenwärtigen Aufgabe der Editionstechnik. In: Euphorion 52, 1958, S. 356 ff. Friedrich Hölderlin, Sämtliche Werke, aaO., Bd. I2, S. 319.

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letzten Wortlaut ablesen. Um der Übersichtlichkeit willen nahm diese Technik allerdings eine Reihe von Nachteilen in Kauf. Am schwersten wiegt der, daß zwar die vermutete Reihenfolge von erstrebten Formulierungen klargestellt wird, nicht aber, wieweit deren Darstellung dem handschriftlichen Befund diplomatisch genau entspricht. Um den Werdegang einer Stelle zu zeigen, löst Beißner sie zum Beispiel derart auf: Und (1) zahllos (a) blinken, von goldnen (b) blink〈t, von gold’nen …〉 (c) blinken goldne[n] Früchte dir (2) blinken goldne[n] Früchte wieder dir 3 Diese Übersicht zeigt nicht, wie oft eine Wendung wirklich in der Handschrift steht. Hat Hölderlin goldnen einmal oder dreimal hingeschrieben? Wie ist der Wortlaut des Manuskripts? Wann wurden die Änderungen vorgenommen? Hat die Handschrift die Wiederholungen auch, welche der Apparat darbietet, oder sind sie erläuternde Zutat? Es ist deutlich, daß einer derartigen ohnehin wichtigen Frage dann doppeltes Gewicht zukommt, wenn die Wiederholung zum Charakteristikum eines poetischen Stils wird und als solche kenntlich sein muß. In solchem Falle ist eine durch den Herausgeber um der Klarheit willen veranstaltete Repetition eines Wortlauts erst recht untunlich. Es darf nur ein Ziel geben: die handschriftlichen Verhältnisse ohne jeden Eingriff und ohne Dublierung dem Leser begreiflich zu machen. Eine solche Forderung ist allerdings leichter gestellt als erfüllt, wie sich zeigt, wenn man die Vorschläge H. Zellers und seinen „Versuch, komplizierte Handschriften darzustellen“4 hinsichtlich ihrer allgemeinen Verwendbarkeit analysiert. Zeller geht von der „von Beißner meistens vernachlässigten Forderung“ aus, „daß der Leser die Handschrift müsse rekonstruieren können“. Er sucht zu diesem Zweck einen Weg, der Übersichtlichkeit, Vollständigkeit („was die Rekonstruierbarkeit der Handschriften einschließt“) und „chronologische Differenzierung“ bei der Darstellung ermöglicht. Er schafft dazu ein System von Lesartensymbolen mit Indices, mit dessen Hilfe Positionsangaben für die jeweils behandelten Stellen innerhalb der Handschrift möglich werden sollen. Der Benutzer soll sich damit vergegenwärtigen können, ob ein Wort über, links von, rechts von, unter einem anderen steht; auch für die übrigen während einer Niederschrift möglichen Vorgänge (z. B. Tilgung, Zusatz, Unterpunktierung) sowie die – sehr wichtige! – Schichtung der Arbeitsgänge gibt es Zeichen. Auch Zeller kolumniert die zusammengehörigen Vorgänge und hebt den „letzten“ Wortlaut durch halbfetten Druck hervor, so daß der Leser ihn sogleich zu übersehen imstande ist. Faßt man diese Vorschläge derart zusammen, so erscheinen sie lobenswert und praktikabel. Allein sie sind in der publizierten Form jedenfalls für Trakl-Handschriften nicht anwendbar. Selbst wenn das ganze Zeichensystem anschaulicher wäre und das Vorstellungsvermögen des Benutzers weniger in Anspruch nähme, bliebe doch ein fundamentaler Einwand bestehen: Die Forderung nach Rekonstruierbarkeit der Hand————

3 4

Ebendort, S. 551. H. Zeller, aaO., S. 356.

Der Helian-Komplex in Trakls Nachlaß

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schrift gehört in das Gebiet eines wissenschaftlichen Perfektionismus, der utopisch bleiben muß. Auch das differenzierteste Zeichensystem (und je differenzierter, umso unanschaulicher wird es sein) sieht sich genötigt, die Individualität der Handschrift auf typische Fälle zu normieren und damit aufzuheben. Den Angaben, die es zu machen vermag, entgehen notwendig die kaum reproduzierbaren Kriterien, auf deren Grundlage der Herausgeber seine Entscheidung trifft. Wer auf der Basis der Symbole Zellers ohne Kenntnis des Originals die Handschrift „rekonstruiert“, erhält eine schematisierte Topographie der lebendigen Niederschrift. Sie bildet deren Grobstruktur ab und die Lese- und Entscheidungsweise des Herausgebers, aber gewiß nicht das Manuskript. Je schwieriger die Handschrift ist, um so weiter muß sich das symbolische Schema von ihr entfernen. Das heißt, gerade in den Fällen, wo die Rekonstruktion am nötigsten wäre, entbehren wir ihre Möglichkeit am meisten. Die ganze komplizierte Apparatur vermag das am wenigsten zu leisten, was ihr eigentlicher Zweck sein sollte: sie gibt keine Grundlage ab, von der aus die Tätigkeit des Editors kontrolliert werden kann. Man kommt nicht darum herum, zwei Bedingungen des Editionshandwerks im voraus anzuerkennen. Die erste, daß eine komplizierte Dichterhandschrift und der von ihr verewigte lebendige Produktionsvorgang nur selten mit vollkommener Gewißheit durchschaubar sein werden; jedenfalls trifft das für die mir wohlbekannten Manuskripte Hölderlins und Trakls zu. Daraus ergibt sich als zweite Bedingung, daß kein noch so ausgeklügeltes Reproduktionssystem die vom Herausgeber verantwortete textliche Entscheidung neutralisieren und mittels einer perfekten Abbildung dem jeweiligen Leser zuspielen kann. Ganz objektiv bleibt nur der Gegenstand der editorischen Mühen, die Handschrift selber. Auf sie muß jeder zurückgreifen, der die äußerste Sicherheit haben will. Weil das aber viel Mühe, Arbeit und Einübung fordert, wird man sich gewöhnlich den Ergebnissen einer Editionstechnik anvertrauen müssen, welche sich ihrer eigenen Grenzen bewußt ist. Sie muß einen verantwortbaren Mittelweg finden zwischen der Unmöglichkeit, die eigentlichen handschriftlichen Verhältnisse vollkommen darzustellen und der Notwendigkeit, sie eben doch darzustellen, wie sie sich dem Herausgeber nach der gewissenhaftesten Prüfung zeigten. Niemals wird man ganz sicher wissen können, wie die Reihenfolge der Entwurfsketten an den Stellen war, wo Trakl zwangshaft ein Epitheton suchte und verwarf. Häufig wird man die Frage offenlassen müssen, ob Verse, deren Bilder und Wortlaut wiederkehren, zuvor verworfen worden sind oder eben um der Wiederholung willen wiederkehren. Man wird sich bei der Darstellung möglichster Einheitlichkeit befleißigen, aber nur so weit, als es die Bedingungen der besonderen Handschrift erlauben. Man wird vor allem keine Konsequenz fordern, die der Realität nicht entspricht. Beißners konsequente Folge von Ziffern, welche Entwicklungsstufen bezeichnen, „innerhalb deren weitere, kleinere Abstufungen und Gabelungen durch eingeklammerte lateinische und fernerhin griechische Buchstaben gekennzeichnet sind“,5 könnte eine nicht gesicherte Folgerichtigkeit aufnötigen. Zellers Tendenz zu vollkommener Abbildung drängt – trotz allen von ihm ————

5

Friedrich Hölderlin, Sämtliche Werke, aaO., S. 318 f.

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selbst gemachten Einschränkungen – zu einem System, welches die werdende Handschrift, etwas Imperfektes, perfekt zu begreifen nötigt. Wir haben für die Trakl-Edition versucht, aus beiden Methoden zu lernen, und an der Kolumnierung zusammengehöriger Textentwicklung festgehalten. Der am Fuß der Kolumne stehende, halbfett gedruckte Text bezeichnet also die vom Herausgeber erkannte letzte Lesart. Die darüber stehenden Lesarten geben frühere Formulierungen, in der vermutlichen Reihenfolge der Entstehung von oben nach unten zu lesen. Gliedert sich ein Entwurfkomplex in einzelne größere Stufen, so werden diese durch fette eingeklammerte römische Ziffern bezeichnet, im Helian-Komplex z. B. die Stufen (I) bis (VII). Eine solche Bezeichnung dient der Orientierung und sagt nicht, daß jede Stufe als selbständiges Gedicht oder selbständiger Abschnitt gedacht gewesen sei. Wir verzichten nicht auf knappe Zwischenerläuterungen und sind uns bewußt, daß jede Wiedergabe eines so vielfältig geschichteten handschriftlichen Textes sowohl dem Herausgeber als dem Benutzer Entsagung abfordert. Wir bringen, was unabdingbar ist, nämlich den vollen und unveränderten Wortlaut. Wir versuchen, seine Entstehung so weit übersichtlich zu machen, als dies ohne Eingriff in den Text möglich ist. Soweit der Entstehungsvorgang gesichert ist, kann er bei unserer Darstellungsweise einfach abgelesen werden. An schwierigeren Stellen findet man wenige, die Schichten trennende Zeichen, die zusammen Entstandenes und deshalb zusammen zu Lesendes kennzeichnen. In sehr schwierigen Fällen werden die Schichtungen eines Textes getrennt dargeboten; dabei ist darauf geachtet, daß keine Stelle der Handschrift im Druck ungekennzeichnet doppelt erscheint, die nur einmal im Manuskript steht. Nach ein wenig Mühe sollte die Darstellung leicht verständlich werden. Sie stellt einen Versuch vor, der sich allen früheren Versuchen verpflichtet weiß und nach dessen Verbesserung gestrebt wird. Jede dazu dienliche Anregung ist höchst willkommen. Im Einzelnen gelten folgende Regeln: Zählung Erscheint die Verszählung in halbfettem Druck (1), so bezieht sie sich auf einen abgeschlossenen Text. In allen anderen Fällen dient sie lediglich zur Orientierung innerhalb des in den Lesarten dargestellten Textes. Stehen links von der Verszählung große Buchstaben (A: 1), so weisen sie den Leser darauf hin, daß die gleiche Zählung mehrmals hintereinander erscheint, weil die gleiche Stelle mehrmals in Vor- und Rückgriff variiert wird. Ein kleiner Buchstabe neben der Verszahl (1a) bezeichnet einen getilgten und deshalb nicht weiterzählenden Vers. Ein kleiner Buchstabe als Index der Verszahl (1a) bezeichnet eine Zeile, die zwischen zwei bereits nieder geschriebene gefügt wurde. Stufung Die zu einem Vers gehörigen Varianten sind in der vermuteten Reihenfolge ihrer Niederschrift untereinander geordnet. Der zuunterst stehende Text ist die letzte Lesart und im Zusammenhang lesbar. Auf einer Höhe nebeneinander Gedrucktes ist vermutlich im gleichen Arbeitsgang entstanden.

Der Helian-Komplex in Trakls Nachlaß

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Arbeitsschichten Eine ausdrückliche Unterscheidung der Arbeits- und Entstehungsschichten findet nur dort statt, wo sie als gesichert betrachtet werden kann und zum fortlaufenden Lesen des Textes notwendig ist. Dabei werden unterschieden: Größere Entwurfgruppen innerhalb eines Entwurfkomplexes durch fette, eingeklammerte römische Ziffern links der Verszählung (I); aufeinander folgende, aber durcheinander liegende Arbeitsschichten innerhalb eines fortlaufenden Textes durch römische Ziffern rechts der Verszählung. Zeilen mit der gleichen römischen Ziffer sind im Zusammenhang entstanden; wenn tunlich, werden die durch solche Ziffern bezeichneten Arbeitsgänge nochmals in sich mit kleinen Buchstaben differenziert (Ia–Ib). Gleich bezeichnete Verse sind im Zusammenhang lesbar. Zeichen [ ] = ( ) = [ ] = 〈 〉 = ⏐: :⏐ =

×

Text wurde vom Dichter getilgt wurde vom Dichter getilgt und wiederhergestellt vom Dichter versäumte Tilgung Zufügung des Herausgebers Wiederholung eines in der Handschrift nur einmal stehenden Textes. Meist handelt es sich um Stellen, in denen der Dichter einen neuen Wortlaut durch wenige Buchstabenkorrekturen hergestellt hat. = ein unlesbares Wort.

[…] Die Entwürfe des Helian-Komplex setzen auf Hs 21 ein: (I) 1 Schön ist Opheliens Wahnsinn, 2 Der blaue Teich , der durch die Weiden rinnt; alte Weiher 3 Die Lieder, die Und die Schwermut ihrer verbogenen Lider. [Schatten darin] verbogenen kindliche bleiche ist ins rote Laub gesunken glühende Die blaue Die 4 Mit Schnee und Aussatz füllt sich die betäubte Seele Und leise betrübte 5 Und folgt den Abendflöten im dürren Rohr. Die des Abends

[…]

Jonas Fränkel

Jonas Fränkel

Zum Problem der Wiedergabe von Lesarten

Zum Problem der Wiedergabe von Lesarten (1959)

Im letzten Band des Euphorion (52, 4) wird vom Bearbeiter der Zürcher Staatsausgabe der Werke Conrad Ferdinand Meyers das Problem der Mitteilung von Lesarten innerhalb einer kritischen Edition erörtert. Das würde mich nicht veranlassen, mich zu Worte zu melden. Förderlich sind allein Taten, nicht Diskussionen auf das Thema, wie es gemacht werden soll. Doch da stoße ich auf eine Behauptung, über deren Gewagtheit ich staune; betrifft sie doch nicht eine zeitlich fernliegende wissenschaftliche Leistung, sondern das Werk eines Zeitgenossen, das, wenn auch Torso geblieben, auf jeder größeren Bibliothek, zumal in der Schweiz, jedermann zugänglich ist. Der Meyer-Herausgeber spricht sein verdammendes Urteil über Apparate mit „subjektiv ausgewählten Lesarten“ und führt als abschreckendes Beispiel Kösters StormAusgabe an. Ich bekenne meine Hochschätzung für die wissenschaftliche Seite dieser Ausgabe: für die mehr als die Hälfte des letzten Bandes füllenden, zusammengedrängten „Anmerkungen“ wie für die in den Verhandlungen der Sächsischen Gesellschaft der Wissenschaften zu Leipzig veröffentlichten Prolegomena zu einer Ausgabe der Werke Theodor Storms – wie ich jeder gewissenhaften Leistung auf dem Felde der Wissenschaft die verdiente Hochachtung zolle, auch wenn ich selbst andere Wege gehe. Besäßen wir doch mehr solcher „Apparate“ zu den Werken der Dichter, gespeist von reichster wissenschaftlicher Erfahrung und jahrzehntelanger Vertiefung in das dichterische Werk! Wir hätten dann Aussicht, in nicht allzu ferner Zeit im Besitze von Grundsteinen zu einer wahrhaft fruchtbaren Poetik zu sein. In diesem Zusammenhang werden die wissenschaftlichen Beigaben zu meiner Keller-Ausgabe als „das Extrem eines auswählenden Apparats“ bezeichnet. Ich bin ein Feind aller rigoristischen Vorschriften in der Wissenschaft und bin nicht der Meinung, daß es nur einen Weg gebe, den jeder zu gehen habe, der eine Dichterausgabe vorbereitet. Ich urteile vielmehr, daß in jedem einzelnen Falle die Art des dichterischen Werkes sowie die Beschaffenheit der nachgelassenen Materialien die maßgebende Methode bei der Bearbeitung zu bestimmen haben, und daß bei Geisteswissenschaften Uniformismus Tod sei. Dennoch erachte ich es als meine Pflicht, Einsprache zu erheben gegen jenes Diktum; weil es der Wahrheit widerspricht. Mein „Apparat“ bietet keine Lesartenauswahl. Diesen Eindruck konnte nur jemand empfangen, der über die Bände mit flüchtigem Blick hinstrich und rasch feststellte, daß die Seiten des Anhangs nicht wie gewohnt mit Kolonnen von Lesarten gefüllt sind, von deren Vorhandensein man mit Befriedigung Kenntnis nimmt, die aber – man gesteh es doch! –

Zum Problem der Wiedergabe von Lesarten

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kein Mensch liest, am wenigsten der Literarhistoriker. Es ist totes Gewicht, das mitzuschleppen als Pflicht gilt. Mein Bestreben beim Mitteilen von Lesarten bei den Prosabänden war, den Stiltendenzen nachzugehen und die Regeln aufzuspüren, welche wegleitend für den Dichter waren bei Änderungen, die er an seinen einst mit fliegender Feder niedergeschriebenen Werken nach Jahrzehnten vornahm; die Stilwandlungen des gereiften Dichters kenntlich zu machen. Ich wüßte nicht, welche Aufgabe der Philologie würdiger wäre. In den Dienst dieser Aufgabe stellte ich die Sammlung von Lesarten, überzeugt, daß Sprachwandlung bei einem Meister wie Keller durchgehenden Stilwandlungen entsprechen müsse, die es gelte möglichst genau zu erkennen und in bestimmte Kategorien zu fassen. Deren Bewährung konnte erst ersichtlich werden, wenn die gleichen Stiltendenzen bei mehreren Werken aus ungefähr derselben Zeit sich aufdrängten. Freilich nicht sämtliche Lesarten konnten in die aufgestellten logischen Netze eingefangen werden, denn das Stilgefühl bei einem großen Dichter untersteht auch Gesetzen, die sich im Dunkel des Unbewußten verbergen. Doch jene Lesarten, die sich nicht deuten ließen – sie nehmen einen geringen Prozentsatz der Gesamtheit ein – sind von mir nicht, wie Hans Zeller glauben läßt, unterdrückt worden; sie sind vielmehr alle im Kommentar zu den betreffenden Textstellen angeführt, so daß doch eine vollständige Sammlung von Lesarten vorliegt. Allerdings den Ehrgeiz, auch den Unrat der Feder mit zu verewigen, hatte ich nicht. Nur wirkliche Lesarten findet man in meinen Apparaten verzeichnet. Ich sprach von Kellers Werken, die mit fliegender Feder niedergeschrieben wurden. Das gilt von den erzählenden, den Prosawerken. Läßt sich etwa bei Heines Prosahandschriften meist noch das Ringen mit dem Gedanken nicht weniger als mit dem Ausdruck und dem Rhythmus der Sprache verfolgen, so lag bei Keller die eigentliche Arbeit des Schriftstellers bereits so gut wie abgeschlossen, wenn er sich hinsetzte, um die Gebilde der Phantasie mit rascher Feder auf dem Papier festzuhalten. Anders jedoch bei den Gedichten. Hier zwangen Gebote des Reims und des Rhythmus zu bedächtigem Erwägen und Überlegen und Wiedererwägen während des Schreibens, und jedes Gedicht stand unter seinem eigenen Gesetze. Bei solcher Sachlage durchgehende Stiltendenzen in der Sprache herauszufinden, wäre aussichtsloses Bemühen gewesen. In den Kommentaren zu Kellers Gedichtbänden mußte ich auf die Methoden, die mich glücklich durch das Gestrüpp der Prosalesarten hindurchgeführt hatten, verzichten und bei jedem einzelnen Gedichte, soweit Handschriften vorlagen, sein Werden in allen seinen besonderen Stadien aufzeigen. Und hier galt es die Lesarten wiederum nicht mechanisch aneinanderzureihen, sondern das Entstehen eines Verses, einer Strophe Stufe für Stufe aufzudecken. Wie dies im Druck sichtbar gemacht werden kann – vielleicht würde es wissenschaftliche Editoren seit bald einem halben Jahrhundert nicht mehr als Problem belasten, hätte man die von mir bearbeiteten Gedichtbände in Walzels Heine-Ausgabe beachtet. Soviel ich nämlich sehe, war ich der erste, der in jenen Bänden, sooft ich in die Lage kam, Heines Handschriften wiederzugeben, das Nebeneinander der Lesarten, wie es in der Weimarer Goetheausgabe geübt wurde, konsequent gegen ein Nachein-

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ander vertauschte, um die Folge der Schichten bloßzulegen und den Reifeprozeß des dichterischen Ausdrucks deutlich werden zu lassen – ohne ein Heer von „Symbolen“, vielmehr durch die allereinfachsten typographischen Zeichen, die kein besonderes Studium erheischen. Diese Methode ist dann bei den Gedichtbänden Kellers (bis auf den Schlußband, den man mir in Zürich abgedrosselt hat) verfeinert oder richtiger: noch weiter vereinfacht worden. Ich betone: vereinfacht; denn daß es möglich wäre, mit Hilfe eines verzwickten Systems von Zeichen und Klammern eine komplizierte Handschrift wirklich wiederherzustellen, halte ich für Illusion. Im Zeitalter der höchstentwickelten photographischen Kunst erscheint mir die darauf verwendete Mühe als sehr überflüssig. Wenn Ernst Grumach in die Goetheausgabe der Berliner Akademie ein vollständiges Faksimile der Urfaust-Handschrift aufgenommen und dadurch den noch zu erwartenden Apparat zu Faust I merklich entlastet hat, so schlug er meines Erachtens den richtigen Weg ein. Es kann sich heute für die Wissenschaft nicht darum handeln, eine komplizierte Handschrift zu „rekonstruieren“, sondern sie zu enträtseln. Für diese – gewiß nicht leichte, doch aller Anstrengung werte – Aufgabe aber sind Überlegungen solcher Art etwa wie: ob eine Änderung auf der rechten oder linken Seite des Blattes, über oder unter der Zeile eingetragen wurde, höchst irrelevant, denn für die Position einer nicht im Zuge der Niederschrift vorgenommenen Änderung war doch jeweils bestimmend, wo sich gerade der Feder freier Raum bot. Und ähnlich möchte es sich auch mit anderen Kriterien verhalten, deren Wert in keinem Verhältnis stehen dürfte zu der Gewichtigkeit, die ihnen beigemessen wird. April 1959

Grundlagen der Goethe-Ausgabe

Grundlagen der Goethe-Ausgabe

Ausgearbeitet von den Mitarbeitern* der Goethe-Ausgabe (1961)

Inhaltsverzeichnis I.

Grundlagen der Goethe-Ausgabe

Definition der Grundbegriffe § 1 Textfassung, Textidentität, Textvarianz, Zeuge, Paralipomenon, Edierter Text . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . § 2 Handschriften . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . § 3 Drucke . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . § 4 Druckvorlage. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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2 2 3 4

[= 224] [= 224] [= 225] [= 226]

II. Auswahl der Zeugen und Aufteilung des Materials § 5 Auswahl der aufzunehmenden Zeugen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . § 6 Aufteilung des Materials . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . § 7 Zählung der Bände . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

4 [= 226] 6 [= 227] 6

III. Gestaltung des Textbandes § 8 Textkonstitution. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . § 9 Einrichtung des Textes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . § 10 Texteingriffe und editorische Kennzeichnungen im Text. . . . . . . .

8 [= 228] 9 [= 229] 11 [= 230]

IV. Siglierung § 11 Zeugensiglierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . § 12 Schriftsiglierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

14 15

V. Gestaltung des Apparatbandes § 13 Einrichtung des Apparatbandes. . . . . . . . . . . . . . . . . . § 14 Allgemeines zur Anlage des Variantenverzeichnisses. . . § 15 Textliche Einrichtung der Varianten . . . . . . . . . . . . . . § 16 Definition der Korrekturen bzw. Korrekturschichten . . . § 17 Verzeichnung der Korrekturen bzw. Korrekturschichten . § 18 Spezialfragen der Verzeichnung . . . . . . . . . . . . . . . . . § 19 Beschreibung der Überlieferung . . . . . . . . . . . . . . . . . § 20 Behandlung der Paralipomena . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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16 16 19 21 22 25 27 30

Anlage 1. Editorische Zeichen und Abkürzungen. . . . . . . . Anlage 2. Siglen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Anlage 3. Archivalische termini . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Anlage 4. Modelle für die Beschreibung der Überlieferung .

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32 35 39 40

———— * Siehe S. 357.

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[= 230] [= 230] [= 231] [= 231] [= 232]

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I.

Grundlagen der Goethe-Ausgabe

Definition der Grundbegriffe

§ 1 Textfassung, Textidentität, Textvarianz, Zeuge, Paralipomenon, Edierter Text 1.1.

1.2.

1.3.

1.4.

1.5.

1.6.

Textfassungen sind vollendete oder nicht vollendete Ausführungen eines Werkes, die voneinander abweichen. Sie sind durch Textidentität aufeinander beziehbar und durch Textvarianz unterscheidbar. Textidentität besteht zwischen Textteilen verschiedener Fassungen eines Werkes, wenn sich die Teile in Buchstaben und Satzzeichen vollkommen entsprechen. Textvarianz besteht zwischen Textteilen verschiedener Fassungen eines Werkes, wenn sich die Teile in Buchstaben und Satzzeichen nicht entsprechen. [Es können beispielsweise Differenzen der Interpunktion, der Orthographie, der Grammatik, der Metrik und der Bedeutung auftreten.] Zeugen bestehen entweder aus einer Textfassung oder aber aus mehreren Textfassungen, die durch Korrekturen in der einen Textfassung entstanden sind. Es wird zwischen handschriftlichen und gedruckten Zeugen unterschieden. Paralipomena sind nicht Textfassungen eines Werkes. Sie sind auf das Werk bedeutungsmäßig, aber nicht syntaktisch beziehbare, eigenständige Texte, zum Beispiel Vorarbeiten, Schemata, Entwürfe, Exzerpte, Inhaltsangaben oder Werkteile, deren genaue Einordnung in das Werk durch den Editor nicht eindeutig vorgenommen werden kann. [Für die eigenen Textfassungen und Zeugen eines Paralipomenons gelten die unter 1.1. und 1.4. gegebenen Definitionen.] Edierter Text ist die im Textband bzw. Apparatband der Ausgabe vollständig und geschlossen abgedruckte Textfassung eines Werkes oder eines Paralipomenons.

§ 2 Handschriften [Als Handschriften gelten auch Faksimiles, die durch photomechanische oder ähnliche optische Verfahren hergestellt worden sind.] 2.1. Definition nach dem Inhalt 2.1.1. Eine Einzelhandschrift enthält einen handschriftlichen Zeugen zu einem Werk oder zu Teilen eines Werkes. 2.1.2. Eine kombinierte Handschrift enthält mehrere handschriftliche Zeugen zu einem Werk oder zu Teilen eines Werkes. 2.1.3. Eine Sammelhandschrift enthält Einzelhandschriften oder kombinierte Handschriften zu verschiedenen Werken oder zu Teilen verschiedener Werke.

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2.2. 2.2.1.

Definition nach der Überlieferung Eine überlieferte Handschrift ist ein erhaltener handschriftlicher Zeuge. Eine indirekt überlieferte Handschrift ist nur wissenschaftlich beschrieben bzw. ausgewertet. 2.2.2. Eine nicht überlieferte Handschrift ist weder erhalten noch wissenschaftlich beschrieben bzw. ausgewertet; sie wird 2.2.2.1. erschlossen aus dem Verhältnis der Textvarianten zwischen überlieferten Handschriften bzw. als Druckvorlage aus dem Druckvorgang (= philologischer Nachweis). 2.2.2.2. bezeugt durch Zeugnisse, die ihre Anwendung auf überlieferte oder andere nicht überlieferte Handschriften ausschließen (= Zeugnisnachweis). § 3 Drucke

[Als Drucke gelten auch zeitgenössische lithographierte Handschriften und Druckexemplare oder Korrekturbogen, die vom Autor oder in seinem Auftrag handschriftlich korrigiert wurden.] 3.1. Definition nach dem Inhalt 3.1.1. Ein Einzeldruck enthält einen gedruckten Zeugen zu einem Werk. 3.1.2. Ein Teildruck enthält einen Teil oder mehrere Teile eines Werkes. 3.1.3. Ein Sammeldruck enthält Einzeldrucke bzw. Teildrucke zu verschiedenen Werken. [Als Sammeldruck gelten beispielsweise Gesamtausgaben, gedruckte Sammlungen von Gedichten u. dergl., aber nicht mehrere Einzeldrucke oder Teildrucke in einem laufenden Journal.] 3.2. Definition nach dem Verlag 3.2.1. Ein rechtmäßiger Druck ist der Druck eines Verlages, der vom Autor aufgrund eines Vertrages oder einer vertragsähnlichen Abmachung zum Druck dieses Werkes berechtigt wurde. 3.2.2. Ein Nachdruck ist ein nicht rechtmäßiger Druck. [Wahrscheinlichkeitsbeweise zur Bestimmung von rechtmäßigem Druck und Nachdruck bedürfen der Bestätigung durch die Mitarbeiter der Ausgabe.] 3.3. Definition nach dem Satz Wurden im gleichen Verlag von einer Ausgabe mehrere Drucke hergestellt, die sich äußerlich weitgehend gleichen (z. B. Titelblatt, Erscheinungsjahr, Erscheinungsort, Seiten-, Zeilenumbruch, Bogennorm), die aber jeweils teilweise oder vollständig neu gesetzt wurden, so wird der vom ersten Satz hergestellte Druck als Originaldruck, alle weiteren Drucke werden als Doppeldrucke bezeichnet. Als Doppeldrucke gelten auch Presskorrekturen (Neusatz einzelner Wörter), Kartons (Neusatz einzelner Blätter) und Doppeldrukke einzelner Bogen. [Wahrscheinlichkeitsbeweise über die Bestimmung von Original- und Doppeldrucken bedürfen der Bestätigung durch die Mitarbeiter der Ausgabe.]

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Grundlagen der Goethe-Ausgabe

§ 4 Druckvorlage Eine Druckvorlage zu einem bestimmten Druck ist ein handschriftlicher oder gedruckter Zeuge, welcher Verlags- oder Druckereieintragungen aufweist, die mit dem Druck in Übereinstimmung gebracht werden können. [Verlags- und Druckereieintragungen sind Vermerke der Seiten- und Bogenzahl, Vermerke zur Typographie, Anweisungen für den Setzer u. ä.]

II.

Auswahl der Zeugen und Aufteilung des Materials

§ 5 Auswahl der aufzunehmenden Zeugen 5.1. 5.1.1.

Von den handschriftlichen Zeugen eines Werkes werden aufgenommen: alle Handschriften, an deren Herstellung Goethe mitgewirkt hat oder die in Goethes Auftrag hergestellt worden sind [Bei Nachweisen über Veranlassung oder Mitwirkung gilt der philologische Nachweis allein als unzureichend, der Zeugnisnachweis allein als zureichend.] 5.1.2. alle Handschriften, die unmittelbar von einem nicht überlieferten bzw. nur indirekt überlieferten unter 5.1.1. beschriebenen Zeugen abstammen 5.1.3. alle Handschriften, die mittelbar ausschließlich über nicht überlieferte bzw. nur indirekt überlieferte unter 5.1.2. beschriebene Zeugen von einem nicht überlieferten bzw. nur indirekt überlieferten unter 5.1.1. beschriebenen Zeugen abstammen. 5.2. Von den zeitgenössischen gedruckten Zeugen eines Werkes werden aufgenommen: 5.2.1. alle autorisierten Drucke. [Als „autorisiert“ gelten Drucke, deren Herstellung der Autor gewünscht bzw. gebilligt hat und deren Text der Autor zugleich durch Lieferung der Druckvorlage oder durch Revision während des Druckes beeinflußt hat. Die unmittelbare Veranlassung eines Druckes muß durch Zeugnis nachgewiesen werden. Drucke, deren unmittelbare Veranlassung durch philologischen Nachweis wahrscheinlich ist, aber nicht durch Zeugnis nachgewiesen werden kann, werden aufgenommen, soweit über sie wissenschaftliche Literatur bereits vorliegt oder durch den Bearbeiter gleichzeitig geschaffen werden kann.] 5.2.2. alle nichtautorisierten Drucke, 5.2.2.1. die auf eine aufzunehmende, nicht überlieferte Handschrift oder auf einen vom Autor bzw. in seinem Auftrag korrigierten, nicht überlieferten Druck zurückgehen oder 5.2.2.2. die als Druckvorlage für einen autorisierten Druck benutzt wurden. 5.3. Nicht zeitgenössische gedruckte Zeugen eines Werkes werden auf folgende Weise berücksichtigt:

Grundlagen der Goethe-Ausgabe

5.3.1.

5.3.2.

5.3.3.

5.3.4.

5.3.5.

5.3.6.

227

Die Ausgabe Q wird nur dann vollständig aufgenommen, wenn das Werk in ihr zum erstenmale gedruckt ist oder wenn sie textliche Varianten gegenüber den vorangehenden Zeugen enthält, die mit ziemlicher Sicherheit auf einen nicht überlieferten Zeugen als Druckvorlage schließen lassen. Wird eine andere Erklärung für vorhandene textliche Varianten angenommen, so sind nur diese Varianten aufzunehmen und die Erklärung ist im Abschnitt ‚Überlieferung‘ darzulegen. Von den Nachlassbänden der Ausgabe C werden die Bände 41–55 in jedem Falle aufgenommen, da sie im Auftrage des Autors entstanden sind. Die Bände 56–60 werden nur dann aufgenommen, wenn das Werk noch nicht in Q enthalten ist. Aus der historisch-kritischen Ausgabe W und der kritischen Ausgabe JG2 werden aufgenommen: der in ihnen abgedruckte Text uns nicht erhaltener aufzunehmender Zeugen, Textemendationen und neue Lesungen in schwierigen Handschriften. W und JG2 sind deshalb in allen Fällen vollständig zu kollationieren. Aus anderen kritischen Ausgaben werden aufgenommen: der in ihnen abgedruckte Text uns nicht erhaltener aufzunehmender Zeugen, Textemendationen, die durch Anmerkungen ausgewiesen sind und neue Lesungen in schwierigen Handschriften, die durch Anmerkungen ausgewiesen sind. Aus der historisch-kritischen Ausgabe AA werden, falls das Werk in einem ihrer Bände bereits gedruckt wurde, aufgenommen: neue Lesungen in schwierigen Handschriften und Textemendationen. Aus textkritischen Untersuchungen u. dgl. werden nur die Stellen aufgenommen, die eigene Textemendationen oder Lesungen bieten.

§ 6 Aufteilung des Materials Das Material, das durch die §§ 1 bis 5 bestimmt und ausgewählt ist, wird nicht durchweg in vollem Umfang, sondern zum Teil verkürzt ediert. Die Goethe-Ausgabe ist grundsätzlich gekennzeichnet durch die Aufteilung in Textband und Apparatband, die aufeinander bezogen sind. 6.1. Im Textband werden eine oder mehrere Textfassungen eines Werkes in vollem Umfang als Edierter Text abgedruckt. 6.2. Der Apparatband enthält: 6.2.1. die übrigen Textfassungen dieses Werkes in der Verkürzung auf ihre zum Edierten Text varianten Stellen, das Variantenverzeichnis. Soweit Teile von Fassungen zum Edierten Text so stark variant sind, daß ein geschlossener

228

6.2.2.

6.2.3. […]

Grundlagen der Goethe-Ausgabe

Abdruck die Textentwicklung übersichtlicher macht, werden diese Teile in extenso wiedergegeben. die Paralipomena zu diesem Werk mit einer oder mehreren Textfassungen in vollem Umfang (Edierter Text des Paralipomenons) und den übrigen Textfassungen in der Verkürzung auf die varianten Stellen (Variantenverzeichnis des Paralipomenons). die Beschreibung der Überlieferung aller Zeugen dieses Werkes.

III. Gestaltung des Textbandes § 8 Textkonstitution Der Edierte Text gibt, den ursprünglichen Grundsätzen der Goethe-Ausgabe gemäß, die Textfassung wieder, die der endgültigen Intention des Dichters zur Zeit der Entstehung des Werkes entspricht. Das ist in der Regel der erste autorisierte Druck. Im Falle wesentlicher Textvarianz zwischen den Textfassungen des Werkes kann bei Bestätigung durch die Mitarbeiter der Ausgabe der Abdruck zweier oder mehrerer Textfassungen erfolgen. 8.1. Der Edierte Text beruht im Falle einfachen Abdrucks 8.1.1. auf der vollständig überlieferten Druckvorlage zum autorisierten Erstdruck, der kein Teildruck sein darf, unter der Voraussetzung, 8.1.1.1. daß Goethe nachweislich keine Korrekturbogen gesehen bzw. korrigiert hat oder 8.1.1.2. daß Korrekturbogen überliefert sind, die einschließlich ihrer Korrekturen mit dem Erstdruck übereinstimmen, so daß zwischen ihnen und dem Erstdruck Eingriffe Goethes ausgeschlossen sind. In diesem Falle werden die handschriftlichen Korrekturen Goethes aus den Korrekturbogen in die Druckvorlage übernommen. 8.1.2. andernfalls auf dem autorisierten Erstdruck, der kein Teildruck sein darf, 8.1.3. falls kein autorisierter Druck vorliegt, auf der letzten zeitgenössischen, in vollem Umfang vorhandenen Handschrift 8.1.4. falls keine zeitgenössischen Zeugen vorliegen, auf einem geeigneten posthumen Zeugen. [Am besten geeignet ist der Zeuge mit den geringsten Überfremdungen und Auslassungen!] [Für die handschriftlichen Zeugen, also auch für die handschriftlichen Druckvorlagen gilt, daß der Edierte Text auf der letzten Schicht (vgl. 16.1. und 16.3.) beruht. Wenn eine Schicht von Goethe nachweislich abgelehnt oder nachweislich nach Goethes Tode eingetragen wurde, wird auf die nächstfrühere Schicht zurückgegangen. Enthält die Handschrift Korrekturvorschläge (vgl. 17.4.4.) Goethes, die von ihm nicht ver-

Grundlagen der Goethe-Ausgabe

229

worfen wurden, werden sie in den Edierten Text aufgenommen. Enthält die Handschrift Korrekturvorschläge von fremder Hand, die von Goethe nicht gebilligt wurden, werden sie in den Edierten Text nicht aufgenommen.] 8.2. Der Edierte Text beruht im Falle zweifachen oder mehrfachen Abdrucks auf dem unter 8.1. bestimmten Zeugen und der wesentlich varianten Textfassung bzw. den Textfassungen. Als ‚wesentlich variant‘ sind Textfassungen zu bezeichnen, die werkgeschichtlich bedeutungsvoll sind oder deren Textvarianz zu der unter 8.1. beschriebenen Textfassung quantitativ umfangreich ist. Der Abdruck erfolgt: 8.2.1. als Paralleldruck im Textband oder 8.2.2. im Falle unzureichender oder stark springender Entsprechungen als Nacheinanderdruck im Textband oder 8.2.3. als einfacher Abdruck im Textband und einfacher oder mehrfacher Abdruck im Apparatband. [Dieser zweifache oder mehrfache Druck im Apparatband hat Apparatfunktion und erfolgt in der Regel, wenn sich die wesentliche Textvarianz nur über Teile erstreckt. Im Textband ist der teilweise Paralleldruck bzw. Nacheinanderdruck unzulässig, da die hierbei nicht parallelisierten Teile Lücke oder Textidentität vortäuschen.] 8.3. Der Edierte Text eines Paralipomenons beruht entsprechend 8.3.1. im Falle einfachen Abdrucks auf der letzten in vollem Umfang vorhandenen Handschrift, anderenfalls auf einem geeigneten Zeugen, 8.3.2. im Falle zweifachen oder mehrfachen Abdrucks auf dem unter 8.3.1. bestimmten Zeugen und der wesentlich varianten Textfassung bzw. den Textfassungen. 8.4. Der Edierte Text beruht allein auf den unter 8.1. bis 8.3. bestimmten Zeugen. Es ist unzulässig, einem Edierten Text mehrere Textfassungen zugrundezulegen und daraus einen Mischtext zu konstituieren. § 9 Einrichtung des Textes […] 9.5.

[…]

Das Schrift- oder Druckbild des zugrundegelegten Zeugen wird nicht berücksichtigt. Dagegen bleibt das Schrift- oder Druckbild zugrundegelegter Schemata und Entwürfe, vor allem deren Zeilenstellung und Zeilenumbruch ebenso wie die Anordnung von Titeln relativ erhalten. Die Sprechernamen in dramatischen Werken werden einheitlich in der Textmitte angeordnet.

230

Grundlagen der Goethe-Ausgabe

§ 10 Texteingriffe und editorische Kennzeichnungen im Text Kennzeichnungen und Veränderungen des Textes (d. h. tatsächliche editorische Texteingriffe) sind nur zulässig, wenn sie durch Anwendung strenger formaler Kriterien, wie beispielsweise zeitgenössische syntaktische Widersprüchlichkeiten, ausgewiesen sind. Grundsätzlich und in Zweifelsfällen folgt der Edierte Text immer dem zugrundegelegten Zeugen. [Handschriften und Drucke werden bei Texteingriffen verschieden behandelt; diese Differenzierung ergibt sich aus dem unterschiedlichen Charakter der beiden Zeugenarten. – Unter das Prinzip, daß alle Varianten zum Edierten Text im Apparat verzeichnet werden, fallen auch editorische Texteingriffe. Zu nicht eindeutigen Fällen, bei denen der Texteingriff in bloßer Kennzeichnung oder in der Wahl und Kennzeichnung der wahrscheinlichsten Form besteht, werden im Apparat die weiteren möglichen Formen verzeichnet und gleichfalls als nicht eindeutig gekennzeichnet.] 10.1. Unentzifferbare Buchstaben werden durch das Zeichen „x“ (bei Minuskel) „X“ (bei Majuskel) wiedergegeben (z. B. ‚dxx Xegxxx‘). Bei größeren unentzifferbaren Stellen wird die Ausdehnung angegeben (vgl. 18.6.) 10.2. Unsichere Buchstaben bei der Entzifferung vorhandener und bei der Deutung fehlender Stellen werden in der wahrscheinlichsten Form gegeben und durch Unterpungierung als unsicher gekennzeichnet: z. B. ,Dich‘, ,der Wald‘ 10.3. Texteingriffe bei fehlerhaften Stellen Kriterium für alle fehlerhaften Stellen ist, daß sie für sich oder im engeren Kontext keinen Sinn zulassen (Typ „nud“ bis Typ „er legte seine breite Stimme in Falten“). Bei der Korrektur dieser Stellen kann auf die entsprechende Variante in anderen vorliegenden Zeugen dieses Werkes zurückgegriffen werden. […]

V. Gestaltung des Apparatbandes § 13 Einrichtung des Apparatbandes 13.1.

Der Apparatband enthält die unter 6.2. im einzelnen beschriebenen Apparatteile in der praktischen Anordnung: 1. Überlieferung 2. Variantenverzeichnis 3. Paralipomena.

[…] § 14 Allgemeines zur Anlage des Variantenverzeichnisses Das Variantenverzeichnis zum Edierten Text beruht auf allen aufzunehmenden Zeugen des betreffenden Werkes. Seine Aufgabe ist, die zeitgenössische Textentwicklung des Werkes darzustellen. Es enthält daher alle zum Edierten Text varianten Stellen der

Grundlagen der Goethe-Ausgabe

231

Einzelzeugen (negative Varianten bzw. negative Verzeichnung), in bestimmten Fällen (vgl. 18.1.) aber auch die dazugehörigen Stellen des Edierten Textes selbst (positive Varianten bzw. positive Verzeichnung). Die einzelnen Varianten erhalten kein Lemma. Die allgemeine Form der Verzeichnung ist somit als nichtlemmatisierter gemischter Apparat zu definieren. [Als variante Stellen haben sämtliche zum Edierten Text varianten Buchstaben und Satzzeichen zu gelten. Eindeutige Schreibversehen, die auf Diktat oder Abschrift schließen lassen, und eindeutige Druckfehler werden nur im Überlieferungsteil zur Charakterisierung der Zeugen aufgeführt. Gruppen häufiger und stets gleichartiger Varianten der Einzelzeugen werden zu Beginn des Variantenverzeichnisses in einer generellen Tabelle verzeichnet; treten diese Formen nicht an allen Stellen auf, an denen das Wort vorkommt, so müssen die Stellen mit abweichender Form angegeben werden.] […] § 15 Textliche Einrichtung der Varianten 15.1.

Alle Varianten sind für sich Text. Daher sind für sie die gleichen Verfahren gültig, die unter ‚Textkonstitution‘ für den Text im Einzelnen beschrieben sind. […]

§ 16 Definition der Korrekturen bzw. Korrekturschichten Die folgenden Begriffe und Verfahrensweisen gelten für Handschriften und für handschriftlich korrigierte Drucke. 16.1. Die unterste und durchlaufende Textfassung einer Handschrift ist die Grundschicht. Sie ist zweifelsfrei bestimmbar durch die Zeilenanordnung. Sie ist in der Regel durch einheitliche Schrift und einheitliches Schreibmaterial gekennzeichnet und wird entsprechend sigliert (z. B. (Ga)H1). Ein Wechsel in der Grundschicht – Wechsel der Hand, des Schreibmaterials oder beider – wird in der Siglenreihe der Zeugen (vgl. 14.6.) gekennzeichnet. 16.2. Alle Änderungen der Grundschicht in Form von Streichungen, Ergänzungen, Umstellungen und ihrer Kombination sind Korrekturen. Alle Änderungen der Korrekturen gelten ebenfalls als Korrekturen. 16.3. Korrekturen von gleicher Hand und zugleich mit gleichem Schreibmaterial werden als Korrekturschicht zusammengefaßt und einheitlich sigliert (z. B. (Ri)H1 bzw. (Ga)H1). Die Ausgrenzung solcher Schrift-Material-Schichten legt nicht fest, daß die in ihr zusammengefaßten Korrekturen tatsächlich in einem zeitlich geschlossenen Korrekturakt bzw. die unterschiedlichen Schichten in zeitlich unterschiedlichen Einzelakten vorgenommen wurden. Besondere Korrekturzusammenhänge werden im Überlieferungsteil dargestellt.

232 16.4.

16.5.

Grundlagen der Goethe-Ausgabe

Korrekturen, die nachweislich unmittelbar während der Abfassung der Grundschicht oder einer Korrektur vorgenommen wurden, werden als Sofortkorrektur bezeichnet und erhalten die Sigle ihres Schichtzusammenhangs. Eine Sofortkorrektur liegt nachweislich vor, wenn eine Texteinheit durch eine entsprechende Texteinheit in der Zeile ersetzt ist und beide Texteinheiten nicht zugleich gültig sein können. z. B. ‚Und der Wald das Feld lag in …‘ Korrekturen, die mit einer Sofortkorrektur durch syntaktische Kongruenz zusammenhängen, werden ihr zugeordnet. z. B. die Wälder ‚Und der Wald lag lagen in …‘ Diese Abgrenzung legt nicht fest, daß nur die erfaßten Fälle tatsächlich Sofortkorrekturen waren. Das nachweisliche Vorliegen einer Sofortkorrektur wird durch die Verzeichnung ausgedrückt (vgl. 17.4.1.). Das textidentische Nachziehen oder Überschreiben einer Korrektur oder Grundschichtstelle – also eine Korrektur, die in der Verdeutlichung oder Bestätigung einer Variante besteht – wird durch zusammenfassende Siglierung verzeichnet. z. B. ‚der schöne Wald (RiGb)H1‘

§ 17 Verzeichnung der Korrekturen bzw. Korrekturschichten 17.1.

17.2.

17.3.

Bei der Verzeichnung von Korrekturen wird im allgemeinen die Grundschicht mitgeteilt. Dagegen bleiben das Bild der Korrektur und die Teilvorgänge der Korrektur unberücksichtigt. Es wird z. B. nicht angegeben, daß erst die verworfene Variante gestrichen und dann die neue links oben hingeschrieben wurde. Die Korrektur wird vielmehr zusammengefaßt als Ersetzung verzeichnet. z. B. ‚er sah mich aber düster in H1 : er aber sah mit düsterem Blick (Ga)H1‘ Bei der Verzeichnung von Sofortkorrekturen wird die ersetzte Variante mit der ersetzenden durch > statt durch Kolon verbunden. Da die Schriftsigle der ersetzten Variante mit der der ersetzenden identisch ist, wird nur die ersetzende Variante sigliert. heiligen z. B. H1 (Grundschicht): die heilige Schrift Schriften App.: ‚heilige Schrift > heiligen Schriften H1‘ H2 (Korrekturschicht): der heiligen Bücher Schriften App.: ‚heiligen Bücher > heiligen Schriften (Ga)H2‘ Die Beschreibung „korr“ („korrigiert“) tritt bei einer Korrektur an die Stelle der ersetzenden Variante, wenn diese mit dem Edierten Text identisch ist; „korr“ verweist demnach auf den Edierten Text.

Grundlagen der Goethe-Ausgabe

233

lief schnell H1: Ed. Text: lief App.: ‚lief schnell H1 korr G‘ Differenzierte Beschreibungen können verwendet werden, wenn die Korrektur nur in einem Teilvorgang und nicht in einer vollständigen Ersetzung besteht: „fehlt“ bezeichnet, daß die zugehörige Variante nicht vorliegt. z. B. Ed. Text: der schöne Wald 1 H: der Wald App.: schöne fehlt H1 „tilgt“ bezeichnet, daß die zugehörige Variante ohne Ersetzung gestrichen oder ausradiert wurde. z. B. Ed. Text vermied geflissentlich alles H1: vermied geflissentlich alles App. bei Streichung: geflissentlich H1 tilgt Ga App. bei Radierung: geflissentlich H1 tilgt Xx „erg“ („ergänzt“) bezeichnet, daß die zugehörige Variante keine Ersetzung, sondern ein Zusatz ist. z. B. Ed. Text: diese selbstquälerische Äußerung selbstquälerische H1: diese / Äußerung App.: selbstquälerische erg (Ga)H1 „propon“ („proponit“) bezeichnet, daß eine Variante ohne gleichzeitige Tilgung der entsprechenden, vorhandenen Variante vorgeschlagen wurde, so daß beide Varianten gültig sind. z. B. Ed. Text: Das veranlaßte bewirkte H1: Das veranlaßte App.: Das bewirkte propon (Vo)H1 z. B.

17.4. 17.4.1.

17.4.2.

17.4.3.

17.4.4.

Ed. Text:

Das verursachte bewirkte Das veranlaßte H1: App.: Das veranlaßte H1 : Das bewirkte propon Vo Im Zusammenhang mit „propon“ bezeichnen „bill“ und „verw“ („billigt“ und „verwirft“), daß die vorgeschlagene Variante durch einen weiteren Korrekturakt anerkannt oder verworfen wurde. z. B. Ed. Text: Das veranlaßte bewirkte Das veranlaßte H1: App.: Das bewirkte propon (Vo)H1 verw G 17.4.5. „mon“ („moniert“) bezeichnet, daß die zugehörige Variante durch Anstreichen u. ä. ohne gleichzeitige Textveränderung bzw. gleichzeitigen Textvorschlag beanstandet wurde.

234

17.4.6.

17.5.

17.5.1.

17.5.2.

17.5.3.

[…]

Grundlagen der Goethe-Ausgabe

z. B. H1: … meines Dichtungsvermögens App.: Dichtungsvermögens mon (Ri)H1 „umst“ („umstellt“) und „mark“ („markiert“) werden zur Beschreibung von textlichen Umstellungen bzw. Markierungen verwendet. Sie ersetzen die umständliche ausführliche Beschreibung dieses Vorgangs. [In diesem Zusammenhang wird darauf verwiesen, daß alle unter 17.4. genannten Beschreibungen mit beschreibenden Begriffen verknüpft werden können, etwa mit „Zeile“, „Absatz“, „Vers“, „Strophe“, „Spatium“, „Komma“, „Punkt“, „Fragezeichen“, „Lücke“ u. a. Diese Beschreibung von Varianten erfolgt nach praktischen Gesichtspunkten und auch außerhalb von Korrekturvorgängen, teilweise auch auf Drucke bezogen, soweit das dem Sinn nach möglich ist. z. B. ‚1. und 2. Strophe umst D5‘ oder ‚Absatz mark (G)H3‘ oder ‚Komma fehlt D5‘ oder ‚Punkt erg (Ga)H3‘] Bei der Verzeichnung von Korrekturen werden verschieden umfangreiche Vorgänge durch die Einblendung mit Spitzklammern „〈 〉“ vereinigt. Korrekturen oder Korrekturreihen werden in die Grundschicht oder in eine Korrekturschicht des gleichen Zeugen eingeblendet. Bei unsicherer Umfangsbeziehung wird die Einblendung durch ein Anschlußwort erweitert. Die eingeblendeten Varianten sind durch ihre Schriftsigle zu kennzeichnen. Die Schriftsiglen werden nicht in runde Klammern gesetzt. Ersetzungen einer Schicht werden durch Einblendung der ersetzenden Variante und eines vorangehenden Kolons verzeichnet. z. B. ‚er sah 〈: sprach Ga〉 mich aber düster an H1‘ oder ‚er sah mich 〈: uns Gb : euch Gb〉 aber düster an (Ga)H1‘ Sofortkorrekturen werden durch Einblendung der ersetzten Variante und eines nachfolgenden > verzeichnet. Die Schriftsigle der ersetzten Variante, die mit der des ganzen Komplexes identisch ist, entfällt. z. B. H1: Aufklärung der Bib Heiligen Bücher Schriften getan App.: Aufklärung der 〈Bib > Heiligen Bücher>〉 Heiligen Schriften getan H1. Teilvorgänge einer Korrekturschicht werden durch Einblendung der Variante und der betreffenden Beschreibung verzeichnet: Tilgung ohne Ersetzung z. B. ‚der schöne 〈schöne tilgt Ga〉 Wald H3‘ Ergänzung ohne vorherige Streichung z. B. ‚der 〈schöne erg Ga〉 Wald H1‘ Vorschlag ohne vorherige Streichung z. B. ‚der schöne 〈wunderschöne propon Ri verw G〉 Wald H1‘ Monierung z. B. ‚der schöne 〈schöne mon Ri〉 Wald H1‘

Dietrich Germann

Dietrich Germann

Zu Fragen der Darbietung von Lesarten

Zu Fragen der Darbietung von Lesarten in den Ausgaben neuerer Dichter (1962)

Ein Kennzeichen der Neugermanistik in Deutschland nach 1945 ist die erneute Hinwendung zum Text als der bleibenden Grundlage und Voraussetzung der – zuweilen recht ephemeren – Interpretation. Die Motive für das Wiedererwachen des Interesses an editorischen Fragen nach jahrzehntelanger Nichtbeachtung mögen verschiedener Art sein und werden wohl erst aus einem größeren zeitlichen Abstand heraus voll erkannt werden können. Als sicher darf man annehmen, daß der Zusammenbruch des nationalsozialistischen Deutschland und das Streben nach einem Neubeginn des geistigen Lebens von selbst den Blick auf die tragenden Säulen der deutschen Kultur, die großen Traditionen des deutschen Geistes und die bedeutenden Lehrer der Humanität richtete. Ein neues Bemühen um die Aneignung der humanistischen und fortschrittlichen Traditionen setzte ein. Dies erforderte aber, die bisherigen Interpretationen zunächst außer acht zu lassen und auf den Text selbst zurückzugehen. Hier wurde jedoch zweierlei deutlich: Das Fehlen eines bedarfsgerechten Angebotes brauchbarer Ausgaben im Buchhandel wie ein fühlbarer Mangel entsprechender Editionen in den öffentlichen und privaten Bibliotheken – als Folge der Kriegseinwirkungen – und die editorische Unzulänglichkeit der meisten bisherigen Ausgaben. Die Problematik der bisherigen Editionen wurde offenbar, auch und besonders derjenigen, die, nach dem Vorbild der – schon seit langem methodisch veralteten – Schillerausgabe Karl Goedekes1 auf Grund der ihnen gestellten umfassenden Aufgabe als historisch-kritische bezeichnet werden. Der Begriff, entstanden in den Anfängen der Geschichtswissenschaft zu Beginn des 19. Jahrhunderts, besagt, daß die historisch-kritische Methode auf die Gesamtdokumentation eines literarischen Schaffens – auch eines einzelnen Werkes – angewandt wurde. Da Methode und Gegenstand sich gegenseitig bedingen und in ständiger Wechselwirkung stehen, hat die historisch-kritische Methode durch ihre Übertragung in den Bereich der neugermanistischen Edition gegenüber der Fassung des Begriffes in der Geschichtswissenschaft einen abgewandelten, ganz speziellen Sinn erhalten: Kritische Prüfung der gesamten Textüberlieferung und chronologische (= historisch-genetische) Darstellung der autorisierten Textentwicklung. Eine in dieser Weise gekennzeichnete Ausgabe wird damit klar abgegrenzt gegenüber nur kritischen Ausgaben (bei denen nur eine Textüberprüfung im editorischen Sinn vor———— 1

Schillers sämtliche Schriften. Historisch-kritische Ausgabe. 15 Bde. Stuttgart 1867–1876.

236

Dietrich Germann

genommen wurde) und anderen Ausgaben wissenschaftlichen Charakters und wissenschaftlicher Aufgabenstellung.2 Für diese Aufgabenstellung historisch-kritischer Editionen waren entsprechend der beginnenden allgemeinen Bewußtseinswandlung seit der Jahrhundertwende theoretisch und praktisch neue Erkenntnisse erarbeitet worden – vornehmlich durch Morris,3 Seuffert,4 Backmann5 und Fränkel6 –, die in der Hölderlin-Ausgabe Friedrich Beißners7 ihren weithin sichtbaren Ausdruck gefunden hatten. Durch diese Ausgabe wurde auch dem mit editorischen Fragen nicht eingehender vertrauten Literaturwissenschaftler der Rangunterschied gegenüber den Methoden und Ausgaben der älteren Editionslehre sinnfällig vor Augen geführt. Es war somit offensichtlich, daß es sich bei der Bereitstellung von Einzel- und Gesamtausgaben für wissenschaftliche Zwecke nicht einfach nur um Neudrucke älterer Ausgaben handeln konnte, sondern daß auch da, wo eine neue Gesamtdurchforschung der Textüberlieferung im Sinne einer historisch-kritischen Edition nicht möglich war, die Texte und die Werkanordnung in den älteren Ausgaben nicht ungeprüft übernommen werden konnten. Im Zusammenhang mit der Projektierung, der Vorbereitung und Durchführung großer kritisch-kommentierender und historisch-kritischer Ausgaben nach 1948 entstand eine lebhafte Diskussion über editionswissenschaftliche Probleme, die, wie Windfuhr in seinem vielbeachteten Aufsatz über „Die neugermanistische Edition“ treffend bemerkt, „noch vor kurzem im deutschen Sprachbereich unweigerlich in den Verruf des ‚Positivismus‘ gebracht hätte“.8 Eine derartige Aussprache mit dem Ziel einer Selbstverständigung derer, die eine Ausgabe veranstalten wollen, wie überhaupt aller editorisch Tätigen, ist in Anbetracht der neuen Gesichtspunkte in der Textkritik und Editionstechnik nicht nur wünschenswert, sie ist sogar erforderlich, um zu einer möglichst weitgehenden Vereinheitlichung in technischen Dingen und gemeinsamen grundsätzlichen Auffassungen zu gelangen, sondern sie ist auch notwendig, weil eine Ausgabe gründlich und gewissenhaft vorbereitet werden muß. Auch eine Konferenz über Probleme der Textkritik und Editionstechnik könnte dabei von Nutzen sein. Eine historisch-kritische Edition erfordert ein solches Maß an Zeit, Arbeitskraft und Geld, ———— 2

3 4 5 6

7

8

Vgl. Georg Witkowski: Textkritik und Editionstechnik neuerer Schriftwerke. Ein methodologischer Versuch. Leipzig 1924. Witkowski baut seine Arbeit nach dem Charakter der verschiedenen Ausgaben auf. Max Morris: Der junge Goethe. Neue Ausgabe in sechs Bänden. Leipzig 1909–1912. Bernhard Seuffert: Prolegomena zu einer Wielandausgabe I–IX. Berlin 1904–1941. Bes. I, II und IV. Reinhold Backmann: Die Gestaltung des Apparates in den kritischen Ausgaben neuerer deutscher Dichter. In: Euph., Bd 25, 1924, S. 629–662. Jonas Fränkel: Wissenschaft und Dichtung. [Gesammelte Aufsätze.] Heidelberg 1954. Gottfried Keller: Sämtliche Werke. Ausgabe auf Grund des Nachlasses. Hrsg. v. Jonas Fränkel und Carl Helbling (1942 ff.) 22 Bde. Bern und Leipzig 1926–1949. Bes. Editionsgrundsätze Bd 22, 1938, S. 1–31. Hölderlin: Sämtliche Werke. Große Stuttgarter Ausgabe. Hrsg. von Friedrich Beißner. Stuttgart 1943 ff. Bes.: Friedrich Beißner: Bedingungen und Möglichkeiten der Stuttgarter Ausgabe.: Die Stuttgarter Hölderlin-Ausgabe. Hrsg. von Theophil Frey. Stuttgart 1942, S. 18–30. Ders.: Einige Bemerkungen über den Lesartenapparat zu den Werken neuerer Dichter. In: orbis litterarum. Supplementum II. København 1958, S. 5–20. Manfred Windfuhr: Die neugermanistische Edition. Zu den Grundsätzen kritischer Gesamtausgaben. In: Euphorion, Bd 51, S. 425–442. Zit. S. 425.

Zu Fragen der Darbietung von Lesarten

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daß es nicht zu verantworten ist, überstürzt Entscheidungen zu treffen, die sich im Laufe der Arbeit – wie bei der Weimarer Goethe-Ausgabe9 – als nicht konsequent durchführbar erweisen, mithin Brüche in die Edition kommen, die das ganze Unternehmen problematisch erscheinen lassen. Die richtige, wohlerwogene und durch Versuche erhärtete Entscheidung ist ausschlaggebend für Wert und Lebensdauer einer Ausgabe. Eine dieser Diskussionen gilt den Aufgaben und der Bedeutung des Apparates10 und in diesem Bereich wieder besonders den Problemen der Lesartenverzeichnung. Es wird erörtert, was aus der Textüberlieferung einer Verzeichnung wert sei, was diese Verzeichnung bezwecke und speziell, wie diese Verzeichnung der Entstehungsvarianten (denn um diese geht es vornehmlich entsprechend der Werküberlieferung bei neueren Dichtern)11 erfolgen solle. Zu diesem Problemkomplex soll auch im folgenden ein Beitrag gegeben werden. Halten wir uns vorher noch einmal die Aufgaben einer historisch-kritischen Edition und damit die Mindestforderung, die der wissenschaftlich geschulte und forschende Benutzer an sie stellen darf, vor Augen. Eine historisch-kritische Ausgabe soll, wie eingangs erwähnt, eine Gesamtdokumentation sein, die das betreffende Werk (das dichterische Gesamtwerk) von der ersten schriftlichen Fixierung (Schemata oder Exzerpte) bis zur letzten autorisierten Textfassung (Ausgabe letzter Hand) für dauernd erhalten und allgemein zugänglich machen will. Sie kann die unterschiedliche Textüberlieferung verkürzt durch die Verzeichnung der Abweichungen in einem Variantenapparat oder durch mehrfachen Abdruck der Fassungen12 darbieten. Erhalten werden soll auf diese Weise aber nicht nur der Text der vielleicht sehr selten gewordenen Drucke, sondern alles das, was ungedruckt zum Werk vom Dichter vorhanden ist. Handschriften (besonders Entwürfe und erste Fassungen) können aber sehr stark korrigiert sein. Es widerspräche der Aufgabenstellung, wollte man die Streichungen weglassen. Sie werden deshalb immer vollständig dargeboten. Würde man sie in – notwendigerweise subjektiver – Auswahl bieten, hätte die Ausgabe keinen Dokumentationscharakter mehr, denn der Begriff schließt den des Objektiven, der uneingeschränkten Wiedergabe der Fakten, ein. Der gestrichene Text ist also ebenso aufzunehmen wie die letzte aus der Handschrift ersichtliche Formulierung. Ersetzter (gestrichener) Text und Ersatztext stehen aber nicht nur in einer inhaltlichen und gestaltungsmäßigen (= genetischen) Beziehung, sondern auch in einer zeitlichen (= historischen), der des Nacheinanders. Auch dieses muß bei ———— 9

10

11 12

Vgl. Ernst Grumach: Prolegomena zu einer Goethe-Ausgabe. In: Goethe. N. F. des Jahrbuches der Goethe-Gesellschaft, Bd 12, 1950, S. 60–88. Vgl. jetzt: Siegfried Scheibe, Zu Problemen der historisch-kritischen Edition von Goethes Werken. Aus der praktischen Arbeit der Akademie-Ausgabe. In: Weimarer Beiträge, Jg. 1960, Sonderheft des „Kolloquiums über Probleme der Goetheforschung“ (31. Okt.–4. Nov. 1960), S. 1147–1160. Vgl. Beißner: Einige Bemerkungen über den Lesartenapparat zu den Werken neuerer Dichter; s. Anm. 7. Zur Definition editorischer Begriffe vgl. die abgeschlossenen, aber leider noch nicht gedruckten „Grundlagen der Goethe-Akademie-Ausgabe“. (Berlin 1961.)

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der Wiedergabe in einer Edition zum Ausdruck kommen, denn die zeitliche Folge der Korrekturen stellt ebenso ein Faktum, eine Gegebenheit der Überlieferung dar wie die Korrektur selbst. Die Streichungen (= Lesarten) müssen also historisch-genetisch dargeboten werden, damit der Dokumentationscharakter der Ausgabe gewahrt wird. Es erhebt sich die Frage, was darüber hinaus noch als Faktum anzusehen ist: z. B. der Duktus, das oder die Schreibmittel und der räumliche Bezug von ersetztem und Ersatztext? So spitzt sich das Problem auf die Fragestellung zu: Was sind die Fakten, die Gegebenheiten der Textüberlieferung, und wie sollen sie dargeboten werden? Die Fragestellung hat eine weitere zur Folge, vielleicht ist diese sogar schon in jener enthalten: Was wird mit der historisch-genetischen Anführung der uns schriftlich überlieferten Ausdrucksstufen und der weiteren Fakten erreicht? Auf was deuten sie hin, was kann aus ihnen abgelesen werden? [folgt Auseinandersetzung mit Zellers Verzeichnungssystem für die Meyer-Ausgabe in bezug auf den Apparat der Heine-Säkularausgabe] […] Weiterhin ist im Hinblick auf die Basis noch folgendes zu bedenken, auf das auch bereits in den vorausgehenden Überlegungen hingewiesen wurde. In einer Ausgabe muß ein grundsätzlich einheitliches textkritisches Verfahren benutzt werden. Eine Ausgabe fällt nicht nur innerlich auseinander, sondern man kann es einem Benutzer nicht zumuten, in verschiedenen Bänden prinzipiell abweichende Methoden der Wiedergabe von Lesarten vorzufinden. Der Lesartenapparat wird dank der unübersichtlichen älteren Darstellungsweise und dank der Verzeichnung der für Textentstehung und Verständnis wertlosen Überlieferungsvarianten (in denen das Wichtigste ertrinkt) sowieso viel zu wenig benutzt. Es ist vielmehr die Aufgabe des Editors neuerer Schule, den Apparat lesbar zu machen oder so zu gestalten, daß seine zeitraubende, entbehrungsreiche Arbeit nicht unbeachtet bleibt, mithin das Lesartenverzeichnis überhaupt gelesen wird. Eine Lesartendarstellung, die eine Rekonstruktion der Handschrift anstrebt, ist aber wohl nur wenig geeignet, dazu beizutragen, daß dieses Ziel erreicht wird – auch wenn der Benutzer, was Zeller betont, nicht gezwungen ist, alle Zeichen zu lesen; denn er wird meist die Verpflichtung fühlen, sie zu verstehen, da sie vielleicht doch ein interessierendes Moment bergen können. Das gleiche gilt von verschiedenen Darstellungsarten innerhalb einer Ausgabe. Es ist nicht nur dem mit textkritischen Fragen Vertrauten bekannt, sondern unmittelbar auf der Hand liegend, daß Werke in gebundener Rede sich textkritisch leichter darstellen lassen als Prosa, deren Darstellungsmöglichkeiten darüber hinaus noch nicht so häufig durchdacht worden sind wie die von Vers-Werken. Ein Vers bildet, unabhängig vom Inhalt, als rhythmische Wortverbindung eine Einheit, die drucktechnisch gesehen meistens nicht einmal eine Zeile ausfüllt. Damit ist aber die Möglichkeit gegeben, einen Vers, ohne ihn „brechen“ zu müssen, textkritisch auch als Einheit zu

Zu Fragen der Darbietung von Lesarten

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behandeln und die Verbesserungen, wie es zuerst Fränkel tat, unter dem jeweiligen ersetzten Wort übersichtlich anzuordnen. Dieses ist bei der Prosa nicht möglich. Die kleinste Einheit ist hier der Satz, der unterschiedlichen Umfangs sein kann und bei dem die Bezugsmöglichkeiten von Korrekturen schon auf Grund der größeren Wortzahl ein Vielfaches von gleichstark geschichteten Versen sind. Solche stark überarbeiteten Prosatextstellen ausschließlich in aufgelockerter Form darzubieten, würde sehr viel Raum verschlingen.13 Eine aufgelockerte, gestufte Darstellung ist aber unumgänglich, wenn jedem Wort Zeichen über Ort und Art der Verbesserung und mögliche Korrespondenzen hinzugefügt werden sollen. Die Rekonstruktion des poetischen Produktionsprozesses und seine drucktechnische Wiedergabe ist hier schon schwierig genug.14 Wenn Allemann betont, der Editor müsse bei stark korrigierten Stellen zwangsläufig interpretieren,15 so muß man dazu sagen, daß dies in der Tat so sein kann und auch prinzipiell gar nicht zu umgehen ist, auch nicht grundsätzlich mit der Methode von Hans Zeller. Der Editor hat unter Umständen sogar die Pflicht, sich nach bestem Wissen und Gewissen zu entscheiden (bei Zweifelsfällen muß dies erwähnt werden), jedoch, wie wir schon anführten, die Lesarten so darzustellen, daß dem Leser nicht die Möglichkeit eigener Meinungsbildung in Zweifelsfällen genommen ist. Dabei ist vom Editor zu beachten, in welcher Weise der Autor im allgemeinen zu korrigieren pflegt, welche Grundkorrekturart seine Manuskripte kennzeichnen. Stehen, was generell der Fall sein dürfte, Sofort- bzw. Erstkorrekturen (Verbesserungen im Zuge der Niederschrift) immer auf der Zeile, d. h. rechts neben dem ersetzten Text oder gibt es auch Erstkorrekturen über der Zeile (wie bei Hölderlin)? Sind Zweitkorrekturen (= Verbesserungen, die nach der Niederschrift des Verses, des Satzes, frühestens des folgenden Wortes) über dem ersetzten Text, unter ihm oder am Rand erfolgt? Stehen etwa Korrekturen aus späterer Zeit generell am Rand? Läßt sich hierüber etwas aussagen, so kann das in der Edition vermerkt werden. Immer werden Abweichungen von einem Grundkorrekturschema die erhöhte Aufmerksamkeit des Bearbeiters herausfordern, und er wird sie sich erklären müssen, da sie Hinweise auf die relative Chronologie geben können. Auch sind die psychologisch aufschlußreich und damit für die Interpretation, die Erfassung der geistigen Struktur eines Dichters wertvoll (etwa starkes Formgefühl oder legere Handhabung). Weiterhin kann nicht bestritten werden, daß es bei einem Dichter sehr unterschiedliche Überlieferungsformen der einzelnen Werke geben wird. Eine Darstellungsweise muß so variabel sein, daß mit den entsprechenden Erläuterungen im Kopf des Apparates die besonderen Verhältnisse der Werküberlieferung im Rahmen des für die Edition erarbeiteten Verfahrens erfaßt werden können. ———— 13 14 15

Vgl. z. B. Killys Vorschläge zur Lesartendarbietung, a. a. O. [in: Euphorion 53 (1959).] Wie eingangs schon bemerkt, verzichtet deshalb Zäch in den von ihm bearbeiteten Prosabänden der C. F. Meyer-Ausgabe auf differenzierte Angaben über Ort und Art der Korrektur. Allemann, a. a. O. [Beda Allemann: Bespr. der Hölderlin-Ausgabe. In: Anzeiger für Deutsches Altertum, 69 (1956), S. 77–82], speziell S. 78.

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Dietrich Germann

Es gibt also nicht nur Arten von Ausgaben (populäre, wissenschaftliche, historischkritische), nach denen Witkowski sein Buch „Textkritik und Editionstechnik neuerer Schriftwerke“16 aufbaut und nach denen er Editionsgrundsätze festlegt und nicht nur, wie Windfuhr richtig bemerkt, Arten von Dichtern,17 sondern auch Arten der Werküberlieferung und unterschiedliche Korrekturweisen. Bei den einzelnen Autoren können aber auch die Möglichkeiten, die Handschriften zu erfassen bzw. die mehr oder weniger starke Konzentration der Überlieferungsträger in Archiven etc. sehr unterschiedlich sein. Diese bekannte Tatsache führt uns wieder auf das Problem der Rekonstruierbarkeit von Handschriften zurück. Man kann, nach alledem, was dazu gesagt worden ist, die Überlegungen mit der schon fast banalen Feststellung beschließen, es sei die Aufgabe der Lesartenverzeichnung, die Gegebenheiten der Textüberlieferung und damit die philologisch greifbaren Gestaltstufen eines Werkes in historisch-genetischer Weise leicht überschaubar darzulegen. Wen mehr interessiert, der muß selbst die Handschrift einsehen oder sich notfalls18 eine Fotokopie (Faksimile) beschaffen. Jedoch gibt es besondere Fälle, wo beides nicht möglich ist, auch dann nicht, wenn von allen zugänglichen Handschriften an einer zentralen Stelle – für die HeineSäkularausgabe ist es die Fotothek der Weimarer Redaktion – Fotokopien gesammelt worden sind. Handschriften bei Auktionatoren können grundsätzlich nicht fotokopiert werden, desgleichen zuweilen Manuskripte im Privatbesitz. Nicht selten ist auch die Tatsache, daß die Einsicht personengebunden ist und einem interessierten Benutzer der Ausgabe verweigert werden kann. Hinzu kommt der Umstand, daß Autographen im Privatbesitz ihren Besitzer schnell und häufig wechseln und damit aus dem Gesichtskreis verschwinden können. Ebenfalls wird der Name der Ersteigerer bei Auktionen vom Händler grundsätzlich nicht genannt. Damit können Handschriften vielleicht für immer untertauchen und sind jedenfalls einem Benutzer, dem etwa Lesungen des Editors oder seine Wiedergabe Bedenken erregen, die er durch Autopsie stützen möchte, unzugänglich. In solchen Fällen und nur in solchen erscheint eine Rekonstruierbarkeit diskutabel zu sein, vorausgesetzt, daß sie darstellungsmäßig möglich und auf Grund der Problematik notwendig ist. Es wird dies gesagt trotz der Einschränkungen und Bedenken, die gegen die Möglichkeit der Wiederherstellbarkeit vom Verf. selbst vorgebracht worden sind, wobei auch zunächst nur an die Grund————

16 17 18

S. Anm. 2. Vgl. Windfuhr, a. a. O. Dieses ,,notfalls“ sei betont im Hinblick auf das über den Wert einer Fotokopie im ersten Teil des Beitrages Gesagte (s. S. 4 [sic]). Bei den Vorbereitungsarbeiten für die Heine-Ausgabe haben wir von Handschriften mit stark korrigierten Textstellen verschiedene Arten von Fotokopien anfertigen lassen. Es war niemals möglich, aus ihnen die Schichtung an schwierigen Stellen sicher zu ermitteln. Hinzu kommt, daß das Schreibmaterial in der Fotokopie nicht erkennbar ist. Daß dies nicht nur für Heine gilt, wurde dem Verf. kürzlich an einer Hölderlinhandschrift und deren originalgroßer fotographischer Wiedergabe – es handelt sich um die erneut von Allemann in die Diskussion gezogene Textstelle der „Friedensfeier“, V. 57 f. – erneut bestätigt. (Vgl. auch Beißner, a. a. O., S. 17–19). In solchen Fällen kann wohl nur die noch sehr wenig verwendete Ultraviolettfotographie bessere Handhaben geben. Für den Editor ist also die Autopsie einer Handschrift letztlich durch nichts zu ersetzen.

Zu Fragen der Darbietung von Lesarten

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struktur der Handschrift gedacht ist. Noch günstiger scheint es freilich in solchen Fällen zu sein, daß der Bearbeiter oder derjenige, der die Handschrift einsehen konnte, von den Texten, bei denen die Korrespondenz von Lesarten und die relative Chronologie nicht sicher ist, eine schriftbildgenaue Abschrift (Faksimile) anfertigt und sie einem öffentlichen Archiv übergibt, in dem der interessierte Forscher sie einsehen oder für sich fotokopieren lassen kann. Wenn wir also den Forderungen Zellers bei aller Anerkennung der verantwortungsbewußten Haltung, auf der sie basieren, grundsätzlich nicht beistimmen können, so gilt diese Ablehnung nur – worauf bereits im ersten Teil des Beitrages hingewiesen wurde – für die Verzeichnung von Lesarten bei mehrfach geschichteten Textstellen. Hier ist die Angabe über Art und Ort der Korrektur generell nicht erforderlich, da durch die Anordnungsweise und gegebenenfalls die Schichtensiglen die relative Chronologie der Verbesserungen, die Folge der Schriften und damit die Gestaltstufen der Textstelle deutlich erkennbar sind. Einzelwort- (bzw. -wörter-)Korrekturen, die eine Handschrift bietet, werden jedoch in der üblichen Weise (bei einem lemmatisierten Apparat) mit Lemma (Stützwort) und Lemmaklammer angeführt. Aus dieser schematischen Art der Verzeichnung geht aber nur hervor, daß der nach der Lemmaklammer stehende Text der zeitlich frühere ist und durch den endgültigen, als Stützwort wiederholten ersetzt wurde. Einzelverbesserungen können jedoch auf der Zeile (adZ), über der Zeile (üdZ) oder an anderer Stelle des Blattes stehen. Je nach dem Grundkorrekturschema, dessen Bedeutung und Aussagekraft schon unterstrichen wurde, läßt der Ort der Verbesserung ebenso wie die Art und gegebenenfalls das Schreibmittel Rückschlüsse zu auf den relativen Zeitpunkt der Korrektur, steht etwa eine Verbesserung auf der Zeile, so ist im allgemeinen, zumindestens aber bei Heine, entsprechend seinem Grundkorrekturschema, daraus der Schluß zu ziehen, es handele sich um eine Sofort- (Erst-)Korrektur, die im Zuge der Niederschrift erfolgt sei. Steht der Ersatztext über der Zeile oder an anderer Stelle, liegt eine Rasur oder Überschreibung vor, dann läßt dies meist den Schluß zu – es ist dies selbstverständlich bei jedem Dichter und in jedem Fall zu prüfen –, es handele sich um eine Zweit- oder auch um eine Spätkorrektur. Unterläßt man es also, bei Einzelverbesserungen nähere Angaben zu machen, so ist der Benutzer nicht in der Lage, die relative Chronologie zu erkennen, was den Interpreten zu folgenschweren Fehlschlüssen verleiten kann. Wie die Darstellung der Einzelkorrekturen zu denken ist, geht bereits aus der sinngemäßen Anwendung der Siglen in den von uns eingangs vorgeschlagenen Lösungsversuchen hervor, ist aber auch aus Beißners Editionen zu ersehen. Jedoch kann man selbst bei den neueren, jetzt noch nicht abgeschlossenen Ausgaben davon sprechen, daß hier nicht einheitlich verfahren wurde, obwohl dies bei Einzelkorrekturen im Gegensatz zur Darstellung stark geschichteter Stellen m. E. möglich wäre, ebenso wie eine Einigung auf dem Gebiet der Siglen und textkritischen Zeichen nicht nur möglich wäre, sondern notwendig ist. Wortlesarten, die im Zuge der Niederschrift erfolgen, werden in der HeineAusgabe nicht besonders bezeichnet, dagegen Einzelkorrekturen an anderer Stelle.

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Dietrich Germann

M. E. bezwecken weder bei Beißner – obwohl er dies nicht betont – noch bei anderen Editionen die Angaben über Ort und Art der Korrektur etwas anderes als die Verdeutlichung, ja überhaupt erst die Sichtbarmachung der aus dem graphischen Befund ablesbaren relativen Zeitfolge. Es liegt der Verzeichnung dieser Angaben primär bestimmt nicht der Gedanke an eine Wiederherstellbarkeit des Schriftbildes der Handschrift durch den Leser zugrunde. Zum Abschluß seien noch einige Bemerkungen über den Wert der Handschriften nach Abschluß einer historisch-kritischen Ausgabe gestattet. Eine historisch-kritische Edition ist, ich wiederhole den einleitenden Gedanken, eine Gesamtdokumentation, die alles vom Dichter stammende (und auch bestimmte Äußerungen über ihn) einerseits konserviert, andererseits vervielfältigt und allgemein zugänglich macht. Dies geschieht insgesamt wie beim einzelnen Werk nach bestimmten Ordnungsgesichtspunkten. Im Hinblick auf den Charakter der Überlieferung der Werke neuerer Dichter ist diese Ordnung, speziell der einzelnen Fassungen, der nicht zum Druck beförderten Vorarbeiten etc. eine historisch-genetische. Dargeboten werden in dieser Ordnung unter anderen – in extenso oder als Lesarten – die Autographen des Dichters. Bei einer Handschrift hat der Editor, wie wir sehen, nicht den graphischen Befund, auch nicht nur den Textbefund (wie bei einem Druck), sondern den diplomatischen Befund zu konservieren. Das heißt, die Handschrift muß als philologisch-linguistische Quelle ausgeschöpft werden. Mehr ist nicht notwendig, aber ein Weniger käme einer Nichterfüllung der Aufgaben historisch-kritischer Ausgaben und der Anforderung, die die Forschung an sie stellt und stellen muß, gleich. Aber auch wenn die Handschrift als Quelle ausgeschöpft ist, und dann nur noch einen Wert als Forschungsgegenstand für Gelehrte anderer Disziplinen besitzt, so ist sie doch selbst für den Philologen nicht wertlos geworden. Sie wird bei jeder Meinungsdifferenz, die über eine Lesung einer chronologisch oder inhaltlichen Zuordnung auch über die zeitliche Folge mehrerer Handschriften – hier bietet besonders das Papier, das Schreibmaterial und der Duktus wichtige Kriterien – immer die letzte Instanz sein, die befragt werden kann und die die letzte entscheidende Antwort bietet.

Hans Werner Seiffert

Hans Werner Seiffert

Untersuchungen zur Methode der Herausgabe deutscher Texte (1963) Untersuchungen zur Methode der Herausgabe deutscher Texte

Inhalt Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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I. Probleme der Überlieferung . . . . . . . . . . A. Allgemeines . . . . . . . . . . . . . . . . . . B. Neuere Literatur (Handschriften) . . . . C. Neuere Literatur (Drucke). . . . . . . . . D. Neuere Literatur (Phono-Aufnahmen). E. Mittelalterliche Überlieferung . . . . . .

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II. Textveränderungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . A. Allgemeines . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . B. Arten der Varianten . . . . . . . . . . . . . . . . . . C. Schichtungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . D. Fehlerquellen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . E. Untersuchungen zur genealogischen Methode

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III. Stemmatische Fragen . . . . . . . . . . . A. Stemmatische Typen . . . . . . . . . B. Das Problem der Mehrspaltigkeit . C. Andere Schemata . . . . . . . . . . .

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IV. Fragen der Textkonstitution . A. Revision oder Rezension B. Interpunktion . . . . . . . . C. Zusammenfassung . . . . . D. Anhang . . . . . . . . . . . .

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V. Probleme einzelner Methoden. . . . . . . . . . . . . . . . . . A. Die historische (genealogische) Methode. . . . . . . . B. Auswahlapparate. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . C. Descriptiv-genetische Methode . . . . . . . . . . . . . . D. Das genetische Verfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . E. Autorenapparat . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . F. Die handschriftengetreue Wiedergabe (Diplomatik) G. Die genetische Textsynopsis . . . . . . . . . . . . . . . .

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Abschließende Bemerkungen (Empfehlungen) . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Abkürzungen in den Literaturangaben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

209

Register . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

212

[251]

[…]

I.

Probleme der Überlieferung

A.

Allgemeines

Weithin scheint die Anschauung verbreitet, daß es ein müheloseres Unterfangen sei, einen Text neuerer Zeit kritisch herauszugeben, als einen Text der älteren Epoche. Diese Meinung kann heute nicht mehr unangefochten gelten. Es zeigt sich, daß eine beliebige reich überlieferte neuere deutsche Dichtung an den Editor in philologischer und interpretatorischer Hinsicht mindestens ebenso große Anforderungen stellt, wie ein bedeutendes Werk der mittelalterlichen Zeit. Unter dem Gesichtspunkt „welches ist der vom Autor gewünschte und als verbindlich erklärte Text“ darf (trotz aller sich bietenden Probleme) behauptet werden, daß beispielsweise die Schwierigkeit, den Text Otfrieds herzustellen, methodisch gesehen nicht größer ist, als etwa aus einem vielfach überlieferten Goethe-Text den Autorwillen zweifelsfrei zu erkennen. Mit anderen Worten: der Grad der allgemeinen Schwierigkeit hängt vornehmlich davon ab, ob mit einer eindeutigen Zustimmung eines Autors zu seinem Text (Autorisation) gerechnet werden darf oder nicht. Während die mittelalterliche Zeit im allgemeinen dieser Autorisation entbehrt, bietet sie sich in der neueren in vielfältiger Form, aber auch als „Pseudo-Autorisation“ an. Selbst eigenhändig vorliegende Niederschriften, wie das gut überlieferte Werk Hölderlins, entbehren oft der letztwilligen Autorisation. Aber auch die im gleichen Zeitraum viermal hergestellte und viermal autorisierte Gesamtausgabe der Werke Wielands bietet der Varianten genug, die mancherlei Fragen mit sich bringen, wie sie eine Reihe gut überlieferter mittelalterlicher Handschriften nicht kennt. Und endlich, um mit einem letzten Beispiel, das was gemeint ist, einleitend abzurunden: wenn etwa ein verworfener Bogen der Erstausgabe von Schillers „Die Räuber“ noch Julius Petersen veranlaßt, diese Ausgabe für die eigentlich zweite Auflage zu halten,1 so zeigt das, welche Unsicherheit auch bei Literarhistorikern der neueren Abteilung noch in der Frage nach dem ,,Archetypus“ bestehen kann. Überhaupt wird sich das spezielle Anliegen darauf richten müssen, diesem „Archetypus“ möglichst nahe zu kommen. Es ist also nötig, zunächst zu erklären, was darunter zu verstehen ist. Bei dem auch heute noch allgemeinen Vorherrschen der genealogischen Methode (vgl. S. 119 ff.) darf als allgemein bekannt vorausgesetzt werden, daß diese nach einem bestimmten Verfahren durch eine Anzahl gegebener Textzeu———— 1

Vgl. Herbert Stubenrauch in: Schiller-Nat.Ausg. Bd. 3, Weimar 1953, S. 346.

Untersuchungen zur Methode der Herausgabe deutscher Texte

245

gen den Archetypus (α) für erschließbar hält. Dieser kann (im idealen Falle) mit dem Original (O) zusammenfallen. Wie eben das Beispiel Schiller zeigte, werden hier aber schon Divergenzen angedeutet, die der Klärung bedürfen. Es wird sich erweisen, ob die noch heute überwiegende Meinung aufrechterhalten werden darf, daß dieser Archetypus erschlossen werden kann; es wird sich auch erweisen, ob aus der Überlieferung neuerer Dichter Folgerungen abgeleitet werden können, die Aufschlüsse hinsichtlich des methodischen Verfahrens bei mittelalterlicher Überlieferung bringen. Zweckmäßigerweise wird sich daher die Untersuchung zunächst diesem neueren Problemkreis zuwenden. […]

II.

Textveränderungen

A.

Allgemeines

Friedrich Beißner hat in seinem Aufsatz2 auf den wichtigen Unterschied zwischen Entstehungsvarianten und Überlieferungsvarianten aufmerksam gemacht. Damit wird ein Fragenkreis angeschnitten, der in ganz besonderer Weise den Unterschied zwischen autorisierter und fremder Überlieferung erhellt. Man hat schon vor Beißner geglaubt,3 von dieser Problemstellung aus das Trennende zwischen der Methode der klassischen Philologie und der neueren Philologie deutlich erfassen zu können. Solange man unter der klassisch-philologischen Methode im allgemeinen die genealogische versteht, muß gezeigt werden, daß dieses Trennende zwar sehr wesentlich, aber noch nicht entscheidend ist. Denn daß für den klassisch-philologischen Raum auch mit autoreigenen Textänderungen (z. B. Ersetzungen oder Interpolationen) gerechnet werden muß, ist wohlbekannt und jedem Novizen der Altertumswissenschaft mindestens seit Otto Immischs Einleitung4 geläufig. Daß dennoch in den Apparaten dieser Disziplin ausschließlich Überlieferungsvarianten gesammelt wurden, die vorwiegend den gewonnenen Text zu rechtfertigen hatten, liegt nicht allein am völligen Mangel an Entstehungsvarianten, sondern an der Methode selbst. Wenn auch nur als einen Nebenzweck, so anerkennt Beißner doch grundsätzlich auch für das Gebiet der neueren Literatur die Funktion der Überlieferungsvarianten als Nachweis für die Textkonstitution. Mit vollem Rechte schränkt er allerdings die Zahl der in diesen Bereich gehörenden Lesarten ein: Textverderbnisse in den nicht autorisierten späteren Drucken rechnen nicht zu ihnen, denn sie ergeben für die neuere Philologie keine Textgeschichte. Entscheidendes Kriterium ist es, ob eine Variante auf die „autorisierte Textgeschichte“ Einfluß gewonnen hat oder nicht. ———— 2

3 4

Vgl. S. 22, Anm. 1 (1958) [Einige Bemerkungen über den Lesartenapparat neuerer Dichter. In: Orbis Litterarum, Suppl. 2, 1958]. Vgl. R. Backmann in Euphorion 25 (1924), S. 630. Wie studiert man klassische Philologie? Stuttgart 21920.

246

Hans Werner Seiffert

Postume Überlieferungsvarianten (oder, wie sie Beißner auch nennt, Varianten des altphilologischen Typus) scheiden demzufolge grundsätzlich aus. Damit ist gegenüber der klassischen Philologie die Zahl der zu berücksichtigenden Varianten zunächst eingeschränkt. Hingegen nehmen einen weit umfangreicheren Raum die vor Beißner wenig beachteten Entstehungsvarianten ein. Von dem Goethe-Wort ausgehend, daß man Natur- und Kunstwerke nicht kennenlerne, wenn sie fertig sind, daß man sie vielmehr im Entstehen aufhaschen müsse, um sie einigermaßen zu begreifen,5 wird der Sinn deutlich, den Beißner diesem Typus verleiht. Mit diesem Festhalten in der Zeit ergibt sich aber gleichzeitig auch die Frage, ob die beiden Arten: Überlieferungs- und Entstehungsvarianten Genügendes für die Zahl der anstehenden Möglichkeiten aussagen. Es ist zunächst festzulegen, was Beißner unter „Entstehung“ verstanden wissen will. Leider hat er den Begriff nicht definiert. Aus der Art der von ihm gebotenen Beispiele läßt sich aber unschwer schließen, daß er vornehmlich an die Vorgänge bei der Niederschrift handschriftlicher Zeugen denkt. Kein einziger der von ihm demonstrierten Fälle entstammt einem Druck. So drängt sich also die Frage auf: Können Entstehungsvarianten nur in Handschriften vorkommen? Ist also Entstehung derart zu begreifen, daß man bei der Auswahl der zur Verfügung stehenden Varianten mit Beißner sagen kann: „Die ursprüngliche [Lesart] ist doch gedichtet, sie ist einer schöpferischen Stimmung entsprungen. Die neue aber, die ein schematisch verfahrender Editor als die letzte und vom Dichter ja auch ausdrücklich eingesetzte in seinen Text aufnehmen würde, ist eben doch nur – eingesetzt, nicht schöpferisch konzipiert.“6 Entstehung also, als schöpferischer Akt verstanden, setzt sogleich gewichtige Akzente im Hinblick auf die Weiterentwicklung des Textes durch den Dichter. Es werden damit Fragen aufgeworfen, die in einem anderen Zusammenhang zu erörtern sind (vgl. Textkonstitution, S. 93 ff.). Beißner hat, wie auch das wesentlichste seiner Beispiele zeigt, die Entstehung Hölderlinscher Versgebilde im Sinne gehabt. Ob aber dann der eben zitierte Satz seine Berechtigung behält, wenn man schon in diesem (man ist geneigt zu sagen) Sonderfall fragen muß: Ist die Umgestaltung der Versgebilde, sind die Variantenknäuel, die eine Lesart7 auslösen kann, noch schöpferische Stimmung? Man wird das etwa für die Hölderlinschen Keimworte, wie Beißner früher einmal (wohl im Anschluß an Hellingrath, vgl. S. 122 f.) diese Situation treffend genannt hat, akzeptieren können; fragwürdig wird es dann, wenn die Variantenberge über einem Worte oder darunter zunehmen. Zweifellos ist dieses Tasten nach der dem Kontext – vom subjektiven Empfinden des Dichters aus – gerechten Nuancierung einer Bedeutung nicht mehr dem Akte der Schöpfung, sondern bereits der zweiten Phase zuzuordnen, in der er behutsam wägt und feilt. In dieser Phase, die sich über manche „Zwischen“-Ausgabe bis zur Ausgabe letzter Hand erstrecken kann, ist er auch durchaus fremder Anregung ———— 5 6 7

Goethe an Zelter, am 4. 8. 1803 (mehrfach von Beißner in verschiedenen Arbeiten zitiert). A. a. O., S. 8 f. Besser: eine Schreibung, ein Gedanke.

Untersuchungen zur Methode der Herausgabe deutscher Texte

247

oder gar Varianten von fremder Hand zugänglich. Können solche Eingriffe (die auch in der Phase der Entstehung möglich sind) damit abgetan werden, daß sie als nicht mehr schöpferisch weniger von Bedeutung seien und daher den Überlieferungsvarianten gleichgestellt werden sollten? Einige Beispiele mögen das verdeutlichen: […] Keine der von uns hier angemerkten Variationen eines Textes kann eindeutig einer der beiden Variantengruppen Beißners eingereiht werden, am ehesten noch Meyers „Entstehungsvarianten“, aber auch hier muß sogleich eingeschränkt werden, daß sie nicht eindeutig chronologisiert werden können. In den Fällen 2–5 lag das betreffende Werk ohnehin „fertig“ vor, ehe eingegriffen wurde. Offenbar sind die Begriffe „Entstehung“ und „Überlieferung“ in Verbindung mit dem Begriff „Variante“ nicht geeignet, den Sachverhalt genügend auszudrücken, schon deshalb nicht, weil Entstehungsvarianten auch überliefert sind. Es bietet sich also von selbst an, die Frage von einem anderen Ausgangspunkt her zu stellen: Handelt es sich um vom Autor gewollte oder um nicht gewollte Veränderungen seines Textes?

B.

Arten der Varianten

Es sind danach zu unterscheiden: 1.

Autorvarianten8

Hierunter fallen alle Abweichungen, die nachweisbar vom Autor selbst veranlaßt worden sind, gleichgültig ob sie a) in eine eigenhändige Niederschrift, b) in eine nicht-eigenhändige Niederschrift oder in einen Druck eingetragen worden sind. Zu a) Mit eigener Hand trägt der Autor in seine Niederschrift die Abweichungen ein. Das kann geschehen α) in der Phase der Entstehung: Beispiel: vgl. Entwurf von Hölderlin, n. S. 124, Wieland, n. S. 178, Fontane, n. S. 174, β) zu einem beliebigen späteren Termin, der jedoch dem beabsichtigten Druck voraus liegt: Beispiel: vgl. C. F. Meyer, a. a. O. Alle diese Abweichungen können entweder als Sofortvariante ———— 8

Die hier verwendeten Begriffe wurden in diesem Sinne von mir erstmalig in meinem Vortrag in der Universität Bonn gebraucht, vgl. S. 8, Anm. 2 [Vortrag „Interpretation und Textkritik“, gehalten an der Universität Bonn am 2. 2. 1960].

248

Hans Werner Seiffert

Beispiel: Grillparzer, Die Ahnfrau, nach V. 627: 〈Graf〉 Jaromir hebt das Haupt und steht auf oder als Spätvariante Beispiel: ebenda, V. 511 f.: über: 〈Sie vermag nur vorzusehen / Abzuhelfen aber nicht〉 Denn sie kann’s nur vorhersehen / Ab es wenden kann sie nicht! erfolgt sein. Vgl. hierüber: Schichtung. Zu b) Autoreigene Einträge in nicht-eigenhändige Niederschriften oder Drucke können dann problematisch sein, wenn die Autorvariante (Eigenvariante) ausgelöst wurde durch eine autorfremde Variante (Fremdvariante); (vgl. S. 43 [S. 248] unter 2 und 3). Über die Schwierigkeiten des Herausgebers, welche Schreibung in den Text gesetzt werden soll: α) die ursprüngliche, β) die autorfremde, γ) die Autorvariante, vgl. Textkonstitution. 2.

Autorisierte Varianten

Sie nehmen eine besondere Stellung ein. Es handelt sich hier um die Fälle, die bereits in den Beispielen S. 40 f. gekennzeichnet sind. Sie treten voll für eine Autorvariante ein: Der Vorschlag eines anderen löst entweder die Variante aus (insofern Berührung mit 1. Zu b), oder eine autorfremde Variante wird anstelle des eigenen Textes angenommen (autorisiert). Es kann nicht ausgeschlossen werden, daß Varianten, die nicht nachweisbar zur ersten Gruppe gehören, dennoch als autorisiert gelten können, wenn sie nicht nachweisbar fehlerhaft in einem vom Autor gebilligten Textzeugen zu finden sind (vgl. V. d. Hellen, „aktive und passive Autorisation“, S. 96). Wie überaus schwierig aber gerade in diesen Fällen die Entscheidung ist, zeigen vor allem auch die Varianten der Doppeldrucke. 3.

Fremdvarianten (autorfremde Varianten)

Sie können mannigfaltige Ursachen haben: a) ungewollte Textveränderungen: α) Schreib- oder Druckfehler aus mechanischem Anlaß, β) Schreib- oder Druckfehler durch Fehlleistungen; b) gewollte Textveränderungen: α) im Auftrage des Autors werden entweder als Besserung akzeptiert und damit als „autorisierte Varianten“ bewertet oder bleiben als Vorschlag unbeachtet (vgl. S. 41), β) auf Veranlassung des Text-Herstellers (Schreiber oder Drucker), vgl. S. 57, oder seines Auftraggebers (Faktor), γ) Bearbeitungen oder Überarbeitungen.

Untersuchungen zur Methode der Herausgabe deutscher Texte

4.

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Variante und Korrektur

Aus dem Dargelegten ergibt sich die Empfehlung, als „Variante“ nur die Textänderung zu verstehen, bei der es sich um die Vorgänge der Textersetzung (Substitution), des Textzusatzes (Interpolation), um Textumstellungen und Tilgungen nicht korrupter Textstücke handelt. Entscheidend ist die Funktion der Variante: sie bildet den Text fort, gleichgültig, ob es sich um autoreigene oder fremde Weiterentwicklung des Textes handelt. Im Unterschied zur Variante sollte als Korrektur grundsätzlich die Richtigstellung eines durch Korruptelen verderbten Textes verstanden werden. Diese Richtigstellung kann bis in orthographische Fragen hineinführen. Offensichtlich ist es für die Textgeschichte wichtiger zu unterscheiden zwischen einer varianten Stelle: Wonach sich Liebchen sehnet > Worauf die Mädchen lauern (Goethe, Vier Gnaden, vgl. S. 153 f.) und orthographischen Korrekturen, die für den Sinngehalt oder die Lautgestalt des Gedichtes ohne Belang sind: Ein Schwerdt, das tüchtiger beschützt Ein Schwert, … Ein Schwerdt … Ein Schwerd, … Ein Schwert, … (ebenda). Eine solche Unterscheidung hat für die Darbietung im Apparat grundlegende Bedeutung und ist schon von Lachmann verlangt worden (vgl. S. 120). Da alle diese Folgerungen aus Textveränderungen neuerer Literatur gewonnen wurden, ist zu fragen, ob methodische Anregungen daraus auch für die ältere zu erwarten sind. […]

IV. Fragen der Textkonstitution […] C.

Zusammenfassung

Fassen wir also grundsätzlich zusammen, so ergibt sich hinsichtlich der Frage, die eingangs aufgeworfen wurde, „Rezension oder Revision“ folgendes: 1. Bei autorisierter Überlieferung genügt die Herstellung des Textes nach dem Kanon der genealogischen Methode: Rezension (Examinatio), Emendation nicht. Grundsätzlich sind selbstverständlich alle Zeugen zu mustern und zunächst

250 a) b)

Hans Werner Seiffert

der Grad ihrer Autorisation, dann der Grad ihrer Verderbnis (Fremdvarianten, Fehler) festzustellen. 2. Im einzelnen muß bei der Textgestaltung folgendes beachtet werden: a) Herausgabe aus dem Nachlaß α) Bei Vorlage einer eigenhändigen Niederschrift ist diese in einer Weise wiederzugeben, daß Zweifel über den Willen des Autors ausgeschlossen sind (vgl. S. 98 ff.). β) Bei Vorlage mehrerer eigenhändiger Niederschriften, die Entwurfscharakter haben, müssen diese nach Lage des Einzelfalles entweder in paralleler Fassung dargestellt werden, oder es ist die wahrscheinliche Letztfassung mit besonderer Hervorhebung in ihrem Verhältnis zu den anderen Fassungen in geeigneter Weise (vgl. S. 99 ff.) darzubieten. b) Herausgabe autorisierter Werke Kein Druck darf in der ihm vom Autor verliehenen Gestalt eine Textveränderung erfahren. Ausnahmen von dieser Grundregel sind nur zulässig, wenn der Text durch besondere Umstände, die dem Autor selbst nicht durchsichtig gewesen sind, schon eine Veränderung erfahren hat, die wieder rückgängig gemacht werden muß. Hierunter zählen vor allem Setzerversehen oder Setzereigentümlichkeiten bei Doppel- oder Nachdrucken (vgl. S. 19 ff.). Unter Heranziehung aller Textzeugen (vgl. 1.) dürfen Eingriffe nur im Sinne einer Textrevision geschehen. Der Herausgeber hat sich als der vom Dichter Beauftragte zu fühlen und in jedem Falle seinen Willen zu respektieren. 3. Niemals darf ein Text hergestellt werden, den es bisher noch nicht gegeben hat (den der Dichter selbst nicht kannte). Daher sind Kontaminationen unbedingt zu vermeiden. 4. Der Herausgeber hat unter dieser Vorbedingung allerdings freie Hand, ob er die Erstausgabe oder eine spätere herausgeben will. Hier wird ihn ein literarhistorisches Verantwortungsgefühl leiten müssen. Der echte Philologe wird sich durch das Geschäft einer „Textrevision“ (wie wir sie mit unseren Darlegungen verstanden wissen wollen) nicht entehrt fühlen. 5. In Fragen der Interpunktion sollte keinesfalls nach einem bestimmten Prinzip der Normierung, auch wenn es scheinbar nach des Autors Willen als kanonisch angesehen werden könnte (vgl. Goethe-Göttling), verfahren werden. Zurückhaltung ist hier angebrachter als abenteuerliche Reisen über Kommafelder. 6. Überhaupt soll der Hang zum Normalisieren zurücktreten; vieles Echte ist im Suchen nach dem Besseren durch das Bessern verschüttet worden. Keinesfalls sollte für eine historisch-kritische Ausgabe ein Text der Klassiker in modernem Gewande erscheinen. […]

Untersuchungen zur Methode der Herausgabe deutscher Texte

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V. Probleme einzelner Methoden (besonders ihrer Apparatgestaltung) […] Abschließende Bemerkungen (Empfehlungen) Nach dem in unserer Arbeit Dargelegten werden folgende Empfehlungen gegeben: 1. Künftige textkritische Untersuchungen sollten den Text unter genauer Beobachtung der autorisierten Überlieferung herstellen. Dabei können die hier angeregten Fehlersonderungen beachtet werden. 2. Es ist dabei auf die Gepflogenheiten der Verlage zu achten, soweit es sich um Drukke handelt, oder bei mittelalterlicher Tradition (wenn bekannt) auf die Eigenheiten der Schreibstuben. 3. Danach sind (in behutsamer Weise) Autor- und Fremdvarianten voneinander zu sondern. 4. Aus der Ablehnung des (starren) genealogischen Prinzips folgt die bloß hypothetische Funktion der Stemmata, die nur bei lückenlos nachprüfbarer Überlieferung den Charakter eines Nachweises haben können. 5. Die Textgestaltung erfolgt auf Grund der gesamten Überlieferung als vorsichtig zurückhaltende Revision. Keinesfalls darf der Herausgeber Kontaminationen verschulden. 6. Im Interesse einer zu erstrebenden Vereinheitlichung sollten die empfohlenen Siglen und diakritischen Zeichen anerkannt werden. 7. In den Lesartenapparat werden nur die Varianten aufgenommen, die eine Fortbildung des Textes widerspiegeln. Wenn Fremdvarianten ausgesondert werden konnten, sind sie in der Art, wie bisher Konjekturen verzeichnet wurden (als zweiter Apparat), anzufügen. 8. Sekundäres (Orthographie, Interpunktion, soweit diese nicht wesentlich für den Sinngehalt ist) wird generell außerhalb des Apparates gesammelt. Das gilt insbesondere für Verschreibungen, soweit durch diese nicht „genetische Assoziationen“ nachgewiesen werden können, die für die Richtung des Denkvorganges wesentlich sind. 9. Textkritische Erläuterungen geben notfalls Rechenschaft über Entscheidungen des Herausgebers. 10. Für die Darstellung schwieriger Schichtungen (oder Fassungen) scheint sich das genetisch-synoptische Prinzip am ehesten zu empfehlen. Dennoch bleibt Grundsatz: über die anzuwendende Methode entscheidet der Sachverhalt der Überlieferung. Das gilt insbesondere für das „Auswahlprinzip“. 11. Bei geeigneter Überlieferung sollte man von „schönen Ausgaben“ absehen und sich für die „Studienausgabe“ entscheiden, die sachgerecht (diplomatisch-synoptisch) dem Fachgenossen das Material aufbereitet. […]

Friedrich Beißner

Friedrich Beißner

Editionsmethoden der neueren deutschen Philologie (1964) Editionsmethoden der neueren deutschen Philologie

„Herausgeben und Erklären“ – das seien, so schrieb Wilhelm Scherer1 Jahr im 1877, die „elementaren philologischen Tätigkeiten“, und sie sind es wohl heutzutage noch, nur daß sie anders ausgeübt werden. Für die beiden „Tätigkeiten“ galten aber seit den Anfängen unsrer noch nicht sehr alten Disziplin unterschiedliche Vorbilder. Soweit es darum ging, neuere Dichtung zu erklären, ließ man sich nicht so sehr von der in Jahrhunderten bewährten Methode der Philologie anregen – der Philologie: darunter verstand man damals noch allein die griechisch-lateinische Philologie – wie von der Philosophie. Das ist allgemein bekannt und geistesgeschichtlich wohl begründet. Der Wechsel der Fragerichtungen und Verfahrensweisen auf diesem Teilgebiet vollzog sich dann auch zumeist im Gleichlauf mit der weiteren Entwicklung des anregenden und maßgebenden Faches. Literaturgeschichte wurde vornehmlich als Problemgeschichte2 aufgefaßt. Für die herausgebende Tätigkeit bot dem Germanisten selbstverständlich die Philologie (die alte Philologie) das Muster. Soweit es sich um die Edition mittelalterlicher Texte handelt, war und ist die altphilologische Methode richtig und angemessen. Der Herausgeber hat es hier wie dort mit einer vielspältig abgeleiteten Überlieferung zu tun, mit Abschriften von Abschriften, deren mehr oder weniger verderbter Wortlaut gereinigt und dem ursprünglichen Zustand durch kritisch abwägende Musterung nach Möglichkeit nähergebracht werden muß. Immerhin folgte die junge Germanistik der alten Lehrmeisterin nicht blindlings: nach einem Verdienst, um das es ihm zu tun sei, strebte Lachmann (wie er am 24. Januar 1821 Jacob Grimm brieflich bekennt): „strenge und verständige Kritik, von der auch die Filologen fast nichts wissen, nicht Wolf, nicht Porson, in die Ausgaben Altdeutscher Werke einzuführen“ – „die Filologen“: das waren also auch für ihn die Altphilologen. Sein Ziel aber war es, durch differenzierende Erweiterung vor allem der Recensio die altphilologische Editionsmethode noch mehr zu objektivieren. Und er trug kein Bedenken, die also gestraffte altphilologische Methode bei der Edition auch neudeutscher Texte anzuwenden. Er sah den grundsätzlichen Unterschied nicht, und seine Ausgabe der Schriften Lessings (1838–40) wurde das Modell für eine lange Reihe „historisch-kritischer Ausgaben“. Da traten nun postume Drucke, auf die der Dichter also keinen Einfluß mehr gehabt ———— 1 2

Aufsätze über Goethe, 2. Aufl., Berlin 1900, S. 10, in dem Aufsatz über „Goethe-Philologie“. Vgl. Rudolf Unger: Literaturgeschichte als Problemgeschichte, Berlin 1924 (wiederabgedruckt in den Gesammelten Studien, Berlin 1929, Bd. I).

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hatte, an die Stelle der Codices in der Überlieferung antiker und mittelalterlicher Schriften, und am Ende der emsigen Bemühung, die aus lauter Druckfehlern und normierenden Änderungen der Orthographie und Interpunktion nun eine „Textgeschichte“ altphilologischer Observanz zu erarbeiten vermeinte, stand doch nicht eigentlich der gereinigte Text: der stand ja, in dem autorisierten Druck der endgültigen Fassung, schon am Beginn, und in einem Grade der Reinheit und Authentizität, wie ihn die schärfste und exakteste Methode der älteren Philologie niemals erreichen könnte. Mit den überlieferten Handschriften aber wußten die Editoren der Lachmannschen Schule nicht viel anzufangen, ob es nun eigenhändige Entwürfe oder Reinschriften waren, Abschriften von bekannter oder fremder Hand oder auch Schreiberdiktate, vom Dichter durchgesehn oder nicht – übersichtliche schematische Pläne interessierten jedenfalls mehr als variantenreiche, unleserlich geschachtelte und verknäulte Ausführungen, und niemals war an eine vollständige Darbietung gedacht. Man glaubte eine Auswahl auch der handschriftlichen Varianten treffen zu dürfen – ja: zu müssen, weil die vorbildliche Altphilologie doch nicht anders verfuhr. Nun: man kannte sich vielleicht zu wenig aus in der altphilologischen Editionsmethode, wußte nicht, warum denn bei der Edition antiker Texte Vollständigkeit in der Darbietung der Varianten Unfug bedeutete, und so ahmte man, einigermaßen äußerlich, das auswählende Verfahren der Altphilologen nach, glaubte damit, recht fortschrittlich, den Positivismus des 19. Jahrhunderts zu überwinden – und verkannte eben den grundlegenden Unterschied zwischen Überlieferungsvarianten und Entstehungsvarianten. Sehen Sie: was der Herausgeber antiker Texte in den Lesartenapparat setzt, sind zu einem guten Teil Lesefehler abschreibender Mönche. Diese variae lectiones werden aber verzeichnet, weil sie an einzelnen Stellen einen Irrtum des Herausgebers berichtigen könnten. Ein kritischer Leser begründet vielleicht durch genauere Interpretation des Kontextes die sinnvollere Lesart einer andern Handschrift oder weist nach, daß der überlieferte Text keineswegs verderbt und die Konjektur des Editors unnötig ist. Dazu aber muß man wissen, was in den Handschriften steht. Die Varianten führen so zu einem möglichst fehlerfreien Wortlaut. Sie rechtfertigen den konstituierten Text und setzen auch den Benutzer der Ausgabe instand, ihn noch weiter zu verbessern und zu verfeinern. Dennoch brauchen bei weitem nicht alle variae lectiones festgehalten zu werden. Eine exakte Recensio der gesamten Überlieferung durchschaut die vielfach verflochtenen Abhängigkeiten und bestimmt danach Rang und Wert der einzelnen Handschriften. Oft steht ein älterer Codex als Repräsentant einer ganzen Gruppe unzweifelhaft auf ihn zurückgehender Abschriften, die sich von ihm nur durch eine mehr oder weniger große Anzahl neuer Korruptelen, deutlich erkennbarer bloßer Schreibfehler, unterscheiden. Solche durch die Recensio in ihrem Unwert festgestellten jüngeren Handschriften werden daher im Variantenapparat nur selten oder gar nicht genannt. Daher erklärt es sich, daß die Altphilologen in ihren Editionen die Varianten jahrhundertelanger Überlieferungen doch in wenigen Zeilen am unteren Rand der Seite unterbringen. Hinzu kommt, daß die Überlieferungsvarianten sich

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allermeistens auf ein einzelnes Wort beziehen. Nur gelegentlich hat ein Lesefehler anderswo eine syntaktische Angleichung zur Folge. Allermeistens kann deswegen auch auf ein Lemma des Textes verzichtet werden. Vielmehr genügt die Anführung der Zeilen- oder Versnummer, und es ist dann ohne weiteres ersichtlich, auf welches Wort die varia lectio paßt. Auch sind die Zeilen, zu denen Varianten notiert werden müssen, für gewöhnlich weit voneinander entfernt. Der Leser findet sich schnell und leicht in dem sogenannten „negativen Apparat“ zurecht, der in äußerster Knappheit nur das nennt, was in einzelnen Handschriften anders lautet. Überlieferungsvarianten, mit denen es der Altphilologe ganz ausschließlich zu tun hat, gibt es auch zum Text neuerer Dichter – davon wird noch die Rede sein –: ungleich bedeutsamer sind, wo eigenhändige Handschriften und verschiedene Druckfassungen vorliegen, die Entstehungsvarianten. Daß man lange Zeit vermeinte, eine historisch-kritische Ausgabe brauche nur „die wichtigeren“ Varianten der Handschriften zu beachten, beruht, wie schon angedeutet, auf dem falsch verstandenen altphilologischen Vorbild. Die Auswahl der Lesarten eines antiken Textes ist ja keineswegs ins Belieben des Editors gestellt: sie regelt sich, fast von selbst, nach einer streng geübten Methode. Und was den Wert moderner Entstehungsvarianten betrifft, so fände der Altphilologe in seinem ältesten und kostbarsten Papyrus keine Lesart, die der scheinbar nebensächlichsten Korrektur in dem eigenhändigen Entwurf eines neueren Dichters gleichkäme. Doch nicht nur als Autographa und höchst authentische Bekundungen des Autorwillens sind solche Varianten wertvoll: sie geben auch den unmittelbarsten Aufschluß über die Entstehung des Gedichts, über das Wachstum des Textes und lehren das Sein als Gewordenes tiefer verstehn; sie entwickeln im mitgehenden und mitdichtenden Deuter des zur Vollendung sich wandelnden Textes ganz allgemein den Sinn für dichterische Ausdruckswerte, sie schärfen und verfeinern den Kunstverstand – wie es Lessing (im 19. Literaturbrief, bei der Erörterung der neuen Fassung der ersten fünf Messias-Gesänge) meint: „Veränderungen und Verbesserungen aber, die ein Dichter … in seinen Werken macht, verdienen nicht allein angemerkt, sondern mit allem Fleiße studirt zu werden. Man studirt in ihnen die feinsten Regeln der Kunst; denn was die Meister der Kunst zu beobachten für gut befinden, das sind Regeln.“ Man sollte meinen, die Herausgeber neuerer Dichter hätten aus dieser einleuchtenden Lehre das Prinzip des unbedingt vollständigen Lesartenapparats ableiten müssen. Dem stand aber nicht nur die kaum zu bewältigende Masse der irrtümlich für zugehörig gehaltenen Überlieferungsvarianten in den postumen Drucken entgegen. Diese Überlieferungsvarianten des altphilologischen Typus, Figuranten des gespenstischunnützen Phantoms einer „Textgeschichte“, gleichen auch darin den belangvollen und notwendigen altphilologischen Varianten, daß sie sich allermeistens auf ein einzelnes Wort beziehen. Und so wurde das Vorbild der alten Philologie auch bei der Darstellung von Entstehungsvarianten nachgeahmt, die nun aber sehr häufig ganze Sinnzusammenhänge betreffen. Gewiß, es gibt auch unter den Entstehungsvarianten einfache Wortänderungen – z. B.: Laut über gestr. Klang –, die sich isoliert darstellen lassen.

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Man wandte jedoch diese Methode auch da an, wo Änderungen in einem handschriftlichen Entwurf zu verzeichnen waren, die sich auf einen größeren Sinnzusammenhang erstreckten, d. h. man löste den Zusammenhang in lauter Einzelwörter auf, die dann unverständlich werden mußten. Dafür möchte ich (mit Ihrer Erlaubnis) ein Beispiel noch einmal bringen, an dem ich vor einigen Jahren schon ausführlich demonstriert habe,3 wohin die Zerstückelung des Lesartenapparats führen kann. Selbstverständlich gäbe es noch viele andre Beispiele. Doch sind die beiden im Apparat der Sophien-Ausgabe zu den „Leiden des jungen Werthers“ verzeichneten Lesarten, die ich im Sinne habe, deshalb besonders lehrreich, weil ein so erfahrener Philologe und Editor wie Georg Witkowski im Jahre 1924 eben daran hat zeigen wollen,4 wie der Lesartenapparat knapper gehalten werden könne; er will nämlich nur eine Auswahl der „wesentlichen Varianten“ zulassen und traut, scheint es, dem Herausgeber zu, daß er in jedem Fall objektiv zu entscheiden wisse, was „wesentlich“ sei und was nicht. In der von Schreiberhand gefertigten Handschrift der zweiten Fassung des Werther steht dieser Satz: Ich bitte dich, lieber Wilhelm, es war gewiß nicht auf dich geredt, wenn ich die Menschen unerträglich schalt die von uns Ergebung in unvermeidliche Schicksale fordern.

Goethe hat darin eigenhändig „Ergebung“ aus „Ergebenheit“ und „unvermeidliche“ aus „unvermeidlichem“ geändert. Das stellt Bernhard Seuffert in seinem Lesartenapparat so dar: Ergebung] g aus Ergebenheit H

unvermeidliche] g aus unvermeidlichem H

Witkowski hält diese beiden isoliert angeführten Änderungen für bloße Korrekturen mechanischer Schreibfehler, die der Herausgeber nicht zu konservieren brauche. Er übersieht also den Sinnzusammenhang zwischen den beiden Lesarten. Die Wendung „Ergebenheit in unvermeidlichem Schicksale“ ist so sinnvoll, daß sie unmöglich ein bloßer lapsus calami sein kann; der Schreiber muß sie in seiner Vorlage gelesen haben. Sie bedeutet einen abgeschlossenen Zustand: „Ergebenheit in unvermeidlichem Schicksale“. Goethe ändert die – also wohlgemerkt von ihm selber herrührende – ursprüngliche Fassung dahin, daß eine sich vollziehende Handlung ausgedrückt wird: „Ergebung in unvermeidliche Schicksale“. Ein Herausgeber, der Witkowskis Empfehlung befolgte und die frühere Fassung wegließe, unterschlüge mithin eine nach meinem Dafürhalten sehr wichtige und bezeichnende Entstehungsvariante. Das für die neuere deutsche Philologie verhängnisvolle Vorbild der altphilologischen Editionsmethode kann die Arbeit eines besonnenen Herausgebers nicht mehr stören, der sich darüber klar ist, daß für den antik-mittelalterlichen Bereich der reine Text (oder doch: der diesem nächsterreichbare Zustand) am Anfang der Reihe der ———— 3 4

Einige Bemerkungen über den Lesartenapparat zu Werken neuerer Dichter. In: Orbis Litterarum, Supplementum 2, Kopenhagen 1958, S. 5–20; besonders S. 12–14. G. Witkowski: Textkritik und Editionstechnik neuerer Schriftwerke, Leipzig 1924, S. 36.

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Überlieferungsvarianten steht, und daß es dort nur Überlieferungsvarianten gibt, daß aber in seinem eigenen, dem neueren Bereich der (in den meisten Fällen) absolut reine und authentische Text am Ende der Reihe der Entstehungsvarianten steht, soweit es für das einzelne Werk handschriftliche Entwürfe und frühe Druckfassungen gibt, und daß Überlieferungsvarianten nur in Ausnahmefällen und nur zusätzlich berücksichtigt werden müssen. In jedem der beiden Bereiche, dem älteren und dem neueren, bewegen sich die Herausgeber gewissermaßen in entgegengesetzten Richtungen.5 Denn die von dem sich wandelnden Text durchlaufenen Strecken entsprechen einander hüben und drüben in gar keiner Weise. Denken wir uns den Punkt, wo der Autor nach vielfachen Versuchen und Umarbeitungen, zuerst in den Handschriften, dann in immer neu ausgefeilten Druckfassungen, endlich die letztgültige Gestalt aus der Hand gibt, als die Stelle, wo ein Fluß schiffbar wird, so begleitet der Herausgeber eines neueren Werkes den Wasserlauf in der Stromrichtung bis zu diesem Punkt, oft, sofern handschriftliche Entwürfe erhalten sind, vom allerersten Rinnsal der Quelle an; der altphilologische Editor jedoch beginnt seinen Weg weit unten im Tal, wandert in seiner Textkritik oft mühsam Schritt für Schritt stromauf, erreicht aber nie den Punkt, wo der Fluß schiffbar wird. – Entschuldigen Sie, bitte, das ungeschickte Bild – was ich damit sagen wollte, ist, hoffe ich, deutlich geworden: obwohl wir es in beiden Fällen mit sprachlichen Texten zu tun haben, unterscheiden sich doch die dem textkritischen Verfahren unterworfenen Objekte von Grund aus. Es versteht sich von selbst, daß der Altphilologe nach einer exakten Recensio der Codices, die allesamt Abschriften von Abschriften sind und zeitlich weit entfernt vom längst verschollenen Original, eine knappe Auswahl der Lesarten verzeichnet, soweit sie nämlich zur Konstitution des Textes beitragen und die vom Editor getroffene Entscheidung rechtfertigen. Es sollte aber ebenso selbstverständlich sein, daß der Herausgeber neuerer Dichter die ganz anders gearteten Entstehungsvarianten bis aufs letzte Tüttelchen vollständig wiedergibt, auch und sogar die Schreibversehn in eigenhändigen Entwürfen: sie lassen zuweilen aus ihrer Eigenart eine Schreibpsychologie erschließen – ob sie Buchstabengruppen eines davor- oder darüberstehenden Wortes mechanisch wiederholen oder, der Schrift voraneilend, charakteristische Lautgipfel des nächsten oder übernächsten Wortes vorwegnehmen – eine Schreibpsychologie, die zu kennen bei der Entzifferung andrer verworrener Stellen von Nutzen sein kann; auch vermitteln sie in ihrer Häufigkeit eine Vorstellung vom Seelenzustand des Schreibenden.6 Es kommt vor – wir haben es an der eben betrachteten Stelle aus der Handschrift zur zweiten Werther-Fassung gesehn –, daß für einen bloß mechanischen Schreibfeh————

5 6

Vgl. Julius Petersen: Die Wissenschaft von der Dichtung, Berlin 1939, S. 86 f. Georg Peter Landmann meint als Rezensent des 5. Bandes der Stuttgarter Ausgabe (Hölderlin-Jahrbuch l958–1960, S. 222), der Herausgeber habe seine „Editionstechnik“ der Altphilologie „abgelernt“, die aber seit Jahrzehnten von der „sinnlosen Akribie“ geheilt sei, mechanische Verschreibungen als Lesarten anzuführen! Er sieht also nicht den Unterschied zwischen den Handschriften eines anonymen Abschreibers und eines schaffenden Dichters und will auch den Lesarten zu den Werken neuerer Dichter keine andre Funktion zuerkennen als dem altphilologischen Apparat: einen bessern Text zu gewinnen.

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ler gehalten wird, was sich genauerer Prüfung als wertvolle Entstehungsvariante darstellt. Hätte Witkowski eine historisch-kritische Ausgabe des Werther unternommen, so wäre sein Irrtum irreparabel gewesen; denn er hätte ja die beiden vermeintlichen Schreibfehler in seinem auswählenden Lesartenverzeichnis nicht aufgeführt. Der Herausgeber des Werther in der Weimarer Ausgabe, Bernhard Seuffert, hat übrigens den Sinnzusammenhang der beiden isoliert dargestellten Korrekturen nicht verkannt; denn er setzt, wie es auch sonst gelegentlich in der Weimarer Ausgabe anzutreffen ist, zwei Sternchen, um anzudeuten, daß die dazwischen verzeichneten Lesarten sinngemäß zusammengehören. Sechs Jahre später (1905) hat Seuffert, als Planer der Akademie-Ausgabe der Gesammelten Schriften Wielands,7 dieses „Sternzeichen“ als „nicht sinnfällig genug“ abgelehnt und empfohlen, umfangreichere Varianten „als eigene Absätze zu drukken“. Sinnzusammenhänge sollen also nicht in isolierten Wortvarianten auseinandergerissen und durch die Zerstückelung unverständlich gemacht werden. Seuffert hat es damals auch, wohl als erster, klar ausgesprochen, daß es sich bei dem editorischen Apparat zu den Werken eines neueren Dichters und zumal Wielands „um mehr handelt als um die Mitteilung der Lesarten verschiedener Handschriften und Drucke zur Gewinnung des echten oder reinsten Textes. Es muß vielmehr dem höchsten Ergebnis, das sich gewinnen läßt, vorgearbeitet werden: ‚aus den stufenweisen Korrekturen dieses unermüdet zum bessern arbeitenden Schriftstellers die ganze Lehre des Geschmacks zu entwickeln‘; zu dieser von Goethe gestellten Aufgabe (Weimarische Ausgabe 40, 201) beizutragen, ist das Hauptziel des Apparates.“ So weit Seuffert (S. 59). Leider hat er selber keinen Band der Wieland-Ausgabe besorgt und also kein praktisches Beispiel gegeben. Er hat bei den eben angeführten Sätzen wohl auch, nicht anders als Goethe, in der Hauptsache an die Drucke gedacht. Wieland hat ja niemals die Gelegenheit einer neuen Auflage vorbeigehn lassen, ohne weiter und weiter zu feilen und zu bessern. Als Seuffert seine Prolegomena aufstellte, gab es kaum Entwürfe von Wielands Hand. Die wenigen damals bekannten Manuskripte waren Reinschriften mit sparsamen Korrekturen. Seit 1938 aber ist es bei einer stattlichen Anzahl Wielandischer Schriften möglich, die Reihe der Entstehungsvarianten weit vor dem ersten Druck beginnen zu lassen.8 Dabei entstand das Problem, wie diese quicklebendigen Entwürfe, worin einzelne Verse und Verslein bis zu zwanzig Malen um und um gekrempelt, immer anders gewendet und ineinander verknäult erscheinen, nun in einem Lesartenapparat dargestellt werden konnten. Reinhold Backmann hatte 1924 in seinem Aufsatz über „Die Gestaltung des Apparates in den kritischen Ausgaben neuerer deutscher Dichter“9 zwar richtig erkannt, daß die altphilologische Methode für die Edition neuerer Dichter nicht taugt, aber ————

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Prolegomena zu einer Wieland-Ausgabe, III. IV. Abhandlungen d. Preuß. Akad. d. Wiss., Berlin 1905, S. 58. Neue Wieland-Handschriften. Aufgefunden und mitgeteilt von Friedrich Beißner. Abhandlungen d. Preuß. Akad. d. Wiss. Jahrgang 1937. Phil.-hist. Klasse Nr. 13, Berlin 1938. Euphorion 25 (1924), S. 629–662.

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seine Grillparzer-Lesarten dann doch allermeistens noch in unlesbarer Zerstückelung dargeboten. Da war keine Hilfe. Den Ausweg aus der Schwierigkeit öffnete die Erwägung, daß ein aus dem räumlichen Durcheinander herausgewickeltes zeitliches Nacheinander sich übersichtlich und lesbar müßte aufschreiben lassen. Dieses die Sinnzusammenhänge nicht störende und unterbrechende Verfahren konnte dann an dem wesentlich umfangreicheren Auftrag der Stuttgarter Hölderlin-Ausgabe weiter erprobt werden. Daß es richtig und angemessen war, zeigte bald ein Vergleich mit dem ungedruckt gebliebenen Lesartenapparat zu Zinkernagels Hölderlin-Ausgabe. Hier war der Herausgeber, anders als Hellingrath und seine Mitarbeiter,10 den verknäulten Entwürfen nicht ausgewichen. Doch hatte er die Texte Wort für Wort aufgelöst, hatte auf jedes sozusagen ein unbeirrbares Mikroskop gerichtet und mit einer bewunderns-, aber nicht nachahmenswerten Akribie notiert: wieviel Buchstaben gestrichen, welche angefügt, was für Veränderungen über, unter, links oder rechts neben dem einzelnen gestrichenen, nicht gestrichenen, unterstrichenen, eingeklammerten Wort zu entziffern waren11 – der Leser sollte, so empfahl es die Einleitung, stets Papier und Bleistift zur Hand haben, um das Bild der Handschrift an der ihn interessierenden Stelle nach den Angaben des Lesartenapparates zu rekonstruieren. Ohne Frage hätte es der Leser schwerer gehabt als der Herausgeber, der doch aus Unterschieden der Tintenfarbe und leichten Ausbuchtungen der Schreibzeilen die relative Chronologie einzelner Varianten besser erschließen konnte, als das nach den gedruckten Angaben des Apparats möglich gewesen wäre. Dieser Apparat wurde dadurch noch unübersichtlicher, daß Zinkernagel, noch im Banne der Lachmann-Schule, auch sämtliche Varianten des altphilologischen Typus, also die Abweichungen der Interpunktion und der Orthographie in den Ausgaben des 19. Jahrhunderts und deren Lese- und Druckfehler, mitteilen zu müssen glaubte. Die Verbannung der unnützen Varianten aus dem Lesartenapparat bedeutet freilich nicht, daß der Herausgeber die postumen Drucke vernachlässigen dürfte: er muß sie vielmehr allesamt genau prüfen, um festzustellen, ob der eine oder andre möglicherweise auf einer inzwischen verschollenen Handschrift beruht; auch könnte die eine oder andre Ausgabe, im ganzen textkritisch belanglos, doch eine einzelne Textverbesserung enthalten. Eine solche Verbesserung müßte natürlich verzeichnet werden, auch wenn sie durch einen später auftauchenden authentischen Überlieferungsträger verifiziert worden ist. – Dafür ein Beispiel: In einem Brief Hyperions an Diotima heißt es (Hyp. II 22 f.): Ich bin jezt mitten im Pelopones. In derselben Hütte, worinn ich heute übernachte, übernachtete ich einst, da ich, beinahe noch Knabe, mit Adamas diese Gegenden durchzog. Wie saß ich da so glüklich auf der Bank vor dem Hause und lauschte dem Geläute der fernher kommenden Karawane und dem Geplätscher des nahen Brunnens, der unter blühenden Akatien sein silbern Gewässer ins Beken goß.

———— 10 11

Vgl. Hellingraths Ausgabe, 1. Band, 2. Aufl. Berlin 1923, S. 353 f. Eine Probe aus Zinkernagels Apparat habe ich in meinem Vortrag ,,Aus der Werkstatt der Stuttgarter Ausgabe“ genauer besprochen (Hölderlin. Reden und Aufsätze, Weimar 1961, S. 259).

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Und nun beginnt der nächste Abschnitt im ersten Druck mit dem kurzen Satz: Jezt bin ich minder glüklich.

Schon im zweiten Cottaischen Einzeldruck von 1822 wird die Unstimmigkeit solcher Fortsetzung bemerkt. Der ganze Brief ist von einem freudigen Glücksgefühl getragen. Dementsprechend fügt der Herausgeber der zweiten Auflage – wahrscheinlich ist es der preußische Leutnant v. Diest, der ein korrigiertes Exemplar an Cotta gesandt hat – ein Wörtchen ein: Jezt bin ich nicht minder glüklich.

Das ist vom Sinn her konjiziert, und die Annahme, das Wörtchen „nicht“ sei versehentlich ausgefallen, war nicht abwegig. – Berthold Litzmann aber erkannte eine wahrscheinlichere Ursache der Korruptel, eine Verlesung des in der Schrift ähnlich aussehenden Wortes „wieder“, und setzte daher in den Text seiner Ausgabe von 1896: Jetzt bin ich wieder glücklich.

Zinkernagel (1913) und Seebaß (1923) konservieren beide in ihren historischkritischen Ausgaben den Fehler des ersten Druckes – sie haben die beiden Heilungsversuche entweder nicht bemerkt oder nicht ernst genommen; Litzmanns Konjektur aber ist nachträglich aufs schönste bestätigt worden durch das vom Dichter eigenhändig durchkorrigierte Handexemplar der Diotima: an dieser Stelle hat Hölderlin „minder“ gestrichen und „wieder“ darübergeschrieben. Selbstverständlich ist Litzmanns gelungene Konjektur, die doch wohl zur Textgeschichte gehört, im Lesartenverzeichnis der Stuttgarter Ausgabe angeführt. Gegen die in der Stuttgarter Ausgabe versuchte Methode für die lesbare Darstellung verwickelter Entwürfe sind in letzter Zeit Bedenken geäußert worden. Man entdeckte, daß es mit der Chronologie einzelner Varianten nicht stimme, und zwar dort, wo als Sofortkorrektur erscheine, was Hölderlin erst übergeschrieben haben könne, nachdem er den ganzen Vers zu Ende gedichtet, mindestens aber das nächste Wort zu Papier gebracht habe. Nun läßt sich aber nachweisen, daß Hölderlin auch dann, wenn er den Anfang, die ersten zwei, drei Buchstaben eines schon im Niederschreiben verworfenen Wortes streicht, mit der dafür eintretenden Variante nicht auf der ja noch leeren Schreibzeile fortfährt, sondern sie über das getilgte Wortfragment setzt. Diese Schreibgewohnheit erklärt sich wohl so, daß er auf der Zeile nach rechts hin möglichst Raum sparen will, um am Ende den Vers nicht brechen zu müssen. Daraus folgt, daß – mindestens bei Hölderlin – der Platz der Variante über oder rechts neben dem gestrichenen Wort kein Kriterium bietet für die zeitliche Folge. Es kann natürlich sein, daß ein Wort erst übergeschrieben wird, nachdem die Zeile zu Ende gebracht worden ist; aber es muß keineswegs so sein – jedoch ist es ebenso durchaus nicht undenkbar, daß eine übergeschriebene Variante zur ersten Zeile erst gesetzt worden ist, nachdem das ganze Gedicht fertig war. Ist dies etwa aus andrer Tintenfarbe oder vielleicht auch einem steileren Duktus zu vermuten, so wird das im Lesartenapparat der Stuttgarter Ausgabe gesagt. Aber auch hier sind Mißverständnisse nicht ausge-

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schlossen: plötzlich schwärzer werdende Tinte muß nicht immer auf eine längere Unterbrechung der Niederschrift hindeuten – sie kann auch einfach daher rühren, daß an dieser Stelle der Federkiel frisch eingetunkt worden ist, wobei dann in besondrer Eile der Bodensatz, der Grundschlamm des Tintenfasses aufgestört worden sein mag. Nach allem: eine absolute Chronologie ist nicht zu gewinnen – das war niemals beabsichtigt; der tatsächliche Vorgang läßt sich in allen seinen Phasen nicht rekonstruieren. Die „Richtigkeit“ des Verfahrens, das mithin das ideale Wachstum des Gedichtes darstellt, nicht das tatsächliche,12 liegt aber, meine ich, darin: das einzelne Wort steht von Anfang an im zunächst vorschwebenden, dann immer deutlicher sich ausbildenden Gestaltzusammenhang, in der dichterischen Konstellation des Verses oder Satzes – Hölderlinisch ausgedrückt: an der Stelle des Ganzen, wohin es gehört (StA. 4, 235, 5 f.). Hans Zeller sieht (1959 im Euphorion) einen Nachteil darin, daß in der Stuttgarter Ausgabe durch ein und dasselbe Symbol, die untereinandergestellten eingeklammerten Ziffern und Buchstaben, sehr verschiedene Korrekturvorgänge dargestellt würden. Ort und Art der Varianten müßten auch, meint er, ablesbar sein. Er habe das „Bedürfnis“, aus dem Lesartenapparat die Handschrift zu rekonstruieren. Ich vermag nicht einzusehn, daß der Herausgeber ein derart sonderliches Bedürfnis befriedigen müsse, und kann auch nicht zugestehn, daß er bei Nichterfüllung dieses Wunsches „das Prinzip der Vollständigkeit“ preisgebe, wie Zeller (S. 360) feststellt. Der Unterschied liegt darin, daß Zinkernagel, Backmann und Zeller die Handschrift in ihrem räumlichen Zustand und graphischen Erscheinungsbild reproduzieren wollen, während die Stuttgarter Ausgabe versucht, das Gedicht in seinem Werden darzustellen. Daß Zeller sich einfach zuviel vorgenommen hat, zeigen die beiden Proben, die er aus C. F. Meyers handschriftlichen Entwürfen beigibt, deutlich genug. Er isoliert die Wörter und zerstückelt die Zusammenhänge. Doch muß er, und das ist bezeichnend, dem ersten Beispiel gleich in elf Zeilen Einschränkungen folgen lassen, Hinweise auf andre mögliche Chronologien, die sehr kompliziert und schwerverständlich sind und sich überdies, wollte mans darauf anlegen, noch verdoppeln ließen. Er stellt sich im Grunde die Kompliziertheit noch zu einfach vor! – Zeller ist der Ansicht, zumal bei der Entzifferung verwickelter Entwürfe müsse der Herausgeber dem Leser Gelegenheit zur Nachprüfung geben. Wer bürgt aber dem mißtrauischen Leser dafür, daß eine Variante, von der es, nach dem äußeren Erscheinungsbild vollkommen korrekt, heißt, sie stehe über v. 11, nicht in Wahrheit unter v. 10 stehe? So geschieht es z. B., daß ein Hyperion-Herausgeber in einer früheren handschriftlichen Fassung den Jäger mit gesunden Hunden den herbstlichen Wald durchstreifen läßt, während in Wahrheit, in der darüberstehenden Zeile, die Menschen sich der gesunden Früchte des Jahrs freuen (StA. 3, 257, 6 und 390, 2 f.). Der Herausgeber muß eben auch und gerade an solchen Stellen genau interpretieren (was ihm Zeller sonderbarerweise nach Möglichkeit ersparen oder gar verwehren will), und der Leser darf auch das Zutraun haben, daß er ————

12

Vgl. Beißner: Hölderlin. Reden und Aufsätze, Weimar 1961, S. 284 f.

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gerade an solchen Stellen seine beste Kraft einsetzt. Viel schwerer und daher eigentlich viel kontrollbedürftiger ist ja die Wiedergabe einer klaren und korrekturlosen Reinschrift. Die bei dem mechanischen Geschäft des Abschreibens immer flinker forteilende Feder läßt auch der bemühten Sorgfalt nicht immer Zeit zu genauem Lesen, und im Druck bemerkt dann auch der schärfste Kritiker nicht, daß es z. B. in „Hyperions Jugend“, in einer klaren Reinschrift, nicht heißt (229, 3 f.): Diotima warf den Schleier zurük, und eilt’ und lächelte mir entgegen, und ich flog hinan.

sondern: Diotima warf den Schleier zurük, und nikt’ und lächelte mir entgegen, und ich flog hinan.

Das Bild ist durch die genauere Lesung völlig verändert: Diotima, den Schleier zurückwerfend, bleibt auf der Anhöhe stehn und erwartet den zu ihr hinanfliegenden Hyperion lächelnd mit einem freundlichen Nicken. – Ich hoffe, meine Damen und Herren, mit diesen wenigen Bemerkungen ungefähr die Bedenken angedeutet zu haben, die ich gegen die von Zeller vorgeschlagene Methode hege. Zu genauerer Anschaulichkeit müßten wohl Handschriften und Lesartenapparate im Lichtbild gezeigt und einläßlich nach Vorzügen und Nachteilen erörtert werden. Dazu aber steht nicht genug Zeit zur Verfügung. Etwas ausführlicher habe ich Zellers Methode in meinem Beitrag zu der demnächst erscheinenden Festschrift für Josef Quint besprochen – unter der Überschrift: „Lesbare Varianten“. In seinen bereits herangezogenen „Prolegomena zu einer Wieland-Ausgabe“ hat Seuffert (III. IV S. 59) noch einige Empfehlungen zur Einrichtung des Lesartenapparats gegeben. Es heißt da: „Der Herausgeber hat danach zu trachten, daß der Wert der Lesarten aus ihrer Mitteilung selbst, ohne fortwährendes Vergleichen mit dem Text, annähernd erkannt werden könne; es müssen also die Lemmata aus dem Texte vorantreten … Es soll nicht eine zwecklose Raumvergeudung um sich greifen, vielmehr überall durch Knappheit die Deutlichkeit und Übersichtlichkeit gefördert werden. Aber es soll ermöglicht werden, auch ohne Aufschlagen des Textes aus dem Apparat herauszulesen: hier ist eine Laut- oder eine Flexionsänderung eingetreten, hier ein Fremdwort durch ein einheimisches ersetzt, hier ein Wort umgestellt worden, hier eine stilistische Änderung geschehen usw. Es ist eine übel angewandte Papiersparsamkeit, die Lesarten so gekürzt vorzutragen, daß ihre Benutzung dem Leser so viel Arbeit macht wie dem Herausgeber ihre Sammlung.“ Das sind, meine ich, goldene Worte, die jeder Herausgeber eines neueren Dichters beherzigen sollte. Wie weit aber gegenwärtige Editionspraxis davon sich entfernt, wird man an dem vor einigen Wochen erschienenen Band ausgewählter „Werke Goethes, herausgegeben vom Institut für deutsche Sprache und Literatur der Deutschen Akademie der Wissenschaften zu Berlin“, gewahr. Dieses vor gut zehn Jahren (1952) nach Ernst Grumachs Planung begonnene Unternehmen hatte, wenn ich richtig zähle, bisher 17 Textbände und (1960) einen einzigen Apparatband herausgebracht. Der jetzt von Siegfried Scheibe vorgelegte und mit einiger Spannung erwartete Band enthält als

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erster den nach neuen Grundsätzen gearbeiteten Apparat zu dem vor fünf Jahren erschienenen Text der Epen – oder richtiger: nicht eigentlich zu dem Text von 1958; denn der war noch nach den inzwischen überholten Grundsätzen konstituiert. Es geht dabei hauptsächlich um die Frage, in welcher Gestalt das Werk im Text einer historisch-kritischen Ausgabe sich darstellen solle. Davon müssen wir noch sprechen. Hier sei zunächst noch die Rede von der äußeren Einrichtung des Lesartenverzeichnisses. Auf den ersten Blick erkennt man das altphilologische Vorbild, den negativen Apparat. Man kann darin nicht lesen, wie es Seuffert empfiehlt, kann den einzelnen Lesarten ihre Bedeutung und Bedeutsamkeit ohne Heranziehung des Textbandes nicht ansehen. Zwischen Versnummer und Sigle des Druckes wird immer nur, meistens mit einem einzigen Wort, angegeben, worin der genannte Druck von der in den Text gesetzten Fassung abweicht. Bei der einen Variante, stellt man im Text nachschlagend fest, handelt es sich bloß um einen belanglosen Wechsel in der Großoder Kleinschreibung; bei der nächsten, die ein Komma nach dem herausgehobenen Wort aufweist, vermutet man eine Änderung der Interpunktion – will man aber wissen, ob im Text statt des Kommas nun ein Punkt, ein Semikolon, ein Doppelpunkt, ein Gedankenstrich oder gar kein Zeichen steht, so muß man eben im Textband danach suchen. Wo ein Wandel in der Flexion eingetreten ist, etwa schwaches Adjektiv für starkes, kann der Leser nichts vermuten, da ja nur die nackte Vokabel angegeben ist, ohne Artikel und Substantiv. Es ist mühselig, mit einem solchen Apparat arbeiten zu müssen, der den Leser zwingt, immerfort hin und her zu suchen, beim Lesen des Textes fortwährend sich im Apparatband zu vergewissern, ob nicht eine wesentliche Variante berücksichtigt werden müsse. Beim positiven Apparat, der zu jeder Variante das Lemma des Textes abdruckt, kann der Leser die Varianten eines ganzen Abschnittes vorweg überfliegen; er sieht sogleich, wo die wesentlichen Unterschiede vorkommen, und kann die ihm besonders wichtigen durch Unterstreichung hervorheben. Die Erleichterung der Arbeit ist aber nicht einmal der Hauptvorteil des positiven Apparates: wesentlicher noch scheint mir der Umstand, daß er die Möglichkeit bietet, darin zu lesen, d. h. an ihm die allgemeine stilistische Tendenz der Textwandlung abzulesen. Das erlauben die kargen Kolumnen des negativen Apparates nicht. Ja, er erscheint hier wirklich allermeistens in schmalen Kolumnen, d. h. jede Variante steht in einer Zeile für sich, und auf vielen Seiten ist mehr als die rechte Hälfte weiß geblieben. Papier zu sparen, war also nicht das Motiv. Wo einmal mehr als einzelne Wörter anzuführen waren – wie im Apparat zu „Hermann und Dorothea“ gelegentlich Verse und Versgruppen aus Handschriften, die an einzelnen Stellen noch stärker vom gedruckten Text abweichen, oder auch metrische Besserungsvorschläge des jüngeren Voß –, da bietet sich ein etwas fülligeres Bild. Doch man stößt überall auf Sonderbarkeiten, auf Inkonsequenzen: ärgerlichste, bis zur Unverständlichkeit getriebene Wortkargheit hier – breiteste Ausführlichkeit dort, die vor Wiederholungen ganzer Verse nicht zurückscheut, so daß der geplagte Leser sie wieder und wieder liest und mit dem Text vergleicht, die Abweichung, um deretwillen doch die Anführung im Variantenverzeichnis geschehen sein muß, sucht und sucht und schließlich in einem hinzuge-

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fügten oder weggelassenen Komma findet. In „Hermann und Dorothea“ lauten z. B. die Verse 205–06 des Neunten Gesangs: Denn ich möchte so hoch Euch nicht in Zukunft verehren, Wenn Ihr Schadenfreude nur übt statt herrlicher Weisheit.

In einem Reutlinger Nachdruck von 1806, den Scheibe im Abschnitt „Überlieferung“ (S. 194) als Nachdruck einer Ausgabe von 1798 charakterisiert, die ihrerseits wieder – so urteilt der Herausgeber wörtlich – ein „flüchtiger Nachdruck“ des rechtmäßigen ersten Druckes ist – in diesem Nachdruck eines flüchtigen Nachdrucks also wird am Ende des ersten der beiden zitierten Verse statt des Kommas irrtümlich ein Punkt gesetzt, obwohl in der nächsten Zeile sich noch der Konditionalsatz anschließt; sonst stimmt der Wortlaut buchstabengenau mit dem authentischen Text überein. Die fehlerhafte Interpunktion bleibt hier, wie ausdrücklich vermerkt sei, auf den Nachdruck des flüchtigen Nachdrucks beschränkt, wirkt also textgeschichtlich nicht weiter. Dennoch hält der Herausgeber den Druckfehler für erwähnenswert. Aber er teilt ihn nicht in der sonst beliebten kargen Form mit – etwa so: 205 verehren. D*7 –, sondern er füllt eine ganze Zeile: Denn ich möchte so hoch Euch nicht in Zukunft verehren. D*7

Voran gehen drei andre vollständige Anführungen des Verses, von denen die eine sich nur dadurch vom Wortlaut des Textes unterscheidet, daß das Anredepronomen „Euch“ klein geschrieben ist. Man schüttelt den Kopf über eine so inkonsequente Methode, für die sich noch viele Beispiele anführen ließen. – Damit ich nicht mißverstanden werde: ich halte die altphilologische Methode des negativen Apparates an sich durchaus nicht für schlecht. Sie ist für die Edition alter Texte die einzig angemessene. Für neuere Texte eignet sie sich nicht, weil hier ungleich mehr Varianten angeführt werden müssen: neben den Überlieferungsvarianten, mit denen der altphilologische Editor es allein zu tun hat, vor allem Entstehungsvarianten, die nach Seufferts weisem Rat im Lesartenverzeichnis so dargestellt werden müssen, daß die stilistische Wandlung, die „ganze Lehre des Geschmacks“ an ihnen abgelesen werden kann. Es gibt, wie ich schon angedeutet habe, auch für den Editor neuerer Dichter Überlieferungsvarianten. – Da wären zunächst die durch Doppeldrucke verursachten zu nennen. Ganz fraglos müssen sie im Lesartenverzeichnis aufgeführt und, durch eigene Siglen, gekennzeichnet werden. Nach einem mit sauberer Methode gearbeiteten kritischen Apparat müßten echte und unechte Drucke bestimmt werden können. Wo eine Doppeldruckvariante textgeschichtlich nicht weitergewirkt, also den Dichter, dem selbstverständlich nicht bewußt war, daß er einen unechten Druck zur Grundlage einer neuen Fassung machte, nicht zu einer neuen Variante angeregt hat, da wären solche Veränderungen des Textes wohl rückgängig zu machen. Man kann nicht gut argumentieren, der Dichter habe doch den veränderten Text so gelesen, habe die Ver-

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änderung nicht bemerkt und sie damit gebilligt. Ein Beispiel:13 Die Verse 549–50 des Singspiels „Erwin und Elmire“ lauten in der Weimarer Ausgabe (11, 312) so: O komm an meine Brust, und laß mich endlich Des süßen Traumes noch mich wachend freuen.

Im Lesartenapparat (S. 435) merkt Richard Maria Werner zu v. 550 an: süßen] süßten H–A süßen seit B

Wilhelm Kurrelmeyer aber hat festgestellt, daß schon der Doppeldruck A1 „süßen“ bietet, und es versteht sich daher von selbst, daß Goethe diese nach B und C weiter gewanderte Änderung niemals gewollt hat. Der Superlativ „süßten“ ist demnach wiederherzustellen. Diese Form, dem heutigen Sprachgefühl fremd geworden, ist bei Goethe ja gar nicht selten. Mir ist sie, ohne daß ich danach gesucht oder deswegen die Arbeitsstelle des Goethe-Wörterbuchs bemüht hätte, noch dreimal begegnet: in dem Gedicht „Die schöne Nacht“ (WA. 1, 44) finden wir (v. 8) „den süßten Weihrauch“; in den „Mitschuldigen“ wird (v. 121) „Der allersüß’ste Ton“ zwar mit einem Apostroph zwischen ß und st gedruckt, die Handschrift aber hat keinen Apostroph und statt st einfaches t; und im Faust steht v. 5385 „der Augenblicke Süßtes“ im Reim auf „er büßt es“. Es ist die Form des Superlativs, wie sie uns heute beim Adjektiv „groß“ ganz selbstverständlich vorkommt: „der größte“ (die dreisilbige Form klingt uns feierlich: „aber die Liebe ist die größeste unter ihnen“). Übrigens hat sogar noch Rückert den zweisilbigen Superlativ: „mein süßter Schall“ – Friedrich Sengle14 hat erst kürzlich die Aufmerksamkeit darauf gelenkt. Man wird also nicht sagen dürfen, der Druckfehler des Doppeldrucks gebe den gewandelten Sprachgebrauch wieder, sei deshalb auch nicht von Goethe bemerkt und also stillschweigends gebilligt worden: er hätte sonst an den übrigen Stellen ebenfalls ändern müssen. Überlieferungsvarianten treten auch dann auf, wenn die eigenhändige Niederschrift verlorengeht und der Text sich in einer fehlerhaften Abschrift erhält. Dann muß Konjekturalkritik nach allen klassischen Regeln der philologischen Kunst die Korrektur versuchen. – Der kranke Hölderlin hat, nach Mörikes Angabe etwa im Jahr 1825, für seinen Kostwirt im Tübinger Turmhaus, den Schreinermeister Zimmer, zwei alkäische Strophen (mit merkwürdiger Verlängerung der dritten Zeile in beiden Strophen) geschrieben, die in einer Abschrift des Adressaten (auf der Rückseite eines kurzen Entwurfs von Hölderlins eigener Hand) so auf uns gekommen sind:15 Von einem Menschen sag ich, wenn der ist gut Und weise was bedarf er? Ist irgend eins Das einer Seele gnüget? ist ein Haben, ist Eine gereifteste Reb’ auf Erden

———— 13 14

15

Vgl. den in Anm. 3 genannten Aufsatz, S. 10. „Stilistische Sorglosigkeit und gesellschaftliche Bewährung. Zur Literatur der Biedermeierzeit“. In dem Sammelband: Formkräfte der deutschen Dichtung vom Barock bis zur Gegenwart, hg. von Hans Steffen, Göttingen 〈1963〉, S. 127. – Sengle tadelt den Dichter allerdings deswegen. Vgl. Dichtung und Volkstum 39 (1938), S. 344 f.; StA. 2, 903 f.

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Gewachsen, die ihn nähre? Der Sinn ist deß Also. Ein Freund ist oft die Geliebte, viel Die Kunst. O Theurer, dir sag ich die Wahrheit. Dedalus Geist und des Walds ist deiner.

Mörike hat in diesem seltsam, aber nicht unklar redenden Gedicht sogleich die Stelle bemerkt, wo eingegriffen werden müsse: die dritte Zeile der ersten Strophe geht mit einer schweren Silbe aus und zählt dadurch zwölf Silben, drei mehr, als das Schema vorschreibt, während die elfsilbige in der andern Strophe nur um zwei Silben zu lang ist. Mörike war nun um eine Angleichung bemüht, die zugleich das sonderbare Wort „Haben“ verständlicher erscheinen ließe. Ist irgend eins Das einer Seele gnüget? ist ein Haben, ist Eine gereifteste Reb’ auf Erden Gewachsen, die ihn nähre?

Er strich daher die metrisch überzählige Wiederholung des „ist“ am Schluß des dritten Verses weg, verwandelte den unbestimmten Artikel in ein Possessivum und setzte hinter das Wort „Erden“ ein Komma, wodurch die Wendung „Eine gereifteste Reb’ auf Erden“ Apposition wurde zu dem „Haben“ (Meister Zimmer sei Weinbergbesitzer, schrieb er in seinem Kommentar, und halte ohne Zweifel viel auf diesen Teil seiner Ökonomie) – nun lautete der Satz: ist sein Haben, Eine gereifteste Reb’ auf Erden, Gewachsen, die ihn nähre?

Diese Konjekturalkritik ist nun doch wohl etwas gewaltsam: drei Eingriffe und ein vom Sinn her nicht eben einleuchtendes Ergebnis. Und vor allem: es kommt in solchen Abschriften wohl vor, daß ein Wort versehentlich ausfällt, doch daß der Abschreiber das Verbum substantivum von sich aus hinzugefügt haben sollte, ist unwahrscheinlich. – Mörike muß das eingesehen haben; denn in einem andern Versuch läßt er das „ist“ stehen, sucht für das unbefriedigend abstrakte „Haben“ vom Sinn her ein einsilbiges Ersatzwort und schreibt: ist ein Hort, ist Eine gereifteste Reb’ auf Erden Gewachsen …

Das Metrum war damit in Ordnung gebracht; doch abgesehn davon, daß der „Hort“ nicht viel besser ist als das „Haben“: die Konjektur nimmt keine Rücksicht auf die Schriftzüge des von dem Abschreiber falsch gelesenen Wortes. Fragt man sich, welches ähnlich aussehende einsilbige Wort statt „Haben“ in Hölderlins Handschrift gestanden haben kann, so wird man „Halm“ einsetzen müssen. Vielleicht war zu dem letzten Buchstaben auf unebener Unterlage zweimal angesetzt worden, so daß das m sehr leicht als en erscheinen konnte, und derselbe unglückliche Strich kann auch die Verlesung des l zu b verschuldet haben. Halm und Rebe: das sind Brot und Wein – in

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dem Sinne, den auch Empedokles meint (I 1903 f.): „… daß ich des Halmes Frucht / Noch Einmal koste, und der Rebe Kraft“. – „Des Halmes Frucht“ ist eine durch Klopstock geheiligte Umschreibung – in der Ode „Der Eislauf“ (v. 34) – und war den Zeitgenossen so stark eingeprägt, daß z. B. Johann Heinrich Voß einen Odyssee-Vers (9, 89) ohne wörtliches Vorbild im Homerischen Text so wiedergibt: „Was für Sterbliche dort die Frucht des Halmes genössen“ (ο τινες aνρες εεν eπ χϑον στον δοντες). – Damit ist, meine ich, die Konjektur zu Hölderlins Gedicht auch vom Sinn her wohl und recht begründet. Der Herausgeber kann auf manchen Überlieferungsfehler in umfangreicheren Werken aufmerksam werden, wenn er sich dem leidigen Verlangen der Verlagsbuchhandlung oder der auftraggebenden Körperschaft widersetzt, aus Reklamegründen möglichst früh einen „fertigen“ Band auf den Markt zu werfen, den bloß auf dem originalen Druck beruhenden und eilfertig und notdürftig von den auffälligsten Druckfehlern gereinigten Text, bevor er seine gewissenhafte Recensio der Überlieferung abgeschlossen und das Manuskript auch des philologischen Apparats wirklich zu Ende gebracht hat. Die von ihm zu leistende Recensio ist meistens viel schwieriger als im altphilologischen Bereich. Gewiß, die Drucke sind meistens datiert, die Nachdrucke am Titelblatt zu erkennen; aber schon die Feststellung oft mehrerer Doppeldrucke (die es auch noch im 20. Jahrhundert gibt)16 ist mindestens so mühsam wie die Musterung mittelalterlicher Handschriften in ihren vielfachen Abhängigkeiten. Bei diesen Feststellungen hat es der Herausgeber, der alt- wie der neuphilologische, mit grundsätzlich gleichlautenden Texten zu tun, die nur in einzelnen, ganz vereinzelten Wörtern voneinander abweichen. Das sind dann die „Leitfehler“. Zur Recensio neuerer Schriften aber gehört auch die genaue Durcharbeitung der oft ganz anders angelegten Entwürfe und frühen handschriftlichen Fassungen, auch ihre meistens nicht leichte Datierung, die Feststellung der Reihenfolge. – Doch will ich nicht weiter allgemein reden. Man liest im ersten Druck des „Hyperion“ und liest es seither in vielen Leseausgaben und sogar auch in zwei historisch-kritischen Editionen (Hyp. II 33 f.): warum lokt’ er erst sein Haupt gesenkt, warum war der Götterjüngling so voll Scheuns und Trauerns?

In der handschriftlichen Vorstufe der endgültigen Fassung aber steht an der entsprechenden Stelle deutlich geschrieben (Vst. 276, 13 f.): warum, o Leben! war der Götterjüngling anfangs voll Sehnens und Trauerns? warum hatt’ er sein Haupt gesenkt?

Es liegt auf der Hand, daß der Setzer hier die Schriftzüge der (nicht mehr vorhandenen) Druckvorlage an zwei Stellen mißdeutet hat: „warum lokt’ er erst sein Haupt gesenkt,“ – „lokt’“ kann in Hölderlins zügiger Schrift ähnlich aussehn wie „hatt’“, wenn das schnell geschriebene h nicht die untere Schleife ausbildet, sondern gleich unter der Schreibzeile nach rechts oben weitereilt und dann so aussieht wie ein etwas zu weit ———— 16

Vgl. Friedrich Beißner: Der Schacht von Babel. Aus Kafkas Tagebüchern, Stuttgart 〈1963〉, S. 48.

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nach unten vorstoßendes l; und wenn ein t an seiner Spitze eine kleine Schleife oder Verdickung zeigt, ist es leicht mit einem k zu verwechseln. – Daß handschriftliches „Sehnens“ von einem eiligen Setzer leicht zu „Scheuns“ verlesen werden kann, und daß die gedruckte Wendung „voll Scheuns und Trauerns“ unhaltbar ist, brauche ich nicht umständlich zu beweisen. Aber was man nun in der Stuttgarter Ausgabe liest: warum hatt’ er erst sein Haupt gesenkt, warum war der Götterjüngling so voll Sehnens und Trauerns?

– ist das ein „Mischtext“ oder eine „Textkontamination“? Solche von wenig Sachverstand zeugenden Vorwürfe, die sich gegen die (jedem Philologen geläufigen) emendierenden „Eingriffe“ in den „so und nicht anders überlieferten“ Text richten, kann man heute vernehmen – zumal wenn die Emendation mit Hilfe einer früheren Phase des sich entwickelnden Textes erreicht wird. An einer andern Stelle des „Hyperion“ habe ich einen ähnlichen Eingriff nach langwierigen Erwägungen schließlich doch unterlassen – vielleicht zu Unrecht. In dem Brief, der mit dem Satz beginnt: „Unter den Blumen war ihr Herz zu Hause, als wär’ es eine von ihnen“, heißt es, nach der gedruckten Fassung (Hyp. I 100, 3–6): Wie eine Schwester, wenn aus jeder Eke ein Geliebtes ihr entgegenkömmt, und jedes gerne zuerst gegrüßt seyn möchte, so war das stille Wesen mit Aug und Hand beschäftigt, seelig zerstreut, wenn auf der Wiese wir giengen, oder im Walde.

In der handschriftlichen Vorstufe der endgültigen Fassung (die, wie schon gesagt, nicht identisch ist mit der Druckvorlage) lautet ein einziges Wort dieses Satzes anders (Vst. 259, 18): „entgegentönt“ statt „entgegenkömmt“ – „… wenn aus jeder Eke ein geliebtes ihr entgegentönt, und jedes gern zuerst gegrüßt seyn möchte …“ Nicht wahr? „entgegenkömmt“ ließe sich auch hier als Lesefehler des Setzers denken; und doch dürfen wir nicht ausschließen, daß der Dichter bei der Herstellung der letztgültigen Reinschrift dieses eine Wort noch geändert hat, und zwar bewußt und absichtlich. Es gibt nämlich Überlieferungsvarianten, die unter den Augen des Autors passieren, ja seinem eigenen Federkiel entfließen. Der Begriff der Überlieferungsvariante wäre da, meine ich, sehr weit zu fassen. Überlieferungsfehler dürfen und müssen vom Herausgeber korrigiert werden, mechanische und sinnlose Verschreibungen ohnehin, aber auch so tückische Schreibfehler (es müssen wirklich bloß Schreibfehler sein!), die erst bei genauerem Lesen auffallen. Selbstverständlich ist es nicht angängig, Fehler und Irrtümer, die der Autor gewissermaßen als solche konzipiert hat, zu beseitigen, also Fehler, die keine Schreibfehler sind. So wird man im 6. Auftritt des 2. Aufzugs der „Emilia Galotti“ die (von dem verstandesklaren Lessing!) so wunderlich ins Gegenteil verkehrte Litotes nicht antasten dürfen: Emilia wird von ihrer Mutter daran erinnert, daß der Prinz sie „jüngst nicht ohne Mißfallen gesehen!“ Man wird auch Goethes falsche Imperative stehn lassen müssen – z. B. in der „Dornburger Inschrift“ von 1828 (WA. 4, 338): ,,Freudig trete herein und froh entferne dich wieder!“ oder in der ,,Euphrosyne“ (v. 109): „Aber du, vergesse mich nicht!“ Thomas Manns befremdliche Konjunktive der reduplizierenden Verba – „fänge“ statt „finge“ und „rüfe“ statt

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„riefe“17 – hätten aufmerksamere Verlagslektoren (unsre Schüler, meine Herren Kollegen!) vielleicht verhindern können: der Herausgeber kann nichts mehr ändern, auch nicht an den berühmten „Heinzelmännchen von Stuttgart“. Als eine vom Herausgeber ins Lot zu bringende Überlieferungsvariante aber möchte ich eine Unstimmigkeit in Wielands „Idris und Zenide“ auffassen. Die 14. Stanze des 1. Gesangs lautet in allen mir erreichbaren Drucken, auch im 7. Band der Akademie-Ausgabe, so: Er hatte, seit Aurorens goldne Pforten Dem Tag sich aufgethan, bis itzt in einem fort Die Reise fortgesetzt, die ihm gerathen worden. Sein Pferd, ein edles Thier vom ritterlichen Orden, Flog Rehen gleich, und doch im schnellsten Flug Des Ritters Ungeduld nicht schnell genug: Er ritte noch, wofern ihn Raspinette, Die keinen Fuß mehr fühlt, nicht abgemahnet hätte.

Die Reimordnung der Idris-Stanzen setzt in den ersten sechs Zeilen zwei Reime dreimal, doch nicht starr alternierend wie in den italienischen Ottave rime, sondern in buntem Wechsel, und schließt die Strophe mit einem Reimpaar ab. Unter den insgesamt 538 Stanzen in fünf Gesängen wäre die eben gehörte die einzige, die eine Waise enthielte. Das kann nicht die Absicht des Dichters sein, der sich, wie ich vermute, selber beim Mundieren durch die in der Zeile darüber stehenden „Pforten“ und das unmittelbar sich anschließende „fortgesetzt“ zu dem Schreibfehler „fort“ hat verleiten lassen, und der hat sich dann unbemerkt in allen Drucken behauptet: Er hatte, seit Aurorens goldne Pforten Dem Tag sich aufgethan, bis itzt in einem fort Die Reise fortgesetzt …

Es fehlt das dritte Reimwort auf „Flug“ und „genug“, und wenn sich alle Konjekturen so leicht von selber einstellten wie hier, könnten wir froh sein: Er hatte, seit Aurorens goldne Pforten Dem Tag sich aufgethan, bis itzt in einem Zug Die Reise fortgesetzt, die ihm gerathen worden …

Die Überlieferungsvariante „in einem fort“ müßte selbstverständlich im Lesartenverzeichnis angeführt werden. Der Idris-Text ist vor 52 Jahren im 7. Band der Akademie-Ausgabe nach der Ausgabe letzter Hand ganz einfach nur abgedruckt worden, und zwar nach der wohlfeilen Ausgabe auf grauem Papier im Oktavformat (C1). Der Herausgeber hat auf jegliche aus der Recensio sich von selber ergebende Emendatio verzichtet. Unbegreiflich, daß Erich Schmidt und Seuffert das gebilligt haben! Ein Apparatband ist dem Text von 1911 bis heute nicht gefolgt. ———— 17

Pariser Rechenschaft, Berlin 1926, S. 117; Joseph der Ernährer, Gesammelte Werke, 〈Frankfurt a. M. 1960〉, Bd. 5, S. 1776.

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Sie wissen, meine Damen und Herren, daß es in der alten Philologie ein durchaus legitimes Verfahren gibt, das den Wortlaut einer bestimmten Handschrift im Text und die varia lectio der andern Handschriften im Apparat erscheinen läßt. Sie kennen dies Verfahren von den „Deutschen Texten des Mittelalters“. Es ist aber nur anwendbar, wo die Recensio eigentlich nur eine einzige Handschrift feststellt, die bei weitem die zuverlässigste, die auch meistens die einzig vollständige ist, während die andern, fast allesamt fragmentarischen nur an ganz wenigen Stellen den Text der bevorzugten Handschrift zu bessern vermögen. Es leuchtet ohne weiteres ein, daß auch bei diesem Verfahren, dessen Vorzüge ich hier aus Zeitmangel nicht erörtern kann, der Herausgeber dennoch die gewissenhafteste Recensio wird vorausgehn lassen müssen, bevor er den Text publiziert. Und dies ist noch besonders zu betonen: das geschilderte Verfahren ist nur auf alte Texte anwendbar, bei denen es nur Überlieferungsvarianten gibt; wo aber Entstehungsvarianten die Entwicklung des Textes bestimmen und verschiedene vom Autor selber herrührende Fassungen zu berücksichtigen sind, wäre es absurd, von einem einzigen Überlieferungsträger auszugehn. Es ist bekannt, daß Wieland während des Erscheinens seiner Werke in der Ausgabe von der letzten Hand oft noch – eben als der unermüdet zum Bessern arbeitende Schriftsteller – bessernd eingegriffen hat, und daß diese allerletzten Besserungen häufig, aber keineswegs in allen Fällen, in der sogenannten Fürstenausgabe im Quartformat (C4) ans Licht treten. Bei einigen Bänden ist C4 nicht als letzte Fassung gedruckt worden. Der Idris aber erscheint im Quartformat, eben in C4, mit deutlichen Korrekturen: mit stilistischen und metrischen Besserungen z. B., die ganze Versgruppen umfassen und daher nicht das Werk eines von Göschen angestellten Korrektors sein können. Die Zeit erlaubt es mir nicht, Ihnen das im einzelnen zu belegen. – Es wäre nun aber ebenso verkehrt gewesen, statt C1 (der wohlfeilen Oktavausgabe) einfach C4 abzudrucken. Denn in dieser „Fürstenausgabe“, die (außer bei Wieland auch bei Klopstock) Göschens ganzer Stolz war, hat sich auch der eifrige Korrektor besonders angestrengt. Das fängt gleich auf dem Titelblatt an. Der Untertitel zu „Idris und Zenide“ lautet in C1 sinnvoll: „Ein romantisches Gedicht / Fünf Gesänge 1767“. In der „Fürstenausgabe“ aber steht zu lesen: „Ein romantisches Gedicht in fünf Gesängen. 1767“. Das bedeutet doch, daß das bekanntlich fragmentarische Epos hier als vollständig, als in fünf Gesängen vollständig, hingestellt wird, und das kann Wieland niemals angeordnet haben: der eigenmächtige Korrektor hat hier eine Angleichung an die Titelblätter des „Oberon“ und andrer Epen für richtig gehalten. Auch im Text finden sich viele Abweichungen, die unmöglich vom Dichter selber herrühren. Daraus folgt nun, daß der Herausgeber auch und besonders beim „Idris“ so hätte verfahren müssen, wie es in allen wissenschaftlichen Editionen sich von selbst versteht, und wie es Bernhard Seuffert in den Prolegomena (III. IV S. 51) eigentlich überflüssig, aber ganz ausdrücklich und elementar vorgeschrieben hat: „Der Text ist auf der Grundlage der gesamten Überlieferung kritisch herzustellen. Altvererbte und neuere Fehler sind zu berichtigen.“

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Diese Regel aber wird von den Berliner Goethe-Herausgebern nicht mehr anerkannt. In seinen „Prolegomena zu einer Goethe-Ausgabe“ hat Ernst Grumach18 überzeugend dargelegt, daß eine wissenschaftliche Goethe-Edition mehr sein müsse als eine pietätvolle Revision der Ausgabe letzter Hand. So sei im Grunde die Weimarer Ausgabe verfahren. Zu viele Hände haben vor und an der Ausgabe letzter Hand mitgewirkt, und diese letzte Hand sei weithin Göttlings Hand. Darf man diese Ausgabe deswegen aber ganz beiseiteschieben und eine Fassung abdrucken, die nur von den handgreiflichen mechanischen Versehen frei ist, aber auch frei von späteren Verbesserungen? Darf man den Willen des Dichters und sein Recht an seinem Werk dermaßen mißachten? Von echter Textkritik könne nicht die Rede sein, sagt Grumach selbst,19 wenn ein Druck (gemeint ist die Ausgabe letzter Hand) für sakrosankt erklärt und alle andern Drucke und alle Handschriften „nur historisch oder akzessorisch berücksichtigt“ würden. Ja, gilt das dann nicht auch und in viel höherem Maße, wenn nun eine frühe Fassung den Text bilden soll? Grumachs Mitarbeiter und Nachfolger sind sogar noch radikaler in ihren neuen Grundsätzen: sie verwerfen z. B. auch die erste Cottaische Sammlung der Werke von 1806–10 (A) und gehen zurück auf den allerersten Druck und womöglich auf dessen handschriftliche Vorlage. Einen aus der Recensio der gesamten Überlieferung kritisch konstituierten Text nennt Siegfried Scheibe in seinem Apparatband zu den „Epen“ (S. 89) eine „Textkontamination“! Ein nach solchen Prinzipien verfahrender Herausgeber müßte also Verbesserungen, die der Dichter nachträglich in einem nicht erhalten gebliebenen Brief noch angeordnet hat, aus dem ersten Druck entfernen und dafür die minder gute Fassung der zufällig nicht verschollenen Handschrift einsetzen.20 – Und darf er immer sicher sein, daß eine vollständige Handschrift auch wirklich als Druckvorlage gedient hat? Ein Beispiel aus der praktischen Arbeit: Zu Schillers Virgil-Nachdichtung „Die Zerstörung von Troja“ liegt im Weimarer Goethe- und Schiller-Archiv (II, III, 4) eine vollständige, vom Dichter durchgesehene Schreiberreinschrift, die ganz das Aussehn einer Druckvorlage bietet. Der Schreiber hat, wie man bei genauerer Kollation feststellt, nicht viel Sinn für die Versgestalt des Gedichtes. Die gedruckte Fassung weist streng alternierende jambische Verse auf, ganz ohne zweisilbige Senkungen. Schiller hat in der Reinschrift v. 47 „Meere“ in „Meer“ verbessern müssen, v. 48 „inneres“ in „innres“, v. 138 „unsere“ in „unsre“, v. 148 „finstere“ in „finstre“, v. 196 „Unsere“ in „Unsre“, v. 232 „zerrissenen“ in „zerrissnen“, v. 271 „gerollet“ in „gerollt“, v. 379 „besäet“ in „besät“. Aber er hat an mindestens 20 Stellen derartige Verstöße gegen das Metrum übersehn, hat v. 472 den Schreibfehler „aufgefordert“, im Reim auf „lodert“, nicht bemerkt, auch nicht v. 539 die Verlesung des Namens „Choröbus“ zu „Girobus“. Nach der neuesten Editionsmethode müßte nun gleichwohl diese Rein———— 18

19 20

Beiträge zur Goetheforschung, hg. von Ernst Grumach. Deutsche Akad. d. Wiss. zu Berlin, Veröffentlichungen des Inst. f. dt. Sprache u. Lit. Bd. 16, Berlin 1959, S. 1–34 (zuerst: Goethe, N. F. des Jahrbuchs der Goethe-Gesellschaft, 12. Bd. (1950), Weimar 1951, S. 60–88). Ebenda, S. 6. Ein Beispiel dafür, daß es solche brieflichen Korrekturen gibt: Hölderlin, StA. Bd. 6 Nr. 50 Z. 27–37.

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schrift als Text gedruckt werden, selbstverständlich mit Richtigstellung der zuletzt genannten offensichtlichen Schreibfehler. Doch was das alternierende Metrum angehe (würde man wahrscheinlich argumentieren), so sei ja an der vom Dichter bis zum Ende durchgesehenen Handschrift abzulesen, daß das übergenau geregelte Versmaß des ersten Druckes schon eine Normierung und Nivellierung darstelle, die der Dichter offenbar nicht gewollt habe; denn er habe ja mehr zweisilbige Senkungen stehen lassen als wegkorrigiert. Wielands Stanzenform sei doch das Vorbild gewesen, und wisse man denn nicht, daß im „Oberon“, besonders in den ersten beiden Gesängen, der bewegtere Amadis-Vers durchaus noch anzutreffen sei? – So würde man argumentieren – so könnte man, vielleicht, argumentieren, wenn nicht zufällig in Marbach ein Blattfragment und in München ein einzelnes Blatt erhalten wären, Reste einer eigenhändigen letzten Reinschrift, die beweisen, daß Schiller, nachdem er sich von der groben Fehlerhaftigkeit der Schreiberreinschrift überzeugt, die korrekte Druckvorlage dann lieber doch selber angefertigt hat. Wären diese bescheidenen Reste, was ja sehr leicht hätte geschehn können, mit all den übrigen Blättern der wirklichen Druckvorlage verschollen, so hätte jene unzulängliche vermeintliche „Druckvorlage“ bei der prinzipiellen Geringschätzung der Drucke zu einer schlimmen Verhunzung geführt. Grumach meint,21 es sei kühn, von der Ausgabe letzter Hand als von einer „letztwilligen Textrecension“ Goethes zu sprechen. – Immerhin hatte der Dichter den Philologen Göttling beauftragt. Er wollte die Normierung und war – nach Stichproben nur (meinetwegen!) – mit Göttlings Arbeitsweise und deren Resultaten einverstanden. Davon ist auszugehn. Freilich müßte nach verfeinerter Methode korrigiert werden, viel korrigiert werden. Wir können heute z. B. nicht verstehn, daß Goethe die Versifikation des „Elpenor“ so ganz und gar Riemer überlassen hat. In einer historischkritischen Ausgabe müßte dennoch die von Goethe gebilligte Riemersche Versfassung nach dem Goethischen Entwurf auch im Text abgedruckt werden – aus dem schlichten Grund, weil Goethe Riemers Fassung so gewollt hat. Natürlich geht es nicht an, Goethes Original nur im Apparat darzubieten, noch dazu mit recht fragwürdiger Bescheidung, wie es Zarncke im 11. Band der Weimarer Ausgabe getan hat. Wo mit einiger Sicherheit auszumachen ist, daß eine normierende Änderung der Absicht Goethes zuwiderläuft, da ist der Text von C entsprechend zu korrigieren, mit Rechenschaft im Lesartenapparat. Daß solche Feststellungen möglich sind, hat Lieselotte Blumenthal an den beiden Tasso-Handschriften gezeigt.22 Doch dürfen, meine ich, die Handschriften nicht die einzige Textgrundlage sein. In einer Einzelausgabe des ursprünglichen Textes vielleicht, nicht aber in einem Bande „Sämtlicher Werke“, worin der Dichter in seiner bleibenden Gestalt vor die Nachwelt tritt, dürfte Eleonore, gleich im ersten Vers, die Prinzessin „lächlend“ ansehn. Es wäre eine einigermaßen gewaltsame Methode, alle Änderungen Göttlings und andrer bestellter Helfer, auch ———— 21 22

Beiträge zur Goetheforschung (s. Anm. 18), S. 12. Beiträge zur Goetheforschung (s. Anm. 18), S. 143–181: Die Tasso-Handschriften (zuerst: Goethe, N. F. des Jahrbuchs der Goethe-Gesellschaft, 12. Bd. (1950), Weimar 1951, S. 89–125).

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die autorisierten, unbesehn rückgängig zu machen. Nur solche gehören in den Lesartenapparat, die nachweisbar Goethes wirklicher Intention zuwiderlaufen und von ihm übersehen worden sind. Der Herausgeber sollte versuchen, Goethes Auftrag besser auszuführen, als es Göttling möglich war, dem die Heranziehung der älteren Drucke widerraten worden war,23 der Handschriften ganz zu geschweigen. Es liefe dabei hinaus auf die von Goethe gewünschte Normierung unter feinfühligster Wahrung und Bewahrung des eigentümlich Goethischen, das sich gegen die Normierung sperrt. Man darf nicht verkennen, daß die „Sämtlichen Werke“ eines Dichters denn doch ein Corpus sind und es auch darstellen müssen. Sie liegen immer, auch unausgesprochen, in der Intention des Autors, und der Herausgeber hat sich danach zu richten. Man braucht nicht pathetisch von einem „Vermächtnis“ zu sprechen. Aber von Goethes Werken ist die Ausgabe letzter Hand eben da, und die (von Grumach verdienstvoll erhellte) Einsicht in ihre Problematik erschwert das Geschäft des Editors. Sie darf aber deshalb nicht einfach beiseitegeschoben werden. – Was Grumach vorschlägt, eignet sich allenfalls (wie schon angedeutet) für Ausgaben einzelner Werke in ihrer ursprünglichen Fassung: eine Gesamtausgabe jedoch muß einheitlich sein. Das „historische Relief“24 wird dadurch nicht „nivelliert“ oder gar „verfälscht“ – die lesbar dargebotenen Varianten (ein Bestandteil der Ausgabe!) erlauben dem interessierten Philologen immer die Herstellung des Ursprünglichen, erlauben ihm auch, von der Entscheidung des Herausgebers in einzelnen Fällen abzuweichen. Und wo zwischen der ersten und der endgültigen (vom Dichter selber endgültig so gewollten!) Fassung ein so starker Unterschied besteht, daß es einen Verlust bedeutete, wenn eine frühe Fassung in ihrer jugendlichen Anmut (oder: Frechheit) um ihre Wirkung gebracht und nur dem philologischen Fachmann zugänglich bliebe, der die Partitur einer lebendigen Lesartendarstellung zu lesen verstünde: da soll man eben zwei oder noch mehr Fassungen in extenso abdrucken. Die endgültige Fassung aber darf in einer Edition der „Sämtlichen Werke“ nicht fehlen. Das verlangt der Respekt vor dem Dichter, der ein Recht hat an seinem Werk. Tübingen

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Aussprache Diskussionsleiter: Trunz, Kiel Diskussionsteilnehmer: Fourquet, Paris; Quint, Köln; Schrimpf, Münster; Sengle, Heidelberg; Windfuhr, Heidelberg. Zunächst wurde die Frage des idealen Wachstums aufgegriffen, die in den letzten Jahren vielfach diskutiert wurde. Zwar sei der Versuch von Scheibe (1. Kommentarband zu der GoetheAkademie-Ausgabe) wohl als ein Rückfall in die positivistischen Darstellungsweisen aufzufas-

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Vgl. Grumach, Prolegomena (s. Anm. 18), S. 30. Vgl. Grumach, Probleme der Goethe-Ausgabe, S. 45 (Das Institut für deutsche Sprache und Literatur. Deutsche Akad. d. Wiss. zu Berlin, Veröffentlichungen des Inst. f. dt. Sprache u. Lit. Bd. 1, Berlin 1954, S. 39–51).

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sen, indessen sei es doch wohl möglich, einen größeren Grad des Realismus der Darstellung zu erreichen, als es in der Hölderlin-Ausgabe geschehen sei. Ein solches Verfahren müsse dann eintreten, wenn Mehrdeutigkeit oder Vieldeutigkeit der Handschrift zu beobachten sei. Die Wahl der Darstellungsmittel könnte vielleicht verschieden sein. Vielleicht wäre der Weg Zellers nicht richtig, vielleicht könne man sich auch einen kommentierten Apparat, etwa in der Form eines zweiten Apparates, denken, aber man könne wohl doch auf diesem Wege noch zu wirklich fruchtbaren Ergebnissen gelangen. Der Referent griff die Frage auf und meinte, ob nicht die dadurch verursachte Komplizierung des Apparates seine Benutzbarkeit erheblich einschränken würde. Er habe gerade bei seiner Ausgabe entscheidenden Wert darauf gelegt, daß der Leser wirklich den Entwicklungsgang mitmachen könne. Wenn etwa vier Stufen vohanden wären, würde der Leser durch den komplizierten Apparat von Symbolen, wie z. B. bei Zeller, so verwirrt, daß er schließlich gar nicht mehr sehen könne, wie die dichterische Entwicklung weitergehe. Der Diskussionsleiter stellte noch einmal heraus, wie sehr die Hölderlin-Ausgabe doch mehr oder weniger für alle zum Orientierungspunkt geworden sei. Es gebe ja überhaupt keine sehr große Anzahl von historisch-kritischen Ausgaben: eben die Hölderlin-Ausgabe, die SchillerNationalausgabe, die noch im Werden ist, und die geplante Heine-Ausgabe. Das Problem einer Ausgabe sei überhaupt von Dichter zu Dichter verschieden. Bei Hölderlin lägen die Dinge so, daß die Handschriften die einzige Grundlage bilden müßten. Bei Klopstock etwa sei es schon dadurch völlig anders, daß es nur von einem einzigen Gedicht eine Handschrift gebe. In dem gesamten, jetzt von der Stadt Hamburg aufgekauften Nachlaß habe sich keine weitere Handschrift gefunden. Klopstock sei stets sein eigener Philologe gewesen, habe sich an den Druckort begeben und höchst genau Korrektur gelesen und dann seine Handschriften offenbar fortgeworfen. In seinem Handexemplar der Oden von 1771 fänden sich wiederum höchst genaue Aufzeichnungen und Änderungen, die als Grundlage der Ausgabe von 1798 dienten. Könnte man dieses Handexemplar faksimilieren, so hätte man etwas in der Hand, was schöner als jeder Lesartenapparat wäre. Bei Goethe seien die Verhältnisse wieder anders. Als er nach der italienischen Reise seine Gedichte zum ersten Male zusammenstellte, habe er die Gedichte selbst sorgfältig in zwei Heften abgeschrieben. Seine Handschrift (H3 und H4) wurde von einem Schreiber kopiert, und diese Kopie ging an Göschen als Druckvorlage. Goethes eigene Handschrift aber sei von der Weimarer Ausgabe nicht einmal vollständig erfaßt worden. Überhaupt seien die Handschriften Goethes nie genau abgedruckt worden. Die Divan-Handschrift sei, von den Bruchstücken abgesehen, die Burdach schon gekannt habe, überhaupt noch nicht richtig benutzt worden. Wenn man bedächte, welche großen Mittel jeweils für eine historisch-kritische Ausgabe nötig würden, so sollte man auf der anderen Seite auch nicht völlig vergessen, eine solche Handschrift zu faksimilieren oder zu edieren. Gewiß gebe es Probleme, die nur durch die Herstellung eines Lesarten-Apparates zu lösen seien, auf der anderen Seite gebe es Dinge, die durch ein Handschriften-Faksimile erheblich besser vor Augen gestellt werden könnten. Nicht, daß das eine gut und das andere schlecht wäre, nicht darum ginge es, sondern darum, daß die Mittel jeweils richtig und zweckmäßig eingesetzt würden.

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Textkritik. II. Neuere Philologie (1965)

Textkritik. II. Neuere Philologie

In der neueren Philologie bezwecken die unter dem Namen Textkritik zusammengefaßten Maßnahmen, einen dem Willen des Autors entsprechenden Text seines Werks herzustellen, während sich die ältere Philologie darauf beschränken muß, den überlieferten Text wiederzugeben oder aus dem durch die Überlieferung verderbten Text einen Text zu rekonstruieren, der dem ursprünglichen Text möglichst nahe kommt. Für die neuere Philologie charakteristisch ist, daß sie es großenteils mit eigenhändigen Manuskripten des Autors und mit von ihm autorisierten (als gültig erklärten) Drucken zu tun hat (wogegen Autographen aus dem Mittelalter die Ausnahme bilden und autorisierte Texte als solche gewöhnlich nicht erkennbar sind). Außer der Herstellung des kritischen Textes ist das Hauptziel der neuphilologischen Edition die Darstellung der primären Textgeschichte, d. h. der Bildung und Umbildung des Textes durch den Autor. Die sekundäre Textgeschichte (die nicht unmittelbar vom Autor veranlaßten Änderungen) ist z. B. beim Volkslied von Bedeutung. Durch diesen Sachverhalt und durch den Umstand getäuscht, daß die neuere Literatur von Anfang an durch den Buchdruck verbreitet wurde, überschätzt man allgemein die Zuverlässigkeit des Textes von wissenschaftlichen und populären Ausgaben. In seiner Neuausgabe der Wochenschrift ‚Spectator‘ beseitigte Morley 1868 etwa 3000 Textverderbnisse der damaligen Standardausgabe. Als Köster 1918 – nur 30 Jahre nachdem Storm aufgehört hatte, die Drucklegung seiner Werke zu überwachen – ihren Text revidierte, hatte er ihn, von einfachen Druckfehlern abgesehen, an über 1550 Stellen durch Rückgriff auf die autorisierten Drucke zu bessern. Oft nicht besser als die Überlieferung von autorisierten Fassungen durch den Druck ist der Text von Nachlaßeditionen: Für die Textgestaltung der Werke Kafkas, auf welcher eine schon nicht mehr zu überblickende Interpretationsliteratur gründet, ergab die einzige bisher mögliche Kontrolle bei einem Bestand von etwa 6000 Wörtern die Zahl von 249 Textveränderungen durch den Herausgeber, so daß man eher von einer Bearbeitung als von einer Herausgabe sprechen muß. Sollte das auch für die übrigen von Kafka nicht selbst publizierten Werke gelten, so fehlt offensichtlich eine für die Interpretation genügende Grundlage. A. Textgestaltung. Selbst bei einem Autograph oder beim autorisierten Druck eines Werks ist mit Unklarheiten und Textentstellungen zu rechnen (Schreib- oder Druckfehler, dem Autor vielleicht unbekannt gebliebene oder nur geduldete Eingriffe des Setzers, Korrektors, der Zensurbehörde). Um den vom Autor intendierten Text genau-

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er festzustellen, muß der Herausgeber die Vorstudien (Quellenexzerpte usw.) des Autors, die Zeugnisse (Dokumente, die über das Werk, besonders seine Entstehung und Autorisation, Auskunft geben) und die Zeugen (alles, was den Text des Werks oder Teile davon enthält) möglichst vollständig sammeln. Mit einer Mehrzahl von Zeugen sind Varianten (Lesarten) gegeben, Unterschiede in der Folge von Buchstaben und Satzzeichen des Textes, in der Hervorhebung (Unterstreichung, Sperrung) und in der Anordnung (Versbegrenzung, Alinea, weiterer Durchschuß, Kapiteleinteilung). Die Varianten sind zu unterscheiden: 1. nach ihrem Urheber als primäre und sekundäre Varianten (vom Autor und nicht vom Autor stammende Varianten), 2. nach ihrer Autorisarion als autorisierte (vom Autor als gültig erklärte) und nicht autorisierte Varianten. Die Varianten eines autographen Entwurfs sind primär, aber nicht autorisiert; die vom Dichter übernommenen Änderungsvorschläge eines Beraters sind autorisierte Sekundärvarianten. Häufig ist außerdem nach der Art der Autorisation zu unterscheiden zwischen aktiver und passiver Autorisation: die aktive Autorisation, die z. B. in der Übernahme eines Änderungsvorschlages liegt, entspricht dem Autorwillen, nicht dagegen die passive Autorisation, die eine Textentstellung dadurch erfährt, daß sie in einem generell autorisierten Druck unbemerkt bleibt. Das Hauptproblem der Textherstellung ist die Unterscheidung dieser Arten von Varianten: die Sicherheit des kritischen Textes hängt wesentlich davon ab, wie genau sich die Textgeschichte in den entscheidenden Phasen erhellen, oder, wenn sie verdeckt ist, rekonstruieren läßt. Sobald wir es nicht mit Autographen zu tun haben, kann die Trennung von Primärund Sekundärvarianten fraglich werden. Besonders schwierig ist es, die nur passiv autorisierten Sekundärvarianten in autorisierten Drucken zu erkennen. Sie haben vielerlei Ursachen: 1. Setzerfehler, die einen Sinn ergeben: Auslassung, Zusatz, Umstellung von Textstücken und Änderungen eines Wortes in der Weise, daß ein anderes, dem originalen ähnliches Wort erscheint. Die Wahrscheinlichkeit, daß eine Variante ein (Schreib- oder) Setzerfehler sei, ist um so größer, wenn sie als Fehlleistung (z. B. als klangliche oder optische Assoziation) zu verstehen ist. 2. Nachdrucke und Doppeldrucke, besonders in der 2. Hälfte des 18. Jh. Als Nachdruck (Raubdruck) bezeichnet man gewöhnlich einen ohne vertragliche Vereinbarung hergestellten Druck eines fremden Verlags, als Doppeldruck den vom eignen Verlag gegenüber dem Originaldruck mit völligem oder teilweisem Neusatz hergestellten Druck; dem Autor gegenüber ist er eine versteckte, nicht honorierte Auflage und wird darum dem Originaldruck bis auf den Zeilenumbruch möglichst ähnlich gemacht. Die sich gleichwohl einstellenden Varianten solcher nicht autorisierten Drucke werden für die primäre Textgeschichte wichtig, wenn der Dichter ein solches Exemplar als Grundlage für eine Überarbeitung oder als Druckvorlage für einen autorisierten Neudruck benutzt und, was fast immer der Fall ist, seine Entstellungen nicht alle bemerkt. Gelingt es dem Herausgeber, das Abhängigkeitsverhältnis von Originaldruck, Doppeldruck und Neudruck zu klären, so kann er solche passiv autorisierten Entstellungen eliminieren. 3. Eine weitere Quelle von Sekundärvarianten in autorisierten Drucken ergibt sich, wenn der Autor jemanden generell zu Änderun-

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gen ermächtigt, wie Goethe für die Ausgabe letzter Hand dem Philologen Göttling „völlige Macht und Gewalt“ in den Fragen der Orthographie, Interpunktion und in der Vereinheitlichung der Flexion erteilte, oder wie C. F. Meyer seine Schwester mit der Drucküberwachung der 4. Auflage der ‚Gedichte‘ beauftragte, wobei sie selbständig Änderungen vornahm und nach ihrem eignen Ausdruck ein Gedicht ‚verballhornte‘. Sind in solchen Fällen nicht alle Belege überliefert, so kann die Unterscheidung von Primär- und Sekundärvarianten und zwischen aktiver und passiver Autorisation zur Ermessensfrage werden. Bei der Textherstellung dürfen die Primärvarianten von Zeugen, die zu verschiedenen Zeitpunkten autorisiert wurden, nicht miteinander gemischt (kontaminiert) werden, so daß ein Text entsteht, den der Autor als Ganzes so nicht gekannt hat. Welche von mehreren autorisierten Fassungen (so bezeichnet man gewöhnlich eine abschließende Redaktion oder das Ergebnis von Texteingriffen, die den Charakter des ganzen Werkes wesentlich verändern) soll in eine Gesamtausgabe eingehen? Der ‚Werther‘ z. B. in der ersten Druckfassung von 1774, oder in der Fassung, die nach zweimaliger Bearbeitung 1787 in den ‚Schriften‘ stand, oder wie er 1828 in der Ausgabe letzter Hand erschien? Die Editoren des 19. und vom Anfang des 20. Jh. haben sich fast immer für die zuletzt autorisierte Fassung entschieden. Sie verstanden sich als Testamentsvollstrecker des Dichters im juristischen Sinne. (Der konsequente Editor der Romane Kafkas oder der Aeneis hätte danach das Werkmanuskript vernichten müssen.) Die ‚letztwillige Verfügung‘, wie sie eine Ausgabe letzter Hand, zumal als Gesamtausgabe, darstellt, sollte alle früheren Entscheidungen für ungültig erklären. Die Erkenntnis, daß die ursprüngliche Fassung ihr eignes Daseinsrecht hat und die Bearbeitung im Stil des reifen oder des alten Dichters einem Jugendwerk selten gerecht wird, führte manche seitherigen Herausgeber dazu, den letzten Willen des Dichters weder in der Frage der Fassungen noch bei anderen Entscheidungen in jedem Fall als verbindlich zu betrachten, sondern den jüngeren Dichter gegen den älteren in Schutz zu nehmen und von mehreren Fassungen der früheren den Vorzug zu geben oder sie doch – evtl. im Paralleldruck – mit in den Text zu setzen, statt sie in den Apparat zu verweisen. Die Akademie-Ausgabe von Werken Goethes entscheidet sich grundsätzlich für die Fassung, die der endgültigen Intention des Dichters zur Zeit der Entstehung des Werks (Erstdruck) entspricht. Nach F. Strichs Vorschlag ist allgemein die Fassung zu wählen, „in der ein Werk sein eigenes Telos, seine eigene eingeborene Idee, seine innere Form, sich selbst erfüllt“. Emendation und Konjektur (verbessernde Eingriffe in den überlieferten Text) sind bei autorisierten oder autograph überlieferten Texten nach strengeren Grundsätzen nur zulässig zur Beseitigung nicht autorisierter Sekundärvarianten und wirklicher Schreib- oder Druckfehler, ein Begriff, der unter Berufung auf den zu erschließenden Autorwillen oft zu weit gefaßt wird. So dürfen in den schriftsprachlichen Partien von Gotthelfs Werken grammatische, von seiner Mundart herrührende Fehler („Joggeli hatte immer ein heimlicher Schrecken“) ebensowenig berichtigt werden wie sachliche Versehen: wenn er auf der gleichen Buchseite von den „sieben“ (statt vier) „Haimons-

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kindern“ spricht, ist das für seine Sorglosigkeit in Bildungsfragen bezeichnend. Die Centenarausgabe von Hauptmanns Werken ersetzt überliefertes „Nemesis“ durch sinngemäßes „Hybris“ nur, weil die Ausgabe letzter Hand an einer andern Stelle ebenso verfahren hat. Die Verbesserung der Irrtümer des Autors gehört in die Erläuterungen. Zurückhaltung, schon im Hinblick auf die künftige Überlieferung des Textes, ist besonders geboten, wenn man sich gegen die Überlieferung auf das Textverständnis beruft. Wesentliche Fortschritte der griechischen Sprachwissenschaft und Einsichten in die epische Technik beruhen auf den von den alexandrinischen Philologen zwar nicht mehr verstandenen und leicht zu ‚heilenden‘, aber im Homertext bewahrten Glossen und inhaltlichen Widersprüchen. Niemand würde die wirklichen und scheinbaren Widersprüche des ‚Faust‘-Textes durch Konjektur geglättet sehen wollen. Die Interpunktion ist wie der übrige Text zu behandeln. Abweichungen von der heute im Deutschen gültigen grammatisch-logischen Regelung und wirkliche oder scheinbare Inkonsequenzen, die frühere Herausgeber oft ausgeglichen oder modernisiert haben, hat man in neuerer Zeit (Untersuchungen Stefls für Stifter, Grumachs für Goethe, Sembdners für Kleist) als Befolgung des ältern rhythmisch-rhetorischen Interpunktionsprinzips erkannt, das eine viel größere Variation des Ausdrucks erlaubt. Die originale Orthographie ist grundsätzlich zu bewahren. Schwankungen innerhalb eines Textes können für einen Autor oder eine Zeit bezeichnender sein als Einheitlichkeit. Gesamtdisposition einer Ausgabe: Die seit Goethes Werken in der Ausgabe letzter Hand kanonisch gewordene Gliederung nach Gattungen (Lyrik, Epos, Drama, erzählende Prosa, übrige Schriften) gibt den Autoren eines völlig anderen Typus ein ihnen wesensfremdes Gepräge. Die Eröffnung der Ausgabe durch die Gedichte stellt bei Dramatikern wie Kleist, Grillparzer, Hebbel Nebenprodukte ins hellste Licht; die Trennung von Vers und Prosa, von erzählenden und kritisch-historischen Schriften bei Heine zerstört die für ihn charakteristische Annäherung und Mischung der Formen und Gattungen. Strich fordert darum, daß der „Bau“ der Ausgabe möglichst „im Stile seines Schöpfers errichtet“ werde. Das läßt sich oft besser als in der reinen Durchführung eines Prinzips (des gattungsmäßigen, chronologischen oder thematischen) durch die sinnvolle Anwendung mehrerer Gesichtspunkte nacheinander und nebeneinander erreichen. B. Apparatgestaltung. Der kritische Apparat verzeichnet mindestens die für die Textkritik relevanten Zeugen und ihre Varianten und dient dann vor allem der Kontrolle der Textgestaltung. Nach neuerer Auffassung erhält er eine selbständige Aufgabe: er soll die primäre Textgeschichte vollständig und womöglich im Textzusammenhang darstellen, und zwar nicht nur von Zeuge zu Zeuge, sondern auch innerhalb einer Handschrift mit vielfachen Korrekturen und Arbeitsschichten. Wie das gemacht werden könne, zeigte, nach zahlreichen unbefriedigenden Versuchen seiner Vorgänger, F. Beissner 1943 ff. in seiner Hölderlin-Ausgabe, indem er die Textentwicklung durch treppenweise Anordnung der Varianten höchst anschaulich wiedergab. Die sich daran anschließende Diskussion machte die Problematik einer Reihe prinzipieller

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Entscheidungen sichtbar und führte im Apparat von C. F. Meyers Gedichten (1964 ff.) zu einer Darstellung, welche die bei der Handschriftenwiedergabe auf Grund bloß des Textzusammenhangs und nicht zugleich auf Grund graphischer Indizien getroffenen Entscheide kennzeichnet, Dokumentation und Deutung der Überlieferung (deskriptive und interpretierende Information) trennt, unsichere Deutungen als solche bezeichnet und eventuell weitere mögliche Deutungen mitteilt. Entscheide sind oft um so problematischer, je wichtiger sie sind; vielfach sind sie willkürlich. Das zu verbergen, widerspricht den sonstigen wissenschaftlichen Gebräuchen. Es ist deutlich, daß auch die übliche Trennung von Text und Apparat von der Zuverlässigkeit des kritischen Textes einen zu guten Eindruck erweckt. Mehr und mehr sucht die Literaturwissenschaft in den letzten Jahrzehnten mit Erfolg durch das Studium der Entstehung und Umbildung, wie es die Entwürfe bis ins einzelne gestatten, zum Verständnis dichterischer Werke zu gelangen und fordert Ausgaben, die nicht nur das Ergebnis einer Entwicklung, sondern diese selbst darstellen. Die erneute Hinwendung zu Fragen der Apparatgestaltung hat eine Fülle neuer Editionen veranlaßt. Auch in der Apparatgestaltung verbietet die Einsicht in die Eigengesetzlichkeit jedes Autors, ja jeder Werkgruppe die schematische Anwendung einer generellen Methode. Überlieferungslage, Werkcharakter, Schaffens- und Schreibgewohnheiten stellen bei jedem Autor, oft bei jedem Werk, besondere Probleme und verlangen individuelle Lösungen. Dem Apparat können weitere Teile als Ergänzungen beigegeben werden: ein Kommentar (sachliche, sprachliche, metrische u. a. Erläuterungen), Nachweise von Quellen, Zeugnisse zur Entstehung, eventuell auch zur Wirkungsgeschichte des Werks, Äußerungen des Autors oder anderer über das Werk.

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Edition und Interpretation

Edition und Interpretation

Antrittsvorlesung (1966)

Von 123 bezeugten Schauspielen des Sophokles besitzen wir vollständig nur sieben. Nicht viel günstiger liegen die Ueberlieferungsverhältnisse bei den andern Tragikern. Wie immer man den Verlust im einzelnen erklärt, so ist eine über längere Zeit dauernde Interesselosigkeit doch die eigentliche Ursache. Zur Erhaltung literarischer Werke genügt jedoch nicht irgendwelches, z. B. bloss inhaltsbezogenes Interesse: die effektvolle Bühnenbearbeitung eines Dramas, das Exzerpt oder die Inhaltsangabe epischer oder historischer Werke setzen sich allzuleicht an die Stelle des Originals, führen zu seiner Verstümmelung oder zu seinem Untergang. Ein Beispiel dafür ist der sogenannte „Epische Kyklos“. Zur Erhaltung und Reinerhaltung eines Werks – das zeigt sehr deutlich der fragmentarische Ueberlieferungszustand der ältern lateinischen, verglichen mit der Ueberlieferung der zeitgenössischen griechischen Literatur – bedarf es des bewussten Willens zur philologischen Betreuung des Textes, die wir von jetzt an Edition nennen. Nicht unzutreffend sagt der Fachausdruck, der Hrsg. (Herausgeber) stelle den Text her. Die Erfahrungen vom Altertum bis zum Zweiten Weltkrieg zeigen, dass die unersetzlichen Ueberlieferungsgrundlagen, auf denen die philologischen Entscheidungen beruhen, stets vom Untergang bedroht bleiben. Das bedeutet, dass diese Entscheidungen unter Umständen nicht mehr überprüfbar, also endgültig sind; unüberprüfbar mindestens in dem Mass, als jene Ueberlieferungsgrundlagen, die wir künftig als Befund bezeichnen, nicht in die Edition mit aufgenommen werden. Schlagende Beispiele dafür bilden die Ausgaben der griechischen Autoren durch die Philologen der Bibliothek zu Alexandria, die im 3. Jahrhundert v. Chr. die philologische Methode, im besondern die Edition erfunden und im Laufe von nur drei Generationen zu einer Höhe und Zuverlässigkeit ausgebildet haben, die erst das 19. Jahrhundert wieder entwickelte und weiterführte. Ihre Editionen können noch heute als Modell dienen, wenn wir, unserm Thema gemäss, nach dem methodischen Verhältnis von Edition und Interpretation fragen. Das Beispiel von Aristarchs Homer-Ausgabe soll das veranschaulichen. In einem entscheidenden Punkt halte ich mich dabei an die neue Interpretation der antiken Zeugnisse und der Textüberlieferung durch Hartmut Erbse,1 den Fachmann für Ueber————

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Ueber Aristarchs Ilias-Ausgaben. In: Hermes 87 (1959) S. 275–303.

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lieferungsfragen der homerischen Gedichte, wonach Aristarch nur eine einzige IliasAusgabe veranstaltet habe, nicht deren zwei oder drei. In den Text dieser Ausgabe nahm er alle Verse auf, die in den von ihm für gut befundenen Hss. (Handschriften) standen, und zwar in der überlieferten Gestalt. Sein Text repräsentierte also die gereinigte Ueberlieferung, das was man mit dem Fachausdruck als Ergebnis der Recensio bezeichnet. Er verdrängte die übrigen Versionen, wurde zur Vulgata und entspricht im grossen und ganzen dem uns überlieferten Text. Die sogenannten Konjekturen, d. h. die durch die Kritik am überlieferten Text geforderten Eingriffe zur Behebung von Unstimmigkeiten, hat Aristarch – nebst den Ueberlieferungsvarianten – nur in gelehrten Kommentaren notiert und begründet. Seine Konjekturen finden sich darum nur in den Scholien, nicht im Vulgata-Text. Im edierten Text selbst gestattete er sich keine Emendatio, keine Verbesserung durch Konjekturen, sondern bloss Hinweise auf die Konjekturen im Kommentar, und zwar in der zurückhaltendsten Form: durch verschiedenartige Zeichen am linken Rand, vor den Versanfängen. Für die verschiedenen textkritischen Probleme benützte Aristarch eigene Zeichen: der berühmte Obelos, ein kurzer waagrechter Strich, bezeichnete einen Vers, den Aristarch ganz oder teilweise als unhomerisch betrachtete; eine Kombination von zwei bestimmten Symbolen verlangte die Umstellung in der überlieferten Versfolge, usw. Das editorische Prinzip, das mir wesentlich scheint, ist die methodische Trennung von Befund und Bearbeitung des Befunds, im Fall des Aristarch die innere und äussere Trennung der Recensio und Emendatio. In der Ausgabe selbst erschien die Emendatio nur in den Randzeichen ausserhalb des Textes; doch zeigten sie an, wo und wie der Hrsg. die Ueberlieferung kritisiert. Diese technische Massnahme bot die beste Gewähr für die Erhaltung und Reinerhaltung der Ueberlieferung; sie war für die damaligen Umstände zweifellos die optimale Lösung des Problems – eine glücklichere Lösung als das umgekehrte Verfahren der neuern Philologie, wo sich, wegen der völligen äussern Trennung von Text und Apparat, der Text in belletristischer Makellosigkeit präsentiert, selbst wenn er durch die fragwürdigsten Eingriffe zustande gekommen ist. Der aristarchischen Trennung von Befund und Bearbeitung, von Befund und Deutung des Befunds, verdanken wir nicht nur einen wohlerhaltenen Text der Dichtung, sondern nichts weniger als die Möglichkeit unseres Homerverständnisses, unabhängig von der säkularen und individuellen Befangenheit der alexandrinischen Philologen. Nach ihrem Textverständnis und ihren metrischen Vorstellungen hätten sie ohne weiteres, nämlich durch minimste ausgleichende Aenderungen, die linguistischen Anomalien „heilen“ und die nicht mehr verstandenen Glossen beseitigen können, auf denen das neuere Verständnis der homerischen Sprache beruht. Die Ansatzpunkte aber für die Lieder- und Bearbeitungstheorien zu den homerischen Gedichten und für das neue unitarische Verständnis epischer Kompositionstechnik bilden jene mehr oder weniger gravierenden rationalen Widersprüche der Erzählung, mit denen Aristarch durch Tilgung und Konjektur leicht fertig geworden wäre, wenn er seiner Einsicht

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hätte folgen wollen, denn als strenger Unitarier betrachtete er nicht nur einzelne Verse und Versgruppen, sondern auch Komplexe wie den sogenannten Schiffskatalog im Zweiten Gesang der Ilias als interpoliert und erkannte den letzten Gesang der Odyssee als fremdes Anhängsel. Nur dank jener Trennung von Befund und Deutung haben wir an der Befangenheit des Aristarch und seiner Zeit nicht teil, oder, wenn Sie das Bild ein für allemal gestatten: dank jener Trennung bleibt der unvermeidliche Schatten des Hrsg. für uns erkennbar; er fällt bei Aristarch nicht auf den Text, sondern auf den Kommentar. In der neueren Edition bilden die Konjekturen in dieser Hinsicht kein Problem, weil sich die gedruckte Ausgabe nicht mehr an die Stelle der Ueberlieferung setzt. Die originalen Ueberlieferungsträger, die Hss. und die seltenen Originaldrucke, bleiben zwar stets gefährdet, doch lässt sich der überlieferte Text aus dem gedruckten Apparat jederzeit zurückgewinnen, soweit der Hrsg. ihn festgestellt hat. Nicht so leicht zu erkennen ist dagegen der editorische Schatten, der auf die Gliederung des Gesamtwerks fällt. Man meinte ihn zu vermeiden, wenn man in allen Ausgaben, bei allen Autoren eine bestimmte Reihenfolge, nämlich die klassische Gliederung nach Gattungen, anwende: zuerst also die Dichtung in Versen, Lyrik, Epos, Drama, dann die Werke in Prosa, von der erzählenden Prosa bis zu den „Vermischten Schriften“. Man wollte diesen Kanon als wertfreie Reihe verstanden wissen, die wie das Alphabet keinen Stellenwert kenne und dem Benützer unnötiges Suchen erspare. Man verkennt dabei, dass dieses Schema die klassischen Gattungsvorstellungen voraussetzt und für Dichter ganz anderer Provenienz zum Prokrustesbett wird. Wie entscheidend das Gesamtbild eines Autors durch die editorische Gliederung bestimmt und unter Umständen verfälscht wird, wie sehr der editorische Entscheid also Interpretation ist, zeigt der Fall Heinrich Heine: die traditionelle Einteilung in Vers und Prosa, in erzählende, kritische und historische Schriften, zerstört gerade die von Heine angestrebte antiklassische Annäherung und Mischung der Formen und Gattungen. Der hier sichtbar gewordene hermeneutische Zirkel von Edition und Interpretation besagt, dass, in diesem Fall, die editorische Massnahme nur dann richtig sein kann, wenn sie ihrem Gegentand gemäss ist. Sollte das auch für die übrigen editorischen Entscheide gelten, so irrte jener gröblich, der glaubt, er setze sich in unmittelbaren, durch keinen interpretierenden Vorentscheid gefälschten Rapport zum Wort des Dichters, wenn er den Text in einer sorgfältigen Ausgabe lese und seiner Werkinterpretation zugrunde lege. Karl Lachmann, der Begründer der neuern textkritischen Methode im 19. Jhd., hat in seiner Ausgabe des Neuen Testaments „die Feststellung eines Textes nach Ueberlieferung“, also ohne Emendatio gefordert und dies „eine streng historische Arbeit“ genannt.2 Im wichtigsten Bereich also, in dem der Textkonstitution, bewegte sich der Hrsg. im Feld des Objektiven, wenn man von Konjekturen absieht. ————

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Kleinere Schriften, Berlin 1876, Band 2, S. 252.

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Um das zu prüfen, müssen wir auf die Kriterien des editorischen Entscheids in einem typischen Beispiel achten. Sie kennen die Situation in C. F. Meyers Ballade vom „Rappen des Komturs“: das wunde Tier ist allein durch den nächtlichen See nach Küsnacht zurückgekehrt. Da heisst es nun in allen Auflagen der „Gedichte“: „Die Komturei mit Turm und Tor / Ragt weiss im Mondenglanz empor.“ In früheren Fassungen dagegen heisst es: „Die Comturei mit Thurm und Chor / Ragt’ bleich im Mondenglanz empor.“ Zuerst also „Turm und Chor“, später „Turm und Tor“. Das könnte eine Aenderung Meyers, könnte aber auch eine Textentstellung, ein Druckfehler sein, und dann müsste der Hrsg. den Text eventuell ändern. Es gibt in diesem wie in den meisten derartigen Fällen keinen Beleg, der eine objektive Entscheidung erlaubte. Der Hrsg. muss den Text darauf hin interpretieren, ob die Aenderung einen Sinn ergibt, einen bessern, d. h. Meyer gemässern, oder einen schlechtern Sinn und also ein Druckfehler ist. Für die jüngere Lesart „Turm und Tor“ wäre nun zu zeigen, dass ein Tor ja nicht im Mondlicht emporragen kann, dass es in der Johanniterkomturei in Küsnacht – heute Kirche und Seminargebäude – ein eigentliches Tor gar nicht gab, dass aber der wie bei der Zürcher Predigerkirche über das Schiff erhöhte Chor, dass Turm und Chor noch heute, wie zu Meyers und Kantor Schmids Zeiten, die übrigen Teile der ehemaligen Komturei überragen. Es wäre zu zeigen, welche Rolle für Meyer die visuelle, ja zeichnerische Vergegenwärtigung der Schauplätze spielt; man hätte daran zu erinnern, dass er zu jener Zeit in Küsnacht wohnte und dass die Komturei den Schauplatz eines Romans bildete, der ihn jahrelang beschäftigte. Man müsste zeigen, dass sich seiner Phantasie das Bild des überhöhten Chors so sehr eingeprägt habe, dass er es in seinen Werken auch dort verwendete, wo es, wie bei der Klosterkirche zu Königsfelden, realistisch nicht stimmt.3 Man hätte dann zu zeigen, wie leicht es geschehen konnte, dass der Setzer fern in Leipzig „Thor“ statt „Chor“ las und setzte, durch Verwechslung nur eines Buchstabens, und wie leicht sich in der sinnlosen, aber glatten Fügung „Turm und Tor“, in dieser stabreimenden, Denken und Phantasie lähmenden Formel die Textverderbnis verstecken und erhalten konnte. Sie haben längst erkannt, dass das einzige Kriterium für die Richtigkeit dieser Ueberlegungen ihre Evidenz ist. Wer nun glaubte, die Subjektivität dieses editorischen Entscheids rühre daher, dass der überlieferte Text möglicherweise verderbt ist, sie werde also verschwinden, wenn der Hrsg. mit Hss. zu tun habe, die der Autor selbst geschrieben hat, sähe sich getäuscht. Nicht nur, weil wir ja mit Druckfehlern immer rechnen müssen, sondern auch weil dem Druckfehler im autorisierten Text entdekkungsmässig die Verschreibung im Autograph genau entspricht: sie entdecken heisst den Text verstehen, ihn interpretieren. Beide Fälle sind editorisch wie Konjekturen darzustellen und bilden also, in unserm Zusammenhang, kein Problem, denn aus dem Apparat lässt sich der Befund jederzeit feststellen. ————

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A. Frey, Meyers unvollendete Prosadichtungen, Leipzig 1916, II 99, I 209, Gedicht Nr. 194, Fassung 1881.

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Im übrigen aber ist es gerade bei autographen Hss. schwierig, den Befund wiederzugeben, weil im Grunde schon die Entzifferung einer Hs. Interpretation ist, d. h. vom Textverständnis des Lesenden abhängt. Er wird den Text richtig zu lesen glauben, solang er ihn zu verstehen glaubt. Erst wenn er nicht mehr versteht, stockt er; richtiger: wenn das Gelesene nicht dem entspricht, was er erwartet, dem was er für möglich oder wahrscheinlich hält. Das Erwartete darf sogar unverständlich, ja sinnlos sein. So gaben sich die Hrsg. und Leser von späten Texten Hölderlins mit offenbar sinnlosen Lesungen zufrieden, solang sie Gedichte eines Irrsinnigen zu lesen glaubten. Ein Vers, der jetzt so heisst: „Lesend aber gleichsam, wie in einer Schrift“,

den lasen sie so: „Lastend aber gleichsam, wir in einer Stadt“.

Tatsächlich macht der Hrsg. immer wieder den Massstab dessen, was er dem Dichter noch zutraut, zum Kriterium der editorischen Entscheide. Wenn er in einem stark korrigierten Manuskript z. B. die zwei Wörter „blaue Melodien“ (Oskar Loerke) hintereinander stehen findet, wird er kaum zögern, sie syntaktisch aufeinander zu beziehen, wenn es sich um einen Dichter des 20. Jahrhunderts handelt; dagegen wird er bei einem Autor zwischen 1750 und 1880 wahrscheinlich fast routinemässig nach einem andern Bezugswort zu „blaue“ suchen – und es wohl auch finden. Er würde sein Verhalten wahrscheinlich damit begründen, dass in den eindeutigen Texten seines Autors eine vergleichbare Fügung nicht vorkomme. Solche generelle Feststellungen haben jedoch nur statistischen Wert, nur Wahrscheinlichkeitscharakter, erlauben also keinen Schluss auf den Text einer Einzelstelle. Ein Prinzip, das Einmaligkeit im Zweifelsfall ausschliesst, kann schwerlich taugen, wenn der Text einer Hs. festzustellen ist. Trotzdem wird es jeder Hrsg. unbewusst, blindlings immer wieder anwenden. Selbst in glücklichen Fällen ist der Hrsg. bei Hss. vor Fragen des subjektiven Ermessens gestellt. Er schätzt sich z. B. glücklich, wenn die Druckvorlage eines Werks erhalten ist, weil sie ihrer Bestimmung nach ein eindeutiges Dokument sein sollte. Das Druckmanuskript des „Tasso“ ist nach Goethes Ausdruck sogar „mit unerlaubter Sorgfalt“ gearbeitet, und doch, so erklärt die Herausgeberin des „Tasso“ im Rahmen der Akademie-Ausgabe, verwehrt ein Rest von Flüchtigkeit, Inkonsequenz und Zufälligkeit, an jeder Stelle den vom Autor beabsichtigten Text eindeutig zu erkennen.4 Die methodische Schwierigkeit besteht nicht darin, dass der Spielraum der subjektiven Interpretierbarkeit bei der editorischen Bearbeitung von Hss. grösser ist als bei andern Massnahmen, sondern dass die interpretierenden Anteile schwer kenntlich zu machen sind, dass also der editorische Schatten nicht erkennbar wird. Das rührt daher, dass die Trennung von Befund und Deutung hier schwierig oder sogar unmöglich ist; ————

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L. Blumenthal: Die Tasso-Handschriften, in: Beiträge zur Goethe-Forschung, hrsg. v. E. Grumach, Berlin 1959, S. 172 und 181.

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fatalerweise aber nicht zufälligerweise ist sie um so weniger möglich, je nötiger sie wäre, je komplizierter nämlich einerseits die Hs., je grösser also die Irrtumsmöglichkeit ist, und je mehr anderseits jede nicht belanglose Aussage über die Hs. die Hs. bereits interpretiert und den Benützer der Edition damit von vornherein und in nicht erkennbarer Weise auf den Horizont des Hrsg. einengt. Zum Erweis der Behauptung genügt ein Hinweis auf einen in Meyers Gedichtnachlass nicht bloss einmaligen Fall: Wenn der Hrsg. von einem auf beiden Seiten mit Versen beschriebenen Blatt nach sorgfältiger Prüfung der Verhältnisse erklärt, es handle sich um ein Gedicht von vier Strophen, so ist das unter Umständen statt Mitteilung bereits Deutung des Befunds, vielleicht falsche Deutung, denn vielleicht bilden die Verse auf der Vorder- und Rückseite nicht ein Gedicht, sondern zwei Gedichte, oder nur das Fragment eines Gedichts; vielleicht sind es nicht vier, sondern nur drei Strophen, indem eine Strophe in zwei Alternativ-Versionen erscheint. Will man also die Sonderung zwischen Befund und Deutung begrifflich durchführen, so zeigt sich, dass mindestens bei komplizierteren Hss. das einzig Objektive die Hs. selbst ist, und zwar nur die Hs. als Original, als einmaliges, durch kein Aequivalent zu ersetzendes Individuum, das im strengen Sinn auch nicht reproduzierbar ist, auch durch die Farbphotographie nicht. Die Handschrift ist der Befund, nicht etwa der Text der Hs. Die Hs. bedarf der Interpretation: das Ergebnis der Interpretation ist der Text. Auch hier gilt: der Hrsg. stellt den Text her. Von dieser editorischen Interpretation, der Interpretation der Hs., ist zu unterscheiden die Interpretation im herkömmlichen Sinn, die Interpretation des Textes. Die Unterscheidung ist sinnvoll: Von einem Dutzend verschiedener Interpretationen, die die „Faust“-Dichtung angeregt hat, braucht keine falsch, d. h. ihrem Gegenstand nicht gemäss zu sein. Sie können sich sogar glücklich ergänzen. Bei einer Hs. dagegen ist höchstens eine Interpretation richtig; die verschiedenen Interpretationen einer Hs. schliessen einander aus. Ein Text, eine Dichtung kann sinngemäss mehrdeutig sein; sie meint nichts als sich selbst. Die Hs. dagegen ist unter Umständen zwar ihrer Beschaffenheit, aber nicht ihrem Sinn nach, mehrdeutig, und sie meint niemals sich selbst, sondern den Text, den sie repräsentiert. So unumgänglich die Interpretation einer schwierigen Hs. ist, weil ja erst sie aus der Hs. den Text gewinnt, so leicht verfehlt sie den gemeinten Text. Die Frage ist nicht, wie der Herausgeber seine Subjektivität loswerde – sie ist ja die Bedingung literaturwissenschaftlichen Erkennens5 –, sondern wie er ihr Rechnung tragen könne. Im Bild gesprochen: der Hrsg. kann nicht über seinen Schatten springen, nämlich über den Schatten, den das Licht seiner Subjektivität wirft; er kann das Licht auch nicht auslöschen, wenn er nicht bloss im Dunkel unerkannter Vorurteile tappen will, er soll aber seinen Schatten für andre so erkennbar wie möglich zu machen suchen. ————

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Vgl. Peter Szondi, Zur Erkenntnisproblematik in der Literaturwissenschaft, in: Die Neue Rundschau 73 (1962) S. 154 f.

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„Soweit wie möglich“ – wir sehen uns zu dieser Beschränkung genötigt, weil ja im Extremfall der volle Befund nicht mehr mitteilbar ist. Es sind aber Informationen über den Befund möglich. Diese bezeichnen wir als Dokumentation. Der Ausdruck empfiehlt sich auch darum, weil ja der hsl. Befund nur einen Teil der Textüberlieferung und diese nur einen Teil der Gesamtüberlieferung ausmacht und wir z. B. auch an die sogenannten Zeugnisse zu denken haben, die über den Text und seine Geschichte Auskunft geben und ebenfalls editorisch interpretiert werden müssen. Die Edition soll also, werden wir jetzt sagen, neben der Deutung des Ueberlieferungsbefundes auch Dokumentation enthalten, die dem Benützer gestattet, von der Deutung des Hrsg. Abstand zu nehmen und andere Deutungen, eigne Einfälle zu erwägen. In günstigen Fällen werden sich sogar die Entscheide des Hrsgs. kontrollieren lassen. Je gründlicher eine Ausgabe dokumentiert ist, desto weniger schnell und bequem beantwortet sie Fragen, die nicht bereits in der Deutung des Hrsgs. enthalten sind; doch kann nur eine solche Ausgabe derartige Fragen überhaupt beantworten; denn nur aus der Dokumentation, nicht aus der Deutung lassen sich neue Deutungen gewinnen. In der Praxis werden sich freilich, je nach den Verhältnissen, wozu auch die wirtschaftlichen Verhältnisse gehören, ganz verschiedene Lösungen empfehlen. Je wichtiger ein Text ist, je komplizierter der Befund, je schwieriger also seine Deutung, desto gründlicher soll im allgemeinen die Dokumentation sein. Nach dem, was wir jetzt sehen, verspricht die Ausgabe der Berliner Akademie von Werken Goethes diesen Anspruch in beispielhafter Weise zu erfüllen. Der gleiche dokumentarische Aufwand wäre aber bei den Hss. Ulrich Bräkers natürlich fehl am Platz. Zweimal in den letzten zwanzig Jahren hat die Ausgabe eines Dichters auch in Kreisen von sich reden gemacht, die sich sonst für Fragen der Edition kaum interessieren. Es war die Grosse Stuttgarter Ausgabe von Hölderlins Werken. Als die ersten Bände erschienen, meinten manche, damit sei die Methode für die Darstellung schwieriger Hss. ein für allemal gefunden, so überwältigend war der Eindruck dieser hervorragenden philologischen Leistung. Es gibt jedenfalls keinen Hrsg., der davon nicht gelernt hätte, wohl auch keinen, der dadurch nicht gewarnt worden wäre. Denn wenn zuerst etliche geglaubt hatten, damit sei ein endgültiger Text festgestellt, so sollten durch ein neues Ereignis jene recht bekommen, die die Richtigkeit vieler Lesungen und vor allem die Richtigkeit im Ansatz, in der Methode der Darstellung bezweifelt hatten, und zwar gerade im zweiten Band mit den späten Hymnen, der als Höhepunkt der Ausgabe bezeichnet wurde. Als nämlich die Entdeckung der Reinschrift zur „Friedensfeier“ die überraschende Möglichkeit bot, die Darstellung der vorher allein bekannten Entwürfe zu kontrollieren, sah jeder, ausser dem Hrsg. selbst und seinem engsten Kreis, dass die zuerst edierten Texte unhaltbar waren, sowohl die postulierten Fassungen im ganzen als auch ihr Text im einzelnen. Nach dieser Entdeckung legten eine Anzahl Forscher eigne Versuche vor, den Text der Entwürfe festzustellen. Das Resultat dieses grossen Experiments: soviel ich sehe, stimmte kein Text mit einem andern überein – wie es bei einem so vieldeutigen Befund nicht an-

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ders zu erwarten war. Die Lehre, die man daraus ziehen sollte, ist natürlich, dass der Hrsg. mit gehöriger Vorsicht zu Werk gehen muss, dass er nicht auf Dokumentaion verzichten darf, wie die Hölderlin-Ausgabe es in der Regel tut. Es geht dabei teilweise um Dinge, die im Prinzip einfach sind. Ein Beispiel aus den Nachlasspapieren zu Musils Roman „Der Mann ohne Eigenschaften“ soll das deutlich machen. Ihr Hrsg. hat die darin vorgefundenen privaten Abkürzungen Musils nach Möglichkeit ergänzt, und zwar mit Spitzklammern um das Ergänzte, wo er noch andere Deutungen für möglich hielt, dagegen stillschweigend, wo er seiner Sache sicher war. So lesen wir in der Ausgabe diesen Satz ohne Klammern: „Politik gehört zum Problem … Liebe – Gewalt, Pathein – Agathe und dergleichen.“ In der Hs. steht nicht „Pathein – Agathe“ (Agathe ist der Name der weiblichen Hauptperson), sondern „Path – Ag.“ Diese Abkürzung kommt in Musils Papieren auch sonst vor, wie ein Kritiker bemerkt,6 und ist natürlich in „Pathein – Agein“ (Leiden – Handeln) aufzulösen. Nicht dass er dies nicht bemerkt hat, ist dem Hrsg. vorzuhalten: zu beanstanden ist der methodische Ansatz, die Klammern wegzulassen, wo er sich sicher fühlt, obwohl er diese Situation als Quelle editorischer Fehldeutungen ja kannte. Hätte er jedesmal mittels Klammern den hsl. Befund und seine Deutung getrennt angezeigt, so wäre es dem versierten Leser möglich gewesen, die Abkürzung trotz dem Irrtum des Hrsgs. richtig zu ergänzen. Das gilt nun ganz allgemein: Um der Dokumentation willen muss der Hrsg. in den bekannten typischen Situationen, die manchmal zu Fehldeutungen führen, in mechanischer Anwendung des Prinzips Befund und Deutung getrennt mitteilen. So kann er den editorischen Schatten zu einem guten Teil sichtbar machen. Dazu gehören z. B. die Angaben über alle Streichungen, die der Autor, und über die Tilgungen, die nur der Hrsg. anstelle des Autors vorgenommen hat, zumal bei einem Dichter wie Hölderlin, der die infolge von Korrekturen überholten Textteile selten ausstreicht, dessen Verssprache – in den späten Hymnen – weder durch ein festes Metrum noch durch konventionelIen Sprachgebrauch gestützt wird, so dass sich der Leser der Hs. und der Hrsg. über den Text oft nicht klar werden können, z. B. darüber, ob ein nachgetragenes Wort das frühere ersetzen oder ob es mit ihm zusammen gelten soll. Zum Teil daher rühren im einzelnen die Verschiedenheiten in den erwähnten Versuchen, den Entwurfstext der „Friedensfeier“ festzustellen. Die Wiedergabe der Hölderlin-Ausgabe lässt von diesen nur zu häufigen Unsicherheiten nichts ahnen, weil sie auf entsprechende Dokumentation fast völlig verzichtet. Ihr Hrsg. freilich versichert, gerade im Hinblick auf die „Friedensfeier“-Entwürfe, er tue das „selbstverständlich nur da, wo die Abfolge der Entstehungsphasen exakt und eindeutig bestimmbar ist“.7 Je grösser die Selbstsicherheit des Hrsg., desto grösser der editorische Schatten. ———— 6 7

Wilhelm Bausinger: Studien zu einer hist.-krit. Ausgabe von Robert Musils Roman „Der Mann ohne Eigenschaften“. Reinbek bei Hamburg 1964, S. 112 f. Friedrich Beissner: Einige Bemerkungen über den Lesartenapparat zu Werken neuerer Dichter, in: Orbis litterarum 1958, Suppl. 2, S. 19.

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Natürlich gibt es Hss. – bei Hölderlin häufig, bei Goethe seltener –, die so kompliziert sind, dass der Hrsg. fürchten muss, bei einer sprachlichen und zeichenmässigen, also logischen Abbildung aller Umstände des hsl. Befunds, die ihm wesentlich scheinen, doch gerade die zu verschweigen, die für andere Deutungen entscheidend wären. Zum Beispiel wurde an entscheidender Stelle in den „Friedensfeier“-Entwürfen ein gewisses Graphem von der Mehrzahl der Hrsg. als eine Vier gelesen und als Strophennumerierung gedeutet, andre dagegen lasen es als Verweisungszeichen für eine Einschaltung, das mit einem ähnlichen Graphem korrespondiere, das jene als gestrichenes Komma verstanden. Solche Alternativen sind von einem ersten Hrsg. nur durch Zufall erkennbar; ein solcher Befund ist logisch nicht abbildbar. In solchen Fällen ist darum die photographische Reproduktion angebracht, nicht als Buchschmuck und nicht anstelle der Transkription, sondern als Dokumentationsmittel. So nützlich das Faksimile sein kann, so bleibt es doch nur ein behelfsmässiger Ersatz für den Befund selbst; ein Ersatz, dessen Informationen weder so vollständig noch so zuverlässig und dessen Benützung nicht so leicht ist, wie man vielenorts glaubt. Je komplizierter und vieldeutiger die hsl. Verhältnisse, je verworrener das graphische Bild ist, desto nötiger und desto wichtiger für den Benützer ist eine Reproduktion, aber desto schwerer findet er sich darin zurecht, desto schwerer kann er sie nutzbar machen. Wir können nun wenigstens präzis angeben, warum die Edition von Hss. und die Beschäftigung mit Editionen eine etwas peinliche Angelegenheit ist: Als Leser, als Literaturwissenschaftler meinetwegen ist es uns ausschliesslich um das Werk, das Gedicht, den Text zu tun. Die Hs. ist nicht der Text; ausser dem Autographenliebhaber interessiert sich unmittelbar für die Hs. als solche niemand. Aber als Textträger ist sie von unersetzlichem Wert, die Grundlage, auf die zurückgehen muss, wer den Text feststellen will; der Hrsg. und wer ihm nicht blind vertraut, muss sich um die Zufälligkeiten des hsl. Befunds kümmern, muss allenfalls von Ueberschreibungen, Streichungen, Nichttilgungen und dergleichen sprechen. So selbstverständlich die Folgerungen scheinen, die wir aus dem methodischen Prinzip gezogen haben, in der Edition Befund und Deutung zu sondern und die Deutung mehr oder weniger zu dokumentieren, so wenig sind sie in den meisten Ausgaben realisiert, mit denen wir arbeiten müssen, wobei die entstehende AkademieAusgabe von Werken Goethes als vorbildliche Ausnahme erwähnt sei. Das dürfte weniger daher rühren, dass man erst seit einigen Jahrzehnten schwierige autographe Hss. editorisch darzustellen versucht, als daher, dass vielen Herausgebern ein Ideal ihrer Tätigkeit vorschwebt, das eigentlich dem Vorgehen der Textinterpreten entspricht: Dem Interpreten müssen alle Dinge zum besten dienen. Unter allen möglichen Gesichtspunkten bieten sich ihm die an, die auf der Linie seiner Interpretation liegen. Wenn er ihr den Charakter überzeugender Geschlossenheit zu geben sucht, verfährt er durchaus legitim. Das kann nicht das Ideal der Edition sein. Der Hrsg. aristarchischer Observanz wenigstens wird Unstimmigkeiten nicht verschweigen, wird die Ausgabe nicht so anle-

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gen, dass es schon eine Leistung bedeutet, die Risse in der Konstruktion aufzudecken, die er wohl für einen Augenblick bemerkt, aber wieder camoufliert hat. Er wird die Probleme nicht verstecken, sondern zeigen. Die Edition soll offen sein, sie hat nicht um jeden Preis eine Lösung, noch viel weniger eine runde Lösung zu geben, sondern die Möglichkeit zu Lösungen, indem sie das Material vermittelt. Der Wunsch, nur gesicherte Ergebnisse vorzulegen, der Hang zur Synthese will den Hrsg. dazu verführen, die Edition als eine abschliessende, als eine die gesamten Bemühungen um den betreffenden Autor zusammenfassende Leistung aufzuführen, ihm, wie man sagt, ein Denkmal zu errichten. Das ist eine noch schlimmere Täuschung als die unaristarchisch makellose Präsentation unserer Textseiten. Es wäre ja auch zu verwundern, wenn aus einem so mannigfach bedingten Geschäft wie das Edieren es ist, etwas Abschliessendes hervorgehen, d. h., wenn es so etwas wie eine endgültige Edition geben sollte.

Karl-Heinz Hahn, Helmut Holtzhauer

Wissenschaft auf Abwegen?

Karl-Heinz Hahn, Helmut Holtzhauer

Wissenschaft auf Abwegen?

Zur Edition von Werken der neueren deutschen Literatur (1966)

In physischen sowohl als andern Erfahrungswissenschaften kann der Mensch nicht unterlassen in’s Minutiose zu gehen, teils weil es etwas Reizendes hat, ein Phänomen in’s unendlich Kleine zu verfolgen, teils weil wir im Praktischen, wenn einmal etwas geleistet ist, das Vollkommnere zu suchen immer aufgefordert werden. Beides kann seinen Nutzen haben; aber der daraus entspringende Schaden ist nicht weniger merklich. Durch jenes erstgenannte Bemühen wird ein unendlicher Wissenswust aufgehäuft und das Würdige mit dem Unwürdigen, das Werte mit dem Unwerten durcheinander gerüttelt und eins mit dem andern der Aufmerksamkeit entzogen … Keineswegs werde jedoch, wie schon gesagt, der Forscher und Techniker abgeschreckt, in’s Feinere und Genauere zu gehen; nur tue er es mit Bewußtsein, um nicht Zeit und Fähigkeiten zu vertändeln und zu verschwenden. Goethe. Zur Geschichte der Farbenlehre.1

Mit dem erneuten Ansteigen der Zahl wissenschaftlicher Werkausgaben2 im Vergleich zum ersten Drittel dieses Jahrhunderts macht sich der Wunsch nach theoretischer Klärung der mit einer Edition verbundenen Probleme wieder stärker bemerkbar.3 Keine der neu in Angriff genommenen Ausgaben kann neben der Darlegung der jeweiligen speziellen Voraussetzungen, Probleme und Absichten in Form von Prolegomena, Einleitungen oder Zwischenberichten darauf verzichten, auch grundsätzliche Überlegungen anzustellen. Dabei überwiegen zur Zeit jedoch die methodischen Fragen der Editionstechnik, und nur selten wird an die Grundfragen des Warum und Wozu der in der Regel kostspieligen und viel wissenschaftliche Arbeitskraft bindenden Unternehmungen gerührt.4 Es scheint, als ob über diese Fragen die Akten geschlossen wären und nur noch das Wie interessiere, die Art und Weise, wie die bei der ————

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Goethes Werke. Weimarer Ausgabe. 2. Abt. Bd 4, S. 282 f. Windfuhr, Manfred: Die neugermanistische Edition. In: Deutsche Vierteljahresschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte. Bd 31 (1957) S. 428. Schiller (Weimar 1943 ff.); Hamann (Wien 1949–1957); Goethe (Berlin 1952 ff.); Forster (Berlin 1958 ff.). Dazu kommen als in Vorbereitung befindliche Ausgaben: Heine (Weimar); Thomas Mann (Berlin); Bertolt Brecht (Berlin); Mörike (Marbach); Klinger (Berlin) u. a. und früher begonnene wie Wieland (Berlin 1909 ff.); Jean Paul (Weimar 1927 ff.); Otto Ludwig (Berlin 1912 ff.); Grabbe (Emsdetten 1960 ff.); Friedrich Schlegel (München u. a. 1958 ff.); Hölderlin (Stuttgart 1943 ff.); Eichendorff (Regensburg 1908 ff.). Neben den Veröffentlichungen zu diesen Fragen sind den Verfassern folgende Beratungen bekannt geworden: Editionskolloquien der Gewerkschaft an der Deutschen Akademie der Wissenschaften zu Berlin 1960–1962, Editionskolloquien der Nationalen Forschungs- und Gedenkstätten der klassischen deutschen Literatur in Weimar 1961, 1962 und 1964, die Behandlung einschlägiger Probleme auf dem Germanistentag in Bonn 1963 und die Beratung von Editionsproblemen auf Einladung der Deutschen Forschungsgemeinschaft 1964 in Marbach a. N. Fränkel, Jonas: Dichtung und Wissenschaft. Heidelberg. 1954. S. 96 f. Ähnlich Paul Rilla in: G. E. Lessing. Gesammelte Werke. Hrsg. von P. R. Bd 1. Berlin 1954.

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Edition auftauchenden methodischen und technischen Probleme zu lösen seien. Aber gerade die Beschränkung auf die Diskussion von Methoden auf der Grundlage einer im übrigen scheinbar einheitlichen Auffassung legt nahe, zu fragen, ob dieser Grundhaltung nicht dasselbe Stigma anhaftet, das für die gesamte germanische Philologie gilt, daß sie, um mit Jacob Grimm zu sprechen, eine „ungenaue Wissenschaft“ ist und es deshalb sehr darauf ankommt, sich um ihre Genauigkeit zu bemühen. Editionslehre und Editionstechnik konnten sich lange Zeit in den Strahlen sonnen, die von der klassischen Philologie mit ihrem durchgebildeten, weitgehend von den Methoden der Juristen bestimmten Verfahren der Konstituierung alter, in ihrer ursprünglichen Form nicht überlieferter Texte ausgingen. Und in der Tat ist die Gewissenhaftigkeit und Sauberkeit in der Verfahrensweise, die durch die klassische auch in die neugermanistische Philologie eingeführt wurde, bestechend und gibt ein Gefühl der Zuverlässigkeit ihrer Arbeitsergebnisse. Der Gegenstand der klassischen Philologie, soweit er mit dem hier zu erörternden Problem zusammenhängt, sind Abschriften, Übersetzungen und Umformungen von Werken antiker Autoren, deren Originale verlorengegangen sind. Aus der Überlieferung und aus ihrer Form ergab sich deshalb, wie Hermann Kantorowicz schreibt, das Ziel der Edition, „aus den Abschriften des Werkes also die Urschrift dem Wortlaut und damit dem Sinne nach herzustellen“.5 Entscheidend für die Methode der klassischen Philologie ist ihr Zweck: einen authentischen Text zu ermitteln und ihn in einer Ausgabe allgemein zugänglich zu machen. Der einem solchen Text in der Regel beigefügte Apparat stellt die Überlieferungsgeschichte dar, nicht die Entstehung des Textes, die stets unbekannt bleibt, und belegt ferner die Arbeit des Herausgebers zur Konstituierung des Textes. Hermann Kantorowicz berührt in seiner Darstellung der textkritischen Grundsätze aber auch eine Auffassung, die achtzig Jahre vorher – d. h. um 1840 – bereits eine Entwicklung andeutete, die über das ursprüngliche Ziel der klassischen Philologie hinausging. Er unterschied zwischen „niederer“ und „höherer Textkritik“. Der ersteren wies er die Aufgabe zu, „von der ‚Überlieferung‘ des – verschollenen – Werks zu ihm selber vorzudringen“. Unter Überlieferung verstand er „nicht nur die ‚unmittelbare‘ durch die ‚Abschrift‘ (worunter auch ‚Abdrucke‘ zu verstehen sind), sondern auch die ‚mittelbare‘, durch sonstige Schriften desselben Verfassers oder Anderer“. Alle diese Abschriften und Anführungen, auch Übersetzungen, faßte er unter dem Begriff Textzeugen zusammen.6 Von der „höheren Textkritik“ sagte er: „Ihr Wesen besteht darin, aufzusteigen von dem Werke selbst zur Person seines Verfassers, um die Echtheitsfragen im Ganzen und alle Entstehungsbedingungen nach Ort und Zeit zu erörtern, und im einzelnen das Werk zergliedernd auf Quellen und Aufbau, Gedanken und Hintergedanken zu untersuchen.“7 ————

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Kantorowicz, Hermann: Einführung in die Textkritik. Systematische Darstellung der textkritischen Grundsätze für Philologen und Juristen. Leipzig 1921. S. 5. Kantorowicz: a. a. O. S. 5. Kantorowicz: a. a. O. S. 4.

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Kantorowicz’ Arbeit entstand in den zwanziger Jahren unseres Jahrhunderts, in einer Zeit, in der das Interesse an Editionsfragen völlig abhanden gekommen zu sein schien. Seine Abhandlung stellt gleichsam das Resümee eines jahrzehntelangen praktischen und theoretischen Bemühens um Editionsprobleme dar. Diese ganze Entwicklung aber muß man ins Auge fassen, wenn gegenwärtig das Für und Wider sowie das Wie einer wissenschaftlichen Werkausgabe von neuem geprüft werden soll. Als vor hundertundfünfzig Jahren mit dem Entstehen der deutschen Altertumswissenschaft, mächtig gefördert durch den patriotischen Aufschwung, der der nationalen Katastrophe am Jahrhundertbeginn folgte, sich die Blicke auf die deutsche Vergangenheit zu richten begannen, kam mit dem Bemühen um die Erschließung deutscher Literaturdenkmäler des Mittelalters auch die eigentliche Geburtsstunde für die neugermanistische Edition. Die Aufgabe, die auch sie sich stellte, entsprach der der Monumenta Germaniae historica des Freiherrn vom Stein. Die Sammlung von Zeugen deutscher Geschichte des Mittelalters und die Herstellung einer Gesamtausgabe von Quellenschriften als eines Denkmals der Kultur der Vorzeit war der leitende Gedanke, den die „Gesellschaft für Deutschlands ältere Geschichtskunde“ mit dem Motto für die von Pertz herausgegebenen Monumenta umschrieb: „Sanctus amor patriae dat animus.“ Es waren an der klassischen Philologie geschulte Herausgeber, die sich zunächst der altdeutschen Handschriften, später der Werke der neueren deutschen Literatur annahmen. Unter ihnen ragt Karl Lachmann durch die Leistung hervor, die er sowohl auf dem einen wie auch dem anderen Felde vollbrachte. Lachmann legte 1816 als Habilitationsschrift sein epochemachendes Werk „Über die ursprüngliche Gestalt des Gedichts von der Nibelunge Not“ vor. Vier Jahre später gab er eine Auswahl aus den Werken der hochdeutschen Dichter des 13. Jahrhunderts heraus, die ihn als einen Meister der Textkonstituierung auswies. Sein Verfahren erprobte er schließlich an der 1838 bis 1840 erschienenen Lessing-Ausgabe und eröffnete damit der philologischen Behandlung der Werke neuerer deutscher Dichter den Weg. Was Lachmann vorschwebte, hat er in der Vorrede zur zweiten Iwein-Ausgabe 1843 gesagt: „… die ganze dichterische und menschliche Gestalt des Dichters mit seiner gesamten Umgebung sich in allen Zügen genau vorzustellen, ist die Vollendung des wahren Verstehens, ist das Ziel der philologischen Auffassung.“ Dieses Ziel zu erreichen gelang Lachmann jedoch nicht und konnte wohl auch nicht gelingen, weil es Möglichkeiten und Grenzen einer Edition weit überschritt. Gewiß, zur Ermittlung des Textes eines in seiner ursprünglichen Form nicht überlieferten literarischen Werkes war und ist es erforderlich, neben den unmittelbaren Textzeugen auch alle erreichbaren biographischen und zeitgeschichtlichen Quellen, die über den Autor und sein Werk Auskunft zu geben vermögen, auszuwerten, um wirklich alle Kriterien, d. h. auch die aus der persönlichen Eigenart eines Autors sich herleitenden Bedingungen, für die Echtheitsbestimmung des zu konstituierenden Textes berücksichtigen zu können. Soweit es für die Begründung seiner Entscheidungen erforderlich ist, wird der Editor derartige Quellen und Nachrichten im Apparat seiner Ausgabe ausführlich vermerken und erläutern. Keineswegs aber vermittelt der Text

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ein Bild „der ganzen dichterischen und menschlichen Gestalt des Dichters und seiner gesamten Umwelt“, noch ergibt es sich auf diese Weise, daß alle erreichbaren Nachrichten – d. h. selbst solche, die für die Textkonstituierung ohne Belang sind – in den Apparat aufgenommen werden. Der Ausgabe wird damit lediglich eine über ihren ursprünglichen und ureigenen Zweck hinausgehende Aufgabe zugewiesen, indem sie neben dem Text und dem Nachweis der gesamten Überlieferung zu dem in Frage stehenden Werk sowie neben dem Nachweis der Entscheidungen des Editors gleichzeitig ein biographisches Quellenwerk darstellen soll. Der Glaube, daß eine Ausgabe dies vermöge, und die Absicht, sie diesem doppelten Zwecke dienstbar zu machen, resultieren zweifellos aus einer Überschätzung der Möglichkeiten der editorischen Methode und führen zwangsläufig zur Überbewertung dieser Methode selbst, führen dazu – um es mit einem Wort Jacob Grimms zu sagen –, daß man „die Sachen um der Worte willen“ betreibt. Dieser Gefahr ist – wie seine vorhin zitierte Zielsetzung erkennen läßt – auch Lachmann nicht entgangen. Zwar kam es ihm in seiner Lessing-Ausgabe in erster Linie darauf an, einen „lesbaren Text“ zu bieten, so daß Grimm in seiner Gedenkrede auf Karl Lachmann mit Recht sagen konnte: „Dem Autor, welchen Lachmann studierte, wollte er nichts hinzubringen, sondern alles aus ihm lernen, nicht flach mit ihm experimentieren, aber seine echte Gestalt von dem Schmutz und der Verderbnis, die sich daran gesetzt hatten, reinigen.“ Aber Grimm übte doch in der gleichen Rede eine vorsichtige Kritik, indem er ausführte: „Man kann alle Philologen, die es zu etwas gebracht haben, in solche teilen, welche die Worte um der Sachen, oder die Sachen um der Worte willen treiben. Lachmann gehörte unverkennbar zu den letzteren, und ich übersehe nicht die großen Vorteile seines Standpunkts, wenn ich umgedreht mich lieber zu den ersteren halte.“ Grimms Bedenken wurden nicht beachtet, geschweige denn geprüft. Als nun eine Zeit intensiver Bemühungen um die Werke neuerer Dichter einsetzte, beherrschten in der Nachfolge Lachmanns Auffassungen das Feld, mit deren praktischen Maximen sich Herausgeber und Leser bis zum heutigen Tage herumzuplagen haben. Das wichtigste, was Lachmann beim Übergang von der Edition alt- und mittelhochdeutscher Texte zu Werken der neueren Literatur nicht ausreichend beachtete, war der markante Unterschied in der Überlieferung. Mit der Erfindung der Buchdrukkerkunst war eine entscheidende Wende in der Kommunizierbarkeit eines literarischen Werkes eingetreten. „Dem Leser gegenüber hört die Handschrift auf, Selbstzweck zu sein. Sie tritt dem Leser nicht mehr als handgeschriebenes Buch vor Augen, sie ist Mittel zum Zweck geworden … Damit sind auch die Sammlungen neuerer Handschriften nicht mehr wie die mittelalterlichen ein Spiegel der literarischen Produktion ihres Zeitalters; diese ist jetzt in den gedruckten Büchern zu suchen.“8 War bis dahin die Handschrift das Mittel, das Wort des Dichters zu fixieren und in bescheidenem Umfange zu verbreiten und anderen mitzuteilen, so trat jetzt an ihre Stelle ———— 8

Löffler, Karl: Allgemeine Handschriftenkunde, neu bearb. von Paul Ruf. In: Handbuch der Bibliothekswissenschaft. Begr. von Fritz Milkau. 2. verm. und verb. Aufl. Hrsg. von Georg Leih. Bd 1. Wiesbaden 1952. S. 106–162, insbes. S. 154.

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der Druck. Die Handschrift des Dichters, von ihrer emotionellen, reliquienhaften Bedeutung, ihrem eigentlich historischen Quellenwert und ihrem Handelswert abgesehen, trat hinter dem Druck zurück, sie war und blieb Vorstufe zu dem durch den Druck bekanntzumachenden Werk. An dieser Stellung änderte auch nichts die Tatsache, daß so manche vollendeten Werke von den Autoren nicht zum Druck befördert wurden und uns deshalb als Handschriften (in der jüngsten Zeit auch in Gestalt von Maschinenschrift, Schallplatte, Tonband usw.) überliefert sind und andere Handschriften nie zum vollendeten Werk gediehen und deshalb auch zu Lebzeiten des Dichters nicht das Licht der Öffentlichkeit erblickten. Der Dichter (mit ihm hat die Philologie es im wesentlichen zu tun, so daß in diesem Zusammenhang auf eine Untersuchung dessen, was unter Literatur und literarischem Werk zu verstehen ist, verzichtet werden kann) will sein Werk bekanntmachen. Nur dadurch tritt er als Dichter in Verbindung zur Gesellschaft, nur dadurch wird Literatur zu einer gesellschaftlichen Erscheinung. Literatur wird von der menschlichen Gesellschaft bewirkt und wirkt auf sie zurück. Mit ihr setzt sich die Philologie auseinander, und zwar mit ihrem Endprodukt, das in neuerer Zeit in der Hauptsache als Druck erscheint. In dieser Gestalt will der Dichter vor dem Publikum erscheinen, in dieser Gestalt wirken seine Werke auf die Zeitgenossen, und aus dem Druck erklärt sich im allgemeinen das Urteil, das sie über sein Werk fällen. Die Bedeutung des Drucks hervorzuheben scheint deshalb so nötig zu sein, weil zwei Tendenzen von einer fast magisch zu nennenden Kraft und Stellung der Handschrift ausgehen, einer Stellung, die ihr weder ihrer philologischen Aussagekraft nach noch in ihrem Verhältnis zum Druck zukommt, der aber die modernen Philologen, besonders Herausgeber wissenschaftlicher Ausgaben, zu erliegen scheinen. Die eine Tendenz ist aus der Tradition erklärbar, für die handschriftliche Zeugen eines Werkes das einzige Material für editorische Bemühungen waren, die andere hängt mit der Vorliebe für das Unvollendete, Skizzenhafte eines Werkes zusammen und leitet sich offenbar aus modernen Kunstauffassungen her, die statt dem Vollendeten und Abgeschlossenen mehr dem Skizzenhaften zuneigen; damit tritt die Mode oder der Geschmack an die Stelle einer wissenschaftlichen Erkenntnis. Es scheint, als wenn sogar das Interesse am Entstehungsprozeß einer Dichtung, das in der Editionslehre gegenwärtig eine so bedeutende Rolle spielt, mit dieser Tendenz verknüpft sei. Bevor jedoch diese Erscheinung auf ihren realen Kern hin untersucht wird, muß die Geschichte der Editionslehre und der Editionspraxis noch weiter verfolgt werden. Von Lachmann übernahm Karl Goedeke Aufgabenstellung und Methode der Textkritik. Obwohl er in seinen jungen Jahren noch unter dem Einfluß der Brüder Grimm, vor allem Jacobs, und der Monumenta-Idee des Freiherrn vom Stein stand, der er die Anregung zu seinem „Grundriß zur Geschichte der deutschen Dichtung“ verdankte, trat bei ihm der Gedanke der Sammlung und Konservierung von Denkmalen der deutschen Literatur gegenüber dem textkritischen Eifer, mit dem der Apparat im Vergleich zum edierten Text ausgebaut wurde, zurück. Obwohl sich die Situation hinsichtlich der Überlieferung neuerer Texte wesentlich gegenüber der des Mittelalters

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verändert hatte, ging Goedeke von der gleichen Aufgabenstellung wie die Editoren älterer Sprachkunstwerke aus und modifizierte sie in charakteristischer Weise. Die Grundsätze, nach denen er die erste kritische Ausgabe von Schillers Werken (17 Bände, 1867–1876) gestaltete, zeigen dies sehr deutlich; sie verdienen wegen ihrer symptomatischen Bedeutung etwas ausführlicher vorgeführt zu werden. Goedeke stellte sich die Aufgabe, „alles Erreichbare (mit Ausnahme der Briefe) nach der Zeit der Entstehung zu ordnen, wobei das Gleichartige von selbst sich zusammenfand; von jedem einzelnen größeren oder kleineren Bestandteile die älteste vorhandene Form, sei es nach der Handschrift oder nach den Drucken, treu wiederzugeben, und die Veränderungen, welche der Verfasser oder die Herausgeber seiner Werke, Körner und Joachim Meyer (oder auch wohl die Korrektoren) mit dem Texte vorgenommen haben, in möglichster Vollständigkeit und Genauigkeit unter dem Texte anzuzeigen, um auf diese Weise im Ganzen wie im Einzelnen eine Übersicht der Geistesentwicklung Schillers und eine Geschichte der Textgestaltung nach den Urkunden zu liefern.“9 Wie weit Goedeke die Lösung dieser beiden Aufgaben, die Übersicht über die Geistesentwicklung Schillers und die Geschichte der Textgestaltung zu liefern, geglückt ist, mag dahingestellt bleiben. Hier interessiert die Beibehaltung der Idee, die Geistesentwicklung des Dichters (bei Lachmann „die ganze dichterische und menschliche Gestalt“) allein aus dem Text heraus zu zeigen und die Aufgabe des Herausgebers durch Darstellung der „Geschichte der Textgestaltung“ auszuweiten. Nicht mehr die Geschichte der Überlieferung, sondern die Geschichte der Textgestaltung rückte in den Mittelpunkt des Interesses. Diese Verschiebung in der Aufgabenstellung war insofern erklärlich, als ja mit dem Vorhandensein so gewichtiger autorisierter Zeugen wie der Drucke, die Hauptaufgabe der Herausgeber, die Urschrift mühselig und scharfsinnig zu ermitteln, gegenstandslos geworden war. Das Aufdecken von Korruptelen schien dagegen, soviel Mühe auch darauf verwendet werden konnte, eine vergleichsweise belanglose Sache, die für die Sinnerfassung eines Werkes praktisch ohne Bedeutung war, zu sein. Notwendig hatte eine solche Modifikation der Aufgabenstellung des Editors neuerer Sprachkunstwerke eine erneute Hinwendung zur handschriftlichen Überlieferung als der frühesten Gestalt des jeweils zu edierenden Textes zur Folge, und zwangsläufig beschränkte sich das Interesse dabei nicht auf Reinschriften und Druckvorlagen, d. h. auf solche Manuskripte, die das betreffende Werk bereits in abgeschlossener Form darbieten, sondern es erstreckte sich auch auf Vorstufen, auf Entwürfe, Bruchstücke usw., die das allmähliche Entstehen einer Dichtung dokumentieren, die also gleichsam als Zeugnisse einer nur in der Vorstellung des Dichters existierenden ursprünglichen Gestalt der Dichtung gewertet werden müssen. Deutlich wird solches Bemühen, wenn Goedeke in bezug auf die Handschriften zu dem bis dahin weitgehend unbekannt gebliebenen dramatischen Nachlaß Schillers ———— 9

Schillers sämtliche Schriften. Histor.-krit. Ausgabe. Hrsg. von Karl Goedeke. Bd 15/1. Stuttgart 1876. S. V. Zitate werden im vorliegenden Aufsatz in moderner Orthographie wiedergegeben.

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bemerkt: „Nur eine photographische Wiedergabe könnte einen Begriff gewähren, was dem Dichter während der Arbeit der Aufzeichnung bedürftig erschien. Aber auch nur in der Photographie würde die Art seines eigentlichen Schaffens deutlich werden … Hier lernt man, wie ein Meister die Sache angriff, wie sie sich unter seiner Hand allmählich formte und häufig vollendete Gestalt gewann. Um ihn so zu zeigen, wie er sich auf den Blättern seines Nachlasses darstellt, durfte nichts weggelassen und mußte alles möglichst so gegeben werden, wie das Geschriebene im Druck nachzubilden war.“10 Dennoch wollte Goedeke nicht darauf verzichten, den Schaffensprozeß Schillers zu veranschaulichen. „Um den Druck an die Stelle der Handschrift treten zu lassen, habe ich mit kritischen Zeichen zu helfen gesucht, die für diejenigen, welche auf diese Dinge Wert legen – es sind wohl nur Wenige! – die Möglichkeit bieten, die Handschrift des Dichters sich selbst nachzubilden.“11 Diesem Hinweis auf einen, wie sich seitdem überzeugend herausstellte, vergeblichen und unnötigen Versuch schließt Goedeke den bemerkenswerten Satz an: „Die Hauptsache ist geschehen: das Vorhandene ist vor dem Untergange geborgen.“ Damit war der erste Schritt in einer Richtung angedeutet, die in der Editionspraxis allmählich dominierende Bedeutung erlangen sollte. Worum es Goedeke ging, war nicht schlechthin „Geschichte der Textgestaltung“, wie es ursprünglich formuliert worden war, sondern eigentlich die Entstehungsgeschichte der Texte auf Grund überlieferter Handschriften. Lediglich die geringe Zahl erhalten gebliebener handschriftlicher Entwürfe Schillers nötigte ihn, sich auf die den Erstdrucken folgende Textentwicklung zu beschränken. Genaugenommen entsprang diese Aufgabenstellung und damit auch die erneute Hinwendung zur Handschrift der Verlegenheit des Herausgebers, nachdem infolge des Vorhandenseins von Drucken eine wesentliche Voraussetzung seiner Tätigkeit – die Notwendigkeit, einen Text aus sekundärer Überlieferung zu ermitteln – hinfällig geworden war. Jetzt wandte er sich statt der Endstufe, der Form also, in der der Autor sich an sein Publikum wandte, der Vorstufe zu und erklärte die Darstellung der Geschichte, genauer der Entstehungsgeschichte des Textes, für das neue editorische Anliegen. Eine Verlegenheitsaufgabe mußte allerdings diese neue philologische Zielsetzung angesichts der Lückenhaftigkeit der Textzeugen bleiben, hatten (und haben) doch die Autoren nach wie vor die Gepflogenheit, nach erfolgtem Druck die Manuskripte (soweit das nicht der Drucker oder Verleger besorgte bzw. besorgt) zu vernichten. Gilt das in besonderem Maße von Schiller, so bildet selbst Goethes handschriftlicher Nachlaß keine Ausnahme, so daß bestenfalls für einzelne Werke die Darstellung einer kontinuierlichen Entstehungsgeschichte des Textes möglich ist, niemals aber für die Gesamtheit der Werke, wie sie eine wissenschaftliche Ausgabe vereinigt. Doch selbst dort, wo günstige Umstände es möglich erscheinen lassen, ist durch die Darstellung der einzelnen Arbeitsstufen des Autors, so wie sie sich in handschriftli———— 10 11

Schillers sämtliche Schriften: a. a. O. Bd 15/2, S. VI/VII. Ebd.

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chen Vorarbeiten, Konzepten usw. bieten, wenig genug gesagt. Die eigentliche Entstehungsgeschichte eines Werkes, den Schaffensvorgang des Autors, den ihn bewegenden Denkprozeß fixieren sie nicht oder doch nur sehr fragmentarisch. Ohne Kenntnis und Berücksichtigung der Umstände, die das Denken und damit das Schaffen, im besonderen die sprachliche Gestaltung bewirken, ist eine inhaltsreiche Aussage nur in seltenen Fällen möglich, so daß das ganze Verfahren von vornherein metaphysischen Charakter trägt. Die Orientierung der Edition auf einen Apparat, dessen Mittelpunkt die Entstehungsgeschichte des Textes ist, wie er auf Grund von Überlieferungs- und Entstehungsvarianten der Handschriften sich darstellt, öffnet einem Verbalismus Tür und Tor, auf den Grimms mahnende Worte von den „Sachen um der Worte willen“ nur zu sehr zutreffen. Auch der Einwand, daß durch die Bekanntgabe aller den Text betreffenden Arbeitsund Bearbeitungsstufen einer solch umfassenden Forschung wesentlich vorgearbeitet und geholfen werden könne, verfängt da nicht; denn tatsächlich ist es unmöglich, mit Hilfe von Drucklettern eine handschriftliche Ausarbeitung so wiederzugeben, daß sie für den in Frage stehenden Forschungszweck wirklich aussagekräftig wäre. Auch der Druck eines Schemas, eines Konzepts usw. enthebt den um die Entstehungsgeschichte des betreffenden Werkes bemühten Forscher nicht der Mühe, die Handschriften unmittelbar einzusehen und auf Grund aller äußeren und inneren Merkmale seine Schlüsse zu ziehen. Was bleibt – die geringe Aussagekraft der schematischen Darstellung von Arbeitsstufen, gepaart mit der Unübersichtlichkeit erneuter Verschlüsselung des jeweiligen Textes durch das von Siglen und Abkürzungen beherrschte Druckbild –, wird zum Musterbild eines neuzeitlichen Alexandrinismus. Neben dem Bestreben, an Hand der überlieferten Werke in chronologischer Folge einen Überblick über die Geistesentwicklung des Dichters zu geben und die Geschichte des Textes zu charakterisieren, zeichnet sich bei Goedeke aber noch eine dritte Aufgabe ab, nämlich der Versuch, die handschriftliche Hinterlassenschaft eines Dichters durch den Druck allgemein zugänglich zu machen und sie so – im Falle des Verlustes der handschriftlichen Originale – für die Dauer zu bewahren, ein Versuch, der notwendig Stückwerk bleiben muß, weil es unmöglich ist, eine Handschrift im Druck so wiederzugeben, daß ihre Aussagekraft uneingeschränkt oder auch nur annähernd bewahrt bleibt. Allenfalls der Fotografie und noch besser den modernen Reproduktionsverfahren, z. B. dem Lichtdruck, ist es möglich, das zu leisten, was kein noch so scharfsinnig ausgedachtes Siglensystem und darauf beruhendes Deskriptionsverfahren zu leisten vermögen, nämlich Dichterhandschriften so wiederzugeben, daß der Leser wirklich eine dem Original nahe kommende Vorstellung erhalten kann. Bei Anwendung solcher Verfahren aber entfiele eine Hauptaufgabe des Editors, die Dechiffrierung der Handschriften, die dann dem Leser überlassen wird. Inzwischen hatte sich Michael Bernays mit Kritik und Geschichte des Goetheschen Textes befaßt und 1866 sein Ziel folgendermaßen umrissen: „Alles wissenschaftliche Tun kann nur ein Ziel haben, die Wahrheit. Jede einzelne Wissenschaft aber hat ihre bestimmte Aufgabe zu lösen; ihr muß sich daher auch die Wahrheit, die gesucht und

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erstrebt wird, unter einer bestimmten Form verkörpert darstellen. Jenes einzige Ziel hat auch die Kritik im Auge: das Wahre ist aber in diesem Falle das Wort des Autors, wie es aus seinem Munde, aus seiner Feder hervorgegangen. Daß dies unverändert erhalten bleibe, darüber hat die Kritik zu wachen.“12 Um dieses Ziel zu erreichen, stellt sich Bernays die Aufgabe, zu beheben, was Schreiber oder Setzer am Schriftwerk verdorben haben. Diese Arbeit wollte er „nach jener strengen Methode … untersuchen und … bearbeiten, welche den Schriftwerken des klassischen und unseres eigenen Altertums schon längst zu Gute [kommt].“13 An Goethes Werther hat Bernays dieses Verfahren zuerst erprobt. Er respektierte dabei durchaus Eingriffe, die sich „den veränderten Kunst- und Lebensanschauungen des Dichters fügen“ mußten, aber er suchte beharrlich und mit Glück Verderbnisse auf, die von Dritten verschuldet waren, auch wenn sie dem Dichter bei erneuter Durchsicht entgangen waren. Ihm, dem die Nachlaßhandschriften Goethes noch verschlossen waren, stellte sich die Darstellung der Geschichte des Textes als die Geschichte seiner Korruptionen dar. „Ein Text, der von jeder Korruption verschont geblieben, hat auch keine Geschichte.“14 Bernays sah noch eine weitere Aufgabe, wenn er hervorhob, daß es wesentlich sei, „bei jenen Bearbeitungen die eingehendste Sorgfalt auf alle diejenigen Verschiedenheiten der Lesart zu wenden, die sich von der Hand des Dichters selbst herschreiben. Ein Werk, dessen allmähliche Entstehung wir etwa im Manuskripte des Autors verfolgen könnten, oder das vom Verfasser, sei es im großen Ganzen, sei es in kleinen Einzelheiten, umgebildet worden, nachdem es schon einmal abgeschlossen und der öffentlichen Mitteilung übergeben war [Hervorhebung der Verf.], – ein solches Werk hat für uns, in anderm Sinne als der Text, eine Geschichte, und die Urkunden dieser Geschichte müssen uns vorgelegt werden. Denn wir … wollen auch … dem Werden, dem Entstehen zuschauen.“15 Mit Goethe, dessen Hinweis auf die verschiedenen Ausgaben von Wielands Werken in dem Aufsatz „Literarischer Sansculottismus“ er zitiert,16 weist er auf die Möglichkeit hin, den Stilwandel und die Geschichte seiner Sprache zu studieren. Bernays’ Vorstellung von der „Geschichte eines Textes“ war wesentlich klarer als der entsprechende Begriff Goedekes, der von „Geschichte der Textgestaltung“ sprach und die Entstehungsgeschichte eines Werkes meinte. Dennoch blieb auch Bernays’ Auffassung zwiespältig. Er unterschied zwar deutlicher als Goedeke zwischen der „Geschichte des Textes“ und dessen allmählicher Entstehung, die „wir etwa im Manuskript verfolgen“ können, der Sache nach aber schwebte ihm das gleiche Ziel vor wie diesem, auch wenn er dabei noch einmal zwischen der eigentlichen Werkentstehung, wie sie nach seiner Vorstellung an Manuskripten abzulesen sei, und der Umarbeitung ———— 12 13 14 15 16

Bernays, Michael: Über Kritik und Geschichte des Goetheschen Textes. Berlin 1866. S. 6. Bernays: a. a. O. S. 8. Bernays: a. a. O. S. 84. Bernays: a. a. O. S. 85. Bernays: a. a. O. S. 85.

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bereits abgeschlossener und publizierter Werke unterschied. Sehr deutlich zeichnet sich auch hier die Fragestellung ab, die zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts dominierende Bedeutung erlangen sollte, eine Fragestellung, die ihre letzten Wurzeln jedoch in der historischen Situation des späten 19. und des beginnenden 20. Jahrhunderts und ihrer philosophischen Widerspiegelung hatte, in der Abwendung von echtem historischen Denken und der Zuwendung zu sogenannten geisteswissenschaftlichen und später existentialistischen Positionen. An anderer Stelle wird noch davon zu sprechen sein. Nicht zeitlich, aber geistig schloß sich der Ausgabe von Goedeke das Werk an, das durch seinen Gegenstand, seinen Umfang und durch seine Methode zum Inbegriff der Edition eines Werkes der neueren deutschen Literatur wurde: die Weimarer Ausgabe von Goethes Werken. Herausgegeben im Auftrag der Großherzogin Sophie von Sachsen, erschien die in vier Abteilungen gegliederte Edition mit 133 Bänden (in 143) in den Jahren 1887 bis 1919. Mit der Weimarer Ausgabe war für das Werk Goethes die Hauptsache geleistet. So gut wie alles, was der Dichter geschrieben hatte, war lesbar gemacht und verbreitet worden und damit „vor dem Untergange geborgen“. Soweit das letztere durch die Aufbewahrung in einem öffentlichen Archiv gewährleistet werden konnte, war alles Erforderliche schon vor oder während des Erscheinens getan worden; aber die Ausgabe griff auch auf Textzeugen zurück, die sich nicht im Besitz des Archivs befanden und damit, wie die seit der Edition eingetretenen Veränderungen in den Besitzverhältnissen zeigen, stärker gefährdet waren. Die Redaktoren formulierten, nachdem Herman Grimm im Vorwort mit der Geschichte der Ausgabe den ersten Band eröffnet hatte,17 die Grundsätze der Ausgabe folgendermaßen: „1. Sie soll das Ganze von Goethes literarischem Wirken nebst Allem, was uns als Kundgebung seines persönlichen Wesens hinterlassen ist, in größter Vollständigkeit darstellen. 2. Bei Allem, was Gestalt und Erscheinung der Ausgabe im Großen wie im Einzelnen betrifft, soll befolgt werden, was uns als Goethes selbstwillige Verfügung bekannt ist. Die neue Ausgabe legt daher die letzte von Goethe mit besonderer Sorgfalt, nach bestimmten großen Grundsätzen geordnete ‚Ausgabe letzter Hand‘ in 40 Bänden, Stuttgart 1826 ff., zu Grunde; sie schiebt in den Rahmen dieser Ausgabe alles von Goethe absichtlich oder unabsichtlich Ausgelassene ein. Diese Ausgabe Goethes, deren Druckmanuskript von Göttling genau durchgesehen wurde, ist maßgebend für die Anordnung, die Textkritik, die Orthographie und Interpunktion. ‚Nicht eine sklavische Wiederholung, nicht ein bloßer Neudruck der Ausgabe letzter Hand ist es, worauf es in dieser Beziehung ankommt, nicht das Zufällige und Willkürliche soll fortgepflanzt werden. Fehlerhaftes wird berichtigt, Schwankungen und Unebenmäßigkeiten der Schreibung werden tunlichst beseitigt; selbstverständlich nur diejenigen, die lediglich im Buchstäblichen, im Lautzeichen bestehen, während Alles, was sich auf Laut und Aussprache erstreckt, ja nur erstrekken könnte, geschont wird.‘ Entsprechend der von Goethe selbst herrührenden Ausgabe enthält auch die neue keinen Kommentar. Sie bringt weder Einleitungen, noch ————

17

Goethes Werke. Weimarer Ausgabe. 1. Abt. Bd I. S. XVIII ff.

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erläuternde Anmerkungen der Herausgeber. Sie gibt hinter dem Text nur den gesamten kritischen Apparat, d. h. die Lesarten der Handschriften und der ersten Drucke, aber keine flüchtigen Druckfehler und reingraphische Varianten, gelegentlich auch neue Notizen über die Entstehung der einzelnen Werke.“18 Zielte Goedekes Methode auf eine bevorzugte Stellung der Handschriften als Grundlage für die Textgestaltung hin, so ging die Weimarer Ausgabe dagegen mit vollem Recht vom Druck aus. Wieweit sie gut daran tat, die Ausgabe letzter Hand zugrunde zu legen, Normierungen usw. vorzunehmen und überdies manchen Wechsel in der Methode zuzulassen, steht auf einem Blatte für sich. Daß alle diese Mängel leichter nach Abschluß einer dreißigjährigen Arbeit, an der sechzig Gelehrte teilnahmen, festzustellen sind, als sie von Beginn der Arbeit an zu vermeiden, liegt auf der Hand. In Ernst Grumachs Prolegomena zu einer neuen wissenschaftlichen Gesamtausgabe von Goethes Werken sind viele Schwächen der Weimarer Ausgabe genannt.19 Andere und sogar Mitherausgeber haben frühzeitig auf wichtige Versäumnisse aufmerksam gemacht. Schließlich hat die Einzelforschung Ergebnisse aufzuweisen, die eine Neubearbeitung der Weimarer Ausgabe durchaus rechtfertigen. Wenn nun diese Neubearbeitung ebenfalls innerhalb von dreißig Jahren geleistet würde, wäre dies zwar kein Ruhmesblatt, aber eine von der Wissenschaft dankbar begrüßte Leistung, denn allein die geschlossen vorliegende Edition kann ihren Zweck vollständig erfüllen. Wodurch sich die Weimarer Ausgabe auszeichnet, ist, daß sie dem gedruckten Text den der Lage in der neueren deutschen Literatur gemäßen Platz einräumt. Sie sieht nicht ihre Aufgabe darin, einen Text zu rekonstruieren, wo von verlorengegangenen Urtexten nicht die Rede sein kann. Aber sie stellt sich auch nicht die Aufgabe, den Verwitterungen des Textes nachzuspüren, wie es Michael Bernays tat, und überließ diese Aufgabe dem Benutzer. Demzufolge verzeichnet ihr Apparat unterschiedslos die Abweichungen der einzelnen Textzeugen vom edierten Text und die Korrekturen, die innerhalb der Zeugen selbst vorgenommen wurden. Außerdem wurden in die Lesarten nicht wenige Textzeugen verwiesen, die – wenn für die Aufnahme im edierten Text eine konsequent befolgte Richtlinie bestanden hätte – eigentlich in den Textteil gehört hätten und umgekehrt. Diese Art der Verzeichnung von sogenannten Lesarten, die sich ohne jeden Ansatz zur Wertung auf Erhebliches und Unerhebliches erstreckte, und die mit diesem Verfahren korrespondierende Goetheliteratur jener Zeit, die ebenfalls unterschiedslos und unkritisch erhebliche und unerhebliche Fakten aus dem Leben des Dichters verbreitete, forderten schließlich Gottfried Keller zu der sarkastischen Bemerkung heraus: „… jede neue Publikation über Goethe [wird] beklatscht – er selbst aber nicht mehr gelesen, weshalb man auch die Werke nicht mehr kennt, die Kenntnis nicht mehr fortbildet. Dies Wesen zerfließt dann einesteils in blöde Dummheit, andernteils wird es wie ———— 18 19

Geiger, Ludwig: Weimarer Goethe-Ausgabe. In: Goethe-Jahrbuch. Bd 9. Frankfurt a. M. 1888. S. 289 f. Grumach, Ernst: Prolegomena zu einer Goethe-Ausgabe (1951). In: Beiträge zur Goetheforschung. Berlin 1959. S. 1 ff.

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die religiöse Muckerei als Deckmantel zur Verhüllung von allerlei Menschlichem benutzt, das man nicht merken soll.“20 Aber nicht nur der Dichter Gottfried Keller, die Philologen selbst begannen an ihrem Werk zu zweifeln. Neue Auffassungen von Wesen und Wert ihres wissenschaftlichen Bemühens trugen dazu bei. Unter dem Eindruck der raschen Entwicklung von Naturwissenschaft und Technik hatte ein Gedankengang gesiegt, den Wilhelm Scherer schon vor Beginn der Arbeit an der Goethe-Ausgabe in die Worte gekleidet hatte: „Dieselbe Macht, welche Eisenbahnen und Telegraphen zum Leben erweckte, dieselbe Macht, welche eine unerhörte Blüte der Industrie hervorrief, die Bequemlichkeit des Lebens vermehrte, die Kriege abkürzte, mit einem Wort die Herrschaft des Menschen über die Natur um einen gewaltigen Schritt vorwärts brachte – dieselbe Macht regiert auch unser geistiges Leben: sie räumt mit den Dogmen auf, sie gestaltet die Wissenschaften um, sie drückt der Poesie ihren Stempel auf. Die Naturwissenschaft zieht als Triumphator auf dem Siegeswagen einher, an den wir Alle gefesselt sind.“21 Und Erich Schmidt münzte wie Scherer diese Vorstellung auf die Literaturgeschichte um, indem er schrieb: „Sie erkennt das Sein aus dem Werden und untersucht wie die neuere Naturwissenschaft Vererbung und Anpassung und wieder Vererbung und so fort in fester Kette.“22 Anders als Scherer jedoch sah Schmidt Literatur nicht als gesellschaftliches Phänomen, sondern suchte Ursprung, Wesen und Kern allen literarischen Schaffens allein in der Individualität des Dichters. Das „Sein“, das er im „Werden“ zu erkennen strebte, war nicht mehr der historische Prozeß der Zeit, der im Werk des Dichters Ausdruck erhält, sondern das Sein der dichterischen Persönlichkeit schlechthin. Bei Schmidt gelangten diese Gedanken allerdings noch nicht zu völliger Klarheit; dazu war er als Schüler und Freund Scherers viel zu sehr dessen Gedankenwelt verwandt. Überblickt man jedoch die Bibliographie seiner Schriften,23 so erkennt man deutlich, daß er stets die biographische Methode bevorzugte und über die Biographie niemals zu einer historischen Gesamtschau vorstieß. Zur gleichen Zeit aber, als er an der Berliner Universität lehrte, entwickelte der in seinen Anfängen ebenfalls der Scherer-Schule nahestehende Wilhelm Dilthey sein geisteswissenschaftliches System, das – auf die Literatur bezogen – von der Auffassung ausging, daß der „Dichter als Seher der Menschheit“ anzusehen, daß er der Prophet einer rational nicht faßbaren Welt sei, die sich ihm intuitiv erschließe.24 Neben Dilthey waren es Unger, Stefan George (bezeichnenderweise war es Erich Schmidt, der sich gemeinsam mit ———— 20 21 22 23

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Keller an Geiger, 11. März 1884. In: Gottfried Kellers Briefe und Tagebücher 1861–1890. Hrsg. von Emil Ermatinger. 3. u. 4. Aufl. Stuttgart/Berlin 1919. S. 460. Scherer, Wilhelm: Vorträge und Aufsätze zur Geschichte des geistigen Lebens in Deutschland und Österreich. Berlin 1874. S. 412. Schmidt, Erich: Wege und Ziele der deutschen Literaturgeschichte. In: Charakteristiken von E. Sch. Berlin 1886. S. 491. Scherer, Wilhelm/Schmidt, Erich: Briefwechsel. Mit einer Bibliographie der Schriften von Erich Schmidt. Hrsg. von Werner Richter und Eberhard Lämmert. Berlin 1963. Insbes. S. 325–362 sowie S. 14 f. Scherer/Schmidt: a. a. O. S. 32 sowie 37–42.

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G. Roethe für die Verleihung der Ehrendoktorwürde an St. George einsetzte),25 bald auch H. St. Chamberlain, E. Bertram und zahlreiche andere, die diese Gedanken aufgriffen, sie in ihren Schriften ausweiteten26 und damit bis in unsere Gegenwart Wirkung erzielten. Mußte angesichts einer solchen Entwicklung die Beibehaltung der von der klassischen Philologie übernommenen Editionspraxis – wie sie die Weimarer GoetheAusgabe am deutlichsten dokumentiert hatte – nicht sinnlos erscheinen? Aber anstatt die grundsätzliche Frage des „Was und Wozu“ einer kritischen Textausgabe wissenschaftlich zu prüfen, beschränkten sich die Vertreter dieser Richtung darauf, sich den neuen Strömungen zu assimilieren, d. h. eine den neuen Forderungen entsprechende Aufgabe zu wählen, um das eigene Tun, von dem sie nicht lassen wollten, von dessen Wert sie selbst offenbar aber auch nicht vollkommen überzeugt waren, zu rechtfertigen. Ansatzpunkte fanden sich in den Arbeiten Goedekes und Bernays’, nämlich der Gedanke, daß die überlieferten Handschriften als unmittelbarste Zeugnisse der dichterischen Individualität der eigentliche Gegenstand allen editorischen Bemühens sein müßten. Hier eröffnete sich ein Betätigungsfeld, das Erkenntnisse versprach, die den neuen Anschauungen sehr nahe kamen. Bernhard Seuffert war wohl der erste, der auf das Neuland hinwies, das sich da zu zeigen schien. Als „Generalkorrektor“ der „Weimarer Ausgabe“ hatte er, zumindest für die Anfänge dieser großen Edition, einen Überblick über ihre Probleme gewonnen wie wenige Gelehrte sonst. Die Erfahrungen, die er hier sammelte, dürften ihn neben der allgemeinen Tendenz bewogen haben, das neue Ziel einer wissenschaftlichen Ausgabe zu formulieren. In den „Prolegomena zu einer Wieland-Ausgabe“ entwikkelte er den Gedanken, daß die Herausgeber wissenschaftlicher Editionen „nicht nur Sammler und Textkritiker sein“, sondern „mindestens einen Ansatz zur Verarbeitung der Lesarten für die Entwickelungsgeschichte des Stiles machen“ sollten. „Nur auf solche Weise wird man den Anforderungen der historischen Herausgabe moderner Werke gerecht, zu denen außer der Gewinnung des richtigen Textes eben die Darstellung der Fort- und Umbildung des Textes gehört.“27 Seuffert wählt als Kronzeugen für diese neue Aufgabenstellung keinen geringeren als Goethe, dessen Bemerkungen über die Geschichte von Wielands Stil in dem Aufsatz „Literarischer Sansculottismus“ seine eigene Auffassung zu stützen schienen. Das Zitat heißt vollständig: „Mit welcher Sorgfalt, mit welcher Religion folgten sie [die deutschen Poeten] auf ihrer Bahn einer aufgeklärten Überzeugung! So ist es zum Beispiel nicht zu viel gesagt, wenn wir behaupten, daß ein verständiger fleißiger Literator durch Vergleichung der sämtlichen Ausgaben unsres Wielands, eines Mannes, dessen wir uns, trotz dem Knurren aller Smelfungen, mit stolzer Freude rühmen dür————

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Scherer/Schmidt: a. a. O. S. 36 f. Als charakteristisches Beispiel sei auf die Goethe-Studien von Hans Pyritz verwiesen (= Hans Pyritz, Goethe-Studien. Hrsg. von Ilse Pyritz. Köln 1962). Seuffert, Bernhard: Prolegomena zu einer Wieland-Ausgabe. 4. Berlin 1905. S. 60 (= Abh. d. königl. preuß. Akademie der Wissenschaften).

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fen, allein aus den stufenweisen Korrekturen dieses unermüdet zum Bessern arbeitenden Schriftstellers die ganze Lehre des Geschmacks würde entwickeln können.“ Goethe sieht auf Veränderungen im großen, die aus dem Vergleich von Ausgabe zu Ausgabe festgestellt werden können. Seuffert dagegen zieht den Kreis enger, hält sich an das Wort „stufenweise Korrekturen“ und zieht, um die Fortbildung des Textes darzustellen, die Vorstufen eines einzelnen Werkes, die Handschriften, in seine Arbeit ein. Friedrich Beißner schließlich, an Seufferts Wieland-Ausgabe geschult, läßt Goethes Gesichtspunkt, eine „Lehre des Geschmacks“ aus der Folge der Ausgaben abzuleiten, völlig außer acht, indem er ganz ins Enge geht und selbst Korrekturen, die während der Niederschrift erfolgten, als wesentlich der editorischen Arbeit zugrunde legt. Was nunmehr zur Aufgabe der Edition erklärt wird, ist, das sprachliche Kunstwerk in seinem Entstehen darzustellen, um daraus seinen Sinn zu erfassen. In den Jahren zwischen dem ersten und dem zweiten Weltkrieg traten die praktischen und theoretischen Bemühungen um Editionen in den Hintergrund. Als nach 1945 die Zahl editorischer Unternehmungen rasch anwuchs, zeigte sich erneut, wie stark die Seuffertschen Gedanken Wurzel geschlagen hatten. Die von ihm begründete und verteidigte neue Aufgabe faszinierte die Herausgeber. War schon seit langem der ursprüngliche Zweck einer wissenschaftlichen Ausgabe dem Bewußtsein entschwunden, so verlor nun die zwar immer noch erklärte Hauptaufgabe, die Edition eines gesicherten Textes, durch die das Dichterwort unversehrt fixiert werden soll, offensichtlich an Bedeutung gegenüber dem Weg, der zu diesem Ergebnis führen soll, gegenüber der Editionstechnik. Diente ursprünglich die philologische Arbeit einer kulturpolitischen Absicht, nämlich ein Denkmal der Dichtung zu konservieren und, soweit erforderlich, wiederherzustellen, so ist nunmehr die kulturpolitische Leistung (in Gestalt von Geldmitteln, wissenschaftlichen Einrichtungen usw.) der philologischen Absicht untergeordnet. Wenn z. B. die Akademie-Ausgabe der Werke Goethes noch erklärt, daß Text und Apparat als gleichartig zu behandeln seien,28 so kommt in Wirklichkeit dem Apparat und seiner Gestaltung das ganze Interesse und der große Aufwand zugute. Am weitesten ging in dieser Hinsicht die große Stuttgarter Hölderlin-Ausgabe. Was ihrem Herausgeber, Friedrich Beißner, vorschwebt, ist, durch ein Nacheinander in der Darstellung von Überlieferungs- und Entstehungsvarianten (Korrekturen durch den Dichter innerhalb desselben Textzeugen) in Nachlaßhandschriften „ein Bild von der Arbeitsweise des Dichters [zu] vermitteln, wie es deutlicher nicht gedacht werden kann“.29 Von Wielands Nachlaßhandschriften sagt er: „Die allermeisten seiner sonst überlieferten Papiere sind Reinschriften mit verhältnismäßig wenigen späteren Ausfeilungen – hier aber [z. B. „Titanomachie“] ist die Entstehung jeder einzelnen Zeile über alle Stufen zu verfolgen. Eine ungemein flinke Feder folgt den leisen Schwankungen des Entwurfs wie der Zeiger einer empfindlichen Meßuhr: der Keim eines ———— 28 29

Protokolle der Editionskolloquien der Gewerkschaft an der Deutschen Akademie der Wissenschaften zu Berlin. Beißner, Friedrich: Neue Wieland-Handschriften. Berlin 1938. S. 3 (= Abh. d. Preuß. Akademie der Wissenschaften. Jg. 1937. Phil.-hist. Klasse. Nr. 13).

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Einfalls – schon stehen die ersten Buchstaben auf dem Papier; doch er ist schon im Schreiben verworfen, die bessere Fassung erscheint, eine dritte wird tastend versucht, die zweite oder die erste wieder aufgenommen, abermals getilgt, eine neue und wieder neue erwogen, bis aus immer andern Abschattungen die Gestalt des endgültigen Verses hervorschimmert und sich nach einer letzten leichten Änderung klar ausprägt.“30 Friedrich Beißner wird nicht müde, den Gedanken immer neu zu formulieren, daß er sich die Aufgabe stellt, „den ganzen Stufenweg vom ersten Keim über alle noch zögernd prüfenden Wandlungen bis zur gelungenen Gestalt [zu zeigen,] … das Kunstwerk im Entstehn aufzuhaschen und so dessen tiefsten Sinn erst wahrhaft zu begreifen!“31 Ihm kommt es darauf an, „das Wachstum des Gedichtes“ zu beobachten und so „das tiefere Verständnis“ zu ermöglichen. „Die Darstellung der Entstehungsvarianten nach dieser [der Beißnerschen] Methode veranschaulicht das ideale Wachstum vom ersten Keim des Plans und Entwurfs bis zur endgültigen Gestalt – das ideale Wachstum freilich; denn man darf nicht etwa meinen, der Dichter habe sich innerhalb der unterscheidbaren großen Arbeitsphasen erst dann dem nächsten Vers zugewendet, wenn der vorhergehende fertig war, oder er habe den einzelnen Vers immer von vorn nach hinten durchkorrigiert.“32 Friedrich Beißner entwickelte den Grundsatz, daß die wissenschaftliche Ausgabe den Wachstumsprozeß eines Werkes zu zeigen habe. Er entwickelte diesen Grundsatz zwar an den Werken Hölderlins, die insofern in der neueren Literatur eine Sonderstellung einnehmen, als sie „zum größten Teil nur in Handschriften überliefert [sind], in Reinschriften und sehr vielen wirr verknäulten Entwürfen, die eine Fülle von Lesarten (oder Varianten) bergen“,33 erklärt ihn jedoch für allgemeingültig. Nicht nur Beißners ältere Abhandlungen zum Problem Wielandscher Handschriften zeigen das, sondern auch beiläufige Bemerkungen wie die folgende: „Wo der Dichter wieder und wieder neu ansetzt, im Kleinen wie im Großen – d. h. in der unermüdlichen Ausfeilung einzelner Worte und Verse wie in der Gestaltung und Umgestaltung der ganzen Erscheinungsform, der verschiedenen Fassungen –, da nimmt die Darstellung dieser erregenden schöpferischen Vorgänge mehr Raum ein als der letzte, gültige Text.“34 Und gegen Kritiker seiner Auffassung von der Aufgabe des Herausgebers gerichtet, bemerkt er: „Sie werden mir jetzt recht geben …, wenn ich behaupte, daß Herausgeber, die auch bei einem größtenteils nach den Handschriften zu edierenden Dichter wie Hölderlin die Vollständigkeit des Lesartenverzeichnisses ablehnen [einschließlich der Technik Beißners, denn sonst verliert die Abwehr ihren Sinn], vom philologischen Handwerk nichts verstehn. Sie haben die Glocken läuten hören und wissen nicht, wo sie hängen. Denn es kann ja keine Frage sein, daß Varianten in der eigenhändigen Niederschrift des Dichters echte Lesarten sind.“35 Ob das wirklich „keine Frage“ ———— 30 31 32 33 34 35

Ebd. Beißner, Friedrich: Hölderlin. Reden und Aufsätze. Weimar 1961. S. 212. Beißner: a. a. O. S. 260 f. Beißner: a. a. O. S. 251. Beißner: a. a. O. S. 251. Beißner: a. a. O. S. 256.

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mehr ist, oder ob hier gilt, daß jeder meint, was er im Sinne hat, das läuten alle Glokken, ist allerdings noch zu prüfen. So wichtig auch Untersuchungen über den Schaffensprozeß des Dichters sind und so vielsagend der Einblick in die Werkstatt des Dichters ist, so drängen sich doch zwei Überlegungen auf, deren eine bereits weiter oben angedeutet wurde. Lückenhaftigkeit der Zeugnisse im Hinblick auf den Schaffensprozeß und der verbale Charakter dieser Bruchstücke, die über die Gründe für die Änderungen, zu denen sich der Dichter bewogen sah, kaum etwas aussagen, schränken deren Aussagewert auf ein Minimum ein. Zwingender aber ist die Frage, inwiefern entsprechende Untersuchungen und Darstellungen überhaupt als Textkritik zu werten sind und damit Bestandteil oder gar Ziel einer wissenschaftlichen Ausgabe sein können. Mag das Ergründen der Entstehung eines Werkes aus dem Prozeß der Niederschrift nicht weniger berechtigt sein als seine Interpretation, so ist sie doch wie diese eine selbständige wissenschaftliche Aufgabe neben der Edition, oder aber die Interpretation müßte ebenfalls, wie auch andere literarhistorische Untersuchungen, zur Aufgabe der Edition erklärt werden. Daß die Darstellung des Wachsens und Werdens, wenn sie sich nur auf Text und Textzeugen stützt, also ohne Biographie, Soziologie, Werkzusammenhang, Geschichte usw. heranzuziehen, ebensowenig zum Ziele gelangt wie eine Interpretation mit Hilfe des Heideggerschen „hermeneutischen Zirkels“, dürfte die gemeinsame Aufassung aller sein, die die Behauptung eines l’art pour l’art-Standpunkts für Kunst und Künstler mit guten Gründen zurückweisen. Die Annahme eines von gesellschaftlichen Bedingungen und Zwecken unabhängigen Reichs der Kunst ist aber die Vorbedingung für die lediglich auf Textzeugen beschränkte Erforschung der Entstehungsgeschichte eines literarischen Werkes. Auch die Berufung auf das Goethewort „Natur und Kunstwerke lernt man nicht kennen, wenn sie fertig sind; man muß sie im Entstehen aufhaschen, um sie einigermaßen zu begreifen“, das auch Beißner zur Stärkung seiner Stellung heranzieht, hilft hier nicht. So treffend das Wort Goethes ist, so wenig ist es hier in den richtigen Zusammenhang gestellt, denn aus Goethes ganzer Denkund Schaffensweise geht hervor, daß er im Entstehungsprozeß weit mehr Faktoren wirken sah als die Späne, die bei der Niederschrift eines Gedichts abfallen. Wenn von Spänen gesprochen wird, so soll damit das Verhältnis zwischen dem endgültigen Text bzw. der vom Herausgeber ermittelten letzten Schaffensstufe und den Korrekturen des Autors, die jener Endstufe vorausgingen, bezeichnet werden. In welchem Sinne nun aber die aus Streichen, Ersetzen und Hinzufügen bestehenden Korrekturen auch noch Lesarten und noch dazu echte Lesarten darstellen sollen, ist schlechterdings unerfindlich. Varianten zwischen post mortem erschienenen Drukken werden mit Recht als unecht bezeichnet und in wissenschaftlichen Ausgaben nicht berücksichtigt. Lediglich um einmal mehr den Verwitterungsprozeß zu zeigen, dem das Werk eines Dichters ausgesetzt ist, rechtfertigt deren – und wohl nur exemplarische – Darstellung. (Daß spätere Drucke dadurch belangvoll werden, daß sie sich auf verlorengegangene Handschriften als einzige Zeugen derselben stützten, versteht sich von selbst.) Im Begriff der Variante ist die Möglichkeit verschiedener Schluß-

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folgerungen und damit die Notwendigkeit, sich für die eine oder die andere zu entscheiden, enthalten. Diese Entscheidung schließt sich aber bei der Herstellung einer Reinschrift durch den Herausgeber aus, da nur ein Mundum ein und derselben Dichtung möglich ist (von schwer entzifferbaren und vielleicht mehrdeutigen, eventuell auf Konjekturen angewiesenen Stellen abgesehen). Von sich selbst kann ein Textzeuge nicht variant sein! Insofern ergeben sich aus Verschreiben und Korrigieren durch den Autor keine echten Lesarten. Gewiß kann die Erforschung des Entstehungsprozesses eines Werkes auch den handschriftlichen Niederschlag dieses Vorganges berücksichtigen. Sie wird es tun, wenn die Arbeitsspuren wesentliches auszusagen vermögen. Dazu kann ihre ganze oder teilweise Darstellung unvermeidlich sein. Ob in diesem Falle der Forscher nicht besser daran tut, eine gute Reproduktion zu publizieren und den Prozeß, auf den es ihm ankommt, an Hand dieser Vorlage deskriptiv zu erläutern, anstatt auf dem Wege einer weitgehenden Verfremdung durch die Umsetzung der handschriftlichen Vorlage in Druckbuchstaben und in ein Druckbild wiederzugeben, ist kaum fraglich. Welcher Technik er auch den Vorzug gibt, zu wiederholen ist, daß diese Aufgabe so wenig notwendig zur Aufgabe einer Edition, d. h. zur Darbietung eines gesicherten Textes gehört, wie Einleitungen in Gestalt von Textinterpretationen oder wie die historische Erschließung des Werkes überhaupt. Weit problematischer als die im Beißnerschen Sinne genetische Richtung ist die graphische, wie sie am entschiedensten von Hans Zeller vertreten wird. Der Herausgeber der Werke Conrad Ferdinand Meyers sagt ausdrücklich, daß er das Hauptproblem seiner Edition im Apparat sehe und darin wiederum im Technischen, in der Art und Weise, wie die vollständig zu verzeichnenden Lesarten, ja die Handschrift durch ein aus beweglichen Lettern zusammengesetztes Druckbild wiederzugeben sei. Er schreibt: „… die Sophien-Ausgabe, noch ganz im Banne der Lachmannschen Philologie, hatte den Apparat durch die Art der Darstellung als etwas Unselbständiges, als ein bloßes Anhängsel zum ‚Text‘ behandelt, als ob die ‚Lesarten‘ wie im Apparat einer klassisch-philologischen oder altgermanistischen Edition in erster Linie die Herkunft und die Zuverlässigkeit des Textes nachzuweisen hätten.“36 Das unkritische Verfahren Zellers in dessen Resümee zur Geschichte der Editionen (er spricht bezeichnenderweise von Geschichte der Editionstechnik) führt ihn neben anderen zu dem Mißverständnis, daß sowohl Albert Köster wie auch Jonas Fränkel der von Seuffert vorgeschlagenen Richtung gefolgt wären, jedoch in „dem richtigen Bestreben, den Apparat lebendig und genießbar zu machen“, durch ihre Beschränkung auf das „Sinnvolle“, zumindest im Falle des letzteren, das „zulässige Maß an Selbstvertrauen“ jedoch überschritten hätten, denn: „allgemein gültige Kriterien über das Wichtige und Unwichtige in Fragen solcher Art“ gäbe es nicht. ———— 36

Zeller, Hans: Zur gegenwärtigen Aufgabe der Editionstechnik. Ein Versuch, komplizierte Handschriften darzustellen. In: Euphorion. Bd 52 (1958) S. 356 f.

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Jonas Fränkel hat mit der Entgegnung „Zum Problem der Wiedergabe von Lesarten“37 den Vorwurf Zellers teilweise zurückgewiesen. Der andere Teil seiner Antwort findet sich im Grunde genommen viel früher, 1928, in dem Aufsatz „Die Gottfried Keller-Ausgaben“. Hier heißt es: „Im folgenden wird jedenfalls keine Veranlassung sein, sich mit dieser ‚höheren Editionstechnik‘, wie ich sie nennen möchte, näher zu befassen; nur das mit elementarsten wissenschaftlichen Mitteln Erreichbare wird ins Auge zu fassen sein, nur die erste Stufe der Editionstechnik: die Textgewinnung“.38 Und er fährt fort: „Den erst nenne ich den wahren Philologen und der allein ist seiner Aufgabe wirklich gewachsen, der aus genauester Kenntnis der Sprache und der geistigen Welt eines Dichters die Entstellungen des Textes ohne eine Handschrift wahrnimmt und Unstimmigkeiten der Drucke auf indirektem Wege mit untrüglicher Sicherheit zu lösen weiß.“39 Das gleiche Ziel sah Köster vor sich, wenn er schrieb, es solle mit seiner Edition nicht die Karikatur einer Storm-Philologie aufkommen, „ein ganzer sogenannter ‚Apparat‘ [wäre] ein Unding“.40 Zeller übernimmt es nun, indem er dem von Reinhold Backmann eingeschlagenen Weg folgt, Vollständigkeit der Lesarten mit Lesbarkeit in inhaltlicher Hinsicht und optische Überschaubarkeit miteinander zu verbinden. Wie das Ergebnis aussieht, ist aus den von ihm gebotenen Beispielen auf den Seiten 374 bis 377 seines Aufsatzes „Zur gegenwärtigen Aufgabe der Editionstechnik“ zu entnehmen.41 Was für die graphische Richtung der Philologie bemerkenswert ist, liegt nicht in der ungewollten Travestie einer philologischen Aufgabe. Zeller stützt sich auf Backmann, wenn er anführt, daß dieser sogar so weit ging, der Darlegung der Entwicklung des Textes eine höhere Bedeutung zuzuschreiben als dem vollendeten Text, „nicht nur in eben dem Maße, als der handschriftliche Nachlaß eines Dichters stets wertvoller ist als die letzten bloßen Reindrucke [Hervorhebung der Verfasser.] seiner Werke …, sondern vor allem, weil das lebendige Werden stets tiefere Blicke tun läßt als das Gewordene, Erstarrte“.42 Tatsächlich wird mit dieser Zielsetzung an die Grundfragen von Sinn und Zweck philologischer Arbeit gerührt; wenn auch kein entschiedener Einspruch erfolgte, so ist das Schweigen vielsagend genug, mit dem Backmanns theoretisches und praktisches Beginnen übergangen wurde. Es scheint, als wenn sich das Gewissen der Literaturwissenschaft doch regt, wenn die Endgestalt des dichterischen Werkes, der „bloße Reindruck“, nicht mehr im Mittelpunkt aller ihrer Bemühungen steht. Die besondere Note, die Zeller seiner Methode gibt, liegt in der Behauptung, der Leser könne mit Hilfe der Angaben des Apparates die jeweilige Handschrift rekonstruieren. Zwar hatte diese Möglichkeit auch den Herausgebern der Weimarer Aus———— 37 38 39 40

41 42

Fränkel, Jonas: Zum Problem der Wiedergabe von Lesarten. In: Euphorion. Bd 53 (1959) S. 419 ff. Fränkel, Jonas: Dichtung und Wissenschaft. Heidelberg 1954. S. 98. Ebd. Köster, Albert: Prolegomena zu einer Ausgabe der Werke Theodor Storms. Leipzig 1918. S. 3 (= Berichte über die Verhandlungen d. Sächs. Gesellschaft d. Wissenschaften zu Leipzig. Philologisch-hist. Klasse. 1918. Bd 70. H. 3). Zeller: a. a. O. S. 374 ff. Zeller: a. a. O. S. 358.

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gabe vorgeschwebt, wie auch andere Herausgeber (Schiller-Nationalausgabe, Akademie-Ausgabe der Werke Goethes) ihrer Arbeit diese Vorstellung zugrunde legen, aber für sie ist die Rekonstruierbarkeit des äußeren Bildes der Handschrift im Hinblick auf die Bedeutung des edierten Textes eine Nebenaufgabe. Die genannten Ausgaben nehmen gewissermaßen eine Zwischenstellung zwischen den Methoden Beißners und Zellers ein. Die Frage ist, ob eine solche Rekonstruierbarkeit oder, wie die Beispiele Zellers zeigen, die Transformierung der handschriftlichen Vorlage in die Systematik seines Apparates, selbst wenn die Überbewertung der Nachlaßhandschriften zu Recht bestehen würde, möglich und notwendig ist. Ein Vergleich der Reproduktion der Handschrift „Himmelsnähe“ mit der Transformation nach dem Zellerschen System zeigt, daß dem Herausgeber die Enträtselung (Dechiffrierung) der Handschrift (nachdem der Dichter oder sein Gehilfe bei der Ermittlung des endgültigen Textes ihm vorangegangen waren) gelungen ist; er hat den von C. F. Meyer 1882 veröffentlichten Text an Hand des Entwurfs noch einmal überprüft und festgestellt, daß dieser Druck keine Veränderungen gegenüber dem Entwurf aufweist. Was er aber diesem Ergebnis hinzufügt, ist reiner Alexandrinismus. Zeller gesteht dies in gewisser Weise ein, wenn er schreibt: „Mir wenigstens ist es ein Bedürfnis, die gedruckte Wiedergabe [des gesamten Entwurfs, d. h. einschließlich aller Vorstufen] in die Hs zurückzuübersetzen … Sprechend wird sie erst, wenn sie die Änderungen auf die angegebene Weise charakterisiert. Dann kann man sich die Hs vorstellen oder sie auf dem Papier rekonstruieren.“43 Hier liegt nun ein weiterer Irrtum: der Vorgang der Transformation, so unzulänglich er an sich schon ist, wie der Vergleich von Handschrift und ihrer Darstellung zeigt, ist irreversibel. Weder reichen Vorstellungskraft noch Hilfsmittel dazu aus, sich ein Bild der Handschrift zu machen. Und so fährt auch Zeller fort: „Sind die Verhältnisse kompliziert, so muß der Übertragung der Hs ihre Reproduktion zur Seite treten.“ Wenn diese Bemerkung kein Eingeständnis des Bankrotts einer Methode ist, die sich anheischig macht, die „Unendlichkeit in der Wiedergabe möglichst uneingeschränkt zu erhalten“,44 so sind selbstkritische Möglichkeiten überhaupt verlorengegangen. Ist das Bild der Handschrift für den Leser so wichtig, wie Zeller es darstellt, so hilft überhaupt nur eins: das Original zur Hand zu nehmen oder ein durch die Drucktechnik aufs höchste verfeinertes Faksimile. Der Einwand, daß im letzteren Falle Wasserzeichen und ähnliche Merkmale nicht erkennbar seien, bezieht sich auf die Arbeit des Herausgebers, nicht auf den Leser. Denn selbstverständlich gehört es zu den Pflichten jenes, diesem neben dem auf Grund seiner intimen Kenntnis der Handschrift des Dichters ermittelten Text auch alle übrigen wesentlichen Einzelheiten zu der betreffenden Überlieferung mitzuteilen, und zwar so mitzuteilen, daß ihm die Arbeit des Enträtselns wirklich erspart bleibt. Das aber vermag Zellers Art der Apparatgestaltung nicht zu leisten, stellt sie doch an den Leser kaum geringere Anforderungen als die ————

43 44

Zeller: a. a. O. S. 362. Zeller: a. a. O. S. 358.

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Handschrift selbst. Man sollte dabei nicht vergessen, daß derjenige, der die Mühe aufwendet, ein solches System zu entschlüsseln, in der Regel auch in der Lage sein dürfte, selbst komplizierteste Handschriften zu entziffern. Nach Zellers Zeugnis ist sein „System“ u. a. in Zusammenarbeit mit Hans-Werner Seiffert entstanden, so daß ein Eingehen auf die Fortsetzung der Wieland-Ausgabe nicht erforderlich ist. Die Tendenz zur Verselbständigung des Apparates ist durch diese Richtung so extrem fortgeführt worden, daß das Dichterwort praktisch nur noch Anlaß für Übungen zur Transformierbarkeit von Handschriften zu sein scheint. Ähnliches gilt auch für das Bemühen Walther Killys um eine Trakl-Ausgabe.45 Killy versucht zwar, zwischen Beißners und Zellers Methode zu vermitteln, neigt aber doch mehr der letztgenannten zu. Ein wirkliches Novum in bezug auf die Editionsmethoden bietet sich hier nicht dar. Einen von Beißner und Zeller abweichenden Weg schlägt die Akademie-Ausgabe der Werke Goethes ein. Ihre beiden – gleichberechtigten – Aufgaben sieht sie in der Herstellung eines Textes, der den Intentionen des Dichters entspricht, und der historisch-genetischen Darbietung der Textzeugen. Auch hier wird dem vom Dichter autorisierten Druck nicht mehr die Bedeutung zugesprochen, die ihm noch Seuffert – ungeachtet seiner neuen Aufgabenstellung für Editionen – gab, als er schrieb: „… so fordert die Gerechtigkeit, einer historischen Ausgabe die Drucke zugrunde zu legen, weil W. [Wieland] in dieser Gestalt vor den Lesern erscheinen wollte, und noch mehr weil nur in dieser Gestalt die Schriften auf die Zeitgenossen wirkten, nur aus ihr sich ihr Urteil erklärt.“46 Die Akademie-Ausgabe geht von der Kritik der Weimarer Ausgabe, nicht von einer selbständigen Aufgabenstellung aus. Dieser Ausgangspunkt ist insofern berechtigt, als sich die Redaktoren der Weimarer Ausgabe bereits wenige Jahre nach Beginn ihrer Arbeit über wesentliche Versäumnisse im klaren waren.47 Ob aber auf diese Weise für die Akademie-Ausgabe die Grundlage für eine völlige Neuorientierung gewonnen werden konnte, mußte bald zweifelhaft sein. Zunächst stimmte es hoffnungsvoll, als Ernst Grumach die Aufgabe des Herausgebers folgendermaßen umschrieb: „… die Aufgabe des kritischen Editors kann es nur sein, den besten Text herzustellen … den Text nach bestem Wissen und Gewissen zu prüfen und unter Berücksichtigung aller vorhandenen Textzeugen und aller die Textgeschichte bestimmenden Faktoren die Textfassung herzustellen, die der Intention des Autors adäquaten Ausdruck verleiht.“48 Die Textgewinnung schien demnach im Vordergrund zu stehen. Aber schon die folgenden Darlegungen Grumachs machen skeptisch, wenn er nämlich „alle vorhandenen Textzeugen“, d. h. Drucke und Handschriften, gleichmäßig und gleichwertig auffaßt, ohne dabei die eingangs hervorgehobenen Unterschiede hinsichtlich der ———— 45 46 47 48

Killy, Walther: Der Helian-Komplex in Trakls Nachlaß mit einem Abdruck der Texte und einigen editorischen Erwägungen. In: Euphorion Bd 53 (1959) S. 380–418. Seuffert, Bernhard: Prolegomena zu einer Wieland-Ausgabe. 2. Berlin 1904. S. 65 (= Abh. d. königl. preuss. Akademie der Wissenschaften). Schmidt, Erich: Weimarer Goethe-Ausgabe. In: Goethe-Jahrbuch. Bd 16. Frankfurt a. M. 1895. Grumach, Ernst: a. a. O. S. 6.

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Überlieferung antiker und moderner Texte zu berücksichtigen. Die Tatsache, daß die handschriftliche Überlieferung eines Textes dann, wenn ein vom Dichter selbst autorisierter Druck vorliegt, immer eine Vorstufe ist, übersieht auch Grumach bzw. er versucht, sie dadurch zu eliminieren, daß er einen Text zu konstituieren gedenkt, der niemals schriftlich fixiert war, sondern lediglich in der Vorstellung des Autors existiert haben soll. Von solchen Voraussetzungen ausgehend, unterscheidet Grumach die Textrevision der Weimarer Ausgabe von der Textrezension der AkademieAusgabe. Das Ergebnis dieser Textrezension legte er vor seinem Ausscheiden als Herausgeber der Ausgabe selbst in Gestalt des „West-östlichen Divans“ vor.49 Hans Albert Maier setzte sich kritisch mit dieser Ausgabe auseinander50 und gelangte zu einer wesentlich anderen Auffassung von dem „der Intention des Autors adäquaten“ Text als Grumach. Ist das Bestreben, einen Text zu edieren, der „den Intentionen des Dichters am meisten adäquat“ ist, die eine Seite der Akademie-Ausgabe, so ist der Versuch einer „historisch-genetischen“ Darstellung51 der Varianten und Fassungen die andere Seite. Im Apparat sollen die Fassungen nicht in Einzelvarianten aufgelöst, sondern „in ihrem genetischen Zusammenhang belassen [werden], so daß der Leser das Werden und Wachsen einer Fassung mit einem Blick überschauen kann.“ Ferner soll ein System „sprechender“ Siglen gestatten, „Handschrift und Druck zu unterscheiden und die Reihenfolge der Textzeugen bzw. der Korrektoren und Korrekturschichten innerhalb eines Zeugen mühelos zu erkennen“.52 Der Versuch besteht also darin, Überlieferungs- und Entstehungsvarianten in einem geschlossenen System, und zwar vollständig darzubieten, ähnlich wie das Hans Zeller vorschwebt. Jedoch gelangt die Akademie-Ausgabe in diesem Punkte, ungeachtet der andersartigen technischen Lösung, nicht über die Weimarer Ausgabe hinaus. Im Gegenteil, sie mutet bei der Benutzung nicht nur ebenfalls ein Lesen mit dem Bleistift zu, um die Arbeit des Editors nachzuvollziehen, indem er sich die ursprüngliche Gestalt der Handschrift wiederherstellen muß, sondern verwickelt die ganze Sache noch dadurch, daß die Beschreibung des Befundes nicht mehr in Worten oder deren Abkürzungen („über der Zeile“, „gestrichen“ usw.) erfolgt, sondern ebenfalls durch Umsetzen in Siglen. Wie der von Siegfried Scheibe vorgelegte Apparatband zu den Epen53 zeigt, ist auch hier das Unmögliche und noch dazu Unnötige, eine Art Quadratur des Kreises versucht worden und seine Lösung verständlicherweise nicht gelungen. Es scheint für ————

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Werke Goethes. Akademie-Ausgabe. West-östlicher Divan. 1. Text. 2. Noten und Abhandlungen. 3. Paralipomena. Berlin 1952. Maier, Hans Albert: Zur Textgestaltung des West-östlichen Divans – 2, Orthographie und Interpunktion. In: Journal of English and Germanic Philology. Vol. 58 (1959) S. 185–221. Protokolle der Editionskolloquien der Gewerkschaft an der Deutschen Akademie der Wissenschaften zu Berlin. Grumach, Ernst: a. a. O. S. 33. Werke Goethes. Akademie-Ausgabe. Epen. 2. Überlieferung, Varianten und Paralipomena. Berlin 1963. S. 421.

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Herausgeber ein ungeschriebenes Gesetz zu sein, daß eine wissenschaftliche Ausgabe nur dann ihre Vorgängerin überflügelt, wenn sie mehr bietet, d. h. umfangreicher ist. Daß weniger mehr sein könnte, wenn die Edition sich auf ihr Ziel besänne, wollen „Textemacher“ sich offenbar nicht eingestehen, so sehr die „Textleser“ auch darum ansuchen. ,,… daß es möglich wäre, mit Hilfe eines verzwickten Systems von Zeichen und Klammern eine komplizierte Handschrift wirklich wiederherzustellen, halte ich für Illusion“, schreibt Jonas Fränkel zu dieser Seite der Apparatgestaltung.54 Er fügt hinzu, daß im Zeitalter der höchstentwickelten fotographischen Kunst ihm die darauf verwandte Mühe sehr überflüssig erscheint Und das stimmt auch. Um die Handschrift oder ihr Abbild vor Verlust zu schützen, ist neben der Aufbewahrung in einem Literaturarchiv immer noch die Sicherheitsverfilmung mit entsprechender Deponierung der Filme das zur Zeit geeignetste Mittel. Auch die Frage, wie das Nach- oder Nebeneinander in der Darbietung von Varianten technisch gelöst werden kann, wird gegenstandslos, wenn der Herausgeber sich auf seine ureigene Aufgabe beschränkt und im Apparat nur die Lesarten verzeichnet, die echte Varianten darstellen, d. h. solche Abweichungen in der Überlieferung, die möglicherweise unterschiedliche Entscheidungen für die endgültige Textkonstituierung zulassen. Er würde dann also nur eine begrenzte Auswahl aller feststellbaren Varianten bieten, ihre Zahl würde auf ein Minimum zusammenschrumpfen, das in der Regel durch erläuternde Bemerkungen zum Text bewältigt werden kann. Sobald jedoch der Gedanke an eine Auswahl aufgeworfen wird, taucht sofort der besorgte Ruf nach den „sicheren Kriterien“ auf. Welche Grenzen sind dem Herausgeber gesetzt, welche Kontrollmöglichkeiten hat der Leser? Ist nicht zu befürchten, daß gerade die ausgelassenen Varianten Anlaß zu folgenreichen Untersuchungen sein könnten? So und ähnlich lauten die Einwände. Richtig ist, daß die Auswahl eine Entscheidung voraussetzt und diese wiederum eine Wertung. Aber ist dies nicht das wesentliche Element einer wissenschaftlichen Arbeit, die sich nicht im Mechanischen, Nur-Fleißigen und Pedantischen erschöpfen will? Auch der Blick auf den imaginären Benutzer, dessen möglichen Bedürfnisse nicht abgeschätzt werden können und der deshalb ein wertungsfreies, vollständiges Material vorzufinden wünscht, rettet da nicht. Denn es gibt den Benutzer nicht, der aus Lesarten- und Siglenkolonnen, in denen unterschiedslos neben vorbedachten Eingriffen in den Text Korrekturen von Schreibflüchtigkeiten, Schreiber- und Setzerversäumnissen in Überlieferungs- und Entstehungsvarianten der Handschriften und Drucke stehen, das Bild der Handschriften und Drucke rekonstruieren oder Erkenntnisse für den Inhalt einer Dichtung gewinnen könnte, es sei denn, er wiederholt die Arbeit des Herausgebers und nimmt ihr damit ihren Sinn. Ob eine Sammlung von Lesarten, wie Jonas Fränkel meint, geeignet ist, den Sprach- und Stilwandel eines Dichters zu bezeugen,55 ist zu bezweifeln. Für Untersu———— 54 55

Fränkel, Jonas: Zum Problem der Wiedergabe von Lesarten. In: Euphorion. Bd 53 (1959) S. 419 ff., insbes. S. 421. Fränkel: a. a. O. S. 420.

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chungen dieser Art, die mit längeren Schaffensperioden rechnen müssen, bieten sich in erster Linie die edierten Texte selbst an. Die Frage nach den „sicheren Kriterien für eine sinnvolle Auswahl aus den Lesarten“ ist erst dann berechtigt, wenn Zweck und Ziel eines Editionsvorhabens eindeutig bestimmt sind. Dabei erhebt sich jedoch sofort die weitere Frage, ob die Entscheidung der Zweckbestimmung einer Ausgabe einzig und allein im Belieben des Editors liegt oder ob dafür nicht allgemeingültige, aus der speziellen Aufgabenstellung der Philologie sich herleitende Prinzipien maßgebend sind, die er einhalten muß, wenn seine Arbeit ein echter Beitrag zur Lösung dieser Gesamtaufgabe sein soll, wenn seine Arbeit entsprechend ihren Möglichkeiten der Auffindung oder wenigstens der Annäherung an eine objektive Wahrheit dienen und sich nicht in zufälligen, wissenschaftlich unerheblichen Feststellungen erschöpfen, d. h. ihr eigentliches Anliegen verfehlen soll. Grundsätzlich sollte dabei nicht übersehen werden, daß die Philologie – wie jede andere Wissenschaft auch – ein Produkt des gesellschaftlichen Lebens ist und ihre Arbeitsergebnisse zum Nutzen der Gesellschaft gewonnen werden. Erkennt man diesen Grundsatz an und dehnt seine Gültigkeit auch auf die Editionslehre und die Editionspraxis aus, dann stellt sich deren Aufgabenstellung anders dar, als sie von der jüngeren Editionswissenschaft aufgefaßt wird. Ihren Sinn erhält die Editionspraxis danach von der Stellung der germanischen Philologie in der Gesellschaft. Mit anderen Worten ausgedrückt heißt das, daß der Herausgeber sich über das kulturpolitische und wissenschaftliche Ziel schlüssig werden muß, um dessentwillen er die Leistungen der Gesellschaft in Anspruch nimmt, seine wissenschaftliche Kraft und sein Ansehen in die Waagschale wirft und dem er mit seiner Arbeit dienen will. In bezug auf editorische Vorhaben kann dieses Ziel etwa folgendermaßen umrissen werden: Mit der Erarbeitung einer wissenschaftlichen Ausgabe soll ein Denkmal der Literatur errichtet werden, das alle von einem Autor herrührenden Werke sowie alle anderen von diesem Autor unmittelbar (d. h. schriftlich, in neuerer Zeit vielleicht auch als Tonband oder Schallplatte) überlieferten Äußerungen seiner geistigen Tätigkeit umfaßt, um der Nation und der Menschheit unverfälscht und vollständig einen Zeugen ihrer geistigen Existenz zu erhalten. Dieses Denkmal der Literatur ist durch seinen künstlerischen Wert und die Bedeutung, die es für die Gesellschaft im Sinne fortschrittlicher Traditionen in der Geschichte der Nation und der Menschheit erlangt hat, ausgezeichnet; nur durch diesen Wert wird die Hinterlassenschaft eines Autors denkmalswürdig. Von einer wissenschaftlichen Ausgabe wird gesprochen, weil die Methode, mit der die Lösung der aus dieser Zielsetzung sich herleitenden Aufgaben unternommen wird, wissenschaftlicher Natur ist und weil die Ausgabe zum Gebrauch für Wissenschaftler bestimmt ist. Indem sie das von einem Autor für die Öffentlichkeit bestimmte Werk in Gestalt eines gesicherten Textes zusammen mit allen übrigen unmittelbar von ihm herrührenden Zeugnissen seines geistigen Lebens darbietet, stellt sie für die weitere sprach- und literaturwissenschaftliche Forschung eine hinreichende Grundlage dar. Gleichzeitig ist sie der Standard für nicht-wissenschaftliche (deshalb

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natürlich nicht unwissenschaftliche) Ausgaben und dient schließlich für andere Zweige der Gesellschaftswissenschaften als verläßliches Hilfsmittel. Die Erarbeitung eines gesicherten, d. h. des vom Autor tatsächlich veröffentlichten und von allen fremden Zutaten gereinigten Textes ist und bleibt die Aufgabe des Editors; mit dieser Leistung allein entspricht er den oben gekennzeichneten Forderungen, die vom Standpunkt der germanischen Philologie an eine Edition gestellt werden können und müssen. Sie stellt an das wissenschaftliche Vermögen des Editors bedeutende Anforderungen, die gewährleistet sein müssen, wenn das erstrebte Ziel erreicht werden soll. Alle weiteren Zugaben aber, sei es der Versuch, mit Hilfe von Siglen und schematischen Hinweisen von fragmentarischen Zeugnissen ausgehend, den Entstehungsprozeß eines Werkes zu veranschaulichen, oder sei es die Absicht, Nachlaßhandschriften mit Hilfe von Lettern so wiederzugeben, daß eine wissenschaftliche Beschäftigung mit den Originaldokumenten überflüssig wird, Absichten, die bestenfalls in anderer Form als der vorgeführten oder überhaupt nicht realisierbar sind, müssen als zufällig, d. h. nicht notwendig aus den Aufgaben einer Edition sich herleitend, angesehen werden. Daß sich hinter der Forderung nach dem gesicherten Text mehr verbirgt als ein mechanisches Kollationieren der Überlieferungen, daß es sich dabei wirklich um eine wissenschaftliche Aufgabe handelt, soll mit Worten Jonas Fränkels, der wie wenige andere über den Sinn philologischer Tätigkeit nachgedacht hat, angedeutet werden. „Ein simples Schreibversehen in der Handschrift [Gottfried Kellers] hatte mitunter die Umkrempelung des Sinnes in einem ganzen Satze zur Folge. Die Besorgung der Korrektur aber war dem Autor ein lästiges Geschäft, dem er selten mit der nötigen Sammlung oblag; mußte doch die Durchsicht in der Regel am gleichen Tag erledigt werden, an dem ihm die Post die Korrekturbogen aus Deutschland gebracht hatte. Oft war ihm das Persönlichste seines Stils verwischt worden, ohne daß er es gewahr wurde, oft gestattete die Eile nicht den entstellten Text sorgsam aus dem Gedächtnis zu rekonstruieren. Nun haben sich aber die Druckhandschriften nicht immer erhalten, und wo sie noch vorhanden sind, dürfen sie nicht ohne weiteres einem Neudruck als Unterlage dienen. Sooft der überlieferte Text von der Handschrift abweicht, muß auf Grund minutiösester, meist sehr komplizierter Untersuchungen festgestellt werden, wieviel an den Abweichungen der Sorglosigkeit der Setzer zur Last gelegt und wieviel auf nachträgliche Änderungen des Autors zurückgeführt werden muß.“56 Nach dieser von niemand bestrittenen, doch vielen unbekannten Beschreibung philologischer Arbeit faßt Fränkel zusammen: „Sicherstellung des Wortlauts und Wiederherstellung des authentischen Textes, gleichviel ob dieser schon zu Lebzeiten des Dichters feststand oder erst aus Handschriften und Tradition gewonnen werden muß, bilden wohl die primäre, doch nicht die einzige Aufgabe der Philologie. Geht doch durch das Wort der unmittelbarste Weg zur Seele des Dichters. Der Aufgabe, diesen ———— 56

Fränkel: Dichtung und Wissenschaft. Heidelberg 1954. S. 16 f.

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Weg möglichst bloßzulegen, durch alle Umhüllungen und Überwucherungen hindurch, wird sich der ernste Philologe nicht entziehen mögen.“57 Mit Recht betont Fränkel die vorrangige Bedeutung der gedruckten Überlieferung für die Textkonstituierung. Seine abschließende Bemerkung deutet aber noch auf weitere Aufgaben des Editors hin, die gelöst werden müssen, wenn eine Edition wirklich vollständig sein soll. Der Hinweis, der „ernste Philologe“ könne sich der Forderung nicht entziehen, „durch alle Umhüllungen und Überwucherungen hindurch“ den Sinn jedes Wortes und damit den „unmittelbarsten Weg zur Seele des Dichters bloßzulegen“, knüpft zweifellos an die Forderung Seufferts an, daß der Herausgeber „mindestens einen Ansatz zur Verarbeitung der Lesarten“ machen müsse. Aber anders als alle übrigen Nachfolger Seufferts maß Fränkel – wie dies seine Keller-Ausgabe erkennen läßt – dieser Aufgabe sekundäre Bedeutung zu, die hinter der Hauptaufgabe einer Edition, der Darbietung eines gesicherten Textes, durchaus zurückzutreten habe. Man sollte im Unterschied zu dieser Hauptaufgabe die mit dem Apparat zu lösenden Probleme daher ganz bewußt als Nebenaufgaben bezeichnen; denn nur so wird die Relation, die die einzelnen Teile einer Ausgabe verbindet, richtig, d. h. der wissenschaftlichen Aufgabenstellung entsprechend charakterisiert. Die Editionspraxis der letzten Jahrzehnte hat dieses Verhältnis verdunkelt. Die Überbewertung des Apparates, die ausschließliche Konzentration des Interesses auf Fragen der Apparatgestaltung, auf die Möglichkeit der Darbietung von Lesarten und die damit gleichzeitig angestrebte Lösung von weiteren Aufgaben, wie Werkentstehung (Beißner) oder Sicherung von Dichterhandschriften durch den Druck (Zeller, Akademie-Ausgabe der Werke Goethes), hat zwangsläufig zu einer Verselbständigung des Apparates und damit auch zu seiner Überbewertung gegenüber dem Textteil geführt, wie dies bei Backmann und Zeller unmißverständlich ausgesprochen wird. Durch diese bei den betreffenden Ausgaben immer spürbare Tendenz wird die Brauchbarkeit einer Edition jedoch weithin in Frage gestellt. Die Brauchbarkeit einer Ausgabe wird nicht durch die Qualität des Textes und durch die Übersichtlichkeit und Verständlichkeit ihrer Anlage allein bestimmt, sondern auch durch den Zeitraum, in dem sie zustande kommt. Eine wissenschaftliche Ausgabe ist erst dann wirklich brauchbar, wenn sie abgeschlossen, und zwar in einem dem Entwicklungsgang der Wissenschaft angemessenen Zeitraum, vorliegt. Auch aus diesem Grunde war auf die verhältnismäßig kurze Zeitspanne verwiesen worden, in der die Weimarer Ausgabe zustande kam. Auch die finanziellen Mittel, die für eine wissenschaftliche Ausgabe aufzuwenden sind, und die Arbeitskraft, die durch eine Ausgabe gebunden wird, werden nur durch den Erfolg gerechtfertigt. Ob eine Selbstkontrolle durch die Herausgeber hier stets zu befriedigenden Ergebnissen kommt, ist sehr die Frage, selbst wenn die innere Ökonomie einer Ausgabe, die durch ihre einzelnen Arbeitsgänge bestimmt wird, in Ord————

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Fränkel: a. a. O. S. 19 f.

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nung ist. Diese einzelnen Arbeitsgänge sind: Das Sammeln der Text-Überlieferungen und – soweit es sich um handschriftliche Informationsträger handelt – ihre Dechiffrierung, das Kollationieren und Bestimmen ihrer inhaltlichen und historischen Stellung in der Gesamtüberlieferung, die Transkription und Fixierung der Texte, ihre Anordnung und ihr Druck. Diese Arbeitsvorgänge sind als notwendig zu bezeichnen, sie umschließen die Hauptaufgabe einer Edition. Mit ihr wird eine Arbeit geleistet, die dem Einzelforscher wesentliche Erleichterungen schafft und deren Ergebnis ihn befähigt, seine Kräfte auf andere, weiterführende Arbeiten zu konzentrieren. „Im Sinne einer ökonomischen Arbeitsteilung, die ein Höchstmaß an Intensivierung und Rationalisierung ermöglicht, übernimmt der Herausgeber die erwähnten Arbeitsvorgänge.“58 Sie sind für den Forscher, der sich der Edition für weiterführende Untersuchungen bedienen will, aus einer Reihe von Gründen nur schwer ausführbar, und zwar durch: „1. die Einmaligkeit der handschriftlichen und die relative Seltenheit der gedruckten Informationsträger, 2. die meist große Streuung der Informationsträger im geographischen Raum, 3. die … als Voraussetzung [für die philologische Auswertung] nötigen Kenntnisse und Fertigkeiten, die wiederum eine Ausbildung und längere Beschäftigung verlangen, 4. das das Arbeitsvolumen des einzelnen übersteigende Arbeitspensum.“59 Ist mit dem Druck des edierten Textes die Hauptaufgabe der wissenschaftlichen Ausgabe gelöst, so bleiben doch noch einige Fragen offen. Bereits vorhin wurde von Nebenaufgaben gesprochen, deren Lösung erforderlich erscheint, wenn das Denkmal der Literatur vollständig überliefert und für die Rolle, die es künftig in der Wissenschaft und der Kulturpolitik auszuüben hat, richtig geeignet sein soll. Einige dieser Nebenaufgaben sind notwendig, d. h. ohne ihre Lösung ist nicht alles getan, was von der Ausgabe mit Recht gefordert wird, andere sind wünschenswert, d. h. sie könnten zusammen mit der editorischen Arbeit gelöst werden, weil sie die Edition vorteilhaft ergänzen. Aber dem Herausgeber sind Grenzen gesetzt. Soll die Arbeit an seiner Ausgabe nicht uferlos werden, muß er diese Arbeiten teilweise anderen überlassen. War das schon von sprach- und literaturwissenschaftlichen Darstellungen, darunter Inhaltsdeutungen und textgeschichtlichen Untersuchungen, gesagt, so gilt dies ebensosehr von Material- und Dokumentensammlungen anderer Art, wie z. B. der Aufnahme von Gesprächen, der an den Autor gerichteten Briefe, von Urteilen oder Erinnerungen von Zeitgenossen, von auf den Autor bezüglichen Akten oder verwandten Dokumenten, einer systematischen Darstellung der Entstehung der Werke, von Wörterbüchern, von Handbüchern und Bibliographien für alle Beziehungen des Autors. All das sind wünschenswerte Hilfsmittel; aber sie sind nicht notwendiger Bestandteil einer Ausgabe. Unter den wünschenswerten Nebenaufgaben machen einige die Edition handlicher und in größerem Maße brauchbar: Register und sachliche Erläuterungen zu einzelnen ———— 58 59

Protokolle der Editionskolloquien der Gewerkschaft an der Deutschen Akademie der Wissenschaften zu Berlin. Ebd.

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Textstellen (Anmerkungen). Sie müssen ebenfalls nicht der Ausgabe angehören, aber sie sind, je älter der Text vom Standpunkt seines Lesers aus ist, so wünschenswert, daß auf sie nicht verzichtet werden sollte. Anders liegen die Dinge bei den notwendigen Nebenaufgaben; d. h. hinsichtlich des Umfanges und der Systematik des textkritischen Apparates im eigentlichen Sinn. Dieser Bereich war von jeher das wahre Tummelfeld der Editionstechniker. Mit schneidender Schärfe bemerkt Jonas Fränkel hierzu: „Man stellte exakte Methoden auf, nach einheitlichen Gesichtspunkten, die jedem Mitarbeiter leicht eingehen und keinen Raum für eigene Entscheidungen lassen sollten. Die Arbeit sollte sich wesentlich auf Inventarisieren beschränken, wobei jede Wertung zu vermeiden war. Damit verschloß sich die neue Wissenschaft, die mit jenem bändereichen Werke [der Weimarer Ausgabe] eingeleitet worden war, den kühnen Aufgaben, die auf sie von allen Seiten zudrängten.“60 ,,Was bieten diese ‚Apparate‘, die unsern großen Dichterausgaben beigegeben sind? Sie beschränken sich wesentlich auf geistlose Enumeration sämtlicher Abweichungen der Drucke und der Handschriften untereinander: jedes überflüssige Komma und jede orthographische Variante wird gewissenhaft verzeichnet, Zeile für Zeile, Seite für Seite. Für wen und zu welchem Zwecke? Kein Mensch hat das je ergründet. Alle Flüchtigkeiten der Feder und aller Staub der Setzerkasten werden da einbalsamiert – mit der ernstesten Miene von der Welt, als diente man damit einer Wissenschaft! Doch eine Wissenschaft, die daraus Nutzen ziehen könnte, gibt es gar nicht.“61 Sind diese zürnenden Worte beweiskräftig? Sie wären es nicht, wenn der Gegenbeweis angetreten werden könnte. Selbst das Argument, daß der Herausgeber seinen Arbeitsgang mit Hilfe solcher Angaben nachweisen und damit sein Arbeitsergebnis belegen müsse, verfängt nicht. Denn wer kann ernsthaft erwarten, daß der mühselige Weg, den der Editor zurücklegen muß, um zu seinen Ergebnissen zu gelangen, zurückverfolgt, seine klügliche Verschlüsselung entziffert wird? Wie vorsichtig umgehen Rezensenten diesen Teil einer wissenschaftlichen Ausgabe und wie bescheiden beschränken sich die Verfechter erneuerter Ausgaben auf Beispiele für Fehler ihrer Vorgänger, wobei der aufgedeckte Mangel in der Regel keinen Einfluß auf eine neue Sinnerfassung oder überhaupt auf Sinngebung hatte. Die Fehler, die der Weimarer Ausgabe nachgewiesen wurden, sind auf anderem Wege als durch Nachspüren der Lesarten aufgedeckt worden. Um so williger verläßt sich der Leser angesichts des Apparates auf den gebotenen Text. Dennoch haben sich die Editoren – wie namentlich der Hinweis auf die Ausführungen Hans Zellers zeigt – in ihrem Drang nach Vollständigkeit in der Verzeichnung aller Abweichungen zwischen den Überlieferungen und in dem Bestreben, dieses Vollständigkeitsbedürfnis durch verschiedenartigste Argumentationen zu rechtfertigen, nicht beeinträchtigen lassen, ja, es zeigt sich, daß die Zahl der Verzeichnungen ————

60 61

Fränkel, Jonas: Dichtung und Wissenschaft. Heidelberg 1954. S. 21 f. Fränkel: a. a. O. S. 20.

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und die Kompliziertheit ihrer Wiedergabe immer mehr anschwillt, so daß am Ende jede Übersichtlichkeit beseitigt ist. Sehr klar wird diese Entwicklung durch die soeben erschienenen Apparatbände der Goethe-Akademie-Ausgabe dokumentiert. Wie gering die Ausbeute an wirklichen Einsichten, die aus der Aufzählung aller Abweichungen eines im Sinne Grumachs neu konstituierten Textes von der übrigen Überlieferung ist, sei an einem Beispiel verdeutlicht. Wenn wir ein Beispiel wählen und uns nicht lediglich auf die Analyse z. B. eines Apparatteils der Weimarer Ausgabe beschränken, so geschieht das deshalb, weil das hier gewählte Beispiel anschaulich macht, wie mit dem Prinzip der Konstituierung eines der Intention des Dichters entsprechenden Textes – d. h. eines von aller gedruckten Überlieferung abweichenden Textes – notwendig auch der Umfang der sogenannten Variantenverzeichnung wächst. Nicht deutlicher kann unseres Erachtens das die gegenwärtige editorische Praxis kennzeichnende Mißverhältnis zwischen effektivem Arbeits- und Mittelaufwand und wissenschaftlicher Erkenntnis charakterisiert werden. Lieselotte Blumenthals Tasso-Band der Akademie-Ausgabe, für den noch kein Apparat gedruckt ist, kann dieses Beispiel geben.62 Die Herausgeberin hat in ihrem den Tasso-Handschriften gewidmeten Aufsatz63 überzeugend nachgewiesen, daß die im Archiv der Nationalen Forschungs- und Gedenkstätten ruhenden Handschriften H1 und H2 in ihrer vorliegenden Form verheftete Exemplare sind, die sich jeweils aus Teilen des Mundums und der Druckvorlage zusammensetzen. Mit der Beweisführung für diese Entdeckung verbindet die Verfasserin die Darlegung von Editionsgrundsätzen. Im Gegensatz zur vielverlästerten Weimarer Ausgabe, die der Meinung war, daß durch Verzeichnung aller Interpunktionsabweichungen … der Apparat ganz nutzlos anschwillt,64 sieht sie die Bedeutung der Interpunktion anders. Aus dieser anderen Auffassung heraus benutzt sie die Untersuchung der Tasso-Handschriften, um „grundsätzliche Probleme einer modernen kritischen Edition von Goethes Werken“ aufzuzeigen.65 Lieselotte Blumenthal schildert ausführlich, daß der Schreiber Goethes, Vogel, zwischen Oktober 1788 und Juli 1789 eine Reinschrift des „Tasso“ anfertigte, die Goethe gründlich auf den Text, die Orthographie und die Interpunktion hin überarbeitete, und daß von dieser korrigierten Reinschrift vom gleichen Schreiber (mit Ausnahme des 3. Aufzuges) eine Abschrift angefertigt wurde. Diese Abschrift ging als Druckvorlage an Göschen in Leipzig. Der Verleger schickte diese Druckvorlage aber nicht, wie im Vertrag von 1786 ausgemacht, sogleich zurück, sondern erst auf Goethes Mahnung nach erfolgtem Satz Mitte Januar 1790, wo sie dann mit der Reinschrift zusammen zum Heften an den Buchbinder ging. Der Buchbinder brachte vermutlich die beiden Manuskripte durcheinander. ————

62 63 64 65

Werke Goethes. Akademie-Ausgabe. Torquato Tasso. 1. Text. Berlin 1954. Blumenthal, Lieselotte: Die Tasso-Handschriften. In: Beiträge zur Goetheforschung. Hrsg. von Ernst Grumach. Berlin 1959. S. 143 ff. Goethes Werke. Weimarer Ausgabe. 1. Abt. Bd 10. S. 427. Blumenthal: a. a. O. S. 144.

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Während Vogel die Korrekturen Goethes sorgfältig beachtete, war der Schreiber des 3. Aufzuges (vermutlich Goethes Diener Paul Goetze) sehr nachlässig. In Vogels für den Druck bestimmter Abschrift nahm Goethe nur noch geringfügige Verbesserungen vor, in die Goetzes mußte er stärker eingreifen. Ein wesentliches Merkmal der orthographischen Korrekturen war die Rücksicht auf die von Adelung aufgestellten Regeln,66 deren Anwendung bereits im Verlagsvertrag zwischen Goethe und Göschen vereinbart war. Da sowohl dem Schreiber Vogel als auch Goethe selbst die Anwendung der Adelungischen Regeln noch nicht vollkommen gelang, ersuchte letzterer Göschen, weitere Korrekturarbeiten zu übernehmen. Aus den Handschriften ist ersichtlich, daß ein weiterer Korrektor vor der Übersendung der Druckvorlage nach Leipzig mitwirkte. L. Blumenthal nimmt mit gutem Grunde an, daß Goethe in erneuerter freundschaftlicher Verbundenheit Christoph Martin Wieland zur Durchsicht des Manuskripts heranzog und sich auf dessen Tätigkeit fast vollständig verließ. Nur [sic, wohl Ausfall einiger Wörter durch Setzerversehen; R. N.-K.] die vermutlich von Wieland stammenden Korrekturen wieder rückgängig. Von diesem Sachverhalt geht L. Blumenthal aus, wenn sie nunmehr im Vergleich von Erstdruck, Mundum und Druckvorlage dem Interpunktionszeichen nachspürt, das „so eigentümlich Goethisch [ist], daß es unbedingt erhalten bleiben muß. … Da Goethe eine moderne Adelungische Interpunktion wollte, war er nicht nur mit dem Verfahren Wielands einverstanden, sondern verbesserte selbst nach diesen Richtlinien. Aber sobald das grammatische Schema den Sinn verwischte oder den Rhythmus behinderte, wurde es in der Korrektur ausgemerzt.“67 Die Nachsuche nach sinnentstellenden Korruptelen blieb natürlich nicht auf Interpunktionszeichen beschränkt, „aber“, so faßt L. Blumenthal zusammen, „es darf wohl die summarische Feststellung getroffen werden, daß durch die verschiedenen Mitarbeiter Goethes bei der Herausgabe seiner Werke bis zur Ausgabe letzter Hand und durch die editorischen Grundsätze der vorbildlich gewordenen Weimarer Ausgabe viele Eigentümlichkeiten und beabsichtigten Feinheiten der Handschriften verlorengingen. Die Akademie-Ausgabe von Goethes Werken hat sich darum von diesen Editionsprinzipien entfernt und versucht, jedes Werk so zu bringen, wie es Goethe im Augenblick des Abschlusses gewollt hat … Wohl wurde versucht, Goethes Intentionen aufzuspüren und zu verwirklichen, indem durch Kollation beider Handschriften ein Text hergestellt wurde, in dem alle Bekundungen seines Willens erhalten bleiben sollten und nur da eine Normalisierung vorgenommen wurde, wo sie in der Handschrift eindeutig versehentlich unterblieben war. Aber es gab Fälle, wo Goethes Entscheidung nicht mit absoluter Sicherheit behauptet werden konnte, und da ist lieber das unvollkommene Bild der Handschrift beibehalten worden …“68 ———— 66 67 68

Adelung, Johann Christoph: Vollständige Anweisung zur deutschen Orthographie nebst einem kleinen Wörterbuch für die Aussprache. Orthographie. Biegung und Ableitung. Leipzig 1790. Blumenthal: a. a. O. S. 173 f. Blumenthal: a. a. O. S. 187 f.

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Leider liegt nur der Textband, nicht aber der in Aussicht gestellte Apparatband vor, um auch dessen Problematik zu erörtern. Aber schon der Weg zum edierten Text macht vieles deutlich. Nicht der Druck des Goetheschen Werkes als „Bekundung seines Willens“ wird als Grundlage aller Erörterungen über den besten Text gewählt, sondern eine Vorstufe zum Druck, eine Handschrift wird als letzte Instanz anerkannt. Demzufolge wird der Untersuchung des Verhältnisses der Ausgabe letzter Hand und der vorausgehenden Drucke69 wenig Beachtung geschenkt, obwohl doch nur dadurch die Grundlage für den zu edierenden Text, d. h. für den Text, der zu Goethes Zeit wirklich in die Hände des Publikums gelangte, ermittelt werden kann. Ergibt sich aus diesen Ermittlungen, daß der Erstdruck von 1790 die beste Textgrundlage ist, wäre zu prüfen, wieweit ohne Herstellung eines Mischtextes, der zwar den Vorstellungen des Herausgebers als Goethe gemäß entspricht, nie aber Goethe selbst vor Augen gelegen hat, Verderbnisse beseitigt werden können. Dazu werden die Handschriften wohl herangezogen, den „editorischen Kanon, den der Dichter selbst seinem Werk auferlegt hatte“,70 bilden sie nicht. Für die Darbietung von Varianten ergibt sich vollends keine Aufgabe, wenn nicht das Prinzip der Vollständigkeit verkündet worden wäre. Allein ein Vergleich des von L. Blumenthal gebotenen Textes mit dem der Ausgabe C1 läßt etwa 850 Abweichungen erkennen. Ein Überblick zeigt, daß sich diese Abweichungen fast durchweg auf Normalisierungen erstrecken wie „Fürstin“ in C1 und „Fürstinn“ in der Handschrift, „lächelnd“ in C1 und „lächlend“ in der Handschrift, „ei“ in C1 und „ey“ in der Handschrift und dann auf den stärkeren Gebrauch des grammatisch geforderten Kommas und Apostrophs in C1 gegenüber der von Blumenthal gewählten Textgrundlage und einiges mehr von gleichem „Gewicht“. Lediglich im 1. Auftritt des 3. Aufzugs findet sich in C1 die Regiebemerkung, daß die Prinzessin „allein“ sei, die in der Handschrift nicht steht (übrigens auch zu Beginn des 3. Auftritts im 5. Aufzug). Dagegen findet sich in Vers 1761 des Textes der Akademie-Ausgabe (3. Aufzug 2. Auftritt): Das ist recht schön, allein du bist’s so sehr

so auch in der Handschrift (Druckvorlage), während in der Ausgabe letzter Hand (C1) steht: Das ist recht schön: allein so sehr bist du’s,

In der Ausgabe von 1790 findet sich: Das ist recht schön; allein du bist’s so sehr,

Nach dem Vollständigkeitsprinzip müssen nicht nur diese 850 Varianten zwischen dem Text der Akademie-Ausgabe und C1, sondern auch die zu den dazwischenliegenden Ausgaben verzeichnet werden. Aber nicht genug damit, verlangt dieses Prinzip ————

69 70

Die Gesamt- und Einzeldrucke von Goethes Werken. Akademie-Ausgabe (Ergänzungsband 1). Bearb. von Waltraud Hagen. Berlin 1956. Blumenthal: a. a. O. S. 181.

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auch die Varianten zwischen den beiden Handschriften und dem edierten Text und – dem Unfug sei keine Grenze gesetzt! – zwischen den einzelnen sogenannten „Korrekturschichten“ der Handschriften, wobei gewissenhaft zwischen Bleistift, Rötel und Tinte, zwischen den Korrektoren Goethe, Wieland und denen der Göschenschen Offizin unterschieden werden muß, von denen Göschen behauptet, es hätten ihrer drei jeden Bogen viermal korrigiert.71 Dies alles wird einer wissenschaftlichen Ausgabe und damit dem Leser zugemutet. Das Ergebnis stellt sich dann so dar, wie es Renate Fischer-Lamberg 1960 mit den Überlieferungen und Lesarten zu „Wilhelm Meisters theatralischer Sendung“72 und 1963 Siegfried Scheibe mit dem Apparatband zu den Epen vorlegten: als wissenschaftliche Fehlinvestition. (Der Ordnung halber sei darauf hingewiesen, daß die Richtlinien mehrfach geändert wurden, am einschneidendsten 1959. Der Tasso-Band erschien 1954, die Epen-Bände 1958 bzw. 1963.)73 Welche Aufgaben hat nun aber ein Apparat zu lösen, damit die Edition wirklich allen Anforderungen gerecht werden kann? Am wichtigsten und vordringlichsten ist natürlich die Begründung für die Auswahl des zu edierenden Textes sowie die Verzeichnung all derjenigen Stellen des ausgewählten Textes, die auf Grund einer kritischen Überprüfung an Hand der übrigen Überlieferung verändert werden mußten. Darüber hinaus erwartet der Leser einer wissenschaftlichen Ausgabe eine exakte Verzeichnung und Bestimmung aller übrigen zu Lebzeiten des Autors entstandenen und von ihm autorisierten Textzeugen (Schemata, Szenentafeln, Entwürfe usw.), und zwar in der vom Herausgeber ermittelten letzten Gestalt, d. h. ohne Verzeichnung von Autorkorrekturen. Soweit diese Texte inhaltlich in einzelnen Partien von dem der Ausgabe zugrundegelegten Text abweichen, sind sie im Apparat im vollen Wortlaut (nicht durch Siglen und Lesarten verschlüsselt) abzudrucken. Sind diese Abweichungen so umfassend und dergestalt, daß sie die Komposition des Inhalts verändern, handelt es sich also um eine völlig andere Fassung, so ist diese natürlich im vollen Wortlaut wiederzugeben. Der Abweg, auf den die Editionspraxis geraten ist, ist weniger dadurch gekennzeichnet, daß verschiedene editionstechnische Versuche gemacht werden, um das Bild einer Handschrift mit Hilfe von Druckbuchstaben wiederzugeben oder es durch Beschreibung zu fixieren, sondern darin, daß die schöpferische wissenschaftliche Aufgabe, den Text eines literarischen Denkmals zu sichern, zugunsten des technischen Prozesses oder anderer, nicht mit der Edition notwendig verbundener literaturwissenschaftlichen Ziele preisgegeben wurde. Es ist das Bewußtsein einer kulturpolitischen, der Gesellschaft verpflichteten Aufgabenstellung ebenso verlorengegangen wie die Einsicht, daß die Werkhandschrift eines Dichters als materieller Träger des Werkes ihre Rolle ausgespielt hat. Für sie ist der Archivar zuständig. Als Nachlaßhand————

71 72 73

Göschen an Philipp Seidel, 22. November 1787, zit. nach Blumenthal a. a. O. S. 165. Werke Goethes, Akademie-Ausgabe. Wilhelm Meister. Bd 5 (Überlieferungen und Lesarten). Lief. 1: Wilhelm Meisters theatralische Sendung. Berlin 1960. Werke Goethes. Akademie-Ausgabe. Epen. 2. Überlieferung. Varianten und Paralipomena. Berlin 1963. S. 56. 89 u. a. m.

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schrift repräsentiert sie allerdings einen Teil der dichterischen Persönlichkeit und ist als solche denkmalwürdig. Sie gibt in Verbindung mit Briefen, Tagebuchaufzeichnungen usw. Auskunft über den Entwicklungsgang des Autors; sie kann damit helfen, den Sinn eines literarischen Werkes aufzuklären, und – in sehr begrenztem Umfang – auch über sprachliche Gewohnheiten und die Stilentwicklung aussagen. Aber gegenüber der Endstufe eines Werkes, die in der Regel der Druck ist, tritt sie zurück. Weil die Philologie eine so große Verantwortung für das Erbe hat, das einem Volke, ja der Menschheit hinterlassen wurde, muß sie verantwortungsvoll zu Werke gehen. Sie muß mit nie erschöpfendem Fleiß, mit Genauigkeit und künstlerischer Einfühlsamkeit sich des Dichterwortes annehmen. Ja, sie muß sich bei ihrer Arbeit sogar Zeit lassen, um nicht nur dem Buchstaben, sondern erst recht dem Sinne nach genau zu lesen. Gerade weil sie Zeit braucht und genau sein muß, ist sie verpflichtet, alles beiseite zu lassen, was nur Fleiß und nur Genauigkeit und nicht zugleich sinnvoll und brauchbar ist, muß Alexandrinismus nicht als Weg betrachten, der zum Dichterwort führt.

Winfried Woesler

Winfried Woesler

Probleme der Editionstechnik

Probleme der Editionstechnik

Überlegungen anläßlich der neuen kritischen Ausgabe des ‚Geistlichen Jahres‘ der Annette von Droste-Hülshoff (1967)*

Bei der Umsetzung eines dichterischen Manuskriptes in das Druckbild einer kritischen Ausgabe1 werden im Bereich der neueren germanistischen Philologie mehrere Methoden angewandt. Der gleiche handschriftliche Befund wird von den einzelnen Herausgebern im Apparat unterschiedlich dargestellt. Der Benutzer kritischer Ausgaben mag dieses Nebeneinander der Methoden in unserer Wissenschaft, das sich u. a. in der verwirrenden Vielfalt und Bedeutung der Siglen spiegelt, bedauern und auf die übersichtliche Darstellung von Überlieferungsvarianten im Bereich der Klassischen Philologie verweisen: ein einheitliches Verfahren bei der Wiedergabe von Entstehungsvarianten wird jedoch auch bei größerem Bemühen der Herausgeber um Koordination kaum zu erreichen sein. Der entscheidende Grund liegt darin, daß das Manuskript eines Dichters von dessen individueller Arbeitsweise geprägt ist und daß diese häufig im kritischen Apparat eine angemessene, spezielle Darstellung erforderlich macht.2 Wenn der Herausgeber dieses besondere dichterische Verfahren erkennen will, ist er nicht allein auf das Manuskript angewiesen, häufig kann er auch Zeugnisse des Autors und seiner Umgebung heranziehen, welche die Entstehungsgeschichte des Werkes oder im weitesten Sinne die Arbeitsweise des Dichters betreffen. Für die zahlreichen, recht unterschiedlichen Möglichkeiten, wie sich der schöpferische und kritische Prozeß im Manuskript darstellen kann, seien hier einleitend einige Beispiele angeführt. […] Das Wissen, wie ein Autor dichtet und nach welchen Gesichtspunkten er seinen Text durcharbeitet, kann also im Einzelfall sogar für die Textgestaltung nützlich sein, besonders dann, wenn es sich wie beim ‚Geistlichen Jahr‘ um eine Nachlaßedition handelt. Unerläßlich bleibt dieses Wissen für die zweckmäßigste Einrichtung des jeweiligen Apparates, mit der wir uns im folgenden beschäftigen wollen. ———— * [Text bis auf Dichtertext im Original kursiv; die Wiedergabe recte/kursiv ist im folgenden vertauscht, 1

2

was bei der Erwähnung von Schrifttypen dementsprechend zu berücksichtigen ist. (R. N.-K.)] Die folgenden Überlegungen hatte der Verfasser ursprünglich in knapperer Form dem Apparatband einer neuen kritischen Ausgabe des ‚Geistlichen Jahres‘ vorangestellt. Das Manuskript der Ausgabe war im wesentlichen 1963 abgeschlossen und wurde 1967 von der Philosophischen Fakultät der Universität Münster als Dissertation angenommen. Die Dissertation hat Günther Weydt, dem der besondere Dank des Verfassers gilt, betreut. Mit Recht hat Manfred Windfuhr (Die neugermanistische Edition, DVjS 31, 1957, 425–442) darauf aufmerksam gemacht, daß nicht nur verschiedene Arten von Ausgaben, sondern auch verschiedene Arten von Dichtern zu unterscheiden sind (ebd. S. 427).

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Die angeführten Beispiele individueller dichterischer Arbeitsweise haben den wichtigsten Grund für das notwendigerweise unterschiedliche Verfahren der Herausgeber bei der Wiedergabe von Entstehungsvarianten gezeigt. Die verschiedenen Methoden der Lesartendarbietung werden jedoch nicht allein durch die vielfältigen Möglichkeiten der Textgenese und die mangelnde Koordination der einzelnen kritischen Ausgaben verursacht, sondern auch durch grundsätzliche Meinungsverschiedenheiten der Editoren über das, was der Apparat einer kritischen Ausgabe zu leisten hat. Sollen im Apparat das Werden und die Vollendung des Kunstwerkes dadurch anschaulich gemacht werden, daß der Herausgeber die Entstehungsgeschichte im Apparat möglichst übersichtlich darstellt, oder soll der Apparat fast diplomatisch den Handschriftenbefund widerspiegeln mit dem Ziel, dem Benutzer die Rekonstruktion der Handschrift und damit eine gewisse Kontrolle der Herausgebertätigkeit zu ermöglichen? Der Bearbeiter des ‚Geistlichen Jahres‘ sah es als seine Hauptaufgabe an, im Apparat den Vollendungsprozeß des Kunstwerkes – soweit er sich mit Hilfe der Drostemanuskripte erkennen läßt – sichtbar zu machen. Vier wichtige historisch-kritische Editionen im Bereich der neueren Germanistik sollen hier zur Diskussion herangezogen werden, um die gerade in bezug auf die Droste entwickelte Methode der Lesartendarbietung zu erläutern. Uns interessieren diese Ausgaben nur insoweit, wie sie im Apparat Manuskripte gebundener Rede beschreiben. Der Bearbeiter von Prosamanuskripten sieht sich vor andere, z. T. schwerwiegendere Probleme gestellt, die aber an dieser Stelle nicht erörtert werden können. Für die Edition moderner Dichter hat zunächst die Stuttgarter Hölderlinausgabe durch Friedrich Beißner3 wegweisende Bedeutung erlangt. […] Beißner würde z. B. folgende, offensichtlich mehr als eine Arbeitsschicht umfassende Stelle aus dem ‚Geistlichen Jahr‘ (23. So. n. P. vv. 25–28; Manuskript H, Bl. 4 S. 1, vergrößert 2:1) 10

in dieser Weise wiedergeben:4

13

———— 3 4

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13

Hölderlin, Sämtliche Werke, ed. F. Beißner, Stuttgart 1943 ff. Die Frage, ob in v. 28 das G in Gnädger zu g korrigiert ist, läßt sich schwer entscheiden. Wir gehen hier und im folgenden davon aus, daß diese Korrektur vorliegt.

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25–28: Doch jetzt (1) jetzt kann ich sprechen Wo meine Sinne frey Wenn mir die Kräfte brechen Dann Gnädger, steh mir bey (2) wo klar die Sinnen Wo mein[e] Gedanke frey Jetzt darf mein Flehn beginnen Allgnädger, steh mir bey H Dieses Verfahren stellt zwei Fassungen, von denen die jüngere die ältere ersetzt, in ihrer Gesamtheit übersichtlich dar. Hierauf kommt es dem Bearbeiter allein an. Deshalb macht er keine Angaben darüber, was im einzelnen getilgt und was neu niedergeschrieben ist; die notwendigen Siglen würden den Benutzer stören. Wenn man von dem Bearbeiter den Beweis forderte, daß es sich hier tatsächlich um zwei Fassungen und nicht um mehrere, zeitlich voneinander geschiedene Veränderungen handelt, so könnte er zwar auf die gleichbleibende Tintenfärbung und den einheitlichen Schriftduktus der Veränderungen verweisen, könnte aber letztlich doch nur zwingende philologische Indizien dafür anführen, daß tatsächlich zwei Fassungen vorliegen, daß also jede einzelne Veränderung innerhalb der vier Verse mit den übrigen Veränderungen verbunden ist. Im vorliegenden Fall ist der Indizienbeweis überzeugend, aber die Kritik an der Hölderlinausgabe Beißners hat gezeigt, daß der Herausgeber bei dem Versuch, die Entstehungsschichten voneinander zu lösen, gelegentlich interpretatorische Hilfen gebraucht hat, die nicht ohne Widerspruch geblieben sind.5 Für den Bearbeiter des ‚Geistlichen Jahres‘ waren nach geglückter Entzifferung die verschiedenen Fassungen in den meisten Fällen eindeutig zu scheiden, weil die Doppelfassungen geringen Umfang haben und die Dichterin sich selbst nach der Festlegung von Strophenbau, Reimschema und Metrum nur mehr einen genau begrenzten Spielraum gelassen hat. In den übrigen Fällen, in denen diese eindeutige Scheidung der Arbeitsschichten nicht möglich war, durfte der Bearbeiter nichts anderes bieten als eine Zeile für Zeile fortschreitende Beschreibung des Handschriftenbefundes. Zweifellos sollte aber die Scheidung und übersichtliche Wiedergabe von verschiedenen Entwicklungsschichten unter Anwendung der größten philologischen Sorgfalt stets das Ziel jeder Ausgabe sein. Meinungsverschiedenheiten herrschen nun darüber, inwieweit der Herausgeber Einzelheiten des Manuskriptes, z. B. die Position der Varianten, im Apparat vermerken soll. Ein Mindestmaß solcher Angaben erscheint unerläßlich; sie zwingen zur objektiven Darstellung und gestatten dem Benutzer eine gewisse Kontrolle der Herausgebertätigkeit. Bei der Hölderlinausgabe wünscht sich der Leser u. a. zusätzlich die 14

————

5

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Wie schwierig ein solcher Versuch gerade bei Hölderlin sein kann und welch ständige Sorgfalt dazu erforderlich ist, haben einige Kritiken gezeigt. Hier sei verwiesen auf einen der neuesten Aufsätze: Emery E. George, Some New Hölderlin Decipherments from the „Homburger Folioheft“, PMLA 80, 1965, 123–140.

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Angabe des Herausgebers, wie oft ein Wort in der Handschrift steht, ob also z. B. zu einem Vers mehrere Einzelvarianten eingetragen sind oder ob Teile des Verses neu in ihrer variierten Form niedergeschrieben sind. Neben der vollständigen Angabe der Varianten sollte daher gelegentlich eine detaillierte Beschreibung des Handschriftenbefundes geboten werden. Das möchte man sich auch von der Goetheausgabe6 des Akademie-Verlages wünschen. […] Der Bearbeiter des ‚Geistlichen Jahres‘ glaubte gegenüber der Hölderlin- und der Goetheausgabe ein Minimum an detaillierter Beschreibung des Manuskriptes bieten zu müssen, insbesondere hielt er daran fest, jedes in der Handschrift getilgte Wort im Apparat stets als getilgt zu kennzeichnen und jedes von der Dichterin nur einmal niedergeschriebene Wort auch nur einmal im Apparat in der üblichen Geradschrift wiederzugeben, in den späteren Fassungen jedoch stets durch kleine Geradschrift zu kennzeichnen. Diese Methode wahrt die Übersichtlichkeit und gewährt zugleich den wesentlichen Einblick in den handschriftlichen Befund. (vgl. S. 26 f. [= S. 331] ). 15

Hans Zeller verfolgt in der von ihm besorgten Ausgabe der Lyrik C. F. Meyers7 gegenüber der Beißnerschen Absicht, die Entwicklungsschichten möglichst klar voneinander abzuheben, ein weiteres, nach seiner Meinung wichtigeres Ziel; er versucht „der von Beissner meistens venachlässigten Forderung zu genügen …, daß der Leser die Hs müsse rekonstruieren können“.8 Zeller begründet diese Auffassung ausführlich in dem Aufsatz: „Zur gegenwärtigen Aufgabe der Editionstechnik. Ein Versuch, komplizierte Handschriften darzustellen.“ (Euphorion 52, 1958, 356–377).9 Zeller will durch die möglichst diplomatische Wiedergabe der Handschrift, also durch die genaue Angabe, „ob und wie getilgt wurde und wo auf dem Blatt sich der Ersatz für das Getilgte befindet“,10 den Leser vor der Gefahr bewahren, der Entscheidung des Herausgebers ausgeliefert zu sein. […] Die Droste hat an der genannten Stelle nicht sechzehn Stufen [wie in Zellers Beispiel ‚im tiefen / Tal / düstern / Wald‘, s. S. 206 f.], sondern nur zwei Fassungen gekannt. In diesem eindeutigen Fall würde Zeller die beiden Fassungen vermutlich durch die „Verband“siglen α und β trennen. Er würde also das oben wiedergegebene Drostemanuskript im Apparat folgendermaßen darstellen: 18

19

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10

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18

19

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21

Werke Goethes, hrsg. von der Deutschen Akademie der Wissenschaften zu Berlin unter Leitung von Ernst Grumach, Berlin 1952 ff. Conrad Ferdinand Meyer, Sämtliche Werke, edd. Hans Zeller und Alfred Zäch, Bern 1958 ff.; Bd. I, II, Gedichte hrsg. von Hans Zeller. Das Zitat stammt aus dem im folgenden angeführten Aufsatz Zellers (ebd. S. 359). Mit dieser Arbeit setzt sich Dietrich Germann in einem grundlegenden Aufsatz auseinander: ‚Zu Fragen der Darbietung von Lesarten in den Ausgaben neuerer Dichter‘ (Weimarer Beiträge 8, 1962, 168– 188). – Vgl. auch F. Beißner, Lesbare Varianten. Die Entstehung einiger Verse in Heines ‚Atta Troll‘, in FS Josef Quint, Bonn 1964, S. 15–23. Euphorion 52, 1958, 360.

Probleme der Editionstechnik

25 α *β 26 α *β 27 α *β 28 α *β

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Doch jetzt

a [jetzt kann ich sprechen] ∧ a wo klar die Sinnen Wo mein[e] a [Sinne] frey ∧ a Gedanke a [Wenn mir die Kräfte brechen] ∧ a Jetzt darf mein Flehn beginnen a [Dann Gnädger], steh mir bey a→ Allgnädger

Der Asteriscus * gibt an, daß die Einheit der zweiten Schicht nicht aufgrund graphischer, sondern inhaltlicher Kriterien erkannt wurde. Dieses verhältnismäßig einfache Beispiel ist noch leicht zu lesen. Der Benutzer der Meyerausgabe wäre jedoch in oft weitaus komplizierteren Fällen durch die Fülle der Siglen manchmal überfordert, wenn ihm nicht Zeller neben der obigen siglenreichen Darstellung gelegentlich noch als „Lesehilfe“ eine „vereinfachte Wiedergabe“ anböte: 25 α β 26 α β 27 α β 28 α β

Doch jetzt jetzt kann ich sprechen wo klar die Sinnen Wo meine Sinne frey Gedanke Wenn mir die Kräfte brechen Jetzt darf mein Flehn beginnen Dann Gnädger, steh mir bey Allgnädger

[…] Walther Killy kritisiert in scharfer Form die Darstellungsweise Zellers: „Selbst wenn das ganze Zeichensystem anschaulicher wäre und das Vorstellungsvermögen des Benutzers weniger in Anspruch nähme, bliebe doch ein fundamentaler Einwand bestehen: die Forderung nach Rekonstruierbarkeit der Handschrift gehört in das Gebiet eines wissenschaftlichen Perfektionismus, der utopisch bleiben muß. Auch das differenzierteste Zeichensystem (und je differenzierter, um so unanschaulicher wird es sein) sieht sich genötigt, die Individualität der Handschrift auf typische Fälle zu normieren und damit aufzuheben. Den Angaben, die es zu machen vermag, entgehen notwendig die kaum reproduzierbaren Kriterien, auf deren Grundlage der Herausgeber seine Entscheidung trifft. Wer auf der Basis der Symbole Zellers ohne Kenntnis des Originals die Handschrift ‚rekonstruiert‘, erhält eine schematisierte Topographie der lebendigen Niederschrift. Sie bildet deren Grobstruktur und die Lese- und Entscheidungsweise des Herausgebers ab, aber gewiß nicht das Manuskript. Je schwieriger die Handschrift ist, um so weiter muß sich das symbolische Schema von ihr entfernen. Das heißt, gerade in den Fällen, wo die Rekonstruktion am nötigsten wäre, entbehren wir ihre Möglichkeit am meisten. Die ganze komplizierte Apparatur vermag das am wenigsten zu leisten, was ihr eigentlicher Zweck sein sollte: sie gibt

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keine Grundlage ab, von der aus die Tätigkeit des Editors kontrolliert werden kann.“11 Wenn diese Kritik auch im wesentlichen berechtigt ist, so bleibt doch das entscheidende Verdienst Zellers bestehen, daß er mit seiner Methode gegenüber den Apparaten der Hölderlin- und Goetheausgabe einen tieferen Einblick in die Arbeitsweise des Herausgebers und damit auch eine größere Kontrollmöglichkeit gewährt. In gewisser Weise stellt Zellers Methode eine Reaktion auf die Beißnersche dar, und künftige Herausgeber sollten seine Apparatgestaltung als Mahnung zur Objektivität verstehen. Aber gesetzt den Fall, der Kenner einer Handschrift könnte tatsächlich in den weitaus meisten Fällen das Variantenknäuel eines Dichters einwandfrei entwirren – was wiederum von der Arbeitsweise des Dichters abhängt –, warum sollte im Apparat dann noch eine Grobstruktur dieses Variantenknäuels abgebildet werden, aus der der Benutzer naturgemäß nie Genaueres herauslesen wird, als der Herausgeber dieser Grobstruktur vorher selbst aus der Handschrift ersehen hat? Nicht umsonst empfiehlt Zeller in ganz verwickelten Fällen die photographische Reproduktion der Handschrift! Bleiben an einer Stelle irgendwelche Zweifel, so hat das jeder Herausgeber zu bekennen; solche Hinweise sind freilich in den bisherigen Ausgaben recht spärlich gesät. Ein Mindestmaß an detaillierter Beschreibung des Manuskriptes scheint für jede Ausgabe unerläßlich zu sein. Der Umfang hängt nicht unwesentlich von der Arbeitsweise des Dichters und der Deutbarkeit des Manuskriptes ab. Bei der Herausgabe des ‚Geistlichen Jahres‘ wollte der Bearbeiter insbesondere wegen der vielen Alternativvarianten zumindest nicht auf die Tilgungsangaben verzichten, doch hätten zusätzlich regelmäßige Positionsangaben der Lesarten eine Aufschwemmung und Komplizierung des Apparates zur Folge gehabt, welche die viel wichtigere Darstellung der Textentwicklung unübersichtlich gemacht hätten. Bei den oben angeführten Versen aus dem ‚Geistlichen Jahr‘ z. B. würde der Leser durch den wiederholten Hinweis, daß die Worte der zweiten Fassung jeweils über den Zeilen der ersten Fassung stehen, keine zusätzliche Einsicht in das Werden des Kunstwerkes gewinnen. Wenn die Dichterin rund tausend Verse auf ein Doppelblatt bringt, und das kommt tatsächlich vor, dann erscheinen die Varianten dort, wo noch Platz ist (leider auch dort, wo die Dichterin irrtümlich glaubte, daß noch Platz sei), aber so, daß in der Regel bei dem Kenner der Handschrift nicht der geringste Zweifel an der Zuordnung der Varianten aufkommen kann. Nur bei einer verhältnismäßig seltenen Art von Korrekturen darf die Positionsangabe der Variante bei der Beschreibung von Drostemanuskripten nicht fehlen: bei Sofortkorrekturen (Streichungen) innerhalb der Zeile. Diese werden von uns im Apparat dadurch kenntlich gemacht, daß das getilgte Wort – durch eckige Klammern als solches gekennzeichnet – in situ zwischen den beiden umgebenden Wörtern dargestellt wird, z. B. ein [grauser] Spott H. 25

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25

In: Über Georg Trakl, Göttingen 21960, S. 82.

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Killy folgt in seinem Apparatentwurf für eine neue Traklausgabe12 im wesentlichen jener vereinfachten, ursprünglich nur als Lesehilfe gedachten Darstellung Zellers, d. h. er verzichtet auf die detaillierte Beschreibung des Manuskriptes und damit auf den komplizierten Siglenapparat. […] Zeller und Killy ist also gemeinsam, daß sie 1) grundsätzlich jeden Vers einzeln behandeln, 2) die Varianten in der vermuteten Reihenfolge der Entstehung unter dem betreffenden Vers anordnen und 3) die letzte Textstufe eines Verses innerhalb eines Zeugen durch halbfetten Druck wiedergeben. […] Der Herausgeber sollte jedoch immer wieder versuchen, über die reine Deskription des Manuskriptes hinauszukommen und die Zusammenhänge zu erhellen. Erst hier beginnt seine eigentliche Tätigkeit. Auch wenn ein gewissenhafter Herausgeber Zusammenhänge lediglich vermutet, sollte er sie, als Vermutungen gekennzeichnet, mitteilen. Ein vorsichtiges Forschen nach den Ursachen der einzelnen Veränderungen und nach ihrer Bedeutung für den Sinnzusammenhang gibt z. B. bei der Droste gelegentlich überraschenden Aufschluß darüber, in welcher Beziehung sie zueinander stehen und welche verschiedenen Arbeitsschichten vorliegen. Diese werden natürlich um so leichter erkannt, je gebundener die Sprache ist, weil Silbenzahl und Reim eine Neufassung oft nur gestatten, wenn auch eine andere Stelle mit verändert wird. Die Frage nach den Gründen der Textänderungen sollte sich der gewissenhafte Herausgeber übrigens immer stellen, auch wenn er seine Einsichten nur in seltenen Fällen mitteilen wird. Dieses mitgehende „Nachdichten“ ist für ihn ein sehr guter Weg, die Arbeitsweise und die stilistischen Absichten seines Autors, deren Kenntnis bei der Deutung eines Manuskriptes und nicht zuletzt bei der Textgestaltung wichtig sein kann, besser zu verstehen. Auch der Interpret – das sei hier eingefügt – wird jenem Herausgeber dankbar sein, der stets nach den Gründen der Neufassung eines dichterischen Textes gefragt hat und z. B. in einem konkreten Fall angeben kann, daß den Dichter hier nicht innere, sondern äußere Gründe geleitet haben.13 […] Es ist sicher informativ, an dieser Stelle einmal an einem entsprechenden Beispiel das Verfahren der verschiedenen Herausgeber vergleichend darzustellen. Als Arbeitshypothese wird angenommen, daß sich in der oben wiedergegebenen Probe aus dem ‚Geistlichen Jahr‘ zu der ersten Fassung von v. 25 über dem Worte kann noch die erst beim Übergang zur zweiten Fassung getilgte Alternativvariante darf findet; wenn es ———— 26

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W. Killy, Der Helian-Komplex in Trakls Nachlaß mit einem Abdruck der Texte und einigen editorischen Erwägungen, Euphorion 53, 1959, 380–418. […] So sind für Schiller gelegentlich äußere Gesichtspunkte maßgebend gewesen. Er scheint z. B., als er für die Gedichtausgabe von 1803 (21805) noch eine freigebliebene Seite zu füllen hatte, aus diesem Grunde das Gedicht ‚Rousseau‘ auf die erste und siebte Strophe zusammengestrichen zu haben. – Die Reihenfolge der ‚Votivtafeln‘ legte er u. a. auch nach bibliophilen Gesichtspunkten fest.

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also keine zweite Fassung gäbe, stünden beide Wörter noch ungetilgt da. Wir setzen dabei einmal voraus, daß die betreffenden Editoren keine Einwände dagegen machen würden, daß die von ihnen entwickelte Methode bei der Darstellung von Drostemanuskripten angewandt wird. a) Beißner würde schreiben: 25–28 Doch jetzt (1) jetzt (a) kann (b) darf ich sprechen Wo meine Sinne frey usw. (2) wo klar die Sinnen Wo mein[e] Gedanke frey usw. H Auch wenn Beißner nur das „ideale Wachstum“ zeigen will, würde diese Darstellung doch die Annahme suggerieren, daß die Dichterin die Variante darf angebracht hätte, bevor sie das Ende des Verses niederschrieb; eine Annahme, die ihrer sonstigen Arbeitsweise nicht entspricht. b) Scheibe würde schreiben: 25–28 Doch jetzt jetzt kann 〈darf propon H〉 ich sprechen Wo meine Sinne frey usw. H Doch jetzt wo klar die Sinnen Wo mein{e} Gedanke frey usw. H Hier wird die Variante direkt in den Text der Dichterin eingeblendet; ein Verfahren, das im Falle von mehreren Varianten den Vers optisch zu sehr zerreißt. Störend empfindet der Leser auch wohl, daß die Bemerkung propon (= proponit = schlägt vor) von dem Herausgeber in den dichterischen Text geschoben wird. Hier müßte eine bessere Lösung gesucht werden. c) Wir würden daher vorziehen zu schreiben: 25–28 (1) Doch jetzt [jetzt kann1 ich sprechen] Wo meine [Sinne] frey usw. 1 (a) kann (b) darf (2) Doch jetzt wo klar die Sinnen Wo mein Gedanke frey usw. H Dieses Verfahren erstrebt die zusammenhängende Darstellung der einzelnen Arbeitsschichten und vermeidet deshalb das unmittelbare Einblenden der Varianten. Wenn der Herausgeber bei der Scheidung der Schichten an den Punkt gekommen ist, wo

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sich keine weiteren Schichten mehr mit Sicherheit voneinander abheben lassen, d. h. wo das zeitliche Verhältnis der verschiedenen Aufgabelungen untereinander nicht mehr mit Sicherheit bestimmt werden kann, dann ermöglichen ihm die Fußnoten, diese weitere Differenzierung der einzelnen Stellen isoliert zu beschreiben. Die mögliche Gefahr dieser Methode, daß Varianten zu weit von ihrer Bezugsstelle wegrücken, ist im ‚Geistlichen Jahr‘ und auch in den anderen Versdichtungen der Droste nicht akut, da die einzelnen Arbeitsschichten durchweg nur wenige Verse umfassen. Ein wichtiger Vorteil dieser „Fußnotentechnik“ ist, daß auch notwendige Herausgeberbemerkungen zum handschriftlichen Befund auf diese Weise aus dem Text des Dichters herausgehalten werden. d) Zeller würde schreiben: 25 α Doch jetzt

a

jetzt b kann ich sprechen [ ∧ b darf ] *β ∧ a wo klar die Sinnen 26 α Wo mein[e] a [Sinne] frey *β ∧ a Gedanke usw. und Killy: 25

I Doch jetzt jetzt kann ich sprechen darf II wo klar die Sinnen 26 I Wo meine Sinne frey II /: mein[e]:/ Gedanke usw. Übersichtlich werden mit diesem Verfahren sämtliche Varianten zu einer einzelnen Stelle angeordnet. Trotz dieses großen Vorteils bleibt ein grundsätzlicher Einwand bestehen: Sämtliche Arbeitsschichten und Varianten, die es zu einem Vers gibt, sind schon bei dessen erster Anführung im Apparat zu lesen, gleich, ob es dem Herausgeber gelungen ist, in der betreffenden Partie mehrere Arbeitsschichten zu trennen oder nicht. Hier offenbart sich die Problematik dieser Methode, die zugleich eine grundsätzliche Schwierigkeit eines jeden Editors charakterisiert: es ist möglich, daß der Herausgeber zu einem Vers eine Variante mitteilt – z. B. in dem angeführten Traklmanuskript zu v. 4 die Variante betrübte – die jünger ist als die Niederschrift des oder der folgenden Verse. Solch eine Variante könnte vielleicht gerade erst durch die Niederschrift des späteren Verses ausgelöst sein. Der Leser nimmt in diesem Falle eine jüngere Variante schon dort optisch auf (insbesondere durch den halbfetten Druck), wo er sie noch gar nicht kennen dürfte, wenn er die Erstfassung eines folgenden Verses unvoreingenommen lesen will. […]

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Wenn Zeller und Killy schon beim Abdruck der ursprünglichen Fassung eines Verses dort den Raum aussparen, wo bei einer späteren Umformung noch etwas eingeschoben wird, z. B.: Und folgt den Abendflöten im dürren Rohr. Die des Abends dann hat das denselben Effekt wie die Wiedergabe einzelner Wörter der ursprünglichen Fassung durch Halbfette: Die Einheit der ursprünglichen Fassung ist in der Darstellung vernachlässigt. Liegen in einem Manuskript verschiedene Arbeitsschichten vor, so verdient jedoch gerade auch die älteste Schicht eine klare, einheitliche Darstellung im Apparat. Sie ist als Einheit konzipiert und die Grundlage aller weiteren Veränderungen. Der „Betonung der letzten Gestalt in den Textdrucken hat“ – wie R. Backmann14 schon 1924 in einem etwas anderen Zusammenhang schreibt – „eine Betonung der Anfangsgestalt im Apparat zu entsprechen. Sie muß der ruhende Pol werden, von dem aus sich die Verbindung bis zur Schlußgestalt leicht und glatt, weil in naturgemäßer Chronologie, schlagen läßt“. Die Gesamtausrichtung des Apparates auf die letzte Fassung widerspricht der Arbeitsweise des Dichters, dem ja die späteren Fassungen bei der ersten Niederschrift nicht gegenwärtig sind. Wir wollen allerdings in diesem Punkte nicht apodiktisch eine Regel aufstellen; denn vielleicht müßte man auch hier nach der Arbeitsweise der Dichter differenzieren. Einem Autor, der wie Hölderlin schon manches schriftlich fixiert, bevor er die erste Fassung einer Stelle gewonnen hat, wird vielleicht ein System der Darstellung, das auf die endgültige Fassung hin ausgerichtet ist, eher gerecht als einem anderen Dichter, der Geschriebenes kritisch sichtet. Für die Darstellung von Drostemanuskripten, die von der Dichterin nicht mehr in die Reinschrift übertragen wurden, wäre die Wiedergabe der „letzten in einem Zeugen gültigen Textstufe“ (Zeller) durch den halbfetten Druck besonders problematisch, denn es ist sehr gewagt, innerhalb eines Konzeptes, das zumindest bei der Droste noch den Charakter des Unfertigen hat, durch den halbfetten Druck die letzte gültige Textstufe fixieren zu wollen. Selbstverständlich darf kein Bearbeiter z. B. an Konzeptstellen, an denen es mehrere nicht getilgte Lesarten gibt, die doch häufig nur Versuche darstellen, den Text zu bessern, eine einzelne Variante durch Halbfette hervorheben.15 Dort nämlich, wo die Dichterin selbst noch eine Reinschrift anfertigte, übernahm sie keineswegs immer die letzte Textstufe ihres Konzeptes; ja sogar das, was hier getilgt ist, kann in der Reinschrift als letztwilliger Text erscheinen. Mit der 31

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R. Backmann: Die Gestaltung des Apparates in den kritischen Ausgaben neuerer deutscher Dichter, Euphorion 25, 1924, 629–662, ebd. S. 637. Zeller beachtet diesen Grundsatz und druckt in solchen Fällen alle Varianten halbfett. Er verzichtet allerdings, wie er dem Verfasser freundlicherweise mitteilte, auf die ursprünglich von ihm vorgesehene geschweifte Klammer und weist statt dessen in einer Fußnote darauf hin, daß es sich um Alternativvarianten handelt. In den Apparatproben Killys kommt dieser in Drostemanuskripten häufige Fall nicht vor. Killys Methode, in der die Halbfette kritische Bedeutung hat, würde bei der Darstellung von Drostemanuskripten auf Schwierigkeiten stoßen.

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Hervorhebung einer Textstufe des allein vorliegenden Konzeptes durch den halbfetten Druck könnte eine Textform als letzte Stufe herausgestellt werden, die von der Dichterin im Falle einer Reinschrift vielleicht nicht akzeptiert worden wäre. Der Bearbeiter des angekündigten Drostebandes glaubt, gegenüber Zeller und Killy eine etwas glücklichere Lösung anbieten zu können, indem er auf die Halbfette verzichtet und den umgekehrten Weg beschreitet. Die erste Fassung erscheint einheitlich in Normaltype, in der späteren Fassung erscheint nur das neu Niedergeschriebene in dieser Normaltype, während die aus der früheren Fassung beibehaltenen Wörter jetzt in kleinerer Geradtype erscheinen. Die letzte Fassung darf im Apparatband ohne weiteres mit verschiedenen Typen wiedergegeben werden, da sie ja im Textband schon in einheitlichem Druck dargeboten wird. Im allgemeinen können die Wörter in kleiner Geradschrift buchstabengetreu aus der früheren Fassung übernommen werden, in wenigen Fällen ist jedoch eine Angleichung an die spätere Fassung erforderlich.16 Das Beispiel aus dem ‚Geistlichen Jahr‘ sei noch einmal zum Vergleich abgedruckt.17 33

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25–28 (1) Doch jetzt [jetzt kann ich sprechen] Wo meine [Sinne] frey [Wenn mir die Kräfte brechen Dann] Gnädger, steh mir bey (2) Doch jetzt wo klar die Sinnen Wo mein Gedanke frey Jetzt darf mein Flehn beginnen Allgnädger, steh mir bey H Wir sahen es als unsere Hauptaufgabe an, die Schichten deutlich voneinander zu trennen und entsprechend der Arbeitsweise der Droste die erste Fassung als Grundlage aller weiteren Veränderungen klar herauszustellen. Der Apparat ist danach ausgerichtet, in erster Linie den Zusammenhang der Veränderungen deutlich zu machen. Trotzdem erkennt der interessierte Benutzer unschwer den wesentlichen graphischen Befund: was zunächst dastand, was gestrichen wurde, was stehen blieb und was neu niedergeschrieben wurde – und was als zweite Fassung intendiert war. Als Sigle brauchte nur zur Kennzeichnung der Tilgung die kleine eckige Klammer ([ ]) eingeführt zu werden. Sie erhielt den Vorzug vor der großen eckigen Klammer, weil die Angabe der Tilgung bei der Wiedergabe der ersten Fassung fast immer, wie Zeller richtig bemerkt, futurische Bedeutung hat und deshalb beim optischen Aufnehmen der ersten Fassung den Leser möglichst wenig stören sollte. Dieser beachtet am besten zunächst die Tilgungsklammer gar nicht, denn sie gibt nur an, das etwas, und nicht, wann etwas gestrichen ist. Gern hätten wir auf diese Klammer verzichtet und statt dessen definiert, daß alles, was in einer späteren Fassung nicht in kleiner Geradschrift ———— 16 17

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Die Dichterin hat es in dem oben folgenden Beispiel unterlassen, bei der Neufassung von v. 26 das End-e in meine zu streichen. Bei unserer Wiedergabe bleibt zunächst unberücksichtigt, daß in v. 28 das G in Gnädger vielleicht zu g korrigiert ist.

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erscheint, in der vorhergehenden Fassung getilgt ist. Aber wir hätten bei der Droste so viele Ausnahmen anmerken müssen, daß die Übersichtlichkeit darunter gelitten hätte. […] Eine bestimmte Art von Herausgeberbemerkungen möchten allerdings auch wir aus den „Lesarten“ herausnehmen: die z. T. umfangreicheren Bemerkungen zur Textgestaltung, mit denen der Herausgeber seine Entscheidung, z. B. eine Konjektur, rechtfertigt, bzw. auf die Problematik seiner Entscheidung, etwa bei der Auswahl zwischen Autorvarianten, aufmerksam macht. Die Bemerkungen zur Textgestaltung haben die Herausgeber bisher vielleicht zu sparsam verwandt. Es sollte aber z. B. eine Nachlaßedition stets ausführliche Rechenschaft ablegen. Wenn man diese Bemerkungen sinnvollerweise an einer Stelle sammelt, tritt zu den vier klassischen Einteilungen des Apparates, „Entstehungsgeschichte“, „Überlieferungsgeschichte“, „Lesarten“ und „Erläuterungen“, als fünfte die „Textgestaltung“. Sie wird am besten zwischen „Lesarten“ und „Erläuterungen“ eingeschoben. Dieser Beitrag zur Methode des Apparates sollte im wesentlichen zeigen, wie sehr es bei der wissenschaftlichen Darstellung eines dichterischen Manuskriptes darauf ankommt, nicht nur den handschriftlichen Befund wiederzugeben, sondern auch die Entstehung eines solchen Manuskriptes zu berücksichtigen. Der handschriftliche Befund allein könnte weitgehend ohne Rücksicht auf die Eigenarten eines Dichters mit Hilfe eines einheitlichen Zeichensystems dargestellt werden, doch fordert die individuelle Arbeitsweise des Dichters vom Herausgeber, der die Genese des Textes veranschaulichen will, jeweils eine mehr oder weniger spezielle Form der Darstellung. So konnte auch die von uns angewandte Methode erst im Laufe einer längeren Beschäftigung mit Drostemanuskripten entwickelt werden. Nachdem die Notwendigkeit differenzierter Methoden bei der Apparatgestaltung genügend betont worden ist, erscheinen angesichts der herrschenden Praxis folgende beiden Hinweise keineswegs überflüssig: 1. Die Entwicklung einer speziellen Methode muß mehr als bisher die Erfahrungen berücksichtigen, die bei der Diskussion anderer Methoden gemacht worden sind. 2. Die einzelnen Herausgeber sollten sich – abgesehen von allen grundsätzlichen Diskussionen – darum bemühen, bei gleichem Sachverhalt dieselbe Sigle zu verwenden. Das würde dem Benutzer die Einarbeitung in die notwendigerweise verschiedenen Apparate wesentlich erleichtern. Zahlreiche kritische Ausgaben deutscher Dichter sind angekündigt. Die Apparatbände, das sei am Schluß noch hinzugefügt, werden hoffentlich nicht nur eine bewunderte philologische Fleißarbeit bleiben, sondern sich in größerem Maße als bisher innerhalb unseres Faches als fruchtbar erweisen. Im Apparatband findet sich ein zuverlässiger Ausgangspunkt der Interpretation, und mancher mögliche interpretatorische Irrweg wird hier sogleich als solcher erkennbar. Wo wäre zudem ein leichterer Einblick in die stilistischen Absichten eines Dichters zu gewinnen als bei einem Blick

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Probleme der Editionstechnik

in seine Werkstatt? Beißner hat mit Recht einmal auf folgende Bemerkung Lessings im 19. Literaturbrief hingewiesen:19 Veränderungen und Verbesserungen aber, die ein Dichter … in seinen Werken macht, verdienen nicht allein angemerkt, sondern mit allem Fleisse studieret zu werden. Man studieret an ihnen die feinsten Regeln der Kunst; denn was die Meister der Kunst zu beobachten für gut befinden, das sind Regeln. 37

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F. Beißner, Editionsmethoden der neueren deutschen Philologie, ZfdPh 83, 1964, Sonderheft S. 72–95, ebd. S. 74. Lessings Bemerkung fällt anläßlich der Besprechung von Klopstocks neuer Fassung der ersten fünf Gesänge des ‚Messias‘.

Klaus Kanzog

Klaus Kanzog

Prolegomena zu einer historisch-kritischen Ausgabe der Werke Heinrich von Kleists Theorie und Praxis einer modernen Klassiker-Edition (1970)

Inhalt I.

Prolegomena zu einer historisch-kritischen Kleist-Ausgabe

Grundsätzliches zu Fragen der modernen Edition Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Die Archiv-Ausgabe . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Die historisch-kritische Ausgabe . . . . . . . . . . 3. Die Studienausgabe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Die Leseausgabe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5. Die historisch-kritische Kleist-Ausgabe. . . . . .

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45 47 69 86 97 121

III. Texte und Apparate Bandfolge und Gliederung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Die Textdarbietung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Die Textsynopsis. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Der Paralleldruck . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Der Erstdruck als Korrekturvorlage . . . . . . . . . . . . . . . . . 5. Die Beiträge der „Berliner Abendblätter“ und ihre Vorlagen.

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123 125 129 137 185 190

IV. Probleme der Kommentierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Register. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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II. Handschriften und Arbeitsweise Kleists Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Die Lage der Blätter. . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Der Überarbeitungs-Rahmen . . . . . . . . . . . . 3. Die Durchsicht-Korrektur . . . . . . . . . . . . . . 4. Die Eingriffe in bereits gedruckte Fassungen . 5. Die Bedeutung des Variantenmaterials . . . . .

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9 15 [= 335] 25 [= 341] 29 35 39

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[…] Versucht man die Geschichte der Kleist-Edition von der zunehmenden Texterkenntnis her nachzuzeichnen, so ist festzustellen, daß sie von einem immer stärkeren Abbau der Interpretation bestimmt wurde. Die größte Schwierigkeit für den heutigen Herausgeber besteht in der Abgrenzung der einzelnen editorischen Bereiche, denn Dichter-Ausgaben sind nicht nur eine philologische Aufgabe, sondern in gleichem Maße auch ein soziologisches Phänomen. Der Herausgeber muß sich darüber klar werden, was er für wen bereitzustellen hat und welchen Platz seine Ausgabe in der Rangfolge der verschiedenen Dichterausgaben einnehmen soll. Die Formel „historisch-kritische Ausgabe“ allein genügt heute nicht mehr, um den Charakter einer Ausgabe zu umreißen. Die Editionsgeschichte läßt typische Verfahrensweisen erkennen, die unter verschiedenen Aspekten zu einer Typologie der ‚Gesamtausgaben‘ geführt haben und die eine Definition dieser Editionstypen notwendig machen. Es soll daher versucht werden, zunächst diese Typologie zu erfassen und die Rangfolge der einzelnen Ausgaben zu definieren. 1. Die Archiv-Ausgabe Für ‚definitive‘ Ausgaben hat sich die Umschreibung „historisch-kritisch“1 durchgesetzt, obgleich die Begriffe ‚historisch‘ und ‚kritisch‘ sehr verschiedene editorische Aufgaben bezeichnen. Durch die Zusammenfassung beider Begriffe wird angedeutet, was der Leser von einem solchen Unternehmen erwarten darf: eine sinnvolle Kombination aus Textgeschichte und den sich daraus ergebenden Folgerungen. Weniger anspruchsvolle Ausgaben begnügen sich mit der Bezeichnung ‚kritisch durchgesehen‘,2 wobei oft unklar bleibt, an Hand welchen Materials und unter welchen Ge———— 1

2

So definiert Erich Mater (Möglichkeiten und Grenzen einer historisch-kritischen Edition der Werke Thomas Manns, in: Betrachtungen und Überblicke. Zum Werk Thomas Manns. Hrsg. v. Georg Wenzel, Berlin u. Weimar 1966, S. 383): „Als historisch-kritisch bezeichnen wir solche Editionen, die alle textkritisch wertvollen Zeugen zu einem Werk miteinander verglichen, aus dem Verhältnis der Varianten zueinander den ursprünglichsten oder besten Text konstituiert und alle anderen Lesarten in einem kritischen Apparat verzeichnet haben.“ – Die Bezeichnung „historisch-kritische Ausgabe“ wird jedoch schon von Karl Goedeke für die Schiller-Ausgabe (Bd 1–15. Stuttgart: Cotta 1867–1876) benutzt und geht auf Karl Lachmann zurück, der in der „Feststellung eines Textes nach Überlieferung“ eine „streng historische Arbeit“ sah (Kleinere Schriften Bd 2, S. 252). Die Entwicklung der genealogischen Methode aus der historischen hat wesentlich zur Verschwommenheit des Begriffes „historisch-kritisch“ beigetragen. – Die Klassische Philologie, auf größere Überlieferungszeiträume angewiesen und vom Organismus des literarschen Kunstwerkes ausgehend, hat dagegen am Terminus „kritische Ausgabe“ festgehalten (Paul Maas, Textkritik, 1927, 4. Aufl. 1960). Für sie steht die Text„geschichte“ außerhalb „historischer“ Geschehnisse; die „Historische Quellenkritik“ ist der Textkritik zwar verwandt, aber ihr nicht wesensgleich. Jonas Fränkel (Dichtung und Wissenschaft, Heidelberg 1954, S. 128) bemerkt hierzu: „Die Bezeichnung ‚kritisch durchgesehen‘ hat sich eingebürgert für Ausgaben, die nach gleichen Grundsätzen bearbeitet sind wie eine ‚historisch-kritische‘ Edition und die vielleicht nur die Geschichte des Textes nicht vor dem Leser in allen Einzelheiten ausbreiten. Als eine ‚kritisch durchgesehene‘ bezeichnet sich auf dem Titel Erich Schmidts Kleist-Ausgabe, sicher das höchste Vorbild dieses durch die Technik der Weimarer Goethe-Ausgabe bestimmten Ausgabetypus“. Aber gerade Fränkels Untersuchung der verschiedenen Gottfried-Keller-Ausgaben zeigt, wie diese Bezeichnung mißbraucht wurde, so daß sie ihre Verbindlichkeit weitgehend verlor.

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sichtspunkten die Ausgabe hergestellt wurde. Andererseits erwartet man von einer ‚historisch-kritischen‘ Ausgabe eine umfassende, auf Handschriften und Drucken beruhende Darstellung der Textgeschichte. Diese Geschichte braucht keineswegs als Textgenese verstanden zu werden, sie ist in erster Linie dokumentarische Textüberlieferung und darin ein Problem für sich. So ist in den angelsächsischen Ländern seit Sir Walter W. Gregs Shakespeare-Rezension in der „Critical Bibliography“ ein Zweig der Buchkunde3 entstanden, der das Drucktechnische stärker in die literarische Forschung einzubeziehen lehrte. Zugleich ist in Deutschland durch Wilhelm Kurrelmeyer, Ernst Schulte-Strathaus und Hans Heinrich Borcherdt der Doppeldruck-Forschung4 der Boden bereitet und an Wieland-, Goethe- und Grimmelshausen-Texten gezeigt worden, daß das Materielle der Drucküberlieferung zu einem entscheidenden Faktor der Textbeurteilung werden kann. Voraussetzung für eine Darstellung der Textgeschichte ist die archivalische Erfassung5 aller Textzeugen und damit aller Entstehungs- und Überlieferungsvarianten. Eine Ausgabe, die sich eine solche Erfassung, d. h. im Sinne einer Bestandsaufnahme, zur Aufgabe setzt, müßte als Archiv-Ausgabe bezeichnet werden. Betrachtet man unter diesem Gesichtspunkt der archivalischen Erfassung aller Textzeugen und Varianten die von Ernst Grumach begründete und durch die Deutsche Akademie der Wissenschaften zu Berlin betreute Ausgabe der Werke Goethes, so wird man auf eine Editionspraxis aufmerksam, die äußerlich gesehen als ein Rückfall in den Positivismus erscheint, in Wirklichkeit aber eine neue, vom Material her erzwungene Editionsmethode entwickelt. Schon Grumachs Prolegomena6 machten im ————

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W. W. Greg, The Bibliographical History of the First Folio, in: Library 2, 4 (1903) S. 258–285. Die Geschichte dieser Forschungsrichtung wurde dargestellt von Liselotte Heil, Buchkundliche Forschungsmethoden in ihrer Anwendung auf die englische Literaturgeschichte. (Masch.) Köln: Bibliothekar-Lehrinstitut 1955. – Bei Kleist gelang Helmut Sembdner durch exakte Vergleichung der Berliner und der Wiener Ausgabe des Prinz Friedrich von Homburg (Deutsche Literatur-Zeitung Jg. 86, 1965, Sp. 312–314) der Nachweis von Korrektureingriffen Tiecks. Genannt seien nur: Wilhelm Kurrelmeyer, Die Doppeldrucke von Goethes Werken 1806–1808, in: Modern Language Notes 26 (1911) S. 133–137 und: Die Doppeldrucke in ihrer Bedeutung für die Textgeschichte von Wielands Werken. Abhandlungen d. Akademie der Wiss. zu Berlin, phil.-hist. Kl. 1913, 7 sowie Ernst Schulte-Strathaus, Goethes Faust-Fragment 1790. Eine buchkundliche Untersuchung (Zürich, München, Berlin 1940), zuerst u. d. T.: „Die echten Ausgaben von Goethes Faust“ (als Privatdruck) erschienen (1932), und Hans Heinrich Borcherdt, Die ersten Ausgaben von Grimmelshausens Simplicissimus. Eine kritische Untersuchung (München 1921). – In der Kleist-Philologie haben – soweit Untersuchungen bisher erkennen lassen – Doppeldrucke keine Rolle gespielt. Die Druckgeschichte der Penthesilea, d. h. die Übernahme der bei Gärtner in Dresden hergestellten Druckbogen durch Cotta, steht außerhalb der typischen Doppeldruckproblematik. Obgleich Norbert von Hellingrath in seiner historisch-kritischen Ausgabe der Werke Hölderlins nur eine Lesartenauswahl bietet, die zum Muster für Auswahlausgaben geworden ist, betont er, daß er im 4. Bande „noch ängstlicher als in den andern darauf geachtet“ habe, „die Hinterlassenschaft des Dichters ganz unentstellt urkundlich unzubereitet zu bieten“ (Anhang, S. 269). Er sah es für einen Hauptzweck seiner Ausgabe an, „die Forderung treuester Urkundlichkeit aufzustellen“ (S. 270), und spricht in diesem Zusammenhang von der „Hilfswissenschaft“, die „sich der Hölderlinphilologe, wie der Gräcist seine Paläographie, aufbauen muß“. Der von Gustav v. Loeper für die Weimarer Goethe-Ausgabe vorgeschlagene Name „Archiv-Ausgabe“ (Wilhelm Scherer – Erich Schmidt, Briefwechsel, 1963, S. 203) bezieht sich dagegen nur auf den Aufbewahrungsort der Handschriften. Ernst Grumach, Prolegomena zu einer Goethe-Ausgabe, in: Goethe Jg. 12 (1950) S. 60–88, erweitert in: Beiträge zur Goethe-Forschung. Bd 1 (1959; Veröff. d. Inst. f. Dt. Sprache u. Lit. 16) S. 1–34. Ders.,

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Zusammenhang mit der Kritik an der Weimarer Ausgabe und an dem von Karl Wilhelm Göttling an der „Ausgabe letzter Hand“ geübten Verfahren eine neue Position sichtbar. Es ging dabei nicht allein um Texteingriffe oder unterschiedliche Beurteilungen verschiedener Entwicklungsstufen, um Fehllesungen oder Einzelkorrekturen, obgleich Grumach zunächst nur eine Revision der Weimarer Ausgabe anstrebte, sondern um die bereits von Eduard von der Hellen (Jubiläumsausgabe 10, 256) formulierte Erkenntnis, daß „jedes einzelne Werk seine besondere Textgeschichte“ besitzt und „eine von starren Prinzipien unbehinderte Behandlung“ verlangt. Die vertraute Vorstellung von den Sämtlichen Werken Goethes als einem einheitlichen Corpus mußte überwunden, zugleich aber eine Darbietungsform gefunden werden, die der jeweiligen Textgeschichte entsprach. Der Konstitution eines „idealen Textes“ stand sehr oft eine Folge gleichwertiger Autorisationen entgegen, so daß der historische Aspekt sich für das editorische Verfahren wie von selbst ergab. Nach dem Divan-Experiment und Fehlschlägen mit kontaminierten Texten ist in der weiteren Entwicklung der GoetheAusgabe die Richtung auf den historischen Apparat und die exakte Variantenverzeichnung immer deutlicher geworden; das von Waltraud Hagen bearbeitete Verzeichnis der „Gesamt- und Einzeldrucke von Goethes Werken“7 muß in diesem Zusammenhang als ein Musterbuch der modernen textkritischen Bibliographie und als Voraussetzung für die Text-Archivarisierung genannt werden. Von den bisher erschienenen Apparatbänden der Goethe-Ausgabe hat vor allem der von Siegfried Scheibe herausgegebene Band Überlieferung, Varianten und Paralipomena zu den Epen8 das archivalische Moment zum Ausdruck gebracht. Scheibes Apparat beruht auf einer kritischen Beurteilung und Auswahl der Drucke, er verzichtet aber auf die Wertung der Varianten und ordnet auch das handschriftliche Material letztlich nur unter dem Gesichtspunkt der ‚Textabweichung‘ in die Verzeichnung ein. Diese Apparatgestaltung mußte Widerspruch hervorrufen, und man ist geneigt, sich der Kritik anzuschließen, die Friedrich Beißner9 an Scheibes editorischem Verfahren geübt hat. So kann die Logik des Apparataufbaues nicht über den Katalogcharakter hinwegtäuschen; der Varianten-Ballast steht der Klassifizierung der Varianten zwangsläufig im Wege, und das Bestreben, die editorische ‚Objektivität‘ zu wahren, erscheint als Standpunktlosigkeit. ————

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Aufgaben und Probleme der modernen Goethe-Edition, in: Wissenschaftliche Annalen Jg. 1 (1952) S. 3–11. Ders., Probleme der Goethe-Ausgabe, in: Veröff. d. Inst. f. Dt. Sprache u. Lit. Bd 1 (1954) S. 39–51. Waltraud Hagen: Die Gesamt- und Einzeldrucke von Goethes Werken. Berlin: Akademie-Verl. 1956. (Werke Goethes, Erg.-Bd. 1.) Eine Neubearbeitung wird vorbereitet. Daneben ist an eine Archivarisierung der Doppeldruck-Varianten in Karteiform gedacht. Goethe: Epen. Bd 2. Überlieferung, Varianten und Paralipomena. Bearb. v. Siegfried Scheibe. Berlin: Akademie-Verl. 1963. Im gleichen Jahr erschien auch: Goethe, Die Wahlverwandtschaften. Bd 2, Überlieferung, Varianten und Paralipomena. Bearb. v. Helmut Praschek. – Von Goethes Wilhelm Meister liegen bisher nur die Überlieferungen und Lesarten zu Wilhelm Meisters Theatralische Sendung, bearb. v. Renate Fischer-Lamberg (Berlin 1960) vor. Friedrich Beißner, Editionsmethoden der neueren deutschen Philologie, in: Zeitschrift f. dt. Philologie Bd 83, Sonderheft (Mai 1964) S. 72–95, besonders S. 92–95.

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Bei näherer Betrachtung wird jedoch klar, daß dieses Verfahren – unabhängig von der Frage, ob man sich eine Goethe-Edition so vorgestellt hat oder ob man sie in dieser Form für wünschenswert hält – durchaus seine Berechtigung hat und daß es auch hier um Textkritik als exakte Disziplin geht, um eine Grundlagenforschung für Goethe-Texte und die Bereitstellung des vollständigen Materials, das durch die oft schwer zu durchschauende Gleichzeitigkeit von Entstehungs- und Überlieferungsvarianten immer wieder Probleme im Hinblick auf die ‚endgültige‘ Textgestalt offen läßt. Hier gestattet erst der bewußte Verzicht auf Vorentscheidungen das eigentliche textkritische Verhalten: der Apparat kann unter verschiedenen Gesichtspunkten befragt werden, und auf Grund sicherer Kriterien sind weitergehende Entscheidungen, so subjektiv sie auch ausfallen, möglich. Im Sinne der modernen Informationstheorie ist die Goethe-Ausgabe primär ein Informationsträger.10 Diese Akzentverlagerung von der ursprünglichen Aufgabe der Textgewinnung auf die Dokumentation aller vorhandenen Textzeugen – schon bei Grumach angedeutet – ergab sich als eine notwendige Folgerung aus dem Umgang mit diesen Textzeugen. Durch die Bezeichnung Archiv-Ausgabe hätten jedoch Mißverständnisse vermieden werden können, wie sie in der z. T. berechtigten Kritik von Karl-Heinz Hahn und Helmut Holtzhauer11 am Editionsverfahren zutage getreten sind. Die große Bedeutung der Ausgabe für die moderne Textkritik und für die Methode der Variantenkonstitution liegt hauptsächlich in ihrem archivalischen Charakter. Die neuerarbeiteten „Grundlagen“ der Goethe-Ausgabe12 haben darüber hinaus eine Nomenklatur entwickelt, die durch detaillierte Definitionen der verschiedenen Textphänomene und eine durchdachte Siglierung ein Höchstmaß an Genauigkeit anstrebt. Diese Nomenklatur ist das Ergebnis von Beobachtungen, die aus der Arbeitsweise Goethes und den verschiedenen Druckvorgängen gewonnen wurden; ihr System textkritischer Begriffe ist für die Terminologie der Textkritik von grundsätzlicher Bedeutung. Wie auch immer man den Druck einer Archiv-Ausgabe beurteilen mag, so ist doch kaum von der Hand zu weisen, daß ein Text- und Varianten-Archiv die Grundlage jeder textkritischen Arbeit sein muß. Meist ist die Zahl der ‚echten‘ Varianten begrenzt, und nur in Ausnahmefällen ist der Herausgeber wirklich gezwungen, auch die durch den Druck verursachten Fehlerquellen darzustellen. Viele Herausgeber haben daraus die ————

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So hat Helmut Praschek für das 1. Editionskolloquium der Deutschen Akademie der Wissenschaften zu Berlin (Hektogr. Manuskript) folgende These formuliert: „Die historisch-kritische Gesamtausgabe hat die Aufgabe, die Primär- und Sekundär-Information des relevanten Informationsträgerfundus zu tragen und sie leichter und schneller kommunizierbar zu machen aufgrund der räumlichen Konzentration, des neuen Zeichensystems und der drucktechnischen Vervielfältigung.“ Karl-Heinz Hahn und Helmut Holtzhauer, Wissenschaft auf Abwegen? Zur Edition von Werken der neueren deutschen Literatur. Weimar, Juni 1964. (Für die 2. Editionskonferenz der Nationalen Forschungs- und Gedenkstätten der klassischen deutschen Literatur in Weimar als Manuskript vervielfältigt.) Wiederholt mit geringfügigen Korrekturen in: Forschen und Bilden. Mitteilungen aus d. Nationalen Forschungs- u. Gedenkstätten, H. 1 (1966) S. 2–22. Grundlagen der Goethe-Akademie-Ausgabe, bearb. v. d. Mitarbeitern der Goethe-Ausgabe und als Manuskript vervielfältigt (Berlin 1961), zum Druck (in: Beiträge zur Goethe-Forschung. Bd 2) vorgesehen.

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Konsequenzen gezogen und ihr Archivmaterial13 nicht vollständig vor dem Leser ausgebreitet, andere haben das gesamte Material in einer Bibliothek archivalisch hinterlegt. Doch erzeugt die Beschränkung auf eine ausgewählte Variantenverzeichnung14 gelegentlich Unbehagen, wenn der Herausgeber seine Textentscheidung nicht genügend begründet hat und der Leser sich über die Textgestaltung im einzelnen keine Klarheit verschaffen kann. Der Verzicht auf Archivarisierung der Textzeugen kann die Zuverlässigkeit der gewonnenen Texte entscheidend in Frage stellen. Andererseits kann das vollständig dargebotene Variantenmaterial jede Texterkenntnis ersticken. Die Archiv-Ausgabe ist demnach als eine Ausgabe zu definieren, die sich um die exakte Erfassung aller Textphänomene bemüht und diese vollständig verzeichnet. Sie erfaßt Drucke, die zu Lebzeiten des Dichters erschienen sind und die seine Autorisation erkennen lassen, bzw. wahrscheinlich machen (oder wenigstens nicht ganz ausschließen), sowie posthume Drucke, die unmittelbar auf autorisierten Vorlagen beruhen. Sie hat gleichzeitig das gesamte handschriftliche Material auszuwerten und zusammen mit den Druckvarianten in einem sinnvollen System von Entstehungs- und Überlieferungsvarianten darzubieten. Sie kann in Einzelfällen sogar gezwungen sein, Varianten posthumer Drucke wiederzugeben, wenn Eingriffe späterer Herausgeber die Gestaltung der Texte entscheidend beeinflußt, bzw. verbessert haben. Welcher Text bei diesem archivarisierenden Verfahren der Edition selbst zugrunde gelegt wird, ist dabei von sekundärer Bedeutung, obgleich hier jeweils der Text gewählt werden sollte, der der ‚idealen‘ Fassung am nächsten kommt und die Überlieferung am deutlichsten darzustellen gestattet. Entscheidend ist die Dokumentation des gesamten Materials, der Verzicht auf Textkontaminationen und eine Apparatgestaltung, die als Grundlage weiterer Untersuchungen dienen kann. Es ist bemerkenswert, daß in neuerer Zeit auch auf dem Gebiete der Handschriftenwiedergabe archivalische Momente in Erscheinung getreten sind. Gemeint ist nicht ———— 13

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Mit Problemen des Auswahl-Apparates haben sich vor allem Albert Köster (Prolegomena zu einer Ausgabe der Werke Theodor Storms, Leipzig 1918, Verhandlungen der Sächs. Akademie d. Wiss., 70, 3), Eduard Berend (Prolegomena zur historisch-kritischen Gesamtausgabe von Jean Pauls Werken, Abhandlungen d. Preuß. Akademie d. Wiss. zu Berlin. 1927, 1) und Jonas Fränkel (Leitregeln zum 1. Kommentarband der Sämtlichen Werke Gottfried Kellers) theoretisch und praktisch auseinandergesetzt; die Storm-, Jean-Paul- und Gottfried-Keller-Ausgaben sind Beispiele für Verfahren, die weder den „Schutt der Werkstatt“ noch den „Staub des Setzerkastens“ vor dem Leser ausbreiten wollen. Das vollständige Material der neuen Wilhelm-Raabe-Ausgabe ist in der Stadtbibliothek Braunschweig hinterlegt. – An dem von Carl Helbling geänderten Editionsverfahren für die Werke Gottfried Kellers hat Jonas Fränkel (Dichtung und Wissenschaft, Heidelberg 1954, S. 162 ff.) scharfe Kritik geübt. So sind die von Georg Witkowski (Textkritik und Editionstechnik neuerer Schriftwerke, Leipzig 1924) vorgetragenen Auswahlgrundsätze von Friedrich Beißner (Einige Bemerkungen über den Lesartenapparat zu den Werken neuerer Dichter, in: Orbis litterarum, Suppl. 2, Kopenhagen 1958, S.13 ff.) kritisiert worden. In welche Schwierigkeiten der Herausgeber durch den Verzicht auf einen umfassenden textkritischen Apparat geraten kann, habe ich am Beispiel der von Hans Egon Hass herausgegebenen Centenar-Ausgabe der Werke Gerhart Hauptmanns (Kritisch durchgesehener Text oder historisch-kritische Ausgabe? Zu einem textkritischen Problem, dargestellt an drei Reden Gerhart Hauptmanns in der Centenar-Ausgabe, in: Jahrbuch der Dt. Schillergesellschaft Jg. 12, 1966) zu zeigen versucht. – Die historisch-kritische Kleist-Ausgabe muß hier einen Kompromiß anstreben, der dem Prinzip der Vollständigkeit und der Forderung nach einer übersichtlichen Variantendarbietung gleichermaßen gerecht wird. Für sie ist das Auswahl-Prinzip primär eine Frage der Einteilung der Varianten in bestimmte Kategorien.

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die äußere Beschreibung der Handschriften, sondern die Ermittlung einer VariantenTopologie, wie sie erstmals von Hans Zeller15 mittels eines sorgfältig ausgearbeiteten Zeichensystems versucht wurde. Zellers Methode ist die zwangsläufige Reaktion auf die bisher geübte Praktik, Handschriften lediglich auszuwerten, ohne daß dem Leser zugleich die Gewähr für die Richtigkeit der Lesungen und Stufenansetzungen gegeben wurde. So sehr sich dieses Verfahren auch gegen die Darstellungsmethode Friedrich Beißners16 richtet, sucht sie doch eine Synthese zwischen Deskription und Interpretation herzustellen und die an Hölderlin gewonnenen Erkenntnisse weiterzuentwickeln. Zeller hat in den Gedichtbänden der C. F. Meyer-Ausgabe ein EditionsIdeal verwirklicht, das jeden Herausgeber zwingt, eigene Editionsgrundsätze an dieser Methode zu überprüfen. Die C. F. Meyer-Ausgabe kann jedoch nur in ihrem Ansatzpunkt als Archiv-Ausgabe bezeichnet werden, da das deskriptive Verfahren in erster Linie funktionelle Bedeutung hat. Die Vorzüge der exakten Deskription, die theoretisch eine Rekonstruktion17 der Handschrift ermöglicht (was jedoch nicht ihr Hauptzweck ist), sind offensichtlich, und jede zukünftige Handschriften-Edition hat drei Voraussetzungen zu erfüllen: 1. die Lokalisierung der Varianten und ihre Eingliederung in die Darstellung, 2. die Kennzeichnung subjektiver Entscheidungen und strittiger Fälle, und 3. die Überprüfbarkeit der Interpretationsstufen des Apparates am graphischen und diplomatischen Befund.18 Erst eine Archiv-Ausgabe gibt jedem späteren Herausgeber die Sicherheit, nicht erneut Text-Grundlagenforschung betreiben zu müssen. ———— 15

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Hans Zeller: Zur gegenwärtigen Aufgabe der Editionstechnik. Ein Versuch, komplizierte Handschriften darzustellen, in: Euphorion Jg. 52 (1958) S. 356–377. Das deskriptive Verfahren ist dabei keineswegs neu. Zeller kann vielmehr an Traditionen des Positivismus anknüpfen. Man vergleiche nur Erich Schmidts Methode, die handschriftlichen Varianten zu lokalisieren (Zeichensystem und Stufen-Genealogie lagen ihm jedoch noch fern). Zeller knüpft hier an die Rezension der Stuttgarter Hölderlin-Ausgabe durch Beda Allemann (Anzeiger f. dt. Altertum Jg. 69, 1956/57, S. 75–82) an und stellt fest, daß Beißner das Prinzip der Vollständigkeit zugunsten der „optischen Überschaubarkeit“ preisgegeben habe (S. 360). Friedrich Beißner hat (Zeitschrift f. dt. Philologie Bd 83, Sonderheft, Mai 1964, S. 80–82) demgegenüber sein Prinzip, das ideale und nicht das tatsächliche Wachstum darzustellen, verteidigt. In der Frage der ‚Rekonstruktion‘ scheint eine Äußerung Zellers (Euphorion 52, 1958, S. 370) immer wieder zu Mißverständnissen Anlaß zu geben. Zeller erwähnt einen (im Rahmen einer akademischen Übung unternommenen) Versuch, der die Rekonstruktion einer Handschrift aus einer Umschrift in Lesartensymbole zum Gegenstand hatte. Beißner vermochte dagegen „nicht einzusehen, daß der Herausgeber ein derart sonderliches Bedürfnis befriedigen müsse“ (Zs. f. dt. Philologie 83, Sonderh., S. 81). Daß die Darstellung des „idealen Wachstums“ (Beißner) eine Rekonstruktion des Schreibvorgangs voraussetzt, dürfte dagegen allgemein anerkannt werden. Es wäre daher zweckmäßig, von zwei Stadien des Rekonstruktionsverfahrens zu sprechen: von der archivalischen Bestandaufnahme, die eine Rekonstruktion der graphischen und diplomatischen Verhältnisse ermöglicht, und von den Folgerungen, die daraus für den Textbefund und die Rekonstruktion des „idealen Wachstums“ zu ziehen sind. Wir verwenden hier die Terminologie, die Dietrich Germann (Zur Erläuterung einiger editorischer Begriffe, in: Forschungen und Fortschritte Jg. 38, 1964, S. 83–85) vorgeschlagen hat. Germann versteht unter dem graphischen Befund „die Gesamtheit des (vom Editor erkannten) Schriftbildes eines Manuskriptes“, unter dem diplomatischen Befund: „die Gesamtheit des Buchstaben- und Zeichenbestandes und der aus ihm erkennbaren Bezüge einer Handschrift“. Die Wiedergabe des Textbefundes beabsichtigt dagegen nur, „eine textgenaue Darbietung der Überlieferung zu sein“, ohne die Fakten des graphischen und diplomatischen Befundes in die Darstellung einzuschließen.

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2. Die historisch-kritische Ausgabe Die Archivarisierung des Textmaterials kann immer nur Voraussetzung, niemals alleiniges Ziel der Edition sein. Das kritische Verhalten einem Text gegenüber beginnt bei der Archiv-Ausgabe mit der Beurteilung der Textzeugen und der notwendigen Verbesserung offenkundiger Fehler; aber schon durch die Überlegung, wie weit Generalisierungen der Orthographie zweckmäßig sind, wird ihr Aufgabenbereich verlassen. Trotz aller Vorsätze, das Dokumentarische der Texte zu erhalten, müssen geeignete Darbietungsformen für den zugrunde zu legenden Text und die dazugehörigen Varianten gefunden werden. Insofern geht auch die Goethe-Ausgabe der Berliner Akademie weit über die Text-Archivarisierung hinaus; ihre Texte und Apparate sind das Ergebnis einer kritischen Auseinandersetzung mit dem Textmaterial, und ihr Editionsverfahren ist, der Informationstheorie entsprechend, auf eine „Transformation“19 dieses Materials bei geringstem „Informationsverlust“ und größtmöglichem „Informationsgewinn“ bedacht. Doch ist der Wert jeder Textkritik erst an den Schlüssen zu messen, die ein Herausgeber aus dem Informationsgewinn zieht. Mit Georg Witkowski20 wird man in diesem Zusammenhang auf die Unterscheidung zwischen der „Kritik des Wortlautes“ und der „höheren Textkritik“ hinweisen. Danach bezieht sich die Kritik des Wortlautes auf Fälle, in denen die „Intention“ des Autors im Werden des Werkes „durch ungünstige Umstände nicht rein zutage getreten ist“, während die höhere Textkritik in dem Falle geboten ist, in dem die „endgültige, vom Autor herrührende Form nicht vorliegt, sondern nur verschlechterte, durch andere hergestellte Fassungen“21 oder wenn die „ursprüngliche Gestalt, unter Umständen auch die Autorschaft nur indirekt erschließbar ist“. Durch die Methoden der klassischen Philologie beeinflußt, steht die Textkritik hier ausschließlich im Dienste der Textgewinnung und Textsicherung, die den Varianten nur den Wert unsicherer Lesarten zuerkennt. Die Textkritik hat aber über den ‚endgültigen‘ Text hinaus noch andere Aufgaben zu erfüllen. Die Goethe-Philologie hat die Aufmerksamkeit auf das Problem der „gleichwertigen Autorisation“ gelenkt, das auch bei Kleist22 eine wichtige Rolle spielt ———— 19

20 21

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Diese Transformation beruht (nach den Thesen Helmut Prascheks für das 1. Editionskolloquium der Deutschen Akademie der Wissenschaften zu Berlin) auf der „Dechiffrierung der Informationsträger“ und der „Chiffrierung der gewonnenen Primär- und Sekundär-Informationen der relevanten Informationsträger“. – Wesentlich für dieses Editionsverfahren ist die Gleichzeitigkeit von möglichem Informations-Rückgriff auf den „Informationsträgerfundus“ (Archivmaterial) und Repräsentanz der Information. Georg Witkowski: Textkritik und Editionstechnik neuerer Schriftwerke. Ein methodologischer Versuch. Leipzig 1924, S. 19–65. Das gilt z. B. für die Erstausgabe von Kleists Familie Schroffenstein. Aus dieser Tatsache eine Bevorzugung der Familie Ghonerez abzuleiten, weil nur sie „mit jedem Wort und Komma eindeutig Kleists Werk ist“ (Sembdner I, 919), würde der Entwicklungsgeschichte des Textes nicht gerecht. In solchen Fällen sind der Verbesserung, soweit nicht eindeutige Kriterien vorliegen, Grenzen gesetzt. Zu denken ist hier an die Phöbus-Szenen des Zerbrochnen Krugs und das Organische Fragment der Penthesilea. Die vom Dichter „zuletzt gewollte“ Fassung engt die entwicklungsgeschichtliche Funktion der Autorisation zu stark ein, auch wenn man in den genannten Fällen, wie noch darzulegen sein wird, von einem „toten Ast“ innerhalb der Textüberlieferung sprechen könnte. Erst der größere zeitliche Abstand zwischen den Autorisationen läßt sie dabei „gleichwertig“ erscheinen.

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und dessen man durch Paralleldrucke Herr zu werden versucht. Die Ermittlung von Vorstufen eines Textes und dessen Entstehungsgeschichte sind weitere Aspekte einer umfassenden Textgeschichte, und seit Friedrich Beißners Hölderlin-Ausgabe ist man geneigt, erst die Interpretation von Handschriften und die Ergebnisse des genetischen Verfahrens als eigentliche Leistungen der Textkritik zu werten. Letztlich ist jede echte kritische Ausgabe notwendigerweise eine historisch-kritische Ausgabe, die erst im Zusammenwirken von Textgewinnung (= Textvergleich), Textsicherung (= FehlerPhilologie) und der Darstellung des Arbeitsprozesses (= Textgenese) ihren Aufgaben gerecht wird. Der Begriff „historisch“, von Karl Lachmann auf die „Feststellung eines Textes nach Überlieferung“ bezogen, bedarf hier der näheren Erläuterung. Eine Ausgabe, die ihre Texte aus dem Vergleich der Textzeugen und aus dem „Verhältnis der Varianten zueinander“ konstituiert, hat lediglich auf die Bezeichnung „kritische Ausgabe“ Anspruch. Im Gegensatz zur „Textüberlieferung“, die zwar ein historisches Phänomen ist, aber zunächst nur Textdokumente präsentiert, kann von einer historisch-kritischen Ausgabe erst dann die Rede sein, wenn es gelungen ist, die Entwicklungsgeschichte des Textes im Sinne eines Arbeitsprozesses und nicht nur der Variantenstreuung darzustellen. Die Rangordnung der editorischen Vorgänge wäre somit durch die Archivarisierung der Textzeugen (= Archiv-Ausgabe), die Textkonstituierung und Variantenordnung auf Grund der einzelnen Textdokumente (= Kritische Ausgabe) und die genetische Erfassung der Textgeschichte (= Historisch-kritische Ausgabe) zu klassifizieren. Heute erlauben moderne drucktechnische Verfahren eine schnelle und relativ billige Reproduktion von Büchern und Handschriften. Diese Verfahren23 kommen der Idee der Texttreue sehr entgegen und bestärken viele Herausgeber in der Auffassung, daß nur Faksimile-Drucke der Originalausgaben Authentizität beanspruchen und den Reiz eines „alten Textbildes“ erhalten können. In ähnlicher Weise erwecken Handschriften-Reproduktionen angesichts der immer wieder laut werdenden Zweifel, ob es wirklich möglich ist, mit Hilfe von Zeichensystemen Handschriftenzusammenhänge zu erfassen, den Anschein fehlerloser Authentizität. Das ästhetische Moment der zeitgemäßen Typographie ist dabei nur von untergeordneter Bedeutung, während die Notwendigkeit, in viel stärkerem Maße als bisher Handschriften zu reproduzieren, zunehmend erkannt wird. Die Authentizität der Drucke erweist sich zwar als trügerisch, doch hoffen die Herausgeber ihre Tätigkeit auf eine bloße Fehler-Korrektur beschränken zu können. So legen Reproduktionsversuche mit Barocktexten nahe, auch Klassikertexte des 18. und frühen 19. Jahrhunderts so zu edieren, daß ein photomechanisch reproduzierter Text ———— 23

Für Kleist sind vor allem zu nennen: die 1924 von Fritz Strich und 1961 von Helmut Sembdner hrsg. Nachdrucke des Phöbus sowie die 1925 von Georg Minde-Pouet und 1959 von Helmut Sembdner hrsg. Nachdrucke der Berliner Abendblätter. Dadurch wurden zwei schwer erreichbare Zeitschriften wieder allgemein zugänglich. Die ebenfalls von H. Sembdner hrsg. Faksimile-Ausgabe der 1808 bei Cotta erschienenen Buchausgabe der Penthesilea (Frankfurt a. M.: Insel-Verl. 1967) will dagegen mehr bibliophilen Interessen gerecht werden. H. Sembdners Kommentare erschließen in erster Linie die Entstehungs- und Wirkungsgeschichte sowie die Quellen der einzelnen Texte.

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als „historischer“ Text der Edition zugrunde gelegt wird, wobei eine unmittelbare Fehlerkorrektur im Photobild technisch möglich ist und der Variantenapparat im Anhang danach eingerichtet werden kann. Die Editionskritik von Fredson Bowers24 an der Yale-Shakespeare-Folio-Faksimile-Ausgabe und das Nachwort von Erich Trunz25 zu den Geistlichen Poemata von Martin Opitz in der Reihe Barock der Deutschen Neudrucke erhellen jedoch die Problematik des Verfahrens. Die Opitz-Ausgabe, die auf „textliche Lesarten, dichterische Veränderungen usw.“ verzichtet und keine historisch-kritische Edition sein will, beschränkt sich im Apparat auf die Verzeichnung von „undeutlichen Stellen“ der Vorlage, die in der Reproduktion „ebenso undeutlich sind oder etwas vergrößert erscheinen“, sowie auf Druckfehler der Vorlage, sie ist aber zugleich gezwungen, auf ca. 140 Retuschefehler in der vorliegenden Reproduktion hinzuweisen. Spielen solche „Retuschen“ bei Texten des 18. und 19. Jahrhunderts gegenüber der problematischen Beschaffenheit der Frühdrucke und Barocktexte nur eine geringe Rolle, so zeigt schon die Notwendigkeit, den Photodruck26 überwachen zu müssen, daß auch dieses Reproduktionsverfahren zu kritischem Verhalten auffordert. Der Photodruck ist daher, terminologisch gesehen, als ‚Neudruck‘ deutlich gegenüber der ‚kritischen‘ Edition abzugrenzen, und das Vertrauen auf Reproduktionsverfahren darf keinesfalls zu einer Beschränkung editorischer Verpflichtungen und damit zu einer ausschließlich auf ‚Fehler-Philologie‘ beruhenden Edition führen. Was die Reproduktion von Handschriften betrifft, so ist der Meinung von KarlHeinz Hahn und Helmut Holtzhauer27 zuzustimmen, wonach derjenige, der die Mühe aufwendet, ein System editorischer Zeichen zu entschlüsseln, „in der Regel auch in der Lage sein dürfte, selbst komplizierteste Handschriften zu entziffern“. Doch ist demgegenüber mit Nachdruck darauf hinzuweisen, daß dieses System editorischer Zeichen schon als bloße Lesehilfe vielfach unerläßlich ist, während andererseits das Faksimile als gleichzeitiges Kontrollmittel wertvolle Dienste leisten kann. Das Beispiel der Handschrift des Zerbrochnen Krugs zeigt, daß weder der Photodruck noch die Farbphotographie in der Lage ist, die Farbschichtungen der Schrift genau wieder———— 24

25 26

27

Fredson Bowers: The Yale Folio Facsimile and Scholarship, in: Modern Philology 55 (1955/56) S. 50– 57. Die Kritik weist nach, daß das (billigere) „unscreened or line offset“-Verfahren für Frühdrucke ungeeignet ist, da diese Methode 1. Helligkeitsgrade nicht wiedergibt und schwache Buchstaben des Originals daher nicht reproduziert werden und 2. Eingriffe zur Unsichtbarmachung von Flecken und Durchschlagstellen (opaquing, fälschlich als „Retuschen“ bezeichnet) notwendig macht. Martin Opitz: Geistliche Poemata (1638). Hrsg. v. Erich Trunz. Tübingen: Niemeyer 1966. (Deutsche Neudrucke, Reihe Barock. 1.) Ein dokumentarischer Photodruck wird für Kleist nicht in Erwägung gezogen. Allein für Erzählungen, die Kleist auf Grund von Zeitschriften-Erstdrucken redigiert hat, wäre vielleicht eine Kombination der Erstdruck-Reproduktion mit Korrektureintragungen zu befürworten, da hieran z. T. Kleistsche Korrekturvorgänge deutlich gemacht werden können. Die Möglichkeiten einer solchen Kombination für die Gestaltung des Kommentarbandes werden im folgenden Kapitel „Handschriften und Arbeitsweise Kleists“ erörtert. Karl-Heinz Hahn u. Helmut Holtzhauer: Wissenschaft auf Abwegen? Zur Edition von Werken der neueren deutschen Literatur (Weimar 1964) S. 24; wiederholt in: Forschen u. Bilden. Mitteilungen aus d. Nationalen Forschungs- u. Gedenkstätten, H. 1 (1966) S. 14b. Der daran angeschlossene Vorschlag, sich auf die Photo-Reproduktion zu beschränken und die Dechiffrierung der Handschrift dem Leser zu überlassen, kann nicht akzeptiert werden.

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zugeben. Erst in der wechselseitigen Erhellung von Handschrift und Abstraktionsstufe kann die Edition ihren Zweck, Arbeitsprozesse zu verdeutlichen, erfüllen. Es bleibt die erste Pflicht des Herausgebers, die Handschriften ‚lesbar‘ zu machen; eine bloße Faksimilierung käme einem Verzicht auf die kritische Beurteilung gleich. Die von Friedrich Beißner entwickelte Methode, die das textgenetische Lesen von Handschriften ermöglicht und den editorischen Fragestellungen eine neue Richtung gegeben hat, ist nicht als ‚Modeerscheinung‘ abzutun; sie ist im einzelnen auf ihre Anwendbarkeit zu überprüfen und eventuell durch eine Deskription des diplomatischen Sachverhalts auszubauen. Wie jedoch Versuche,28 die Zellersche Methode auf Hölderlin-Handschriften anzuwenden, gezeigt haben, erfüllen im Falle der speziellen Arbeitsweise Hölderlins selbst perfektionierte Apparate ihren Zweck vielfach nicht mehr. In Einzelfällen sind stufenweise Darstellungsverfahren zu empfehlen, die eine genaue Abgrenzung objektiver und subjektiver Kriterien ermöglichen. Dazu gehören diplomatische Übertragungen, die – als Vermittler zwischen Handschriften-Faksimile und Apparat29 – den unmittelbaren Einblick in die Varianten-Topologie erleichtern und zu einer Entlastung des Apparates von allzu viel Zeichen beitragen. Um eine Konzentration auf die Schreibvorgänge zu erreichen, sind auch die Möglichkeiten der Typographie voll auszuschöpfen. Ob die Regel,30 keine einmal im Apparat aufgeführte Textstelle innerhalb der Darstellung des genetischen Zusammenhangs zu wiederholen, überall dogmatisch angewandt werden soll, bleibt ebenfalls zu überprüfen. Der von Beißner vertretene Standpunkt, daß Varianten ‚lesbar‘ sein müssen und daß Entstehungsprozesse und Korrekturschichten nicht aus dem Sinnzusammenhang gerissen werden dürfen, kann von der Textkritik nicht mehr aufgegeben werden. Ebensowenig darf der Herausgeber auf die Darstellung des dichterischen Arbeitsprozesses, wo sie auf Grund der Überlieferung möglich ist, verzichten, da sie die Entscheidung für einen Grundtext wesentlich mitbestimmen, zugleich das geschichtliche Verständnis des Textes fördern und aus der Archivarisierung eines Textzeugen selbst ein Dokument machen kann. Eine historisch-kritische Ausgabe ist nicht allein „Transformation von Informationen“, sondern in gleichem Maße ein Nachvollzug des schöpferischen Aktes. […] ———— 28

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Anläßlich meines Textkritik-Seminars wurden Versuche mit den Hölderlin-Gedichten Der Frieden und Ganymed unternommen. Das Problem der „Keimworte“ (Beißner) war mit der Zellerschen Methode allein nicht zu lösen, da graphischer und diplomatischer Befund nicht mit der gleichzeitigen Darstellung des Entstehungsvorganges in ein System zu bringen waren. Hier genügt ein Hinweis auf den diplomatischen Abdruck der Friedensfeier-Handschrift (Hölderlins Friedensfeier. Lichtdrucke der Reinschrift und ihrer Vorstufen. Hrsg. v. Wolfgang Binder u. Alfred Kelletat. Tübingen 1959). In diesem Stadium hätte eine Hölderlin-Ausgabe den Charakter einer ArchivAusgabe. Zeller (Zur gegenwärtigen Aufgabe der Editionstechnik, in: Euphorion 52, 1958, S. 370) formuliert: „Grundsätzlich wird in der Wiedergabe kein Wort wiederholt, das nicht auch in der Hs. wiederholt ist. Der Leser könnte sonst den Text nicht wiedergewinnen.“ – Schon Killy war angesichts der speziellen Handschriftenverhältnisse Trakls gezwungen, durch Kursivschrift dieser Forderung zu genügen und sie damit zugleich einzuschränken (Walther Killy, Über Georg Trakl. Göttingen 1960, Kleine Vandenhoeck-Reihe 88/89, S. 52 ff.)

Gerhard Seidel

Gerhard Seidel

Die Funktions- und Gegenstandsbedingtheit der Edition Untersucht an poetischen Werken Bertolt Brechts (1970)

Inhalt

Die Funktions- und Gegenstandsbedingtheit der Edition

Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

9

0. Einleitung: Zum gegenwärtigen Stand der neueren Edition . . . . . . . . . . .

13

1. Die Editionsfaktoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.0. Allgemeines: Gesellschaftliche, autorgebundene und werkgebundene Editionsfaktoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.1. Die gesellschaftlichen Editionsfaktoren. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.1.0. Allgemeines: Aufwand und Nutzen der Edition . . . . . . . . . . 1.1.1. Die gesellschaftliche Bedeutung des zu edierenden Werkes . . 1.1.2. Der Benutzerkreis der Edition und seine Anliegen. . . . . . . . . 1.1.3. Zugänglichkeit, Dechiffrierbarkeit und Erschließung der Zeugen 1.1.4. Der Stand der Editionen und Publikationen . . . . . . . . . . . . . 1.1.5. Die philosophischen Anschauungen und der Wissenschaftsbegriff des Editors . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.1.6. Arbeitsorganisation und Technik auf dem Gebiet der Edition . 1.2. Die autorgebundenen Editionsfaktoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.2.0. Allgemeines: Die Arbeitsweise des Autors und seine Auffassungen von der schriftstellerischen Arbeit. . . . . . . . . . 1.2.1. Anlaß und Intention der schriftstellerischen Arbeit . . . . . . . . 1.2.2. Das Verhältnis des Autors zu seinen Quellen . . . . . . . . . . . . 1.2.3. Das Verhältnis des Autors zu seinen Mitarbeitern . . . . . . . . . 1.2.4. Phasen der schriftstellerischen Arbeit . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.2.5. Der Arbeitsprozeß und sein Charakter . . . . . . . . . . . . . . . . . Exkurs: Werkprozeß und Apparatform . . . . . . . . . . . . . . . . 1.2.6. Das Arbeitsergebnis und sein Charakter. . . . . . . . . . . . . . . . 1.2.7. Die Arbeitsmittel und ihre Verwendung. . . . . . . . . . . . . . . . 0. Allgemeines – 1. Papiere – 2. Traditionelle Schreibmaterialien – 3. Schreibmaschine – 4. Fotografie – 5. Tonaufzeichnung 1.2.8. Arbeitsbedingungen und Arbeitsästhetik . . . . . . . . . . . . . . . 1.2.9. Zusammenfassung: Elemente der schriftstellerischen Arbeitsweise . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.3. Die werkgebundenen Editionsfaktoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.3.0. Allgemeines . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.3.1. Die Überlieferungslage des zu edierenden Werkes . . . . . . . . 0. Allgemeines – 1. Handschriftliche und maschinenschriftliche Überlieferung – 2. Drucke – 3. Sonderformen der Überlieferung

21 [= 348] 21 [= 348] 22 22 23 24 26 29 32 39 44 44 46 49 53 56 62 66 74 84

94 96 97 97 97

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Gerhard Seidel 1.3.2. Die äußere Form des zu edierenden Werkes . . . . . . . . . . . . . 0. Allgemeines – 1. Werke mit Versstruktur – 2. Werke ohne Versstruktur – 3. Wechsel der literarischen Gattung innerhalb einer Werkgeschichte 1.3.3. Besonderheiten des zu edierenden Werkes . . . . . . . . . . . . . . 1. Edition fragmentarischer Werke – 2. Theaterpraxis und Werkentstehung – 3. Mehrsprachigkeit innerhalb einer Werkgeschichte – 4. Die Behandlung der Werksammlungen in der Edition – 5. Mehrfachedition innerhalb einer Ausgabe – 6. Mitarbeit des Autors an fremden Werken

2. Die Editionsweise . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.0. Allgemeines: Die Ausgabe und ihre Teile . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.0.0. Allgemeines: Editionstyp und Editionsmethode . . . . . . . . . . 2.0.1. Der Editionstyp . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.0.2. Gegenstand und äußere Gliederung der Ausgabe. . . . . . . . . . 2.0.3. Innere Gliederung der Edition . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.0.4. Gestalt, Herstellung und Verbreitung der Ausgabe . . . . . . . . 2.1. Entstehung und Überlieferung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2. Schemata . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2.0. Allgemeines: Zur Bedeutung grafischer Darstellungen in der Edition. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2.1. Stemma . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2.2. Entwicklungsschemata . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2.3. Besonderheiten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.3. Zeugenbeschreibung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.3.0. Allgemeines: Aufwand und Nutzen detaillierter Zeugenbeschreibungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.3.1. Verzeichnisse, Tabellen, Konkordanzen . . . . . . . . . . . . . . . 2.3.2. Beschreibung der Manuskripte und Typoskripte . . . . . . . . . . 2.3.3. Beschreibung der Drucke und Korrekturexemplare . . . . . . . . 2.4. Text . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.4.0. Das Problem: Textrezension oder Textrevision . . . . . . . . . . . 2.4.1. Textgrundlage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.4.2. Textkonstituierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.5. Apparat . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.5.0. Allgemeines: Der Apparat als Anhang oder Kern der Edition . 2.5.1. Verzeichnungsinhalt (Was wird im Apparat verzeichnet?) . . . 0. Musterung der Überlieferung – 1. Der Autorisierungsgrad der Überlieferung – 2. Der Vollständigkeitsgrad der Verzeichnung – 3. Deskriptive und diskursive Verzeichnung – 4. Ideales Wachstum und reale Textentwicklung 2.5.2. Verzeichnungsform (Wie wird im Apparat verzeichnet?) . . . . 0. Allgemeines: Informationsgehalt, Anschaulichkeit und Ökonomisierung – 1. Verkürzende Verzeichnung: Negativer und positiver Apparat, lemmatisierter und nicht-lemmatisierter Apparat, Varianteneinblendung und Generalisierung – 2. Atomisierende und totalisierende Verzeichnung: Lesartenverzeichnis, Variantenapparat, Textsynopsis – 3. Gebrochener und durchlaufender Apparat – 4. Probleme der Textsynopsis: Zeilenparallelisierung,

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Die Funktions- und Gegenstandsbedingtheit der Edition Zeilengruppenparallelisierung, Werkparallelisierung – 5. Einheitlicher und gegliederter Apparat: Listenapparat, Generalisierung, Auszeichnungen, Zweitapparat 2.6. Paralipomena . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 187 2.7. Zeugnisse. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 189 2.8. Materialien. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 190 3. Zusammenfassung: Optimierung der Edition durch Beachtung ihrer Funktions- und Gegenstandsbedingtheit. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Anhang . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.1. Editionsmodelle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.1.0. Zu den Modellen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.1.1. Bertolt Brecht: Kinderhymne . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 0. Bemerkungen – 1. Entstehung und Überlieferung – 2. Stemma – 3. Zeugenbeschreibung – 4. Text – 5. Synopsis 4.1.2. Bertolt Brecht: Die Teppichweber von Kujan-Bulak ehren Lenin 0. Bemerkungen – 1. Stemma – 2. Zeugenbeschreibung – 3. Text – 4. Synopsis – 5. Zeugnisse – 6. Materialien 4.1.3. Bertolt Brecht: Hundert Gedichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 0. Bemerkungen – 1. Stemma – 2. Zeugenbeschreibung 4.1.4. Bertolt Brecht: Das Manifest . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 0. Bemerkungen – 1. Entwicklungsschema (Faltblatt) – 2. Aus der Zeugenbeschreibung – 3. Synopsis – 4. Auszug aus der alten Synopsis – 5. Friedrich Beißner: Apparatentwurf 4.1.5. Bertolt Brecht: Leben des Galilei . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 0. Bemerkungen – 1. Versuch A: Geteilter Apparat – 2. Versuch B: Durchlaufender Apparat 4.2. Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.2.0. Vorbemerkung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.2.1. Werke von Bertolt Brecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 0. Gesamtausgaben und Teilsammlungen mit Werken verschiedener Gattung – 1. Dramatik – 2. Lyrik – 3. Prosa – 4. Schriften – 5. Tagebücher – 6. Briefe – 7. Verschiedenes 4.2.2. Schriften über Bertolt Brecht, zur Edition und zu anderen Gegenständen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.2.3. Ausgaben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.3. Register . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.3.0. Vorbemerkung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.3.1. Personen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.3.2. Sachen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

[…]

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1.

Gerhard Seidel

Die Editionsfaktoren

1.0. Allgemeines: Gesellschaftliche, autorgebundene und werkgebundene Editionsfaktoren Die Edition ist ein Resultat hilfswissenschaftlicher Tätigkeit. Ihr Rang wird durch ihre Zweckmäßigkeit bestimmt. Eine Edition ist in dem Maße zweckmäßig, in dem sie sinnvolle Aufgaben sachgerecht erfüllt. Willkür kann aus dem Bereich der Edition nur dann ausgeschlossen werden, wenn die zweckmäßigste Editionsweise als eine rationale Funktion bestimmter, der jeweiligen Ausgabe immanenter Faktoren begriffen wird. Die Ermittlung jener Faktoren sollte am Anfang aller editorischen Arbeit stehen, denn ihnen ist Rechnung zu tragen bei der Wahl des Editionstyps und bei der Ausarbeitung der Editionsmethode. Die Editionsfaktoren sind unterschiedlicher Natur. In erster Linie sind die allgemeinen Bedingungen zu nennen, die eine geplante Edition an ihrem historischen und gesellschaftlichen Ort vorfindet. Neben diesen gesellschaftlichen Editionsfaktoren, die sich im geschichtlichen Verlauf als variabel erweisen, existieren konstante Faktoren, die mit dem jeweiligen Gegenstand der Edition verbunden sind: Eigenheiten der Arbeitsweise eines Autors, die für die Edition seines Gesamtwerkes von Belang sind, sowie literarische, sprachliche, entstehungs- und überlieferungsgeschichtliche Besonderheiten bestimmter einzelner Werke, die die Edition von Fall zu Fall zu beachten hat. Editionen sind sachbedingt, genauer: funktions- und gegenstandsbedingt. Ihre Qualität hängt davon ab, wieweit der Editor die an den gesellschaftlich-historischen Ort der Ausgabe und an ihren Gegenstand gebundenen Faktoren zu erkennen vermag und zu respektieren gewillt ist. Zwischen bestimmten Editionsfaktoren und bestimmten Elementen der Editionsweise mögen besonders auffallende Korrespondenzen bestehen:1 insgesamt hat jedoch die Editionsweise dem Ensemble aller Editionsfaktoren zu entsprechen. […]

3.

Zusammenfassung: Optimierung der Edition durch Beachtung ihrer Funktions- und Gegenstandsbedingtheit

Bei der Edition literarischer Werke lassen sich optimale Arbeitsergebnisse nur mit funktions- und gegenstandsgerechten Editionsweisen erzielen. Der um größtmögliche gesellschaftliche Rentabilität der Ausgabe bemühte Herausgeber wird bei der Festlegung editorischer Ziele und Methoden nicht nur die Bedürfnisse und Möglichkeiten der ihn beauftragenden Gesellschaft berücksichtigen müssen, sondern auch bestimmte Eigenheiten der Arbeitsweise des Autors und der Überlieferung seiner Werke. ———— 1

Die gesellschaftlichen Editionsfaktoren sind z. B. für die Wahl des Editionstyps von besonderer Bedeutung, während die autor- und werkgebundenen Faktoren vorwiegend die Editionsmethode beeinflussen.

Die Funktions- und Gegenstandsbedingtheit der Edition

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Das Gesamtwerk Bertolt Brechts verdient nicht nur für seine reichen Inhalte und Formen, sondern auch für die in seiner Überlieferung erkennbare Denk- und Arbeitsweise des Autors eine umfassende, hohen wissenschaftlichen Ansprüchen genügende Edition. Die bei ihrer Konzeption und Herstellung zu beachtende Arbeitsweise Brechts erweist sich als durchdrungen von der dialektischen und materialistischen Natur- und Geschichtsauffassung des Schriftstellers. Brechts schriftstellerische Arbeitsweise zeichnet sich aus durch eine bewußte, das Verhältnis des Autors zu Quellen und Mitarbeitern bestimmende Kollektivität, durch das in schriftstellerischen Methoden und literarischen Prozessen erkennbare dialektische Bauprinzip Montage, durch kausale und intentionale Verklammerung von Werk und Wirklichkeit, durch Diskontinuität und prinzipielle Unabgeschlossenheit der literarischen Prozesse sowie durch gesellschaftspädagogische Tendenz und rationale Ästhetik. Die für BrechtWerke charakteristische Überlieferungslage – eine große Zahl (vorwiegend maschinenschriftlicher) Zeugen mit jeweils geringem Korrekturgrad – steht im Einklang mit der Arbeitsweise des Autors, rührt u. a. aus den von Brecht verwendeten modernen Arbeitsmitteln her und bietet dem Herausgeber in vielen Fällen die Möglichkeit, die reale Textentwicklung des zu edierenden Werkes weitgehend zu erkennen. Den am Beispiel Brechts ermittelten Editionsfaktoren entspräche eine allen Zwekken offene historisch-kritische Gesamtausgabe. Ihre Herausgeber haben das zu edierende Werk nicht als statischen Zustand aufzufassen, sondern als einen mit der Wirklichkeit kausal und intentional mannigfaltig verklammerten dialektischen Prozeß darzustellen. Die Kontamination verschiedener Textstufen verbietet sich deshalb ebenso wie die Kanonisierung bestimmter Fassungen. Die Zweidimensionalität der an Brecht-Werken weitgehend erkennbaren realen schriftstellerischen Prozesse kann mit den im Prinzip eindimensionalen Werkstellen- und Schichtenapparaten nicht zureichend abgebildet werden. Eine adäquate Darstellung dieser Befunde leistet jedoch die Synopsis, mit der die Edition eine dialektische, zweidimensional benutzbare Darbietungsform gefunden hat. Die Überlieferungslage von Brecht-Werken erlaubt eine vorwiegend diskursive Verzeichnung, mit deren Hilfe Anschaulichkeit und Ökonomisierung der textsynoptischen Darstellung gesteigert werden können. In gleicher Weise wirkt ein verkürzter, auf die Synopsis bezogener Zweitapparat, der die synoptische Darstellung der Textentwicklung durchsichtiger macht, indem er sie von allen Veränderungen geringer Bedeutung entlastet. Die als Kern der Edition konzipierte Synopsis gewinnt die erforderliche Flexibilität durch eine Kombination von zeilen-, zeilengruppen- und werkparallelisierenden Verfahren. Die historisch-genetische Reproduktion des Werkprozesses in der Synopsis wird jeweils ergänzt durch einen Abriß der Entstehungs- und Überlieferungsgeschichte des zu edierenden Werkes, durch die grafisch-schematische Darstellung und die detaillierte Beschreibung der Überlieferung sowie, falls erforderlich, durch die Wiedergabe von Paralipomena, Zeugnissen und Materialien. Die synoptische Darstellung der Textentwicklung enthebt den Herausgeber im Prinzip der Notwendigkeit, einen besonderen ‚Text‘ darzubieten. Um dem Benutzer jedoch die erste Bekanntschaft mit dem edierten Werk zu erleichtern,

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Gerhard Seidel

sollten die wichtigsten der für das Verständnis erforderlichen Textstufen in extenso mitgeteilt werden. Eine so beschaffene Edition kann in einem vertretbaren Zeitraum nur dann geschaffen werden, wenn bei ihrer Vorbereitung, Erarbeitung und Vervielfältigung ein Höchstmaß an wissenschaftlicher Kooperation erzielt wird. Der rationalen Grundlegung der Edition muß eine rationelle Technologie entsprechen. Die gesellschaftliche Rentabilität der Ausgabe kann erheblich gesteigert werden durch die Veröffentlichung von Zwischen- und Nebenergebnissen der editorischen Arbeit (Glossar) sowie durch den zweckmäßigen Einsatz technischer Hilfsmittel (Spezialschreibmaschinen, Lochband- und Lochkartentechnik), wirtschaftlicher Herstellungsmethoden (Kleinoffsetdruck) und moderner Publikationsformen (Lose-Blatt-Kassetten). […]

Zu den Autoren

Zu den Autoren

Zu den Autoren

Die folgenden Anmerkungen verzeichnen die Lebensdaten der Autoren. Hinzugefügt sind einige allgemeine Angaben zu Tätigkeitsbereichen sowie Hinweise auf editorische Arbeiten. REINHOLD BACKMANN, 1884–1947, promovierter Germanist, Lehrer. Ab 1908 Mitarbeiter an der von August Sauer herausgegebenen Grillparzer-Ausgabe, die er nach Sauers Tod 1926 als Herausgeber fortsetzte. Im Zusammenhang mit der Grillparzer-Ausgabe 1924 editionsmethodisch einschneidender Beitrag zur Bedeutung des Apparates in wissenschaftlichen Ausgaben. FRIEDRICH BEIßNER, 1905–1977, ab 1943 ao. Professor für Deutsche Philologie in Gießen, ab 1945 in Tübingen, dort Professor für Deutsche Sprache und Literatur ab 1946. Editorische Arbeiten zu den Handschriften Wielands (1938, mit Vorstellung eines neuartigen genetischen Verzeichnungsmodells), Mitherausgeber von Bd. 1 der Schiller-Nationalausgabe (1943), Herausgeber der Stuttgarter HölderlinAusgabe (1943–1977/85). Zahlreiche Publikationen zu editorischen Fragestellungen seit den 1930er Jahren. MICHAEL BERNAYS, 1834–1897, ab 1873 ao. Professor für Neuere Literatur in München, 1874–1890 dort o. Professor für Neuere Sprachen und Literaturen. Tätigkeitsschwerpunkte Shakespeare und Goethe, editorisch bedeutsam die Untersuchung zur Druckgeschichte von Goethes Werken (1866) und die Ausgabe der frühen Goethe-Werke bis 1775 Der junge Goethe (1875). JOHANN JACOB BODMER, 1698–1783, Dichtungstheoretiker, literarischer Autor, Übersetzer, Herausgebertätigkeit (vielfach zusammen mit Johann Jacob Breitinger). 1731–1775 Professor für Helvetische Geschichte in Zürich. Editionen mittelalterlicher und neuerer deutscher Texte. Editionsmethodisch bedeutsam die Ausgabe von Opitz-Gedichten (1745, mit Breitinger). JOHANN JACOB BREITINGER, 1701–1776, Theologe, Dichtungstheoretiker, Herausgebertätigkeit (vielfach zusammen mit Johann Jacob Bodmer). Ab 1731 Professor für Hebräisch in Zürich, später auch für Logik, Rhetorik und griechische Philologie. Editionsmethodisch bedeutsam die Ausgabe von Opitz-Gedichten (1745, mit Bodmer). JONAS FRÄNKEL, 1879–1965, 1921–1949 ao. Professor für Neuere Deutsche Literatur und Vergleichende Literaturgeschichte in Bern. U. a. Herausgeber der seit 1926 erscheinenden Gottfried Keller-Ausgabe, die ihm 1942 entzogen wurde. DIETRICH GERMANN, geb. 1926, Dr. phil., Archivrat, 1952–1956 Mitarbeiter der Historischen Kommission der Universität Jena, 1956–1964 Mitarbeiter an der Schiller-Nationalausgabe (Bd. 31) und 1956–1962 an der Heine-Säkularausgabe. 1966–1990 Archivar der sieben thüringischen Institute der Berliner Akademie der Wissenschaften. Arbeiten zur Wissenschafts- und Universitätsgeschichte; zu editorischen Fragestellungen Einzelpublikationen sowie das zweibändige Typoskript Grundsätze einer Heine-Ausgabe (1960). KARL GOEDEKE, 1814–1887, ab 1873 ao. Professor für Deutsche Literaturgeschichte in Göttingen. Editorisch bedeutsam ist vor allem die von ihm herausgegebene Schiller-Ausgabe, die erste sich „historischkritisch“ nennende neuphilologische Edition. HERMAN GRIMM, 1828–1901, 1873–1899 Professor für Kunstgeschichte in Berlin, Mitglied im Herausgebergremium der Weimarer Goethe-Ausgabe und Mitbegründer der Goethe-Gesellschaft.

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Zu den Autoren

JACOB GRIMM, 1785–1863, vielfältige bibliothekarische, philologische und politische Tätigkeit, einer der ‚Gründungsväter‘ der Deutschen Philologie, ab 1830 Professor in Göttingen bis zur politisch begründeten Entlassung 1837 (‚Göttinger Sieben‘), ab 1841 Lehrtätigkeit in Berlin. Wissenschaftshistorisch herausragende Publikationen u. a.: Deutsche Grammatik (1819–1837); Textsammlungen und Projekte mit seinem Bruder Wilhelm Grimm: Kinder- und Hausmärchen (1812–1815), Deutsche Sagen (1816–1818), Deutsches Wörterbuch (ab 1852; 1. Lfg.). ERNST GRUMACH, 1902–1967, klassischer Philologe, 1949–1957 Professor an der Humboldt-Universität Berlin, 1949–1959 Leitung der Ausgabe von Werken Goethes (erschienen seit 1952) an der Berliner Akademie der Wissenschaften, Herausgeber der deutschen Aristoteles-Gesamtausgabe (1956 ff.). KARL-HEINZ HAHN, 1921–1990, 1958–1986 Direktor des Goethe- und Schiller-Archivs in Weimar, ab 1964 Professor an der Universität Jena, 1974–1990 Präsident der Goethe-Gesellschaft in Weimar. Herausgeber u. a. von Schiller-Briefen und Werken Klopstocks, Brentanos und Arnims in der Bibliothek deutscher Klassiker (DDR), ab 1970 mit Pierre Grappin Leitung der dt.-frz. Heine-Säkularausgabe, Herausgeber der Regestausgabe Briefe an Goethe (1980 ff.). CARL HELBLING, 1897–1966, Lehrer, dann ao. Professor an der ETH Zürich. Übernahm 1942 die Jonas Fränkel entzogene Keller-Ausgabe. EDUARD VON DER HELLEN, 1863–1927, Archivar im Goethe- und Schiller-Archiv 1888–1894, 1901–1927 Lektor im Cotta-Verlag Stuttgart, Herausgeber der Goethe-Jubiläumsausgabe (1902–1912) und der Schiller-Säkularausgabe (1904/05), Bearbeiter zahlreicher Briefbände der Weimarer Goethe-Ausgabe. HELMUT HOLTZHAUER, 1912–1973, Bürgermeister von Leipzig 1946–1948, sächsischer Volksbildungsminister 1948–1951, Vorsitzender der Staatlichen Kunstkommission der DDR 1951–1953, Direktor, dann Generaldirektor der Nationalen Forschungs- und Gedenkstätten der klassischen deutschen Literatur in Weimar 1954–1971, ab 1960 Professor, ab 1962 Vizepräsident der Goethe-Gesellschaft, 1971–1973 Präsident. Herausgeber u. a. von Werken Goethes, Heines, Winckelmanns in der Bibliothek deutscher Klassiker (DDR). KLAUS KANZOG, geb. 1926, seit 1964 am Institut für Deutsche Philologie der Ludwig-MaximiliansUniversität München, Habilitation 1972, C-3-Professur 1978. Herausgeber der Werke Alfred Lichtensteins, Vorbereitung einer historisch-kritischen Ausgabe der Werke Heinrich von Kleists mit verschiedenen zugehörigen Publikationen; seit 1961 zahlreiche Publikationen zur Theorie und Geschichte der Editionsphilologie; von 1955 bis 1988 Redaktor, später Mitherausgeber des Reallexikons der deutschen Literaturgeschichte, seit 1989 Herausgeber der Reihe diskurs film Bibliothek; Verfasser der Einführung in die Editionsphilologie (1991) und der Einführung in die Filmphilologie (1991, 2. Aufl. 1997). WALTHER KILLY, 1917–1995, ab 1955 ao. Professor, ab 1959 o. Professor für Deutsche Philologie an der Freien Universität Berlin, ab 1960 in Göttingen, ab 1970 in Bern, ab 1978 Leiter des Forschungsprogramms der Herzog-August-Bibliothek in Wolfenbüttel. Editorisch von Bedeutung ist die mit Hans Szklenar herausgegebene Trakl-Ausgabe (1969). WILHELM KURRELMEYER, 1874–1957, 1907–1924 Assist., dann Assoc. Professor of German, 1924–1944 Professor of German in Baltimore/USA. U. a. Herausgeber mehrerer Bände der Wieland-Ausgabe. Editionsmethodisch bedeutsam sind seine Untersuchungen zu Doppeldrucken. KARL LACHMANN, 1793–1851, klassischer Philologe und Germanist, 1818–1825 ao. Professor für Theorie, Kritik und Literatur der schönen Künste und Wissenschaften in Königsberg, 1825–1827 ao. Professor für Klassische und deutsche Philologie in Berlin, ab 1827 dort o. Professor für Deutsche und Klassische Philologie. Begründer der nach ihm benannten textkritischen Methode. Editionen von Texten antiker, mittelalterlicher deutscher und neuerer deutscher Autoren (Lessing-Ausgabe 1838–1840). FRANZ MUNCKER, 1855–1926, ao. Professor für Neuere, insbes. Deutsche Literaturgeschichte in München ab 1890, Ordinarius für dasselbe als Nachfolger von Michael Bernays dort ab 1896. Editorisch hervorgetreten insbesondere mit der Neubearbeitung von Karl Lachmanns Lessing-Ausgabe (1886–1924). WILHELM SCHERER, 1841–1886, Professor für Deutsche Sprache und Literatur 1868–1872 in Wien, ab 1872 Professor in Straßburg, ab 1877 Professor für Neuere deutsche Literaturgeschichte in Berlin. Weitrei-

Zu den Autoren

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chender kulturpolitischer Einfluß. Im ursprünglichen Leitungsgremium der Weimarer Goethe-Ausgabe, Mitarbeit an deren Grundsätzen (1885/86). KURT SCHMIDT, keine Daten ermittelt. GERHARD SEIDEL, 1929–2000, Professor, 1977–1992 in Berlin Leiter des Bertolt-Brecht-Archivs der Akademie der Künste der DDR. Editionsmethodisch bedeutsam sind die Überlegungen zu einer BrechtAusgabe (1970, 21977) hinsichtlich der textgenetischen Darstellung und ihrem Verhältnis zu einem ‚edierten Text‘. HANS WERNER SEIFFERT, 1920–1985, ab 1951 Redakteur der Wieland-Ausgabe der Akademie der Wissenschaften der DDR, dann deren Herausgeber, ab 1963 Herausgeber der Ausgabe Wielands Briefwechsel, ab 1966 Professor, Lehre an der Humboldt-Universität Berlin. Verfasser des Artikels Edition im Reallexikon der deutschen Literaturgeschichte 1956/58 und eines grundlegenden Werkes zu editionsphilologischen Methoden und Verfahrensweisen 1963, 21969. BERNHARD SEUFFERT, 1853–1938, ao. Professor für Neuere deutsche Sprache und Literatur in Graz 1886– 1892, dort 1892–1924 o. Professor für dasselbe. Herausgeber der Deutschen Literaturdenkmale des 18. und 19. Jahrhunderts (1881–1890), Redaktionsmitglied der Weimarer Goethe-Ausgabe und Leiter der WielandAusgabe der Preußischen Akademie der Wissenschaften. BERNHARD SUPHAN, 1845–1911, ab 1887 Direktor des Weimarer Goethe-Archivs (ab 1889: Goethe- und Schiller-Archiv), ab 1887 hauptverantwortlicher Leiter der Weimarer Goethe-Ausgabe, Herausgeber von Herders Sämmtlichen Werken (1877–1911/13). MANFRED WINDFUHR, geb. 1930, Professor für Neuere Germanistik 1967–1969 an der Universität Bonn, 1969–1992 an der Universität Düsseldorf. Herausgeber der Düsseldorfer Heine-Ausgabe (1973–1997). Verschiedene Einzelausgaben. Publikationen zu editorischen Fragestellungen seit 1957. GEORG WITKOWSKI, 1863–1939, ab 1897 ao. Professor für Deutsche Sprache und Literatur in Leipzig, dort 1930/31 o. Professor für dasselbe. Emigration in die Niederlande 1939. Arbeiten zur Theorie und Praxis des Edierens, u. a. Textkritik und Editionstechnik neuerer Schriftwerke (1924). WINFRIED WOESLER, geb. 1939, 1981–2004 Professor für Literaturwissenschaft mit dem Schwerpunkt Neue deutsche Literatur in Osnabrück, Herausgeber der Droste-Hülshoff-Ausgabe (1978–2000), Herausgeber von editio. Internationales Jahrbuch für Editionswissenschaft (seit 1987, seit 1998 mit Bodo Plachta), Sprecher der Arbeitsgemeinschaft für germanistische Edition seit deren Gründung 1985. Verfasser zahlreicher Einzelpublikationen und Mitherausgeber mehrerer Sammelbände zu editorischen Fragestellungen sowie Herausgeber der wissenschaftlichen Reihen Beihefte zu editio und Arbeiten zur Editionswissenschaft. HANS ZELLER, geb. 1926, 1965–1968 Professor für Neuere deutsche Literatur an der Universität Zürich, 1968–1992 Professor für dasselbe an der Universität Freiburg/Schweiz. U. a. Mitherausgeber der C. F. Meyer-Ausgabe (1958–1996) und Herausgeber von C. F. Meyers Briefwechsel (1998 ff.); zahlreiche Publikationen zu Theorie und Praxis der Editionsphilologie seit den 1950er Jahren; Mitherausgeber der Sammelbände Texte und Varianten (1971) und Textgenetische Edition (1998).

Bibliographische Nachweise

Bibliographische Nachweise

Bibliographische Nachweise

[Johann Jacob Bodmer, Johann Jacob Breitinger:] Vorrede der Herausgeber. In: Martin Opitzens Von Boberfeld Gedichte. Von J. J. B. und J. J. B. besorget. Erster Theil. Zürich: Conrad Orell und Comp. 1745, Bl. 2r–7v. Karl Lachmann: Gotthold Ephraim Lessings sämmtliche Schriften, herausgegeben von Karl Lachmann. Band I–XIII. Berlin, Voss. 1838–1840; zit. nach: Martin Hertz: Karl Lachmann. Eine Biographie. Berlin: Verlag von Wilhelm Hertz 1851, S. XVII–XXIV [Abdruck nach Lachmanns Handschrift vom 20.–22. Dezember 1840 als Druckvorlage für Literarische Zeitung, Nr. 1, 6. Januar 1841 (Verlag Duncker und Humblot, Berlin); von Duncker nach erfolgtem Satz vom Druck suspendiert; vgl. Hertz 1851, S. 168 f.] Jacob Grimm: Rede auf Schiller. Gehalten in der feierlichen Sitzung der Königl. Akademie der Wissenschaften am 10. November 1859. Zweiter Abdruck. Berlin: Ferd. Dümmlers Verlagsbuchhandlung 1859, 43 S., S. 38–43. Michael Bernays: Über Kritik und Geschichte des Goetheschen Textes. Berlin: Ferd. Dümmler’s Verlagsbuchhandlung (Harrwitz und Gossmann) 1866, 90 S., S. 3–9, 79–89. [Der originale Antiquadruck verwendet für ‚ß‘ aufeinanderfolgendes ‚langes‘ und ‚rundes s‘. Die Korrigenda ebd., S. 90 sind bei der Textwiedergabe berücksichtigt.] K. Goedeke: Vorwort. In: Schillers sämmtliche Schriften. Historisch-kritische Ausgabe. Im Verein mit A. Ellissen, R. Köhler, W. Müldener, H. Oesterley, H. Sauppe und W. Vollmer von Karl Goedeke. Stuttgart: Verlag der J. G. Cotta’schen Buchhandlung. Theil 11: Gedichte. Hrsg. von Karl Goedeke. 1871, S. V– XIV, hier S. V–VIII, XIV; Theil 15,1: Letzte Dichtungen und Nachlaß. Hrsg. von Karl Goedeke. 1876, S. V f.; Theil 15,2: Nachlaß (Demetrius). Hrsg. von Karl Goedeke. 1876, S. V–VIII. Wilhelm Scherer: Über die Anordnung Goethescher Schriften. III. In: Goethe-Jahrbuch 5, 1884, S. 257– 287, hier S. 282, 284–287. Franz Muncker: Vorrede. In: Gotthold Ephraim Lessings sämtliche Schriften. Hrsg. von Karl Lachmann. Dritte, auf’s neue durchgesehene und vermehrte Auflage, besorgt durch Franz Muncker. Bd. 1. Stuttgart: G. J. Göschen’sche Verlagshandlung 1886, S. V–XVI. Herman Grimm: Vorwort. In: Goethes Werke. Hrsg. im Auftrage der Großherzogin Sophie von Sachsen. [Abt. I]. Bd. 1. Weimar: Hermann Böhlau 1887, S. XI–XVII. Bernhard Suphan (im Namen der Redactoren): Vorbericht. In: Goethes Werke. Hrsg. im Auftrage der Großherzogin Sophie von Sachsen. [Abt. I]. Bd. 1. Weimar: Hermann Böhlau 1887, S. XVIII–XXV. Bernhard Seuffert: Prolegomena zu einer Wieland-Ausgabe. III. IV. Im Auftrage der Deutschen Kommission entworfen von ihrem außerordentlichen Mitglied. Berlin 1905 (Abhandlungen der Königlich Preußischen Akademie der Wissenschaften aus dem Jahre 1905. Phil.-hist. Abhandlungen nicht zur Akademie gehöriger Gelehrter. II), S. 51–61: IV. Gestaltung des Textes und Einrichtung des Apparates. Goethes Sämtliche Werke. Jubiläums-Ausgabe in 40 Bänden. In Verbindung mit Konrad Burdach u. a. hrsg. von Eduard von der Hellen. Bd. 10: Götz von Berlichingen. Mit Einleitung und Anmerkungen von Eduard von der Hellen. Stuttgart, Berlin: J. G. Cotta’sche Buchhandlung Nachfolger [1906], S. 255–257.

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Bibliographische Nachweise

W. Kurrelmeyer: Die Doppeldrucke in ihrer Bedeutung für die Textgeschichte von Wielands Werken. Berlin 1913 (Abhandlungen der Königlich Preußischen Akademie der Wissenschaften. Jg. 1913. Phil.-hist. Classe. Nr. 7), S. 3–8: Einleitung: Über Doppeldrucke. Georg Witkowski: Grundsätze kritischer Ausgaben neuerer deutscher Dichterwerke. In: Funde und Forschungen. Eine Festgabe für Julius Wahle zum 15. Februar 1921. Dargebracht von Werner Deetjen u. a. Leipzig: Inselverlag 1921, S. 216–226. Georg Witkowski: Textkritik und Editionstechnik neuerer Schriftwerke. Ein methodologischer Versuch. Leipzig: H. Haessel Verlag 1924, 171 S., S. 169 (Inhaltsverzeichnis), 1–3, 19–31, 37–41, 59–100. Reinhold Backmann: Die Gestaltung des Apparates in den kritischen Ausgaben neuerer deutscher Dichter. (Mit besonderer Berücksichtigung der großen Grillparzer-Ausgabe der Stadt Wien). In: Euphorion 25, 1924, S. 629–662, hier S. 629–649. Jonas Fränkel: Die Gottfried Keller-Ausgaben. Ein Kapitel neuester Philologie. In: Euphorion 29, 1928, S. 138–174, hier S. 138–140 [Der Aufsatz wurde leicht bearbeitet wiederabgedruckt in: Jonas Fränkel: Dichtung und Wissenschaft. Heidelberg: Verlag Lambert Schneider 1954, S. 96–151]. Kurt Schmidt: Die Entwicklung der Grimmschen Kinder- und Hausmärchen seit der Urhandschrift. Nebst einem kritischen Texte der in die Drucke übergegangenen Stücke. Halle/Saale: Max Niemeyer Verlag 1932 (Hermaea. 30), XII, 384 S., hier S. VII f., 82 f. Neue Wieland-Handschriften. Aufgefunden und mitgeteilt von Friedrich Beißner. Berlin: Verlag der Akademie der Wissenschaften in Kommission bei Walter de Gruyter u. Co. 1938 (Abhandlungen der Preußischen Akademie der Wissenschaften. Jg. 1937. Phil.-hist. Klasse. Nr. 13), S. 3–6. Carl Helbling: Arbeit an der Gottfried Keller-Ausgabe. Bern-Bümpliz: Verlag Benteli [1945], 38 S., S. 21 f., 26 f., 36–38. Ernst Grumach: Prolegomena zu einer Goethe-Ausgabe. In: Goethe. Neue Folge des Jahrbuchs der GoetheGesellschaft 12, 1950 [1951], S. 60–88, hier S. 63–67, 87 [wiederabgedruckt in: Beiträge zur Goetheforschung. Hrsg. von Ernst Grumach. Berlin: Akademie-Verlag 1959 (Deutsche Akademie der Wissenschaften zu Berlin. Veröffentlichungen des Instituts für deutsche Sprache und Literatur. 16), S. 1–34]. Ernst Grumach: Aufgaben und Probleme der modernen Goetheedition. In: Wissenschaftliche Annalen zur Verbreitung neuer Forschungsergebnisse. Hrsg. von der Deutschen Akademie der Wissenschaften zu Berlin. Jg. 1. H. 1. Berlin: Akademie-Verlag April 1952, S. 3–11. Hans Werner Seiffert: Edition. In: Reallexikon der deutschen Literaturgeschichte. Begründet von Paul Merker und Wolfgang Stammler. 2. Aufl. Neu bearb. und unter redaktioneller Mitarbeit von Klaus Kanzog sowie Mitwirkung zahlreicher Fachgelehrter hrsg. von Werner Kohlschmidt und Wolfgang Mohr. Bd. 1: A–K. Berlin: Walter de Gruyter & Co. 1958, S. 313–320; der Beitrag erschien 1956 innerhalb der Lieferung 4. Manfred Windfuhr: Die neugermanistische Edition. Zu den Grundsätzen kritischer Gesamtausgaben. In: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 31, 1957, S. 425–442 [wiederabgedruckt in: Methodenfragen der deutschen Literaturwissenschaft. Hrsg. von Reinhold Grimm und Jost Hermand. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1973 (Wege der Forschung. 290), S. 295–324 mit einem einseitigen „Nachtrag (1972)“]. Hans Zeller: Zur gegenwärtigen Aufgabe der Editionstechnik. Ein Versuch, komplizierte Handschriften darzustellen. In: Euphorion 52, 1958, S. 356–377. Walther Killy: Der Helian-Komplex in Trakls Nachlaß mit einem Abdruck der Texte und einigen editorischen Erwägungen. In: Euphorion 53, 1959, S. 380–418, hier S. 406–411. Jonas Fränkel: Zum Problem der Wiedergabe von Lesarten. In: Euphorion 53, 1959, S. 419–421. Grundlagen der Goethe-Ausgabe. Ausgearbeitet von den Mitarbeitern der Goethe-Ausgabe. Als Manuskript vervielfältigt! [1961], I + 43 S., S. 1–6, 8–11, 16 f., 19, 21–25 [Der Abdruck hier folgt dem in Umlauf

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gelangten Typoskript. – Der Erstdruck der intern weiter bearbeiteten bzw. ergänzten Fassung in: Siegfried Scheibe: Kleine Schriften zur Editionswissenschaft. Berlin: Weidler Buchverlag 1997 (Berliner Beiträge zur Editionswissenschaft. 1), S. 245–272; dort S. 272, Anm. 1: „Ausgearbeitet in den Jahren 1959–1961 von den damaligen Mitarbeitern der Goethe-Ausgabe bei der Deutschen Akademie der Wissenschaften zu Berlin Ilse-Marie Barth, Klaus Baumgärtner, Waltraud Hagen, Inge Jensen, Erich Mater, Helmut Praschek, Siegfried Scheibe sowie Hanna Fischer-Lamberg (Halle) und Edith Nahler und Horst Nahler (Weimar)“]. Dietrich Germann: Zu Fragen der Darbietung von Lesarten in den Ausgaben neuerer Dichter. In: Weimarer Beiträge 8, 1962, S. 168–188, hier S. 168–171, 184–188. Hans Werner Seiffert: Untersuchungen zur Methode der Herausgabe deutscher Texte. Berlin: AkademieVerlag 1963 (Deutsche Akademie der Wissenschaften zu Berlin. Veröffentlichungen des Instituts für deutsche Sprache und Literatur. 28), 222 S., S. 3, 11–14, 37–44, 93, 107 f., 117, 208 [Eine zweite unveränderte Auflage erschien 1969]. Friedrich Beißner: Editionsmethoden der neueren deutschen Philologie. In: Zeitschrift für deutsche Philologie 83, 1964, Sonderheft zur Tagung der deutschen Hochschulgermanisten vom 27. bis 31. Oktober 1963 in Bonn, S. 72–95, Aussprache S. 95 f. Hans Zeller: Textkritik. II. Neuere Philologie. In: Das Fischer Lexikon. Literatur II. Zweiter Teil. Hrsg. von Wolf-Hartmut Friedrich und Walther Killy. Frankfurt/Main: Fischer Bücherei 1965, S. 558–563. Hans Zeller: Edition und Interpretation. Antrittsvorlesung. In: zürcher student, 43. Jg., Nr. 7, Januar 1966, S. 15 und 19; die Antrittsvorlesung wurde am 18. 12. 1965 gehalten. Karl-Heinz Hahn, Helmut Holtzhauer: Wissenschaft auf Abwegen? Zur Edition von Werken der neueren deutschen Literatur. In: forschen und bilden. Mitteilungen aus den Nationalen Forschungs- und Gedenkstätten der klassischen deutschen Literatur in Weimar 1, 1966, S. 2–22. Winfried Woesler: Probleme der Editionstechnik. Überlegungen anläßlich der neuen kritischen Ausgabe des ‚Geistlichen Jahres‘ der Annette von Droste-Hülshoff. Münster: Verlag Aschendorff 1967, 29 S., S. 3, 6–10, 12–20, 22–29. Klaus Kanzog: Prolegomena zu einer historisch-kritischen Ausgabe der Werke Heinrich von Kleists. Theorie und Praxis einer modernen Klassiker-Edition. München: Carl Hanser Verlag 1970, 239 S., S. 5, 14–29. Gerhard Seidel: Die Funktions- und Gegenstandsbedingtheit der Edition. Untersucht an poetischen Werken Bertolt Brechts. Berlin: Akademie-Verlag 1970 (Deutsche Akademie der Wissenschaften zu Berlin. Veröffentlichungen des Instituts für deutsche Sprache und Literatur. 46. Reihe E: Quellen und Hilfsmittel zur Literaturgeschichte), 293 S., S. 5–7, 21, 193 f. [später erweitert unter dem Titel: Gerhard Seidel: Bertolt Brecht – Arbeitsweise und Edition. Das literarische Werk als Prozeß. Berlin: Akademie-Verlag bzw. Stuttgart: J. B. Metzler 1977].