Diversität und soziale Ungleichheit: Herausforderungen an die Integrationsleistung der Grundschule [1. Aufl. 2020] 978-3-658-27528-0, 978-3-658-27529-7

Dieser Sammelband diskutiert den Stand der Grundschulforschung zu Fragen von Diversität und sozialer Ungleichheit sowie

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Diversität und soziale Ungleichheit: Herausforderungen an die Integrationsleistung der Grundschule [1. Aufl. 2020]
 978-3-658-27528-0, 978-3-658-27529-7

Table of contents :
Front Matter ....Pages I-X
Front Matter ....Pages 1-1
Diversität und soziale Ungleichheit als Herausforderung an die Grundschule (Nina Skorsetz, Marina Bonanati, Diemut Kucharz)....Pages 2-7
Front Matter ....Pages 8-8
Differenz – die pädagogische Herausforderung in der Schule für alle Kinder (Isabell Diehm)....Pages 9-19
Neu zugewanderte Kinder im Bildungs- und Aufnahmesystem – Kindheitstheoretische und erziehungswissenschaftliche Verortungen (Charlotte Röhner)....Pages 20-29
Aktuelle Herausforderungen in der Erforschung von sozialer Ungleichheit und Benachteiligung im Bildungssystem aus Sicht quantitativer und qualitativer methodischer Zugänge (Astrid Jurecka, Anja Hackbarth)....Pages 30-39
Front Matter ....Pages 40-40
Zum (prekären) Selbstverständnis der Grundschule als „Schule für alle Kinder“ (Friederike Heinzel, Ralf Parade)....Pages 41-45
Kinder nach Flucht und Migration – Herausforderungen an die Integrationskraft des Schul- und Aufnahmesystems (Charlotte Röhner, Yvonne Decker-Ernst, Samira Salem, Nora Hettich)....Pages 46-57
Kinder als ungleiche Akteure in der Schule und im Verhältnis zur Familie. Blinde Flecke in der Erforschung von ungleichen Bildungschancen (Tanja Betz, Marina Bonanati, Nicoletta Eunicke, Nicole Gölz, Laura Layer, Florian Wohlkinger)....Pages 58-69
„Nicht normal?“ – Die frühe Produktion von Differenz und Risiko in der Zusammenarbeit zwischen Kita und Frühförderung (Catalina Hamacher, Simone Seitz)....Pages 70-74
Schulentwicklung unter den Bedingungen urbanen Strukturwandels: Sicherung von Heterogenität durch Homogenisierung der Klassen? (Nina Bohlmann, Corinna Gottmann, Jörg Ramseger)....Pages 75-79
Die Erhebung von Diversitätsmerkmalen im Hilfsschulaufnahmeverfahren – eine historische Analyse von Schülerpersonalbögen aus der BRD (Lisa Sauer, Michaela Vogt)....Pages 80-84
Darstellungen der Gesamtpersönlichkeit des überprüften Primarschülers in der DDR im diachronen Wandel (Agneta Floth, Michaela Vogt)....Pages 85-89
Front Matter ....Pages 90-90
Zur Bedeutung von Integrationserfahrungen in der Grundschulzeit aus der Retroperspektive junger Erwachsener: eine Interviewstudie (Jana Ogrodowski)....Pages 91-95
Diversität – Normativität – Normalität: Was Studierendeninteraktionen beim Besprechen von Vielfalt über Normativität und Normalität verraten (Julian Storck-Odabasi)....Pages 96-100
„Das Schräge, das liegt mir sehr“ – Abweichendes Verhalten von Schüler*innen als Belastung? (Ralf Parade)....Pages 101-105
Sortierte Kindheit? Orientierungen pädagogischer Akteure zu Bildungsbenachteiligung (Pia Rother)....Pages 106-110
Sozialisatorisches und pädagogisches Handeln von Lehrkräften an Grundschulen mit privilegiertem und benachteiligtem Milieu (Frederick de Moll)....Pages 111-115
Integration von geflüchteten Kindern in der Grundschule. Ergebnisse einer Interviewstudie zu Chancen und Herausforderungen aus der Perspektive von Lehrkräften (Eva-Maria Kirschhock, Andreas Drobny)....Pages 116-120
Wie wirken sich Migrationshintergrund und sozioökonomischer Status auf die Beurteilung nicht-kognitiver Kompetenzen aus? (Ulrike Semmler-Busch, Tobias Koch)....Pages 121-125
Formierung elterlicher Bildungsentscheidungen vor und nach der Reform des Bildungssystems in Baden-Württemberg (Thomas Wiedenhorn, Oliver Semmelroch)....Pages 126-130
Front Matter ....Pages 131-131
Die Illusion der Kompensation? Didaktische Differenzierung als (Re-)Produktionsmechanismus von Bildungsungleichheit im Grundschulunterricht (Torsten Eckermann, Michael Meier)....Pages 132-143
Enttäuschte Gleichheitserwartungen – Diagnostische Praktiken am Schulanfang im historischen Prozess (Katrin Liebers)....Pages 144-148
Förderkonzepte an Grundschulen – eine Studie zu good-practice Schulen (Sandra Langer, Stefanie Schnebel)....Pages 149-153
Lernentwicklungsgespräche – Umsetzung lernunterstützender Rückmeldung (Sonja Dollinger)....Pages 154-158
Heterogenität kompetent begegnen – Einblicke in die subjektiven Sichtweisen von Grundschullehrer*innen (Eva-Kristina Franz)....Pages 159-163
Partizipation im Unterricht: Der Besprechungstisch (Elke Hildebrandt, Katja Maischatz)....Pages 164-168
Beschämung im unterrichtlichen Anerkennungsgeschehen der Grundschule (Juliane Spiegler)....Pages 169-173
Lernatmosphären und ihre Bedeutung für das Lernen in heterogenen Grundschulklassen (Agnes Pfrang)....Pages 174-178
Unterschiedliche Lernvoraussetzungen am außerschulischen Lernort (Robert Baar, Fabian Hofmann, Katharina Kindermann, Benjamin Moritz, Gudrun Schönknecht)....Pages 179-183
Front Matter ....Pages 184-184
Wie Fach- und Lehrkräfte die deutsche Sprache am Übergang Kita-Grundschule fördern (Karin Kämpfe, Tanja Betz)....Pages 185-189
Gestaltung von Anschlussfähigkeit im Übergang von der Kindertageseinrichtung in die Grundschule (Vanessa Henke)....Pages 190-194
Umgang mit Mehrsprachigkeit in sprachbildenden Aktivitäten am Übergang in die Grundschule (Ezgi Erdogan, Ulrich Mehlem)....Pages 195-199
Erstsprachen im Unterricht? Ergebnisse der BLUME-Studie zu den Überzeugungen von Grundschullehrkräften (Sarah Désirée Lange, Sanna Pohlmann-Rother, Verena Hohm)....Pages 200-205
Sprache fördern? – am besten alle! (Esra Hack-Cengizalp)....Pages 206-210
Lernen in Willkommensklassen – Umgang mit Differenz und mimetische Zugänge zu Sprachwissen (Serafina Morrin)....Pages 211-215
Handschriften und Automatisierung des Schreibens in der 4. Jahrgangsstufe (Eva Odersky)....Pages 216-220
Front Matter ....Pages 221-221
Schüler*innen mit unterschiedlichen (Lern-)Voraussetzungen im ‚Fachgespräch‘ – Mikroperspektiven auf videografierte Unterrichtsszenen (Heike de Boer, Marina Bonanati, Marek Breuning, Daniela Jähn, Sandra Last, Matthea Wagener)....Pages 222-233
Adaptives Lernen durch Mapping (Heiko Oberfell, Katrin Lohrmann)....Pages 234-238
Modellierung fachdidaktischen Wissens für inklusiven Sachunterricht (Theresa Mester)....Pages 239-243
Experimente-Labore als Orte zur Sensibilisierung für Diversität im Sachunterricht der Grundschule (Ulrike Eschrich, Nicole Henrich)....Pages 244-248
Systemizing und Empathizing als Erklärungsansatz für die unterschiedliche Motivation von Vorschulkindern, sich mit Naturphänomenen zu beschäftigen (Nina Skorsetz, Manuela Welzel-Breuer)....Pages 249-254
Potenziale des Zeichnens für heterogene Lerngruppen (Heiner Oberhauser, Gudrun Schönknecht)....Pages 255-259
Diversität im Mathematikunterricht der Grundschule – Einblick in eine empirische Studie zu Gelingensbedingungen aus Sicht von Expert*innen (Timo Dexel)....Pages 260-264
Partizipation an kollektiven Lernsituationen in jahrgangsgemischtem Unterricht – eine mathematikdidaktische Perspektive (Rachel-Ann Friesen)....Pages 265-270
Front Matter ....Pages 271-271
Patenschaftsprojekte als Beitrag zu einer inklusiven Lehrer*innenbildung (Christina Heise)....Pages 272-276
Belastende Fälle in inklusiven Settings – erste Ergebnisse aus dem Kooperationsprojekt BISU (Sabine Martschinke, Christian Elting, Miriam Grüning, Bärbel Kopp, Cornelia Niessen, Carina Schröder)....Pages 277-281
Sichtweisen auf und Umgang mit Differenz von Grund- und Förderschullehrkräften in inklusiven Settings (Katrin Velten, Katharina Schitow, Susanne Miller)....Pages 282-286
Sichtweisen von Grundschullehrkräften auf die Qualität inklusiven Unterrichts (Gamze Görel, Nils Finke, Frank Hellmich)....Pages 287-291
Typisch Kunstpädagogik? Inklusionsbezogene Überzeugungen angehender Kunstlehrkräfte (Michaela Kaiser, Andreas Brenne)....Pages 292-296
Front Matter ....Pages 297-297
Umgang mit Diversität – der Beitrag von Mentoringund Lernpatenprojekten für Professionalisierung und Praxiserfahrungen angehender Lehrkräfte (Elke Inckemann, Anne Frey, Anna Lautenschlager, Cornelia Prestel, Heike deBoer, Anne Peters et al.)....Pages 298-309
Kindliche Lebenswirklichkeit aus der Perspektive von Lehramtsstudierenden: „Ich verstehe jetzt, warum er in der Schule so motiviert ist!“ (Catania Pieper, Brigitte Kottmann)....Pages 310-314
Professionswissen von Sachunterrichtsstudierenden zu Digitaler und Informatischer Bildung (Eva Gläser)....Pages 315-319
Soziale Standorte frühpädagogischer Fachkräfte – Eine vernachlässigte Dimension der Professionalisierungsdebatte? (Stefanie Bischoff)....Pages 320-324
Förderung der professionellen Wahrnehmung von sprachsensiblem Unterricht im Masterstudium (Oliver Grewe, Mareike Bohrmann, Kornelia Möller)....Pages 325-329
Professionalisierung von Lehrkräften zur bedeutungsfokussierten Sprachförderung im Sachunterricht der Grundschule: Das Projekt ProSach (Rosa Hettmannsperger, Katrin Gabler, Susanne Mannel, Ilonca Hardy, Sofie Henschel, Birgit Heppt et al.)....Pages 330-334

Citation preview

Jahrbuch Grundschulforschung

Nina Skorsetz · Marina Bonanati · Diemut Kucharz Hrsg.

Diversität und soziale Ungleichheit Herausforderungen an die Integrationsleistung der Grundschule

Jahrbuch Grundschulforschung Band 24

Weitere Bände in der Reihe http://www.springer.com/series/12674

Nina Skorsetz · Marina Bonanati · Diemut Kucharz (Hrsg.)

Diversität und soziale Ungleichheit Herausforderungen an die Integrationsleistung der Grundschule

Hrsg. Nina Skorsetz Institut für Pädagogik der Elementar- und Primarstufe Goethe-Universität Frankfurt Frankfurt am Main, Deutschland

Marina Bonanati Institut für Pädagogik der Elementar- und Primarstufe Goethe-Universität Frankfurt Frankfurt am Main, Deutschland

Diemut Kucharz Institut für Pädagogik der Elementar- und Primarstufe Goethe-Universität Frankfurt Frankfurt am Main, Deutschland

Jahrbuch Grundschulforschung ISBN 978-3-658-27529-7  (eBook) ISBN 978-3-658-27528-0 https://doi.org/10.1007/978-3-658-27529-7 Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. Springer VS © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung, die nicht ausdrücklich vom Urheberrechtsgesetz zugelassen ist, bedarf der vorherigen Zustimmung des Verlags. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Bearbeitungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Die Wiedergabe von allgemein beschreibenden Bezeichnungen, Marken, Unternehmensnamen etc. in diesem Werk bedeutet nicht, dass diese frei durch jedermann benutzt werden dürfen. Die Berechtigung zur Benutzung unterliegt, auch ohne gesonderten Hinweis hierzu, den Regeln des Markenrechts. Die Rechte des jeweiligen Zeicheninhabers sind zu beachten. Der Verlag, die Autoren und die Herausgeber gehen davon aus, dass die Angaben und Informa­ tionen in diesem Werk zum Zeitpunkt der Veröffentlichung vollständig und korrekt sind. Weder der Verlag, noch die Autoren oder die Herausgeber übernehmen, ausdrücklich oder implizit, Gewähr für den Inhalt des Werkes, etwaige Fehler oder Äußerungen. Der Verlag bleibt im Hinblick auf geografische Zuordnungen und Gebietsbezeichnungen in veröffentlichten Karten und Institutionsadressen neutral. Springer VS ist ein Imprint der eingetragenen Gesellschaft Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH und ist ein Teil von Springer Nature. Die Anschrift der Gesellschaft ist: Abraham-Lincoln-Str. 46, 65189 Wiesbaden, Germany

Inhaltsverzeichnis 1

Einleitung ............................................................................. 1

Nina Skorsetz, Marina Bonanati und Diemut Kucharz Diversität und soziale Ungleichheit als Herausforderung an die Grundschule .... 2

2

Einführende Beiträge zu Diversität und sozialer Ungleichheit ......................................................................... 8

Isabell Diehm Differenz – die pädagogische Herausforderung in der Schule für alle Kinder ..... 9 Charlotte Röhner Neu zugewanderte Kinder im Bildungs- und Aufnahmesystem – Kindheitstheoretische und erziehungswissenschaftliche Verortungen ............... 20 Astrid Jurecka und Anja Hackbarth Aktuelle Herausforderungen in der Erforschung von sozialer Ungleichheit und Benachteiligung im Bildungssystem aus Sicht quantitativer und qualitativer methodischer Zugänge .................................................................... 30

3

Strukturelle Mechanismen von sozialer Ungleichheit ... 40

Friederike Heinzel und Ralf Parade Zum (prekären) Selbstverständnis der Grundschule als „Schule für alle Kinder“............................................................................................................... 41 Charlotte Röhner, Yvonne Decker-Ernst, Samira Salem und Nora Hettich Kinder nach Flucht und Migration – Herausforderungen an die Integrationskraft des Schul- und Aufnahmesystems ............................................................. 46 Tanja Betz, Marina Bonanati, Nicoletta Eunicke, Nicole Gölz, Laura Layer und Florian Wohlkinger Kinder als ungleiche Akteure in der Schule und im Verhältnis zur Familie. Blinde Flecke in der Erforschung von ungleichen Bildungschancen ................. 58 Catalina Hamacher und Simone Seitz „Nicht normal?“ – Die frühe Produktion von Differenz und Risiko in der Zusammenarbeit zwischen Kita und Frühförderung .......................................... 70

VI

Inhaltsverzeichnis

Nina Bohlmann, Corinna Gottmann und Jörg Ramseger Schulentwicklung unter den Bedingungen urbanen Strukturwandels: Sicherung von Heterogenität durch Homogenisierung der Klassen? ................. 75 Lisa Sauer und Michaela Vogt Die Erhebung von Diversitätsmerkmalen im Hilfsschulaufnahmeverfahren – eine historische Analyse von Schülerpersonalbögen aus der BRD ............................................................................................................. 80 Agneta Floth und Michaela Vogt Darstellungen der Gesamtpersönlichkeit des überprüften Primarschülers in der DDR im diachronen Wandel .................................................................... 85

4

Akteursperspektiven im Kontext von sozialer Ungleichheit ....................................................................... 90

Jana Ogrodowski Zur Bedeutung von Integrationserfahrungen in der Grundschulzeit aus der Retroperspektive junger Erwachsener: eine Interviewstudie ....................... 91 Julian Storck-Odabasi Diversität – Normativität – Normalität: Was Studierendeninteraktionen beim Besprechen von Vielfalt über Normativität und Normalität verraten ....... 96 Ralf Parade „Das Schräge, das liegt mir sehr“ – Abweichendes Verhalten von Schüler*innen als Belastung? .......................................................................... 101 Pia Rother Sortierte Kindheit? Orientierungen pädagogischer Akteure zu Bildungsbenachteiligung .................................................................................. 106 Frederick de Moll Sozialisatorisches und pädagogisches Handeln von Lehrkräften an Grundschulen mit privilegiertem und benachteiligtem Milieu......................... 111 Eva-Maria Kirschhock und Andreas Drobny Integration von geflüchteten Kindern in der Grundschule. Ergebnisse einer Interviewstudie zu Chancen und Herausforderungen aus der Perspektive von Lehrkräften ............................................................................ 116

Inhaltsverzeichnis

VII

Ulrike Semmler-Busch und Tobias Koch Wie wirken sich Migrationshintergrund und sozioökonomischer Status auf die Beurteilung nicht-kognitiver Kompetenzen aus? ................................. 121 Thomas Wiedenhorn und Oliver Semmelroch Formierung elterlicher Bildungsentscheidungen vor und nach der Reform des Bildungssystems in Baden-Württemberg.................................................. 126

5

Umgang mit Diversität in der Grundschule ................. 131

Torsten Eckermann und Michael Meier Die Illusion der Kompensation? Didaktische Differenzierung als (Re-) Produktionsmechanismus von Bildungsungleichheit im Grundschulunterricht .......................................................................................................... 132 Katrin Liebers Enttäuschte Gleichheitserwartungen – Diagnostische Praktiken am Schulanfang im historischen Prozess ........................................................................ 144 Sandra Langer und Stefanie Schnebel Förderkonzepte an Grundschulen – eine Studie zu good-practice Schulen ..... 149 Sonja Dollinger Lernentwicklungsgespräche – Umsetzung lernunterstützender Rückmeldung............................................................................................................ 154 Eva-Kristina Franz Heterogenität kompetent begegnen – Einblicke in die subjektiven Sichtweisen von Grundschullehrer*innen ................................................................ 159 Elke Hildebrandt und Katja Maischatz Partizipation im Unterricht: Der Besprechungstisch ........................................ 164 Juliane Spiegler Beschämung im unterrichtlichen Anerkennungsgeschehen der Grundschule ............................................................................................................... 169 Agnes Pfrang Lernatmosphären und ihre Bedeutung für das Lernen in heterogenen Grundschulklassen ........................................................................................... 174

VIII

Inhaltsverzeichnis

Robert Baar, Fabian Hofmann, Katharina Kindermann, Benjamin Moritz und Gudrun Schönknecht Unterschiedliche Lernvoraussetzungen am außerschulischen Lernort............. 179

6

Umgang mit sprachlicher Diversität ............................. 184

Karin Kämpfe und Tanja Betz Wie Fach- und Lehrkräfte die deutsche Sprache am Übergang KitaGrundschule fördern ........................................................................................ 185 Vanessa Henke Gestaltung von Anschlussfähigkeit im Übergang von der Kindertageseinrichtung in die Grundschule ..................................................... 190 Ezgi Erdogan und Ulrich Mehlem Umgang mit Mehrsprachigkeit in sprachbildenden Aktivitäten am Übergang in die Grundschule........................................................................... 195 Sarah Désirée Lange, Sanna Pohlmann-Rother und Verena Hohm Erstsprachen im Unterricht? Ergebnisse der BLUME-Studie zu den Überzeugungen von Grundschullehrkräften .................................................... 200 Esra Hack-Cengizalp Sprache fördern? – am besten alle! .................................................................. 206 Serafina Morrin Lernen in Willkommensklassen – Umgang mit Differenz und mimetische Zugänge zu Sprachwissen ................................................................................ 211 Eva Odersky Handschriften und Automatisierung des Schreibens in der 4. Jahrgangsstufe .................................................................................................................. 216

7

Fachdidaktischer Umgang mit Diversität..................... 221

Heike de Boer, Marina Bonanati, Marek Breuning, Daniela Jähn, Sandra Last und Matthea Wagener Schüler*innen mit unterschiedlichen (Lern-)Voraussetzungen im ‚Fachgespräch‘ – Mikroperspektiven auf videografierte Unterrichtsszenen .... 222 Heiko Oberfell und Katrin Lohrmann Adaptives Lernen durch Mapping .................................................................... 234

Inhaltsverzeichnis

IX

Theresa Mester Modellierung fachdidaktischen Wissens für inklusiven Sachunterricht .......... 239 Ulrike Eschrich und Nicole Henrich Experimente-Labore als Orte zur Sensibilisierung für Diversität im Sachunterricht der Grundschule ....................................................................... 244 Nina Skorsetz und Manuela Welzel-Breuer Systemizing und Empathizing als Erklärungsansatz für die unterschiedliche Motivation von Vorschulkindern, sich mit Naturphänomenen zu beschäftigen ......................................................................................................... 249 Heiner Oberhauser und Gudrun Schönknecht Potenziale des Zeichnens für heterogene Lerngruppen .................................... 255 Timo Dexel Diversität im Mathematikunterricht der Grundschule – Einblick in eine empirische Studie zu Gelingensbedingungen aus Sicht von Expert*innen ...... 260 Rachel-Ann Friesen Partizipation an kollektiven Lernsituationen in jahrgangsgemischtem Unterricht – eine mathematikdidaktische Perspektive ..................................... 265

8

Professionalisierung für inklusive Settings................... 271

Christina Heise Patenschaftsprojekte als Beitrag zu einer inklusiven Lehrer*innenbildung ..... 272 Sabine Martschinke, Christian Elting, Miriam Grüning, Bärbel Kopp, Cornelia Niessen und Carina Schröder Belastende Fälle in inklusiven Settings – erste Ergebnisse aus dem Kooperationsprojekt BISU ............................................................................... 277 Katrin Velten, Katharina Schitow und Susanne Miller Sichtweisen auf und Umgang mit Differenz von Grund- und Förderschullehrkräften in inklusiven Settings .................................................. 282 Gamze Görel, Nils Finke und Frank Hellmich Sichtweisen von Grundschullehrkräften auf die Qualität inklusiven Unterrichts........................................................................................................ 287

X

Inhaltsverzeichnis

Michaela Kaiser und Andreas Brenne Typisch Kunstpädagogik? Inklusionsbezogene Überzeugungen angehender Kunstlehrkräfte ............................................................................. 292

9

Professionalisierung im Umgang mit Diversität und sozialer Ungleichheit ............................................... 297

Elke Inckemann, Anne Frey, Anna Lautenschlager, Cornelia Prestel, Heike de Boer, Anne Peters und Katja Koch Umgang mit Diversität – der Beitrag von Mentoring- und Lernpatenprojekten für Professionalisierung und Praxiserfahrungen angehender Lehrkräfte......................................................................................................... 298 Catania Pieper und Brigitte Kottmann Kindliche Lebenswirklichkeit aus der Perspektive von Lehramtsstudierenden: „Ich verstehe jetzt, warum er in der Schule so motiviert ist!“ ... 310 Eva Gläser Professionswissen von Sachunterrichtsstudierenden zu Digitaler und Informatischer Bildung .................................................................................... 315 Stefanie Bischoff Soziale Standorte frühpädagogischer Fachkräfte – Eine vernachlässigte Dimension der Professionalisierungsdebatte? .................................................. 320 Oliver Grewe, Mareike Bohrmann und Kornelia Möller Förderung der professionellen Wahrnehmung von sprachsensiblem Unterricht im Masterstudium ........................................................................... 325 Rosa Hettmannsperger, Katrin Gabler, Susanne Mannel, Ilonca Hardy, Sofie Henschel, Birgit Heppt, Christine Sontag und Petra Stanat Professionalisierung von Lehrkräften zur bedeutungsfokussierten Sprachförderung im Sachunterricht der Grundschule: Das Projekt ProSach ... 330

1 Einleitung

Diversität und soziale Ungleichheit als Herausforderung an die Grundschule Nina Skorsetz, Marina Bonanati und Diemut Kucharz1

Vor genau 100 Jahren wurde die Grundschule als einzige echte Gesamtschule gegründet mit der Idee, der Bildungsungerechtigkeit und gesellschaftlichen Ungleichheit etwas entgegen zu setzen (Götz & Sandfuchs 2014). Diesem Anspruch verpflichtet, hat sich die Grundschule stetig weiter entwickelt, verschiedene Reformansätze umgesetzt und in der ersten internationalen Leistungsvergleichsstudie IGLU im Gegensatz zu PISA deutlich besser abgeschnitten, was das absolute Leistungsniveau als auch die Streuung angeht. Dennoch hat die Grundschule es nie geschafft, tatsächlich Bildungsungleichheit zu kompensieren, sondern im Gegenteil selbst durch diverse Selektionsmechanismen, Ungleichheit erzeugt (Dombrowski & Solga 2012; Gomolla & Radtke 2009). Herkunftsbedingte Diversität wirkt sich nach wie vor auch in der Grundschule diskriminierend aus – so wie es dem gesamten deutschen Bildungssystem regelmäßig bescheinigt wird (Ditton 2016). Anforderungen an die Integrationsleistung der Grundschule sind dessen ungeachtet weiter gestiegen, u. a. gesellschaftliche Herausforderungen wie, die Forderung nach inklusivem Unterricht und in letzter Zeit die Beschulung von Kindern mit Fluchterfahrung (z. T. in Intensivklassen). Die letzten Ergebnisse der Vergleichsstudien der IQB und IGLU lassen daran zweifeln, ob die Grundschule ihren Herausforderungen gewachsen ist (Stanat et al. 2017; Hußmann et al. 2017). Vor diesem Hintergrund wurde die Genese und Reproduktion von Ungleichheit im Rahmen der 27. Jahrestagung der Kommission „Grundschulforschung und Pädagogik der Primarstufe“ in der DGfE-Sektion „Schulpädagogik“ vom 24.–26. September 2018 an der Goethe-Universität Frankfurt analysiert und diskutiert.

1

Nina Skorsetz | Goethe-Universität Frankfurt | [email protected] Marina Bonanati | Goethe-Universität Frankfurt | [email protected] Diemut Kucharz | Goethe-Universität Frankfurt | [email protected]

© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 N. Skorsetz et al. (Hrsg.), Diversität und soziale Ungleichheit, Jahrbuch Grundschulforschung 24, https://doi.org/10.1007/978-3-658-27529-7_1

Diversität und soziale Ungleichheit als Herausforderung an die Grundschule

3

Die Diskurse um Diversität und soziale Ungleichheit entlang erziehungsund sozialwissenschaftlicher Theoriebildung, ihrer pädagogischen Semantiken und empirischen Befunde sowie ihre Verwobenheit mit der grundschulischen Praxis selbst, stellen für die Grundschulpädagogik und die Grundschulforschung ein sehr bedeutsames Feld pädagogischer Reflexion und theoriegeleiteter Forschung dar. In der erziehungswissenschaftlichen Theoriebildung und Forschung entlang der Differenzlinien und vielfältiger ‚Achsen der Ungleichheit‘ (Klinger, Knapp & Sauer 2007) wie Klasse, Geschlecht, Ethnizität, Leistung, Alter, Kultur, Migration, Religion, Sprache und ihrer intersektionalen Verknüpfung in der individuellen Biographie, wird sowohl auf sozialwissenschaftliche Kategorien als auch auf genuin schulpädagogisch- und lernpsychologische Kategorien Bezug genommen, die in differenzpädagogischen Konzeptionen adressiert und mit pädagogischen Relevanzsetzungen für die Analyse von differentiellen Bildungsmöglichkeiten verbunden sind. Die Grundschulpädagogik und Grundschulforschung, die seit ihrer Etablierung als wissenschaftliche Disziplin in den 1970er-Jahren die sozialisatorisch-ungleichheitstheoretischen Impulse der Sozialwissenschaften in den fachlichen Diskurs um Bildung und Lernen junger Kinder aufgenommen hat (Schwartz 1969), steht vor der Herausforderung, den Diskurs um Diversität und soziale Ungleichheit systematisch aufzugreifen und intra- und interdisziplinär weiterzuentwickeln. In den darauf bezogenen pädagogischen Arbeitsfeldern diversitäts- und ungleichheitssensibel zu handeln, heißt, Annahmen über die Bedeutung soziokultureller und sozialstruktureller Zugehörigkeiten kritisch zu dekonstruieren und mit Fragen von Macht und Abhängigkeitsverhältnissen in der Zuteilung von Bildungschancen und Bildungszertifikaten zu verbinden. Das Spannungsfeld von Integration und Selektion, von Inklusion und Exklusion, in dem die Grundschule seit ihrer Gründung steht, ist durch die neueren gesellschaftlichen Entwicklungen einer zunehmend globalisierten Welt maßgeblich mitbestimmt. Die Grundschule wird die damit verbundenen Herausforderungen an die Disziplin und die pädagogische Praxis aufnehmen und im Hinblick auf die Entwicklungs- und Bildungsprozesse von Kindern weiterentwickeln müssen. Der vorliegende Tagungsband der 27. Jahrestagung bündelt als „Jahrbuch Grundschulforschung“ unter der Überschrift „Diversität und soziale Ungleichheit. Herausforderungen an die Integrationsleistung der Grundschule" den Diskurs der Grundschulforschung zu Fragen von Diversität und sozialer Ungleichheit. Diskutiert wird, welche grundlegenden Forschungsperspektiven und Forschungsansätze in der Disziplin entwickelt wurden oder in Entwicklung begriffen sind. Einbezogen werden Konzepte und Befunde aus den Nachbardisziplinen wie

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Nina Skorsetz, Marina Bonanati und Diemut Kucharz

Soziologie und Psychologie und weiteren erziehungswissenschaftlichen Teilgebieten wie der Unterrichts- und Lernforschung sowie den Fachdidaktiken, der Kindheitsforschung und der frühpädagogischen Forschung. Der vorliegende Tagungsband beinhaltet drei Hauptbeiträge, fünf Symposien und 45 Einzelbeiträge, wobei die Beiträge zu den Symposien sowie die Einzelbeiträge thematisch strukturiert sind. Der Tagungsband gliedert sich in acht Abschnitte, die im Folgenden erläutert werden. Die Abschnitte sind dabei nicht immer trennscharf inhaltlich voneinander abzugrenzen und die Einordnung hätte sicher auch anders erfolgen können. Einführende Basisbeiträge Drei Beiträge zu den Hauptvorträgen der Tagung führen mit grundsätzlichen Überlegungen in den Band ein. Isabell Diehm argumentiert in ihrem Beitrag für eine klare Trennung der Begriffe Heterogenität und Differenz. Sie schlägt vor, den Heterogenitätsbegriff reinen Deskriptionen vorzubehalten und den Differenzbegriff im Kontext der Beschreibung von Ungleichheit zu verwenden. Aus einer kindheitstheoretisch-migrationspädagogischen Perspektive untersucht Charlotte Röhner auf Grundlage ausgewählter Studien die Lebenslagen, Bildungs- und Teilhabechancen neu zugewanderter Kinder im Transmigrationsprozess. Methodenspezifische Herausforderungen einer primarstufenbezogenen Ungleichheits- und Differenzforschung werden im dritten einführenden Beitrag diskutiert. Astrid Jurecka bespricht diese aus Sicht der quantitativen Forschung, während Anja Hackbarth die qualitativ-rekonstruktive Perspektive einnimmt. Die Beiträge der folgenden zwei Kapitel thematisieren Ursachen und Mechanismen der (Re-)Produktion sozialer Ungleichheit in der Grundschule: Strukturelle Mechanismen von sozialer Ungleichheit In einem ersten Block werden Mechanismen sozialer Ungleichheit aus einer institutionell-strukturellen Perspektive betrachtet. Die hier versammelten Beiträge fragen beispielsweise nach dem Selbstverständnis der Grundschule und ihren Schulentwicklungsprozessen. Im Zentrum eines Beitrags stehen die durch Migration und Flucht entstehenden Herausforderungen an die Integrationskraft der Grundschule. Des Weiteren werden Prozesse der (Re-)Produktion sozialer Ungleichheit im Spannungsfeld verschiedener Institutionen auf Ebene der Praktiken sowie aus historischer Perspektive beleuchtet.

Diversität und soziale Ungleichheit als Herausforderung an die Grundschule

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Akteursperspektiven im Kontext von sozialer Ungleichheit Ein weiterer Block fokussiert die Perspektiven schulischer Akteure. So wird insbesondere nach der Perspektive der Lehrer*innen auf die Diversität von Schüler*innen und die damit zusammenhängenden Herausforderungen gefragt. Außerdem nehmen die Autor*innen etwa die Erfahrungen von Schüler*innen aus der Retrospektive, die Orientierungen von Studierenden oder elterliche Bildungsentscheidungen in den Blick. Die folgenden zwei Teile versammeln Beiträge, die den Umgang der Grundschule mit Diversität erforschen: Umgang mit Diversität in der Grundschule In diesem Abschnitt werden zunächst verschiedene didaktische und pädagogische Aspekte im Umgang mit Heterogenität im Grundschulunterricht thematisiert. So gerät didaktische Differenzierung als (Re-)Produktionsmechanismus sozialer Ungleichheit in den Blick. Des Weiteren werden diagnostische Praktiken am Schulanfang, Förderkonzepte und Möglichkeiten der Rückmeldung sowie Sichtweisen von Lehrpersonen zu Heterogenität untersucht. Weitere Beiträge besprechen das Lernen von Schüler*innen in einer Grundschulklasse unter den Aspekten Partizipation, Beschämung, Lernatmosphäre. Umgang mit sprachlicher Diversität Sprachliche Diversität und deren Bedeutung für ungleichen Bildungserfolg werden derzeit breit erforscht. In einer Reihe von Beiträgen liegt der Fokus entsprechend auf dem Umgang mit sprachlicher Diversität. In drei Beiträgen geht es um die Förderung sprachlicher Kompetenzen am Übergang von der Kindertageseinrichtung in die Grundschule. Weitere Beiträge präsentieren Forschungsbefunde zur Mehrsprachigkeit von Grundschüler*innen sowie zu Überzeugungen zu nicht-deutschen Erstsprachen im Unterricht. Abgeschlossen wird der thematische Block mit Beiträgen zu mimetischen Sprachzugängen sowie zur Automatisierung handschriftlichen Schreibens. Fachdidaktischer Umgang mit Diversität Spezifisch fachdidaktische Fragestellungen werden insbesondere für den Sachunterricht und Mathematikunterricht verfolgt. Einleitend findet sich ein Beitrag, in dem Mikroperspektiven auf Fachgespräche eingenommen werden. Die Autor*innen der nachfolgenden Texte untersuchen mit unterschiedlichen Fokussen den Sachunterricht. In den letzten beiden Beiträgen des Themenblocks stehen Diversität und Partizipation im Mathematikunterricht im Zentrum.

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Nina Skorsetz, Marina Bonanati und Diemut Kucharz

Die Professionalisierung von Lehrpersonen findet in den zwei letzten Teilen Berücksichtigung. Professionalisierung für inklusive Settings Fünf Beiträge konzentrieren sich im Kontext Lehrkraftprofessionalisierung auf inklusive Settings. Zunächst werden Patenschaftsprojekte als Beitrag zu einer inklusiven Lehrer*innenbildung diskutiert und in einem weiteren Beitrag untersucht, welche Fälle Lehrkräfte in inklusiven Settings als besonders belastend wahrnehmen. Einen Schwerpunkt dieses Themenblocks bilden in den weiteren Artikeln die Sichtweisen und Überzeugungen von Lehrpersonen in Bezug auf den Umgang mit Differenz und inklusiven Unterricht. Professionalisierung im Umgang mit Diversität und sozialer Ungleichheit Wie Studierende sich durch Lernpaten- und Mentoringprojekte professionalisieren und sich kindliche Lebenswelten erschließen, stellt den Auftakt des letzten Kapitels dar. Es folgt eine Studie zum Professionswissen von Sachunterrichtsstudierenden. Anschließend werden soziale Standorte frühpädagogischer Fachkräfte als Dimension der Professionalisierungsdebatte diskutiert. In zwei abschließenden Beiträgen werden Konzepte und ihre Evaluation zu sprachsensiblen Maßnahmen und bedeutungsfokussierter Sprachförderung im Unterricht vorgestellt. Danke an alle, die zur Entstehung des Tagungsbandes beigetragen haben, insbesondere Dorina Heckhoff und Julia Katharina Schmidt. Frankfurt im Juli 2019 Das Team der Herausgeberinnen2

Literatur Stanat, P.; Schipolowski S.; Rjosk, C.; Weirich, S. & Haag, N. (Hrsg.) (2017): IQB Bildungstrend 2015. Kompetenzen in den Fächern Deutsch und Mathematik am Ende der 4. Jahrgangsstufe im zweiten Ländervergleich. Münster; New York: Waxmann.

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Mit dieser Einleitung haben wir uns am Konzeptpapier zur inhaltlichen Ausrichtung und zum Call der Tagung orientiert. Am Konzeptpapier haben u. a. mitgearbeitet: Charlotte Röhner, Tanja Betz, Ilonca Hardy, Ulrich Mehlem, Frederick de Moll.

Diversität und soziale Ungleichheit als Herausforderung an die Grundschule

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Hußmann, A.; Wendt, H.; Bos, W.; Bremerich-Vos, A.; Kasper, D.; Lankes, E.-M.; McElvany, N.; Stubbe, T. C. & Valtin, R. (Hrsg.) (2017): IGLU 2016. Lesekompetenzen von Grundschulkindern in Deutschland im internationalen Vergleich. Münster, New York: Waxmann. Ditton, H. (2010): Der Beitrag von Schule und Lehrern zur Reproduktion von Bildungsungleichheit. In: Rolf Becker (Hrsg.): Bildung als Privileg. Erklärungen und Befunde zu den Ursachen der Bildungsungleichheit. 4., akt. Aufl. Wiesbaden: VS, Verl. für Sozialwiss, 247–276. Ditton, H. (2016): Schulqualität unter der Perspektive von Systemstrukturen und Bildungsverläufen, In: Becker R. Steffens, U. & Bargel, T. (Hrsg.): Schulqualität – Bilanz und Perspektiven Münster; New York: Waxmann, 65–94. Klinger, C.; Knapp, G.-A. & Sauer, B. (Hrsg.) (2007): Achsen der Ungleichheit. Zum Verhältnis von Klasse, Geschlecht und Ethnizität. Frankfurt, New York: Campus. Schwartz, E. (1969): Die Grundschule. Funktion und Reform. Braunschweig 1969: Westermann. Stanat, P. (2017): IQB-Bildungstrend 2016. Kompetenzen in den Fächern Deutsch und Mathematik am Ende der 4. Jahrgangsstufe im zweiten Ländervergleich. Münster, New York: Waxmann. Solga, H. & Dombrowski, R. (2012): Soziale Ungleichheiten in schulischer und außerschulischer Bildung. Stand der Forschung und Forschungsbedarf. In: Kuhnhenne, M.; Miethe, I.; Sünker, H. & Venzke, O. (Hrsg.): (K)eine Bildung für Alle – Deutschlands blinder Fleck. Stand der Forschung und politische Konsequenzen. Opladen u. a.: Barbara Budrich, 5186. Gomolla, M. & Radtke, F.-O. (2009): Institutionelle Diskriminierung. Die Herstellung ethnischer Differenz in der Schule. 3. Auflage. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften. Götz, M. & Sandfuchs, U. (2014): Geschichte der Grundschule. In: Einsiedler, W. (Hrsg.): Handbuch Grundschulpädagogik und Grundschuldidaktik. 4. erg. und akt. Aufl. Bad Heilbrunn, Stuttgart: Klinkhardt; UTB, 32–45.

2 Einführende Beiträge zu Diversität und sozialer Ungleichheit

Differenz – die pädagogische Herausforderung in der Schule für alle Kinder Isabell Diehm1

Keywords: Heterogenität, Differenz, Ungleichheit, Semantik versus Analyse

Abstract Der Beitrag plädiert für einen trennscharfen Gebrauch der gängigen Begriffe „Heterogenität“ und „Differenz“. In den aktuellen bildungspolitischen wie pädagogischen Debatten um Inklusion erscheinen sie anhaltend verwischt, was sie einer grundlegenden analytischen Unschärfe ausliefert. In der Woche vor den Sommerferien möchte die Lehrerin Frau Z. ihrer 2. Klasse im Frühenglischunterricht einer Frankfurter Grundschule einen englischsprachigen Kinderfilm vorführen. Dafür ist sie noch mit einigen Vorbereitungen beschäftigt. Um diese zu überbrücken, liest die Schülerin Claire, sie ist offenkundig Erstsprachlerin im Englischen, der Klasse aus einem englischen Kinderbuch vor. Dieses Vorlesen wird schließlich von der Lehrerin enthusiastisch gelobt: „Dein Englisch ist toll, vielen Dank, Claire! Du hast eine super Aussprache!“ Da ruft Claires Mitschüler, Said, in die Klasse: „Ich kann super Arabisch, auch Lesen, können wir auch mal einen Film in Arabisch anschauen?“ Darauf entgegnet Frau Z.: „Ach, hör mir auf mit Eurem blöden Arabisch!“ und startet den Film; Said schaut betroffen unter sich. (Beobachtungsprotokoll von A.K., Masterstudentin Erziehungswissenschaft, Juni 2018)

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Zur Einführung

Diese Szene soll am Anfang der folgenden Ausführungen stehen, weil sie so unglaublich erscheint in einer Stadt wie Frankfurt, die von offizieller Seite immer stolz als die tolerante, weltoffene, multikulturelle und multilinguale Metropole

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Isabell Diehm | Goethe-Universität Frankfurt | [email protected]

© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 N. Skorsetz et al. (Hrsg.), Diversität und soziale Ungleichheit, Jahrbuch Grundschulforschung 24, https://doi.org/10.1007/978-3-658-27529-7_2

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herausgestellt wird. Auch für mich war schwer zu glauben, was mir meine Studentin mit diesem protokollierten Geschehen vorlegte – einen Vorfall, der nicht etwa zwanzig Jahre zurückliegt, sondern sich gerade erst ereignet hatte. Szenenwechsel 1: Im Anschluss an die rechtsextremen Aufmärsche, die erschreckenden und besorgniserregenden Ereignisse in Chemnitz Ende August 2018 findet sich am 6. September ein Interview mit Max Czollek in der Tageszeitung taz, einem 1987 in Berlin geborenen Politikwissenschaftler, dessen Buch „Desintegriert Euch!“ gerade erst bei Hanser erschienen ist. Im Interview stellt Czollek seine Sicht auf die aktuellen Ereignisse dar, er spricht von „neovölkischer Propaganda“, von „neovölkischem Denken“, das von Rechts organisiert werde und durch die Politik verstärkt Platz greife, wenn diese z. B. ein „Heimatministerium“ einrichte, um diejenigen Bevölkerungsteile, die zur AfD neigten, (wieder) einzugemeinden. Als „Grundpfeiler des neovölkischen Denkens“ bezeichnet Czollek: „Homogenisierung“ und „kulturelle Dominanz“. Es bedürfe neuer Modelle, die Gesellschaft nicht mehr vom Integrationsparadigma herzudenken. Das Integrationsparadigma könne völkisches Denken nicht verhindern. Czollek geht es, ausgehend von der offensichtlichen, realen gesellschaftlichen Vielfalt darum, homogenisierenden Selbstbildern als Trugschluss abzuschwören. Selbstbilder, welche die gesellschaftliche Zusammensetzung als homogen „deutsch“ fantasierten, hielten, so seine Formulierung, „am normalisierenden Selbstbild“ fest. Die migrations- und globalisierungsbedingte Pluralisierung der bundesdeutschen Gesellschaft nicht offensiv zu leben, zu thematisieren und mithin zu verteidigen, kommt in seinen Augen jener „Normalisierung“ gleich. Er plädiert daher für die Verteidigung einer „radikalen Vielfalt“, nur sie repräsentiere die gesellschaftliche Realität ohnehin angemessen, „neovölkische Vorstellungen“ entsprächen Trugbildern. Der Aufruf „Desintegriert Euch!“ steht also für Widerstand gegenüber vereinheitlichenden und vereinnahmenden Integrationsfloskeln, denn Czollek bezeichnet Homogenisierung im Sinne dominanzgesellschaftlicher Vereinheitlichung als „Normalisierung“. Szenenwechsel 2: Eine junge Mutter berichtet vom feierlich gestalteten Einschulungstag ihres Sohnes in einer Frankfurter Grundschule. Am Ende der Zeremonie werden alle Kinder auf die Bühne gerufen und einem der vier Züge des ersten Schuljahres zugeordnet; sie verlassen als neu formierte Klasse 1a, 1b oder 1c zusammen mit ihrer Lehrerin die Bühne – oder sie verlassen sie als Vorklassenkind, denn einer der vier Züge repräsentiert die Vorklasse, die an dieser Schule existiert. Die Mutter empfindet gerade die Gruppierung der Vorklassen-Kinder – die alle ausnahmslos keinen deutsch klingenden Nachnamen tragen – als eine gravierende Besonderung. Als Vorgeschichte dazu erzählt sie, wie spät die Eltern von der jeweiligen Zuordnung ihrer Kinder erfahren hätten – nämlich erst im Laufe der Sommerferien durch ein postalisch zugestelltes Schreiben. Sie befürchtet, dass dies für Eltern, deren Kinder der Vorklasse zugeordnet wurden, eine wohl ziemlich schwer zu verkraftende Nachricht gewesen sein müsse – und das, so fügt die Mutter an, „obwohl doch alle von Inklusion sprechen“. (Protokollierte Beschreibung aus einem Universitätsseminar an der Goethe-Universität, August 2018).

Alle drei Szenen bzw. Ereignisse fokussieren explizit oder implizit auf ethnische Differenz – im Sinne von Max Weber (1922/56), der unter Ethnizität die Differenzdimensionen Nationalität, Kultur, Sprache und Religion fasst. In ganz unterschiedlichen Konstellationen werden hier Differenzierungen thematisch, die Ungleichheitspotential und -relevanz besitzen. Diese Beobachtung bildet den Ausgangspunkt der folgenden Überlegungen: In einem ersten Schritt wird die aktuelle „Heterogenitätsdebatte“ auf ihre inhärente semantische und diskursive Verunklarungen hin untersucht (2). Daraus wird eine Konsequenz gezogen, die sich gegen

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die ubiquitäre und unpolitische Verharmlosung eines programmatischen Heterogenitätsverständnisses wendet und mit Blick auf die Re-Produktion von Ungleichheit in und durch Bildungsorganisationen, so auch des Kindergartens und der Grundschule, ein klares Sprechen favorisiert (3).

2 Semantische und diskursive Verunklarungen Die Begriffe „Heterogenität“, „Diversität“, „Differenz“ oder „Vielfalt“, aber auch „Intersektionalität“ ebenso wie ein „weites Inklusionsverständnis“ erleben seit geraumer Zeit eine beträchtliche Konjunktur – darin sind sich alle einschlägig arbeitenden Kolleginnen und Kollegen einig, welche die pädagogischen und erziehungswissenschaftlichen Debatten der letzten Jahre beobachten und ihnen zutragen. Dabei werden diese Begriffe zumeist synonym gebraucht, obschon sie gleichzeitig auf jeweils unterschiedlichen Ebenen ansetzen. Konstatiert wird ein Mangel an Differenziertheit, wenn etwa „vertikale und horizontale Heterogenitätsdimensionen“ nicht differenziert werden – so Walgenbach (2014: 31) – und strukturelle Unterschiede sowie individuelle Verschiedenheit ohne Bedenken gleichgesetzt werden (ebd., auch Budde 2017). Heterogenität wird dabei sowohl deskriptiv als auch normativ aufgeladen und programmatisch verwendet, es handelt sich – wie immer wieder bemerkt – um einen „Container- und catch all-Begriff“, ein „Gummi- oder Plastikwort“. Heterogenität, so Budde (2017), repräsentiere ein komplexes, theoretisch noch ziemlich ungeklärtes Phänomen. Gleichwohl sei der Begriff „Heterogenität“ im Mainstream pädagogischer und bildungspolitischer Debatten angekommen. So wenig neu also die Themen und Inhalte im pädagogischen Diskurs, mit denen die Heterogenitätsdebatte befasst ist, auch seien, so prägnant zeige die Debatte, dass „sich (aber) sehr wohl die Perspektive auf Differenz von Homogenisierungen hin zu einer Heterogenitätsorientierung verschoben hat“ (ebd.: 24). Dieser Hinweis markiert eine Differenz der aktuellen Debatte um Heterogenität, Differenz und Diversität zu ihren Vorläuferdebatten. In einer diachron-historischen Betrachtung wird deutlich, dass sich die Schul-, und so auch die Grundschulpädagogik generell – ob stärker im Verein mit der Bildungspolitik oder autonomer wissenschaftsbasiert – anhaltend mit dem Verhältnis von Individualisierung und Gruppenbezug, mit Fragen der äußeren und der inneren Differenzierung, der Herstellung und Ermöglichung von Chancengleichheit und -gerechtigkeit, der differenzierten Leistungsbeurteilung, dem Abbau von sozialer Benachteiligung durch Bildung sowie den pädagogisch-konzeptionellen Möglichkeiten der Integration und Inklusion von einzelnen Kindern oder auch von Gruppen beschäftigt hat. Diese Auseinandersetzungen lassen sich zum Teil bis zu den reformpäda-

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gogischen Bewegungen an der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert zurückverfolgen und wurden bereits zur Zeit der Reichsschulkonferenz zu Beginn der 1920er Jahre – vor allem mit Blick auf strukturelle Aspekte der äußeren Differenzierung – geführt. Sie banden sodann im Zuge der Großen Bildungsreform der 1960er und -70er Jahre bis in die 1980er Jahre hinein alle Aufmerksamkeit und Energien (Reyer 2006). Insofern ist der immer wieder formulierten Feststellung im Kontext der aktuellen Heterogenitätsdebatte, dass die behandelten Inhalte im Grunde ja nichts Neues repräsentierten, zum einen zuzustimmen, denn sie bilden eine Kontinuität der Problemlagen oder zentralen, womöglich unlösbaren Herausforderungen grundschulpädagogischer Debatten ab (Trautmann & Wischer 2011). Zum anderen aber, und dies wäre in Anlehnung an Budde (2017) ein relativierendes Argument, ist die Hinwendung von der verbreiteten Homogenisierung zu einer verstärkten Orientierung an Heterogenität und Heterogenisierung doch als ein neu hinzu gekommener Aspekt innerhalb der pädagogischen Debatte um Heterogenität einzuschätzen. In den alten, zurückliegenden Debatten wurde das Phänomen der Homogenisierung als Gegenstand der Theoriebildung nicht in dieser Weise behandelt wie dies heute – seit etwa 20 Jahren – geschieht. Elaborierte Arbeiten unter dem Titel „Die Organisation von Homogenität. Jahrgangsklassen in der Grundschule“ von Radtke (1999), „Institutionelle Diskriminierung“ von Gomolla und Radtke (2002), „Heterogenität in der Schule“ von Trautmann und Wischer (2011) oder „Heterogenität – Diversity – Intersektionalität“ von Emmerich und Hormel (2013) theoretisieren den Zusammenhang von Homogenisierung, Differenzierung, Selektion und der Re-Produktion von Ungleichheit auf einem hohen, in früheren Debatten nicht anzutreffenden Niveau. Hier ist – so die Schlussfolgerung – eine neue Qualität in der Debatte zu erkennen, die zur folgenden Schlussfolgerung führt: Obwohl das Rad heute nicht neu erfunden wird, ist doch nicht alles schon einmal gesagt. Bezogen auf die Theoretisierung von Homogenisierung und Heterogenität ist deshalb für eine semantische und diskursive Klärung zu plädieren – im dezidierten Gegensatz zu Verunklarungen, welche die Rede von „ist doch alles schon mal da gewesen“ mit sich führt. Die Debatte ist durch eine weitere Überlegung zu relativieren und zu ergänzen: Sie fokussiert den Zeitpunkt und fragt, warum ist die Debatte seit einigen Jahren und zum jetzigen Zeitpunkt so aktuell? Diese Frage erscheint wesentlich. Sie beantworten zu wollen, erfordert die erkenntnistheoretische Positionierung, dass Heterogenität nur im Auge der Beobachterin oder des Beobachters existiert. Sie oder er nehmen Relevanzsetzungen vor, bringen ihre jeweiligen Beschreibungen, Bewertungen, Bezugnahmen und Problematisierungen politischer, sozialer und pädagogischer Verhältnisse ein und tragen so – auch reproduzierend – zu Diskursverläufen, zu Akzentuierungen und Akzentverschiebungen, mithin ggf. zu Umsteuerungen bei.

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Als Begründungen für die beobachtete, anhaltende Konjunktur der Heterogenitätsdebatte nennt Koller (2014: 10f.) als erstes die „Veränderungen der Gesellschaft durch Migration“. Hinzu käme die „Rezeption der internationalen Schulleistungsstudien“, welche die Aufmerksamkeit für Ungleichheiten geschärft habe (ebd.). Bereits in den 1980er Jahren gab es Strömungen in der Pädagogik, die an einer „Normalisierung“ sozial relevanter Differenzen wie Ethnizität, Behinderung, sozialer Herkunft und Geschlecht interessiert waren und daran arbeiteten, sie semantisch wie konzeptionell zu institutionalisieren. Dies schwingt in Kollers Hinweis auf jene „sozialen Bewegungen“ mit, die dann systematisch durch Prengel (1993) und Hinz (1993) aufgegriffen worden sind. „Normalisierung“ meint hier – im Gegensatz zur eingangs erwähnten Auffassung von Czollek – die Anerkennung, Gleich-Gültigkeit und Gleichwertigkeit von realen Daseins- und Lebensweisen, die normativ-programmatisch als ethische Grundhaltung strategisch gesetzt werden sollten. Hier wurde ganz im Sinne aufklärerischer und kritischpädagogischer wie normativer Positionierungen ein emphatisches Heterogenitätsverständnis vertreten, das gesellschaftliche Veränderungen mit dem Ziel ihrer Verbesserung im Sinne einer toleranten, durch gegenseitige kulturelle Bereicherung sich auszeichnenden sozialen Ordnung im Blick hatte. Auch damals schon war die „Migrationstatsache“, wie sie in Anlehnung an Bernfelds „Entwicklungsund Erziehungstatsache“ bezeichnet werden kann (Diehm/Messerschmied 2013:10), explizit einbezogen – angesichts der damaligen politischen Debatten um eine generelle einwanderungsbedingte Pluralisierung der Gesellschaft und den Multikulturalismus. Als zweiten Grund nennt Koller (2014: 12f.) mit Blick auf die Konjunktur der Heterogenitätsdebatte die „Rezeption der internationalen Schulleistungsstudien“. Mit der ersten PISA-Studie des Jahres 2001 kündigte sich eine tiefgreifende, wenngleich eher subtil wirksam werdende Wendung in der Debatte um Heterogenität, Differenz und Diversität an, die allererst an der bereits erwähnten Migrationstatsache festzumachen ist: Die von der OECD in Auftrag gegebenen internationalen Schulleistungsstudien erbrachten auf der einen Seite breit fundiert und publikumswirksam kommuniziert empirische Evidenzen für bestehende Ungleichheitsverhältnisse in den Schulen, die insbesondere die Kinder mit einem sogenannten Migrationshintergrund betreffen. Dafür waren nicht wenige unserer Fachkolleginnen und -kollegen dankbar: dass nun endlich einmal öffentlich wirksam formuliert wurde, was doch längst klar war, wofür sich die Politik bis dahin aber nicht interessiert hatte. PISA bildete sodann den Ausgangspunkt und war zugleich Antrieb für einen groß angelegten und schließlich hoch wirksam sich entfaltenden Risikodiskurs, der zugleich die Logik des neoliberalen Credos vom „Fördern und Fordern im Modus von Wettbewerb“ offensiv auch in den Erzie-

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hungs- und Bildungsbereich transportierte und dort untermauerte. Davon in besonderem Maße betroffen ist bis heute der Bereich der Frühen Kindheit (Diehm 2012). Mit dieser durch die erstarkende empirische Bildungsforschung implementierten Zäsur einher ging – ohne explizite Bezugnahme – die ungebrochene Wiederaufnahme ausländerpädagogischer Prämissen wie einer dominanten Defizitannahme, vor allem mit Blick auf die Zweitsprache Deutsch. Kenntnisse und Fähigkeiten im Deutschen wurden nun endgültig zu der wirkmächtigen Leistungsnorm der durch Migration geprägten Gesellschaft; Mehrsprachigkeit erscheint bei aller anderslautenden Semantik in ein doch hierarchisch strukturiertes System von dominanter Mehrheitssprache und nachgeordneten weiteren Erstund Familiensprachen eingebettet zu sein. Die Frage, weshalb der Heterogenitätsdiskurs also gerade in den vergangenen ca. 15 Jahren so sehr an Fahrt aufgenommen hat, ist in Übereinstimmung mit dem eingangs zitierten Czollek m. E. weniger als umfassende Affirmation, also als Ausdruck einer endlich erreichten emphatischen Anerkennung der heterogenen gesellschaftlichen und mithin schulischen Verhältnisse und Pluralitäten zu interpretieren. Aus der Hochkonjunktur des Heterogenitätsdiskurses spricht nämlich auch ein neuer, unter wissenschaftlich legitimierten Vorzeichen spezifischer Blick auf die Migrationstatsache, der sie anhaltend mit Defiziten und Risiken verbindet und gesellschaftlich verbreitete Bedrohungsszenarien verstärkt. Der Heterogenitätsdiskurs ließe sich also diesbezüglich auch als funktional kennzeichnen. Entsprechend ist Rose (2014: 142, Hervorh. i. O.) zu verstehen, wenn sie feststellt: „Allerdings fällt auf, dass einerseits unter dem Stichwort ‚Heterogenität‘ oftmals doch nur ein – dann allerdings nicht offen benanntes – Differenzmerkmal im Mittelpunkt steht (…) und sich andererseits im historischen Vergleich eine Art aktuelle Konjunktur einzelner Differenzmerkmale, insbesondere von ‚Migration als wiederentdeckter Brennpunkt‘ abzeichnet (…).“ Ähnlich argumentiert Rendtorff (2014: 125), wenn sie Differenzierungen in der schwammigen Heterogenitätsdebatte ausmacht: Gehe es um Ethnizität, so stünden eigentlich Zugehörigkeitsordnungen zur Debatte, im Falle von Geschlecht jedoch die Andersheit i. S. v. geschlechterbetonenden und geschlechterunterscheidenden pädagogischen Maßnahmen. Kollers Aufzählung von Gründen und Ursachen für die ubiquitär und inzwischen vor allem bildungspolitisch so engagiert geführte Heterogenitätsdebatte birgt einen in meinen Augen von Koller nicht explizierten inneren Verweisungszusammenhang, der Schulleistungen, Schulerfolg und ethnisch codierte Zugehörigkeiten aufs Engste miteinander verknüpft. Wissenschaftlich legitimiert durch eine belastbare empirische Fundierung werden Migrationserfahrungen und ethnische Zugehörigkeiten zu einem relevanten Bildungsfaktor, und Ethnizität selbst erfährt dadurch eine gesellschaftliche Aufladung, die in dieser Brisanz bislang nicht existierte. Dies ist auch politisch als äußerst relevant einzuschätzen.

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3 „Von Heterogenitäten zu Ungleichheiten“ Ethnizität steht als relevante Strukturkategorie außer Frage, und die ethnisch codierte Zugehörigkeitsordnung zeichnet sich durch eine hohe soziale (Ungleichheits-) Relevanz aus. Diese diskursiv zu verwischen oder semantisch aufzulösen, führt m. E. in eine (ungewollte) Ent-Politisierung von Differenzverhältnissen, was (auch) unter gerechtigkeitstheoretischen Aspekten ein Problem darstellt. Um solche Effekte zu vermeiden, sei für eine begriffliche Differenzierung plädiert, die sich am Titel des Sonderforschungsbereichs (SFB) 882 und an einigen Aspekten eines darin eingebundenen Forschungsprojekts erläutern lässt: In der Zeit von 2011 bis 2016 förderte die DFG ebenjenen SFB mit dem Titel „Von Heterogenitäten zu Ungleichheiten“ an der Universität Bielefeld. Das Teilprojekt unter meiner Leitung2 trug entsprechend den Titel: „Ethnische Heterogenität und die Genese von Ungleichheit in Bildungseinrichtungen der (frühen) Kindheit“. Zielsetzung dieses qualitativen ethnographischen Längsschnitt-Projekts war es, in mehrschichtigen Mikroanalysen die jeweils organisationsspezifischen Unterscheidungspraktiken von Professionellen im Alltag der Bildungsorganisationen Kindergarten und Grundschule kleinschrittig zu rekonstruieren, um der Genese von Bildungsungleichheit qualitativ auf die Spur zu kommen. Dafür sollten ausgewählte Kinder mit einem zugeschriebenen Migrationshintergrund auf ihrem Bildungsweg vom Elementar- in den Primarbereich (Teilprojekt I) und vom Primar- in den Sekundarbereich (Teilprojekt II und III) begleitet werden. Mit der Rekonstruktion individueller Bildungsbiographien im längsschnittlichen Durchgang sollten langfristig aufgeschichtete Ungleichheitsformationen sichtbar gemacht werden. In der ersten Teilprojektphase3 lag ein Schwerpunkt der Forschung auf der qualitativen Analyse eines damals in NRW für alle Vierjährigen verpflichtenden Sprachtests, einem Sprachscreening-Verfahren. In einer differenz- und ungleichheitstheoretischen Perspektive brachte diese Analyse zu Tage, welche Bedeutung das Verfahren der Differenzkategorie Ethnizität, hier der Dimension Sprache, bereits durch seine Konzeption zuwies. Das Testverfahren gab ein Operieren entlang dieser ethnisch codierten Unterscheidung über lange Strecken explizit vor. Es barg mithin von vornherein ein zwar latentes, aber klar ungleichheitsproduzierendes Potential. Die Forschungsfrage nach der Genese von Ungleichheit in und 2

Wegen meines Wechsels an die Goethe-Universität leitete ich es im letzten Förderjahr zusammen mit Claudia Machold.

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Für den Gesamtverbund des SFB 882 endete die Förderung durch die DFG bereits nach den ersten vier Jahren bzw. einem fünften Auslaufjahr in 2015. Ein DFG-gefördertes Anschlussprojekt führt den qualitativen Längsschnitt des SFB-Projekts derzeit in der Grundschule unter der Leitung von Claudia Machold fort.

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durch Bildungsorganisationen wurde systematisch auch im Kontext dieses Sprachscreeningverfahrens unter der organisationstheoretischen und praxeologischen Annahme bearbeitet, dass Organisationen ihre Mitglieder produzieren. Unterscheidungspraktiken von Professionellen, die Kinder entlang normierter und standardisierter Vorgaben beurteilen (Kelle & Tervooren 2008), kommt so gesehen eine besondere Relevanz für die Genese von Ungleichheit zu – insofern sie unterschiedliche, an Bedingungen geknüpfte Mitgliedschaften erzeugen, welche wiederum unterschiedliche Teilnahmeoptionen eröffnen. Obschon das Screeningverfahren auf die Testung der kindlichen Sprachkompetenzen im Deutschen angelegt war, beanspruchte es konzeptionell verankert, alle Kinder durch systematische, ebenfalls konzeptionell verankerte Nicht-Berücksichtigung ihrer sprachlich differenten Vorerfahrungen gleich zu behandeln. In Anlehnung an Gomolla und Radtke (2002) ist hierin das Muster einer Gleichbehandlung Ungleicher zu erkennen, dem wir ein Ungleichheit generierendes Potential zuschreiben. Die den Professionellen abverlangte Entscheidung, welche Kinder im Anschluss an die Testauswertung bei annähernd gleicher Punktzahl einer Sprachfördermaßnahme zugewiesen wurden und welche nicht, verwies auf ein weiteres ungleichheitsrelevantes Muster: die Ungleichbehandlung Gleicher (ebd.). Sowohl die angewandte Artefaktanalyse als auch die Analyse des praktischen Vollzugs des Screeningverfahrens ergaben, dass die beiden identifizierten paradoxen, womöglich ungleichheitsrelevanten Muster – die Gleichbehandlung Ungleicher und die Ungleichbehandlung Gleicher – an unterschiedlichen Stellen im Verlauf der Testung und den daraus abgeleiteten Förderentscheidungen emergierten. Das Verfahren verlangte Professionellen Unterscheidungen ab, die bereits zu einem sehr frühen Zeitpunkt eines kindlichen Bildungsweges Unterschiede machen. Alle Kinder erhielten im Zuge des Testverfahrens ein Etikett: entweder „förderbedürftig“ und mithin defizitär oder „nicht-förderbedürftig“. Und bereits diese frühe Markierung von Normentsprechung oder Normabweichungen basierte auf ethnisch codierten Differenzierungen (hierzu auch Diehm et al. 2013), nämlich der vermeintlichen Feststellung von Sprachkompetenzen im Deutschen. Auch entgegen neueren offiziellen Verlautbarungen wird Zwei- und Mehrsprachigkeit noch immer – im Sinne jahrzehntelang gepflegter methodologischer Defizitannahmen und aktuell im Zuge der post-PISA-Debatten – als der Risikofaktor schlechthin gewertet. Historisch war die Durchsetzung der Standardsprache Deutsch für die Etablierung der Schule im Nationalstaat konstitutiv (Radtke 2004). Ein dominanter „monolingualer Habitus“ (Gogolin 1994) charakterisiert aber ebenso den Kindergarten und bildet den Maßstab für die meisten Sprachstandserhebungsverfahren, die dort Anwendung finden. Kinder oder ganze Kindergruppen, die den sprachlichen Erwartungen der Organisation Schule zum Zeitpunkt der Einschulung nicht entsprechen, erscheinen als risikobehaftet. Präventiv

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wird daher eine frühe Förderung aufgerufen (Diehm 2012). Was auf bildungspolitisch-programmatischer Ebene unter dem Motto „Chancengerechtigkeit“ im Sinne eines Abbaus von Bildungsbenachteiligung plausibel erscheint, bedeutet auf der operativen Ebene, dass junge Kinder getestet werden müssen, um sie als potentielle Risikokinder identifizieren und einem System organisierter Sprachförderung oder einer Vorklasse – wie in der einen Szene zu Beginn – zuführen zu können. Damit ist eine Praxis organisierter Risikominimierung implementiert, die als eine Differenzierungspraxis entlang spezifischer – hier ethnisch codierter – Normwerte schon für Vierjährige (und ihre Familien) die Bewertung ihrer Sprachfähigkeit durch Kategorisierung zur Folge hat – so im Falle des untersuchten Verfahrens in NRW. Insgesamt gesehen etablierte sich mit der bildungspolitisch relevant gesetzten Sprachförderidee schon vor der Einschulung – als Konsequenz aus der ersten PISA-Studie – ein System von Leistungsmessungen bereits in der frühen Kindheit im Vorschulbereich. Leistungsnormen haben damit eine deutlich größere und früher einsetzende Bedeutung gewonnen – inzwischen auch in der davon bislang noch unberührten Kindertagesstätte. Selektivität greift in diesem Erziehungs- und Bildungsbereich mithin Platz – mit welchen Auswirkungen für die Grundschule wäre zu untersuchen. Ganz im Sinne des SFB-Titels „Von Heterogenitäten zu Ungleichheiten“ sollte der kurze Einblick in die Projektarbeit deutlich machen, dass sich die regelmäßigen und kleinschrittigen Relevanzsetzungen von Unterschieden, induziert durch die verbreitete Förderlogik, zu ungleichheitsrelevanten Differenzen verdichten. Das vermeintlich nicht bewertete Heterogenitätsmerkmal „mit Migrationshintergrund“ wird durch pädagogische Unterscheidungspraktiken zu einer sozial wie pädagogisch bewerteten Differenz und birgt ein großes Ungleichheitspotential. Die Elementar- wie die Grundschulpädagogik müssen ein Interesse daran haben, dass die Genese von Ungleichheit in und durch Pädagogik nachvollziehund analysierbar wird. Es geht dann um die erziehungswissenschaftlich relevante Frage, wie sich die Herstellung von Ungleichheit in pädagogischen Organisationen rekonstruieren lässt. Vor dem Hintergrund dieser Problemlage sei für eine begriffliche Differenzierung und Bevorzugung des Differenzbegriffs vor dem der Heterogenität plädiert. Das hieße, den Heterogenitätsbegriff der (puren) Deskriptionen vorzubehalten. Heterogenität, so der Vorschlag, repräsentierte dann die (noch) nicht bewertete, die unbewertete Differenz, wohingegen der Differenzbegriff die bewertete, eindeutig im Kontext von Ungleichheit auszumachende Differenz anzeigte und auf sie verwiese. Da es sich bei der Grundschule um die selektivste Schulform bei höchstem reformpädagogischen Anspruch handelt, besteht die klare Notwendigkeit, die grundschultypischen, in eine wirkmächtige me-

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ritokratische Leistungsordnung eingepassten Praktiken der Selektion und Exklusion mikroanalytisch in den Blick zu bekommen. Klar zu sprechen und offenzulegen, dass es um die empirisch belastbare Erkenntnis von Mustern, Mechanismen und pädagogischen Praktiken der Ungleichheitsgenese und der Re-Produktion von Ungleichheit geht, wäre – so das Plädoyer – auch begrifflich differenziert, durch die Verwendung des Differenzbegriffs zu untermauern. Ein weiterer Grund, den Differenzbegriff zu favorisieren, kommt hinzu: sein bildungsphilosophischer Gehalt, auf den hier lediglich am Rande verwiesen werden kann. Die radikale Unbestimmbarkeit des Individuums, seine radikale Differenz und damit jene entscheidende Dimension menschlicher Potenzialität verweisen auf eine Dimension, die pädagogisch und professionalisierungstheoretisch anschlussfähig, aber nicht zu hintergehen ist (Masschelein &Wimmer 1996). Die im Vorangegangenen entfalteten Überlegungen zum Heterogenitätsbzw. Differenzdiskurs im Kontext der Grundschule, die nicht zuletzt auf eine spezifische Forschungsprogrammatik verweisen, seien mit einem Zitat von RiegerLadich (2017: 41) zur Heterogenitätsproblematik abgeschlossen: Demnach reiche es nicht aus, „sich nur für jene Diskurse zu interessieren, die auf der Vorderbühne geführt werden oder sich aus einer didaktischen Perspektive der Gestaltung des Unterrichts zuzuwenden. Nicht weniger wichtig ist es, jene Kämpfe und Auseinandersetzungen in den Blick zu nehmen, die auf der Hinterbühne ausgetragen werden. Wir müssen uns [hier zitiert Rieger-Ladich Emcke (2016), I.D.] ‚für die kleinen und gemeinen Techniken der Exklusion in Gesten und Gewohnheiten, Praktiken und Überzeugungen‘ interessieren und ihnen unsere Aufmerksamkeit schenken. Hier, auf der Hinterbühne, in den leicht zu übersehenden Nischen und den Routinen des pädagogischen Alltags, muss sich erweisen, ob die Einrichtungen des Bildungssystems etwas zu einer Gesellschaft beizutragen vermögen, die von Ideen der Liberalität und Pluralität, von Gleichheit und Gerechtigkeit geprägt ist.“

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Differenz – die pädagogische Herausforderung in der Schule für alle Kinder

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Neu zugewanderte Kinder im Bildungs- und Aufnahmesystem – Kindheitstheoretische und erziehungswissenschaftliche Verortungen Charlotte Röhner1

Keywords: Migrationsbezogene Kindheits- und Schulforschung

Abstract Die Lebenslagen, Bildungs- und Teilhabechancen neu zugewanderter Kinder im Transmigrationsprozess werden auf der Grundlage ausgewählter Studien der Kindheits- und Schulforschung untersucht und in kindheitstheoretisch-migrationspädagogischer Perspektive beurteilt.

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Einleitung

Der gesellschaftliche Diskurs um Migration und Einwanderung ist mit den aktuellen Flüchtlingsbewegungen in Folge von Krieg, Verfolgung und Vertreibung in Syrien, Irak oder Afghanistan sowie in Folge globaler ökonomischer und ökologischer Krisen zu einem bestimmenden Faktor politischer Auseinandersetzungen in Europa um die Aufnahme geflohener und asylsuchender Menschen, ihrer Familien und Kinder, geworden. „Noch nie“ – so die Analyse von Mecheril (2016: 9) – „waren weltweit so viele Menschen bereit, aufgrund von Umweltkatastrophen, (Bürger-) Kriegen und anderen Bedrohungen gezwungen und aufgrund der technologisch bedingten Veränderungen von Zeit und Raum in der Lage, ihren Arbeits- und Lebensmittelpunkt auch über größere Distanzen zu verändern.“ Migration versteht Mecheril (ebd.) als universelle menschliche Handlungsform und unter den spezifischen heutigen Bedingungen als Ausdruck der „‚modernen Idee‘, dass Menschen befugt und in der Lage sind, auf ihr eigenes, nicht zuletzt auch 1

Charlotte Röhner | Goethe-Universität Frankfurt | [email protected]

© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 N. Skorsetz et al. (Hrsg.), Diversität und soziale Ungleichheit, Jahrbuch Grundschulforschung 24, https://doi.org/10.1007/978-3-658-27529-7_3

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mit dem jeweils geographischen, ökologischen, politischen und kulturellen Ort verbundenes Schicksal“ Einfluss zu nehmen. Insofern repräsentieren Menschen, die migrieren, den Typus einer „modernen Lebensführung“, die sich in Referenz zu Immanuel Kant des eigenen Verstandes bedienen und sich aus einer Position befreien, welche die geopolitische Ordnung ihnen aufgezwungen hat (ebd.). In die Regulierung von Migration – im Spannungsfeld von Öffnungs- und Schließungsprozessen – sind die Erziehungs-, Bildungs- und Aufnahmeinstitutionen maßgeblich einbezogen. Im Hinblick auf die neu zugewanderten und geflüchteten Kinder stellen sich grundlegende Fragen nach ihrer Anerkennung und ihrem Status im Aufnahmeland ebenso wie Fragen nach ihrem Anspruch auf Bildung und Fürsorge und eine Lebenssituation, die dem Wohl von Kindern verpflichtet ist. Damit sind Problemstellungen an der Schnittstelle von Erziehungswissenschaft, Migrationspädagogik und Kindheitstheorie aufgeworfen, die im Folgenden in ihrer theoretischen Verortung diskutiert und im Hinblick auf die Situation neu zugewanderter Kinder im Bildungs- und Aufnahmesystem untersucht werden. Bevor die Studien zu geflüchteten und migrierten Kindern im Bildungsund Aufnahmesystem dargestellt werden, wird der leitende Diskurs- und Analyserahmen präzisiert und erläutert, welches Verständnis von Erziehungs-, Migrations- und Kindheitstheorie zugrunde gelegt wird.

2 Migrationspädagogische und kindheitstheoretische Verortungen Die Migrationspädagogik, wie sie im Kontext gesellschaftskritischer Diskurse verortet ist, untersucht Bildungsphänomene und Bildungsprozesse in der Migrationsgesellschaft macht- und differenztheoretisch. Sie analysiert die Positionierungen migrierter Kinder und Jugendlicher in pädagogischen Handlungsfeldern und die damit verbundenen gesellschaftlichen Ein- und Ausschlussprozesse. Theoretisch maßgeblich im postkolonial antirassistischen und poststrukturalistischen Diskurs verankert fragt sie nach den mit transnationaler Migration verknüpften Differenzverhältnissen in allen pädagogischen Bereichen und Handlungsfeldern und analysiert migrationsgesellschaftliche Bildungsregime daraufhin, welche explizite und implizite Idee und Konzeption von Bildung sie vertreten (Mecheril 2003, 2016). Kennzeichnend für die Migrationspädagogik ist ihr Verständnis als allgemeine Bildung in humanistischer Tradition, die Bildung als möglichst umfassende Auseinandersetzung des Menschen mit der Welt und die allseitige Entwicklung der Kräfte in Wechselwirkung von Ich und Welt versteht (Koller 2016). Migrationspädagogik richtet sich nicht allein auf die Bildungs- und Teilhabeprozesse

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Charlotte Röhner

Migrierter, sondern ebenso auf die Bildungsprozesse und gesellschaftlichen Kontexte Nicht-Migrierter, die von der Dynamik migrationsgesellschaftlicher Prozesse, Transformationen und Polarisierungen ebenso erfasst sind wie die neu Zugewanderten. Sie versteht sich in Abgrenzung zur Interkulturellen Pädagogik explizit nicht als Zielgruppenpädagogik (Mecheril 2016), wie sie Auernheimer (2012) als das weite Feld der Integrationshilfen für neu zugewanderte Kinder und Jugendliche vertritt. Sie stellt insofern keine „Sonderpädagogik“ für neu zugewanderte Kinder und Jugendlicher dar, sondern richtet sich im Verständnis allgemeiner Bildung und ihrer normativen Ansprüche auf universale Dimensionen von Bildung und Erziehung, wie sie für die Subjektivierungs- und Bildungsprozesse aller Educand*innen ausgewiesen sind. Mit diesem subjektivierungstheoretischen Anspruch ist Migrationspädagogik hoch anschlussfähig an die Kindheitstheorie, die mit dem Konzept von Agency und dem normativ unterfütterten Konzept des Well-Being von Kindern einen bedeutsamen Fokus kinderwissenschaftlich-kindheitstheoretischer Forschung repräsentiert. Die erkenntnisleitenden kindheitstheoretischen Zugänge dieses Beitrags richten sich am Konzept von Agency und Well-Being aus und werden im Folgenden präzisiert. In der Kindheitstheorie gilt das Konzept des Kindes als handlungsfähigem sozialem Akteur als leitendes Paradigma, das Kinder als „Autoren ihrer Entwicklung und kompetente Interpreten ihrer sozialen Welt“ (MacKay 1973: 31) konzeptualisiert. Zwar wird an diesem Konzept von Kindern als sozialen Akteuren kritisiert, dass es westlich-normativ aufgeladen ist und die realen Machtverhältnisse und sozial ungleichen Bedingungen von Kindheit weitgehend ignoriert. Gleichwohl kann in einer migrationspädagogischen Perspektive unter der Figur des Kindes als Akteur seiner Entwicklung danach gefragt werden, welche Entwicklungs- und Teilhabechancen neu zugewanderten Kindern in der Migrationsgesellschaft haben und wie ihre soziale Handlungsfähigkeit im Zugang zur sozialen Welt der Aufnahmegesellschaft unterstützt und gefördert werden. Unter dem Aspekt der Angewiesenheit auf sorgende Beziehungen, ein Leben in Sicherheit und den spezifischen Bedürfnissen und Vulnerabilitäten geflüchteter und migrierter Kinder richtet sich der kindheitstheoretische Blick zudem auf das Well Being von Kindern im Transmigrationsprozess. Die Child-Well-Being-Forschung (BenArieh 2008) stellt einen bedeutsamen internationalen Forschungskontext zur Lage von Kindern dar, die dem Ansatz des Capability Approachs folgend nach den Verwirklichungschancen eines „guten Lebens“ und nach den Handlungs-, Teilhabe und Partizipationsmöglichkeiten von Menschen resp. Kindern fragt (Sen 1985). Insofern wird im Folgenden nach dem objektiven und subjektiven Wohlbefinden neu zugewanderter und geflüchteter Kinder in den Bildungs- und Aufnahmeinstitutionen sowie nach ihren Partizipations- und Verwirklichungschancen

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gefragt und ihre Lebenslage und Bildungsteilhabe in migrations- und kindheitstheoretischer Perspektive analysiert, wie sie in ausgewählten empirischen Studien der kindheits- und schulpädagogischen Forschung untersucht sind.

3 Kindheitstheoretische Studien zu geflüchteten und migrierten Kindern Die Lebenslage und das Wohlergehen geflüchteter Kinder in den Aufnahmeeinrichtungen wurden in zwei UNICEF-Studien sowie in einer Studie von World Vision Deutschland und der Hoffnungsträgerstiftung erhoben. Die UNICEF-Studien (Berthold 2014; Lewek & Naber 2017) untersuchen die Lebenssituation von Kindern unter dem rechtlichen Rahmen der UN-Kinderrechtskonvention (KRK), die eine Orientierung jeglichen staatlichen Handelns an den „best interests of the child“ beweisen muss. Die Ergebnisse der beiden aufeinander aufbauenden Studien zeigen, dass die Kinder in Flüchtlingsunterkünften über lange Zeiträume in einem wenig kindgerechten Umfeld leben. Beengte Wohnverhältnisse, mangelnde Privatsphäre und fehlende Rückzugsorte in den Unterkünften führen dazu, dass Kinder und Jugendliche keine Ruhe zum Lernen oder Spielen haben und sie in den Einrichtungen auch vor Gewaltübergriffen Erwachsener nicht sicher sind. Die problematischen hygienischen Bedingungen stellen eine besondere Belastung und Einschränkung des Rechts auf körperliche Unversehrtheit dar. Auch ist der Zugang zu Gesundheitsleistungen beschränkt, was insbesondere auch im Hinblick auf den therapeutischen Bedarf in Folge von Flucht und Vertreibung fragwürdig ist, weil die notwendige medizinisch-therapeutische Behandlung nicht vorgehalten wird. Insgesamt sind geflüchtete Kinder und Jugendliche gegenüber Gleichaltrigen in Deutschland direkt oder indirekt benachteiligt. Während in den UNICEF-Studien nur Erwachsene und Jugendliche befragt wurden, nimmt die Studie der World Vision Deutschland und Hoffnungsträgerstiftung (2016) die Perspektiven der Kinder in den Blick und führte mit geflüchteten Kindern im Alter zwischen 10 und 13 Jahren Interviews zu ihrer Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft durch. Wesentlich für diese Studie ist, dass sie sowohl das Wohlbefinden als auch die Vulnerabilität von Kindern untersucht und auch die mit Krieg, Flucht und Vertreibung verbundenen Risiken und Abhängigkeiten der geflüchteten Kinder in das Zentrum der Analyse stellt. Die Ergebnisse der Studie im Überblick sind: Die Familie ist der erste und wichtigste Ort, der geflüchteten Kindern Halt und Sicherheit bietet. Die familiären Beziehungen sind aber in Folge von Flucht und Migration durch Beziehungsabbrüche und den Verlust von Familienmitgliedern geprägt. Neben der Familie sind Freundschaften zu anderen Kindern hochbedeutsam. Auch wenn alte Freund*innen zurückgelassen

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werden mussten, wird durch neu geknüpfte Beziehungen zu Gleichaltrigen das Ankommen, Hineinwachsen und die Integration erleichtert und unterstützt. Die Schule wird von den Kindern als Ort der Bildung und des Sprachelernens ausgesprochen wertgeschätzt. Im Hinblick auf die Bedeutung von Sicherheit und Schutz sind ein unsicherer Aufenthaltsstatus und Gemeinschaftsunterkünfte mit beengten Wohnverhältnissen sowie die geringen Möglichkeiten für Rückzug und Privatsphäre dem Anspruch auf Kindeswohl nicht zuträglich. Auch wird über einschneidenden materiellen Mangel und über die Abhängigkeit geflüchteter Familien von externen Entscheidungsträgern berichtet, welche die täglichen Handlungsabläufe und auch die Selbstbestimmungsmöglichkeiten der Kinder einschränken. Von traumatisierenden Erlebnissen sind alle befragten Kinder betroffen. Eine aufschlussreiche Studie zur Lebenslage und den eingeschränkten Handlungsspielräumen geflüchteter und migrierter Kinder mit unsicherem Aufenthaltsstatus hat Eisenhuth (2015) durchgeführt, in der im Theorierahmen des Capability Approach die Teilhabemöglichkeiten der Kinder sowie die erfahrenen Fremd- und damit verbundenen Selbstpositionierungen der Kinder untersucht werden. In ihrem Befund weist Eisenhuth (2015) nach, welche eingeschränkten Handlungsund Entfaltungsmöglichkeiten Kinder im Hinblick auf Teilhabe, Konsum, Mobilität und Freiräume erleben und welchen strukturellen Diskriminierungen sie in der Position des unsicheren Aufenthaltsstatus ausgesetzt sind. Die Positionierung als „ethnisch Andere“ und die damit verbundenen rassistisch hinterlegten Unterscheidungspraxen werden insbesondere in pädagogischen Institutionen erfahren. Zu Kindheiten in europäischen Migrationsgesellschaften hat Kämpfe (2019) eine Studie vorgelegt, in der sie unter der kindheitstheoretischen Rahmung von Agency und Well-Being die kollektiven Orientierungen zugewanderter Kinder in Deutschland, Frankreich und den Niederlanden untersucht. In ihrer Analyse konnte sie zwei Typen kollektiver Orientierung identifizieren: Typ 1 umfasst Gruppen, die sich vor dem Hintergrund migrationsbezogener Differenzerfahrungen in ihren kollektiven Orientierungen als sicher und zielgerichtet zeigen, dagegen positionieren sich die dem Milieutyp 2 zugeordneten Gruppen in Bezug auf Erfahrungen von Differenz in ihrer Akteursschaft als überwiegend irritiert bis verunsichert. Kinder der Fallgruppe 2 erleben sich als „ethnisch Andere“ positioniert und sind in ihrer Selbstwahrnehmung von den damit verbundenen Ausschlüssen und Diskriminierungserfahrungen geprägt. Welche Perspektiven einheimische Kinder auf die Fluchtthematik haben, wurde im Rahmen der 4. World Vision Studie (Andresen, Neumann & Public 2018) untersucht. Danach gibt fast jedes zweite Kind im Alter von 6 bis 11 Jahren an, dass geflüchtete Menschen im eigenen Wohnumfeld untergebracht oder zugezogen sind. Die Mehrheit der Kinder berichtet, Geflüchtete getroffen, aber bisher nichts mit geflüchteten Kindern zusammen unternommen zu haben. Als häufigste

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Kontaktgelegenheit werden die Schule und die eigene Klasse benannt, was auf die hohe Bedeutung der Schule als Kindheits- und Integrationsort in der Migrationsgesellschaft verweist. Dagegen sind die außerschulischen Kontaktmöglichkeiten deutlich eingeschränkter. Die Art und die Intensität des Kontakts hängen von den Gelegenheiten zur Kontaktaufnahme ab. Generell gilt, dass je enger der Kontakt ist, desto positiver bewerten die Kinder ihre Erfahrungen mit Geflüchteten. Im Hinblick auf die Einstellungen und Haltungen gegenüber geflüchteten Kindern werden Mitfühlende (67 %), Offene und Einbeziehende (22 %) und Distanzierende (11 %) identifiziert (ebd.). In der pädagogischen Bewertung der Befunde werden das Kennenlernen und der Kontakt als Schlüssel für ein gemeinsames Miteinander gekennzeichnet, in dessen Rahmen Vorurteile abgebaut und positive soziale Kontakte gestiftet werden können. Die Haltungen einheimischer Kinder gegenüber geflüchteten Kindern sind überwiegend durch prosoziale, gerechtigkeitsorientierte Normen bestimmt, sodass für die gleichberechtigte Teilhabe neu zugewanderter Kinder in der Peergesellschaft günstige Voraussetzungen bestehen, wenn die Kontakte offensiv entwickelt und in der Schule als zentralem Kindheitsort in der Migrationsgesellschaft unterstützt und zur Geltung gebracht werden.

4 Beschulung neu zugewanderter Kinder zwischen Integration und Segregation Zur Beschulung der neu zugewanderten Kinder hat das deutsche Bildungssystem mit einem „Comeback der Vorbereitungsklasse“ (Brüggemann & Nikolai 2016: 1) reagiert, die in vielen Bundesländern den Regelfall der Beschulung darstellt. Dieser Rückgriff auf ein Beschulungsmodell irritiert insofern, als deren pädagogische Praxis in den zurückliegenden Jahren nicht untersucht wurde und über die konkrete Gestaltung und die Wirksamkeit und Effekte des Unterrichts in Vorbereitungsklassen wenig bekannt ist (ebd.). Die Beschulungsformen lassen sich in ihrem Format nach submersiven, integrativen, teilintegrativen, parallelen und auf Dauer parallel gestellte Modellen unterscheiden, wie die Übersicht zu den Beschulungsmodellen bei von Dewitz und Massumi (2017) zeigt. Das Comeback der Vorbereitungs- und Seiteneinsteigerklasse als Organisationsmodell für die Beschulung neu zugewanderter Kinder und Jugendlicher steht in der „Tradition eines auf Separation zielenden institutionellen Umgangs mit Migration“ (Karakayalı & zur Nieden 2013: 62) und den damit verbundenen Homogenitätsvorstellungen der deutschen Schule, in der eine heterogene Zusammensetzung nicht als Normalfall verstanden wird.

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Zum Unterricht in Vorbereitungsklassen liegen nur vereinzelt empirische Studien vor. Für Baden-Württemberg hat Decker-Ernst (2017) eine Gesamterhebung durchgeführt, deren Ergebnisse in diesem Band dargestellt sind (Röhner, Decker-Ernst, Salem & Hettich i. d. Bd.). Das Modell der sog. „Willkommensklassen’“ im Bundesland Berlin haben Karakayalı, zu Nieden, Kahveci, Groß, Heller & Güleryüz (2016) untersucht. Im Hinblick auf die Gestaltung des Unterrichts zeigen sich vergleichbare Befunde wie in der Studie von Decker Ernst: Es existiert kein einheitliches Curriculum, daher variieren die Unterrichtsinhalte von Klasse zu Klasse. Auch das Ziel intensiver sprachlicher Förderung wird von den Lehrkräften unterschiedlich ausgelegt. Es besteht weitgehend Unklarheit, was, wie und mit welchem Material gelernt wird, und es hängt weitgehend von der Lehrkraft ab, welche Inhalte unterrichtet werden. Die Mehrheit der Lehrkräfte hat keine DaZ-Qualifikation und ist für das Unterrichten neu zugewanderter Kinder nicht ausgebildet. Zwar werden Kontakte und gemeinsamer Unterricht mit den Regelklassen angestrebt, dagegen berichten viele Lehrkräfte, dass die „Willkommensklassen“ aufgrund ihrer Separiertheit im Schulalltag häufig „vergessen“ werden. Als pädagogisch äußerst bedenklich sind folgenden Effekte der separaten Beschulung zu bewerten: Die Separierung erfolgt an einigen Schulen auch räumlich in abgelegene Teile des Schulgebäudes; an einer Schule fand die Beschulung in der nahegelegenen Unterkunft statt, sodass die Kinder der „Willkommensklasse“ so gut wie keinen Kontakt zu den einheimischen Schüler*innen hatten. Die „Willkommensklassen“ werden schulintern auch genutzt, um als störend empfundene Schüler*innen aus den Regelklassen zu entfernen. Zu beobachten ist auch eine Verstetigung der „Willkommensklassen“, die im Anschluss als Regelklassen weitergeführt oder an räumlich entfernten Filialschulen ausgelagert werden, an denen ausschließlich neu zugewanderte Kinder und Jugendliche unterrichtet werden. Karakayalı et al. (2016) beurteilen die im Modell der „Willkommensklasse“ vorgefundenen Rahmenbedingungen des Unterrichts und Strategien des Umgangs mit neu zugewanderte Kinder als „Sackgasse“ in der Beschulung, die mit rassistischen Ausschlüssen verbunden ist und dem inklusiven Anspruch der Grundschule in keiner Weise Rechnung trägt. Die Differenzkonstruktionen, die mit der separaten Beschulung einhergehen, positionieren die neu zugewanderten Kinder und Jugendlichen als nicht-zugehörig zur natio-ethno-kulturellen Zugehörigkeitsordnung der Aufnahmegesellschaft (Mecheril 2003) und ordnen sie als die nicht-zugehörigen Statusniedrigeren in der gesellschaftlichen Machthierarchie als Inferiore ein. Seiteneinsteigerklassen stellen strukturell eine Form des institutionellen Otherings (Spivak 1985) dar, dessen Folgen für die Selbst- und Fremdpositionierungen neu zugewanderter und einheimischer Kinder vielfach unbedacht sind. Die in der Fachdiskussion wie der öffentlichen Diskussion stets geforderte

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Integration wird in der Konstruktion der Vorbereitungsklassen insofern konterkariert, als Separation praktiziert und die alleinige Vermittlung der deutschen Sprache als kulturell-sprachliche Norm gesetzt wird. Die mononationale, monolinguale und monokulturelle Ausrichtung deutscher Bildungsinstitutionen, wie sie Krüger-Potratz (2005) in einem historisch-systematischen Überblick bilanzierte, setzt sich auch in der aktuellen Beschulungspraxis neu zugewanderter Kinder und Jugendlicher fort.

5 Migrationspädagogisch-inklusive Schul- und Unterrichtsentwicklung als Herausforderung an die Integrationskraft der Grundschule Separate Beschulungsformen für neu zugewanderte Kinder stellen die Integrationskraft der Grundschule fundamental in Frage. Dagegen eröffnen inklusive Modelle, wie das Modell der GO-In-Klassen im Kreis Unna, eine kulturell-sprachliche und soziale Integration innerhalb des gesamten Schullebens und des Unterrichts. Das kommunale Kooperationsprojekt versteht die Integration neu zugewanderter Kinder als gemeinsame Aufgabe der Kommune als Bildungsträger und qualifiziert pädagogische Fachkräfte aller Schulformen in den zentralen Themen von DaZ/DaF, Alphabetisierung, Diagnostik, sprachsensiblem Fachunterricht, migrationssensibler Schulentwicklung und Traumapädagogik (www.kfi.nrw.de). Die Sofortintegration neu zugewanderter Kinder wurde auch im Rahmen des MIKS-Projekt „Mehrsprachigkeit als Handlungsfeld interkultureller Schulentwicklung“ vorgenommen (Fürstenau 2017), das an Grundschulen Konzepte eines konstruktiven Umgangs mit Mehrsprachigkeit entwickelte. Während der Projektzeit waren die beteiligten Schulen mit dem Zuzug neu zugewanderter Kinder konfrontiert. Eine der Projektschulen entschied sich die Kinder direkt in Regelklassen einzuschulen und gleichmäßig auf alle Klassen zu verteilen. Dabei erwies sich der offene und konstruktive Umgang mit den neu angekommenen Sprachen als äußerst wertvoll für das Ankommen und die Integration der neu zugewanderten Kinder. Das MIKS-Projekt weist in seiner Ausrichtung auf Mehrsprachigkeit auf eine grundlegende Leerstelle in der Beschulung neu zugewanderter Kinder und Jugendlicher hin, deren mehrsprachige Biographien im Unterricht der traditionellen Vorbereitungsklassen nicht berücksichtigt werden. Internationale wie nationale Studien zum multilingualem Lernen und das jüngere Konzept des Translanguaging in Education (García, Ibarra, Johnson & Seltzer 2017; Fürstenau & Niedrig 2018) zeigen „Best Practice Beispiele“ sprachlicher Bildung in multilingualen Gruppen, die für eine mehrsprachig orientierte Unterrichtsentwicklung in Deutschland noch zu entdecken sind.

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In der Bilanz besteht ein erheblicher Forschungsbedarf hinsichtlich der Effekte des Unterrichts und der Beschulungsformen für neu zugewanderte Kinder, der sich sowohl auf die Effekte der sprachlichen Kompetenzvermittlung als auch auf die Differenzierungspraktiken und die damit verbundenen Selbst- und Fremdpositionierungen von Kindern und Lehrkräften bezieht. Hoffnung auf die Zukunft der Grundschule als Integrations- und Kindheitsort in der Migrationsgesellschaft machen zum einen die selbstsicheren wie widerständigen Positionierungen der neu zugewanderten Kinder als handlungsfähige Akteure, die unter bestimmtem Kontextbedingungen gegeben sind, wie zum anderen die überwiegend prosozial-sensitiven Einstellungen der einheimischen Kinder gegenüber geflüchteten Kindern. Im Verhältnis von Subjekt und Struktur sind jedoch die gesellschaftlichen Differenz- und Machtstrukturen in den institutionellen Feldern des Bildungs- und Aufnahmesystems ein bestimmender, wirkmächtiger Faktor in den Lebensverhältnissen wie in der Bildungsteilhabe neu zugewanderter Kinder, die es zu reflektieren und zu untersuchen gilt. Deshalb ist der Wandel der gesellschaftlichen Institutionen in der Migrationsgesellschaft prioritär, und im Hinblick auf die Schule ist eine Veränderung der Institutionen des Regelschulsystems zu fordern, die den Herausforderungen einer sich pluralisierenden Migrationsgesellschaft Rechnung tragen. In diesem Zusammenhang weist Fürstenau (2017) problemsichtig daraufhin, dass sich das Regelsystem trotz Neuzuwanderung nicht weiterentwickelt, da die speziell eingerichteten Vorbereitungsklassen parallel zum Regelunterricht laufen und aus dieser Organisationsform keine Impulse für die Weiterentwicklung einer inklusiven Schulentwicklung in der Migrationsgesellschaft ausgehen. Fürstenau (2017: 3) schlussfolgert aus den Befunden, dass eine gleichberechtigte Teilhabe von neu zugewanderten Kindern und Jugendlichen am Unterricht „langfristig weder durch ein Parallelsystem (Vorbereitungsklassen) noch durch die Anstrengungen einzelner Lehrkräfte erreicht werden. Stattdessen bedarf es einer Schul- und Unterrichtsentwicklung, die migrationsbedingte Heterogenität als grundlegende Bedingung der Gestaltung von Schule und Unterricht anerkennt“ und - ich füge hinzu - die Grundschule als Kindheitsort in der Migrationsgesellschaft entwickelt wird, an dem die Verwirklichungs-, Handlungs- und Teilhabemöglichkeiten aller Kinder umfassend berücksichtigt sind.

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Aktuelle Herausforderungen in der Erforschung von sozialer Ungleichheit und Benachteiligung im Bildungssystem aus Sicht quantitativer und qualitativer methodischer Zugänge Astrid Jurecka und Anja Hackbarth1

Keywords: Ungleichheit, Differenz, quantitatives Paradigma, qualitativ-rekonstruktive Perspektive

Abstract Der Beitrag fokussiert auf ausgewählte methodenspezifische Herausforderungen einer primarstufenbezogenen Ungleichheits- und Differenzforschung aus Perspektive des quantitativen sowie qualitativ-rekonstruktiven Forschungsparadigmas. Aus Sicht der quantitativen Forschung wird dabei beispielhaft auf inhaltsund konstruktvaliditätsbezogene Bereiche wie „Teaching to the Test“ und "Testfairness" eingegangen, aus qualitativer Perspektive werden vor allem das Reifikations- und Kausalitätsproblem einer erziehungswissenschaftlichen Ungleichheitsforschung thematisiert.

1

Einführung

Bildungsbezogene Ungleichheiten sind nach Kelle, Schmidt und Schweda (2017: 64) “strukturell ungleich verteilte Bildungschancen, Bildungsentscheidungen, 1

Astrid Jurecka | Goethe-Universität Frankfurt | [email protected] Anja Hackbarth | Johannes Gutenberg-Universität Mainz | [email protected]

© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 N. Skorsetz et al. (Hrsg.), Diversität und soziale Ungleichheit, Jahrbuch Grundschulforschung 24, https://doi.org/10.1007/978-3-658-27529-7_4

Aktuelle Herausforderungen in der Erforschung von sozialer Ungleichheit und Benachteiligung

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Bildungsbeteiligungen, Bildungslaufbahnen und Bildungsabschlüsse“. Von Ungleichheit ist nur dann zu sprechen, wenn sich eine Ungleichverteilung unter Bevölkerungsgruppen als strukturell stabil und regelmäßig erweist (ebd.). Das impliziert zum einen, dass nicht alle Unterschiede auch Unterschiede im Sinne von Ungleichheit bedeuten, und zum anderen, dass Unterschiede unterschiedlich verschieden sind (u. a. Walgenbach 2014). Emmerich und Hormel (2017: 103) machen auf die Beobachterrelativität der Gegenstandskonstitution von sozialer Differenz und gesellschaftlicher Ungleichheit aufmerksam. Dieses aufgreifend, soll es im Folgenden gelingen, Perspektiven der Erforschung von Ungleichheit und Benachteiligung im Verständnis eines quantitativen und qualitativ-rekonstruktiven Forschungsparadigmas aufzuzeigen. Der vorliegende Beitrag basiert auf der Keynote der Nachwuchstagung im Rahmen der Jahrestagung der DGfE-Kommission Grundschulforschung und Pädagogik der Primarstufe. Ziel ist es, anhand ausgewählter Beispiele aktuell existierende methodische Herausforderungen in der Erforschung sozialer Ungleichheit im Bildungssystem, auch und insbesondere in der Grundschule, darzustellen.

2 Herausforderungen in der Erforschung von Ungleichheit aus quantitativer Perspektive Hauptziel in der quantitativen Bildungsforschung ist das Generieren von Wissen über Zusammenhänge, Bedingungsfaktoren und Wirkmechanismen in Bezug auf Lehr- Lernprozesse mit Hilfe quantitativer Forschungsmethoden. Vermehrt spielt dabei auch die gezielte Erklärung von Effekten bildungsbezogener sozialer Ungleichheiten eine Rolle, da Bildung diesbezüglich als eine Basisdimension bezeichnet werden kann (z. B. Hradil 2001). So wurde etwa im Rahmen großer Schulleistungsstudien (z. B. PISA, IGLU) wiederholt ein statistisch relevanter Zusammenhang zwischen verschiedenen Ungleichheitsdimensionen und dem Bildungserfolg aufgezeigt (z. B. Bos, Valtin, Hußmann, Wendt & Goy 2017), was auf eine systematische, bildungsbezogene Benachteiligung durch die Zugehörigkeit zu bestimmten sozialen Gruppen hinweist. In der quantitativen Bildungsforschung werden diesbezüglich unterschiedliche Variablen berücksichtigt, von denen angenommen wird, dass sie zu einer solchen bildungsbezogenen Benachteiligung führen könnten. So werden etwa unter anderem Indikatoren für die Dimensionen Geschlecht, Migration/Sprache sowie den sozioökonomischen Status gezielt in Forschungsdesigns sowie Analysen einbezogen. Dimensionen der Ungleichheit spielen auch bereits in der Grundschule eine Rolle, etwa bezüglich der am Ende der vierten Jahrgangsstufe zu treffenden

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Schulübergangsentscheidungen (z. B. Dumont et al. 2014). Eine Aufgabe der Bildungsforschung besteht in diesem Zusammenhang „darin, wissenschaftliche Informationen auszuarbeiten, die eine rationale Begründung bildungspraktischer und bildungspolitischer Entscheidungen ermöglichen“ (Tippelt & Schmidt, 2009: 9). Dies kann dabei auf unterschiedlichen Ebenen erfolgen. So können empirische Studien ihren inhaltlichen Fokus etwa auf die bildungssystemische, aber auch auf die individuelle Schülerebene legen. Bildungsbezogene Effekte von Dimensionen der Ungleichheit spielen dabei auf allen Ebenen eine Rolle. Auf einer systemischen Ebene werden Schülerleistungen meist mit Hilfe der Messung von fachlichen und überfachlichen Kompetenzen erhoben. Der Fokus liegt dabei auf der Überprüfung bildungspolitisch gesetzter Ziele, etwa anhand von Bildungsstandards oder eines Vergleiches von Kompetenzen deutscher Schüler*innen mit denen anderer Länder (KMK 2016). Ziel ist dabei eine rein systembezogene Diagnostik, Aussagen über einzelne Schüler*innen sind nicht von Interesse. Quantitative Bildungsforschung auf Individualebene hingegen bezieht sich häufig auf das Treffen bildungsbezogener Entscheidungen für einzelne Schüler*innen sowie das dazu notwendige diagnostische Instrumentarium. Dies inkludiert etwa die Entwicklung, Normierung und Validierung standardisierter (Schul-)Leistungstests (beispielweise zur Feststellung von Leistungs- oder Teilleistungsstörungen oder besonderer Begabungen) sowie die Entwicklung von Interventionen zur Förderung schulischer Leistungen und damit zusammenhängender Fähigkeiten und Kompetenzen. Basis der quantitativen Bildungsforschung auf allen Ebenen ist die theoriebasierte Modellierung, Operationalisierung und Messung von Konstrukten – in diesem Zusammenhang bildungserfolgsrelevanter Merkmale – mit Hilfe von standardisierten Tests und Fragebögen. Tests dienen dabei als Bindeglied zu dem zu erfassenden, jedoch nicht direkt beobachtbaren und messbaren Merkmal. Mithilfe von pädagogisch-psychologischen Tests sollen daher latente Merkmale von Personen sichtbar gemacht werden, indem vom Antwortverhalten auf Testitems Rückschlüsse auf die Ausprägung des zu messenden Merkmals gezogen werden. Basierend auf der Notwendigkeit zur Sichtbarmachung latenter Konstrukte mit Hilfe von Testinstrumenten hängen Herausforderungen bezüglich der Erforschung bildungsbezogener sozialer Ungleichheit in der quantitativen Bildungsforschung oft eng mit der Frage nach der Validität der jeweils verwendeten Testverfahren zusammen. Diese kann definiert werden als der Grad an Übereinstimmung von „Testergebnissen mit dem, was der Test messen soll. (…). Es handelt sich um ein Urteil darüber, wie angemessen bestimmte Schlussfolgerungen vom Testwert auf das Verhalten außerhalb des Tests oder auf ein Merkmal der Person sind“ (Schmidt-Atzert & Amelang 2012: 142). Validität wird dabei klassischerweise in Konstruktvalidität (inwieweit erfasst und repräsentiert ein Test (ausschließlich) das zu messende Konstrukt?), Inhaltsvalidität (wie vollständig wird

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das Konstrukt anhand der verwendeten Items repräsentiert?) und Kriteriumsvalidität (Zusammenhänge zwischen dem Testergebnis und konstruktrelevantem Verhalten außerhalb des Tests) unterschieden (ebd.). Im Folgenden sollen beispielhaft zwei validitätsbezogene Herausforderungen bei der Erforschung, aber auch bezüglich der möglichen Genese bildungsbezogener Ungleichheit aus der quantitativen Bildungsforschung aufgezeigt werden. „Teaching to the Test“ Die Ergebnisse verschiedener Schulleistungsstudien auf systemischer Ebene (PISA/IGLU/TIMSS) weisen wiederholt auf bildungsbezogene Ungleichheiten hin. Für die Grundschule zeigen sich etwa in der IGLU-Studie statistisch bedeutsame Effekte für die Dimensionen Geschlecht, Migration/Sprache sowie sozioökonomischer Status/Bildungsstatus zugunsten der Mädchen, der Kinder ohne Migrationshintergrund, sowie der Kinder, deren Eltern einen höheren Bildungsstatus aufweisen (Bos et al. 2017). Auffällig ist dabei, dass diese Unterschiede in Deutschland vergleichsweise stark ausfallen und damit bedeutsamer als in vielen anderen Teilnehmerländern sind. Obgleich die Studien damit hoch relevant für das Aufzeigen und die Bewusstmachung solcher Unterschiede sind, wird die Teilnahme an international vergleichenden Schulleistungsstudien sowie die damit einhergehende kompetenzbasierte Erfassung von Leistungen jedoch auch kritisiert. So befürchten Kritiker etwa, dass es durch die Verwendung standardisierter, kompetenzbasierter Tests letztlich zu einer Leistungsverringerung von Schüler*innen kommen könnte. Ein diesbezüglich häufig geäußerter Kritikpunkt fokussiert sich dabei auf das sogenannte „Teaching to the Test“ (z. B. Koretz 2005). Dies bezieht sich auf das Ausrichten von Unterricht auf spezifische Testinhalte oder Aufgabenformate zur Vermeidung potentiell negativer individueller oder institutioneller Konsequenzen schlechter Testergebnisse, kommt also insbesondere bei sogenannten High-Stakes-Tests zum Tragen. Im Prinzip ist dies unproblematisch, so lange die verwendeten Tests die curricularen, bildungsbezogenen Ziele vollständig repräsentieren und somit eine hohe Konstrukt- und Inhaltsvalidität aufweisen. Problematisch kann es jedoch werden, wenn die zugrundeliegenden Testaufgaben und -inhalte nicht repräsentativ für das Gesamtkonstrukt sind, anhand der verwendeten Testitems also nicht alle zu vermittelnden Bildungsinhalte und Schülerkompetenzen operationalisiert werden. Eine starke unterrichtliche Fokussierung auf einzelne Teile von Konstrukten sowie das Vernachlässigen anderer relevanter Teilkonstrukte, Inhalte und Kompetenzen kann somit zu einer Konstruktunterrepräsentation (Koretz 2005) und als Konsequenz auch zu einer Einschränkung von Schülerleistungen in den ungetesteten Inhalts- und Kompetenzbereichen führen. Hier kehrt sich letztlich die Wirkrichtung zwischen Unterricht und

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Test um: nicht die unterrichtlichen und curricularen Ziele bestimmen den Testinhalt, sondern die Tests den Unterricht. Eine Herausforderung liegt daher in der Sicherstellung von Konstrukt- und Inhaltsvalidität der verwendeten Verfahren. Testfairness: Item Bias und differentielle Itemfunktionen Eine weitere validitätsbezogene Herausforderung bezieht sich auf die Fairness von Testaufgaben, dabei insbesondere auf sogenannte Item Bias (z. B. Holland & Wainer 1993). Eine Möglichkeit zur Feststellung von Item Bias besteht dabei in der Untersuchung von Testitems hinsichtlich sogenannter Differentiellen Item Funktionen (DIF; ebd.), die methodisch meist auf der Item Response Theorie basieren. DIF liegen dann vor, wenn die Wahrscheinlichkeit einer korrekten Antwort nicht allein von der Personenfähigkeit sowie der Itemschwierigkeit abhängt, sondern darüber hinaus von – eigentlich konstruktirrelevanten – Merkmalen wie etwa der Nationalität oder anderen Gruppenmerkmalen, die zwar für die korrekte Beantwortung eines spezifischen Items relevant, jedoch nicht Teil der eigentlich zu messenden Dimension sind. Ein Beispiel aus der DESI-Studie in Südtirol (Beck & Dahl 2006) zeigt beispielsweise, dass es bei dem dort eingesetzten kognitiven Fähigkeitstest (KFT; Heller & Perleth 2000) einen kulturellen Item Bias gab. So sollten Schüler*innen verbale Analogien bilden. 72% der deutschen Schüler*innen wählten die laut Testautoren korrekte Antwort, nämlich „Tee“ verhält sich zu „Kaffee“ wie „Brot“ zu „Brötchen“. Etwa 84% der südtiroler Schüler*innen wählten allerdings die falsche Antwort, nämlich „Keks“ statt „Brötchen“. Eine aus diesem Ergebnis ableitbare Annahme ist, dass „Brötchen“ kein üblicherweise verwendetes Wort in Südtirol darstellt, und dass nicht etwa eine geringere verbale Intelligenz Ursache der Gruppenunterschiede zu sein scheint, sondern eine unterschiedliche sprachliche Sozialisation in den beiden Ländern (ebd.: 12). Fazit Bei den dargestellten testbezogenen Herausforderungen handelt es sich um Probleme der Konstrukt- und Inhaltsvalidität. Dabei sind vor allem die Konsequenzen von Testergebnissen von Relevanz, da diese unmittelbar Einfluss auf bildungsbezogene Entscheidungen haben. Im Falle ungenügender Testvalidität führt dies dazu, dass die Entscheidung nicht (nur) auf Basis des eigentlich zu messenden Konstrukts gefällt wird. Bildungsbezogene Ungleichheit kann dadurch systematisch begünstigt werden, etwa im Falle von Testitems mit ungenügender Fairness. Mittlerweile werden daher Konsequenzen von Testwerten auch in Validitätsmodelle einbezogen. So definierte z. B. Messick (1989) in seinem Validitätsmodell die Interpretation und den Nutzen von Testwerten sowie, damit einhergehend, soziale Werte und Konsequenzen von Tests als Teil der Konstruktvalidität. Er stellte damit vor allem die Frage nach der Bedeutung und Zuverlässigkeit von auf

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Testergebnissen basierenden Rückschlüssen, sowie nach der Zulässigkeit darauf basierender sozialer Konsequenzen in den Mittelpunkt. Zusammenfassend scheint es angesichts existierender sozialer und bildungsbezogener Ungleichheiten aus Sicht der quantitativen Forschung notwendig, ein Augenmerk auf die Verwendung valider und fairer Testverfahren zu legen, nicht zuletzt um daraus möglicherweise zusätzlich entstehende test- und methodenbedingte Ungleichheit und Benachteiligung, auch und insbesondere in der Primarstufe, zu vermeiden.

3 Ungleichheit und Benachteiligung aus qualitativrekonstruktiver Perspektive In qualitativ-rekonstruktiven Verfahren steht die Entfaltung der Lebenswelt und des Relevanzsystems von Akteuren im Fokus der Analyse (Bohnsack 2014). Diese Analyseeinstellung ist geprägt von einem sozial-konstruktivistischen Verständnis von Wirklichkeit, d. h. der Annahme, dass Akteure im Rahmen sozialer Interaktionsprozesse gesellschaftliche Wirklichkeit herstellen. Dementsprechend ist es in einem ersten Schritt bedeutsam, die Konstruktionen der Akteure, die sogenannten Konstruktionen ersten Grades zu verstehen. Hier ist es relevant, nachzuvollziehen, was die Wirklichkeit aus der Perspektive der Akteure ist. In einem zweiten Schritt geht es um die Konstruktionen zweiten Grades respektive die Rekonstruktion der impliziten Wissensbestände, Strukturlogiken und Modi Operandi, die für die Alltagspraxis und das Alltagswissen der Beforschten leitend sind. Der mit diesen beiden Schritten verbundene methodisch geleitete Zugang des Wechsels der Analyseeinstellung zwischen den Konstruktionen ersten und zweiten Grades bringt ein rekonstruktives Verhältnis zu dem erforschten Gegenstand hervor. Bohnsack (2014) formuliert diesen Wechsel der Analyseeinstellung als ein Gütekriterium qualitativer Forschung. Auch wenn sich die qualitativ-rekonstruktiven Verfahren in ihren methodologischen Grundannahmen der Erkenntnisgenerierung grundlegend von quantitativen Methoden unterscheiden, lassen sich auch in diesem Feld die klassischen Gütekriterien der Validität, Reliabilität und Objektivität anwenden (ausführlich siehe: Przyborski & Wohlrab-Sahr 2014: 21ff.). Die erziehungswissenschaftliche Ungleichheitsforschung hat ihre Anfänge in den sogenannten Differenzpädagogiken, die sich u. a. als interkulturelle, feministische und integrative Pädagogik konturierten (Prengel 2006). Der Begriff der Differenz wird dabei vor allem hinsichtlich der Bedeutung für Ungleichheit und Macht verstanden (Diehm, Kuhn & Machold 2017). Eine rekonstruktive Bezugnahme auf den Gegenstand der Differenz stellt in diesem Forschungsparadigma

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„den Modus des Unterscheidens selbst und damit soziale Praktiken der Herstellung von Situationen, von Identitäten und von Institutionen in den Mittelpunkt“ (Tervooren & Pfaff 2018: 36). Differenzen werden in dieser Perspektive nicht als individuelle Merkmale von Personen angesehen, die Interaktionen und gesellschaftlichen Strukturen vorgängig wären. Eingenommen wird vielmehr eine Perspektive auf Differenz, die in Interaktionen und Praktiken hergestellt und reproduziert wird. Mit dieser Perspektive verbunden ist die Annahme, dass Differenzen und damit auch Ungleichheitslagerungen in und durch Schule bzw. durch das Bildungssystem als Ganzes hervorgebracht und/oder (re-)produziert werden (u. a. Diehm et al. 2017: 8ff.). Das Forschungsinteresse ist damit einerseits auf die Analyse eben dieser (Re-)Produktion sozialer Differenzen in schulischen und unterrichtlichen Interaktionen, inklusive der Normen, die diesen Differenzkonstruktionen inhärent sind, sowie der Analyse der wechselseitigen Bedingtheit von Differenzkategorien wie Geschlecht, Milieu/ Klasse, Dis-/Ability, Ethnizität gerichtet. Mit der Forschungsperspektive im Sinne von „‘difference‘ as an ongoing interactional accomplishment“ (West & Fenstermaker 1995: 8), sind vielfältige und wegweisende Erkenntnisse in Bezug auf Differenzkonstruktionen als soziale Praxis entstanden (u. a. Breidenstein & Kelle 1998; Diehm, Machold & Kuhn 2013). Vor allem in ethnographischen Studien findet sich dabei ein Fokus auf Anerkennung als Adressierungsgeschehen, das zumeist in Anlehnung an die Theorie der Subjektivierung von Judith Butler vollzogen wird (u. a. Idel & Rabenstein 2018). Studien mit diesem theoretischen Zugang vermögen aufzuzeigen, dass und wie im Unterricht Zuschreibungen und Positionierungen entlang von Normen vorgenommen werden, die z. B. Positionierungen von „Hilfsbedürftigkeit“ hervorbringen (Hackbarth 2017). Die Problematisierung dieser Subjektpositionierungen wird in der Gefahr der Stabilisierung und permanenten Adressierung und damit einhergehender Marginalisierungen von Schüler*innen gesehen (ebd.). Mit Blick auf die Erforschung von bildungsbezogener Ungleichheit eröffnen sich hier zwei forschungsmethodische Herausforderungen. Zum einen wären solcherart Differenzsetzungen empirisch auch als wiederkehrende Subjektpositionierungen zu identifizieren, was dann z. B. auf „Verfestigungen einer sozialen Hierarchie im Sinne einer lerngruppenspezifischen Leistungsordnung“ (Idel & Rabenstein, 2018: 49) verweisen könnte. Virulent ist hier die Frage der Replizierbarkeit von Erkenntnissen, die über den Einzelfall hinausweisen. Während das in quantitativen Verfahren über eine Standardisierung und Operationalisierung erfolgt (s. o.), gilt es in rekonstruktiven Verfahren die „Reproduktionsgesetzlichkeit der Fallstruktur“ (Przyborski & Wohlrab-Sahr 2014: 25) zu finden. Relevant ist hier die Suche nach Strukturelementen bzw. nach homologen Strukturen, die sich systematisch auch über diesen Einzelfall hinaus zeigen (ebd.). Zum anderen er-

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schließt sich die Rekonstruktion der Relation von Differenzkonstruktionen in sozialer Praxis und deren Fundierung in sozialstrukturellen Merkmalen nicht unmittelbar über das ethnographische Beobachten (Rabenstein, Reh, Ricken & Idel 2013: 669). Emmerich und Hormel (2017: 114, H.i.O.) argumentieren damit, dass „das performative Ergebnis – strukturierte Ungleichheit – […] ethnographisch nicht ex post entdeckt werden“ kann. Auf (makro-)strukturell ungleich verteilte Bildungschancen könnte nur dann geschlussfolgert werden, wenn Praktiken des „doing difference“ mit gesellschaftlich zugeschriebenen Differenzmerkmalen verbunden werden. Dieses als Reifikation bekannte Problem qualitativer Forschung bewegt sich dann in dem Dilemma, dass Kategorien, wie z. B. Migrationshintergrund und Geschlecht, notwendig werden, „um zu erklären, wer ungleich behandelt wird, damit Ungleichbehandlung überhaupt sichtbar gemacht werden kann“ (Emmerich & Hormel 2017: 115, H.i.O.). Das verweist auf methodologische Paradoxien, die Emmerich und Hormel als Kausalitätsprobleme erziehungswissenschaftlicher Ungleichheitsforschung bezeichnen. Damit wird einerseits sichtbar, dass eine qualitative Ungleichheitsforschung auf die statistischen Befunde der quantitativen Bildungsungleichheitsforschung angewiesen ist (ebd.). Andererseits wird deutlich, dass in Anknüpfung an differenzierungstheoretische Perspektiven (s.o.) die Herausforderung vor allem darin besteht, das Bildungssystem bezüglich der eigenen organisationsförmigen Selektionsprozesse zu beforschen (ebd.). Dazu bedarf es Studien, die die in Organisationen eingelagerten Macht- und Ungleichheitsprozesse rekonstruieren. Die Herausforderung ist es hier, die Komplexität von organisationsförmigen Strukturen empirisch zu fassen. Ansätze dafür liefern z. B. Forschungen zur Konstituierung von Normalisierung und Abweichung in kinderärztlichen Vorsorgeuntersuchungen (Kelle 2007) oder ethnisch-sprachlich kodierte Kategorisierungen in dem Artefakt und dem praktischen Vollzug der Anwendung eines Sprachtests (Diehm, Machold & Kuhn 2013: 653).

4 Ausblick Zur Minimierung der jeweiligen forschungsmethodenbedingten Herausforderungen wird vermehrt eine Abkehr von der „dominanten Abgrenzungsperspektive“ (Helsper & Klieme 2013: 283) zwischen den qualitativen und quantitativen Forschungsmethoden hin zu multimethodischen Forschungsdesigns gefordert. Sogenannte Mixed-Methods-Designs integrieren und kombinieren sowohl qualitative als auch quantitative Methoden miteinander, um so einen mehrperspektivischen Blick auf die Forschungsthematik zuzulassen. Beispielsweise liegt das Potential

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einer Kombination qualitativer und quantitativer Perspektiven für die Ungleichheitsforschung darin, dass die Genese und Relation (raumbezogener) Ungleichheitsstrukturen als spezifische Praktiken der Raumkonstitution über die Kombination von statistisch abbildbaren Verteilungen und Veränderungen von Inklusions-, Exklusions- und Förderquoten in einem Bildungsraum und einer darauf basierenden qualitativen Interviewstudie rekonstruiert werden (vgl. Hackbarth, Huth, Thönnes & Stošić 2019), wie es etwa im Projekt LoKoBi praktiziert wird.

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3 Strukturelle Mechanismen von sozialer Ungleichheit

Zum (prekären) Selbstverständnis der Grundschule als „Schule für alle Kinder“ Friederike Heinzel und Ralf Parade1

Keywords: Grundschule, Bildungsungleichheiten, Segregation, Schulwahl

Abstract Der Beitrag stellt vor dem Hintergrund empirischer Befunde zum Zusammenhang von sozialräumlicher Segregation und Bildungsungleichheiten das Selbstverständnis der Grundschule als „Schule für alle“ zur Disposition.

1

Das Selbstverständnis der grundlegend demokratisch gedachten „Schule für alle“

„Wer im November 1918 nach Hause fuhr, konnte erleben, dass ihm ein aufgeregter Matrose im Abteil erzählte, jetzt werde es nur noch eine Schule geben, wo alle, arm und reich, hineingingen, und dann werde man sehen, wo eigentlich die Begabten säßen.“ (Nohl 1935: 92) Dieses Zitat drückt die Erwartung ihrer egalisierenden Wirkung aus, welche die Geschichtsschreibung der Grundschule als Erfolgsgeschichte der Einheitsschule noch heute kennzeichnet (Tenorth 2000). Auch in einem aktuellen Papier zum Selbstverständnis der Grundschulpädagogik heißt es, die Grundschule sei „im deutschen Schulsystem die Schulform, in der die Vorstellung einer Schule für alle Kinder ihren konsequenten Ausdruck findet.“ (Götz et al. 2016: 3) Es erscheine „sowohl unter historischer wie aktueller Perspektive geradezu paradox, wenn die Grundschule in der externen Wahrnehmung als Schule der Auslese etikettiert wird.“ (ebd.) Eine solche Bestimmung des 1

Friederike Heinzel | Universität Kassel | [email protected] Ralf Parade | Universität Kassel | [email protected]

© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 N. Skorsetz et al. (Hrsg.), Diversität und soziale Ungleichheit, Jahrbuch Grundschulforschung 24, https://doi.org/10.1007/978-3-658-27529-7_5

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Selbstverständnisses schreibt die Vorstellung der Grundschule als einer „Schule für alle Kinder“ in der Tradition der Einheitsschulbewegung fort. Auch wenn darauf hingewiesen wird, dass Bildungspartizipation „nicht nur für behinderte, sondern für sämtliche benachteiligte Kinder ermöglicht werden soll“ (ebd.), steht aktuell die Auseinandersetzung mit dem sonderpädagogischen System im Zentrum, doch trägt nicht nur dieses dazu bei, dass die Grundschule weit davon entfernt ist, den formulierten Ansprüchen zu genügen.

2 Zum „prekären“ Selbstverständnis der Grundschule und Grundschulpädagogik Der Narration von der „Schule für alle“ kann zwar ein kollektives, sinn- und identitätsstiftendes Wirkungspotential innerhalb der Grundschulpädagogik durchaus zugeschrieben werden, aber um den Preis, dass die gesellschaftlichen Entwicklungen des Sozialraums und die damit verbundene Problematik des grundschulpädagogischen Prinzips der „Bindung an die nächste Schule“ (rechtlich: die Bedeutung von Schulsprengeln) in der internen Diskussion kaum wahrgenommen werden. Insofern erscheint uns dieses Selbstverständnis prekär, mithin unsicher und problematisch. Während der Strukturplan für das Bildungswesen von 1970 das Problem der Bildungsbenachteiligung durch kompensatorische Erziehung in der Primarstufe zu lösen hoffte und Entwicklungen des ländlichen Raums einbezog (erinnert sei an „die katholische Arbeitertochter vom Lande“), bleiben innerstädtische Bildungsdisparitäten und sozial-regionale Ungleichheiten in der aktuellen grundschulpädagogischen Diskussion weitgehend ausgeklammert. Zwar wird seit den 1980er Jahren stets hervorgehoben, dass die Anforderungen an die Integrationsleistung der Grundschule als „Schule für alle“ aufgrund von gesellschaftlichen Entwicklungen gestiegen seien, doch lag der Fokus zunächst auf der Diversifikation von Kindheiten und richtet sich nun auf inklusive Lerngelegenheiten und eine diversitäts- und ungleichheitssensible Unterrichtspraxis. Aktuell vorliegende Forschungsergebnisse zu sozialräumlichen Bildungsdisparitäten kommen nicht aus der Grundschulforschung, sondern aus Soziologie, Bildungsökonomie usf. Aus unserer Sicht entspricht die soziale Praxis der Grundschule aufgrund der Homogenisierung der Schülerschaft in den sozialräumlichen Einzugsgebieten nicht dem Ideal einer „Schule für alle Kinder“. Zugespitzt könnte man formulieren, dass nicht nur dieses Selbstverständnis unsicher geworden ist, sondern die Grundschule in bestimmten Stadtteilen „Orte der Aussichtslosigkeit“ managt und auch daran beteiligt ist, „das Prekariat“ mit geringen Aufstiegschancen vertraut zu machen.

Zum (prekären) Selbstverständnis der Grundschule als „Schule für alle Kinder“

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3 Soziale Segregation, Grundschulwahl und Komposition der Schülerschaft Ditton und Krüsken (2007: 36) konstatierten bereits vor über zehn Jahren: „Indizes zur sozialen Struktur der Verkehrszellen und Bezirke erlauben oft eine erstaunlich (erschreckend?) gute Prognose des zu erwartenden Lernerfolgs und der Bildungsteilhabe.“ In vielen Ländern schränkt das Einzugsgebiet die Grundschulwahl ein mit der Folge, dass Schulen aus sozial schwachen Bezirken oder aus Bezirken mit einem hohen Anteil an Migrant*innen homogene Schul- und Klassenumwelten aufweisen (Bellin 2009). Für Deutschland konnten bereits mehrere Studien eine solche Homogenisierung der Schülerschaft in Abhängigkeit vom sozialräumlichen Einzugsgebiet der Grundschule nachweisen (z. B. Noreisch 2007; Fincke & Lange 2012). Dieses Phänomen könnte zusätzlich durch die elterliche Schulwahl verstärkt werden. „Rund 10 Prozent der Eltern in Großstädten stellen für ihre Kinder einen Antrag auf Wechsel der behördlich zugewiesenen Grundschule“ (Fincke & Lange 2012: 2). Wird der unsichere Antragsweg nicht in Betracht gezogen, gewährleisten „Eltern den Besuch ihres Kindes an einer Wunschschule durch Umzüge oder fingierte Wohnortwechsel“ (Krüger 2014: 392). Insbesondere sog. „bildungsnahe“ Eltern weichen auch in den Privatschulsektor aus – etwa um Schulen ihres marginalisierten Quartiers zu umgehen, aus Gründen schulischer Passung oder um Disktinktionsgewinne zu erzielen (bspw. Habeck et al. 2017). Im öffentlichen Diskurs wird die Neuschneidung von Schuleinzugsgebieten teils heftig debattiert (Breidenstein i. E.). Eltern mit geringerem sozialen Status oder Migrationshintergrund wählen hingegen eher nach dem Kriterium der Standortnähe aus und weniger nach der Zusammensetzung der Schülerschaft oder vermeintlicher Schulqualität (Riedel et al. 2010). Zudem nimmt die Auswahl der passförmigen Klientel durch Schulen vermehrt Einfluss auf die Zusammensetzung der Schülerschaft (Stošić 2015). Eine Sonderauswertung der Datensätze von IGLU/TIMSS 2013 macht das Ausmaß der Segregation an Grundschulen deutlich (Morris-Lange, Wendt & Wohlfahrt 2013). Die Segregation wurde in Bezug auf 1. den Migrationshintergrund und 2. das Einkommen bestimmt. 1.) 18% aller Viertklässler*innen in Deutschland besuchen demnach eine migrationsbezogen segregierte Schule2. 41,3% der Kinder mit Migrationshintergrund lernen an diesen Grundschulen. Gleichzeitig besuchen 14,7% der Kinder mit deutschen Wurzeln eine Schule, in der kein einziges Kind mit Migrationshintergrund lernt. In großstädtischen Regionen vergrößert sich dieser Gegensatz noch einmal: Dort lernen 70% der Kinder mit einem Migrationshintergrund an einer segregierten

2

In diesen Grundschulen weisen über 50% der Kinder einen Migrationshintergrund auf.

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Friederike Heinzel und Ralf Parade

Grundschule. 2.) Insgesamt gehen 4% aller Kinder in Deutschland in eine segregierte Grundschule, in der über die Hälfte der Schülerschaft armutsgefährdet ist. 9% der Kinder mit einem Migrationshintergrund besuchen eine segregierte Grundschule mit einem solchen Armutsanteil, jedoch nur unter 1% der Kinder ohne Migrationshintergrund (ebd..). Auch beim Übergang von der Grundschule in die weiterführende Schule konnte Ditton (2014) im Zuge der KOALA-S-Studie starke regionale Disparitäten nachweisen. Dabei scheint die Wahlfreiheit der Eltern mit einer zusätzlichen „Entmischung“ der Schülerschaft einherzugehen (Dumont 2016: 21). Aufgrund seiner Untersuchungsergebnisse an Mannheimer Grundschulen zur schicht- und bildungsabhängigen Wahl der weiterführenden Schule stellt Clausen die interessante Frage, „inwieweit die Schullandschaft in der Zusammensetzung der verschiedenen Schülerschaften die sozialräumliche Ungleichheit einer Gesellschaft abbildet oder nicht sogar durch Entmischungsund Klumpungseffekte stärker segregiert ist als die Welt um sie herum.“ (Clausen 2006: 87) Auch Jurczok und Lauterbach (2014) kommen in ihrer Studie zu Übergängen an Berliner Grundschulen zu dem Ergebnis, dass kulturkapitalstarke Elternhäuser homogen zusammengesetzte Schulen bevorzugen und dementsprechend Schulen in privilegierten Stadtteilen auswählen. Hauf (2007: 304) weist zudem auf eine „Versäulung“ von bestimmten Grundschulen mit weiterführenden Schulformen hin, die in Relation zur Sozialstruktur der jeweiligen städtischen Quartiere steht.

4 Fazit Es sollte deutlich geworden sein, dass nicht nur wegen der Exklusionsquote an Förderschulen, der institutionellen Diskriminierung sozial benachteiligter Kinder und der Zunahme der Schulen in freier Trägerschaft, sondern auch wegen der sozialräumlichen Homogenisierung der Schülerschaft nach Ethnie oder sozioökonomischem Status das Selbstverständnis der Grundschule als „Schule für alle Kinder“ als prekär zu bezeichnen ist.

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Zum (prekären) Selbstverständnis der Grundschule als „Schule für alle Kinder“

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Kinder nach Flucht und Migration – Herausforderungen an die Integrationskraft des Schul- und Aufnahmesystems Charlotte Röhner, Yvonne Decker-Ernst, Samira Salem und Nora Hettich1

Keywords: Migration, neu zugewanderte Kinder, Vorbereitungsklassen, Sprachbildung, Traumatisierung

Abstract Im Beitrag werden die Lebensbedingungen und die Beschulung neu zugewanderter Kinder diskutiert, wie sie in ausgewählten Studien und Projekten untersucht sind, und gefragt, welche Schlussfolgerungen sich daraus für die pädagogische Arbeit im Schul- und Aufnahmesystem ziehen lassen.

1

Einleitung

Deutschland nimmt aktuell eine Vorreiterrolle in der Bewältigung der Migration neu zugewanderter Familien in der EU ein. Dabei stehen jedoch die Lebensbedingungen geflüchteter Kinder in Aufnahmeeinrichtungen, der Zugang zur Bildung und die schulischen Lernbedingungen in der Kritik, da das Schulsystem den 1

Charlotte Röhner | Goethe Universität Frankfurt | [email protected] Yvonne Decker-Ernst | Pädagogische Hochschule Freiburg | [email protected] Nora Hettich | Universität Kassel | [email protected] Samira Salem | Bergische Universität Wuppertal | [email protected]

© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 N. Skorsetz et al. (Hrsg.), Diversität und soziale Ungleichheit, Jahrbuch Grundschulforschung 24, https://doi.org/10.1007/978-3-658-27529-7_6

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Bildungsansprüchen neu zugewanderter Kinder vielfach nicht gerecht wird und die Lebensbedingungen im Aufnahmesystem nicht dem Kindeswohl entsprechen (Röhner i. d. Bd.). Beschulungsformen und psychosoziale Unterstützungsangebote für neu zugewanderte und geflüchtete Kinder werden im Folgenden anhand ausgewählter Studien und Projekten erörtert. Welche Erkenntnisse zum Unterricht in Vorbereitungsklassen vorliegen, stellt Yvonne Decker-Ernst vor, die eine Gesamterhebung in Baden-Württemberg durchführte. Die psychosoziale Integration und sprachliche Kompetenzentwicklung im inklusiven Setting eines sprachsensiblen Bildungsangebots untersucht Samira Salem, die das Förderprojekt in gemischten Gruppen mit neu zugewanderten und einheimisch-mehrheimischen Kindern durchführte. Die psychosoziale Unterstützung geflüchteter Kinder und ihrer Familien in Erstaufnahmeeinrichtungen stellt Nora Hettich vor. Das Projekt STEP-BY-STEP ist ein psychoanalytisch und sozialpädagogisch orientiertes Modell-Projekt, das auf die besonderen Lebenslagen geflüchteter Kinder und Familien ausgerichtet ist. Schlussfolgerungen, die sich aus den Forschungsprojekten für die pädagogische Arbeit mit neu zugewanderten Kindern ziehen lassen, werden im Ausblick diskutiert.

2 Diversität in Vorbereitungsklassen für neu zugewanderte Schülerinnen und Schüler 2.1

Einführung

Durch den allgemeinen Anstieg der Migration nach Deutschland stieg in den letzten Jahren auch die Zahl der neu zugewanderten Kinder und Jugendlichen. Länderübergreifend wird wieder vermehrt über geeignete schulische Unterstützungsmodelle diskutiert. Maßnahmen wie Vorbereitungs-, Intensiv- oder Willkommensklassen, deren Einrichtung den Bundesländern von der KMK bereits 1964 im Beschluss „Unterricht für Kinder von Ausländern“ empfohlen wurde, um neu zugewanderte Schüler*innen auf den Unterricht in der Regelklasse vorzubereiten, erfuhren ein regelrechtes „Comeback“ (Brüggemann & Nikolai 2016). Es existieren jedoch nach wie vor kaum empirisch gesicherte Erkenntnisse dazu, wie diese Klassen in der Vergangenheit und aktuell umgesetzt werden. Eine der wenigen Untersuchungen ist die 2017 von Decker-Ernst veröffentlichte Bestandsaufnahme zu Vorbereitungsklassen (VKL) in Baden-Württemberg. Sie basiert auf drei separaten Teilstudien: Teilstudie 1 rekonstruiert die historischen und aktuellen Rahmenbedingungen von VKL in Baden-Württemberg auf Basis einer Dokumentenanalyse bildungspolitischer Erlasse, Verwaltungsvorschriften und Handreichungen. Teilstudie 2 zeigt anhand einer landesweiten

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Charlotte Röhner, Yvonne Decker-Ernst, Samira Salem und Nora Hettich

schriftlichen Befragung von N = 140 Lehrpersonen die Praxisbedingungen von VKL aus Sicht der Lehrkräfte auf. In Teilstudie 3 werden der Zweitspracherwerb sowie die sprachlichen und nichtsprachlichen (Lern-)Bedingungen neu zugewanderter Schüler*innen untersucht. Hierzu wurden in einer integrierten MehrfachFallstudie (N = 9) über zwei Schuljahre hinweg Sprachproben, Wortschatztests, Portfolios, Beobachtungen von neu zugewanderten Schüler*innen der Primarstufe erfasst und analysiert sowie leitfadengestützte Interviews mit deren Eltern und Lehrkräften geführt. Einige zentrale Ergebnisse der Untersuchung und daraus resultierende Konsequenzen für den Umgang mit Diversität im Kontext von Neuzuwanderung werden nachfolgend dargestellt. 2.2

Diversität in Vorbereitungsklassen – ausgewählte Ergebnisse einer Bestandsaufnahme in Baden-Württemberg

Ein Kernergebnis der Untersuchung war, dass der Begriff „Vorbereitungsklasse“ in der Praxis eine Vielzahl schulorganisatorischer Maßnahmen subsumiert. Das Modell Vorbereitungsklasse existiert nicht! Die Organisationsformen sind ebenso divers, wie die Voraussetzungen der Lehrenden und Lernenden. Je nach Region, Schulform, Anzahl, Alter und Unterstützungsbedarf der Schüler*innen werden die Deputate für VKL unterschiedlich genutzt. In der Primarstufe finden sich einerseits parallele Modelle, in denen neu zugewanderte Kinder für eine bestimmte Zeit in einer separaten Klasse unterrichtet werden, ehe sie in die Regelklasse wechseln. Andererseits existieren integrative Modelle, in denen die Schüler*innen von Anfang an in eine Regelklasse aufgenommen werden und zusätzlich durch äußere oder innere Differenzierung Sprachförderung erhalten. Dazwischen findet man diverse teilintegrative Modelle, in denen die Schüler*innen zunächst in eine separate Klasse aufgenommen werden, zeitgleich aber auch an ausgewählten Fächern des Regelunterrichts teilnehmen. Mit Zunahme der Deutschkenntnisse erhöht sich der Stundenanteil in der Regelklasse bis zur vollständigen Integration. Die dargestellte Unterscheidung der Modelle ist als grobe Strukturierung zu verstehen. In der Praxis existieren jeweils unterschiedliche Umsetzungsvarianten (Decker-Ernst 2017). Die Entscheidung für eine konkrete Organisationsform obliegt i.d.R. den Schulen selbst, was die Diversität der Modelle erklärt. Konzeptionelle, inhalts- und übergangsbezogene Entscheidungen liegen meist in der Verantwortung der jeweiligen Lehrkräfte. Einheitliche curriculare Grundlagen, standortübergreifende Lehr-, Lernmittel und Diagnoseverfahren oder festgelegte Übergangskriterien finden sich nicht. Kooperationsprozesse und Absprachen zwischen Lehrkräften der VKL und Regelklasse sowie individuell und langfristig ausgerichtete Förderpläne variieren je nach Schule und Lehrkraft. Welches Modell besonders effizient ist, lässt sich auf Basis der Untersuchungsergebnisse nicht sagen. Die Ergebnisse in Teilstudie 2 deuten aber darauf hin, dass

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die Effektivität eines Modells davon abhängt, ob die VKL Teil eines schulischen Gesamtkonzepts zur Sprachbildung ist, welche Formen der Vernetzung innerhalb und außerhalb der Schule existieren und v. a. über welches professionsbezogene Wissen die beteiligten Lehrkräfte verfügen. Weiterhin spielen Schulform und Klassenstufe, räumliche und personelle Ressourcen der Schule sowie die Passung zwischen Unterrichtsangebot, individuellen Voraussetzungen und Unterstützungsbedarf der Schüler*innen eine wichtige Rolle. In Bezug auf die Passung des Unterrichtsangebots betonten die Befragten mehrheitlich die Heterogenität der Lernenden in VKL und damit einhergehend die Notwendigkeit, differenzierender Unterrichtsangebote und -materialien. Auch die fallübergreifende Analyse in Teilstudie 3 ergab ein hohes Maß an Diversität in VKL. Sie bezog sich v. a. auf soziale und soziokulturelle Voraussetzungen (z. B. Geburtsland, Religionszugehörigkeit, Migrationsgrund, familienbezogene Merkmale), Fähigkeiten, Sprachvermögen, (Sprach-)Lernvoraussetzungen (z. B. Alter, Kenntnisse in Erstsprache und weiteren Sprachen, Nutzung der Erstsprache nach der Migration, analytische Fähigkeiten, Intelligenz), Motivation, Antrieb, Einstellung (z. B. Interessen, Persönlichkeitsmerkmale, Lern- und Leistungsbereitschaft, soziale Integration) sowie Gelegenheit und Zugang (z. B. In- und Output in Deutsch, Sozialkontakte, Dauer, Umfang, Art der Unterstützung in VKL und Regelklasse) (ebd.). Je nachdem, welche Schüler*innen anhand welcher Merkmale verglichen wurden, waren die Differenzen verschieden groß. Dass jedes Kind bei seiner Ankunft in Deutschland andere (sprach-)biografische Voraussetzungen und Erfahrungen mitbringt, erscheint dabei normal. Die ungleichen Erwerbsbedingungen führen aber dazu, dass der Zweitspracherwerb neu zugewanderter Schüler*innen nicht in identischen Sequenzen verläuft. Stattdessen zeigen sich individuelle Erwerbsverläufe, die unterschiedlich viel Zeit benötigten, Rückwirkungen auf andere Entwicklungsbereiche haben können, individualisierte Lernangebote sowie eine langfristige Begleitung erfordern. Die Kinder in Teilstudie 3 reagierten mehrheitlich auf die neue Situation in der VKL zunächst zurückhaltend bzw. mit wochenlangem Schweigen. Erst nach einer Eingewöhnungszeit nutzten sie sprachliche und deiktische Mittel und traten mit ihrer Umwelt in Kontakt. Zum Teil kehrte das Schweigen allerdings beim Übergang in die Regelklasse zurück. Dies war weniger in sprachlichen Fähigkeiten, als vielmehr in individuellen Persönlichkeitsmerkmalen, fehlender sozialer Integration und individueller Übergangsbegleitung begründet. Nicht immer erkannten das auch die Lehrkräfte der Regelklasse.

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Charlotte Röhner, Yvonne Decker-Ernst, Samira Salem und Nora Hettich

Schlussfolgerungen

Um neu zugewanderte Schüler*innen in ihren individuellen sozialen und sprachlichen Entwicklungsschritten beobachten, bewerten und angemessen begleiten zu können, bedarf es neben geeigneter unterrichtlicher Differenzierungsmaßnahmen und diagnostischer Instrumente v. a. qualifizierter Lehrkräfte. Dies ist, so zeigen die Untersuchungsergebnisse ebenfalls, längst nicht immer der Fall. Die fachlichen, didaktischen und diagnostischen Kompetenzen von Lehrkräften in Vorbereitungs- und Regelklassen sind ebenso verschieden, wie die Voraussetzungen der Schüler*innen. Ein Qualifizierungsbedarf wurde teils auch von den Befragten selbst geäußert. Nur wenn alle Lehrkräfte über fundiertes fachliches und diagnostisches Wissen zur Bedeutung und Erfassung individueller Einflussfaktoren und Erwerbssequenzen verfügen sowie didaktisch-methodische Maßnahmen des sprachsensiblen Unterrichts und der durchgängigen Sprachbildung kennen, können sie neu zugewanderte Schüler*innen bei ihrer sprachlichen und sozialen Integration angemessen unterstützen. Ist dies nicht der Fall, besteht die Gefahr, dass die Voraussetzungen (und v. a. Ressourcen) der Schüler*innen negativ bewertet werden und an die Stelle individueller Unterstützungsmaßnahmen falsche und überhöhte Erwartungen treten. Dies hat wiederum zur Konsequenz, dass sowohl Lehrende als auch Lehrende überfordert sind.

3 Sprachsensible Bewegungsangebote für neu zugewanderte Kinder in heterogenen Lerngruppen 3.1

Theoretischer Hintergrund

Eine gelingende soziokulturelle und psychologische Akkulturation migrierter Kinder und Jugendlicher baut auf dem regelmäßigen Austausch mit der Aufnahmegesellschaft (Berry et al. 2006; 2010) auf. Möglichkeiten zur multinationalen Freundschaftsgestaltung bei gleichzeitiger Aufrechterhaltung des Kontakts zu Herkunftskultur, aber auch sportliche Aktivitäten, so belegt es die Well-Being Forschung (Ommundsen, Løndal & Loland 2014), weisen ein hohes Integrationspotential auf. Positive Effekte für die Lebenszufriedenheit haben stabile soziale Netzwerke (Myers 1999) und die Stärkung des schulischen Selbstkonzeptes (Trautwein et al. 2006). In Sport- und Bewegungsangeboten kann die für den Integrationsprozess wichtige sprachliche Kompetenzentwicklung, gezielt gefördert werden. Bewegungsangebote bieten eine Vielzahl von Sprechanlässen, die pädagogisch aufgegriffen und für die sprachliche Kompetenzentwicklung fruchtbar gemacht werden können (Zimmer 2013). In den Gesprächskreisen am Anfang und

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Ende des Sportangebots können die Diskursfunktionen des Beschreibens, Benennens, Bewertens und Erklärens systematisch eingeübt werden (Thürmann & Vollmer 2012). Auch gilt es das eigene Sprachenrepertoire neu zugewanderter Kinder aufzugreifen, das sie in der Peer-Kommunikation aktiv einsetzen, wenn sie „translingual“ (Garcia, Ibarra & Seltzer 2017) handeln, um Verständnislücken zu füllen und Aufgaben zu bewältigen. 3.2

Zielsetzung und methodische Grundlagen der Studie

Im vorliegenden Beitrag wird eine Interventionsstudie vorgestellt, die auf der Grundlage der Akkulturationstheorie, der Well-Being Forschung sowie der Erkenntnisse zur Bedeutung des schulischen Selbstkonzepts, den Zusammenhang von psychosozialem Wohlbefinden in sprachsensiblen Bewegungsangeboten und der sprachlichen Kompetenzentwicklung untersucht. An der Studie nahmen N = 132 zugewanderte Kinder zwischen 7 und 12 Jahren an 14 Grundschulen, aus überwiegend arabischsprachigen Ländern wie Syrien und Irak teil. Die AG-Teilnehmer*innen waren sowohl neu zugewanderte als auch ein- und mehrheimische Kinder, sodass ein Lernen von- und miteinander möglich wurde. Das sprachsensible Bewegungsangebot wurde innerhalb eines Schuljahres wöchentlich von geschulten Fachkräften im informellen Bereich von Grundschulen durchgeführt. Die Studie wurde in einem quantitativen Prä-Post Ansatz mit Interventionsund Kontrollgruppen durchgeführt. Dabei wurden folgende Verfahren eingesetzt: FEESS 1-2 (Rauer & Schuck 2004) zur Erhebung des wahrgenommenen Selbstkonzepts schulischer Fähigkeiten; „Children‘s Worlds –International Survey of Children‘s subjective well-being“ (Andresen & Ben-Arieh 2014) zur Erfassung der allgemeinen Lebenszufriedenheit und Lise-DaZ (Schulz & Tracy 2011). Im qualitativen Erhebungsteil wurden Videographien zu den Gesprächsrunden aufgezeichnet und daraus Transkripte gefertigt, um die psychosozialen und sprachlichen Prozesse durch ein Kodiermanual vertieft untersuchen zu können. 3.3

Darstellung erster Ergebnisse

Die quantitativen Auswertungen zeigen einen sinkenden Förderbedarf im Bereich Sprache über die Zeit (M t1= 6.30, M t2 = 5.20). Die Mittelwerte der sozialen Integration (M t1 = 6.77, M t2 = 7.40) sind zwischen den zwei Messzeitpunkten angestiegen. Keine bedeutsamen Veränderungen lassen sich in den Mittelwerten des Wohlbefindens (M t1 = 4.08, M t2 = 4.37) und des schulischen Selbstkonzeptes (M t1 = 10.41, M t2 = 10.76) feststellen. Negative Zusammenhänge zeigen sich zwischen dem Sprachförderbedarf zu t2 und dem Selbstkonzept (r = –.66), dem Wohlbefinden (r = –.61), dem Gruppenklima (r = –.54) und der sozialen Integration (r = –.38) zu Beginn des Projekts: Kinder mit zu Beginn positiven

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emotionalen und sozialen Schulerfahrungen sowie hohem Wohlbefinden, weisen zum Ende des Projekts einen geringeren sprachlichen Förderbedarf auf. Erste qualitative Analysen der Videographien weisen auf Zusammenhänge zwischen den ansteigenden diskursiven Kompetenzen der Kinder und ihrem Wohlbefinden hin. Besonders interessant ist die Beobachtung zur tolerierten Nutzung der Herkunftssprachen unter den Kindern. Es zeigte sich bisher ein Anstieg des positiven Feedbacks in den Gesprächsrunden, sobald die Herkunftssprache als Hilfs- und Verständigungsmittel bei Unklarheiten unter den gleichsprachigen Peers bei z. B. der Aufgabenbewältigung genutzt werden durfte. Ein weiterer Nebeneffekt war eine hohe Anzahl an positiven Gefühlsäußerungen (z. B. lachen), welcher sich als Indikator für ein gesteigertes Wohlbefinden deuten lässt. Im Vergleich zu Schulen, an denen die Herkunftssprache in den AGs untersagt wurde, war eine erhöhte Anzahl von Konflikten zu beobachten. Zudem waren neu zugewanderte Kinder in den AGs ohne Herkunftssprachennutzung weniger kommunikativ; die Nutzung der untersuchten Diskursfunktionen (Beschreiben, Benennen, Bewerten, Erklären) fiel hier geringer aus. Durch noch laufende Videographie-Analysen wird versucht weiterführende Rückschlüsse auf die Entwicklung der untersuchten Dimensionen zu ziehen, welche durch die quantitativen Erhebungen bisher nicht aufgezeigt werden konnten.

4 Psychosoziale Unterstützung geflüchteter Kinder in einer Erstaufnahmeeinrichtung durch das Pilotprojekt STEPBY-STEP 4.1

Herausforderungen einer Erstaufnahmeeinrichtung für Geflüchtete

Erstaufnahmeeinrichtungen sind die ersten Sammelunterkünfte, in denen Geflüchtete bis zu sechs Monate untergebracht sind, ehe sie zugewiesen und in eine längerfristige Unterkunft verlegt werden. Eine Erstaufnahmeeinrichtung kann nach Augé (1994) als Nicht-Ort, der frei von Identität ist, bezeichnet werden. Sie ist auf das Durchschleusen von Personen mit einem Fokus auf deren Verwaltung ausgerichtet und gilt als Transit- und Übergangsraum mit ungewisser Aufenthaltsdauer. Zwischenmenschliche Kommunikation und Fürsorge bleiben an diesem Ort oft unterrepräsentiert, sodass schnell Gefühle von Verlorenheit und Perspektivlosigkeit entstehen können (Leuzinger-Bohleber et al. 2016). Die Unterbringung in Erstaufnahmeeinrichtungen mit beengten Wohn- und Lebensverhältnissen kann besonders für Kinder und Familien belastend sein. Oftmals fehlen Schutzkonzepte und die Einhaltung von Kinderrechten (Lechner & Huber 2017; Lewek & Naber 2017), Entwicklungsmöglichkeiten und Teilhabechancen für Kinder sind zudem stark eingeschränkt (Iranee & Andresen 2016).

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Die Möglichkeit eines Schulbesuchs besteht meist nicht, solange die schulpflichtigen Kinder in einer Erstaufnahmeeinrichtung leben (Massumi, von Dewitz & Grießbach 2015). Auch informelle Bildungsangebote sind kaum vorhanden und können auch außerhalb der Einrichtung oft nicht besucht werden. Erlittene Traumatisierungen erschweren das Ankommen zusätzlich (Hebebrand et al. 2016). 4.2

Das Pilotprojekt STEP-BY-STEP

Um den beschriebenen Herausforderungen entgegenzuwirken, wurde das Pilotprojekt STEP-BY-STEP entwickelt und von Januar 2016 bis April 2017 in einer Erstaufnahmeeinrichtung umgesetzt (Hettich, Iranee, Leuzinger-Bohleber & Andresen 2018; Leuzinger-Bohleber & Hettich 2018). Das Projekt wurde vom Sigmund-Freud-Institut unter der Leitung von Marianne Leuzinger-Bohleber in Kooperation mit dem Fachbereich Erziehungswissenschaften der Goethe-Universität Frankfurt unter der Leitung von Sabine Andresen durchgeführt und vom Hessischen Ministerium für Soziales und Integration gefördert. Der Fokus des Projektes lag auf der Implementierung niedrigschwelliger psychoanalytischer und sozialpädagogischer Angebote zur psychosozialen Unterstützung von Geflüchteten. Die kindheitstheoretischen Angebote orientierten sich maßgeblich an den international erprobten Leitlinien zur Gestaltung und Etablierung von Child Friendly Spaces (UNICEF 2011). Im Rahmen dessen wurden verschiedene pädagogische Gruppen für Kinder im Grundschulalter angeboten. Die konzeptuellen Grundlagen der psychoanalytischen Angebote basierten auf der psychoanalytischen und interdisziplinären Migrations- und Traumaforschung (LeuzingerŲ Bohleber & Hettich 2018). Aus den konzeptuellen Überlegungen ergaben sich fünf Leitlinien, die in allen psychoanalytischen Angeboten eine zentrale Rolle spielten und in Abbildung 1 dargestellt sind.

Abb. 1: Konzeptuelle Leitlinien des Projektes STEP-BY-STEP (Leuzinger-Bohleber & Hettich 2018).

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(Traumatisierte) Kinder im Grundschulalter konnten in eine therapeutische Malgruppe eingebunden werden, um dort bei der ersten Bearbeitung des Erlebten unterstützt zu werden. Bei Bedarf erhielten sie zusätzlich Kriseninterventionen und/oder eine Patenschaft zur Begleitung des Übergangs von der Erstaufnahmeeinrichtung in die weitere Unterkunft. 4.3

Die therapeutische Malgruppe

Die therapeutische Malgruppe war ein psychoanalytisch orientiertes Angebot, bei dem Kinder die Möglichkeit hatten, in einem sicheren und geschützten Rahmen, der durch eine erfahrene Kinder- und Jugendlichen-Psychoanalytikerin gehalten wurde, ihre Erlebnisse in Form von Bildern und beim Modellieren mit Knete oder Ton zu kommunizieren. Zudem bot die Malgruppe Gelegenheit, mit anderen Kindern zu spielen, zu lernen und anzukommen. Dabei war das Ziel, den Kindern in der unsicheren Situation der Erstaufnahmeeinrichtung eine verlässliche Struktur zu gewährleisten und ihnen innerhalb eines professionellen Rahmens eine Gestaltung (traumatischer) Erfahrungen durch kindliche Ausdrucksmittel zu ermöglichen. Des Weiteren diente die Malgruppe dazu, erhöhten Hilfebedarf zu identifizieren und besonders traumatisierte Kinder oder deren Eltern in die wöchentliche psychoanalytische Sprechstunde vor Ort zu vermitteln und/oder ihnen Patenschaften anzubieten. Abbildung 2 zeigt exemplarisch zwei Werke aus der Malgruppe, die von drei Geschwistern gestaltet wurden. Der jüngste Bruder modellierte mit Knete eine Granatkugel. Er warf die Kugel immer wieder auf den Tisch und begleitete sein Tun mit Geräuschen einer Explosion. Die älteste Schwester entwarf ein Wasserfarbenbild, das die Splitter eines Bombeneinschlags und die Flagge des Heimatlandes zeigte. Der dritte Bruder knetete verschiedene Personen, die dann über den Tisch liefen, Körperteile wie Bein und Kopf verloren und um Hilfe riefen. Diese Familie hatte einen Bombenangriff nur knapp überlebt und teilweise schreckliche körperliche Vernarbungen davongetragen. In der Einrichtung fiel vor allem der mittlere Bruder durch unkontrolliertes und störendes Verhalten auf, was oft zu Konflikten mit Mitarbeitenden führte. Erst durch die Kommunikation der Erlebnisse in der Malgruppe konnte sein Verhalten besser verstanden und mit den Mitarbeitenden besprochen sowie deren Verständnis geweckt werden.

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Abb. 2:

4.4

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Gestaltete Werke von drei Geschwistern aus der therapeutischen Malgruppe.

Schlussfolgerungen

Die Erfahrungen des Pilotprojektes STEP-BY-STEP zeigten, dass vor allem das Angebot vertrauensvoller Beziehungen, Räume, in denen Kinder (traumatische) Erfahrungen in ihren Ausdrucksformen gestalten und professionell Geschulten mitteilen können, Kriseninterventionen für traumatisierte Kinder, Patenschaften und eine kindgerechte Umgebung wichtige Bestandteile psychosozialer Versorgung in Erstaufnahmeeinrichtungen sind. Schon bevor geflüchteten Kindern die Möglichkeit des Besuchs einer Schule gegeben wird, sind verlässliche Angebote zur informellen Bildung und therapeutischen Verarbeitung von aktuellen Themen und erlebten Erfahrungen von Bedeutung. Verschiedene Studien und klinische Erfahrungen haben gezeigt, dass eine solche Erstversorgung entscheidend für die weitere Entwicklung schwer traumatisierter Kinder ist (Leuzinger-Bohleber & Hettich 2018). Eine flächendeckende Implementierung entsprechender Angebote ist eine wichtige Zukunftsaufgabe. In diesem Sinne wurden nach Ende des Pilotprojektes vier Psychosoziale Zentren in Hessen etabliert, die durch das Hessische Ministerium für Soziales und Integration momentan im zweiten Jahr gefördert werden.

5 Diskussion und Fazit In der aktuellen Beschulung neu zugewanderter Kinder wird auf das Modell der Seiteneinsteigerklasse zurückgegriffen, über das sprachliche Homogenität und kulturelle Adaption hergestellt werden soll. Diese Homogenitäts- und Assimilationsanforderung an migrierte Schüler*innen wurde bereits in den 1990er Jahren als pädagogisch fragwürdig kritisiert (Radke 1996). Separate Vorbereitungsklassen stehen – so Krüger-Potratz (2005: 68) – in der Traditionslinie „der Regelungen zur Herstellung von sprachlich-kultureller und ethnischer Homogenität sowie

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zur Ausgrenzung des bzw. der ‚Fremden‘“. Auch zeigt die Studie von DeckerErnst (2017), dass die Homogenitätserwartungen an die Vorbereitungsklassen nicht erfüllt werden, sondern ein Höchstmaß an Heterogenität auf der Ebene der Lernenden, der Lehrkräfte wie auch auf allen Ebenen der Unterrichtsplanung und -organisation aufweisen. Seiteneinsteigerklassen markieren in migrationstheoretischer Perspektive die neu zugewanderten Kinder als „nicht-zugehörig“ zur natio-ethno-kulturellen Zugehörigkeitsordnung (Mecheril 2003) und stellen damit die Integrationskraft der Grundschule grundlegend in Frage (Röhner i. d. Bd.). Dagegen können in inklusiven Settings die psychosoziale Integration und das Wohlbefinden der neu zugewanderten Kinder nachhaltig unterstützt und mit einer (multi)lingualen Kompetenzentwicklung verknüpft werden, wie erste Ergebnisse der Studie von Salem zeigen. Im Modellprojekt STEP-BY-STEP wurden sozialpädagogische wie psychoanalytische Maßnahmen für von Flucht und Trauma belastete Kinder entwickelt, die auch für die pädagogische Arbeit an Schulen Impulse stiften können. Diese werden vor allem im Schaffen vertrauensvoller, sicherer Beziehungen sowie in der Sensibilisierung und im Raumgeben für nichtsprachliche Ausdrucksformen traumatisierter Kinder gesehen, die das psychosoziale Wohlbefinden stärken und insofern traumatischen Belastungen entgegenwirken können. Die noch wenig differenzierte Befundlage zu den Herausforderungen der Neuzuwanderung an das Bildungssystem stellt ein Forschungsdesiderat dar, der sich die Grundschulforschung zukünftig noch stellen muss.

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Kinder nach Flucht und Migration

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Kinder als ungleiche Akteure in der Schule und im Verhältnis zur Familie. Blinde Flecke in der Erforschung von ungleichen Bildungschancen Tanja Betz, Marina Bonanati, Nicoletta Eunicke, Nicole Gölz, Laura Layer und Florian Wohlkinger1

Keywords: Kinder als Akteure; Verhältnis Schule-Familie; Bildungsungleichheit

Abstract Gegenstand des Beitrags bilden drei Studien, die Kinder als Akteure im Kontext gesellschaftlicher Ungleichheitsverhältnisse in den Fokus rücken. Dabei werden die Beiträge der Kinder zur Gestaltung des Verhältnisses zwischen Schule und Familie, zum Geschehen in Lernentwicklungsgesprächen und bei Abstimmungsprozessen am Übergang in weiterführende Schulen in den Blick genommen.

1

Ausgangspunkt

Ungleiche Bildungschancen stehen spätestens seit der IGLU-Studie von 2001 regelmäßig im Zentrum des bildungspolitischen Interesses. Diese Problematik ist für die deutsche Schulgeschichte seit dem beginnenden 19. Jahrhundert charakteristisch (Klemm 2008). Trotz zahlreicher Reformen, so konstatierte Klaus Klemm 1

Tanja Betz | Johannes-Gutenberg-Universität Mainz | [email protected] Marina Bonanati | Goethe-Universität Frankfurt | [email protected] Nicoletta Eunicke | Johannes Gutenberg-Universität Mainz | [email protected] Nicole Gölz | LMU München | [email protected] Laura Layer | Goethe-Universität Frankfurt | [email protected] Florian Wohlkinger | LMU München | [email protected]

© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 N. Skorsetz et al. (Hrsg.), Diversität und soziale Ungleichheit, Jahrbuch Grundschulforschung 24, https://doi.org/10.1007/978-3-658-27529-7_7

Kinder als ungleiche Akteure

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anlässlich der 16. Jahrestagung der DGfE-Kommission „Grundschulforschung und Pädagogik der Primarstufe“ zum Thema „Chancenungleichheit in der Grundschule“, gibt es jedoch wenig Hoffnung auf Abhilfe (ebd.). Auch 12 Jahre später ist seine kritische Sicht zutreffend – wie nicht nur die Ergebnisse der letzten IGLU-Erhebung bestätigen. Mit dieser gesellschaftspolitischen Problematik ist zugleich eine Herausforderung für die Grundschulforschung verbunden. Ihre Aufgabe ist es, durch Theoriebildung und empirische Forschung zu einem besseren Verständnis der Mechanismen beizutragen, die dazu führen, dass Bildungsungleichheit sich primär reproduziert und nur schwer zu verringern ist. Trotz der Intensivierung der Forschung zu ungleichen Bildungschancen, ist jedoch das empirische Wissen über die Mikroebene des Handelns der in die Schule involvierten Akteure nach wie vor übersichtlich. Dies gilt sowohl mit Blick auf die Prozesse der Herstellung und Verstetigung von Ungleichheit als auch mit Blick auf die Kinder als zentrale Akteure, die unmittelbar in diese Prozesse involviert sind (Betz et al. 2017; BühlerNiederberger, Gräsel & Morgenroth 2015). An diesen Desideraten setzen die folgenden drei Forschungsprojekte an. Im gemeinsamen Fokus der theoretisch und empirisch unterschiedlich ausgerichteten Beiträge stehen die Kinder als zentrale Akteursgruppe und ihre Beiträge zur Gestaltung des Verhältnisses zwischen Schule und Familie, zum schulischen Geschehen in Lernentwicklungsgesprächen und bei Abstimmungsprozessen am Übergang in weiterführende Schulen. Die Akteurschaft von Kindern gilt als eine zentrale theoretische Prämisse der Kindheitsforschung (u. a. Eßer et al. 2016); sie ist eng mit generationalen und zugleich mit sozialen Ungleichheitsverhältnissen verwoben (u. a. Bühler-Niederberger et al. 2015). Generationale Ungleichheiten manifestieren sich zulasten von Kindern u. a. in ihren in Relation zu Erwachsenen geringeren Partizipations- und Einflussmöglichkeiten in der Schule (u. a. Betz et al. 2017), am Übergang in weiterführende Schulen (Wohlkinger 2014) und im Verhältnis zu Familien, in den „home-school relations“ (u. a. Edwards & David 1997; Markström 2013). Soziale Ungleichheiten drücken sich in ungleichen Möglichkeiten von Kindern aus privilegierten im Unterschied zu Kindern aus weniger privilegierten Familien aus, auf Schule, Unterricht sowie das Lehrkraft- und Elternhandeln Einfluss zu nehmen und sich Vorteile im schulischen Feld zu verschaffen.

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2 Schüler*innen als ungleiche Akteure zwischen Familie und Schule Um Bildungsungleichheiten im Schulsystem zu vermindern, wird in Fachkreisen die Notwendigkeit eines intensiveren Zusammenwirkens von Familie und Bildungsinstitution postuliert. Dies soll z. B. in einer Bildungs- und Erziehungspartnerschaft erfolgen, bei der Schüler*innen am stärksten profitieren (kritisch: Betz et al. 2017). Mit Blick auf Theorie und Forschungsstand kann dieses Postulat jedoch angezweifelt werden: Aus ungleichheitstheoretischer Perspektive stellt sich die Frage, inwiefern Forderungen nach einem engeren Verhältnis und einer intensiveren Zusammenarbeit Familien aus mittleren Schichten begünstigen, da diese eher eine Passung (Kramer et al. 2009) zu den Anforderungen der Schule aufweisen, schulische Anforderungen mitdefinieren und festlegen. Für Familien aus weniger privilegierten Verhältnissen könnten Forderungen nach einem engeren Zusammenwirken somit Ungleichheiten verstärken. Aus kindheitstheoretischer Perspektive lässt sich zudem aufzeigen, dass auch Kinder das Verhältnis von Familie und Grundschule innerhalb einer generationalen Ordnung (Honig 2009) aktiv mitgestalten. Dennoch steht eine Erforschung der Erfahrungen von Kindern im Verhältnis zwischen Familie und Bildungsinstitution bislang noch weitgehend aus (Markström 2013). Vor diesem Hintergrund sind die folgenden Fragen bedeutsam: Welche kollektiven Erfahrungen machen Kinder im Verhältnis FamilieGrundschule und woran ist ihr Handeln in diesem Verhältnis orientiert? Inwiefern hängen die Handlungsorientierungen mit den konkreten Lebensumständen und der sozialen Position der Kinder zusammen? Studiendesign Diesen Forschungsfragen wird im Kooperationsprojekt „Bildungs- und Erziehungspartnerschaft zwischen Familie und Grundschule: Positionen und Perspektiven von Kindern“ (Goethe-Universität Frankfurt/Bertelsmann Stiftung) nachgegangen. In der Studie wurden 42 Kinderinterviews, 13 Gruppendiskussionen und 10 Erwachseneninterviews an fünf Grundschulen (dritte/vierte Klassen) mit sozial heterogenem Einzugsgebiet in Hessen und Rheinland-Pfalz erhoben. Ziel ist es, kollektives Wissen im Verhältnis Familie und Grundschule sowie sozial unterschiedliche Perspektiven von Kindern auf Zusammenarbeit zwischen Familien und Grundschule zu rekonstruieren. Im Folgenden stehen Ergebnisse aus den Gruppendiskussionen im Fokus, die mit der Dokumentarischen Methode (Przyborski 2004) ausgewertet wurden. Die Kinder teilen ein Orientierungsproblem: die Involvierung in die Gestaltung des Verhältnisses zwischen Familie und Grundschule vor dem Hintergrund der

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Differenzerfahrung Kind(er)sein. Im Bezug zu diesem Handlungsproblem dokumentieren sich maximal und minimal kontrastive Handlungsmodi, aus denen drei Typen entwickelt wurden. Mittels der soziogenetischen Interpretation wurden außerdem Daten zur sozialen Lage der rekonstruierten Typen zusammengeführt, um mögliche Korrespondenzen zwischen den Handlungsorientierungen der Kinder und soziogenetischen Hinweisen wie dem schulischen Einzugsgebiet der Kinder zu finden. Dabei wurden standardisierte Daten aus Fragebögen für die Teilnehmenden der Gruppendiskussion, Daten von den jeweiligen Statistischen Landesämtern und Informationen aus Interviews mit Lehr- und Fachkräften der jeweiligen Schulen herangezogen (Details: Betz et al. 2019 i.E.). Empirie Die drei rekonstruierten Typen weisen differenzierbare Handlungsorientierungen im Verhältnis Familie-Schule auf. Diese lassen sich anhand von drei Vergleichsdimensionen verdeutlichen. Erstens gibt es unterschiedliche Orientierungen in Bezug zur Dimension Erwachsensein und Kindsein. Zweitens präsentieren sich die Kinder als unterschiedlich in die Kommunikation zwischen Familie und Grundschule einbezogen oder darüber informiert. Drittens unterscheiden sich die Gruppen in ihren Orientierungen in Bezug auf die Dimension Nähe oder Distanz zwischen Familie und Grundschule. Auf Grundlage dieser drei Dimensionen zeigt sich bei dem Typ Zugehörigkeit und Informiertsein – Orientierung an Involvierung, dass sie daran orientiert sind, in die Kommunikation zwischen Familie und Schule eingebunden zu sein und die Informationen an die Eltern weitergeben. Dies kann beispielhaft an der folgenden Sequenz skizziert werden: „und wenn meine Mama oder mein Papa ((beim Elternabend)) was nicht verstanden haben, dann fragen se mich, oder meine Lehrerin immer“ (Gruppe A, 3. Klasse)

Gruppen, welche die Handlungsorientierungen dieses Typs teilen, zeichnen sich also dadurch aus, dass sie sich auch selbst als stark involviert in das Verhältnis Familie-Grundschule positionieren – etwa als der Lehrkraft ebenbürtige Informant*innen, wenn es darum geht die Inhalte des Elternabends zu erklären. An ihren Handlungsorientierungen zeigt sich, dass sie als einziger Typ von der Zusammenarbeit zwischen Familie und Schule und der Einbindung der Kinder profitieren, z. B. da sie erleben, dass Eltern ihr Lieblingsessen zu Ausflügen mitbringen oder sie an Hausaufgaben und Tests erinnern. Die zwei weiteren Typen empfinden das Zusammentreffen von Familie und Schule kontrastierend: Der Typ Sich-Entziehen und Separation – Orientierung an Abgrenzung beschreibt dieses als unangenehm und ist daran orientiert, Einbezug und Informationsweitergabe zu vermeiden und Situationen der Zusammenarbeit zu entkommen. Sie eröffnen eine klare Trennung zwischen (familiärer) Privatheit

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und Grundschul-Öffentlichkeit, die beibehalten werden soll. Auch der Typ Ohnmacht und Akzeptanz – Orientierung an Anpassung beschreibt, das Erleben einer Distanz zwischen Erwachsenen und Kindern. Bei der Informationsweitergabe und in Bezug auf schulische Entscheidungen präsentiert sich dieser Typ als nicht einbezogen. Dieser Typ zeichnet sich durch eine Orientierung an Anpassung aus und handelt nicht zu seinen eigenen Gunsten. Auch bei der soziogenetischen Interpretation zeigt sich, dass der Typ Orientierung an Involvierung sich stark von den zwei weiteren Typen unterscheidet. Bei diesem handelt es sich um Kinder an Schulen mit einer sozial eher privilegierten Schüler*innenschaft, deren Eltern von den Lehrkräften der Schulen als an (schulischer) Bildung interessiert und engagiert beschrieben werden. Die Familien dieses Typs haben im Vergleich zu den zwei weiteren Typen kaum einen Migrationshintergrund und weisen in den Ursprungsfällen eine hohe Anzahl an Mädchen auf. Zusammengefasst zeigen die Ergebnisse, dass Kinder unterschiedliche Handlungsorientierungen im Verhältnis Familie-Grundschule haben, in denen sich ungleiche Möglichkeiten ausdrücken: Als reiner Profiteur eines engen Verhältnisses zwischen Familie und Grundschule stellt sich lediglich der an Involvierung orientierte Typ dar. Dies ist der einzige Typ, der sich selbst als begünstigt im Verhältnis Familie-Schule erlebt und der im Vergleich zu den beiden anderen Typen auch auf ein ressourcenstarkes Milieu zurückgreifen kann. Dies drückt sich z. B. in einer vergleichsweise privilegierten Zusammensetzung der Schüler*innenschaft aus und schließt damit an Forschungsergebnisse zu Passungen an. Weiterhin verdeutlichen die Befunde, dass Kinder als soziale Akteure auch verstärkt in die (Grundschul-)Forschung einbezogen werden sollten: Im Verhältnis Familie-Schule wirken sie aktiv mit, indem sie als Informant*innen auftreten oder versuchen, den Informationsaustausch zwischen Lehrkräften und Familien zu vermeiden.

3 „[nimm mal n RAT an-]“ – Partizipation und generationale Ordnung in Lernentwicklungsgesprächen Lernentwicklungsgespräche, so genannte LEG, sind schulisch-institutionell verankerte dokumentierte Gespräche zwischen Lehrperson, Grundschüler*in und dessen/deren Sorgeberechtigten. Die Teilnehmenden sollen die Lernentwicklung des anwesenden Kindes reflektieren sowie Lernziele festlegen. In Hamburg wur-

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den LEG im Kontext von Reformbemühungen implementiert, welche die Individualisierung schulischen Lernens anstrebten2. Sowohl in behördlichen Vorgaben als auch in der ratgebenden Literatur werden LEG als Gespräche der gemeinsamen Lern- und Bildungswegplanung entworfen, in denen Symmetrie und Partnerschaft zwischen den Beteiligten angestrebt werden.3 Partizipation der Schüler*innen Schulische Elterngespräche werden in gesprächsanalytischen Studien als Aushandlungsort zwischen Familie und Schule rekonstruiert. Die Befunde verdeutlichen, dass die teilweise anwesenden Schüler*innen geringere Beteiligungsrechte haben als ihre erwachsenen Gesprächspartner*innen. Sie sind in der besonderen Position, sowohl Gesprächsteilnehmende als auch Gesprächsgegenstand zu sein. Darüber hinaus agieren sie gleichzeitig in der familialen Rolle des Kindes und der institutionellen Rolle als Schüler*in (Hauser & Mundwiler 2015). Die Teilnahme der Schüler*innen an LEG ist institutionell legitimiert und den Schüler*innen wird konzeptionell eine zentrale und aktive Teilnehmerrolle zugewiesen. Bisher lagen keine systematischen Analysen natürlicher Gesprächsdaten von LEG vor. Methode und Forschungsinteresse Den Datenkorpus der diesem Beitrag zugrundliegenden Dissertationsstudie bilden 42 LEG, die zwischen 2011 und 2013 an zwei Hamburger Grundschulen erhoben wurden. Die Methodik basiert auf einer interpretativ-rekonstruktiven Forschungshaltung. Soziale Ordnung wird aus ethnomethodologischer Perspektive durch einen wechselseitigen Prozess von Sinnzuschreibungen und Interpretationsleistungen hergestellt. Mit gesprächsanalytischen Verfahren (nach Deppermann 2008) wurden die transkribierten Audioaufnahmen untersucht. Ein Fokus lag darauf, Partizipation als im gemeinsamen Vollzug interaktiv hervorgebrachte lokale Ordnung zu rekonstruieren (Bonanati 2018: 147–177). In der folgenden Analyse wird zudem gefragt, welche Bedeutung für die Partizipation an Entscheidungen die generationale Ordnung hat – verstanden als Geflecht von Praktikenbündeln, in denen „die Unterscheidung von Kindern und Erwachsenen (…) bedeutsam gemacht wird“ (Bollig & Kelle 2014: 275).

2

LEG sind auch in weiteren Bundesländern (z. B. RLP, Bayern, Thüringen) im Schulgesetz verankert.

3

Behörde für Schule und Berufsbildung (BSB), Freie und Hansestadt Hamburg (2011): Bildungsplan Grundschule. Aufgabengebiete. Online verfügbar unter www.hamburg.de/contentblob/2481804/data/aufgabegebiete-gs.pdf [Stand: 17.01.2019], 4

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Partizipation an Entscheidungen4 Nachfolgend wird ein Transkriptabschnitt aus einer (längeren) Situation präsentiert, in der es darum geht, in welchen Wahlpflichtkurs sich ein Schüler5 einwählen sollte. Beratungslehrer (BL) und Eltern (MF; VF) platzieren im Folgenden in Koalition einen Appell an den Schüler (SF): 01 02 03 04 05 06 07 08 09 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20

BL MF SF VF BL MF SF MF SF MF LK SF SF LK SF LK

da lernst du formulIERen, da lernst du REden, mit anderen KINdern, i:ch (--) fänd das auch gut.

das find ich GUT, wenn du DAS [machen würdest-] [nimm mal n RAT an-] Fari, hier sind n PAAR leute, die DENken, das wäre GUT für dich, [ja °h] [hö:r] einfach mal auf (.) uns. nein. mh_mh,= =was willst DU denn machen? naja ich würde [((steht auf, liest die Liste der Kurse an der Wand))] ((…)) (9 Sek.) ((setzt sich wieder)) eigentlich will ich nochmal DEUtsch fördern ma:chen. aber(.) bei herrn deuter? ja. wei:l= =dann GEH morgen HIN zu ihm; und FRAG ihn.

Kinder und Erwachsene haben unterschiedliche Möglichkeiten und Spielräume, am Gespräch zu partizipieren. Im Beispiel ist der Schüler zunächst vornehmlich über Antwortpartikel präsent, um die Überzeugungsstrategie der Erwachsenen abzulehnen (Z. 04, 11). Nachfolgend unterliegen seine Äußerungen strukturellen Zwängen (Z. 13/14, 18/19) und werden teilweise verhindert (Z. 17/18, 19/20). Die Erwachsenen argumentieren, inwiefern der Kurs für Fari im Hinblick auf die Bearbeitung von Defiziten zielführend ist (Z. 01–02) und positionieren sich als (zahlenmäßig überlegene) Ratgeber/innen und Expert/innen (Z. 03, 06, 07–08, 10). Dieses Bemühen Einfluss zu nehmen, steht dem schulischen Anspruch gegenüber, dem Schüler eine Wahlmöglichkeit zu garantieren. Hierauf reagiert die Lehrerin in Zeile 13. Sie hält ihm die Wahlmöglichkeiten offen und weist ihm die Verantwortung für seine Einwahl am nächsten Tag zu (Z. 20). Für den Schüler entsteht eine Situation, in der er mit sich widersprechenden Verantwortungszuweisungen umgehen muss. Einerseits sprechen ihm seine Eltern und der Beratungslehrer die Verantwortung für eine selbstständige Entscheidung ab. Andererseits wird Fari von seiner Lehrerin zu Selbstverantwortlichkeit verpflichtet. 4

für die ausführliche Sequenzanalyse Bonanati 2018: 379–394

5

Der Schüler besuchte im fünften Schulbesuchsjahr eine jahrgangsübergreifende Klasse (4/5/6).

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Diese Paradoxie wird dadurch abgeschwächt, dass der Schüler sich im Fortgang der Szene schulorientiert und selbstverantwortlich präsentiert. Eine solche Darstellung ist exemplarisch für die analysierten Gespräche und verweist auf die Funktion von LEG, Schüler*innen in ein spezifisches Format einzuführen über Entwicklungen zu sprechen (Bonanati 2018: Kap. 10.3). Schluss Schüler*innen müssen sich in LEG vor schulischen und familialen Vertreter/innen gleichzeitig inszenieren und sich zu mitunter widersprüchlichen Positionierungen verhalten. Sie handeln in einem komplexen Gefüge, in dem sich Aushandlungen, die die generationale Ordnung betreffen (z. B. bezüglich der Durchsetzung von Ratschlägen und Gehorsam), mit Aushandlungen bezüglich der schulischen Ordnung verstricken (z. B. Wie werden Lerninhalte legitimiert?). Schüler*innen werden in LEG dazu aufgefordert, Lerninhalte zu benennen oder auszuwählen. Damit werden sie als Subjekte eigener Entscheidungen adressiert. Diese Positionierung erfolgt den Analysen zufolge in LEG nur vordergründig. Die Rekonstruktion partizipativer Ordnungen deckt auf, dass den Schüler*innen zwar Beteiligungsrechte zugesprochen werden, sie in ihrer Souveränität hinsichtlich ihrer Entscheidungen jedoch eingeschränkt werden. Dieses Spannungsfeld von Öffnungen, die Beteiligung ermöglichen, und Schließungen, die Rederechte einschränken, ließ sich wiederholt rekonstruieren. Sowohl Öffnungen als auch Schließungen werden von den gesprächsleitenden Lehrpersonen gesteuert. Diese Ambivalenz der Partizipation kann nicht losgelöst von den miteinander verwobenen generationalen und schulischen Ordnungen betrachtet werden.

4 Die Wahl der weiterführenden Schule als Abstimmungsprozess zwischen Schüler*innen, Eltern und Grundschullehrkräften Problemstellung Übergänge stellen besonders wichtige Statuspassagen im Bildungsverlauf dar, die eine Schlüsselrolle für die Verteilung von Bildungs- und Lebenschancen einnehmen. Besonders am Übergang am Ende der Grundschulzeit wird kritisiert, Kinder nicht allein auf Basis ihrer Schulleistungen, sondern auch entlang von Herkunftsmerkmalen auf die unterschiedlichen Schulformen der Sekundarstufe zu verteilen. Zur Untersuchung von Übergangsentscheidungen wird häufig auf „Rational Choice“-Ansätze (RC) zurückgegriffen, die von nutzenmaximierenden Akteuren ausgehen, welche ihre Wahl anhand einer Abwägung von Nutzen- und Kostenfaktoren und unter Berücksichtigung der Erfolgswahrscheinlichkeit treffen.

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Als eine Schwachstelle von RC-Modellen lässt sich die Reduktion der Entscheidungssituation auf einen Entscheidungszeitpunkt anbringen: Bildungsentscheidungen stellen komplexe Entscheidungssituationen dar, die in Form von subjektiven Einschätzungen und unter hoher Unsicherheit in Bezug auf das Ergebnis getroffen werden (Ditton 2007). Damit erscheint die Vorstellung von einem Entscheidungszeitpunkt unangebracht. Vielmehr ist davon auszugehen, dass die Entscheidungsfindung bereits deutlich vor dem eigentlichen Übergang beginnt und somit einen Entscheidungsprozess darstellt. Die empirische Abbildung solcher Entscheidungsprozesse gelingt gegenwärtig bestenfalls ausschnittartig. Ebenfalls fragwürdig ist die im Rahmen von RC-Ansätzen vorgenommene Beschränkung auf die Perspektive einzelner Akteure. Die Erklärungsansätze fokussieren einerseits auf die Perspektive der Lehrkräfte, deren Notenvergabe- und Empfehlungspraxis sich maßgeblich auf den Entscheidungsprozess auswirkt. Andererseits wird die Perspektive der Eltern beleuchtet, deren Schulwahl stark von ihrer sozialen Stellung beeinflusst wird. Die Schüler*innenperspektive wird dagegen meist ausschließlich über die erzielten Schulleistungen in den Blick genommen und nicht als die eines aktiv am Übergangsgeschehen beteiligten Akteurs betrachtet. Inzwischen liegen jedoch auch erste Arbeiten vor, die gezielt die Rolle der Schüler*innen bei der Laufbahnentscheidung am Ende der Grundschulzeit untersuchen. Dabei konnte gezeigt werden, dass die Bildungswünsche der Lernenden sich auch unter Kontrolle der elterlichen Bildungsaspirationen und Erziehungseinstellungen sowie schulischer Leistungen und Lehrkraftempfehlungen auf die Anmeldung am Gymnasium auswirken (Wohlkinger 2014). Offenbar sind Schüler*innen durchaus als Akteure aktiv in den Entscheidungsprozess involviert – und sind insofern auch am Zustandekommen sozialer Ungleichheiten beteiligt. Um die genannten Kritikpunkte zu überwinden, verfolgt dieser Beitrag das Ziel, den Abstimmungsprozess um die Wahl der weiterführenden Schule zwischen den drei für diese Übergangsentscheidung zentralen Akteuren – Eltern, Schüler*innen und Grundschullehrkräften – genauer zu untersuchen. Methode Grundlage für die empirische Analyse bildeten Daten der Startkohorte 2 des Nationalen Bildungspanels (Blossfeld, Roßbach & v. Maurice 2011).6 Die Schüler*innen füllten in der 3. Klasse erstmals selbst einen Fragebogen aus, in dem

6

Diese Arbeit nutzt Daten des Nationalen Bildungspanels (NEPS): Startkohorte Kindergarten, doi:10.5157/NEPS:SC2:6.0.1. Die Daten des NEPS wurden von 2008 bis 2013 als Teil des Rahmenprogramms zur Förderung der empirischen Bildungsforschung erhoben, welches vom Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) finanziert wurde. Seit 2014 wird NEPS vom Leibniz-Institut für Bildungsverläufe e.V. (LIfBi) an der Otto-Friedrich-Universität Bamberg in Kooperation mit einem deutschlandweiten Netzwerk weitergeführt.

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unter anderem ihre idealistischen Bildungsaspirationen erfasst wurden. Diese bilden zusammen mit den Bildungsaspirationen der Eltern und den Laufbahnempfehlungen der Lehrkräfte die Basis der hier vorgestellten Untersuchung. Die Angaben aller drei Akteure (n = 5799 Fälle) aus der 3. und 4. Klasse gingen in dichotomisierter Form (Präferenz für Gymnasium vs. andere Schulformen) in ein Cross-Lagged-Panel-Modell ein. Neben den für die Fragestellung relevanten Beziehungen wurden zusätzlich Elternaspirationen und Lehrkraftempfehlungen der 2. Klasse, Bildungsstatus der Eltern, Einkommen, Kulturkapital, Mathematikleistung der 1. Klasse, der Migrationsstatus sowie das Geschlecht des Schulkindes als Kontrollvariablen berücksichtigt. Ferner wurden Residualkorrelationen zugelassen. Die Berechnung erfolgte mit Stata 13, wobei fehlende Werte mithilfe der FIML-Methode (full infomation maximum likelihood) geschätzt wurden. Ergebnisse Bereits in der 3. Klasse liegt bei den meisten Befragten eine frühe Vorstellung von der an die Grundschule anschließenden Schulform vor. Ein Jahr später kann diese Vorentscheidung sowohl revidiert als auch bestätigt werden. Abb. 1 stellt den Verlauf dieses Prozesses sowie die dabei auftretenden wechselseitigen Effekte dar. .525 Elternaspiration

Kinderaspiration

Lehrkraftempfehlung

Elternaspiration

.224

.608

Modellfit: Chi² : 795.378*** RMSEA: .059 CFI: .945 TLI: .886

Kinderaspiration

Lehrkraftempfehlung

Abb. 1: Cross-Lagged-Panel-Modell mit den Schulformpräferenzen von Eltern, Kindern und Lehrkräften in der 3. und 4. Klasse (standardisierte Koeffizienten; alle Pfade sind signifikant, p < 0,001)

Lehrkraftempfehlungen (.608) sind ebenso wie elterliche Bildungsaspirationen (.525) im Zeitverlauf sehr stabil, während die Schulformpräferenzen der Kinder (.224) eine deutlich geringere Stabilität aufweisen. Unter den Cross-Lagged-Beziehungen ist der Einfluss der Eltern auf ihre Kinder am größten (.345). Auch die Lehrkräfte beeinflussen die Kinderwünsche (.170), wenngleich ihr Effekt auf die

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Eltern (.215) noch etwas stärker ausfällt. Die von den Kindern ausgehenden Effekte auf Eltern (.104) wie auch auf Lehrkräfte (.061) sind vergleichsweise gering, aber nichtsdestoweniger signifikant. Der Modellfit fällt akzeptabel aus. Diskussion Das Cross-Lagged-Panel-Design ermöglicht es, die Wahl der weiterführenden Schule als einen sich über einen längeren Zeitraum erstreckenden Abstimmungsprozess mit mehreren Beteiligten zu modellieren.7 Die Ergebnisse machen deutlich, dass alle drei betrachteten Akteure – Lehrkräfte, Eltern und Schüler*innen – sich mit ihren jeweiligen Schulformpräferenzen im Zeitverlauf wechselseitig beeinflussen. Der Effekt der Kinderaspirationen auf Eltern und Lehrkräfte ist insgesamt zwar vergleichsweise gering, bleibt dabei jedoch auch unter Berücksichtigung sämtlicher Kontrollvariablen signifikant. Insofern können entgegen der in RC-Ansätzen üblichen Ausblendung dieser Perspektive Schüler*innen durchaus als relevante Akteure im Abstimmungsprozess um die Wahl der weiterführenden Schule aufgefasst werden. Da die Kinder ihrerseits stark durch die elterlichen Aspirationen beeinflusst werden, lässt sich hierin ein wichtiger Mechanismus vermuten, über den soziale Ungleichheiten reproduziert werden.

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7

Einschränkend sei darauf hingewiesen, dass für das Modell einige analytische Restriktionen in Kauf genommen werden mussten. So konnten etwa Schulleistungen nur begrenzt berücksichtigt werden, da keine Informationen über Noten vorlagen. Diese sind natürlich sowohl für die finale Übertrittsentscheidung als auch für die Lehrkraftempfehlung bedeutsam und ferner auch für die idealistischen Aspirationen von Eltern und Kindern. Um dies zumindest näherungsweise im Modell zu kontrollieren, wurden die Mathematikleistungen der 1. Klasse berücksichtigt.

Kinder als ungleiche Akteure

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Bühler-Niederberger, D; Gräsel, C. & Morgenroth, S. (2015): Sozialisation "upside down". Wenn das Kind als Akteur die Sozialisationsperspektive erobert. In: Zeitschrift für Soziologie der Erziehung und Sozialisation, 35 (2), 119–138. Deppermann, A. (2008): Gespräche analysieren. Eine Einführung. 4. Aufl. Wiesbaden: Springer VS. Ditton, H. (2007): Einleitung: Übergänge im Bildungswesen – Ergebnis rationaler Wahlen? In: Ditton, H. (Hrsg.): Kompetenzaufbau und Laufbahnen im Schulsystem. Ergebnisse einer Längsschnittuntersuchung an Grundschulen. Münster: Waxmann, 923. Edwards, R. & David, M. (1997): Where are the children in the home-school relations? Notes towards a research agenda. In: Children and Society, 11 (3), 194–200. Eßer, F; Baader, M.; S.; Betz, T. & Hungerland, B. (Eds.). (2016): Reconceptualising Agency and Childhood. New Perspectives in Childhood Studies. New York: Routledge. Hauser, S. & Mundwiler, V. (Hrsg.) (2015): Sprachliche Interaktion in schulischen Elterngesprächen. Bern: hep. Honig, M.-S. (2009): Ordnungen der Kindheit. Problemstellungen und Perspektiven der Kindheitsforschung. Weinheim: Juventa. Klemm, K. (2008): Vierzig Jahre Chancenungleichheit in der Grundschule – keine Abhilfe in Sicht? In: Ramseger, J. & Wagener, M. (Hrsg.): Chancenungleichheit in der Grundschule. Ursachen und Wege aus der Krise. Wiesbaden: Springer VS, 1723. Kramer, R-T.; Helsper, W.; Thiersch, S. & Ziems, C. (2009): Selektion und Schulkarriere. Kindliche Orientierungsrahmen beim Übergang in die Sekundarstufe I. Wiesbaden: Springer VS. Markström, A.-M. (2013): Children’s perspectives on the relations between home and school. In: International Journal about Parents in Education, 7 (1), 43–56. Przyborksi, A. (2004): Gesprächsanalyse und dokumentarische Methode: qualitative Auswertung von Gesprächen, Gruppendiskussionen und anderen Diskursen. Wiesbaden: Springer VS. Wohlkinger, F. (2014): Die Rolle des Schülers bei der Wahl der weiterführenden Schule. Eine vergleichende Untersuchung von Grundschülern aus Bayern und Sachsen. Wiesbaden: Springer VS.

„Nicht normal?“ – Die frühe Produktion von Differenz und Risiko in der Zusammenarbeit zwischen Kita und Frühförderung Catalina Hamacher und Simone Seitz1

Keywords: Multiprofessionelle Kooperation, Inklusion, Differenz, Risiko, Reproduktion sozialer Ungleichheit, Normalismus, frühkindliche Bildung

Abstract Die aktuell zunehmenden Praktiken der Früherkennung im frühkindlichen Bildungsbereich sind präjudizierend für Bildungsverläufe im Primarbereich und verleihen auch grundschulbezogenen Überlegungen zu Konstruktionen von Differenz und Risiko neue Bedeutsamkeit. Im Beitrag werden unter der Perspektive (multi)professioneller Kooperation zwischen Kita und Frühförderung Differenzund Risikokonstruktionen diskutiert. Anhand empirischer Befunde wird gefragt, wie Kinder zu Adressat*innen von Frühförderung werden, welche Rolle hierbei Normalitätsvorstellungen spielen und auf welche Weise dies von den beteiligten Professionellen diskursiv verhandelt wird.

1

Aktuelle Entwicklungen

Immer mehr Kinder werden bereits vor Schuleintritt als in ihrer Entwicklung potenziell „gefährdet“ eingeschätzt, wobei vielfach prognostisch mit Blick auf die Grundschule argumentiert wird (Joyce-Finnern 2017). Zunehmend flächende-

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Catalina Hamacher | Universität Paderborn | [email protected] Simone Seitz | Universität Paderborn | [email protected]

© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 N. Skorsetz et al. (Hrsg.), Diversität und soziale Ungleichheit, Jahrbuch Grundschulforschung 24, https://doi.org/10.1007/978-3-658-27529-7_8

Produktion von Differenz und Risiko in der Zusammenarbeit zwischen Kita und Frühförderung

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ckend eingesetzte Beobachtungs- und Dokumentationsverfahren in Kindertageseinrichtungen (Kitas) zeigen hierbei eine Verschiebung des Diskurses von einer ‚normalen‘ zur „optimalen“ Entwicklung an (Nadesan 2010). Selektives präventives Einwirken in frühe Bildungs- und Entwicklungsverläufe, um mögliche Gefährdungen vorbeugend abzufedern, scheint als Strategie zunächst bestechend logisch (Hamacher & Seitz 2019) und entsprechende bildungs- und sozialpolitische Tendenzen gehen mit einer positiven Konnotation als „Frühwarnsysteme“ einher. Hierüber begründete Angebote werden dabei insbesondere in Bezug auf Familien aktiviert, die als „risikobehaftet“ und als „Gefahr“ für das Wohlergehen des Kindes entworfen werden. Dabei werden Merkmale wie ein niedriges Bildungsniveau der Eltern, ein geringer sozioökonomischer Status oder eine unerwünschte Elternschaft als Risikofaktoren ausgemacht (Bollig 2013) und das hierüber hervorgebrachte Modell „child at risk“ wird dem Konzept einer „normalen Kindheit“ gegenübergestellt. So begründete präventive Maßnahmen werden unter (multi)professionellen Zuständigkeiten in Kitas ausgebaut und mit dem Auftrag der „Früherkennung“ verbunden, um über Kooperationen mit entsprechenden Institutionen Fördermaßnahmen zu initiieren. Hierin enthalten ist der paradoxe Auftrag, bereits in der frühkindlichen Bildung Fertigkeiten mit Zukunftsbezug auf die Grundschule festzustellen, um auf diesbezügliche Auffälligkeiten bezogen gezielt intervenieren zu können (Kelle, Schmidt & Schweda 2017: 69f.). Es scheint sich somit eine brisante, prognostisch akzentuierte Form der frühen flächendeckenden Diagnostik zu etablieren, die im Einzelfall Prävention und Intervention aufgrund von ungleichheitsbezogenen Risikokonzeptionen legitimiert (Hamacher & Seitz 2019).

2 Verdeckte Spannungsfelder Mit einem rekonstruktiven Zugang wurde im Rahmen des Forschungsprojektes »Kooperation Kitas und Frühförderstellen« (gefördert durch die Stiftung Wohlfahrtspflege NRW) das kollektive Orientierungswissen kooperativ handelnder Akteur*innen aus früher Bildung und Förderung erschlossen. Die eingangs aufgezeigten Tendenzen stellen dabei einen wichtigen Reflexionsrahmen dar, denn die im Projekt adressierten Fachkräfte sind einerseits aufgefordert eine partzipations- und inklusionsförderliche Kooperation zu etablieren, zugleich jedoch wird von ihnen erwartet, nach der Logik der „Frühwarnsysteme“ zu handeln. Mit einem Ausschnitt einer Gruppendiskussion wird nachfolgend aufgezeigt, wie über interprofessionellen Austausch auf Grundlage jeweiliger Beobachtungsprozesse Risiken (re)konstruiert werden und welche dahinterliegenden Orientierungen

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Catalina Hamacher und Simone Seitz

(Bohnsack, Nentwig-Gesemann & Nohl 2013) sich zeigen.2 Der ausgewählte Befund entstammt einer Gruppendiskussion in einer Kita einer Großstadt in NRW. Es sind zwei Fachkräfte aus der Frühförderstelle sowie eine Pädagogische Fachkraft und die Leitungskraft der Kita anwesend. Vor der Passage sprechen die Akteur*innen über Christoph, der gerade drei Jahre alt geworden ist. Die Beantragung von Frühförderung verzögerte sich aus Fachkräfte-Sicht dadurch, dass die Eltern eine Entwicklungsverzögerung ihres Sohnes nicht sehen wollten (GD Passage 2): Pf: (...) Mit drei Jahren musste die Kollegin ja auch immer noch sagen ‚Christoph deck jetzt nochmal den Tisch‘ oder zweieinhalb oder wie der da alt war ähm ‚guck mal hier in dem Schrank ist doch das Geschirr. (...) Also die mussten den immer wieder auffordern (...) das ist nicht normal also das ist nicht normal das/ und die Eltern wollten es aber nicht wahrhaben und dann war Frau Kaiser (aus der Frühförderstelle) da und dann haben die Eltern auch erstmal la:nge lange nichts gemacht weil sie es einfach nicht wahrhaben wollten und die Kollegen haben dann schon gesagt das ist doch eigentlich °Kindeswohlgefährdung die Eltern tun nichts dafür die könnten ihr Kind fördern°. Ähm (kurze Pause) letztendlich haben sie es dann also letztendlich sind sie dann ins SPZ mit ihm gegangen und er hatte ne visuelle Wahrnehmungsstörung (kurze Pause) und er wird ne Entwicklungsverzögerung gehabt haben (...). Ff: (...) dann kommen die Kollegen und die sagen ah ne ich glaube da wärs gut wenn nochmal jemand drauf guckt und das ist ja das was sich kein Elternteil wünscht ne dass man da nochmal hin muss. Und ähm dann ist es eine Sache noch Frau K. zuzustimmen. Ff 2: genau Ff: (...) aber Frühförderung kriegen wir halt nur mit ner Diagnostik. (Hervorhebung C.H.)

Aus der Perspektive der pädagogischen Fachkraft möchten die Eltern eine Entwicklungsverzögerung ihres Kindes nicht „wahrhaben“. Aus ihrer Sicht gehen sie von einem „normalen“ Verhalten ihres Kindes aus, was hier als Widerstand gedeutet wird gegenüber der „wahren“ Situation nicht altersgemäßen Handelns. Die Fachkraft grenzt sich damit deutlich von der Eltern-Sicht ab und sichert ihre Annahme, dass Christoph der Altersnorm nicht entspricht, über die Diagnose des Sozialpädiatrischen Zentrums ab. So werden ausschließlich Beobachtungen aus Sicht Professioneller als relevant und wirklichkeitsnah verhandelt und über die Einschätzung der Eltern gestellt. Der Widerstand wird dann im Modus einer Verallgemeinerung elaboriert, indem weitere Fälle herangezogen werden; kein Elternteil wünsche sich Frühförderung. Eine Abwehrhaltung der Eltern, die Frühförderung verhindern könnte, wird sogleich mit „Kindeswohlgefährdung“ in Verbindung gebracht, da diese Verweigerung einer Optimierung der Kindesentwicklung als hoch prekär empfunden wird und dies die Kooperation „stört“. Das Angewiesensein auf die zustimmende 2

Nach der interaktiven Dichte und thematischen Schwerpunkten ausgewählte Passagen wurden in Anlehnung an die dokumentarische Methode nach Bohnsack (Bohnsack et al. 2013) in komparativer Sequenzanalyse ausgewertet.

Produktion von Differenz und Risiko in der Zusammenarbeit zwischen Kita und Frühförderung

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Haltung der Eltern („eine Sache“) wird hier als Problem aufgeworfen, bei dem Eltern zu „unbequemen“ Verhandlungspartnern werden, deren Wünsche zwar nachvollzogen werden können, diese aber die „Abläufe“ stören. Die Diagnostik ist hierbei der Türöffner für das Generieren früher Förderung – das Indikatorensystem hierfür ist ein Normalitätsverständnis, das ohne Beteiligung des Kindes und seiner Familie entwickelt wird. Außerhalb des Blickfeldes bleiben alle über die beobachtbare Handlungsebene hinausgehenden Zusammenhänge. Weder mögliche Motive für das Handeln des Kindes noch sein Wohlbefinden werden hier thematisiert – „auffällig“ zu sein gerät vielmehr von der Konstruktion zur Entität, die es wahrzuhaben gilt. Ebenso werden zukunftsbezogene Auswirkungen der Diagnose auf den weiteren Bildungsweg und das Selbstkonzept des Kindes nicht angesprochen, obgleich angenommen werden kann, dass der entlang der Altersnorm defizitär wahrgenommene Stand der Fähigkeiten hier mit Blick auf die Zukunft des Kindes gedacht wird. Relevant für die multiprofessionelle Befassung der Akteure werden fehlende Kompetenzen und Risikofaktoren somit dann, wenn sie das Kind (zukunftsbezogen) einschränken können und das Handeln der Familie als „undoing-difference“ (Hirschauer 2014) eingeordnet wird. Die unterschiedlichen Professionellen sind sich einig – die Position der Familie wird in der Zusammenarbeit von Kita und Frühförderung zum Widerstand gegen das „Richtige“, nämlich die spezifische Förderung. Folglich gilt es in Allianz den Widerstand über verschiedene Anstrengungen „letztendlich“ aufzulösen und die elterliche Zustimmung zu erwirken. Praxeologisch gesprochen orientiert sich das Handeln der Fachkräfte an der Logik einer Feststellung von Unterschiedlichkeit auf Grundlage der Entwicklungsnorm auf Seiten des Kindes. Ihre Professionalität vollzieht sich hiervon ausgehend entlang ihrer (in der Kooperation konsensual abgestimmten) Reaktion auf Differenz und das Erwirken elterlicher Zustimmungen hierfür.

3 Risiko von Anfang an? Die Herstellung von Differenz über diagnostische Praktiken wird grundschulbezogen seit langem kritisch diskutiert. Entsprechende Klassifizierungen dürfen zwar nicht mehr zum Ausschluss von Kindern aus der Grundschule in Förderschulen führen, „sonderpädagogischer Förderbedarf“ wird jedoch bis heute auch gegen den Willen des Kindes und der Eltern zugeschrieben (Kottmann, Miller & Zimmer 2018). Dabei ist bekannt, dass entsprechende Diagnosen in skandalöser Weise mit den eingangs genannten Risikokonzeptionen korrelieren – es sind insbesondere Kinder aus Familien mit geringem sozioökonomischen Status, die in den entsprechenden multiprofessionellen Aushandlungsprozessen als ‚auffällig‘

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Catalina Hamacher und Simone Seitz

angesprochen werden. Neue Brisanz erhält dies mit Blick auf aktuell zu beobachtende Ausweitungstendenzen des Präventions-Internventions-Paradigmas als risikobezogene Sozialtechnologie in der Grundschulpraxis, u. a. über das so genannte „response-to-intervention-Programm“ (kritisch hierzu Hinz 2013). Zusammenführend gedacht wird somit deutlich, dass Risikokonstruktionen in der frühen Bildung eine besondere Brisanz aufgrund ihrer prognostisch akzentuierten Form im Denkmuster der Vorbeugung zukommt und weiterführend kritisch und sehr genau beobachtet werden sollte, inwieweit unter (multi)professioneller Kooperation von pädagogischen Fachkräften und Frühförderkräften Differenzen entlang von hegemonial geprägten Normalvorstellungen hergestellt und zugeschrieben werden – um dann möglicherweise lückenlos in der Grundschule fortgesetzt zu werden.

Literatur Bollig, S. (2013): „Individuelle Entwicklung“ als familiales Projekt- Zur Normativität von Normalisierungspraktiken in kindermedizinischen Vorsorgeuntersuchungen. In: Kelle, H. & Mierendorff, J. (Hrsg.): Normierung und Normalisierung der Kindheit. Weinheim, Basel: Beltz Juventa, 99–118. Bohnsack, R.; Nentwig-Gesemann, I. & Nohl, A.-M. (2013) (Hrsg.): Die dokumentarische Methode und ihre Forschungspraxis. Grundlagen qualitativer Sozialforschung (3. Aktualisierte Aufl.), Wiesbaden: Springer VS, 9–32. Hamacher, C. & Seitz, S. (2019): Was fällt auf? Normalität und Differenz in der (multi)professionellen Kooperation von Kindertageseinrichtung und Frühförderung. In: von Stechow, E. et al. (Hrsg.): Lehren und Lernen im Spannungsfeld von Normalität und Diversität. Gießen: Verlag Julius Klinkhardt, 123–130. Hinz, A. (2013): Inklusion – von der Unkenntnis zur Unkenntlichkeit!? – eine kritische Anmerkung zu einem Jahrzehnt Diskurs über schulische Inklusion in Deutschland. Zeitschrift für Inklusion, (1). Hirschauer, S. (2014). Un/doing differences. Die Kontingenz sozialer Zugehörigkeiten, Zeitschrift für Soziologie, 43(3), 170–191. Joyce-Finnern, N.-K. (2017): Vielfalt aus Kinderperspektive. Verschiedenheit und Gleichheit im Kindergarten. Bad Heilbrunn: Klinkhardt. Kelle, H.; Schmidt, F. & Schweda, A. (2017): Entstehung und Abbau von Bildungsungleichheit. Herausforderungen für die empirische Bildungsforschung mit Fokus auf der frühen Kindheit. In: Diehm, I. et al. (Hrsg.): Differenz – Ungleichheit – Erziehungswissenschaft. Verhältnisbestimmungen im (Inter-)Disziplinären. Wiesbaden: Springer VS, 63–80. Kottmann, B.; Miller, S. & Zimmer, M. (2018): Macht Diagnostik Selektion? In: Zeitschrift für Grundschulforschung 1. 2018, 23–38. Nadesan, M. H. (2010): Governing childhood into the 21st century: Biopolitical technologies of childhood management and education. New York, Basingstoke, Hampshire: Palgrave Macmillan.

Schulentwicklung unter den Bedingungen urbanen Strukturwandels: Sicherung von Heterogenität durch Homogenisierung der Klassen? Nina Bohlmann, Corinna Gottmann und Jörg Ramseger1

Keywords: Schulentwicklung, Heterogenität, Migration, Stadtentwicklung, Schulflucht, Sprachförderung, Evaluation, Strukturwandel

Abstract Der folgende Beitrag schildert die Befunde der Evaluation eines ungewöhnlichen Schulversuchs, in welchem von 2010 bis 2017 eine Berliner Grundschule darum bemüht war, durch Einrichtung von Spezialklassen für Kinder mit hoher Kompetenz in der deutschen Bildungssprache gezielt Eltern mit einem hohen Aspirationsniveau anzuwerben und somit in der Gesamtschülerschaft eine höhere Heterogenität bezogen auf Sprachkompetenz und Bildungshintergrund zu erzielen.

1

Problemstellung

Wir sind Zeitzeugen von Migrationsbewegungen und Prozessen der gesellschaftlichen Diversifizierung in allen führenden Industriegesellschaften (Georgi 2015). Die Schule ist dabei potenziell ein Austragungsort für Konflikte, Separationsbemühungen der Eltern und Segregationsprozesse innerhalb der Gesellschaft. Die

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Nina Bohlmann | Universität Leipzig | [email protected] Corinna Gottmann | Die Deutsche Schulakademie Berlin | [email protected] Jörg Ramseger | Freie Universität Berlin | [email protected]

© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 N. Skorsetz et al. (Hrsg.), Diversität und soziale Ungleichheit, Jahrbuch Grundschulforschung 24, https://doi.org/10.1007/978-3-658-27529-7_9

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Nina Bohlmann, Corinna Gottmann und Jörg Ramseger

Angst bildungsbewusster Eltern vor einer Benachteiligung ihrer Kinder beim Besuch von Schulen mit einem hohen Anteil von Kindern mit Zuwanderungshintergrund äußert sich oft in einer Absetzbewegung zu Privatschulen oder benachbarten Schulen mit einer geringeren Zahl von sozioökonomisch benachteiligten Kindern und Kindern mit nichtdeutscher Familiensprache. Zurück bleiben Schulen mit immer schwierigeren Lern- und Arbeitsbedingungen. Dies war auch die Ausgangssituation an einer Berliner Grundschule, die infolge von Segregationstendenzen im Stadtteil in Kombination mit allgemein zurückgehenden Schülerzahlen in den Jahren 2000 bis 2010 eine massive Abwanderung von bildungsbewussten Eltern erleben musste und kurz vor der Schließung stand. Diese Schule bildete mit sechs weiteren Grundschulen einen so genannten „Schulsprengel“, innerhalb dessen die Eltern eine der sieben Schulen nach Maßgabe verfügbarer Plätze frei wählen konnten, wobei sich die Einzugsgebiete der Schulen hinsichtlich ihrer sozioökonomischen Situierung deutlich unterschieden. Diese Wahlfreiheit bewirkte starke Wanderungsbewegungen der Eltern der Schulanfänger und erhöhte die Konkurrenz unter den Schulen spürbar. Als Reaktion darauf hat die Schule im Februar 2010 den Beschluss gefasst, Spezialklassen mit Schulanfängern zu bilden, die eine hohe Kompetenz in der Beherrschung der deutschen Bildungssprache nachweisen konnten. Gleichzeitig sollten die Schülerinnen und Schüler der anderen Klassen eine zielgruppenspezifische und umfassende sprachliche Förderung erhalten. Es ging um den schulintern wie auch in der Öffentlichkeit durchaus umstrittenen Versuch, sprachliche Heterogenität in der ganzen Schule durch eine Maßnahme sprachlicher Homogenisierung der Kinder innerhalb der Klassen herzustellen. Eine solche Homogenisierung der Klassen nach den Sprachvoraussetzungen der Kinder ist nach der Berliner Grundschulverordnung nicht zulässig. Sie konnte nur im Rahmen eines Schulversuchs erprobt werden. Der Schulversuch mit dem Titel „Differenzierte Sprachförderkonzepte“ umfasste für diese Spezialklasse zusätzlich eine Profilbildung im Fach Sachunterricht - Naturwissenschaften - sowie das Angebot von Früh-Englisch-Unterricht als Arbeitsgemeinschaft für alle Kinder der Schulanfangsphase. Er wurde von der Senatsbildungsverwaltung befürwortet und eine entsprechende Spezialklasse unter der Hausbezeichnung „NaWiKlasse“ wurde zum Schuljahresbeginn 2010/11 erstmals eingerichtet. Die Zielsetzung im Genehmigungsantrag von 2010 lautete: „Durch den Schulversuch soll erreicht werden, dass die Unterrichts- und Förderqualität unserer Schule als attraktives Bildungsangebot wieder mehr Akzeptanz bei allen Eltern des Sozialraums erhält, so dass das Anmeldeverhalten bildungsnaher Familien die gewünschte soziale Mischung wiederherstellt.“ Ausdrücklich sollten alle Kinder der Schule von der Einführung der Spezialklassen profitieren. Dies sollte durch klassenübergreifende Kontakte mit den Schülerinnen und Schülern aus den NaWi-Klassen erreicht werden. Im Antrag war dabei noch von (in Bezug auf ihre

Schulentwicklung unter den Bedingungen urbanen Strukturwandels

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Deutschkenntnisse) „temporär homogenen Lerngruppen“ die Rede, die ab Klasse 3 in heterogene Lerngruppen überführt werden sollten. Eine solche Neuaufteilung der Klassen hat dann später allerdings nur begrenzt stattgefunden.

2 Forschungsdesign Um beobachten und bewerten zu können, wie sich der Schulversuch bewähren würde und was die Folgen nicht nur für diese, sondern auch für alle benachbarten Schulen sein würden, hat die damalige Senatsverwaltung für Bildung, Wissenschaft und Forschung des Landes Berlin im Jahr 2011 eine Forschergruppe an der Freien Universität Berlin unter der Leitung von Jörg Ramseger mit der Evaluation des Schulversuchs beauftragt. Die Mitautorinnen dieses Beitrags waren an der Konzeption und Durchführung der Evaluation maßgeblich beteiligt.2 Es wurde ein multi-methodisches Design unter Einbezug quantitativer und qualitativer Verfahren gewählt, das drei Ebenen in den Blick nimmt: ƒ

Zunächst wurde der Kontext der Schule betrachtet, u. a. das lokale sozio-ökonomische Umfeld der Schule (Demographie, Stadtentwicklung, Segregationsprozesse) und die schulsystem- und steuerungsbedingten Wettbewerbsbeziehungen zwischen den Schulen (Durchführung von Experteninterviews und Dokumentenanalysen).

ƒ

Daneben wurde die Ebene der internen Schul- und Unterrichtsentwicklung untersucht (Durchführung von Einzel- und Gruppeninterviews mit Schulleitungen, Pädagoginnen und Pädagogen sowie Eltern; Fragebogenerhebungen bei Eltern, Pädagoginnen und Pädagogen sowie Schülerinnen und Schülern der 6. Klassen; Dokumentenanalysen).

ƒ

Auf der dritten Ebene ging es um die Entwicklung der individuellen Kompetenzen der Schülerinnen und Schüler (Sprachstandserhebungen zu Beginn der Schulzeit; standardisierte Schulleistungstests).

Die längsschnittliche Entwicklung der Kinder der ersten beiden Schulversuchsjahrgänge an der Versuchsschule konnte aufgrund der langen Beobachtungszeit über die gesamte Grundschulzeit bis hin zum Übergang zu den weiterführenden Schulen dokumentiert werden. Damit ergibt sich eine einzigartige Datenlage, die die Entwicklung der Schule über den gesamten Zeitraum an ihren Ergebnissen

2

In der ersten Phase des Schulversuchs waren auch Jörg Nicht und Johanna Hochstetter Mitglieder des Evaluationsteams.

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Nina Bohlmann, Corinna Gottmann und Jörg Ramseger

nachzuzeichnen erlaubt. Der Abschlussbericht fasst die Effekte des Versuchs nach sechs Jahren zusammen (Gottmann & Ramseger 2017).

3 Die Entwicklung des Schulversuchs Bedeutsam für die Anfangsphase des Schulversuchs war zunächst, dass den ab dem Schuljahr 2010/11 gebildeten Spezialklassen keineswegs eine Aufteilung der Kinder nach Nationalität oder Herkunftssprache zugrunde lag, wie in manchen Kreisen der Öffentlichkeit befürchtet worden war. Der Vorwurf, hier würden – wie die Presse es nannte – „Deutsch-Garantie-Klassen“ (u. a. Süddeutsche Zeitung 2010) im Sinne einer Bevorzugung von Kindern mit deutscher Herkunftssprache gebildet, konnte schon im ersten Schulversuchsjahr ausgeräumt werden: Die Kinder der Schulversuchsklassen hatten zwar durchweg eine höhere Kompetenz in der deutschen Bildungssprache; sie kamen aber aus Elternhäusern aus elf Nationen mit zehn unterschiedlichen Herkunftssprachen. Allerdings war der Schulversuch auch im Kollegium der Schule nicht unumstritten: Mehrere Pädagoginnen und Pädagogen äußerten in den Gesprächen mit der wissenschaftlichen Begleitung eine gewisse Sorge, dass die Regelklassen zu „Restklassen“ mit schlechteren Arbeitsbedingungen und weniger Aufmerksamkeit seitens der Schulleitung absinken könnten. Diese Spaltung des Kollegiums in engagierte Verfechter des Versuchs und sich zurückgesetzt fühlende Kolleginnen und Kollegen in den anderen Klassen prägte das Klima der Schule in den ersten Jahren deutlich. Sie wurde erst durch ein größeres Personalrevirement in der zweiten Schulversuchsphase überwunden, als neue Pädagoginnen und Pädagogen an die Schule kamen, die sich teilweise ganz gezielt an der inzwischen sehr entwicklungsfreudigen und reformorientierte Schule beworben hatten.

4 Befunde Tatsächlich gelang es der Schule mit Beginn des ersten Schulversuchsjahres zunächst eine, später mehrere Klassen mit Kindern mit guten Sprachkompetenzen in der deutschen Bildungssprache zu füllen und den Anteil von Kindern bildungsbewusster Eltern kontinuierlich zu erhöhen. Das Bemühen der Schule, einen vermeintlich oder real gegebenen „schlechten Ruf“ der Vergangenheit zu überwinden, der zu den drastisch sinkenden Anmeldezahlen geführt hatte, kann als erfolgreich bewertet werden: Die Schule ist inzwischen auch für bildungsbewusste und sozioökonomisch besser gestellte Eltern wieder interessant.

Schulentwicklung unter den Bedingungen urbanen Strukturwandels

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In den Abschlussbefragungen konnten wir bei den Eltern ebenso wie bei den Pädagoginnen und Pädagogen eine hohe Zufriedenheit mit der Schule feststellen. Dazwischen lagen jahrelange, durch einen externen Coach angeleitete Schulentwicklungsarbeiten des gesamten Kollegiums, das in zahlreichen Entwicklungsgruppen, in denen alle Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter mitwirkten, die Schule voranbringen wollte und die selbst erfahrenen sowie die von der wissenschaftlichen Begleitung aufgezeigten Entwicklungspotenziale systematisch angegangen ist. Insbesondere wurde ein ausgefeiltes Sprachbildungskonzept für alle Schülerinnen und Schüler mit hoch differenzierenden Förderangeboten in klassenübergreifenden Kleingruppen entwickelt. Hinsichtlich der individuellen Leistungsentwicklung zeigt sich in Übereinstimmung mit anderen Längsschnittstudien, dass der fachspezifische Schulerfolg am Ende der Grundschulzeit in hohem Maß bereits am Schulerfolg zu Beginn der Grundschulzeit ablesbar ist (vgl. Müller 2013). Die Zugehörigkeit der Kinder zu den Spezial- oder Regelklassen war unter Berücksichtigung der erfassten Bildungsvoraussetzungen der Schülerinnen und Schüler für den individuellen Schulerfolg nicht relevant. Dabei ist jedoch zu konstatieren, dass an der Versuchsschule die Tatsache, mit einer anderen Herkunftssprache als Deutsch aufzuwachsen, unter Berücksichtigung der fachspezifischen Schulleistungen zu Beginn des zweiten Schulbesuchsjahres später keinen zusätzlichen Nachteil in der Leistungsentwicklung nach sich zog. Dies bestätigt die Annahme, dass eine sich intensiv selbst reformierende Ganztagsschule mit einem hoch engagierten innovationsfreudigen Kollegium die Bildungsvoraussetzungen, die die Kinder bereits in die Schule mitbringen, zwar nicht vollständig ausgleichen, aber dennoch diesbezüglich wirksam werden kann.

Literatur Georgi, V. B. (2015): Integration, Diversity, Inklusion. Anmerkungen zu aktuellen Debatten in der deutschen Migrationsgesellschaft. DIE Zeitschrift für Erwachsenenbildung, 2, 25–27. Online unter: www.diezeitschrift.de/22015/einwanderung-01.pdf. Gottmann, C. & Ramseger, J. (2017): Abschlussbericht der wissenschaftlichen Begleitung zum Schulversuch „Differenzierte Sprachförderung“ an der Gustav-Falke-Schule im Bezirk Berlin-Mitte. Online-Dokument. Berlin: Freie Universität – Refubium. https://refubium.fu-berlin.de/ Müller, R. (2013): Bedingungsfaktoren schulischer Leistungen in der Grundschule – (Womit) Kann Schulerfolg prognostiziert werden? Eine Längsschnittuntersuchung an Grundschulen und Schulen der Sekundarstufe I in Bayern und Sachsen. München: Herbert Utz Verlag. Süddeutsche Zeitung (17. Mai 2010, ohne Autor): „Deutsch-Garantie“ in der Grundschule. Süddeutsche.de. Online unter https://www.sueddeutsche.de/karriere/modellversuch-in-berlin-deutschgarantie-in-der-grundschule-1.150539.

Die Erhebung von Diversitätsmerkmalen im Hilfsschulaufnahmeverfahren – eine historische Analyse von Schülerpersonalbögen aus der BRD Lisa Sauer und Michaela Vogt1

Keywords: Diversitätsmerkmale, Hilfsschulaufnahmeverfahren, BRD, historische Bildungsforschung

Abstract Der bildungshistorisch ausgerichtete Beitrag untersucht die im Hilfsschulaufnahmeverfahren (HAV) in der BRD von 1958 bis 1978 eingesetzten Formblätter – die Schülerpersonalbögen (SPB) – hinsichtlich der Erhebung von Diversitätsmerkmalen. Hierbei analysiert er im synchronen Vergleich die inhaltliche Kohärenz zwischen den formalen Vorgaben aus den Bögen und den im Regelfall händisch eingefügten Dokumentationen der am Verfahren beteiligten Professionen.

1

Projektanlage

Mit Blick auf das Erkenntnisinteresse fokussiert die in diesem Artikel präsentierte Studie2 die inhaltliche Kohärenz zwischen den im HAV eingesetzten Formblättern

1

Lisa Sauer | Universität Bielefeld | [email protected] Michaela Vogt | Universität Bielefeld | [email protected]

2

Diese ist eine Teilstudie aus dem von der DFG geförderten Projekt VO 2220/1-1 unter Leitung von Prof. Dr. Michaela Vogt, das aus historisch-vergleichender Perspektive die Konsistenzen der im HAV in der BRD und DDR getroffenen Beschulungsentscheidungen untersucht. Nähere Informationen über das Projekt – bestehend aus den parallel angelegten Teilprojekten zur BRD und zur DDR – s. Floth, Sauer und Vogt (2017).

© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 N. Skorsetz et al. (Hrsg.), Diversität und soziale Ungleichheit, Jahrbuch Grundschulforschung 24, https://doi.org/10.1007/978-3-658-27529-7_10

Die Erhebung von Diversitätsmerkmalen im Hilfsschulaufnahmeverfahren

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und den von den professionellen Gutachter*innen3 eingefügten Dokumentationen. Dies wird im Untersuchungszeitraum 1958 bis 1978 im synchronen Vergleich untersucht und kontextual eingebettet – v. a. über bildungspolitische wie hilfsschulpädagogische Zusammenhänge. Mit diesem bislang als Desiderat zu bezeichnenden Analysefokus ist die Studie interdisziplinär im Forschungsfeld von – jeweils historisch ausgerichteter – Kindheits- und Schulforschung, Erziehungswissenschaft sowie pädagogisch-psychologischer Diagnostik zu verorten (u. a. Borchert 1986). Das Quellenkorpus umfasst 910 SPB von Primarschulkindern aus Frankfurt am Main, die während ihrer Primarschulzeit das HAV durchlaufen haben. Im Untersuchungszeitraum liegen zwei Varianten der SPB vor – mit einem Wechsel 1964. Hinzu kommen zeitgenössische hilfsschulpädagogische sowie bildungspolitische Publikationen. Metatheoretisch wird das Quellenkorpus unter sozialkonstruktivistischer Perspektive nach Berger und Luckmann (1969) betrachtet. Forschungsmethodisch fokussiert das hermeneutisch ausgerichtete Vorgehen eine inhaltsanalytische Kategorisierung (Böhme & Tenorth 1990). Dabei werden in einem ersten Schritt die in den zwei Varianten der SPB formal abgefragten kindlichen Merkmale kategorial erschlossen. Hieraus ergeben sich bogenvariantenübergreifend folgende Fragenbereiche: mit Blick auf die kindlichen Merkmale die (1) grundlegenden kognitiven Fähigkeiten, (2) die Teilleistungen, (3) das Verhalten im inner- und außerschulischen Kontext, (4) die physische Entwicklung und Erscheinung, (5) die emotional-volitive Situation und (6) die Gesamtpersönlichkeit sowie hinsichtlich der familiären und häuslichen Gesamtsituation des Kindes der Fragenbereich zum (7) Umfeld (Kategoriensystem A). In einem zweiten Schritt werden die Dokumentationen der verschiedenen Professionen aus 24 per Zufallsstichprobe ausgewählten SPB beider Bogenvarianten ebenfalls kategorial erschlossen und hierbei in die Bereiche mit Zuschreibungen zum Kind zu seinen (I) Tätigkeiten, Fertigkeiten und Fähigkeiten sowie zu seinen (II) emotional-volitiven, (III) physischen, (IV) die Gesamtperson betreffenden polykriterialen wie auch (V) sozialen und materiellen Merkmalen untergliedert (Kategoriensystem B)4. Abschließend erfolgt in einem dritten Schritt ein qualitativer Vergleich –für jede der beiden Bogenvarianten separat – der im ersten und im zweiten Schritt gewonnenen Kategorien inklusive der dazugehörigen Unterkategorien und Quotations.

3

Am HAV in der BRD sind im Untersuchungszeitraum durchgängig ein(e) Primarschullehrer*in und -leiter*in, ein(e) Hilfsschullehrer*in und ein(e) Schularzt*in beteiligt, ab 1964 auch ein(e) Hilfsschulleiter*in ( Floth, Sauer & Vogt 2017).

4

Dieses Kategoriensystem wurde teilprojektübergreifend entwickelt und ist somit für das BRDund das DDR-Teilprojekt gültig (s. Floth & Vogt in diesem Band).

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Lisa Sauer und Michaela Vogt

2 Inhaltliche Kohärenz zwischen Formblatt und Dokumentationen Im Folgenden werden ausgewählte Erkenntnisse des qualitativen Vergleichs der abgefragten Merkmalsbereiche (Kategoriensystem A) mit den dokumentierten Zuschreibungsbereichen (Kategoriensystem B) vorgestellt – getrennt für die erste bis 1963 eingesetzte Bogenvariante und für ihre Neufassung ab 1964 – sowie exemplarisch in kontextuale Erklärungszusammenhänge eingebettet. 2.1

Erkenntnisse des synchronen Vergleichs

Der Vergleich der Fragenbereiche der ersten Bogenvariante (in dem nur die Kat. 1–5, 7 auftreten) mit den in den SPB während ihres Einsatzes im Untersuchungszeitraum bis 1963 dokumentierten Zuschreibungsbereichen (d. h. Kat. I–V) deckt überwiegend inhaltliche Kongruenzen auf. Diese zeigen sich v. a. in den Dokumentationen personenbezogener Zuschreibungen: So beantworten die Gutachter*innen bspw. über physische Zuschreibungen (Kat. III) zu Erkrankungen genau die im Bereich der physischen Entwicklung und Erscheinung (Kat. 4) vorgegebene Frage zur Krankheitsgeschichte (m_1947/93_Fra). Auch spiegeln sich die Antworten zum umfeldbezogenen Fragenbereich (Kat. 7) in den dokumentierten sozialen und materiellen Zuschreibungen (Kat. V) wider. Allerdings finden sich hierunter auch Zuschreibungen zur Betreuungssituation des Kindes, wie z. B. „Der Junge ist sich viel selbst überlassen.“ (ebd.: 3). Diese werden in Diskrepanz zu den formal vorgegebenen Fragen zum Umfeld und damit als inhaltliche Erweiterung erhoben. Mit Blick auf die zweite Bogenvariante ergibt sich ausgehend vom qualitativen Vergleich des Formblattes mit den Dokumentationen eine Einteilung ihres Einsatzzeitraums in die Zeitabschnitte 1964 bis 1969 und 1970 bis 1978. Ersterer ist primär gekennzeichnet durch inhaltliche Diskrepanzen zwischen den abgefragten Merkmalsbereichen (hier treten die Kat. 1–7 auf) und den erfassten Zuschreibungsbereichen (d. h. Kat. I–V). Diese zeigen sich zum einen in inhaltlichen Reduzierungen der Dokumentationen im Vergleich zu den formalen Vorgaben: so wird z. B. die im Rahmen der grundlegenden kognitiven Fähigkeiten (1) abgefragte Intelligenz des Kindes von 1964 bis 1969 nicht erhoben. Zum anderen treten aber auch inhaltliche Erweiterungen im Vergleich zu den vorgegebenen Fragen auf: bspw. durch die dokumentierten – jedoch im Bereich der physischen Entwicklung und Erscheinung (Kat.4) nicht abgefragten – physischen Zuschreibungen (Kat. III) zur körperlichen Verfasstheit des Kindes (w_1963/57_Fra) oder durch die zusätzlich im umfeldbezogenen Bereich (Kat.7) festgehaltenen sozialen

Die Erhebung von Diversitätsmerkmalen im Hilfsschulaufnahmeverfahren

83

und materiellen Zuschreibungen (Kat. V) zu den allgemeinen familiären Verhältnissen (ebd.). Diese im Zeitabschnitt von 1964 bis 1969 festgestellten inhaltlichen Diskrepanzen im personen- sowie umfeldbezogenen Bereich nehmen im Zeitabschnitt von 1970 bis 1978 sukzessive ab. Eine vollständige inhaltliche Passung zwischen Formblatt und Dokumentationen ist allerdings auch in dieser Phase nicht gegeben, da die Gutachter*innen ab 1974 die personenbezogenen Zuschreibungen (d. h. Kat. I–IV) durch nicht abgefragte prognostische Aussagen zum Kind erweitern (ebd.). 2.2

Kontextuale Erklärungszusammenhänge

Die im Zeitraum von 1958 bis 1963 aufgedeckten weitgehenden inhaltlichen Kongruenzen zwischen Formblatt und Dokumentationen sind damit zu erklären, dass die Gutachter*innen das der ersten Bogenvariante implizite bildungspolitische Verständnis einer medizinisch- und umfeldbedingten Hilfsschulbedürftigkeit der 1950er Jahre teilen und demgemäß die formalen Vorgaben des SPB größtenteils einhalten (HMfEV 1954). Ihre inhaltlichen Erweiterungen zum kindlichen Umfeld – entgegen der formalen Vorgaben – sind dabei auf die hilfsschulpädagogische Theoriediskussion der 1950er Jahre zurückzuführen, die stärker noch als das bildungspolitische Verständnis, v. a. prekäre familiäre Verhältnisse als Ursache für eine Hilfsschulbedürftigkeit fokussiert (Bleidick 1955). Die inhaltlichen Diskrepanzen zwischen Formblatt und Dokumentationen im Zeitraum 1963 bis 1969 ergeben sich aus einer mangelnden Übereinstimmung des Verständnisses einer Hilfsschulbedürftigkeit der Gutachter*innen mit der der zweiten Bogenvariante zugrundeliegenden veränderten bildungspolitischen Idee einer Hilfsschulbedürftigkeit. Diese wird nun als Lernbehinderung verstanden mit einem in der Gesamtpersönlichkeit des Kindes liegenden Bedingungsgefüge (KMK 1960). Die Gutachter*innen halten jedoch an der Vorstellung einer medizinisch-kausalen sowie milieubedingten Hilfsschulbedürftigkeit fest, die sich somit in den zu den formalen Vorgaben inhaltlich diskrepanten Dokumentationen widerspiegelt. Die ab 1970 einsetzende sukzessive – wenn auch nicht vollständige – Einhaltung der formalen Vorgaben durch die Gutachter*innen und die damit einhergehende Abnahme der inhaltlichen Diskrepanzen ist mit der erneuten bildungspolitischen Thematisierung des Konstrukts der Lernbehinderung als langanhaltendes Leistungsversagen sowie der bei der Feststellung vorzunehmenden Fokussierung auf die Gesamtpersönlichkeit des Kindes und weniger auf das soziale Umfeld zu erklären (KMK 1972).

84

Lisa Sauer und Michaela Vogt

3 Fazit Zusammenfassend ist festzuhalten, dass sich die Gutachter*innen bei der Erhebung von Diversitätsmerkmalen im HAV nicht konsequent an die formalen Vorgaben der SPB und damit nicht an bildungspolitische Vorgaben halten. Hierdurch entstehende inhaltliche Diskrepanzen beziehen sich primär auf die umfeldbezogenen Diversitätsmerkmale. So wird v. a. das familiäre Setting des Kindes bis weit in die 1970er Jahre weitaus ausführlicher erhoben als formal vorgegeben. Demnach erfolgt im HAV nicht nur eine Normierung des Kindes, sondern auch seines sozialen Umfelds – es erfüllt somit seine Funktion, eine individuell passgenaue schulische Förderung unabhängig von der sozialen Herkunft zu identifizieren, nicht vollumfänglich. Folglich trägt das HAV zur Entstehung ungleicher Bildungschancen bei – eine mit Blick auf die Thematik des Tagungsbandes relevante Erkenntnis – und ist in seiner Validität sowie Reliabilität durchaus in Frage zu stellen.

Literatur Berger, P. L. & Luckmann, T. (1969): Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit. Eine Theorie der Wissenssoziologie. Frankfurt a. M: Fischer. Bleidick, U. (1955): Die Hilfsschule und die Krise der Zeit. In: Zeitschrift für Heilpädagogik, 6, 329– 339. Borchert, J. (1986): Zur Begutachtung lernschwacher Schüler. In: Zeitschrift für Heilpädagogik, 37, 665–673. Böhme, G. & Tenorth, H.-E. (1990): Einführung in die Historische Pädagogik. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft. Floth, A.; Sauer, L. & Vogt, M. (2017): Zur Zuverlässigkeit des Hilfsschulaufnahmeverfahrens: Ergebnisse einer historisch-vergleichenden Analyse von Schülerpersonalbögen aus der BRD und der DDR. In: Tertium Comparationis, 23 (2), 152–174. HMfEV (Hessisches Ministerium für Erziehung und Volksbildung) (1954): Überprüfung der zur Aufnahme in die Volksschule vorgeschlagenen Kinder. Erlaß des Ministers für Erziehung und Volksbildung vom 13.1.1954. In: Hesse, G. (Hrsg.) (1962): Sonderschulbestimmungen. BerlinCharlottenburg: Carl-Marhold, 116–120. KMK (Ständige Kultusministerkonferenz der Länder in der Bundesrepublik Deutschland) (1960): Gutachten zur Ordnung des Sonderschulwesens. Bonn: Carthaus. KMK (Ständige Kultusministerkonferenz der Länder in der Bundesrepublik Deutschland) (1972): Empfehlung zur Ordnung des Sonderschulwesens. Nienburg: Schulze. Schülerakten des Archivs der Charles-Hallgarten Förderschule Frankfurt am Main: m_1947/93_Fra; w_1963/57_Fra.

Darstellungen der Gesamtpersönlichkeit des überprüften Primarschülers in der DDR im diachronen Wandel Agneta Floth und Michaela Vogt1

Keywords: Schülercharakterisierung, Diversifikation, Beschulungsentscheidung, Hilfsschulaufnahmeverfahren, DDR

Abstract Über das Hilfsschulaufnahmeverfahren (HAV) erfolgte in der DDR die Überprüfung von regulär eingeschulten Primarschülern im Falle des Verdachts, dass das Kind einen sonderpädagogischen Förderbedarf haben könnte. Aufgrund der in Schülerpersonalbögen dokumentierten Untersuchungsergebnisse (die von verschiedenen Professionen zu erheben waren) wurde bildungsadministrativ über den weiteren Beschulungsort entschieden. Diese Beschulungsentscheidung, die u. U. die Segregation der überprüften Schüler zur Folge hatte (und nach wie vor hat), birgt die Annahme, dass im HAV der Diversität kindlicher Lernausgangslagen in der Primarschule zwar mit dem Anspruch eines adäquaten Beschulungsortes begegnet wurde, allerdings hierdurch auch die bildungsbiographischen Folgen für das Kind zwangsläufig mit der Gefahr der Beförderung sozialer Ungleichheit verbunden waren.

1

Anlage der Untersuchung

Die in diesem Artikel vorgestellten Ergebnisse beruhen auf der untersuchungsinternen Erkenntnis, dass Beschulungsentscheidungen gehäuft auf gutachterlichen 1

Agneta Floth | Universität Bielefeld | [email protected] Michaela Vogt | Universität Bielefeld | [email protected]

© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 N. Skorsetz et al. (Hrsg.), Diversität und soziale Ungleichheit, Jahrbuch Grundschulforschung 24, https://doi.org/10.1007/978-3-658-27529-7_11

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Agneta Floth und Michaela Vogt

Stellungnahmen beruhen, die die Gesamtpersönlichkeit des Kindes umschreiben. Insofern fokussiert der Artikel exemplarisch diese Charakterisierungen innerhalb der verfügbaren Schülerpersonalbögen aus der DDR inklusive deren Wandel und deren Verbindung mit kontextualen Einflussfaktoren. Die Datengrundlage hierfür liefert das von der DFG seit 2018 geförderte Projekt „Zwischen Primarschulfähigkeit und Hilfsschulbedürftigkeit. Zur Vorläufervariante Inklusiven Lernens“ (VO 2220/1-1) unter der Leitung von Michaela Vogt.2 Im Feld empirischer Studien bewegt sich dieses bislang unbehandelte Forschungsinteresse an der Schnittstelle von der historisch ausgerichteten Schul- und Kindheitsforschung sowie der pädagogisch-psychologischen Diagnostik (u. a. Laux 1990). Ausgangspunkt der in diesem Text dargestellten exemplarischen Untersuchungsergebnisse sind mit den auf die Gesamtperson des Kindes bezogenen Zuschreibungen zum einen solche mit allgemeinerer Ausrichtung, bspw. „Die Ursachen für dieses [vielfältig defizitäre] gesamt[persönliche] Erscheinungsbild liegen unseres Erachtens im Kind selbst begründet.“ (VAGö SU/1462; Anm. d. Verf.), ohne dabei kleinteilig einzelne Aspekte wie z. B. eine ausgewählte Fähigkeit des Schülers im Mathematikunterricht zu betreffen. Zum anderen umfassen Zuschreibungen zur Gesamtpersönlichkeit solche, die das Kind entweder als Kind für eine bestimmte Schulart charakterisieren (bspw. „[das Kind] ist ein Hilfsschüler“ (VAGö SU/1708)) oder ihm eine Diagnose zuweisen (bspw. für eine vermutete Hilfsschulbedürftigkeit: „Bei [dem Kind] besteht Debilität.“ (VAGö SU/1124) oder „Schwachsinn“ (VAGö SU /1708)).3 Die Annäherung an die Auseinandersetzung mit solchen Zuschreibungen aus den im Projekt analysierten gutachterlichen Stellungnahmen, die aus unterschiedlichen gutachterlichen Perspektiven in den Schülerpersonalbögen die Gesamtpersönlichkeiten der Kinder umschreiben, beruft sich methodologisch v. a. auf Pocock (1972). In Orientierung an seinen Ansatz werden die vorgefundenen Zuschreibungen zum im HAV überprüften Kind im Sinne des linguistic turns ideengeschichtlich eingeordnet – und demgemäß Bezüge auf der bildungspolitischen, curricularen und fachwissenschaftlichen Kontextebene hergestellt. Methodisch umgesetzt wird die Teilstudie mit Hilfe inhaltsanalytischer wie ebenso kontextualisierender Elemente (ebd.; Vogt 2015).

2

Die hier vorgestellte Untersuchung stellt eine Teilstudie des vergleichend angelegten DFG-Projekts dar, die das Thema im innerdeutschen Vergleich zwischen BRD (Frankfurt a. M.) und DDR (Görlitz) bearbeitet und mit Kanada (Toronto) erweitert. Die BRD-Erhebung erfolgt durch Lisa Sauer (vgl. Sauer & Vogt in diesem Band).

3

Hintergrund hierfür ist ein zwischen dem BRD- und DDR-Projekt parallel angelegtes Kategoriensystem, das personen- und umfeldbezogene Zuschreibungen zum überprüften Kind erfasst (siehe dazu auch Sauer & Vogt in diesem Band).

Darstellungen der Gesamtpersönlichkeit des überprüften Primarschülers in der DDR

87

Das der hier vorgestellten Teilstudie zugrundeliegende Quellenkorpus besteht aus 24 von Gutachtern ausgefüllten Schülerpersonalbögen, die aus dem Verwaltungsarchiv der Stadt Görlitz stammen. Durch das Vorhandensein von zwei Bogenvarianten im Untersuchungszeitraum, der die Jahre 1958 bis 1978 umfasst, werden sie bis 1973 nur von einem Primarschullehrer, einem Hilfsschullehrer und einem Mediziner ausgefüllt. Aufgrund der Richtlinie von 1973 kommen ab 1974 zudem ein Psychologe und eine sog. Aufnahmekommission als entscheidungsvorbereitende Instanz hinzu (u. a. VAGö SU/1124; VAGö SU/1708; MfV 1953; MfV 1973). Eine weitere Konsequenz der Einführung der zweiten Bogenvariante ist neben der Hinzunahme zusätzlicher gutachterlicher Stellungnahmen auch eine generelle Ausweitung der zu beantwortenden Fragen, die auch der Gesamtpersönlichkeit des Kindes größere Aufmerksamkeit zuteil werden lassen (ebd.; Sauer, Vogt & Floth 2018). Dieser letztgenannte Aspekt ist für die im Artikel verfolgte Fragestellung von besonderer Relevanz.

2 Die Gesamtpersönlichkeit des Kindes im diachronen Wandel Zuschreibungen zur Gesamtpersönlichkeit des Kindes treten zu Beginn des Untersuchungszeitraums zunächst eher selten auf und vorwiegend unter diagnostischem Bezug. So wird das im HAV überprüfte Primarschulkind als „schwachsinnig“ oder „hilfsschulbedürftig“ beschrieben. Ab Mitte der 1960er Jahre nehmen sie stark zu. Sie umfassen mit Zuschreibungen wie dem „debilen“ oder „hilfsschulfähigen“ Kind nun neue Nuancen von bislang nicht genutzten Beschreibungen der kindlichen Gesamtperson, wie bspw. die Bezugnahme auf die Tatsache, dass ein Schüler, noch nicht ausreichend entwickelt“ ist. Insgesamt bleibt die Auftretensdichte aller dieser Zuschreibungen nach der Zunahme und Diversifikation im Laufe der 1960er Jahre ab Anfang der 1970er Jahre bis zum Ende des Untersuchungszeitraums zwar konstant, jedoch mit einer deutlich feststellbaren Schwerpunktverlagerung dadurch, dass Zuschreibungen von Debilität und dem Entwicklungsstand der kindlichen Persönlichkeit einen größeren Raum einnehmen (u. a. VAGö SU/1124). Kontextual fällt auf, dass die beschriebenen Entwicklungen bereits vorgelagert vor der Einführung des neuen Formblattes – ausgehend von der Richtlinie 1973 – erfolgen und damit vor dem Zeitpunkt, zu dem eine stärkere Fokussierung auf die Gesamtpersönlichkeit bildungspolitisch gefordert wird (ebd.; MfV 1973). So finden sich für den vorhergehenden Zeitraum von 1958 bis 1973 weder im Formblatt Anhaltspunkte für Diagnosen oder Betrachtungsweisen der kindlichen Persönlichkeit (u. a. VAGö SU/1708), noch kann eine Auseinandersetzung in den

88

Agneta Floth und Michaela Vogt

bildungspolitischen Vorgaben nachvollzogen werden, da Termini wie „Schwachsinn“ oder „Hilfsschulfähigkeit“ lediglich Erwähnung finden und nicht weiter definiert werden (u. a. MfV 1953). Betrachtet man diese Erkenntnisse, so ist anhand der formalen Vorgaben in den Schülerpersonalbögen wie ebenso durch die Analyse der Vorgaben auf bildungspolitischer Ebene nicht zu erklären, warum umfassende Charakterisierungen der überprüften Schüler bereits seit Beginn des Untersuchungszeitraumes auftreten und ab Mitte der 1960er Jahre ein radikaler Anstieg inklusive Diversifikation zu verzeichnen ist. Erklärungen für dieses Untersuchungsergebnis finden sich stattdessen auf anderen Kontextebenen, auf denen, vorgelagert zu bildungspolitischen Vorgaben, bereits stattfindende rege Diskussionen über die Gesamtpersönlichkeit des Schülers nachgewiesen werden können: So geschieht dies erstens auf der Ebene der unterrichtspraktischen Erörterung in Periodika, die an Unterstufen- und Hilfsschullehrer gerichtet sind und die bereits ab Mitte der 1950er Jahre die Charakterisierung von Kindern mit deren Persönlichkeit in Verbindung bringen (u. a. Glawe 1955). Zweitens referenzieren auf curricularer Ebene v. a. die ab 1968 in Kraft tretenden Lehrpläne auf eine sich zu festigende Persönlichkeit (u. a. MfV 1967). Drittens geschieht dies – besonders umfassend, vehement diskutiert und frequentiert erörtert – in verschiedenen fachwissenschaftlichen Disziplinen, bspw. in der Sonderpädagogik oder der zunehmend erstarkenden Psychologie (u. a. Scholz-Ehrsam 1967; Kossakowski 1969). Hier wird das Konstrukt der Hilfsschulbedürftigkeit mit den diagnostischen Zuschreibungen eines im Kind liegenden „Schwachsinns“ oder einer „Debilität“ u. a. dadurch erklärt, dass einzelne Defizite des Kindes mit einer sog. „Andersartigkeit der Gesamtpersönlichkeit“ verknüpft sein müssen (Scholz-Ehrsam 1967: 88). Die sich aus der Betrachtung dieser Einflüsse ergebene Vermutung einer bis 1973 v. a. auf fachwissenschaftlicher Ebene ablaufenden Diskussion erhärtet sich für das vorliegende Quellenkorpus in Görlitz auch dadurch, dass den Forschungsarbeiten des (nicht nur lokal) aktiven Psychologen Wiele (1966) große Aufmerksamkeit zuteil wird. Geschlussfolgert werden kann also hinsichtlich der exemplarisch betrachteten Zuschreibungen zur Gesamtpersönlichkeit des Kindes, dass die ab Mitte der 1960er Jahre ansteigende Offenheit und Diversifikation der Zuschreibungen folglich zeitgenössische fachwissenschaftliche Positionen, curriculare und unterrichtspraktische Erwartungen, lokale Einflüsse und gesellschaftliche Vorstellungen widerspiegelt. Erst nachgelagert greift die Bildungspolitik Vorstöße auf und systematisiert sie über die Aufnahme entsprechender Fragen in den Schülerpersonalbogen.

Darstellungen der Gesamtpersönlichkeit des überprüften Primarschülers in der DDR

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3 Fazit Betrachtet man die zunehmende Relevanz von persönlichkeitsbezogenen Zuschreibungen, so wird für den Untersuchungszeitraum klar, dass diese nicht ausgehend von bildungspolitischen Vorgaben initiiert wurde (wird), sondern von Schulpraktikern und Fachwissenschaftlern. Besonders bemerkenswert ist diese Erkenntnis, da gerade diese Gruppen qua ihres professionellen „Selbstverständnisses“ eigentlich bereits in der Bewusstheit potenzieller Etikettierungsprozesse gehandelt haben und spätestens seit den 1960er Jahren den Anspruch hatten, soziale Ungleichheiten zwischen den Schülern eher entgegenzuwirken.

Literatur Glawe, H. (1955): Ist Hans dumm oder ist er schwerhörig? In: Die Unterstufe. Methodische Zeitschrift für die ersten vier Schuljahre, 2, H.10, 4-5. Kossakowski, A. (1969): Die Aufgaben der Pädagogischen Psychologie bei der Bildung und Erziehung allseitig entwickelter sozialistischer Persönlichkeiten. In: Pädagogische Forschung, 10, Sonderheft, 61–73. Laux, H. (1990): Pädagogische Diagnostik im Nationalsozialismus 1933–1945. Weinheim: Beltz. MfV (Ministerium für Volksbildung) (1953): Anordnung über die Durchführung des Aufnahmeverfahrens für Hilfsschulen. Vom 11. Februar 1953 – ZBl. 53/39. In: BBF/DIPF DPZI 2978.2. MfV (Ministerium für Volksbildung) (1967): Lehrpläne. Klasse 1. Berlin: Volk und Wissen. MfV (Ministerium für Volksbildung) (1973): Richtlinie zur Aufnahme von Kindern in die Hilfsschule. Vom 2. Februar 1973. In: Kommission für deutsche Erziehungs- und Schulgeschichte der Deutschen Akademie der Wissenschaften zu Berlin (Hrsg.) (1975): Dokumente zur Geschichte des Schulwesens in der Deutschen Demokratischen Republik. Berlin, 667–671. Pocock, J. G.A. (1972): Languages and Their Implications. The Transformation of the Study of Political Thought. In: Pocock, J. G.A. (Ed.): Politics, Language and Time. Essays on Political Thought and History, London, 3–41. Sauer, L.; Vogt, M. & Floth, A. (2018): Die Normierung des Primarschulkindes im Hilfsschulaufnahmeverfahren – Eine historisch-vergleichende Untersuchung von Schülerpersonalbögen aus der BRD und der DDR. In: Zeitschrift für Grundschulforschung, 11, H.1, 24–39. Scholz-Ehrsam, E. (1967): Die Psychopathologie des Hilfsschulkindes. Berlin: Volk und Wissen. VAGö (Schülerakten des Verwaltungsarchivs der Stadt Görlitz): VAGö SU/1124; VAGö SU/1462; VAGö SU/1708. Vogt, M. (2015): Professionswissen über Unterstufenschüler in der DDR. Untersuchung der Lehrerzeitschrift „Die Unterstufe“ im Zeitraum 1954 bis 1964. Bad Heilbrunn: Klinkhardt. Wiele, E. F. (1966): Zur Praxis und Problematik der Förderung Lernschwacher, Debiler und Imbeziller. In: Sonderabdruck aus Ärztliche Jugendkunde, 57, 115–119.

4 Akteursperspektiven im Kontext von sozialer Ungleichheit

Zur Bedeutung von Integrationserfahrungen in der Grundschulzeit aus der Retroperspektive junger Erwachsener: eine Interviewstudie Jana Ogrodowski1

Keywords: Inklusion, Integration, Behinderung, Retroperspektive, Grundschule

Abstract Dass lebensbiographisch frühzeitig erfahrene Integration langfristig positive Effekte auf individuelle Bildungsverläufe sowie Impulse für eine gegenüber Diversität aufgeschlossenere Gesellschaft entstehen lässt, ist ein verbreitetes Ideal integrativer Schulkonzepte. Diesem widmet sich die qualitative Interviewstudie mit 5 behinderten und nichtbehinderten Erwachsenen. Berichtet werden Ergebnisse hinsichtlich der individuell empfundenen Relevanz von Integrationserfahrungen in der Grundschulzeit und deren Auswirkungen auf die Bildungsbiographie, bevor in einem kritischen Resümee Implikationen für Forschung und Schule betrachtet werden.

1

Bedeutung von Integrationserfahrungen: theoretischer und empirischer Hintergrund

Die durch Inklusion angestrebte Leitidee der gleichberechtigen Teilhabe aller Menschen in jeglichen Lebensbereichen setzt voraus, dass jedes Individuum mit seinen Mehrfachzugehörigkeiten akzeptiert und Diversität über einen produktiven Umgang anerkannt wird. Diese dargestellte Position spiegelt das heutige,

1

Jana Ogrodowski | Universität Paderborn | [email protected]

© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 N. Skorsetz et al. (Hrsg.), Diversität und soziale Ungleichheit, Jahrbuch Grundschulforschung 24, https://doi.org/10.1007/978-3-658-27529-7_12

92

Jana Ogrodowski

weite Verständnis von Inklusion. In den letzten Jahrzehnten dominierte im Bildungsbereich allerdings ein als Integration bezeichnetes Modell, welches die Eingliederung von Kindern mit zugeschriebener Behinderung in die Regelschule meinte und dessen Umsetzung seit den 1970er-Jahren Einzug in zahlreiche Modellversuche fand. Diesen lag die Idealvorstellung einer Langzeitwirkung zugrunde. Angenommen wurde, dass insbesondere von lebensbiographisch frühzeitig erfahrener Integration langfristig wichtige Impulse für eine gegenüber Diversität aufgeschlossenere Gesellschaft entstehen, die das Spannungsfeld von Integration und Selektion sowie von Inklusion und Exklusion gesellschaftlich überwinden lassen (Cloerkes 2001: 173). Folgt man der Annahme, würde dies bedeuten, dass mit frühzeitigen Integrationserfahrungen langfristig die eingangs genannten Voraussetzungen für Inklusion geschaffen werden können. Anhand des aktuellen Forschungsstands lassen sich allerdings die Langzeitwirkungen solcher integrativen Erfahrungen bisher nicht überzeugend klären (Eckhart et al. 2011). Studien konzentrieren sich vorrangig auf schulische Fragestellungen zur Verbesserung der inklusiven Unterrichtsqualität (Holaschke 2015). Gleichzeitig wird aber auf Basis der wenigen Empirie diesem Forschungsbereich ein großes Potential zugeschrieben, da durch die Fokussierung auf Innenperspektiven und das dadurch erzeugte Wissen Voraussetzungen für die Überwindung von Benachteiligung geschaffen werden können (Buchner 2015). Demnach zeigen Untersuchungen mit behinderten Erwachsenen zu ihren schulisch erlebten Integrations- und Separationserfahrungen zunächst, dass die Zuschreibung eines sonderpädagogischen Unterstützungsbedarfs sowie die kontinuierliche schulische Separation in Sonderschulen zu diskriminierenden systemimmanenten Benachteiligungen in der Lebens- und Bildungsbiographie führen (Holaschke 2015). Des Weiteren haben langjährige Erfahrungen von auf Abweichung begründeten Fähigkeitszuschreibungen in regelschulischem Kontext nachhaltigen Einfluss auf die Identitätsentwicklung (Buchner 2015). Außerdem erweisen sich kontinuierliche Erfahrungen von Integration in der Schulzeit gegenüber schulischen Separationserfahrungen als wirksames Mittel für eine gesellschaftliche soziale und berufliche Integration im jungen Erwachsenenalter (Eckhart et al. 2011).

2 Retroperspektive auf integrative Erfahrungen Aus den dargestellten Untersuchungen ist vor allem die Bedeutung schulischer Erfahrungen deutlich geworden. Gleichzeitig fehlt in diesen Untersuchungen die Berücksichtigung der Perspektive der damaligen Mitschüler*innen ohne Behinderung.

Zur Bedeutung von Integrationserfahrungen in der Grundschulzeit aus der Retroperspektive

93

Die vorliegende qualitative Pilotstudie widmet sich dem Desiderat der langfristigen Bedeutungen von Integrationserfahrungen in der frühen Schulzeit aus Sicht heutiger junger Erwachsener. Besonderer Fokus wird auf die Differenzlinie ,Behinderung’ gelegt. Mit Lokalisation in der Grundschule als erste für alle verpflichtende Schule, in der frühzeitige Erfahrungen von Integration gesammelt werden können, und der bewussten Fokussierung auf die Retroperspektive von ehemaligen Schüler*innen mit sowie ohne zugeschriebener Behinderung liegt ein spezifisches Untersuchungssetting zugrunde, aus welchem folgende leitende Fragestellung gewonnen wird: Inwieweit werden den in der Grundschulzeit gewonnenen Erfahrungen mit einem integrativen Konzept aus der Retroperspektive junger Erwachsener eine Bedeutung zugeschrieben? 2.1

Methodisches Vorgehen

Durch die Fokussierung auf subjektive Sichtweisen und Sinnzuschreibungen wird ein qualitativer Forschungsansatz gewählt. In episodisch ausgelegten Interviews werden dazu n = 5 ausgewählte junge Erwachsene im Alter von 22–23 Jahren mit gemeinsamen Integrationserfahrungen in ihrer damaligen Grundschulzeit aus einer ausgewählten Fokusklasse befragt. Die vergleichende Betrachtung der Sichtweisen von insgesamt drei weiblichen und zwei männlichen Probanden, davon zwei mit und drei ohne zugeschriebener Behinderung, spiegeln ein umgrenztes, aber dennoch sehr heterogenes Untersuchungsfeld wider. Der weitere Bildungsgang setzte sich für Proband*innen mit Behinderung an einer Förderschule fort, für die Proband*innen ohne Behinderung an einer integrativen Gesamtschule, dort allerdings nicht in einer integrativen Klasse. Leitender theoretischer Rahmen für die in Anlehnung an Kuckartz (2014) kombiniert deduktive und induktive qualitative Inhaltsanalyse ist der Fokus auf deren Einstellung als ein zentrales Konzept in der Sozialpsychologie (Greitemeyer 2012). Unter Berücksichtigung der eingangs aufgezeigten Annahme Cloerkes‘ (2001) wird im Rahmen der deduktiven Analyse für alle Akteure herausgearbeitet, inwieweit die narrativ-episodisch betrachteten Integrationserfahrungen der Grundschulzeit langfristig Impulse setzen konnten, zum einen im Hinblick auf deren Wahrnehmung von Diversität als kognitive und affektive Komponente sowie zum anderen auf den Umgang mit Diversität heute als Verhaltenskomponente. Gleichzeitig soll der durch die Befragung retroperspektivisch angeregte Austausch auf einer Metaebene deutlich werden lassen, inwieweit die aus diesen Erfahrungen abgeleitete Einstellung langfristig induktive Bedeutungszuschreibungen im Vergleich zum heutigen sozialen und beruflichen Umfeld bewusst zum Ausdruck bringt.

94 2.2

Jana Ogrodowski

Zentrale Ergebnisse

Die Befragten ohne Behinderung berichten, dass sie durch die frühzeitig erfahrene Integration eine Normalität der Differenz erfahren hätten, die zu einem Abbau von Berührungsängsten und einer weitest gehenden Vermeidung von auf Abweichung begründeten Fähigkeitszuschreibungen gegenüber Behinderten geführt habe. Daraus ergäbe sich ein selbstverständlicher, offener Umgang mit Diversität im heutigen sozialen und beruflichen Alltag, der ihnen vor allem durch den Vergleich mit Personen aus ihrem unmittelbaren Umfeld bewusstgeworden sei. Auch die Befragten mit Behinderung äußern, dass sie in der Grundschulzeit eine Normalität der Differenz, vor allem auch ihrer eigenen Differenz, erfahren hätten, weil sie diese als Selbstverständlichkeit in der integrativen Klassengemeinschaft erleben konnten. Ihre weitere Bildungs- und Berufsbiografie sei jedoch von dauerhaften stigmatisierenden Fähigkeitszuschreibungen geprägt gewesen, welche ihre individuell gewünschte soziale und berufliche Lebensgestaltung kontinuierlich beeinflusst und einen ihnen fremdbestimmten Weg nahezu vorgeschrieben hätten. Die reflektierende Auseinandersetzung mit derartigen Zuschreibungen habe allerdings den Ehrgeiz nach vermehrter Selbstbestimmung für ein weitestgehend unabhängiges Leben geweckt. Als weiteres zentrales Ergebnis zeigt sich bei allen Befragten ein Bedauern, dass die integrativen Erfahrungen in der Grundschule nur von kurzer Dauer waren und in der weiteren Schulbiographie durch den „biographischen Bruch“ beim Wechsel von der Grundschule auf die weiterführende Schule nicht fortgeführt wurden. Die Relevanz frühzeitiger Integrationserfahrungen wird für die jeweils andere Gruppe als hoch eingeschätzt: Probanden mit Behinderung betonen, dass es den Mitschüler*innen ohne Behinderung auf diese Weise überhaupt ermöglicht worden sei, integrative Erfahrungen zu sammeln und somit Diversität als etwas Normales und Gewinnbringendes erfahren zu können. Probanden ohne Behinderung vermuten für die (ehemaligen) Mitschüler*innen mit Behinderung eine hohe Bedeutung der Erfahrung von Normalität für die Entwicklung von Identität und Selbstbewusstsein.

3 Fazit und Ausblick Die Analyse von Einzelfällen verweist auf das Potential einer retroperspektiven Betrachtung frühzeitiger Integrationserfahrungen. Die Ergebnisse dieser nicht repräsentativen Studie bestätigen grundsätzlich die Annahme Cloerkes‘ (2001) bezüglich Langzeiteffekten von integrativen Schulerfahrungen. Zum einen lassen die Befragten eine reflektierte Wahrnehmung von Diversität und eine reflektierte Haltung gegenüber diversitätsbegründeten Fähigkeitszuschreibungen erkennen und grenzen sich zu Personen im heutigen unmittelbaren sozialen und beruflichen

Zur Bedeutung von Integrationserfahrungen in der Grundschulzeit aus der Retroperspektive

95

Umfeld ab. Zum anderen wird ein langfristig produktiver Umgang mit (eigener) Diversität deutlich. Insbesondere die Biographie begleitende Reflexion wird rückblickend als relevant für bewusstes Nachdenken und Neudenken über integrative Erfahrungen eingeschätzt. Gleichwohl muss allerdings auch die Gefahr der Erinnerungsverzerrungen berücksichtigt werden, da diese rückblickenden Bedeutungszuschreibungen erst durch gezielte Intervention und durch die Interviewsituation selbst angestoßen wurden. Auch ist das Problem einer möglichen Reifizierung der Zwei-Gruppen-Theorie durch die Anlage der Studie zu beachten. Die Erfahrungen aus der vorliegenden Pilotstudie sprechen für eine zunehmende Berücksichtigung der (Retro-)Perspektive von Menschen mit und ohne Behinderung in Forschung und künftiger Praxisentwicklung. Ebenso ist auf der Basis der Erfahrung von Brüchigkeit des Bildungssystems die Relevanz der Kontinuität von Integrationserfahrungen deutlich geworden, die auf der Systemebene zu lösen ist. In Anbetracht der Erfahrungen von kontinuierlicher Fremdbestimmung seitens der Befragten mit Behinderung wird die Relevanz von Partizipation bzw. Selbstbestimmungsmöglichkeiten auf Schul- und Unterrichtsebene deutlich. Die Diskrepanz zwischen Teilnahme und Teilhabe muss für die weitere Entwicklung inklusiver Schulen und inklusiver Übergänge überwunden werden.

Literatur Buchner, T. (2015): Mediating Ableism: Border work and resistance in the biographical narratives of young disabled people. In: Zeitschrift für Inklusion. Ausgabe 02/2015. Cloerkes, G. (2001): Soziologie der Behinderten. Eine Einführung. 2. Auflage. Heidelberg, Edition S. Eckhart, M. (Hrsg.) (2011): Langzeitwirkungen der schulischen Integration. Eine empirische Studie zur Bedeutung von Integrationserfahrungen in der frühen Schulzeit für die soziale und berufliche Situation im jungen Erwachsenenalter. 1. Auflage. Bern, Stuttgart, Wien: Haupt Verlag. Greitemeyer, T. (2012): Sozialpsychologie. Stuttgart: Kohlhammer Verlag. Holaschke, I. (2015): 30 Jahre danach – Biographie ehemaliger Schülerinnen und Schüler der „Lernbehindertenschule“. Lebenszufriedenheit und beruflicher Werdegang. Münster: Waxmann Verlag. Kuckartz, U. (2014): Qualitative Inhaltsanalyse. Methoden, Praxis, Computerunterstützung. 2. Auflage. Weinheim und Basel: Beltz Juventa.

Diversität – Normativität – Normalität: Was Studierendeninteraktionen beim Besprechen von Vielfalt über Normativität und Normalität verraten Julian Storck-Odabasi1

Keywords: Diversität, Normalität, Grundschullehramtsstudium

Abstract Der Beitrag stellt Normalitätskonstruktionen Grundschullehramtsstudierender vor, die auf Grundlage kasuistischer Gruppenarbeitsphasen rekonstruiert werden.

1

Einleitung

Der zeitgenössische (grund-)schulpädagogische Diskurs betrachtet die Diversität2 von Schüler*innen als Normalität (Allemann-Ghionda 2011; Heinzel 2008). Die Absicht, diesen Normalfall in Worte zu fassen, führte bereits zu einer Vielzahl an Definitionen bzw. Definitionsansätzen. Die Beschreibung von Heterogenität verlangt dabei letztlich eine normative Setzung, eine Entscheidung darüber, was als normal gilt und was der Beachtung bedarf. Das Normale bzw. Selbstverständliche entgeht dabei potentiell der Betrachtung, weil es als das „aus der Alltagseinstellung heraus Fraglose“ erscheint (Schröder & Wrana 2015: 12). Der vorliegende Beitrag setzt hier an. Dazu werden zwei Studierendeninteraktionen hinsichtlich ihrer leistungs- und sprachenbezogenen Normalitätskonstruktionen untersucht.

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Julian Storck-Odabasi | Universität Kassel | [email protected]

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Die teils synonyme Verwendung der Begriffe Diversität und Heterogenität (bspw. Heinzel 2008: 133f. vs. Allemann-Ghionda 2011: 25) kann nachfolgend nicht aufgelöst werden und wird daher beibehalten, im kritischen Wissen um die damit verbundene Fortführung der Problematik.

© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 N. Skorsetz et al. (Hrsg.), Diversität und soziale Ungleichheit, Jahrbuch Grundschulforschung 24, https://doi.org/10.1007/978-3-658-27529-7_13

Diversität – Normativität – Normalität

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2 Normalität und Normativität „Normativität“ und „Normalität“ gingen semantisch seit der Industrialisierung auseinander, auch wenn beide Begriffe weiterhin der lateinische Wortstamm „norma“ verbindet, was mit „rechter Winkel“ bzw. metaphorisch als „Regel“ übersetzt werden kann (Link 2006: 33f.). Während der Norm seither eine binäre Unterscheidungsfunktion zukommt, steht Normalität für den Durchschnitt. Eine weitere Bedeutung – nachfolgend zentral – ist jedoch „das Gewöhnliche“, welches so normal erscheint, dass es unhinterfragt und unartikuliert bleibt (Schröder & Wrana 2015). Der Einfluss solcher Normalitätskonstrukte zeigt sich am Umgang mit Merkmalen, die mehrheitlich als Abweichung empfunden werden (Goffman 2016). Die Reaktionen reichen von Exklusion bis Inklusion und in der direkten Interaktion zeigen Unsicherheiten an, welche Eigenschaften gängigen Erwartungen widersprechen. Während Normativität dabei als relativ bewusste, von außen an das Individuum herangetragene Unterscheidungsinstanz wirken kann, ist Normalität als Konstrukt weit mehr durch individuelle wie kollektive Gewohnheiten bedingt (Rauschenberg & Hericks 2018; Schröder & Wrana 2015).

3 Empirische Befunde Forschungsprojekte, die dem vorliegenden Erkenntnisinteresse inhaltlich nahestehen, fokussierten bislang vor allem auf Werte und Einstellungen. So wird eine „Heterogenität der Werte“ von Lehramtsstudierenden festgestellt, die mit unartikulierten Erwartungshaltungen an Schüler*innen einhergehen (Weinberger 2014: 84ff.). Dass angehende Lehrkräfte „sozialer“ und zugleich „konservativer“ seien als ihre Peers, zeigt Mägdefrau (2008: 52f.). Rauschenberg und Hericks (2018) stellen mithilfe der Kontrastierung zweier Interviewpassagen mit Lehrer*innen im Berufseinstieg dar, wie die Bearbeitung gesellschaftlicher Normen als Aneignung oder Abgrenzung verlaufen kann. Die Einstellungen Studierender in Bezug auf die Heterogenität der Schüler*innen und damit verbundene Selbstwirksamkeitserwartungen untersucht Kopp (2007). Diese Einstellungen stehen wiederum in Zusammenhang mit „vorhandene[n] Vorstellungen“ über die „Gestaltung des inklusiven Unterrichts“ (Hellmich, Görel & Ort 2017: 99). Weitere Arbeiten untersuchen „habitusspezifische Zugänge zu Bildung“ bei Studierenden, um Unterschiede innerhalb der Gruppe über „Herkunftskultur[en]“ zu erklären (LangeVester & Teiwes-Kügler 2012: 632). Während bspw. Werte jedoch oft direkt erfragt werden, basiert die folgende Rekonstruktion auf fixierter Kommunikation.

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Julian Storck-Odabasi

4 Fragestellung(en), Forschungsdesign und Methodik Das Material bilden zwei Transkriptionen aus 111 videografierten, kasuistischen Gruppenarbeiten Grundschullehramtsstudierender, die im Rahmen des Praxissemesters der Universität Kassel zu „eigenen“ oder „fremden Fällen“ arbeiteten. Erstere dokumentieren erlebte Praktikumssituationen, letztere sind dem Kasseler Online-Fallarchiv Schulpädagogik entnommen.3 Die Fragestellungen lauten: I.

Welche Prozesse kollektiver Aus-/Verhandlung pädagogischer Normativität und Normalität können in den Arbeitsphasen rekonstruiert werden?

II.

Was wird von Grundschullehramtsstudierenden als (un-)normal erachtet und welche pädagogische Normativität ist damit verbunden?

Methodisch orientiert sich die Auswertung am Prinzip der sequenzanalytischen Rekonstruktion (Meseth 2013). Die zentrale Annahme besteht darin, dass Interaktionspartner*innen in der gegenseitigen Bezugnahme aufeinander ihren kollektiven Bezugsrahmen offenbaren. Abweichungen von individuellen wie gemeinsamen Normalitätskonstruktionen werden demnach als solche markiert, wohingegen als selbstverständlich Erachtetes bestätigt wird oder unbeachtet bleibt.

5 Erste Ergebnisse: Leistung und Sprachenvielfalt Zu Beginn der Sequenz arbeiten die Studierenden bereits seit ca. 13 Minuten an einem fremden Fall (s.o.), der die Überforderungen einer Klasse mit der durch die Lehrkraft gegebenen Aufgabe beschreibt. Vor allem ein Kind (Laura) kommt nicht mit. Die Studentin Feli fragt nun, dem Arbeitsauftrag entsprechend, „wie könnte der Fall weitergehen?“, woraufhin sie selbst kurz darauf eine Antwort gibt: Feli: naja optimalerweise würd ich sagen dass sie das macht was ich grad gesagt hab, dass sie// (Debbie) ja: (unver.)- // (Feli) feststellt akzeptiert der fehler liegt in ihrer hand, und dass sie ja, irgendwas im plenum macht Jenna: ja und was macht sie mit laura? [schaut zu feli] Feli: also ich würde sie in dem fall ignorieren weil ich hab ihr: quasi n lösen angeboten, auch und die studentin hat ihr auch ne hilfestellung gegeben // (Jenna) [zustimmend] hmhm //

Indem Feli sich als erste und mit der Formulierung „optimalerweise“ zu Wort meldet, stellt sie in Aussicht die bestmögliche, optimale Lösung für das ‚Problem‘ 3

Das „Online Fallarchiv“ der Universität Kassel wurde im Rahmen der gemeinsamen „Qualitätsoffensive Lehrerbildung“ von Bund und Ländern mit Mitteln des Bundesministeriums für Bildung und Forschung unter dem Förderkennzeichen 01JA1505 gefördert.

Diversität – Normativität – Normalität

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zu kennen. Darin wird sie durch Debbie mit einem „ja:“ bestärkt. Felis Vorschlag lautet, die Lehrkraft müsse einsehen einen Fehler begangen zu haben, es braucht folglich ein Schuldeingeständnis. Des Weiteren solle „irgendwas im Plenum“ passieren – als ‚Optimallösung‘ überraschend vage. Auf Jennas Frage, was nun „mit Laura“ zu tun sei, hat Feli ebenfalls eine Antwort: Ignorieren. Die Zahl bisheriger Hilfestellungen sei ausreichend und die offenbare Überforderung Lauras wird damit zum individuellen Problem, woraufhin Jenna mit einem „hmhm“ zustimmt. Hier deutet sich ein Normalitätskonstrukt der Steuerung durch die Lehrkraft an, verbunden mit der Option nach Leistung zu selektieren bzw. zu exkludieren. Das zweite Beispiel beginnt in Minute acht einer anderen Gruppenarbeit. Eigentlich arbeiten die Studierenden zur „Nähe-Distanz-Antinomie“, als eine Studentin den Kommilitonen, der weitermachen möchte, bittet im Arbeitsprozess auf sie zu warten. Dieser antwortet mit „j’attend“ (franz. „ich warte“), woraufhin ein Gespräch über sprachenbezogene Erfahrungen im Praxissemester beginnt. In Abgrenzung zur erlebten schulischen Praxis positioniert sich die Gruppe wie folgt: Lili: da meinte ich so wie heißt denn zum beispiel die eins sag mir mal wie die zahlen bis zehn heißen, und dann hab ich mir das halt gemerkt: […] und dann hab ich ihm das halt so gesagt und der hat sich halt so: gefreut dadrüber- // (Mara) ja: das is total// (Lili) also diese wertschätzung von der sprache- // (Yuri) [zustimmend] hmhm // (Lili) also weil sonst hast du bei uns im daz(?) unterricht immer ähm:- // (Mara) immer deutsch reden:-// (Lili) nee wenn irgendwelche leute also wenn halt die kinder mal kurz auf ihrer sprache miteinander reden [mit verstellter stimme] pscht deutsch reden // (Mara) [flüstert] ja genau musst deutsch reden

Lili berichtet von einem persönlichen Beispiel, mit dem sie die Wertschätzung anderer Sprachen verbindet. Das Merken und erneute Aufsagen der Zahlen habe einen Schüler erfreut, wohingegen die Alltagspraxis ihrer Grundschule, auch im DaZ-Unterricht (Deutsch als Zweitsprache), das verpflichtende Deutschsprechen sei. Mara teilt die Erfahrung und ergänzt sich mit Lili in der Rekonstruktion schulischen Alltags – „pscht deutsch reden“ // „ja genau musst deutsch reden“. Damit wird erlebte Normalität in der Praxissemesterschule erinnert und zugleich, was sich in Lilis Bericht zeigt, der Wunsch nach einer Alternative deutlich. Die Wertschätzung sprachlicher Vielfalt steht hier dem monolingualen Habitus gegenüber.

6 Fazit und Diskussion Die Ergebnisse können als Heuristik einer Rekonstruktion von Normalitätskonstruktionen angehender Grundschullehrkräfte gesehen werden. Der „»autonom Lernende« als Normalfall“ (Schäfer & Thompson 2015: 14) deutet sich im ersten Fall ebenso an wie die viel diskutierte Diskrepanz der Handlungsstrategien im

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Umgang mit Vielfalt im zweiten, deren Spektrum von Wertschätzung bis Unterdrücken reicht (Goffman 2016). Für die Analyse wurde dabei die Blickrichtung vom Besonderen auf das Gewöhnliche umgekehrt.

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„Das Schräge, das liegt mir sehr“ – Abweichendes Verhalten von Schüler*innen als Belastung? Ralf Parade1

Keywords: Belastung, abweichendes Verhalten, Subjektivierungsanalyse

Abstract Im Beitrag werden erste Überlegungen zu einer subjektivationstheoretischen Perspektive auf das Phänomen Lehrer*innenbelastung vorgestellt.

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Einleitung und theoretische Rahmung

In einem psychologisch dominierten Diskurs über Belastungen sowie Beanspruchungen von Lehrpersonen erscheint dem Autor eine kritische Analyse der durch den jeweiligen wissenschaftlichen Zugang erzeugten Wahrheiten sowie des im Zuge epistemologischer Vorannahmen als natürlich gegeben erscheinenden Forschungsgegenstandes geboten. Bisher werden mit Blick auf die Belastung von Lehrpersonen die wirklichkeitskonstituierenden Effekte von Diskursen gänzlich außer Acht gelassen. So gilt es, dem Foucaultschen Diktum, „Diskurse [...] als Praktiken zu behandeln, die systematisch die Gegenstände bilden, von denen sie sprechen“ (Foucault 2013: 74), auch mit Blick auf dieses Forschungsfeld vermehrt Aufmerksamkeit zu schenken. Im Zuge der Problematisierung einer Akteursvergessenheit der Diskursforschung sowie einer Vernachlässigung der diskursiven Situiertheit von Biographien in der Biographieforschung ergibt sich in den vergangenen Jahren ein gesteigertes Interesse an der Erforschung von Subjektivierungsweisen (Pfahl, Schürmann & Traue 2018; Bosančić 2019; Spies 2019). Die im Zuge dieser Arbeiten umrissene Heuristik einer empirischen Sub-

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Ralf Parade | Universität Kassel | [email protected]

© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 N. Skorsetz et al. (Hrsg.), Diversität und soziale Ungleichheit, Jahrbuch Grundschulforschung 24, https://doi.org/10.1007/978-3-658-27529-7_14

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jektivierungsanalyse vermag es mit Blick auf den Forschungsgegenstand der Lehrer*innenbelastung Facetten zu beleuchten, die bisher außer Acht gelassen wurden. So stellt sich insbesondere die Frage danach, inwiefern diskursiv vermittelte Wissensbestände in die Selbst- und Weltdeutungen der schulischen Akteure eingelassen sind und ggf. Wirkmacht entfalten. Aus einer affekttheoretischen Perspektive hat bereits Reckwitz (2016: 165) darauf hingewiesen, dass Affekte lediglich „auf der Grundlage bestimmter historisch kultureller Schemata in ihrer Entstehung, Wirkung und sozialen Intelligibilität nachvollziehbar [seien]“. Insofern wird der Vorstellung einer „diskursive[n] Konstruktion von Wirklichkeit“ (Keller et al. 2018) folgend Lehrer*innenbelastung als ein diskursiv (mit)erzeugtes Phänomen verstanden und untersucht. Dabei wird davon ausgegangen, dass historisch kontingente und diskursiv vermittelte Wissensschemata affektive Codes vorgeben, die präformieren, welche Subjekte, Objekte oder Praktiken negativ affiziert und damit als belastend gedeutet werden. Schließlich dienen im Diskurs angebotene Subjektpositionen einer „belasteten Lehrperson“ ggf. als Identitätsfolien und entfalten subjektivierende Wirkmacht, was jedoch im Zusammenhang mit den biographischen Selbstdeutungen von Lehrpersonen zu untersuchen wäre.

2 Forschungsstand Lehrer*innen gelten in öffentlichen Diskursen sowie in wissenschaftlichen Publikationen vielfach als einer Berufsgruppe zugehörig, die besonderen Belastungen ausgesetzt ist (z. B. Schaarschmidt & Kieschke 2013). Weiterhin wird behauptet, Belastungsmomente des Lehrberufs spitzten sich in der Spätmoderne noch mehr zu (bspw. Tippelt 2018). Demgemäß finden sich im deutschen und vor allem anglophonen Sprachraum Myriaden an größtenteils quantitativen Studien zur Belastung/Beanspruchung von Lehrpersonen sowie Burnout, wobei die verwendeten Begrifflichkeiten und Befunde inkonsistent und die Aussagekraft der Ergebnisse limitiert sind (Rothland 2013: 7). Stresstheoretische Betrachtungen auf der Mikroebene heben u. a. auf Eigenschaften und Verhaltensweisen von Schüler*innen als Belastungsmomente ab. So verweisen quantitative Forschungsbefunde international darauf, dass (abweichendes) Verhalten von Schüler*innen als Belastungsdimension und Prädiktor für Burnout bei Lehrpersonen gelten kann (z. B. Aloe et al. 2014). Dass hierbei lediglich eine subjektive und auf das „defizitäre Kind“ fokussierte Sicht der Lehrer*innen erhoben wird (Heinzel 2004) und die Ergebnisse einen dramatisierenden Krisendiskurs speisen, der „Apperzeptionsund Appräsentationsschemata“ (Keller 2011: 204) liefert und alsdann quasi-zirkulär auf Lehrpersonen und ihre Deutungen zurückwirkt, bleibt weitgehend aus-

„Das Schräge, das liegt mir sehr“ – Abweichendes Verhalten von Schüler*innen als Belastung?

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geblendet. Ebenso werden beschränkende Aspekte einer quantitativen Erforschung des Belastungsphänomens übersehen, auf die Combe bereits 1999 hingewiesen hat. Denn statistisches Wissen sage „noch nichts über konkrete Konstellationen im Einzelfall“ (Combe 1999: 113). Vielmehr gelte es, „die von LehrerInnen genannten Belastungsanlässe und Problemquellen in ihrer Bedeutung aufzuschließen. Hier liegt die Grenze der in herkömmlicher Weise ‚feststellenden‘ Empirie“ (ebd.). In diesem Sinne votiert der Autor dafür, sich mit Blick auf das Belastungsphänomen im Lehrberuf künftig vermehrt der Analyse von biographischen Erzählungen (Rosenthal 2014) sowie Diskursen (Keller 2011) zu widmen und beide Datensorten – ausgerichtet an der Heuristik der empirischen Subjektivierungsforschung – aufeinander zu beziehen. Das folgende Fallbeispiel illustriert die Relevanz einer biographieanalytischen Perspektive für das Verstehen des subjektiven Belastungserlebens.

3 Falldarstellung und erste Ergebnisse Konstantin W.2 ist zum Interviewzeitpunkt 37 Jahre alt und als Sonderpädagoge in als inklusiv geltenden Grundschulklassen tätig. Das Verhältnis zu seinen Eltern bewertet Herr W. positiv und äußert, er sei „gut behütet aufgewachsen“ (Z. 61). Vor allem der Vater habe ihm konservative Werte vermittelt, wozu auch ein geradliniger Werdegang gehört habe. Die väterlichen Imperative hat Herr W. zwar internalisiert, konnte diesen jedoch aufgrund widerstrebender Orientierungen bis in das Erwachsenenalter nur schwerlich entsprechen, was konflikthafte Aushandlungsprozesse zur Folge hatte. Retrospektiv äußert Herr W., er sei „kein einfaches Kind“ (Z. 1769) gewesen. Die Schule habe er zunächst – wenn auch primär als Peerraum – gern besucht. Jedoch mussten die Eltern regelmäßig in der Schule vorstellig werden, sei er ständig unkonzentriert gewesen und habe andere Schüler abgelenkt. Mit dem nahenden Abitur kam es immer häufiger zu Absenzen und das regelmäßige Feiern im Freundeskreis obsiegte gegenüber schulischen Anforderungen. Einen Schulabbruch kurz vor dem Abitur verhinderte einzig elterlicher Zwang, wofür Herr W. heute dankbar ist. Die anschließende Wahl, den Zivildienst in einer integrativen Kindertagesstätte abzuleisten, gründete auf pragmatischen Abwägungen. Dort habe er recht schnell bemerkt: „och also Kinder das; = stört mich nich weiter mit Kindern () komm ich ((lachend bis*)) gut klar ((lacht)) so* ((atmet ein)) also das /äh/ ((atmet ein)) ist was () auch in der Tat was mir () bis heute noch ((atmet ein)) leicht fällt () //I: mhm// () also () wenn ich heute sage mein Lehrerberuf is irgendwie 2

Mein besonderer Dank gilt Friederike Heinzel und Alexandra Retkowski, die es mir ermöglicht haben, auf Datenmaterial aus dem BMBF-geförderten Forschungsprojekt „Berufsbiographische Identitätskonstruktionen und Sexualität“ zurückzugreifen.

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Ralf Parade

stressich dann hat es andere Faktoren warum das stressich is und nie die Kinder seltenst also da kann jemand noch so schräg sein“ (Z. 202–211).

Nach einem Auslandsjahr absolvierte Herr W. ein Praktikum in einer psychiatrischen Klinik und entschied sich schließlich – aus abermals pragmatischen Gründen, nämlich wegen der guten Arbeitszeiten, der Ferien, einer passablen Bezahlung sowie der damit verbundenen Festanstellung – für ein Lehramtsstudium. Zur Tätigkeit in der Psychiatrie, die er auch während des Studiums noch sporadisch fortsetzte, äußert Herr W., dass er diese „sehr gerne gemacht habe das war echt ziemlich gruselich das klingt so=n bisschen ((lachend bis*)) pervers* ((atmet ein)) //I: mhm// aber ich hab das immer sehr gerne gemacht das () Schräge () das liegt mir sehr“ (Z. 379384). Die Grenzerfahrungen, die er während dieser Tätigkeit sammeln konnte, nahmen unmittelbaren Einfluss auf sein Normalitätsempfinden. Er fände jetzt „manche Sachen einfach nicht so schlimm“ (Z. 1814). Vor allem Abwechslung scheint für Herrn W., den routinehafte Handlungsabläufe langweilen, konstitutiver Bestandteile einer erfüllenden Tätigkeit zu sein. Darüber und über ein Faible für das Nonkonforme erklärt sich auch seine Entscheidung, Lehramt für Förderschulen zu studieren: „also so bedingt halt dadurch dass ich halt eh immer () schon relativ schnell weiß also das was nich so ((atmet ein)) gradlinich und reibungslos läuft ((atmet ein)) [/mhm/] () mag ich (.) habe ich mich dann für das Lehramt ((lachend bis*)) für Förderschule entschieden* weil ich gedacht habe ((atmet ein)) unter Umständen gibt es da () Menschen die nicht so: sind wie konform und sowas ((atmet ein)) und das hat mich von Anfang an mehr interessiert () kannst du mir folgen //I: mhm// >/mh/< ((atmet ein)) >so /äh/< ((atmet ein)) Grundschule das erschien mir zu () l::angweilich“ (Z. 222–235).

Bis zu diesem Punkt kann gesagt werden, dass sich die Affinität des Herrn W. für das Abweichende und das „Nicht-Geradlinige“ aus den eigenen Erfahrungen der Schulzeit speist, aufgrund abweichenden Verhaltens mit defizitären Fremdzuschreibungen versehen worden zu sein. Durch seine beruflichen Erfahrungen mit dem „Schrägen“ vermochte er es, die eigenen – insbesondere vor dem Hintergrund der elterlichen Normalitätskonstruktionen – als problematisch bewerteten Abweichungen im Lebenslauf zu relativieren. Die Berufswahl des Lehrers ist oppositiv zum Lebensentwurf des Vaters angelegt, der als in der freien Wirtschaft tätiger „Anzugmensch“ (Z. 2092) Beamte verabscheut. Herr W. stellt selbst Überlegungen an, ob er den Beruf evtl. aus „innere[m] Protest“ (Z. 2180) gewählt haben könnte.

4 Zusammenfassung Im Beitrag wurden erste Überlegungen zu einer erweiterten Forschungsperspektive auf die Belastung von Lehrpersonen skizziert. Das in der gebotenen Kürze

„Das Schräge, das liegt mir sehr“ – Abweichendes Verhalten von Schüler*innen als Belastung?

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dargestellte Fallbeispiel deutet die Relevanz eines biographieanalytischen Blicks für das Verstehen des subjektiven Belastungsempfindens an. Die Kopplung mit einer diskursanalytischen Perspektive, durch die „biographische Erzählungen als Positionierungen im Diskurs“ (Spies 2019: 99) gelesen werden können, muss späteren Arbeiten vorbehalten bleiben.

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Sortierte Kindheit? Orientierungen pädagogischer Akteure zu Bildungsbenachteiligung Pia Rother 1

Keywords: Bildungsbenachteiligung, Kooperation Lehrkräfte und weitere pädagogische Akteure, Ganztagsschule, Offene Kinder- und Jugendarbeit, Kindheit

Abstract In diesem Beitrag geht es um den Umgang pädagogischer Akteure mit Bildungsbenachteiligung und die Frage, was die rekonstruierten Orientierungen für bestimmte Kindergruppen bzw. für Kindheit in bestimmten Organisationen bedeutet. Orientierungen pädagogischer Akteure zu Bildungsbenachteiligung im Kontext Ganztagsschule sind zudem bisher kaum Thema empirischer Studien. Dies bildet den Ausgangspunkt dieser Studie, die das Ziel verfolgt zu untersuchen, inwiefern die Zusammenarbeit verschiedener pädagogischer Akteure in einem Ganztags-Setting (bestehend aus einer Ganztagsgrundschule und einer Einrichtung der Offenen Kinder- und Jugendarbeit) ggf. auch zur (Re)Konstruktion von Ungleichheiten beiträgt. Dies wird multiperspektivisch qualitativ rekonstruiert. Das Hauptergebnis ist, dass sich eine Orientierung am Sortieren von als defizitär gerahmten Kindern zwischen den Ganztagsangeboten des Settings rekonstruieren ließ, die sich beim Umgang mit Bildungsbenachteiligung entlang der Organisationszugehörigkeit unterscheidet. Dies kann im Ergebnis eher zu einem wenig ungleichheitssensiblen Umgang mit Bildungsbenachteiligung führen.

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Einleitung

Die Orientierungen pädagogischer Akteure im Kontext Ganztagsschule und Bildungsbenachteiligung waren bisher kaum Thema empirischer Studien. Forschungen zu handlungsleitenden Orientierungen sind jedoch von großer Bedeutung, 1

Pia Rother | Johannes Gutenberg-Universität Mainz | [email protected]

© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 N. Skorsetz et al. (Hrsg.), Diversität und soziale Ungleichheit, Jahrbuch Grundschulforschung 24, https://doi.org/10.1007/978-3-658-27529-7_15

Sortierte Kindheit? Orientierungen pädagogischer Akteure zu Bildungsbenachteiligung

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wenn der Programmatik des Abbaus von Bildungsbenachteiligung – die eng mit dem Ganztagsschulausbau verknüpft ist – Rechnung getragen werden soll. Denn vor Ort sind insbesondere pädagogische Akteure in Ganztagsschulen – im Sinne einer bildungspolitischen Programmatik – mit der Aufgabe betraut, Bildungsungleichheit zu reduzieren, da mit einer Ausweitung der institutionellen Betreuung die Hoffnung verbunden ist, insbesondere negative Einflüsse bspw. der sozialen Herkunft zu minimieren. In der Debatte um Bildungsungleichheit im Kontext Ganztagsschule geht es jedoch häufig um formale Bildungserfolge und Wirkungen auf Schulleistungen (StEG-Konsortium 2016). Bildungsbenachteiligung hingegen verweist auf komplexe Prozesse professionellen Handelns (Rother & Buchna i. E.), die schwer zu untersuchen, aber durch Forschungen zu Ungleichheit als empirische Tatsache belegt sind. Der heuristische Ausgangspunkt der Studie „Sortieren als Umgang mit Bildungsbenachteiligung“ (Rother 2019) bezieht sich auf den Umgang pädagogischer Akteure mit Bildungsbenachteiligung.

2 Problemaufriss und Forschungsstand Die Erwartung des Abbaus von Bildungsungleichheit durch Ganztagsschulbesuche wird unter den aktuellen Bedingungen in wissenschaftlichen Diskursen eher als zurückhaltend eingeschätzt (bspw. Buchna et al. 2017; Steiner 2016), zumal nur wenige Studien Ganztagsschulen im Hinblick auf das Handeln der Akteure in ihnen in Verbindung mit diesen bildungspolitischen Programmatiken untersuchen. Eine Ausnahme bildet das u.a. von der Autorin an der Universität Siegen durchgeführte DFG-Projekt „»Bildungsbenachteiligung« als Topos pädagogischer Akteure in Ganztagsschulen“. In dem Projekt ließ sich herausstellen, dass dieses Thema in den Orientierungen pädagogischer Akteure in Ganztagsgrundschulen keine herausragende Rolle spielt (Buchna et al. 2017), verschiedene Aspekte der Förderung/Unterstützung von Kindern hingegen schon (Buchna et al. 2015). Daran schließen die Ergebnisse der eigenen hier im Mittelpunkt stehenden Studie „Sortieren als Umgang mit Bildungsbenachteiligung“ in einem GanztagsSetting an (Rother 2019). In dieser Studie geht es um eine Kooperation einer Ganztagsgrundschule und Offener Kinder- und Jugendarbeit, die bisher vor allem durch eine Tradition der Abgrenzung bspw. durch Differenzen im jeweiligen Bildungsverständnis und -auftrag gekennzeichnet ist (Stolz & Arnoldt 2007), aber auch durch eine Hierarchisierung zwischen schul- und sozialpädagogischen Akteuren gekennzeichnet ist (Buchna et al. 2016; Thieme & Faller 2016). Weiter verweisen Baumheier, Fortmann & Warsewa (2013) ebenso auf ein Ungleichgewicht zwischen Schule und Partnern und außerdem auf einen hohen Anteil defizitorientierter Angebote in benachteiligten Stadtteilen seitens der Schule (ebd.). Zudem ist aus Studien zur Umsetzung von bildungspolitischen Maßnahmen in Schulen

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Pia Rother

(bspw. Zeitler et al. 2013) und der Schulentwicklung (Goldmann 2017) bekannt, dass externe Entwicklungsimpulse in schulischen Organisationen nicht unbedingt von den pädagogischen Akteuren umgesetzt werden. Dies verweist darauf, dass die Aktivitätsstruktur in Organisationen nicht zwangsläufig an die Formalstruktur gekoppelt (Weick 1995) ist. Darauf verweisen auch die Forschungen zur institutionellen Diskriminierung (Gomolla & Radtke 2009), da in Organisationen nicht allein meritokratische Verfahrensweisen greifen. Ferner ist die Ganztagsteilnahme nach sozialer Herkunft selektiv, wie der größere Anteil von Kindern aus sozial privilegierten Familien in ganztägigen Grundschulen belegt (Steiner 2016). Außerdem ist die Ganztagsteilnahme in offenen Organisationsformen höher und deren Besuch von Kindern aus weniger privilegierten Familien ist jedoch bei unverbindlicheren Angeboten unwahrscheinlicher und damit ein Abbau sozialer Disparitäten unwahrscheinlich (ebd.). Außerdem werden Ganztagsplätze eher nach Betreuungs- statt nach Förderbedarfen vergeben (Rother & Stötzel 2014). Für die Offene Kinder- und Jugendarbeit hingegen spielen für das Engagement in Nachmittagsangeboten in Schulen u.a. auch fachliche Überlegungen – wie eine Ergänzung schulischer Lernformen – eine Rolle (Seckinger et al. 2016).

3 Der Umgang pädagogischer Akteure mit Bildungsbenachteiligung Ziel meiner Studie (Rother 2019) war es, handlungsleitende Orientierungen pädagogischer Akteure – Lehrkräfte und Sozialpädago*innen – zu Unterstützung von Kindern bzw. zum Umgang mit Bildungsbenachteiligung – als heuristischer Ausgangspunkt – in einem interorganisationalen kooperativen Ganztags-Setting zu rekonstruieren. Empirisch offen ist jedoch, wie pädagogische Akteure mit Bildungsbenachteiligung umgehen. In der hier im Vordergrund stehenden qualitativen Studie wird dies in einem sozial belasteten Stadtteil einer Großstadt untersucht. Erhoben wurden verschiedene Perspektiven durch Interviews, Gruppendiskussion/en und teilnehmende Beobachtungen, die mit der dokumentarischen Methode (Bohnsack 2010) ausgewertet wurden (bzw. Beobachtungen in Anlehnung). Hinsichtlich der Fragestellung zur Unterstützung von Kindern konnte eine Orientierung am Sortieren von als defizitär gerahmten Kindern als Umgang mit Bildungsbenachteiligung herausgearbeitet werden (Rother 2019), der sich insbesondere am Beispiel der Hausaufgaben-Settings in den beiden Organisationen – Grundschule und Einrichtung der Offenen Kinder- und Jugendarbeit – aufzeigen lässt. Daran, dass ein Bild von als defizitär gerahmten Kindern seitens aller pädagogischer Akteure rekonstruiert werden konnte, wird ein defizitorientierter Blick

Sortierte Kindheit? Orientierungen pädagogischer Akteure zu Bildungsbenachteiligung

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auf Kinder deutlich, die Unzulänglichkeiten im Sozial- und Lernverhalten aufzeigen. Wiederholt finden sich im Material Passagen, in denen das HausaufgabenSetting in der Offenen Kinder- und Jugendarbeit als unterstützender, besser und vor allem als Gegenhorizont zum schulischen Angebot beschrieben wird. An der Existenz von zwei Hausaufgaben-Settings entfaltet sich die Praxis des Sortierens, indem das Hausaufgaben-Setting in der Einrichtung der Offenen Kinder- und Jugendarbeit als unterstützender gerahmt wird. Dazu lässt sich ein entlang der Organisationszugehörigkeit unterscheidender Umgang damit rekonstruieren: Seitens der schulischen Akteure lässt sich eine Orientierung am Delegieren von als defizitär gerahmten Kindern (ebd.) rekonstruieren. So kommen bspw. über den Kontakt zu den Lehrkräften bei den Projekten der Kinder- und Jugendarbeit in der Schule diese Kinder zu ihnen in die Einrichtung. Seitens der Sozialpädagog*innen in der Einrichtung der Offenen Kinder- und Jugendarbeit lässt sich hingegen eine Orientierung am „Reparieren von als defizitär gerahmten Schüler*innen“ (ebd.: 261 ff.) rekonstruieren. D. h. also, dass als defizitär gerahmte Kinder seitens der Schule an die Einrichtung der Kinder- und Jugendarbeit delegiert werden, um im als unterstützender gerahmten Hausaufgaben-Setting dort „repariert“ zu werden. Dies verweist auf eine ambivalente Situation: Der Arbeit in der Einrichtung der Kinder- und Jugendarbeit werden positive Effekte auf das Sozial- und Lernverhalten mit Einfluss auf die Beschulbarkeit (Reparieren) zugeschrieben. Das Sortieren defizitär gerahmter Kinder lässt sich also als eine wenig ungleichheitssensible Win-win-Situation beider Organisationen darstellen.

4 Sortierte Kindheit? Während der Forschungsstand darauf verweist, dass externe Entwicklungsanforderungen an Schulen, wie der Abbau von Bildungsbenachteiligung, sich in der Praxis nicht als relevant rekonstruieren lassen, zeigt sich in dieser Studie, dass durchaus die Unterstützung/Förderung bestimmter als defizitär gerahmter Kinder relevant ist. Mit dieser Studie konnten handlungsleitende Orientierungen zum Umgang mit der Unterstützung von als defizitär gerahmten Kindern bzw. Bildungsbenachteiligung rekonstruieret werden. Dies zeigt, dass eine Orientierung am Sortieren beim Umgang mit Bildungsbenachteiligung hinsichtlich bestimmter Kindergruppen wenig ungleichheitssensibel ist und dennoch die pädagogischen Akteure zugleich mit bestimmten Unterstützungsbedarfen umgehen (müssen). Um die Frage zu beantworten, inwiefern in der Kindheit sortiert wird bzw. welche Bedeutung diese rekonstruierten Orientierungen der pädagogischen Akteure in dieser Studie für Kindheit haben, kann nur auf ein grundlegendes Dilemma pädagogischer Praxis verwiesen werden, dass wenn ein einseitiger Defizitansatz greift

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Pia Rother

(statt auch Stärkenorientierung), dies wenig ungleichheitssensibel geschieht und zur (Re)Konstruktion von Ungleichheit beitragen kann.

Literatur Baumheier, U.; Fortmann, C. & Warsewa, G. (2013): Ganztagsschulen in lokalen Bildungsnetzwerken (Educational Governance, Bd. 19). Wiesbaden: Springer VS. Bohnsack, R. (2010): Rekonstruktive Sozialforschung. Opladen: Budrich. Buchna, J.; Coelen, T.; Dollinger, B. & Rother, P. (2015): Die Moral der Ganztagsschule. Neue Praxis 45 (6), 626–641. Buchna, J.; Coelen, T.; Dollinger, B. & Rother, P. (2016): Normalisierte Hierarchie in Ganztagsgrundschulen. In: Zeitschrift für Soziologie der Erziehung und Sozialisation (ZSE) (36), 281–297. Buchna, J.; Coelen, T.; Dollinger, B. & Rother, P. (2017): Abbau von Bildungsbenachteiligung als Mythos? In: Zeitschrift für Pädagogik 62 (4), 416–436. Goldmann, D. (2017): Programmatik und Praxis der Schulentwicklung (Rekonstruktive Bildungsforschung). Wien u. a.: Springer VS. Gomolla, M. & Radtke, F.-O. (2009): Institutionelle Diskriminierung. Wiesbaden: VS Verlag. Rother, P. (2019): Sortieren als Umgang mit Bildungsbenachteiligung. Orientierungen pädagogischer Akteure in einem kooperativen Ganztags-Setting: Beltz Juventa. Rother, P. & Buchna, J. (i.E.): Bildungsbenachteiligung. In: Coelen, T.; Otto, H.-U.; Bollweg, P. & J. Buchna (Hrsg.): Grundbegriffe Ganztagsbildung (2. Aufl.). Wiesbaden: Springer VS. Rother, P. & Stötzel, J. (2014): Familie, soziale Herkunft und Bildungsungleichheit. In: Coelen, T. & Stecher, L. (Hrsg.): Die Ganztagsschule. Eine Einführung. Weinheim u.a.: Beltz Juventa, 129– 142. Seckinger, M.; Pluto, L.; Peucker, C. & van Santen, E. (2016): Einrichtungen der offenen Kinder- und Jugendarbeit. Eine empirische Bestandsaufnahme. Weinheim: Beltz Juventa. StEG-Konsortium (2016): Ganztagsschule: Bildungsqualität und Wirkungen außerunterrichtlicher Angebote. https://www.projekt-steg.de/sites/default/files/StEG_Brosch_FINAL.pdf. Zugegriffen: 10. Dezember 2018. Steiner, C. (2016): Von der konservativen zur sozial gerechten Schule? In: Engagement: Zeitschrift für Erziehung und Schule (2), 82–90. Stolz, H. J. & Arnoldt, B. (2007): Ansätze zur empirischen Rekonstruktion von Bildungsprozessen im Zusammenwirken von Jugendhilfe und Schule. In: Bettmer, F.; Maykus, S.; Prüß, F. & Richter, A. (Hrsg.): Ganztagsschule als Forschungsfeld. Wiesbaden: VS Verlag, 213–235. Thieme, N. & Faller, C. (2016): (Mehr) Qualität des Bildungssystems durch Ganztagsschulen mit Qualität? In: Blömeke, S.; Caruso, M.; Reh, S.; Salaschek, U. & Stiller, J. (Hrsg.): Traditionen und Zukünfte. Beiträge zum 24. Kongress der Deutschen Gesellschaft für Erziehungswissenschaft. Opladen u.a.: Budrich, 245–256. Weick, K. E. (1995): Der Prozeß des Organisierens (Theorie). Frankfurt am Main: Suhrkamp. Zeitler, S.; Heller, N. & Asbrand, B. (2013): Bildungspolitische Vorgaben und schulische Praxis. In: Zeitschrift für interpretative Schul- und Unterrichtsforschung 2 (1), 110–127.

Sozialisatorisches und pädagogisches Handeln von Lehrkräften an Grundschulen mit privilegiertem und benachteiligtem Milieu Frederick de Moll1

Keywords: Schulisches Milieu, Lehrerhandeln, Bildungsungleichheit

Abstract Im Beitrag wird die These vertreten, dass sich je sozioökonomischen Merkmalen von Schülerschaft und Einzugsgebiet von differenziellen schulischen Milieus sprechen lässt, die das Handeln von Lehrkräften beeinflussen. Erst durch deren Handeln wird das schulische Milieu zu einem ungleichheitsrelevanten Sozialisationskontext für Schülerinnen und Schüler. Mittels empirischer Daten wird die soziale Bedingtheit des Lehrerhandelns jenseits der Wissensvermittlung gezeigt.

1

Ausgangspunkt

Das Handeln von Lehrkräften wird in der ungleichheitsbezogenen Bildungsforschung bisher vor allem im Hinblick auf die Übergangsempfehlungen am Ende der Grundschulzeit untersucht (indes: Betz 2015). Weniger erforscht wird hingegen, inwieweit das Handeln von Lehrkräften auch im Schul- und Unterrichtsalltag ungleichheitsrelevant wird. Hinweise hierauf liefern Dunkake und Schuchart (2015), die zeigen, dass Lehramtsstudierende für Schülerinnen und Schüler aus unteren Schichten bei Regelverstößen häufiger unfaire Disziplinarmaßnahmen vorschlagen. Für die Grundschulpädagogik sind außerunterrichtliche bzw. gesellschaftliche Einflüsse auf Lehrkräfte von hohem Interesse, insofern sie letztlich pädagogisches Handeln bedingen und erschweren können. 1

Frederick de Moll | Universität Luxemburg | [email protected]

© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 N. Skorsetz et al. (Hrsg.), Diversität und soziale Ungleichheit, Jahrbuch Grundschulforschung 24, https://doi.org/10.1007/978-3-658-27529-7_16

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Frederick de Moll

Im Beitrag wird die These vertreten, dass der sozioökonomische Kontext einer Schule das sozialisatorische und pädagogische Handeln von Lehrkräften mitbedingt. Die Annahme beruht darauf, dass ein großer Teil des Lehrerhandelns jenseits von Didaktik und Wissensvermittlung stattfindet, für die schulische Sozialisation von Kindern aber ebenso relevant ist. Wie oft Lehrkräfte beispielsweise mit Eltern in Kontakt treten (Betz, de Moll & Kayser 2015), sich um die Integration benachteiligter Schülerinnen und Schüler bemühen und wie viele Freiräume sie im Unterricht schaffen, hängt auch von sozialen Faktoren ab. Im Anschluss an Hummrich und Kramer (2017) wird von sozioökonomisch und kulturell unterschiedlich ausgeformten schulischen Milieus ausgegangen, die sich aus der Komposition der Schülerschaft, dem Einzugsgebiet der Schule und den Lebensverhältnissen im Stadtteil ergeben.

2 Schulisches Milieu und Lehrerhandeln Mit dem schulischen Milieu sind zwei Ebenen angesprochen: die sozialstrukturelle und die sozialisatorische Ebene, also die Handlungsbedingungen und die Handlungsweisen der Akteure. Die sozialstrukturelle Ebene betrifft die sozialen Verhältnisse im Einzugsgebiet der Schule, d. h. in Nachbarschaft und Stadtteil. Diese tragen zur „kumulative[n] Privilegierung oder Benachteiligung von Schulen“ (Baumert, Stanat & Watermann 2006: 97) bei. Neben dem Einzugsgebiet sorgt auch die elterliche Schulwahl für sozial selektierte Schülerschaften (Ditton & Krüsken 2007). Auf sozialisatorischer Ebene lässt sich bspw. das Schulklima verorten (Bornkessel, Holzer & Kuhnen 2011). Beide Ebenen sind miteinander verbunden. Erst insofern das Handeln der Akteure – hier: der Lehrkräfte – mit den sozialen Handlungsbedingungen zusammenhängt, lässt sich von schulischen Milieus sprechen. Schule wird als „Möglichkeitsraum für … Lernprozesse“ als „sozialisatorisches Milieu“ bestimmbar (Hummrich & Kramer 2017: 166f.). Die unterschiedliche schulische Sozialisation der Schülerschaft ist bedeutsam für die weitere Bildungslaufbahn.

3 Fragestellung in der EDUCAREplus-Studie Die Frage lautet, inwieweit sich das schulische Milieu im sozialisatorischen und pädagogischen Handeln von Lehrkräften niederschlägt. Den Hintergrund bildet die Studie EDUCAREplus („Milieuspezifische Selbstsichten und Praktiken von

Sozialisatorisches und pädagogisches Handeln von Lehrkräften an Grundschulen

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Kindern, Eltern und pädagogischem Personal in Bildungs-, Betreuungs- und Erziehungskontexten der frühen und mittleren Kindheit“), die seit 2017 von Tanja Betz und Frederick de Moll durchgeführt wird.

4 Datenbasis In den Jahren 2012/2013 wurde eine Querschnittserhebung an 32 Grundschulen im Rhein-Main-Gebiet sowie im Ballungsraum Dresden durchgeführt, an der N = 124 Lehrkräfte teilnahmen (M = 44.56 Jahre, SD = 11.28; 89% weiblich, 11% männlich). Bei der Befragung waren 71% in Vollzeit beschäftigt und 29% in Teilzeit. Merkmale von Schule und Umfeld wurden über die Schulleitungen erhoben.

5 Methodisches Vorgehen Im Fokus der Analysen steht das Handeln von Lehrkräften in Schulalltag und Unterricht. Hierzu liegen acht Variablen vor, die sich auf die Häufigkeit unterschiedlicher sozialisatorischer und pädagogischer Praktiken beziehen. Mit T-Tests werden Unterschiede zwischen benachteiligten und privilegierten Schulen geprüft. 5.1

Variablen zum Lehrerhandeln

Das Lehrerhandeln wird in vier Handlungsdimensionen erfasst: 1. Autonomieunterstützung (Stärkung der Schülerposition, Anleitung zur Selbstständigkeit), 2. Kontrolle (Gewährung von Freiräumen, abwartender Umgang mit Konflikten), 3. direktiv-durchsetzendes Verhalten (autoritäre Durchsetzung, Betonung der Autorität Erwachsener), 4. Zielgruppenarbeit (Förderung von Benachteiligten, Zusatzförderung bei Leistungsschwächen). Es handelt sich um teils neuentwickelte Messinstrumente (siehe zu den verwendeten Skalen: de Moll et al. 2016). 5.2

Erfassung des schulischen Milieus

Das schulische Milieu wird anhand der Angaben der Schulleitungen zu fünf zentralen Kontextmerkmalen der Schulen bestimmt: Einzugsgebiet (1 = soziale Brennpunkte bis 5 = wohlhabende Gebiete), Arbeitslosigkeit im Stadtteil (1 = niedrig bis 3 = hoch), Anteil an Sozialhilfeempfängern (1 = niedrig bis 3 = hoch), Wohnqualität im Stadtteil (1 = niedrig bis 3 = hoch), Anteil von Kindern aus der Unter- und Arbeiterschicht und Einkommen im Stadtteil (1= niedrig bis 5 = hoch).

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Frederick de Moll

Die Kontextmerkmale werden zu einem Index zusammengefasst und mittels Median-Split zwei Gruppen gebildet: privilegierte Schulen (n = 64 bzw. 52%) und Schulen mit sozioökonomisch benachteiligtem Milieu (n = 60 bzw. 48%).

6 Ergebnisse Die Ergebnisse der T-Tests sind in Abbildung 1 dargestellt. Zum leichteren Vergleich der Unterschiede wurden die Variablen zum Lehrerhandeln z-standardisiert mit M = 0 und SD = 1.

Abb. 1: Häufigkeit unterschiedlicher Dimensionen des Lehrerhandelns nach schulischem Milieu (n = 120; * auf dem 5%-Niveau signifikante Unterschiede)

Lehrkräfte an benachteiligten Schulen sind signifikant stärker um die Förderung von Schülerinnen und Schülern bemüht, die sie als sozial benachteiligt einschätzen; zugleich geben sie im Unterrichtsalltag weniger Freiräume. An benachteiligten Schulen engagieren sich Lehrkräfte in höherem Maße für die Stärkung des selbstsicheren Auftretens ihrer Schülerinnen und Schüler. Daneben sind keine signifikanten Unterschiede feststellbar.

Sozialisatorisches und pädagogisches Handeln von Lehrkräften an Grundschulen

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7 Schlussbemerkungen Die Annahme schulischer Milieus ist im Sinne differenzieller Sozialisations- und Handlungskontexte plausibel, wenngleich sie nur auf bestimmte Bereiche des Schul- und Unterrichtsalltags bezogen werden kann. Zur Ungleichheitsrelevanz lässt sich sagen: Es kann jedenfalls nicht von benachteiligendem Handeln von Lehrkräften in unterprivilegierten Schulen ausgegangen werden. Vielmehr deutet die stärkere Förderung mit Blick auf Persönlichkeit und Benachteiligungen darauf hin, dass Lehrkräfte ihr Handeln an habituell-soziale Voraussetzungen der Schülerklientel anpassen und damit deren potenzieller Schulfremdheit durch persönlichkeitsstärkende Maßnahmen entgegenwirken. Dass Lehrkräfte an privilegierten Schulen mehr Freiräume schaffen, deutet darauf hin, dass sie ihr Handeln auf den Sozialcharakter der gehobenen Milieus abstimmen, die Wert auf eigentätiges und interessegeleitetes Lernen legen. Welche Unterschiede sich auf Schülerebene zwischen schulischen Milieus zeigen, ist eine Frage für die weitere Forschung.

Literatur Baumert, J.; Stanat, P. & Watermann, R. (2006): Schulstruktur und die Entstehung differenzieller Lern- und Entwicklungsmilieus. In: Baumert, J.; Stanat, P.; Watermann; R. (Hrsg.): Herkunftsbedingte Disparitäten im Bildungswesen: Differenzielle Bildungsprozesse und Probleme der Verteilungsgerechtigkeit: Vertiefende Analysen im Rahmen von PISA 2000. Wiesbaden: VS, 95–188. Betz, T. (2015): Ungleichheitsbezogene Bildungsforschung – Lehrkräfte im Fokus. In: Zeitschrift für Soziologie der Erziehung und Sozialisation, 35 (4), 339–343. Betz, T.; de Moll, F.& Kayser, L. (2015): Soziale Determinanten des Lehrerhandelns. Milieuspezifische und berufsbiographische Einflussfaktoren auf die Kooperation und Kommunikation mit Eltern. In: Zeitschrift für Soziologie der Erziehung und Sozialisation, 35 (4), 377–395. Bornkessel, P.; Holzer, B. & Kuhnen, S. U. (2011): Differentielle Schulmilieus: Zur Bedeutung sozialer Schulklimafaktoren für die fachbezogene Studienzuversicht. In: Bornkessel, P.; Asdonk, J. (Hrsg.): Der Übergang Schule–Hochschule. Zur Bedeutung sozialer, persönlicher und institutioneller Faktoren am Ende der Sekundarstufe II. Schule und Gesellschaft 54. Wiesbaden: VS, 105-138. de Moll, F.; Bischoff, S.; Lipinska, M.; Pardo-Puhlmann, M. & Betz, T. (2016): Projekt EDUCARE: Skalendokumentation zur Lehrkräftebefragung an Grundschulen. Frankfurt am Main: GoetheUniversität. Abgerufen am 24.01.2019 unter: https://www.uni-frankfurt.de/61647888/EDUCARE_Skalendoku_Lehrkraefte.pdf. Dunkake, I. & Schuchart, C. (2015): Stereotypes and Teacher Characteristics as an Explanation for the Class-Specific Disciplinary Practices of Pre-Service Teachers. In: Teaching and Teacher Education, 50, 56–69. Ditton, H. & Krüsken, J. (2007): Sozialräumliche Segregation und schulische Entwicklung. In: Diskurs Kindheits- und Jugendforschung, 2 (1), 23–38. Hummrich, M. & Kramer, R.-T. (2017): Schulische Sozialisation. Wiesbaden: Springer VS.

Integration von geflüchteten Kindern in der Grundschule. Ergebnisse einer Interviewstudie zu Chancen und Herausforderungen aus der Perspektive von Lehrkräften Eva-Maria Kirschhock und Andreas Drobny1

Keywords: Belastung, Grundschullehrkräfte, geflüchtete Kinder

Abstract Seit 2015 ist die Grundschule verstärkt mit der meist unvorbereiteten Aufnahme von geflüchteten Kindern konfrontiert, die allen Beteiligten große Integrationsleistungen abverlangt. In der vorliegenden Interviewstudie wird daher der Frage nachgegangen, welche herausfordernden Erfahrungen Lehrpersonen in ihrer Arbeit mit geflüchteten Kindern berichten, wie sie diese Erfahrungen bewerten und bewältigen. Die Antworten verdeutlichen zwar, dass überwiegend Belastungen genannt werden, jedoch berichten auch alle Interviewten über positive Erfahrungen mit geflüchteten Kindern. Zusammenfassend kann konstatiert werden, dass die Lehrkräfte im Umgang mit den vielfältigen Herausforderungen ein sehr individuelles Expertentum entwickeln und hier als wichtigste Implikation die Forderung nach qualitativ hochwertiger Fortbildung deutlich wird, um die einzelne Lehrperson zu entlasten und zu unterstützen.

1

Problemaufriss und Forschungsgrundlage

In den Jahren 2015 und 2016 erreichten die Zahlen der Geflüchteten in Deutschland einen Höhepunkt. Gegenstand der Studie ist die Frage, wie Grundschul1

Eva-Maria Kirschhock | Universität Erlangen-Nürnberg | [email protected] Andreas Drobny | Universität Erlangen-Nürnberg | [email protected]

© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 N. Skorsetz et al. (Hrsg.), Diversität und soziale Ungleichheit, Jahrbuch Grundschulforschung 24, https://doi.org/10.1007/978-3-658-27529-7_17

Integration von geflüchteten Kindern in der Grundschule

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lehrkräfte die vielfältigen Aufgaben bei der Integration der Kinder mit Fluchthintergrund wahrgenommen haben und wie sie damit auch im positiven Sinne der Bewältigung umgegangen sind. Zwei empirisch validierte theoretische Modelle beleuchten den Zusammenhang zwischen erlebter Anforderung und den Umgang damit. Das erste Modell, das Job-Demands-Resources-Model (Bakker & Demerouti 2007), geht davon aus, dass bei jeder Tätigkeit Anforderungen auf unterschiedlichen Ebenen und in unterschiedlichem Maße ausgeprägt sind. Dieses Modell zeigt auf, dass Ressourcen Belastungen „abpuffern“ können. Das zweite Modell ist das Transaktionale Modell des Lehrerstresses aus dem Arbeitsbereich Schule (Van Dick & Stegmann 2013). Stress wird als Wechselwirkung zwischen Arbeits-Umwelt und Person begriffen, wobei das Modell insbesondere den Einfluss der Bewertungsprozesse bei eventuellen Belastungssituationen betont. Wird eine Situation als belastend eingestuft, überdenkt die Person ihre Möglichkeiten zur Bewältigung, bevor sie aktiv wird. Auch der gelingende und misslingende Einsatz von Bewältigungsstrategien wird bewertet. Im negativen Fall löst das Erleben Angst und Stress aus, was schließlich zu dauerhaften negativen Stressfolgen führen kann. Zuletzt ein Blick auf die Potsdamer Lehrerstudie (Schaarschmidt & Kieschke 2013), die sich neben anderen Absichten zum Ziel setzte, Belastungen, Einstellungen, Kompetenzen u. a. im Umgang mit Berufsanforderungen von Lehrkräften zu identifizieren und in verschiedenen Merkmalsdimensionen zu analysieren. Interessant in diesem Zusammenhang ist das Auffinden von gesundheitsförderlichen und krankheitsbegünstigenden Mustern. Für die Deutung positiver oder negativer Muster sind u. a. die Merkmalsdimensionen Distanzierungsfähigkeit, persönliche Widerstandskraft, Arbeitsengagement und Lebenszufriedenheit zentrale Kategorien.

2 Untersuchungsdesign Die Stichprobe besteht aus zwei männlichen und zwölf weiblichen GrundschulLehrkräften, die jeweils ein bis vier geflüchtete Kinder in der Klasse hatten. Die Zahl der sonstigen Kinder mit Migrationshintergrund, bei denen mindestens ein Elternteil in einem anderen Land geboren ist, schwankte stark (zwischen zwei und 20). Als Erhebungsinstrument wurde ein leitfadengestütztes Telefoninterview durchgeführt, das im Mittel 30 Minuten dauerte. Insgesamt umfasste das Interview sieben Leitfragen, von denen hier nur Leitfrage 1 (Aktuelle Situation und Befindlichkeit) im Fokus steht. Die Auswertung basiert auf Transkripten der Interviews. Das weitere Vorgehen erfolgt im Sinne einer strukturierenden Inhalts-

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Eva-Maria Kirschhock und Andreas Drobny

analyse (Mayring 2016). Die sieben Leitfragen bildeten gleichzeitig die sieben deduktiv gebildeten Hauptkategorien, Subkategorien wurden induktiv aus dem Material gebildet. Die Interpretation der Ergebnisse wurde in einer Auswertungsgruppe durch konsensuelle Validierung abgesichert (Gläser-Zikuda 2015: 127).

3 Ergebnisse Zwar werden überwiegend Belastungen genannt (70 % der Kodierungen), aber bei allen Lehrkräften gibt es auch positive Erfahrungen (13 %), die als IST- Zustand berichtet werden und entlastende Faktoren (16 %), die teilweise als ISTZustand, teilweise als SOLL-Zustand benannt werden. 3.1

Positive Erfahrungen

In der Subkategorie „positive Erfahrungen“, die mit 65 Textstellen von 13 Lehrkräften eine breite Besetzung der Codes widerspiegelt, nennen vier Lehrkräfte bei den geflüchteten Kindern explizit „überraschend gute Schulleistungen“, vor allem im sprachlichen Bereich, aber auch im Bereich des Allgemeinwissens. Fünf Lehrkräfte stellen das positive Sozialverhalten heraus und acht der vierzehn Lehrkräfte berichten von großer Integrationswilligkeit und Aufgeschlossenheit der Kinder. Festzuhalten ist: (Fast) alle Lehrkräfte nennen positive Erfahrungen. Die Lehrkräfte würdigen insbesondere die persönlichen Anstrengungen und den guten Willen, den die geflüchteten Kinder und ihre Eltern zeigen. 3.2

Entlastende Faktoren

Im Bereich der entlastenden Faktoren werden Entlastungen für Lehrkräfte, aber auch für die Kinder genannt. Insgesamt zehn Lehrkräfte geben in 63 Textstellen an, dass sie die personelle Unterstützung im Kontext der Beschulung geflüchteter Kinder als Entlastung erlebt haben. Es werden Schulseelsorger, Sozialarbeiter, Verwandte und Freunde der geflüchteten Kinder ebenso genannt wie Förderlehrkräfte, Kollegiums-Mitglieder und ehrenamtliche Unterstützer. Oft werden zusätzlich Begründungen wie „Psychologische und soziale Unterstützung“ oder „Differenzierungsmöglichkeit“ mit den relevanten Textstellen verbunden. Eng damit zusammenhängend werden von sieben Lehrkräften in 15 weiteren Textstellen Formen schulischer Angebote wie Förderunterricht, die wiederum nur durch die personelle Unterstützung denkbar sind, als Entlastung identifiziert. Sie werden aufgrund des stärkeren Fokus auf den organisatorischen Rahmen bei der Beschreibung in eine eigene Kategorie eingeordnet.

Integration von geflüchteten Kindern in der Grundschule

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Fazit: Die Formen personeller Unterstützung nehmen einen zentralen Raum im Entlastungsempfinden der Lehrkräfte ein!

3.3

Belastungen

Die im Zusammenhang mit den theoretischen Modellen interessante und im quantitativen Umfang von 349 Nennungen offensichtlich bedeutsamste Kategorie ist die der Belastungen, die von fast allen Lehrpersonen (13 von 14) explizit angeführt werden. Die Subkategorie „Belastungen in Bezug auf schulische Rahmenbedingungen“ mit immerhin 79 Textstellen ist allerdings auf nur fünf Lehrkräfte zurückzuführen. Sie geben an, unter dem starren Schulsystem zu leiden, das eine individuell angemessene Unterstützung ihrem Empfinden nach z. T. sehr erschwert. Aber auch ehrenamtliche Helfer im Kontext schulischer Arbeit werden manchmal als Last empfunden und benannt. Beleuchtet man Belastungen, die im Hinblick auf die geflüchteten Kinder selbst formuliert werden, trifft man bei den zehn Lehrkräften, die sich mit insgesamt 98 Textstellen dazu äußern, besonders auf psychische Probleme der geflüchteten Kinder wie etwa Traumata, oder auf Probleme im sozialen Bereich, zum Beispiel Respektlosigkeit, aber ebenso auf Schwierigkeiten bei der unterrichtlichen Integration, die durch die deutliche Vergrößerung der Heterogenität der Schülerschaft und geringe Deutschkenntnisse entstehen. Eher unerwartet viele (neun Lehrkräfte) äußern sich mit 165 Nennungen in Bezug auf eigene psychische Belastungen, wobei die Heterogenität der Lehrkräfte groß ist. Bei vier Lehrkräften finden sich keine oder fast keine Aussagen zu Belastungen. Dagegen überwiegt bei fünf Lehrpersonen die Darstellung der belastenden Faktoren sehr deutlich gegenüber den positiven Erfahrungen. Im Gesamteindruck des Interviews sticht bei diesen letztgenannten fünf Lehrkräften ein überaus hohes berufliches Engagement ins Auge, das gepaart mit tendenziell hoher Problemsensibilität zu starkem Belastungserleben führt. Vor dem Hintergrund der Potsdamer Lehrerstudie gehören diese fünf Lehrkräfte zu einer Risikogruppe, die auf Dauer gesundheitlich gefährdet ist. Möglichweise könnte diesen Lehrkräften eine professionelle Unterstützung hilfreich sein, um das Zusammenspiel von Arbeitsengagement, psychischer Widerstandskraft und Emotionen optimal auszubalancieren. In 43 Textstellen werden von vier Lehrkräften Gefühle von Selbstzweifel im Angesicht nicht erfüllbarer Bedürfnisse von geflüchteten Kindern beschrieben. Weitere 122 Kodierungen von acht Lehrkräften konzentrieren sich auf Gefühle der Überforderung und des Kompetenzmangels, die sich auch in Unsicherheit und Resignation gegenüber den multiplen Aufgaben ausdrücken.

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Eva-Maria Kirschhock und Andreas Drobny

Bakker & Demerouti (2007) zeigen in ihrem empirisch validierten Job-Demands-Ressources-Model auf, dass bei hohen Anforderungen im Tätigkeitsfeld und geringen Ressourcen im beruflichen Umfeld oder auch in der berufstätigen Person selbst ein Burnout-Syndrom wahrscheinlicher wird – eine bedenkliche Tatsache in diesem Zusammenhang!

4 Fazit Die Auswertung dieser relativ kleinen Interviewstudie kann nicht generalisiert werden, aber doch wertvolle Hinweise geben. Neben positiven und entlastenden Faktoren fällt der hohe Anteil an erlebter Belastung auf, die sich teilweise als Gefühle der Überforderung äußern. Insbesondere im Hinblick auf die Lehrergesundheit und das notwendige Management der multiplen Aufgaben liegt die Konsequenz auf der Hand, die Lehrkräfte im Umgang mit diesen Anforderungen zu stärken, zum Beispiel durch Fortbildungen, die den Umgang mit den eigenen Ressourcen reflektieren. Hinweise dazu geben die Potsdamer Lehrerstudie mit ihren Merkmalsausprägungen wie auch die empirisch validierten Modelle, die hier vorgestellt wurden.

Literatur Bakker, A. & Demerouti, E. (2007): The Job DemandsǦResources model: state of the art. In: Journal of Managerial Psychology, Vol. 22 Issue: 3, 309–328. Gläser-Zikuda, M. (2015): Qualitative Auswertungsverfahren. In: Reinders, H.; Ditton, H.; Gräsel, C. & Gniewosz, B. (Hrsg.): Empirische Bildungsforschung. Strukturen und Methoden, 109–119. Wiesbaden: Springer VS. Mayring, P. (2016): Einführung in die qualitative Sozialforschung. Eine Anleitung zu qualitativem Denken. Weinheim/Basel: Beltz. Schaarschmidt, U. & Kieschke, U. (2013): Beanspruchungsmuster im Lehrerberuf aus der Potsdamer Lehrerstudie. In: Rothland, M. (Hrsg.): Belastung und Beanspruchung im Lehrerberuf. Modelle, Befunde, Interventionen, 81–97. Wiesbaden: Springer VS. Van Dick, R. & Stegmann S. (2013): Belastung, Beanspruchung und Stress im Lehrerberuf – Theorien und Modelle. In: Rothland, M. (Hrsg.): Belastung und Beanspruchung im Lehrerberuf. Modelle, Befunde, Interventionen, 43–59. Wiesbaden: Springer VS.

Wie wirken sich Migrationshintergrund und sozioökonomischer Status auf die Beurteilung nichtkognitiver Kompetenzen aus? Ulrike Semmler-Busch und Tobias Koch1

Keywords: Intrinsische Motivation, Anstrengungsbereitschaft, Diagnostische Kompetenzen, Migrationshintergrund, Mehrebenen-Strukturgleichungsmodelle

Abstract Nichtkognitive Kompetenzen spielen eine wesentliche Rolle für die Schullaufbahn. Anhand der Daten von Drittklässlern aus einer großen Studie (BIKS) untersuchen wir, wie die Beurteilung der intrinsischen Motivation und der Anstrengungsbereitschaft durch Lehrkräfte und Eltern relativ zum Selbstbericht mit Migrationshintergrund und sozioökonomischem Status zusammenhängen. Dabei zeigen sich große Unterschiede der Sichtweisen von Schülern und Schülerinnen, Lehrkräften und Eltern.

1

Einführung

Nichtkognitive Kompetenzen spielen eine wesentliche Rolle für die Schullaufbahn, besonders bei Grundschulkindern (Karing & Artelt 2013). Daher ist es eine wichtige Aufgabe der Lehrkräfte und auch der Eltern, z.B. intrinsische Motivation oder Anstrengungsbereitschaft richtig einzuschätzen. In kulturell oder sozioökonomisch sehr heterogenen Klassen ist das eine besondere Herausforderung für die Lehrkräfte, denn eine verzerrte Sicht auf einzelne Schülergruppen kann deren Erfolgschancen in der Schule deutlich beeinflussen (Südkamp, Möller & Kaiser

1

Ulrike Semmler-Busch | Leuphana Universität Lüneburg | [email protected] Tobias Koch | Psychologische Hochschule Berlin | [email protected]

© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 N. Skorsetz et al. (Hrsg.), Diversität und soziale Ungleichheit, Jahrbuch Grundschulforschung 24, https://doi.org/10.1007/978-3-658-27529-7_18

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Ulrike Semmler-Busch und Tobias Koch

2012). So können ungleiche Bildungschancen aufgrund sozialer Ungleichheit verstärkt werden. Zur Erforschung dieser diagnostischen Kompetenzen der Lehrkräfte (Praetorius, Lipowsky & Karst 2012; Spinath 2005) möchten wir hier einen Beitrag leisten.

2

Daten und Modellierung

Für unsere Auswertungen verwenden wir Daten von Drittklässlern aus der BIKSStudie (Artelt et al. 2013). Die Längsschnittstudie mit acht Wellen (8 bis 14 Jahre) wurde durchgeführt vom Institut zur Qualitätsentwicklung im Bildungswesen (IQB), Berlin. In der hier verwendeten ersten Welle wurden ca. 2500 Schüler und Schülerinnen in 150 dritten Klassen in Bayern und Hessen, deren Eltern und Lehrkräfte befragt, so dass eine hierarchische Datenstruktur vorlag (2386 verwendbare Beobachtungen). Anhand dieser Daten untersuchen wir, wie weit Lehrer- und Elternurteile zu intrinsischer Motivation und Anstrengungsbereitschaft mit dem Schülerselbstbericht übereinstimmen, und modellieren den Lehrereffekt auf Schüler- und Klassenebene in Abhängigkeit von den Kovariaten sozioökonomischer Status und Migrationshintergrund. Für die Kriterienvariablen stellen wir Multi-Level-Correlated-Trait-Correlated-(Method-1)-Modelle auf (ML-CTC(M-1)-Modelle; Koch, Schultze, Burrus, Roberts & Eid 2015). Die Modelle erlauben es, die Konsistenz (konvergente Validität, Teil der wahren Varianz, den Lehrer- oder Elternangaben mit den Schülerselbstberichten teilen) und die Methodenspezifität (Teil der wahren Varianz, der Lehrkräften oder Eltern eigen ist, also nicht mit den Schülerselbstberichten geteilt wird) auf beiden Messebenen zu bestimmen. Der neu entwickelte „doubly latent residual approach“ (DLRA) ermöglicht darüber hinaus eine adäquate Erklärung der latenten Methodenfaktoren in MLCTC(M-1)-Modellen auf beiden Ebenen (Koch & Semmler-Busch 2018).

3 3.1

Ergebnisse Intrinsische Motivation und Anstrengungsbereitschaft

Die intrinsische Motivation wurde mit zwei Indikatoren gemessen: 1. Das Kind geht gerne zur Schule; 2. Das Kind hat Freude am Lernen in der Schule. Beide werden im Mittel von den Eltern deutlich höher und von den Lehrkräften etwas höher eingeschätzt als von den Schülern und Schülerinnen selbst (Abb. 1).

Auswirkungen von Migrationshintergrund und sozio-ökonomischem Status

123

Bei der Anstrengungsbereitschaft – gemessen mit vier Indikatoren: 1. Das Kind gibt schnell auf, wenn ihm etwas schwer fällt; 2. Das Kind strengt sich an, wenn Aufgaben schwierig sind; 3. Dem Kind fallen viele Aufgaben leicht; 4. Das Kind erreicht bei Anstrengung gute Leistungen – dagegen liegen die Werte der Lehrkräfte deutlich und die der Eltern etwas niedriger als die Selbstberichte der Schüler und Schülerinnen (Abb. 1). Die Konsistenz der Einschätzungen (Übereinstimmung der Rangkomponente) ist bei der Anstrengungsbereitschaft etwas höher als bei der intrinsischen Motivation. Die Differenzierung ist bei der intrinsischen Motivation sehr gleichmäßig, nur der erste Indikator wird im Schülerselbstbericht deutlich stärker differenziert. Die Anstrengungsbereitschaft wird von den Eltern sehr viel und von den Lehrkräften etwas stärker differenziert als von den Schülern und Schülerinnen. 3.2

Sozioökonomischer Status und Migrationshintergrund

Der sozioökonomische Status wurde über den ISEI (International Socio-Economic Index of Occupational Status) als metrische Kovariate auf Schülerebene erfasst. Auf Schülerebene hängen nach den Schülerselbstberichten weder intrinsische Motivation noch Anstrengungsbereitschaft mit dem ISEI zusammen. Die Anstrengungsbereitschaft wird von Eltern mit steigendem ISEI relativ zum Schülerselbstbericht geringfügig höher beurteilt (R2 0,01). Die Lehrkräfte schätzen sowohl die intrinsische Motivation als auch die Anstrengungsbereitschaft von Kindern sozioökonomisch höher gestellter Eltern höher ein (R2 0,036 für Motivation und 0,078 für Anstrengungsbereitschaft). In Klassen mit Kindern durchschnittlich sozioökonomisch höher gestellter Eltern schätzen die Lehrkräfte sowohl die intrinsische Motivation als auch die Anstrengungsbereitschaft deutlich höher ein (R2 0,093 und 0,12 für Motivation, 0,174 und 0,248 für Anstrengungsbereitschaft). Den Migrationshintergrund der Kinder verwenden wir in den Modellen als binäre Variable (mindestens ein Elternteil im Ausland geboren). Kinder mit Migrationshintergrund sehen ihre intrinsische Motivation im Durchschnitt höher als deutsche Kinder, bei der Anstrengungsbereitschaft gibt es aus ihrer Sicht keinen Unterschied. Ihre Eltern schätzen die Motivation ihrer Kinder nochmals höher ein als nach dem Schülerselbstbericht zu erwarten wäre, bei der Anstrengungsbereitschaft sehen sie ebenfalls keinen Unterschied. Ihre Lehrer dagegen schätzen sowohl ihre Motivation als auch ihre Anstrengungsbereitschaft geringer ein als nach dem Selbstbericht zu erwarten wäre (und im Schnitt absolut geringer als bei deutschen Kindern, Abb. 1).

124

Ulrike Semmler-Busch und Tobias Koch

a)

Ind. 1 2

Indikator 1

Indikator 2

10

Schüler_innen Eltern

8

Lehrkräfte

6 4 2 0 alle

b)

Ind. 1 2 3 4

0

1

Ind. 1

2

0 Ind. 2

1

2

Ind. 3

0 - kein Migrationshintergrund 1 - ein Elternteil 2 - beide Eltern im Ausland geb. Ind. 4

10

Schüler_innen Eltern

8

Lehrkräfte

6 4 2 0 alle

0 1 2

0 1 2

0 1 2

0 1 2

0 - kein Migrationshintergrund 1 - ein Elternteil 2 - beide Eltern im Ausland geb.

Abb. 1: Mittelwerte a) der intrinsischen Motivation und b) der Anstrengungsbereitschaft

Je höher der Anteil von Kindern mit Migrationshintergrund in der Klasse ist, desto niedriger beurteilen die Lehrkräfte die mittlere Motivation (signifikant bei beiden Indikatoren mit R2 0,052 bzw. 0,112) und desto niedriger sehen sie die Anstrengungsbereitschaft in der Klasse (signifikant nur bei Indikator 2 mit R2 0,073). Aus Schüler- und Elternsicht gibt es hier kaum Unterschiede.

4 Zusammenfassung und Ausblick Der Migrationshintergrund hat nachweislich Einfluss auf die Schüler-, Elternund Lehrersicht zur intrinsischen Motivation und auf die Lehrersicht zur Anstrengungsbereitschaft der Kinder auf Schüler- und auf Klassenebene: Kinder mit Migrationshintergrund sind nach Selbstbericht und aus Elternsicht motivierter, aus Sicht ihrer Lehrkräfte absolut und relativ zum Selbstbericht weniger motiviert,

Auswirkungen von Migrationshintergrund und sozio-ökonomischem Status

125

aus Lehrersicht ist auch ihre Anstrengungsbereitschaft geringer. Lehrkräfte müssen davon ausgehen, dass Kinder mit Migrationshintergrund sich als motivierter und anstrengungsbereiter erleben als sie ihnen erscheinen. Der ISEI beeinflusst hauptsächlich die Lehrersicht auf die intrinsische Motivation und die Anstrengungsbereitschaft der Kinder auf Schüler- und besonders auf Klassenebene. Weitere Forschung ist hier sicher nötig, um nach Herkunftsländern, Elternteilen, Aufenthaltsdauer, Sprachkenntnissen usw. zu differenzieren und die Folgen der unterschiedlichen Sichtweisen zu untersuchen. Offen ist auch, wie und ob bei nichtkognitiven Kompetenzen eine objektive Beurteilung möglich ist und wie weit die Sichtweisen der verschiedenen Beteiligten damit übereinstimmen. Auch bei den hierarchischen Strukturgleichungsmodellen besteht weiterer Forschungsbedarf, um auch ordinal- sowie nominalskalierte Prädiktoren, longitudinale Entwicklungen sowie nichtlineare Einflüsse und Interaktionen berücksichtigen zu können.

Literatur Artelt, C.; Blossfeld, H.-P.; Faust, G.; Roßbach, H.-G. & Weinert, S. (2013): Bildungsprozesse, Kompetenzentwicklung und Selektionsentscheidungen im Vorschul- und Schulalter (BiKS-8-14). Version: 1. IQB – Institut zur Qualitätsentwicklung im Bildungswesen. Datensatz. http://doi.org/10.5159/IQB_BIKS_8_14_v1. Karing, C. & Artelt, C. (2013): Genauogkeit von Lehrpersonenurteilen und Ansatzpunkte ihrer Förderung in der Aus- und Weiterbildung von Lehrkräften. In: Beiträge zur Lehrerbildung, 31(2), 166–173. Koch, T.; Schultze, M.; Burrus, J.; Roberts, R. D. & Eid, M. (2015): A multilevel CFA-MTMM model for nested structurally different methods. In: Journal of Educational and Behavioral Statistics, 40 (5), 477-510. doi: 10.3102/1076998615606109. Koch, T. & Semmler-Busch, U. (2018): On the power and performance of a doubly latent residual approach to explain latent specific factors in multilevel-bifactor-(S-1) models. In: Structural Equation Modeling: A Multidisciplinary Journal, 1–24, doi: 10.1080/10705511.2018.1516506. Praetorius, A.-K.; Lipowsky, F. & Karst, K. (2012): Diagnostische Kompetenz von Lehrkräften: Aktueller Forschungsstand, unterrichtspraktische Umsetzbarkeit und Bedeutung für den Unterricht. In: A. Ittel & R. Lazarides (Hrsg.), Differenzierung im mathematisch-naturwissenschaftlichen Unterricht – Implikationen für Theorie und Praxis, Bad Heilbrunn: Klinkhardt, 115–146. Spinath, B. (2005): Akkuratheit der Einschätzung von Schülermerkmalen durch Lehrer und das Konstrukt der diagnostischen Kompetenz. Zeitschrift für Pädagogische Psychologie, 19, 85–95. Südkamp, A.; Kaiser, J. & Möller, J. (2012): Accuracy of teachers’ judgements of students’ academic achievement: A metaanalysis. In: Journal of Educational Psychology, 104(3), 743–762, http://dx.doi.org/10.1037/a0027627.

Formierung elterlicher Bildungsentscheidungen vor und nach der Reform des Bildungssystems in Baden-Württemberg Thomas Wiedenhorn und Oliver Semmelroch1

Keywords: Bildungsungleichheit, Übergang Grundschule Sekundarstufe, institutionelle Rahmenbedingungen, elterliche Bildungsentscheidung

Abstract Für die Erklärung sozialer Disparitäten im Bildungssystem fokussiert die soziologische Bildungsforschung insbesondere auf Bildungsübergänge im stratifizierten Bildungssystem (Maaz et al. 2010). Kontextbedingungen schulischer Übergänge haben sich in den letzten Jahren jedoch zunehmend verändert und bieten Gelegenheit, bestehende Befunde kritisch zu hinterfragen. Die beiden vorgestellten Studien (Wiedenhorn 2011, Semmelroch ab 2016) untersuchen elterliche Bildungsentscheidungen vor und nach den systemischen Veränderungen des Bildungssystems von Baden-Württemberg.

1

Einführung

An kaum einer Stelle im Bildungssystem wird Bildungsungleichheit im (gegliederten) Schulsystem so deutlich, wie dies beim Übergang von der Grundschule in die Sekundarstufe I der Fall ist, denn die Verteilung auf verschiedene Schulformen hat direkte und indirekte Auswirkungen auf den späteren Bildungsabschluss und die sozioökonomische Position innerhalb der Gesellschaft (Dietze 2011). Die 1

Oliver Semmelroch | Pädagogische Hochschule Weingarten |[email protected] Thomas Wiedenhorn | Pädagogische Hochschule Ludwigsburg | [email protected]

© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 N. Skorsetz et al. (Hrsg.), Diversität und soziale Ungleichheit, Jahrbuch Grundschulforschung 24, https://doi.org/10.1007/978-3-658-27529-7_19

Formierung elterlicher Bildungsentscheidungen vor und nach der Reform des Bildungssystems

127

Bildungsentscheidung beim Übergang von der Grundschule in die Sekundarstufe I, wurde daher bereits in zahlreichen wissenschaftlichen Publikationen als entscheidende und nur schwer revidierbare Weichenstellung für die zukünftige Bildungslaufbahn von Heranwachsenden identifiziert (Maaz et al. 2010). Dies scheint vor allem der Konzeption des deutschen Bildungssystems mit seiner frühen, an Leistungsbeurteilungen orientierten Aufteilung der Schüler*innen nach Beendigung der Primarstufe, gekoppelt an ein mehrgliedriges Schulsystem in der Sekundarstufe, geschuldet zu sein (Neugebauer 2010).

2 Grundproblematik Nach wie vor richtet sich der Besuch unterschiedlicher Schulformen in hohem Maße nach der unterschiedlichen sozialen Herkunft von Schülerinnen und Schülern (Dumont et al. 2014). Deren Verteilung auf die jeweiligen Schulformen erfolgt dabei bundeslandspezifisch entweder leistungsabhängig und verbindlich oder durch schulische Beratungsprozesse unterstützte freie elterlicher Bildungsentscheidungen. Unbestritten ist jedoch, dass im Sinne primärer und sekundärer Herkunftseffekte (Boudon 1974) Leistungsunterschiede sowie elterliche Aspirationen und Bildungsentscheidungen nicht unabhängig von sozialen und ethnischkulturellen Unterschieden der Schüler*innen sowie deren Eltern entstehen und somit, auch unabhängig vom formalen Übergangssystem, zu Disparitäten in der Bildungsbeteiligung unterschiedlicher Bildungsgänge führen. Zudem beraten Grundschullehrer*innen in unsicheren Leistungskonstellationen vor dem Hintergrund der familialen Unterstützungsmöglichkeiten (Wiedenhorn 2011). Bildungsentscheidungen werden demnach durch ein Wechselspiel von institutionellen Rahmenbedingungen des Schulsystems, den schulischen Leistungen des Kindes sowie den elterlichen Bildungsaspirationen beeinflusst. 2.1

Veränderte Rahmenbedingungen im Bildungssystem von Baden-Württemberg

Im baden-württembergischen Bildungssystem wurden Reformen umgesetzt, die mitunter zum Abbau von Ungleichheiten im Bildungssystem beitragen sollen. Nach der Neukonzeption der Werkrealschule (2010/11), die den Erwerb des Haupt- oder Realschulabschlusses bei durchgängigem Bildungsplan ermöglicht, wurde ein Jahr später die vormals verbindliche Übergangsregelung von der Grundschule in die Sekundarstufe abgeschafft und durch eine unverbindliche Bildungsempfehlung mit freier elterlicher Schulwahl ersetzt. Die Gemeinschaftsschulen, die Kinder aller Bildungsempfehlungen aufnehmen, wurden zum Schul-

128

Thomas Wiedenhorn und Oliver Semmelroch

jahr 2012/13 implementiert und unterrichten Schüler*innen binnen- und zieldifferenziert auf Basis ihrer individuellen Lernleistungen auf drei angebotenen Niveaustufen. Die Neukonzeption der Realschulen ermöglicht ebenfalls seit dem Schuljahr 2016/17, sowohl den Hauptschul- als auch den Realschulabschluss zu erwerben wobei die Schüler*innen nach den Klassenstufen 5/6 (Orientierungsstufe) binnendifferenziert oder nach leistungsbezogenen Merkmalen getrennt voneinander auf einem grundlegenden und einem mittleren Niveau lernen. Zudem bieten 44 Gymnasien im Land im Rahmen eines Schulprojekts an, das Abitur nach neun anstatt nach acht Schuljahren zu erwerben. Es besteht die naheliegende Vermutung, dass die Reformprozesse des Bildungssystems die Komplexität der Entscheidungsfindung nicht nur seitens der freien elterlichen Bildungsentscheidungen, sondern auch im Sinne der Anforderungen schulischer Beratungsleistungen seitens der Grundschullehrkräfte erhöhen. 2.2

Fragestellungen

Die in der Grundproblematik beschriebenen Befunde zu primären und sekundären Herkunftseffekten auf die Genese von Bildungsungleichheiten beim Übergang in die weiterführenden Schulen konnten bislang vor allem quantitative Studien nachweisen (u. a. Neugebauer 2010). Diese Forschungsbefunde greifen die Dissertationen der beiden Autoren im Rahmen der akteursspezifischen Bildungsentscheidungen unter veränderten systemischen Bedingungen in den folgenden Fragestellungen auf: 1. 2. 3.

Wie formieren sich elterliche Bildungsentscheidungen vor und nach der Reformierung des Bildungssystems von Baden-Württemberg? Wie begründen Eltern ihre Schulwahl, u. a. bei alternativen und formal gleichrangig erscheinenden Bildungskonzepten? Welche Argumente liegen den elterlichen Schulartentscheidungen zugrunde und welche Typen lassen sich ausmachen?

Der Beitrag soll auf Basis der beiden Dissertationsprojekte erste Anhaltspunkte zur Beantwortung und Diskussion darlegen. 2.2.1 Wiedenhorn-Studie Die vorgestellte Studie wurde ab 2006/07 über zwei Schuljahre erhoben und 2011 veröffentlicht (Wiedenhorn 2011). Das Forschungsdesign ist längsschnittlich angelegt, wurde an baden-württembergischen Primar- und Sekundarstufen durchgeführt und aus der Perspektive von Schülern, Eltern und Lehrkräften analysiert. Zu Beginn erfolgte die Ziehung einer Quotenstichprobe in den Schulamtsbezirken Stuttgart und Ravensburg. Im ersten Untersuchungsabschnitt wurden an 18 Grundschulen Fragebögen an Schüler, Eltern und Lehrer ausgegeben, um deren Einschätzung zur Bildungsentscheidung zu erheben. Im zweiten Abschnitt wurde

Formierung elterlicher Bildungsentscheidungen vor und nach der Reform des Bildungssystems

129

per Zufallsstichprobe eine Auswahl von neun Familien getroffen. Mit einer leitfadengestützten Befragung wurde vor Erhalt der Bildungsempfehlung deren Einschätzungen zum Schulartwahlprozess erfragt. Die Datenanalyse fand nach individuellen, familiären, schulischen oder sozialen Gesichtspunkten auf der Grundlage der strukturierenden Inhaltsanalyse nach Mayring (2015) statt. Nach Ableitung eines induktiv-deduktiv angelegten Kategoriensystems wurden die Beteiligtenaussagen auf die familiale Entscheidungsfindung und die Lehrereinschätzung rückbezogen. 2.2.2 Semmelroch-Studie Auch die zweite Studie basiert auf einem Dissertationsprojekt, das ab Oktober 2016 über zwei Befragungswellen bei Eltern von Schüler*innen der 5. Klassenstufe von allen Schultypen im Schulamtsbezirk Marktdorf/Ravensburg nach vollzogenem Übergang in die Sekundarstufe I erhoben wurde. Das Studiendesign ist primär qualitativ angelegt und soll mittels leitfadengestützter Interviews aus der subjektiven Sicht der Eltern und Erziehungsberechtigten deren entscheidungsrelevanten Gründe im Prozess der Schulwahl im neu-reformierten Bildungssystem von Baden-Württemberg erfassen. Insbesondere die veränderten Rahmenbedingungen der freien Schulwahl bei gleichzeitiger Implementierung neuer bzw. Modifikation bestehender Schulformen stehen dabei im Zentrum des Forschungsinteresses. Unter Berücksichtigung der soziodemografischen Daten wurden die Eltern zur Formation ihrer Bildungsentscheidung unter Berücksichtigung individueller, familiärer, struktureller und sozialer Gesichtspunkte befragt. Die Interviews erfolgten zu zwei Erhebungszeiträumen, jeweils zwischen Februar und April 2017 bzw. 2018. Die Auswertung der Interviews wird inhaltsanalytisch (Kuckartz 2016) nach einem induktiv-deduktiv angelegten Kategoriensystem durchgeführt. Die Auswertung der Interviews ist zum Erscheinungszeitpunkt des Artikels noch nicht abgeschlossen.

3 Ausblick Die beiden vorgestellten Arbeiten ermöglichen eine Gegenüberstellung elterlicher Bildungsaspirationen unter veränderten systemischen Bedingungen. Aufbauend auf den Erkenntnissen der Wiedenhorn-Studie lassen sich folgende Erkenntnisfelder bestimmen (Wiedenhorn 2011): Die Sichtweise der individuellen Wahlmöglichkeit im Hinblick auf den realisierten Schul(art)übergang zeigte vor den Reformen auf Seiten der Akteure eine kritische Grundhaltung. Familien mit einem Wechsel in die Hauptschule sahen sich nicht am Schulübergang beteiligt. Aus den qualitativen Daten ließen sich vier

130

Thomas Wiedenhorn und Oliver Semmelroch

eltern- und schülerspezifische Übergangstypen ableiten (Wiedenhorn 2011: 299), die auf dem eingeschränkten Entscheidungsfindungsprozess basieren. Die Grundschullehrkräfte sehen die Mütter als Hauptentscheidungsträger (67,2 %), zudem fehlt es den Eltern nach der schulischen Beratung oft an einschlägigen Informationen zur Passung von Kind und Schultypus. Grundschullehrkräfte bezogen in unsicheren Übergangssituationen die potentiellen häuslichen Unterstützungssysteme in ihre Entscheidungsfindung mit ein. Der Schwerpunkt der Semmelroch-Studie fokussiert auf die durch die Reformprozesse durchgesetzten systemischen Änderungen des Bildungssystems und dementsprechend auf den Einfluss der freien Schul(art)wahl, sowie der neu-implementierten wie modifizierten Schulformen in Baden-Württemberg auf die elterlichen Entscheidungsprozesse. Vorläufige Erkenntnisse der noch nicht vollständig abgeschlossenen Auswertung deuten mitunter auf ein Zusammenspiel zwischen der gestiegenen systemischen Komplexität, Unsicherheiten hinsichtlich der eigenen freien bzw. zur freien Schulwahl anderer Kinder sowie dem Wunsch nach klareren, traditionellen und bekannten Strukturen. So argumentiert die überwiegende Mehrzahl der interviewten Eltern für eine verbindliche, empfehlungsgebundene Übergangsentscheidung durch die Grundschullehrkräfte für sich selbst oder auch andere Kinder in unsicheren Entscheidungslagen.

Literatur Boudon, R. (1974): Education, opportunity, and social inequality: Changing prospects in Western society. New York: Wiley. Dietze, T. (2011): Zum Übergang auf weiterführende Schulen. Frankfurt a. M.: Gesellschaft zur Förderung Pädagogischer Forschung. Dumont, H.; Maaz, K.; Neumann, M. & Becker, M. (2014): Soziale Ungleichheiten beim Übergang von der Grundschule in die Sekundarstufe I. ZfE Jg. 17, H. 24, 141–165. Kuckartz, U. (2016). Qualitative Inhaltsanalyse. Methoden, Praxis, Computerunterstützung. Weinheim: Juventa. Maaz, K.; Baumert, J.; Gresch, C. & McElvany, N. (Hrsg.) (2010): Der Übergang von der Grundschule in die weiterführende Schule. Leistungsgerechtigkeit und regionale, soziale und ethnisch-kulturelle Disparitäten. Bonn u. a.: Bundesministerium für Bildung und Forschung, Referat Bildungsforschung. Mayring, P. (2015): Qualitative Inhaltsanalyse: Grundlagen und Techniken. Weinheim: Beltz. Neugebauer, M. (2010). Bildungsungleichheit und Grundschulempfehlung beim Übergang auf das Gymnasium. In: ZfS 39 (2010) 3, 202–214. Semmelroch, O. (in Vorb.): Zur Formation elterlicher Bildungsentscheidungen im neureformierten Bildungssystem von Baden-Württemberg. Wiedenhorn, T. (2011): Die Bildungsentscheidung aus Schüler-, Eltern- und Lehrersicht. Wiesbaden: VS Verlag.

5 Umgang mit Diversität in der Grundschule

Die Illusion der Kompensation? Didaktische Differenzierung als (Re-)Produktionsmechanismus von Bildungsungleichheit im Grundschulunterricht Torsten Eckermann und Michael Meier 1

Keywords: Innere Differenzierung, Didaktik, Bildungsungleichheit, Grundschule

Abstract Der Beitrag thematisiert die Frage, inwieweit sich mit der Umsetzung von binnendifferenzierenden Maßnahmen ein Kompensationsgedanke verbindet, der nicht nur an den ungleichen Lernvoraussetzungen anknüpft, sondern auch auf den Abbau von Bildungsungleichheit in der Grundschule abzielt. Anhand der Analyse differenzierten Unterrichtsmaterials wird exemplarisch aufgezeigt, dass Differenzierung ohne eine Kompensation betrieben wird, die zwar für eine relative Gleichheit innerhalb der zu einer Gruppe sortierten Schüler*innen sorgt, nicht aber eine Leistungsspreizung zwischen den Gruppen reduzieren kann. Vor diesem Hintergrund wird die These entfaltet, dass die Gefahr besteht, mittels didaktischer Differenzierung einen Beitrag zur (Re-)Produktion sozialer Ungleichheit zu leisten.

1

Einleitung

Binnendifferenzierte Unterrichtsarrangements werden aktuell als wirkungsvolle didaktische Maßnahme im Umgang mit heterogenen Lerngruppen betrachtet, da sich mit ihnen, so der Anspruch, an die ungleichen Lernvoraussetzungen anknüpfen und eine bessere Passung zwischen den Schüler*innen und dem zu vermittelnden Unterrichtsgegenstand erzielen ließe (kritisch: Trautmann & Wischer 1

Torsten Eckermann | Europa-Universität Flensburg | [email protected] Michael Meier | Universität Siegen | [email protected]

© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 N. Skorsetz et al. (Hrsg.), Diversität und soziale Ungleichheit, Jahrbuch Grundschulforschung 24, https://doi.org/10.1007/978-3-658-27529-7_20

Die Illusion der Kompensation? Didaktische Differenzierung als (Re-)Produktionsmechanismus 133

2009). Die im Unterricht eingesetzten didaktischen Materialien (z. B. Deutsch: „Tinto“; „Niko“) weisen vor diesem Hintergrund häufig eine dreistufige Niveaudifferenzierung auf. Bislang ist jedoch weitgehend unklar, inwieweit mit diesen differenzierten Unterrichtsmaterialien eine Kompensation betrieben wird, deren Ziel es nicht nur ist, an die Lernvoraussetzungen der Schüler*innen anzuknüpfen und zur Steigerung des Leistungsniveaus einzelner Schüler*innen, sondern gleichzeitig auch zur Verringerung von Leistungsunterschieden beizutragen. Um dieser Frage näher nachgehen zu können, soll zunächst das Konzept der „Inneren Differenzierung“ theoretisch beleuchtet werden, ehe dann anhand zweier empirischer Fallbeispiele die dem Material immanente Differenzierungslogik rekonstruktiv erschlossen wird.

2 Kompensation durch Innere Differenzierung – Zwischen Egalisierungsversprechen und selektiver Wirkung Im Zuge der Gesamtschul- und Bildungsreformdebatte in den 1970er Jahren erlangte das Konzept der Inneren Differenzierung einen prominenten Stellenwert und konnte sich zu einem zentralen pädagogischen Schlagwort entwickeln, das dabei zunehmend auch den negativ konnotierten Begriff der kompensatorischen Erziehung ablöste (Trautmann & Wischer 2009: 161; Steinig, Betzel, Geider & Herbold 2009: 395). Innere Differenzierung wurde dabei zudem als „Gegenkonzept zu Formen von äußerer Differenzierung in Anschlag gebracht und hier als die bessere Alternative gehandelt, um heterogenen Ausgangslagen von Schüler*innen in einer Lerngruppe gerecht zu werden“ (Wischer & Trautmann 2012: 24). Die Notwendigkeit zur Inneren Differenzierung wurde dabei insbesondere mit Blick auf die Grundschule als relevant betrachtet, da die Schüler*innen noch nicht in gleicher Art und Weise wie bei anderen Schulformen selektiert würden (Klafki & Stöcker 1976: 499). Aber auch jenseits der Grundschule würde mit dem Konzept der Inneren Differenzierung eine „(Teil-)Antwort für eine allgemeine Problematik zu geben versucht“ (ebd.: 498). Die Forderung nach Innerer Differenzierung zielt dabei vor allem darauf ab, „optimale Lernmöglichkeiten für alle Kinder, und das heißt: für jedes Kind“ (ebd.) zu schaffen, was mit dem Ziel der „Schaffung von Chancengleichheit“ (ebd.) bzw. dem „Abbau von Chancenungleichheit“ (ebd.) verbunden wird. Für die Erreichung dieser Ziele kämen Klafki und Stöcker zufolge zwei unterschiedliche Formen der Differenzierung in Frage: Eine Differenzierung nach Methoden und Medien und eine Differenzierung nach Lernzielen und -inhalten, Klafki und Stöcker nehmen jedoch eine Priorisierung vor: „So wichtig und erstrebenswert die erste Differenzierungsform ist und so gewiss es optimal wäre, wenn wir allein mit ihr auskämen, also generell gleiche Zielsetzungen und gleiche Inhaltlichkeit

134

Torsten Eckermann und Michael Meier

für alle Schüler einer Schulstufe oder Klassenstufe verfolgen könnten und das Erreichen solcher Ziele nur eine Differenzierung von Methoden und Medien erforderte, so unrealistisch dürfte es sein, von der Voraussetzung der vollen Erreichbarkeit dieses hochgesteckten Ziels auszugehen. In einem gewissen Maß wird nach wie vor auch eine Differenzierung auf der Ebene von Lernzielen und -inhalten für die gleichen Altersstufen unvermeidlich sein“ (ebd.: 504).

Wie dem Zitat zu entnehmen ist, verabschieden sich Klafki und Stöcker von dem mit der comenianischen Trias („Allen, alles, allseitig“) verbundenen Anspruch, allen alles zu lehren, da ihnen zufolge die gleichen Lernziele und -inhalte nicht für alle Schüler*innen verbindlich gemacht werden könnten (auch Eckermann & Kabel i .d .B.). Etwaige kritische Einwände, die an einem solchen ziel- und inhaltsdifferenten Unterricht formuliert werden könnten, werden mit einem affirmativen Bezug auf eine (auch zu problematisierende)2 pädagogische Praxis abgewehrt: So sei davon auszugehen, dass auch in einem nicht differenzierten, ‚regulären‘ Unterricht faktisch ständig nach Zielen und Inhalten differenziert werde, weil nicht alle Schüler*innen die gleichen Ziele oder Inhalte erreichten, was sich auch in den Noten widerspiegele (vgl. Klafki & Stöcker 1976). Gleichwohl diese Aussage mit Blick auf die Zielerreichung der Unterrichtspraxis eine gewisse Plausibilität aufweisen mag, stellt sich jedoch die Frage, inwieweit das Auseinanderklaffen zwischen den Schüler*innen bei der Erreichung von Zielen und der Vermittlung von Inhalten einer didaktischen Bekräftigung bedarf, die diesen Umstand möglicherweise noch forciert. Das von Klafki und Stöcker entwickelte Differenzierungsmodell sieht sodann eine zweifache Aufgliederung vor: So bedürfe es eines Fundamentums (für alle Schüler*innen verbindliche Basis) und eines Additums (zusätzliche Ziele und Inhalte), was von ihnen auch exemplarisch veranschaulicht wird: „Beim Thema „Bruchrechnen“ im Mathematikunterricht könnten die Operationen bis zum Teilen von Brüchen durch ganze Zahlen für eine bestimmte Klassenstufe zum generell verbindlichen Fundamentum zählen, das Teilen von Brüchen durch Brüche aber als Additum betrachtet werden“ (ebd.: 505). Gleichwohl Klafki und Stöcker selbst das Risiko identifizieren, dass ihr Differenzierungsmodell „die Gefahr neuer Verfestigungen in sich“ (ebd.: 505) trage und „zur Einschränkung von Bildungsmöglichkeiten für bestimmte Gruppen von Kindern und Jugendlichen“ (ebd.: 504) führen könne, so überwiegt doch der pädagogische Optimismus, dass mit Hilfe der inneren Differenzierung die Schaffung von Chancengleichheit und der Abbau von Chancenungleichheit unter den Schüler*innen möglich sei. Mit Bezug auf Trautmann und Wischer ließe sich das Differenzierungsmodell nach Klafki und Stöcker kritisch dahingehend befragen, inwieweit hier die innere Differenzierung tatsächlich noch „vorrangig der Kompensation von Defiziten (‚Chancenausgleich‘) dienen soll oder ob im Sinne einer 2

So ließe sich ein solcher ziel- und inhaltsdifferenter Unterricht vor dem Hintergrund des Allgemeinbildungsauftrags der Grundschule als durchaus konfliktträchtig qualifizieren.

Die Illusion der Kompensation? Didaktische Differenzierung als (Re-)Produktionsmechanismus 135

optimalen Förderung jedes Einzelnen auch eine Auseinanderentwicklung der Schüler in Kauf genommen oder gar angestrebt werden soll“ (ebd. 2009: 164). Die Kompensation setzt bei Klafki und Stöcker an den ungleichen Lernvoraussetzungen der Schüler*innen an, die Vermittlung gleicher Inhalte und die Erreichung gleicher Lernziele bleibt jedoch aus. Damit distanzieren sie sich zwar vom Vorwurf der „Gleichmacherei“, leisten zugleich jedoch einem Leistungsindividualismus (Bourdieu 2001: 148) Vorschub, nach dem „Erfolg und Misserfolg scheinbar in den Differenzen des individuellen Leistungsvermögens begründet“ (Liebau 2011: 18) liegt und damit den Schüler*innen individuell (und nicht der Schule) zuzurechnen ist. Dass der (Miss-)Erfolg der Schüler*innen auch und gerade durch die Differenzierung nach schulinternen Maßstäben vorgenommen werden kann, bleibt ausgeklammert. Auch Wischer und Trautmann weisen auf dieses Problem hin: „Wer immer wieder Arbeitsblätter auf niedrigerem – da ja differenziert angepasstem – Niveau erhält […] wer mit weniger anspruchsvollen Aufgaben, mit mehr Zeit und verringerten Zielen bearbeitet, bleibt womöglich gerade durch die guten pädagogischen Intentionen in seinem Niveau be- und gefangen“ (ebd. 2012: 34). Resümierend lässt sich festhalten, dass im Unterschied zu den kompensatorischen Programmen (z. B. Head Start) wie sie in den 1960er Jahren im US-amerikanischen Raum aufgelegt wurden und auch in Deutschland zu einer „kompensatorischen Förderwelle“ (Schmidt & Smidt 2014: 135) beitrugen, Klafki und Stöcker hingegen mit ihrem Konzept der Inneren Differenzierung nicht mehr nur sozial benachteiligte Kinder adressieren, sondern das Ziel einer bestmöglichen Förderung anivisieren, was zum Abbau von Chancenungleichheit beitragen soll. Daher formulieren sie mit ihrem Differenzierungsmodell ein Egalisierungsversprechen, was insofern jedoch schwer aufrechtzuerhalten sein dürfte, wenn man berücksichtigt, dass der inneren Differenzierung stets auch eine selektive Wirkung innewohnen kann, womit aus den nach Leistung gruppierten und deshalb ungleich behandelten Schüler*innen die ‚Guten‘, die ‚Schnellen‘, die ‚Langsamen‘ und die ‚Faulen‘ werden können (Rabenstein & Reh 2013). Die auch in Abgrenzung zur äußeren Differenzierung anvisierte Selektionsvermeidung, die auch mit dem Konzept der inneren Differenzierung intendiert sein mag, lässt sich somit nicht notwendigerweise in der Unterrichtspraxis auch realisieren, nicht zuletzt auch deshalb, da der Differenzierung der Schüler*innen (nach Leistung) häufig auch eine Selektion (nach Noten) zugrunde liegt. So lässt sich mit Schlömerkemper konstatieren, dass die „gesellschaftliche Selektionsnotwendigkeit nicht aufgehoben wird, wenn sich die Schule weigert, diese Aufgabe zu erfüllen“ (ebd. 1981: 193).

136

Torsten Eckermann und Michael Meier

3 Empirische Fallbeispiele 3.1

Aufgabe ohne Differenzierung mit ‚differenzierender‘ Wirkung

Bevor die Analyse eines differenzierten Unterrichtsmaterials aus dem Deutschunterricht der Grundschule präsentiert werden soll, nehmen wir zunächst Bezug auf die Studie von Cooper und Dunne (2000), die auf der Grundlage der Theorie Basil Bernsteins Analysen von realitätsbezogenen Aufgaben durchführten. Gegenstand dieser Studie waren dabei die schicht- und geschlechtsspezifischen Unterschiede in den mathematischen Kenntnissen und Fertigkeiten (Sertl 2018). Für die Ermittlung der sozialschichtspezifischen Unterschiede legten Cooper und Dunne ein Drei-Schichten-Modell zugrunde, welches aus der „Service Class“, „Intermediate Class“ und „Working Class“ bestand (ebd.). Die statistischen Daten wurden mit den Analysen zur Bearbeitung der realitätsbezogenen Aufgaben in ein Verhältnis gesetzt. Eine dieser Aufgabe wird hier exemplarisch in den Blick genommen, da sich an dieser zeigen lässt, wie auch bei einer Aufgabe, die nicht didaktisch differenziert ist, dennoch eine differenzierende Wirkung entfaltet wird.

Abb. 1: Aufgabe „Tennis-Turnier“ (nach Cooper 1998: 522)

Die Illusion der Kompensation? Didaktische Differenzierung als (Re-)Produktionsmechanismus 137

Mit der hier dargestellten Aufgabe werden die Schüler*innen dazu aufgefordert, sich in die Situation zu versetzen, ein „Tennis-Turnier“ zu organisieren. Für die Zusammensetzung der im Wettbewerb gegeneinander spielenden Tennis-Paare stehen insgesamt sechs Personen zur Verfügung, die namentlich auf Kärtchen erwähnt werden und sich getrennt nach Geschlecht in zwei abgebildeten (Los-)Säcken befinden. Der Aufgabentext verweist dabei darauf, dass es sich bei der Bildung der Paare um ein „Mixed“ handeln soll, sodass jeweils ein Spieler (männlich) mit einer Spielerin (weiblich) zu einem Paar zusammenfinden. Um dies zu veranschaulichen, liefert der Aufgabentext ein Beispiel („Rob und Katy“). Die weiteren Lösungen sollen die Schüler*innen schriftlich notieren. Anhand der Bearbeitung der Aufgabe zeigt sich, dass die Schüler*innen zu unterschiedlichen Lösungen gelangen: Diane, die von Cooper und Dunne (2000) mit einem „professional middle-class-background“ klassifiziert wird, löst die Aufgabe den Aufgabenkonstrukteuren entsprechend (9 Paare), indem sie die Aufgabe als mathematische Aufgabe interpretiert, die qua Kombinatorik bzw. der Bildung des kartesischen Produkts zu lösen ist (Sertl 2018). Im Unterschied hierzu interpretiert Mike, der mit einem „working-class-background“ klassifiziert wird, die Aufgabe als eine realistische Aufgabe und kommt vor diesem Hintergrund zu einem anderen Resultat (3 Paare). Nach dieser lebensweltlichen Logik steht ein einmal gebildetes Paar nicht für weitere Auswahlmöglichkeiten zur Verfügung, da nur mit einem Partner das Tennis-Turnier bestritten wird und ein Wechsel nicht vorgesehen ist (schon deshalb nicht, da es ansonsten dazu kommen könnte, dass man gleichzeitig mit unterschiedlichen Partnern antreten müsste). Mike fällt somit auf die „realistische Illusion“ (ebd.: 39) der Aufgabe herein und führt nicht die erwarteten mathematischen Operationen durch, wobei ein Hinweis auf die intendierte kombinatorische Lösung durch die Aufgabenformulierung auch nicht expliziert wird. Sowohl die graphische Darstellung (Säcke) als auch die sprachliche Gestaltung des Aufgabentextes rekurrieren nicht eindeutig auf einen mathematischen Kontext (z. B. durch: „Bilde das kartesische Produkt“). Vor diesem Hintergrund lässt sich festhalten, dass die hier analysierte Aufgabe zwar nicht didaktisch intendiert eine Differenzierung beinhaltet, sie aber dennoch potentiell eine differenzierende und ungleichheitsstiftende Wirkung entfaltet. Nun ließe sich einwenden, dass die hier ausgewählte Aufgabe einfach ein gutes Beispiel für eine schlechte Aufgabe ist, wenn sie diese differenzierende Wirkung entfaltet und Schüler*innen entlang ihrer Sozialschichtzugehörigkeit benachteiligt. Um diese zu vermeiden, wäre es denkbar, eine gezielte Kompensation vorzunehmen, was dann beinhalten könnte, explizit auf den mathematischen Kontext abzuheben (Sertl 2014: 293). Damit würde man jedoch Gefahr laufen, den Schwierigkeitsgrad der Aufgabe abzusenken, da dieser den Aufgabenkonstrukteuren zufolge gerade darin besteht, die Aufgabe aus ihrem lebensweltlichen Kontext zu entkleiden und in eine mathematische Operation zu überführen (ebd.).

138

Torsten Eckermann und Michael Meier

Statt den Bruch zwischen Lebenswelt und Mathematik in der Aufgabe aufzuheben, könnte nach Sertl eine weitere kompensatorische Maßnahme darin bestehen, den Schüler „ganz behutsam, darauf aufmerksam [zu machen, d. A.], dass es noch weitere Möglichkeiten gibt, den Satz Finde alle möglichen Paare, die mit den Buben und Mädchen gebildet werden können zu interpretieren […] und durch gezielte Hinweise, die Kriterien stärker zu rahmen“ (ebd.). 3.2

Aufgaben mit Differenzierung und ‚differenzierender‘ Wirkung

Im Unterschied zur oben analysierten Aufgabe, die keine didaktisch intendierte Differenzierung aufweist, zielt die nachfolgende rekonstruktive ante-actu-Analyse auf differenziertes Unterrichtsmaterial ab. Wir beziehen uns dabei auf das Lehrwerk „ABC der Tiere“ (Handt, Kuhn & Mrowka-Nienstedt o.J.) bzw. auf die zu diesem Lehrwerk entwickelten „Arbeitsblätter zur Differenzierung“ (Handt & Kuhn 2004). Das Lehrwerk orientiert sich an einem silbenanalytischen Ansatz: Sprech-Silben werden in den Texten unterschiedlich farblich (blau/rot) markiert. Im nachfolgenden Fallbeispiel erhalten die Schüler*innen aller Differenzierungsstufen (A: leicht; B: mittel; C: schwer) einen gemeinsamen Ausgangstext:

Abb. 2:

Ausgangstext in allen drei Niveaustufen

Aus bereits vorliegenden rekonstruktiven Analysen geht hervor, dass der Text zwischen einem Sachtext und einer Erzählung changiert, womit er nicht als exemplarischer Repräsentant für eine dieser Textsorten fungieren kann und nur schwer bestimmbar ist, was mit dem Text vermittelt werden soll (ausf. Eckermann & Kabel i. d. B.). Denkbar wäre, dass mit Hilfe des Textes vertiefte Einsichten in

Die Illusion der Kompensation? Didaktische Differenzierung als (Re-)Produktionsmechanismus 139

die Silbenstruktur gewonnen werden sollen, allerdings bezieht sich keine der im Anschluss an den Text folgenden Aufgaben auf die Silben im Text, womit dies nicht der Vermittlungsanspruch sein kann. Mit Blick auf die Differenzierung der Arbeitsblätter lässt sich feststellen, dass diese bei oberflächlicher Betrachtung in Quantität und Qualität zu variieren scheinen: „So geht es um die Identifikation und Verschriftlichung der im Text erwähnten Zootiere (A), um vermeintlich inhaltliche Fragen nach Details des Textes (B) und Interpretationsleistungen einfordernde Fragen zum Text sowie das Verfassen einer eigenen Geschichte zum Textthema (C).“ (Eckermann & Kabel i.d.B.) „Eine genauere Analyse offenbart jedoch, dass der Mehrheit der Aufgaben in allen drei Niveaustufen eine Informationsentnahmelogik zugrunde liegt (...)“ (ebd.), was nicht auf ein sinnentnehmendes Lesen und damit auf das Verstehen des Textes abzielt. Die dem Material immanente Differenzierungslogik lässt sich somit „nicht sachlogisch mit der Komplexität des zu vermittelnden Gegenstands begründen und ist auch nicht an dieser orientiert, sondern zeugt gerade umgekehrt vom Bemühen, eine Textinformationsentnahmekompetenz künstlich in drei Niveaustufen zu unterteilen“ (ebd.). Im Folgenden sollen nun die auf den drei Arbeitsblättern aufgeführte letzte Aufgabe analysiert werden, da sich an dieser die Niveaudifferenzierung und die potentiell auch ungleichheitsstiftende Wirkung der Aufgaben aufzeigen lassen: Aufgabe Arbeitsblatt A (leicht): Die letzte Aufgabe auf dem Arbeitsblatt A lautet: „Male dein Lieblingstier.“ Darunter befindet sich ein Rahmen von 5,5*16,5 cm, in den das Bild eingefügt werden soll, womit hier das Malen (im Unterschied zu B) eingeschränkt wird. Aufgabe Arbeitsblatt B (mittel): Die entsprechende Aufgabe des Arbeitsblattes B lautet: „Male dein Lieblingstier auf die Rückseite.“

Zunächst sticht als besonderes Kennzeichen der Aufgabeninstruktion hervor, dass sich alle drei Aufgaben von den restlichen Aufgaben des Arbeitsblattes dahingehend unterscheiden, dass die mit der Aufgabe formulierten Tätigkeiten (malen, Geschichte schreiben) bislang auf dem Arbeitsblatt nicht eingefordert wurden. Mit dem Malen (A und B) wird dabei eine Tätigkeit eingefordert, die keine originäre Tätigkeit des Deutschunterrichts darstellt, allerdings im Unterricht häufig nach getaner Arbeit als eine Art Belohnung eingesetzt wird. Das Malen unterliegt – anders als im Kunstunterricht – bei einer Aufgabe im Deutschunterricht nicht in gleicher Art und Weise der schulischen Bewertungslogik wie etwa das Verfassen

140

Torsten Eckermann und Michael Meier

einer Geschichte. Damit stehen die Aufgaben (A und B) in einem starken Kontrast zum Arbeitsblatt C, bei dem die Schüler*innen dazu aufgefordert werden, eine Geschichte zu verfassen. Letzteren wird somit attestiert, dass sie – obwohl sie bereits quantitativ einen größeren Umfang an ‚regulären‘ Aufgaben bearbeiten mussten (fünf Aufgaben statt vier (B) und zwei Aufgaben (A)), noch am Ende des Arbeitsblattes in der Lage dazu sind, einen längeren Text zu produzieren. Weiterhin fällt auf, dass die Aufgabe bei allen drei Arbeitsblättern die Kinder persönlich adressiert („dein“, „du“): Die Aufgabenstellung (A und B) hebt dabei auf persönliche Präferenzen der Schüler*innen ab („Lieblingstier“) und operiert in einem Modus der Vertrautheit, da das Malen als Handlung im schulischen wie außerschulischen Kontext routiniert getätigt wird. Demgegenüber wird in der Aufgabenstellung des Arbeitsblattes C den Schüler*innen zwar auch eine persönliche Frage gestellt („Bist du schon im Zoo gewesen?“), die Frage impliziert dabei jedoch, dass die Möglichkeit dort bereits gewesen zu sein, als denkbare Möglichkeit (im Unterschied zu A und B) angenommen wird – andernfalls würde eine solche Frage nur wenig Sinn ergeben. Die Schüler*innen, die das Arbeitsblatt C bearbeiten, werden somit als jemand adressiert, der potentiell über andere außerschulische Erfahrungen (als A und B) verfügt, die dann auch für die Aufgabenbearbeitung (Geschichte schreiben) schulisch relevant gemacht werden. Damit können die Schüler*innen des Arbeitsblattes C nicht nur ihre außerschulischen Erfahrungen einbringen, sondern durch das Schreiben der Geschichte ihre sprachlichen Fähigkeiten auch noch weiter ausbauen, was für A und B nicht in gleicher Weise gilt. Durch die Aufgabenstellung erhalten die Schüler*innen die Möglichkeit, sich im Schreiben (einer Geschichte) zu üben, welche potentiell von der Lehrperson gelesen und etwa hinsichtlich Aufbau, Rechtschreibung und Grammatik korrigiert werden kann. Die Aufgabenstellung bietet somit den Schüler*innen ein auf den Deutschunterricht bezogenes Lernpotential, das den anderen Schüler*innen durch ihre Aufgabenstellungen dergestalt nicht eröffnet wird.

4 Schluss Die Ergebnisse der Analysen zeigen, dass sowohl Aufgaben ohne eine didaktisch intendierte Differenzierung als auch Aufgaben mit Differenzierung eine differenzierende und auch potenziell ungleichheitsstiftende Wirkung erzielen können. Mit Blick auf das hier analysierte differenzierte Unterrichtsmaterial wird zudem deutlich, dass dieses zwar eine Differenzierung (nach Umfang und Qualität) der Aufgaben beinhaltet, allerdings ein Kompensationsanspruch, der nicht nur an den Lernvoraussetzungen anknüpft und die optimale Förderung des Einzelnen anvisiert, sondern eine Nivellierung sozial bedingter Unterschiede bzw. auf den Abbau sozialer Ungleichheit abzielt, nicht zu identifizieren ist.

Die Illusion der Kompensation? Didaktische Differenzierung als (Re-)Produktionsmechanismus 141

Vor diesem Hintergrund wäre auch das Egalisierungsversprechen, welches im Differenzierungsmodell nach Klafki und Stöcker (vgl. Kap. 2) formuliert wird, zu relativieren. Dies jedoch nicht nur vor dem Hintergrund, dass mit dem hier analysierten didaktischen Material nicht alle Schüler*innen die Chance haben, zu annähernd gleichen Resultaten zu kommen (Chancenausgleich), sondern auch ungewollt die (Re-)Produktion von Bildungsungleichheiten verstärkt wird, indem bei den als leistungsstärker entworfenen Schüler*innen (C) an die außerschulischen Erfahrungen angeknüpft und darauf aufbauend ihre sprachlichen Fähigkeiten potenziell weiter ausgebaut werden, was für die Schüler*innen des Arbeitsblattes A und B nicht in gleicher Art und Weise gilt. Aus den Analysen zum Fallbeispiel 1 („Tennis-Turnier“) als auch mit Blick auf das zweite Fallbeispiel wird ersichtlich, dass mittels dem in die Aufgabe implementierten Lebensweltbezug potenziell ungleichheitsstiftende Effekte einhergehen: Das erste Fallbeispiel liefert dabei Hinweise darauf, dass es aufgrund der lebensweltlichen Ein- bzw. Verkleidung der Aufgabe insbesondere sozial weniger privilegierten Kindern schwer(er) fällt, aus dem lebensweltlichen in den mathematischen Kontext zu wechseln. Demgegenüber gelangen sozial privilegierte Schüler*innen eher zur richtigen Lösung, da sie von dem didaktisch konstruierten Lebensweltbezug absehen und nur die für die mathematischen Rechenoperationen notwendigen Informationen aus dem Aufgabentext entnehmen. Im zweiten Fallbespiel werden die lebensweltlichen Erfahrungen der Schüler*innen didaktisch relevant gemacht, da zum einen mit dem Aufgabentext auf diese Bezug genommen wird3, zum anderen sie für die Bearbeitung der Aufgabe potentiell benötigt werden. So dürfte es den Schüler*innen, die bereit über Zoo-Erfahrungen verfügen, leichter fallen, einen längeren Text zu produzieren, wohingegen sich die anderen Schüler*innen, denen diese Erfahrung fehlt, sich vermutlich an dem Ausgangstext orientieren werden, was das Geschichte schreiben allerdings eher zu einer reproduktiven Abschreibung machen würde. Im Lichte dieser Ergebnisse ließe sich diskutieren, inwieweit die Didaktik nicht nur ihre intendierte Differenzierungsfunktion (Gruppierung von unterschiedlich leistungsstarken Schüler*innen) wahrnimmt, sondern zugleich auch die mehr (C) und die weniger ‚begabten‘ Schüler*innen (A und B) selbst hervor-

3

Nun könnte man jedoch einwenden, dass die Schüler*innen wie auch im Fallbeispiel 1 beschrieben von diesem Lebensweltbezug einfach absehen, um die schulische Aufgabe jenseits der lebensweltlichen Erfahrungen zu lösen, was hier jedoch kontraproduktiv erscheint, da man sich um die Vorteile für die Produktion einer längeren Geschichte bringen würde.

142

Torsten Eckermann und Michael Meier

bringt und dabei eine „soziale Begabtenauslese“4 betreibt, indem den Schüler*innen jeweils spezifische Niveaustufe zugewiesen und möglicherweise damit auch fixiert werden. Die Gefahr besteht somit darin, dass mit Hilfe von Differenzierungsmaßnahmen, die ohne Kompensation auskommen, das Leistungsspektrum der Schüler*innen noch weiter auseinandergezogen wird (Walgenbach 2017: 46). Die Didaktik wird in diesem Sinne mit Effekten konfrontiert (Vergrößerung der ‚Leistungsschere‘), die sie selbst durch ihre Differenzierung erzeugt und auf diese wiederum auch durch Differenzierung reagieren kann, was als eine zirkuläre Differenzierung bezeichnet werden könnte. Um dies genauer in den Blick zu bekommen, bedarf es jedoch noch weiterer empirischen Untersuchungen. So könnten beispielsweise actu-Analysen, die das konkrete Schüler*innenhandeln mit den didaktischen Unterrichtsmaterialien in den Blick nehmen, aussichtsreich sein, um zu überprüfen, inwieweit die durch die Arbeitsblätter unterstellten Lernvoraussetzungen mit den tatsächlichen Schüler*innenleistungen übereinstimmen. Dabei wäre die didaktische Eigenlogik auch in ihrer gesellschaftlichen Verwobenheit zu betrachten: So formuliert auch Klafki, dass alle didaktischen Entscheidungen, „die Gestaltung von Curricula, der Unterrichtsstil von Lehrern, der Inhalt und die Form von Schulbüchern, und aller übrigen didaktischen Materialien (...) unausweichlich von gesellschaftlichen Verhältnissen und Vorstellungen geprägt“ (Klafki 1991: 110) sind. Da es „keine pädagogische bzw. didaktische Provinz außerhalb der Gesellschaft“ (ebd.) gibt, ist Didaktik in der Verstricktheit mit gesellschaftlichen Bedingungen und Strukturen zu untersuchen, was sich insbesondere für die empirische Erforschung der Reproduktion sozialer Ungleichheit durch Didaktik als fruchtbar erweisen dürfte.

Literatur Bourdieu, P. (2001): Wie die Kultur zum Bauern kommt. Über Bildung, Schule und Politik. Hamburg: VSA. Cooper, B. (1998): Using Bernstein and Bourdieu to understand children’s difficulties with ”realistic” mathematics testing: an exploratory study. In: Qualitative Studies in Education, 1988, 11(4), 511–532. Cooper, B. & Dunne, M. (2000): Assessing Children’s Mathematical Knowledge. Buckingham: Open University Press. Eckermann, T. & Kabel, S. (i. d. B): Allen anderes anders – Grundlegende Bildung im Widerspruch? Manuskript in Begutachtung.

4

Wir gehen bei diesen ‚Begabungen‘ nicht von ‚natürlichen‘ Begabungen aus, sondern die mittels der Didaktik erzeugten Begabungen basieren auf der Interaktion der Lernenden mit didaktisch präparierten Materialien.

Die Illusion der Kompensation? Didaktische Differenzierung als (Re-)Produktionsmechanismus 143 Handt, R., Kuhn, K. & Mrowka-Nienstedt, K. (o. J., Hrsg.): ABC der Tiere. Lesen in Silben. Die Silbenfibel. Mildenberger. Handt, R. & Kuhn, K. (2004): ABC der Tiere. Arbeitsblätter zur Differenzierung. Mildenberger. Klafki, W. (1991): Neue Studien zur Bildungstheorie und Didaktik. Zeitgemäße Allgemeinbildung und kritisch-konstruktive Didaktik. Weinheim: Beltz Klafki, W. & Stöcker, H. (1976): Innere Differenzierung des Unterrichts. In: Zeitschrift für Pädagogik, 22(4), 497–523. Liebau, E. (2011): Was Pädagogen an Bourdieu stört. In: I. Erler; V. Laimbauer & M. Sertl (Hrsg.): Wie Bourdieu in die Schule kommt. Analysen zu Ungleichheit und Herrschaft im Bildungswesen. Schulheft 142/2011, 18. Rabenstein, K. & Reh, S. (2013): Von „Kreativen“, „Langsamen“ und „Hilfsbedürftigen“. Zur Untersuchung von Subjektpositionen im geöffneten Grundschulunterricht. In: Dietrich, F., Heinrich, M. & Thieme, N. (Hrsg.): Bildungsgerechtigkeit jenseits von Chancengleichheit. Wiesbaden: Springer, 239–257. Schmidt, T.; Smidt, W. (2014): Kompensatorische Förderung benachteiligter Kinder – Entwicklungslinien, Forschungsbefunde und heutige Bedeutung für die Frühpädagogik. In: Zeitschrift für Pädagogik, 60 (1), 132–149. Sertl, M. (2018): Das Beispiel „Tennis-Turnier“. Eine Bernstein‘sche Analyse am Beispiel einer „realistischen“ Mathematik-Aufgabe. In: Becker, T., Hawlik, R., Jilek-Bergmaier, F. & Sertl, M. (Hrsg.): Praxis des Unterrichtens – bildungstheoretische Auseinandersetzungen. Wien: Studienverlag Innsbruck. Sertl, M. (2014): Kompensatorische Erziehung. Versuch einer soziologischen Systematisierung. In: Löw, M. (Hrsg.): Vielfalt und Zusammenhalt, Verhandlungen des 36. Kongresses der Deutschen Gesellschaft für Soziologie in Bochum und Dortmund 2012, Teilband 1. Frankfurt, Campus, 285–296. Steinig, W., Betzel, D., Geider, F. J. & Herbold, A. (2009): Texte von Viertklässlern aus den Jahren 1972 und 2002. Münster: Waxmann. Trautmann, M.; Wischer, B. (2009): Das Konzept der Inneren Differenzierung – eine vergleichende Analyse der Diskussion der 1970er Jahre mit dem aktuellen Heterogenitätsdiskurs. In: Meyer, Meinert. A., Prenzel, M. & Hellekamps, S. (Hrsg.): Perspektiven der Didaktik. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften, 159–172. Walgenbach, K. (2017): Heterogenität – Intersektionalität – Diversity in der Erziehungswissenschaft. Opladen: Barbara Budrich. Wischer, B.; Trautmann, M. (2012): Innere Differenzierung als reformerische Hoffnungsträger – Eine einführende Problemskizze zu Leerstellen und ungelöste Fragen. In Bohl, T., Bönsch, M., Trautmann, M. & Wischer, B. (Hrsg.): Binnendifferenzierung. Teil 1: Didaktische Grundlagen und Forschungsergebnisse zur Binnendifferenzierung im Unterricht. Immenhausen: Prolog, 24– 40.

Enttäuschte Gleichheitserwartungen – Diagnostische Praktiken am Schulanfang im historischen Prozess Katrin Liebers1

Keywords: Schuleingangsdiagnostik, Ungleichheit, Geschichte der Grundschule

Abstract Entgegen ihrem ideengeschichtlichen Anspruch hat die Grundschule in ihrer realgeschichtlichen Entwicklung durch ihre eigene Arbeit selbst Ungleichheiten und Differenzen erzeugt. Gegenstand der vorliegenden Untersuchung sind die zur Überprüfung der Schuleignung eingesetzten Praktiken im diachronen Wandel, die die Reproduktion von Ungleichheit durch die Grundschule zeigen. Diese basiert auf einem Quellenkorpus der im historischen Prozess angewendeten diagnostischen Instrumentarien zur Identifizierung der Schuleignung, die methodisch im Sinne einer Text-Kontext-Analyse ausgewertet werden. Es zeigt sich, dass in historisch nachweislicher Dauerhaftigkeit bereits mit Schulbeginn Bildungsungleichheiten erzeugt sowie soziale und institutionelle Ausgrenzungen von Schulanfängern initiiert wurden. Damit stellen sich Fragen, wie diagnostische Praktiken am Schulanfang in einer Schule für alle Kinder gerahmt werden können und welcher weiterer Praktiken es bedarf, um Ungleichheit zu verringern.

1

Einführung

Seit ihrer Gründung soll die Grundschule eine Schule für alle Kinder in Deutschland sein und damit schulstrukturell das „Gleichheitsversprechen der Demokratie“ (Götz 2011: 27) einlösen. Indem die ständisch begründete Statuszuweisung abgeschafft und durch eine leistungsbegründete Statuszuweisung ersetzt wurde,

1

Katrin Liebers | Universität Leipzig | [email protected]

© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 N. Skorsetz et al. (Hrsg.), Diversität und soziale Ungleichheit, Jahrbuch Grundschulforschung 24, https://doi.org/10.1007/978-3-658-27529-7_21

Enttäuschte Gleichheitserwartungen – Diagnostische Praktiken am Schulanfang

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sollte der Zugang zu grundlegender und höherer Bildung ungeachtet der wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Stellung sowie des Religionsbekenntnisses der Eltern ermöglicht werden. Damit wurde der Grundschule sowohl eine demokratisch-egalitäre Integrations- als auch eine Selektionsfunktion zugewiesen (Prengel 1999). Die doppelte Aufgabenzuweisung forderte die Lehrerschaft heraus, begabungsgerechte Entscheidungen am Schulanfang und beim Übergang in weiterführende Schulen zu treffen. Flankiert wurden sie dabei von einem umfangreichen entwicklungspsychologischen Diskurs zum richtigen Zeitpunkt der Einschulung, dem sicheren Erkennen der Schulreife und der Gestaltung der Übergangsempfehlungen. Gleichzeitig waren die 1920er Jahre auch eine Blütezeit der psychologischen Testentwicklung und der Expansion der Hilfsschulen (Liebers 2015). Der Blick auf die Befunde der IGLU-Studien sowie auf diverse weitere Schulstatistiken zeigt jedoch, dass sich die Idee einer demokratischen Grundschule, die allen Kindern ungeachtet ihrer sozialen Herkunft einen chancengleichen Bildungszugang ermöglichen soll, bis in die Gegenwart hinein als eine zentrale und zu Teilen uneingelöste Herausforderung erwiesen hat (dazu Liebers im Druck). Entgegen ihrem ideengeschichtlichen Anspruch hat die Grundschule in ihrer realgeschichtlichen Entwicklung durch ihre eigene Arbeit selbst Differenzen erzeugt, wobei der Schulanfang und die dort eingesetzten diagnostischen Praktiken eine erste Gelenkstelle für die Erzeugung von gesellschaftlicher Ungleichheit markieren. Diese Mechanismen stellen bislang ein Forschungsdesiderat dar und sollen in der bildungshistorischen Studie „Diachroner Wandel der Praktiken der Einschulungsdiagnostik“ (gemeinsam mit Margarete Götz) untersucht werden. Folgende Fragen sind dafür forschungsleitend: 1) Welche diagnostischen Formate der Diagnostik am Schulanfang werden seit 1919 favorisiert? 2) Welche Legitimationsmuster begründen diese? 3) Welche disziplinäre Herkunft haben diese? 4) Welche Folgen ergeben sich aus deren Einsatz? In diesem Beitrag werden ausgewählte Befunde zu den Forschungsfragen 1 und 2 sowie erste Schlussfolgerungen dazu vorgestellt.

146

Katrin Liebers

2 Methodisches Vorgehen und Bildung des Quellenkorpus Die Gewinnung eines historisch-diskursanalytisch begründeten Quellenkorpus stellt einen ersten Arbeitsschritt dar (Landwehr 2009). Dieses Quellenkorpus beruht auf einem imaginären Korpus, welches aus der Gesamtheit diagnostischer Praktiken am Schulanfang von 1919 bis 2018 besteht. Aus dem Restbestand der davon überlieferten und auffindbaren diagnostischen Materialien konstituiert sich das virtuelle Korpus, das weit mehr als 60 deutschsprachige diagnostische Verfahren für den Schulanfang umfasst. Zur Generierung des virtuellen Korpus haben systematische Quellenrecherchen in Bibliotheken und im Museum für Testgeschichte an der Universität Würzburg, Funde in Antiquariaten sowie Befragungen von Experten beigetragen. Aus diesem virtuellen Korpus wurden diejenigen Quellen für das konkrete Korpus ausgewählt, die in Deutschland entstanden und für den grundschulpädagogischen Diskurs am Schulanfang repräsentativ sind. Hilfsschulaufnahmeverfahren, medizinische Schuleingangsuntersuchungen sowie Verfahren zur Analyse der Lernvoraussetzungen in einzelnen Domänen wurden explizit ausgeschlossen. Das konkrete Quellenkorpus für die Studie besteht aus 50 diagnostischen Verfahren, die als Testmappen bzw. Beobachtungsbögen etc. im Original oder als Abdruck in Fachzeitschriften vorliegen. Sie sind gruppiert nach sechs zeitlichen Etappen, die sich an politisch-historischen Zäsuren orientieren, in denen sich die Aufnahmepraktiken in die Grundschule formal änderten (vgl. Tab. 1). In einem zweiten Schritt wird das konkrete Korpus mit den Methoden der historischen Dokumentenanalyse (Glaser 2010) wie auch der historischen Kontextanalyse (Langewand 1999) untersucht.

3 Erste Befunde und Ausblick Bezogen auf die Frage nach den favorisierten diagnostischen Formaten zählen 30 der 50 erfassten diagnostischen Verfahren zu standardisierten bzw. normierten Testverfahren, 14 sind den Rating- oder Beobachtungsverfahren zuzurechnen und sechs gelten als sonstigen Verfahren, wie zum Beispiel die Analyse von Kinderzeichnungen, Charaktertypisierungen oder ein rollenspielbasiertes Verfahren (vgl. Tab. 1). Die Entwicklung der standardisierten und zum überwiegenden Teil auch normierten Testverfahren beginnt mit dem Arbeitsplan für die Untersuchung der Schulneulinge des Leipziger Lehrervereins aus dem Jahr 1921 und reicht über die klassischen Schulreifetests der 1950er bis 1970er Jahre bis hin zu digitalisierten

147

Enttäuschte Gleichheitserwartungen – Diagnostische Praktiken am Schulanfang

Schuleingangstests der jüngsten Zeit. Testformate überwiegen damit im diachronen Wandel nahezu dauerhaft gegenüber den anderen diagnostischen Formaten. Zeitraum

Anzahl Verfahren

diagnostische Formate

Legitimationsmuster

Tests

Beo./FB/ Ratings

sonstige

Auslese

förderorient.

sonstige

1919-1933

7

4

1

2

2

3

2

1933-1945

5

2

3

0

1

3

1

1945-1949

2

2

0

0

2

0

0

1949-1990 (West)

15

13

1

1

12

3

0

1949-1990 (Ost)

12

4

6

2

8

4

0

1990-2018

9

5

3

1

3

6

0

Summe

50

30

14

6

28

19

3

Tab. 1: Analysedaten zu diagnostischen Verfahren am Schulanfang

Die zweite Forschungsfrage ist auf die Legitimationsmuster der diagnostischen Verfahren gerichtet. Der Blick auf die Befunde in Tab. 1 zeigt, dass diagnostische Formate, mit denen Schulreife bzw. Schuleignung festgestellt, und mit denen Zurückstellung legitimiert werden soll (Auslesefunktion), mehr als die Hälfte der in den letzten einhundert Jahren entwickelten Verfahren stellen. Im diachronen Verlauf scheinen dabei antizyklische Muster auf. In der Weimarer Zeit und in der NS-Zeit wurden, wenn auch aus unterschiedlichen Gründen, verhältnismäßig viele, eher förderorientierte diagnostische Formate entwickelt, mit denen das Lernen im Anfangsunterricht unterstützt werden sollte. In den Jahren von 1950 bis 1990 setzte in Deutschland (West und Ost) eine Phase intensiver Neuentwicklungen von diagnostischen Verfahren für den Schulanfang ein. Die 1950er bis 1970er Jahre stellten dabei eine Blütezeit für Verfahren dar, mit denen Schulreife bzw. -eignung festgestellt und Zurückstellungen vom Schulbesuch begründet werden konnten. In diesen Zeitraum fiel die Veröffentlichung von mehr als zwei Dritteln aller diagnostischen Verfahren zur Feststellung von Schuleignung. Ihre Reichweite war zudem erheblich – einige der ausleseorientierten Verfahren wurden in Millionenhöhe und in vielfacher Auflage vertrieben. In den Jahren nach 1990 lässt sich im Kontext der bildungspolitischen Diskussionen zur Neugestaltung des Schulanfangs (KMK 1997) eine erneute leichte Konjunktur förderorientierter diagnostischer Formate beobachten. Einige dieser jüngeren diagnostischen Formate werden mit großer Reichweite jährlich in den Schuleingangsstufenklassen ganzer Bundesländer eingesetzt (Martschinke & Kammermeyer 2018).

148

Katrin Liebers

Zusammenfassend kann konstatiert werden, dass in der Geschichte der Grundschule diagnostische Formate mit Auslesecharakter in historisch nachweislicher Dauerhaftigkeit für den Schulbeginn produziert und dort eingesetzt worden sind. Diese hatten und haben soziale und institutionelle Ausgrenzungen von Kindern zu Folge. Trotz veränderter bildungspolitischer Richtlinien zur Gestaltung des Schulanfangs in der jüngeren Vergangenheit und trotz einer Konjunktur diagnostischer Praktiken, die eher formative Zielsetzungen verfolgen, gelang es jedoch bislang nicht, die soziale und institutionelle Ausgrenzung am Schulanfang zu beenden. Vor dem Hintergrund dieser historischen Befunde ist die Frage zu diskutieren, wie diagnostische Instrumente und Praktiken am Schulanfang beschaffen sein sollten und welcher weiterer gesellschaftlicher und rechtlicher Rahmungen es bedarf, damit die Erzeugung von Ungleichheit durch die Grundschule verringert werden kann.

Literatur Glaser, E. (2010): Dokumentenanalyse und Quellenkritik. In: Friebertshäuser B.; Langer, A. & Prengel, A. (Hrsg.): Handbuch Qualitative Forschungsmethoden in der Erziehungswissenschaft. Weinheim: Juventa, 365–375. Götz, M. (2011): Kindorientierung – ein gesellschaftsabstinenter Anspruch der Grundschule? In: Heinzel, F. (Hrsg.): Generationenvermittlung in der Grundschule. Bad Heilbrunn: Klinkhardt, 26–39. KMK (1997): Empfehlungen zum Schulanfang. Beschluß der Kultusministerkonferenz vom 24.10.1997. Online verfügbar unter: https://www.kmk.org/fileadmin/Dateien/veroeffentlichungen_beschluesse/1997/1997_10_24-Empfehlung-Schulanfang_01.pdf (11.01.2019). Landwehr, A. (2009): Historische Diskursanalyse. Frankfurt: Campus Verlag. Langewand, A. (1999): Kontextanalyse als Methode der pädagogischen Geschichtsschreibung. In: Zeitschrift für Pädagogik, 45 (4), 505–519. Martschinke, S.& Kammermeyer, G. (2018): Ansätze der Schuleingangskonzeption in ausgewählten Bundesländern. In: Schneider, W. & Hasselhorn, M. (Hrsg.): Schuleingangsdiagnostik. Göttingen: Hogrefe, 63–86. Liebers, K. (2015): Historische Konzepte der Beobachtung von Schulneulingen – Impulse für die Diskussion zur Lernprozessbegleitung? In: Liebers, K.; Landwehr, B.; Marquardt, A. & Schlotter, K. (Hrsg.): Lernprozessbegleitung und adaptives Lernen in der Grundschule. Wiesbaden: Springer VS, 73–78. Liebers, K. (im Druck): Weiterentwicklung der pädagogischen Theorie einer Grundschule für alle Kinder. In: Wildemann, A.; Leuchter M. & Donie, C. (Hrsg.): Grundschulpädagogik zwischen Wissenschaft und Transfer. Wiesbaden: Springer VS. Prengel, A. (1999): Vielfalt durch gute Ordnung im Anfangsunterricht. Opladen: Leske + Budrich.

Förderkonzepte an Grundschulen – eine Studie zu good-practice Schulen Sandra Langer und Stefanie Schnebel1

Keywords: Individuelle Förderung, Grundschule, Evaluationsstudie, Förderkonzeption

Abstract Im vorliegenden Beitrag wird die Nutzung von Förderressourcen, welche Grundschulen zur Verfügung gestellt werden, untersucht. Gewählt wird ein Ansatz, der neben einem Survey auf Ebene der Organisationsformen über eine vertiefende qualitative Analyse die Konzeption der Förderung an ausgewählten Schulen untersucht. Die Ergebnisse weisen insbesondere auf die Bedeutung der Etablierung einer wissenschaftlich fundierten Förderkonzeption, die Qualifizierung und Kooperation der Lehrkräfte und eine pädagogische Führung der Schulleitungen hin.

1

Einleitung

In Österreich werden verstärkte Anstrengungen unternommen, Förderkonzepte an Grundschulen zu etablieren. Hierzu stellen Bildungspolitik und -verwaltung in einigen Bundesländern zusätzliche Ressourcen an Förderstunden zur Verfügung. Die Implementierung von Fördermaßnahmen hängt allerdings nicht allein von der Verfügbarkeit an Ressourcen ab, sondern von der Art und Weise, wie sie genutzt werden (Reusser, Pauli & Stebler 2015). Der vorliegende Beitrag geht der Frage nach, wie Schulen vor dem Hintergrund der Bereitstellung zusätzlicher, frei ver-

1

Stefanie Schnebel | Pädagogische Hochschule Weingarten | [email protected] Sandra Langer | Pädagogische Hochschule Weingarten | [email protected]

© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 N. Skorsetz et al. (Hrsg.), Diversität und soziale Ungleichheit, Jahrbuch Grundschulforschung 24, https://doi.org/10.1007/978-3-658-27529-7_22

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Sandra Langer und Stefanie Schnebel

fügbarer Förderkontingente2 Förderkonzeptionen gestalten und auf Ebene der Strukturen und der Akteure verankern. In der Schulentwicklungsforschung werden good-practice Zugänge genutzt, um über Fallstudien ein vertieftes Verständnis zu generieren, wie erfolgreiche Schulen Innovationskonzepte etablieren und dabei bereitgestellte Ressourcen einsetzen (Altrichter & Wiesinger 2005). Der Beitrag stellt ausgewählte Aspekte einer Auftragsstudie vor, die einen solchen fallbezogenen Ansatz ergänzt durch einen Survey aufgreift, um die Gestaltung der Förderung an Grundschulen einer Bildungsregion zu analysieren.

2 Theoretischer Hintergrund Gestaltungsfaktoren für eine umfassende Förderkonzeption liegen auf Ebene der Schulkultur, der Gestaltung der Lehr-Lern-Situationen und der Professionalität des pädagogischen Personals (Esslinger-Hinz 2010; Kunze 2016). Die Planung und Realisierung von Lehr-Lernprozessen, die Kooperation zwischen den Lehrkräften sowie die Weiterentwicklung des Lehrpersonals sind Faktoren, die in Studien zur Schuleffektivität in direktem Bezug zum Lernen der Schülerinnen und Schüler stehen (Perlman & Redding 2009). Gleichzeitig zeigen Studien zur förderbezogenen Schulentwicklung, dass die Umsetzung von Konzepten durch Bedingungsfaktoren und Strukturen auf der Mesoebene der Einzelschulen geprägt ist (Kunze 2016). Als relevante Faktoren für die Schulkultur (und damit auch die Förderkultur) auf Ebene der Einzelschule erweisen sich Kooperations- und Kommunikationsstrukturen im Kollegium sowie die Führungsarbeit der Schulleitung (EsslingerHinz 2010; Altrichter & Wiesinger 2005; Holtappels 2013). In der Konzeptionierung der Förderung lässt sich zwischen einer strukturellen Ebene, welche sich auf etablierte Strukturen und Formen der Förderung, z. B. im Hinblick auf die Organisation und zeitliche Verortung oder die räumliche Gestaltung bezieht, und einer prozeduralen Ebene, welche die Realisierung didaktisch ausgearbeiteter, fundierter Konzepte der Förderung meint, unterscheiden (Reusser et al. 2015). Zur Analyse der Professionalität der Lehrkräfte bezüglich Fördermaßnahmen ist bedeutsam, inwiefern Förderpersonal entsprechend geschult wird und Formen der Unterstützung erhält, um Fördermaßnahmen professionell zu gestalten (Garlichs & Graumann 2008; Perlman & Redding 2009). Dies realisiert sich in der systematischen Qualifizierung von Lehrkräften, aber auch darin, welche etablierten Gefäße

2

Je nach Größe der Schule (i.d.R. in Schulen < 5 Klassen 1 Deputatsstunde je 1. und 2. Klasse; in Schulen ≥ 5 Klassen 3 Deputatsstunden je 1. und 2. Klasse)

Förderkonzepte an Grundschulen – eine Studie zu good-practice Schulen

151

für Kooperation und Austausch zwischen Lehrkräften im Unterricht und in der individuellen Förderung zur Verfügung stehen (Lohmann 2012).

3 Design und Methode Im Rahmen einer Auftragsforschung der Bildungsbehörden einer Bildungsregion mit ca. 160 Grundschulen wurde untersucht, wie zusätzliche finanzielle und personelle Mittel genutzt werden, um Fördermaßnahmen an Grundschulen weiterzuentwickeln. Insbesondere wurde die Frage bearbeitet, was die Förderkonzepte erfolgreicher Schulen3 ausmacht. Das Forschungsdesign wurde als multi-methodsAnsatz mit einem quantitativen Survey und einer qualitativ-rekonstruktiven Vertiefung angelegt. Über eine standardisierte Befragung mittels online-Fragebogen wurde der Ist-Stand des Ressourceneinsatzes an allen Grundschulen (n = 156) der Region erhoben. Befragungsdimensionen waren die Schwerpunkte und die Organisationsform der Förderung, die Nutzung von ausgearbeiteten Konzepten und Materialien, der Anteil qualifizierter Lehrkräfte sowie die Auswahl der Lernenden und die Dauer der Förderung. Um ein vertieftes Verständnis der Förderkonzeptionen einzelner Schulen zu erarbeiten, wurde ein rekonstruktiv fallanalytisches Vorgehen eingesetzt, wie es in der Schulentwicklungsforschung ausgearbeitet wurde (u. a. Altrichter & Wiesinger 2005). Dementsprechend wurden elf good-practice Schulen4 hinsichtlich ihrer konzeptionellen, organisatorischen und personalentwickelnden Maßnahmen zur individuellen Förderung von Lernenden vertieft und mittels Interviews, teilstrukturierter Beobachtungen und Dokumentenanalysen analysiert. Die qualitativen Daten wurden in einem deduktiv-induktiven Verfahren inhaltsanalytisch (Kuckartz 2016) ausgewertet. Durch die Verknüpfung der Ergebnisse wurde ein mehrperspektivischer Zugang realisiert.

4 Ergebnisse Die Ergebnisse der Fragebogenerhebung zeigen, dass über alle untersuchten Grundschulen hinweg zusätzliche Förderung angeboten wird. Je etwa drei Viertel der Grundschulen setzen Förderschwerpunkte in den Bereichen „Deutsch als 3

Bezogen auf nationale Schulleistungsvergleichsstudien: Leistungspunkte der Schule über dem Durchschnittswert vergleichbarer Schulen

4

Auswahlkriterien nach Maßgabe des Auftraggebers: Ergebnisse der nationalen Leistungsvergleichsstudie 2015; Experteneinschätzung; strukturelle Faktoren wie regionale Lage, Schulgröße, Einzugsgebiet

152

Sandra Langer und Stefanie Schnebel

Zweitsprache“ und „Lese-Rechtschreibförderung“, was bildungspolitische wie grundschulpädagogische Schwerpunktsetzungen aufgreift (Kucharz, Mackowiak & Beckerle 2015) und die Bedarfe der Kinder in diesen Bereichen spiegelt. Gleichzeitig wird die jüngst ebenfalls fokussierte Förderung begabter Schüler*innen noch vergleichsweise wenig systematisch durch explizite Maßnahmen (28% der Schulen) realisiert. Die Förderung der Schüler*innen erfolgt über alle Förderbereiche hinweg zumeist durch Lehrkräfte, selten durch andere pädagogische Fachpersonen. Die Lehrkräfte weisen nur teilweise spezielle Zusatzqualifikationen auf. Zwar findet sich an etwa drei Viertel der Schulen mindestens eine Lehrkraft mit Zusatzausbildung in einem Förderbereich, die Anzahl der in spezifischen Förderbereichen qualifizierten Lehrkräfte je Schule ist jedoch gering (0–3 Personen). Die Organisationsformen und Einbindungen der Förderung variieren zwischen den Schulen stark und zeigen keine durchgängigen Tendenzen. Deutlich wird aus dem Survey, dass die Schulen die zusätzlich bereitgestellten und autonom einsetzbaren Ressourcen nutzen, um Förderbereiche neu aufzubauen oder bestehende weiter zu entwickeln. Die vergleichende Analyse der good-practice Schulen ergab, dass sich die Förderkonzeptionen insbesondere entlang der Dimensionen „Vorhandensein einer ausgearbeiteten Förderkonzeption“, „Förderorientierung und pädagogische Führung der Schulleitung“, „Kooperation“ und „Qualifikation der Lehrkräfte“ beschreiben lassen. Diese Dimensionen sind an allen good-practice Schulen identifizierbar. Als einige vertiefende Aspekte zeigen sich die folgenden: An mehreren good-practice Schulen steuert die Schulleitung, dass Lehrkräfte Fort- und Weiterbildungen in bestimmten Förderbereichen belegen, um eine fachgerechte Förderung aufbauen zu können. Die Sicherung von Expertise in allen Förderbereichen wird sowohl für die Unterstützung und Beratung der anderen Lehrkräfte im Hinblick auf den jeweiligen Förderbereich, als auch in der Diagnostik und der direkten Förderung der Lernenden genutzt. Durch die gezielte Qualifizierung von Lehrkräften und durch eine Führungsarbeit, welche die pädagogischen Ziele der Schule ins Zentrum rückt, gelingt es an good-practice Schulen, Förderkonzeptionen aufzubauen, welche wissenschaftlichen Kriterien entsprechen (u. a. Arnold et al. 2008) oder teilweise explizit wissenschaftlich erprobte Programme adaptiert realisieren. Die Fragebogenerhebung zeigt demgegenüber, dass im Durchschnitt an weniger als 50% aller Schulen wissenschaftlich fundierte Programme bzw. spezielle, auf die Förderung ausgerichtete Materialen eingesetzt werden. Eine Umsetzung von Fördermaßnahmen bedarf ausgebauter Teamstrukturen, für welche die Schulleitungen sorgen, indem sie unterstützen und beispielsweise zeitliche Räume für Absprachen und gemeinsame Vorbereitungen schaffen. Damit wird die Kommunikation und Kooperation zwischen den Lehrpersonen im Regelunterricht und im Förderbereich verbindlich verankert.

Förderkonzepte an Grundschulen – eine Studie zu good-practice Schulen

153

Insgesamt lässt sich festhalten, dass Organisationsformen und strukturelle Merkmale wenig entscheidend und vielfältig hinsichtlich Gegebenheiten und Förderbedarfen der Einzelschulen ausgeprägt sind. Wie ausgearbeitet und etabliert die Förderorientierung einer Schule sich darstellt, zeigt sich an den good-pratice Schulen vor allem darin, dass die Förderung einen integralen Bestandteil einer pädagogischen Konzeption darstellt, die von allen schulischen Akteuren mitgetragen und von der Schulleitung nachhaltig vertreten und unterstützt wird.

Literatur Altrichter, H. & Wiesinger, S. (2005): Implementation von Schulinnovationen – aktuelle Hoffnungen und Forschungswissen. In: Journal für Schulentwicklung. 9 (4), 28–36. Arnold, K.-H.Graumann, O.; Rakhonine, A. (Hrsg.) (2008): Handbuch Förderung. Weinheim: Beltz Esslinger-Hinz, I. (2010): Schlüsselkonzepte von Schulen. Eine triangulierte Untersuchung zur Bedeutung der Schulkultur an Grundschulen. Bad Heilbrunn: Klinkhardt. Garlichs, A. & Graumann, O. (2008): Qualifizierung für individuelle Förderung im Rahmen der Allgemeinbildenden Schulen. In: Arnold, K.-H., Graumann, O. & Rakhonine, A. (Hrsg.): Handbuch Förderung. Weinheim: Beltz, 466–470. Holtappels, H. (2013): Schulentwicklung und Lehrerkooperation. In: McElvany, N. & Holtappels, H. G. (Hrsg.): Empirische Bildungsforschung. Theorien, Methoden, Befunde und Perspektiven. Münster: Waxman, 35–61. Kucharz, D.; Mackowiak, K. & Beckerle, C. (2015): Alltagsintegrierte Sprachförderung. Weinheim: Beltz. Kuckartz, U. (2016): Qualitative Inhaltsanalyse. Methoden, Praxis, Computerunterstützung (Grundlagentexte Methoden). Weinheim: Beltz. Kunze, I. (2016): Begründungen und Problembereiche individueller Förderung in der Schule – Vorüberlegungen zu einer empirischen Untersuchung. In: Kunze, I. & Solzbacher, C. (Hrsg.): Individuelle Förderung in der Sekundarstufe I und II. Baltmannsweiler: Schneider Verlag Hohengehren, 15–31. Lohmann, A. (2012): Gestaltung eines Schulkonzepts zur individuellen Förderung. In: Solzbacher, C. (Hrsg.): Ressourcen stärken! Individuelle Förderung als Herausforderung für die Grundschule. Köln: Link, 102–119. Perlman, C.; Redding, S. (2009): Handbook on Effective Implementation of School Improvement Grants. Lincoln, IL: Center on Innovation & Improvement. Reusser, K.; Pauli, C.; Stebler, R. (Hrsg.) (2015): Personalisierte Lernkonzepte in heterogenen Lerngruppen (perLen). Zwischenbericht 2015 mit Einblicken in Teilprojekte. Zürich und Freiburg. Online verfügbar unter: http://www.perlen.uzh.ch/dam/jcr:00000000-1382-8f61ffffffffc217de0a/PerLen_Zwischenbereicht_2015_mit_Einblicken_in_Teilprojekte.pdf (19.06.2018).

Lernentwicklungsgespräche – Umsetzung lernunterstützender Rückmeldung Sonja Dollinger1

Keywords: Lernentwicklungsgespräche, lernunterstützende Rückmeldung, Feedback

Abstract Im Beitrag wird von einer Studie berichtet, die untersucht, inwiefern in Lernentwicklungsgesprächen (LEG) eine lernunterstützende Rückmeldung umgesetzt wird. Hierzu wurden in einem querschnittlichen Design in den Jahrgangsstufen 1 bis 3 LEG teilnehmend beobachtet und Kinder, Eltern und Lehrkräfte befragt. Die Ergebnisse zeigen, dass grundsätzlich lernunterstützende Rückmeldungen gegeben werden, wenngleich die Umsetzung einzelner Elemente aus Sicht der Beobachtung und der am Gespräch Teilnehmenden unterschiedlich wahrgenommen wird. Gründe hierfür und Desiderata für weitere Forschung werden diskutiert.

1

Einführung

Leistungsrückmeldungen haben unter anderem die Funktion, Schülerinnen und Schüler in ihren Lernprozessen durch adäquate Rückmeldung zu unterstützen (Sacher 2014). Vor allem Rückmeldungen, die sich auf die Tiefenstrukturen des Lernens beziehen – also auf die „Qualität der Auseinandersetzung der Lernenden mit dem Lerninhalt oder die Art der Interaktionen zwischen den handelnden Personen“ (Kunter & Trautwein 2013: 65) – unterstützen das Lernen und Leisten der Schülerinnen und Schüler (Hattie 2015). Lernentwicklungsgespräche sind eine Form der Leistungsrückmeldung, in der dies gut umgesetzt werden kann. 1

Sonja Dollinger | Universität Augsburg | [email protected]

© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 N. Skorsetz et al. (Hrsg.), Diversität und soziale Ungleichheit, Jahrbuch Grundschulforschung 24, https://doi.org/10.1007/978-3-658-27529-7_23

Lernentwicklungsgespräche – Umsetzung lernunterstützender Rückmeldung

155

2 Lernentwicklungsgespräche und lernunterstützende Rückmeldung Lernentwicklungsgespräche (LEG) sind ca. 15- bis 30-minütige Gespräche zwischen einer Lehrperson und einem Kind im Beisein mindestens eines Erziehungsberechtigten. Im Fokus soll das Kind mit seinen Stärken und Schwächen, seinem aktuellen Lernstand sowie seiner Lernentwicklung stehen (z. B. Bildungspakt Bayern 2014; Bonanati 2018). Als Vorbereitung auf das Gespräch finden für gewöhnlich Selbsteinschätzungen auf Seiten der Schülerinnen und Schüler zu ihrem Lernen und ihren Kompetenzen statt sowie entsprechende Fremdeinschätzungen durch die Lehrkräfte. Im Gespräch werden mit den Kindern Ziele für ihr weiteres Lernen vereinbart. Während bezüglich der Organisation und Dokumentation der LEG konkrete Vorgaben bestehen, ist die inhaltliche Gestaltung im Wesentlichen freigestellt. Dies führt zu einer Vielzahl an Umsetzungsformen. Bislang wurden zwar die Akzeptanz und der wahrgenommene Nutzen der LEG (Bildungspakt Bayern 2014) sowie die Gesprächssituationen analysiert (z. B. Bonanati 2018), Befunde zur Umsetzung und Qualität der LEG stehen jedoch noch aus. Feedback gilt dann als besonders lernunterstützend, wenn es „klar, zweckgerichtet, sinnvoll und mit dem Vorwissen der Lernenden kompatibel“ (Hattie 2015: 211) ist, so dass eine aktive Informationsverarbeitung in Gang gesetzt wird (ebd.). Dazu ist erforderlich, dass die Lernenden erfahren, wo sie im Lernprozess stehen, und dass sie Hilfestellungen für das weitere Lernen erhalten (Heritage 2007). Effektives Feedback beantwortet die folgenden drei Fragen: „Wohin gehe ich?“ „Wie komme ich voran?“ „Wohin geht es als Nächstes?“ (Hattie 2015: 210). Als Elemente einer lernunterstützenden Rückmeldung gelten folglich a) Informationen zum Lernstand und b) zur Lernentwicklung sowie c) konkrete Hinweise zum Lernen, wie z. B. Lernstrategien, konkrete Übungen etc., und d) klare Ziele. Zahlreiche Befunde bestätigen die Wirkung von derart gestaltetem Feedback (z. B. Harks, Rakoczy, Hattie & Besser 2014; Hattie 2015). Inwiefern in LEG – sowohl aus Beobachtersicht als auch aus Sicht der am Gespräch Beteiligten – eine lernunterstützende Rückmeldung bzw. einzelne Elemente davon umgesetzt werden, wurde in einer Studie zu LEG untersucht.

3 Methodik In einem querschnittlich angelegten Design wurde zum einen an LEG teilgenommen und die Umsetzung der Elemente einer lernunterstützenden Rückmeldung sowohl niedrig- als auch hoch-inferent mit einem Beobachtungsbogen erfasst. Zum anderen wurde die Einschätzung der LEG hinsichtlich der Elemente lern-

156

Sonja Dollinger

unterstützender Rückmeldung durch die am Gespräch beteiligten Personen – Kinder, Lehrpersonen und Eltern – über Fragebögen erfasst. 39 LEG in den Jahrgangsstufen 1 bis 3 wurden teilnehmend beobachtet. Von insgesamt 29 Lehrpersonen, 273 Kindern und 235 Eltern lagen die ausgefüllten Fragebögen vor. Alle Einschätzungen (Fragebögen und Beobachtungsbogen) wurden jeweils anhand einer 4-stufigen Likert-Skala („0 = trifft nicht zu“ bis „3 = trifft zu“) vorgenommen. Fehlende Daten in den Fragebögen (Kinder: < 4%, Eltern: < 8%; Lehrkräfte: < 11%) wurden mittels des EM-Algorithmus geschätzt. Die Reliabilitäten der Skalen zur lernunterstützenden Rückmeldung liegen mit Werten von Cronbach´s Alpha zwischen .70 bis .84 im zufriedenstellenden bis guten Bereich. Ebenso liegt die Interrater-Reliabilität (ICC (two-way-mixed, unjustiert (3,5)) sowohl bezüglich der niedrig-inferenten Beobachtung (ICC (3,5) = .85 – .90), als auch der hoch-inferenten Beobachtung (ICC (3,5) = .75 – .95) im zufriedenstellenden bis sehr guten Bereich. Die Auswertung sämtlicher Daten fand deskriptiv statt. Für die Darstellung der Umsetzung einzelner Elemente einer lernunterstützenden Rückmeldung wurde jeweils auf die Mittelwerte der einzelnen Items der jeweiligen Skalen zurückgegriffen. Zur Berechnung, inwiefern aus Sicht der am LEG Beteiligten in diesen eine lernunterstützende Rückmeldung umgesetzt wird, wurden jeweils die entsprechenden Skalenmittelwerte der Fragebogenangaben berechnet.

4 Ergebnisse Zunächst wird die Umsetzung lernunterstützender Rückmeldung aus Beobachtersicht dargestellt, bevor anschließend auf die entsprechende Einschätzung der am Gespräch Beteiligten eingegangen wird. 4.1

Beobachtung

Die Auswertung der niedrig-inferenten Beobachtung zeigt, dass einzelne Elemente einer lernunterstützenden Rückmeldung zwar umgesetzt werden, wenngleich in sehr unterschiedlichem Ausmaß. So werden im Mittel im LEG zwar 16.5 (SD = 8.1) Rückmeldungen zum Lernstand gegeben, jedoch nur 2.3 (SD = 1.9) zur Lernentwicklung. Auch wurden kaum konkrete Lernstrategien oder Übungen mit den Kindern besprochen (M = 2.5, SD = 2.2). Die Gesamtskala lernunterstützender Rückmeldung der hoch-inferenten Beobachtung zeigt, dass die Rückmeldung in LEG insgesamt als lernunterstützend (M = 2.1, SD = 0.52) eingeschätzt wurde. Auch hier zeigt sich, dass in LEG eher

Lernentwicklungsgespräche – Umsetzung lernunterstützender Rückmeldung

157

Rückmeldung zum Lernstand (M = 3.0, SD = 0.16) gegeben wird als zur Lernentwicklung (M = 1.8, SD = 1.0). Zudem zeigt sich, dass das Ausmaß konkreter Rückmeldungen zu Lernzielen sowie zu Hinweisen, wie die Lernziele erreicht werden können, jeweils „nur“ den theoretischen Mittelwert von 1.5 erreicht und erheblich variiert (SD = 1.0 bzw. 0.97). 4.2

Einschätzung der Rückmeldung durch Kinder, Lehrpersonen und Eltern

Die Rückmeldung in LEG wird aus Sicht der am Gespräch Beteiligten als lernunterstützend eingeschätzt (Kinder: M = 2.5, SD = 0.42; Eltern: M = 2.4, SD = 0.50; Lehrpersonen: M = 2.3, SD = 0.39). Auch hinsichtlich der einzelnen Elemente einer lernunterstützenden Rückmeldung ist die Einschätzung durch die Kinder sehr positiv. So geben sie an, nach dem LEG zu wissen, was sie bereits gut können (M = 2.8, SD = 0.54), was sie noch üben müssen (M = 2.7, SD = 0.68) und worin sie sich verbessert haben (M = 2.3, SD = 0.90), also über Lernstand und Lernentwicklung informiert sind. Zudem geben sie an, von der Lehrkraft Tipps dazu erhalten zu haben, wie sie besser lernen können (M = 2.4, SD = 0.98), dass ihnen die vereinbarten Ziele beim Lernen helfen werden (M = 2.6, SD = 0.67) und sie darüber hinaus wissen, was zu tun ist, um die Ziele zu erreichen (M = 2.6, SD = 0.65). Die Einschätzungen der Eltern und Lehrpersonen zu Einzelaspekten einer lernunterstützenden Rückmeldung – bzgl. Lernstand, Lernstrategien und Ziel(erreichung) – für die Kinder sind ebenfalls allesamt positiv und liegen durchgängig mit Werten ≥ 1.8 signifikant über dem theoretischen Mittelwert von 1.5. Am niedrigsten sind die Werte hinsichtlich des Erhalts konkreter Tipps zum Lernen (Eltern: M = 2.2, SD = 0.93; Lehrkräfte: M = 2.0, SD = 0.91) und bezüglich des Wissens nach dem LEG, wie gut gelernt werden kann (Eltern: M = 2.1, SD = 0.81; Lehrkräfte: M = 1.8, SD = 0.64).

5 Zusammenfassung und Diskussion Insgesamt zeigte sich, dass die Rückmeldung in den LEG – sowohl aus externer Beobachtersicht als auch aus Sicht der am LEG beteiligten Personen (Kinder, Eltern und Lehrkräfte) – als lernunterstützend wahrgenommen wird. Interessant ist das Element der Rückmeldung zur Lernentwicklung. Während in der Beobachtung kaum konkrete Rückmeldungen zur Lernentwicklung wahrgenommen wurden, fühlten sich die Kinder dennoch über Verbesserungen und Eltern über die Lernentwicklung informiert, und auch die Lehrpersonen waren der Meinung, entsprechende Rückmeldung gegeben zu haben. Auch das Ergebnis der hoch-inferenten Einschätzung liegt mit 1.8 über dem theoretischen

158

Sonja Dollinger

Mittelwert und damit vergleichsweise hoch. Ein Grund für den Unterschied in den Einschätzungen könnte daran liegen, dass die am Gespräch Beteiligten früher erhaltene Rückmeldungen in ihre Einschätzung mit einbeziehen können, während sich die Beobachtersicht lediglich auf die Gesprächssituation beziehen kann. Limitierend ist anzumerken, dass es sich bei der Studie um ein querschnittliches Design handelt, in dem keine Eins-zu-Eins-Zuordnung der Kinder- und Elterndaten möglich war – da auch nur an der Kinderbefragung oder nur an der Elternbefragung teilgenommen werden konnte –, die Skalen zur lernunterstützenden Rückmeldung teils unterschiedliche Items umfassten und keine Effekte auf das Lernen oder motivationale Aspekte des Lernens erfasst werden konnten. Hier sind weitere Studien erforderlich. In einer aktuellen Studie werden – unter Berücksichtigung der Umsetzung der verschiedenen konzeptionellen Elemente der LEG – Effekte auf motivationale Aspekte des Lernens untersucht.

Literatur Bildungspakt Bayern (2014): Schulversuch Flexible Grundschule. Dokumentation. Ergebnisse. Empfehlungen für die Praxis (107–119). Verfügbar unter: http://bildungspakt-bayern.de/wp-content/uploads/2015/03/flexGrundschule_web100.pdf [31.01.2019]. Bonanati, M. (2018): Lernentwicklungsgespräche und Partizipation. Rekonstruktion zur Gesprächspraxis zwischen Lehrpersonen, Grundschülern und Eltern. Wiesbaden: Springer VS. Ditton, H. & Müller, A. (Hrsg.) (2014): Feedback und Rückmeldungen. Theoretische Grundlagen, empirische Befunde, praktische Anwendungsfelder. Münster: Waxmann. Hardeland, H. (2017): Lernentwicklungsgespräche in der Grundschule. Ein Praxisleitfaden. Weinheim: Beltz. Harks, B.; Rakoczy, K.; Klieme, E.; Hattie, J. & Besser, M. (2014): Indirekte und moderierte Effekte von schriftlicher Rückmeldung auf Leistung und Motivation. In: Ditton, H. & Müller, A. (2014): 163–194. Hattie, J. (2015): Lernen sichtbar machen (3. Aufl.). Überarbeitete und deutschsprachige Ausgabe von „Visible Learning“ besorgt von W. Beywl & K. Zierer. Hohengehren: Schneider. Heritage, M. (2007): Formative Assessment: What Do Teachers Need to Know and Do? The Phi Delta Kappan, 89 (2), 140–145. Kunter, M. & Trautwein, U. (2013): Psychologie des Unterrichts. Paderborn et al.: Schöningh. Sacher, W. (2014): Leistungen entwickeln, überprüfen und beurteilen. Bewährte und neue Wege für die Primar- und Sekundarstufe. Bad Heilbrunn: Klinkhardt.

Heterogenität kompetent begegnen – Einblicke in die subjektiven Sichtweisen von Grundschullehrer*innen Eva-Kristina Franz1

Keywords: Umgang mit Heterogenität, Kompetenzen von Lehrkräften, Expert*inneninterviews, quantitative Inhaltsanalyse

Abstract Grundschulpädagog*innen stehen seit jeher vor der Herausforderung, heterogenen Lernausgangslagen produktiv zu begegnen. Um einen Einblick in die diesbezüglichen Sichtweisen von Expert*innen aus der Praxis zu bekommen, wurden 85 Leitfadeninterviews geführt und inhaltsanalytisch untersucht. Als ein erstes Ergebnis zeigt sich, dass die Lehrkräfte mehrheitlich den Umgang insbesondere mit Leistungsheterogenität wahrnehmen und diesem über Maßnahmen der inneren Differenzierung begegnen. Die erwartete Belastung der Lehrkräfte durch die Heterogenität in ihren Klassen bildet sich in den Interviews nicht eindeutig ab.

1

Einführung

Die Grundschule steht seit ihrer Gründung vor der Herausforderung, produktiv mit heterogenen Lernausgangslagen umzugehen. Doch wie gelingt es Lehrkräften der Grundschule aktuell, Vielfalt zu berücksichtigen? Welche Konzepte zur unterrichtlichen Gestaltung benennen Expert*innen aus der Praxis als geeignet, erfolgreiche Bildungsprozesse für Kinder unterschiedlicher Lernvoraussetzungen und Bildungsbiographien zu unterstützen? Diese Frage soll im Folgenden zunächst theoretisch und anschließend empirisch „unter die Lupe“ genommen werden.

1

Eva-Kristina Franz | Pädagogische Hochschule Freiburg | [email protected]

© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 N. Skorsetz et al. (Hrsg.), Diversität und soziale Ungleichheit, Jahrbuch Grundschulforschung 24, https://doi.org/10.1007/978-3-658-27529-7_24

160

Eva-Kristina Franz

2 Zu einem kompetenten Umgang mit Heterogenität Differenzen scheinen in den letzten Jahren vermehrt wahrgenommen und diskutiert zu werden. Die in diesem Diskurs verwendeten Begrifflichkeiten weisen jedoch eine gewisse Unschärfe auf (Koller 2014). Insbesondere die Begriffe Heterogenität und Diversität werden zwar einerseits synonym verwendet, scheinen aber divergent konnotiert zu sein (Warmuth 2015). Die Homogenität von Lerngruppen wird dabei immer wieder als unabdingbare Voraussetzung für erfolgreiches Lernen gesetzt (Bräu & Schwerdt 2005), wohingegen die Heterogenität der Lernenden in manchen Publikationen als Hindernis oder als Belastung betrachtet wird. Der Begriff der Diversität hingegen beschreibt ein Konzept zur Förderung von Chancengerechtigkeit, Unterschiede werden als „Gewinn und Lernressource“ gesehen (Sliwka 2010). Für diesen Beitrag wird Heterogenität in einem neutralen Sinne als Unterschiedlichkeit von Lernausgangslagen verstanden, Diversität als wertschätzende Berücksichtigung von Vielfalt (Linke & Mühlich 2016). Aus dieser Setzung ergibt sich die Frage, ob die Wertschätzung von Vielfalt nicht den kompetenten Umgang mit der Unterschiedlichkeit der Lernausgangslagen bedingt und in wie weit Lehrer*innen an Grundschulen die Heterogenität in ihren Klassen als Belastung oder als Gewinn sehen. Als Konzepte zum Umgang mit Heterogenität werden aktuell vor allem vier Ansätze diskutiert: Öffnung, Differenzierung oder Individualisierung von Unterricht und die didaktische Adaptivität (Bohl, Batzel-Kremer & Richey 2012). Die genauere Betrachtung dieser Konzepte zeigt einerseits, dass eine definitorische Abgrenzung nicht trennscharf gelingt. Andererseits entsteht der Eindruck, dass diese Begriffe darüber hinaus auch nicht auf derselben systematischen Ebene anzutreffen sind. Schon der Begriff der Öffnung von Unterricht wird auf unterschiedlichen Ebenen verwendet (Bohl & Kucharz 2010): So kann offener Unterricht als Philosophie, als Haltung, als Sammelbegriff für verschiedene Reformansätze, als Bewegung oder als Stil verstanden werden. Eine Öffnung des Unterrichts gibt den Schüler*innen unter anderem die Freiheit, selbst zu wählen, wo und mit wem sie arbeiten wollen, welchen Lernweg sie wählen oder ihr Lernthema frei zu bestimmen. Ein solches Vorgehen bietet eine große Bandbreite an Möglichkeiten zur Differenzierung und Individualisierung (Peschel 2005). Differenzierung ist ein Begriff der (Allgemeinen) Didaktik. Er beinhaltet Bemühungen, durch organisatorische und methodische Maßnahmen mit den individuellen Lernvoraussetzungen einzelner Schüler oder Schülergruppen innerhalb einer Schule oder Klasse produktiv umzugehen. Dabei wird grundsätzlich zwischen Formen der inneren und äußeren Differenzierung unterschieden. Individualisierung bezieht sich auf das Individuum mit seinen Präkonzepten, seinen Dispositionen und seiner jeweiligen Interessenslage (Bohl et al. 2012). Das

Heterogenität kompetent begegnen – Einblicke in die subjektiven Sichtweisen

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bedeutet konkret, dass nicht jede Differenzierung einer Individualisierung gleichkommt, da das Lernangebot nicht auf einzelne individuelle Schülerinnen und Schüler abgestimmt, sondern durch die Gruppenbildung nur die Wahrscheinlichkeit der Passung zwischen Angebot und individuellem Schüler erhöht wird. Der Begriff der didaktischen Adaptivität kommt aus der Lehr-Lernforschung und gilt als das „gegenwärtig wissenschaftlich fundierteste und didaktisch aussichtsreichste Konzept“ (Häcker 2017: 280), um auf interindividuelle Unterschiede angemessen zu reagieren. Ziel ist die bestmögliche Ausschöpfung des individuellen Entwicklungspotenzials der Lernenden. Begrifflich stellt Adaptivität einen Sammelbegriff für Strategien und Verfahren der Differenzierung und Individualisierung von Unterricht dar (Hertel, Fingerle & Rohlfs 2016). Didaktische Adaptivität wird entweder über offene Unterrichtssettings (a), durch eine gezielte Variation des Lernangebots (b) bzw. über die Gestaltung interaktiver Unterstützungsprozesse im Unterricht (c) realisiert. Das Konzept der didaktischen Adaptivität könnte daher als eine Art Metakonzept aufgefasst werden, in welchem sowohl Öffnung als auch Differenzierung und Individualisierung subsummiert werden können. Diese konzeptuellen Überlegungen erschweren eine Einordnung der Aussagen der Lehrkräfte in der im Folgenden dargestellten Interviewstudie.

3 Forschungsfragen In dieser stehen folgende Forschungsfragen im Fokus: 1) Stellt die Heterogenität ihrer Schüler*innen für Lehrkräfte an Grundschulen ein Thema in ihrem Unterrichtsalltag dar? 2) Welche Differenzlinien stehen dabei im Fokus? 3) Auf welche Konzepte zum unterrichtlichen Umgang mit Heterogenität verweisen die befragten Lehrkräfte? 4) Äußern diese ein Belastungserleben im Zusammenhang mit der aktuell wahrgenommenen Heterogenität in ihrer Klasse?

4 Methode Der Studie liegen Expert*inneninterviews zugrunde. Diese wurden zwischen November 2015 und Dezember 2017 von Lehramtsstudierenden der Pädagogischen Hochschule in Heidelberg geführt. Die durchgeführten Interviews liegen als Transkripte schriftlich vor, die Auswertung erfolgte zunächst über eine quantitative Inhaltsanalyse nach Kuckartz (2018). Für alle Analysen wurde die Software

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Eva-Kristina Franz

MaxQDA18 verwendet. Die Kategorienbildung erfolgte mit nur einem Rater anhand deduktiv gebildeter Kategorien2.

5 Ergebnisse Die teilnehmenden 85 Lehrkräfte waren zum Großteil (91 %) weiblichen Geschlechts. Sie unterrichten zu 43,5 % in ländlichen sowie zu 26 % an städtischen Grundschulen. 9,4 % der Befragten bezeichnen ihre Schule als Brennpunktschule. Die Lehrkräfte sind im Schnitt 40 Jahre alt und verfügen über ein breites Spektrum an Berufserfahrung. Dieses liegt im Mittel bei knapp 12 Jahren und reicht von der Novizin im ersten Dienstjahr bis zu Kolleg*innen mit 35 Jahren Diensterfahrung. Für 95 % der befragten Lehrer*innen stellt der Umgang mit unterschiedlichen Lernausgangslagen ein Thema dar, mit dem sie in ihrem Unterrichtsalltag konfrontiert sind. Wie aus Ergebnissen der empirischen Bildungsforschung zu erwarten war, benennen 91 % der befragten Lehrer*innen die Leistung als Differenzlinie, welche im Unterrichtsalltag bearbeitet werden muss. Mit 34 und 32 % folgen die Heterogenitätsdimensionen Verhalten und Sprache. Hinsichtlich unterrichtlicher Konzepte verweisen 70 % der Lehrkräfte darauf, der Heterogenität mit Differenzierung zu begegnen. Rund 45 % öffnen ihren Unterricht und/oder sprechen von Individualisierung. Der Begriff der didaktischen Adaptivität findet sich nicht in der Nomenklatur der Grundschullehrer*innen. Nur rund ein Viertel der befragten Lehrer*innen verweist auf ein eindeutiges Belastungserlebnis im Zusammenhang mit der wahrgenommenen Heterogenität in ihren Klassen, während 50 % diese Frage eindeutig verneint. Die restlichen Antworten können als indifferent bezeichnet werden.

6 Diskussion und Ausblick Die Wahrnehmung von Heterogenität in der Grundschule stellt sich in den Interviews erwartungskonform eindeutig dar. Auch die Betonung der Leistung als Differenzlinie erscheint primär stimmig. Es stellt sich jedoch die Frage, ob diese nicht durch andere – nicht benannte – Differenzlinien beeinflusst sind. „Sie sprechen teilweise unterschiedliche Sprachen […]. Dadurch sind sie teilweise auch unterschiedlich gut in Deutsch oder eben auch schlechter in Deutsch oder lernen 2

Den Codierleitfaden finden Sie online unter der https://www.researchgate.net/publication/ 330738340_Diversitat_kompetent_begegnen-Einblicke_in_die_subjektiven_Sichtweisen_ von_Grundschullehrerinnen.

Heterogenität kompetent begegnen – Einblicke in die subjektiven Sichtweisen

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auch eine Fremdsprache wie Englisch leichter als andere Kinder“ (Frau Wolf im Interview mit Frau Klingler). Die definitorische Unschärfe der Konzepte zur unterrichtlichen Gestaltung macht eine eindeutige Zuordnung der tatsächlich angewandten Maßnahmen unmöglich. Es muss an dieser Stelle ausschließlich auf die verwendete Nomenklatur rekurriert werden, was ggf. inhaltliche Verzerrungen nach sich zieht. Ein prinzipielles empirisches Desiderat stellt darüber hinaus dar, dass das Verfahren mit nur einem Rater die Güte der quantitativen Analysen nicht angemessen sichert. Aus diesen Gründen werden die Interviews aktuell weiterführend analysiert.

Literatur Bohl, T. & Kucharz, D. (2010): Offener Unterricht heute. Weinheim u.a.: Beltz. Bohl, T.; Batzel, A. & Richey, P. (2012): Öffnung - Differenzierung - Individualisierung - Adaptivität. Charakteristika, didaktische Implikationen und Forschungsbefunde verwandter Unterrichtskonzepte zum Umgang mit Heterogenität. In: Bohl, T.; Bönsch, M.; Trautmann, M.; Wischer, B. (Hrsg.): Didaktische Grundlagen und Forschungsergebnisse zur Binnendifferenzierung im Unterricht. Immenhausen bei Kassel: Prolog-Verlag, 40–71. Bräu, K. & Schwerdt, U. (2005): Heterogenität als Chance. Vom produktiven Umgang mit Gleichheit und Differenz in der Schule. Münster: LIT. Häcker, T. (2017): Individualisierter Unterricht. In: Bohl et al. (2017): 275–290. Bohl, T.; Budde, J. & Rieger-Ladich, M. (Hrsg.) (2017): Umgang mit Heterogenität in Schule und Unterricht. Grundlagentheoretische Beiträge, empirische Befunde und didaktische Reflexionen. Bad Heilbrunn: Verlag Julius Klinkhardt. Hertel, S.; Fingerle, M. & Rohlfs, C. (2016): Gestaltung adaptiver Lerngelegenheiten in der Schule. In: Rabenstein, K. & Wischer, B. (Hrsg.) (2016): Individualisierung schulischen Lernens. Mythos oder Königsweg? Seelze: Klett, Kallmeyer, 64–75. Koller, H.-C.; Casale, R. & Ricken, N. (Hrsg.) (2014): Heterogenität. Zur Konjunktur eines pädagogischen Konzepts. Paderborn: Ferdinand Schöningh. Kuckartz, U. (2018): Qualitative Inhaltsanalyse. Methoden, Praxis, Computerunterstützung. 4. Auflage. Weinheim et al.: Beltz. Linke, F. & Mühlich, I. (2016): Vielfalt versus Unterschiedlichkeit. In: Synergie.#01 Online verfügbar unter https://www.synergie.uni-hamburg.de/media/ausgabe01/synergie01-beitrag02-linkemuehlich.pdf [letzter Zugriff 20.09.2018]. Peschel, F. (2005): Offener Unterricht. Idee, Realität und ein praxiserprobtes Konzept zur Diskussion. Teil 1: Allgemeindidaktische Überlegungen. Baltmannsweiler: Schneider Verlag Hohengehren. Sliwka, A. (2010): From homogeneity to diversity in German education. In: Effective Teacher Education for Diversity: Strategies and Challenges. Paris: OECD, 205–217. Warmuth, G.-S. (2015): Gelebte Diversität? Erfolgreiche Umsetzungsstrategien am Beispiel einer technischen Hochschule. Wiesbaden: Springer VS.

Partizipation im Unterricht: Der Besprechungstisch Elke Hildebrandt und Katja Maischatz1

Keywords: Partizipation, Mitgestaltung von Unterricht

Abstract Trotz des in der UN-Kinderrechtskonvention (KRK) beschriebenen Rechts auf Partizipation zeigt sich, dass dieser Forderung in der Realität des Unterrichtsalltags bislang nur wenig nachgekommen wird. Die hier vorgestellte Studie geht der Frage nach, wie Partizipation von Schüler*innen (SuS) im Unterricht der Primarstufe in deutschsprachigen Kantonen der Schweiz verstanden, ermöglicht und gefördert wird. In diesem Beitrag wird nach einer knappen Verortung des Partizipationsbegriffs und des damit verbundenen Auftrags ein Beispiel aus dem Unterrichtsalltag vorgestellt, in dem ein „Besprechungstisch“ im Zentrum steht.

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Einführung: Das Recht auf Partizipation – auch im Unterricht

In der UN-Kinderrechtskonvention (KRK) wird in Artikel 12 das grundlegende Recht eines jeden Kindes definiert, seine Meinung in allen das Kind berührenden Angelegenheiten frei zu äußern. Weiterhin sei die kindliche Meinung angemessen und entsprechend von Alter sowie Reife zu berücksichtigen ist (United Nations 1989). Zudem steht Artikel 12 KRK mit weiteren Grundprinzipien in Verbindung (z. B. Art. 2, 3, 5, 6, 13, 17 KRK). Folglich ist es die Pflicht der ratifizierenden Nationalstaaten mittels ihrer Institutionen und Organisationen, das so umrissene 1

Elke Hildebrandt | Päd. Hochschule FHNW | [email protected] Katja Maischatz | Päd. Hochschule FHNW | [email protected]

© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 N. Skorsetz et al. (Hrsg.), Diversität und soziale Ungleichheit, Jahrbuch Grundschulforschung 24, https://doi.org/10.1007/978-3-658-27529-7_25

Partizipation im Unterricht: Der Besprechungstisch

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Partizipationsrecht der Kinder umzusetzen. Und das gilt nicht nur für die Schule, sondern auch für den Unterricht (Hildebrandt & Campana 2016). Jedoch zeigt sich im Unterrichtsalltag, dass dieser Forderung bislang nur wenig nachgekommen wird (Fatke & Niklowitz 2003; Oser & Biedermann 2003; Rieker et al. 2016). So ermöglichen Lehrpersonen Partizipation meist nur dann, wenn ihre Autorität dadurch nicht eingeschränkt wird (Fatke & Schneider 2005; Meier et al. 2011; Meinhold-Henschel & Schack 2008; Wagener 2013). Zudem schätzen SuS ihre Partizipationsmöglichkeiten als viel geringer ein, als dies ihre Lehrpersonen tun (Wagener 2013). Aber auch über die deutschen Sprachgrenzen hinaus zeigen beispielsweise Studien aus Irland (Devine 2002) oder Kanada (Raby 2008), wie beschränkt die Mitbestimmungsmöglichkeiten von SuS sind. Die zentrale Fragestellung des Forschungsvorhabens „Partizipation im Unterricht der Primarstufe“ lautet daher, wie Partizipation von SuS im Unterricht der Primarstufe in deutschsprachigen Kantonen der Schweiz verstanden, ermöglicht und gefördert wird. Dazu wurden zunächst offizielle Dokumente kantonaler Bildungsdepartemente hinsichtlich der Verbindlichkeit der darin formulierten Leitlinien etc. für Lehrpersonen untersucht. Daran anschließend wurden mehrere Unterrichtslektionen der sieben teilnehmenden, meist multikulturell zusammengesetzten Schulklassen videografiert. Ergänzt wurden diese Beobachtungen durch Befragungen von SuS (Fragebogen, Gruppendiskussion) und deren Lehrpersonen (Experteninterview, u. a. anhand von Videosequenzen ihres Unterrichts) zu ihren Partizipationserfahrungen und zu Angeboten unterrichtlicher Partizipation. In ersten Ergebnissen zeigt sich, dass es mindestens drei Anhaltspunkte für eine gelingende Partizipationsförderung gibt: die partizipative Grundhaltung bzw. Einstellung der Lehrperson, die Kommunikationsqualität zwischen der Lehrperson und ihren SuS sowie partizipationsfördernde Unterrichtsmethoden und -konzepte. In diesem Beitrag wird ein Beispiel aus dem Unterricht vorgestellt, in dem anhand der Methode „Besprechungstisch“ aufgezeigt wird, wie eine Lehrerin in einer altersdurchmischten, multikulturellen 1./2. Klasse jene drei Aspekte umsetzt.

2 Der Besprechungstisch Wie aus der schriftlichen Schülerbefragung hervorgeht, wird der Unterricht von den SuS als insgesamt partizipativ beschrieben, so z. B. hinsichtlich der Transparenz der Klassenregeln oder der freien Wahl des Arbeitspartners. In den daran anknüpfenden vertiefenden Gruppendiskussionen erinnerten die SuS unterschiedliche Aspekte, z. B. wie sie bei der sog. ‚Leise-Regel‘ mitbestimmt haben. Dazu resümierte ihre Lehrerin grundlegende Gedanken zur Genese dieser und anderer

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gemeinsamer Normen: „... wie verhält man sich an einem Ruheplatz, wie verhält man sich an einem Tisch, an einem Besprechungstisch, an einem Gruppentisch, wie gehen wir miteinander um, eben auch mit diesen Klassenregeln, die wir zusammen gemacht haben, (...), aber die haben wir ja auch als Commitment eigentlich zusammen gestaltet. Und das sind eigentlich, das sind Verbindlichkeiten. Aber diese Verbindlichkeiten erschafft man ja zusammen mit den Schülern (...). Die Klassenregeln erschafft man ja mit den Schülern und nachher sind sie verbindlich“ (Interview 1, Z 786–796). Die Lehrerin betont anhand der Klassenregeln, wie Mitbestimmung und Normenverbindlichkeit ineinandergreifen, und sie offenbart gleichsam ihre partizipativ-egalitäre Einstellung. Den „Besprechungstisch“ wiederum beschreibt sie als Ort, an dem man „normal“ reden kann, im Gegensatz zum sonst üblichen Flüstern: „Eben dann haben wir hier diesen Besprechungstisch, dort kommt man eigentlich hin, um zu reden. Sonst haben wir immer eine Flüsterkultur“ (Interview 1, Z 122–124). Zudem wird deutlich, dass dem Besprechungstisch als angestammtem Platz kooperativen Lernens in der Klasse eine große Bedeutung zukommt: „Also es ist wirklich schon so automatisiert, dass sie zu zweit an den Besprechungstisch gehen mit den Zehnerstreifen und nachher einander Sachen erklären“ (Interview 1, Z 284–286). Der Besprechungstisch, der von einer Lehrerin als Ort für individuelle Förderung eingeführt wurde, die sich die SuS selbstständig holen und der überdies an gemeinsame Normen anknüpft, erweist sich für die Lehrerin als leicht zu praktizierende und zugleich partizipationsfördernde Unterrichtsmethode. Im videografierten Unterricht konnten überdies weitere Varianten des Besprechungstisches beobachtet werden. So ist die Lehrerin als Beraterin aktiv, zum einen am Tisch direkt, aber auch auf dem Fußboden. Dabei übernehmen die SuS für sich und ihr eigenes Lernen die Verantwortung, indem sie selbstbestimmt Beratung suchen bzw. angebotene Unterstützung annehmen oder sie selbstständig anderen SuS helfen. Dazu nimmt z. B. eine Schülerin das Schild ‚Besprechungstisch‘ und holt es an den Tisch einer anderen Schülerin, die Hilfe benötigt. In den Mikroprozessen fällt zudem ein spezifischer Kommunikationsstil der Lehrerin mit den SuS auf. Sie stellt den Kindern vor allem Fragen, die für die SuS verständlich und nachvollziehbar zugleich sind: „Clara, was machst du? – Wieso nicht? – Brauchst du Hilfe? – Braucht ihr Hilfe, oder ist’s gut beim Besprechen? – Wollen wir es noch einmal zusammen anschauen?“ Dabei sind diese Fragen nicht rhetorischer Natur, sondern die SuS können tatsächlich entscheiden, ob sie z. B. Hilfe annehmen wollen oder nicht. Insgesamt ist eine wertschätzende Kommunikation zwischen Lehrerin und SuS festzustellen: wenige Appelle, die sonst oft den Unterricht prägen, dafür mehr dialogische Fragen, Angebote oder auch ein achtsames „Danke fürs Helfen“. Gerade in dieser Sensibilität der Kommunikation zeigt sich, wie sich eine partizipative Einstellung in einer partizipativen Haltung zu den SuS ausdrücken kann. Und das motiviert die SuS, für sich selbst,

Partizipation im Unterricht: Der Besprechungstisch

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aber auch für andere Verantwortung zu übernehmen. In jener kommunikativen Offenheit und dem wertschätzenden sowie anerkennenden Umgangston lassen sich die Wurzeln des schon oft thematisierten Zusammenhangs von Partizipation, Bildung und Demokratie verorten (Eikel 2006; Hansen et al. 2015; Prengel 2014). Die Lehrerin betont, wie wichtig es ist, nicht nur eine „fragende Kultur“ zu etablieren, sondern auch die Kinder „ernst zu nehmen (…) und diesen viel zuzutrauen“, das sei für sie „einfach so eine Grundhaltung“ (Interview 2, Z 695–703). Aber auch bei dieser partizipativ arbeitenden Lehrerin bestehen durchaus Optimierungsmöglichkeiten, was sich z. B. darin zeigt, dass sie bei Bitten um Hilfe bei mathematischen Problemen nicht danach fragt, wie die SuS vorgehen wollen oder/und ihnen mögliche Material- oder Denkhilfen anbietet, sondern ihnen jeweils zeigt, wie vorzugehen ist, und ihnen Visualisierungsmaterialien vorschreibt. Hier könnte überlegt werden, ob nicht eine adaptive und kognitiv aktivierende Lernbegleitung (Streit 2018) partizipationsförderlicher wäre als das strikte Aufzeigen eines einzigen Lösungsweges. Zudem ist zu fragen, inwiefern die Ambivalenzen von Partizipation in einer hierarchisch organisierten Schule, die von Asymmetrien geprägt ist, Lehrpersonen permanent gerade auch in Mikroprozessen herausfordern (Bonanati 2018).

3 Fazit Am Beispiel der Regeln um und der Kommunikation am „Besprechungstisch“ zeigt sich erstens, wie diese ritualisierte Methode zugleich die Mitbestimmungsund Mitgestaltungsmöglichkeiten der SuS im Unterricht fördern kann, wie zweitens die Mitbestimmung bei der Einführung von Regeln deren Akzeptanz und Verbindlichkeit fundieren kann und wie drittens die Lehrerin über ihren fragenden und anbietenden Kommunikationsstil den SuS Entscheidungen für ihr Lernen überlässt. Im Zusammenwirken dieser drei Aspekte eröffnet sich der «Partizipationsraum», der von der einfachen Teilhabe über die Mitentscheidung bis hin zu Verantwortungsübernahme der SuS reicht. Damit ist ein Erfahrungsraum umrissen, in dem versucht wird, auf den (Denk-)Fehler der „Scheinpartizipation“ (Oser & Biedermann 2006) zu verzichten, wohingegen die SuS schon frühzeitig in die Unmittelbarkeit von „Stimme und Wirkung“ (Rieker et al. 2016) eingebunden sind und diese selbst erleben können.

Literatur Bonanati, M. (2018): Lernentwicklungsgespräche und Partizipation. Rekonstruktionen zur Gesprächspraxis zwischen Lehrpersonen, Grundschülern und Eltern. Wiesbaden: Springer VS.

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Elke Hildebrandt und Katja Maischatz

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Beschämung im unterrichtlichen Anerkennungsgeschehen der Grundschule Juliane Spiegler1

Keywords: Scham, Beschämung, Differenzkonstruktion, Anerkennung

Abstract Zunehmend werden in der ethnographischen Differenzforschung Fragen der machtvollen Beteiligung von Schule und Unterricht an der Herstellung von Heterogenität und Normalität fokussiert. In diesem Kontext nimmt der vorliegende Beitrag eine Beschämungspraktik aus dem Unterricht einer Grundschule in den Blick und arbeitet diese als Modus des „doing difference“ (Fenstermaker & West 2001) heraus.

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Skizze des Forschungsprojektes

Die Studie untersucht mit einem kulturtheoretischen Verständnis von Heterogenität (Budde 2012) Differenzkonstruktionen im inklusiven Grundschulunterricht. Mit einer praxistheoretisch informierten Perspektive werden Differenzierungspraktiken analysiert und hinsichtlich ihrer ordnungsgenerierenden Funktion sowie ihres subjektivierenden Gehalts (Butler 2001) rekonstruiert. Mit diesem Anliegen greift das Projekt ein ethnographisches Vorgehen (Breidenstein et al. 2015) auf. Erhoben wurde in einem Zeitraum von sechs bis acht Monaten u. a. mit der Teilnehmenden Beobachtung und Audiographie aller Unterrichtsstunden parallel in vier Grundschulen. Die gewonnenen Daten werden mit Blick auf feldimmanente Differenzkonstruktionen in Anlehnung an das Kodierverfahren der Grounded Theory codiert. Anschließend werden ausgewählte 1

Juliane Spiegler | Universität zu Köln | [email protected]

© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 N. Skorsetz et al. (Hrsg.), Diversität und soziale Ungleichheit, Jahrbuch Grundschulforschung 24, https://doi.org/10.1007/978-3-658-27529-7_26

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Juliane Spiegler

Situationen sequenzanalytisch betrachtet, sodass der Versuch angestrebt wird, die prozesshafte Hervorbringung und Bearbeitung sozialer Kategorien in ihrer intersektionalen Verschränkung nachzuzeichnen und überdies nachvollziehen zu können, wie Lehrer*innen und Schüler*innen sich dabei gegenseitig adressieren. Von besonderem Interesse sind dabei Praktiken der situativen Hervorbringung und Herstellung von Scham und Beschämung sowie deren Effekte.

2 Analyse des Fallmaterials Im Folgenden wird nun Material vorgestellt, das in einer freien Grundschule in einer dritten Klasse erhoben wurde. Nach einem gekürzten Materialauszug erfolgt jeweils die Rekonstruktion. Vorab sei die vorherige Situation noch einmal zusammengefasst: Es ist Stundenbeginn, der Unterricht hat jedoch noch nicht begonnen. Die Kinder sitzen auf ihren Plätzen und Frau K., die Lehrerin, setzt sich vorne auf ihren Lehrer*innentisch. Sie sagt, dass ein Test, den die Kinder vor einigen Tagen geschrieben haben, nicht gut ausfallen wird. Sie möchte ihn aber nicht heute besprechen, sondern erst einmal ein neues Thema beginnen. Die Schülerin Marie meldet sich, wird aufgerufen und fragt: „Und was ist, wenn wir dann nichts mehr davon wissen?“ Frau K. sagt daraufhin: „Dann ist es schade, dass du hier so lange in der Schule warst. Mitgemacht hast. Und NICHTS davon im Kopf hast. Dann kannst du in der Zeit auch was Anderes machen. (...) Dein Wille muss sein – guck mal, deine Eltern gehen jeden Tag arbeiten, ne? Ne? Mama, Papa. DU MUSST das nicht. Kinder in anderen Ländern müssen das. Die gehen nicht zur Schule. Die gehen arbeiten, die müssen ins Bergwerk. Du hast WAHNSINNIG Glück, dass du das lernen darfst, hier. Du hast nichts zu tun, außer herzukommen, zu sitzen, abzuspeichern.“

Aus der ursprünglich kollektiven Adressierung von Marie wird eine personale, direkt auf Marie bezogene. Dramatisierend behauptet die Lehrerin, ein Schulbesuch wäre grundsätzlich sinnlos, wenn Marie ‚nichts‘ im Kopf behalten würde und rekurriert hiermit auf den Wissenserwerb als vermeintlich zentrales Ziel schulischer Bildung. Schnell eröffnet sie einen emotional aufgeladenen Raum, nämlich „Zuhause“, den die Lehrerin zu ihrer Begründung heranzieht. Eingeleitet von der abgebrochenen Bemerkung „Dein Wille muss sein“ führt sie aus, dass auch Maries Eltern jeden Tag arbeiten gehen und Marie das nicht müsse. Und da sie ja auch keine weiteren Verpflichtungen habe, als zur Schule zu kommen, dort zu sitzen und abzuspeichern – und damit im Vergleich zu ihren Eltern aber auch zu anderen Kindern ein vermeintlich leichtes Leben – könne sich Marie doch glücklich schätzen. Dass nun aber der Prozess zwischen „sitzen“ und „abspeichern“ keineswegs einfach sein muss bzw. was er überhaupt ist, bleibt bei Frau K. offen.

Beschämung im unterrichtlichen Anerkennungsgeschehen der Grundschule

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Vor der Folie einer (erwachsenen) Leistungsgesellschaft, in der es ‚normal‘ zu sein scheint, arbeiten zu gehen und in der Übersetzung es daher für Marie ‚normal‘ sein müsse, zur Schule zu gehen, denn dies sei ihre Arbeit, lässt sich der abgebrochene Sprechakt „Dein Wille muss sein“ also mit „zur Schule kommen zu wollen“ ergänzen und impliziert damit einen Appell an Marie, freiwillig und gerne zur Schule zu kommen und vor allem freiwillig und gerne lernen zu wollen. Es steigen nun einige der Schüler*innen der Klasse in das Gespräch ein. Sie werden nach einem kurzen Aufzeigen von Frau K. angesprochen und berichten beispielsweise von Kinderarbeit oder -armut in „anderen Ländern“. Nichtsdestotrotz herrscht auch eine für die Ethnographin wahrnehmbare angespannte Stimmung in der Klasse. Es ist so ruhig, wie es in dieser Klasse selten beobachtet wurde. Marie wird sowohl von ihren Mitschüler*innen als auch Frau K. immer wieder angesehen. Sie selbst sagt nichts, hält ihren Füller in der Hand und klopft mit ihm gelegentlich sanft auf den Tisch. Frau K. dann weiter: „Aber die, die kämpfen für ihre eigene Freiheit, ne. Also dir geht es eigentlich gut, du hast einen warmen Hintern hier. Und die frieren! Die haben keine Klamotten, ne? (...) Du hast es tierisch gut. Du musst NICHT weinen, wenn abends mal nichts auf dem Tisch steht zu essen. Du hast immer was. (...) Du hast also NICHTS zu tun. Außer ein bisschen zu lernen. Ich finde, dir geht es ganz schön gut. Aber das kannst du dir vielleicht selber nochmal überlegen.“

Der von Frau K. aufgebaute Druck wird weiter von ihr verstärkt, indem sie Grundbedürfnisse des Menschen und existenzielle Sorgen, die – und sie bleibt bei ihren Beispielen weiterhin unkonkret – andere Kinder bzw. die „die“ haben, Marie gegenübergestellt werden. Frau K. eröffnet eine dichotome „Du-und-die“bzw. „wir-und-die“-Welt, die sich alternativlos auf diese beiden Möglichkeiten zu erstrecken scheint. Marie, in der vermeintlich überlegenen Position, hat nun kaum noch Möglichkeiten mehr, ihr Anliegen vorzutragen, sie wird in eine Art sprachliche Ohnmacht überführt. Was Marie sich mit einem diffus anklingenden Schuldgefühl nun überlegen soll, ist also nicht, ob es ihr gut geht, denn das liegt auf der Hand, sondern ob daraus nicht resultieren müsse, dass sie die Schule als ihren Beruf anerkennen und sich aufgrund ihres Gutgehens auf das „herkommen, sitzen, abspeichern“ konzentrieren könne, schließlich, so wiederholt Frau K. zum zweiten Mal, habe sie ja auch nichts weiter zu tun. Wieder erzählen weitere Schüler*innen inhaltlich Ähnliches, während anschließend darüber berichtet wird, dass Schulschwänzen in Deutschland nicht erlaubt ist. Frau K. greift dies auf und sagt, dass es ebenso verboten ist, als Kind zuhause zu bleiben, dass auch die Eltern da nichts machen können, weil das „in Deutschland so läuft.“ Wieder wird ein Schüler aufgerufen und das Gespräch entwickelt sich in die Richtung, dass bei Schulverweigerung Jugendamt und Polizei eingreifen. Frau K. nun weiter: „Wenn der Polizist klopft, ist das schon eine andere Hausnummer, denn ER hat das Recht dich MITzunehmen. (...) Der darf dich ANFASSEN, packen und mitnehmen, ne? Das darf der. Das ist unser Land, deswegen sag ich mal, Marie, ne.“

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Juliane Spiegler

Die Lehrerin macht eine Alternativlosigkeit zur Schulpflicht deutlich, die zur Not auch mit Gewalt umgesetzt wird. Der sprachliche Dreischritt „anfassen, packen, mitnehmen“ zeigt eine von Frau K. angenommene sprachliche wie körperliche Machtlosigkeit der Kinder in dieser Situation auf. So wie sie für Marie zuvor jeden Handlungs- bzw. Möglichkeitsraum geschlossen hat, überführt sie dies nun für alle Schüler*innen. Wenngleich sie erstmals nicht mehr das Marie-Du, sondern das Klassen-Du verwendet und damit alle adressiert, entlässt sie Marie dennoch nicht aus dem Aufmerksamkeits- und Verantwortungsfokus. Nach ca. sieben Minuten ist dieses Gespräch zu Ende und der ‚eigentliche‘ Unterricht beginnt.

3 Zusammenfassung der Analyse Es wurde versucht zu zeigen, wie Frau K. Beschämung als einen Prozess des „doing difference“ über eine (klassen)öffentlich gemachte Sanktionierung situativ herstellt. Frau K greift verschiedene Differenzen auf, beispielsweise ethnosozio-kulturelle wie auch generationale, und erfasst dabei keine Unterschiede innerhalb der „Die Anderen“- oder „Wir“-Formation. Den ‚Anderen‘, die als eine Art Kontrastfolie dienen, werden so beispielsweise kulturspezifische Defizite unterstellt, sodass diese Kinder zwar zur Schule kommen wollen, aber nicht können. Die zunächst dyadische Kommunikation zwischen Marie und der Lehrerin, in der erste Normalitätsannahmen aufgerufen werden, überführt Marie in die Position einer vermeintlich Noch-nicht-Wissenden. Als die Dyade von der Lehrerin für die anderen Schüler*innen geöffnet wird, entsteht für diese die Möglichkeit einer Selbst-Positionierung über Marie, die sie zu anerkennbaren Subjekten in dieser Ordnung macht, wenn sie beispielsweise nicht nur um Privilegien wissen und diese klassenöffentlich artikulieren, sondern gleichzeitig am von Frau K. initiierten, expliziten „doing difference“ partizipieren können. So schafft Frau K. eine Ordnung, die es ihr ermöglicht, auch zukünftige Praktiken darunter zu subsumieren. Zu verfolgen ist, ob entlang der aufgezeigten Differenzherstellungen und subjektiverenden Effekte, wiederkehrende Positionierungen zu beobachten sind, die zu einer Verfestigung führen.

4 Ausblick Das Phänomen Scham tritt in einigen Forschungsprojekten der qualitativen Unterrichtsforschung auf – bisher jedoch lediglich als Randbemerkung (exemplarisch Zaborowski et al. 2011). Die wenigen vorhandenen Studien (z. B. Holodynski & Kronast 2009, Wertenbruch & Röttger-Rössler 2011, Kellermann 2012,

Beschämung im unterrichtlichen Anerkennungsgeschehen der Grundschule

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Blumenthal 2014 oder Wellgraf 2018) weisen darauf hin, dass in Schule und Unterricht auch über Scham und Beschämung gelernt wird: „Before (…) experiences undergo any cognitive reflection, they are perceived and processed emotionally; [e.g., JS] as (...) shame over academic failures signalizing inferiority and social exclusion“ (Holodynskim & Kronast 2009: 371). Scham und Beschämung und damit potentiell einhergehendes Inklusions- und Exklusionserleben sind aber auch „jenseits von Prüfungs- und Leistungssituationen fester Bestandteil des Schulalltags“ (Wertenbruch & Röttger-Rössler 2011: 253) und vor allem ein „bedeutsames Element zur Regelung sozialer Zugehörigkeiten und Normkonformitäten“ (ebd.). Sich dieses Themas anzunehmen und beispielsweise die methodologische Debatte um eine ethnographisch-emotionsbasierte Unterrichtsforschung (vgl. exemplarisch Wellgraf 2018) anzuregen, sollte daher zukünftig zu den Aufgaben qualitativer Grundschulforschung zählen.

Literatur Blumenthal, S.-F. (2014): Scham in der schulischen Sexualaufklärung. Eine pädagogische Ethnographie des Gymnasialunterrichts. Wiesbaden: VS Verlag. Breidenstein, G.; Hirschauer, S.; Kalthoff, H. & Nieswand, B. (2015): Ethnografie. Die Praxis der Feldforschung. 2. Auflage. Konstanz und München: UVK. Budde, J. (2012): Problematisierende Perspektiven auf Heterogenität als ambivalentes Thema der Schul- und Unterrichtsforschung. In: Zeitschrift für Pädagogik 58, 522–540. Butler, J. (2001): Psyche der Macht. Das Subjekt der Unterwerfung. Frankfurt am Main: Suhrkamp. Fenstermaker, S. & West, C. (2001): ‚Doing difference‘ revisited. Probleme, Aussichten und der Dialog der Geschlechterforschung. In: Heintz, B. (Hrsg.): Geschlechtersoziologie. Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie, Sonderheft 41. Opladen & Wiesbaden: Westdeutscher Verlag, 236–249. Holodynski, M. & Kronast, S. (2009): Shame and Pride. Invisible Emotions in Classroom Research. In: Röttger-Rössler, B. & Markowitsch, H. J. (Hrsg.): Emotions as Bio-cultural Processes, New York: Springer, 371–394. Kellermann, I. (2012): Emotionen, Formen, Gesten. Ein ethnographischer Blick auf verborgene Dimensionen von Unterricht. In: Zeitschrift für Erziehungswissenschaft, Sonderheft 16, 97–114. Wellgraf, S. (2018): Schule der Gefühle. Zur emotionalen Erfahrung von Minderwertigkeit in neoliberalen Zeiten. Biefeld: transcript Verlag. Wertenbruch, M. & Röttger-Rössler, B. (2011): Emotionsethnologische Untersuchungen zur Scham und Beschämung in der Schule. In: Zeitschrift für Erziehungswissenschaft 14 (2), 241–257. Zaborowski, K. U.; Meier, M. & Breidenstein, G. (2011): Leistungsbewertung und Unterricht. Ethnographische Studien zur Bewertungspraxis in Gymnasium und Sekundarschule. Wiesbaden: VS Verlag.

Lernatmosphären und ihre Bedeutung für das Lernen in heterogenen Grundschulklassen Agnes Pfrang1

Keywords: Lernatmosphäre, Lernen im Klassenraum, Schüler*innenperspektive

Abstract Eine positiv erlebte Lernatmosphäre gilt als Grundlage für gelungene Lernprozesse. Dennoch wird das Thema bislang kaum empirisch bearbeitet. Der Beitrag geht daher anhand einer qualitativen Untersuchung der Frage nach, welchen Einfluss intendierte Lernatmosphären auf das Lernen aus Schüler*innensicht haben.

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Einleitung

Während das Schul- bzw. Unterrichtsklima bspw. in Bezug auf Leistung, Einstellungen zu Schule und Lernen, Verhalten und Befinden in der Schule, soziales Verhalten, Selbstkonzepte oder Interessen Gegenstand zahlreicher empirischer Untersuchungen ist (vgl. Eder 2002: 221f.), ist der Lernatmosphäre und deren Einfluss auf kindliches Lernen aus Schüler*innenperspektive im Klassenraum in diesem Kontext kaum Aufmerksamkeit entgegengebracht worden (vgl. Pfrang & Rauh 2017: 295). Dies erscheint jedoch von Bedeutung, da die Lernatmosphäre relevant ist für wissenschaftliche Konzepte zum Lernen sowie zu allen Räumen, in denen pädagogisch gearbeitet wird. In dem Beitrag wird ein Verständnis von Lernatmosphäre angebracht, bevor auf empirische Forschungsbefunde eingegangen wird. Anschließend werden ausgewählte Ergebnisse einer qualitativen Untersuchung präsentiert und reflektiert.

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Agnes Pfrang | Katholische Universität Eichstätt-Ingolstadt | [email protected]

© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 N. Skorsetz et al. (Hrsg.), Diversität und soziale Ungleichheit, Jahrbuch Grundschulforschung 24, https://doi.org/10.1007/978-3-658-27529-7_27

Lernatmosphären und ihre Bedeutung für das Lernen in heterogenen Grundschulklassen

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2 Theoretische Rahmung und Forschungsstand 2.1

(Lern-) Atmosphären im Klassenraum

Grundlegend für die Bedeutung der Untersuchung is die Unterscheidung von Unterrichtsklima und Lernatmosphäre. Nach Eder bezieht sich das Klima im Kontext der Schul- und Unterrichtsforschung auf alle schulischen Merkmale in der Wahrnehmung der Schüler*innen bzw. die von ihnen wahrgenommene Konfiguration bedeutsamer Merkmale innerhalb der Lernumwelt (Eder 2002: 213). Somit ist in diesem Strang eine Fokussierung auf die Wahrnehmung der Schüler*innen zu erkennen. Mit dem aus der Phänomenologie entlehnten Begriff der Lernatmosphäre wird auf einen Atmosphärebegriff zurückgegriffen, der v. a. zwei Eigenschaften impliziert (Pfrang & Rauh 2017): Erstens umgibt Atmosphäre Menschen, Dinge sowie Situationen und kann somit weder nur Subjekten noch ausschließlich Objekten zugeordnet werden. Zweitens hat sie eine Wirkung, d.h. sie verleiht Räumen Emotionalität. Umgeben von einer Atmosphäre im Raum nimmt der Mensch nicht nur Einzelheiten wahr, sondern auch umfassende Qualitäten seiner Umgebung. Dies verweist auf die Bedeutsamkeit des Atmosphärephänomens für Lernprozesse: „In einer Lernatmosphäre werden (…) alle aktuellen Wahrnehmungen bedeutsam. (…) Lernen [wird] nicht allein durch Stimmungsräume zwischen Lehrpersonen sowie Schülerinnen und Schülern geprägt (…).“ (ebd.: 295f.) Hinzukommen folgende Dimensionen: Unterrichtsmaterialien und -formen, interpersonelle Beziehungen, Interaktionen, Raumgestaltung bzw. -ausstattung und Lerngegenstände (ebd.: 296). Dies verweist auf die Bedeutung einer Sensibilisierung der Lehrpersonen für Lernatmosphären, um das Lernen aller Schüler*innen unterstützen zu können. 2.2

Empirische Forschung zu Lernatmosphären

Wenn Lernatmosphäre in Studien aufgegriffen wird, dann wird sie meist anhand konkreter Faktoren (z. B. Motivation, Wertschätzung, Begeisterung, Ermutigung, Feedback, Lehrperson) beschrieben (z. B. Senior 2006). Lehrpersonen nehmen dabei starken Einfluss auf die anderen Kategorien. Die Ergebnisse verdeutlichen, dass sich z. B. Motivation dann erhöht, wenn Rahmenbedingungen für eine positive Lernatmosphäre geschaffen werden. Gsellmann-Rath (2017) fokussiert in ihrer Untersuchung konkret das Phänomen der Lernatmosphäre. Sie befragte Lehrpersonen zu dem Thema und zu deren Relevanz für den Lehrerberuf. Hier wurden noch die Kategorien Raum, Lebenskontext, positive Bewertung der Mehrsprachigkeit und die soziale Interaktion in der Klasse eruiert. Ein Großteil der Befragten gab dabei an, dass die Lernatmosphäre den Unterrichtsprozess stark beeinflusst und von einer fachlich kompetenten Lehrperson abhängt (Gsellmann-

176

Agnes Pfrang

Rath 2017). Die Perspektive der Schüler*innen wird bislang vernachlässigt. Die Untersuchung geht deshalb folgenden Fragestellungen nach: 1. Welche Merkmale und Charakteristika kennzeichnen aus Schüler*innensicht die Lernatmosphäre in einem „idealen“ Klassenraum? 2. Welche Auswirkungen haben die im konkreten Klassenraum gemachten Atmosphäreerfahrungen auf die Lernerfahrungen der Schüler*innen? 3. Welche Aspekte sind bei der Gestaltung, Ausstattung und Nutzung von Klassenräumen von Bedeutung, damit aus Schüler*innenperspektive eine lernförderliche Atmosphäre erfahren wird?

3 Schüler*innenperspektiven auf die Lernatmosphäre im Klassenraum 3.1

Anlage und Durchführung der Untersuchung

An der qualitativen Untersuchung nahmen 20 Schüler*innen einer 4. Jahrgangsstufe teil (8 Jungen, 12 Mädchen). Sowohl das Lern- als auch das Sozialverhalten wurden von der Lehrerin als sehr heterogen beurteilt. Um alle Kinder am Prozess der Datenerhebung und -auswertung zu beteiligen, wurde ein dreidimensionales Modell, bestehend aus Kinderzeichnung, offenen Gesprächen und Kindertexten, entwickelt und erprobt (Pfrang 2018: 105 ff.). Hier wurden bewusst Medienwechsel vollzogen und verschiedene Sprachreflexionsebenen berücksichtigt, um unterschiedliche Möglichkeiten zu schaffen, mit den Schüler*innen in einen offenen Dialog zu treten. Auch wurden sie in den Analyseprozess einbezogen, indem die Zeichnungen mündlich erklärt bzw. schriftlich reflektiert wurden (Pfrang 2018: 116 ff.). Die verschiedenen Zugangsweisen dienten dazu, allen eine Möglichkeit anzubieten, sich mit dem Thema auseinanderzusetzen und einen individuellen Beitrag zu leisten. Zusätzlich wurden die Zeichnungen mit einem phänomenologischen Bildanalyseverfahren (Stenger 2012) und die Gespräche bzw. Texte mit der qualitativen Inhaltsanalyse (Kuckartz 2016) ausgewertet, um einen vertieften Zugang zum Material zu erhalten. 3.2

Darstellung und Diskussion der Ergebnisse

Die Analyse der Kinderzeichnungen brachte hervor, dass bestimmte atmosphärische Einflüsse durch folgende Faktoren im Klassenraum beeinflusst werden: farbliche Gestaltung, Licht, Temperatur, technische Hilfsmittel bzw. digitale Medien, andere Personen und die Berücksichtigung leiblicher Bedürfnisse. In den Texten und Gesprächen erläutern die Schüler*innen, warum und unter welchen Bedingungen Einflüsse des Raums als atmosphärisch positiv erfahren werden. So malt

Lernatmosphären und ihre Bedeutung für das Lernen in heterogenen Grundschulklassen

177

z. B. ein Junge einen Swimming-Pool und begründet dies wie folgt: „(…) Wenn ich immer sitze, tun mir die Beine weh und dann kann ich mich nicht konzentrieren, weil ich Schmerzen habe. Im Pool kann ich mich auspowern und mit anderen spielen. Dann kann ich vielleicht auch wieder klarer denken. Ich kann dann wieder besser lernen, weil ich fröhlich bin.“ Es lässt sich erkennen, dass eine positiv erfahrene Lernatmosphäre davon abhängig sein kann, ob dem Bedürfnis nach Bewegung nachgekommen wird. Auch wird auf soziale Interaktionen eingegangen, v. a. auf das gemeinsame Spielen. Zusätzlich wird ein Bezug zur persönlichen Stimmung hergestellt, da die Gelegenheit, sich bewegen zu können, aus Sicht des Jungen zu Fröhlichkeit führt, die wiederum sein Lernen positiv beeinflusst (Pfrang 2018). In den Texten und Gesprächen werden weitere Faktoren genannt und erläutert: Interpersonelle Beziehungen (v. a. Mitschüler*innen, Lehrpersonen), Interaktionen (v. a. Essen, Trinken, Bewegen, Spielen Lernen), Raumgestaltung und -austattung (v. a. flexibles Mobiliar, Einrichtungsgegenstände, Temperaturregler, Lampen, farbliche Gestaltung), Lerngegenstände (v. a. technische Geräte, digitale Medien, lernunterstützende Hilfsmittel) sowie Unterrichtsmaterialien und -formen (v. a. Rhythmisierung, Pausen, Vielseitigkeit) (Pfrang 2018: 133). Insgesamt verweisen die Äußerungen der Schüler*innen darauf, dass sie im Klassenraum atmosphärische Räume erfahren und diese auf ihr Lernen einwirken. Gleichzeitig machen sie deutlich, dass und wie diese erzeugt werden können, um ihr Lernen positiv zu beeinflussen. In Bezug auf die theoretischen Ausführungen lässt sich an den Äußerungen die angesprochene Verfasstheit der Atmosphäre als Bezugssystem von eigenem Befinden und Umgebungsqualitäten ableiten, was darauf hinweist, dass im Klassenraum subjektive Befindlichkeiten und objektive Umgebungsqualitäten zusammengehalten werden (Pfrang & Rauh 2017). Weiterhin wird ersichtlich, dass sich keine einheitlichen Merkmale des Klassenraums benennen lassen, die bei allen Kindern zu einer positiv erfahrenen Lernatmosphäre führen. In individuell unterschiedlicher Gewichtung können z. B. Beziehungen, eine bestimmte Ausstattung oder ein hoher Wohlfühlfaktor die Lernatmosphäre auch unterschiedlich erfahren lassen (ebd.). Dies birgt Herausforderungen für die Praxis, was aber nicht dazu führen sollte, die Lernatmosphäre bei der Planung und Gestaltung von Unterricht zu vernachlässigen. Hierfür sollen drei Gründe angeführt werden: 1. Die Art und Weise, wie die Lernatmosphäre erfahren wird, beeinflusst das Lernen, Handeln und Verhalten der Schüler*innen. 2. Die im Klassenraum erfahrene Lernatmosphäre kann hemmend oder fördernd auf Lernprozesse wirken, da sie Lern-, Bewegungs-, Kooperations- und Kommunikationsprozesse beeinflusst (ebd.). 3. Eine positiv erfahrene Lernatmosphäre kann das Erfahrungen machen der Schüler*innen fördern und ein weiterführendes Interesse an Formen und Inhalten des Unterrichts wecken (ebd.).

178

Agnes Pfrang

4 Fazit Insgesamt lässt sich anhand der Daten resümieren, dass von den einzelnen Schüler*innen eine bestimmte Lernatmosphäre gewünscht wird, die in der Praxis nur selten bewusst herbeigeführt werden kann. Diese Tatsache darf jedoch nicht dazu verleiten, keine weiteren Überlegungen diesbezüglich anzustellen, sondern vielmehr immer wieder mit den betroffenen Schüler*innen einer Klasse daran zu arbeiten. Lehrpersonen sollten daher über Kenntnisse zur vielgestaltigen Beziehung von Befinden und Umgebungsqualitäten verfügen. Dies umfasst v. a. den Einfluss der Atmosphäre auf kindliches Lernen, den Einfluss der Lernenden auf bewusst gestaltete Lernumwelten und ein Wissen um spontan entstehende Lernatmosphären (ebd.).

Literatur Eder, F. (2002): Unterrichtsklima und Unterrichtsqualität, Unterrichtswissenschaft 30, 3: 213–229. Gsellmann-Rath, H. (2016): Lernatmosphäre. Die Fackel der Begeisterung zum Lodern bringen. In: Bilowas, N.; Vogel, W. (Hrsg.): Professionalisierung von Pädagoginnen und Pädagogen. Norderstedt: BoD, 129–148. Kuckartz, U. (2016): Qualitative Inhaltsanalyse. Methoden, Praxis, Computerunterstützung. Weinheim et al.: Beltz Juventa. Pfrang, A. & Rauh, A. (2017): Lernen im Raum. Methodologische Überlegungen zur Erforschung atmosphärischer Einflüsse auf kindliches Lernen. In: Brinkmann, M.; Buck, M.F. & Rödels S. S. (Hrsg.): Pädagogik – Phänomenologie. Verhältnisbestimmungen und Herausforderungen. Wiesbaden: Springer VS, 291–307. Pfrang, A. (2018): Klassenräume als Orte des Lernens und Erfahrens. Eine Explorativuntersuchung zur Leibdimension des Lernens in Abhängigkeit von und zu räumlichen Gegebenheiten (unveröffentlichte Habilitationsschrift). Senior, R. (2006): The Experience of Language Teaching. Cambridge: University Press. Stenger, U. (2012): Erfahrung und Theoriegenerierung – Ein phänomenologischer Zugang zu Erfahrungen. In: Bilstein, J. & Peskoller, H. (Hrsg.): Erfahrung – Erfahrungen. Wiesbaden: Springer VS, 251263.

Unterschiedliche Lernvoraussetzungen am außerschulischen Lernort Robert Baar, Fabian Hofmann, Katharina Kindermann, Benjamin Moritz und Gudrun Schönknecht1

Keywords: Außerschulische Lernorte, Aneignung und Vermittlung, Heterogenität, Diversität, Forschungszugänge

Abstract Der Beitrag geht der Frage nach, inwieweit bestehende theoretische Annahmen zu den Effekten des Lernens an außerschulischen Lernorten vor dem Hintergrund heterogener Lernvoraussetzungen mit empirischen Forschungsergebnissen korrespondieren. Nach einem Einblick in den Theorie- und Forschungsstand werden drei aktuelle Studien vorgestellt, die die Diversität der Kinder an verschiedenen Lernorten gezielt in den Blick nehmen.

1

Einführung

Lernen an außerschulischen Lernorten gehört historisch wie aktuell zum festen Repertoire der Grundschulpädagogik. Begründet wird dieses didaktische Arrangement u. a. mit Lebensweltbezug, Anschaulichkeit, Öffnung von Schule und Motivationssteigerung sowie seiner kompensatorischen Funktion (Baar & 1

Robert Baar | Universität Bremen | [email protected] Fabian Hofmann | Fliedner Fachhochschule Düsseldorf | [email protected] Katharina Kindermann | Lehrerin im Regierungsbezirk Unterfranken| [email protected] Benjamin Moritz | Universität Jena | [email protected] Gudrun Schönknecht | Pädagogische Hochschule Freiburg | [email protected]

© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 N. Skorsetz et al. (Hrsg.), Diversität und soziale Ungleichheit, Jahrbuch Grundschulforschung 24, https://doi.org/10.1007/978-3-658-27529-7_28

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Robert Baar, Fabian Hofmann, Katharina Kindermann et al.

Schönknecht 2018); konkrete Heterogenitätskategorien und deren intersektionale Verschränkungen bleiben argumentativ allerdings weitgehend unberücksichtigt. Dies gilt verstärkt für empirische Studien, die bislang kaum der Frage nachgehen, ob und inwieweit positive Effekte vor dem Hintergrund unterschiedlicher Lernvoraussetzungen bestehen.

2 Theoretische Annahmen und empirische Befunde Sozialisationstheoretische Ansätze argumentieren für das Aufsuchen außerschulischer Lernorte vor allem mit dem Theorem einer veränderten Kindheit, die es Kindern wie Jugendlichen durch Verhäuslichung, Verinselung und Mediatisierung nicht mehr erlaube, Primärerfahrungen zu machen. Mit dem Lernsetting wird die Hoffnung verknüpft, gerade auch dann kompensatorisch zu wirken, wenn familiäre, milieuspezifische, ökonomische, soziale und/oder lokale Begebenheiten den Erfahrungsraum von Schüler*innen begrenzen. Auch bildungstheoretische Überlegungen sprechen für das Einbeziehen außerschulischer Lernorte in den Schulalltag: Dem klassischen Bildungsverständnis Klafkis (2007) folgend soll es Autonomie, Partizipation und Solidaritätsfähigkeit fördern und, in der Auseinandersetzung mit der Welt, kategoriale Bildung ermöglichen. Eine Sichtung von insgesamt 53 Einzel- und zehn Metastudien zu diversitätsbezogenen Effekten des Lernens am außerschulischen Lernort zeigt, dass die normativ-theoretisch formulierten Annahmen bislang kaum empirisch belegt werden können. Nur ein Bruchteil der Studien bezieht die Heterogenität von Lerngruppen in das Forschungsdesign ein – und wenn, dann finden meist nur die Kategorien Alter und Geschlecht Berücksichtigung (Baar & Schönknecht 2018). Die im Folgenden vorgestellten Studien nehmen dahingegen auch andere Kategorien bzw. die Diversität der Schüler*innen insgesamt in den Blick.

3 Vermitteln und Aneignen in museumspädagogischen Situationen Um der Frage nachzugehen, durch welche Strukturmerkmale Kunstvermittlungssituationen charakterisiert sind, wurden Führungen mit Kita-Gruppen und Grundschulklassen im Kunstmuseum untersucht (Hofmann 2015; 2016). Im Fokus stand das Geschehen zwischen Rezipient*innengruppe, ästhetischem Objekt und Pädagog*in in einem bestimmten Ausstellungskontext. Dieses stellt eine Kernsituation der Kunst- und Museumspädagogik dar; insofern ist es entscheidend, die Situation beschreibbar und wissenschaftlich wie praktisch kommunizierbar und

Unterschiedliche Lernvoraussetzungen am außerschulischen Lernort

181

bearbeitbar zu machen – gerade um diversitätsbewusstes pädagogisches Handeln zu ermöglichen. Es wurden drei Situationen mit jeweils unterschiedlichen Kunstwerken, Gruppen, Pädagog*innen und Ausstellungskontexten fallspezifisch mittels erziehungswissenschaftlicher Videografie und Teilnehmender Beobachtung untersucht. Im Rahmen einer phänomenologischen Analyse wurden fallübergreifend Strukturmerkmale der Wechselbeziehung zwischen ästhetischem Objekt, Rezipient*innengruppe und Pädagog*in rekonstruiert. Es zeigt sich, dass die Teilnehmer*innen eine Aneignung vollziehen, die stark von ästhetischen Erfahrungen geprägt ist und eine große Vielfalt aufweist. Andererseits findet Vermittlung statt, die im Wesentlichen aus Wissensvermittlung und der Schaffung sowie Aufrechterhaltung pädagogischer Kommunikation besteht; sie trägt der Diversität der Aneignung kaum Rechnung. Vermittlung und Aneignung stehen vielmehr in Differenz; dabei besteht ein enger Zusammenhang zwischen originalem Kunstwerk, Körper und Aneignung sowie zwischen Institution, Macht und Vermittlung. Diese Differenz ist unvermeidlich – eine Deckung von Vermittlung und Aneignung kann nicht erwartet werden. Kunst- und Museumspädagogik müsste künftig also weniger auf die Auflösung der Differenz hinarbeiten (im Sinne „gelingender“ Methoden), sondern auf einen sinnvollen Umgang mit der Differenz der Vermittlung zur Aneignung.

4 Der Einfluss von Unterrichtsgängen auf den Lernerfolg am Beispiel Kirchenraumpädagogik Studien, die die Effekte des Aufsuchens außerschulischer Lernorte erheben, schließen nur selten einen Vergleich mit inhaltsanalogem und mit vergleichbarem methodisch-didaktischem Aufwand durchgeführtem Unterricht im Klassenzimmer in ihr Forschungsdesign ein. Folglich liefern sie auch keinen Einblick, ob eine Begegnung vor Ort fehlende Vorerfahrungen der Schüler*innen besser ausgleichen kann als Unterricht im Klassenzimmer. Mit einer quantitativen Studie wurde daher der Frage nachgegangen, ob – und wenn ja, bei wem – Unterrichtsgänge zu einem größeren Wissenszuwachs führen als ein vergleichbarer Unterricht im Klassenzimmer. Als exemplarischer Lernort wurde hierfür der Kirchenraum gewählt. Im Rahmen der Studie wurde eine Unterrichtssequenz zum Thema „Kirche – Gemeinschaft und Raum“ entwickelt, die aus sieben Unterrichtseinheiten besteht und vier verschiedene Lernwege bereithielt: Die Klassen der Experimentalgruppe 1 unternahmen zwei Unterrichtsgänge in die Ortskirche, diejenigen der Experimentalgruppen 2 und 3 jeweils einen an unterschiedlichen Stellen innerhalb der Sequenz. Die Schüler*innen der Kontrollgruppe erarbeiteten die Inhalte

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Robert Baar, Fabian Hofmann, Katharina Kindermann et al.

ausschließlich im Klassenzimmer. Vor und nach der Sequenz wurden alle Schüler*innen via Fragebogen auf drei verschiedenen Niveaus (nominell, funktional, prozedural) zu ihrem Wissen über den Kirchenraum befragt. Zudem lagen verschiedene Hintergrundvariablen der Kinder vor. Die Daten wurden mittels ItemResponse-Theory im Rasch-Modell ausgewertet (Rost 2014). Insgesamt nahmen 63 Klassen an der Studie (n = 1143) teil. Als Ergebnis ist festzuhalten, dass Unterrichtsgänge unter bestimmten Voraussetzungen über das Potential verfügen, zu einem höheren kognitiven Lernerfolg zu führen als vergleichbarer, inhaltsanaloger Unterricht im Klassenzimmer (Riegel & Kindermann 2017). Die Stellung innerhalb der Sequenz ist dabei entscheidend für den Erfolg. Zudem zeigt sich, dass Kinder, die im Elternhaus eine geringe religiöse Sozialisation erfahren, von der originalen Begegnung besonders profitieren und das Format eine diesbezügliche Kompensationsleistung erbringt.

5 Diversität bei der Verarbeitung von Landtagsbesuchen Aneignungs- und Verarbeitungsprozesse von Schülerinnen und Schülern am außerschulischen Lernort Parlament sind in der politischen Bildung bisher kaum erforscht. Dieses Desiderat versucht ein Forschungsprojekt aufzuarbeiten, das darauf zielt, explizite und implizit handlungsleitende Wissensbestände zu rekonstruieren, die das Erleben und Verarbeiten von Landtagsbesuchen bei Lernenden strukturieren (Moritz 2018). Hierzu wurden im Nachgang von Landtagsbesuchen mit Lernenden unterschiedlicher Altersstufen und Schulformen Gruppendiskussionen geführt und mit der Dokumentarischen Methode ausgewertet. Diese Methode eignet sich durch den Fokus auf die Rekonstruktion milieuspezifischer impliziter Wissensbestände und den systematischen Vergleich verschiedener Fälle in besonderer Weise dafür, sowohl verschiedene die Verarbeitung strukturierende Wissensbestände als auch deren soziale Bedingtheit zu analysieren (Przyborski &Wohlrab-Sahr 2014). Die Ergebnisse der Studie konkretisieren, wie die Verarbeitung des Lernortbesuchs in unterschiedlichen Gruppen durch verschiedene evaluative Modi und damit zusammenhängende Normzuschreibungen an das Verhältnis von Jugendlichen und Politiker*innen strukturiert ist. So unterscheiden sich die Gruppen beispielsweise darin, ob sie das Verhältnis zu Politiker*innen auf der normativen Ebene als an Stimmenmaximierung orientierte politische Beziehung oder als gegenseitig wertschätzenden Umgang auf persönlicher Ebene konstruieren. Folgen Politiker*innen diesen von den Gruppen entfalteten Beziehungsnormen nicht, lassen sich als evaluative Modi bspw. das strategische Entwickeln von Handlungsempfehlungen für Politiker*innen oder das Belustigen an Politiker*innen zugeschriebenen Normbrüchen rekonstruieren. In der Zuweisung der Normen und den

Unterschiedliche Lernvoraussetzungen am außerschulischen Lernort

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realisierten Modi deuten sich auch erste Hinweise auf die Milieubindung der Verarbeitung bspw. in Abhängigkeit von Alter, Geschlecht oder Schulkultur an.

6 Ausblick und Perspektive Um evidenzbasierte Aussagen zur kompensatorischen Wirkung des Lernens an außerschulischen Lernorten zu treffen, bedarf es Forschungsbemühungen, die die Heterogenität und Diversität der Schüler*innen gezielt in den Blick nehmen. Den drei vorgestellten Studien ist gemein, dass sie – trotz unterschiedlicher Fragestellungen, Lernorte und methodischen Vorgehensweisen – genau dies tun. Es wird deutlich, dass eine solche Zielrichtung, die darüber hinaus die intersektionale Verwobenheit einzelner Heterogenitätsdimensionen genauso berücksichtigt wie die Komplexität der am außerschulischen Lernort stattfindenden Lernprozesse, ein methodologisch anspruchsvolles Design erfordert. Der Aufwand aber lohnt sich: zum einen, um Vermittlungs- wie Aneignungsprozesse differenziert beschreiben und erklären zu können, zum anderen, um die Ergebnisse in der Folge in eine diversitätssensible Praxis transferieren und adaptive Formen des Lernens entwickeln zu können, die die unterschiedlichen Perspektiven der Lernenden aufgreifen. Denn solcher Formate, so lassen auch die Ergebnisse der dargestellten Studien vermuten, bedarf es, um das Versprechen der theoretischen Begründungslinien zum Lernen an außerschulischen Lernorten einzulösen.

Literatur Baar, R. & Schönknecht, G. (2018): Außerschulische Lernorte: didaktische und methodische Grundlagen. Weinheim/Basel: Beltz. Hofmann, F. (2016): Kunstpädagogik im Museum. Begriffe - Theorien - Grundlagen. Stuttgart: Kohlhammer. Hofmann, F. (2015): Pädagogische Kunstkommunikation zwischen Kunst-Aneignung und KunstVermittlung. Fallspezifische empirische Untersuchungen zu zwei Schulklassen und einer KitaGruppe in Kunstausstellungen. München: kopaed. Klafki, W. (2007): Neue Studien zur Bildungstheorie und Didaktik: Zeitgemäße Allgemeinbildung und kritisch-konstruktive Didaktik. Weinheim/Basel: Beltz. Moritz, B. (2018): "Es war eigenlich relativ lustich". Überlegungen zur empirischen Rekonstruktion der Verarbeitung von Parlamentsbesuchen. In: Gautschi et al., 203–208. Przyborski, A. & Wohlrab-Sahr, M. (2014): Qualitative Sozialforschung. Ein Arbeitsbuch. München: Oldenbourg. Riegel, U. & Kindermann, K. (2017): Field trips to the church. Theoretical framework – empirical findings – didactic perspectives. Münster/New York: Waxmann. Rost, J. (2014): Lehrbuch Testtheorie – Testkonstruktion. Bern: Huber.

6 Umgang mit sprachlicher Diversität

Wie Fach- und Lehrkräfte die deutsche Sprache am Übergang Kita-Grundschule fördern Karin Kämpfe und Tanja Betz1

Keywords: Sprachförderung, Kooperation, Übergang Kita-Grundschule, Handlungsorientierungen von Fach- und Lehrkräften

Abstract Mit dem bildungspolitischen Ziel durchgängiger Sprachförderung sind wachsende Anforderungen an Fach- und Lehrkräfte verbunden. Wie sie mit dieser Anforderung am Übergang Kita-Grundschule umgehen, ist Gegenstand des Beitrags.

1

Einführung

In den letzten Jahr(zehnt)en wurden in allen Bundesländern Maßnahmen zur Verbesserung der Sprachkompetenz von Kindern in Kitas und am Übergang in die Schule sowie zur frühen Förderung benachteiligter Kinder ergriffen (Übersicht bei Schneider et al. 2012). Dennoch gibt es weiterhin Handlungsbedarf. Das deutschlandweite Forschungs- und Entwicklungsprogramm BiSS (Bildung durch Sprache und Schrift) zielt darauf ab, Angebote der Sprachförderung auf ihre Wirksamkeit hin zu überprüfen und weiterzuentwickeln. Im Fokus ist auch der Übergang Kita-Grundschule, dem fachlich und politisch eine große Bedeutung für die Bildungsbiographie von Kindern zugeschrieben wird. Am Übergang gilt es in BiSS, die Kooperation in der Sprachförderung im Deutschen zu verbessern und die historisch gewachsenen, unterschiedlichen Lernkulturen von Kita und Schule

1

Karin Kämpfe | Goethe-Universität Frankfurt am Main | [email protected] Tanja Betz | Johannes Gutenberg-Universität Mainz | [email protected]

© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 N. Skorsetz et al. (Hrsg.), Diversität und soziale Ungleichheit, Jahrbuch Grundschulforschung 24, https://doi.org/10.1007/978-3-658-27529-7_29

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Karin Kämpfe und Tanja Betz

aufeinander abzustimmen (ebd.). Für Fach- und Lehrkräfte geht damit die Anforderung einher, gemeinsame Sprachförderangebote zwischen den auch strukturell divergierenden Institutionen auf- und auszubauen. Im Beitrag wird mit den Daten der multiperspektivischen, längsschnittlichen BiSS-Studie SPRÜNGE (Sprachförderung am Übergang Kindergarten-Grundschule evaluieren, 2016–2019) danach gefragt, wie Fach- und Lehrkräfte mit der Anforderung umgehen, Sprache im letzten Kitajahr gemeinsam zu fördern.2 Die Befunde stammen aus qualitativen Interviews mit Fach- und Lehrkräften.

2 Fragestellung, Forschungsdesign und Stichprobe In der SPRÜNGE-Studie werden unterschiedliche Formen der Sprachförderung (Lernwerkstätten, Projektarbeit, Vorkurse3), Fortbildung und Kooperation in Bayern, Berlin und Niedersachsen evaluiert. Der Beitrag fokussiert die sprachförderbezogenen Handlungsorientierungen von Fach- und Lehrkräften. Die Analyse der leitfadengestützten Interviews mit der Dokumentarischen Methode (Bohnsack, Nentwig-Gesemann & Nohl 2013) zielt darauf ab, die dem Gesagten zugrundeliegenden Orientierungen zu rekonstruieren und begrifflich-theoretisch zu explizieren. Die unterschiedlichen Bearbeitungs- und Bewältigungsmodi des gemeinsamen Orientierungsproblems, Sprache am Übergang (gemeinsam) zu fördern, wurden kontrastiert und zu sinngenetischen Typen zusammengefasst (ebd.). Die Gesamtstichprobe umfasst 17 Kitas und 12 Grundschulen sowie 182 Kinder, 66 Fach- und Lehrkräfte und 29 Leitungskräfte. Im Beitrag geht es um Interviewdaten aus der bayerischen Teilstichprobe (n = 18).

3 Sprachförderbezogene Handlungsorientierungen Die Fach- und Lehrkräfte gehen mit der Anforderung, Sprache gemeinsam zu fördern, auf je spezifische Weise um. Ihre Handlungsorientierungen lassen sich auf einem Kontinuum abbilden, das quer zur Typologie liegt und dessen Pole als „kita-“ und als „schulzentriert“ bezeichnet werden können. Kita-Arbeit wird als u. a. kindzentriert, situationsorientiert, mit geringer Regulierung und dialogisch 2

Fokussiert werden die Entwicklung der Sprachkompetenz der Kinder und der Sprachförderkompetenz der Fach- und Lehrkräfte, die Sprachförderqualität und die Entwicklung der institutionenübergreifenden Sprachförderung im letzten Kitajahr.

3

Der Vorkurs ist ein durch das Bayerische Kinderbildungs- und -betreuungsgesetz vorgegebenes additives Sprachfördersetting für Kinder mit diagnostiziertem Sprachförderbedarf im Deutschen im (vor)letzten Jahr vor der Einschulung.

Wie Fach- und Lehrkräfte die deutsche Sprache am Übergang Kita-Grundschule fördern

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konstruiert, die Arbeit in der Schule als zielgerichtet, regelgeleitet, stark regulierend und weniger dialogisch. Die Fach- und Lehrkräfte sprechen und handeln von Positionen aus, die zwischen diesen Polen liegen. In der sinngenetischen Typenbildung konnten anhand der Vergleichsdimensionen Sprachförderung und Übergang vier Typen miteinander kontrastiert werden. Für den intuitiv-schematischen (n = 8 Fk) und den didaktischen Sprachfördertyp (n = 3 Fk, 2 Lk) ist eine Kitazentrierung charakteristisch. Für den versierten (n = 2 Lk) und den konzeptionell-planvollen Sprachfördertyp (n = 3 Lk) ist eine Schulzentrierung typisch. Die Typen unterscheiden sich, wenn auch nicht eindeutig, nach Berufsgruppenzugehörigkeit.4 3.1

Intuitiv-schematischer Typ

Die Fachkräfte orientieren sich in der Sprachförderung primär an bekannten Ansätzen aus der Kitaarbeit, die eher intuitiv angewendet werden, sowie an vorgegebenen Inhalten, Methoden und Konzepten. Spezifische Sprachförderprogramme werden eher schematisch aufgegriffen. Diese Handlungsorientierung ist vor dem Hintergrund ihrer Position zu deuten: Die Fachkräfte sind eher wenig in die Sprachförderung involviert, die für sie eher eine Zusatzaufgabe und entsprechende Herausforderung darstellt. Überwiegend wird kein additiver Vorkurs angeboten, sondern Sprache für alle Vorschulkinder sowie alltagsintegriert, als „am Kind orientiert“ und „situationsabhängig“ gefördert. Materialien und Situationen aus dem Kitaalltag dienen als Sprachanlass. Ihr handlungsleitendes Wissen führen sie überwiegend auf ihr Fach- und Erfahrungswissen zurück. Die Praktiken und Ziele in Sprachfördersituationen – die Befragten geben z. B. an, langsam zu sprechen – sowie deren eher alltagssprachliche, wenig reflexive Darstellung, deuten auf eine vergleichsweise geringe sprachförderbezogene Qualifikation hin. Das BiSS-Ziel einer durchgängigen Sprachförderung wird kaum als handlungsleitend markiert. Die Fachkräfte sind wenig in die Kooperationsstrukturen am Übergang involviert. Zuweilen gibt es konzeptuelle Abstimmungen mit Lehrkräften, überwiegend jedoch keine institutionenübergreifende Sprachförderung. 3.2

Didaktischer Typ

Dieser Typ orientiert sich an einer vielseitigen und altersgerechten, sprachförderlichen Didaktik (u. a. „mundmotorische Spiele“). Materialien werden häufig selbst angefertigt, spezifische Förderprogramme „orientiert an den Bedürfnissen der Kinder“ flexibel abgewandelt und dabei z. T. auch vorgegebene, additive Förderstrukturen aufgebrochen. Als zentral bei diesem adaptiven, kindzentrierten

4

Auch Fach- und Lehrkräfte anderer Standorte lassen sich, so erste Analysen, den rekonstruierten Typen zuordnen. Weitere Typen sind nicht auszuschließen.

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Karin Kämpfe und Tanja Betz

Vorgehen erweist sich die Strategie der impliziten Förderung. Besonderes Augenmerk wird auf die Art und Weise der Versprachlichung von Alltagssituationen gelegt. Das eigene Sprachförderhandeln ist in eine Reflexion der unterschiedlichen Sprachförderpraktiken eingebettet. Wenngleich eher allgemeine als konkrete Lernziele formuliert werden („verbessern“, „sich trauen“), zeichnet sich das Ziel ab, möglichst vielfältige Sprachgelegenheiten zu schaffen. Bei ihrer Selbstpositionierung als sehr engagiert, argumentieren die Fach- und Lehrkräfte u. a. auch mit ihrer oft spezifischen Funktion und Qualifikation in der Sprachförderung und damit verbundenen „Freiheiten“. Kennzeichnend ist eine eher starke Involvierung in die Kooperationspraktiken am Übergang und ein Interesse an verstärkter interinstitutioneller Kooperation. 3.3

Versierter Typ

Kennzeichnend für den Typ ist eine Orientierung an Strukturen und Konzepten, die sich an übergeordneten, zukunftsgerichteten Lernzielen in Bezug auf schulische Sozialisation und Bildungserfolg ausrichtet, z. B. Vorläuferfähigkeiten für den Schriftspracherwerb. Diese Ziele werden in der didaktischen Gestaltung der Sprachförderung dezidiert verfolgt und u. a. durch eigene Beobachtungsverfahren dokumentiert. Das eigene Handeln wird als ein an den konkreten Bedürfnissen und Rahmenbedingungen orientiertes adaptives Vorgehen beschrieben, verbunden mit dem Anspruch stetiger Optimierung. Begleitet wird dieses Vorgehen durch eine Rhetorik als erfahrene und versierte Lehrkraft unter Verweis auf langjährige Berufserfahrung, vielfältige Qualifizierung sowie Kompetenz qua Beruf. (Vorschulische) Sprachförderung gehört seit mehreren Jahren zu ihren Kernaufgaben. Trotz der als verstetigt und intensiv beschriebenen Kooperationsstrukturen zwischen Schule und Kita(s), findet eine Abstimmung mit den Fachkräften in der Sprachförderung kaum statt. Vielmehr beschreiben sich die Lehrkräfte als weitestgehend autonom. Die Steuerung von Kooperations- und Abstimmungsprozessen kommt in erster Linie der Schule und damit auch ihnen selbst zu. 3.4

Konzeptionell-planvoller Typ

Dieser Typ ist an Strukturen und Konzepten orientiert, die übergeordneten, schulischen Lernzielen folgen. Charakteristisch ist ein planvolles Vorgehen, das weitestgehend auf einer standardisierten Sprachförderung basiert. Ablaufpläne, die mit einem breiten Methoden- und Materialrepertoire angereichert sind und oft mit anderen in die Sprachförderung involvierten Lehrkräften gemeinsam konzipiert wurden, dienen einer zielgerichteten und flexiblen Umsetzung. Als Vorbild dient die klassische Unterrichtsvorbereitung. Es deutet sich an, dass auf ein effizientes Vorgehen abgezielt wird, das im Arbeitsalltag möglichst wenig Mehraufwand bedeutet und sich in die schulischen Abläufe gut einfügt. Diese Orientierung ist vor

Wie Fach- und Lehrkräfte die deutsche Sprache am Übergang Kita-Grundschule fördern

189

dem Hintergrund zu sehen, dass die Lehrkräfte u. a. neben Klassenleitungsfunktionen mit der Sprachförderung eher eine Zusatzaufgabe umsetzen (vgl. Typ I). Trotz des eher standardisierten Vorgehens verändern die Lehrkräfte auch adaptiv ihr Vorgehen z. B. angeregt durch Fortbildungsinhalte. Kontakte zu Fachkräften erfolgen v. a. in Form formalisierter Gespräche über die Kinder. Abstimmungen zur Sprachförderung gibt es nur geringfügig. Bei der gemeinsamen Sprachförderung werden die Fachkräfte als ExpertInnen für die Altersgruppe der Vorschulkinder, kaum aber fachlich-sprachförderbezogen adressiert.

4 Diskussion und Ausblick Die Fach- und Lehrkräfte gehen systematisch verschieden mit der v. a. bildungsund integrationspolitischen Anforderung um, gemeinsam die deutsche Sprache am Übergang zu fördern. Die Handlungsorientierungen spiegeln die strukturellen Vorgaben der jeweiligen Berufspraxis und -gruppe: bei Fachkräften ein eher freier und offener Umgang mit Sprachförderung, der auf die Kinder ausgerichtet ist, während Lehrkräfte ihr Sprachförderhandeln vorausplanen. Die Beteiligten bleiben auch im Zeitverlauf dem jeweiligen System Kita vs. Schule verhaftet; ihre sprachförderbezogenen Orientierungen sind weitgehend stabil. Diese Differenzen sind daran geknüpft, wie stark die Beteiligten in die Sprachförderung und Kooperation involviert sind und welche weiteren Zuständigkeiten und verfügbaren Ressourcen, v. a. an Zeit (für Fortbildungen etc.), vorhanden sind. Die unterschiedlichen Positionierungen zur Kooperation münden stärker in eine getrennte als in eine gemeinsame Sprachförderpraxis. Sprachförderung wird nicht als sich pädagogisch-konzeptionell ergänzend bzw. ineinandergreifend thematisiert. Zudem lässt sich das Verhältnis zwischen einzelnen Fach- und Lehrkräften als asymmetrisch zulasten der Fachkräfte beschreiben. Die Befunde haben Implikationen u. a. für die Gestaltung von (gemeinsamen) Fortbildungen: Zu berücksichtigen ist die je spezifische Ausgangslage und der Aufbau von Verständnis für den jeweiligen Zugang zur Sprachförderung.

Literatur Bohnsack, R., Nentwig-Gesemann, I. & Nohl, A.-M. (Hrsg.) (2013): Die dokumentarische Methode und ihre Forschungspraxis. Grundlagen qualitativer Sozialforschung. 3., akt. Aufl. Wiesbaden: Springer VS. Schneider, W., Baumert, J., Becker-Mrotzek, M., Hasselhorn, M., Kammermeyer, G., Rauschenbach, T., Roßbach, H.-G., Roth, H.-J., Rothweiler, M. & Stanat, P. (2012): Expertise „Bildung durch Sprache und Schrift (BISS)“: Zugriff am 31.1.2019 www.biss-sprachbildung.de/pdf/BiSS-Expertise.pdf.

Gestaltung von Anschlussfähigkeit im Übergang von der Kindertageseinrichtung in die Grundschule Vanessa Henke1

Keywords: Übergang, Anschlussfähigkeit, Literacy

Abstract Eine anschlussfähige Förderung von Kindern, beispielsweise im Bildungsbereich Literacy, ist im Rahmen der Gestaltung des Übergangs von der Kindertageseinrichtung (Kita) in die Grundschule zentral. Im Beitrag werden (Teil-) Ergebnisse des „LibelLe“-Projektes vorgestellt, in dem anhand von videographierten Lerngelegenheiten und Interviews mit Erzieher*innen und Grundschullehrkräften die Gestaltung von Anschlussfähigkeit zwischen den beiden Institutionen untersucht wurde.

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Einführung

Der Übergang von der Kita in die Grundschule stellt als Eintritt des Kindes in das Schulsystem eine bedeutsame Schnittstelle in der Bildungsbiographie des Kindes dar. Im Rahmen dieses Übergangs befindet sich das Kind in einer Phase zwischen Vertrautem und Neuem (Speck-Hamdan 2007: 20 ff.). Kita und Grundschule sind in Deutschland historisch bedingt zwei getrennte Bildungsinstitutionen, die sich beispielsweise in der Umsetzung und den Verbindlichkeiten der curricularen Vorgaben unterscheiden (z. B. Schuler et al. 2016: 19 ff.). Aufgrund dessen wird in der Fachdiskussion die Anschlussfähigkeit und deren Gestaltung auf verschiedenen Ebenen intensiv diskutiert. Hierbei wird beispielsweise die Gestaltung von

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Vanessa Henke | Universität zu Köln | [email protected]

© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 N. Skorsetz et al. (Hrsg.), Diversität und soziale Ungleichheit, Jahrbuch Grundschulforschung 24, https://doi.org/10.1007/978-3-658-27529-7_30

Gestaltung von Anschlussfähigkeit im Übergang von der Kindertageseinrichtung in die Schule

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Anschlussfähigkeit auf einer inhaltlich-curricularen bzw. konzeptionellen und einer professionsspezifischen Ebene dargelegt (z. B. von Bülow 2011: 41 ff.; Henke 2018: 198; Schuler et al. 2016: 20 ff.).

2 Gestaltung von Anschlussfähigkeit im Übergang von der Kita in die Grundschule Neben den genannten Ebenen sind in Bezug auf die Gestaltung von Anschlussfähigkeit die im Fachdiskurs idealtypisch beschriebenen Positionen bzw. Perspektiven zum Verständnis von Anschlussfähigkeit zentral. So wird zum einen die Position vertreten, dass Unterschiedlichkeiten reduziert und demzufolge Kontinuität erhöht werden sollte. Zum anderen werden Diskontinuitäten entwicklungsherausfordernde Funktionen zugeschrieben, sodass diese als sinnvoll und wichtig für die Entwicklung des Kindes verstanden werden (z. B. Griebel & Niesel 2017: 178). Kluczniok und Roßbach (2014: 18) erklären, dass es nicht um ein „EntwederOder“ der beiden Positionen bzw. Perspektiven gehen kann. Vielmehr ist es bei einer anschlussfähigen Gestaltung des Übergangs wichtig, beispielsweise auf einer inhaltlich-curricularen bzw. konzeptionellen Ebene, dass das Kind in beiden Bildungsinstitutionen eine entwicklungs-, lern- und bildungsförderliche Unterstützung erhält. International steht eher Kontinuität als Perspektive im Fokus (Neuman 2002; Valentino & Stipek 2016). Dabei wird Kontinuität als Leitvorstellung zur Erleichterung des Übergangs angesehen (Dunlop &Fabian 2002: 153; Griebel & Niesel 2006: 138). Die Bedeutung von Kontinuität betont beispielsweise Neuman (2002: 15 f.), indem sie verschiedene Ebenen in der Transition unterscheidet. Ähnlich wie bei den oben beschriebenen Ebenen zur Gestaltung von Anschlussfähigkeit beschreibt Neuman als eine Ebene von Kontinuität die „paedagocial und programme continuity“ mit dem Ziel der konzeptionellen und curricularen Annäherung beider Institutionen (Neuman 2002: 8 ff.). So nähert sich Neuman dem Verständnis von Kontinuität über die verschiedenen Ebenen an und stellt deren Bedeutung im Rahmen der Übergangsgestaltung in die Grundschule heraus.

3 Das „LibelLe“-Projekt 3.1

Die Fortbildungsreihe

In diesem Kontext entstand das Projekt „LibelLe“, in welchem Erzieher*innen und Grundschullehrkräfte gemeinsam eine siebenmonatige Fortbildungsreihe mit

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Vanessa Henke

insgesamt vier Workshops zum Thema „Literacy“ besuchten. In dieser Fortbildungsreihe entwickelten beide Professionsgruppen gemeinsam Lerngelegenheiten für die Kita und für die Grundschule, die bezogen auf eine Förderung im Bildungsbereich Literacy (Umgang mit Bilderbüchern und Schriftsprache in der Umwelt) als anschlussfähig verstanden werden sollten. 3.2

Die qualitative Studie im Projekt

Die gemeinsam entwickelten Lerngelegenheiten wurden später getrennt voneinander in den jeweiligen Einrichtungen durchgeführt. Im Rahmen eines qualitativen Untersuchungsdesigns konnten 26 Videos (N = 26) mit Hilfe der qualitativen Inhaltsanalyse nach Mayring (2015) ausgewertet werden. Dabei wurde mittels pädagogisch-didaktischer und ‚bildungsbereichsdidaktischer‘ Merkmale, beispielsweise bezogen auf die Umsetzung von Sozialformen, den Einsatz von Meiden etc. in den Lerngelegenheiten untersucht, inwiefern Kontinuität und Diskontinuität gefunden werden konnten. Ergänzend zu den Videographien wurden leitfadengestützte Interviews mit den Erzieher*innen (n = 7) und Grundschullehrkräften (n = 4) durchgeführt und anschließend u. a. vor dem Hintergrund der Frage nach der Gestaltung von Anschlussfähigkeit zwischen den beiden Institutionen mit der qualitativen Inhaltsanalyse nach Mayring (2015) und Kuckartz (2016) ausgewertet (N = 11). Auch im Rahmen der vernetzten Auswertung der Videographie- und Interviewergebnisse stand abschließend die übergreifende Fragestellung der Studie, wie sich Anschlussfähigkeit unter Berücksichtigung der beiden Perspektiven von Kontinuität und Diskontinuität am Beispiel literacy-bezogener, analoger Lerngelegenheiten gestaltet im Zentrum. (Teil-) Ergebnisse dieser Auswertung werden im Folgenden vorgestellt.

4 (Teil-)Ergebnisse der vernetzten Auswertung der Videographien und Interviews In den Ergebnissen der Untersuchung zeigte sich in der Zusammenschau aller untersuchten Merkmale, dass die Perspektive der Kontinuität im Rahmen der Gestaltung von Anschlussfähigkeit in den Lerngelegenheiten den Schwerpunkt bildete. Diese Tendenz zeigte sich bezogen auf die Sichtstruktur (Kunter & Ewald 2016: 13)2 in den Lerngelegenheiten durch den Vergleich der einzelnen Merkmale hinsichtlich der beiden Perspektiven Kontinuität und Diskontinuität. So zeigte

2

Die Sichtstruktur umfasst „leicht erschließbare Merkmale“ (Kunter & Ewald 2016: 13) beispielsweise in Lerngelegenheiten. Diese beziehen sich auf deren Strukturierung und das Setting.

Gestaltung von Anschlussfähigkeit im Übergang von der Kindertageseinrichtung in die Schule

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sich bei 17 der insgesamt 30 untersuchten pädagogisch-didaktischen und ‚bildungsbereichsdidaktischen‘ Merkmale, dass nur eine Perspektive umgesetzt wurde, welche zumeist als Kontinuität identifiziert werden konnte. Bei der Untersuchung der 13 anderen Merkmale (N = 30) konnten beide Perspektiven in den Lerngelegenheiten festgestellt werden. Die Betonung der Kontinuität wird in den Interviews deutlich, indem die Pädagog*innen auf die Frage, wie sie in den Lerngelegenheiten Anschlussfähigkeit hergestellt haben, meist Merkmale zur Gestaltung von Kontinuität (z. B. über den Einsatz von gleichen Medien) als zur Gestaltung von Diskontinuität benennen. Während ein gleiches Merkmal zur Kontinuität maximal in acht der zehn Interviews von den pädagogischen Fachkräften in der Kita und den Lehrkräften in der Grundschule genannt wurde, findet ein gleiches Merkmal zur Diskontinuität sich dagegen maximal in nur vier der zehn Interviews wieder. Zudem antwortete ungefähr die Hälfte der Pädagog*innen, dass sie bewusst „keine Unterschiede“ geplant haben bzw. diese „per se“ zwischen den Einrichtungen bestehen. Als weiteres Indiz für die Schwerpunksetzung von Kontinuität bei der Planung der Lerngelegenheiten kann auch durch die Auswertung der Codings zu der Frage zur Gestaltung von Anschlussfähigkeit dargelegt werden. In allen Interviews zeigten sich auf die Frage nach der Gestaltung von Anschlussfähigkeit in den Lerngelegenheiten insgesamt 40 Codings zur Kontinuität, allerdings nur 17 Codings zur Diskontinuität.

5

Diskussion

So kann die Perspektive der Kontinuität als Schwerpunkt bei der Gestaltung von Anschlussfähigkeit sowohl in den Videographien als auch den Interviews identifiziert werden. Ähnlich wie im Kontext der internationalen Fachdiskussion (z. B. Neuman 2002; Valentino & Stipek 2016) steht Kontinuität als vorherrschende Perspektive bzw. Leitvorstellung bei der Gestaltung von Anschlussfähigkeit für die Pädagog*innen in beiden Institutionen im Fokus. Zudem liefern die Ergebnisse der Studie eine Annäherung an ein Verständnis von Kontinuität bzw. zeigen Möglichkeiten der Umsetzung dieser Strategie mittels der untersuchten Merkmale beim Übergang in die Grundschule auf. Inwiefern die Gestaltung von Kontinuität sich positiv auf die Entwicklung von Kindern beim Übergang auswirkt, konnte bisher noch nicht geklärt werden. Insofern stehen noch weitere Studien zur Wirksamkeit der zwei Perspektiven von Kontinuität und Diskontinuität bezogen auf die Entwicklungs- und Bildungsprozesse der Kinder beim Übergang von der Kita in die Grundschule aus.

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Vanessa Henke

Literatur von Bülow, K. (2011): Anschlussfähigkeit von Kindergarten und Grundschule. Rekonstruktion von subjektiven Bildungstheorien von Erzieherinnen und Lehrerinnen. Bad Heilbrunn: Klinkhardt. Griebel, W. & Niesel, R. (2017): Übergänge verstehen und begleiten. Transitionen in der Bildungslaufbahn von Kindern. Berlin: Cornelsen. Griebel, W. & Niesel, R. (2006): Die Bewältigung des Übergangs vom Kindergarten in die Grundschule. In: Fthenakis, W. E. (Hrsg.): Elementarpädagogik nach PISA. Wie aus Kindertagesstätten Bildungseinrichtungen werden können. Freiburg in Breisgau: Herder, 136–151. Henke, V. (2018): Anschlussfähigkeit im Übergang zur Grundschule am Beispiel literacy-bezogener, analoger Lerngelegenheiten (Projekt "LibelLe"). In: Miller, S.; Holler-Nowitzki, B.; Kottmann, B.; Lesemann, S.; Letmathe-Henkel, B.; Meyer, N.; Schoeder, R. & Velten, K. (Hrsg.): Profession und Disziplin. Grundschulpädagogik im Diskurs. Jahrbuch Grundschulforschung. Band 22. Wiesbaden: Springer VS, 197–202. Kluczniok, K. & Roßbach, H.-G. (2014): Probleme beim Übergang vom Kindergarten zur Grundschule – Wahrheit oder Mythos? In: Liegmann, A. B.; Mammes, I. & Racherbäumer, K. (Hrsg.): Facetten von Übergängen im Bildungssystem. Nationale und internationale Ergebnisse empirischer Forschung. Münster, New York: Waxmann, 13–22. Kuckartz, U. (2016): Qualitative Inhaltsanalyse. Methoden, Praxis, Computerunterstützung. 3.; überarbeitete Auflage. Weinheim und Basel: Beltz Juventa. Kunter, M. & Ewald, S. (2016): Bedingungen und Effekte von Unterricht: Aktuelle Forschungsperspektiven aus der pädagogischen Psychologie. In: McElvany N.; Bos, W.; Holtappels, H. G.; Gebauer, M. M. & Schwabe, F. (Hrsg.): Bedingungen und Effekte guten Unterrichts. Münster/New York: Waxmann, 9–31. Mayring, P. (2015): Qualitative Inhaltsanalyse. Grundlagen und Techniken. 12., überarbeitete Auflage. Weinheim und Basel: Beltz. Neuman, M. J. (2002): The wider context. An international overview of transition issues. In: Dunlop, A.-W. & Fabian, H. (Hrsg.): Transitions in the Early Years. Debating continuity and progression for young children in early education. London/New York: RoutledgeFalmer, 8–22. Schuler, S.; Bönig, D.; Thöne, B.; Wenzel-Langer, D. & Wittkowski, A. (2016): Anschlussfähigkeit von Kindergarten und Grundschule. In: Wittmann, G.; Levin, A. & Bönig, D. (Hrsg.): AnschlussM. Anschlussfähigkeit mathematikdidaktischer Überzeugungen und Praktiken von ErzieherInnen und GrundschullehrerInnen. Münster, New York: Waxmann, 19–39. Speck-Hamdan, A. (2007): Neuanfang und Anschluss: zur Doppelfunktion von Übergängen. In: Diskowski, D.; Hammes-Di Bernado, E.; Hebenstreit-Müller, S. & Speck-Hamdan, A. (Hrsg.): Übergänge gestalten. Wie Bildungsprozesse anschlussfähig werden. Weimar: verlag das netz, 20–47. Valentino, R.; Stipek, D. J. (2016): PreK-3 Alignment in California‘s education system: Obstacles and Opportunities. PACE. http://edpolicyinca.org/publications/prek-3-alignment-californias-education-system-obstacles-and-opportunities [Abruf: 21.01.2018].

Umgang mit Mehrsprachigkeit in sprachbildenden Aktivitäten am Übergang in die Grundschule Ezgi Erdogan und Ulrich Mehlem1

Keywords: Umgang mit Mehrsprachigkeit, Sprachbildung und -förderung, Differenzkonstruktion

Abstract Im vorliegenden Beitrag wird der Umgang mit Mehrsprachigkeit in inszenierten sprachbildenden Aktivitäten am Übergang in die Grundschule analysiert. Dazu wird in zwei Videosequenzen, die im Rahmen der SPRÜNGE-Studie erhoben wurden, die Herstellung von Differenz entlang der Kategorie Sprache rekonstruiert. Ziel des Beitrags ist es, unterschiedliche Formen dieser Differenzkonstruktionen herauszuarbeiten.

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Einleitung

In bildungspolitischen Maßnahmen zu Sprachbildung bzw. -förderung ist der Einbezug von Mehrsprachigkeit konzeptionell verankert und wird als relevant für Schul- und Bildungserfolg markiert (Durchgängige Sprachbildung: Gogolin & Lange 2010; BiSS: Titz et al. 2018). Für den Elementarbereich zeigen ethnographische Studien, dass mehrsprachige Situationen im Kitaalltag relativ häufig vorkommen (Kuhn 2013), und auch von den pädagogischen Fachkräften reflektiert werden (Diehm & Kuhn 2015). Dabei zeigte sich, dass im Umgang mit Mehrsprachigkeit durch pädagogische Fachkräfte auch ethnische Zuschreibungen interaktiv hervorgebracht werden (Stichwort: Differenzdilemma). Panagiotopoulou 1

Ezgi Erdogan | Goethe-Universität Frankfurt | [email protected] Ulrich Mehlem | Goethe-Universität Frankfurt | [email protected]

© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 N. Skorsetz et al. (Hrsg.), Diversität und soziale Ungleichheit, Jahrbuch Grundschulforschung 24, https://doi.org/10.1007/978-3-658-27529-7_31

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Ezgi Erdogan und Ulrich Mehlem

(2017) hebt hierbei die sprachnationalistischen Ideologien und die soziale Positionierung der Sprecher*innen hervor. Kuhn und Neumann (2017) diskutieren, wie auch in vorschulischen Institutionen mehrsprachiger Gesellschaften (hier: Luxemburg, Schweiz) Sprache zur Differenzherstellung dient. Im Folgenden wird untersucht, wie Mehrsprachigkeit in inszenierten Sprachfördersituationen in Kitas verhandelt wird. Grundlage sind Videographien, die im Rahmen der Evaluationsstudie SPRÜNGE (Kucharz et al. 2018) erhoben wurden und bei denen Fachkräfte vorab festlegten, welche Szenen in ihrer Kita als sprachförderlich gezeigt werden sollen. Die Besonderheit dieser Szenen bestand darin, dass sie von den Fachkräften in der Erwartung, „Sprachfördersituationen mit Vorschulkindern“ zu zeigen, gestaltet wurden. Das für die Analyse gewählte qualitativ-rekonstruktive Verfahren (Tuma, Schnettler & Knoblauch 2011) eröffnet die Möglichkeit, die Bezugnahme auf Mehrsprachigkeit als interaktive Hervorbringung einer sozialen Situation durch alle Beteiligten in den Blick zu nehmen.

2 Mehrsprachigkeit in Interaktion: Zwei Szenen In dem umfangreichen Datenmaterial (54 Videoaufzeichnungen) kommen nur wenige Bezüge zu einer anderen Sprache als Deutsch vor. Exemplarisch wurden zwei Szenen gewählt, in denen die Differenzlinie Sprache einmal vom Kind und einmal von der Fachkraft relevant gesetzt wird. Szene „ich weiß das aus POLEN“ In der ausgewählten Sequenz steht die gemeinsame Zubereitung eines Obstsalats mit vier Vorschulkindern und einer Fachkraft im Fokus. Das Obst wird mit allen Kindern gemeinsam geschnitten. Die Fachkraft zeigt den Joghurtbecher: „was könnte das sein?“ (605) Während Klaus den Geschmack des Joghurts thematisiert, bringt Josef zum Wort eine Erfahrung aus dem Herkunftsland ein: „[ich weiß das aus POLEN]“ (609b). Die Fachkraft schließt an Josefs Äußerung an: „[wie heißts denn in polnisch?]“ (610a). (…) Josef nennt die polnische Bezeichnung für Sahne „śmietana” (611) „(1) bin nicht so sicher ob das stimmt” (612), erwidert die Fachkraft. Josef beharrt mit: „doch” (613). Die Fachkraft fährt fort, „ob du das gleiche meinst wie ich (-) also das ist JOGHURT” (614). Dies kommentiert Josef mit: „aber mit aber mit KUH gemacht” (616). Die Fachkraft erweitert die Äußerung von Josef, indem sie spezifiziert: „das wird (.) AUS der MILCH von der kuh gemacht ja” (617).

Die Differenzlinie ‚Land‘ wird durch das Kind Josef hergestellt (609b). Seine Äußerung lässt sich als Erfahrung, die er in diesem Land gemacht hat, interpretieren, aber auch so, dass er das polnische Wort für Joghurt kennt. Die Fachkraft greift

Umgang mit Mehrsprachigkeit in sprachbildenden Aktivitäten am Übergang in die Grundschule 197

diese zweite Lesart auf und bietet ihm die Möglichkeit, die polnische Bezeichnung für Joghurt einzubringen (609b–611). Die Äußerung von Josef (609b) weist zudem darauf hin, dass er die Legitimation durch die Fachkraft abwartet und nicht bereits in diesem Zug die polnische Bezeichnung einbringt. Nach Josefs Zug (611) äußert die Fachkraft ihren Zweifel darüber, ob diese Bezeichnung korrekt ist (612). Trotz Josefs Expertenstatus für das Polnische wird anschließend ausgehandelt, ob das Wort tatsächlich denselben Sachverhalt bezeichnet und sie das „gleiche“ (614) meinen. Josef verweist auf die Produktion „aber mit KUH gemacht“ (616), was die Fachkraft mit korrektivem Feedback und einer semantischen Expansion seiner Äußerung ratifiziert: „AUS der MILCH von der kuh gemacht ja“ (617). An diesem anschließenden Turn wird ersichtlich, wie es Josef gelingt, sein polnisches Sprachwissen und sein Weltwissen zusammenzuführen, um nun auch das deutsche Wort zu lernen. Szene „[bei dir DEIN] name ist ja auch wirklich SCHWIERIG ne“ In dieser Szene wird eine Literacy-Aktivität mit der Fachkraft und zwei Vorschulkindern, Ina und Douchien, in einer Lernwerkstatt durchgeführt. Zwei Kinder erhalten von der Fachkraft den Arbeitsauftrag ihren Namen zu stempeln „(-) gut (-) ich bin jetz ma GESPANNT das hab ich nämlich letzte woche NICH gesehen könnt ihr eurn NAMEN schon stempeln?“ (27). Die Fachkraft äußert: „[also die ina muss ja hat ja einen ganz anderen LAUT anfangslaut als ehm douchien.“ (31). Sowohl Douchien als auch Ina finden ihren Anfangslaut (33, 35). Nachdem Ina schon von der Fachkraft unterstützt das „ wie Nashorn“ (51) gestempelt hat und auch Douchien mehrere Stempel gefunden hat, spricht sie mit: „ehm (.) sara?“ (158) direkt die Fachkraft an. Diese antwortet: „hm? (159) [bei dir DEIN] (160a) name ist ja auch wirklich SCHWIERIG ne [zu stempeln](161a)“. Douchien wendet sich mit ihrer Frage nach dem passenden Laut an die Fachkraft: „[wo ist der] (160b) [aber wo is de:::] (161b)“. Die Fachkraft spricht zu Douchien, der Blick auf das Arbeitsblatt gerichtet: „das (.) E::: meinst du?“ (162), Douchien nickt. Die Fachkraft steht auf und begleitet: „hm hm (bestätigend). Douchien verbalisiert: „ich find ihn (165) [ni:ch] (166a)“. Währenddessen beginnt die Fachkraft ein mit dem Finger auf den Tisch zu zeichnen: “[das ] (166b) ist ein STRICH und dann sind da DREI kleine striche dran“ (166).(…) Douchien druckt jetzt den Buchstaben. (…) Etwas später fährt die Fachkraft fort: „(…) möchtest du noch was ANDERES stempeln?“ (202). (…) Douchien sagt: „(1) ich brauch noch (…)“ (203) teilweise überlappend mit der Fachkraft: „[ODER möchtest du] (204b) dich möchtest du einfach mal (.) ganz ALLEINE ausprobieren? (1) Douchien?“ (205) Während Ina mit der Fachkraft mit weiteren Wörtern wie MAMA, PAPA (86, 220) fortfährt, nimmt Douchien einen Stempel aus der Ablage und sagt: „DAS brauch ich.“ (206) Später fragt die Fachkraft nochmal: „möchtest nich mehr? (-) oder hast du SO noch lust? ein paar LAUTE zu stempeln?“ (239). Douchien schließt an: „noch lust aber ich will mama und papa stempeln aber wie?“ (240).

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Ezgi Erdogan und Ulrich Mehlem

In diesem Beispiel wird eine Differenzlinie durch die Fachkraft hergestellt, indem der Name von Douchien als „schwierig zu stempeln“ (161a) besondert wird. Ausgelöst wird dies dadurch, dass dieser Name an einigen Stellen keine für das Deutsche einfache Phonem-Graphem-Korrespondenz aufweist. Das (didaktisch vielleicht nicht genau) geplante Vorhaben der Fachkraft kann also nicht ohne Schwierigkeiten eingelöst werden. Obwohl Douchien mit dem schon den vorletzten Buchstaben erreicht hat, wird ihr Name nicht vollständig zu Ende gestempelt (202). Während Ina anschließend mit weiteren Wörtern wie MAMA, PAPA fortfährt (passende Phonem-Graphem-Korrespondenz) (86, 220), bietet die Fachkraft Douchien an, „einfach mal ganz ALLEINE“, also ohne ihre Hilfe „aus(zu)probieren“ bzw. „SO (…) ein paar Laute“ (239), also ohne Bezug zu Wörtern, zu stempeln. Diese didaktische Reduktion weist Douchien zurück und reklamiert für sich dasselbe Recht wie Ina, sinnvolle Wörter stempeln zu dürfen und dabei unterstützt zu werden (240).

3 Zusammenfassung Die ausgewählten Sequenzen bestätigen, dass auch Sprache ein „gesellschaftliches Differenzmerkmal darstellt, mit dem in Machtverhältnissen soziale Zugehörigkeiten konstruiert (…) werden“ (Dirim 2016: 195). Zwei Formen der Differenzkonstruktion entlang der Kategorie Sprache konnten identifiziert werden, in denen sich Ausgangspunkt der Initiierung (Kind oder Fachkraft), Fremd- oder Selbstkonstruktion und Asymmetrie der Beziehung überlagern. Während mit der ersten Szene ein Kinderbeitrag aufgegriffen und mit dessen Erfahrungen verbunden ist, veranschaulicht die zweite Szene, wie ein Name als Abweichung von der Normalität der deutschen Graphem-Phonem-Korrespondenz auffällt und mit geringerer Leistungserwartung verbunden wird. Nicht die Bezugnahme auf eine andere Sprache selbst, sondern deren Einbettung in machtförmige Beziehungen ist also für die Frage des Einbezugs bzw. Umgangs mit Mehrsprachigkeit entscheidend.

Literatur Diehm, I. & Kuhn, M. (2015): Sprechen über das Sprechen der Kinder. Thematisierungsweisen ‚ungesprochener‘ Mehrsprachigkeit im elementarpädagogischen Feld. In: Schnitzer, A. & Mörgen, R. (Hrsg.): Mehrsprachigkeit und (Un-)Gesagtes. Sprache als soziale Praxis in der Migrationsgesellschaft. Weinheim und Basel: Beltz Juventa., 109–130. Dirim, I. (2016): „Ich wollte nie, dass die anderen merken, dass wir zu Hause Arabisch sprechen“. Perspektiven einer linguizismuskritischen pädagogischen Professionalität von Lehrerinnen und Lehrern. In: Hummrich, M.; Pfaff, N.; Dirim, I. & Freytag, C.: Kulturen der Bildung. Kritische

Umgang mit Mehrsprachigkeit in sprachbildenden Aktivitäten am Übergang in die Grundschule 199 Perspektiven auf erziehungswissenschaftliche Verhältnisbestimmungen. Wiesbaden: Springer Verlag, 191–208. Gogolin, I. & Lange, I. (2011): Bildungssprache und Durchgängige Sprachbildung. In: Fürstenau, S. & Gomolla, M. (Hrsg.): Migration und schulischer Wandel: Mehrsprachigkeit. Wiesbaden: Springer Verlag, 107–128. Kucharz, D.; Mehlem, U.; Rezagholinia, S. & Erdogan, E. (2018): Sprachförderung und sprachliche Entwicklung ein- und mehrsprachiger Kinder im letzten Kindergartenjahr. In: Empirische Pädagogik 32. Jg. H.2, 177–197. Kuhn, M. (2013): Professionalität im Kindergarten: Eine ethnographische Studie zur Elementarpädagogik in der Migrationsgesellschaft. Wiesbaden: Springer Verlag. Kuhn, M. & Neumann, S. (2017): Differenz und Ungleichheit im Kontext von Mehrsprachigkeit. Raumanalytische Perspektiven auf Regulierungsweisen sprachlicher Praktiken im frühpädagogischen Feld. In: Diehm, I.; Kuhn, M.; Machold, C., 275–295. Panagiotopoulou, A. (2017): Mehrsprachigkeit und Differenzherstellung in Einrichtungen frühkindlicher Erziehung und Bildung. In: Diehm, I.; Kuhn, M. & Machold C., 257–274. Titz, C.; Weber, S.; Ropeter, A.; Geyer, S. & Hasselhorn, M. (2018): Konzepte zur Sprach- und Schriftsprachförderung umsetzen und überprüfen. Stuttgart: W. Kohlhammer Verlag. Tuma, R.; Schnettler, B. & Knoblauch, H. (2011): Videographie. Einführung in die interpretative Videoanalyse sozialer Situationen. Wiesbaden: Springer Verlag.

Erstsprachen im Unterricht? Ergebnisse der BLUME-Studie zu den Überzeugungen von Grundschullehrkräften Sarah Désirée Lange, Sanna Pohlmann-Rother und Verena Hohm1

Keywords: Mehrsprachigkeit, Lehrkräfteüberzeugungen, Herkunftssprachen

Abstract Anknüpfend an die grundschulpädagogische Diskussion zur Rolle der Mehrsprachigkeit im schulischen Kontext wird untersucht, welche Überzeugungen Grundschullehrkräfte zum Umgang mit nicht-deutschen Erstsprachen im Unterricht haben. Die Ergebnisse (N = 123 Grundschullehrkräfte) zeigen im Mittel eine Tendenz zur Befürwortung des Einbezugs der Erstsprachen in den Unterricht, die Zusammenschau auf Einzelitemebene zeigt jedoch, dass die Frage nach dem Stellenwert der Erstsprachen im Unterricht unter den befragten Lehrkräften insgesamt umstritten ist.

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Einführung

Der hohe Anteil mehrsprachig aufwachsender Kinder, die zu Hause überwiegend nicht-deutsche Erstsprachen sprechen (World Vision Deutschland e. V. 2018) eröffnet für Lehrkräfte neue Möglichkeiten sowie neue Herausforderungen im Umgang mit sprachlicher Heterogenität im Unterricht. Im bislang vorwiegend normativ geführten Diskurs zu Mehrsprachigkeit im schulischen Kontext lässt sich 1

Sarah Désirée Lange | Julius-Maximilians-Universität Würzburg | [email protected] Sanna Pohlmann-Rother | Julius-Maximilians-Universität Würzburg | [email protected] Verena Hohm | Julius-Maximilians-Universität Würzburg | [email protected]

© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 N. Skorsetz et al. (Hrsg.), Diversität und soziale Ungleichheit, Jahrbuch Grundschulforschung 24, https://doi.org/10.1007/978-3-658-27529-7_32

Ergebnisse der BLUME-Studie zu den Überzeugungen von Grundschullehrkräften

201

in den letzten Jahren ein Perspektivenwechsel von einer bis in die frühen 1980er Jahre hinein dominierenden „Defizitperspektive“ (Gogolin & Krüger-Potratz 2010: 173) hin zu einem ressourcenorientierten Blick auf mögliche Lernchancen für alle Schülerinnen und Schüler durch den Einbezug nicht-deutscher Erstsprachen beobachten. Mit dem vorliegenden Beitrag werden Ergebnisse zu den Überzeugungen im Umgang mit nicht-deutschen Erstsprachen im Unterricht berichtet, die im Rahmen der BLUME-Studie (ÜBberzeugungen von GrundschulLehrkräften im Umgang mit Mehrsprachigkeit) erhoben wurden.

2 Theoretischer Hintergrund 2.1

Erstsprachen im Grundschulunterricht

Aus dem Bildungsauftrag der Grundschule als erste obligatorische Schulstufe für alle Kinder begründen sich die Aufgaben, die durch Mehrsprachigkeit geprägte Lebenswelt der Kinder zu berücksichtigen und deren unterschiedliche (sprachlichen) Vorerfahrungen aufzugreifen (Fürstenau 2017). Anders als in der Zweitspracherwerbsforschung, die vorrangig Prinzipien und Gesetzmäßigkeiten des Zweitspracherwerbs thematisiert (Ahrenholz 2017) und den Fokus dabei häufig auf die Differenz zwischen Kindern mit Deutsch als Erst- und Deutsch als Zweitsprache richtet, ist aus der Perspektive grundschulpädagogischer Forschung die Frage nach dem Einbezug der Erstsprachen aller Schüler*innen von besonderem Interesse. Nach der Interdependenzhypothese (Cummins 1979) wird dem Einbezug von Erstsprachen eine unterstützende Funktion für den Zweitspracherwerb zugeschrieben. Es mangelt jedoch an empirischer Evidenz für die angenommene Interdependenz (Esser 2006). Befürworter einsprachiger Unterrichtspraxis fokussieren die effektive Nutzung der verfügbaren Lernzeit und befürchten Nachteile für Schulsprache und Fachunterricht, wenn Zeit für die Erstsprachen im Unterricht aufgewendet wird („Time-on-task-Hypothese“; Carroll 1963). Forschungsergebnisse zu bilingualen Schulmodellen konnten diese Befürchtungen bislang nicht belegen (Möller et al. 2017). 2.2

Überzeugungen von Lehrkräften

Ausgehend von einem kompetenztheoretischen Verständnis von Überzeugungen als Professionalisierungsfacette (Baumert & Kunter 2006) gilt das Konstrukt der Überzeugungen als relativ stabil und einflussreich hinsichtlich des Handelns einer Lehrkraft sowie der Interpretation von Unterricht (Skott 2015). Die empirische

202

Sarah Désirée Lange, Sanna Pohlmann-Rother und Verena Hohm

Erfassung der Überzeugungen zum Umgang mit Erstsprachen von berufstätigen Grundschullehrkräften stellt bislang ein Forschungsdesiderat dar. Vorliegende Studien fokussieren entweder nicht spezifisch das Konstrukt der Überzeugungen (Maak, Brede & Born 2015), nicht spezifisch das Thema Mehrsprachigkeit (Wischmeier 2012), untersuchen als Zielgruppe Lehramtsstudierende (Hammer, Fischer & Koch-Priewe 2016) oder ErzieherInnen (Kratzmann et al. 2017) – jedoch nicht berufstätige Grundschullehrkräfte. Ausgehend vom beschriebenen Forschungsstand wird im vorliegenden Beitrag der folgenden Frage nachgegangen: Welche berufsbezogenen Überzeugungen haben Grundschullehrkräfte hinsichtlich des Umgangs mit Erstsprachen im Unterricht?

3 Methodisches Vorgehen Den Online-Fragebogen füllten N = 123 Grundschullehrkräfte in einem Schulamtsbezirk in Süddeutschland aus (Lange & Pohlmann-Rother 2019/eingereicht; auch Pohlmann-Rother & Lange 2019 i. D.). Zur Erfassung der Überzeugungen zum Umgang mit Erstsprachen im Unterricht wurde eine Skala von Fischer und Ehmke (2019) für die Zielgruppe der berufstätigen Grundschullehrkräfte adaptiert (7 Items; 1 = „stimme überhaupt nicht zu“, 6 = „stimme voll und ganz zu“; Beispielitem: Im Unterricht sollten Schülerinnen und Schüler von Zeit zu Zeit Lerninhalte in ihren Erstsprachen besprechen dürfen; Cronbachs α = .84).

4 Ergebnisse In der deskriptiven Auswertung zu den Überzeugungen der Grundschullehrkräfte zum Umgang mit Erstsprachen im Unterricht zeigt sich ein heterogenes Bild. Zwar weist der Mittelwert (M = 4,03, SD = 1,12, N = 123) eine Tendenz hin zu einer Befürwortung des Einbezugs nicht-deutscher Erstsprachen in den Unterricht aus. Die höchste Zustimmung findet sich allerdings bei den mittleren Antwortmöglichkeiten („stimme teilweise zu“, N = 38). Die Zusammenschau der Ergebnisse auf Einzelitemebene (vgl. Abbildung 1) zeigt, dass die Ausprägungen der Überzeugungen der befragten Lehrkräfte zum Einbezug der Erstsprachen von Schüler*innen im Unterricht der Grundschule eine hohe Variabilität aufweisen. Die befragten Lehrkräfte sind also unterschiedlicher Meinung bezüglich der Bedeutung der Erstsprachen ihrer SchülerInnen im unterrichtlichen Kontext und vertreten dabei beide Extrempole.

Ergebnisse der BLUME-Studie zu den Überzeugungen von Grundschullehrkräften

Abb. 1:

203

Deskriptive Ergebnisse auf Einzelitemebene der Skala Überzeugungen zum Umgang mit Erstsprachen im Unterricht (Lange & Pohlmann-Rother, 2019/eingereicht)

5 Diskussion Zusammenfassend deuten die Ergebnisse darauf hin, dass die Frage, ob Erstsprachen im Unterricht einen Platz haben (sollten), unter den befragten Grundschullehrkräften insgesamt umstritten ist. Gogolin (1994) konstatierte dem Bildungssystem bereits vor mehr als 20 Jahren einen ‚monolingualen Habitus‘ und thematisiert damit die Dominanz der sprachlichen Mehrheit im deutschen Bildungssystem. Die Vorstellung von Einsprachigkeit als ‚Normalfall‘ wurde im 19. Jahrhundert verfestigt und Mehrsprachigkeit als hinderlich für die geistige, sprachliche und soziale Entwicklung angesehen (Tracy 2011), was pädagogisch und sozialwissenschaftlich untermauert und in der Bildungspraxis verbreitet wurde (Krüger-Potratz 1994). Die vorliegenden Ergebnisse können als Spuren dieser tief verwurzelten und überholten Auffassung interpretiert werden. Inwieweit Lehrkräfte auf der Ebene ihres Unterrichts Handlungsspielräume und Gestaltungsmöglichkeiten im Umgang mit Mehrsprachigkeit ressourcenorientiert nutzen, ist eng mit ihren, sich im Unterrichtshandeln implizit und explizit manifestierenden, Überzeugungen zum Umgang mit sprachlicher Vielfalt verwoben (weiterführend: Lange & Pohlmann-Rother 2019/eingereicht). Daher erscheint es auch für weitere

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Sarah Désirée Lange, Sanna Pohlmann-Rother und Verena Hohm

Forschung relevant, die Überzeugungen von Grundschullehrkräften eingehender zu untersuchen.

Literatur Ahrenholz, B. (2017): Zweispracherwerbsforschung. In Ahrenholz, B. & Oomen-Welke, I. (Hrsg.): Deutsch als Zweitsprache Hohengehren: Schneider Verlag, 102–120. Baumert, J. & Kunter, M. (2006): Stichwort: Professionelle Kompetenz von Lehrkräften. Zeitschrift für Erziehungswissenschaft, 9, 469–520. Carroll, J. B. (1963): A model of school learning. Teachers College Record, 64, 723–733. Cummins, J. (1979): Linguistic Interdependence and the Educational Development of Bilingual Children. Review of Educational Research, 49, 222–251. Esser, H. (2006): Sprache und Integration. Die sozialen Bedingungen und Folgen des Spracherwerbs von Migranten. Frankfurt am Main: Campus-Verlag. Fischer, N. & Ehmke, T. (2019): Empirische Erfassung eines “messy constructs”: Überzeugungen angehender Lehrkräfte zu sprachlich-kultureller Heterogenität in Schule und Unterricht. Zeitschrift für Erziehungswissenschaft. Online Vorveröffentlichung. Fürstenau, S. (2017): Migrationsbedingte Mehrsprachigkeit als Gegenstand der Grundschulforschung. Zeitschrift für Grundschulforschung, 10, 9–22. Gogolin, I. (1994): Der monolinguale Habitus der multilingualen Schule. Münster: Waxmann. Gogolin, I. & Krüger-Potratz, M. (Hrsg.) (2010): Einführung in die Interkulturelle Pädagogik. Opladen & Farmington: Barbara Budrich. Hammer, S.; Fischer, N. & Koch-Priewe, B. (2016): Überzeugungen von Lehramtsstudierenden zu Mehrsprachigkeit in der Schule. DDS – Die Deutsche Schule, 13, 147–171. Kratzmann, J.; Jahreiß, S.; Frank, M.; Ertanir, B. & Sachse, S. (2017): Einstellungen pädagogischer Fachkräfte in Kindertageseinrichtungen zur Mehrsprachigkeit. Zeitschrift für Erziehungswissenschaft, 20, 237–258. Krüger-Potratz, M. (1994): „Dem Volke eine andere Muttersprache geben“. Zur pädagogischen Diskussion über Zwei- und Mehrsprachigkeit in der Geschichte der Volksschule. Zeitschrift für Pädagogik, 40, 81–94. Lange, S. D. & Pohlmann-Rother, S. (2019/eingereicht): Überzeugungen von Grundschullehrkräften zum Umgang mit nicht-deutschen Erstsprachen im Unterricht. Zeitschrift für Grundschulforschung. Maak, D.; Brede, J. R. & Born, S. (2015): Einstellungen von Lehramtsstudierenden zu Mehrsprachigkeit erheben. Bericht über die Anlage eines Forschungsprojektes. In Rösch, H.; Webersik, H.: Deutsch als Zweitsprache - Erwerb und Didaktik. Beiträge aus dem 10. Workshop "Kinder mit Migrationshintergrund", 2014 Stuttgart: Klett, 263–283. Möller, J.; Hohenstein, F.; Fleckenstein, J.; Köller, O. & Baumert, J. (Hrsg.) (2017): Erfolgreich integrieren - die Staatliche Europa-Schule Berlin. Münster: Waxmann. Pohlmann-Rother, S. & Lange, S. D. (2019/i. D.): Mehrsprachigkeit in der Lehrkräftebildung: Empirische Ergebnisse zu den Überzeugungen von Grundschullehrkräften und Implikationen für die Kooperation von KiTa und Grundschule. In Pohlmann-Rother, S.; Lange, S. & Franz, U. (Hrsg.): Kooperation von Kita und Grundschule: Digitalisierung, Inklusion und Mehrsprachigkeit – Aktuelle Herausforderungen beim Übergang bewältigen. Köln: Wolters Kluwer. Skott, J. (2015): The promises, problems, and prospects of research on teachers' beliefs. In H. Fives (Ed.), International handbook of research on teachers' beliefs New York: Routledge, 13–29. Tracy, R. (2011): Mehrsprachigkeit. Realität, Irrtümer, Visionen. In: Eichingern, L. M.; Plewnia, A. & Steinle, M. (Hrsg.): Sprache und Integration. Tübingen: Narr, 69–110.

Ergebnisse der BLUME-Studie zu den Überzeugungen von Grundschullehrkräften

205

Wischmeier, I. (2012): „Teachers’ Beliefs“: Überzeugungen von (Grundschul-)Lehrkräften über Schüler und Schülerinnen mit Migrationshintergrund. In Wiater, W. & Manschke, M.: Verstehen und Kultur. Mentale Modelle und kulturelle Prägungen Wiesbaden: Springer VS, 167–189. World Vision Deutschland e. V. (2018): Kinder in Deutschland 2018. 4. World Vision Kinderstudie (1. Auflage). Weinheim: Beltz.

Sprache fördern? – am besten alle! Esra Hack-Cengizalp1

Keywords: Mehrsprachigkeit, Wortschatzförderung, Herkunftssprachen, mehrsprachiges Lernen

Abstract Der Beitrag hat die Herkunftssprachen im Fokus und zeigt, wie es einer Didaktik der Mehrsprachigkeit gelingen kann, sprachliche Begegnungen Gegenstand des Unterrichts zu machen. Dabei steht der Wortschatz als übergreifender Kompetenzbereich im Mittelpunkt.

1

Einführung

Die migrationsbedingte sprachliche Diversität an deutschen Schulen ist kein neues Thema. Dennoch fordert sie den Unterricht noch heute heraus, denn es fehlen nach wie vor empirisch nachgewiesene, wirksame Unterrichtsmethoden, die auf das Lernen in zwei Sprachen sensibilisiert sind und es auch im schulischen Kontext weiter vorantreiben. Zahlreiche Forschungsarbeiten stellen heraus, dass der Einbezug und die Nutzung der Herkunftssprachen im Unterricht u. a. auf die Lern- und Verarbeitungsprozesse und auf die Lernmotivation insgesamt förderlich wirken (Meyer & Prediger 2011, Kropp 2015, Müller & Schmitz 2014, Akbulut, Bien-Miller & Wildemann 2017). Dem Beitrag liegt die Frage zugrunde, ob und wie die erst- und zweitsprachlichen Ressourcen zur individuellen Mehrsprachigkeitsförderung in der Primarstufe genutzt werden können. Aufgrund des Rahmens beschränkt sich die vorliegende Arbeit auf die Bereiche Wortschatz und Lesen. 1

Esra Hack-Cengizalp | Goethe-Universität Frankfurt | [email protected]

© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 N. Skorsetz et al. (Hrsg.), Diversität und soziale Ungleichheit, Jahrbuch Grundschulforschung 24, https://doi.org/10.1007/978-3-658-27529-7_33

Sprache fördern? – am besten alle!

207

2 Forschungsstand Effekte mehrsprachigen Lernens im regulären Unterricht ist ein Feld, das gegenwärtig noch recht wenig erforscht ist (Akbulut et al. 2017, Hardy & Jurecka 2018). Nicht zuletzt seit der ersten Veröffentlichung der sog. Hattie-Studie ist es bekannt, dass Wortschatz- und Leseförderprogramme eine hohe Relevanz für schulischen Erfolg nachweisen (Hattie 2013). Hatties Meta-Analysen zeigen, dass unterschiedliche Formen der Wortschatzarbeit wie beispielsweise das Lernen aus dem Kontext (Sternberg 1987, McElvany et al. 2017), Wortlernen mithilfe von Mnemotechniken (Mastropieri & Scruggs 1989, zit. n. Hattie 2013) oder die direkte Instruktion (Nippold 2007) den Leseerfolg steigern. Bei der lektürebasierten Wortschatzförderung erhöht sich der Erfolg des Wortbedeutungslernens um 20 bis 25 % (Biemiller & Boote 2006). Selbst auch Maßnahmen wie das wiederholte Lesen beeinflussen das Leseverständnis positiv (Hattie 2013, Sander et al. 2018). Nun stellt sich die Frage, ob diese Erkenntnisse ohne weiteres auf das mehrsprachige Lernen übertragbar sind. Für das Leseverständnis und den Wortschatzzuwachs belegen dies Büdgens-Kosten und Elsner (2014) und Elsner, BündgensKosten und Hardy (2015). Sie stellten fest, dass die parallele Nutzung digitaler Texte in mehreren Sprachen das erfolgreiche Leseverständnis sowie den Wortschatzzuwachs stärkt. Sander et al. (2018) stellen im Gegensatz heraus, dass eine auditive Vorschaltung in der Herkunftssprache vor dem Lesen des deutschsprachigen Textes keine Effekte für das Text- und Wortbedeutungsverstehen zeigen. Allerdings verlangt ein Vorschalten durch einen der deutschsprachigen Textrezeption vorangestellten Hörtext, dass im Vorfeld geprüft wird, ob der Wortschatz des türkischsprachigen Textes im Allgemeinen verstanden wurde. Selbst das Lernen aus dem Kontext steht in Gefahr, wenn mehr als 3 % des textbezogenen Inhalts nicht verstanden wird (Philipp 2012), vor allem, wenn es sich um semantisch komplexe Wörter handelt, die im mündlichen Gebrauch häufig nicht verwendet werden. Im Sinne des Translanguaging-Ansatzes, der bilinguale Sprechpraktiken als Norm ansieht, sollte es möglich sein, sein gesamtes Sprachrepertoire im schulischen Lehr-Lernprozess einzusetzen (García & Wei 2014). Es sind zahlreiche Translanguaging-Beispiele bereits aus der Praxis, überwiegend in elementaren Bildungseinrichtungen, bekannt (Panagiotopoulou 2016; Kirsch & Mortini 2016). Es ist jedoch anzumerken, dass diese Praxisbeispiele in den Ländern mit offizieller Mehrsprachigkeit entstanden und nur eingeschränkt übertragbar sind. Der Einsatz des gesamten Sprachrepertoires im Unterricht ist an ein modernes Lehr-Lernverständnis gebunden und setzt voraus, dass erkannt wird, dass im mehrsprachigkeitssensiblen Unterricht für das Erreichen bildungspolitischer

208

Esra Hack-Cengizalp

Ziele individualisierte Lernwege ermöglicht werden müssen. In interaktiven Unterrichtssettings beispielsweise wie in Gruppen- und Partnerarbeiten lassen sich häufig bilinguale Sprechanteile beobachten (vgl. Duarte, Gogolin & Siemon 2013). Mehrsprachiges Lesen – didaktische Vorüberlegungen Mit „Translanguaging spaces“ bezeichnen García und Wei (2014: 24 f.) die Schaffung eines Kommunikationsraums, in dem nicht nur monolinguale Sprachgebrauchsszenarien vorkommen, sondern auch multilinguale Sprechakte erlaubt sind. Unter Berücksichtigung von kommunikativen Bedürfnissen, die Mehrsprachige in unterschiedlichen sozialen Räumen erfüllen, können spezifische didaktische Werkzeuge geschaffen werden, die in den regulären Unterricht implementiert werden. Ein didaktisches Mittel zur Schaffung von translanguaging spaces wird im Folgenden exemplarisch vorgestellt. Mehrsprachiges Lesen – wie? Wie sollte nun ein Kommunikations- und Interaktionsraum geschaffen werden, in dem multilinguale Sprecher ihr sprachliches Repertoire einsetzen können? Basierend auf wissenschaftlichen Erkenntnissen wird dem mehrmaligen Lesen von Texten, dem Lernen aus dem Kontext und dem expliziten Lernen des Wortschatzes große Bedeutung für den Leseerfolg beigemessen. Aber auch die Möglichkeit, einen Text auch in einer Herkunftssprache lesen zu dürfen, verzeichnet nicht zu unterschätzende Lernerfolge. Vor diesem Hintergrund kann das mehrsprachige Lesen in gezielt mehrsprachigen Unterrichts- bzw. Forschungssettings neue Wege im Forschungsparadigma Mehrsprachigkeit als Chance eröffnen. Mit mehrsprachigem Lesen ist das zusätzliche Lesen der an den in Deutsch gelesenen Text anschließende Lektüre in der Herkunftssprache gemeint. Es kann den Lerner*innen jedoch nicht vorenthalten werden, wenn sie motivational (ich möchte auch auf Russisch lesen) oder aus entdeckerischer Lust (Wie heißt das Wort auf Russisch?) die Lektüren parallel lesen. Mehrsprachiges Lesen – was? Wir leben heute in einer medialen Vielfalt, die das mehrsprachige Lesen zu einer Selbstverständlichkeit macht. Im Sachunterricht können beispielsweise Experimente bzw. die Vorbereitung und Durchführung von Experimenten unter mehrsprachigen Anleitungen vollzogen werden. Im Sprachunterricht lassen sich mehrsprachige Schullektüren einsetzen. Auch mehrsprachige mathematische Arbeitsund Denkprozesse führen zum Erfolg (Prediger & Özdil 2011). Die Suche nach vorwiegend in die türkische Sprache übersetzten Grundschullektüren von original deutschsprachigen Titeln ergab, dass ein beträchtlicher Teil der an deutschen Schulen aktuell eingesetzten Grundschullektüren auch in

Sprache fördern? – am besten alle!

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weiteren Herkunftssprachen vorhanden ist.2 Die Auswahl an mehrsprachigen Grundschullektüren ist jedoch deutlich geringer, wenn mehrere Migrantensprachen wie das Arabische oder Russische gleichzeitig berücksichtigt werden sollen. Arabische bzw. russische Übersetzungen finden sich teilweise auch bei Schullektüren für höhere Klassenstufen, wie z. B. „Rico, Oskar und die Tieferschatten“ von Andreas Steinhöfel.

3 Zusammenfassung und Ausblick Kommen wir zurück auf die eingangs gestellte Frage: Die Nutzung mehrsprachiger Lesetexte schafft Raum für den Einsatz und die Entfaltung von rezeptiven und produktiven Fähigkeiten eines multilingualen Individuums und gibt zugleich Raum für einen individuellen (kreativen) Umgang mit der eigenen „Sprachigkeit“ (vgl. Rehbein 2016, Büdgens-Kosten & Elsner 2014, Creese & Blackledge 2010). Auf diese Weise lässt sich der kognitive und affektive Mehrwert mehrsprachiger Unterrichtssettings langfristig beobachten und ggf. in das Unterrichtsgeschehen etablieren.

Literatur Akbulut, M.; Bien-Miller, L. & Wildemann, A. (2017): Mehrsprachigkeit als Ressource für Sprachbewusstheit. In: Zeitschrift für Grundschulforschung. Bildung im Elementar- und Primarbereich. 10/2 Mehrsprachigkeit, 61–74. Biemiller, A. & Boote, C. (2006): An Effective Method for Building Meaning Vocabulary in Primary Grades. In: Journal of Educational Psychology 98/1, 44–62. Büdgens-Kosten, J. & Elsner, D. (2014): Rezeptives Code-Switching ein- und mehrsprachiger Lerner/innen in multilingualen Settings. In: FLuL 43/2, 56–73. Creese, A. & Blackledge, A. (2010): Translanguaging in the Bilingual Classroom: A Pedagogy for Learning and Teaching? In: The modern language journal 94, 103–115. Duarte, J.; Gogolin, I. & Siemon, J. (2013): Mehrsprachigkeit im Fachunterricht am Übergang in die Sekundarstufe II – erste Ergebnisse einer Pilotstudie. In: Osnabrücker Beiträge zur Sprachtheorie 83, 79–94. Elsner, D.; Bündgens-Kosten, J. & Hardy, I. (2015): Affordanzen und Nutzung mehrsprachiger Lernumgebungen – erste Ergebnisse aus der Pilotierung zum Forschungsprojekt LIKE. In: Kötter, M. & Rymarczyk, J. (2015): Englischunterricht auf der Primarstufe: neue Forschungen - weitere Entwicklungen. Frankfurt am Main: Peter Lang, 35–57. García, O. & Wei, L. (2014): Translanguaging. Language, Bilingualism and Education. Hampshire/New York: Palgrave Macmillan.

2

Die Liste kann bei der Verfasserin des Beitrags angefordert werden.

210

Esra Hack-Cengizalp

Hardy, I. & Jurecka, A. (2018): Die Rolle der Erstsprache für schulisches Lernen bei Kindern und Jugendlichen mit Migrationshintergrund. In: McElvany, N.; Bos, W., Holtappels, H.-G., Hasselhorn, M. & Ohle-Peters, A. (Hrsg.): Bedingungen erfolgreicher Bildungsverläufe in gesellschaftlicher Heterogenität-interdisziplinäre Forschungsbefunde für Theorie und Praxis. Dortmunder Symposium der Empirischen Bildungsforschung. Münster: Waxmann., 131–146. Hattie, J. (2013): Lernen sichtbar machen. Baltmannsweiler: Scheider Verlag Hohengehren. Kirsch, C. & Mortini, S. (2016): Translanguaging. Eine innovative Lehr- und Lernstrategie. In: Sprachbildung, September 2016, 23–25. Kropp, A. (2015): Vorsprung durch Vorwissen: Das Potenzial von Transferleistungen für die Nutzung herkunftsbedingter Mehrsprachigkeit im schulischen Fremdsprachenunterricht. In: Witzigmann, S. & Rymarczyk, J.: Mehrsprachigkeit als Chance. Herausforderungen und Potenziale individueller und gesellschaftlicher Mehrsprachigkeit. Frankfurt: Peter Lang, 165–183. McElvany, N.; Ohle, A.; El-Khechen, W.; Hardy, I. & Çınar, M. (2017): Förderung sprachlicher Kompetenzen – Das Potenzial der Familiensprache für den Wortschatzerwerb aus Texten. In: Zeitschrift für Pädagogische Psychologie 31/1, 13–25. Meyer, M. & Prediger, S. (2011): Vom Nutzen der Erstsprache im Mathematiklernen. In: Prediger, S. & Özdil, E.: Mathematiklernen unter Bedingungen der Mehrsprachigkeit – Stand und Perspektiven der Forschung und Entwicklung. Münster: Waxmann, 185–204. Müller, N. &; Schmitz, K. (2014): Mehrsprachigkeit von Geburt an: Vorteile, Schwierigkeiten und Wege dahin. In: Braches-Chyrek, R.; Röhner, C.; Sünker, H. & Hopf, M. (Hrsg.): Handbuch früher Kindheit. Opladen: Budrich, 199–213. Nippold, M. A. (2007): Later language development: school-age children, adolescents, and young adults. Austin: pro.ed. Panagiotopoulou, A. (2016): Mehrsprachigkeit in der Kindheit. Perspektiven für die frühpädagogische Praxis. Deutsches Jugendinstitut e. V. Prediger, S. & Özdil, E. (2011): Mathematiklernen unter Bedingungen der Mehrsprachigkeit – Stand und Perspektiven der Forschung und Entwicklung in Deutschland. Rehbein, J. (2016): Textuelle Literalisierung – mehrsprachig. In: Rosenberg, P. & Schroeder, C.: Mehrsprachigkeit als Ressource in der Schriftlichkeit. Berlin/Boston: de Gruyter, 267–303. Sander, A.; Ohle-Peters, A.; Hardy, I. & McElvany, N. (Hrsg.): Die Effektivität schriftlicher und kombiniert auditiv-schriftlicher Wortschatzfördermaßnahmen bei Kindern mit nichtdeutscher Herkunftssprache. In: Zeitschrift für Erziehungswissenschaften 18/4, 1–21. Sternberg, R. J. (1987): Most vocabulary is learned from context. In: McKeown, M. & Curtis, M. (Hrsg.): The nature of vocabulary acquisition. London: Laurence Erlbaum, 89–103.

Lernen in Willkommensklassen – Umgang mit Differenz und mimetische Zugänge zu Sprachwissen Serafina Morrin1

Keywords: Sprache, Mimesis, rituelles Wissen, Differenz, Theaterpädagogik

Abstract In einer Berliner Willkommensklasse wurde ein theaterpädagogisches Projekt videografiert, mit dem Ziel implizites Sprach- und Körperwissen von Grundschulkindern zu erforschen. Untersucht wurde die performative Ebene, um herauszufinden, wie Kinder mit erfahrener Alterität umgehen und sich unbekannte Begriffe mimetisch aneignen. Es zeigt sich, dass die Kinder bereits über Wissen zur sprachlichen Distinktion verfügen und die körperlich-performative Ebene nutzen, um vergangene Erfahrungen in den gegenwärtigen Kontext einzubringen.

1

Einführung

Die Zahl der Lernenden in Berliner Willkommensklassen hat sich seit 2012 fast vervierfacht (Sen BJW 2018: G2). Fluktuation und Diversität stellen Herausforderungen dar und gleichzeitig lässt sich feststellen, dass es „bisher kaum wissenschaftlich gesicherte Erkenntnisse darüber [gibt], wie geflüchtete Kinder und Jugendliche am besten unterrichtet werden können“ (SVR 2017: 126). Daher wurden in der hier vorgestellten Studie soziale Handlungen fokussiert, in denen sich implizites Wissen zeigen kann, denn „knowledge is like an iceberg. What you can test is what you can see. But much is below. “ (Wulf 2015) Als Versuch, sich des

1

Serafina Morrin | Katholische Hochschule für Sozialwesen Berlin | [email protected]

© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 N. Skorsetz et al. (Hrsg.), Diversität und soziale Ungleichheit, Jahrbuch Grundschulforschung 24, https://doi.org/10.1007/978-3-658-27529-7_34

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Serafina Morrin

unteren Teils des Eisbergs zu nähern, wurde ein theaterpädagogisches Projekt videografiert. Ziel war, die Bedeutung körperlich-performativer Anteile zu beleuchten, um eine mögliche Relevanz für die Grundschulpädagogik ableiten zu können.

2 Theoretischer Hintergrund Davon ausgehend, dass wir mehr wissen, als wir zu sagen wissen (Polanyi 2016: 14), wurde die körperliche Bezugnahme fokussiert. Mit Blick auf Körper- und Sprachwissen galt es, Ereignishaftes zu betrachten. Implizites Wissen wird sich nie in seiner Gesamtheit fassen lassen, es kann aber in mimetischen Prozessen sichtbar und somit empirisch greifbar werden (Wulf 2005: 14). Der Mensch nimmt in solchen Prozessen seine Außenwelt wahr, tritt aus sich heraus und schafft sich die Welt in seiner Vorstellung noch einmal. Äußere und innere Welt gleichen sich kontinuierlich an und werden so erfahrbar (ebd.: 23). Dies soll an einem Beispiel veranschaulicht werden: Während eines Spiels stellen die Kinder und der Lehrer Begriffe als Statuen dar, die die Theaterpädagogin nennt. Ein Begriff heißt „Weihnachten“. Sofort tut der Lehrer so, als nähme er etwas in die Hand, das er öffne, dabei haucht er leise und mit erhobener Stimme „oh“ und betrachtet seine Hände mit freudig-erstauntem Blick. Gleichzeitig ist das Schluchzen eines Jungen zu hören. Dieser nimmt seine Fäuste vor die Augen und reibt sie. Nun fällt sein Blick zur Geste des Lehrers. Daraufhin bringt er seine Arme und Hände in eine ähnliche Position. Sein weinender Gesichtsausdruck hat sich in ein Lächeln geändert.2

Dieser mimetische Prozess besagt noch nicht, dass der Junge die vielfältige Bedeutung des Wortes Weihnachten verstanden hat, aber er hat vermutlich verstanden, dass Weihnachten nichts mit Weinen gemein haben muss. Mit Fokus auf verinnerlichtes Wissen wird der Frage nachgegangen, welche mimetischen Lernprozesse sich darstellen. Betrachtet wird rituelles Körperwissen; gemeint ist praktisches Handlungswissen, bei dem die Teilnehmenden den Symbolcharakter einer rituellen Handlung kennen und es verstehen diese Handlung so aufzuführen, dass andere den rituellen Bezug erkennen. Weiter sollen kommunikative Normen, als etwas mimetisch Angeeignetes, sichtbar gemacht werden. Sprache, verstanden als sozialer Handlungsakt soll dabei auf habitualisierte Werte hin untersucht werden.

3 Methode An der videographischen Erhebung des Theaterprojektes haben je neun Kinder einer dritten Klassenstufe an neun Terminen teilgenommen. Dabei wurden Methoden des szenischen Spiels wie Interviewfragen verwendet. So wurde anstatt 2

Zur ausführlicheren Darstellung aller empirischen Beispiele siehe Morrin 2018.

Lernen in Willkommensklassen – Umgang mit Differenz

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einer Erzählaufforderung der Forscherin (Wirklichkeit als Text) die Aufforderung gegeben, etwas darzustellen (Wirklichkeit als körperliches Ereignis). Szenisches Spiel kann Möglichkeiten bieten, kommunikative Normen sichtbar werden zu lassen. Visualisiert werden nicht nur Themen, die für die Spielpartner relevant sind, es zeigt sich auch die Art und Weise, wie sie diese behandeln (Morrin 2018: 23). Die Videodaten wurden nach der Dokumentarischen Methode ausgewertet (Bohnsack, Nentwig-Gesemann & Nohl 2007) und die intersubjektive Nachvollziehbarkeit in Forschungswerkstätten überprüft.

4 Ergebnisse Im Folgenden wird zuerst veranschaulicht, wie die Kinder ihr Körperwissen zur Bearbeitung erfahrener Alterität nutzen, um dann einen Blick auf Sprachaneignung und verinnerlichtes Sprachwissen zu werfen. Resultate zu implizitem rituellem Wissen Im Laufe des Projektes ereigneten sich mehrere Szenen, in denen die Kinder aus eigenem Antrieb zu einem ihnen vertrauten Gebetsritual Bezug nehmen. Während eines Übergangs zur nächsten Übung wird von den Kindern das kreative Potential dieser Liminalität (Turner 2005) genutzt, um erfahrene Differenzen zu bearbeiten. Zur Veranschaulichung soll eine der Szenen hier dargestellt werden. Alle stehen in einem Kreis. Gerade wurde ein Spiel beendet und die Theaterpädagogin bittet jetzt die Kinder, sich auf den Boden zu setzen. Ein Junge kniet sich hin und stöhnt dabei „Aaaaah“. Ein anderer kniet sich ebenfalls hin und sagt im gleichen Tonfall lachend „Allah“. Jetzt beginnt eine kurze Darbietung von vier der neun Kindern, die lachend im Wechsel ihre Arme heben und die Stirn auf den Boden ablegen. Die übrigen Kinder und der Lehrer sitzen still dabei. Das Spiel wird beendet, nachdem die Theaterpädagogin dazu auffordert, sich auf die gemeinsame Sache zu konzentrieren.

Aufgrund von Assoziationen (in dieser Szene war es das Hinknien verbunden mit einem „ah“-Laut) nehmen die Kinder mimetischen Bezug auf ihnen vertrautes rituelles Wissen eines Gebetsablaufs. Einige der Kinder nutzen selbstwirksam, durch ihr eigenes Tun, die Momente der Losgelöstheit und Unplanbarkeit in der Übergangssituation, um mit Differenzen umzugehen, Gemeinschaft herzustellen und ihr Selbst- und Weltverhältnis zu bearbeiten. Dies ist in den verschiedenen Szenen unter drei Voraussetzungen geschehen: ƒ

Die vorherigen Übungen waren körperlich anregend,

ƒ

verschiedene Orientierungen konnten nebeneinander bestehen, da es scheinbar kein richtig oder falsch gab

ƒ

und es war eine Übergangssituation mit kreativem Potential (Liminalität).

214

Serafina Morrin

Die rituelle Handlung wurde in einen ungewöhnlichen räumlichen und zeitlichen Kontext verlegt und Paradoxien hervorgerufen. Bei einer Teilgruppe ist emotionale Verbundenheit entstanden, ohne dass dies explizit kommuniziert wurde. Gleichzeitig kann die Konfrontation mit kultureller Verschiedenheit eine Differenzbearbeitung evozieren, die zur Konfliktbearbeitung genutzt werden kann, so dass neue identitäre Wirklichkeiten hervorgebracht werden können. Gerade in Gruppen, in denen die sprachliche Ausdrucksweise eingeschränkt ist, kann die körperliche Ebene Raum bieten, um Irritationen hervorzurufen und vergangene Erfahrungen in einen gegenwärtigen Kontext einzubringen und somit das Eigene und das Andere wahrnehmbar und dann auch bearbeitbar zu machen. Resultate zu implizitem Wissen über Sprache Im Datenmaterial konnten homologe Muster zum Aneignen unbekannter Begriffe erkannt werden. Dabei nehmen die Kinder in erster Linie Bezug zur leiblichen Erscheinung von Personen, die in der geteilten Orientierung als anerkannt betrachtet werden. Dies sind meist die (deutschsprachigen) Erwachsenen, seltener auch akzeptierte Peers. Dabei wird die gestische Handlung des erlebten Anderen kreativ nachgeahmt und eine Verbindung zum eigenen imaginären Weltbild hergestellt (wie im obigen Beispiel „Weihnachten“). Die Kinder haben der Theaterpädagogin begeistert von ihrem Fußballspiel erzählt. Als schließlich alle in einem Stuhlkreis sitzen, fragt sie, wer gut Fußballspielen könne. Sofort ist aufgeregtes Stimmengewirr zu hören. Daraufhin stellt sich die Theaterpädagogin in die Mitte, hebt ihren Arm hoch, streckt den Zeigefinger in die Luft und sagt: „Wer von Euch von mir aufgerufen wird, kann einmal in die Mitte gehen und zeigen, wie er Fußball spielt.“ Nun springen zwei Jungen auf, stellen sich in die Mitte des Kreises, heben ihren Arm hoch und strecken den Zeigefinger in die Luft. Ein dritter stellt sich ebenfalls in den Kreis, aber ohne den Arm zu heben und ein vierter setzt zum Aufstehen an, bleibt aber dann doch sitzen.

In diesem Beispiel ist die Semantik einer Nebensatzkonstruktion offensichtlich schwerer verständlich, als die Erscheinung der Theaterpädagogin, deren Gesten die Kinder imitieren. Auffallend ist, dass sich im Datenmaterial wenige Verständnisfragen finden lassen. Verstehen und Aneignen neuer Begriffe findet vordringlich auf leiblicher Ebene statt. Weil dies nicht zwangsläufig ein bewusster Vorgang ist, fehlt womöglich die nötige Reflexion, um Nachfragen stellen zu können. Daher scheint ein Wissen über mimetische Prozesse für Lehrkräfte in Willkommensklassen von besonderer Relevanz. An weiteren Beispielen zeigt sich, dass die Kinder bereits die soziale Funktion von Sprache kennen. Sie wurden gefragt, ob sie etwas zeigen wollen, was sie gerne machen oder gut können. Ein Mädchen äußert, dass sie ein Lied singen möchte. Sie stellt sich vor die Gruppe und singt einen Text, der so klingt, als wäre er Englisch. Die Gruppe klatscht lachend. Sodann performt ein Junge einen Rap, begleitet mit Beatbox Tönen und Hip-Hop-Bewegungen: „Alice, ich liebe Mädchen. Ich liebe.“ Alle lachen. Jetzt setzt sich ein Mädchen in die Mitte und singt leise ein spanisches Lied.

Lernen in Willkommensklassen – Umgang mit Differenz

215

Obwohl es keine sprachlichen Vorgaben gab, greifen die Kinder in einem vielsprachigen Setting auf dominante Sprachen (englisch, spanisch und deutsch) zurück, um sich vor Vertretern einer symbolischen Autorität (Lehrkraft und Theaterpädagogin) darzustellen. Dies birgt die Gefahr, performativ Dispositionen einzuüben, die zur Anerkennung der Macht der Sprechenden (Bourdieu 2005) führen. Es besteht die Chance, dies im Unterricht gemeinsam auf verbal-kognitiver Ebene zu reflektieren, um einer Rekonstruktion hegemonialer Strukturen entgegenzuwirken.

5 Fazit Auch wenn die körperlich-performative Ebene allgegenwärtig ist, entzieht sie sich möglicherweise oft einer bewussten Reflexion. Diese Perspektive zu erkennen, kann helfen, Themen zu erfassen, die nicht explizit kommuniziert werden. Differenzen können bearbeitet werden, ohne dass darüber gesprochen werden muss. Wird diese Ebene zudem bewusst reflektiert, kann es eine vielschichtige Bearbeitung von Differenzerfahrung ermöglichen. Lehrkräfte sollten beim Vermitteln von Sprache um ihren Handlungscharakter wissen, da Sprache immer auch szenisch gestaltet ist. Zu erkennen, welche Macht mimetischem Lernen anhaftet, kann hilfreich sein, um tiefere Einblicke in den Eisberg zu erhalten.

Literatur Bohnsack, R.; Nentwig-Gesemann, I. & Nohl A.-M. (Hrsg.) (2007): Die dokumentarische Methode und ihre Forschungspraxis. Grundlagen qualitativer Sozialforschung. Wiesbaden: Springer. Bourdieu, P. (2005): Was heißt Sprechen. Zur Ökonomie des sprachlichen Tausches. Wien: Braumüller. Morrin, S. (2018): Implizites Kultur- und Sprachwissen. Hervorbringen von Transritualität und mimetische Aneignung von Sprache in einer Berliner Willkommensklasse. Berlin: Logos Verlag. Polanyi, M. (2016): Implizites Wissen. Frankfurt/M.: Suhrkamp. Sen BJW (Senatsverwaltung für Bildung, Jugend und Wissenschaft) (2018): Blickpunkt Schule. Schuljahr 2017/2018. Berlin. SVR (Sachverständigenrat deutscher Stiftungen für Integration und Migration) (2017): Chancen in der Krise: Zur Zukunft der Flüchtlingspolitik in Deutschland und Europa. Berlin. Turner, V. (2005): Das Ritual. Struktur und Anti-Struktur. Neuauflage. Frankfurt: Campus Verlag. Wulf C. (2005): Zur Genese des Sozialen. Mimesis, Performativität, Ritual. Bielefeld: transcript. Wulf, C. (2015): Anthropology and Education in the Globalized World. New Perspectives and New Approaches. abgerufen zuletzt am 11.01.18 von: https://www.youtube.com/watch?v=j2QW2fVKM0.

Handschriften und Automatisierung des Schreibens in der 4. Jahrgangsstufe Eva Odersky1

Keywords: Graphomotorik, Schriften, Automatisierung, Schulleistung

Abstract Schreiben ist das Ergebnis eines komplexen Zusammenspiels zahlreicher Aspekte, für die das Arbeitsgedächtnis mit seiner begrenzten Kapazität determinierend ist. Zunehmend wird dabei die Rolle einer automatisierten Handschrift für die inhaltliche Qualität von Texten erkannt. In einer Studie wurden die Handschriften von 336 Kindern im 4. Schuljahr digital erfasst und kategorisiert (verbundene, unverbundene und teilverbundene Schriften), zudem die Automatisierung des Schreibens analysiert und mit der verwendeten Schrift und der Schulleistung in Beziehung gesetzt. Dabei zeigte sich, dass die Kinder etwa zur Hälfte unverbunden oder teilverbunden schreiben und diese Schriften im Mittel flüssiger und automatisierter geschrieben werden als verbundene mit entsprechend positiven Zusammenhängen zur Rechtschreib- und Schulleistung.

1

Automatisierung als Ziel des Schreibunterrichts

Erfolgreiches Schreiben setzt ein reibungsloses und fließendes Zusammenspiel kognitiver, sprachlicher und motorischer Prozesse voraus (z. B. Hayes 2012), wobei sich der Grad der aufzubringenden Aufmerksamkeit im Laufe der Schreibentwicklung und mit zunehmender Expertise verschiebt. Bei Schreibanfänger*innen wird das Arbeitsgedächtnis in hohem Maß durch graphomotorische Entscheidungen belastet: Das Handschreiben läuft kontrolliert ab, beansprucht dadurch viel 1

Eva Odersky | Ludwig-Maximilians-Universität München | [email protected]

© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 N. Skorsetz et al. (Hrsg.), Diversität und soziale Ungleichheit, Jahrbuch Grundschulforschung 24, https://doi.org/10.1007/978-3-658-27529-7_35

Handschriften und Automatisierung des Schreibens in der 4. Jahrgangsstufe

217

Kapazität des Arbeitsgedächtnisses, die somit nicht für hierarchiehöhere, inhaltliche Teilprozesse des Schreibens zur Verfügung steht. Geübte Schreiber*innen dagegen sind durch automatisierte Routinen entlastet und können sich stärker auf inhaltliche und sprachliche Anforderungen konzentrieren (Nottbusch 2017; Olive 2014). Eine Vielzahl von Studien belegt den daraus abzuleitenden Zusammenhang zwischen flüssigem, automatisiertem Schreiben und höherer Qualität von Texten, spezifisch auch den zwischen automatisiertem Handschreiben und besserer Rechtschreibleistung (z. B. die Metaanalyse von Kent & Wanzek 2016; Odersky 2018). Ziel der schulischen Schreiberziehung muss daher die Automatisierung der Schreibbewegungen sein, wie sie in den Lehr- und Bildungsplänen mit Begriffen wie „flüssig schreiben“ auch festgelegt ist. Uneinigkeit besteht über den Weg zu diesem Ziel, so dass unterschiedliche unverbundene und verbundene Ausgangsschriften gelehrt werden.

2 Evaluation des Handschreibens älterer Grundschulkinder Graham, Weintraub und Berninger (1998) in den USA und Bara und Morin (2013) in einer vergleichenden Studie in Kanada und Frankreich konnten feststellen, dass Schüler*innen ab Klasse 4 zunehmend wieder zur erlernten Erstschrift zurückkehren. Ob dies auch auf deutsche Kinder zutrifft, inwieweit das Ziel der Automatisierung bis zum Ende der Grundschulzeit überhaupt erreicht wird und ob es diesbezüglich Unterschiede zwischen den verwendeten Schriften gibt, soll im Folgenden im Überblick dargestellt werden (ausführlich Odersky 2018). An der explorativen Studie, der die im Folgenden dargestellten Ergebnisse entstammen, waren 336 Kinder am Ende der 4. Jahrgangsstufe beteiligt: Durchschnittsalter 10 Jahre, 3 Monate (Min: 9;0, Max: 11;5); 174 Mädchen, 162 Jungen; 32 % mit mehrsprachigem oder fremdsprachigem Zuhause; 171 Kinder aus der Großstadt München, 41 aus deren Ballungsraum, 124 aus dem Landkreis Garmisch-Partenkirchen; 8,3 % der Kinder schrieben mit der linken Hand. Die Handschriften und der Schreibprozess wurden über ein Wacom-Grafiktablett digital aufgenommen und mit dem Programm CSWin 2012 kinematisch analysiert. Denn um automatisierte, flüssige Schreibbewegungen von kontrollierten abzugrenzen, sind neben der Schreibzeit insbesondere die Schreibfrequenz und der so genannte NIV-Wert (Number of Inversions in Velocity), der die Geschwindigkeitswechsel pro Bewegungseinheit (stroke) angibt, von Interesse: Je höher die Frequenz und je niedriger der NIV, desto automatisierter das Schreiben.

218 2.1

Eva Odersky

Verwendete Schriften: unverbunden, verbunden oder teilverbunden

Die an der Studie beteiligten Kinder erlernten zunächst (unverbundene) Druckschrift und im zweiten Schuljahr die (verbundene) Vereinfachte Ausgangsschrift. Zum Untersuchungszeitpunkt am Ende des vierten Schuljahrs war es ihnen in den meisten der 23 beteiligten Klassen seit einiger Zeit (mehrere Monate bis wenige Wochen) erlaubt, selbst zu entscheiden, mit welcher Schrift sie schreiben. Bei der Analyse zeigte sich, dass etliche Schriften im Zuge einer – erwünschten und auf dem Weg zur automatisierten, persönlichen Handschrift notwendigen – Ökonomisierung und Individualisierung bereits so weiterentwickelt waren, dass sie den erlernten Ausgangsschriften nicht mehr zuzuordnen waren, umgekehrt führten vor allem viele Jungen mehr Verbindungen aus als in der Vereinfachten Ausgangsschrift mit ihren Luftsprüngen vor Linksovalen eigentlich vorgesehen. Da zudem die Unterscheidung von „Druckschrift“ und „Schreibschrift“ zunehmend abgelöst wird von der zwischen verbundenem, unverbundenem und teilverbundenem Schreiben, erfolgte eine 8-stufige Kategorisierung, die differenziert nach dem Grad der Verbundenheit unterscheidet und bei den 336 untersuchten Schriften folgende Ergebnisse erbrachte: Von Viertklässlern (N = 336) verwendete Schriften 1 Verbunden 2 Verbunden mit Luftsprung bei einigen Linksovalen 3 Verbunden mit Luftsprung bei Linksovalen Insgesamt verbunden 4 Teilverbunden aus verbundener Schrift 5 Teilverbunden aus unverbundener Schrift Insgesamt teilverbunden 6 Unverbunden mit sporadischen Verbindungen 7 Unverbunden Insgesamt unverbunden 8 Unsystematischer Wechsel

in Prozent 20,6 % 10,7 % 17,3 % 48,6 % 10,1 % 8,1 % 18,2 % 6,0 % 23,0 % 29,0 % 4,2 %

Neben großen Geschlechtsunterschieden (Odersky und Speck-Hamdan i. Dr.) sind insbesondere Klassenunterschiede interessant: Es finden sich Klassen, in denen keine oder nur einzelne Kinder unverbunden schreiben und solche, in denen fast alle Kinder un- oder teilverbunden schreiben. Diese Unterschiede sind sprengelunabhängig und treten auch innerhalb einzelner Schulen auf, so dass sie nur durch den Einfluss der Lehrkraft und ihres Unterrichts zu erklären sind.

Handschriften und Automatisierung des Schreibens in der 4. Jahrgangsstufe

219

Insgesamt ist, wie in oben erwähnten Studien, ein Trend zurück zur Erstschrift zu beobachten: Knapp die Hälfte der Kinder schreibt noch die zuletzt erlernte verbundene Ausgangsschrift, wobei 44,7 % dieser Gruppe angeben, nicht oder nur manchmal selbst entscheiden zu dürfen, welche Schrift sie verwenden, ein Drittel ist zur unverbundenen Schrift zurückgewechselt, fast jedes fünfte Kind schreibt teilverbunden, wie in der Regel auch routiniert schreibende Erwachsene. Dabei ist der Weg zur Teilverbundenheit sowohl von verbundenen Schriften durch das Ausführen zusätzlicher, bewegungsökonomischer Luftsprünge möglich als auch von der unverbundenen durch das Ausführen bewegungsgünstiger Verbindungen, wie folgende Beispiele aus der Studie illustrieren:

Abb. 1: Teilverbundene Schriften: links aus verbundener, rechts aus unverbundener Schrift entwickelt

2.2

Zusammenhang zwischen verwendeter Schrift und Automatisierung

Betrachtet man nun die durchschnittlichen Frequenzwerte, die die Kinder beim Sätzeschreiben erreichten und differenziert nach der dabei verwendeten Schrift, so zeigt sich, dass die niedrigsten Werte (unter dem Grenzwert von 3 Hertz und damit nicht flüssig) mit ganz verbundenen Schriften erzielt werden. Mit der Zahl der Luftsprünge in der Schrift steigt die durchschnittliche Schreibfrequenz mit immer besseren Werten je unverbundener die Schrift ist, nur teilverbundene Schriften, die aus unverbundener Schrift entwickelt wurden, bilden eine Ausnahme und nehmen mit Durchschnittswerten von fast 4 Hertz den Spitzenplatz ein (Odersky 2018: 194). Dieses Ergebnis bestätigen die Boxplots der NIV-Werte in Abb. 2: Völlige Automatisierung entspricht 1,0, je höher der Wert, desto kontrollierter ist das Schreiben. In dem hier diktierten Satz „Die Kinder schreiben auf Papier.“ werden mit verbundenen Schriften also deutlich schlechtere Automatisierungswerte mit einer großen Streuung weit in den negativen Bereich hinein erzielt als mit unverbundenen und teilverbundenen Schriften. Bedenkt man zudem den Zusammenhang zwischen Schulleistung und automatisiertem Schreiben, so sollte man Kinder der 3. und 4. Klasse nicht zum verbundenen Schreiben „zwingen“, sondern ihnen vielmehr den Weg zum flüssigen, teilverbundenen Schreiben ebnen.

220

Eva Odersky

Schriftkategorien: 1 = Verbunden (n = 70); 2 = Verbunden mit Luftsprung bei einigen Linksovalen (n = 36); 3 = Verbunden mit L uftsprung bei Linksovalen (n = 58); 4 = Teilverbunden aus verbundener Schrift (n = 34); 5 = Teilverbunden aus unverbundener Schrift (n = 27); 6 = Unverbunden mit sporadischen Verbindungen (n = 20); 7 = Unverbunden (n = 77); 8 = Unsystematischer Wechsel zwischen Schriften (n = 14) Abb. 2: Automatisierung (NIV) in Abhängigkeit von der verwendeten Schrift (N = 336)

Literatur Bara, F. & Morin, M.-F. (2013): Does the Handwriting Style Learned in First Grade Determine the Style Used in the Fourth a. Fifth Grades a. Influence Handwriting Speed and Quality? A Comparison between French and Quebec Children. In: Psychology in the Schools 50 (6), 601–617. Graham, S.; Weintraub, N. & Berninger, V. W. (1998): The Relationship Between Handwriting Style and Speed and Legibility. In: The Journal of Educational Research 91 (5), 290–297. Hayes, J. R. (2012): Modeling and Remodeling Writing. In: Written Communication 29 (3), 369–388. Kent, S. C. & Wanzek, J. (2016): The Relationship Between Component Skills and Writing Quality and Production Across Developmental Levels: A Meta-Analysis of the Last 25 Years. In: Review of Educational Research 86 (2), S. 570–601. Nottbusch, G. (2017): Graphomotorik. In: Becker-Mrotzek, M.; Grabowski, J. & Steinhoff, T. (Hrsg.): Forschungshandbuch empirische Schreibdidaktik. Münster, New York: Waxmann, 125–138. Odersky, E. (2018): Handschrift und Automatisierung des Handschreibens. Eine Evaluation von Kinderschriften im 4. Schuljahr. Berlin: J.B. Metzler. Odersky, E. & Speck-Hamdan, A. (in Dr.): „Beim Schreiben bleibt er unter seinem Niveau“. Geschlechtsunterschiede beim Handschreiben. Olive, T. (2014): Toward a parallel and cascading model of the writing system. A review of research on writing processes coordination. In: Journal of Writing Research 6 (2), 173–194.

7 Fachdidaktischer Umgang mit Diversität

Schüler*innen mit unterschiedlichen (Lern-)Voraussetzungen im ‚Fachgespräch‘ – Mikroperspektiven auf videografierte Unterrichtsszenen Heike de Boer, Marina Bonanati, Marek Breuning, Daniela Jähn, Sandra Last und Matthea Wagener1

Keywords: Lernen, Ko-Konstruktion, Rekonstruktion, Dialog

Abstract In diesem Beitrag werden drei Forschungsprojekte mit gemeinsamen lerntheoretischen und methodologischen Zugängen vorgestellt. Aus verschiedenen Perspektiven werden die Prozesshaftigkeit fachlichen Lernens im Unterricht analysiert und Erkenntnisse zu Ko-Konstruktionsprozessen gewonnen.

1

Einführung

Der Zusammenhang von sozialer Herkunft, individuellen Lernvoraussetzungen und Bildungschancen ist empirisch mehrfach belegt und führt zu der Frage, wie ein produktives und auf Diversität ausgerichtetes Unterrichtshandeln aussehen

1

Heike de Boer | Universität Koblenz | [email protected] Marina Bonanati | Goethe-Universität Frankfurt | [email protected] Marek Breuning | Universität Koblenz | [email protected] Daniela Jähn | Technische Universität Dresden | [email protected] Sandra Last | Universität Koblenz | [email protected] Matthea Wagener | Technische Universität Dresden | [email protected]

© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 N. Skorsetz et al. (Hrsg.), Diversität und soziale Ungleichheit, Jahrbuch Grundschulforschung 24, https://doi.org/10.1007/978-3-658-27529-7_36

Schüler*innen mit unterschiedlichen (Lern-)Voraussetzungen im ‚Fachgespräch‘

223

kann. Diese Frage hat deshalb eine besondere Relevanz, weil die Lehrer*innenrolle einen von Differenz präformierten Kontext darstellt (Mecheril & Plößer 2009). Dieser ist durch das Spannungsfeld der Aufgaben von Lehrkräften bedingt, einerseits Bildungsprozesse zu initiieren und andererseits Selektionsentscheidungen zu treffen. Suggeriert wird, dass Unterricht in der Grundschule vor allem mit Heterogenität als von außen herangetragene Problemsituation konfrontiert wird. In den letzten Jahren findet die Perspektive mehr Beachtung, ob und wie Differenzen durch das Handeln von Lehrkräften produziert oder verstärkt werden (Budde 2017). Dass Heterogenität im Unterricht hervorgebracht und entlang verschiedener Differenzlinien rekonstruiert werden kann, wurde vor allem in qualitativ und mikroperspektivisch angelegten Studien untersucht (siehe zum Forschungsstand Budde 2017). Dabei fällt auf, dass die sprachliche Verfasstheit des Unterrichts entweder lehrer*innenseitig oder schüler*innenseitig fokussiert wird (Hee & Pohl 2018). Das wechselseitige Aufeinanderbezogensein von Lehrer*innen und Schüler*innen im Unterrichtsalltag wird in diesen Studien wenig berücksichtigt, genauso wie die im Gespräch gemeinsam produzierte Fachlichkeit (Martens et al. 2018). Allerdings ist davon auszugehen, dass die Kontextbedingungen des Unterrichts eine wesentliche Rolle dabei spielen, wie Differenz hergestellt wird. Die Fragen, ob Ko-Konstruktionsprozesse zwischen Kindern stattfinden (können), ob Frei- und Denkräume für kindliches Lernen ermöglicht werden, welche Materialien zur Verfügung stehen, wie Aufgaben formuliert werden und schließlich welche (sprachlichen) Impulse die Lehrperson gibt, damit sich Kinder entfalten können, sind wichtige Voraussetzungen dafür, dass Kinder mit unterschiedlichen (Lern-)Voraussetzungen ins “Fachgespräch“ kommen (oder nicht). So steht im Mittelpunkt dieses Beitrages einerseits die Frage, wie der fachdidaktische Gegenstand gemeinsam in der interaktiven Verschränkung von Schüler*innen und Lehrer*innen durch Sprachhandeln konstruiert wird. Andererseits wird ebenso untersucht, wie Aufgabenformate die Folgehandlungen von Schüler*innen begünstigen, kollektives Aushandeln von Bedeutungen hervorbringen oder behindern.

2 Rekonstruktiv-sozialwissenschaftlicher Blick auf gemeinsames Lernen im Fachgespräch Aus einer rekonstruktiv-sozialwissenschaftlichen Forschungsperspektive kann Lernen als ein sozialer Prozess (Miller 1986) verstanden werden, in dem Individuen Gedanken äußern, sie weiterführen und sich gegenseitig ergänzen, aber auch Ideen verwerfen. In diesem Verständnis stellt der Austausch einen vielschichtigen

224

Heike de Boer, Marina Bonanati, Marek Breuning et al.

kreativen Prozess dar, in dem eine gemeinsame Verständigung die Grundlage für gegenseitiges Verstehen bildet und somit ein gemeinsam geteilter Sinn entstehen kann. Damit fassen wir in unseren Forschungsprojekten das Lernen Einzelner nicht nur individual-psychologisch, sondern in gemeinsam hervorgebrachten Handlungen vor allem als sozial konstituiert (Krummheuer & Naujok 1999). Für die Beforschung von Unterricht bedeutet dies, Schüler*innen mit unterschiedlichen (Lern-)Voraussetzungen und/oder unterschiedlichen Alters als gemeinsam Lernende zu betrachten. Wir legen die Annahme zugrunde, dass Lernsituationen im Unterricht durch verbale oder nonverbale Handlungen der beteiligten Akteur*innen und demzufolge in einem wechselseitigen Austausch hervorgebracht und strukturiert werden. Entstehen können solche „kollektiven Diskurse“ (Miller 1986: 23), indem gemeinsam Lernende wechselseitig aufeinander bezogen zu einer Problemlösung finden, die kollektiv akzeptiert wird. Miller (1986) stellt heraus, dass damit nicht die Einzelbeiträge aller Beteiligten zur Lösung beitragen, sondern erst ihr Zusammenspiel eine kollektive Argumentation ermöglicht. Damit wird durch als gemeinsam geteilt geltende Deutungen (neues) Wissen konstruiert. Voraussetzungsvoll für ebensolche Ko-Konstruktionsprozesse sind neben der Reziprozität des Diskurses auch eine gemeinsame Aufgabenfokussierung und Zielkoordination der Lernenden (Barron 2000). Im Hinblick auf einen sachbezogenen Austausch in einem Fachgespräch bedeuten diese Überlegungen, dass sich in Ko-Konstruktionsprozessen durch gegenseitiges Deuten und Verstehen der am Diskurs beteiligten Akteur*innen ein fachlicher Gegenstand entwickeln kann. Daher richten wir zum einen unseren Blick auf den fachlichen Gegenstand der Schriftsprache im Anfangsunterricht Deutsch, der unter den Aspekten des Verschriftens und Verschriftlichens (Merklinger 2015) betrachtet wird (Sandra Last, Kap.4.1). Zum anderen schauen wir auf zwischen Schüler*innen stattfindende Fachgespräche in sachunterrichtlichen Kontexten (Marek Breuning, Kap. 4.2 und Daniela Jähn, Kap. 4.3), in denen das Spannungsfeld zwischen Kind, Sache und Welt eigenaktive Aneignungsprozesse des Gegenstandes und damit bildende Erfahrungen ermöglicht (Pech 2009).

3 Methodologie und Methode In allen drei zu skizzierenden Forschungsprojekten wurden Lerntandems bei einer Aufgabenbearbeitung videografiert. Dabei wurde jeweils eine feststehende Videokamera so vor den Tischen positioniert, dass sowohl die Arbeitsmaterialien als

Schüler*innen mit unterschiedlichen (Lern-)Voraussetzungen im ‚Fachgespräch‘

225

auch die Gesichter und Oberkörper der Kinder gut zu sehen waren. Das Datenmaterial wurde von den Forschenden in Grundschulen aus Berlin und Sachsen2 sowie Rheinland-Pfalz3 erhoben. Die Projekte stehen dem Paradigma Interpretativer Unterrichtsforschung (Krummheuer & Naujok 1999) nahe. Hierunter kann eine Forschungsperspektive auf Unterricht verstanden werden, die sich innerhalb qualitativer Sozialforschung verorten lässt und unter ihrem Dach viele unterschiedliche Forschungstraditionen und -linien vereint. Trotz ihrer Verschiedenheit ähneln sich Arbeiten, die der Interpretativen Unterrichtsforschung angehören darin, dass sie Lernen, Lehren sowie Interaktion als konstruktive Tätigkeiten verstehen und alltägliche Unterrichtsprozesse fokussieren. Bei der Analyse von Unterricht gehen sie rekonstruktiv vor (ebd.). Das methodologische Fundament der Interpretativen Unterrichtsforschung bildet der symbolische Interaktionismus, wie ihn der Soziologe Herbert Blumer 1973 grundgelegt hat (Krummheuer & Naujok 1999). In diesem wird jegliche Form von Kommunikation als Prozess der Aushandlung von Bedeutung zwischen den an ihr beteiligten Akteur*innen verstanden. Zur Rekonstruktion der als gemeinsam geteilt geltenden Bedeutungen nutzen wir die Interaktionsanalyse (ebd.). Sie findet zumeist Anwendung in Gesprächstranskriptionen (wie auch in Kap. 4.2 und 4.3), soll aber in einem der drei Forschungsprojekte (Kap. 4.1) zur Auswertung detaillierter Beobachtungsprotokolle (de Boer 2012) verwendet werden. Das Vorgehen der Interaktionsanalyse sieht vor, jede getätigte Äußerung nacheinander (sequenziell) zu interpretieren und (zunächst) unabhängig vom gesamten Gesprächsverlauf zu betrachten. Nach jeder getätigten Aussage wird eine Vielfalt an Deutungsvarianten entwickelt, wie die Interagierenden ihre Äußerung gemeint haben könnten. Sie müssen sich im Verlauf der Interaktion bewähren und können nach und nach revidiert oder ausgeschlossen werden (Krummheuer & Naujok 1999). Die im Folgenden vorgestellten Analysen erfolgen alle vor dem Hintergrund der dargelegten Methodologie und orientieren sich an der Interaktionsanalyse.

2

Daniela Jähn und Matthea Wagener erhoben ausschließlich in jahrgangsgemischten Klassen. Ihre fachliche Rahmung bildet der Sachunterricht.

3

Marek Breuning und Sandra Last videografierten jeweils in der ersten Klasse. Die fachliche Rahmung bildete bei Marek Breuning der Sachunterricht, bei Sandra Last der sprachliche Anfangsunterricht.

226

Heike de Boer, Marina Bonanati, Marek Breuning et al.

4 Ausgewählte Ergebnisse aus Forschungsprojekten 4.1

Rekonstruktion unterschiedlicher Perspektiven einer Lehrerin und eines Schülers im sprachlichen Anfangsunterricht

Der nachfolgende Protokollausschnitt stammt aus einem Forschungsprojekt, das Lernen im sprachlichen Anfangsunterricht rekonstruiert. Er soll mit der theoretischen Perspektive auf Verschriftung und Verschriftlichung (Merklinger 2015) untersucht werden. Unter Verschriftung wird der Transfer eines gesprochenen Wortes in Schriftzeichen verstanden. „Sprachanalytische Tätigkeit[en] [und] das orthographisch richtige Schreiben […] [stellen dabei] eine Herausforderung“ dar (ebd.: 101). Unter Verschriftlichung wird ein Prozess verstanden, in dem inhaltliche Entscheidungen auf Formulierungsebene getroffen werden, um die eigene Schreibidee in Worte zu bringen (ebd.). In der Szene bearbeitet der Schüler Jamie eine freie Schreibaufgabe zu einer Bildergeschichte. In der Interaktion mit seiner Lehrerin geht es um die Schreibung des Wortes . 01 Jamie sagt zur Lehrerin: „Ich weiß nicht wie [mɛnʃ] geschrieben wird! […] 02 Die Lehrerin fragt: „Was möchtest du denn schreiben?“ 03 Jamie antwortet: „[mɛnʃ], ich will nicht mehr hier sein. [mɛnʃ], ich will mal woanders hin!“ 04 Die Lehrerin sagt: „Was hörst du denn vorne? [m:].“ 05 Jamie sagt: „[me:]“ und schreibt ein M auf. […] […] 09 Dann sagt er „[me:n]“ und schreibt ein und ein hinter das M (Men). 10 Er pausiert und schaut auf. Sein Blick geht zur Lehrerin. Diese macht: „ʃ“. 11 Jamie entgegnet darauf: „[z]?“ Die Lehrerin wiederholt: „ʃ“. 12 Jamie sagt: „Jetzt n s? und dann“, er beginnt, während er spricht, ein , ein und ein aufzuschreiben. […] 13 Er schaut auf und sagt: „[ʃ]! Mit drei oder mit zwei, [mɪlʃ]“.

Das Wechselspiel von Verschriftung und Verschriftlichung (Z. 1-5) Jamie richtet sich in Z.1 mit der Äußerung „Ich weiß nicht wie [mɛnʃ] geschrieben wird!“ mit einem fachlichen Problem in Bezug auf die Schreibung des Wortes an die Lehrerin und adressiert sie damit als „mehr wissende Andere“. Mit seinem fragenden Aussagesatz befindet er sich auf der Ebene der Verschriftung. Die Lehrerin fragt daraufhin in Z.2 nach dem Schreibkontext, befindet sich damit jedoch auf der Ebene der Verschriftlichung. Sie schließt also nicht direkt an Jamies Problem an. Jamie wiederum knüpft mit seiner Antwort in Z.3 an die von der Lehrerin aufgeworfene Ebene an und nimmt so einen Transfer vor. Mit ihrer Frage „Was hörst du denn vorne? [m:]“ (Z. 4) wechselt die Lehrerin erneut auf die Ebene der Verschriftung. Solche Fragen nach dem Lautieren von Wörtern sind typisch im sprachlichen Anfangsunterricht. Sie erweisen sich meist

Schüler*innen mit unterschiedlichen (Lern-)Voraussetzungen im ‚Fachgespräch‘

227

jedoch nicht als „echte Fragen“, da sie auf den tatsächlichen Beginn des Wortes bezogen sind. Dadurch entsteht eine Art Überprüfungssituation, die zu einer Asymmetrie zwischen Lehrer*innen und Schüler*innen führt. Darüber hinaus erfordert die Frage von Jamie einen zweiten Transfer, weg vom Inhalt (Verschriftlichung) wieder zurück zur Schreibung des Wortes (Verschriftung). Dass Jamie dies gelingt, wird in Z. 5 deutlich. Unterschiedliche Orientierungen von Lehrerin und Schüler (Z. 11-17) Auf die Lautierung der Lehrerin „[ʃ]4“ (Z. 11) antwortet Jamie mit [z]5. Dies kann im Folgenden unterschiedlich gedeutet werden: Einerseits könnte die Lehrerin das [z] als Frage nach dem Laut interpretieren. Damit ergäbe sich eine Diskrepanz zwischen ihrer lautlichen Vorgabe und Jamies Wiedergabe. Jamies [z] könnte auf der anderen Seite aber auch als Frage nach dem ersten Buchstaben des mehrgliedrigen Graphems interpretiert werden. Durch das Wiederholen des [ʃ] (Z. 11) wird deutlich, dass die Lehrerin Jamies [z] als Frage nach dem Laut interpretiert hat. Jamies folgende Äußerung verbunden mit seiner Handlung des Aufschreibens der drei Buchstaben (Z. 12) deutet jedoch darauf hin, dass er einen buchstabenorientierten Zugriff wählt. Dies wird auch durch seinen letzten Satz (Z. 13) deutlich. Er zeigt, dass Jamie die Schreibweise am Ende als problematisch identifiziert hat. Die Lehrerin scheint dies aus ihrer Perspektive heraus nicht bemerken zu können, da sie einerseits vom Wortbeginn und nicht von der schwierigen Stelle ausgeht und andererseits am Laut [ʃ] und nicht am Graphem orientiert ist. Dies verstellt ihren Blick auf Jamies Problem und versperrt zugleich die Sicht auf sein Können. Durch die mikroanalytische Nachzeichnung bleibt offen, ob Jamie und die Lehrerin eine gemeinsame Bedeutung hervorgebracht haben. Dadurch wird deutlich, dass Lehrkräfte vor vielfältigen Herausforderungen stehen, um ihre Schüler*innen im sprachlichen Anfangsunterricht zu verstehen: Einerseits müssen sie den Wechsel der beiden Ebenen als Anforderung identifizieren (über Fachwissen verfügen). Andererseits müssen sie sich verstehensorientiert in die Interaktion begeben (den Prozess nachvollziehen).

4

Dabei handelt es sich um den Laut, der mit dem mehrgliedrigen Graphem korrespondiert wie in .

5

Dabei handelt es sich um das stimmhafte wie im Wort .

228

Heike de Boer, Marina Bonanati, Marek Breuning et al.

4.2

Rekonstruktion der Entstehung einer Kinderfrage im Dialog

Aus einer Pilot-Studie zur Entstehung von Kinderfragen im Sachunterricht entstammt der folgende Ausschnitt. Zwei Erstklässlerinnen betrachten mit Hilfe einer Lupe jeweils eine blühende Gerbera-Pflanze, die vor ihnen auf dem Tisch steht. Der Klassenlehrer sitzt mit am Tisch. Gezeigt wird, wie die Mädchen über einen Ko-Konstruktionsprozess zu einer fachlichen Frage finden, die zum Ausgangspunkt für weitere Lernprozesse wird. 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12

Lehrer: ja, könnt ihr einfach mal angucken, könnt euch auch hinstellen, wenn‘s besser geht für euch, weil die stühle teilweise tief sind Maja: hier sind - KERne Claudia: [also hier sind] Maja: äh samen - - vögel nehmen hier meistens samen von blumen Claudia: [ich sehe hier n bisschen honig] ich sehe n bisschen honig hier so an den GELben strichen hier da klebt honig Maja: [hm_hm] echt? - aaaaah die bienen machen ja auch honig aus den blumen - wenn es wenn es keine bienen gäbe dann gäbe es auch kein honig - Claudia: [ja aber weißt du]

Der Lehrer stellt den Mädchen eine offene Aufgabe (Zeile 2) „könnt ihr einfach mal angucken“. Er eröffnet ihnen so verschiedene Möglichkeiten, die Pflanze zu betrachten, z. B. mit der Lupe, ohne die Lupe, die Blüte oder andere Pflanzenteile. Beide Mädchen sehen sich die Blüte mit ihrer Lupe an. Maja erkennt ein ihr bekanntes Objekt (Kerne bzw. Samen) und nimmt anschließend eine Kontextualisierung vor. Die Aufgabe führt dazu, dass Claudia Honig entdecken kann, der ihrer Beobachtung nach „an den gelben Strichen“ klebt. Der Lehrer korrigiert diese aus fachlicher Perspektive unvollständige Aussage nicht, sondern lässt sie unkommentiert stehen und gibt auf diese Weise den beiden Mädchen Zeit, ihre Gedanken weiter zu entfalten. Dies führt dazu, dass Maja ihr Wissen expliziert und erklärt, dass Bienen Honig machen. Sie formuliert dabei einen Kausalsatz. Dieser lässt mehrere Deutungsvarianten der Honigproduktion zu, die das Gespräch inhaltlich verdichten. Majas Äußerung suggeriert, dass Bienen den Honig auf der Blüte nur abzuholen bräuchten oder die „Blumen“ einen „Vorläufer“honig „machen“, der von Bienen später zu Honig umgewandelt wird. 13 14 15 16 17 18 19

Lehrer: du hast jetzt gerade gesagt. maja die bienen machen. honig aus den blumen Maja: ja weil in den blumen hier drin. sind ja ist ja honig Claudia: [aber] Maja: und dann nehmen die mit ihrem mund. so das da rein so einsaugen und dann wenn die halt dann wieder da sind dann da wo sie Claudia: [dann spucken] die das aus - aber ich frag mich nur wa wie der honig in die blumen reinkommt

Schüler*innen mit unterschiedlichen (Lern-)Voraussetzungen im ‚Fachgespräch‘

229

Diese Mischung aus Paraphrasierung und „Revoicing“ (de Boer 2015: 22) durch den Lehrer führt zu einer längeren formulierten Begründung „ja weil“, „und dann“. Inhaltlich erfährt das Gespräch somit eine weitere Verdichtung. Diese alltagssprachliche Formulierung ermöglicht, dass Claudia an Majas Erklärungen anknüpft und sie so gemeinsam den Honigtransport ko-konstruieren. An dieser Stelle hält sich der Lehrer erneut zurück. Es entsteht eine Pause im Dialog, die nun in der Frage mündet, „wie der Honig in die Blumen reinkommt“. Diese fachliche Frage als Folge des Ko-Konstruktionsprozesses kann nach Kolenda (2010) als elaborierende Frage eingeordnet werden, da diese durch ihren entwicklungstreibenden Charakter, dem Gespräch Raum für weitere dialogische Aushandlungsprozesse ermöglicht (ebd.). Die ausgewählten Sequenzen zeigen, wie sich in diesem Beispiel eine kognitiv anspruchsvolle, d. h. elaborierende Frage entfaltet. Der Lehrer trug dazu bei, indem er eine offene Aufgabe stellte, eine Aussage der Schülerin paraphrasierte sowie Pausen zuließ. Gemeinsam mit der fehlertolerierenden Gesprächsführung wurde so das Prozesshafte und Unvorhergesehene von dialogischen Gesprächen ermöglicht. 4.3

Rekonstruktion eines kollektiven Diskurses im jahrgangsgemischten Sachunterricht

Im Rahmen des Forschungsprojektes zum gemeinsamen Bearbeiten von Aufgaben im jahrgangsübergreifenden Unterricht (Grittner & Wagener 2018, Wagener & Jähn i. Dr.) werden Fachgespräche unter Kindern betrachtet und hinsichtlich ihres Potentials für die Ermöglichung ko-konstruktiven Lernens im Sachunterricht untersucht. In der nachfolgenden Szene bearbeiten zwei Jungen des ersten und vierten Jahrganges im Kontext des Sachunterrichtsthemas „Der Mensch“ die Aufgabe, sich zusammen Besonderheiten zu überlegen, die der Mensch haben könnte. Dazu haben sie gemeinsam ein Aufgabenblatt erhalten, das den kollektiven Diskurs anregen und somit ko-konstruktive Lernprozesse ermöglichen soll. Die beiden Jungen tauschen sich über neue Einzigartigkeiten aus und entwickeln dabei Vorschläge, wie z. B. dass der Mensch über eine Echoortung verfügen oder coolere Augenfarben haben sollte. Im Verlauf ihres Gesprächs finden sie auch zur Idee, „dass der Mensch nicht mehr atmen müsste“: 158 161 162 165

Julius: Nein, was könnte der Mensch (1) dass der Mensch nicht mehr atmen müsste Malte: Also, äh stimmt STIMMT, dann müsste er (.) da=da=da müsste er keinen Keulendio=Ko=Kohlndioxid mehr ausatmen und dann wird die Welt nicht so warm. Julius: N i c h t mehr (2)

230

Heike de Boer, Marina Bonanati, Marek Breuning et al. 167 168 170 172

173 175 176

Malte: Und dass es mehr Energie gibt dafür, dass Autos keine Abgase mehr raus (2) mehr=mehr=mehr Julius: A t m e n. Punkt. Malte: U=u=und, dass Menschn, also (.) dass Menschen genug Strom dafür hättn , dass sie ganz ganz viele elektrische Autos machn würdn, nee, die da Julius: das könnten aber DIE aber nicht ma chen. Was könntn Menschen noch machn?

In der ersten Szene äußert Julius die Idee „dass der Mensch nicht mehr atmen müsste“ und beginnt sogleich, diese Idee auch als Lösungsvorschlag auf dem Arbeitsblatt zu notieren. Malte nimmt die Idee zunächst mit einer Zustimmung auf („Stimmt“, Z. 161) und schließt eine Begründung an („dann müsste er kein Kohlendioxid mehr ausatmen“, Z. 161f.). Mit dieser Äußerung vertieft er die Idee seines Partners und entwickelt die Antwort weiter, indem er ein Argument für diese Idee äußert. Malte verwendet dabei den Fachbegriff „Kohlendioxid“ (Z. 162), der ihm aus seinem Vorwissen bekannt zu sein scheint. Er schließt dieser Idee eine Folgerung an: „dann wird die Welt nicht so warm“ (Z. 162). Dieses laute Denken verdeutlicht Maltes Verhältnis zur Sache des Sachunterrichts, denn das Thema Erderwärmung spielt für ihn eine Rolle und die Reduzierung von Kohlendioxid ist für ihn bedeutend. Daher untermauert er seine Idee, indem er Autoabgase als weiteres Argument anführt. Als Julius die erste Lösungsidee aufschreibt, beginnt Malte bereits weitere Vorschläge zu äußern. Julius lässt Malte nicht ganz aussprechen, wendet gegen Maltes Idee der Herstellung von elektrischen Autos ein, „das könnten aber DIE aber nicht machen“ (Z. 175) und führt zur Ausgangsfrage zurück. Zwischen beiden Jungen ist ein gemeinsamer Raum des Austausches entstanden, in dem gemeinsam laut gedacht, Gedanken widerlegt und Ideen weiterentwickelt werden. Malte lässt Julius‘ Äußerung unwidersprochen stehen, was als ein Annehmen des Einwandes (Idee passt nicht zur Aufgabe) und ein gemeinsames, zielgerichtetes Arbeiten interpretiert werden kann. Die Idee des Nicht-mehr-Atmens begründen die beiden Jungen im Verlauf ihrer gemeinsamen Arbeit: 300 302 304 306 307 309 311 313 315

Julius: Malte: Julius: Malte: Julius: Malte: Julius: Malte: Julius:

Weil man kein, ähm, C O Kohlendioxid aus=ausatmet. C O Zwei (2) ausatmet (2) oder einatmen muss. a t m e t Dann (2) bleibt genug für die Tiere D a n n, nein, dann (2) wird die Er=Welt nicht wärmer. Hm. (4) Das schadet ganz vielen Tiern. (3) W e l t (2) n i c h t (4) w ä r m e r (5) Punkt .

Schüler*innen mit unterschiedlichen (Lern-)Voraussetzungen im ‚Fachgespräch‘

231

Julius übersetzt den Fachbegriff Kohlendioxid in die chemische Formel CO2, sein Lernpartner hingegen verwendet den Begriff Kohlendioxid weiter. Malte erweitert den Begründungskontext Mensch und zieht Schlüsse auf die Auswirkungen auf die Tiere („dann bleibt genug für die Tiere“, Z. 309). Julius wiederum spricht nach einem Einwand („nein“, Z. 311) davon, dass die Welt nicht wärmer wird. Während Malte seine Gedanken fortsetzt, dass ausgeatmetes Kohlendioxid den Tieren schadet, fixiert Julius „Welt nicht wärmer“ (Z. 315) schriftlich auf dem Aufgabenblatt. Offen bleibt an dieser Stelle, inwiefern sich die beiden Jungen aufeinander oder aber auf ihre jeweils eigenen Aussagen beziehen. Eine Ko-Konstruktion kann daher nicht eindeutig nachgezeichnet werden. Die Jungen bearbeiten in einem Wechsel von aufeinander bezogenen und nicht aufeinander bezogenen Beiträgen die Aufgabe und entwickeln einen gemeinsamen fachlichen Gegenstand. Daher entfaltet sich dieser kollektive Diskurs im Wechsel zwischen Phasen der Konstruktion und Ko-Konstruktion. Malte (erster Jahrgang) scheint den Freiraum zu nutzen, der dadurch entsteht, dass er nicht schreibt und bringt neue Ideen in den Austausch ein, die von seinem Lernpartner aufgegriffen werden. Julius (vierter Jahrgang) verfolgt dabei das schulische Ziel, zu einer schriftlich fixierten Lösung in elaborierter Sprache zu finden.

5 Zusammenfassung und Ausblick Den in diesem Beitrag als „Fachgespräche“ bezeichneten Gegenstand der Analysen bilden aufgabenbezogene Interaktionen zwischen Grundschüler*innen. Der Anlass der drei Gespräche hängt jeweils mit einer von der Lehrperson erdachten Aufgabe (oder einem sich hieraus ergebenden Problem) zusammen. Den Gesprächen ist gemein, dass eine oder zwei Schüler*innen als Hauptakteure agieren. Bezüglich der Beteiligung der Lehrperson unterscheiden sich die Gespräche. Mit den ausgewählten Szenen stehen voraussetzungsvolle Unterrichtssituationen im Zentrum der Analysen, in denen die Schüler*innen fachlich-inhaltliche Themen6 fokussieren. Neben dem Analysegegenstand verbindet die Beispiele ihre lerntheoretische Verortung. Mithilfe von Interaktionsanalysen, die an der interpretativen Unterrichtsforschung (u. a. Krummheuer & Naujok 1999) orientiert sind, wird die Prozesshaftigkeit von Lernen betont. Es werden Umgangsweisen der Schüler*innen mit den an sie gestellten situativen Anforderungen rekonstruiert. Damit wird sichtbar, was im schulischen Alltag vielmals unsichtbar bleibt (bleiben muss). Die zudem fachdidaktisch informierten Analysen verweisen auf die Herausforderung 6

Höck (2015) unterscheidet für mathematische Problemlösegespräche zwischen Schüler*innen darüber hinaus zwischen sozialen und organisatorischen Gesprächsthemen.

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Heike de Boer, Marina Bonanati, Marek Breuning et al.

für Lehrpersonen, Interaktionsprozesse situativ (fach)sprachlich zu unterstützen und zwischen Aufgabenlösungs- und Verstehensproblemen zu unterscheiden (vgl. Kap. 4.1). Durch die Rekonstruktion interaktiver Verschränkungen des Sprachhandelns von Schüler*innen und Lehrer*innen wird auch deutlich, welche Rolle Differenzen zwischen den Interaktanten spielen. Es fällt auf, dass die Beteiligten in keiner der Beispielsequenzen Kategorien wie Leistung oder Alter aufrufen. Bezüglich der Frage, wie der fachliche Gegenstand gemeinsam konstruiert wird, spielen Differenzen jedoch eine Rolle. Zum einen nutzen die Teilnehmenden differente Strategien, um das Gespräch zu steuern. In Kapitel 4.2 ist es die Lehrperson, die mit ihrer Paraphrase das Thema bestimmt (Z. 13). Im Gespräch zwischen Julius und Malte fällt auf, dass dem Schreiber Julius durch seine Rolle die Entscheidungsmacht zufällt, was als Ergebnis auf dem Arbeitsblatt festgehalten wird (Kap. 4.3). Aufschlussreich ist auch der Umgang mit Wissensdiskrepanzen. In dem Gespräch zwischen Jamie und seiner Lehrerin ist eine Wissensdiskrepanz beispielsweise die Voraussetzung für das Gespräch, indem der „unwissende“ Schüler bei der „wissenden“ Lehrerin Rat sucht (Kap. 4.1). Die hier präsentierten Fallbeispiele unterschiedlicher Forschungsprojekte bieten die Chance, das spezifische Potenzial herauszuarbeiten, bei der Analyse aufgabenbezogener Interaktionen von Schüler*innen Prozesshaftigkeit und Fachlichkeit weiterführend zu fokussieren. So könnte es beispielsweise aufschlussreich sein, Aufgabenformate und ihren fachlichen Kern dahingehend zu systematisieren/reflektieren, wie sie die Interaktion der Schüler*innen bzw. zwischen Schüler*in und Lehrer*in strukturieren. Welche Rolle spielen hierbei materielle Gegenstände, die für die Interaktion bedeutsam sind? Darüber hinaus kann im Sinne eines erziehungswissenschaftlichen Lernbegriffs gefragt werden, inwiefern sich in den Interaktionen Hinweise darauf finden, dass die Schüler*innen die Situation als Lernprozess deuten, um eine für sie sinnvolle Anforderung zu bewältigen.

Literatur Barron, B. (2000): Achieving Coordination in Collaborative Problem-Solving Groups. In: Journal of the Learning Sciences, 9 (4), 403-436. Budde, J. (2017): Heterogenität: Entstehung, Begriff, Abgrenzung. In: Bohl, T., Budde, J. & RiegerLadich, M. (Hrsg.): Umgang mit Heterogenität in Schule und Unterricht. Regensburg: UTB Klinkhardt, 13–27. de Boer, H. (2012). Pädagogische Beobachtung. In: de Boer, H. & Reh, S. (Hrsg.): Beobachtung in der Schule – Beobachten lernen. Wiesbaden: Springer VL, 65–82. de Boer, H. (2015): Lernprozesse in Unterrichtsgesprächen. In: de Boer, H. & Bonanati, M. (Hrsg.): Gespräche über Lernen – Lernen im Gespräch. Wiesbaden: Springer VL, 17–36.

Schüler*innen mit unterschiedlichen (Lern-)Voraussetzungen im ‚Fachgespräch‘

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Adaptives Lernen durch Mapping Heiko Oberfell und Katrin Lohrmann1

Keywords: Adaptive Unterstützung, Analoges Enkodieren, Sachunterricht

Abstract Schulische Lernprozesse zielen auf den Aufbau von vernetztem Wissen. Analoges Enkodieren (Gentner et al. 2003) unterstützt diese Vernetzung bereits beim Erwerb von Wissen durch den fokussierten Vergleich (Mapping) zweier strukturgleicher Beispiele. In einer qualitativ-empirischen Studie wurden 26 Kinder der zweiten Jahrgangsstufe in Einzelinterviews zum Vergleich von zwei Hebelphänomenen (Kleiderbügel, Wippe) angeregt; die Datenauswertung der schriftlichen Transkripte erfolgte mithilfe der inhaltlich-strukturierenden Inhaltsanalyse. Die Ergebnisse zeigen, dass es Kindern unterschiedlich gut gelingt, Gemeinsamkeiten der Beispiele zu entdecken und zu beschreiben, die sich auf das dahinterliegende naturwissenschaftliche Prinzip beziehen. Zugleich weisen die Ergebnisse darauf hin, dass Lernprozesse beim analogen Enkodieren durch adaptive Unterstützung gezielt gefördert werden können.

1

Forschungsstand

Der Sachunterricht der Grundschule zielt auf den Aufbau flexibler Wissensstrukturen (Spiro et al. 1992) und den Erwerb anwendungsfähigen Wissens (GDSU 2013). Ergebnisse aus Schulleistungsstudien, wie z. B. TIMSS 2015, lassen jedoch sowohl auf mangelnde Verstehensorientierung als auch auf unzureichendes konzeptuelles Wissen der Lernenden schließen (Wendt et al. 2016). Angesichts 1

Heiko Oberfell | Pädagogische Hochschule Freiburg | [email protected] Katrin Lohrmann | LMU München | [email protected]

© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 N. Skorsetz et al. (Hrsg.), Diversität und soziale Ungleichheit, Jahrbuch Grundschulforschung 24, https://doi.org/10.1007/978-3-658-27529-7_37

Adaptives Lernen durch Mapping

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heterogener Lernvoraussetzungen müssen Lerngelegenheiten daher adaptiv sein; adaptive Unterstützung zeigt sich z. B. im Wissen um individuelle Schülervoraussetzungen (de Jong & Lazonder 2014) und an Rückmeldungen zum optimalen Zeitpunkt (Pfister 2015). Kaum untersucht (de Jong & Lazonder 2014) ist bisher allerdings die Effektivität adaptiver Unterstützung (Hardy et al. 2011). Analoges Enkodieren (Gentner et al. 2003) zielt auf den Aufbau vernetzter Wissensstrukturen. Dabei werden zwei tiefenstrukturell ähnliche Beispiele gleichzeitig dargeboten, deren Vergleich den Fokus der Lernenden auf relevante Elemente und Relationen lenken soll. Mit der Structure-Mapping-Theory konzeptualisiert Gentner (1983, 1989) die beim Vergleichen auftretenden kognitiven Prozesse: Strukturrelevante Elemente und Relationen eines Base-Beispiels werden identifiziert und auf ein Target-Beispiel bezogen. Dieser Prozess wird als Mapping bezeichnet (Gentner et al. 2003). Forschungsergebnisse belegen die Wirksamkeit Analogen Enkodierens für den Erwerb von Wissen. Für den Primarbereich gibt es jedoch bisher kaum Befunde (Schwelle 2016). In der hier berichteten Studie werden Mappingprozesse von Grundschulkindern untersucht und fokussiert, wie diese durch adaptive Impulse unterstützt werden können.

2 Methodik In einer qualitativen Studie wurden Einzelinterviews mit 26 Kindern der zweiten Jahrgangsstufe (anonymisiert: Kind 12 bis Kind 37) geführt, die Stichprobengröße ergab sich aus der theoretischen Sättigung. Als Beispiele wurden zweiarmige Hebel (Kleiderbügel, Wippe) verwendet. Die Anregung zum Vergleichen erfolgte zunächst durch einen offenen Prompt, um eigenständige Mappingprozesse offenzulegen. Im weiteren Verlauf sollten die Unterstützungsimpulse des Interviewers die Kinder auf die strukturrelevanten Elemente und Relationen fokussieren. Die Interviews wurden videografiert, transkribiert und nach der inhaltich-strukturierenden Inhaltsanalyse ausgewertet (Kuckartz 2016).

3 Ergebnisse Offenes Vergleichen: „Welche Gemeinsamkeiten haben die Beispiele?“ Angeregt durch einen offenen Prompt konnten die Aussagen der Kinder erstens oberflächenstrukturell bzw. tiefenstrukturell sowie zweitens bezogen auf Elemente bzw. Relationen systematisiert werden (Tab. 1). Die von den Kindern beschriebenen Gemeinsamkeiten beziehen sich überwiegend auf tiefenstrukturelle Relationen (Kind 27); dabei werden Vorgänge durch Exploration für die Kinder

236

Heiko Oberfell und Katrin Lohrmann

Elemente

Gemeinsamkeiten Kind 17: „Die da (zeigt auf das schwarze Klebeband am Bügel) sind eigentlich das da (tippt auf den linken Streifen am linken Wippenarm, Wippenarm geht links runter).“

Relationen Elemente Relationen

Tiefere Strukturen

Oberflächenstrukturen

sichtbar. Auf Elementebene werden mehr tiefenstrukturelle (Kind 36) als oberflächenstrukturelle Gemeinsamkeiten (Kind 17) entdeckt. Die – obgleich nicht gefragten, von den Kindern aber ebenfalls benannten – Unterschiede sind auf der Elementebene durchweg auf der Oberflächenstruktur angesiedelt (Kind 29), was aufgrund des unzureichenden tiefenstrukturellen Wissens plausibel ist. Wenig Aussagen gibt es daher zu tiefenstrukturellen Unterschieden bezüglich der Relationen (Kind 37); vereinzelt formulieren die Kinder auch oberflächenstrukturelle Unterschiede auf Relationsebene (Kind 16). Insgesamt wird deutlich, dass sich die beschriebenen Gemeinsamkeiten auf der Ebene der Relationen an tieferen Strukturen orientieren.

__

Unterschiede Kind 29: „Aber es ist halt verkehrt herum (macht Drehbewegung) also da (Bügel) ist es nach unten und da (zeigt auf Wippe) nach oben.“ Kind 16: „(…) Es fällt nicht nur so und so (hoch und runter) sondern auch so und so (vor und zurück, bewegt den Bügel aktiv mit der linken Hand, vier Bewegungs-dimensionen des Bügels).“

Kind 36: „Es passt halt immer gleichviel drauf (geht an die Wippe und zeigt mit zwei Handklammern synchron auf alle vier schwarzen Streifen und geht zur Wippe und fährt an den Häkchen entlang) also bei deinem Kleiderbügel (nimmt ihn ab und zeigt ihn).“ Kind 27: „Wenn ich hier eins mache (hängt beim Bügel links außen ein Gewicht ein) geht es auch nach unten, wie dort (zeigt zur Wippe).“

__

Kind 37: „(…) Dann wenn ich hier eins wegnehme (rechts außen weggenommen), ist es hier so länger und wenn ich das hier, hier dranhänge (wieder rechts außen einzeln dran) dann ist es viel weiter unten hier.“

Tab.1: Systematisierung der Aussagen durch Ankerbeispiele

Fokussiertes Vergleichen Die Kinder sollten gemäß der Structure-Mapping-Theory ein am Base-Beispiel identifiziertes Element (bzw. eine Relation) auf das Target-Beispiel mappen. Dabei können auf der Ebene von Elementen bzw. Relationen vier Mappingformen identifiziert werden: Sofort richtiges Mapping gelingt den Kindern auf Anhieb. Ungenaues Mapping zeigt sich häufig bei den Hebelarmen (Elemente), indem

Adaptives Lernen durch Mapping

237

diese nur flüchtig gezeigt werden. Falsches Mapping äußert sich z. B. mit Blick auf den Drehpunkt am Kleiderbügel: Drehpunkt und Schwerpunkt fallen hier nicht zusammen und erschweren die Identifikation (z. B. Kind 26, das beim Kleiderbügel auf die Mitte unterhalb des Metallhakens zeigt). Ideenloses Mapping kommt durch Ratlosigkeit zum Ausdruck. Das Mapping von Relationen zeigt zusätzlich zwei weitere Formen: Motorikprobleme (Schwierigkeiten das Wippenbrett auszubalancieren) bei der Wippe aufgrund der indifferenten Gleichgewichtslage. Beim Übertragungsproblem liegt ein mangelndes Abschauen vom Base-Beispiel vor, das zu einer alternativen Anordnung der (Gewichts-)Elemente beim Target-Beispiel führt. Die Transkription verdeutlicht die Bedeutung von nonverbal-explorativem Verhalten beim Mapping. Unterstützung im Lernprozess führt die Kinder schließlich in unterschiedliche Antwortmuster: richtig nach Unterstützung, falsch nach Unterstützung oder finale Unterstützung (entspricht der Vorgabe der Lösung). Unterstützungsimpulse Die inhaltlich-strukturierende Inhaltsanalyse zielt auch auf eine Kategorisierung der eingesetzten Unterstützungsimpulse. In Anlehnung an Ergebnisse der Fragenund Feedbackforschung (Calderhead 1981; Narciss 2004) lassen sich sechs elaborierte Impulse unterscheiden: prozedurale, deklarative, fehlerspezifische, aufgabenklärende, zusammenfassende und, als zentraler Mappingimpuls für alle, der stimulated recall. Die weitere Analyse zeigt, wie sich die von den Kindern eingebrachten Mappingformen durch gezielte Unterstützungsimpulse weiterentwickeln: Etwa die Hälfte der Kinder kann durch den stimulated recall drei Relationen sofort richtig mappen, was die Wirksamkeit dieses fokussierenden Vergleichsimpulses hervorhebt (auch guided discovery; Mayer 2004); die meisten anderen Kinder können sukzessive mit prozeduralen, deklarativen und fehlerspezifischen Impulsen zur Exploration ermutigt und zu den gewünschten Lernergebnissen geführt werden. Sowohl beim Element- als auch beim Relationsmapping werden maximal zwei Kinder final unterstützt, was insgesamt zeigt, dass Kinder mit adaptiver Unterstützung zu selbständigem Mapping fähig sind.

4 Diskussion Die Analyse der Mappingprozesse zeigt, dass Kinder – angeregt durch das Analoge Enkodieren und unterstützt durch adaptive Impulse – bereits in den ersten Schuljahren die Funktionsweise von zweiarmigen Hebeln auf einer prozeduralen Wissensebene erklären können. Gemeinsamkeiten auf der Ebene von Relationen werden v. a. durch die Exploration der Phänomene möglich und

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Heiko Oberfell und Katrin Lohrmann

sind (im Gegensatz zur Elementebene) immer an Tiefenstrukturen orientiert. Die Ergebnisse legen nahe, dass Analoges Enkodieren zu individualisiertem Lernen und zur Wissensvernetzung beitragen kann. Die Wirksamkeit ist im Rahmen weiterer Studien zu prüfen.

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Modellierung fachdidaktischen Wissens für inklusiven Sachunterricht Theresa Mester1

Keywords: Sachunterrichtsdidaktik, fachdidaktisches Wissen, Inklusion

Abstract Dieses Forschungsvorhaben stellt die Sachunterrichtsdidaktik in den inklusionsdidaktischen Diskurs. Durch den verbindlichen inklusiven Schulentwicklungsprozess besteht u. a. die Notwendigkeit, Lehrkräfte auf inklusiven Unterricht vorzubereiten. Das Ziel dieses Vorhabens besteht darin, inklusionsbezogenes fachdidaktisches Wissen für angehende Sachunterrichtslehrkräfte zu modellieren. Die Modellentwicklung umfasst eine normativ-theoriegeleitete Erarbeitung und einen empirischen Ansatz mit Expert*inneninterviews zur Erfassung der Anforderungen im inklusiven naturwissenschaftlichen Sachunterricht.

1

Ausgangssituation und Forschungsdesiderata

Ein entscheidender Faktor bei der Entwicklung eines inklusiven Schulsystems stellt die Lehrer*innenbildung dar, um Lehrkräfte für die Anforderungen in inklusiven Settings zu professionalisieren. Wichtig scheint es dabei zu sein, eine querschnittliche Implementierung von inklusiven Lehrinhalten in das Studium zu realisieren und die Vorbereitung auf Inklusion auch in den Verantwortungsbereich der Fächer und Fachdidaktiken zu legen – für diesen Beitrag bildet die Sachunterrichtsdidaktik den Rahmen. Dabei steht das fachdidaktische Wissen im Fokus

1

Theresa Mester | Universität Paderborn | [email protected]

© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 N. Skorsetz et al. (Hrsg.), Diversität und soziale Ungleichheit, Jahrbuch Grundschulforschung 24, https://doi.org/10.1007/978-3-658-27529-7_38

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Theresa Mester

des Interesses, dem als Komponente des Professionswissens im Kontext der professionellen Handlungskompetenz von Lehrkräften eine zentrale Bedeutung zukommt (Baumert & Kunter 2006). Das mittlerweile in vielen Forschungskontexten untersuchte Konstrukt des fachdidaktischen Wissens geht auf Shulman (1987) zurück, der das pedagogical content knowledge als das spezifische Lehrer*innenwissen bezeichnete. Es umfasst die Wissensstrukturen, die Lehrkräfte benötigen, um die fachwissenschaftlichen Inhalte für das Verständnis der Schüler*innen zugänglich zu machen. Dabei hat es sich zur konkreten Bestimmung des Konstrukts bewährt, die innere Struktur über verschiedene Wissensfacetten zu definieren (van Driel et al. 2014). Es herrscht jedoch kein Konsens über eine einheitliche Konzeptualisierung – weder fachübergreifend noch domänenspezifisch. Lediglich die bereits von Shulman (1987) vorgeschlagenen Facetten Wissen über Instruktionsstrategien und Wissen über Schülerkognitionen sind obligatorisch (van Driel et al. 2014). Mit Blick auf die Sachunterrichtsdidaktik entwickelte Lange (2010) eine an den internationalen naturwissenschaftlichen Diskurs anschlussfähige Konzeptualisierung für das fachspezifisch pädagogische Wissen im Bereich Naturwissenschaften. Trotz umfangreicher Forschung zum fachdidaktischen Wissen existieren keine Untersuchungen, in denen dieses Konstrukt mit dem inklusionsdidaktischen Diskurs in Beziehung gebracht wurde. Bei dem hier relevanten Projekt wird davon ausgegangen, dass das fachdidaktische Wissen unter bestimmten Schwerpunktsetzungen geschärft werden muss, um der durch Inklusion bedingten Vielfalt als Normalfall im Klassenkontext und dem Anspruch eines weiten Inklusionsverständnisses gerecht zu werden (z. B. Booth & Ainscow 2017). In Arbeiten zu einer inklusiven Didaktik (z. B. Wocken 2014) werden bestimmte Aspekte wie bspw. das Spannungsfeld zwischen Individualisierung und Gemeinschaft diskutiert, die auch in der Sachunterrichtdidaktik unter fachspezifischen Gesichtspunkten betrachtet werden (z. B. Seitz 2005). Derartige Merkmale sollten auch im Konstrukt des fachdidaktischen Wissens aufgegriffen werden, um den Aufbau eines inklusionsbezogenen fachdidaktischen Wissens zu unterstützen. Aus diesem Begründungszusammenhang lässt sich die im Folgenden präsentierte Fragestellung ableiten, die durch drei weitere Subfragen spezifiziert wird.

2 Fragestellungen und Zielsetzung Welches fachdidaktische Wissen sollten Studierende in der sachunterrichtsdidaktischen Lehrerbildung erwerben, um adäquat auf das Unterrichten naturwissenschaftlichen Sachunterrichts in inklusiven Lerngruppen vorbereitet zu sein?

Modellierung fachdidaktischen Wissens für inklusiven Sachunterricht

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ƒ

Wie lässt sich das inklusionsbezogene sachunterrichtsdidaktische Wissen theoretisch ausdifferenzieren und in einem Modell darstellen?

ƒ

Welche Hinweise lassen sich hierzu aus den praktischen Anforderungen ableiten, die für Sachunterrichtslehrkräfte bei der Gestaltung naturwissenschaftlichen Sachunterrichts in inklusiven Settings bestehen?

ƒ

Inwiefern lassen sich Schnittstellen, aber auch Inkonsistenzen zwischen den theoretisch modellierten Wissensfacetten und den praktischen Anforderungen, die Lehrkräfte im inklusiven naturwissenschaftlichen Sachunterricht zu bewältigen haben, feststellen?

Das Ziel des Projekts besteht darin, ein Modell zu entwickeln, das inklusionsbezogenes sachunterrichtsdidaktisches Wissen unter Berücksichtigung unterrichtspraktischer Anforderungen im inklusiven naturwissenschaftlichen Sachunterricht abbildet, um daraus langfristig Impulse für die Lehrer*innenbildung abzuleiten.

3 Forschungsansatz und methodisches Vorgehen Als Forschungsansatz diente ein deduktiv-induktiv kombiniertes Vorgehen der Kompetenzmodellierung (Schaper 2009). Die theoriegeleitete Modellentwicklung (deduktiv) umfasste eine Erarbeitung, bei der inklusionsdidaktische Ansätze und sachunterrichtsspezifische Wissensfacetten extrahiert und aufeinander bezogen wurden. Hierzu wurden ausgehend von dem Modell fachspezifisch-pädagogischen Wissens im Bereich Naturwissenschaften (Lange 2010) empirische Arbeiten und theoretische Ansätze aus dem Forschungsfeld der inklusiven (Sachunterrichts-)Didaktik gesichtet. Wesentliche Merkmale wurden im Rahmen einer Literatursynopse gebündelt und extrahiert, bevor sie an zentralen Befunden der Unterrichtsqualitätsforschung gespiegelt wurden. Aus der Zusammenführung dieser Bereiche wurde das Modell inklusionsbezogenen fachdidaktischen Wissens mit Fokussierung des naturwissenschaftlichen Lernbereichs theoretisch abgeleitet. Im zweiten (induktiven) Schritt wurde das Anforderungsspektrum im inklusiven naturwissenschaftlichen Sachunterricht aus der Sicht von zwölf inklusionserfahrenen Sachunterrichtslehrkräften erhoben, das durch die rekonstruktive Methode leitfadengestützter Expert*inneninterviews erfasst wurde. Als Auswertungsmethode diente die qualitative Inhaltsanalyse (Kuckartz 2016) mit einer deduktiv-induktiven Kategorienbildung. Durch eine Kontrastierung der analytisch entwickelten Wissensfacetten mit den praktischen Anforderungen konnten Schnittstellen, Inkonsistenzen und Schwerpunktsetzungen deutlich gemacht werden.

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Theresa Mester

4 Zentrale Ergebnisse Im Rahmen der analytischen Erarbeitung wurde ein Modell entwickelt, das analog zu Langes Erarbeitung (2010) eine generische Komponente enthält, die themenübergreifende Aspekte zum Lehren und Lernen im inklusiven naturwissenschaftlichen Sachunterricht beinhaltet. Darüber hinaus umfasst es fünf weitere Wissensfacetten, die in Bezug zu themenspezifischen Inhalten stehen: Wissen über (1) naturwissenschaftliche Curricula und Zielsetzungen im inklusiven Kontext, (2) naturwissenschaftliches Verständnis im Verstehenshorizont der Schüler*innen, (3) naturwissenschaftliche Lernprozessdiagnostik und Bewertung, (4) naturwissenschaftliche Lehr-Lern-Strategien im inklusiven Kontext und (5) Gestaltung von Lernaufgaben im inklusiven naturwissenschaftlichen Sachunterricht. Die geäußerten Anforderungen der inklusionserfahrenen Lehrkräfte fokussieren v. a. darauf, wie der naturwissenschaftliche Sachunterricht auf die unterschiedlichen Lernpotentiale der Schüler*innen angepasst werden kann – das definitorische Kernelement des fachdidaktischen Wissens. Sie beschreiben hierzu insbesondere Anforderungen, die unter dem Schlagwort der Elementarisierung und durch den Aushandlungsprozess gekennzeichnet werden können, welches Potential und welche Basiskonzepte der fachliche Lerngegenstand auf der einen und welche individuellen Lernpotentiale und -möglichkeiten die Schüler*innen auf der anderen Seite mitbringen. Hierfür stellen die Lehrkräfte die Bedeutung diagnostischer Fertigkeiten heraus. Besondere Relevanz messen sie darüber hinaus Anforderungen im Kontext naturwissenschaftlicher Lehr-Lern-Strategien und der Aufgabengestaltung im inklusiven Sachunterricht zu, wie z. B. das (handlungsorientierte und lebensweltnahe) Experimentieren sowie kooperative Lernformen und Differenzierungsmaßnahmen. Eine Komponente, die im theoretischen Modell nicht berücksichtigt wurde, aber von nahezu allen Lehrkräften als wichtige Anforderung benannt wird, ist die sprachsensible Aufbereitung des Sachunterrichts.

5 Fazit Die theoretische Modellierung des inklusionsbezogenen fachdidaktischen Wissens konnte durch die Erhebung der Anforderungen im inklusiven naturwissenschaftlichen Sachunterricht in weiten Teilen bestätigt und zudem durch die von den Lehrkräften fokussierten Schwerpunktsetzungen konkretisiert werden, sodass auch über die Gewichtung der einzelnen Wissensfacetten erste Rückschlüsse gezogen werden konnten. Es zeigte sich, dass ein inklusionsbezogenes fachdidaktisches Wissen kein grundsätzlich neuartiges Konstrukt darstellt, sondern sich in

Modellierung fachdidaktischen Wissens für inklusiven Sachunterricht

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vielen Komponenten mit den bisherigen Modellierungen deckt, aber ergänzend auf bestimmte Akzentuierungen abzielt – ähnlich wie es auch im Forschungsfeld der inklusiven Didaktik diskutiert wird (z. B. Wocken 2014). Grundsätzlich kann konstatiert werden, dass die inklusive Ausrichtung in der Modellierung des fachdidaktischen Wissens mit einer Perspektivverschiebung korrespondiert: Während in bisherigen Konzeptualisierungen tendenziell eher von der Lerngruppe als Ganzes ausgegangen wird, für die der fachliche Lerngegenstand aufbereitet werden muss, wird im Rahmen des inklusionsbezogenen fachdidaktischen Wissens stärker die Vielfalt der Lerngruppe und damit die Individualität jedes einzelnen Kinds berücksichtigt, was sich entsprechend in der Bestimmung der Wissensfacetten und den geschilderten Anforderungen im inklusiven naturwissenschaftlichen Sachunterricht der Lehrpersonen widerspiegelte.

Literatur Baumert, J. & Kunter, M. (2006): Stichwort: Professionelle Kompetenz von Lehrkräften. In: ZfE 9 (4), 469–520. Booth, T. & Ainscow, M. (2017): Index für Inklusion. Ein Leitfaden für Schulentwicklung. Weinheim: Beltz. Kuckartz, Udo (2016): Qualitative Inhaltsanalyse. Methoden, Praxis, Computerunterstützung. 3., durchgesehene Aufl. Weinheim: Beltz. Lange, K. (2010): Zusammenhänge zwischen naturwissenschaftsbezogenem fachspezifisch-pädagogischem Wissen von Grundschullehrkräften und Fortschritten im Verständnis naturwissenschaftlicher Konzepte bei Grundschülerinnen und -schülern. Dissertation. Universität Münster. Schaper, N. (2009): Aufgabenfelder und Perspektiven bei der Kompetenzmodellierung und -messung in der Lehrerbildung. In: Lehrerbildung auf dem Prüfstand 2 (1), 166–199. Seitz, S. (2005): Zeit für inklusiven Sachunterricht. Baltmannsweiler: Schneider-Verlag: Hohengehren. Shulman, L. S. (1987): Knowledge and Teaching: Foundations of the new reform. In: Harvard Educational Review 57 (1), 1–22. Van Driel, J. H.; Berry, A. & Meirink, J. (2014): Research on Science Teacher Knowledge. In: Lederman, N. G.; Abell, S. K. (Hg.): Handbook of research on science education. Volume II. New York: Routledge, 848–870. Wocken, H. (2014): Das Haus der inklusiven Schule. Baustellen – Baupläne – Bausteine. 5. Aufl. Hamburg: Feldhaus.

Experimente-Labore als Orte zur Sensibilisierung für Diversität im Sachunterricht der Grundschule Ulrike Eschrich und Nicole Henrich1

Keywords: Experimentieren, Diversität, Sprachbildung

Abstract In den Lehr-/Lern-Laboren der Forschungs- und Lernwerkstatt der Grundschulpädagogik am Campus Koblenz wird in der Sachunterrichtsdidaktik eine reflexive Form der Verzahnung von Theorie und Praxis durch das gemeinsame Experimentieren von Kindern und Studierenden umgesetzt. Die in Seminaren vermittelten theoretischen Inhalte werden im Rahmen der Experimente-Labore sowie durch die Kooperationen mit Kindertagesstätten, Schulen und Partnern aus der Region praktisch erprobt und reflektierend erforscht. Mit Blick auf die Heterogenität der Kinder sind vor allem das Lernen am gemeinsamen Gegenstand mit individuellen Zugangsweisen sowie durchgängige Sprachbildung bedeutsam.

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Einführung

Die Forschungs- und Lernwerkstatt als „Ort forschenden und entdeckenden Lernens“ hat sich am Institut für Grundschulpädagogik seit einigen Jahren etabliert. Den Studierenden sollen die hier vorgestellten Experimente-Labore authentische Praxiserfahrungen und individuelle Kompetenzerweiterungen in einem geschützten Rahmen ermöglichen. Inhaltlich beschäftigen sich alle Labore mit facettenreichen Teilprojekten aus dem MINT-Bereich des Sachunterrichts. Die Basis für die Konzeption der Experimentier-Settings bilden dabei die Fragen der Kinder

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Ulrike Eschrich | Universität Koblenz | [email protected] Nicole Henrich | Universität Koblenz | [email protected]

© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 N. Skorsetz et al. (Hrsg.), Diversität und soziale Ungleichheit, Jahrbuch Grundschulforschung 24, https://doi.org/10.1007/978-3-658-27529-7_39

Experimente-Labore als Orte zur Sensibilisierung für Diversität im Sachunterricht

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und die in Lehrveranstaltungen zur Didaktik des Sachunterrichts vermittelten theoretischen Inhalte. Bei der anschließenden Planung und Erprobung werden die Studierenden, welche in Tandems im Sinne von ko-konstruktiven Prozessen zusammenarbeiten, durch geschulte Tutor*innen unterstützt. Daran schließt sich die reflexive Erforschung des Erlebten gemeinsam mit den Tutor*innen im Seminarkontext oder im Rahmen von wissenschaftlichen Arbeiten an. Somit bieten die Experimente-Labore auf Seiten der Studierenden die Chance zur Entwicklung didaktischer Innovationen sowie theorie- und praxisbezogener Forschung und tragen damit etwa zur Sensibilisierung für Aspekte wie „Diversität“ (2) und „durchgängige Sprachbildung“ (3) bei. Auf Seiten der Kinder werden zugleich Bildungsprozesse entsprechend deren Lernvoraussetzungen und Bildungsbiographien durch die Möglichkeit des entdeckenden, differenzierten, kooperativen und selbstgesteuerten Lernens (Schneider 2016: 108) realisiert. Im Folgenden wird gezeigt, wie Studierende für einen positiven Umgang mit Diversität sensibilisiert werden können.

2 Sensibilisierung für einen positiven Umgang mit Diversität in den Experimente-Laboren Durch ihre offene Angebotsstruktur als außerschulischer Lernort am Nachmittag richten sich die Experimente der Lehr-/Lern-Labore an altersheterogene Gruppen von Kindern (4–6 Jahre und 8–12 Jahre), welche verschiedene sozioökonomische Hintergrunderfahrungen besitzen sowie unterschiedlichste Sozialisationszusammenhänge und Bildungsbiographien aufweisen. Es geht dabei darum, mit differenziertem Blick auf die außerschulischen Lebenswirklichkeiten der Kinder zu schauen und daraus resultierend deren Lernentwicklung positiv zu beeinflussen und nicht den Blick auf ihre Defizite zu konzentrieren (Emmerich & Hormel 2013: 185). Diversität wird hier also im Sinne einer positiven Lernkultur wirksam (Kaiser & Seitz 2017: 13; Schmude 2016: 23) und kann dabei als eine grundlegende Lernressource betrachtet werden (Selzer & Ruppin 2017: 16), durch welche die Kinder voneinander profitieren und gleichzeitig durch die Orientierung an ihren Interessen und Fragen Inhalte und methodisches Vorgehen mitbestimmen. Die Studierenden werden für die verschiedenen Perspektiven der Kinder sensibilisiert und müssen gleichzeig den Anspruch auf Gemeinsamkeit der Kinder im Blick behalten. Dabei geht es um die Anerkennung eines jeden Kindes und dialogisches Lernen durch die Forschungsdialoge beim Durchführen der Experimente (Kaiser & Seitz 2017: 8) zugleich. Alle Kinder arbeiten an einem gemeinsamen Thema, welches sich an vorher evaluierten Fragen der Kinder orientiert und finden dabei ihre individuellen Zugänge durch differenziertes Material und

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Ulrike Eschrich und Nicole Henrich

individualisierte Forschungsbögen. Neben dieser Form der Mit- und Selbstbestimmung entsteht zugleich ein gemeinsamer Austausch und somit soziale Eingebundenheit (Giest 2016: 57, Kaiser & Seitz 2017: 13). Die Studierenden setzen sich bei der Planung und Durchführung mit den unterschiedlichen Voraussetzungen der Kinder auseinander und können durch offene und selbstdifferenzierte Aufgaben und Anregungen (Kaiser & Seitz 2017: 12) den individuellen Bedürfnissen der Kinder gerecht werden. Durch das Anleiten der Experimente entwickeln die Studierenden fachliche und didaktische Kompetenzen (Giest 2016: 139, Hartinger 2017: 76). Die angestrebte Balance zwischen der Einzigartigkeit eines jeden Kindes einerseits sowie der Betonung ihrer Gemeinsamkeiten andererseits, kann durch eine „Pädagogik der Vielfalt“ wie von Annedore Prengel (1993) schon in den 1990er Jahren postuliert, beim naturwissenschaftlichen Lernen im Sachunterricht gelingen.

3 Diversität als Thema der Experimente-Labore am Beispiel des Prinzips der durchgängigen Sprachbildung 3.1

Sprache und Experimentieren

Einen weiteren bedeutsamen Themenschwerpunkt für alle an den ExperimenteLaboren teilnehmenden Studierenden stellt der Aspekt der durchgängigen Sprachbildung dar, welcher bereits 2002 von der KMK im Sinne einer „durchgängige[n] und konsequente[n] Verknüpfung von Sprach- und Sachlernen“ (KMK 2002: 16) gefordert und 2013 als verbindliche Norm erklärt wurde (KMK 2013). So wird den Studierenden nähergebracht, dass es sich bei Sprache um ein zentrales Medium und Mittel der Kommunikation handelt und gleichsam Sprache als Werkzeug des Denkens und Problemlösens in allen Fächern dient (Köhnlein 2012: 323). Eine fortschreitende Dekontextualisierung der Sprache stellt den Schlüssel zum Bildungserfolg dar. Somit ist es nötig, die Kinder von der reinen Gegenstandsebene hin zu einer abstrakten gedanklichen Ebene – von einer Alltagssprache zu einer Bildungs- und Fachsprache zu führen. In diesem Zusammenhang werden den Studierenden Versprachlichungsstrategien in den Seminaren vermittelt. Des Weiteren wird ihnen transparent gemacht, dass ExperimentierAufgaben bei noch nicht Beherrschen der deutschen Sprache bzw. Bildungssprache von allen Kindern bewältigt werden können. Sowie, dass gleichsam durch eine unterstützende Haltung der Lehrkraft im Sinne des Scaffolding Bildungssprache in heterogenen Lerngruppen dabei angebahnt werden kann.

Experimente-Labore als Orte zur Sensibilisierung für Diversität im Sachunterricht

3.2

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Scaffolding

Beim Scaffolding handelt es sich um eine Methode, welche auch zum Sprachlernen in den Fachunterricht integriert werden kann und damit im Sinne der durchgängigen Sprachbildung die Lernenden unterstützt, den Übergang von der Alltags- in Richtung Bildungssprache bewusst zu beschreiten. Innerhalb der Seminare erhalten die Studierenden daher einen Einblick in die Elemente des Makround Mikroscaffoldings nach Pauline Gibbons (2002). Auf der Grundlage von Bedarfs- und Lernstandsanalysen erfolgt die Planung der Experimente - auf Basis der Fragen und Präkonzepten der Kinder. Hierbei finden fachliche und sprachliche Aspekte Berücksichtigung, etwa durch den Einsatz des Planungsrahmens nach Tajmal (2009). Als Ergebnis entwickeln die Studierenden differenziertes Material. Innerhalb der konkreten Experimentiersituation spielt im Sinne des Mikroscaffolding die Interaktion eine große Rolle. Die Studierenden sind daher bei ihrer Planung dazu angehalten, die in den Seminaren vermittelten Inhalte zu gesprächsförderlichen Verhaltensweisen zu berücksichtigen (Hammond und Gibbons 2005 sowie de Boer & Bonanati 2015) und in der konkreten Realisierung geplant und prozessbezogen einzusetzen. Die bisherigen Erfahrungen aus den Experimente-Laboren zeigen, dass gezielte Impulse der Studierenden, vor allem innerhalb der Forschungskonferenzen, die Kinder ermutigen, ihre Äußerungen zu präzisieren und zu strukturieren. Sie helfen den Kindern dabei, aufmerksam für eine kontextunabhängige Sprache zu werden. Innerhalb der abschließende Ergebnissicherung durch das Anfertigen von Forschungsheften, Lapbooks und Ähnlichem finden bildungssprachliche Elemente in Form einer elaborierten Sprache immer stärker Verwendung (Quehl & Trapp 2013: 44 ff.; Köhnlein 2012: 327).

4 Zwischenfazit und Ausblick Auch wenn wir uns erst am Beginn der Umsetzung und Beforschung der Experimente-Labore durch „Teilnehmende Beobachtungen“ und „Kriteriengeleitete Fragebögen“ befinden, scheint sich jetzt schon eine große Motivation und ein hohes Engagement der Studierenden durch das Ermöglichen von begleiteten Praxiserfahrungen abzuzeichnen. Die Bedeutung der fachlichen und didaktischen Vorbereitung sowie die Berücksichtigung sprachlicher Aspekte für die Umsetzung von Lehr-Lernsituationen sind vielen von ihnen erst durch das Experimentieren bewusst geworden. Somit tragen die Experimente-Labore mit ihrer reflexiven Struktur wesentlich zum Professionalisierungsprozess in Bezug auf Sensibilisierung für Diversität zukünftiger Lehrkräfte bei.

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Ulrike Eschrich und Nicole Henrich

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Systemizing und Empathizing als Erklärungsansatz für die unterschiedliche Motivation von Vorschulkindern, sich mit Naturphänomenen zu beschäftigen Nina Skorsetz und Manuela Welzel-Breuer1

Keywords: Elementarbildung, Naturwissenschaftliches Lernen, Motivation, Videographie

Abstract Ausschlaggebende Ursachen für die unterschiedliche Motivation zur Beschäftigung mit Naturwissenschaften können Aufschluss darüber geben, wie man Lernangebote besser auf die individuellen Bedürfnisse von Lernenden abstimmen kann. Im Gegensatz zu oft herangezogenen Geschlechterdifferenzen wurde ein anderer Erklärungsansatz, die Empathisierer-Systematisierer-Theorie, genutzt. Es zeigte sich, dass Kinder mit einem hohen Systematisierer-Anteil in verschiedenen Lernumgebungen fokussiert auf die Sache zu sein scheinen, während Kinder mit hohem Empathisierer-Anteil dieses Verhalten weniger zeigen.

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Heterogenität als Herausforderung

Auf dem Weg zu einer „Science for all!“ (Aikenhead 2001) muss davon ausgegangen werden, dass Menschen unterschiedlich stark motiviert sind, sich mit Naturwissenschaften zu beschäftigen (Glynn & Koballa 2006). Motivation wird als

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Nina Skorsetz | Goethe-Universität Frankfurt | [email protected] Manuela Welzel-Breuer | Pädagogische Hochschule Heidelberg | [email protected]

© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 N. Skorsetz et al. (Hrsg.), Diversität und soziale Ungleichheit, Jahrbuch Grundschulforschung 24, https://doi.org/10.1007/978-3-658-27529-7_40

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Nina Skorsetz und Manuela Welzel-Breuer

ausschlaggebend für einen erfolgreichen Lernprozess angesehen. Der Geschlechterunterschied wird häufig als Erklärungsansatz für unterschiedliche Motivation genutzt (Oppermann et al. 2017). Erstes Ziel der hier vorgestellten Dissertationsstudie war es, durch den Blick auf motivationale Unterschiede von Vorschulkindern bei der Beschäftigung mit Naturphänomenen Hinweise darauf zu erhalten, ob ein alternativer Erklärungsansatz aussagekräftiger ist. Dazu wurden die Erkenntnisse der Empathisierer-Systematisierer-Theorie von Baron-Cohen (2004) genutzt, die besagt, dass das Gehirn jedes Menschen Anteile zweier Dimensionen hat: dem Empathisieren, das den Drang beschreibt, die Emotionen anderer Menschen zu verstehen, um deren Handeln zu verstehen und angemessen darauf reagieren zu können; und dem Systematisieren als dem Drang, die Strukturen, Ordnungen bzw. Systeme hinter den Dingen zu verstehen, um diese voraussagen zu können. Das zweite Ziel der Studie war es, herauszufinden, inwieweit die didaktisch-methodische Gestaltung der naturwissenschaftlichen Lernumgebung einen Einfluss auf die Motivation der Vorschulkinder hat und inwiefern dies mit den benannten Dimensionen zusammenhängt.

2 Theoretische Grundlagen Die Empathisierer-Systematisierer (E-S)-Theorie von Baron-Cohen (2004) stammt aus der Autismusforschung. Mit ihr sollte erklärt werden, warum Menschen unterschiedlich auf ihre Umwelt reagieren. Der Grad der beiden Dimensionen, Empathisieren und Systematisieren, wird mithilfe eines Fragebogens ermittelt und in so genannten EQ- und SQ-Werten festgehalten. Aus den beiden Werten lässt sich durch Bildung der Differenz der so genannte Brain Type bestimmen. Diese Theorie wurde in den folgenden Jahren von der Lernforschung für die Suche nach einem Zusammenhang zwischen dem Brain Type und der Motivation für ein naturwissenschaftliches Studium genutzt. Motivation wird dabei nach Glynn und Koballa (2006) als ein interner Zustand, etwas lernen zu wollen, angesehen, der Verhaltensweisen von Menschen bestimmt. Es zeigte sich empirisch, dass eine starke Ausprägung der Dimension des Systematisierens im Jugendalter für die Entscheidung, ein naturwissenschaftliches Studium aufzunehmen, hohe Vorhersagekraft hat – stärker noch als das Geschlecht (Zeyer et al. 2012). Der im Englischen vorliegende Fragebogen wurde auch für Kinder im Alter von 4 bis 11 Jahren validiert (Auyeung et al. 2009), so dass eine Bestimmung der EQ-, SQund Brain Type-Werte auch schon im Vorschulalter möglich ist. In diesem Fall füllen die Eltern den Fragebogen für ihre Kinder aus.

Systemizing und Empathizing als Erklärungsansatz für die unterschiedliche Motivation

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Im didaktischen Diskurs der frühen naturwissenschaftlichen Bildung hat man sich – anders als im Primarbereich – noch nicht auf eine einheitliche Konzeption geeinigt, wenngleich dieser Bereich inzwischen in den Bildungsplänen aller Bundesländer verankert ist (Skorsetz i.E.). Ausgehend von verschiedenen Fachdisziplinen formulieren die am Diskurs beteiligten Akteure Vorschläge für die Gestaltung von Lernumgebungen. Besonders kontrastiv erscheinen dabei die Ansätze von Lück (2012), die aus der Tradition der Fachdidaktik Chemie stammt, und Schäfer (2009), der eher aus erziehungswissenschaftlicher Perspektive auf die frühe naturwissenschaftliche Bildung schaut. Beiden Ansätzen liegt der Blick auf ein eigenaktives Kind zugrunde, das sich im konstruktivistischen Sinne das Wissen selbsttätig aneignet. Unterschiede der beiden Ansätze finden sich in der konkreten didaktisch-methodischen Ausgestaltung der Lernumgebungen und durch einen unterschiedlichen Grad der Strukturierung bzw. Anleitung durch die Fachkraft. Schäfer (2009) empfiehlt z. B. eine so genannte Lernwerkstatt Natur, an der die Kinder von Geburt an teilnehmen können und die direkt im Wald stattfindet. Erwachsene sind dabei als Ansprechpartner präsent, geben aber keine konkreten Strukturierungshilfen. Lück (2012) beschreibt in ihren Arbeiten u. a. konkrete Experimentierreihen, in denen aufeinander aufbauende Einzelexperimente durchgeführt werden. Die pädagogische Fachkraft leitet die Kleingruppe in einem separaten Raum an und moderiert auch die anschließende Deutungsphase. Der erste Ansatz empfiehlt also eher eine explorierend-narrative Lernumgebung, der zweite wird in einer eher strukturiert-angeleiteten Lernumgebung sichtbar. Mit dem Ziel zu untersuchen, ob und ggf. inwieweit sich die Motivation von Kindern in unterschiedlich stark strukturierten Lernumgebungen unterscheidet, lassen sich entsprechend der Unterschiede zwischen den von Lück und Schäfer beschriebenen Lernumgebungen zwei kontrastive Angebote zum gleichen Inhalt planen und realisieren. Forschungsfragen Aus diesen Vorüberlegungen ergab sich folgende Hauptforschungsfrage für die Studie: Inwiefern zeigt sich in unterschiedlich strukturierten Lernumgebungen zur frühen naturwissenschaftlichen Bildung ein Zusammenhang zwischen Aktivitäten, die darauf hinweisen, dass Vorschulkinder motiviert sind, sich mit Naturphänomenen zu beschäftigen und den ermittelten EQ-, SQ- und Brain-Type-Werten dieser Kinder? Motivation wird dabei als ein interner Zustand angesehen, der Handlungen nach sich zieht (Glynn & Koballa 2006). So wurden auf Motivation hinweisende Verhaltensweisen der Kinder in zwei unterschiedlich stark strukturierten Lernumgebungen erfasst.

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Nina Skorsetz und Manuela Welzel-Breuer

3 Methode Mithilfe einer querschnittlichen, kombinierten Fragebogen- und Videostudie sollte diese Forschungsfrage empirisch beantwortet werden. Nach der parallelen Übersetzung und Validierung des Fragebogens sowie der Entwicklung der beiden Lernumgebungen im Sinne des Design-Based-Research-Ansatzes (Collective 2003) wurde der Fragebogen bei den Eltern von 112 Vorschulkindern eingesetzt und anschließend der EQ-, SQ- Wert und der Brain Type der Kinder bestimmt. Die eine Hälfte der so getesteten Stichprobe (n = 52) nahm an der ersten Lernumgebung, der angeleitet-strukturierten nach Lück (2012), teil, die andere Hälfte (n = 47) an der zweiten, eher explorierend-narrativen Lernumgebung nach Schäfer (2009). Beide Angebote beschäftigten sich mit der Saugfähigkeit verschiedener Materialien, wurden mit Kleingruppen von 3 bis 5 Kindern realisiert und mit der Videokamera beobachtet. Um Zusammenhänge zwischen den Verhaltensweisen und der Motivation der beteiligten Kinder zu identifizieren, wurden die Ergebnisse der Videokodierungen nach Sichtstrukturen (Blickrichtungen und Fokussierung der Kinder) sowie der Auszählung der Materialkontakte der Kinder mit den EQ- und SQ-Werten der Fragebogenergebnisse korreliert. Die Ergebnisse für die beiden Lernumgebungen wurden schließlich mithilfe von t-Tests verglichen.

4 Ergebnisse und Diskussion Durch Korrelation der Fragebogen- und Videodaten zeigte sich, dass Kinder mit hohem SQ-Wert in beiden Lernumgebungen signifikant weniger abgelenkt sind (r = ,278*). Sie wenden sich den Materialien zu und zeigen sich stärker auf die naturwissenschaftlichen Sachverhalte fokussiert. Dieser Zusammenhang konnte für Kinder mit hohem EQ-Wert bzw. für das Geschlecht nicht festgestellt werden. Beim Vergleich der beiden Lernumgebungen mit allen Kindern (unabhängig von deren Brain Type) zeigte sich, dass die Kinder in der explorierend-narrativen Lernumgebung in der Summe mehr Materialien (t = –6,576; p < .001) berühren. Alle Kinder wechseln in der strukturiert-angeleiteten Lernumgebung signifikant häufiger pro Minute die Blickrichtung (t = 3.953; p < .001) und sind dort auch stärker abgelenkt als in der explorierend-narrativen (t = 2.587; p = .011). Vorschulkinder mit hohem SQ-Wert scheinen unabhängig von der didaktisch-methodischen Gestaltung der Lernumgebungen ebenso wie Jugendliche für die Beschäftigung mit Naturphänomenen motiviert zu sein. Ob sich für Kinder mit hohem EQ-Wert ebenso motivierende Lernumgebungen gestalten lassen, kann nur über den Vergleich der beiden in dieser Studie untersuchten Lernumge-

Systemizing und Empathizing als Erklärungsansatz für die unterschiedliche Motivation

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bungen vermutet werden. Die Möglichkeit der freien Exploration in der explorierend-narrativen Lernumgebung scheint motivationsförderlich für alle Kinder. Einschränkend muss gesagt werden, dass im Rahmen der Studie nur einzelne Aspekte von kurzzeitiger Motivation über Sichtstrukturen erfasst werden konnten und die gefundenen Signifikanzen nur mittelstarke Korrelationen aufweisen.

5 Fazit und Ausblick Um die eingangs erwähnte Credo „Science for all“ (Aikenhead 2001) zu ermöglichen, bietet eine explorierend-narrativ angelegte Lernumgebung zu früher naturwissenschaftlicher Bildung einen didaktisch-methodischen Zugang, da Empathisierer und Systematisierer im Vorschulalter in dieser eine stärkere Fokussierung auf die Experimentiermaterialien zeigen als in einer strukturiert-angeleiteten Lernumgebung. Gleichzeitig bleibt die Frage offen, wie Kinder mit hohem EQWert motiviert werden können, da die gefundenen Zusammenhänge keine konkreten Hinweise liefern konnten, ob z. B. das gemeinschaftliche Tun oder der Freiheitsgrad einer Lernumgebung ausschlaggebend sind. Hier ist weitere Forschung nötig.

Literatur Aikenhead, G. S. (2001). Student's Ease in Crossing Cultural Borders into School Science. In: Science Education (85), 180–188. Auyeung, B., Wheelwright, S., Allison, C., Atkinson, M., Samarawickrema N. & Baron-Cohen, S. (2009). The Children's Empathy Quotient and Systemizing Quotient. Sex Differences in Typical Development and in autism spectrum Conditions. In: Journal of autism and developmental disorder, 39 (11). The Design Based Research Collective. (2003). Design-Based Research: An Emerging Paradigm for Educational Inquiry. In: Educational Researcher, 32 (1), 5–8. Baron-Cohen, S. (2009). Autism: The Empathizing-Systemizing (E-S) Theory. In: Annals of the New York Academy of Sciences (1156), 68–80. Glynn, S. M. & Koballa, T. R., JR. (2006). Motivation to Learn in College Science. In J. J. Mintzes & W. H. Leonard (Hrsg.): Handbook of College Science Teaching. Arlington, VA: National Science Teachers Association Press, 25-32. Lück, G. (2012). Handbuch der naturwissenschaftlichen Bildung. Theorie und Praxis für die Arbeit in Kindertageseinrichtungen (8. Gesamtaufl.). Freiburg im Breisgau: Herder. Oppermann, E., Brunner, M., Eccles, J. S. & Anders, Y. (2017). Uncovering young children’s motivational beliefs about learning science. In: Journal of Research in Science Teaching, 24 (2). https://doi.org/10.1002/tea.21424. Schäfer, G. E. (2009). Prinzipien und didaktische Elemente. Eine Zusammenfassung. In: G. E. Schäfer, M. Alemzadeh, H. Eden & D. Rosenfelder (Hrsg.): Natur als Werkstatt. Weimar: Verl. Das Netz.

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Nina Skorsetz und Manuela Welzel-Breuer

Skorsetz, N. (i. E.). Empathisierer und Systematisierer im Vorschulalter. Eine Fragebogen- und Videostudie zur Motivation, sich mit Naturphänomenen zu beschäftigen (Studien zum Physik- und Chemielernen, Bd. 270). Berlin: Logos Verlag. Zeyer, A., Bölsterli, K., Brovelli, D. & Odermatt, F. (2012). Brain Type or Sex Differences? A structural equation model of the relation between brain type, sex, and motivation to learn science. In: International Journal of Science Education, 34 (5), 779–802.

Potenziale des Zeichnens für heterogene Lerngruppen Heiner Oberhauser und Gudrun Schönknecht1

Keywords: Zeichnen, Aufgabenqualität, heterogene Lerngruppen, Adaptivität, epistemisches Zeichnen

Abstract Zeichenaufgaben bringen Potenziale für das Lernen in heterogenen Lerngruppen mit und bedürfen einer differenzierten Betrachtung. Auf der Basis einer Lehrwerkanalyse im Sachunterricht wurde untersucht, welche Voraussetzungen Aufgaben mit Zeichenoptionen erfüllen müssen, um heterogenitätsbewusstes Lernen zu ermöglichen.

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Zeichnen in heterogenen Lerngruppen

Zeichnen ist eine kindliche Handlungspraxis, die den meisten Schüler*innen in der Grundschule bereits vertraut ist. Im Vergleich zum Umgang mit Schrift und Zahlen ermöglicht es häufig eine niederschwelligere Auseinandersetzung mit Inhalten. Schüler*innen müssen kein arbiträres Zeichensystem anwenden (Rau 2016: 4), sondern knüpfen im besten Fall an lustvolle Zeichenerfahrungen (Kirchner 2010: 49 f.) und bereits erlernte Darstellungsschemata (Glas 1999) an. Zeichnen beeinflusst affektive Prozesse beim Lernen positiv, verstärkt das Interesse am und die Einlassung auf den Inhalt (van Meter & Garner 2005). Van Meter und Garner kritisieren, dass nur wenige dieser Potenziale empirisch untersucht sind und „pracitioner claims“ und empirische Erkenntnisse häufig nicht eindeutig voneinander getrennt werden (ebd.). Die neu entwickelte Typologie des epistemi-

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Heiner Oberhauser | Pädagogische Hochschule Freiburg | [email protected] Gudrun Schönknecht | Pädagogische Hochschule Freiburg | [email protected]

© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 N. Skorsetz et al. (Hrsg.), Diversität und soziale Ungleichheit, Jahrbuch Grundschulforschung 24, https://doi.org/10.1007/978-3-658-27529-7_41

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Heiner Oberhauser und Gudrun Schönknecht

schen Zeichnens (Oberhauser & Schönknecht 2018, 2019) ermöglicht eine systematische empirische Analyse von Zeichenaufgaben, da sie spezifische Formen und Funktionen unterscheidet. Potenziale dieser Aufgaben für heterogene Lerngruppen können somit differenziert betrachten werden.

2 Ziel der Studie Auf Grundlage der o.g. Typologie wurden Zeichenaufgaben in aktuellen Sachunterrichtslehrwerken untersucht. In diesem Beitrag analysieren wir eine spezifische Form von Zeichenaufgaben, „Aufgaben mit Zeichenoptionen“ und ihr Potenzial für das Lernen in heterogenen Lerngruppen. Mit den Ergebnissen der quantitativen und qualitativen inhaltsanalytischen Auswertung (Kuckartz 2016) stellen wir dar, welche Voraussetzungen Aufgaben erfüllen müssen, um diese Potenziale einzulösen. Lehrwerke eignen sich als Indikator für die fachdidaktische Schulpraxis, da sie zentrale Medien des Unterrichts sind (Hiller 2012) und durch ihre bildungspolitische Eingebundenheit mit den dazugehörigen Zulassungsverfahren (ebd.) und ihrer Funktion als Lernmaterial für Schüler*innen und Lehrer*innen (Schmit 2014) in gewissem Maße die fachdidaktische Praxis im Unterrichtsfach widerspiegeln. Den Korpus dieser horizontalen, didaktischen Lehrwerkanalyse bilden nach aktuellen Bildungsplänen zugelassene Schulbücher und Arbeitshefte (Berlin/Brandenburg/Baden-Württemberg, Jgst. 3 und 4, n = 19).2 Es wurden alle Aufgabenstellungen berücksichtigt, bei denen zur erfolgreichen Bearbeitung der Aufgabe gezeichnet werden kann (Aufgaben n = 370).3

3 Aufgaben mit Zeichenoption: Lehrwerkanalyse Lehrwerke enthalten unterschiedliche Aufgaben mit der Option zu zeichnen. Grundlegend für diese Art von Aufgaben ist, dass Schüler*innen selbst (mit-) entscheiden können, in welchem Modus sie die Aufgabe bearbeiten. In deutschen Schulen dominieren schrift-literale und mathematische Kompetenzen, was als eine der Ursachen für die problematische Selektion unseres Schulwesens gesehen wird (Lieber 2013). Die Förderung von bildlich-literalen Kompetenzen könnte

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Damit folgen wir Bieners Vorschlägen für die sinnvolle Bildung eines aussagekräftigen Korpus bei didaktischen Lehrwerkanalysen (Biener 2014).

3

Zeichnen definieren wir als grafisches Verfahren zum depiktiven Darstellen von Inhalten, auch wenn zusätzlich deskriptive Elemente wie Schrift oder Zahlen enthalten sind oder in der Aufgabenstellung „malen“ als Operator verwendet wird.

Potenziale des Zeichnens für heterogene Lerngruppen

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ausgleichend wirken (ebd.) und somit Potenziale für sprachlich und sozial heterogene Lerngruppen mit sich bringen. Die Annahme, dass insbesondere schwache Leser*innen und Schreiber*innen vom Zeichnen profitieren, ist bislang nur unzureichend empirisch untersucht (van Meter & Garner 2005). Bekannt ist hingegen, dass Zeichnen im Vergleich zum Sprechen und Schreiben einen anderen Modus der Sinnerzeugung aufruft (Heßler & Mersch 2009). Der Bearbeitungsmodus hat Auswirkungen auf die kognitiven Prozesse bei der Bearbeitung. Zeichnen als analogiebasierte, symbolische Darstellungsweise ist meist mit einer konkreteren Vorstellungsbildung und Darstellung verknüpft. Hinsichtlich ihrer räumlich-visuellen und sprachlichen Verarbeitung heterogene Schüler*innen mit unterschiedlichen Präferenzen müssten daher davon profitieren, zwischen unterschiedlichen Modi der Aufgabenbearbeitung wählen zu können. Voraussetzung dafür ist, dass die Bearbeitungsoptionen eine vergleichbare inhaltliche Auseinandersetzung bei ähnlichem Arbeitsaufwand ermöglichen. In der Lehrwerkanalyse ist bei 22 von 370 Aufgaben eine explizite Zeichenoption gegeben. Elfmal steht Zeichnen optional zu einer schriftlichen und elfmal zu einem anderen Auseinandersetzungsmodus wie Sprechen, plastischem Gestalten oder Fotografieren. Qualitativ ist entscheidend, ob die unterschiedlichen Bearbeitungsmodi als gleichberechtigte Alternativen gelten können. Die folgenden Beispiele zeigen, welche differierenden Lernprozesse die unterschiedlichen Modi auslösen und inwiefern diese in Bezug zur Aufgabenstellung sinnvoll sind. „Wann hast du dich schon einmal fremd gefühlt? Male oder schreibe es auf ein Blatt. Heftet alle Blätter eurer Klasse in einen Hefter.“ Aufgabe 1 mit Zeichenoption. (Kolb et al. 2018: 51)

In Aufgabe 1 sind die Bearbeitungsoptionen gleichberechtigte Alternativen. Eine zeichnerische Auseinandersetzung wird dazu führen, dass eine konkrete Situation (bildlich) erinnert und dargestellt wird, z.B. der erste Schultag. Aufgeschrieben werden kann hingegen auch Prototypisches, Verallgemeinerndes, z. B. „Wenn ich mit Erwachsenen am Tisch sitze, die ich nicht kenne.“. Die alternativen Bearbeitungsweisen sind hier in Bezug auf die Aufgabenstellung sinnvoll und ermöglichen eine vergleichbare Bearbeitungstiefe bei ähnlichem Aufwand. „Wofür braucht ihr zu Hause Wasser? Male dazu ein Bild oder stelle ein Cluster her.“ Aufgabe 2 mit Zeichenoption. (Bunk & Bartnitzky 2009: 60) „Welche Rechte haben Eltern? Welche Rechte haben Kinder? Male oder schreibe.“ Aufgabe 3 mit Zeichenoption. (Bamberg et al. 2017: 45)

Aufgabe 2 und 3 zeigen, wann Bearbeitungsoptionen als ungleiche Alternativen nebeneinander stehen. In der zweiten Aufgabe kann statt einer zeichnerischen Bearbeitung ein Cluster erstellt werden. Bei dieser Aufgabe geht die Entscheidung

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Heiner Oberhauser und Gudrun Schönknecht

für eine der beiden Optionen mit einer unterschiedlichen Ausrichtung der Aufgabe einher und damit ändert sich, was die Schüler*innen bei ihrer Bearbeitung erlernen können. Die Anfertigung eines abstrakt sprachlichen Clusters ist darauf ausgelegt den Inhalt möglichst breit zu erfassen und zu strukturieren – im besten Fall werden Kategorien für die einzelnen Aspekte gebildet. Bei einer zeichnerischen Bearbeitung steht im Kontrast dazu im Vordergrund, dass die Schüler*innen sich einzelne Situationen, in denen sie zu Hause Wasser brauchen, ins Bewusstsein rufen – sehr wahrscheinlich wird dabei eine persönliche Ebene angesprochen. Beide Bearbeitungen können im Unterrichtskontext sinnvoll sein, aber als unterschiedliche Aufgaben mit unterschiedlichen Funktionen. Die dritte Aufgabe hat einen abstrakten Inhalt. Hier ist die Zeichenoption im Vergleich zum Schreiben weniger gut geeignet für eine zielführende Bearbeitung. Wählen Schüler*innen diese, könnten sie eine konkrete Situation zeichnen – dies erfüllt aber nicht das Ziel der Aufgabe. Legen sie eine zeichnerische Sammlung verschiedener Rechte an, ist dies eine erhebliche Zusatzanforderung, da abstrakte Rechte in konkrete ikonische Zeichen übersetzen werden müssen.

4 Relevanz der Ergebnisse Aufgaben mit Zeichenoption ermöglichen Schüler*innen in heterogenen Lerngruppen über den Modus der Aufgabenbearbeitung entsprechend ihrer Stärken und Vorlieben (mit-) zu entscheiden. Die quantitative Analyse zeigt, dass diese Form der Aufgabenstellung im Sachunterricht relevant ist. Die qualitative Analyse macht deutlich, dass die gegebenen Optionen nicht immer qualitativ gleichwertige Alternativen sind. Sofern die Optionen für die Aufgabenbearbeitung geeignet sind, ist dies kein grundsätzliches Qualitätsproblem von Aufgaben. Wie an Aufgabe 2 gezeigt, können Bearbeitungsoptionen mit unterschiedlicher Ausrichtung in unterschiedlichen Unterrichtskontexten sinnvoll eingesetzt werden. Sollen aber heterogene Schüler*innen die Möglichkeit haben einen Bearbeitungsmodus selbst zu wählen, sind gleichberechtigte Alternativen wichtig. Zeichenoptionen, die im Vergleich zu sprachlicher Bearbeitung nur eine oberflächliche Auseinandersetzung ermöglichen, können zu einer Marginalisierung des Zeichnens und zu einer Benachteiligung von Schüler*innen führen, die sich aufgrund ihrer Stärken und Vorlieben für die Zeichenoption entscheiden. Aufgaben in Lehrwerken erfordern daher von Lehrkräften eine differenzierte Analyse, welche Lernwege mit unterschiedlichen Bearbeitungsoptionen einhergehen. Insbesondere die Einschätzung der zeichnerischen Auseinandersetzungsweisen ist wegen ihrer Vielfalt und Komplexität sehr anspruchsvoll. Daher hat die systematische Betrachtung des Zeichnens, die Entwicklung einer Didaktik des Sachzeichnens große Bedeutung für Unterrichtsqualität und Lehrerbildung

Potenziale des Zeichnens für heterogene Lerngruppen

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(Oberhauser & Schönknecht 2019). Lehrkräfte, die kompetent mit dieser Art von Aufgaben umgehen, können auch andere Aufgaben um Zeichenoptionen erweitern und damit heterogenitätsbewusst differenzierende Lehr-Lern-Prozesse ermöglichen und gestalten.

Literatur Bamberg, N; Glowczewski, R.; Melster, M.; Mohrenweiser, A.; Tschirch, H. & Wichniarz, P. (2017): Zebra 3/4 – Sachbuch. Stuttgart, Leipzig: Ernst Klett Verlag (Berlin, Brandenburg). Biener, H. (2014): Lernprozesse bei der Bildung einer Grundgesamtheit für Schulbuchanalysen. In: Knecht, P.; Matthes, E.; Schütze, S. & Aamotsbakken, B. (Hrsg.): Methodologie und Methoden der Schulbuch- und Lehrmittelforschung. Bad Heilbrunn: Klinkhardt, 63–73. Bunk, H.-D. & Bartnitzky, H. (Hrsg.) (2009): Kunterbunt 3 – Sachheft. Stuttgart: Klett (Berlin/Brandenburg/Bremen/Hamburg/Hessen/Niedersachsen). Glas, A. (1999): Die Bedeutung der Darstellungsformel in der Zeichnung am Beginn des Jugendalters. Frankfurt am Main: Lang. Heßler, M. & Mersch, D. (2009): Bildlogik oder Was heißt visuelles Denken? In: Heßler, M. & Mersch, D. (Hrsg.): Logik des Bildlichen. Zur Kritik der ikonischen Vernunft. Bielefeld: Transcript (Metabasis, 2), 8–62. Hiller, Andreas (2012): Das Schulbuch zwischen Internet und Bildungspolitik. Marburg: Tectum. Kirchner, C. (2010): Basiskompetenzen in der Grundschule. Zwischen Subjekt- und Sachorientierung. In: Penzel, J. & Meinel, F (Hrsg.): Gestalten und Bilden. Methodendiskurs als Impuls für den Unterricht. München: KoPaed, 37–52. Kolb, F.; Kramer, K.; Osiander-Hein, D. & Pauli, L. (2018): Jo-Jo Sachunterricht 4 – Arbeitsheft. Berlin: Cornelsen (Baden-Württemberg). Kuckartz, U. (2016): Qualitative Inhaltsanalyse. Methoden, Praxis, Computerunterstützung. Weinheim, Basel: Beltz Juventa. Lieber, G. (2013): Lehren und Lernen mit Bildern. In: Lieber, G. (Hrsg.): Lehren und Lernen mit Bildern. Ein Handbuch zur Bilddidaktik. Baltmannsweiler: Schneider, 4–9. van Meter, P. & Garner, J. (2005): The Promise and Practice of Learner-Generated Drawing. Literature Review and Synthesis. In: Educ Psychol Rev, 17 (4), 285–325. Oberhauser, H. & Schönknecht, G. (2018): Zeichnend lernen. Zeichnen als Methode im Sachunterricht. In: Grundschulunterricht (4), 8–11. Oberhauser, H. & Schönknecht, G. (2019): Zeichnend lernen: eine Taxonomie epistemischen Zeichnens. In: Knörzer, M.; Förster, L.; Franz, U. & Hartinger, A. (Hrsg.): Forschendes Lernen im Sachunterricht. Bad Heilbrunn: Klinkhardt, 145–152. Rau, M. A. (2016): Conditions for the Effectiveness of Multiple Visual Representations in Enhancing STEM Learning. In: Educ Psychol Rev. DOI: 10.1007/s10648-016-9365-3. Schmit, S. (2014): Heuristischer Entwurf eines basalen Untersuchungsdesigns für die Analyse von Schulbüchern und Anwendungen bei der Untersuchung der Eignung von Physikschulbüchern als Lernmaterialien. In: Knecht, P.; Matthes, E.; Schütze, S. & Aamotsbakken, B. (Hrsg.): Methodologie und Methoden der Schulbuch- und Lehrmittelforschung. Bad Heilbrunn: Klinkhardt, 50–62.

Diversität im Mathematikunterricht der Grundschule – Einblick in eine empirische Studie zu Gelingensbedingungen aus Sicht von Expert*innen Timo Dexel1

Keywords: Diversität, Inklusion, Mathematikunterricht, Grounded Theory

Abstract Im Beitrag wird ein Promotionsvorhaben zum Thema ‚Diversität im Mathematikunterricht der Grundschule‘ vorgestellt. Hierfür werden diesbezügliche theoretische Grundannahmen, Forschungsstand und das methodische Vorgehen erörtert sowie ein Einblick in erste Ergebnisse gegeben.

1

Problemlage, Forschungsstand und Zielstellung

Der Mathematikunterricht ist durch verschiedene Zielfestlegungen auf unterschiedlichen Ebenen gekennzeichnet. Diese sind z. B. bildungstheoretischer Natur; Mathematikunterricht soll einen Beitrag zur Umwelterschließung der Schüler*innen leisten; mathematische Sachverhalte sollen als eigene Welt kennen gelernt sowie Problemlösefähigkeiten entwickelt werden (Winter 1995). Es gelten die Bildungsstandards, sodass von bildungspolitischen Zielen die Rede sein kann. Nicht immer werden diese Ziele für alle Schüler*innen realisiert. Ungleichheiten zeigen sich dann, wenn der sozioökonomische Status einen hohen Einfluss auf die Mathematikleistung hat (Selter et al. 2016), oder wenn Mädchen in Programmen zur Förderung mathematischer Begabung unterrepräsentiert sind (Benölken 2011). Inklusion als Strategie zur Realisierung von Menschenrechten (Gummich 1

Timo Dexel | WWU Münster | [email protected]

© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 N. Skorsetz et al. (Hrsg.), Diversität und soziale Ungleichheit, Jahrbuch Grundschulforschung 24, https://doi.org/10.1007/978-3-658-27529-7_42

Diversität im Mathematikunterricht der Grundschule – Einblick in eine empirische Studie

261

& Hinz 2017) erinnert die Mathematikdidaktik daran, Ungleichheiten im Mathematikunterricht zu erforschen und die eigene Rolle in diesem Zusammenhang zu reflektieren. Das diesem Beitrag zu Grunde liegende Inklusionsverständnis lässt sich mit Ainscow (2007) kennzeichnen: Inklusion… ƒ

ist eine Reform, die Diversität aller Lernenden unterstützt und willkommen heißt,

ƒ

hat das Ziel, soziale Exklusion zu verhindern,

ƒ

sieht von Erklärungen ab, die Bildungsversagen anhand der individuellen Charakteristik von Kindern und ihren Familien begründen und nimmt stattdessen die Barrieren an Partizipation und Bildung in den Blick,

ƒ

betrachtet Schüler*innen, die Schwierigkeiten haben, als versteckte Stimmen, die Schulentwicklung ermöglichen.

Inklusiver Mathematikunterricht ist damit an Diversität orientiert. Der Forschungsstand hinsichtlich inklusiver mathematischer Bildung ist durch konkrete Unterrichtserprobungen zum Einsatz offener Aufgaben (z. B. Benölken, Berlinger & Veber 2018), erste fachdidaktische Überlegungen zu Kooperation, Reflexionen zu einer inklusiven Diagnostik und durch Vorschläge für die Lehrer*innenbildung gekennzeichnet (vgl. den Überblick in Dexel, Bertels & Käpnick 2018). U. a. Käpnick (2016b) und Werner (2019) haben jeweils den Versuch unternommen, konzeptionelle Ansätze inklusiver Mathematikdidaktik vorzulegen. Käpnick (2016b) nimmt eine mathematikdidaktische, praxisbezogene Perspektive auf Diversität im Mathematikunterricht ein, während Werner (2019) insbesondere theoretisch sonderpädagogische und fachdidaktische Zugänge verknüpft. Jeoch sind die Ansätze nicht empirisch begründet und v.a. aus Perspektive der Forschung und Lehrkräfte gedacht. Bezüglich der Wünsche bzw. Bedarfe von Kindern und Eltern liegen keine wissenschaftlichen Erkenntnisse vor. Es fehlt somit bisher ein theoretisch wie empirisch abgesichertes Gesamtkonzept, das Aspekte wie Kooperation, Diagnostik und didaktisch-methodische Grundorientierungen aus verschiedenen Perspektiven einschließt. Aus der skizzierten Problemlage ergibt sich das folgende Hauptziel des Promotionsvorhabens: Die empirisch begründete Kennzeichnung der wesentlichen Gelingensbedingungen für die Gestaltung und Durchführung diversitätsorientiertem Mathematikunterricht aus ganzheitlicher Perspektive. Unter Gelingensbedingungen verstehe ich diejenigen Strukturen und Prozesse, die Barrieren zu Bildung und Partizipation im Mathematikunterricht abbauen, um Bildungsziele des Mathematikunterrichts für alle zu ermöglichen. Ziel dieses Beitrags ist es, die methodische Anlage des Promotionsvorhabens darzustellen und einen empirischen Einblick zu geben.

262

Timo Dexel

2 Untersuchungsdesign Dem Promotionsvorhaben liegt ein exploratives Design zugrunde, dessen methodologische Leitidee die Grounded Theory ist (Strauss & Corbin 1996). In einem zirkulären Forschungsprozess werden eine interdisziplinäre Literaturanalyse sowie Interviews mit Expert*innen durchgeführt. Als Expert*innen sollen nicht nur Wissenschaftler*nnen gelten, sondern gemäß dem Inklusionsverständnis auch Schüler*innen, Lehrer*innen und Eltern, die Erfahrung mit inklusivem Mathematikunterricht aufweisen. Im Sinne eines theoretischen Samplings werden kontrastierend und den Forschungsprozess begleitend Fälle ausgewählt. So arbeiteten die sechs interviewten Lehrkräfte an inklusiven Grundschulen, jedoch mit unterschiedlichen Konzepten (z. B. reformpädagogisch vs. traditionell), Professionen (Grundschullehramt vs. sonderpädagogisches Lehramt) und Modi der Beschäftigung. Analog wurden sieben Kinder, drei Wissenschaftler*innen und vier Elternteile interviewt. Die Einstiegsfrage ist bei den Erwachsenen identisch: „Worauf kommt es Ihnen im Mathematikunterricht vor allem an?“ Die Schüler*innen werden nach Vorstellungen zu einer Schule für alle Kinder befragt.

3 Empirischer Einblick Im Folgenden werde ich mich auf eine aus dem empirischen Material abgeleitete Gelingensbedingung fokussieren2. Der Grundschüler Paul reflektiert über die Tatsache, dass Schüler*innen unterschiedliche Sprachen sprechen. Zunächst ist er der Meinung, dass dies ein Problem sein könnte, doch im Laufe des Interviews fällt ihm eine Lösung ein: „ist ja eh (l) [fährt von oben ersten zwei Kästchen nach unten ab und dann eins nach rechts] 228 Isabella > nein\ nein nein nein 229 Henriette doch\ el el [fährt die Form des Buchstaben L an beiden Seiten des auf dem Tisch liegenden Pentominos nach] el el [fährt die Form der Buchstaben L dann auf dem Blatt am Pentomino nach]

216 217 218 219

Partizipation an kollektiven Lernsituationen in jahrgangsgemischtem Unterricht

269

Nachdem Isabella ein weiteres Pentomino legt, stellt sie erneut die Frage, ob dies ein neues Pentomino ist [216]. Henriette übernimmt nun die Art der Überprüfung – den Abgleich mit den bereits gemalten Pentominos auf dem Blatt – von Isabella [184] und überträgt diese auf die neue Situation [217]. Da Isabella in [218] Henriettes Deutung klar widerspricht, ist sie auch die Initiatorin für den nun folgenden tieferen Aushandlungsprozess. Henriette führt daraufhin die Überprüfung (Stützung) aus, dass diese zwei Pentominos formgleich sind, weil sie durch Drehung aufeinander abgebildet werden können [219]. Dieser Schritt scheint von Isabella akzeptiert zu werden, da diese mit der Findung eines weiteren Pentominos beginnt [220]. Henriette evaluiert daraufhin auf die oben kollektiv ausgehandelte Vorgehensweise, Isabellas neue Idee, indem sie anzeigt, dass dieses Pentomino bereits auf dem Blatt gefunden werden kann [223]. Da Isabella Henriettes Schluss nicht akzeptiert [226, 228], wechselt Henriette erneut ihre Begründung, indem sie nicht nur auf das entsprechende Pentomino verweist oder die Drehung im Raum anzeigt, sondern nun die Form des Pentominos analysiert, wie sie es auch bereits bei einem anderen Pentomino zuvor gemacht hatte [227, 229].

4 Optimierte Lernermöglichungsbedingungen In dieser Partnerarbeit lässt sich rekonstruieren, dass Henriette in Bezug auf raumgeometrische Fähigkeiten die in der Interaktion fortgeschrittenere Schülerin ist. Dennoch hat Isabella die Gelegenheit, ihre vielfältigen Ideen in die Interaktion einzubringen. Für Isabella besteht die Möglichkeit von Henriette als Expertin zu lernen, indem sie durch den Abgleich mit Henriettes Deutungen in den Aushandlungsprozessen routinisierte Deutungsweisen entwickeln kann (Rahmungskonstruktion). Henriette wiederum, als in der Interaktion fortgeschrittene Lernende, wird durch Isabellas Fragen und explizit thematisierte Strittigkeiten bezüglich der Neuheit von Pentominos in einen positiven Lernzwang versetzt. Henriette beginnt, ihre Wege zur Überprüfung der Formgleichheit von Pentominos (Abgleich mit den Pentominos auf dem Blatt, Drehung des Blattes, Analyse der Form der Pentominos) mehrfach zu wechseln, um Isabella ihre eigenen stimmigen Schlüsse zu erklären. Dabei erweitert und verändert Henriette hier möglicherweise ihre Rahmungen in Bezug auf die etablierte Begründungs- und Erklärungsweise (Rahmungsmodulation), und so hat gerade auch sie als in der Interaktion Fortgeschrittene optimierte Möglichkeiten für Mathematiklernen. Insgesamt können also für beide Mädchen in dieser Interaktion Lernermöglichungsbedingungen nachgezeichnet werden.

270

Rachel-Ann Friesen

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8 Professionalisierung für inklusive Settings

Patenschaftsprojekte als Beitrag zu einer inklusiven Lehrer*innenbildung Christina Heise1

Keywords: Patenschaftsprojekte, Inklusion, Reflexion, Habitus

Abstract In der Kasseler Lehrer*innenbildung werden im Rahmen zweier Patenschaftsprojekte Theorie und Praxis eng verknüpft. Über einen kasuistischen Zugang werden die Studierenden zu verschiedenen Reflexionsformen angeregt und sollen Habitussensibilität entwickeln. Ziel ist es die Studierenden auf eine inklusive Schule vorzubereiten. Dabei orientieren sich die Projekte an einem „weiten Inklusionsbegriff“. Im Rahmen der Qualitätsoffensive Lehrerbildung werden die Projekte aktuell evaluiert.

1

Ausgangssituation

Die im Rahmen der Tagung in den Fokus gerückten Aspekte der Sozialen Ungleichheit und die Diversität heutiger Kindheiten werden im Rahmen der Patenschaftsprojekte „Projekt K“ und „Kultur Kids Nordstadt“ (KKN) (Garlichs 2000, Heinzel et al. 2007) in der Kasseler Lehrer*innenbildung von den Studierenden praxisnah erlebt und theoretisch bearbeitet. Im Zuge der zweisemestrigen Patenschaftsprojekte übernehmen die Studierenden eine zehnmonatige Patenschaft für ein Grundschulkind, treffen dieses wöchentlich und erschließen sich die kindliche Lebenswelt über einen ethnographischen Zugang. Durch die Universität werden

1

Christina Heise | Universität Kassel | [email protected]

© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 N. Skorsetz et al. (Hrsg.), Diversität und soziale Ungleichheit, Jahrbuch Grundschulforschung 24, https://doi.org/10.1007/978-3-658-27529-7_44

Patenschaftsprojekte als Beitrag zu einer inklusiven Lehrer*innenbildung

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die Studierenden durch ein wissenschaftliches Seminar und eine Supervision begleitet. Zum Projektabschluss verfassen sie einen Fallbericht (Heinzel 2007, Fatke 2013, Alexi, Heinzel & Marini 2014). Die Projekte orientieren sich an einem „weiten“ Inklusionsverständnis (Löser J. & Werning, R. 2015). Professionalisierungstheoretisch werden der strukturtheoretische und der biographische Ansatz zu Grunde gelegt. (Helsper 2002, 2004, 2011; Combe & Kolb 2008; Kunze & Stelmaszyk 2008; Herzog 2011; Terhardt 2013) Im Zuge der Patenschaftsprojekte kommt es zur Konfrontation der studentischen Lern- und Lebensgeschichte mit der des Patenkindes und in diesem Zusammenhang ist Habitussensibilität erforderlich (Lange-Vester & Teiwes-Kügler 2014). Bourdieu (1987) versteht den Habitus als ein Gemenge an Einstellungen, Verhaltens- und Ausdrucksformen, der zu einer Art Leitungsprinzip des Akteurs und seiner Praxis wird. Der Habitus ist als handlungsleitendes Prinzip zu begreifen. In den hier nur angerissenen theoretischen Ansätzen ist Reflexion ein zentrales Moment und hat einen hohen Stellenwert in der erziehungswissenschaftlichen Auseinandersetzung um Professionalität. Die Patenschaftsprojekte bieten eine Lernumgebung, die den Studierenden „Veranlassungen“ zu Reflexionen geben (Häcker 2017). Durch die Kombination von Selbstreflexion, strukturbezogener und forschungsorientierter Reflexion soll die Entwicklung einer inklusiven Haltung und eine Habitussensibilisierung (Lange-Vester & Teiwes-Kügler 2014) angeregt werden. Die gegenwärtige Konzeption der Patenschaftsprojekte entstand unter dem Dach von PRONET, dem Konzept der Universität Kassel im Rahmen der Qualitätsoffensive Lehrerbildung. In diesem Kontext verortet sich auch die aktuelle Evaluation2.

2 Forschungsstand und Evaluation Es liegen bislang nur wenige Forschungsergebnisse vor, die sich auf Untersuchungen zur hochschuldidaktisch initiierten Übernahme von Patenschaften durch Lehramtsstudierende beziehen (Müller-Kohlenberg 2014, Pietsch 2010, Kottmann 2014, de Boer 2018). Diese weisen unter anderem nach, dass Patenschaftsprojekte geeignet sind, um Einblicke in fremde Kinderwelten zu erhalten (Maas 2007), Heterogenität anzuerkennen und zu reflektieren (Alexi, Romba & Heinzel 2016), heterogene Lebenssituationen anzuerkennen und Stereotype zu reflektieren (Wenzler-Cremer 2016).

2

Das diesem Beitrag zugrundeliegende Vorhaben wurde im Rahmen der gemeinsamen „Qualitätsoffensive Lehrerbildung“ von Bund und Ländern mit Mitteln des Bundesministeriums für Bildung und Forschung unter dem Förderkennzeichen 01JA1505 gefördert. Die Verantwortung für den Inhalt dieser Veröffentlichung liegt bei der Autorin.

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Christina Heise

Die Evaluation der Kasseler Patenschaftsprojekte in der Lehrerbildung richtet sich u. a. auf die Frage, welche Formen von Reflexionen angeregt werden. Damit verknüpft wird nach den (habituellen) Orientierungen der Studierenden hinsichtlich Exklusion und Inklusion und deren Entwicklung während der Teilnahme am Projekt gefragt. Hierzu werden die entstehenden Fallberichte qualitativ mittels MAXQDA mit der Qualitativen Inhaltsanalyse ausgewertet (Mayring 2010). Zusätzlich werden Audiostatements der Studierenden sequenz-analytisch ausgewertet mittels Habitusrekonstruktion (Kramer 2017).

3 Einblick in die Evaluationsergebnisse Die Auswertung der Fallberichte und der Audiostatements zeigt Prozesse der Reflexion, der Auseinandersetzung mit Normen und das Ringen um inklusive Haltungen, wobei die Studierenden sowohl mit feldinhärenten als auch mit individuellen Widersprüchen im Spannungsfeld von Inklusion und Exklusion konfrontiert werden und diese aktiv bearbeiten. In den Fallberichten dokumentieren sich verschiedene Reflexionsformen, wie Selbst-, Struktur-, und Theoriereflexion, deren Verbindung Häcker (2017) als notwendig beschreibt für pädagogisches Handeln im Kontext von Inklusion und Exklusion. Der Fallbericht einer Studentin verdeutlicht die Sinnhaftigkeit der Zusammenführung von Fallbericht und Audiostatement. Die Studentin kontrastiert ihre Lebenswelt mit der des betreuten Kindes und reflektiert die eigene standortgebundene Perspektive. Dabei erkennt sie Normalität als Konstrukt: „Ich hatte und habe das Gefühl, dass mir dieses parallele Erleben von zwei Lebenswelten – wenngleich auch nicht in demselben oder auch nur einem vergleichbaren Umfang – mir meine Normalität als Konstrukt zugänglich bzw. bewusst gemacht hat“. Die Analyse des zugehörigen Audiostatement verdeutlicht das Ringen um eine inklusive Haltung, die aber nicht verinnerlicht, sondern noch am Felddiskurs, dem inklusiven Seminardiskurs, orientiert ist und sich an diesen anschmiegt. Während der Fallbericht auf eine reflektierte Auseinandersetzung mit Normalität verweist, macht die Interpretation des Statements deutlich, dass die Studierende stark am Seminardiskurs orientiert ist.

4 Fazit Die Ergebnisse der bisherigen Evaluation zeigen, dass durch die Teilnahme an den Patenschaftsprojekten bei den Studierenden verschiedene Formen von Reflexion angeregt werden können oft. Dabei wurde festgestellt, dass die Spezifik des

Patenschaftsprojekte als Beitrag zu einer inklusiven Lehrer*innenbildung

275

Patenschaftsprojekte zunächst exkludierend angelegt ist und die Studierenden oftmals mit defizitsuchenden Erwartung und Vorstellungen von Normalität in die Projekte einsteigen. Diese Erwartungen und die damit verbundenen Wertvorstellungen und Deutungspraktiken werden dann aber im Zuge der Patenschaften von den Studierenden reflektiert und relativiert. Mit der Einsicht in die soziale Konstruktion von Normalität geht oftmals einher, dass sie sich für eine inklusive Haltung öffnen. Es bleibt jedoch ungeklärt, in wie weit die Einnahme einer inklusiven Perspektive eher das Resultat eines „Anschmiegens“ an den Felddiskurs ist oder zu einer langfristig angelegten, verinnerlichten neuen Handlungspraxis führt. Insgesamt gibt es aber zahlreiche Hinweise darauf, dass bei den Studierenden durch die rückblickende Betrachtung der eigenen Biographie und Entwicklung, unter Bezugnahme auf selbst produziertes Materials Lernprozesse in Gang gebracht werden können. Durch die Kombination von Selbstreflexion und Analyse gesellschaftlicher und schulischer Strukturen sowie durch die Auseinandersetzung mit wissenschaftlichen Inhalten wird eine Sensibilisierung für exkludierende Prozesse, die Auseinandersetzung mit eigene Deutungs- und Handlungsmuster und die Einnahme einer inklusiven Haltungen möglich.

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Christina Heise

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Belastende Fälle in inklusiven Settings – erste Ergebnisse aus dem Kooperationsprojekt BISU Sabine Martschinke, Christian Elting, Miriam Grüning, Bärbel Kopp, Cornelia Niessen und Carina Schröder1

Keywords: Lehrergesundheit, Ressourcen, Belastungen, inklusive Settings

Abstract Im Beitrag werden erste Ergebnisse einer Teilstudie des interdisziplinären Kooperationsprojekts BISU2 berichtet: Die Interviews mit Grundschullehrkräften (N = 55) geben Aufschluss darüber, welche Fälle Lehrkräfte in inklusiven Settings als besonders belastend wahrnehmen. In einem Mixed-Methods-Design werden sowohl Merkmale dieser „besonderen Kinder“ identifiziert als auch Typen gebildet. Erste Hinweise auf Zusammenhänge zwischen Belastungsintensität der Fälle und Wohlbefinden der Lehrkräfte sind erkennbar. Die Erkenntnisse fließen in das Fortbildungskonzept LehrKRÄFTE3 ein, das der fallbasierten Förderung personaler, emotional-energetischer und sozialer Ressourcen für den produktiven Umgang mit Diversität und einhergehenden Belastungen in inklusiven Settings dient. 1

Sabine Martschinke | FAU Erlangen-Nürnberg | [email protected] Christian Elting | FAU Erlangen-Nürnberg | [email protected] Miriam Grüning | FAU Erlangen-Nürnberg | [email protected] Bärbel Kopp | FAU Erlangen-Nürnberg | [email protected] Cornelia Niessen | FAU Erlangen-Nürnberg | [email protected] Carina Schröder | FAU Erlangen-Nürnberg | [email protected]

2

BISU: Belastungen in einer inklusiven Schule und im gemeinsamen Unterricht begegnen; Kooperationsprojekt des Instituts für Grundschulforschung und des Lehrstuhls für Psychologie im Arbeitsleben der FAU, gefördert durch den Innovationsfonds Lehrerinnen- und Lehrerbildung der FAU

3

Lehr

KRÄFTE schonen und sinnvoll einsetzen – ressourcenorientiertes Empowerment für den Umgang mit Belastungen in inklusiven Settings

© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 N. Skorsetz et al. (Hrsg.), Diversität und soziale Ungleichheit, Jahrbuch Grundschulforschung 24, https://doi.org/10.1007/978-3-658-27529-7_45

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1

Sabine Martschinke, Christian Elting, Miriam Grüning et al.

Problemaufriss und Fragestellungen

Durch vielfältige gesellschaftliche Transformationen (z. B. Fluchtmigration, UNBehindertenrechtskonvention) nimmt die Bandbreite an Heterogenität zu. Grundschullehrkräfte stehen dadurch vor zusätzlichen Herausforderungen. Studien zu Belastungen von Lehrkräften verweisen auf spezielle Belastungen durch heterogene Voraussetzungen und „besondere“ Kinder (z. B. Albisser et al. 2006). Theorieübergreifend werden Ressourcen als zentral für die Wahrnehmung und Bewältigung von Belastungen angesehen (z. B. Bakker & Demerouti 2007; Hobfoll 1989). Dabei können personale, soziale und emotional-energetische Ressourcen unterschieden werden, die als Schutzfaktoren im Umgang mit belastenden Fällen und Situationen (z. B. Döring-Seipel & Dauber 2010) wichtige Hinweise für die Entwicklung von Präventions- und Interventionsstrategien liefern. Es gibt bislang jedoch nur erste Hinweise, welche Situationen oder Fälle in inklusiven Settings als besonders belastend erlebt werden bzw. welche Ressourcen im Umgang mit diesen Belastungen helfen können. Diesen Fragen widmet sich das Kooperationsprojekt BISU, das die wahrgenommenen Belastungen (Situationen und Fälle) und Ressourcen (personale, emotional-energetische, soziale Ressourcen) von Grundschullehrkräften in inklusiven Settings und deren Zusammenspiel in einem Mixed-Methods-Design erfasst. Die Erkenntnisse fließen in die Entwicklung des Fortbildungskonzepts LehrKRÄFTE ein. Der Beitrag widmet sich belastenden Fällen in inklusiven Settings und geht hierzu folgenden ausgewählten Teilfragestellungen nach: (1) Wie sehr und wie häufig werden Lehrkräfte in inklusiven Settings durch „besondere Kinder“ belastet und gibt es hierbei Zusammenhänge mit dem Wohlbefinden der Lehrkräfte? (2) Welche Merkmale zeichnen diese „besonderen Kinder“ aus? (3) Lassen sich anhand dieser Merkmale Typen identifizieren?

2 Datengrundlage und Methode Zur Beantwortung der Fragestellungen wurden telefonische Leitfadeninterviews mit Grundschullehrkräften (N = 55, gegenwärtig ausgewertet: N = 44; Dienstjahre: M = 14.87, SD = 8.12; 94 % weiblich) in inklusiven Settings geführt. Der Leitfaden beinhaltete u. a. eine offene Leitfrage nach besonders belastenden Fällen („Welcher Fall ist besonders belastend für Sie?“) nebst geschlossenen Anschlussfragen nach deren Belastungsintensität (vierstufig: 1 = nicht belastend, 4 = sehr belastend) und Belastungshäufigkeit (vierstufig: 1 = einmal im Monat, 4 =

Belastende Fälle in inklusiven Settings – erste Ergebnisse aus dem Kooperationsprojekt BISU

279

mehrmals täglich). Überdies wurde in einer offenen Leitfrage nach dem Wohlbefinden der Lehrkräfte gefragt. Flankierend wurden in einem Online-Fragebogen (Adaption zu Bosse & Spörer 2014) als personale Ressourcen inklusive Selbstwirksamkeitserwartungen (vierstufig: 1 = lehne voll ab, 4 = stimme voll zu; Skalenumfang: je vier Items) bezüglich der Gestaltung inklusiven Unterrichts (z. B. „Ich weiß, dass ich ein Unterrichtsthema so vielfältig aufbereiten kann, dass sogar Kinder mit sehr hohem Förderbedarf aktiv am Unterricht teilnehmen können.“, α = .78, .39 ≤ r ≤ .71) und des Umgangs mit Unterrichtsstörungen (z. B. „Ich bin in der Lage, störendem Verhalten vorzubeugen.“, α = .78, .55 ≤ r ≤ .67) erfasst. Die Äußerungen unter der Leitfrage nach dem Wohlbefinden der Lehrkräfte wurden inhaltsanalytisch skaliert (Mayring 2015; fünfstufig: 1 = sehr schlecht, 5 = sehr gut). Die Leitfrage nach den Merkmalen der besonders belastenden Fälle wurde in einer fallinternen Auswertungsphase in Anlehnung an das verkürzte Ablaufmodell der zusammenfassenden qualitativen Inhaltsanalyse (ebd.) 4 ausgewertet, um Merkmale der belastenden Fälle zu identifizieren. In einem Mixed-Methods-Ansatz in Anlehnung an Prommer (2018) wurden die identifizierten Fallmerkmale in der fallübergreifenden Auswertungsphase zu Hauptkategorien zusammengefasst, um anschließend clusteranalytisch Typen zu bilden, die anhand quantitativer und qualitativer Daten beschrieben und illustriert werden können.

3 Erste Ergebnisse 3.1

Belastungspotenzial der Fälle und Wohlbefinden der Lehrkräfte

Die Belastungsintensität der Fälle wird mit M = 3.25 (SD = .69) zwischen belastend und sehr belastend eingestuft, die Belastungshäufigkeit mit M = 3.37 (SD = .78) zwischen mehrmals wöchentlich bis mehrmals täglich. Das Wohlbefinden der Lehrkräfte liegt mit M = 3.11 im unbestimmten Bereich des theoretischen Mittelwerts der Skala, streut jedoch beachtlich (SD = 1.34, MIN = 1, MAX = 5). Es finden sich also auch Lehrkräfte, deren Wohlbefinden (sehr) niedrig ausfällt. Belastungsintensität des Falls und Wohlbefinden der Lehrkraft korrelieren signifikant negativ (rs (41) = –.260, p < .05): Lehrkräfte, die eine hohe Belastung durch ihren problematischsten Fall angeben, zeigen ein geringeres Wohlbefinden und umgekehrt. Dieser vermeintlich triviale Befund ist insofern bemerkenswert, als in der Berechnung, abgesehen von der Belastungsintensität des Falls, keine weiteren Belastungsquellen berücksichtigt wurden.

4

Das Vorgehen sieht für große Datenmengen simultane Abstraktions- und Reduktionschritte vor. Es wurde mittels konsensueller Validierung (Gläser-Zikuda 2013) abgesichert.

280 3.2

Sabine Martschinke, Christian Elting, Miriam Grüning et al.

Merkmale der belastenden Fälle

In der inhaltsanalytischen Auswertung konnten fünf wesentliche Hauptkategorien (HK 1-5) identifiziert werden, die die belastenden Fälle (N = 44) beschreiben und systematisieren (siehe Tab. 1). Die meisten Kinder werden von ihren Lehrkräften mit diversen Merkmals-Kombinationen beschrieben und sind dementsprechend mehreren Hauptkategorien zuzuordnen. Jede Hauptkategorie wurde durch induktiv gewonnene Subkategorien angereichert. So beschreibt das am häufigsten genannte Fallmerkmal (HK 1) in gleicher Häufigkeit Kinder mit informell beobachtetem und mit formal attestiertem Förderbedarf in unterschiedlichen Bereichen, aber darüber hinaus auch Probleme bei der Feststellung (z. B. Uneinigkeit mit dem Elternwillen) sowie Probleme im Umgang mit Kindern mit hohem Förderbedarf. Darüber hinaus ergaben sich eine Kategorie mit sonstigen sowie eine mit positiven Fallmerkmalen. Letztere wird nur von jedem dritten Fall besetzt. Hauptkategorien: Fallmerkmale 1 Probleme durch (sonder-)pädagogische Förderbedarfe und ihre Feststellung 2 Problematischer Familienhintergrund 3 Sozial-emotionale Probleme 4 Störendes Unterrichts- und Arbeitsverhalten 5 Leistungsprobleme und Probleme beim Lernen 6 Sonstige problematische Fallmerkmale 7 Positive Fallmerkmale

Tab. 2:

3.3

n 28 26 26 24 21 7 14

% 64 59 59 55 48 16 32

Hauptkategorien: Fallmerkmale

Typenbildung

Hierarchische Clusteranalysen (ward method) auf den zentralen Hauptkategorien (HK 1-5) ergaben eine Zwei-Cluster-Lösung: In Cluster 1 weisen fast alle Kinder (ca. 90 %) einen Förderbedarf (HK 1) auf, in geringerem Umfang werden aber auch alle anderen problematischen Fallmerkmale (HK 2-5) angeführt. Cluster 2 enthält vorwiegend Kinder mit Problemen im sozial-emotionalen Bereich (HK 3) kombiniert mit störendem Unterrichts- und Arbeitsverhalten (HK 4). Die Cluster trennen sich in ebendiesen Hauptkategorien (HK 1, 3, 4) signifikant (3.43 ≤ t(42) ≤ 4.69, p < .01, 1.04 ≤ d ≤ 1.43). Deskriptive Analysen zeigen, dass den Fällen in Cluster 1 tendenziell weniger positive Fallmerkmale zugeschrieben werden, die Fälle als belastender wahrgenommen werden und das Wohlbefinden der Lehrkräfte in diesem Cluster ungünstiger ausfällt als in Cluster 2.

Belastende Fälle in inklusiven Settings – erste Ergebnisse aus dem Kooperationsprojekt BISU

281

4 Diskussion und Ausblick Die Ergebnisse liefern Hinweise auf mögliche Ansatzpunkte für die Fortbildung Lehr KRÄFTE: Die Befunde zu Belastungsintensität, -häufigkeit und Wohlbefinden lassen die Notwendigkeit einer gezielten Fortbildung erkennen. Gleiches gilt für die geringe Anzahl an positiven Fallmerkmalen, die in einer ökosystemischen Sichtweise die Notwendigkeit eines Perspektivenwechsels indiziert. Auch die ungünstigeren Werte des Clusters 1 (Kinder mit Förderbedarf) verweisen darauf, dass mit der Umgestaltung von Schulen hin zu inklusiven Lernorten zusätzliche Herausforderungen einhergehen, die gezielte Fortbildungen erforderlich machen. Erste Analysen der Selbstwirksamkeitserwartung stützen diesen tentativen Befund: Der „neuen“ Aufgabe der Gestaltung inklusiven Unterrichts fühlen sich die Lehrkräfte weniger gewachsen (M = 2.44, SD = .62) als der „altbekannten“ Aufgabe des Umgangs mit Unterrichtsstörungen (M = 2.91, SD = .56). Anhand der gefundenen Hauptkategorien wurden Repräsentanten für das jeweilige Fallmerkmal ausgewählt und zu authentischen Fallskizzen für die Fortbildung LehrKRÄFTE ausgearbeitet, die als Basis zur Stärkung personaler, sozialer und emotional-energetischer Ressourcen für den produktiven Umgang mit Diversität und einhergehenden Belastungen in inklusiven Settings genutzt werden.

Literatur Albisser, S.; Kirchhoff, E.; Meier, A. & Grob, A. (2006): Anforderungsverarbeitung und Gesundheit im Berufszyklus von Lehrpersonen. www.gesunde-schulen.ch/data/data_318.pdf. Bakker, A. B. & Demerouti, E. (2007): The job demandsǦresources model: state of the art. In: Journal of Managerial Psychology, 22 (3), 309–328. Bosse, S. & Spörer, N. (2014): Erfassung der Einstellung und der Selbstwirksamkeit von Lehramtsstudierenden zum inklusiven Unterricht. In: Empirische Sonderpädagogik, 6 (4), 279–299. Döring-Seipel, E. & Dauber, H. (2010): Was hält Lehrer und Lehrerinnen gesund – die Bedeutung von Ressourcen, subjektiver Bewertung und Verarbeitung von Belastung für die Gesundheit von Lehrern und Lehrerinnen. In: Schulpädagogik heute, 1 (2). Gläser-Zikuda, M. (2013): Qualitative Inhaltsanalyse in der Bildungsforschung. In: Aguado, K.; Schramm, K. & Heine, L. (Hrsg.): Introspektive Verfahren und qualitative Inhaltsanalyse in der Fremdsprachenforschung. Frankfurt a. M.: Lang, 136–159. Hobfoll, S. E. (1989): Conservation of resources. A new attempt at conceptualizing stress. In: American Psychologist, 44 (3), 513–524. Mayring, P. (2015): Qualitative Inhaltsanalyse. Grundlagen und Techniken. Weinheim u. a.: Beltz. Prommer, E. (2018): Clusteranalysen und qualitative Interviews: Typenbildung durch „Mixed-Methods“. In: Scheu, A. M. (Hrsg.): Auswertung qualitativer Daten. Wiesbaden: VS Springer, 247– 260.

Sichtweisen auf und Umgang mit Differenz von Grund- und Förderschullehrkräften in inklusiven Settings Katrin Velten, Katharina Schitow und Susanne Miller

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Keywords: Inklusion, professionsübergreifende Kooperation, Normalisierungsprozesse, Differenz

Abstract Im Beitrag werden Ergebnisse einer Interviewstudie mit Grund- und Förderschullehrkräften, die in Teams im Gemeinsamen Lernen unterrichten, danach analysiert, inwiefern sich Prozesse von Normalisierungen über unterschiedlich codierte Differenzmarkierungen zeigen. Hierbei fragen wir sowohl nach teamspezifischen als auch nach professionsbezogenen Differenzkonstruktionen und Normalisierungsprozessen.

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Professionsbezogene und teamspezifische Differenz- und Normalisierungsprozesse

Die Thematisierung und Bearbeitung von Heterogenität und damit einhergehender Differenz- und Normalisierungsprozesse bildet einen Schwerpunkt der aktuellen Grundschulforschung und -pädagogik. Im erziehungswissenschaftlichen Diskurs wird angenommen, dass in Differenzverhältnissen unter Rückgriff auf

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Katrin Velten | Universität Bielefeld | [email protected] Katharina Schitow | Universität Bielefeld | [email protected] Susanne Miller | Universität Bielefeld | [email protected]

© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 N. Skorsetz et al. (Hrsg.), Diversität und soziale Ungleichheit, Jahrbuch Grundschulforschung 24, https://doi.org/10.1007/978-3-658-27529-7_46

Sichtweisen auf und Umgang mit Differenz von Grund- und Förderschullehrkräften

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unterschiedlich codierte Differenzlinien machtvolle Unterscheidungen hervorgebracht und damit soziale Differenzordnungen (re-)produziert werden (West & Fenstermaker 1995). Mit der Herstellung von Differenzordnungen gehen auch Normalisierungsprozesse einher, die durch „alltägliche Verfahren der Codierung, Aktualisierung, Vermittlung und Verfügung“ (Eggers 2011: 71 f.) vollzogen werden. In diesen Normalisierungsprozessen stellt sich ein nahezu unbemerkter gesellschaftlicher „Common Sense“ darüber her, wer oder was als „normal“ imaginiert wird (Steinbach 2016: 282). Welche Differenzmarkierungen auch im Kontext professionsübergreifender Kooperationen in inklusiven Schulsettings hergestellt werden, mit welchen Normalisierungsprozessen diese einhergehen und auf welche schulischen Differenzordnungen sie verweisen, stellt bislang ein Forschungsdesiderat dar. Hinsichtlich der Bearbeitung dieses Desiderats lassen sich u. E. zwei Dimensionen betrachten: die Teamstruktur und die Professionen der beteiligten Lehrkräfte. Im Hinblick auf den Einfluss einer Teamstruktur auf die Konstruktion von Differenz haben Brinkmann-Hein und Reh (2005) in einer Pilotstudie anhand von Interviews herausgearbeitet, dass in der Kooperation von Lehrkräften Differenz auch über die Hierarchisierung von Zuständigkeiten und Kompetenzen zur jeweiligen anderen Kooperationspartner*in hergestellt wird. Über diese Hierarchisierungen werden dann in der Beschreibung von Schüler*innen etikettierende und abwertende Diagnosen konstruiert und nicht durch die multiprofessionelle Perspektive reflektiert und verändert (ebd.: 36). Eine andere in inklusiven Settings relevante Dimension ist, dass Differenzkonstruktionen auch von der professionellen Herkunft der Lehrkräfte und ihrem jeweiligem Aufgaben- und Rollenverständnis abhängen könnten. Hier zeigt sich, dass in professionsübergreifenden Kooperationen durch eine Schwerpunktsetzung der Aufgabenbereiche den Lehrkräften bestimmte Bereiche qua Professionszugehörigkeit zugeschrieben werden oder sie sich selbst zuschreiben, die zu einem unterschiedlichen Aufgaben- und Rollenverständnis führen (Murawski & Dieker 2004).

2 Fragestellung und methodisches Vorgehen Im Zusammenhang mit der oft geforderten professionsübergreifenden Kooperation in inklusiven Settings verfolgen wir mit unserem explorativ angelegten Forschungsprojekt die Frage, in welcher Weise sich unter den Bedingungen der Kooperation von Grund- und Förderschullehrkräften, die gemeinsam als Team im Gemeinsamen Lernen arbeiten, bestimmte Sichtweisen und Deutungsweisen auf das professionelle Handeln zeigen. Ein Schwerpunkt liegt auf der Frage, wie die

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Katrin Velten, Katharina Schitow und Susanne Miller

Thematisierung und Bearbeitung von Differenzverhältnissen erfolgt und wie Differenz- und Normalisierungsprozesse dort konstruiert werden. Das forschungsmethodische Vorgehen basiert auf Leitfadeninterviews mit insgesamt vier Teams von jeweils einer Grundschullehrkraft und einer Lehrkraft für sonderpädagogische Förderung, die in einem dritten Schuljahr arbeiten. Die Interviews wurden im Jahr 2015/16 in einer nordrhein-westfälischen Großstadt an vier sozialräumlich unterschiedlich liegenden Grundschulen jeweils einzeln mit den Teampartner*innen erhoben. Die Auswertung erfolgte in Anlehnung an die qualitative Inhaltsanalyse nach Kuckartz (2014).

3 Differenzverhältnisse aus team- und professionsspezifischer Perspektive Ein zentrales Ergebnis unserer Analyse ist, dass sich in den Einzelinterviews ein teamspezifischer Sprachgebrauch in der Thematisierung von Differenz zeigt. So finden sich unterschiedliche Differenzmarkierungen auf Ebene der Schüler*innen, ohne dass Differenz (-verhältnisse) explizit zum Gegenstand der Interviews gemacht wurden. Die befragte Grundschullehrkraft im Team A stellt z. B. fest, „weil – dadurch, dass natürlich jetzt die, die meisten Kinder vor der Einschulung nicht mehr getestet werden und erst im dritten Schulbesuchsjahr dann AO-SF bekommen können, haben wir natürlich die Kinder, diese U-Boot-Kinder in allen Klassen“. Die Förderschullehrkraft desselben Teams konstatiert: „Ich hab nicht nur den Fokus auf Kinder mit Unterstützungsbedarf, sondern gerade so – wir sagen immer intern »unsere U-Boote«“. Deutlich wird am Beispiel des Teams A zum einen, dass sich der Sprachgebrauch im Team anzugleichen und sich die Bezeichnung als „U-Boote“ im Sprechen über die Schüler*innen so normalisiert zu haben scheint, dass sie als Differenzmarkierung fraglos und im Team wörtlich übereinstimmend genutzt wird. Zum anderen wird hier eine „Kind-Konzeptualisierung“ (Machold & Carnin 2018) entworfen, die metaphorisch hoch aufgeladen ist. Die Bezeichnung von Schüler*innen mit diagnostiziertem Förderbedarf als UBoote lässt sich einmal als Objektivierung der Schüler*innen lesen. Zudem fokussiert die Metapher des U-Bootes diejenigen als different markierten Schüler*innen, die plötzlich aus dem Verborgenen „auftauchen“ und damit für die Lehrkräfte nicht kalkulierbar sind, da sie erst im späteren Verlauf der Grundschulzeit als sonderpädagogisch förderbedürftig attestiert werden (können). Dies lässt sich als ein inhärenter Verweis auf die strukturelle Dimension lesen, in der Differenzmarkierungen das Produkt einer institutionalisierten Differenz- und Leistungsordnung sind, in der sich aber auch ein Ringen der Teampartner*innen um eine Versprachlichung der damit verbundenen Statuspassage der betroffenen Schüler*innen erkennen lässt.

Sichtweisen auf und Umgang mit Differenz von Grund- und Förderschullehrkräften

285

Andere Differenzkonstruktionen in den Interviews verweisen auf spezifische Normalisierungsprozesse: „die nicht-inklusiven Kinder, also die normalen Kinder“ (Grundschullehrkraft Team H) oder „dass Kinder ganz andere Wege gehen und nicht so wie es im Lehrbuch steht so geht das normale Grundschulkind durch“ (Förderschullehrkraft Team H). Auch hier ist eine Homogenisierung von Schüler*innen (-gruppen) entlang binärer Differenzkonstruktionen zu erkennen, wobei die Lehrkräfte in den Interviews stets um einen angemessenen sprachlichen Umgang mit Differenz im inklusiven Setting zu ringen scheinen. Sie setzen dabei für das Setting spezifische Differenzlinien (inklusiv – nicht-inklusiv) und kennzeichnen dabei spezifisch markierte Schüler*innen als von der Norm abweichend. Normalisierungsprozesse gehen dabei mit Inferiorisierungen und Hierarchisierungen von Schüler*innen einher. Die Differenzmarkierung dient hier nicht nur als Referenz zur Markierung einer Abweichung von einer Norm, sondern auch der Herstellung und Durchsetzung von Zugehörigkeitsordnungen, die beispielsweise über die Dimension Leistung hergestellt werden und in einer Positionierung der Schüler*innen in einer Leistungsordnung (Machold & Carnin 2018) münden. Neben der eher teamspezifisch etablierten Bearbeitung von Differenz zeigen sich seltener und weniger ausgeprägt auch professionsspezifische Unterschiede in der Beschreibung und Bearbeitung von Differenz. Zum einen lässt sich eine professionsspezifische Nomenklatur erkennen. In den Interviews mit den jeweiligen Förderschullehrkräften ist beispielsweise im Sprechen über Schüler*innen auffällig, dass diese in der Beschreibung bestimmter Kinder mit Förderbedarfen medizinisch-psychologische Bezeichnungen nutzen, die sich eher auf eine spezifische (Einzelfall-) Diagnose beziehen („Kind mit Asperger-Syndrom mit Integrationshilfe“, „Kind mit Down-Syndrom“), wohingegen die befragten Grundschullehrkräfte Bezeichnungen und Umschreibungen wählen, die sich auf einen (allgemeinen) pädagogischen Umgang mit dem Förderbedarf beziehen („Förderkinder“, „Lernkinder“, „Kinder mit ganz speziellen Bedürfnissen“). Zum anderen wird trotz Betonung einer Gleichwertigkeit und gemeinsamen Verantwortung in den gegenseitigen Rollenzuschreibungen und in der Beschreibung der eigenen professionsspezifischen Kompetenzen eine Abgrenzung und Differenzmarkierung zur jeweilig anderen Profession deutlich (z. B. Kompetenzen im Gutachtenschreiben werden den Förderschullehrkräften zugeschrieben, fachdidaktische Kompetenzen werden den Grundschullehrkräften zugeschrieben).

4 Fazit und Ausblick Innerhalb professionsübergreifender Kooperation im Gemeinsamen Lernen zeigt sich für die von uns befragten Teams im Sprechen über Schüler*innen eine für das inklusive Setting spezifische vor allem team-, aber auch professionsbezogene

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Katrin Velten, Katharina Schitow und Susanne Miller

Thematisierung und (Re-)Produktion von Differenz(-verhältnissen). Im Rekurs auf Brinkmann-Hein und Reh (2005) zeigt sich also, dass eine gezielte Reflexion dieser Prozesse in Teamstrukturen notwendig ist. Gleichzeitig zeigen unsere Interviews, dass die befragten Lehrkräfte dann die Kooperation im Team besonders positiv bewerten, wenn sie diese als gemeinsame Verantwortung erleben (Lesemann et al. 2018). Hierin liegt u. E. ein Dilemma in der Thematisierung und Bearbeitung von Differenz, das derzeitig nicht aufzulösen ist und ein Spezifikum des inklusiven Settings zu sein scheint. In Anlehnung an die gegenstandstheoretischen und methodologischen Debatten um Differenz in der erziehungswissenschaftlichen Ethnographie ist die ausschließliche Betrachtung und Rekonstruktion normalisierender Prozesse im inklusiven Setting u. E. nicht hinreichend. Es gilt vielmehr, Differenzverhältnisse nicht primär selbst zum Gegenstand zu machen, sondern deren Hervorbringung in Differenzordnungen in den Blick zu nehmen und danach zu fragen, wie verschiedene Normalisierungspraktiken vollzogen und in schulpädagogischen Kontexten und Praktiken hervorgebracht und letztlich auch institutionalisiert werden.

Literatur Brinkmann-Hein, D. & Reh, S. (2005): Der Arbeitsplatz von Lehrerinnen: Welche Rolle spielen Kooperation und professionelle Reflexion. In: journal für schulentwicklung, 9(5), 30–36. Eggers, M. M. (2010): Anerkennung und Illegitimierung. Diversität als marktförmige Regulierung von Differenzmarkierungen. In: Broden, A.; Mecheril, P. (Hrsg.): Rassismus bildet. Bielefeld: transcript Verlag. Lesemann, S.; Miller, S.; Schitow, K. & Velten, K. (2018): Geteilte Verantwortung. Rahmenbedingungen gelungener Kooperation in inklusiven Settings. Schule inklusiv 1 (1), 41–44. Kuckartz, U. (2014): Qualitative Inhaltsanalyse. Methoden, Praxis, Computerunterstützung. (2. Aufl.). Weinheim/Basel: Beltz. Machold, C. & Carnin, J. (2018): Re-präsentationspraktiken von Kindsein und Kindheit in der Migrationsgesellschaft und ihre Ungleichheitsrelevanz. Sprechen über Kinder in Kindertagesstätte und Grundschule. In: Betz, T.; Bollig, S.; Joos, M. & Neumann, S. (Hrsg.): Gute Kindheit. Wohlbefinden, Kindeswohl und Ungleichheit. Kindheiten – Neue Folge. Weinheim u. a.: Beltz Juventa. Murawski, W. W. & Dieker, L. A. (2004): Tips and strategies for co-teaching at the secondary level. Teaching exceptional children, 36(5), 52–58. Steinbach, A. (2016): Thematisierung migrationsgesellschaftlicher Differenz- und Machtverhältnisse in der universitären Lehramtsausbildung. In: Doğmuş, A.; Karakaşoğlu, Y. & Mecheril, P. (Hrsg.): Pädagogisches Können in der Migrationsgesellschaft. Springer Fachmedien Wiesbaden, 279–300. West, C. & Fenstermaker, S. (1995): Doing difference. In: Gender & society, 9(1), 8–37.

Sichtweisen von Grundschullehrkräften auf die Qualität inklusiven Unterrichts Gamze Görel, Nils Finke und Frank Hellmich1

Keywords: Inklusion, Unterrichtsqualität, Grundschullehrkräfte, Sichtweisen

Abstract Im Zuge der UN-Behindertenrechtskonvention stellen sich gegenwärtig Fragen nach Gelingensbedingungen des inklusiven Unterrichts in der Grundschule. Vor diesem Hintergrund haben wir in unserer Interviewstudie N = 15 Grundschullehrkräfte zu ihren Sichtweisen auf die Qualität inklusiven Unterrichts befragt. Die Ergebnisse verdeutlichen, dass die befragten Grundschullehrkräfte Maßnahmen der Differenzierung sowie die Individualisierung des Lernens als wichtige Qualitätsdimensionen für den inklusiven Unterricht in der Grundschule erachten.

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Einleitung

Mit der Ratifizierung der UN-Behindertenrechtskonvention durch die Bundesrepublik Deutschland stehen Grundschullehrkräfte vor neuen Herausforderungen. In inklusiv ausgerichteten Grundschulen ist es ihre Aufgabe, guten Unterricht für alle Kinder zu gestalten und deren jeweils individuellen Lernbedürfnissen gerecht zu werden. Neben fachlich-didaktischem und pädagogischem Wissen seitens der Grundschullehrkräfte sind hierfür ohne Zweifel geeignete (motivationale) Überzeugungen und Sichtweisen in Bezug auf den inklusiven Unterricht von Nöten 1

Gamze Görel | Universität Paderborn | [email protected] Nils Finke | Universität Paderborn | [email protected] Frank Hellmich | Universität Paderborn | [email protected]

© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 N. Skorsetz et al. (Hrsg.), Diversität und soziale Ungleichheit, Jahrbuch Grundschulforschung 24, https://doi.org/10.1007/978-3-658-27529-7_47

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Gamze Görel, Nils Finke und Frank Hellmich

(Baumert & Kunter 2006). So wird in Modellen zu der Beschreibung und Erklärung von Unterrichtsqualität angenommen, dass persönliche Ressourcen von Lehrkräften wie beispielsweise ihre Einstellungen, Sichtweisen und Überzeugungen wichtige Determinanten für die von ihnen dargebotenen unterrichtlichen Angebote sowie die Lernprozesse, Lernaktivitäten und Lerngewinne der am Unterricht beteiligten Kinder darstellen (Helmke 2012). In den vergangenen Jahren konnte die Bedeutung von Einstellungen zur Inklusion für die intrinsische Motivation von Lehrkräften, sich mit inklusionsspezifischen Fragestellungen zu beschäftigen, verdeutlicht werden (Hellmich & Görel 2014; Schüle, Schriek, Besa & Arnold 2016). Vorstellungen von Grundschullehrkräften in Hinblick auf die Gestaltung der eigenen inklusiven Schul- und Unterrichtsentwicklung wurden zum einen über ihre Motivation zur Beschäftigung mit inklusionsspezifischen Fragestellungen erklärt sowie zum anderen über ihre Auffassungen von Inklusion (Hellmich & Görel 2014). Darüber hinaus zeigen die Ergebnisse von Görel (2019, i. Dr.), dass der intendierte Umgang mit Heterogenität von Grundschullehrkräften prädiktiv für ihre prospektiven Einschätzungen von Qualitätsdimensionen inklusiven Unterrichts wie Klarheit der Instruktion, Strukturierung von Lernprozessen sowie lernförderliches Klima ist. Gegenwärtig ist noch weitgehend ungeklärt, wie Grundschullehrkräfte die Herausforderungen des inklusiven Unterrichts einschätzen und welche Qualitätsdimensionen sie als wichtig für die Realisierung des inklusiven Unterrichts erachten. Vor diesem Hintergrund gehen wir im Rahmen einer qualitativen Interviewstudie der Frage nach, welche Sichtweisen Grundschullehrkräfte auf die Qualität inklusiven Unterrichts einnehmen.

2 Methode In unserer Interviewstudie wurden N = 15 Grundschullehrkräfte aus NordrheinWestfalen und Rheinland-Pfalz zu ihren Sichtweisen auf die Qualität inklusiven Unterrichts in der Grundschule befragt. Die Grundschullehrkräfte waren im Mittel 38 Jahre (M = 37.93 Jahre, SD = 10.77 Jahre) alt. Die Interviews wurden von im Vorfeld geschulten Projektmitarbeiter*innen durchgeführt und dauerten durchschnittlich 18 Minuten (M = 17.52 Minuten, SD = 7.29 Minuten). Im Rahmen der Interviews wurden die Grundschullehrkräfte gebeten, zu den folgenden Interviewfragen Stellung zu nehmen: „Was ist für Sie guter inklusiver Unterricht? Durch welche Merkmale ist Ihrer Meinung nach guter inklusiver Unterricht gekennzeichnet? Durch welche Maßnahmen kann guter inklusiver Unterricht erreicht werden? Welche didaktisch-methodischen Konzepte sind Ihrer Meinung nach wichtig für den inklusiven Unterricht in der Grundschule?“ und „Wo sehen Sie persönlich Schwierigkeiten oder Probleme bei der Umsetzung von Inklusion in Schule und Unterricht?“.

Sichtweisen von Grundschullehrkräften auf die Qualität inklusiven Unterrichts

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Im Anschluss an die Datenerhebungen wurden die Interviews, die mit Tonbandgeräten aufgezeichnet worden waren, transkribiert. Die Transkripte der mit den Grundschullehrer*innen durchgeführten Interviews wurden anhand der ‚Grounded Theory‘ (Strauss & Corbin 1996) ausgewertet. Die ‚Grounded Theory‘ ermöglicht eine gegenstandszentrierte und theoriegeleitete Auswertung der Interviews und demzufolge eine parallel verlaufende Analyse der zugrundeliegenden Daten einerseits und die Entwicklung von theoretischen Modellen oder Modellausschnitten andererseits.

3 Ergebnisse Die Ergebnisse aus unserer Interviewstudie verdeutlichen, dass die befragten Grundschullehrer*innen die Qualität des inklusiven Unterrichts über verschiedene Merkmale bestimmen: Dabei nennen sie als wichtigste Determinanten für erfolgreiches Lernen im inklusiven Unterricht die ‚Differenzierung‘ und ‚Individualisierung‘ von Lernprozessen bei Schüler*innen mit unterschiedlichen Lernausgangslagen. Darüber hinaus erklären sie, dass für die Herstellung qualitativ hochwertigen inklusiven Unterrichts die Bereitstellung aus ihrer Sicht erforderlicher ‚Rahmenbedingungen‘ von Nöten ist. Unter Maßnahmen, die der Differenzierung bei der Unterrichtsgestaltung und der Individualisierung von Lernprozessen dienen, werden von den befragten Lehrkräften verschiedene didaktisch-methodische Herangehensweisen in den Interviews skizziert, wie beispielsweise die Gestaltung offenen Unterrichts, der durch Stationenlernen oder Wochenplanarbeit realisiert wird. So erklärt eine Lehrkraft beispielsweise: „was ich richtig gut finde, ist eben der offene Unterricht. [...]. Dass man eben, ja, die Kinder am Anfang und am Ende der Stunde zusammenholt und die zwischendurch halt sehr offen arbeiten lässt. [...]. Dann finde ich noch gut dieses Stationenlernen. Dass man eben verschiedene Angebote macht, das auch differenziert in leicht und schwer“ (Interview A: Zeilen 311 ff.). Eine andere Lehrkraft antwortet auf die Frage, wie guter inklusiver Unterricht in der Grundschule erreicht werden kann, wie folgt: „Differenzierung, Methodenvielfalt, individualisierter Unterricht, viele Materialien, was heißt viele, keine Materialschwemme, aber viele differenzierte Materialien“ (Interview B: Zeilen 129 ff.). Während einige der interviewten Grundschullehrkräfte deutlich Formen der Differenzierung und Individualisierung im Unterricht betonen, stellen andere hingegen heraus, dass sie beide Prinzipien befürworten, sie diese jedoch beim ‚Lernen an einem Unterrichtsgegenstand‘ realisiert wissen möchten: „Ja, also guter inklusiver Unterricht ist für mich, wenn [...] alle Kinder – egal mit welchem För-

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Gamze Görel, Nils Finke und Frank Hellmich

derschwerpunkt oder welcher Behinderungsform [...] – gemeinsam arbeiten können. Auf jeden Fall schon mal am gleichen Thema. Ob sie jetzt wirklich komplett die gleichen Aufgaben bearbeiten können, find ich, das muss gar nicht so genau sein, dass es wirklich die gleiche Aufgabe ist. Wichtiger finde ich, dass sie alle am gleichen Thema arbeiten und dass jedes Kind etwas zur Lösung oder zum Thema beitragen kann“ (Interview C: Zeilen 295 ff.). Für die Durchführung erfolgreichen inklusiven Unterrichts sind aus der Sicht der an den Interviews beteiligten Grundschullehrkräfte geeignete Rahmenbedingungen notwendig. Hier werden personelle (z. B. Lehren in multiprofessionell zusammengesetzten Teams), strukturelle (z. B. angemessene Klassengrößen, Fort- und Weiterbildungen) und sächliche Ressourcen (z. B. Bereitstellung von zusätzlichen Lernmaterialien) von den Lehrkräften als erforderlich angesehen, um qualitativ hochwertige Lernumgebungen gestalten zu können. Eine der befragten Grundschullehrkräfte stellt beispielsweise deutlich heraus: „Guter inklusiver Unterricht? – Es wären permanent zwei Lehrer in der Klasse. [...]. Es muss Unterrichtsmaterial her, was [für das inklusive Lernen] geeignet ist“ (Interview D: Zeilen 188 ff.).

4 Diskussion Ausgangspunkte für die von uns in diesem Beitrag dargestellte Interviewstudie bildeten Fragen nach den Sichtweisen von Grundschullehrkräften auf die Qualität inklusiven Unterrichts in der Grundschule sowie zu den von ihnen eingeschätzten Schwierigkeiten oder Problemen, die sie mit dem Blick auf die Realisierung inklusiver Bildung in der Grundschule assoziieren. Im Detail standen dabei insbesondere Erklärungen und Begründungen für die jeweils von den Grundschullehrkräften bekundeten Sichtweisen auf Qualitätsdimensionen inklusiven Unterrichts im Fokus der Betrachtungen. Ein Großteil der befragten Grundschullehrkräfte erklärt die Differenzierung und die Individualisierung beim Lernen als wichtige Qualitätsmerkmale im inklusiven Klassenzimmer. Dabei wird von einigen Lehrkräften auch die Bedeutung des Lernens an einem gemeinsamen Lerngegenstand, wie beispielsweise in inklusionsdidaktischen Modellen (z. B. Kahlert & Heimlich 2012) realisiert, betont. Die Merkmale ‚Differenzierung’ und ‚Individualisierung’ werden darüber hinaus auch in Konzepten zu einer inklusiven Didaktik als wichtige Qualitätsmerkmale inklusiven Unterrichts beschrieben (vgl. z. B. Kullmann, Lütje-Klose & Textor 2014). Für die Durchführung inklusiven Lernens werden von den Lehrkräften verschiedene Rahmenbedingungen eingefordert, die personelle, strukturelle sowie sächliche Ressourcen umfassen. Die von uns im Rahmen der Interviewstudie gewonnenen hypothetischen Annahmen müssten zukünftig in

Sichtweisen von Grundschullehrkräften auf die Qualität inklusiven Unterrichts

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umfassend angelegten quantitativen Studien vertieft in den Blick genommen werden. Auf diese Weise könnte geprüft werden, ob die im Rahmen unserer qualitativen Studie gewonnenen Ergebnisse auch auf größere Stichproben zutreffen.

Literatur Baumert, J. & Kunter, M. (2006): Stichwort: Professionelle Kompetenz von Lehrkräften. In: Zeitschrift für Erziehungswissenschaft, 9 (4), 469–520. Görel, G. (2019, im Druck): Inklusiver Unterricht aus Sicht von Grundschullehrkräften. Die Bedeutung von persönlichen Ressourcen. Berlin: Springer. Hellmich, F. & Görel, G. (2014): Erklärungsfaktoren für Einstellungen von Lehrerinnen und Lehrern zum inklusiven Unterricht in der Grundschule. In: Zeitschrift für Bildungsforschung, 4 (3), 227– 240. Helmke, A. (2012): Unterrichtsqualität und Lehrerprofessionalität. Diagnose, Evaluation und Verbesserung des Unterrichts (4. Aufl.). Seelze: Klett/Kallmeyer. Kahlert, J. & Heimlich, U. (2012): Inklusionsdidaktische Netze – Konturen eines Unterrichts für alle (dargestellt am Beispiel des Sachunterrichts). In: Heimlich, U. & Kahlert, J. (Hrsg.): Inklusion in Schule und Unterricht. Wege zur Bildung für alle (153–190). Stuttgart: Kohlhammer. Kullmann, H.; Lütje-Klose, B. & Textor, A. (2014): Eine Allgemeine Didaktik für inklusive Lerngruppen – fünf Leitprinzipien als Grundlage eines Bielefelder Ansatzes der inklusiven Didaktik. In: B. Amrhein & M. Dziak-Mahler (Hrsg.): Fachdidaktik inklusiv. Auf der Suche nach didaktischen Leitlinien für den Umgang mit Vielfalt in der Schule (89–197). Münster: Waxmann. Schüle, C.; Schriek, J.; Besa, K.-S. & Arnold, K.-H. (2016): Der Zusammenhang der Theorie des geplanten Verhaltens mit der selbstberichteten Individualisierungspraxis von Lehrpersonen. In: Empirische Sonderpädagogik, 8 (2), 140–152. Strauss, A. & Corbin, J. (1996): Grounded Theory: Grundlagen Qualitativer Sozialforschung. Weinheim: Beltz/PVU.

Typisch Kunstpädagogik? Inklusionsbezogene Überzeugungen angehender Kunstlehrkräfte Michaela Kaiser und Andreas Brenne1

Keywords: Inklusion, Kunstpädagogik, Professionalisierung, Überzeugungen

Abstract Dieser Beitrag rückt die inklusionsbezogenen Überzeugungen als Teilbereich der kunstpädagogischen Professionalität in den Mittelpunkt. Mittels empirisch begründeter Typenbildung werden drei Überzeugungstypen (affirmativ, moderat, skeptisch) rekonstruiert. Datengrundlage sind 21 problemzentrierte Interviews mit Lehramtsstudierenden der Kunstpädagogik.

1

Einführung

Seit der Jahrtausendwende ist der Umgang mit Diversität die entscheidende Größe für einen qualitativ hochwertigen Unterricht in allen Schulstufen (Gomolla & Radtke 2001). Dieser Diskurs greift die Debatten der 1960er Jahre auf, denen zufolge es sich eine Gesellschaft nicht leisten könne, großen Teilen der Bevölkerung zentrale Bildungsmöglichkeiten zu versagen (Picht 1964). Durch die Ratifizierung der UN-Konvention werden diese Überlegungen aktualisiert. Dabei wird die Frage nach der Transformation von Schulentwicklung gestellt, denn die Etablierung inklusiver Lernarrangements braucht schulprogrammatische Konfigurationen sowie adäquate didaktische Transformationen.

1

Michaela Kaiser | Universität Paderborn | [email protected] Andreas Brenne | Universität Osnabrück | [email protected]

© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 N. Skorsetz et al. (Hrsg.), Diversität und soziale Ungleichheit, Jahrbuch Grundschulforschung 24, https://doi.org/10.1007/978-3-658-27529-7_48

Typisch Kunstpädagogik? Inklusionsbezogene Überzeugungen angehender Kunstlehrkräfte

293

Als Qualitätshebel zur potenzial- und differenzaffinen Ausgestaltung künstlerischer Lernsettings wird die inklusionsbezogene Professionalität von Kunstlehrkräften, insbesondere der Bereich ihrer Überzeugungen, diskutiert (bspw. de Boer, Pijl & Minnaert 2011 allgemein; Sindermann 2018 kunstpädagogisch). Da die Diversität von Lernenden in der Grundschule am stärksten ausgeprägt ist (Bellenberg & Klemm 2014), ist anzunehmen, dass Kunstlehrkräfte im Primarbereich inklusionsaffinere Überzeugungen aufweisen als in anderen Schulformen. Der Frage danach, auf welche Überzeugungen angehende Kunstlehrkräfte zurückgreifen, um den inklusionsbezogenen Anforderungen zu begegnen, wird in diesem Beitrag nachgegangen.

2 Forschungsvorgehen Grundlage zur Entwicklung einer Überzeugungstypologie ist das Modell zur Differenzierung inklusionsbezogener Deutungsmuster (Kaiser 2019 i. E.). Die Valenz und Stärke von Überzeugungen werden als strukturbildende Deutungsmuster zur Elaboration der Typologie eingesetzt, um Ähnlichkeiten und Unterschiede zu erfassen. Mit der Überzeugungsvalenz wird auf einem Kontinuum zwischen progressiv und konservativ ihre inhaltliche Wertigkeit erfasst. Auf der Dimension Überzeugungsstärke wird ihre Präsenz im Überzeugungshaushalt skaliert. Die empirisch begründete Typenbildung (Kelle & Kluge 2010) trägt zur Verdichtung der Deutungsmuster bei. Datengrundlage sind problemzentrierte Interviews mit angehenden Kunstlehrkräften (n = 21) mit starken narrativen Anteilen.

3 Deutungsmuster angehender Kunstlehrkräfte Die Verbindung der strukturbildenden Deutungsmuster findet ihren grafischen Ausdruck in einer Mehrfeldertafel (s. Tab. 1), anhand der die Gruppierung der Fälle zu hypothetischen Typen vorgenommen wird. So ergeben sich drei potenzielle Überzeugungstypen: der affirmative, moderate und skeptische Typus. Valenz Stärke Dogmatisch Kritisch

Tab. 3:

Primarstufe Progressiv Affirmativ (n = 2) Moderat (n = 6)

Konservativ Aversiv (n = 0) Skeptisch (n = 2)

Sekundarstufe I Progressiv Affirmativ (n = 0) Moderat (n = 2)

Konservativ Aversiv (n = 0) Skeptisch (n = 2)

Sekundarstufe II Progressiv Affirmativ (n = 0) Moderat (n = 1)

Überzeugungstypologie hinsichtlich eines inklusiven Kunstunterrichts

Konservativ Aversiv (n = 2) Skeptisch (n = 4)

294

Michaela Kaiser und Andreas Brenne

Bei Einbezug des Lehramtstypus als strukturierender Kategorie zeigt sich erwartungsgemäß ein Zusammenhang zwischen Lehramtstypus und der Ausprägung inklusionsbezogener Überzeugungen. Drei Viertel der Fälle weisen progressive Überzeugungen über einen inklusiven Kunstunterrichts auf, aversive Überzeugungen wurden nicht gefunden. Affirmativer Typus Bezeichnend für den affirmativen Typus sind sozialisationsbedingte Differenzerfahrungen im Sinne persönlicher Betroffenheit, mit welcher prosoziale Reaktionen und in der Folge eine positiven Gratifikation für das professionsbezogene Selbstkonzept einher gehen. Das Inklusionsverständnis ist an ein caritatives Motiv gebunden. Der Fokus richtet sich auf einzelne Differenzkategorien und ihre förderspezifische Adressierung. Darüber hinaus bestehen kaum Vorstellungen darüber, wie sich die berufliche Professionalität ausdifferenziert. Dies schlägt sich nieder in prinzipiengeleiteter Argumentation. Insgesamt ist ein hohes Maß an Zuversicht in Hinblick auf die individuelle Bewältigungsfähigkeit einer inklusiven Unterrichtsentwicklung zu verzeichnen, was mitunter auf die als kontrollierbar erlebten sozialisationsgeschichtlichen Differenzerfahrungen zurückgeführt wird. Sie werden auf die Anforderungen inklusiven Kunstunterrichts transferiert. Dem Fach Kunst wird eine Vorreiterrolle für inklusive Unterrichtsentwicklung zugeschrieben. Potenziale werden in kunstanalogen, erfahrungsbasierten Lernprozessen gesehen, die von der Individualität des Kindes ausgehen. Wie sich dies kunstdidaktisch ausgestaltet, wird jedoch nicht herausgestellt. Moderater Typus Prägend für das professionelle Selbstverständnis des moderaten Typus ist eine grundsätzlich affirmative Haltung, die durch Unsicherheiten in Bezug auf die eigene Handlungsmächtigkeit eingeschränkt ist. Parallel zum Erwerb inklusionsbezogener Wissensbestände sinken Selbstwirksamkeitserwartungen, was auf eine Ausdifferenzierung der Wahrnehmung inklusionsbezogener Anforderungssituationen und eine daran gebundene Relativierung anfänglicher Euphorie zurückzuführen ist. Daneben erweist sich die Wahrnehmung der beruflichen Rolle als detailliert. Der Blick ist auf die Veränderung der klassischen Lehrer*innenrolle hin zu Individualisierung und natürlicher Differenzierung, kollaborativen Lernformen und fächerübergreifender Projektarbeit gerichtet. Damit weist der moderate Typus sachangemessene Kenntnisse inklusiver Didaktik auf. Im Kunstunterricht werden – ebenso wie beim affirmativen Typus – besondere Bildungsvalenzen für inklusive Unterrichtsentwicklung gesehen.

Typisch Kunstpädagogik? Inklusionsbezogene Überzeugungen angehender Kunstlehrkräfte

295

Skeptischer Typus Als Leitmotiv eines skeptischen Überzeugungshaushalts erweist sich das Erleben von Frustration, was mit der Ablehnung einer als ungerecht eingeschätzten Bevormundung durch die Bildungspolitik hinterlegt ist. Eine inklusive Unterrichtsentwicklung im Fach Kunst wird, bedingt durch die Wahrnehmung eines Mangels inklusionsbezogener Handlungskompetenzen, als wenig beeinflussbar erlebt. Hieraus resultiert die Forderung nach vereinfachenden Rezeptologien im Umgang mit ausgewählten Förderbedarfen und Behinderungsarten. Diese verbindet sich mit einem defizitorientierten Inklusionsverständnis. Im Hinblick auf das professionsbezogene Selbstverständnis offenbart sich, ebenso wie beim moderaten Typus, ein weitestgehend ausdifferenziertes Bild über die Anforderungen einer inklusiven Unterrichtsentwicklung, das sich mit dem Erleben von Überforderung verbindet. Auf der Makroebene der Schulentwicklung solle zunächst die notwendige Infrastruktur geschaffen werden, so dass auf der Mikroebene des Kunstunterrichts inklusive Entwicklungen möglich würden. Die inklusive Ausrichtung künstlerischer Lernsettings wird als Teil privater Entscheidungsfreiheit betrachtet. Der Verweis auf Freiwilligkeit camoufliert eine ablehnende Haltung, womit eine systemkonservierende Sichtweise einhergeht.

4 Diskussion Die Ergebnisse zeigen, analog zur erziehungswissenschaftlichen Inklusionsforschung, ein uneinheitliches Bild. Zwar bestätigt sich über die Befunde hinweg die Annahme, dass Kunststudierende des Grundschullehramts schulische Inklusion stärker befürworten als Angehörige des Sekundarstufenschullehramtes, jedoch wird für den Bereich der Kunstdidaktik repliziert, dass sie zwar insgesamt positivere Überzeugungen zeigen, diese jedoch zwischen Ablehnung und Zustimmung gestreut sind. Dass der moderate Typus mit einer differenzierten Kenntnis inklusiven Unterrichts vorherrscht, zeigt einmal mehr, wie das Paradigma der Vielfalt sich konstitutiv auf das professionsbezogene Selbstverständnis auswirkt. Diese Erkenntnisse sind zwar zu erwarten gewesen, können aber als Plädoyer für entsprechende Entwicklungen im Sekundarbereich verstanden werden. Ein u. M. n. besonders hervorzuhebender Befund ist der eindeutige Hinweis auf die fachspezifische Färbung inklusionsbezogener Überzeugungen. Es wird, nicht ganz spannungsfrei problematisiert, inwieweit sich die zwei Kernbereiche der gestalterisch-künstlerischen und bildanalytischen Kompetenzen in inklusiven Lernarrangements abbilden. Der erste Bereich erscheint im Hinblick auf inklusive Lernarrangements unmittelbar anschlussfähig, entspricht doch die multiperspektivische Expressivität künstlerischer Positionen in Gänze der Konstitution der

296

Michaela Kaiser und Andreas Brenne

zeitgenössischen Kunst (bspw. Mörsch 2009). Problematisiert wird die Vermittlung bildanalytischer Kompetenzen. An dieser Stelle zeigt sich ein paradoxes Bild, das durch die Infragestellung einer hohen Fachlichkeit inklusiven Kunstunterrichts auf der einen Seite und durch die Schärfung dieser als Gelingensbedingung auf der anderen Seite geprägt ist. Zu untersuchen gilt es daher zukünftig, wie im inklusiven Kunstunterricht Räume für substanzielle und bedeutungsvolle Lernerfahrungen über eine hohe Fachlichkeit eröffnet werden können. Zwar geben erste synoptische Arbeiten Aufschluss über die kunstdidaktische Adressierung diversitätsbezogener Anforderungssituationen (bspw. Blohm, Brenne & Hornäk 2017; Brenne 2017), jedoch fehlen darüber hinaus Beiträge zur inklusionsbezogenen kunstpädagogischen Professionalität. Die Elaboration der Überzeugungstypologie konnte einen ersten Beitrag hierzu leisten.

Literatur Bellenberg, G. & Klemm, K. (2011): Die Grundschule im deutschen Schulsystem. In: Einsiedler, W.; Götz, M.; Heinzel, F.; Kahlert, J. & Sandfuchs, U. (Hrsg.): Handbuch Grundschulpädagogik und Grundschuldidaktik (3., vollst. überarb. Aufl.). Bad Heilbrunn: Klinkhardt, 45–50. Blohm, M.; Brenne, A. & Hornäk, S. (Hrsg.) (2017): Irgendwie anders. Hannover: fabrico. de Boer, A.; Pijl, S. J. & Minnaert, A. (2011): Regular primary schoolteachers’ attitudes towards inclusive education. International Journal of Inclusive Education, 15 (3), 331–353. Brenne, A. (2017): Inklusion. In: Burkhardt, S. & Dudek, A. (Hrsg.): 1–13 kunstpädagogische Begriffe. Halle (Saale): Hochschulverlag Burg Giebichenstein Kunsthochschule Halle, 34–45. Gomolla, M. & Radtke, F. O. (2001): Institutionelle Diskriminierung. Opladen: Leske + Budrich. Kaiser, M. (2019, i. E.): Kunstpädagogik im Spannungsfeld von Inklusion und Exklusion. Explikation inklusiver kunstpädagogischer Praktiken und Kulturen. Oberhausen: ATHENA. Kelle, U. & Kluge, S. (2010): Vom Einzelfall zum Typus. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften. Mörsch, C. (2009): Kunstvermittlung 2 – Zwischen kritischer Praxis und Dienstleistung auf der documenta 12. Ergebnisse eines Forschungsprojekts, Zürich: Diaphenes. Picht, G. (1964): Die deutsche Bildungskatastrophe. Analyse und Dokumentation. Freiburg: Walter. Reusser, K. & Pauli, C. (2014): Berufsbezogene Überzeugungen von Lehrerinnen und Lehrern. In: E. Terhart, H. Bennewitz & M. Rothland (Hrsg.): Handbuch der Forschung zum Lehrerberuf (2. Auflage). Münster: Waxmann. 642–661. Sindermann, M. (2018): Inklusive Kunstpädagogik – potenzial- und differenzaffin. Zeitschrift für Inklusion online.(1) Abgerufen von Abgerufen von https://www.inklusion-online.net/index.php/inklusion-online/article/view/428.

9 Professionalisierung im Umgang mit Diversität und sozialer Ungleichheit

Umgang mit Diversität – der Beitrag von Mentoringund Lernpatenprojekten für Professionalisierung und Praxiserfahrungen angehender Lehrkräfte Elke Inckemann, Anne Frey, Anna Lautenschlager, Cornelia Prestel, Heike de Boer, Anne Peters und Katja Koch1

Keywords: Diversität, Professionalisierung, Mentoring, Lernpaten, Kinder mit Migrationshintergrund

Abstract In diesem Beitrag werden Ergebnisse aus den vier Mentoring- und Lernpatenprojekten LUK!, SSB!, GeKOS und WEICHENSTELLUNG vorgestellt, die mit der Förderung von Kindern mit Migrationsgeschichte eine gemeinsame Ausrichtung haben, sich aber in konzeptionellen Merkmalen und Schwerpunktsetzung der Begleitforschung unterscheiden.

1

Elke Inckemann | LMU München | [email protected] Anne Frey | Pädagogische Hochschule Vorarlberg Feldkirch | [email protected] Anna Lautenschlager | LMU München | [email protected] Cornelia Prestel | LMU München | [email protected] Heike de Boer | Universität Koblenz-Landau | [email protected] Anna Peters | Universität zu Köln | [email protected] Katja Koch | Technische Universität Braunschweig | [email protected]

© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 N. Skorsetz et al. (Hrsg.), Diversität und soziale Ungleichheit, Jahrbuch Grundschulforschung 24, https://doi.org/10.1007/978-3-658-27529-7_49

Umgang mit Diversität – der Beitrag von Mentoring- und Lernpatenprojekten

1

299

Einführung

Im Jahr 2015 kamen ca. 1 Mio. Schutz- und Asylsuchende nach Deutschland, von denen rund 30 % unter 18 Jahre alt waren (Autorengruppe Bildungsberichterstattung 2016). Der Bericht „Bildung in Deutschland 2016“ geht von den Prämissen aus, „dass Integration von zugewanderten Schutz- und Asylsuchenden in die deutsche Gesellschaft aus humanitären, sozialen und ökonomischen Gründen unabdingbar ist, und dass dem Bildungs- und Ausbildungswesen für diese Integration eine zentrale Rolle zukommt“ (ebd.: 199). Vor diesem Hintergrund wurden an vielen Standorten Projekte initiiert, welche die Integration von Kindern mit Fluchterfahrung und neu zugewanderten Kindern unterstützen sollen. Viele dieser Projekte greifen bewusst die Forderung auf, die Lehrerbildung müsse auf den Schulalltag in der Einwanderungsgesellschaft und den Umgang mit sprachlicher und kultureller Vielfalt vorbereiten (SVR 2016). In diesem Beitrag werden Ergebnisse aus vier Mentoring- und Lernpatenprojekten vorgestellt, welche durch die Verknüpfung von schulischer Praxiserfahrung, Lehrerbildung und Forschung zur Professionalisierung angehender Lehrkräfte im Umgang mit Diversität beitragen sollen. Im Projekt „Lernpaten unterstützen Klassen mit Flüchtlingskindern (LUK!)“ (LMU München) unterstützen zwei Studierende ein Schul(halb)jahr lang jeweils an einem Schulvormittag/Woche eine Klasse. Die Studierenden arbeiten gemeinsam mit der Lehrkraft mit der gesamten Klasse, betreuen Kleingruppen oder fördern Kinder individuell. Das Projekt „Sprache. Schriftsprache. Bildungssprache. – Förderung von Kindern mit Fluchterfahrung und neu zugewanderten Kindern (SSB!)“ (ebenfalls LMU München) greift die konzeptionellen Merkmale von LUK! auf, allerdings werden die Lernpaten nach Möglichkeit zu viert einer Schule zugeteilt, damit flexibel auf den Wechsel der Kinder in Regelklassen reagiert werden kann. Im Projekt „Gemeinsam entdecken Kinder ihren Ort mit Studierenden (GeKOS)“ (Universität Koblenz) übernehmen Studierende eine achtmonatige Patenschaft für Kinder mit Zuwanderungshintergrund. Die Paare treffen sich wöchentlich nachmittags, dabei stehen die Freizeitgestaltung und das informelle Lernen im Vordergrund. Jeweils drei bildungsbenachteiligte Kinder werden im Projekt „WEICHENSTELLUNG“ (Universität zu Köln) unterstützt, indem sie von einem Studierenden beim Schulformübergang von der vierten bis zur sechsten Klasse begleitet werden. Die Studierenden führen Hospitationen im Unterricht, gemeinsame Förderstunden und monatlich einen kulturellen Ausflug durch. Anna Lautenschlager stellt aus der Begleitforschung Ergebnisse zur Professionalisierung angehender Lehrkräfte für den Umgang mit sprachlicher Vielfalt vor, Elke Inckemann, Anne Frey und Cornelia Prestel gehen auf Ergebnisse zum Umgang mit psychosozialen Besonderheiten ein, Heike de Boer berichtet über

300

Elke Inckmann, Anne Frey, Anna Lautenschlager et al.

Herausforderungen bei Aktivitäten zur sozialen und kulturellen Integration, Anne Peters setzt sich mit dem Mehrwert für die Lehramtsstudierenden auseinander. Katja Koch rundet den Beitrag mit Reflexion und Fazit ab.

2 Pädagogische Praxis und Professionalisierung angehender Lehrkräfte für sprachliche Vielfalt im Projekt LUK! Sprachliche Kompetenz wird als Schlüssel zur Bildungsteilhabe und für gelingende Bildungsbiographien beschrieben (Gogolin, Neumann & Roth 2003). Gerade mit Blick auf neu zugwanderte Kinder bedeutet dies – so der Call for Papers zur Tagung – dass „die empirisch stets bestätigte Kopplung von Bildungschancen mit dem familialen Hintergrund und den individuellen kindlichen Voraussetzungen insbesondere im Bereich Sprache, eine Herausforderung ist, der sich die Grundschulpädagogik als Profession und als Disziplin stellen muss.“ (Kucharz & Skorsetz 2018) 2.1

Theoretischer Hintergrund und Erkenntnisinteresse

Um der sprachlichen Vielfalt in Klassen mit neu zugewanderten Kindern gerecht zu werden und passgenaue Unterstützungsangebote für alle Kinder auf dem Weg zu Sprache und Schrift bereitstellen zu können, kommt der Lehrerbildung eine große Bedeutung zu. Der Sachverständigenrat deutscher Stiftungen für Integration und Migration titelt sogar: „Bildungsintegration: auf die Lehrer(bildung) kommt es an!“ (SVR 2016: 6). Dabei wird der Aufbau von Wissen, Haltung und Handeln hinsichtlich sprachförderspezifischer Aspekte gefordert (ebd.). Diese Aspekte finden sich auch im Konstrukt der Sprachförderkompetenz nach Hopp et al. (2010) wieder. Wie es um die Sprachförderkompetenz bei angehenden Lehrkräften bestellt ist, und ob ein Projekt wie LUK! für den Umgang mit sprachlicher Vielfalt sensibilisieren und zur Professionalisierung in diesem Feld beitragen kann, soll zentrale Fragestellung dieses Beitrags sein. 2.2

Methodik der Datenerhebung

Die Studierenden wurden unter anderem zu ihrer Kompetenzeinschätzung in den Bereichen Wissen und praktische Erfahrung im Feld Deutsch als Zweitsprache (DaZ) und im Feld Schriftspracherwerb (SSE) befragt. Als Antwortformat wurde eine vierstufige Ratingskala (1 = trifft nicht zu, 2 = trifft kaum zu, 3 = trifft eher zu, 4 = trifft genau zu) gewählt. Für das 2. Halbjahr im Schuljahr 2016/17 liegen

Umgang mit Diversität – der Beitrag von Mentoring- und Lernpatenprojekten

301

dazu Fragebögen im Prä-/Postdesign mit erstem Erhebungszeitpunkt vor der Schulungsphase sowie zweitem Erhebungszeitpunkt bei Abschluss der Lernpatentätigkeit vor. Ergänzend zu den Selbsteinschätzungen der Studierenden wurde am Ende der Förderphase das auf dem Konstrukt der Sprachförderkompetenz (Hopp et al. 2010) basierende SprachKoPFGrundschulebeta-Verfahren (Thoma & Tracy 2015) eingesetzt, mit dem das sprachförderrelevante Wissen und Können standardisiert gemessen werden kann. Die Stichprobe setzt sich aus 47 Lernpaten zusammen, die im Schnitt 24 Jahre alt und im 6. Semester waren. Der Großteil studiert Lehramt (rund 80 %), ein geringerer Anteil gibt an, Pädagogik zu studieren (rund 20%). DaZ haben 25 % der Lernpaten in der Fächerkombination. Zudem sind die Lernpaten bereits unterschiedlich lange im Projekt (rund 20 % seit dem Schuljahr 15/16, rund 45 % seit dem 1. Halbjahr, rund 35% seit dem 2. Halbjahr im Schuljahr 16/17). 2.3

Ergebnisse

Nach ihren Selbsteinschätzungen profitieren die Studierenden im theoretischen Wissen signifikant (p < .05) von der Teilnahme im Projekt, sowohl im Bereich DaZ (Prä: 1,83 (0,93), Post: 2,43 (0,63) N = 46) als auch im Bereich Schriftspracherwerb (Prä: 2,33 (0.91), Post: 2,56 (0,62) N = 45). Ebenso zeugen die Werte der Posterhebung von einer signifikant höheren Einschätzung des Sammelns von praktischen Erfahrungen in der sprachlichen (Prä: 2,19 (1,12), Post: 3,65 (0,48) N = 43) und schriftsprachlichen (Prä: 2,21 (1,02), Post: 3,47 (0,58) N = 47) Förderung. Aussagen über das tatsächliche Wissen und Können am Ende der Lernpatentätigkeit lassen sich aus den Ergebnissen der SprachKoPF-Erhebung ableiten. Die Ergebnisse der Gesamtstichprobe (N = 47 07/2017) zeigen, dass die Lernpaten über etwas mehr als die Hälfte des theoretisch angenommenen relevanten Wissens (Hopp et al. 2010) verfügen. Für die Komponente Können erreichten die Lernpaten im Durchschnitt knapp 40 %. Obwohl die relativ geringen Standardabweichungen (zw. 12–16 %) darauf hindeuten, dass der Mittelwert repräsentativ für die Mehrheit der Lernpaten ist, weist die Spannweite der Extremwerte auf erhebliche Unterschiede zwischen einzelnen Lernpaten hin. So gibt es Lernpaten, die nur knapp ein Viertel der Fragen der Wissenskomponente korrekt beantworten konnten, während andere rund 80 % der Aufgaben korrekt gelöst haben. Ähnlich ist das Bild für die Leistungen in der Testkomponente Können: Die Werte liegen zwischen 1 % und 67 % korrekten Antworten. Die SprachKoPF-Ergebnisse bestätigen den Studierenden ein solides Wissen in sprachförderrelevanten Bereichen. Im Bereich Können weisen die SprachKoPF-Ergebnisse allerdings geringere Testwerte auf.

302 2.4

Elke Inckmann, Anne Frey, Anna Lautenschlager et al.

Diskussion

Sowohl die Selbsteinschätzungen als auch die Ergebnisse zur Sprachförderkompetenz weisen darauf hin, dass ein Projekt wie LUK! gut geeignet ist, um für sprachliche Vielfalt zu sensibilisieren und zur Professionalisierung in diesem Feld beizutragen. Zur besseren Einschätzung bisheriger Erkenntnisse scheint für die Zukunft ein Prätest des SprachKoPFGrundschulebeta-Verfahrens notwendig. Auch die Analyse der Einflussfaktoren auf den selbst eingeschätzten Kompetenzzuwachs sowie die SprachKoPF-Ergebnisse bieten lohnende Anknüpfungspunkte für weitere Forschungsbestrebungen.

3 Pädagogische Praxis und Professionalisierung angehender Lehrkräfte für den Umgang mit psychosozialen Besonderheiten in Übergangsklassen (SSB!) 3.1

Theoretischer Hintergrund und Erkenntnisinteresse

Ein Großteil der Flüchtlinge, die nach Deutschland kommen, ist traumatisiert (Baer & Frick-Baer 2016), wobei sich Traumatisierungen auf sehr unterschiedliche Art zeigen können (Keller & Rettenbach 2017). Nach Adam und Inal (2013) nimmt Schule bei der Entwicklung von Kindern mit Fluchterfahrung eine herausragende Position ein. So kann sie zur psychischen Stabilisierung, zur Stärkung der Resilienz und somit zur Prävention posttraumatischer Belastungsstörungen beitragen. Dabei spielt ein empathieorientiertes Lehrer-Schüler-Verhältnis eine zentrale Rolle, um den traumatisierten Kindern einen „sicheren Ort“ und „verlässliche Beziehungsangebote“ zu bieten (Karro 2016: 7). Andererseits sind Lehrkräfte im Umgang mit diesen Kindern oft unsicher, „speziell das Thema Trauma beunruhigt (…)“ (Shah 2016: 7). So hat sich auch im Projekt SSB! Trauma als wichtiges Thema für Lernpaten (und Lehrkräfte) herauskristallisiert und wird im Begleitseminar thematisiert. Im Rahmen der Begleitforschung wurde folgenden Fragen nachgegangen: 1) Inwiefern weisen Kinder in den SSB!-Klassen Auffälligkeiten in der psychosozialen Gesamtsituation auf? 2) Wie entwickeln sich Wissen und Kompetenzen der Studierenden im Projekt SSB! zu den Themengebeten Trauma und L-S-Beziehung? 3) In welchem Umfang fördern Lernpaten im Projekt SSB! die psychosoziale Gesamtsituation der Kinder?

Umgang mit Diversität – der Beitrag von Mentoring- und Lernpatenprojekten

3.2

303

Methodik der Datenerhebung

Die SSB!-Begleitforschung gibt über verschiedene Instrumente Einblick in die psychosoziale Situation der Kinder (Beobachtungsinventar), Wissen und Kompetenzen der Studierenden (Schriftliche Befragung) sowie die Aktivitäten der Lernpaten in den SSB!-Klassen (Fördertagebuch). Die Ergebnisse beziehen sich auf das 1. Halbjahr des Schuljahres 2017/18 (324 Kinder, 39 Studierende). 3.3

Ergebnisse

3.3.1 Der Blick auf die Kinder (Beobachtungszeitpunkt Oktober 2017) Nachfolgend wird aus dem Beobachtungsinventar eine Itemauswahl des Beobachtungsbereichs der psychosozialen Gesamtsituation vorgestellt. Die Auswahl orientiert sich an einer Zusammenstellung der Besonderheiten im Verhalten traumatisierter Kinder, die von Keller und Rettenbach (2017) vorgeschlagen wurde. Es wurden 324 Kinder beobachtet (m = 176, w = 148), von denen nach Kenntnis der Schulen 41 eine Fluchterfahrung, 29 vermutlich eine Fluchterfahrung, 184 keine Fluchterfahrung erlebt haben. Bei 70 Kindern gibt es keine Information bzgl. der Fluchterfahrung. Die Skala reicht von 1 = trifft zu bis 4 = trifft nicht zu. Es zeigt sich über alle ausgewählten Items betrachtet (körperliche Anzeichen für Unkonzentriertheit, körperlicher Angriff von anderen Kindern, schreckhaftes Verhalten, Anzeichen für Intrusionen) tendenziell ein leicht geringerer Gruppenmittelwert in der Gruppe der Kinder mit Fluchterfahrung, was darauf hinweist, dass die angegebenen Verhaltensweisen bei diesen Kindern etwas häufiger durch die Lernpaten beobachtet wurden. Über die Gruppen hinweg bewegt sich der Mittelwert bei allen Items aber im nichtzutreffenden Bereich. Umso bedeutsamer ist es, die wenigen Kinder, auf die diese Verhaltensweisen zutreffen, verstärkt in den Blick zu nehmen und eine mögliche Traumatisierung in Erwägung zu ziehen. 3.3.2 Der Blick auf die Lernpaten Die Entwicklung der als Lernpaten tätigen Studierenden wurde in einem VorherNachher-Design in Form von Selbsteinschätzungen erfasst und mit einer zweifaktoriellen Varianzanalyse berechnet. Die Lernpaten (37 Lehramtsstudierende und zwei Pädagoginnen) waren überwiegend im 7. Semester (M = 6,3), 14 Studierende waren neu im Projekt und 25 verfügten bereits über Projekterfahrungen. In Bezug auf die Gestaltung der Lehrer-Schüler-Beziehung schätzten die Lernpaten ihr theoretisches Wissen nach dem Schulhalbjahr signifikant höher ein als zu Beginn der Lernpatentätigkeit (F = 5,763; p = 0,022, ɳ2partial = 0,141), ebenso wie ihre praktische Kompetenz (F = 12,083; p = 0,001, ɳ2partial = 0,262). Auch im Themenbereich Trauma nahmen die Lernpaten einen signifikanten Zuwachs an theoretischem Wissen (F = 60,343; p = 0,000; ɳ2partial = 0,646) sowie an praktischen

304

Elke Inckmann, Anne Frey, Anna Lautenschlager et al.

Kompetenzen (F = 18,442; p = 0,000; ɳ2partial = 0,345) wahr. Insgesamt zeichnet sich hier also ein positives Bild in Bezug auf Wissens- und Kompetenzzuwachs der Studierenden durch die Lernpatentätigkeit ab. 3.3.3 Der Blick auf die Aktivitäten der Lernpaten (504 Fördertagebücher) Hintergrund dieser positiven Entwicklung könnte sein, dass die Studierenden im Begleitseminar einen theoretischen Input erhalten (Begriff Trauma, Fallbeispiele, Stärkung der psychosozialen Gesamtsituation) und Erfahrungen in der pädagogischen Praxis in den SSB!-Klassen sammeln. So geben die Lernpaten in 23,30 % (neue Lernpaten) bzw. 31,40 % (alte Lernpaten) der Fördertagebücher an, den Förderbereich Schulerfahrung/Psychosoziale Gesamtsituation an diesem Fördertag gezielt berücksichtigt zu haben. 3.4

Diskussion

Können Studierende durch ein Projekt wie SSB! in den Bereichen professionelles Wissen und Handeln im Feld „Trauma“ profitieren? Wir kommen zu der Einschätzung, dass die Studierenden nach ihrer Selbsteinschätzung sowohl im Bereich des Wissens über Trauma und L-S-Beziehung als auch im Bereich des Handelns profitieren. Die Ergebnisse aus den Evaluations- und Fragebögen zeigen gerade bei den neuen Lernpaten einen deutlichen Zuwachs bei den (selbsteingeschätzten!) Kompetenzen. Bezüglich der Haltung muss noch die qualitative Auswertung der Fragebögen abgewartet werden.

4 Soziale und kulturelle Integration durch das MentoringProjekt GeKOS […] the relationship between language acquisition and the social setting is reciprocal. (King & Lulle 2016: 68) Der Einfluss von Sprachlernen und sozialer und kulturelle Integration, wie im Zitat ausgedrückt, ist reziprok und untrennbar miteinander verknüpft. Mit dieser Perspektive wurde das Mentoringprojekt „GeKOS – gemeinsam entdecken Kinder ihren Ort mit Studierenden“ entwickelt. 45 Studierende der lehramtsbildenden Studiengänge und 45 Kinder mit Fluchtgeschichte treffen sich über acht Monate wöchentlich einmal und verbringen die Freizeit miteinander.

Umgang mit Diversität – der Beitrag von Mentoring- und Lernpatenprojekten

4.1

305

Professionalisierung und Reflexion

Berufliches Handeln wird in Anlehnung an Helsper (2014) als Auseinandersetzung mit antinomischen Strukturen begriffen, die zur Ausbalancierung typischer Spannungsfelder führt. Eine Spannung im Kontext der Mentoringarbeit im Projekt besteht z.B. darin, einerseits den Wünschen des Kindes entsprechen zu wollen sowie andererseits erforderlichen Grenzsetzungen Rechnung zu tragen. Eine andere Antinomie besteht darin, den kindlichen Bedürfnissen nach Nähe nachkommen zu wollen bei gleichzeitiger Anforderung an rollenförmige Distanz. Eingelagert in diese Auseinandersetzungen sind Reflexionsprozesse. Reflexion wird als gerichtete Aufmerksamkeit auf etwas Bemerkenswertes oder Irritierendes verstanden. Reflexionsprozesse bedürfen einer Problemsensitivität, damit sie der Reflexion zugänglich gemacht werden können (Fraefel 2017). 4.2

Methodisches Vorgehen

Auch wenn die projektbezogenen Ziele sowohl auf die Kinder als auch die Studierenden gerichtet sind, wird in diesem Beitrag der Fokus auf die Studierenden gelegt. Im Projekt GeKOS wird die „Entwicklung von transkultureller Professionalität und Reflexivität“ untersucht. In der wissenschaftlichen Begleitforschung wurden zu diesem Zweck Lernjournale entwickelt, die sieben offene und halboffene Fragen beinhalten und zu vier verschiedenen Zeitpunkten im Projektjahr von den Studierenden schriftlich bearbeitet werden. Zur Analyse der Dokumente wurde im ersten Projektjahr induktiv inhaltsanalytisch ein Kategoriensystem entwickelt, das in den Folgedurchgängen computergestützt auf alle Lernjournale (4 x 45) angewendet wurde. Die folgenden Ergebnisse stammen aus dem dritten Projektdurchgang (2017-2018). 4.3

Ergebnisse: Pädagogische Herausforderungen „Eine Situation ist, als Jalil mir etwas über seine Fluchtgeschichte erzählt hat, und ich erfahren habe, unter welch schlimmen Bedingungen seine Familie das Meer überquert hat. Sie sind in einem Boot mitgefahren, das mit Menschen überladen war und in das immer weiter Wasser floss. Das Wasser musste mit Bechern immer wieder aus dem Boot geschüttet werden. Jalil kann nicht schwimmen und wäre beim Ausstieg aus dem Boot beinahe ertrunken, hätte ihm ein Mann nicht geholfen. Einerseits war ich sehr geschockt, unter welchen Bedingungen Jalil und seine Familie das Meer überquert haben. Andererseits war ich überrascht, mit welcher Gelassenheit er das erzählt hat, anscheinend scheint er das gut überwunden zu haben.“ (LTB 4/ 2018, Rine)

Es ist kein Zufall, dass dieser Eintrag aus dem vierten Lernjournal am Projektende stammt. Wiederholt zeigt sich, dass die Kinder vor allem in der zweiten Projekt-

306

Elke Inckmann, Anne Frey, Anna Lautenschlager et al.

hälfte Vertrauen zu den Studierenden gefasst haben und dann von ihren sehr individuellen Fluchterlebnissen berichten und damit die Studierenden in eine Dilemmasituation bringen. Einerseits wollen diese verhindern, dass die Kinder re-traumatisiert werden und andererseits möchten sie gerne richtig reagieren. Aus manchen Lernjournalen geht hervor, dass diese Fragen in den begleitenden Coachingveranstaltungen kollektiv reflektiert werden und zur Entwicklung von Handlungsoptionen führen. Eine andere Situation, die in jedem Projektdurchgang zur Herausforderung wurde, wird im folgenden Beispiel beschrieben: „Im Dezember haben mir die Eltern mitgeteilt, dass die Familie im April abgeschoben wird. An dem Tag, als ich das erfahren habe, hat mich diese Nachricht sehr mitgenommen. Ich habe die ganze Nacht recherchiert, welche Möglichkeiten es gibt. Den darauffolgenden Tag war ich mit dem Vater bei der Diakonie zu einem Gespräch, welche Möglichkeiten für die Familie bestehen und was für sie zu tun ist. Leider war alles nicht so positiv. Die Familie hat mit mir eine Berufung bei Gericht eingelegt, diese wurde leider formlos Mitte Januar abgelehnt.“ (LTB 1/ 2018, Verena)

Die hier geschilderte Situation würde die Studierenden ohne den begleitenden Reflexionskontext im Coachingseminar überfordern. Die Studentin reflektiert zu einem späteren Zeitpunkt mit etwas Distanz, dass sie die Situation der Familie nicht lösen kann. Sie realisiert, dass sie die Kinder mit ihren gemeinsamen Unternehmungen unterstützen, nicht aber die Abschiebung der Familie beeinflussen kann. So bringt die Analyse der Lernjournale neue bzw. projektspezifische Spannungsfelder zu Tage:   

Umgang mit unsicheren Aufenthaltsbedingungen: zwischen Nähe und Distanz Umgang mit Fluchterfahrungen: zwischen Anteilnahme, Selbstschutz und Vermeidung von Re-Traumatisierung Umgang mit Sprache: Als Sprachvorbild agieren, Sprache anbieten, ohne zu entmündigen

Die beschriebenen Spannungsfelder zeigen, dass es zentral auch um die Auseinandersetzung mit der eigenen Rolle geht. Dafür braucht es, das zeigen die Ergebnisse der Lernjournale, bewertungsfreie und fest installierte Reflexionsräume, z. B. Supervision oder Coaching. Sie unterstützen in diesem Kontext nicht nur den Reflexionsprozess, sondern machen überhaupt erst sichtbar, was ein Reflexionsthema sein könnte, wie vielfältig die Themen und Herausforderungen sind und welche Handlungsoptionen gemeinsam entwickelt werden können.

Umgang mit Diversität – der Beitrag von Mentoring- und Lernpatenprojekten

307

5 Das Mentoring-Projekt WEICHENSTELLUNG als innovative Praxisphase zur Professionalisierung angehender Lehrkräfte WEICHENSTELLUNG setzt sich zum Ziel, Bildungsbenachteiligung im Schulformübergang entgegenzuwirken. Lehramtsstudierende begleiten Schüler*innen, die über das Potential für einen höheren Schulabschluss verfügen, jedoch aufgrund unterschiedlicher Herausforderungen zusätzliche Unterstützung benötigen. Gleichzeitig steht die berufliche Entwicklung von Lehramtsstudierenden im Mittelpunkt, die sich im Rahmen eines praxisorientierten Lehramtsstudiums als Lehrkraft in einer Kleingruppe erproben. 5.1

Konzeptioneller Rahmen

Die Studierenden werden an der Universität zu Köln als studentische Hilfskräfte angestellt. Zusätzlich erhalten sie die Möglichkeit, in den ersten beiden Projektjahren beide Praktika der Bachelor-Phase zu absolvieren. Alle zwei Wochen nehmen sie an einem Begleitseminar am Zentrum für Lehrer*innenbildung teil, in dem sie auf spezifische Herausforderungen des Projekts vorbereitet und in ihrem Professionalisierungsprozess unterstützt werden. 5.2

Begleitung der Mentor*innen

In den ersten beiden Projektjahren wurden in enger Zusammenarbeit mit den Mentor*innen Inhalte herausgearbeitet, die als besonders herausfordernd empfunden wurden. Auf dieser Basis wurde ein Seminarkonzept mit fünf Schwerpunkten entwickelt: Bildungsungleichheit, Psychologische Grundlagen, inner- und außerschulische Förderung der Kinder, Selbst- und Rollenreflexion der Studierenden sowie Forschendes Lernen. Der Forderung nach einem Lernzieldreiklang aus Wissen, Haltung und Handeln (SVR 2016) trägt das Seminarkonzept durch den Einsatz verschiedener Formate Rechnung: Expert*innen, z. B. Psycholog*innen, Sozialarbeiter*innen, erarbeiten Themen zunächst auf theoretischer Ebene, die anschließend gemeinsam mit einer Lehrkraft auf die pädagogische Arbeit mit den Kindern übertragen und von den Studierenden in der Praxis erprobt bzw. erlebt werden. Laut der HRK/KMK (2015) ist eine Zusammenarbeit in multiprofessionellen Teams zudem ein wichtiger Aspekt für den Umgang mit Vielfalt, für den die Lehramtsstudierenden frühzeitig sensibilisiert werden.

308 5.3

Elke Inckmann, Anne Frey, Anna Lautenschlager et al.

Evaluationsergebnisse

Die nachfolgenden Ergebnisse basieren auf Erhebungen (Fragebögen und Fokusgruppeninterview), die das ZfL Köln zur standortspezifischen Weiterentwicklung durchgeführt hat. Erste Ergebnisse zeigen, dass WEICHENSTELLUNG aus Sicht der Lehrkräfte einen Mehrwert für die Mentees hat. So geben 91 % bzw. 79 % der Lehrkräfte der 1. Kohorte 2017 (N = 24) an, dass durch das Projekt WEICHENSTELLUNG das Selbstvertrauen der Mentees gestärkt bzw. die schulischen Leistungen positiv beeinflusst wurden. Die Ergebnisse der Student*innen-Befragung zeigen besonders hohe Werte bei der Reflexion der Berufswahl sowie der Motivation für das Studium. 89 % bzw. 61 % der Studierenden der 1. Kohorte 2017 (N = 21) stimmen der Aussage zu, dass sie durch die Teilnahme an WEICHENSTELLUNG ihre Berufswahl reflektiert hätten bzw. sich ihre Motivation für das Lehramtsstudium erhöht hätte.

5.4

Ausblick

WEICHENSTELLUNG ermöglicht einen Baustein für ein praxisorientiertes Lehramtsstudium, das durch ein multiprofessionelles Begleitseminar dem Lernzieldreiklang aus Wissen, Haltung und Handeln entspricht. Ersten Evaluationsergebnissen zufolge wird durch die Teilnahme an WEICHENSTELLUNG eine Motivationssteigerung für das Studium erreicht. Welche spezifischen Faktoren diese Motivationssteigerung hervorrufen, gilt es zukünftig zu untersuchen, damit WEICHENSTELLUNG als Modell für reguläre Praxisphasen wirken kann.

6 Diskussion und Fazit Die im vorliegenden Beitrag vorgestellten Projekte beschäftigen sich mit der Frage, wie Grundschullehrkräfte und damit auch Grundschulen auf die durch Flucht- und Migrationsbewegungen ausgelösten Herausforderungen reagieren können und welche der hierfür nötigen Kompetenzen die Grundschullehramtsstudierenden schon während des Studiums erwerben können. Zentral für alle Projekte ist die Vorstellung, dass sich die Professionalität von Studierenden durch den Aufbau von theoretischem Wissen über Flucht, Migration und Sprachförderung in Verbindung mit praktischen Sprachhandeln an Geflüchteten und Migrierten erhöhen lässt. Die empirischen Ergebnisse zeigen, dass diese Annahme grundsätzlich zutrifft: Die an den Projekten beteiligten Studierenden gewinnen ihrer Selbsteinschätzung zufolge an Wissen und Können hinzu, sie verändern ihre Haltung in die gewünschte Richtung und ziehen aus den Projekten eine erhöhte Motivation

Umgang mit Diversität – der Beitrag von Mentoring- und Lernpatenprojekten

309

für ihr gesamtes Studium. Insofern ist der für die Durchführung der Projekte zusätzliche Aufwand gerechtfertigt und es scheint wünschenswert, mehr dieser Projekte in die Lehramtsausbildung zu integrieren.

Literatur Adam, H. & Inal, S. (2013): Pädagogische Arbeit mit Migranten- und Flüchtlingskindern: Unterrichtsmodule und psychologische Grundlagen. Mit Online-Materialien. Weinheim/Basel: Beltz. Autorengruppe Bildungsberichterstattung (2016): Bildung in Deutschland 2016. Bielefeld: Bertelsmann. Baer, U. & Frick-Baer, G. (2016): Flucht und Trauma. Wie wir traumatisierten Flüchtlingen wirksam helfen können. Gütersloh: Gütersloher Verlagshaus. Fraefel, U. (2017): Wo ist das Problem? Kernideen des angloamerikanischen Reflexionsdiskurses bei Dewey und Schön: In: Berndt, C.; Häcker, T.; Leonhard, T. (Hrsg.): Reflexive Lehrerbildung revisited. Traditionen-Zugänge-Perspektiven. Bad Heilbrunn: Klinkhardt, 56–74. Gogolin, I.; Neumann, U. & Roth, H.-J. (2003): Förderung von Kindern und Jugendlichen mit Migrationshintergrund. Gutachten. Bonn: BLK (145, IV Materialien zur Bildungsplanung und zur Forschungsförderung; 107). Helsper, W. (2014): Lehrerprofessionalität – der strukturtheoretische Professionsansatz zum Lehrberuf. In: Terhart, E.; Bennewitz, H.; Rothland, M. (Hrsg.): Handbuch der Forschung zum Lehrerberuf. Münster: Waxmann, 216–241. Hopp, H.; Thoma, D. & Tracy, R. (2010): Sprachförderkompetenz pädagogischer Fachkräfte: Ein sprachwissenschaftliches Modell. In: Zeitschrift für Erziehungswissenschaft 13, 609–629. HRK/KMK (2015): Lehrerbildung für eine Schule der Vielfalt. Gemeinsame Empfehlung von Hochschulrektorenkonferenz und Kultusministerkonferenz. Bonn/Berlin: HRK/KMK. Karro, Y. (2016): Zum Umgang mit traumatisierten Flüchtlingskindern an Schulen. In: Grundschule aktuell (134), 6–7. Keller, B. & Rettenbach, R. (2017): Traumatisierte Flüchtlingskinder. Wie können wir sie erkennen, und was können wir tun? In: Die Grundschulzeitschrift. (303), 19–23. King, R. & Lulle, A. (2016): Research on Migration: Facing Realities and Maximizing Opportunities. A Policy Review. Brüssel: European Commission. Kucharz, D. & Skorsetz, N. (2018): Diversität und soziale Ungleichheit. Herausforderungen an die Integrationsleistung der Grundschule. Call for Papers DGfE-Tagung 2018 in Frankfurt/Main. Sachverständigenrat deutscher Stiftungen für Integration und Migration (SVR) (2016): Lehrerbildung in der Einwanderungsgesellschaft. Berlin: SVR. Shah, H. (2016): Kinder, die fliehen mussten – in Schulen, Kindergärten und Kindertageseinrichtungen. In M., Reif-Huelser (Hrsg.): Trauma. Zeitschrift für Psychotraumatologie und ihre Anwendungen. 14 (1), 6–12. Thoma, D. & Tracy, R. (2015): SprachKoPF-Online Grundschulebeta. Instrument zur standardisierten Erhebung der Sprachförderkompetenz von Grudschullehrkräften. Mannheim: MAZEM.

Kindliche Lebenswirklichkeit aus der Perspektive von Lehramtsstudierenden: „Ich verstehe jetzt, warum er in der Schule so motiviert ist!“ Catania Pieper und Brigitte Kottmann1

Keywords: Schüler*innenhilfeprojekt, Umgang mit Heterogenität, Professionalisierung von Lehramtsstudierenden

Abstract Im Schüler*innenhilfeprojekt Schule für alle der Universität Bielefeld begleiten Lehramtsstudierende ein Kind über zwei Semester und erfahren so eine fortwährende Theorie-Praxis-Reflexion. Im Beitrag wird die Auseinandersetzung einer Studentin mit der kindlichen Lebenswirklichkeit rekonstruiert und unter dem Aspekt der Wahrnehmung und Herstellung von sozialer Ungleichheit analysiert.

1

Ausgangslage

Die Grundschule verfolgt seit ihrer Gründung das Ziel, eine Schule für alle zu sein, gleichwohl befindet sie sich – gemäß ihrer Funktionslogik – in einem Spannungsfeld von Integration und Selektion. Im Beitrag wird u.a. anhand des Milieukonzepts nach Bourdieu eine mögliche Ursache für soziale Ungleichheit aufgeführt, um vor diesem Hintergrund Lehrer*innenhandeln einordnen zu können. Folgend werden das Projekt Schule für alle und die wissenschaftliche Begleitung sowie exemplarische Einblicke in den Analyse- und Auswertungsprozess vorgestellt. Der Beitrag endet mit einer Diskussion und einem Ausblick. 1

Catania Pieper | Universität Bielefeld | [email protected] Brigitte Kottmann | Universität Bielefeld | [email protected]

© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 N. Skorsetz et al. (Hrsg.), Diversität und soziale Ungleichheit, Jahrbuch Grundschulforschung 24, https://doi.org/10.1007/978-3-658-27529-7_50

Kindliche Lebenswirklichkeit aus der Perspektive von Lehramtsstudierenden

311

2 Theoretischer Hintergrund Nach Bourdieu (1982) gehören Individuen mit einer vergleichbaren Ausprägung des ökonomischen, kulturellen, symbolischen und sozialen Kapitals demselben sozialen Raum an. Sie teilen gemeinsame Schemata des Wahrnehmens, Denkens und Verhaltens miteinander, die Bourdieu in dem Ausdruck Habitus bündelt. Ferner expliziert er einen sich (re-)produzierenden sozialen Prozess, da das Kapital den sozialen Raum (vor)bestimmt und zudem der Habitus in einem milieuspezifischen Sozialisationsprozess sowohl erworben als auch vererbt wird. Bourdieu & Passeron (1971: 20) rekonstruieren Mechanismen des Bildungswesens, die zu einer zirkulären Bildungsungleichheit beitragen. Sie deduzieren, dass „[…] das Schulsystem objektiv eine umso totalere Eliminierung vornimmt, je unterprivilegierter die Klassen sind“. Die Prozesshaftigkeit exponiert: Soziale (Bildungs-) Ungleichheit ist ein soziales Produkt der Gesellschaft. Auch wenn das Lehramtsstudium als „sozialer Aufstiegsberuf“ (Neugebauer 2013: 162) deklariert wird, so fungiert dennoch häufig der Mittelschichtshabitus in der Schulpraxis als (Be-)Wertungsmaßstab. Dies ist besonders prekär, wenn keine Passung zwischen dem familiären und dem schulischen (implizit geforderten) Habitus vorliegt und Mechanismen der institutionellen Diskriminierung und Selektion greifen (Gomolla & Radtke 2002). Ein Wahrnehmen von sowie Sensibilisieren für individuelle Lebens- und Lernsituationen von Kindern und Jugendlichen muss somit in der universitären Lehrer*innenbildung stattfinden (Schönknecht & de Boer 2008), um eine kritisch-reflexive Auseinandersetzung mit eigenen Erwartungen anzuregen und ein besseres Verstehen und Anerkennen von divergenten Lebenswirklichkeiten zu ermöglichen (Prengel 2006).

3 Das Projekt Schule für alle Im Jahr 1994 initiierte Dagmar Hänsel das Projekt Schule für alle an der Universität Bielefeld, das modular im Curriculum des Bachelorstudiums innerhalb des in NRW obligatorischen Berufsfeldpraktikums verankert ist. Während der einjährigen Praxisphase begleiten Studierende des Lehramts Grundschule und Grundschule mit Integrierter Sonderpädagogik ein Kind, das von sozialer Benachteiligung betroffen ist. Je nach Ausgangssituation erfolgt eine individuelle Förderung in schulischen und außerschulischen Bereichen, so dass die Einzelfallarbeit vielfältige Einblicke in die Lern- und Lebenssituation der Kinder ermöglicht (Kottmann 2014), die Kinder aber auch konkrete Unterstützung erhalten und mit „ihren Studierenden“ intensive Beziehungen eingehen. Die Studierenden erfahren dabei

312

Catania Pieper und Brigitte Kottmann

eine kontinuierliche universitäre Begleitung, so dass Praxis und Theorie in reflexiver Synergie zueinander stehen. 3.1

Forschungsmethodisches Vorgehen

Die wissenschaftliche Begleitung von Schule für alle ist im Projekt Biprofessional2 verankert und zielt (auch) auf die Entwicklung eines heterogenitätssensiblen professionellen Umgangs mit sozialer Benachteiligung und schulischen Selektionsmechanismen. Da ein besonderes Augenmerk auf jenen Erfahrungen liegt, die die Studierenden in ihrer Selbstsicht als bedeutungsvoll erleben, dokumentierten sie diese regelmäßig auf einem promptgestützten Reflexionsbogen. 3.2

Analyse und Auswertung

Datengrundlage ist ein Auszug aus einem exemplarischen Reflexionsbogen, auf dem eine Studentin zu Beginn des zweiten Semesters eine für sie „bedeutungsvolle Erfahrung“ beschreibt. Im Zentrum stehen der erstmalige Besuch des Kindes und Einblicke in seine private Lebenswirklichkeit; diese individuelle Auseinandersetzung wird unter dem Aspekt der Wahrnehmung und Herstellung von sozialer Ungleichheit analysiert. Orientiert an der objektiven Hermeneutik und angelehnt an Wernet (2012: 189), erfolgt eine Auswertung und Interpretation, um latente Sinnstrukturen rekonstruieren zu können. „[....] Ich war dann das erste Mal bei ihm Zuhause drinnen. Leider wurde uns kein richtiges Schreibwerkzeug zur Verfügung gestellt und die Geschwister waren sehr laut. Die Lernatmosphäre war also schwierig. Mein Förderkind war aber sichtlich dankbar für meine Hilfe und sagte mir das auch mehrmals, da er sonst Zuhause nie unterstützt würde. Es war bedeutsam, weil er Vertrauen zu mir hat und ich ihn natürlich nicht enttäuschen wollte. Außerdem war ich das erste Mal bei ihm richtig mit Zuhause. Ich habe gemerkt, dass ich etwas Besonderes für ihn bin, das hat mich sehr gefreut. Ich habe gemerkt, dass er Zuhause wenig Platz zum Lernen hat und nicht unterstützt wird, obwohl gute Noten verlangt werden. Ich verstehe jetzt, warum er manchmal so motiviert ist, viele Aufgaben in der Schule zu schaffen.“ (B_06)

Die Studentin markiert über die Formulierung „das erste Mal“ einen einmaligen Moment, denn sie erhielt Zugang (‚drinnen‘) zu einem Ort des Vertrauens und Geborgenseins (‚Zuhause‘). Dabei werden unerfüllte Erwartungen (‚leider‘) sichtbar, die sie über „kein richtiges Schreibwerkzeug“ und „die Geschwister waren sehr laut“ konkretisiert, so dass implizite Vorstellungen von einem ruhigen häuslichen Arbeitsplatz mit entsprechender Ausstattung deutlich werden. Diese

2

Das diesem Artikel zugrunde liegende Vorhaben Biprofessional wird im Rahmen der gemeinsamen Qualitätsoffensive Lehrerbildung von Bund und Ländern aus Mitteln des Bundesministeriums für Bildung und Forschung gefördert (Förderkennzeichen 01JA1608). Die Verantwortung für den Inhalt dieser Veröffentlichung liegt bei den Autorinnen.

Kindliche Lebenswirklichkeit aus der Perspektive von Lehramtsstudierenden

313

zwei Aspekte bündelt sie in „Lernatmosphäre“ und argumentiert, dass diese „schwierig“ war. „Mein Förderkind“ spiegelt eine persönliche Beziehung sowie parteiliche Nähe. Die Dankbarkeit des Kindes symbolisiert sowohl einen Moment der Anerkennung und Wertschätzung, als auch eine tendenzielle Ungleichheit, da Hilfe benötigt und Hilfe geboten wird. Trug die Dankbarkeit zunächst einen visuellen Charakter (‚sichtlich‘) so wird ihr zudem ein verbaler (‚sagte mehrmals‘) zugesprochen, so dass sie doppelt wahrgenommen werden kann. Sie führt weiter aus, dass „er sonst Zuhause nie unterstützt würde“. Es bleibt zum einem diffus, wer konkret adressiert wird (‚Zuhause‘), zum anderen greift sie auf einen absoluten Ausdruck (‚nie‘) zurück und verwendet die indirekte Rede (‚würde‘), so dass es sich möglicherweise weniger um die Sichtweise der Studentin handelt, als vielmehr fremde Äußerungen rezipiert werden. Anschließend konkretisiert sie ihren zentralen Moment der Erfahrung (‚es war bedeutsam‘): „weil er Vertrauen zu mir hat und ich ihn natürlich nicht enttäuschen wollte“. Sie beschreibt eine vertrauensvolle wie verantwortungsvolle Beziehung, die auf der Selbstverständlichkeit (‚natürlich‘) des pädagogischen Ethos beruht, Kinder nicht zu enttäuschen. Über „außerdem“ markiert sie den wichtigen Aspekt, dass sie „das erste Mal bei ihm richtig Zuhause“ war und hebt erneut das Eintreten in die familiäre Situation hervor. Durch diese Erfahrung hat sie zum einen wahrgenommen, dass sie „etwas Besonderes für ihn“ ist und pointiert zunächst ihre besondere Position, begleitet von einer betonten (‚sehr‘) positiven Emotion (‚gefreut‘). Zum anderen knüpft sie implizit an die eingangs benannte Lernatmosphäre an und ergänzt diese um „wenig Platz zum Lernen“ und führt weiter aus „nicht unterstützt wird“. Wählte sie zu Beginn noch die indirekte Rede, so formuliert sie es nun als Tatsache. Über „Obwohl“ leitet sie einen Widerspruch ein: „gute Noten verlangt werden“. Darauf basierend formuliert sie einen zentralen Moment der Erkenntnis (‚verstehe‘), der sich daraus (‚jetzt‘) ergibt: „warum er so motiviert ist, viele Aufgaben in der Schule zu schaffen“. Schule wird damit von ihr als ein Ort gefasst, an dem ‚richtiges Schreibwerkzeug zur Verfügung‘ steht, an dem es nicht ‚sehr laut‘ ist, an dem keine ‚schwierige‘ ‚Lernatmosphäre‘ herrscht und an dem genügend ‚Platz zum Lernen‘ besteht. Sie beschreibt folglich die Schule für das Kind als einen positiven Ort und als einen Ort der Chance.

4 Diskussion der Ergebnisse und Ausblick Schule für alle bietet den Studierenden einen besonderen Professionalisierungsraum (Kottmann 2014), indem Einblicke in die konkrete Lebenswirklichkeit von Kindern, aber auch intensive Kontakte und Beziehungen zu ihnen ermöglicht werden. Der erste „Hausbesuch“ ist häufig eine Situation, in der das eigene Kapital und der eigene Habitus, möglicherweise aber auch stereotype Vorstellungen einer

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Catania Pieper und Brigitte Kottmann

kritischen Reflexion unterzogen werden. Die exemplarische Erfahrung der Studentin zeigt, wie intensiv das persönliche Erleben und gleichzeitig die Nähe, Beziehung und Identifikation mit dem Kind sein können. Das Wahrnehmen sowie Verstehen von individuellen Lebens- und Lernsituationen wird gefördert, so dass auch die Wechselwirkungen zwischen der familiären und der schulischen Lage bewusster rekonstruiert werden können. Dass Schule sowohl einen Beitrag zur Ungleichheit leisten, aber auch eine wichtige Ressource für das Kind darstellen kann, ist hier eine zentrale Erkenntnis, die die antinomische Funktionslogik der Selektions- und Integrationsfunktion von Schule aufgreift. Die konstitutiven Elemente des Projekts bieten die Möglichkeit, ein Wahrnehmen, Verstehen und Anerkennen von Heterogenität zu fördern sowie die eigene milieuspezifische Sozialisation und mögliche Erwartungshaltungen zu reflektieren. So kann ein Beitrag zur Professionalisierung von zukünftigen Lehrkräften, aber auch eine konkrete Unterstützung der Kinder geleistet werden.

Literatur Bourdieu, P. (1982): Die feinen Unterschiede. Kritik der gesellschaftlichen Urteilskraft. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Bourdieu, P. & Passeron, J.-C. (1971): Die Illusion der Chancengleichheit: Untersuchung zur Soziologie des Bildungswesens am Beispiel Frankreichs. Stuttgart: Klett. Gomolla, M. & Radtke, F.-O. (2002): Institutionelle Diskriminierung. Die Herstellung ethnischer Differenz in der Schule. Opladen: Leske und Budrich. Kottmann, B. (2014): „Schule für alle“ – ein Projekt zur Förderung fachlicher und überfachlicher Kompetenzen. In: Rohlfs, C.; Harring, M. & Palentien, C. (Hrsg.): Kompetenz – Bildung. Soziale, emotionale und kommunikative Kompetenzen von Kindern und Jugendlichen (2. Aufl.). Wiesbaden: Springer VS, 375–384. Neugebauer, M. (2013): Wer entscheidet sich für ein Lehramtsstudium – und warum? Eine empirische Überprüfung der These von der Negativselektion in den Lehrerberuf. In: Zeitschrift für Erziehungswissenschaft 16 (1), 157–184. Prengel, A. (2006): Pädagogik der Vielfalt. Verschiedenheit und Gleichberechtigung in Interkultureller, Feministischer und Integrativer Pädagogik. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften. Schönknecht, G. & de Boer, H. (2008). Heterogenität aus der Perspektive von Studierenden oder der Wunsch nach Normalität. In Ramseger, J. & Wagener, M. (Hrsg.): Chancenungleichheit in der Grundschule. Ursachen und Wege aus der Krise. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften, 255–258. Wernet, A. (2012): Die Objektive Hermeneutik als Methode der Erforschung von Bildungsprozessen von Bildungsprozessen. In: Schitthelm, K. (Hrsg.): Qualitative Bildungs- und Arbeitsmarktforschung. Grundlagen, Perspektiven, Methoden. Wiesbaden: Springer VS, 183–201.

Professionswissen von Sachunterrichtsstudierenden zu Digitaler und Informatischer Bildung Eva Gläser1

Keywords: Digitale Medien, Informatische Bildung, Sachunterricht, Lehrerausbildung, Professionswissen

Abstract Die Etablierung der Digitalen Bildung in die Grundschule wird seit Jahren sowohl bildungspolitisch als auch medial breit diskutiert (KMK 2016). Ein nächster bedeutsamer Schritt ist die konzeptionelle Ausformung der Ausbildung der Studierenden. Hierfür gilt es adäquate Ausbildungsmodule zu entwickeln, die unter anderem auch das Professionswissen von Lehramtsstudierenden erweitern. Empirisch begründet ist, dass das Fachwissen (CK) für die Qualität des Unterrichts bedeutsam ist. In der vorgestellten Studie wurde daher unter anderem untersucht, über welches Fachwissen Sachunterrichtsstudierende zu ‚digitalen Medien‘ und ‚Digitalisierung‘ verfügen. Dabei konnten unterschiedliche Vorstellungen bzw. Fehlkonzepte rekonstruiert werden. Die Ergebnisse ermöglichen einen Ausgangspunkt für die konzeptionelle Weiterentwicklung von Lehrangeboten in der ersten Phase der Lehrer*innenausbildung.

1

Digitale und Informatische Bildung im Sachunterricht

Die Grundschule hat die Aufgabe und Zielsetzung, allen Schüler*innen eine grundlegende Bildung zu ermöglichen. Dabei gilt es auch, epochale gesellschaftliche Entwicklungen, wie beispielsweise die Digitalisierung, in den Grundschulunterricht zu integrieren. Als Gründe hierfür können zum einen die noch immer 1

Eva Gläser | Universität Osnabrück | [email protected]

© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 N. Skorsetz et al. (Hrsg.), Diversität und soziale Ungleichheit, Jahrbuch Grundschulforschung 24, https://doi.org/10.1007/978-3-658-27529-7_51

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Eva Gläser

vorherrschende soziale Ungleichheit, die Kinder individuell und strukturell innerhalb und außerhalb des Bildungswesens erfahren, genannt werden, zum anderen die Ermöglichung der Einbindung bzw. Aufklärung ihrer Lebenswelt im Grundschulalltag. Inzwischen ist das Lernen mit und über digitale Medien ebenso wie die Informatische Bildung zum verbindlichen Bildungsauftrag für den Grundschulbereich avanciert (KMK 2016). Zudem betont die Gesellschaft für Informatik (GI), dass durch Informatische Bildung Chancengleichheit und Inklusion in der Grundschule ermöglicht werde (GI 2018). Ein nächster wichtiger Schritt nach der didaktischen Begründung und inhaltlichen Ausformung ist die Fundierung der Digitalen und Informatischen Bildung in der Ausbildung von Studierenden. Dabei ist zu beachten, dass das „Lernen mit Medien“ eine querliegende Aufgabe aller Fächer im Grundschulbereich ist (KMK 2016), während das „Lernen über Medien“ bzw. die Informatische Bildung dem Lernbereich Sachunterricht zugeordnet werden kann.

2 Professionswissen und Lehrerausbildung Um adäquate universitäre Ausbildungsmodule entwickeln zu können, gilt es das Professionswissen angehender Lehramtsstudierenden zu erforschen. Denn „das professionelle Wissen von Lehrkräften gilt als zentrale Komponente für erfolgreiches unterrichtliches Handeln, welches den Wissenserwerb und die motivationale Entwicklung von Lernenden beeinflusst“ (Lange et al. 2015: 23). Das professionelle Lehrerwissen wird zumeist in Anlehnung an die Definition von Shulman grundlegend unterteilt in Fachwissen (CK), fachdidaktisches Wissen (PCK) und psychologisch-pädagogisches Wissen (PK). Wichtig ist, dass mit Fachwissen nicht nur Faktenwissen umschrieben wird, sondern auch die inhaltlichen Strukturen und Konzepte eines Faches. Das PCK beinhaltet dagegen „das Wissen über Curricula, Bedeutungen verständnisvollen Lernens, instruktionale Hilfen und über die Bewertung des Lernens“ (Ohle, Fischer & Kauertz 2011: 360). Empirisch begründet kann aufgezeigt werden, dass hierbei insbesondere auch der Einbezug des Fachwissens (Content Knowledge) unerlässlich ist (Blömeke & Zlatkin-Troitschanskaia 2015). So hat beispielsweise fehlendes Fachwissen bei Mathematiklehrer*innen nicht nur einen Einfluss auf unterrichtsbezogene sowie epistemologische Überzeugungen, sondern auch einen signifikant negativen Einfluss auf Schüler*innenleistungen (Blömeke et al. 2008). Für den Bereich der Digitalen und Informatischen Bildung kann somit eine Relevanz des Fachwissens von Lehrenden ebenso angenommen werden. Bisherige Forschungen zeigen zudem, dass das Fachwissen (CK) vor allem im Verlauf des Studiums erworben wird (Ohle et al. 2011: 360).

Professionswissen von Sachunterrichtsstudierenden zu Digitaler und Informatischer Bildung

317

Fachwissen zur Digitalen und Informatischen Bildung im Sachunterricht Die Operationalisierung des Professionswissen, über das angehende Lehrende im Fach Sachunterricht verfügen sollten, erfolgte unter anderem mittels einer teilstandardisierten Analyse aller Lehrpläne der 16 Bundesländer für das Schulfach Sachunterricht. Zudem wurden die Kompetenzen, die für den Primarbereich im Lehrplan 21 der Schweiz ausgewiesen sind, berücksichtigt (Deutschschweizer Erziehungsdirektoren-Konferenz 2016). Denn der Schweizer Lehrplan ist „weiter gefasst, als der Status quo in Deutschland“ (Bergner et al. 2018: 118). Zudem werden in diesem drei Kompetenzbereiche vereint: „(digitale) Medienbildung, ICT-Anwendungskompetenz und informatische Bildung“ (ebd.). Für das Fachwissen (im Bereich der Informatischen Bildung) können nach Bergner et al. derzeit noch keine Kompetenzbeschreibungen herangezogen werden, die für Lehrende in der Grundschule relevant sind. Denn für die Lehrenden liegt „bisher weder ein theoretisch hinreichend begründetes Kompetenzstrukturmodell“ vor, zudem sind „daraus abgeleitete, empirisch überprüfbare Stufungsmodelle“ noch nicht entwickelt worden (ebd.: 174). Grundsätzlich wird daher erkannt: „Um dies leisten zu können, bedarf es zunächst weiterer, teilweise langwieriger fachdidaktischer empirischer Forschung“ (ebd.).

3 Ergebnisse zum Fachwissen zu Digitalen Medien Im Rahmen der qualitativen Studie zum Professionswissen von Sachunterrichtsstudierenden wurde mit Hilfe von teilstrukturierten Einzelinterviews unter anderem das Fachwissen erhoben. Hierbei wurden auch Leitfragen zu zentralen Begriffen des digitalen Lernens, der Medienbildung und der Informatischen Bildung einbezogen. Im Folgenden wird näher ausgeführt, welche Vorstellungen bzw. Konzepte der Studierenden zu den wesentlichen Begriffen ‚digital’, ‚Digitalisierung’ bzw. „digitale Medien’ rekonstruiert werden konnten. Diese Begriffe wurden nicht nur erhoben, weil sie häufig in unterschiedlichster Form in Fachtexten oder im Alltag verwendet werden, sondern vor allem auch, weil sie eine Schlüsselrolle für das Verständnis beispielsweise von (digitalen) Medien, der Digitalisierung der Gesellschaft und der Speicherung von (digitalen) Daten einnehmen. „Digitalisierung bedeutet im engen Sinn die Überführung analoger (d.  h. stufenloser und damit theoretisch unendlich verschiedener) Daten in die digitale, d.  h. auf Ziffern (engl. „digit“) abbildbare und damit durch Computer verarbeitbare Form.“ (Haus der Kleinen Forscher 2018: 37). Schüler*innen der Schweiz soll dieses Fachwissen seit der Einführung des ‚Lehrplan 21’ bereits in der Primarstufe vermittelt werden. Insbesondere zu digitalen Daten bzw. zur Digitalisierung wird

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Eva Gläser

als Kompetenz festgeschrieben: Schüler*innen „kennen analoge und digitale Darstellungen von Daten (Text, Zahl, Bild und Ton) und können die entsprechenden Dateitypen zuordnen“. Und nach Maßgabe der Gesellschaft für Informatik sollen Schüler*innen bereits am Ende der zweite Klasse folgende Kompetenzen besitzen: „codieren Daten in eine binäre Darstellung und interpretieren binär dargestellte Elemente als Daten“ (GI 2018: 12). Es wird deutlich, Lehrende benötigen, um diese Inhalte vermitteln zu können bzw. um Lernarrangements hierzu konzipieren zu können, selbst ein grundlegendes Basiswissen. Die qualitative Studie zum Fachwissen umfasst eine Stichprobe von 33 Studierenden, die Lehramt an Grundschulen mit dem Erst- oder Zweitfach Sachunterricht studieren. Die Datenauswertung und -analyse wurde mittels der strukturierenden qualitativen Inhaltsanalyse durchgeführt. Die Interpretation der Daten zeigt, dass die Aussagen überwiegend zwischen rudimentären Anfangswissen und Reproduzieren von elementarem Faktenwissen einzustufen sind. Erklärungen, die grundlegende Kenntnisse aufzeigen, sind dagegen selten. Im Folgenden werden unterschiedliche Fehlvorstellungen, die rekonstruiert werden konnten, erläutert, da diese Anhaltspunkte für die Weiterentwicklung der universitären Ausbildung geben können. Eine deutliche Nähe zu alltagssprachlichen Wendungen zeigt z.B. die folgende Aussage. Eine Studentin (S 5) erklärt: „Mit digital verbinde ich auch immer so die Medien, die so ganz neu sind, ganz – so die es noch – die noch jünger sind.“ Die Fehlvorstellung, die hier deutlich wird, kann zusammengefasst werden als das Fehlkonzept ‚Digitale Medien = Neue Medien’. Der Begriff digital wird hier nicht in Bezug zu digitalen Daten erläutert, sondern stattdessen in einen vermeintlich linearen zeitlichen Bezug gesetzt, wie es auch alltagssprachlich oft geschieht. Eine weitere Vorstellung kann als das Fehlkonzept ‚Digital = Strom/Energie’ umschrieben werden. So führt (S 2) beispielsweise aus: „Der erste Gedanke war jetzt, dass das Digitale irgendwie mit Strom läuft. Also mit Energie.“ Die Studentin kann in ihren weiteren Ausführungen diese Vorstellung nicht ergänzen. Somit wird auch bei dieser Vorstellung die Übertragung bzw. Speicherung von Daten nicht in die Erklärung mit einbezogen. Die Erklärungen scheinen sich nur auf die Geräte/Medien selbst zu beziehen (Hardware) und somit die Wahrnehmung nur auf das äußere Sichtbare gelenkt zu sein. Eine Erweiterung dieses Vorstellungskonzept findet sich z. B. bei der folgenden Aussage: (S 4): „Digitale Medien sind meiner Meinung nach elektronische Medien. Also, alle Medien, die quasi auf Internet angewiesen sind, würde ich jetzt sagen.“ Das Fehlkonzept ist ergänzt um die Notwendigkeit des Internets: ‚Digital = Internet/elektronisch’.

Professionswissen von Sachunterrichtsstudierenden zu Digitaler und Informatischer Bildung

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4 Fazit und Ausblick Das Professionswissen von Lehramtsstudierenden ist ein Faktor für die zukünftige Unterrichtsqualität. Hierbei ist das Fachwissen (CK) nur ein Baustein, der in Kombination mit dem Fachdidaktischen Wissen bedeutsam ist. Die Auswertung der Interviews ergab, dass die Aussagen der befragten Studierenden ein geringes fachadäquates Verständnis über den Begriff ‚digital’ bzw. ‚digitale Medien’ aufweisen. Weitere empirische Forschung ist erforderlich, um sachunterrichtsdidaktisch begründete Angebote für Lehramtsstudierende zu entwickeln. Die hier vorgestellte Studie wird daher erweitert und fortgeführt.

Literatur Bergner, N.; Köster, H.; Magenheim, J.; Müller, K.; Romeike, R.; Schroeder, U. & Schulte, C. (2018): Zieldimensionen informatischer Bildung im Elementar- und Primarbereich. In: Stiftung Haus der kleinen Forscher (Hrsg.): Frühe informatische Bildung – Ziele und Gelingensbedingungen für den Elementar- und Primarbereich. Opladen, Berlin, Toronto: Barbara Budrich, 38–267. Blömeke, S.; Kaiser, G. & Lehmann, R. (Hrsg.) (2008): Professionelle Kompetenz angehender Lehrerinnen und Lehrer. Wissen Überzeugungen und Lerngelegenheiten deutscher Mathematikstudierende und -referendare. Erste Ergebnisse zur Wirksamkeit der Lehrerausbildung. Münster, 49–88. Blömeke, S. & Zlatkin-Troitschanskaia, O. (2015): Kompetenzen von Studierenden. Zeitschrift für Pädagogik. 61. Beiheft. Weinheim, Basel. Deutschschweizer Erziehungsdirektoren-Konferenz (Hrsg.) (2016): Lehrplan 21 – Medien und Informatik. Bern (Zugriff am 31.1.2019) https://be.lehrplan.ch. Gesellschaft für Informatik (GI) (2018): Kompetenzen für informatische Bildung im Primarbereich. Entwurfsfassung. Beilage zu LOG IN, 38 (89/190). Kultusminister Konferenz (KMK) (2016): Bildung in der digitalen Welt: Strategie der Kultusministerkonferenz.https://www.kmk.org/aktuelles/artikelansicht/strategie-bildung-in-der-digitalenwelt.html Lange, K.; Ohle, A.; Kleickmann, T.; Kauertz, A.; Möller, K. & Fischer, H. E. (2015): Zur Bedeutung von Fachwissen und fachdidaktischem Wissen für Lernfortschritte von Grundschülerinnen und Grundschülern im naturwissenschaftlichen Sachunterricht. Zeitschrift für Grundschulforschung. Bildung im Elementar- und Primarbereich, 8 (Heft 1/2015), 23–38. Ohle, A.; Fische, H. E.& Kauertz, A. (2011): Der Einfluss des physikalischen Fachwissens von Primarstufenlehrkräften auf Unterrichtsgestaltung und Schülerleistung. In: Zeitschrift für Didaktik der Naturwissenschaften; Jg. 17, 357–389. Stiftung Haus der kleinen Forscher (Hrsg.) (2018): Frühe informatische Bildung – Ziele und Gelingensbedingungen für den Elementar- und Primarbereich. Opladen, Berlin, Toronto: Barbara Budrich.

Soziale Standorte frühpädagogischer Fachkräfte – Eine vernachlässigte Dimension der Professionalisierungsdebatte? Stefanie Bischoff1

Keywords: Frühpädagogische Fachkräfte, Professionalität, Habitus, soziale Herkunft

Abstract Im Fokus des Beitrags steht die Frage, welche Bedeutung der sozialen Herkunft und dem Habitus von frühpädagogischen Fachkräften für die Arbeit in Kindertageseinrichtungen zukommt. Der Beitrag referiert auf Befunde einer habitus- und professionstheoretisch grundgelegten Dissertationsstudie (Bischoff 2017). Empirisch werden Interviews mit Fachkräften sowie Beobachtungen frühpädagogischer Praxis analysiert und vier Habitusmuster herausgearbeitet. Entlang eines Fallbeispiels werden Einblicke in Empirie und Befunde der Studie gegeben.

1

Einführung

Die frühpädagogische Praxis der Bildung, Betreuung und Erziehung von Kindern steht seit einigen Jahren europaweit im Fokus des politischen und wissenschaftlichen Interesses. Besonderes Augenmerk wird u. a. auf die „Qualität“ frühkindlicher Bildung2 und das frühpädagogische Personal gelegt. Neben v. a. fachlich1

Stefanie Bischoff | Johannes Gutenberg-Universität Mainz | [email protected]

2

Die Debatte um ‚Qualität‘ in der frühkindlichen Bildung, Betreuung und Erziehung kann hier nicht vertieft werden. Im Anschluss an Honig, Joos und Schreiber (2004) wird ‚Qualität‘ im Beitrag als multiperspektivisches Konstrukt verstanden.

© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 N. Skorsetz et al. (Hrsg.), Diversität und soziale Ungleichheit, Jahrbuch Grundschulforschung 24, https://doi.org/10.1007/978-3-658-27529-7_52

Soziale Standorte frühpädagogischer Fachkräfte

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inhaltlichen Kompetenzen werden Überzeugungen und Haltungen der Fachkräfte für die qualitativ hochwertige pädagogische Arbeit betont (Nentwig-Gesemann & Fröhlich-Gildhoff 2015). Seltener wird den sozialen Standorten von Fachkräften und ihrem auch milieuspezifisch geprägten Habitus Beachtung geschenkt. Der Beitrag referiert auf Befunde einer Dissertationsstudie (Bischoff 2017)3 zum Habitus von Fachkräften in Kindertageseinrichtungen und dessen Bedeutung für die Gestaltung der pädagogischen Praxis im Kontext gesellschaftlicher Ungleichheitsverhältnisse. Im Fokus steht die Frage, welche pädagogisch relevanten Wahrnehmungs-, Denk- und Handlungsorientierungen von frühpädagogisch Tätigen sich vor dem Hintergrund ihrer sozialen Herkunft rekonstruieren lassen.

2 Forschungsstand und theoretische Einbettung Einige frühpädagogische Studien beschäftigen sich mit außerberuflichen Erfahrungen von Fachkräften in ihrer Bedeutung für pädagogische Vorstellungen (z. B. Dippelhofer-Stiem 2002; Betz & de Moll 2015) Spezifisch mit Blick auf frühpädagogische Forschung fehlt es allerdings bislang an Befunden zur sozialen Herkunft der Fachkräfte und ihrem Einfluss auf pädagogisches Handeln. Um solche Zusammenhänge zu beleuchten, bietet sich Pierre Bourdieus Habituskonzept an, das auf die in der jeweiligen milieu- oder auch anderweitigen Sozialisation nachhaltig geprägten, meist unbewusst wirkenden Wahrnehmungs-, Denk- und Handlungsschemata fokussiert. Angelehnt an Ansätze der bourdieuschen Habitusanalyse in der Forschung zu pädagogischen Orientierungen von Lehrkräften (z. B. Lange-Vester 2015) wird analysiert, welche habitusspezifischen Orientierungen pädagogische Fachkräfte aufweisen.

3 Empirie Die Habitusanalysen der Fachkräfte basieren auf acht erzählgenerierend angelegten Leitfadeninterviews zu Kindheit, (Berufs-)Biographie, pädagogischer Praxis und weiteren Themen. Hinzu kommen Feld- und Videobeobachtungen von zwei der acht Fälle4. Herausgearbeitet wurden die impliziten (Wissens-)Strukturen, die Klassifikationen und der modus operandi der Interviewten. Mithilfe der Methode der Habitushermeneutik, die auf die Freilegung des Gesamthabitus einer Person, 3

Die Dissertation war in die von der VolkswagenStiftung geförderte EDUCARE-Studie „Leitbilder ‚guter Kindheit‘ und ungleiches Kinderleben‘ (Leitung: Prof. Dr. Tanja Betz, Laufzeit: 2010–2016) eingebettet.

4

Zwei Fachkräfte wurden jeweils eine Woche von der Forscherin in der Einrichtung begleitet.

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Stefanie Bischoff

ihre allgemeine Grundhaltung und die milieuspezifische soziale Verortung zielt (z. B. Lange-Vester 2015) und der Dokumentarischen Methode, die die konjunktiven Orientierungsrahmen unterschiedlicher (Sprach-)Handlungen in den Blick nimmt (z. B. Bohnsack 2013), wurde der Analysegegenstand bearbeitet. Insgesamt konnten die Einzelfälle und ihre Orientierungen zu vier Habitusmustern5 verdichtet und in unterschiedlichen sozialen Milieus verortet werden. Im Folgenden wird der Fall Andrea Mindel6 vorgestellt. Er steht beispielhaft für das Habitusmuster Autonomie und Selbsterfahrung, das auf Orientierungen in modernen und leistungsorientierten Arbeitnehmermilieus verweist (Bischoff 2017: 282). Autoritäten gegenüber sind diese Milieus eher skeptisch eingestellt und Autonomie wird durch eine geplante und ehrliche Lebensführung, anhaltende Bildungsanstrengungen und gegenseitige Hilfe ermöglicht (Vester 2015). In Kap. 3.1 wird gezeigt, wie eine grundlegende Orientierung des Gesamthabitus von Frau Mindel die verschiedenen Interviewthemen konstant durchzieht. Folgend wird in Kap. 3.2 anhand einer Beobachtungssequenz gezeigt, wie diese Orientierung Frau Mindels pädagogisches Handeln strukturiert. 3.1

Autonomie und Selbsterfahrung in Frau Mindels (Bildungs-)Biographie7

Andrea Mindel ist 40 Jahre alt und lebt in einer westdeutschen Großstadt. Nach einer als emotional belastend erlebten Schullaufbahn mit Schulwechsel erwirbt sie das Fachabitur. Sie folgt ihrem Studienwunsch („wollte eigentlich höher hinaus, wollte studieren“) und „jobbt“ nebenbei kontinuierlich in unterschiedlichsten pädagogischen Einrichtungen. Nach mehr als zehn Semestern bricht sie das Studium in einem pädagogischen Fach aus finanziellen Gründen ab. Sie schließt eine Erzieherausbildung an und sucht sich anschließend eine feste Anstellung in einer Einrichtung, deren Konzept ihr gut gefällt. Ein wiederkehrendes Element, das sich durch die verschiedenen Themen des Interviews zieht, ist die hohe Bedeutung, die Frau Mindel zum einen praktischer Erfahrung und zum anderen der Autonomie (s. 3.2) beimisst. Mit Blick auf die eigene Kindheit und Bildungslaufbahn setzt sie etwa das konkrete Erleben von Spaß und Erfüllung als Ausgangspunkt für ihr pädagogisch-berufliches Interesse. Auch im weiteren Bildungsverlauf sind es v. a. Erfahrungen in der Praxis in diversen pädagogischen Kontexten, die für sie „Gold wert“ sind – nicht etwa die Inhalte des Pädagogikstudiums. In den Erzählungen zur pädagogischen Arbeit hebt Frau Mindel die Erlebens- und Erfahrungsräume für Kinder als besonders 5

Die Habitusmuster sind Autonomie und Selbsterfahrung (1), Fachwissen und individuelle Entwicklung (2), Fürsorge und moralische Werte (3), Gemeinschaft und Akzeptanz (4).

6

Alle personen- und einrichtungsbezogenen Daten wurden anonymisiert bzw. pseudonymisiert.

7

Eine ausführliche empirische Falldarstellung findet sich u. a. in Bischoff (2017).

Soziale Standorte frühpädagogischer Fachkräfte

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bedeutsam hervor (z. B. regelmäßige Ausflüge). Explizit betont sie Selbstbildungs- und Selbsterfahrungsprozesse der Kinder durch eigenes Ausprobieren und frei zugängliche Materialien. In Bezug auf ihr Privatleben zeigt sie ebenfalls eine positive Orientierung an räumlicher und sinnlicher Erfahrung (z. B. durch Fernreisen). 3.2

Autonomie und Selbsterfahrung in der pädagogischen Arbeit

In der Praxis zeigt sich die Orientierung u. a. in den von Frau Mindel gestalteten Frühstückssituationen in der von ihr geleiteten Einrichtungsgruppe. Das Frühstück zeichnet sich durch einen dynamischen Ablauf aus: Die Kinder sind sowohl im Raum (Holen von Geschirr, Speisen, etc. während der gesamten Frühstückszeit) als auch am Platz (z. B. auf den Tisch krabbeln, um Speisen zu erreichen) häufig in Bewegung. Sie sind frei in der Lebensmittelwahl und dürfen sich (laut) unterhalten. Es finden wenige Reglementierungen von Erwachsenen (Frau Mindel und einem Praktikanten) statt. Das Frühstück, so lässt sich rekonstruieren, ist an gemeinschaftlicher und genüsslicher Erfahrung ausgerichtet. Diese Ausrichtung wird besonders dann sichtbar, wenn sie von den Akteur*innen in Frage gestellt wird, wie das Beispiel zeigt. Situation: Fünf Kinder und Frau Mindel frühstücken an einem runden Tisch. Fridolin [Kind] hat sich bereits drei gehäufte Löffel Kakaopulver in ein Glas gegeben. Bilal [Kind] greift ein: Protokollauszug (Handlungs- und Interaktionsverlauf): „Bilal streckt plötzlich mit einer schnellen Bewegung die Hand Richtung des Glases, das Fridolin hält und zieht es aus dessen Händen auf dem Tisch entlang in seine Richtung. Ein bisschen Kakaopulver verteilt sich dabei auf dem Tisch vor Fridolin. Dabei sagt Bilal laut, das Gesicht zu Fridolin gewandt: „Das reicht!“. In diesem Moment beugt sich Frau Mindel vor und streckt den linken Arm leicht angewinkelt in Bilals Richtung und ruft sehr laut: „Hey! Hey!“. Sie schüttelt leicht den Kopf, öffnet die Hand und macht damit eine deutende Geste in Richtung des Glases. […] Frau Mindel sagt mit Blick auf Bilal: „Was soll denn das?“. Sie zieht die Hand zurück, ihre Stirn ist gerunzelt, beide Unterarme liegen nun neben ihrem Teller auf dem Tisch. „Wieso sagst du dem Fridolin, dass es reicht?“ […] „Lass den Fridolin bitte so viel nehmen, dass er denkt, was ihm reicht.“ Das Wort „ihm“ wird nochmal von einer Geste mit der linken Hand begleitet. […] Die Geste wirkt ruhig und das Gesprochene unterstreichend […]“

Frau Mindels Intervention orientiert sich in der Szene v. a. daran, Fridolins Entscheidungsfreiheit und seine selbstbestimmte Erfahrung zu wahren. Es steht in dieser Logik grundsätzlich in Frage, einer anderen Person bei der Zubereitung des Frühstücks Grenzen aufzuerlegen. Bilals Versuch, hier die Definitionsmacht zu übernehmen, wird von Frau Mindel zurückgewiesen. Auch Frau Mindel selbst versucht nicht, die „richtige“ oder „angemessene“ Kakaomenge vorzugeben. Die Sanktionierung zielt auf die Sicherstellung des Frühstücks als lustvolle und erfahrungsgesättigte gemeinschaftliche Praxis für alle Beteiligten.

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Stefanie Bischoff

4 Zusammenfassung und Schlussfolgerungen Der Fall Frau Mindel und weitere Fälle legen nahe, dass die Fachkräfte unterschiedliche habitusspezifische Zugänge zu früher Bildung, Erziehung und Betreuung haben. Die Orientierungen der Fälle lassen sich zu heterogenen Habitusmustern verdichten. Sie korrespondieren mit Standorten im sozialen Raum, die auf gesellschaftliche Milieus verweisen. Die Befunde sprechen dafür, habitusspezifische (Handlungs-)Möglichkeiten und Grenzen in frühpädagogischen Handlungsfeldern weiter zu explorieren und so sichtbar und bearbeitbar zu machen. Die Befunde können zudem aktuelle Professionalisierungsdebatten bereichern, indem der Fokus noch stärker auf die Verwobenheit von sozialen und biographischen Erfahrungen mit fachlichen Kompetenzen und beruflichem Können ausgeweitet wird. Für die Professionalisierung der Fachkräfte ginge es aus habitussensibler Perspektive u. a. darum, eigene ‚Zugänge‘ und die damit in Zusammenhang stehenden Stärken und Schwächen bewusster zu machen.

Literatur Betz, T. & de Moll, F. (2015): Sozial situierte Erwartungen von Eltern und pädagogischen Fachkräften an gute Kindertageseinrichtungen. Ein gesellschaftstheoretischer und empirisch-quantitativer Beitrag zur Qualitätsdebatte. In: Empirische Pädagogik, 29 (3), 371–392. Bischoff, S. (2017): Habitus und frühpädagogische Professionalität. Eine qualitative Studie zum Denken und Handeln von Fachkräften in Kindertageseinrichtungen. Weinheim: Beltz Juventa. Bohnsack, R. (2013): Dokumentarische Methode und die Logik der Praxis. In: Lenger, A.; Schneickert, C. & Schumacher, F. (Hrsg.): Pierre Bourdieus Konzeption des Habitus. Grundlagen, Zugänge, Forschungsperspektiven. Wiesbaden: Springer VS, 175199. Lange-Vester, A. (2015): Habitusmuster von Lehrpersonen – auf Distanz zur Kultur der unteren Klassen. In: Zeitschrift für Soziologie der Erziehung und Sozialisation, 35 (4), 360–376. Dippelhofer-Stiem, B. (2002): Kindergarten und Vorschulkinder im Spiegel pädagogischer Wertvorstellungen von Erzieherinnen und Eltern. In: Zeitschrift für Erziehungswissenschaft, 5 (4), 655– 671. Nentwig Gesemann, I. & Fröhlich-Gildhoff, K. (2015): Kompetenzorientierung als Fundament der Professionalisierung frühpädagogischer Fachkräfte. In: König, A.; Leu, H. R. & Viernickel, S. (Hrsg.): Forschungsperspektiven auf Professionalisierung in der Frühpädagogik. Empirische Befunde der AWiFF-Förderlinie. Weinheim: Beltz Juventa, 4868. Honig, M.-S.; Joos, M. & Schreiber, N. (Hrsg.) (2004): Was ist ein guter Kindergarten? Theoretische und empirische Analysen zum Qualitätsbegriff in der Pädagogik. Weinheim: Juventa. Vester, M. (2015): Die Grundmuster der alltäglichen Lebensführung und der Alltagskultur der sozialen Milieus. In: Freericks, R.; Brinkmann, D. (Hrsg.): Handbuch Freizeitsoziologie. Wiesbaden: Springer, 143187.

Förderung der professionellen Wahrnehmung von sprachsensiblem Unterricht im Masterstudium Oliver Grewe, Mareike Bohrmann und Kornelia Möller1

Keywords: Sachunterricht, professionelle Wahrnehmung, videobasierte Lehrveranstaltungen, Sprachsensibilität

Abstract Ergebnisse des ViU-Projekts konnten zeigen, dass die professionelle Wahrnehmung von lernunterstützenden Maßnahmen durch videobasierte Lehrveranstaltungen bereits im Studium gefördert werden kann. Da sie als domänenspezifisch gilt, bleibt bisher offen, ob auch die professionelle Wahrnehmung von sprachsensibler Lernunterstützung gefördert werden kann. Zu diesem Zweck wurde eine Lehrveranstaltung entwickelt, die mithilfe einer offenen Videoanalyse und eines Fragebogens evaluiert wird.

1

Ausgangslage und Zielsetzung

Die im Beitrag vorgestellte videobasierte Lehrveranstaltung ist Teil eines Projekts der Qualitätsoffensive Lehrerbildung (QLB) an der WWU Münster. Sie verfolgt das Ziel, die professionelle Wahrnehmung als eine wesentliche Voraussetzung für angemessenes Lehrerhandeln im Unterricht (Hamre et al. 2012) bei Lehramtsstudierenden zu fördern. Durch den Einsatz realer Unterrichtsvideos und deren theoriebasierter Reflexion soll die oftmals bemängelte Theorie-Praxis-Integration in der Lehrerbildung verbessert werden. 1

Oliver Grewe | WWU Münster | [email protected] Mareike Bohrmann | WWU Münster | [email protected] Kornelia Möller | WWU Münster | [email protected]

© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 N. Skorsetz et al. (Hrsg.), Diversität und soziale Ungleichheit, Jahrbuch Grundschulforschung 24, https://doi.org/10.1007/978-3-658-27529-7_53

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Oliver Grewe, Mareike Bohrmann und Kornelia Möller

Die professionelle Wahrnehmung gilt als domänenspezifisch (Steffensky et al. 2015). Für die Domäne der Lernunterstützung im naturwissenschaftlichen Sachunterricht zeigen Befunde, dass die Förderung der professionellen Wahrnehmung durch den Einsatz von Videos möglich ist (Sunder, Todovora & Möller 2016). Da fachliches und sprachliches Lernen eng zusammenhängen (Lehrplan NRW 2013), ist es wichtig, auch sprachliches Lernen im Fachunterricht in den Blick zu nehmen. Im Einzelprojekt Sachunterricht der QLB Münster wurden daher Maßnahmen sprachsensibler Lernunterstützung beschrieben, Videoaufnahmen eines sprachsensiblen Unterrichts erstellt sowie eine Lehrveranstaltung zur Förderung der professionellen Wahrnehmung in dieser Domäne konzipiert.

2 Theoretische Rahmung 2.1

Professionelle Wahrnehmung

Die professionelle Wahrnehmung beinhaltet die Fähigkeit, bedeutsame Interaktionen und Prozesse in Unterrichtssituationen zu erkennen (noticing) und theorieund wissensgeleitet zu interpretieren (knowledge-based reasoning) (Sherin 2007). Seidel, Blomberg und Stürmer (2010) gliedern diesen Prozess in das differenzierte Beschreiben lernwirksamer Unterrichtskomponenten, das theoriebasierte Erklären von Unterrichtssituationen und das Vorhersagen ihrer Wirkung auf weitere Lehr-Lern-Prozesse. Santagata, Zannoni und Stiegler (2007) nennen zudem das Generieren von Handlungsalternativen als Facette. Insgesamt belegen Forschungsbefunde (Roth et al. 2011; Hamre et al. 2012) die Relevanz der professionellen Wahrnehmung und den Bedarf einer Förderung. 2.2

Videobasierte Lehrveranstaltung

Die Möglichkeiten für den Einsatz von Videos sind vielfältig (Krammer 2014): Videos können als „Best-practice“-Beispiele zur Veranschaulichung wissenschaftlicher Konzepte, als Unterrichtsaufzeichnungen, um Möglichkeiten der Optimierung zu generieren, oder als Grundlage für Unterrichtsanalysen, um Theorie und Praxis miteinander abzugleichen, eingesetzt werden. Beim Einsatz von Videos muss zwischen fremden und eigenen Videos unterschieden werden, da sie verschiedene Wirkungen haben. Während bei der Analyse eigener Videos höhere motivationale Effekte auftreten, stärkere kognitive Prozesse ausgelöst werden (Seidel et al. 2011) und die Selbstreflexion angeregt wird (Krammer 2014), eignen sich fremde Videos insbesondere, um unbekannte Aspekte des Unterrichts zu thematisieren, kritisch zu reflektieren und gemeinsam zu diskutieren (Saego 2004).

Förderung der professionellen Wahrnehmung von sprachsensiblem Unterricht

327

Seidel et al. (2013) verglichen die Effekte unterschiedlicher Herangehensweisen beim Videoeinsatz auf die Analysefähigkeit der Studierenden. Ein instruktional-deduktives Vorgehen, bei dem die Lehrperson theoretische Überlegungen zu zentralen Unterrichtsqualitätsmerkmalen darstellt, die theorieorientierte Videoanalyse vorführt und die Studierende diese anschließend eigenständig durchführen, eignet sich nach den Autor*innen für die Vermittlung basalen Wissens. Ein problembasiert-induktiver Aufbau, bei dem auf eine kurze Einführung in das Vorgehen bei der Videoanalyse eine Erarbeitung theoretischer Aspekte anhand von Unterrichtsvideos im gemeinsamen Austausch folgt, eignet sich eher für die längerfristige Ausbildung von flexiblen und transferierbaren Analysefähigkeiten. Insgesamt wird der Videoeinsatz in der Lehrerbildung als sinnvoll und produktiv eingeschätzt (Krammer et al. 2008). Wichtig ist, dass der Umgang mit Videos bzw. deren Analyse von Studierenden zunächst erlernt wird (Saego 2004). 2.3

Förderung professioneller Wahrnehmung durch den Einsatz von Videos

In verschiedenen Studien konnte gezeigt werden, dass der Einsatz von Videos die Förderung der professionellen Wahrnehmung angehender Lehrkräfte unterstützt (z. B. Sherin 2007; Gold et al. 2013). Sunder et al. (2016) wiesen nach, dass eine stärkere Verbesserung der professionellen Wahrnehmung durch eine video- und textbasierte Intervention möglich ist als durch eine rein textbasierte Intervention. Zudem zeigte sich, dass eine Veränderung des Analysefokus‘ durch die Teilnahme an einer videobasierten Auswertung von Unterricht möglich ist: Zu Beginn fokussierten Teilnehmer*innen eher Oberflächenstrukturen des Unterrichts, später bezogen sie mehr Tiefenstrukturen bei Analysen mit ein (Roth et al. 2011).

3 Konzept der videobasierten Lehrveranstaltung Die konzipierte Lehrveranstaltung lässt sich in vier Blöcke unterteilen: (1) Zu Beginn setzen sich die Studierenden in einer Sitzung theoretisch sowie handelnd mit dem Unterrichtsthema Magnetismus auseinander. So erwerben sie fachliches und fachdidaktisches Wissen als Grundlage für den weiteren Seminarverlauf. In drei Sitzungen werden dann die dem Seminar zugrundeliegenden Maßnahmen potentiell sprachsensibler Lernunterstützung (Grewe, Bohrmann & Möller. unveröffentl. Manuskript) theoriebasiert erarbeitet. Dabei werden Elemente eines (a) instruktional-deduktiven und (b) problembasierten-induktiven Ansatzes kombiniert: (a) Die potentiell sprachsensiblen Maßnahmen und das Vorgehen bei der Videoanalyse werden von der Seminarleitung anhand fremder Videos erläutert und veranschaulicht. (b) Anschließend führen die Studierenden Analysen fremder Videos durch, die dann diskutiert werden. Um eine zielge-

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Oliver Grewe, Mareike Bohrmann und Kornelia Möller

richtete Analyse zu ermöglichen, wird zunächst nur das Identifizieren von Maßnahmen (noticing) fokussiert, indem die Studierenden relevante Ereignisse sprachsensibler Lernunterstützung notieren. (2) Anschließend planen die Studierenden in Kleingruppen in zwei Sitzungen eine zweistündige Unterrichtseinheit zum Thema Magnetismus für eine Grundschulklasse. Dabei werden sie von einer Lehrkraft sowie der Seminarleitung unterstützt. Mithilfe der im Vorfeld der Planung durchgeführten Kurzdiagnose sowie der erarbeiteten sprachsensiblen Maßnahmen wird eine zur Lerngruppe passende sprachsensible Unterrichtsplanung angefertigt. (3) In den folgenden zwei Wochen führen die Studierenden den geplanten Unterricht in Kooperationsklassen durch und videografieren den Unterricht. (4) Die Videoaufnahmen werden in den folgenden vier Sitzungen reflektiert. Als Strukturierungshilfe für die Videoanalyse wird schrittweise eine vierspaltige Tabelle eingeführt. In der ersten Spalte werden lernrelevante Ereignisse sprachsensibler Lernunterstützung notiert (noticing). Die weiteren Spalten (theoriebasierte Interpretation der Lehrer*innenhandlung, begründete Bewertung, sinnvolle Handlungsalternative) sind dem knowledge-based reasoning zuzuordnen. In Einzel-, Partner, und Gruppenarbeit werden sowohl die eigenen als auch die Videos der Kommiliton*innen nach diesem Vorgehen analysiert.

4 Evaluation der videobasierten Veranstaltung Die Wirkung der Veranstaltung auf die Fähigkeit zur professionellen Wahrnehmung sprachsensibler Maßnahmen wird mithilfe einer offenen Videoanalyse vor und nach der Veranstaltung erhoben. Die Studierenden analysieren ein fünfminütiges Video innerhalb von 45 Minuten mithilfe der beschriebenen vierspaltigen Tabelle (Kap. 3). Selbstwirksamkeitsüberzeugungen der Studierenden bezüglich des Erkennens, Planens und Durchführens sprachsensibler Lernunterstützung werden ebenfalls Prä und Post mithilfe eines geschlossenen Fragebogens (Kauertz et al. 2011) erhoben. Die Ergebnisse beider Erhebungen sollen nach erfolgter Auswertung miteinander in Verbindung gebracht werden.

Literatur Gold, B.; Förster, S. & Holodynski, M. (2013): Evaluation eines videobasierten Trainingsseminars zur Förderung der professionellen Wahrnehmung von Klassenführung im Grundschulunterricht. Zeitschrift für Pädagogische Psychologie, 27(3), 141–155. Grewe, O.; Bohrmann, M. & Möller, K. unveröffentl. Manuskript.

Förderung der professionellen Wahrnehmung von sprachsensiblem Unterricht

329

Hamre, B.; Pianta, R.; Burchinal, M.; Field, S.; LoCasale-Crouch, J. & Downer, J. (2012): A course on effective teacher-child interactions: effects on teacher beliefs, knowledge, and observed practice. American Educational Research Journal, 49 (1), 88–123. Kauertz, A.; Kleickmann, T.; Ewerhardy, A.; Fricke, K.; Lange, K. & Ohle, A. (2011): Dokumentation der Erhebungsinstrumente im Projekt PLUS, Forschergruppe und Graduiertenkolleg nwu-essen. Krammer, K.; Schnetzler, C.; Ratzka, N.; Reusser, K.; Pauli, C. & Lipowsky, F. (2008): Lernen mit Unterrichtsvideos: Konzeption und Ergebnisse eines netzgestützten Weiterbildungsprojekts mit Mathematiklehrpersonen aus Deutschland und der Schweiz. Beiträge zur Lehrerbildung, 26 (2), 178–197. Krammer, K. (2014): Fallbasiertes Lernen mit Unterrichtsvideos in der Lehrerinnen- und Lehrerbildung. Beiträge zur Lehrerinnen- und Lehrerbildung, 32 (2), 164–175. Richtlinien und Lehrpläne für die Grundschule in Nordrhein-Westfalen (2008): Deutsch, Sachunterricht, Mathematik, Englisch, Musik, Kunst, Sport, Evangelische Religionslehre, Katholische Religionslehre (1. Aufl.).: Schule in NRW: Vol. 2012. Frechen: Ritterbach. Roth, K.; Garnier, H.; Chen, C.; Lemmens, M.; Schwille, K. & Wickler, N. (2011): Videobased lesson analysis: Effective science PD for teacher and student learning. Journal of Research in Science Teaching, 48 (2), 117–148. Seago, N. (2004): Using videos as an object of inquiry for mathematics teaching and learning. In: Brophy, J. (Ed.), Using Video in Teacher Education (pp. 259–286). Oxford: Elsevier. Santagata, R.; Zannoni, C. & Stigler, J. W. (2007): The role of lesson analysis in pre-service teacher education: an empirical investigation of teacher learning from a virtual video-based field experience. Journal of Mathematics Teacher Education, 10 (2), 123-140. Seidel, T.; Blomberg, G. & Stürmer, K. (2010): „Observer“– Validierung eines videobasierten Instruments zur Erfassung der professionellen Wahrnehmung von Unterricht. Zeitschrift für Pädagogik, 56, 296–306. Seidel, T.; Stürmer, K.; Blomberg, G.; Kobarg, M. & Schwindt, K. (2011): Teacher learning from analysis of videotaped classroom situations: Does it make a difference whether teachers observe their own teaching or that of others? Teaching and Teacher Education, 27, 259–267. Seidel, T.; Blomberg, G. & Renkl, A. (2013): Instructional strategies for using video in teacher education. Teaching and Teacher Education, 34, 56–65. Sherin, M.G. (2007): The development of teachers’ professional vision in video clubs. In: Goldman, R.; Pea, R.; Barron, B. & Derry, S.J. (Hrsg.): Video research in the learning sciences. Mahwah: Lawrence Erlbaum, 383395. Steffensky, M.; Gold, B.; Holodynski, M. & Möller, K. (2015): Professional vision of classroom management and learning support in science classrooms – Does professional vision differ across general and content-specific classroom interactions? International Journal of Science and Mathematics Education, 13(2), 351–368. Sunder, C.; Todorova, M. & Möller, K. (2016): Förderung der professionellen Wahrnehmung bei Bachelorstudierenden durch Fallanalysen. Lohnt sich der Einsatz von Videos bei der Repräsentation der Fälle? Unterrichtswissenschaft, 44 (4), 339–356.

Professionalisierung von Lehrkräften zur bedeutungsfokussierten Sprachförderung im Sachunterricht der Grundschule: Das Projekt ProSach Rosa Hettmannsperger, Katrin Gabler, Susanne Mannel, Ilonca Hardy, Sofie Henschel, Birgit Heppt, Christine Sontag und Petra Stanat 1

Keywords: fachintegrierte Sprachförderung, Scaffolding, Sachunterricht, Professionalisierung

Abstract Lehrkräfte stehen in allen Fächern vor der Herausforderung, Schüler*innen sowohl fachliches Wissen zu vermitteln als auch ihre sprachlichen Fähigkeiten zu fördern. Das Forschungs- und Entwicklungsprojekt „Professionalisierungsmaßnahmen zur bedeutungsfokussierten Sprachförderung im Sachunterricht der Grundschule“ greift diese Anforderung auf und zielt auf die Entwicklung, Umsetzung und Evaluation eines Professionalisierungsansatzes, der die teilnehmenden Lehrkräfte dazu qualifizieren soll, Schüler*innen fachlich und sprachlich im Sachunterricht der 3. Klassenstufe zu fördern. In diesem Beitrag werden für das 1

Rosa Hettmannsperger | Goethe-Universität Frankfurt | [email protected] Katrin Gabler | Humboldt-Universität zu Berlin | [email protected] Susanne Mannel | Goethe-Universität Frankfurt | [email protected] Ilonca Hardy | Goethe-Universität Frankfurt | [email protected] Sofie Henschel | Institut zur Qualitätsentwicklung im Bildungswesen (IQB) an der HumboldtUniversität zu Berlin | [email protected] Birgit Heppt | Humboldt-Universität zu Berlin | [email protected] Christine Sontag | Humboldt-Universität zu Berlin | [email protected] Petra Stanat | Institut zur Qualitätsentwicklung im Bildungswesen (IQB) an der Humboldt-Universität zu Berlin | [email protected]

© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 N. Skorsetz et al. (Hrsg.), Diversität und soziale Ungleichheit, Jahrbuch Grundschulforschung 24, https://doi.org/10.1007/978-3-658-27529-7_54

Professionalisierung von Lehrkräften zur bedeutungsfokussierten Sprachförderung

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Themengebiet „Schwimmen und Sinken“ erste Befunde zur Wirksamkeit der Professionalisierung bezüglich zentraler Kompetenzen der Lehrkräfte vorgestellt.

1

Problemaufriss, Zielsetzung und theoretische Bezüge

Bildungssprachliche Kompetenzen gelten als zentrale Voraussetzung für schulischen Erfolg (Schuth, Köhne & Weinert 2017). Dabei stellen diese Kompetenzen insbesondere Kinder aus Familien mit geringem sprachlichem Anregungspotenzial sowie Kinder mit Deutsch als Zweitsprache vor Herausforderungen. In den meisten Rahmenlehrplänen der Bundesländer gilt sprachsensibles Unterrichten deshalb mittlerweile als Zielsetzung in allen Schulfächern. Das Projekt ProSach2 setzt an diesem Punkt an und verfolgt drei Hauptziele: (1) Die Professionalisierung von Lehrkräften zur Umsetzung von Sprachförderung im Sachunterricht, (2) die Evaluation des ProSach-Ansatzes in einer Wirksamkeitsstudie und (3) die Entwicklung eines praxisorientierten Leitfadens zur fachintegrierten Sprachförderung für den Sachunterricht der 3. Klassenstufe. Entsprechend der Zielsetzungen des Projekts ergeben sich die folgenden theoretischen Bezüge: Das ProSach-Curriculum orientiert sich an konstruktivistischen Lerntheorien und empirischen Befunden zu Konzeptwechsel und handlungsorientiertem Unterricht (vgl. auch Hardy, Hettmannsperger & Gabler 2019). Entsprechend greift der ProSach-Unterricht in zahlreichen Stationen grundlegende Alltagserfahrungen auf (Jonen & Möller 2005), um auf diese Weise authentische Sprechanlässe und Konzeptwechsel zu initiieren. Das ProSach-Sprachförderkonzept basiert auf dem Scaffolding-Ansatz nach Gibbons (2002). Gibbons` Ansatz zielt auf eine systematische Unterstützung von Schüler*innen beim Erwerb sprachlicher Strukturen im fachlichen Unterricht, die mit zunehmendem Lernerfolg schrittweise zurückgenommen wird. Dabei werden die Schüler*innen bei der Formulierung von Äußerungen zu fachlichen Inhalten durch Lehrkraftimpulse unterstützt und es werden Gelegenheiten geboten, Bedeutungen in der Lerngemeinschaft diskursiv auszuhandeln. Durch authentische Problemstellungen und gezielte Strukturierungsmaßnahmen der Lehrkraft werden somit zahlreiche Situationen für bedeutungsfokussierte Sprachförderung geschaffen. 2

Das Forschungs- und Entwicklungsprojekt „Professionalisierungsmaßnahmen zur bedeutungsfokussierten Sprachförderung im Sachunterricht der Grundschule (ProSach)“ wird vom Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) im Rahmen der Bund-Länder-Initiative „Bildung durch Sprache und Schrift (BiSS)“ gefördert. Das Projekt wird von Prof. Dr. Petra Stanat (HU und IQB Berlin) und Dr. Sofie Henschel (IQB Berlin), Förderkennzeichen: FKZ 01JI1602A sowie von Prof. Dr. Ilonca Hardy (Goethe-Universität Frankfurt), Förderkennzeichen: FKZ 01JI1602B, geleitet.

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Zur Evaluation des Fortbildungskonzepts wurden zentrale Aspekte der Lehrkraftkompetenzen einbezogen. So ist bekannt, dass sich neben Qualität und Konzeption des Fortbildungsangebots insbesondere individuelle Voraussetzungen wie Fachwissen, Zielorientierungen, Einstellungen und Selbstregulationsfähigkeiten von Lehrkräften auf die Umsetzung von Fortbildungsinhalten im Unterricht und die damit verbundenen Schülerleistungen auswirken (Lipowsky 2010).

2 Fragestellung In diesem Beitrag steht die Frage im Mittelpunkt, ob sich Facetten der professionellen Kompetenz von Grundschullehrkräften durch Professionalisierungsmaßnahmen auf der Grundlage des Scaffolding-Ansatzes in der erwarteten Richtung positiv verändern. Dazu werden in einem Vergleichsgruppendesign mit Prä-Postmessung die Facetten des fachdidaktischen Wissens, der Sprachförderkompetenz und der Einstellungen zu Conceptual Change in den Blick genommen.

3 Methode Stichprobe und Design An der Professionalisierungsmaßnahme nahmen anfänglich (Stand Juli 2017) N = 43 Grundschullehrkräfte aus dem Raum Berlin und Frankfurt teil. Die hier berichteten Evaluationsergebnisse basieren aufgrund eines hohen Dropouts während der Implementationsphase auf Daten von 28 Lehrkräften (davon 21 Frauen). Die Lehrkräfte waren im Alter von M = 41,50 Jahren (SD = 8,03) und verfügten über eine durchschnittliche Berufserfahrung von M = 11,31 Jahren (SD = 8,32, Min. = 2, Max. = 28). Es wurde ein quasi-experimentelles Messwiederholungsdesign umgesetzt. Die Lehrkräfte nahmen an drei sachunterrichtsbezogenen Fortbildungen im Umfang je eines Fortbildungstags teil, in denen Fach- und Unterrichtsinhalte zu drei ausgewählten Themen (Schwimmen und Sinken, Aggregatzustände von Wasser sowie Bildung für nachhaltige Entwicklung) der Jahrgangsstufe 3 vermittelt wurden. Die Experimentalgruppe (EG) erhielt zusätzlich mehrere Sprachförderfortbildungen und nahm im Anschluss daran an einer ausführlichen Erprobungs- und Coachingphase mit Fokus auf der praktischen Anwendung der Sprachförderstrategien im Unterricht teil (detaillierte Darstellung: Gabler et al. i. E.). Im Anschluss an die Professionalisierungsphase erfolgte die Implementierung, in der die Lehrkräfte die drei Unterrichtsinhalte in ihren Klassen umsetzten. Die Kontrollgruppe (KG) erhielt nach Abschluss der Erhebungen die weiter

Professionalisierung von Lehrkräften zur bedeutungsfokussierten Sprachförderung

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optimierte Sprachförderfortbildung mit einem reduzierten Praxisteil. Die Lehrkräfte der beiden Gruppen EG (n = 10) und KG (n = 18) unterscheiden sich nicht signifikant bezüglich Alter, Geschlecht und beruflichem Werdegang. Beschreibung der Professionalisierungsphase Die Professionalisierungsphase startete in der EG und KG mit der Fachfortbildung zu „Schwimmen und Sinken“, welche sich an vorhandenen Materialien aus Jonen & Möller (2005) orientierte. In den sich anschließenden Sprachförderfortbildungen der EG wurde der Sprachförderansatz nach Gibbons erarbeitet und das sprachliche Scaffolding am Inhalt „Schwimmen und Sinken“ exemplarisch angewendet. Die mehrtägigen Sprachförderfortbildungen waren entlang der folgenden Leitfragen organisiert: Was sind sprachliche Herausforderungen? Wie kann mit sprachlicher Heterogenität umgegangen werden? Wie sieht eine sprachförderliche Unterrichtsplanung aus? Wie kann Sprachförderung praktisch umgesetzt werden? Instrumente Das fachdidaktische Wissen für den Bereich Schwimmen und Sinken wurde in 12 vorwiegend offenen Items erfasst. Der Test basierte auf Aufgaben aus den Studien Science-P (Möller et al. 2009) und IGEL (Decker et al. eingereicht); αprä = .71, αpost = .77. Die Sprachförderkompetenzen wurden mit insgesamt 14 teils offenen und teils geschlossenen Items durch ein pilotiertes Testinstrument in Eigenentwicklung (Heppt, Gabler & Henschel 2017) erhoben; αprä =.70, αpost = .63. Alle offenen Aufgaben wurden jeweils für beide Tests von zwei geschulten Ratern unabhängig kodiert. Für die offenen Items der beiden Tests ergeben sich zu beiden Messzeitpunkten zufriedenstellende bis sehr gute Werte in der Beurteilerübereinstimmung (Sprachförderkompetenz: .52 ≤ K ≤ .92; fachdidaktisches Wissen: .91 ൑ K ൑ 1.00). Die Einstellung zu Conceptual Change (Kleickmann 2008) wurde mit 9 Items erfasst; αprä und post = .82.

4 Ergebnisse und Diskussion Erste Ergebnisse zur Wirksamkeit im Prä-Postvergleich zeigen stärkere Zuwächse in der Sprachförderkompetenz der EG im Vergleich zur KG, während beide Gruppen sich im fachdidaktischen Wissen parallel in die intendierte Richtung entwickelten. Des Weiteren nahm in beiden Gruppen die Zustimmung zu Conceptual Change zu (Hettmannsperger et al. angenommen). Die Interpretation der Ergebnisse ist durch die kleine Stichprobengröße begrenzt möglich. Insbesondere sind Gruppenvergleiche durch den Dropout limitiert. Auffällig ist, dass sich die KG

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ebenfalls, wenn auch in geringerem Maße, in ihrer Sprachförderkompetenz verbesserte. Eine mögliche Ursache könnte darin bestehen, dass die KG durch die Auseinandersetzung mit dem handlungsorientierten und am (sprachlich kodierten) Verständnis der Kinder orientierten Unterrichtsmaterial für sprachförderliche Aspekte der Unterrichtsgestaltung sensibilisiert wurde und sich jenseits des Projekts mit Sprachförderung befasst haben könnte. Entsprechende Aspekte werden in Folgeauswertungen einbezogen.

Literatur Gabler, K.; Mannel, S.; Hardy, I.; Henschel, S.; Heppt, B.; Hettmannsperger, R.; Sontag, C. & Stanat, P. (in Druck, Erscheinungsjahr 2019): Fachintegrierte Sprachförderung im Sachunterricht der Grundschule: Entwicklung, Erprobung und Evaluation eines Fortbildungskonzepts auf der Grundlage des Scaffolding-Ansatzes. In: Titz, C.; Geyer, S.; Ropeter, A.; Wagner, H.; Weber, S. & Hasselhorn, M. (Hrsg.): Sprach- und Schriftsprachförderung wirksam gestalten: Innovative Konzepte und Forschungsimpulse. Kapitel 3. Gibbons, P. (2002): Scaffolding language. Scaffolding learning. Teaching second language learners in the mainstream classroom. Portsmouth: Heinemann. Decker, A.-T.; Kunter, M.; Hardy, I.; Hertel, S. & Lühken, A. (eingereicht): Wirkung einer Lehrerfortbildung auf fachdidaktisches Wissen und Überzeugungen von Grundschullehrkräften. Hardy, I.; Hettmannsperger, R. & Gabler, K. (2019): Sprachliche Bildung im Fachunterricht. In: Ziehm, J.; Voet Cornelli, B.; Menzel, B. & Goßmann, M. (Hrsg.): Schule migrationssensibel gestalten. Weinheim, Basel: Beltz, 31–61. Heppt, B.; Gabler, K. & Henschel, S. (2017): (How) can we measure elementary school teachers’ language-support skills? Round table presentation at the 17th Biennial Conference of the European Association for Research on Learning and Instruction (EARLI), August 29–September 2, 2017, Tampere, Finland. Hettmannsperger, R.; Sontag, C.; Mannel, S. & Hardy, I. (angenommen): Professional development in language promotion for primary school teachers: challenges and chances. Round table presentation at the 18th Biennial Conference of the European Association for Research on Learning and Instruction (EARLI), August 12–16, 2019, Aachen, Germany. Jonen, A. & Möller, K. (2005): Klassenkisten für den Sachunterricht: Schwimmen und Sinken. Der Unterrichtsordner. Essen: Spectra Verlag. Kleickmann, T. (2008): Zusammenhänge fachspezifischer Vorstellungen von Grundschullehrkräften zum Lehren und Lernen mit Fortschritten von Schülerinnen und Schülern im konzeptuellen naturwissenschaftlichen Verständnis. Inaugural-Dissertation, Universität Münster. Lipowsky, F. (2010): Lernen im Beruf. Empirische Befunde zur Wirksamkeit von Lehrerfortbildung. In: Müller, F.; Eichenberger, A.; Lüders, M. & Mayr, J. (Hrsg.): Lehrerinnen und Lehrer lernen. Konzepte und Befunde zur Lehrerfortbildung. Münster: Waxmann, 51–72. Möller, K.; Sodian, B.; Hardy, I.; Schwippert, K.; Koerber, S. & Kleickmann, T. (2009): Entwicklung naturwissenschaftlicher Kompetenz in der Grundschule (Science-P II). Projektantrag/Projekt gefördert durch die Deutsche Forschungsgemeinschaft. Schuth, E.; Köhne, J. & Weinert, S. (2017): The influence of academic vocabulary knowledge on school performance. Learning and Instruction, 49, 157–165.