Diskussionslust: Eine Kulturgeschichte des »besseren Arguments« in Westdeutschland 9783666370144, 9783525370148

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Diskussionslust: Eine Kulturgeschichte des »besseren Arguments« in Westdeutschland
 9783666370144, 9783525370148

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Kritische Studien zur Geschichtswissenschaft

Herausgegeben von Helmut Berding, Dieter Gosewinkel, Jürgen Kocka, Paul Nolte, Hans-Peter Ullmann, Hans-Ulrich Wehler

Band 193

Vandenhoeck & Ruprecht

Nina Verheyen

Diskussionslust Eine Kulturgeschichte des »besseren Arguments« in Westdeutschland

Vandenhoeck & Ruprecht

Ausgezeichnet mit dem Hedwig Hintze Frauenförderpreis für die beste Qualifikationsarbeit einer Nachwuchswissenschaftlerin des Fachbereichs Geschichts- und Kulturwissenschaften der Freien Universität Berlin 2009

Mit 7 Abbildungen

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. ISBN 978-3-525-37014-8

Umschlagabbildung: Der internationale Frühschoppen, Mai 1973. Westdeutscher Rundfunk, Bildarchiv Köln. Gedruckt mit Unterstützung der FAZIT-Stiftung, Frankfurt am Main, der Geschwister Boehringer Ingelheim Stiftung für Geisteswissenschaften in Ingelheim am Rhein und der Axel Springer Stiftung, Berlin.

© 2010, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen/ Vandenhoeck & Ruprecht LLC, Oakville, CT, U.S.A. www.v-r.de Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Hinweis zu § 52a UrhG: Weder das Werk noch seine Teile dürfen ohne vorherige schriftliche Einwilligung des Verlages öffentlich zugänglich gemacht werden. Dies gilt auch bei einer entsprechenden Nutzung für Lehr- und Unterrichtszwecke. Printed in Germany. Satz: textformart, Daniela Weiland, Göttingen Druck und Bindung: w Hubert & Co, Göttingen Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier.

Inhalt

Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Erster Akt Deutsche Konventionen. Diskussionen als kommunikative Gattung des 19. Jahrhunderts 1. Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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2. Wo ist die »Discussion«? Eine Spurensuche in Wörterbüchern und Lexika . . . . . . . . . . . .

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3. Kultivierung und Regulierung des Dissenses. Spielräume sozialer Praxis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Zweiter Akt Amerikanische Ambitionen. Diskussionen als Mittel und Zweck der Reeducation 1. Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Diskussionspraxis als deutsches Begehren? Gruppendiskussionen, Diskussionsgruppen und öffentliche Foren . . 2.1 »Freier« Meinungsaustausch hinter Stacheldraht. Erste Gespräche in Prisoner of War Schools . . . . . . . . . . . . 2.2 »Democracy through Discussion«. Die kommunikative Fundierung des American Way of Life . . . 2.3 Learning by doing. Amerikaner als Initiatoren formalisierter Diskussionsereignisse 2.4 Kontrolle und Tumult. Das deutsche Volk im Public Forum . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. »Free discussion« als amerikanischer Minimalkonsens. Ausbau diskursiver Programme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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4. Diskussionstechnik als deutsches Novum? Metakommunikative Programme . . . . . . . . . . . . . . . 4.1 »Die Kunst der Diskussion«. Ratgeberliteratur für kompromisslose Deutsche? . . . 4.2 Filme über das Recht auf Widerspruch. Ein umstrittenes Instrument der Reeducation . . . . . 4.3 Von der »discussion« zum »Gespräch«. Kreative Aneignung und Ausblendung amerikanischer Programme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Dritter Akt Westdeutsche Obsessionen. Diskussionen als symbolisches Kapital in post-diktatorischen Zeiten 1. Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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2. Die »school of applied democracy«. Werner Höfers Diskussionssendung »Internationaler Frühschoppen« 2.1 Sendeformat. Die »amphibische« Diskussion . . . . . . . . . . . . 2.2 Atmosphäre. Humor und Suspense . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.3 Gäste. Ein westlicher Männerbund unter deutscher Führung . . 2.4 Themen und Tabus. Das Ausland im Fadenkreuz . . . . . . . . . 2.5 Bildungsauftrag. Andiskutieren statt Ausdiskutieren . . . . . . . 2.6 Ritualisierung der Senderezeption. Immer wieder sonntags . . . 2.7 Öffentliche Deutungen. Vom Lob zur Kritik . . . . . . . . . . . .

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3. Diskussionslust in Zahlen? Diachrone Tendenzen . . . . . . . . . 3.1 Pädagogisch kultivierte Gesprächigkeit. Die fünfziger Jahre 3.2 Veralltäglichung des Dissenses. Die sechziger Jahre . . . . . 3.3 Von jungen, gebildeten Männern. Das soziale Antlitz der »Diskussion« . . . . . . . . . . . . . .

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4. »Überall brach das Diskussionsfieber aus«. Die Entstehung der 68er-Generation aus ständigem Gespräch . . 4.1 Was wollt ihr eigentlich? »Diskutieren!« . . . . . . . . . . . . 4.2 Die ausdiskutierte Revolte. Utopie und Enttäuschung . . . . 4.3 Die Regel der Regellosigkeit. Entgrenzungen des Gesprächs . 4.4 Diskutieren lernen in der frühen Bundesrepublik. Argumentative Übungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.5 Pathologisierung der Schweigsamkeit. Kommunikative Prägungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.6 Dauerdiskussionen als Vergemeinschaftung und Distinktion 6

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5. Von der Diskussionslust zum Frust. Ausblick in die siebziger und achtziger Jahre . . . . . . . . . . . . . . .

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Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Verzeichnis der Abbildungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Abkürzungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Quellen- und Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Register . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Vorwort

Dieses Buch ist auch im Gespräch entstanden. Erste Überlegungen entwickelten sich am Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung in einer Sitzung über den normativen Terminus »Zivilgesellschaft«. Den jüngeren Anwesenden, so mein Eindruck, war der darin eingelagerte Glaube an die Heilkraft argumentativer Interaktion ein wenig suspekt. Die Älteren dagegen, allesamt Akademiker westdeutscher Provenienz, verteidigten die Hoffnung auf rationale Kommunikation mit leuchtenden Augen – und mit geschliffenen Argumenten. Das erinnerte an Szenen meiner Bremer Kindheit in den achtziger Jahren: Während Bekannte meiner Eltern unermüdlich bei uns zu Hause diskutierten, fehlte uns Heranwachsenden für diese Praxis das Verständnis. War es möglich, dass Menschen auch aufgrund ihrer Generationenzugehörigkeit in unterschiedlichem Ausmaß auf das rationale Potenzial mündlicher Gespräche hofften? Hatten in der alten Bundesrepublik unterschiedliche Alterskohorten unterschiedliche Erfahrungen mit dem »Diskutieren« in jungen Jahren gemacht, weshalb die einen hierin später ein aufregendes Gut, die anderen eine ermüdende Illusion erblickten? Verfügten das alltägliche Vertrauen in diese Gesprächsform, ihre subjektive Bedeutung und symbolische Aufladung über eine eigene Geschichte? Dass aus diesen Fragen eine geschichtswissenschaftliche Dissertation werden konnte, die im Herbst 2008 an der Freien Universität Berlin verteidigt wurde und nun – in gekürzter und überarbeiteter Fassung – als Buch vorliegt, ist auch der Unterstützung zahlreicher Institutionen zu verdanken. Ein Promotionsstipendium der Studienstiftung des deutschen Volkes gab mir die finanzielle Unabhängigkeit, das Projekt in Ruhe zu entfalten. Das WZB stellte eine hervorragende Infrastruktur sowie zusätzliche Finanzspritzen zur Verfügung. Ein Forschungsaufenthalt an der Columbia University erleichterte weitere Archivrecherchen und gab frische intellektuelle Impulse. Schließlich wurde die Dissertationsschrift am Max-Planck-Institut für Bildungsforschung überarbeitet und die Drucklegung durch die Fazit-Stiftung, die Geschwister Boehringer Ingelheim Stiftung für Geisteswissenschaften sowie die Axel Springer Stiftung finanziert. Ihnen allen sei herzlich gedankt. Noch wichtiger aber sind die Menschen, die das Projekt unterstützt haben. An erster Stelle möchte ich meinem Doktorvater Jürgen Kocka danken, der die Dissertation trotz anfänglicher Skepsis mit großer Neugier, produktiver Kritik und intellektueller Offenheit betreut hat. Volker Berghahn verdanke ich eine überaus sorgfältige Zweitbegutachtung und vor allem die Möglichkeit zum Forschen in den USA. Arnd Bauerkämper, Belinda Davis, 9

Anselm Doering-Manteuffel, Jost Dülffer, Bernhard Giesen, Ulrich Herbert, Ralf Jessen, Paul Nolte, Hans-Peter Ullmann und Bernd Weisbrod ließen mich das Projekt in ihren Kolloquien präsentieren. Hier sowie auf Tagungen in Berlin, Potsdam, Zürich und Marbach, bei Veranstaltungen des Arbeitskreises Geschichte + Theorie, auf dem Transatlantischen Doktorandenseminar des Deutschen Historischen Instituts in Washington D. C. und in dem von Dieter Gosewinkel und Dieter Rucht geleiteten Jour-fixe am WZB habe ich viele wichtige Anregungen erhalten – allen Beteiligten möchte ich herzlich danken. Das gilt in besonderem Maße auch für jene Kolleginnen und Kollegen, welche meinen Enthusiasmus sowie meine Sorgen aus größerer Nähe verfolgt oder Textabschnitte kommentiert haben: Manuel Borutta, Jennifer Davy, Moritz Föllmer, Gebhard Glock, Rüdiger Graf, Stefan-Ludwig Hoffmann, Ute Pannen, Till van Rahden, Jürgen Schmidt und Thomas Weihe. Den Herausgebern der »Kritischen Studien zur Geschichtswissenschaft« bin ich für die Aufnahme in diese Reihe verbunden sowie für wertvolle Hinweise zur Überarbeitung. Beim Lektorat unterstützten mich Christine Bartlitz, Katja Bendels, Maria Rost, Bernhard Schneider und Volker Preuss. Das Buch wäre nicht zustande gekommen ohne kompetente und wohlwollende Hilfe bei der Quellenrecherche. Mein Dank geht an Petra Witting-Nöthen und Hans Hauptstock von den Archiven des WDR, Michael Crone vom Historischen Archiv des Hessischen Rundfunks, Georg Vorwerk und Friedrich Dethlefs vom Deutschen Rundfunkarchiv, Siegward Lönnendonker vom Archiv »APO und soziale Bewegungen« sowie an Amy Schmidt von den National Archives in Washington D. C., aber auch an zahlreiche weitere Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der im Anhang gelisteten Institutionen. Darüber hinaus bin ich John Elliott, Jeanpaul Goergen, Brigitte J. Hahn, Horst O. Halefeldt, Dagmar Herzog, Edgar Lersch, Wilhelm van Kampen, Marco Scheider und Hans-Ulrich Wagner für ihre quellenkundigen Hinweise sehr verbunden. Ebenfalls sei Ronald Inglehart hervorgehoben, der seine empirischen Datenbanken großzügig auf meine Fragestellung hin befragt hat. Schließlich bin ich allen Zeitzeugen dankbar, die mich an ihren Erfahrungen teilhaben ließen – vor allem Annelie Keil. Ohne Kontrapunkte zum akademischen Leben hätte ich die letzten Jahre nicht unbeschadet überstanden. Aus dem Berliner Kreis sei Maike Cölle, Kathrin Hartmann, Karsten Kredel und Angelika Wentsch für Rettungsmaßnahmen unterschiedlicher Art gedankt sowie Pierre für Phantasie und Liebe. Last not least möchte ich meine Familie hervorheben. Meine Eltern haben ihre eigene Historisierung rasch erkannt und als diskussionslustiges Paar verfolgt. Jana, mein Zwillingsschwesterherz, sowie Klaus waren auf der Zielgeraden zur Stelle. Mit meiner Mutter, die kurz zuvor einer schweren Krankheit erlag, habe ich mein Leben lang und bis zuletzt besonders gerne diskutiert. Sie ist mir als Diskutantin mit der Fähigkeit zum Staunen ein unersetzbares Vorbild gewesen. Ihr ist dieses Buch in großer Liebe und tiefer Dankbarkeit gewidmet. Berlin, im Dezember 2009 10

Nina Verheyen

Einleitung

»Alle Wissenschaft beginnt mit Staunen.« (Aristoteles, Metaphysik)

In Deutschland wird viel diskutiert: im Fernsehen, in der Schule, am Arbeitsplatz, am Küchentisch und im Bett. Aber warum eigentlich? Zwar sollen argumentative Gespräche in demokratisch verfassten Gesellschaften der freien und rationalen Aushandlung von Normen und Geltungsansprüchen dienen, auch und gerade außerhalb des Parlaments.1 Schon alltägliche Erfahrungen mit Faceto-Face-Kommunikation schüren aber den Verdacht, diese Erklärung könnte nicht hinreichend sein. Talkshows werden als Foren der Profilierung genutzt, Beziehungsgespräche produzieren Dissens, statt ihn zu lösen, und Sitzungen am Arbeitsplatz ziehen sich in die Länge, obwohl schon im Voraus alles entschieden ist. Offenbar geht es hier um mehr oder anderes als inhaltlichen Erkenntnisgewinn. Wer eine Diskussion ausschließlich führt, um sich vom »eigentümlich zwanglose[n] Zwang des besseren Argumentes« (Jürgen Habermas) überzeugen zu lassen, wird jedenfalls oft enttäuscht.2 Weshalb also diskutieren wir trotzdem immer wieder? Zu den Prämissen des vorliegenden Buches gehört die Vermutung, dass weder der Entschluss, ein argumentatives Gespräch zu führen, und erst recht nicht die Art und Weise, wie dieses konkret verläuft, aus rationalen Überlegungen autonomer Individuen folgen. Diskussionsbereitschaft und -praxis sind vielmehr kulturell variabel. Bestimmte »kommunikative Muster« haben sich an der Schnittstelle von Struktur und Handeln historisch herausgebildet, zu sozialen Institutionen verfestigt und in den »Habitus« von Menschen eingeschrieben. Die Disposition zum Meinungsaustausch ist ihnen gleichsam zur Natur geworden.3 1 Vgl. Cohen u. Arato. In ideengeschichtlicher Perspektive zu Verbindungen von »Diskussion«, »Dialog«, »Gespräch« sowie »Demokratie« siehe Fontana u. a. Zur Bedeutung von Kommunikation in modernen Gesellschaften vgl. in soziologischer Perspektive Knoblauch, Kommunikationskultur. Zum Gespräch als historischem Untersuchungsgegenstand vgl. den frühen, interdisziplinären Sammelband von Stierle u. Warning, die Anthologie von Schmölders, die aktuelle Einführung in konkurrierende und koexistierende Ansätze anthropologischer, linguistischer und soziologischer Analysen mündlicher Kommunikation bei Quasthoff sowie genuin linguistisch Kilian, Historische Dialogforschung. 2 Habermas, Vorbereitende Bemerkungen, S. 137. Der aus dem Lateinischen stammende Terminus »Argument« verweist im Deutschen auf die »Begründung«, also auf etwas, das als Beweis oder Bekräftigung einer Aussage vorgebracht wird. Vgl. eingehender Eggs. 3 Das von Luckmann entwickelte Konzept der »kommunikativen Muster« verweist auf die Gerinnung von mündlicher Kommunikation zu festen Routinen des Alltags und ist weiter unten zu erläutern. Der Begriff des »Habitus« wird hier in der Linie von Bourdieu, Die feinen Unterschiede, verwendet und meint damit die in sozialen Gruppen ausgebildeten Ge-

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In diesem Sinne wird im Folgenden nach Konjunkturen alltäglicher Diskussionsbereitschaft gefragt, aber vor allem auch nach zeitgenössischen Versuchen, diese zu erhöhen. Warum, in welchen Schüben und auf welche Weise erfuhren argumentative Handlungsweisen eine Aufwertung, Formalisierung und alltägliche Routinisierung? Welchen Menschen war Meinungsaustausch so wichtig, dass sie Regeln für dessen Verlauf entwarfen, ein Gespräch protokollierten oder eine Diskussionsveranstaltung anberaumten? Wer versuchte, andere zum Diskutieren zu bewegen und warum? Eine Kulturgeschichte des »besseren Arguments« zu schreiben, soll vor diesem Hintergrund heißen, den Fokus von den Gesprächsinhalten auf die Gesprächsformen zu verschieben, von den sachlichen Ergebnissen auf die performative Praxis und von den Argumenten auf die Argumentierenden. Was verstanden diese unter einer »Diskussion«, welche Bedeutung schrieben sie den so bezeichneten kommunikativen Handlungen zu? Was erwarteten sie von argumentativen Gesprächen und welche Erfahrungen machten sie mit ihnen? Zugleich wird vorgeschlagen, den nur vermeintlich freien Meinungsaustausch sowohl als Machttechnik wie als Gegenstand zeitgenössischer Normierungsversuche in den Blick zu nehmen. Wer schmückte sich mit seiner Gesprächsbereitschaft als symbolischem Kapital, wer profitierte von argumentativen Gesprächen – und wer fiel ihnen zum Opfer? Wer dominierte Diskussionen, wer wurde von ihnen ausgeschlossen, und wer kam trotz physischer Anwesenheit nicht zu Wort? Welche Akteure bemühten sich um eine Verankerung von Diskussionen und versuchten, die kommunikativen Dispositionen ihrer Zeitgenossen zu regulieren? Lässt sich Diskutieren lernen und verordnen?4 Diese Fragen werden auf Westdeutschland vom Ende des Zweiten Weltkriegs bis in die frühen siebziger Jahren bezogen.5 Gegen Ende des Untersuchungsschmacks-, Deutungs- und Handlungsdispositionen. Der Habitus kann als inkorporierte Sozialstruktur verstanden werden, da er Strukturen sozialer Ungleichheit kulturell überformt und gleichzeitig reproduziert. 4 Die Arbeit versteht sich als Beitrag zur Neuen Kulturgeschichte. Siehe Daniel; Tanner; Burke. In der Geschichtswissenschaft geht es längst nicht mehr um das Kräftemessen von Sozialversus Kulturgeschichte, sondern um deren produktive Verknüpfung – weshalb auch diese Arbeit sozialgeschichtliche Perspektiven integriert. Siehe dazu Kocka, Sozialgeschichte. Da aber die klassische Sozialgeschichte neben dem Fokus auf Strukturen und Prozesse durchaus auf das Rationalitätsversprechen von deliberativen Verfahren vertraut, was die vorliegende Arbeit gerade nicht tut, ist es angemessen, die oben skizzierte Forschungsagenda als Kulturgeschichte des »besseren Arguments« zu fassen. Außerdem bildet Kultur im weiten, ethnologischen Sinne den Gegenstand der Untersuchung. Zur Debatte um Kultur- und Sozialgeschichte der neunziger Jahre siehe Conrad u. Kessel, Geschichte; dies., Blickwechsel; Mergel u. Welskopp; Hardtwig u. Wehler. Zum ethnologischen Kulturbegriff Geertz. 5 Einführend zur westdeutschen Nachkriegsgesellschaft vgl. die kulturhistorisch inspirierten Essays von Jarausch u. Geyer; Schildt, Ankunft, sowie für die Zeit ab den siebziger Jahren Doering-Manteuffel u. Raphael. Siehe außerdem die Überblicksdarstellungen von Wolfrum; Görtemaker; Wehler, Deutsche Gesellschaftsgeschichte, Bd. 5; Morsey; Rödder und zuletzt E. Conze.

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zeitraums rieb sich das linksalternative Milieu bei dem Versuch auf, Defizite des Spätkapitalismus ebenso wie Beziehungsprobleme möglichst zwanglos in der Gruppe auszudiskutieren, während die Philosophen Karl-Otto Apel und Jürgen Habermas die Diskursethik ausbuchstabierten – eine philosophische Schule, welche die Beziehung von Vernunft und Argumentation nicht nur ins Zentrum rückt, sondern normativ zu überschätzen droht. Bekanntlich entstehen wissenschaftliche Ideen aber nicht in einem leeren sozialen Raum. Könnte es daher sein, dass zwischen Habermas’ Überlegungen über den »herrschaftsfreien Diskurs« und Apels Studie über das »Apriori der Kommunikationsgemeinschaft« einerseits, aber eben auch der diskursiven Energie in Wohngemeinschaften und Selbsthilfegruppen andererseits, ein Zusammenhang bestand?6 Ist es möglich, dass beide Phänomene auf eine übergeordnete soziokulturelle Tendenz verweisen, nämlich eine seit Ende des Zweiten Weltkriegs steigende und je nach Perspektive schließlich überspitzte Wertschätzung von Diskussionen in der westdeutschen Gesellschaft insgesamt, die Aporien und Gegentendenzen erzeugte? Der Blick auf das wiedervereinigte Deutschland der Gegenwart zeigt jedenfalls, dass Dauerdiskussionen aus der Mode gekommen sind. Der einst ironiefrei verwendete Terminus »ausdiskutieren« ist im Kulturbetrieb sogar zur ironischen Chiffre für jenes Zuviel an Kommunikation avanciert, das dem spezifisch westdeutschen, linksalternativen Milieu der siebziger und achtziger Jahre rückblickend zugeschrieben wird.7 Ich selbst bin in diesem Umfeld aufgewachsen und konnte daher frühzeitig eine Freude am argumentativen Gespräch beobachten, die mir manchmal rätselhaft erschien. Die diskursive Energie der Erwachsenen hat bei mir zuerst Verdruss und später Staunen produziert: Wie ist Diskussionslust zu verstehen, und lässt sie sich historisch erklären? Ziel der Studie ist deshalb, diesen Spuren vergangener Diskussionslust zu folgen, sie zu heuristischen Zwecken zu exotisieren und als ein im ethnologischen Sinne »fremden« Gegenstand in den Blick zu nehmen. Es geht nicht darum, inwiefern argumentative Gespräche gut oder schlecht sind, wenngleich Macht in ihnen immer gegenwärtig ist. Aber das mögen Philosophie, Linguistik und die Sozialwissenschaften genauer erläutern.8 Entscheidend für die vorliegende Studie ist vielmehr die Frage, warum die Gesprächsform Bundesbürgern und Bundesbürgerinnen wichtig war oder genauer: wichtig wurde. Die diskursive Energie der Westdeutschen, so der Ausgangspunkt, ist höchst rätselhaft, denn die in liberalen Demokratien bestehenden freiheitlichen Grundrechte bilden 6 Vgl. Habermas, Vorbereitende Bemerkungen, S. 136–141; ders., Wahrheitstheorien; Apel, Transformationen, Bd. 2, bes. S. 358 f. Einführend zur Diskursethik siehe in kritischer Distanz Steinhoff. Einführend zu Leben und Werk von Habermas siehe Horster, analog zu Apel Reese-Schäfer. 7 Krause konstatiert in einer Rezension des deutschen Spielfilms »Sie haben Knut« aus dem Jahre 2003, der die alternative Diskussionskultur der frühen achtziger Jahre persifliert: »Differenzen sollten ›ausdiskutiert‹ werden, tatsächlich wurde nur missioniert und erpresst.« 8 Vgl. mit unterschiedlichen Perspektiven Bourdieu, Ce que parler; Foucault, Ordnung; Wodak, A new Agenda.

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zwar eine günstige, aber eben keine hinreichende Bedingung für Diskussionsbereitschaft.9 Eine in Westdeutschland nach Ende der nationalsozialistischen Diktatur steigende Diskussionsdichte ließe sich daher keineswegs über die formale Möglichkeit zum argumentativen Gespräch oder gar einen objektiven Diskussionsbedarf erklären. Es bedarf stattdessen einer genuin kulturhistorischen Analyse, die zeigt, wie argumentative Gespräche sich in alltäg liche Handlungsdispositionen einschrieben und mit Bedeutung gefüllt wurden. Mit dieser Agenda soll die Arbeit vor allem einen Beitrag zur Geschichte der frühen Bundesrepublik leisten, indem sie einen für das Selbstverständnis der Westdeutschen zentralen Handlungsmodus untersucht. Nur nebenbei wird die mit universalem Anspruch auftretende und weltweit rezipierte Schule der »Diskursethik« in ihren konkreten soziokulturellen Entstehungskontext eingebettet: Westdeutschland in den Dekaden nach dem Zweiten Weltkrieg – ein Land, das uns längst fremd geworden ist. Das Buch stellt zu diesem Zweck keine exakte Definition von »Diskussionen« an den Anfang, sondern untersucht vor allem kommunikative Praktiken, die von den Zeitgenossen mit diesem Terminus bezeichnet wurden. Vorläufig und ausgehend von der historisch variablen Semantik lassen sich »Diskussionen« lediglich sehr weit als Austausch von Argumenten über einen strittigen Gegenstand einkreisen.10 In diesem Rahmen geht es im Folgenden allein um mündliche, raum- und zeitkonkrete Gespräche von Angesicht zu Angesicht unter mindestens zwei Personen. Anstatt dabei das Parlament in den Blick zu nehmen, in dem ohnehin und zudem unter sehr spezifischen Bedingungen diskutiert wurde, werden außerparlamentarische Praktiken behandelt. Auf dieser Grundlage kann nach den wechselnden Sinnkonstruktionen gefahndet werden, die mündlichen Meinungsaustausch für Zeitgenossen zu einer sinnvollen Praxis machten. Die erste These lautet, dass Diskussionen als soziale Praxis und Machttechnik in der westdeutschen Kommunikationskultur vom Ende des Zweiten Weltkriegs bis zu den siebziger Jahren eine Aufwertung, Formalisierung und alltägliche Institutionalisierung erfuhren, wobei Ambivalenzen, Ungleichzeitigkeiten und Gegenläufigkeiten zu berücksichtigen sind. Obwohl diese Tendenz auf multiple und auch strukturelle Einflüsse zurückzuführen ist, vollzog sie sich keineswegs hinter dem Rücken der Akteure. Sie wurde vielmehr, so die zweite übergeordnete These, durch deren Handlungen begünstigt: Verschiedene soziale 9 Dies wird in politischen und sozialwissenschaftlichen Texten, die von deliberativen Verfahren handeln, immer wieder übersehen. Dass Menschen diskutieren wollen, wenn ein Konflikt oder eine Unklarheit besteht und die formalen Bedingungen erfüllt sind, ist den Autoren offenbar selbstverständlich. Vgl. die trotz dieses symptomatischen Defizits überaus lesenswerte Skizze von Lukes, S. 129–158, hier auch mit Hinweisen auf weitere Literatur. 10 Einführend zu Definitionsvarianten des Wortes »Diskussion« siehe Kämper sowie Böhler u. Katsakoulis, die stärker auf Theoretisierungen des Wortes in den Sozial- und Geisteswissenschaften eingehen. Zu Diskussionen als Muster mündlicher Kommunikation siehe in soziologischer Perspektive Knoblauch, Kommunikationskultur, S. 113–144.

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und politische Gruppen, die aus dem In- wie aus dem Ausland kamen, bemühten sich aus unterschiedlichsten und teilweise durchaus eigennützigen Motiven, Diskussionen in der westdeutschen Gesellschaft stärker zu verankern – und sie hatten damit insgesamt Erfolg. Es geht in der vorliegenden Studie mithin um die Aufwertung von Diskussionen als Prozess, vor allem aber auch als zeitgenössischer Kontroll- und Regulierungsversuch. Allerdings verfolgten die diversen Personengruppen, die sich in diesem Sinne engagierten, nicht nur je eigene Zwecke, sondern auch je eigene Diskussionsideale. Es kam daher, so die dritte zentrale These, zu Konflikten um die legitimen Formen von argumentativen Gesprächen. Im Zentrum der Arbeit stehen drei Fallstudien über zeitgenössische Bemühungen, Diskussionen in der westdeutschen Gesellschaft aufzuwerten. Sie sollen es erlauben, den Gegenstand der Studie transparent einzugrenzen, ohne breitere Tendenzen aus den Augen zu verlieren. Die chronologisch erste und ausführlichste Fallstudie untersucht die US-amerikanische Demokratisierungspolitik von 1945 bis in die frühen fünfziger Jahre. Es geht um die äußerst unpopulären und innerhalb der Besatzungsmacht umstrittenen Versuche, den Deutschen demokratische Einstellungen und Verhaltensweisen zu vermitteln.11 Hierzu gehörte auch, sie im Diskutieren zu üben, verstanden als eine in Vergessenheit geratene, genuin demokratische Kulturtechnik. Die Untersuchung der amerikanischen anstelle der britischen Demokratisierungspolitik soll nicht suggerieren, Letztere sei weniger umfassend gewesen. Auch in der britischen Zone wurden beispielsweise Diskussionsgruppen in der Jugendarbeit angeregt. Aber die Briten scheinen dies stärker als Element eines »hands-off-approach« interpretiert zu haben, also als Verzicht auf Indoktrination und systematische Umerziehung.12 Teile der amerikanischen Besatzungsmacht dagegen interpretierten Gruppen-, Forums- oder Podiumsdiskussionen als ein zuverlässiges Verfahren, mit dem sich Demokratie als Lebensform einüben und verankern lassen sollte. Die Amerikaner waren damit ambitionierter, und ihr Anliegen ist erklärungsbedürftiger. Schließlich zielten die angesprochenen Programme dezidiert nicht primär auf politische Diskussionen, in denen zum Zweck der Entscheidungsfindung Argumente ausgetauscht werden. Es ging stattdessen in stärker performativer Perspektive um den Wandel alltäglicher Umgangsformen und kommunikativer Dispositionen, die das Verhältnis zwischen Schüler und Lehrer ebenso betrafen wie zwischen Ehepartnern. Warum und von wem wurde diese diskursive Dimension der Reeducation entwickelt, wie wurde sie umgesetzt, und wie reagierten Deutsche darauf? Die zweite und dritte Fallstudie behandeln anstelle von Praktiken zur Erhöhung alltäglicher Diskussionsbereitschaft von außen, nämlich seitens der Besatzungsmächte, analoge Phänomene von innen, seitens westdeutscher Akteure. Es geht zunächst um die Anfänge der Radio- und Fernsehdiskussionssendung 11 Vgl. als konzise Einführungen Rupieper, Peacemaking; Jarausch, Amerikanische Einflüsse. 12 Vgl. Boll, Auf der Suche.

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»Der Internationale Frühschoppen mit sechs Journalisten aus fünf Ländern«. Sie wurde von 1952/53 bis in die achtziger Jahre fast ohne Unterbrechung jeden Sonntag gesendet, genoss binnen kurzer Zeit hohes Ansehen und war bald eine feste Sonntagsbeschäftigung großer Teile der Bevölkerung. Warum konnte sich der von Werner Höfer moderierte »Frühschoppen« in den fünfziger und sechziger Jahren so erfolgreich etablieren? Verweist er auf die wachsende Faszination von Bundesbürgerinnen und -bürgern für argumentative Interaktion?13 Die letzte Fallstudie thematisiert die sich seit 1965 formierende westdeutsche Studentenbewegung, deren Trägergruppe die gesamte Gesellschaft zu mehr und »echter« Diskussion herausforderte, bevor die Bewegung ab 1969 zersplitterte. Welche Bedeutung kam argumentativen Gesprächen in den Protestereignissen zu, und zwar auch als Arena, in der sich das Generationenbewusstsein und der Habitus der sogenannten 68er-Generation herausbildete?14 Kriterium für die Auswahl der Fallstudien ist keineswegs die Behauptung, sie hätten einen besonders starken Effekt auf die westdeutsche Kommunikationskultur gehabt. Vielmehr ist erstens zentral, dass die Akteure explizit auf eine Aufwertung der Gesprächsform »Diskussion« drangen, die sie nicht nur in neuer Intensität, sondern häufig auch in neuer Form im Alltag zu verankern suchten. Das zweite Kriterium ist, dass die Akteure nicht nur das Kommunikationsverhalten in bestimmten Teilen der Bevölkerung oder in bestimmten Institutionen verändern wollten, sondern tendenziell in der Gesellschaft insgesamt. Wichtig für die Auswahl der Fallstudien ist drittens, dass sie Ton- und Filmaufnahmen, Fotos oder Protokolle liefern, um kommunikative Praxis untersuchen zu können. Viertens und letztens wurde auf eine möglichst gleichmäßige chronologische Verteilung der Fallstudien Wert gelegt: Die erste verweist schwerpunktmäßig auf die vierziger und fünfziger Jahre, die zweite schwerpunktmäßig auf die fünfziger und sechziger Jahre, die dritte auf die sechziger und frühen siebziger Jahre. Eine zeitgleiche Aufwertung von Diskussionen in der westdeutschen Kommunikationskultur darf dabei nicht voreilig auf die in den Fallstudien untersuchten Praktiken zurückgeführt oder gar auf diese reduziert werden. Vor allem die kommunikative Dimension der amerikanischen Demokratisierungspolitik – das sei vorweggenommen – scheint aber eine erstaunliche Dynamik entfaltet zu haben. Ihr wird daher in der Darstellung auch besonders viel Platz eingeräumt. Ausgehend von den Fallstudien wird nach einem Wandel kommunikativer Routinen in der westdeutschen Gesellschaft insgesamt gefragt, wobei zwischen verschiedenen Räumen und sozialen Gruppen zu differenzieren ist. Dabei werden die Inhalte von Diskussionen, die in der Geschichtswissenschaft seit jeher 13 Knapp und treffend zum »Frühschoppen« sowie zur Einbettung in breitere massenmediale Tendenzen noch immer Foltin, S. 73–75. Stärker mit dem Fokus auf die wechselhafte Biografie Werner Höfers: Geisler. Vgl. neuerdings auch Keller, S. 113–119. 14 Vgl. einführend zu »1968« zuletzt Siegfried, Sound, mit einer kommentierten Bibliografie, sowie in europäischer Perspektive Klimke u. Scharloth, 1968 in Europe.

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Beachtung finden, weitgehend ausgeklammert. Stattdessen geht es immer wieder um verschiedene Diskussionsformate wie Gruppen-, Radio- oder Forumsdiskussion, und hiervon ausgehend darum, wo eine Diskussion stattfand (etwa auf dem Podium eines Gemeindezentrums oder in einer Wohngemeinschaft), welcher Themenbereich als legitim galt (beispielsweise die westdeutsche Außenpolitik oder die eigenen Orgasmusprobleme), welche Gesprächsregeln entwickelt wurden (etwa mit Moderator oder ohne), wer als Gesprächspartner zugelassen war (zum Beispiel nur höher gebildete Männer) und welche Funktionen die Zeitgenossen dem Gespräch zuschrieben (unter anderem die praxisnahe Einübung in demokratische Verhaltensweisen). Die Untersuchung setzt 1945 mit dem Ende des Zweiten Weltkriegs und dem Beginn der alliierten Besatzungsherrschaft als klassischer Zäsur der Zeitgeschichte ein. Heute betonen Historiker und Historikerinnen die Kontinuität von Eliten, sozialen Strukturen und kulturellen Tendenzen über den politischmilitärischen Bruch hinweg. Diese Kontinuitäten prägten zunächst die deutsche »Zusammenbruchgesellschaft« (Christoph Kleßmann) und dann die 1949 als parlamentarische Demokratie gegründete Bundesrepublik Deutschland.15 Auch im Bereich kommunikativer Routinen schlug daher keine »Stunde Null«,16 was durch Rückblicke in Phasen der deutschen Geschichte vor 1945 zumindest angedeutet, wenngleich nicht eingehend untersucht werden soll. Vor allem aber relativiert das Buch eine zweite – ebenfalls lange überschätzte – Zäsur: »1968«. In publizistischen Diskursen und in autobiografischen Erinnerungen wird den westdeutschen Studentenprotesten der späten sechziger Jahre bisweilen eine Schlüsselrolle für die Verbreitung argumentativer Gesprächsformen zugeschrieben. Fast scheint es, als sei eine bis dato monologisch und autoritär geprägte westdeutsche Kommunikationskultur erstmals direkt attackiert und durch große Kraftanstrengung überwunden worden.17 Um 1968, so lässt sich diese Lesart zuspitzen, erfuhr die bundesrepublikanische Gesellschaft nicht nur eine Demokratisierung, sondern eben auch eine Dialogisierung oder Diskursivierung, die bis in die Gegenwart reicht. Es erscheint aber unwahrscheinlich, dass sich Routinen der Face-to-Face-Kommunikation binnen weniger Jahre derart nachhaltig verändern, gehören diese doch eher zu Prozessen der »longue durée«.18 Zudem werden die ganzen sechziger Jahre inzwischen in der Geschichtswissenschaft als höchst dynamische Phase gelesen, die teilweise durch die 15 Zur älteren Debatte über »Restauration« versus »Neubeginn«, hier bereits als falsche Alternative benannt, siehe Kocka, 1945. Jenseits des Deutungsmusters der Restauration wurde die Frage nach Kontinuitäten erstmals systematisch erörtert in Conze u. Lepsius. Grundlegend Herf, Multiple Restorations. 16 Das simplifizierende Diktum von der »Stunde Null« ist vor allem in geschichtswissenschaftlichen Texten der achtziger Jahre genutzt worden, um auf eine scharfe Zäsur hinzuweisen, teilweise in Anlehnung an das Theorem vom deutschen »Sonderweg«. Zu dessen Kritik siehe Blackbourn u. Eley. 17 Vgl. Sichtermann, vor allem S. 101–109; Mohr, bes. S. 89. 18 Braudel, S. 47.

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Modernisierungsschübe der fünfziger Jahre vorbereitet wurde.19 Diese Perspektive verlängernd ist zu erwägen, ob es sogar im gesamten Verlauf der westdeutschen Geschichte seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs zu einer schrittweisen Aufwertung der Gesprächsform Diskussion im Alltag gekommen sein könnte? Das Buch führt zeitlich über die Studentenproteste hinaus und reicht bis in die frühen siebziger Jahre. Die westdeutsche Bevölkerung hatte bis dahin eine Phase beispiellosen Wirtschaftswachstums erfahren, die Modernisierung vieler Lebensbereiche und eine deutliche Verbesserung des Lebensstandards, was einen normativen Erwartungsüberschuss an die Planbarkeit gesellschaftlichen Wandels und Fortschritts erleichterte. Die Ölkrise von 1973 schien den Zeitgenossen dann jene vermeintlichen »Grenzen des Wachstums« westlicher Industriegesellschaften zu demonstrieren, vor denen der Club of Rome kurz zuvor eindringlich gewarnt hatte.20 Die politischen Eliten sorgten sich vor »Stagflation« – stagnierendes Wirtschaftswachstum und Inflation. Aber auch bezogen auf die westlichen Industrienationen insgesamt geriet der über Jahrzehnte alle gesellschaftlichen Bereiche prägende Nachkriegsboom ins Stocken.21 In Westdeutschland kam die Auseinandersetzung mit dem Terrorismus der Roten Armee Fraktion hinzu, die im deutschen Herbst von 1977 kulminierte. Wenngleich der Zäsurcharakter der frühen siebziger Jahre in jüngeren geschichtswissenschaftlichen Studien in Frage gestellt wird,22 gibt es Indizien, dass in Westdeutschland auch die Wertschätzung für Diskussionen kurz nach 1970 einen vorläufigen Höhepunkt erreichte und sich auf die danach geborenen Jahrgänge nicht mehr ungebrochen übertrug. Der Untersuchungszeitraum umfasst damit jene Dekaden, in denen die Gesprächsform, so die These, besonders deutlich aufgewertet wurde. Der Terminus »Westdeutschland« fungiert als Oberbegriff, um in einem Zuge auf die westlichen Besatzungszonen 1945 bis 1949, die auf diesem Territorium 1949 gegründete Bundesrepublik Deutschland und auf West-Berlin verweisen zu können. Das Wort umfasst drei politisch verschiedene Einheiten, die indes eng verflochten waren und deshalb in vielen Studien gemeinsam behandelt werden.23 Auch zwischen West- und Ostdeutschland bestanden enge Beziehungen. Während des Kalten Krieges haben sich beide vor allem negativ aneinander 19 Vgl. vor allem Schildt, Wohlstand, sowie die Beiträge in Frese u. a., Demokratisierung. Das Konzept der Modernisierung wurde für die Analyse der Bundesrepublik zunächst von Schwarz, Ära Adenauer, fruchtbar gemacht und weiterentwickelt von Schildt u. Sywottek. Die neben ökonomische, technische, politische und soziale Entwicklungen tretende Modernisierung von Lebensweisen und -normen bis in die frühen siebziger Jahre, hier gefasst als Liberalisierung, betont Herbert, Liberalisierung. 20 Meadows u. a. Konzise zur bis an die Wende der siebziger Jahre datierten »frühen« Bundesrepublik Nolte, Einführung. 21 Dazu jetzt Doering-Manteuffel u. Raphael, aber auch klassisch Hobsbawm. 22 Erste Versuche, die siebziger Jahre auch in sozial- und kulturhistorischer Perspektive zu konturieren, bei Knoch; Jarausch, Ende. 23 So zum Beispiel Herbert, Wandlungsprozesse.

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orientiert, und es ist daher sinnvoll, der »doppelten deutschen Zeitgeschichte« durch vergleichende und transfergeschichtliche Arbeiten auf die Spur zu kommen.24 Darüber darf aber nicht unterschätzt werden, wie unterschiedlich sich die beiden deutschen Teilstaaten entwickelt haben.25 Gerade im Bereich der Alltagskommunikation traten nach der Wiedervereinigung markante Differenzen zutage, die sich im Verlauf der deutschen Teilung herausgebildet zu haben scheinen. Es wäre zu simpel, allein von einem »weniger« an Diskussion, einem geringeren Stellenwert dieser Gesprächsform in der ostdeutschen Kommunikationskultur auszugehen.26 Eventuell ließe sich aber als Arbeitshypothese formulieren, dass Diskussionen in der DDR eine andere Bedeutung zukam und sie zudem anders geführt wurden, vermutlich konsensorientierter.27 In jedem Fall bedarf es, um solchen Ambivalenzen auf die Spur zu kommen und Kurzschlüsse zu vermeiden, einer eigenständigen Analyse, die in diesem Buch nicht geleistet werden kann. Zugleich waren für die Entwicklung der Bundesrepublik die politische Einbindung in die westliche Staatenwelt sowie die damit verknüpften, breiteren Prozesse der kulturellen »Westernisierung« und »Amerikanisierung« ebenso bedeutsam wie die Beziehungen zum anderen deutschen Teilstaat.28 Ohnehin machen kulturelle Entwicklungen nicht an Landesgrenzen halt; die Idee einer Nation als geschlossener Einheit ist eine Fiktion und heuristische Konstruktion. Die vorliegende Arbeit trägt in diesem Rahmen der besonders engen Verflechtung der westdeutschen Geschichte mit jener der USA und von daher der »Ame24 Vgl. Bauerkämper u. a., Doppelte Zeitgeschichte. Einführend zu Vergleich, Transfer und jetzt »Verflechtung« als Perspektiven der Geschichtswissenschaft siehe Werner u. Zimmermann; Conrad u. Randeria. 25 Das betont unter anderem Schildt, Fünf Möglichkeiten, S. 1234. 26 »Wirklicher Pluralismus«, so stellen Bessel u. Jessen, S. 7, gleichwohl zutreffend fest, »die folgenreiche Anerkennung der Existenz und Berechtigung unterschiedlicher Interessen, Meinungen, politischer Ziele und Werte, war mit der kommunistischen Selbstgewißheit, exklusive Einsicht in den objektiven Gang der Weltgeschichte zu haben, prinzipiell unvereinbar.« 27 Linguistische Studien zu Problemlösungsstrategien von ost- und westdeutschen Studierendengruppen in den frühen neunziger Jahren betonen etwa, dass die Ostdeutschen »Störungen des Gruppenkonsenses« relativ häufig als bedrohlich empfanden und daher nach Möglichkeit vermieden. Die westdeutschen Vergleichsgruppen entwickelten sich dagegen eher zu Arenen für Konkurrenzkämpfe, in denen die Einzelnen versuchten, ihre Meinung durchzusetzen. Vgl. Strohschneider, S. 182 f. Tendenzen interpersonaler Kommunikation in der DDR skizziert Kott. Vergleichende Forschungsperspektiven in sprachgeschichtlicher Perspektive entwickelt Hellmann. 28 Während nach Doering-Manteuffel, Dimensionen, »Westernisierung« auf die Herausbildung einer gemeinsamen Werteordnung der Gesellschaften diesseits und jenseits des Nordatlantiks verweist, soll »Amerikanisierung« stärker auf den von den USA ausgehenden linearen Kulturtransfer verweisen. Diese Abgrenzung fällt freilich zu scharf aus, weil auch Amerikanisierung stets als ein in zwei Richtungen ausstrahlender, durch kreative Aneignungen begleiteter Prozess gedacht werden muss. So bereits Berghahn, Americanization. Vgl. auch das Plädoyer für eine transnationale Konzeptualisierung der deutschen Geschichte von Conrad, Doppelte Marginalisierung. Zur europäischen Geschichte nach 1945 siehe Judt; Kaelble.

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rikanisierung« Rechnung – verstanden als ein in zwei Richtungen ausstrahlender, durch Adaptionen und Anverwandlung gekennzeichneter Prozess.29 Mit diesen Bemerkungen ist bereits der Forschungsstand angesprochen. Die geschichtswissenschaftliche Analyse zu den ersten Besatzungsjahren und der frühen Bundesrepublik wurde lange von politikgeschichtlichen Arbeiten dominiert, bevor eine rege Forschungstätigkeit aus sozial- und kulturhistorischer Perspektive einsetzte.30 Auch die Beschäftigung mit Kommunikation hat Konjunktur.31 In der Zeitgeschichte wird unter diesem Label aber besonders oft mediale Kommunikation untersucht, obwohl mündliche Kommunikation ihre strukturbildende Kraft auch umgeben von Massenmedien keineswegs einbüßt.32 Zugleich besteht der Trend, unter dem Stichwort Kommunikationsgeschichte vor allem Symbole und Zeichensysteme zu fokussieren oder den Gegenstand so zu durchdenken, dass er menschliche Interaktion überhaupt umfasst – getreu der prominenten Devise des Kommunikationswissenschaftlers Paul Watzlawick, man könne nicht nicht kommunizieren.33 Ironischerweise wird damit eine besonders zentrale Dimension von Kommunikation ein wenig an den Rand gedrängt: das konkrete Sprechen.34 Wie Moritz Föllmer aber prägnant feststellt, erscheinen Gespräche in einer ethnologisch und soziologisch informierten Perspektive keineswegs als »invariante und triviale, sondern als kulturell und historisch höchst bedeutsame Phänomene«.35 Sie stünden daher nicht nur im Zentrum der Face-to-Face-Society, sondern seien auch wesentlich an der Gestaltung der modernen Welt beteiligt gewesen. Die Historisierung menschlicher 29 »Amerika« meint im Folgenden stets die Vereinigten Staaten von Amerika. Einführend zu Phasen, Ebenen und Gegenläufigkeiten von Amerikanisierungstendenzen siehe insbesondere die Aufsätze von Doering-Manteuffel, Dimensionen; Gassert; Maase; Schildt, Vom politischen Programm; die Sammelbände von Lüdtke u. a.; Linke u. Tanner sowie stellvertretend für Einzelstudien Poiger, Jazz; de Grazia. In deutsch-amerikanisch vergleichender Perspektive Mauch u. Patel. 30 Zuletzt hat etwa Zierenberg einen Beitrag zur Zeitgeschichte als historische Anthropologie vorgelegt. Eine frühe, noch immer sehr lesenswerte Skizze über »Alltagsnormen und Lebensgefühle in der Bundesrepublik« liefert Tenbruck, der hier aus eigenen Erfahrungen schöpft. Anstelle von weiteren Einzelstudien sei außerdem auf die Sammelbände verwiesen von Moeller, West Germany; Schissler, The Miracle Years; Schildt u. Siegfried, Dynamische Zeiten; Frese u. a.; Naumann, Nachkrieg; Herbert, Wandlungsprozesse; demnächst Fulda u. a. 31 Diese Konjunktur lässt sich beispielsweise ablesen am SFB 584 »Das Politische als Kommunikationsraum in der Geschichte«, Universität Bielefeld; Themenheft »Kommunikationsgeschichte«, Geschichte und Gesellschaft, Jg. 27, 2001; Motto »Kommunikation und Raum« des 45. Deutschen Historikertages, September 2004 in Kiel. 32 Zur Geschichte der Massenmedien in Westdeutschland vgl. vor allem die jüngere Synthese von Hodenberg, Konsens, die auch konzeptionell anregenden Sammelbände von Bösch u. Frei, Medialisierung; Knoch u. Morat, den noch immer grundlegenden Forschungsbericht von Schildt, Jahrhundert, und die methodischen Anmerkungen von Lindenberger. 33 Watzlawick u. a., S. 50–53. 34 Symptomatisch für dieses Defizit ist die jetzt vorgelegte Einführung in »Kommunikationsgeschichte« von Arnold u. a. 35 Föllmer, Einleitung, S. 9.

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Verständigungsformen sei ein attraktives Forschungsfeld, um die inhaltliche und methodische Erweiterung der Neuen Kulturgeschichte voranzutreiben, »sofern einerseits die Verbindung zu großräumigen Fragestellungen und Prozessen hergestellt wird und andererseits neben den positiven Aspekten auch die Krisenanfälligkeit und das destruktive Potential kommunikativer Beziehungen in den Blick genommen werden«.36 Die vorliegende Arbeit will daher explizit einen Beitrag zur Kultur- und Sozialgeschichte des Sprechens leisten.37 Auch hier gilt, dass Kommunikation »nicht einfach die Übertragung von Information« meint.38 Vielmehr wird ein Gespräch erst durch kollektive Sinnstiftungen und kulturelle Repräsentationen für die Beteiligten als Gespräch erkennbar und damit konstituiert. Der nicht-sprachliche Rahmen mündlicher Kommunikation ist auch deshalb in die Analyse einzubeziehen. Wenngleich eher randständig, finden sich in der Literatur immer wieder Hinweise und Thesen über eine zunehmende Bedeutung von Diskussionen in diversen Handlungsräumen der alten Bundesrepublik. So erwähnt etwa Ulrich Herbert die in den sechziger Jahren aufkommende Forderung nach »stärker kommunikative[n] Erziehungsformen« sowie die zeitgenössische Debatte über eine »in die gesellschaftliche Kommunikation insgesamt reichende Demokratisierung«. Allerdings lässt er offen, was damit auf der Mikroebene genau gemeint ist.39 Ein anderes Beispiel ist Konrad Jarausch, dessen Synthese über »Deutsche Wandlungen 1945–1995« im Vorwort mit einer dichten Beschreibung von Veränderungen des Alltagslebens Anfang der siebziger Jahre einsetzt.40 Damals »kuschten« Schüler nicht mehr vor Lehrern, folgte »das Publikum nicht mehr jeder Anordnung von Beamten«, und »Frauen begehrten gegen den Kommandoton ihrer Männer auf«. Dies alles erscheint Jarausch »höchst erklärungsbedürftig«; dennoch kommt er in seiner mehrere Hundert Seiten starken Untersuchung nicht explizit auf Face-to-Face-Kommunikation zurück.41 Auch zahlreiche Einzelstudien liefern Hinweise, an welche die vorliegende Studie anknüpfen kann. Das gilt unter anderem für Arbeiten zu kommunikativen Praktiken in Betrieben und in Parteien, unter Intellektuellen, in der politischen Bildung oder den Kirchen.42 Ebenso zu nennen sind Studien zu Rund36 Ebd., S. 10. 37 Siehe in geschichtswissenschaftlicher Perspektive vor allem den Sammelband von Föllmer, Sehnsucht, sowie die programmatischen Einzelstudien von Owzar; Mergel, Parlamentarische Politik; Linke, Sprachkultur; Steinmetz, Das Sagbare. Breit zur Kommunikation »unter Anwesenden« jetzt der Aufsatz von Schlögl, Kommunikation. 38 Zitat: ders., Symbole, S. 11. 39 Herbert, Liberalisierung, S. 31 u. 42. 40 Vgl. Jarausch, Umkehr, S. 7 f. 41 Alle Zitate ebd., S. 8. 42 Zu Intellektuellen siehe Laak; Morat, Techniken; zur betrieblichen Kommunikation Rosenberger; zur Parteipolitik Bösch; Metzler, zur politischen Bildung und Jugendarbeit Boll, Auf der Suche; Gagel, Geschichte; Ciupke u. Jelich, Ein neuer Anfang; zu Kirchen und kirchlichen Akademien Großbölting; Ziemann; Schildt, Abendland.

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funk- und Fernsehprogrammen, zum zeitgenössischen Demokratiediskurs, zur normativen Verknüpfung von Demokratie und Vaterschaft, zur politischen Öffentlichkeit oder zu Interaktionsformen im Umfeld der Studentenproteste und des linksalternativen Milieus.43 Sie alle liefern auf sehr unterschiedliche Weise Indizien für eine zunehmende Wertschätzung symmetrischer, auch argumentativer Interaktion oder für einen analogen Wandel zwischenmenschlichen Umgangs in der frühen Bundesrepublik – auch wenn dies nicht im Zentrum des Erkenntnisinteresses steht und die Autoren von Gespräch, Dialog, Diskussion, Interaktion, Kommunikation oder Öffentlichkeit sprechen. In sozialwissenschaftlichen Studien ist ohnehin schon vor mehreren Jahrzehnten die Teilnahme von Bundesbürgern und -bürgerinnen an »politischen Diskussionen« untersucht worden – mit dem Ergebnis, diese sei dramatisch gestiegen. Allerdings interessierten sich die Autoren für Diskussionen nur als Vehikel, um der »politischen Kultur« des Landes auf die Spur zu kommen. Zudem suggerierten sie eine zu lineare Entwicklungstendenz und fragten nicht, wie Diskussionen konkret definiert und praktiziert wurden.44 Das vorliegende Buch soll auch diese unterschiedlichen und bisher unverbundenen Forschungsergebnisse aufeinander beziehen. Es legt dabei besonderes Augenmerk auf die Semantiken und Formen von Diskussionen, die in der Literatur kaum beachtet werden, um quer zu isolierten Handlungsfeldern und Milieus erkennbare Tendenzen aufzuspüren. Zugleich werden Etappen und Ambivalenzen des Wandels, seine Bedingungsfaktoren und Gegenläufigkeiten sowie seine Tiefenstruktur erörtert.45 Vermieden werden soll außerdem, eine zunehmende Aufwertung, Formalisierung und »Veralltäglichung« von Diskussionen allzu glatt in das Bild einer linearen Erfolgsgeschichte der Bundesrepublik einzupassen.46 Ulrich Herbert etwa deutet Diskussionen als Indikator und

43 Zu Rundfunk und Fernsehen vgl. vor allem Boll, Nachtprogramm; Hodenberg, Konsens; zum zeitgenössischen Demokratiediskurs Scheibe. Zu Konzeptionen demokratischer Vaterschaft und ebenfalls zu den Kirchen Rahden, Religion. Zu 1968 und zum linksalternativen Milieu vgl. Herzog, Politisierung; Reichardt, Wärme; Küster und zur politischen Öffentlichkeit Nehring; Weisbrod, Öffentlichkeit. Instruktiv ist die Synthese zu interpersoneller Kommunikation in der frühen Bundesrepublik bei Föllmer, Einleitung, S. 38–43. 44 Vgl. Baker u. a.; Greiffenhagen. Zum Terminus »politische Kultur« siehe in transdisziplinärer Perspektive Schuppert. Die vorliegende Studie weist punktuelle Überschneidungen zur politischen Kulturforschung auf, arbeitet aber nicht mit diesem, im Übrigen äußerst vieldeutigen Konzept, da die »Politik« dessen zentraler Referenzpunkt bleibt. 45 Ähnlich das Plädoyer von Kühne, Friedenskultur, S. 22, der vorschlägt, unter dem Konzept Friedenskultur gerade »das Zusammenwirken tendenziell aller gesellschaftlichen Handlungsebenen« sowie »die ›Veralltäglichung‹ und Routinisierung friedensorientierter gesellschaftlicher Praktiken« in der westdeutschen Nachkriegsgesellschaft als nicht-lineare Tendenz zu untersuchen. Das Diskutieren ließe sich in Kühnes Perspektive leicht integrieren, allerdings nur unter Ausblendung verbaler Formen von Gewalt. 46 Zu diesem und anderen geschichtswissenschaftlichen Narrativen der frühen Bundesrepublik siehe Schildt, Fünf Möglichkeiten; ders., Nachkriegszeit; Nolte, Einführung; Moeller,

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Element der Liberalisierung Westdeutschlands, also den Wandel von Lebensweisen und -normen sowie politischen Einstellungen in Richtung Partizipation, Pluralität und den Abbau hierarchischer sowie autoritärer Strukturen.47 Er stützt sich dabei auf das Konzept Zivilgesellschaft, verstanden als »Vision einer pluralistischen und säkularisierten Gesellschaft freier und selbständiger Individuen, die ihre Beziehungen zueinander friedlich und vernunftgeleitet regeln«, wozu auch die »Ergänzung der Tradition durch Öffentlichkeit und Diskurs als Legitimationsbasis« gehöre.48 Die vorliegende Studie deutet eine zunehmende Diskussionsbereitschaft und -dichte aber gerade nicht als Ausdruck wachsender Autonomie und Vernunftorientierung selbständiger Individuen, sondern neutraler und soziologischer als veränderte Normierung kommunikativen Verhaltens. Eine »Diskursivierung« Westdeutschlands wird als Aufwertung und Institutionalisierung der kommunikativen Gattung Diskussion in tendenziell allen Handlungsräumen gefasst, der sich die Akteure kaum entziehen konnten und die ebenso Glücksgefühle wie auch Schmerz und Enttäuschung produziert haben könnte. Je nach politischer Perspektive und sprachphilosophischen Prämissen über die Rationalität von deliberativen Verfahren kann eine solche Tendenz positiv oder negativ bewertet werden.49 Verkürzend in manchen geschichtswissenschaftlichen Studien ist nicht nur die Ausblendung von Macht und Herrschaft in argumentativen Umgangsformen, sondern auch die enge Kopplung von Diskussion und Demokratie. Die Zeitgeschichte operiert seit ihrer kulturellen Erweiterung mit einem dynamischen Demokratiebegriff, der semantische Verschiebungen in zeitgenössischen Diskursen aufnimmt. Der Fokus wurde außerdem von einer institutionellen hin zur inneren Demokratisierung der Bundesrepublik verschoben. Es geht auf dieser Ebene um die Verankerung bestimmter Werte, Normen und Handlungsmuster, zu denen auch Dialog- und Kompromissbereitschaft gezählt werden.50 Aber die Nähe von Diskussion und Demokratie wird als analytische Orientierungshilfe brüchig, sobald man argumentative Gespräche nicht normativ als symmetrisches Verfahren der Kompromissfindung und Vernunftproduktion

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Introduction, sowie die älteren programmatischen Texte von Erker; Kleßmann, Ein stolzes Schiff; Hockerts; Schwarz, Die ausgebliebene Katastrophe. Breiter zur deutschen Geschichte im 20. Jahrhundert: Geier. Vgl. Herbert, Liberalisierung. Vgl. die Warnung von Nehring, S. 119, die Ostermärsche »im Anschluss an Ulrich Herberts master narrative einer gesamtgesellschaftlichen ›Liberalisierung‹ der politischen Kultur« Westdeutschlands »als die im wahrsten Sinne des Wortes ersten Schritte hin zu jener zivilen, auf rational-argumentative Konfliktaustragung ausgerichteten Erfolgsgeschichte der Bundesrepublik« zu interpretieren. Herbert, Liberalisierung, S. 13. Diese Definition von »Diskursivierung« lehnt sich damit weder an den Diskursbegriff von Jürgen Habermas an noch an jenen von Michel Foucault. Vgl. Habermas, Vorbereitende Bemerkungen; Foucault, Die Ordnung des Diskurses. Vgl. Bauerkämper u. a., Demokratiewunder; Herbert, Liberalisierung; Schildt, Wohlstand. Zum Stellenwert des Terminus Diskussion in zeitgenössischen Theorien von Demokratie und Öffentlichkeit siehe Scheibe; Hodenberg, Konsens, S. 31–86.

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fasst, sondern stärker soziologisch als eine in Macht- und Herrschaftsstrukturen eingebettete soziale Praxis. Dann wird deutlich, dass Diskursivierung auch ohne Demokratisierung denkbar ist und umgekehrt. Außerdem verorten einige im Untersuchungszeitraum gängige Demokratiebegriffe Diskussionen im Parlament und in der Öffentlichkeit, aber nicht in der Sphäre privaten Lebens. Sie sind deshalb ein schlechter Ausgangspunkt, um die Veralltäglichung von Diskussionen in tendenziell allen Bereichen sozialen Handelns untersuchen zu wollen. Ich schlage daher vor, Diskursivierung von den zeitgeschichtlichen Narrativen der Liberalisierung und Demokratisierung zu lösen und erst recht nicht als Rationalisierung zu lesen, sondern jenseits normativer Prämissen als eigenständige, soziokulturelle Tendenz. Dass mündlich-argumentative Kommunikation in vielen Studien implizit verhandelt, aber nicht systematisch analysiert wird, zeigt auch ein Blick auf die in der vorliegenden Untersuchung ausgewählten Fallstudien. Was die erste betrifft, so werden die von den Amerikanern entwickelten Programme zur Demokratisierung westdeutscher Mentalitäten und Verhaltensweisen nach 1945 seit Jahrzehnten untersucht – von Politologen, Soziologen und Historikern.51 Sogar zum Stichpunkt Diskussion finden sich verstreute Hinweise in der Forschung. So sind öffentliche Diskussionsveranstaltungen ebenso erwähnt worden wie Gruppendiskussionen in Amerikahäusern und Kriegsgefangenenlagern. Auch gibt es Hinweise auf die Produktion von Dokumentarfilmen und Rundfunkproduktionen, die für Diskussionen als heilsame Alternative zum Befehlston warben.52 Schließlich ist für den Bereich des Bildungswesens bereits deutlich gezeigt worden, wie sehr die Reformbemühungen nicht nur auf die Abschaffung des dreigliedrigen Schulsystems zielten, sondern auch auf den Wandel von Unterrichtsformen und -inhalten, etwa eine Abkehr vom Frontalunterricht.53 Eine gezielte Analyse zum Stellenwert der Gesprächsform in der Demokratisierungspolitik steht aber aus. Daher ist offen, inwiefern die Erhöhung von Diskussionsbereitschaft ein eigenständiges Anliegen der amerikanischen Besatzungsmacht darstellte, wann, warum und von wem es entwickelt wurde und was die amerikanischen Besatzer überhaupt mit »Diskussion« meinten. Tatsächlich, und dies wird anhand von Akten, metakommunikativem Ratgebermaterial und audiovisuellen Quellen zu zeigen sein, verstanden sie unter diesem Termi51 Grundlegend zur Reeducation Rupieper, Wurzeln; Füssl; Bungenstab; Heinemann; Ermarth; Oberreuter u. Weber; Proney u. Wilson; Tent, Mission; Hein-Kremer; Gienow-Hecht; Fisher. Als Einführung in aktuelle Forschungstendenzen und -projekte siehe Bauerkämper u. a., Demokratiewunder. Breiter zur amerikanischen Besatzungspolitik siehe Henke; Benz, Besatzungsherrschaft, sowie grundlegend zum ersten Nachkriegsjahrzehnt als zusammenhängender Entwicklung in allen vier Besatzungszonen Kleßmann, Die doppelte Staatsgründung. Speziell zur britischen Umerziehungspolitik siehe einführend Turner; Pakschies, zur Jugendarbeit Boll, Auf der Suche, und zum Kulturbereich Clemens. 52 Zu den Filmen vgl. Roß sowie vereinzelte Hinweise in Rupieper, Wurzeln; Gimbel; Beyer; Hein-Kremer; Smith; Robin. Zur Rundfunkpolitik siehe Lersch, S. 77–92. 53 Vgl. zur Bildungspolitik vor allem Braun; Tent, Mission.

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nus etwas ganz anderes als ihr deutsches Gegenüber. Zudem arbeiteten sie mit der Vorstellung einer regelrechten »discussion technique«, die in der Forschung bisher noch keine Beachtung gefunden hat. Nur deren Kenntnis macht aber verständlich, warum moderierte Diskussionsveranstaltungen nicht nur als Ziel, sondern auch als Mittel der Demokratisierung fungieren sollten, und warum es nicht allein um die Häufigkeit von Diskussionen, sondern ebenso um deren Stil ging. In Synthesen zur amerikanischen Demokratisierungspolitik wird der Wandel von kommunikativen Verhaltensweisen und Handlungsdispositionen als Element amerikanischer Besatzungsherrschaft immer wieder komplett ausgeblendet.54 Tatsächlich standen Diskussionen – so die Hypothese dieser Untersuchung – im Zentrum der US-amerikanischen Programme. Bei der zweiten Fallstudie ist das Forschungsinteresse bislang wenig ausgeprägt. Die durch Werner Höfer von 1952 bis 1987 geleitete Radio- und Fernsehdiskussionssendung »Der Internationale Frühschoppen mit sechs Journalisten aus fünf Ländern«, die sonntags ab 12.00 Uhr im Radio ausgestrahlt wurde und seit 1953 parallel über die Bildschirme flimmerte, ist trotz guter Quellenlage kaum zum Gegenstand wissenschaftlicher Analyse avanciert. Auch die archivierten Fernseh- und Tonbandaufnahmen sowie die aktenweise erhaltene Hörer- und Zuschauerpost sind noch nicht untersucht wurden. Das ist insofern überraschend, als etwa Hans-Friedrich Foltin den »Frühschoppen« frühzeitig als »Markenzeichen der ARD« und als »eine der wichtigsten Institutionen der Öffentlichkeit in der noch jungen Bundesrepublik« beschrieb.55 Zudem erfährt die Geschichte von Massenmedien in der frühen Bundesrepublik seit geraumer Zeit großes Interesse. Selbst erste Analysen von Gesprächsprogrammen in Rundfunk und Fernsehen sind inzwischen erarbeitet worden.56 Dabei werden Massenmedien nicht mehr als neutrale Behälter der Informationsübermittlung gedacht, sondern als vieldeutige Sinnträger, die von den Akteuren aktiv angeeignet und mit Bedeutung versehen wurden.57 Ursache für die seltene Beschäftigung mit der Sendereihe könnte deren geringe Wertschätzung im Hinblick auf die Demokratisierung der frühen Bundesrepublik sein: Das aktuellste Beispiel hierfür ist Christina von Hodenbergs Studie über die westdeutschen Massenmedien, die auf die Sendereihe beziehungsweise ihren Moderator kaum eingeht.58 Hodenberg gesteht dem in den fünfziger Jahren entstandenen »Frühschoppen« im Rahmen einer Demokratisierung politischer Kultur keine zentrale Bedeutung zu. Daneben aber steht die 54 Vgl. etwa Gerhardt, Soziologie, aber auch aktuelle Einführungen zur amerikanisch-deutschen Beziehungsgeschichte wie Trommler; Berghahn, Amerika. 55 Foltin, S. 74. Vgl. außerdem Lilienthal; Stülb; Keller, S. 113–119. 56 Vgl. zu Gesprächssendungen in Rundfunk und Fernsehen vor allem Schildt, Abendland, S. 83–110; Boll, Nachtprogramm; Schumacher-Immel; Albrecht, Massenmedien; Foltin; Rosenstein; Keller. Zu politischen Gesprächssendungen im NWDR Lührs; Fuge u. Hilgert. 57 In dieser Linie Weisbrod, Medien; Bösch u. Borutta. Als Forschungsüberblicke siehe Schildt, Jahrhundert; Requate, Öffentlichkeit. 58 Vgl. Hodenberg, Konsens, S. 171, 257 sowie 329 f.

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von Michael E. Geisler geäußerte These, der »Frühschoppen« »taught a generation of Germans the meaning of democratic discourse«.59 Immerhin, das wird zu zeigen sein, sollte die Sendung die junge Demokratie zum Diskutieren verführen. Die westdeutschen Studentenproteste und die 68er-Generation, Thema der dritten und letzten Fallstudie, haben in der Forschung zuletzt viel Beachtung erfahren. In der Bundesrepublik nahmen die Unruhen 1965 in den Universitätsstädten Frankfurt am Main und West-Berlin ihren Ausgang und erlebten zwischen 1967 und 1969 einen Höhepunkt, der nicht nur zahlreiche weitere Universitätsstädte, sondern die Gesellschaft insgesamt erschütterte. Die ersten, häufig apologetischen Analysen von Trägergruppen, Programmen und Praktiken wurden bereits in den späten sechziger Jahren von ehemaligen Aktivisten vorgelegt. Mit dem dreißigjährigen Jubiläum des inzwischen zur mythischen Chiffre aufgewerteten Jahres 1968, in dem die Konflikte transnational ihren Höhepunkt erreichten, avancierten die Proteste darüber hinaus zum Gegenstand der geschichtswissenschaftlichen Forschung, die zunächst vor allem mit dem Konzept der »sozialen Bewegung« arbeitete.60 Parallel wurde die Trägergruppe der Proteste als »68er-Generation« in den Blick genommen.61 Die jüngere Literatur bettet die Chiffre »1968« in längerfristige Tendenzen des Wandels sowie in transnationale Perspektiven ein.62 Zugleich wird in performativer Perspektive nach Protestpraktiken und Lebensstilen, seit Kurzem auch nach kommunikativen Aspekten gefragt.63 Die vorliegende Studie richtet den Blick 59 Geisler, S. 239. 60 So vor allem Gilcher-Holtey, 68er Bewegung; dies., 1968 – Vom Ereignis zum Gegenstand. Für die inzwischen schon ältere Forschung vgl. die Forschungsberichte von Kersting, Entzauberung; Kraushaar, Zeitzeuge; Weinhauer. 61 Zum Begriff der Generation und Generationseinheit siehe die klassischen Ausführungen von Mannheim, die auf dieser Grundlage basierende historische Systematisierung von Fogt, die frühen Forschungsüberblicke von Jaeger; Hermann, Das Konzept, sowie in aktueller kulturhistorischer Perspektive Jureit u. Wildt, Generationen; Reulecke, Generationalität, und das DFG-Graduiertenkolleg 1083 »Generationengeschichte« an der Universität Göttingen. Zur »68er-Generation« siehe aus der Fülle der Literatur das insbesondere auf qualitativen Interviews beruhende Porträt von Bude, Altern, und die knappe, aber sehr konzise Skizze in Herbert, Drei politische Generationen. 62 Vgl. die Synthesen von Siegfried, Sound; Gilcher-Holtey, 68er-Bewegung; Kraushaar, Achtundsechzig, die Sammelbände von Klimke u. Scharloth, Handbuch; Hodenberg u. Siegfried; Gilcher-Holtey, 1968 – Vom Ereignis zum Gegenstand, sowie in transnationaler Perspektive Klimke u. Scharloth, 1968 in Europe; Frei, 1968. Zahlreiche Qualifikationsarbeiten entstehen derzeit am Bielefelder Lehrstuhl von Ingrid Gilcher-Holtey oder sind im interdisziplinären Verbund »Internationales Forschungskolloquium Protestbewegungen« organisiert. 63 Vgl. insbesondere Klimke u. Scharloth, Handbuch; Fahlenbrach; Vogel; Küster; Scharloth, Ritualkritik; ders., Sprache. Zudem gibt es schon seit Längerem Arbeiten, die sich mit der Studentenbewegung in sprachgeschichtlicher Perspektive auseinandersetzen. Vgl. Czubayko; Wengeler, »1968«. Vgl. außerdem die laufenden beziehungsweise kürzlich abgeschlossenen Forschungsprojekte von Belinda Davis, Rutgers University, und Joachim Scharloth, Universität Zürich.

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in diesem Sinne auf den »wölfische[n] Debattenhunger« jener Jahre, der in Protokollen, Pamphleten und Zeitungsartikeln sowie Selbstzeugnissen besonders deutlich wird.64 Dieser Debattenhunger, so eine zentrale These, hat sich tief in das Selbstverständnis der Akteure eingeschrieben und auch die westdeutsche Kommunikationskultur noch einmal verändert. Er richtete sich gegen die Bundesrepublik, war aber zugleich deren ureigenes Produkt. Hier fand die seit dem Zweiten Weltkrieg wachsende Diskussionsfreudigkeit der Westdeutschen einen Kulminationspunkt – und stieß an innere wie äußere Grenzen. Aber kann man die These einer Diskursivierung Westdeutschlands überhaupt untersuchen? Die Vergangenheit lässt sich nicht neutral abbilden; im Bemühen um Transparenz und Plausibilität bleibt Geschichtswissenschaft eine Suchbewegung und ein Akt der Sinnstiftung selbst.65 Gespräche unter anwesenden Personen mögen zudem als ein besonders schwieriger, da flüchtiger Gegenstand erscheinen, mit dem viele Historiker und Historikerinnen kaum vertraut sind. Es ist daher sinnvoll, zunächst einige grundlegende Aspekte in Erinnerung zu rufen. So besteht ein einzelnes Gespräch – grob vereinfacht – aus mehreren, einander unmittelbar folgenden Sprechakten. Im Minimalfall folgt auf die Aussage eines Sprechers A (Sprechakt 1) die Aussage eines Sprechers B (Sprechakt 2).66 Ein solches Gespräch ist schnell vergangen und hinterlässt in der Regel keine sichtbaren Spuren. Es wird von jedem Beteiligten anders erfahren und später anders erinnert. Allerdings sind Gespräche nicht nur auf der Inhaltsebene wirkungsmächtig. Sie sind ein unverzichtbarer Bestandteil menschlicher Interaktion, die der Verständigung dient, aber auch der Gemeinschaftsbildung sowie der (Re-)produktion von sozialen und symbolischen Ordnungen.67 Gerade auf der zweiten Ebene sind Gespräche keineswegs so flüchtig, wie es zunächst scheint. In der Perspektive von Erving Goffman handelt es sich bei mündlicher Kommunikation um performative Akte, die eine Tendenz zur Ritualisierung aufweisen und insofern zu festen Formen gerinnen.68 Auch wenn jedes Gespräch ein wenig anders verläuft als das vorherige, folgt es mit hoher Wahrscheinlichkeit einem bestimmten Muster und schreibt dieses Muster zugleich fort. Die Existenz von solchen Mustern der Kommunikation wird von 64 Sichtermann, S. 105. 65 Grundlegend noch immer Weber. Der Erklärungsanspruch der Geschichtswissenschaften wurde im Rahmen der Debatte um Postmoderne, Linguistic Turn und Neue Kulturgeschichte noch einmal deutlich differenziert und teilweise auch zurückgenommen. Vgl. Lorenz, Konstruktion. 66 Siehe einführend zur Genese der linguistischen Gesprächsforschung, die maßgeblich durch die amerikanische Ethnomethodologie und Conversation Analysis angeregt wurde, Henne u. Rehbock. 67 Zu Face-to-Face-Kommunikation als sozialer Praxis vgl. die klassischen Texte von Goffman, Interaction Ritual; Hymes. Siehe außerdem Föllmer, Einleitung, S. 12–17, der hier die Ansätze von Erving Goffman, Thomas Luckmann und Anthony Giddens für die Kommunikationsgeschichte fruchtbar macht. 68 Goffman plädiert zudem dafür, die naive Trennung zwischen authentischem und kommunikativ produziertem Selbst aufzuheben. Vgl. Goffman, Wir alle spielen Theater.

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den beteiligten Individuen in der Regel nicht reflektiert, ist ihnen aber doch bekannt, und sie setzen dieses Wissen im täglichen Leben geschickt ein.69 Die linguistische Gesprächsforschung untersucht solche Gesprächsformen inzwischen auch in historischer Perspektive, wobei neben den Gesprächsphasen (Eröffnung, Beendigung, Mitte, Ränder) vor allem Gesprächsschritte, Sprecherwechsel, Gesprächssequenzen sowie sprechaktinterne Elemente syntaktischer, lexikalischer, phonologischer und prosodischer Art berücksichtigt werden. Dabei geht es auch um die thematische und funktionale Ausrichtung von Gesprächen, um deren Zeitpunkt, Ort und räumliche Verortung sowie um Geschlecht und Status der Redenden.70 Allerdings liegt der Fokus der linguistischen Forschung auf Sprechakten selbst, weniger auf deren soziokulturellem Kontext oder gar auf zeitgenössischen Versuchen, bestimmte Gesprächsformen aufzuwerten. Um die Genese von Diskussionen in diesem Sinne zu untersuchen sowie systematisch mit sozialen Strukturen, politischen Entwicklungen und kollektiven Vorstellungswelten zu verbinden, ist eher der soziologische Ansatz von Thomas Luckmann geeignet. Luckmann untersucht »kommunikative Handlungen, in denen sich der Handelnde schon im Entwurf an einem Gesamtmuster orientiert als dem Mittel, das seinen Zwecken dient«. Er bezeichnet sie als »kommunikative Muster« beziehungsweise – bei größerer Komplexität sowie Stabilität und in Anlehnung an die Literaturwissenschaften – als »kommunikative Gattungen«.71 Dieser Ansatz, der in der gegenwärtigen Kommunikationsgeschichte kaum Beachtung findet,72 soll für die vorliegende Arbeit genutzt werden, wobei Luckmanns Perspektive mit Hilfe der Schriften von Pierre Bourdieu sowie Angelika Linke ausgebaut und erweitert wird. Nach Luckmann sind kommunikative Muster in das alltagsweltliche Wissen der Handelnden eingeschrieben, die bestimmte Verhaltensweise für selbstverständlich halten und durch Handeln reproduzieren. Auf diese Weise können sie zu regelrechten Institutionen des Alltags gerinnen. Kommunikative Gattungen verweisen also nicht auf spontane Sinnkonstruktionen, sondern sie sind, wie Martin Dinges resümiert, »Teil des gesellschaftlichen Wissensvorrats« und »im konkreten kommunikativen Handeln typisch erkennbar«.73 Sie befreien die 69 Besonders anregende Analysen von solchen alltäglichen Gesprächssituationen bietet Goffman, Forms. 70 Vgl. zu Perspektiven einer historischen Pragmatik Henne u. Rehbock, S. 228–235; Kilian, Historische Dialogforschung, und vor allem die programmatischen Überlegungen zur Verbindung von Linguistik einerseits, Sozial- und Kulturgeschichte andererseits von Linke, Sprache. Siehe außerdem in sprachwissenschaftlicher Perspektive Busse sowie den an der Schnittstelle von Linguistik und Sozialwissenschaften entwickelten Ansatz von Wodak, A new Agenda. 71 Alle Zitate Luckmann, S. 201, Hervorhebung im Original. 72 Zu den Ausnahmen gehören Dinges; Föllmer, Einleitung. Auch Scharloth, Ritualkritik, arbeitet mit Luckmann in linguistisch-geschichtswissenschaftlicher Perspektive. 73 Dinges, S. 390.

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Akteure damit einerseits von zeit- und kraftraubenden Entscheidungen, haben also eine Entlastungsfunktion. Andererseits sollten sich die Akteure, wenn sie kommunikative Gattungen nutzen, an deren Gattungsregeln halten. Denn ein von der Norm abweichendes Verhalten kann von anderen Akteuren sanktioniert werden – auch hierfür gibt es bestimmte Vorgaben. Luckmann macht damit darauf aufmerksam, dass Kommunikation bestimmten Risiken und Zwängen unterliegt.74 Zugleich betont er die kulturelle Variabilität kommunikativer Gattungen. »In manchen Gruppen in manchen Gesellschaften«, führt Luckmann aus, »muß man Rededuelle führen können, in anderen Witze erzählen.« Der Stellenwert, den eine bestimmte soziale Gruppe einer kommunikativen Gattung zuschreibt, lässt sich etwa daran erkennen, ob sie nur in einem oder mehreren Handlungsräumen erwartet wird, wie komplex die Gattungsregeln sind und ob diese von den Akteuren expliziert werden, vielleicht sogar theoretisch reflektiert oder wissenschaftlich erörtert. Das insgesamt zur Verfügung stehende Reservoir kommunikativer Gattungen bildet den »kommunikativen Haushalt« von sozialen Gruppen, der sich deren wandelnden Bedürfnissen permanent anpasst. Denn nach Luckmann produziert jede Sozialformation genau jene kommunikativen Gattungen, die sie braucht. Vorhandene kommunikative Gattungen geben somit auch über die spezifischen Probleme und Bedürfnislagen sozialer Gruppen Auskunft, für deren Behandlung sie einen formalisierten Rahmen darstellen.75 Ein wichtiger Indikator für die Existenz von solchen kommunikativen Gattungen – im Folgenden auch synonym als Gesprächsformen bezeichnet – ist die Umgangssprache. Denn das Alltagswissen der Akteure ist ganz wesentlich an Begriffe zur Bezeichnung von Sprechhandlungen geknüpft. Wer davon ausgeht, dass von ihm »gehobene Konversation« erwartet wird, redet und bewegt sich in der Regel anders, als wenn er annimmt, sein Gegenüber wolle »unbefangen scherzen« oder aber »ernsthaft diskutieren«. Solche Ethnokategorien bzw. alltägliche Sinnkonstruktionen sind für die Gerinnung von Kommunikation zu kommunikativen Gattungen konstitutiv und bilden damit einen sinnvollen Ausgangspunkt der Analyse.76 Für die Geschichtswissenschaft ergibt sich hieraus der Vorteil, dass die zu untersuchenden Gesprächsformen nicht – wie in der Linguistik üblich – a priori sowie scheinbar zeit- und raumübergreifend festgelegt werden müssen, sondern ausgehend von der Quellensprache induktiv bestimmt werden können. Zugleich ist es möglich, verschiedene Formen der Kommunikation relativ grob nach den ihnen zeitgenössisch zugeschriebenen Zwecken zu unterscheiden. Während beispielsweise in der alten Bundesrepublik die kommunikative Gattung »Scherz« der Belustigung dienen sollte, war der vor74 Luckmann, vor allem S. 200–206. 75 Ebd., S. 202. Siehe erläuternd und weiterführend Günthner u. Knoblauch. Ihrem Vorschlag, zwischen der Makro- und Mikroebene von Gesprächen die Mesoebene situativer Realisierung einzubeziehen, folgt die vorliegende Studie allerdings nicht. 76 Vgl. Luckmann, S. 203; Schütz.

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dergründige Zweck einer »Diskussion« der Austausch von Argumenten. Ebenso ist es möglich, nach dem sich verändernden Institutionalisierungsgrad einer kommunikativen Gattung zu fragen, nach dem Grad ihrer zeitgenössischen Verwissenschaftlichung und vor allem: nach ihrer symbolischen Aufladung. Der zweite Vorteil einer locker an Luckmann orientierten Gesprächsgeschichte ist die Möglichkeit, Binnen- und die Außenstruktur von Gesprächen heuristisch zu trennen. Die Binnenstruktur verweist, grob vereinfacht, auf die Beziehung von Sprechen und Sprache. Hier geht es um das gesprochene Wort selbst, um Syntax, Grammatik und Semantik. Die Außenstruktur verweist dagegen stärker auf die Beziehung von Sprechen und Gesellschaft. Hier ist relevant, wer mit wem kommuniziert, wo und wann das geschieht. In welchen Milieus, Räumen und Situationen findet eine spezifische Art von Kommunikation statt? Zugleich ist zu fragen, welche Beziehung zwischen den Sprechern besteht, mit welchen Erwartungen sie in das Gespräch eintreten und welche Bedeutung sie ihm zuschreiben.77 Während die Binnenstruktur den klassischen Gegenstand der linguistischen Gesprächsanalyse bildet, fallen Elemente der Außenstruktur ebenso in den Bereich von Soziologie, Ethnologie und Kulturwissenschaften. Damit eröffnet Luckmann Perspektiven für ein arbeitsteiliges Vorgehen. So berücksichtigt die vorliegende Studie vor allem die Außenstruktur von formalisierten Diskussionen. Das erlaubt eine radikale Kontextualisierung von Mustern des Sprechens, die als Teil der Sozial-, Kultur- und Politikgeschichte erkennbar werden. Schließlich erscheinen Gesprächsformen mit Luckmann nicht nur als kulturell divergent, sondern auch als historisch gewachsen. Sowohl das in einer Gesellschaft zur Verfügung stehende Gesamtensemble kommunikativer Muster als auch deren einzelne Ausgestaltung sind Ergebnis von langfristigen soziokulturellen Entwicklungen, nämlich der Institutionalisierung von kommunikativen Mustern zu festen Routinen des Alltags. Solche Institutionalisierungen unterliegen keinem autonomen Willen der Beteiligten, werden aber durch deren Handlungen erst ermöglicht.78 Mit Luckmann lässt sich also feststellen, dass Gesprächsformen an der Schnittstelle von Struktur und Handeln über eine eigene Geschichte verfügen. Allerdings sind solche Prozesse der Institutionalisierung nicht als lineare Tendenzen zu denken, sondern es sind Gegenläufigkeiten, Spannungsverhältnisse und Richtungsänderungen einzubeziehen, zumal kommunikative Praktiken auch Gegenstand zeitgenössischer Regulierungsversuche waren.79 Die Luckmannsche Perspektive muss auch in anderer Hinsicht erweitert werden. Luckmann betrachtet Kommunikation in funktionaler Perspektive als Instrument zur Verständigung. Kommunikative Routinen haben aber auch sozialsymbolische Funktionen, wie Angelika Linke anhand bürgerlicher Umgangsformen des 19. Jahrhunderts überzeugend gezeigt hat. Die Art und Weise, 77 Zur Struktur von kommunikativen Gattungen siehe Luckmann, S. 203–206. 78 Grundlegend Berger u. Luckmann. 79 Dies betont ebenso Föllmer, Einleitung.

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wie, mit wem, wo und worüber gesprochen wird, ist für die Bildung sozialer und symbolischer Ordnungen konstitutiv.80 So wird im spezifischen Stil kommunikativer Handlungen das Selbstverständnis sozialer Gruppen kultiviert und hergestellt. Mitunter kann auch ein einzelnes kommunikatives Muster, zum Sozialsymbol stilisiert, für Distinktionsgewinne eingesetzt werden. Die Fähigkeit, bei einem Empfang charmant zu parlieren oder in einem Seminar eloquent zu diskutieren, wird dann zu symbolischem Kapital im Sinne Pierre Bourdieus. Das gilt umso mehr, als es sich um quasi-automatisierte Verhaltensweisen handelt, die vom Einzelnen habitualisiert und daher gerade nicht ad hoc angeeignet werden können. Ihre Umsetzung ist an umfassendes Wissen und an umfassende Praxiserfahrung gebunden, die häufig schon in Kindheit und Jugend erworben und langfristig in den Lebensstil eingespeist werden.81 Soziale und in diesem Rahmen auch geschlechtliche Ungleichheit sind nicht nur für die Aktivierung bestimmter Sprechhandlungsregister in bestimmten Situationen konstitutiv, sondern sie beeinflussen auch den inhaltlichen Verlauf von Gesprächen – selbst wenn in einer »Diskussion« formal gleichrangige, an Wahrheit, Wahrhaftigkeit, Richtigkeit und Verständlichkeit orientierte Gesprächspartner Argumente über einen strittigen Gegenstand austauschen, und zwar mit dem Ziel, zu einem Konsens zu kommen und das Strittige aufzulösen. Pointiert hat wiederum Bourdieu die Ausblendung sozialer Dimensionen in der damit angedeuteten Diskurstheorie von Jürgen Habermas, aber auch in der Sprechakttheorie von John Austin kritisiert. Beide suchten in der Sprache selbst die Gründe für deren Wirksamkeit. Die Bedingungen für das Gelingen von Sprechakten sind nach Bourdieu aber gerade nicht in diesen selbst verankert, sondern sie werden durch das soziale Machtgefälle zwischen den Sprechenden und ihren jeweiligen sozialen Feldern bestimmt.82 Dass sich bestimmte Personengruppen in Wortgefechten häufiger durchsetzen als andere, ist daher mehr als ein Indiz für eine Lücke zwischen dem Ideal rationaler, argumentativer, herrschaftsfreier Diskussion und der rauen Wirklichkeit. Soziale und geschlechtliche Ungleichheit muss als Strukturmerkmal von argumentativen Gesprächen vielmehr von vornherein in die empirische Analyse einbezogen werden, sonst ist ihre Dynamik nicht zu verstehen.83 Das ist auch im Folgenden zu berücksichtigen, wenngleich es nicht darum geht, die Wirksamkeit sozialer Ungleichheit im Detail nachzuzeichnen. Vielmehr liegt das Ziel dieser 80 Vgl. Linke, Sprachkultur, S. 3. 81 Vgl zur Beziehung von Kultur und sozialer Ungleichheit Bourdieu, Die feinen Unterschiede, sowie speziell zum Terminus des symbolischen Kapitals ders., Sozialer Sinn, vor allem S. 205–221. 82 Vgl. Knoblauch, Kommunikationskultur, S. 37–40; Bourdieu, Ce que parler, S. 104–119; Austin; Habermas; Vorbereitende Bemerkungen; ders., Wahrheitstheorien. 83 Zum Geschlecht als soziokultureller Konstruktion (gender) siehe Scott. Zu Geschlecht und Kommunikation siehe Kotthoff u. Wodak; Wodak, Gender; Günthner u. Kotthoff; TrömelPlötz. In politikwissenschaftlicher Perspektive zu Geschlecht und deliberativen Demokratien Doerr.

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Studie darin, den symbolischen Stellenwert sowie die alltägliche Bedeutung und Verankerung des kommunikativen Musters »Diskussion« im kommunikativen Haushalt Westdeutschlands zu erhellen. Das Buch kombiniert zu diesem Zweck sehr unterschiedliche Quellengattungen, die zumeist ausgehend von den Fallstudien recherchiert wurden und deren Auswahl zu Beginn der jeweiligen Kapitel vorgestellt wird. Vorab lassen sich vier Quellengruppen grob unterscheiden, nämlich erstens metakommunikative Texte oder Filme, die ein breites Publikum zum häufigeren oder »besseren« Diskutieren anleiteten oder definierten, was unter einer Diskussion zu verstehen sei. Solche Quellen verweisen auf die zeitgenössische Formalisierung von Gesprächen entlang expliziter Regeln, und sie erlauben Aufschluss über Diskussionen als zeitgenössisches Kommunikationsideal. Sie zeugen von den gedachten Zielen, Teilnehmern und Regeln. Zugleich verweist die Existenz von Lehrmaterial auf eine entsprechende Bedürfnislage – entweder auf der Seite von Menschen, die ihre Diskussionsfähigkeit verbessern wollten, oder aber auf Seiten von Verlagen und Filmproduktionsgesellschaften, die das Gesprächsverhalten breiter Bevölkerungsgruppen zu beeinflussen suchten.84 Eine zweite Quellengruppe bilden Film- und Tonbandaufnahmen, Protokolle und Fotos von real stattgefundenen Diskussionen, die stärker auf die Praxis der Gesprächsform verweisen. Aber obwohl diese Quellen reale Sprechhandlungen dokumentieren, bilden sie diese nicht neutral ab. Das liegt zum einen an ihrem selektiven Charakter. Bei Diskussionen sprechen häufig mehrere Menschen gleichzeitig, was in linear angelegten Wortprotokollen nur schwer eingefangen werden kann. Unverständliche oder abgebrochene Sätze fehlen mitunter ganz. Außerdem sind Gestik und Mimik ein wichtiges Element der Kommunikation, über das aber weder Wortprotokolle noch Tonbandaufnahmen Auskunft geben. Fotos dagegen lassen die Sprechenden verstummen. Selbst Filmaufnahmen sind nicht »vollständig«, da sie nur eine bestimmte Perspektive auf das Geschehen wiedergeben. Zum anderen stellen Menschen ihr Verhalten von vornherein darauf ein, wenn eine Kamera auf sie gerichtet ist, ein Mikrofon eingeschaltet wird oder ein Protokollant im Zimmer sitzt. Die zeitgenössische Dokumentation eines Gesprächs verändert also die Gesprächssituation grundlegend und ist als Element seines »Settings« in die Analyse einzubeziehen. Schließlich entstehen Protokolle oder audiovisuelle Aufnahmen nicht zweckfrei. Die Interessen, die bestimmte Akteure mit der Praxis des Protokollierens oder Aufnehmens verfolgen, sind ebenfalls zu reflektieren – zumal dazu auch der Versuch gehören kann, ein Gespräch gezielt zu verfälschen.85 84 Zum Umgang mit metakommunikativen Texten als Quellen siehe Linke, Wer sprach, bes. S. 183–185. Zu audiovisuellen Quellen vgl. Hickethier, Film- und Fernsehanalyse; Pollert, Film- und Fernseharchive. 85 Zu Fotografien als Quelle der Geschichtswissenschaft siehe Jäger, Photographie. Als gelungenes Beispiel für den Umgang mit Protokollen als Quelle der Geschichtswissenschaft siehe Bösch. Einführend zu Trends, Perspektiven und Schwierigkeiten der Visual Historiy siehe Paul.

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Eine dritte Quellengruppe umfasst Zeitungs- und Zeitschriftenartikel sowie Selbstzeugnisse, also Tagebücher, Briefe und Autobiografien, und ausgewählte Zeitzeugengespräche. Sie werden zusammen genutzt, um individuelle Deutungen diverser Kommunikationsereignisse zu untersuchen. Vor allem der Umgang mit Selbstzeugnissen hat sich in den letzten Jahren in der Geschichtswissenschaft verfeinert. Mit Nachdruck wird davor gewarnt, Autobiografien, Briefe und Tagebücher als quasi-dokumentarische Belegquelle für die im Text beschriebenen Inhalte zu lesen. Vielmehr handelt es sich um unterschiedliche Genres, mit denen sich die Autoren entlang spezifischer Genreregeln modellierten und präsentierten.86 Autobiografien, die mitunter erst Jahrzehnte nach den erinnerten Ereignissen verfasst wurden, sind in erster Linie Quelle für Deutungsmuster der Vergangenheit zum Zeitpunkt ihrer schriftlichen Fixierung. Das Gleiche gilt für Zeitzeugengespräche, die daher nur an wenigen Stellen in die Darstellung eingearbeitet werden.87 Die vierte, ergänzend herangezogene Quellengruppe betrifft sozialwissenschaftliche Umfragen, die im Rahmen von zeitgenössischen Forschungsprojekten durchgeführt wurden. Allerdings sind die Möglichkeiten der empirischen Sozialforschung begrenzt. Die Auswahl der Befragten, die Formulierung der Fragen und die Aufbereitung der Daten beeinflussen das Ergebnis einer Umfrage erheblich. Entsprechend haben sozialwissenschaftliche Forschungsprojekte Daten der westdeutschen Gesellschaft nicht nur erhoben, sondern auch konstruiert.88 Dennoch sollte man sich die Chancen zur Interpretation sozialwissenschaftlicher Datensätze nicht völlig vergeben. Gerade im Hinblick auf kommunikative Selbstbeschreibungen erlauben sie einen Zugang zu Bevölkerungsgruppen, die in anderen Quellengattungen unterrepräsentiert sind, vor allem untere Schichten und Frauen. In der vorliegenden Studie werden ausgewählte Datensätze daher vorsichtig integriert.89 Die folgenden Ausführungen sind in drei »Akte« gegliedert, die mit je eigener Länge und Dramaturgie den Gegenstand aus unterschiedlichen Perspektiven beleuchten. Der erste Akt unter dem Titel »Deutsche Konventionen« wirft 86 Eine pointierte Kritik an der vor allem in der Bürgertumsforschung lange bestehenden Tendenz, Selbstzeugnisse implizit als dokumentarische Belegquelle für die im Text beschriebenen Inhalte zu lesen und ihren Genrecharakter zu verkennen, liefert Günther. 87 Zur lebensgeschichtlichen Konstruktionen der Vergangenheit siehe Bourdieu, L’illusion. 88 Vgl. Raphael, S. 190 f. Zur Historisierung der sozialwissenschaftlichen Umfrageforschung und der Demoskopie in Westdeutschland siehe Kruke; Ziemann. 89 Zahlreiche Datensätze sind in den siebziger Jahren im Rahmen des »German Electoral Data Project« (GED) zusammengefügt worden. Vgl. Zentralarchiv für Empirische Sozialforschung sowie die Klein u. a. beigefügte CD-Rom: BTW-disc 2000: Deutsche nationale Wahlstudien 1949–1998. Siehe außerdem die Analyse der Daten in Baker u. a. Grundlegend auch Almond u. Verba, S. 63–84, 266–306. Zusätzlich wurde mit Hilfe von Ronald Inglehart der »Standard Eurobarometer« ausgewertet, eine von der Europäischen Kommission seit den frühen siebziger Jahren regelmäßig in Auftrag gegebene Meinungsumfrage in allen Ländern der Europäischen Gemeinschaft bzw. Union. Zu Profil und Entstehung des Datensatzes siehe Reif u. Inglehart.

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den Blick weit zurück und fragt als knappe Skizze nach Spuren diskursiver Umgangsformen in der deutschen Geschichte weit vor 1945, nämlich im langen 19. Jahrhundert. Der zweite Akt über »Amerikanische Ambitionen« widmet sich ausschließlich der Fallstudie zur amerikanischen Demokratisierungspolitik, was Rückblicke in die Zwischenkriegszeit einschließt. Der dritte, mit Abstand längste Akt verschiebt den Fokus von kommunikativen Normierungsversuchen von außen auf die analoge Entwicklung von innen. Unter dem Titel »Westdeutsche Obsessionen« wird untersucht, mit welchen Motiven, Strategien und Effekten sich westdeutsche Akteure der frühen Bundesrepublik um eine Aufwertung argumentativer Interaktion in der Alltagskommunikation bemühten, wie sie diese organisierten und inwiefern ihre Anstrengungen von Erfolg gekrönt waren oder zu Konflikten führten. Als ebenso symptomatische wie konträre Orte öffentlich in Szene gesetzter Diskussionslust stehen Werner Höfers »Frühschoppen« und die Studentenbewegung im Zentrum. Der Schluss fasst die Ergebnisse zusammen und lenkt den Blick auf die Gegenwart. Was haben Diskussionslust und -frust im wiedervereinigten Deutschland der Gegenwart mit der Kulturgeschichte des »besseren Arguments« in Westdeutschland zu tun?

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Erster Akt

Deutsche Konventionen. Diskussionen als kommunikative Gattung des 19. Jahrhunderts

1. Einleitung Das vorliegende Buch soll zeigen, dass »Diskussionen« als kommunikative Gattung vom Ende des Zweiten Weltkriegs bis in die frühen siebziger Jahre eine Aufwertung in Westdeutschland erfuhren. Diese These einer zunehmenden »Diskursivierung« der Kommunikationskultur nach 1945 impliziert keineswegs, dass vor 1945 in Deutschland nicht diskutiert worden sei. Im Gegenteil. Mündlicher Meinungsaustausch über einen strittigen Gegenstand war in kommunikativen Routinen fest verankert, und zwar vermutlich sehr viel mehr, als es das in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts geprägte Narrativ eines tief sitzenden deutschen Diskutierunwillens mitunter glauben macht. Allerdings hatte sich die Gesprächsform als eine sachorientierte Praxis etabliert, die von der Beziehungsebene – und dem subjektiven Glücksmoment – eines Gesprächs abstrahierte. Zur Begründung dieser These begibt sich das vorliegende Kapitel auf eine Spurensuche in das lange 19. Jahrhundert, das heißt von der Zeit der Französischen Revolution bis zum Ausbruch des Ersten Weltkriegs.1 Banal wäre in diesem Rahmen der Nachweis, Menschen hätten »schon damals« in deutscher Sprache ihre Meinungen ausgetauscht. Wichtig ist vielmehr, in welchem Maße eine solche soziale Praxis zu einer formalisierten Gesprächsform, einer sozialen Institution, einer kommunikativen Gattung geronnen war, welche symbolische Wertigkeit dieser Gesprächsform im Vergleich zu anderen Gesprächsformen zugeschrieben wurde und welche Bedeutung ihr in der Alltagskommunikation zukam. Es geht also auf den folgenden Seiten – wie in der Studie insgesamt – nicht um informelle beziehungsweise in ihrem Zustandekommen und ihrer Form mehr oder weniger kontingente Gespräche, sondern um routinisierte Gespräche mit einem klaren Anfang, einem klaren Ende, impliziten oder sogar expliziten Regeln für den dazwischenliegenden Verlauf, Merkmalen der Binnen- und Außenstruktur und einem verbindlichen Zweck, der allen Gesprächsteilnehmern und -teilnehmerinnen vertraut war. Zudem ist wichtig, ob »Diskussionen« bereits von den Zeitgenossen als geregeltes Inter1 Einführend Nipperdey, Deutsche Geschichte 1800–1866; ders., Deutsche Geschichte 1866– 1918; Wehler, Deutsche Gesellschaftsgeschichte, Bd. 1–3; Kocka, Das lange 19. Jahrhundert.

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aktionsmuster erkannt, vielleicht sogar gefördert oder absichtsvoll verankert wurden. Schließlich ist auszuloten, in welchem Maße Menschen eine regelrechte Disposition zum Diskutieren entwickelten oder ob sie sich eher bemühten, Diskussionen zu vermeiden. Für diese Fragen ist das lange 19. Jahrhundert aus zwei Gründen besonders relevant: Wie erstens gezeigt werden soll, bildete sich die Verwendung des Wortes »Diskutieren« zur Bezeichnung eines Meinungsaustauschs im Verlauf dieses Säkulums maßgeblich heraus – eine wichtige Grundlage für die Institutionalisierung einer entsprechenden kommunikativen Gattung auch im 20. Jahrhundert. Zweitens umfasst das Ende des Untersuchungszeitraums das wilhelminische Kaiserreich und damit jene »Untertanengesellschaft«, deren angeblich um Autorität und Unterordnung kreisenden Strukturen und Verhaltensweisen als eine Ursache des Nationalsozialismus gelten – wie auch einer bis tief in das 20. Jahrhundert hinein reichenden Diskutierunwilligkeit.2 Besonders prominent ist die Stimme von Norbert Elias, der in Hinblick auf das deutsche Kaiserreich konstatierte: Wo »die Umgangsstrategie des Befehlens und Gehorchens im Verkehrskanon einer Gesellschaft gemäß deren Machtstrukturen besonders hoch bewertet wird, dort wird verständlicherweise die Strategie des Überredens und Überzeugens qua Diskussion gering bewertet«. In einem solchen Umfeld hatte »die Kunst der Diskussion keine große Chance, sich zu entwickeln«.3 Gerade wegen des Stereotyps einer geringen Institutionalisierung von kontroversen Streitgesprächen setzt die folgende Darstellung nicht bei jenen Institutionen ein, die freien Meinungsaustausch systematisch unterbanden – die Monarchie, das Militär – oder bei Praktiken, die zu Diskussionen in Kontrast standen – Schweigsamkeit und physische Gewalt. Stattdessen richtet sich der Blick auf Felder, in denen Meinungsaustausch über strittige Themen doch eine gewisse Hochschätzung, doch eine gewisse Institutionalisierung erfuhr.4 Dabei geht es nicht um Praxisfelder wie das Parlament oder die Universität, in denen eine solche Aufwertung zwar besonders offensichtlich ist, aber nur eine kleine Personenzahl unmittelbar betraf. Um die eventuelle Verankerung der Gesprächsform in alltäglichen Handlungsdispositionen vorsichtig auszuloten, wird vielmehr das Assoziationswesen und die Sphäre häuslicher Geselligkeit in den Blick genommen, womit es um Kommunikationsräume geht, die von Männern und Frauen sowie von Adeligen, Bürgerlichen und auch Arbeitern betreten wurden. 2 Zum Diktum der Untertanengesellschaft in kritischer Absicht siehe Nipperdey, Wilhelminische Gesellschaft. 3 Elias, S. 90 f. 4 Nur dieses Vorgehen ermöglicht zudem die Vergleichbarkeit mit späteren Zeiträumen, denn für die Epoche nach 1945 wird ebenfalls im Sinne einer Positivgeschichte die Aufwertung von Diskussionen untersucht, das heißt die Geschichte des Diskutierens wird vom Diskutieren aus statt von seinem vermeintlichen Gegenteil oder den Institutionen seiner Verhinderung aus beschrieben.

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Das folgende Kapitel unterscheidet sich in seiner Anlage von der restlichen Studie, da es sich außerhalb des eigentlichen Untersuchungszeitraums bewegt. Die Ausführungen sind daher skizzenhaft und selektiv. Sie orientieren sich einerseits an zeitgenössischen Wörterbüchern und Konversationslexika, um vorsichtig anzudeuten, welche Bedeutung und welche Formen dem Diskutieren in diesen spezifisch bürgerlichen Genres buchstäblich zugeschrieben wurden.5 Von hier ausgehend beleuchten sie die Praxis argumentativer Interaktion und befragen dazu die vorliegende Literatur auf ein Thema, das in einigen Studien zumindest am Rande gestreift, wenngleich nicht systematisch ausgelotet wird.6

5 Einführend zu Begriff und Geschichte von Enzyklopädien und Konversationslexika des 18. und 19. Jahrhunderts sowie zu Chancen und Grenzen ihrer Verwendung als Quellen Eybl u. a.; Haltern und mit Fokus auf konfessionelle Lexika Steinmetz, ›Nation‹. Einführend zu Varianten und Perspektiven von Begriffsgeschichte und Historischer Semantik, die in ihrem Anspruch meist über die folgenden Ausführungen hinausgehen, siehe ders., Vierzig Jahre. 6 Die Argumentation stützt sich maßgeblich auf Owzar; Linke, Sprachkultur; Welskopp. Keine dieser Arbeiten fasst Diskussion allerdings mit Thomas Luckmann als kommunikative Gattung und untersucht hiervon ausgehend ihre alltagspraktische Ausformung und Institutionalisierung.

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2. Wo ist die »Discussion«? Eine Spurensuche in Wörterbüchern und Lexika Ein wichtiger Hinweis für die Gerinnung von Gesprächen zu distinkten und routinisierten Gesprächsformen ist die Existenz von zeitgenössischen Worten zur Bezeichnung kommunikativer Praxis. Es handelt sich hier – mit Alfred Schütz gesprochen – um Konstruktionen erster Ordnung, die das Sprechhandlungswissen der Akteure bündeln und abrufbar machen. Für die Analyse ist wichtig, welche Worte überhaupt existierten – etwa Diskussion, Scherz, Konversation –, welche Semantik sie jeweils besaßen und welche Wertigkeit ihnen im Vergleich zu anderen, konkurrierenden und koexistierenden Termini zugeschrieben wurde.1 Wie etymologische Nachschlagewerke vermerken, geht das Verb »diskutieren« auf »discutere« zurück, was im Lateinischen »zerschlagen« oder »zerspalten« hieß, im Spätlateinischen dann »untersuchen«, »erörtern«, »besprechen«. Das im Deutschen bereits seit dem 17. Jahrhundert vereinzelt nachgewiesene Verb wurde vermutlich aus dem Lateinischen über das französische »discuter« entlehnt. Es verwies zunächst transitiv auf etwas erörtern, besprechen, wissenschaftlich darlegen. Seit dem frühen 19. Jahrhundert kam die Bedeutung eines schriftlich oder mündlich geführten Meinungsaustauschs hinzu, häufig auf das öffentliche, politische, parlamentarische Leben bezogen. Präfixbildungen wie weg- oder ausdiskutieren sind erst seit der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts nachgewiesen, als die Wortgebräuchlichkeit stark zunahm. Das Substantiv »Diskussion« ist vereinzelt bereits seit dem 16. Jahrhundert belegt, häufiger seit dem 18. Jahrhundert. Der Terminus verwies zum einen auf die Erörterung eines behandelten Sachverhalts oder Problems, unter anderem in wissenschaftlichen Texten. Daneben bildete sich die Bedeutung eines kontroversen Meinungsaustauschs heraus, mündlich oder schriftlich, als einzelner Akt oder als Gesamtheit von Äußerungen zu einem bestimmten Thema.2 Etymologischen Nachschlagewerken zufolge lassen sich die Worte »Diskussion« und »Diskutieren« im Sinne eines mündlichen, raum- und zeitkonkreten Meinungsaustauschs – wie er in der vorliegenden Arbeit interessiert – also schon lange vor dem 19. Jahrhundert nachweisen. Allerdings nahm Joachim Heinrich Campe die Termini nicht in das von ihm zwischen 1807 und 1811 publizierte »Wörterbuch der Deutschen Sprache« auf,3 sondern nur in das ebenfalls von ihm verfasste »Wörterbuch zur Erklärung und Verdeutschung der unserer Sprache aufgedrungenen fremden Ausdrücke« von 1801. Hier fasste er die 1 Vgl. Schütz; Luckmann. 2 Zur Etymologie siehe vor allem Kämper; Deutsches Wörterbuch von Jacob Grimm und Wilhelm Grimm. Neubearbeitung, Bd. 6, 1983, Sp. 1142 f. 3 Vgl. Campe, Wörterbuch der Deutschen Sprache.

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»Discussion« kurz als »Untersuchung, Erörterung« sowie analog das »Discutiren« als »untersuchen, erörtern«.4 Das von Johann Heinrich Zedler begründete »Universal-Lexikon aller Wissenschaften und Künste« aus dem 18. Jahrhundert führte ebenfalls einen Eintrag zu »Discutere, Discutiren«, verwies hier aber nur auf die ursprüngliche Bedeutung des lateinischen Verbs, nämlich »zerreissen, zertrennen«.5 Die »Deutsche Encyclopädie« aus den 1780er-Jahren verfügte über gar keinen entsprechenden Eintrag, ebenso wenig die Auflagen des einschlägigen »Brockhaus-Konversationslexikons« bis 1833 oder das Wörterbuch der Gebrüder Grimm aus der Jahrhundertmitte.6 Liest man die genannten Nachschlagewerke als Medien bürgerlich-gelehrter Selbstvergewisserung, dann ist auf die geringe Bedeutung zu schließen, die diesem Wort und der damit bezeichneten sozialen Praxis in gelehrten und bürgerlichen Kreisen zugeschrieben wurde. Allerdings kursierten im späten 18. und frühen 19. Jahrhundert eine Reihe anderer Termini, die der Sache nach auf einen mündlichen Austausch über einen strittigen Gegenstand verwiesen oder zumindest verweisen konnten. Das waren deutsche Worte wie Streitgespräch, Wortwechsel oder eben Meinungsaustausch, aber vor allem auch die Fremdwörter Disputation, Discours, Räsonnement, Konversation, Debatte, Colloquium und Dialog. Einigen dieser Termini widmeten die zeitgenössischen Konversationslexika große Aufmerksamkeit, wobei neben Schnittmengen auch Differenzen deutlich werden. So wurde der »Dialog« in zeitgenössischen Lexika entweder mit »Gespräch« gleichgesetzt und meinte damit verbale Interaktion überhaupt. Oder aber der »Dialog« wurde unter Rekurs auf den Sokratischen Dialog philosophisch aufgeladen. Freilich zielte der Terminus »Dialog« damit weniger auf das mündliche Gespräch unter mehreren Personen, sondern auf den schriftlich fingierten Gedankenaustausch, also eine literarische Gattung. Weder eine Pluralität von Akteuren noch die Mündlichkeit der Interaktion waren damit für die Wortbedeutung konstitutiv.7 Dasselbe galt für den »Discurs«. Dieser Terminus ging auf das lateinische »discurrere« zurück, das »hierhin und dorthin laufen«; es handelte sich also ursprünglich um einen Bewegungsbegriff. Ein Discurs war in übertragener Bedeutung der Einsatz – gewissermaßen die Bewegung – des Verstandes bei der Erkenntnissuche beziehungsweise das logisch-begriffliche, folgernde Denken. Der »Brockhaus« von 1817 kannte nur die adjektivische Form und betonte auf dieser Grundlage die Differenz zwischen diskursiver und intuitiver Erkennt4 Campe, Wörterbuch zur Erklärung und Verdeutschung, S. 307. 5 Vgl. Zedler, Bd. 7, 1734, Sp. 1046. 6 Zedler, 1732 ff.; Brockhaus, 1. Aufl., 1796ff; 2. Aufl., 1812 ff., 4. Aufl., 1817ff; 5. Aufl., 1819ff; 6. Aufl., 1824 ff., 7. Aufl., 1827 ff., 8. Aufl., 1833ff; Deutsches Wörterbuch von Jacob Grimm und Wilhelm Grimm. Zu Genese, Profil und Auflagen des bürgerlich geprägten Brockhaus siehe Hingst. 7 Vgl. etwa Zedler, 7. Bd., 1734, Sp. 743–745; Brockhaus, 4. Aufl., 3. Bd., 1817, S. 177 f. Entsprechend bezieht sich auch Hösle auf den philosophischen Dialog als literarische Form der Philosophie.

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nis. Obwohl der Terminus mitunter auch im Sinne von »Gespräch« verwendet wurde, konnte ein Discurs schriftlich und von einer einzigen Person geführt werden. Er bezeichnete damit weniger ein Muster verbaler Interaktion als vielmehr eine Form menschlicher Erkenntnis.8 Festzuhalten bleibt außerdem: Trotz der heutzutage häufig zu findenden Gleichsetzung von »Diskussion« und »Diskurs« sind die beiden Begriffe also etymologisch nicht verwandt. Wie der Diskurs verwies auch das »Räsonnement« auf den Stellenwert menschlicher Vernunft bei der Beurteilung eines Sachverhalts – ein Vorgang, der ebenso schriftlich wie mündlich vollzogen werden konnte, alleine oder mit mehreren.9 Dieses solitäre und monologische Moment sucht man dagegen vergeblich bei der »Konversation«, die stets die Interaktion unter mehreren implizierte. Das Wort verwies freilich nicht unmittelbar auf den Austausch divergierender Meinungen, sondern auf den gesellschaftlichen Umgang unter gebildeten Leuten überhaupt, auf den guten Ton, auf reibungslose Geselligkeit und Beziehungsarbeit, die neben verbalen Aspekten auch nonverbale umfasste. Entsprechend gaben »Konversations-Lexika« Hilfestellung zum zwischenmenschlichen Miteinander in besserer Gesellschaft – und keine Anleitung zur Entwicklung von Argumenten über einen strittigen Gegenstand. Wie weiter unten noch gezeigt wird, sollten Meinungsverschiedenheiten beim »Conversieren« im Verlauf des 19. Jahrhunderts sogar zunehmend vermieden, keinesfalls zelebriert werden.10 Die »Debatte« wiederum wurde von deutschen Konversationslexika im späten 18. und frühen 19. Jahrhundert häufig als Streitgespräch vorgestellt, oder aber der Terminus wurde auf die im englischen Parlament entwickelte Gesprächspraxis bezogen – und auf diesen Kommunikationsraum zunehmend reduziert. So notierte die vierte Auflage des »Brockhaus« in einem Band aus dem Jahr 1817 knapp und bündig: »Debatte, Debatten (Wortwechsel oder Streit, besonders über einen politischen Gegenstand), werden im englischen Parlament die Reden genannt, welche für und wider einen Antrag gehalten werden.«11 Im Englischen strahlte der Terminus schon früher auf den allgemeinen Sprachgebrauch aus und gab unter anderem den seit dem 18. Jahrhundert florierenden »debating societies« ihren Namen. Hier übte man sich in Wortgefechten nach parlamentarischem Muster, womit die »debate« auch jenseits des Parlaments auf eine formalisierte und kompetitive Art der Auseinandersetzung nach festen Re-

8 Vgl. Brockhaus, 4. Aufl., 3. Bd., 1817, S. 211; Böhler u. Gronke, S. 764. Nach Stierle, Gespräch, ist die bei Michel Foucault zu findende Gegenüberstellung von Diskurs als autoritärer Ordnungsstruktur einerseits und dem freien Gespräch andererseits bereits bei Montaigne, Descartes und Pascal angelegt. Zur historischen Begriffsrekonstruktion siehe auch Schalk. 9 Vgl. die Verwendung bei Kant, S. 22 f. Pointiert und kritisch zu Kants Verwendung von »Räsonnement« Habermas, Strukturwandel, S. 86. 10 Vgl. Linke, Sprachkultur, S. 132–150, mit begriffsgeschichtlichen Anmerkungen. 11 Brockhaus, 4. Aufl., 3. Bd., 1817, S. 72. Hervorhebung im Original.

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geln verwies, bei der sich zwei Parteien gegenüberstanden und ihre konträren Positionen argumentativ durchzusetzen versuchten.12 Während die Lexikoneinträge zur »Debatte« im ausgehenden 18. Jahrhundert sehr kurz ausfielen, waren jene zur »Disputation« umso länger. Der »Zedler« von 1734 hatte der »Disputir-Kunst« sogar noch einen Aufsatz über 13 Spalten gewidmet. Er maß der so bezeichneten Praxis große Bedeutung bei, die er nicht nur über ihre Form und ihren Zweck, sondern auch in Hinblick auf ihre Geschichte und die Räume ihrer Institutionalisierung genau beleuchtete. Es handelt sich demnach um eine sprachliche – mündliche oder schriftliche – Interaktion zwischen zwei Personen oder Parteien, die der Prüfung einer These beziehungsweise eines strittigen Sachverhalts diente. Dieser Gesprächsform wurde die normative Funktion der Wahrheitssuche zugeschrieben, wenngleich es den Disputierenden realiter eher um eine Demonstration ihrer Gelehrsamkeit gehe, wie der »Zedler« betrübt konstatierte.13 Daneben wurden die Kommunikationsräume genannt, in welchen die Gesprächsform eine Verankerung erfuhr. »Man pfleget«, so hieß es, »entweder öffentlich oder unter guten Freunden zu disputiren, und die öffentlichen Streitigkeiten geschehen entweder mündlich oder schriftlich.«14 Andererseits wurde das schriftliche »Gespräch« gegenüber dem mündlichen explizit bevorzugt, unter anderem da die Disputierenden ihre Leidenschaften so besser kontrollieren könnten.15 Schließlich folgten ausführliche Hinweise zu den konkreten Regeln und Formen von Disputationen unter Gelehrten und Theologen sowie zur »Historie der Disputier-Kunst« seit der Antike.16 Im 19. Jahrhundert avancierten dann die Universitäten zum prominenten Ort von Disputationen, wobei der Begriff immer weiter verengt wurde und heute nur noch für die Verteidigung der Dissertationsschrift gebraucht wird.17 In gewisser Weise scheint das Wort Disputation damit auf eine spezifische akademische Form der Diskussion zu verweisen, wie sie vor allem von Gelehrten praktiziert und im Kommunikationsraum Universität verankert wurde.18 In der 9. Auflage nahm der »Brockhaus« schließlich einen Eintrag zum Lemma »Diskussion« auf, wobei er das Wort wie im Lateinischen mit »c« schrieb. Der Eintrag aus dem Jahre 1844 beschränkte sich auf den knappen Hinweis: »Discussion heißt die Erörterung, besonders wenn eine Frage von verschiedenen Seiten betrachtet und durch Austausch verschiedener Meinungen darüber untersucht wird.«19 Es handelte sich um eine auffällig weite Definition, die ohne normative Implikationen operierte. Der Eindruck einer eher geringen Wertigkeit wird dadurch erhärtet, dass man in den folgenden Auflagen 12 13 14 15 16 17 18 19

Vgl. Hilgers, S. 126–132. Zedler, 7. Bd., 1734, Sp. 1058–1070. Ebd., Sp. 1058. Ebd., Sp. 1058 f. Ebd., Sp. 1059–1070. Vgl. bereits Brockhaus, 5. Aufl., 3. Bd., 1819, S. 213. So Böhler u. Katsakoulis, Sp. 823. Brockhaus, 9. Aufl., 4. Bd., 1844, S. 378.

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wieder auf einen Eintrag verzichtete.20 »Pierer’s Universal-Lexikon« von 1858, ein Konkurrenzprodukt zum »Brockhaus« aus dieser Zeit, verfügte zwar über ein eigenständiges Stichwort, verwies aber an erster Stelle sogar wieder auf die ursprüngliche lateinische Wortbedeutung der Verbform: »Discutiren (v. lat.), 1. (zertheilen; daher Discutientia), zertheilende Mittel; 2) erörtern, untersuchen; daher Discussion, Erörterung, Untersuchung, u. Discussiv, erörtern.«21 Allerdings führten die Auflagen des »Brockhaus« vom Vormärz bis hinein in das wilhelminische Kaiserreich nun ausführliche Texte zum Lemma »Debatte«, welche die »Discussion« integrierten.22 Die Auflage von 1844 erläuterte: Debatten nennt man Wortgefechte, Discussionen oder Disputationen, bei denen es sich nicht um die Ermittlung einer theoretischen Wahrheit, oder um den bloßen Triumph des Rechtbehaltens, sondern um die Erweckung einer praktischen Überzeugung und die dadurch vermittelte Herbeiführung eines Beschlusses handelt. Es gehört nämlich zu dem parlamentarischen Gebrauche, daß bei gestellten Anträgen zuvörderst, unter dem Namen einer allgemeinen Discussion, ein Theil der Mitglieder seine Meinung über das Grundprincip ausspricht, um das es sich bei der Frage handelt, dann aber mit der speciellen Debatte auf das Einzelne in einem Für und Wider und unter lebehafterm Wettkampfe eingegangen wird. Hier pflegen gewöhnlich die Formen etwas freier und die ganze Haltung weniger solenn zu sein, weshalb auch das engl. Unterhaus sich dazu in ein Comité des ganzen Hauses verwandelt, womit eben gesagt ist, daß es eine mehr vertrauliche Besprechung annimmt. In der Debatte vielmehr als in der feierlichen Rede zeigt sich die parlamentarische Kunst. Sie ist auch der wichtigste Theil des Geschäfts, vorausgesetzt, daß die Mitglieder nicht mit einem unabänderlichen Willen hereinkamen, welchenfalls die ganze Verhandlung nutzlos wäre, sondern unbefangen genug sind, guten Gründen Gehör zu geben und ihre Meinung einer bessern Überzeugung zu öffnen.23

In diesem im Zeichen des Frühliberalismus entstandenen Beitrag wurde »Debatte« nicht mehr als Streit gefasst und auch nicht allein auf das englische Parlament bezogen. Vielmehr ging es, losgelöst von politischen Institutionen eines konkreten Landes, um das lebhafte, auch kämpferische Für und Wider mit dem Ziel einer praktischen Beschlussfassung. Der politische Bezug blieb konstitutiv, wobei die räumliche Verankerung der Gesprächsform auf das Parlament in einer fast zeitgleich erschienen Auflage von »Meyers Konversationslexikon« bereits gelockert und auf den öffentlichen Raum insgesamt geweitet wurde.24 20 Vgl. Brockhaus, 10. Aufl., 5. Bd., 1852; Brockhaus, 11. Aufl., 5. Bd., 1865; Brockhaus, 12. Aufl., 5. Bd., 1876. 21 Pierer’s Universal-Lexikon, 5. Bd., 1858, S. 184. 22 Vgl. Brockhaus, 9. Aufl., 4. Bd., 1844, S. 100; Brockhaus, 10. Aufl., 4. Bd., 1852, S. 635; Brockhaus, 11. Aufl., 5. Bd., 1865, S. 72; Brockhaus, 12. Aufl., 5. Bd., 1876, S. 278 f.; Brockhaus, 14. Aufl., 4. Bd., 1892, S. 846. 23 Brockhaus, 9. Aufl., 4. Bd., 1844, S. 100. 24 »Neuerdings«, so Meyers Konversationslexikon, 1. Aufl., 7. Bd., 1846, S. 1065, »bezieht man den Ausdruck [Debatte, d. Vf.] auf alle durch Rede und Gegenrede, Schrift und Gegenschrift durchgeführten Verhandlungen in öffentlichen Gesellschaften und Blättern.«

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Zugleich erschien die Diskussion in dem soeben zitierten Eintrag als mündlicher Meinungsaustausch im Allgemeinen, dessen Form sich aus der Sache selbst ergab, während die Debatte das zu spezifizierende Besondere darstellte. Auch im Englischen fungierte das Wort »discussion«, wenn es überhaupt Verwendung fand, gewissermaßen als der breitere Begriff, der im Sinne des allgemeinen Sprachgebrauchs auf die Erörterung, den Meinungsaustausch verwies, aber nicht auf ein besonderes Interaktionsmuster des Parlaments. Die Debatte bezeichnete dagegen einen Meinungsaustausch über einen gestellten Antrag nach spezifischen Regeln zum Zweck der Beschlussfassung per Abstimmung – und damit den Kern spezifisch parlamentarischer Interaktion.25 Die semantische Beziehung zwischen den Termini Diskussion und Debatte wurde nach den 1840er-Jahren immer enger – bis die beiden Termini zumindest auf der Ebene der einschlägigen Konversationslexika zu Synonymen verschmolzen. Die elfte Auflage des »Brockhaus« aus den 1860er-Jahren setzte sie konsequent gleich: »Debatte oder Discussion nennt man einen unter Leitung eines Vorsitzenden in geregelter Aufeinanderfolge und Abwechslung der Sprechenden (also nicht in der freiern Form der Conversation) stattfindenden Meinungsaustausch mehrerer.«26 Hier ging es also erneut um den mündlichen Austausch von Meinungen unter mehreren Sprechern, wobei Debatte und Diskussion nun nicht mehr vom gelehrten und theoretischen Gespräch und auch nicht vom zänkischen Streit abgegrenzt wurden, sondern von der Konversation, also dem beziehungsorientierten Gespräch in Gesellschaft. Die 14. Auflage des »Brockhaus« aus den 1890er-Jahren übernahm diesen Text weitgehend,27 zugleich wurde unter dem Stichwort »Diskussion«, nun mit »k« geschrieben, auf die »Debatte« verwiesen.28 Die fast zeitgleich erschienene Ausgabe von »Meyers Konversationslexikon« war etwas ausführlicher, aber die große Nähe zur Debatte blieb bestehen. Dieser Artikel fasste die Diskussion als »Erörterung durch Austausch verschiedener Ansichten, Debatte (s. d.)« und das Diskutieren als »erörtern, etwas besprechend erwägen, untersuchen, debattieren«.29 Bis hierhin ist festzuhalten, dass sich der Terminus »Diskussion« – verstanden als Meinungsaustausch – im Verlauf des 19. Jahrhunderts langsam einen festen Platz in deutschen Konversationslexika eroberte. Allerdings wurde er nur sehr knapp behandelt, im Vergleich zu den seitenlangen Artikeln zu verwandten Worten möchte man sagen: abgehandelt. Das spricht entweder für eine geringe symbolische Wertigkeit der so bezeichneten sozialen Praxis, ihre in der Perspektive der Zeitgenossen geringe Komplexität oder aber für die Dominanz anderer Termini, die einen ähnlichen Sachverhalt sinnfälliger auf den Begriff 25 26 27 28

Vgl. zum Aufkommen des Begriffs »discussion« im Englischen Hilgers, S. 134–143. Brockhaus, 11. Aufl., 5. Bd., 1865, S. 72, Hervorhebung im Original. Vgl. Brockhaus, 14. Aufl., 4. Bd., 1892, S. 846. Vgl. Brockhaus, 14. Aufl., 5. Bd., 1898, S. 350 »Diskussion (lat.), s. Debatte.«. Ohne Verweis auf die Debatte wurde allerdings die Verbform erläutert: »Diskutieren (lat.), erörtern, beraten.« Vgl. Brockhaus, 14. Aufl., 5. Bd., 1892, S. 350, Hervorhebung im Original. 29 Meyers Konversations-Lexikon, 5. Aufl., 5. Bd., 1897, S. 32.

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brachten. Hierzu gehörten erstens Termini wie etwa Dialog und Gespräch, die den mündlichen und argumentativen Meinungsaustausch zum Zweck, etwas Strittiges aufzulösen, einschließen konnten, aber deutlich breiter angelegt waren. Zu einer zweiten Gruppe zählten Worte, die funktional in eine leicht andere Richtung wiesen, so die auf Geselligkeit und nicht auf Überzeugung angelegte Konversation oder das auf die Aktivierung des Verstandes und nicht auf ein Muster menschlicher Interaktion zielende Räsonnement. Drittens wurden in den zeitgenössischen Nachschlagewerken Einträge zu Worten verfasst, die auf den argumentativen Meinungsaustausch zwischen gleichberechtigten Sprechern verwiesen, aber dessen spezifische Realisation in bestimmten Kommunikationsräumen meinten: die Disputation oder die Debatte. Auffällig ist außerdem die im engen Genre bürgerlicher Konversationslexika wachsende Affinität zwischen den Worten Diskussion und Debatte, die beide zur Konversation in Spannung versetzt wurden. Diskussionen, so lässt sich idealtypisch formulieren, waren wie Debatten sachorientiert und dienten der Kritik am Gegenüber, die Konversation dagegen sollte beziehungsorientiert geführt werden und eine enge Verbindung zum Gesprächspartner oder zur Gesprächspartnerin ermöglichen. Diese Spannung prägte, wie nun gezeigt werden soll, auch die Ebene sozialer Praxis.

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3. Kultivierung und Regulierung des Dissenses. Spielräume sozialer Praxis Im Folgenden soll lediglich schlaglichtartig und hypothesenhaft verdeutlicht werden, inwiefern der mündliche Austausch von Argumenten über einen strittigen Gegenstand in bestimmten sozialen Räumen institutionalisiert worden sein könnte – und welche Grenzen ihm gezogen wurden. Die Darstellung lenkt den Blick vom Assoziationswesen der Aufklärung, in dem bürgerliche wie auch adelige, zumeist männliche Personen agierten, auf häuslich-gesellige Sprechhandlungsmuster in bürgerlichen Kreisen, die das »bürgerliche Jahrhundert« trotz quantitativer Marginalität tief greifend zu prägen vermochten, um schließlich kommunikative Routinen in der Arbeitergeschichte zu fokussieren. Gezeigt werden soll, dass sich »Diskussionen« in der deutschen Geschichte des langen 19. Jahrhunderts vor allem als Spielart von »Debatten« und damit als politisches, sachorientiertes, maskulines, auch agonales Gespräch etablierten, während sie aus der beziehungsorientierten »Konversation«, die beide Geschlechter vereinigte, zunehmend hinausgedacht wurden. Der Anfang des Untersuchungszeitraums verweist auf das Assoziationswesen der Aufklärung und damit auf jenes Praxisfeld, das Jürgen Habermas einst als empirischer Steinbruch diente, um einen normativen Begriff politischer Öffentlichkeit zu entwickeln, in der sich vernünftiger und herrschaftsfreier Meinungsaustausch tentativ realisiert haben soll.1 Die blinden Flecken und normativen Verzerrungen von Habermas’ Studie sind überzeugend aufgezeigt worden und müssen an dieser Stelle nicht wiederholt werden.2 Entscheidend ist, dass die maskuline »Gesellschaft der Aufklärer« (Richard van Dülmen) die Ideale der Vernunft, Kritik und Öffentlichkeit beziehungsweise Publizität kultivierte.3 Vor allem die Vernunft, so pointiert Horst Möller, »galt als letzte Instanz für alles Menschliche, ihr Mittel war die Kritik«4 – und zwar jene Kritik, das sei hinzugefügt, die sich nicht nur im Arkanum der Freimaurerlogen konstituierte, sondern zunehmend auch öffentlich gegenüber den Obrigkeiten artikulierte, wobei die Freiheit der öffentlichen Meinungsäußerung unter dem Stichwort der Publizität eingefordert wurde.5 Folgt man der Linguistin Angelika Linke, ist der »vernünftige Discours« der Bürger zu den Zentralbegriffen 1 Vgl. Habermas, Strukturwandel. 2 Als Einstieg noch immer die Beiträge in Calhoun, hier vor allem Eley. Außerdem Würgler; Weckel, Der »mächtige Geist der Assoziation«; Habermas, Frauen und Männer. 3 Dülmen. 4 Vgl. Möller, S. 13. 5 Zur Begriffsgeschichte von »Kritik« siehe Röttgers sowie die einschlägige Studie von Koselleck. Zur Kategorie von »Öffentlichkeit« sowie zur verwickelten Beziehung von »Öffentlichkeit« und »Geheimnis« grundlegend Hölscher, Öffentlichkeit; ders., Art. »Öffentlichkeit«.

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der Aufklärung hinzuzuzählen. Denn deren Vertreter hätten »die allmähliche Verfertigung der Gedanken beim Reden zum einzig sinnvollen Mittel sowohl der Selbsterziehung zur Mündigkeit als auch der kritischen Auseinandersetzung mit Staatsmacht und Obrigkeit« erhoben. Und wo »das freie Aushandeln von Meinungen und die Überzeugungskraft des einzelnen als Grundlage des menschlichen Miteinanders betrachtet werden, muss der einzelne auch artikulationsfähiger sein als in Strukturen, in denen die Macht des geburtsrechtlichen Standes (und damit die eindirektionale Macht des Befehls) diese Grundlage bildet«.6 Linkes Argument fällt aber zu eindeutig aus. So müsste noch genauer geprüft werden, wie einhellig die Protagonisten der Aufklärung auf normativer Ebene dem argumentativen und mündlichen Gespräch unter mehreren beziehungsweise der »allmählichen Verfertigung der Gedanken beim Reden« (Heinrich von Kleist) einen höheren Stellenwert beimaßen als der allmählichen Verfertigung der Gedanken beim Schreiben. Dass Aufklärung angeblich innerhalb des einzelnen Individuums verankert sei, Vernunft also gewissermaßen am Schreibtisch und im Selbstgespräch generiert werden könne und gerade nicht der Zwischenmenschlichkeit bedürfe, ist zumindest eine zentrale Kritik an Immanuel Kant, wie sie der westdeutsche Philosoph Karl-Otto Apel in den 1970erJahren formuliert hat.7 Tatsächlich zielte Kants kanonischer Text zur »Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung?« nicht auf einen Wandel von Mustern mündlicher Face-to-Face-Kommunikation. »So würde es sehr verderblich sein«, räumte Kant vielmehr ein, »wenn ein Offizier, dem von seinen Oberen etwas anbefohlen wird, im Dienste über die Zweckmäßigkeit oder Nützlichkeit dieses Befehls laut vernünfteln wollte; er muß gehorchen.«8 Kant schlug seinen Zeitgenossen stattdessen vor, ihre kritischen Gedanken schriftlich zu fixieren und auf diesem Wege der Öffentlichkeit mitzuteilen. »Es kann ihm aber billigerweise nicht verwehrt werden,« fuhr er in Bezug auf den Offizier fort, »als Gelehrter über die Fehler im Kriegsdienste Anmerkungen zu machen und diese seinem Publikum zur Beurteilung vorzulegen.«9 Vor diesem Hintergrund ist durchaus symptomatisch, dass der von den Zentren der Aufklärung weit entfernt lebende Königsberger Philosoph sein Renommee maßgeblich der Technik des Buchdrucks und der Lesebereitschaft seiner Zeitgenossen verdankte, also schriftlicher statt mündlicher Kommunikation. Allerdings findet man in den Schriften von Christian Garve, ebenfalls Vertreter der Spätaufklärung, explizit das Kommunikationsideal vom mündlichen und strittigen Meinungsaustausch als Instrument des Erkenntnisgewinns und 6 Linke, Sprachkultur, S. 49. Als Einblick in die kulturhistorische Bürgertumsforschung vgl. Hettling u. Hoffmann. 7 Vgl. Apel, Diskursethik, S. 330 f. Zur philosophischen Entwicklung eines dialogischen Wahrheitsbegriffs siehe Lorenz, Der dialogische Wahrheitsbegriff. 8 Kant, S. 22 f. 9 Ebd.

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der Wahrheitsfindung, bei ihm bezeichnet als Gespräch, Unterhaltung, Streit, Debatte oder Disputation. So formulierte Garve in den späten 1790er-Jahren über »Das ideale Gespräch«: Ohne Zweifel ist der höchste Endzweck und der glücklichste Erfolg des in Gesellschaft über Ideen geführten Streits dieser, daß die Wahrheit zuletzt den Sieg erkämpft – daß diejenige Meinung, welche die meisten und besten Gründe für sich hat, nachdem sie durch die verschiednen Parteien von allen Seiten beleuchtet worden ist, zuletzt die Mehrheit der Stimmen für sich gewinnt und bei dem größern Teil Überzeugung hervorbringt. Dieser Erfolg ist unter Männern, die mit Wahrheitsliebe und Talenten nur verteidigen, was sie selbst glauben, und nur bestreiten, was sie wirklich für irrig halten, ziemlich sicher zu erwarten; besonders, wenn sie lange miteinander in Verbindung bleiben.10

Garve fühlte sich zu einem solchen Plädoyer auch deshalb berufen, weil seine Zeitgenossen angeblich beim gemeinsamen Gespräch nur noch an der leichten und oberflächlichen »Konversation« Interesse zeigten. Im Unterschied zu den alten Griechen, bedauerte Garve, habe man den »Ernst und die ernsthaften Gegenstände« in »die Einsamkeit verwiesen«.11 Auf der Suche nach einer philosophischen Hochschätzung argumentativer Face-to-Face-Kommunikation im ausgehenden 18. Jahrhundert wird man aber etwa auch im Umfeld der Frühromantik fündig, so bei dem Philosophen und Theologen Friedrich Daniel Ernst Schleiermacher.12 Schleiermachers Ideal vom »freien Gespräch« zielte auf dessen künstlerische und leidenschaftliche Dimension, was in zeitgenössischer Perspektive keineswegs in Spannung zur Vernunft stand. Hintergrund einer relativen Gesprächigkeit im sich formierenden Bürgertum war nicht zuletzt der Nutzen des Gesprächs als Instrument der Distinktion. Wie ebenfalls Angelika Linke zeigt, entwickelte sich die mündliche Sprache selbst seit dem letzten Drittel des 18. Jahrhunderts zu einem Sozialsymbol des Bürgertums beziehungsweise zu einem bevorzugten Medium bürgerlicher »Kultur und Lebensführung« (Jürgen Kocka).13 Während höfische Kreise eine expressive Körpersprache zelebrierten, Verbeugungen und andere galante Gebärden, empfahlen bürgerliche Anstandsbücher eine Zurücknahme des körperlichen Ausdrucks, der schlicht und vermeintlich natürlich, ja authentisch sein sollte. Es erfolgte eine regelrechte Abwertung des Körperlichen, wobei gegenüber dem Körper nun das gesprochene Wort als Medium der Kommunikation in den Vordergrund rückte.14 Der Übergang von höfischer zu bürgerlicher Kultur lässt sich daher auch als eine »Verbalisierung« von Kommunikationskultur 10 11 12 13

Garve, S. 233. Ebd., S. 228. Vgl. Schleiermacher. Vgl. Linke, Sprachkultur, passim. Zur prekären Einheit »des« Bürgertums als Sozialformation sowie der Orientierung an einer spezifischen Kultur und Lebensführung als verbindendem Element siehe Kocka, Das europäische Muster, Zitat S. 17. 14 Zur »Leiblichkeit als Standeskultur« siehe Linke, Sprachkultur, S. 63–103.

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fassen.15 Vor allem im Assoziationswesen ging die in diesem Rahmen vollzogene Aufwertung diskursiver Handlungsmodi mit dem zunehmenden Ausschluss von Frauen einher und könnte Letztere zusätzlich legitimiert haben. Auch bürgerliche Wohnhäuser waren aber Arenen semi-öffentlicher Geselligkeit, bei denen Freunde, Verwandte, Bekannte und Kollegen der Gastgeber miteinander verkehrten und redeten. Im Verlauf des 19. Jahrhunderts trennte man deutlicher zwischen rein privaten Räumen sowie repräsentativen Besuchsund Gesellschaftszimmern. Noch immer aber war es üblich, bei bestimmten Anlässen Gäste zu laden, mit ihnen gesellig zu sein und ins Gespräch zu kommen, wobei neben informelle Verwandtentreffen große Abendgesellschaften traten sowie mehr oder weniger aufwendige Empfänge. Im Unterschied zur bürgerlichen Interaktion in Assoziationen und Vereinen wurden diese häuslichen Zusammenkünfte stets von beiden Geschlechtern getragen. Die Dame des Hauses orchestrierte die Geselligkeit, Ehemänner wurden in Begleitung ihrer Ehefrauen eingeladen – mitunter von ihren Kindern begleitet.16 In diesem räumlichen und situativen Rahmen versammelten sich bürgerliche Kreise nicht zuletzt, um »über Kunst und Literatur zu diskutieren«.17 Diese Formulierung von Gisela Mettele ist allerdings ein wenig ungenau. Zumindest ihrem eigenen Sprachgebrauch nach »diskutierten« die Akteure nicht, sondern sie betrieben »Konversation«, und das war, wie nun gezeigt werden soll, durchaus nicht dasselbe. Zum prestigeträchtigen Aushängeschild bürgerlicher Kultur und Lebensführung avancierte im 19. Jahrhundert eben nicht die »Diskussion« und auch nicht die »Debatte« oder »Disputation«, sondern die »Konversation«. Diese Gesprächsform bestimmte den Modus bürgerlicher Geselligkeit, sobald diese Männer und Frauen umfasste – und sie begrenzte den Raum für argumentativen Meinungsaustausch. Welch zentrale Bedeutung der »Konversation« im Bürgertum zugewiesen wurde, lässt sich bereits an den umfangreichen Konversations-Lexika erahnen, die auch in Hinblick auf ihre Verwendbarkeit in diesem Bereich auf den Markt gekommen waren. Vor allem aber wurden im 19. Jahrhundert eine Reihe von Anstandsbüchern gedruckt, die sich mit der Kunst der »Konversation« beschäftigten und diese zum Inbegriff von Bürgerlichkeit stilisierten.18 Sie zeigen, 15 Linke verwendet in Hinblick auf den Wandel des »Kompliments« den Terminus Versprachlichung, siehe ebd., S. 129, ansonsten aber auch den der Verbalisierung, so ebd., S. 132. 16 Vgl. Weckel, Der »mächtige Geist der Assoziation«; Mettele; Habermas, Frauen und Männer, S. 137–258. Zu Geselligkeit, Verkehrskreisen und -formen der bürgerlichen Familie in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts siehe außerdem in deutsch-englisch vergleichender Perspektive Budde, S. 317–333. Während Budde eine relative Offenheit der Bürgerhäuser betont, beschreibt Schmidt, Begrenzte Spielräume, S. 162–166, die zunehmende Abschließung der »Privatsphäre«. 17 Mettele, S. 156. 18 Linke, Sprachkultur, stützt sich maßgeblich auf solche Anstandsbücher, die in der Bibliografie ebd., S. 329–336, aufgeführt sind. Über die Hälfte – rund 50 – stammen aus dem Kaiserreich, was Linke in ihrer Arbeit, die zeitlich sehr viel breiter angelegt ist, leider nicht problematisiert. Vgl. mit anderem Fokus auch Owzar, S. 58–61.

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welche Bedeutung man dieser Gesprächsform zuwies, aber auch, in welch hohem Maße die Interaktion durch Vorgaben strukturiert war, die nicht nur Setting und Teilnehmerkreise, sondern ebenso Themenwahl und Sprecherwechsel bestimmten. Wenngleich die Gespräche im Rahmen häuslicher Geselligkeit ungezwungen und natürlich wirken sollten, der zwischenmenschliche Umgang zuweilen als »freies« Gespräch gefasst und vor diesem Hintergrund von der Debatte abgegrenzt wurde, handelte es sich dennoch um eine hochgradig durchregelte Form der Interaktion.19 Das Wort »Konversation« verwies ursprünglich nicht auf verbale Interaktion allgemein, sondern im weiteren Sinne auf Umgang und Gesellschaft. Das lässt sich besonders sinnfällig daran veranschaulichen, dass eine »Klugheitslehre« von 1737 noch die Frage erörtern konnte: »Ob und was man in Conversation reden solle.«20 Zugleich war der Begriff im 17. und in weiten Teilen des 18. Jahrhunderts ständisch geprägt. Er bezeichnete die in höfischen Salons kultivierte, durch starre Etikette geprägte Geselligkeit, die vermeintlich zweckfrei und insofern Ausdruck aristokratischen Müßiggangs sein sollte.21 Bürgerliche Kreise setzten sich von diesem Ritual der höfischen Gesellschaft nicht konsequent ab, sondern eigneten es sich im Verlauf des 18. und 19. Jahrhunderts vielmehr kreativ an. Die Semantik der Konversation wurde verbürgerlicht, das heißt genauer: versprachlicht und verbildet. Zum einen verwies der Terminus zunehmend und dann ausschließlich auf das »Gespräch«. Die mündlichen Anteile der Interaktion nahmen also zu und standen schließlich im Zentrum. Zum anderen wurde der Begriff mit Bildung verschmolzen.22 Der einst ständisch geprägte Terminus bewahrte so seine elitäre Note, verwies nun aber nicht mehr auf Hof und Adel, sondern auch oder sogar vor allem auf bürgerlich-gebildete Kreise. In welchem Maße die Verbürgerlichung der Konversation auch eine Diskursivierung beinhaltete, lässt sich nur andeutungsweise ausloten. Die an ein bürgerliches Publikum gerichteten Konversationsbücher des 18. Jahrhunderts standen in der moralischen und vernunftorientierten Tradition der Aufklärung. Ein Complimentir-Büchlein aus der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts formulierte, vermutlich in Abgrenzung von höfisch-weiblichen Formen der Geselligkeit, man solle einen »nützlichen und angenehmen Discours zu führen« suchen, anstatt »die Zeit mit leeren, verdrüsslichen und eitlen Reden vom Wetter dem Sonnenschein, oder weibischen nichtswürdigen Dingen zuzubringen«.23 Hier wurde also die Behandlung vermeintlich wertvoller Gegenstände gefordert, von 19 Vgl. grundlegend zum Gespräch in Gesellschaft als bürgerliche Interaktionsform Linke, Sprachkultur, S. 132–230. Vgl. aber auch Owzar, S. 300–333, dessen Ausführungen klassenübergreifend angelegt sind und vor allem dem Kaiserreich gelten. Im Zentrum dieser Studie steht die Frage nach der Ermöglichung milieuübergreifender Kommunikation. 20 Zit. n. Linke, Sprachkultur, S. 133. Die Ausführungen zur Begriffsgeschichte folgen ebd., S. 132–150. 21 Zur Konversation in der höfisch-aristokratischen Kultur Frankreichs Craveri. 22 Zusammenfassend Linke, Sprachkultur, S. 149 f. 23 Zit. n. ebd., S. 191.

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denen sich etwas lernen ließe, und als Etikett das Wort »Discours« gewählt. Damit rückte das Gespräch in der häuslichen Geselligkeit durchaus in die Nähe jener gelehrten Disputationen, die zeitgleich im Assoziationswesen institutionalisiert wurden. Andererseits kritisierte der bereits erwähnte Christian Garve schon gegen Ende des 18. Jahrhunderts seine Zeitgenossen, weil diese ihre Gespräche oberflächlich führten: Wir haben […] für unsre gesellschaftlichen Zusammenkünfte nur den Scherz oder die leichtesten und oberflächlichsten unsrer Kenntnisse aufbehalten. Die gewöhnlichen Gegenstände unsres Gesprächs, besonders, wenn beide Geschlechter sich in Gesellschaft vereinigen, sind einförmig, teils geringfügig; und der Gelegenheiten zu lernen, gibt es darin nur wenige. Auch in der geistreichsten Gesellschaft werden die Materien niemals erschöpft. Man springt von einem Gegenstand auf den andern; man begnügt sich an einzelnen guten Gedanken und Winken. Dies verlangt selbst der Wohlstand und der sogenannte gute Ton.24

Garve beobachtete, dass bei geselligen Gesprächen mit Männern und Frauen ein rascher Themenwechsel üblich sei, was ihm offenbar keineswegs als Ergebnis mangelnder Konzentrationsfähigkeit der Beteiligten galt, sondern vielmehr in deren Absicht zu liegen schien. Tatsächlich verwies ein solches Verhalten auf die ganz eigene Rationalität der bürgerlichen Konversation, wie sie sich im 19. Jahrhundert verfestigte und daher als eigenständige kommunikative Gattung gefasst werden kann. Damit »dieses Spiel«, so der Berliner Soziologe Georg Simmel über das gesellschaftliche Gespräch 1907, »sein Genügen an der bloßen Form bewahre, darf der Inhalt kein Eigengewicht bekommen: sobald die Diskussion sachlich wird, ist sie nicht mehr gesellig; sie dreht ihre teleologische Spitze um, sobald die Ergründung einer Wahrheit – die durchaus ihren Inhalt bilden kann – zu ihrem Zwecke wird. Damit zerstört sie ihren Charakter als gesellige Unterhaltung ebenso, wie wenn sie sich zu einem ernsthaften Streite zuspitzt.«25 Mit Simmels Hilfe lässt sich also idealtypisch zwischen der sachbezogenen, Erkenntnis suchenden »Diskussion« als kommunikativer Gattung einerseits und der geselligen und insofern von der im Gespräch behandelten Sache abstrahierenden »Konversation« unterscheiden, woraus sich in zeitgenössischer Perspektive ein Zielkonflikt ergab. Wie Linke entsprechend zeigt, dienten häuslich-gesellige Gespräche auch im Bürgertum keineswegs in erster Linie der Belehrung über Inhalte oder der Behandlung von Sachfragen, sondern – in der Perspektive der Akteure – der reibungslosen, kurzweiligen Unterhaltung sowie von hier ausgehend der Verbindung der Anwesenden. Das Ziel war die angenehme Geselligkeit, der dahinter stehende Zweck die Vergemeinschaftung. Dieser Zweck lag also auf der Beziehungsebene nicht auf der Sachebene.26

24 Garve, S. 228. 25 Simmel, S. 65. 26 Vgl. Linke, Sprachkultur, S. 170–230.

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Mit dem Fokus auf der Beziehungs- statt auf der Sachebene, auf der Form statt auf dem Inhalt, setzte die kommunikative Gattung Konversation der Möglichkeit zum Diskutieren strukturelle Grenzen. Um nämlich das vorgebliche Ziel reibungsloser und kurzweiliger Geselligkeit zu erreichen, gaben die Anstandsbücher des 19. Jahrhunderts ihren Lesern – vor allem auch Leserinnen – konkrete Hinweise. Keineswegs plädierten sie dafür, Themen primär um ihrer selbst willen zu behandeln und strittige Themen kontrovers auszuhandeln. Vielmehr lautete der Rat, die verschiedensten Gegenstände »recht abwechslungsreich und gefällig, scheinbar ungeordnet und doch im Zusammenhang untereinander zu mengen, nichts zu ernst, nichts zu gründlich, nichts zu lehrhaft behandelnd«.27 Um niemanden auszugrenzen, zu verärgern oder zu langweilen, empfahl man explizit einen raschen Themenwechsel, die Wahl leichter Themen und ihre nur oberflächliche Behandlung. Wichtig schien auch, den Eindruck von Zwanglosigkeit herzustellen. Das Gespräch sollte wie von selbst von einem Thema zum anderen plätschern, von einem Sprecher auf den anderen übergehen, ohne erkennbare Anstrengung, aber auch ohne zu stark aufgesetzte Etikette – vielmehr ganz »natürlich«. Die Akteure mussten ihre Themen und Sprecheinsätze eigenständig finden. Da sich die verschiedenen Redebeiträge zeitlich kaum überlappen durften, und zu große Pausen erst recht zu vermeiden waren, erforderte das ein hohes Maß an Koordination, an souveräner Anwendung impliziter Regeln. Gerade Frauen leisteten in der Konversation eine regelrechte Gesprächsarbeit, die sie nur dann mustergültig erfüllten, wenn die Arbeit nicht als solche erkennbar war.28 Während Dissens häufig Produkt, immer aber Bedingung einer Diskussion ist, ermahnten Anstandsbücher des 19. Jahrhunderts ihre Leserschaft, bei häuslich-geselligen Gesprächen Meinungsunterschiede präventiv zu vermeiden oder besser noch weiträumig zu umschiffen. All jene Themen sollten ausgeklammert werden, die von den Anwesenden ernst genommen würden und daher bei divergierenden Ansichten die Distanz zwischen den Sprechern vergrößern könnten.29 Ein im Kaiserreich in mehreren Auflagen erschienener Konversationsführer ermahnte, politische und religiöse Gespräche zu meiden: »Sie führen zu leidenschaftlicher Erregung und feindseligen Spannungen, die jeder angenehmen Unterhaltung ein Ende machen. Oft decken sie ganz unerwartet Meinungsverschiedenheiten auf, welche vielleicht gerade die Personen, die du dir verbinden möchtest, zu deinem Gegner machen.«30 Unabhängig von der Themenwahl und damit auf einer allgemeinen Ebene formulierte ein anderer Ratgeber mit dem Titel »Wie soll ich mich benehmen?« von 1897: »Ein Disput, eine wissenschaftliche oder geschäftliche Auseinandersetzung, ein Vortrag, gehört in den Lehrsaal oder das Arbeitszimmer, nie aber in Gesellschaft.«31 27 28 29 30 31

Zit. n. ebd., S. 193. Zu Frauen als Gesprächsarbeiterinnen vgl. ebd., S. 212–220. Zu den »verbotenen Themen« vgl. ebd., S. 203–207. Franken, S. 50. Zit. n. Owzar, S. 316.

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Freilich ist nicht klar, seit wann die schriftlich fixierten Normen der Konversation so eindeutig auf die Vermeidung von »ernsthaften« Themen und »Disputen« angelegt waren. Sowohl Simmels Analyse sowie das zuletzt gebrachte Zitat wurden erst in der wilhelminischen Phase des Kaiserreichs geschrieben. Aber bürgerliche Kultur und Lebensführung verfestigte sich im Verlauf des 19. Jahrhunderts nicht einfach, sondern veränderte sich. War hier erst nach und nach in Vergessenheit geraten, dass ein Dissens auch unterhaltsam, ein argumentativer und strittiger Meinungsaustausch auch verbindend sein konnte? Die prominente Deutschlandreisende Madame de Staël bemängelte 1814 in ihrem Reisebericht »De L’Allemagne« jedenfalls keineswegs ein zu geringes, sondern ein im Vergleich zu Frankreich zu großes Interesse am »ernsten Gedankenaustausch«.32 De Staëls eigene Wertschätzung galt allein der »leichten Unterhaltung«, zu der die Franzosen wie sonst niemand auf der Welt fähig seien, während die Deutschen »in allen Stücken ein ernsthaftes Ergebnis« wollten:33 Allen Dingen geben die Deutschen die nötige Zeit; aber in Sachen der Unterhaltung ist das Nötige die Belustigung; denn wenn man diese Grenze überschritten, so verfällt man in die Erörterung, in einen ernsten Gedankenaustausch, der mehr eine netelige Beschäftigung als eine angenehme Kunst ist. Einsehen muß man auch, daß der Geschmack und der Berausch des Gesellschaftsgeistes unfair machen zu ernsten Anstrengungen und eigentlichen Studien; so daß die Eigenschaften der Deutschen vielleicht in mehrfacher Beziehung aus dem Mangel dieses Geistes zusammenhängen.34

Ohnehin war das in Anstandsbüchern fixierte Ideal der Konversation nicht mit sozialer Praxis identisch. Das Genre verweist stattdessen auf den Versuch, Praxis zu regulieren. Eventuell können die weiter oben zitierten Quellen sogar als Indiz dafür gelesen werden, dass sich in das »Gespräch in Gesellschaft« auch im späten 19. Jahrhundert sehr wohl »ernsthafte Gegenstände« und offener Dissens einschlichen. Wenn es trotz aller Bemühungen zu inhaltlichen Differenzen zwischen den Gesprächspartnern kam, sollte dies aber heruntergespielt und kaschiert werden: »Offener Widerspruch verträgt sich schlecht mit guter Lebensart«, formulierte ein Ratgeber von 1898: »Sätze wie ›Das ist nicht wahr!‹ ›Das glaube ich nicht!‹ ›Das ist eine unsinnige Behauptung!‹ hört man zuweilen, doch nicht ohne gelinden Schrecken; denn sie sind in der That eine Art moralischer Ohrfeigen.«35 Der Ratschlag zum regelrechten Abbruch verbaler Kommunikation scheint vor allem im Kaiserreich immer nachdrücklicher erhoben worden zu sein. Armin Owzar, der zahlreiche Anstandsbücher aus dieser Zeit untersucht hat, betont, es sei den Autoren gar nicht mehr in den Sinn gekommen, dass das »Aufeinandertreffen verschiedener Meinungen auch durchaus Vergnügen bereiten 32 33 34 35

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Staël, S. 74. Ebd., S. 65 u. 94. Ebd., S. 74 f. Schramm, S. 161.

könnte«. Vielmehr wurde das Gegenteil unterstellt. »Wer andere erfreuen und erheitern wollte«, so Owzar prägnant, »der durfte es keinesfalls zu einem Disput kommen lassen. Schweigen erwies sich mithin als strategisches Korrektiv, um das Plaudern, das ›Konversieren‹ zu gewährleisten«.36 Vor allem nach der Bismarckzeit gaben die Anstandsbücher keinerlei Hinweise mehr, wie man einen Disput mit Worten regeln könnte.37 Stattdessen wurde Schweigen in Gesellschaft zur Tugend stilisiert. »Wer die Kunst zu schweigen versteht«, so ein 1903 publizierter Ratgeber, »der ist allen Leuten angenehm und vor jedem lapsus linguae aufs beste bewahrt«.38 Nach Owzar verweist dies auf einen allgemeinen Trend zum Umgang mit Konflikten in der Alltagskommunikation. Politischer Dissens wurde im wilhelminischen Kaiserreich zwar nicht mehr in physische Gewalt überführt, aber auch nicht argumentativ ausgehandelt, sondern eher durch plötzlich eintretende, aktive Schweigsamkeit einer Seite gelöst. Das ältere Bonmot »Reden ist Silber, Schweigen ist Gold« verweist demnach auf eine spezifische Strategie des Konfliktmanagements vor Ausbruch des Ersten Weltkriegs.39 Allerdings muss innerhalb des Bürgertums differenziert werden. Beispielsweise lud die Professorenfamilie Hermann von Helmholtz in den 1870er-Jahren wöchentlich zu einem Jour-fixe in ihre Villa in Berlin-Tiergarten ein, bei der sich Vertreter aus Politik, Kunst und Wissenschaft versammelten – und sicherlich angeregt unterhielten, vielleicht auch argumentierten? Liest man die edierten Briefe von Anna von Helmholtz aus dieser Zeit, dann widmete die geübte Gastgeberin dem Jour-fixe regelmäßig ein paar Zeilen, ohne allerdings auf in diesem Rahmen geführte Kontroversen einzugehen.40 Zumindest potenziell boten die Berliner Salons im Kaiserreich aber ein Forum für den Meinungsaustausch über professionelle und politische Grenzen hinweg.41 Vor diesem Hintergrund ist aufschlussreich, wie sehr der Boom von Anstandsbüchern im Kaiserreich mit dem sozialen Aufstieg vormals unterbürgerlicher Schichten zusammenhing. Es könnte sein, dass die Autoren speziell dieser Leserschaft nicht zutrauten, was den Gästen im Hause Helmholtz durchaus und wie selbstverständlich gelang: einen Dissens – auch über politische Grenzen hinweg – in ein anregendes und verbindendes Gespräch zu integrieren. Zudem ist das polarisierte Politikklima der Jahrhundertwende zu bedenken, das argumentativen Meinungsaustausch zwischen den Milieus erschwerte, innerhalb dieser aber keineswegs behinderte. Bis hierhin zusammenfassend ist zu betonen, dass »Konversationen« auf der Ebene sozialer Praxis jederzeit in »Diskussionen« umschlagen konnten. Aber, 36 37 38 39 40 41

Vgl. Owzar, S. 315–317, Zitat S. 317. Ebd., S. 329. Hunter, S. 62. Vgl. Ozwar, mit einer Zusammenfassung der Ergebnisse S. 403–427. Vgl. Helmholtz, S. 161–206, bes. S. 174, 178. Vgl. Reif.

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und das ist entscheidend, der argumentative Austausch von Meinungen über einen strittigen Gegenstand mit dem Ziel, das »Strittige« aufzulösen, wurde in der Sphäre häuslicher Geselligkeit nicht als eigenständige Gesprächsform institutionalisiert. Im Gegensatz zur Konversation gerann die Diskussion nicht zu einer eigenständigen kommunikativen Gattung mit hohem Formalisierungsgrad und hohem symbolischen Wert. Weil Dissens zu unkontrollierten Emotionen und damit zum Zerwürfnis führen konnte, so die Anstandsbücher des Kaiserreichs, sollten Meinungsdifferenzen zudem weder zugespitzt noch durch wechselseitige Überzeugungsarbeit gelöst, sondern in präventiver Absicht vermieden und unterbunden werden. Auf der normativen Ebene der Anstandsbücher galt das »ernsthafte« und daher tendenziell auch aggressive Diskutieren nicht als Bestandteil bürgerlicher Kultur und Lebensführung, sondern zunehmend als Risiko innerhalb eines Gesprächs in »guter« Gesellschaft. Die von Angelika Linke skizzierte Verbalisierung von Konversation als Element bürgerlicher Kultur und Lebensführung implizierte also nur eine sehr bedingte Diskursivierung. Bürgerliche Kultur und Lebensführung, so ist zu rekapitulieren, war hochgradig verbalisiert – und zog dem offenen Disput doch starre Grenzen. Ohnehin aber war Diskutierfreudigkeit keineswegs ein genuin bürgerliches Phänomen. Wie Thomas Welskopp betont, wurde seit dem Vormärz und dann verstärkt seit den 1860er-Jahren in Arbeiterbildungs- und Arbeitervereinen intensiv »diskutiert« und »debattiert«, wobei die Akteure ihre Sprachhandlungsmuster nicht nur mit genau diesen Termini bezeichneten, sondern in Debattierund Diskutierclubs auch gezielt versuchten, ihre argumentativen und rhetorischen Fähigkeiten zu erhöhen.42 Die Initiative zur Gründung von Arbeiter- und Arbeiterbildungsvereinen ging zu Beginn meist von bürgerlichen Liberalen und Demokraten aus, später auch von Nationalliberalen. Den aus Arbeiterkreisen kommenden Mitgliedern waren Honoratioren vorgesetzt, welche die Vereine leiteten und vertraten. Sie standen den nicht gebildeten und auch deshalb politisch unmündigen Mitgliedern mit dem Anspruch gegenüber, deren Bildungsdefizite zu beheben. Mit dem Hinweis auf das Bildungsgefälle begründeten die Honoratioren auch den Ausschluss politischer Debatten in den Vereinssatzungen. Dennoch nutzten sie selbst die Vereine, um ihre politischen Positionen einem breiten Publikum vorzutragen. Die Kommunikation war also zunächst hierarchisch-monologisch strukturiert. Viele Vereinssitzungen trugen den Charakter eines Lehrgesprächs im Unterricht.43 Aktive Mitglieder aus der Handwerker- und Arbeiterschaft setzten indes eine Transformation des Vereinslebens durch, nämlich eine Demokratisierung der Organisationsstruktur, was auch einen Wandel der im Verein verankerten Sprechhandlungsmuster bewirkte. »Rasch avancierten«, so Welskopp, »die demokratisierten Arbeiterbildungsvereine zu einem multifunktionalen Debatten42 Vgl. Welskopp, vor allem S. 230–508. 43 Vgl. zu diesem wie auch zum folgenden Absatz ebd., S. 235–238.

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forum, in dem eine mündig werden wollende Arbeiterschaft ihre eigenständige Form von Politik inszenierte.«44 Die von ihm untersuchten Selbstzeugnisse zeigen, mit welcher Intensität und Leidenschaft sich manch ein Arbeiter oder Handwerker nach langen Arbeitstagen regelrecht in diese Debatten stürzte, die in Vereinsräumen oder Gaststätten stattfanden, wobei auch die unerfahrenen Redner offenbar nicht lange im passiven Status der Zuhörer blieben, sondern sich rasch zu Wort meldeten. Das Debattieren und Diskutieren – diese Termini fungierten als Synonyme – wurde dabei keineswegs als trockene und lästige Pflichtübung erfahren, sondern als aufregende, vitale, vom Alkohol stimulierte und lautstarke Form der Interaktion unter gleichberechtigten Männern, die sich in die Handlungsmuster aktiver Bürgerschaft einübten. Diese maskulin und politisch aufgeladenen »Debatten-Diskussionen« verdichteten sich für viele Akteure zu einer intensiven, vielleicht auch identitätsstiftenden Erfahrung. Sowohl die handwerklich-zünftigen Traditionen der Faceto-Face-Kommunikation als auch das gesellige Moment der demokratisierten Vereine begünstigten die Attraktivität dieser Interaktionsform vor allem in handwerklich-gewerblichen Trägermilieus. Die fließenden Übergänge zwischen politischer Aktivität und Geselligkeit ermöglichten es zudem, dass die politischen Debatten jenseits der eigentlichen Vereins- und Versammlungstätigkeit in Kneipen informell fortgesetzt wurden. Die führenden Köpfe der frühen Sozialdemokratie erinnerten diese Abende als elektrisierende Erfahrung. Auch wenn die Vereins- und Versammlungsaktivitäten für die Masse der Aktiven einen außeralltäglichen Charakter trugen, sinnfällig markiert durch den Sonntagsanzug, den die Arbeiter anlegten, scheint sich die Diskutierkultur tief in den Erlebnishaushalt mancher Akteure eingeschrieben zu haben.45 Inwiefern diese redegewaltigen Anfänge der deutschen Sozialdemokratie auf die Kommunikationskultur der städtischen und ländlichen Lohnarbeiterschaft ausstrahlten, ist unklar.46 Zwar ist die bereits erwähnte Verankerung der agonalen Gespräche in Freizeiträumen zu bedenken. Gleichwohl ist aber offen, wie viele Personen sich aktiv an den Debatten in Vereinen und auf Versammlungen beteiligten. Und während handwerkliche und bäuerliche Arbeit »Kommunikation in grundsätzlich überschaubaren, hierarchisch strukturierten Kooperativen gewesen« war, gewannen mit der Entstehung und Verbreitung von Fabrikund Industriearbeit zwar horizontale Beziehungen zwischen den von der Lohnarbeit gleichermaßen Betroffenen an Bedeutung.47 Ob die alltägliche Kommunikation deswegen für angriffslustige Debatten durchlässig wurde, ist indes fraglich. Zumindest auf der Versammlungsebene endete das politische Debattieren der Arbeiter offenbar in dem Moment, wenn Frauen in die Kommunikation ein44 Ebd., S. 237, Hervorhebung im Original. 45 Vgl. ebd., S. 291–295, 384–418. 46 In sozialhistorischer Perspektive zur städtischen und ländlichen Lohnarbeiterschaft im 19. Jahrhundert vgl. Kocka, Arbeitsverhältnisse. 47 Vgl. den kurzen Abschnitt in Ritter u. Tenfelde, S. 812–816, Zitat S. 812.

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bezogen wurden.48 Das verweist auf das Geschlecht als Grenze einer Diskursivierung von Alltagskommunikation in der Arbeiterschaft des 19. Jahrhunderts. Mit dem Ende des Gründerbooms 1873 geriet die Entwicklung der polyfunktionalen Arbeitervereine ohnehin ins Stocken. Erst in den 1890er-Jahren nahm die Zahl der Arbeitervereine wieder zu, die nun ein anderes Profil aufwiesen.49 Jürgen Schmidt zeigt am Beispiel Erfurts, wie die von Arbeitervereinen organisierten nicht-öffentlichen Versammlungen vor allem nach der Jahrhundertwende kaum noch Raum für die einst übliche bierseelige Geselligkeit ließen. Für die Arbeiter waren die in diesem Rahmen nun »trocken« geführten Diskussionen wenig attraktiv, viele verweigerten die Teilnahme.50 Zu prüfen wäre, ob sich hier eine allgemeine Tendenz abnehmender Diskutierfreudigkeit im Arbeitermilieu abzeichnete oder eher eine neue Kluft zwischen konsumorientierter Geselligkeit einerseits und der regelkonformen, geordneten, »trockenen« Debattierkultur andererseits.51 Spätestens mit den Sozialistengesetzen hatten sich aber auch Kneipen zu wichtigen Arenen der Meinungsbildung entwickelt – zuweilen belauscht und protokolliert von Vigilanzbeamten.52 Armin Owzar hat Vigilanzberichte aus der wilhelminischen Zeit für den Hamburger Raum ausgewertet und betont, politische Inhalte seien in den belauschten Gesprächen sowohl bei Bürgerlichen wie bei Arbeitern relativ wenig thematisiert worden. Nicht selten verzichteten die Gäste ganz aufs Reden und verlegten sich aufs Trinken oder Spielen.53 Aber wenn im Gespräch ein politischer Dissens deutlich wurde, dann verfielen offenbar vor allem die Bürgerlichen, weniger die Arbeiter in Schweigsamkeit.54 Ein politisches Streitgespräch durch einseitiges Schweigen abzubrechen beziehungsweise gar nicht erst aufkommen zu lassen, lässt sich auf dieser Grundlage als vor allem bürgerliche Taktik fassen. Gleichwohl gelang es auch den diskutierenden Arbeitern nicht, sich wechselseitig durch Argumente zu überzeugen – Meinungswandel galt als Indiz für Charakterschwäche und wurde tunlichst vermieden.55 48 Siehe Welskopp, S. 335–337. 49 Vgl. Ritter u. Tenfelde, S. 820. 50 Vgl. Schmidt, Begrenzte Spielräume, S. 123–151, hier vor allem S. 138. Zur Kommunikationskultur in Arbeitervereinen des Kaiserreichs siehe auch Owzar, S. 355–369. 51 Lüdtke, S. 137, betont in Hinblick auf den Alltag von Facharbeitern um 1900 die Bedeutung nicht-sprachlicher, körperlicher Kommunikationsformen, wenngleich auch Gespräche über Politik, Religion und Wirtschaft durchaus geführt wurden. In Bezug auf politische Versammlungen wird ebd., S. 173–178, deutlich, dass die versammelten Menschenmengen nun im Status reiner Zuhörerschaft blieben, die oftmals auf den Übergang zum stärker geselligen Teil des Abends drängten. Die von sozialdemokratischen Aktivisten bei Versammlungen, Demonstrationen usw. erwartete Disziplin wurde von einem Teil der Arbeiterschaft begrüßt, von anderen abgelehnt. 52 Zu Vigilanzberichten als Quellen siehe neben Owzar, S. 54–58, auch Evans. 53 Zu den Inhalten der Gespräche siehe Owzar, S. 334–338. 54 Vgl. ebd., S. 338–354. Gespräche über Politik, das macht auch Evans deutlich, wurden unter Arbeitern durchaus geführt. 55 Vgl. Owzar, S. 338–354.

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Diskussionen, so ist als abschließende These zu formulieren, wurden in den beleuchteten Genres und Feldern des langen 19. Jahrhunderts vor allem als sachorientierte Praxis gedacht und etabliert, die von der Beziehungsebene abstrahierte. Mündlicher Meinungsaustausch in der Gruppe erfuhr durchaus eine Institutionalisierung, aber er wurde symbolisch und alltagspraktisch an die politische Debatte angelehnt, also ein auf Entscheidung drängendes Gespräch, das vor allem männliche Gesprächspartner in potenzielle Gegner transformierte. Natürlich konnte auch die hochgradig ritualisierte »Konversation«, die beziehungsorientierte und geschlechterübergreifende kommunikative Gattung per se, immer wieder in einen ernsthaften Meinungsaustausch umschlagen – empfohlen war das den Akteuren nicht. Wenn man die sachorientierte »Debatten-Diskussion« und die beziehungsorientierte »Konversation« als kommunikative Gattungen des 19. Jahrhunderts denkt, dann bestand zwischen ihnen ein Zielkonflikt. Nicht das geringe Ausmaß an Diskussion, sondern die Etablierung von Diskussionen als eine an die politische Debatte angelehnte Praxis verweist auf »deutsche Konventionen« im langen 19. Jahrhundert. Ob sich vom Ideal der disputfreien Konversation auf Staatsnähe und Obrigkeitshörigkeit schließen lässt, auf die viel beschriebene Untertanenmentalität wilhelminischer Bürger und die »Utopie der konfliktlosen Gesellschaft« ist dennoch fraglich.56 In jedem Fall sind diese Worte des Sozialhistorikers HansUlrich Wehler für ihren Entstehungskontext symptomatisch, denn sie wurden in der westdeutschen Gesellschaft der 1970er-Jahre formuliert. Wie weiter unten zu zeigen ist, hatten vor allem die gebildeten Milieus zu diesem Zeitpunkt eine große Wertschätzung für Dissens und diskursive Interaktionsformen entwickelt, welche man nun dem Kaiserreich in der Logik eines deutschen Sonderwegs absprach. Das betraf auch Norbert Elias, dessen eingangs zitierte Worte auf einen Vortrag zurückgehen, den er 1978 an der Universität Bielefeld hielt. Indem Elias auf eine im Kaiserreich kaum verankerte »Kunst der Diskussion« verwies,57 nutzte er eine Formel, die im langen 19. Jahrhundert ebenso wenig gebräuchlich war wie in der Weimarer Republik oder im Dritten Reich, und die auch heute wieder in Vergessenheit geraten ist. In den Jahren nach Ende des Zweiten Weltkriegs aber wurde intensiv über die »Kunst der Diskussion« reflektiert, etwa in einer gleichnamigen Ratgeberschrift aus dem Jahre 1948.58 Dahinter verbarg sich, wie nun gezeigt werden soll, ein zentrales Anliegen der amerikanischen Reeducationpolitik, das die konventionell deutsche Vorstellung von Diskussionen als genuin sachorientierte, kritische und daher wenig kooperative Praxis auf die Probe stellte.

56 Wehler, Das deutsche Kaiserreich, S. 133. Vgl. die alternative Lesart des Kaiserreichs von Anderson. 57 Elias, S. 90. 58 Die Kunst der Diskussion.

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ZWEITER AKT

Amerikanische Ambitionen. Diskussionen als Mittel und Zweck der Reeducation

1. Einleitung Im Sommer 1961 drehte der amerikanische Regisseur Billy Wilder einen Spielfilm im geteilten Berlin. »One, Two, Three« präsentierte die Nöte eines amerikanischen Coca-Cola-Managers im Westteil der Stadt kurz vor dem Bau der Mauer. Der Film floppte zwar an den Kinokassen, gilt aber heute als Klassiker der Filmgeschichte. Er beeindruckt nicht nur durch hohes Tempo, treffsichere Pointen und die schauspielerische Verve einer Liselotte Pulver als amerikanisiertem »Fraulein« mit Kaugummi und Stöckelschuhen. Er besticht auch durch beißenden Spott über die politischen Verhältnisse diesseits wie jenseits des Atlantiks und auf beiden Seiten des Eisernen Vorhangs.1 Bei genauem Hinsehen kann er zudem als anschaulicher Aufhänger für das Thema der vorliegenden Fallstudie dienen: Diskussionen als Mittel und Zweck amerikanischer Demokratisierungspolitik in Westdeutschland von 1945 bis in die frühen fünfziger Jahre. Zwar spielt »One, Two, Three« nachdem die regionalen Büros des Amerikanischen Hochkommissars geschlossen und die dort angesiedelten Programme zur Umerziehung beendet worden waren. Vordergründig hat er daher schon rein zeitlich nichts mit Versuchen zur demokratischen Reeducation der westdeutschen Gesellschaft zu tun oder gar mit der Bedeutung von Kommunikation in diesem Zusammenhang. Und doch schimmert genau dieser Topos, verzerrt und überzogen, in den ersten Filmminuten durch: Mister MacNamara, der von James Cagney gespielte Coca-Cola-Manager in West-Berlin, betritt mit energischen Schritten die von ihm geleitete Filiale. Auf dem Weg durch das Großraumbüro hält er abrupt inne, weil sich die gesamte Belegschaft bei seinem Eintritt wie auf Kommando vom Platz erhoben hat. Nun stehen die Männer und Frauen stramm im Raum. Mit gequälter Miene und amerikanischem Akzent gebietet MacNamara den Untergebenen »Sitzen machen!«, was umgehend befolgt wird. Darauf geht MacNamara in sein Büro und ruft dort mit lauter Stimme seinen deutschen Assistenten. Dieser, gespielt von

1 Zu Biografie und Schaffen Wilders (1906–2002) siehe Hutter u. Kamholz. Der in Österreich geborene Regisseur war jüdischer Herkunft und emigrierte 1933 von Berlin über Paris in die USA.

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Hanns Lothar, eilt herbei, knallt zur Begrüßung die Hacken zusammen und nimmt die Ausführungen des Chefs in strammer Haltung entgegen: MacNamara: »Schlemmer, wie oft habe ich Ihnen das schon gesagt, ich will nicht, dass die Angestellten jedes Mal aufstehen, wenn ich ins Büro komme.« Schlemmer: »Ich weiß, ich habe den strikten Befehl erteilt.« MacNamara: »Geht es denn nicht in Ihren preußischen Schädel, dass wir jetzt in einer Demokratie leben?« Schlemmer: »Das ist es ja gerade. Wenn ich den Leuten früher befohlen habe, sie sollen sitzen bleiben, dann blieben sie sitzen. Jetzt in der Demokratie, da tun sie, was sie wollen. Und sie wollen aufstehen!«2

In diesem Dialog werden zentrale Parameter der vorliegenden Fallstudie angedeutet: Das ist erstens der weite Demokratiebegriff eines MacNamara, der Demokratie nicht in der politischen Sphäre im engeren Sinne lokalisiert, sondern mit alltäglichen Verhaltensweisen, auch am Arbeitsplatz, verknüpft. Sowohl das untertänige Aufstehen der Belegschaft als auch der Versuch, einem solchen unliebsamen Verhaltensmuster durch strikte Befehle ein autoritatives Ende zu setzen, sind für ihn undemokratisch. Das entsprach genau der Konzeptualisierung von Demokratie als einer »Lebensform«, die amerikanischen Programmen zur »Demokratisierung« zugrunde lag.3 Denn damit war keineswegs nur der Aufbau eines modernen Verfassungsstaats westlicher Prägung gemeint, also mit Repräsentativsystem, Gewaltenteilung, dem Schutz von Menschenrechten sowie freien Wahlen. Vielmehr sollte neben diese institutionelle eine habituelle Demokratisierung treten, die Verinnerlichung von Toleranz und Meinungspluralismus, Mündigkeit und zivilgesellschaftlichem Engagement. Auf dieser Ebene ging es wiederum nicht nur um einen Wandel von Wertorientierungen, auf die bestimmte Verhaltensweisen in einem zweiten Schritt folgen sollten. Einige Aktivitäten setzten vielmehr auf der Ebene sozialer Praxis an und zielten unmittelbar auf die Einübung und Habitualisierung demokratischer Handlungsmodi in allen Sphären der Gesellschaft – von der Politik über das Privatleben bis hinein in die Wirtschaft. Prägnant wurde dieses Ziel im Januar 1949 auf einem Workshop für Offiziere der amerikanischen Militärregierung mit den Worten umrissen, »to give the Germans habit-forming experiences in democratic living«. In Klammern fügte der Protokollant hinzu: »This seemed to me a clear, concise formulation of the matter.«4 Wie zweitens im Folgenden gezeigt werden soll, wurde der Konnex zwischen Demokratie als Lebensform einerseits und bestimmten kommunikativen 2 Vgl. »One, Two, Three«, synchronisierte Fassung, Min. 5–7, zit. Dialog Min. 6. 3 Wilder war durch die Leitung des Dokumentarfilms »Die Todesmühlen« (1945) selbst an der amerikanischen Demokratisierungspolitik beteiligt. Siehe einführend zu diesem Film Chamberlin. 4 Vgl. Notes on Workshop on Community Organization, Nürnberg, 17.–21.1.1949, E&CR Division, OMGUS, Report by N. E. Himes, 8.2.1949, Akte 1, Box 6, 390/46/12, RG 260 NARA II.

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Mustern andererseits von einigen amerikanischen Akteuren nicht nur implizit mitgedacht, sondern auch explizit ausbuchstabiert und in eigenständige Programme gegossen. Einer im Verlauf der Besatzungszeit zunehmenden Zahl der »Re-Edukatoren« ging es um die Erhöhung alltäglicher Diskussionsdichte sowie habitualisierter Diskussionsbereitschaft und um die Verbesserung des dabei zur Anwendung kommenden Diskussionsstils – die Deutschen neigten in amerikanischer Perspektive zur kompromisslosen Rechthaberei, zum Monologisieren, zur fehlenden Rücksichtnahme auf das Gruppengefüge und das Wohlbefinden aller am Gespräch Beteiligten. Selbst die Freude am Gespräch wurde auf amerikanischer Seite als intrinsisch wertvoller Baustein einer toleranten, engagierten, pluralistischen, aber nicht atomistischen, eben: demokratischen Gesellschaft gedacht. Parallel versuchte man, ein methodisches Verständnis von formalisierten Diskussionsereignissen als regelrechter »Diskussionstechnik« zu etablieren. Mit der amerikanischen Demokratisierungspolitik oder auch Reeducation werden im Folgenden alle von den USA, dem »Office of Military Government for Germany, US Zone« (OMGUS) sowie dem »Office of the United States High Commissioner for Germany« (HICOG) ausgehenden Maßnahmen bezeichnet, welche auf die Verankerung von demokratischen Deutungs- und Handlungsmustern im besetzten Deutschland zielten. In den Akten der Militärregierung firmierten die entsprechenden Maßnahmen von Anfang an auch unter den Etiketten der »reorientation«, »reconstruction«, »orientation« oder »democratization« – eine begriffliche Laxheit, hinter der sich konzeptionelle Unsicherheiten verbargen. Während in den USA die öffentliche Debatte zu diesem Thema bereits mehrere Jahre vor Kriegsende aufflammte, entwickelte die amerikanische Regierung bis nach Kriegsende nur vage und zudem umstrittene Überlegungen. Die These einer Unkorrigierbarkeit der Deutschen, die zu bestrafen seien, stand dem nationalen Interesse an einer Einbindung eines besiegten Deutschland in das internationale System entgegen. In den amerikanischen Besatzungsbehörden und ihren sozialwissenschaftlichen wie politischen Beratungsgremien waren zudem verschiedene Demokratiekonzeptionen in Umlauf. Schließlich wurde der Versuch, eine Demokratie regelrecht oktroyieren zu wollen, auf amerikanischer Seite zuweilen als Paradox begriffen und abgelehnt.5 Wie bereits erwähnt, hat die Geschichtswissenschaft bislang nur nebenbei darauf verwiesen, dass Diskussionen zu den Mitteln und Zielen der amerikanischen Reeducationpolitik gehört haben. Dieser Aspekt wird selten expliziert, nicht systematisch untersucht und sein Stellenwert unterschätzt. Zwar ist bei einer Lektüre der einschlägigen Literatur offensichtlich, dass unter alliierter Besatzung in Amerikahäusern wie im öffentlichen Raum und auch schon in den amerikanischen Prisoner of War Schools (POW Schools) Diskussionsver5 Siehe zur Semantik des Begriffs »reeducation« und den Schwierigkeiten seiner Bestimmung Braun, S. 16–18; Bungenstab, S. 18–31; Tent, Mission, S. 254 f. Zu verfassungspolitischen Demokratiekonzeptionen vgl. Rupieper, Wurzeln, S. 60–64; Bauerkämper, Demokratie.

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anstaltungen organisiert wurden.6 Die entsprechenden Studien untersuchen diese aber in erster Linie als Arenen des Informationsaustauschs und der politischen Beteiligung. Der Fokus wird mithin auf die Inhalte der Gespräche, nicht auf ihre Form gelegt, auf die sachlichen Ergebnisse, nicht auf die Performanz von Sprechakten als soziale Praxis selbst. Die Überhöhung mündlichen Meinungsaustauschs zu einem demokratisierenden Verhalten eo ipso entgeht dem Gros der Studien daher ebenso wie die Spannung, die hieraus für die Besatzungsmacht resultierte. War es nicht ein ausgesprochen riskantes Unterfangen, ein besiegtes Land mit Millionen ehemaliger Nationalsozialisten und eingeschränkten Grundrechten zum freien Meinungsaustausch aufzufordern? Einigen wenigen Arbeiten zur Bildungsreform, zum Rundfunkwesen, zu den Kriegsgefangenenlagern und zur Filmpolitik ist die regelrechte amerikanische Offerte »Lernen Sie diskutieren!« dagegen selbstverständlich.7 Allerdings wird dieser Punkt kaum ausgeführt und die Spezifika des amerikanischen Diskussionsbegriffs werden übersehen. So entgeht der Literatur, wie explizit mündliche Kommunikation als performative Praxis durchregelt und als Methode verstanden wurde. Die ermöglichten Gespräche, die fast immer in der Gruppe und moderiert stattfanden, waren aus amerikanischer Perspektive eben nicht ein völlig »freier« Meinungsaustausch, sondern galten auch als wissenschaftlich nobilitiertes, kontrolliertes Verfahren, dessen demokratisierende Effekte auf habitueller Ebene sich ebenso antizipieren ließen wie die Herausbildung inhaltlich demokratischer Positionen. Argumentative Gespräche waren ein Erziehungsziel, aber auch eine Erziehungstechnik. Wann und wie kamen Amerikaner auf die Idee, mit argumentativen Face-to-Face-Gesprächen als Instrument der Umerziehung zu arbeiten? Welche Gruppen innerhalb der amerikanischen Besatzungsmacht waren dafür, welche dagegen? Und wie reagierten die Deutschen? Verweigerten sie sich den Foren des Meinungsaustauschs oder eignete man sich diese kreativ an und nutzte sie vielleicht sogar, um gegen die Besatzungsmacht zu opponieren? Zu den zentralen Quellen der Fallstudie gehören erstens OMGUS- und HICOG-Akten von 1945 bis in die frühen fünfziger Jahre. Neben offiziellen ame6 Siehe stellvertretend Rupieper, Wurzeln; Hein-Kremer; Smith. 7 Verhältnismäßig explizit ist der Sammelband von Roß, wobei hier nur die Beiträge von Hahn und Goergen auf den im Obertitel zitierten Aufruf »Lernen Sie diskutieren!« eingehen. Beide beziehen sich ausschließlich auf Filmproduktionen. Siehe auch die frühere Studie von Hahn, Umerziehung, S. 141–145, 407, 435, 437. Studien zur Bildungsreform erwähnen das Ziel der Einführung von Diskussionsgruppen innerhalb und außerhalb des Unterrichts sowie den Hintergrund der Educational Philosophy, ohne allerdings die Form der gewünschten oder praktizierten Gespräche genauer zu beschreiben. Vgl. zuletzt Braun, S. 115–124, mit Hinweisen auf die ältere Literatur. Vor allem Studien zum Rundfunkwesen haben nicht nur frühzeitig erkannt, dass Diskussionssendungen eingeführt wurden, sondern sprechen auch den hinter solchen Sendeformaten stehenden Nexus von Diskussion und Demokratie als Lebensform kurz an. Vgl. Lersch, S. 77–92. Für die offene Jugendarbeit vgl. Füssl. Das Gleiche gilt für Studien zu den amerikanischen Kriegsgefangenenlagern, so zuletzt Morina. In sprachgeschichtlicher Perspektive siehe außerdem Deissler; Kilian, Demokratische Sprache.

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rikanischen Unterlagen über Planung und Bewertung von Diskussionsveranstaltungen sind auch Handbücher für deren Durchführung, Wortprotokolle, Presseausschnitte, Umfragen und private Briefwechsel von den beteiligten Offizieren heranzuziehen. Zweitens werden Fotos, Ton- und Filmaufnahmen von öffentlichen Diskussionsveranstaltungen in der amerikanischen Besatzungszone genutzt sowie Lehrfilme zum Diskutieren. Um die Perspektive der Besatzer gezielt um die der Besetzten zu ergänzen, wurden schließlich Akten, Zeitungen und Selbstzeugnisse aus der amerikanischen Enklave Bremen gesichtet. Schließlich konnten metakommunikative Texte über Diskussionen herangezogen werden, und zwar sowohl aus den USA wie aus dem besetzten Deutschland.8 Wilders Spielfilm liefert eine Reihe von Vorlagen, um auch die vorliegende Fallstudie als Satire anzulegen. Tatsächlich behandelt sie aber ein überaus ernsthaftes Problem der deutschen Gesellschaftsgeschichte. Viele amerikanische und auch deutsche Akteure waren von der Bedeutsamkeit argumentativer Gespräche für den Aufbau einer demokratischen Gesellschaft überzeugt. Ihre Aktivität stand im Schatten der Gewaltexzesse des Zweiten Weltkriegs und der Massenvernichtung der europäischen Juden.9 Den Zeitgenossen schien es zweifelhaft, ob sich Westdeutschland nach der nationalsozialistischen Diktatur, die »Befehl« und »Gehorsam« symbolisch überhöht hatte, in eine Demokratie verwandeln könne. Dass dies letztlich gelang, ist heute offensichtlich. Aber wie das geschah, scheint noch keineswegs hinreichend geklärt. Wir wissen inzwischen viel über den Weg der Deutschen in den Nationalsozialismus hinein – aber wenig über ihren Weg hinaus.10 Diskussionen – das ist eine theoretische und normative Vorannahme des Buches – sind keine herrschaftsfreien Verfahren der Wahrheitskreation, und in einer Gesellschaft mit einer parlamentarischen Demokratie sollen keineswegs alle Bürgerinnen und Bürger ständig diskutieren. Aber das grundlegende Bemühen, Konfliktsituationen nicht mit physischer Gewalt oder einseitiger Befehlsgewalt, sondern mit dem Austausch von Argumenten zu begegnen, war ein wesentliches, unerlässliches Merkmal der kulturellen Figuration einer nicht-diktatorischen Nachkriegsgesellschaft. Im folgenden Kapitel werden zunächst einige Programme unter OMGUS und HICOG beleuchtet, die den Deutschen die praktische Möglichkeit zum 8 Die archivalischen Recherchen für diese Fallstudie wurden durchgeführt in NARA II; DRA; HA HR; ZA; BA FA; StA HB. Siehe die Aufschlüsselung der gesichteten Bestände im Anhang. 9 Vgl. Friedländer. Auf die wichtige Frage nach der Kommunikation zwischen Tätern und Opfern nach 1945 kann im Rahmen dieser Studie gleichwohl nicht eingegangen werden. Vgl. Boll, Sprechen; Kauders sowie zeitgenössisch und mit anderem Fokus die eindring liche Rede »Wider den Mythos vom deutsch-jüdischen Gespräch« von Scholem. 10 So Berghahn, Recasting, S. 326. In dieser Linie auch Jarausch u. Geyer, S. 13; Rahden, Demokratie. Vgl. außerdem zum »Demokratiewunder« den gleichnamigen Sammelband von Bauerkämper u. a., Demokratiewunder, sowie die frühe und eindringliche Skizze von Löwenthal.

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Meinungsaustausch boten. Diese Programme wurden nicht an amerikanischen Schreibtischen lückenlos geplant und dann nach Europa getragen, sondern entstanden maßgeblich aus den Erfahrungen am Ort. Ebenso wie die Besetzten das Diskutieren durch Praxis lernen sollten, waren die Demokratisierungsprogramme das Ergebnis eines »learning by doing« auf Seiten der Besatzer. So wurden diskursive Programme immer weiter ausgebaut, wie das dritte Kapitel zeigt, obwohl es sowohl auf deutscher wie auf amerikanischer Seite auch heftigen Protest gab. Neben die Möglichkeit zur Teilnahme an Diskussionsveranstaltungen trat die Vermittlung theoretisch-metakommunikativer Informationen über die hierbei anzuwendende »Diskussionstechnik«. Das konfrontierte die Menschen im besetzten Deutschland mit einem neuen Diskussionsbegriff, der Meinungsaustausch nicht als ernsthafte und sachorientierte Angelegenheit der politischen und akademischen Eliten dachte, sondern als unterhaltsame und beziehungsorientierte Aufgabe aller. Entsprechende Bücher und Filme, die in der deutschen Geschichte ein Novum darstellten, analysiert das letzte Kapitel. Wie außerdem angedeutet wird, löste die von der Besatzungsmacht formulierte Aufforderung zum Meinungsaustausch Widerstand aus, fand aber auch eifrige Multiplikatoren, welche das Ideal einer beständig diskutierenden Gesellschaft aufgriffen und über die Besatzungszeit fortführten.

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2. Diskussionspraxis als deutsches Begehren? Gruppendiskussionen, Diskussionsgruppen und öffentliche Foren Als gegen Ende des Zweiten Weltkriegs amerikanische Soldaten deutsche Städte und Dörfer erreichten, trafen mit Siegern und Besiegten auch unterschiedliche Kommunikationsstile aufeinander. Wie Anselm Doering-Manteuffel ausführt, zeigten sich viele Deutsche überrascht angesichts relativ salopper Umgangsformen, einer unverkrampften Gebärdensprache und einer lässigen Körperhaltung der feindlichen Soldaten – eine Erfahrung, die in zeitgenössischen Beschreibungen zum Topos des »freundlichen schwarzen GI« gerann, »der vom Panzer herunter oder aus dem Jeep Schokolade oder Kaugummi an die Kinder verteilt«.1 Das war, so Doering-Manteuffel, das »Gegenbild zum deutschen Soldaten, der die Hacken zusammenschlug und Gehorsam praktizierte, zugleich der Hinweis auf einen anderen, nämlich zivilen Habitus in Lebensführung und sozialer Organisation selbst da, wo es sich um Militär handelte«.2 Unterschiedliche Kommunikationsstile wurden nicht nur von deutscher, sondern auch von amerikanischer Seite konstatiert – und als Problem wahrgenommen. Das verdeutlichte Shepard Stone, unter Hochkommissar John J. McCloy seit dem Herbst 1949 Direktor der Abteilung für öffentliche Angelegenheiten, der regelmäßig ausgewählte deutsche Funktionsträger aus Kultur, Politik und Wirtschaft zu zwanglosen Empfängen und Dinnerpartys im amerikanischen Stil einlud. Rückblickend beklagte Stone die in solchen Momenten besonders deutlich zutage tretende »stiffness« der Deutschen, »their lack of ability to communicate, and their remote relation to flexibility and charm«, was er für ein ernsthaftes Hindernis deutsch-amerikanischen Kulturkontakts hielt.3 Wenn Mitarbeiter des amerikanischen Hochkommissariats die besiegten Deutschen zu einer lockeren Dinnerparty einluden, hatte das auf den ersten Blick mit einem gezielten Eingriff in westdeutsche Habitusstrukturen nichts zu tun. Eher scheint der Verzicht auf eine umfassende und insofern auch autoritäre Umerziehungspolitik durchzuscheinen, die man durch ein freundliches Miteinander zu ersetzen suchte. Wie auf den nächsten Seiten gezeigt werden soll, galten aber sowohl informelle Gespräche wie auch formalisierte Diskussionsveranstaltungen – sogenannte »group discussions«, »discussion groups« und »public forums« – als eine regelrechte Methode der amerikanischen Demokratisierungspolitik, die gewissermaßen unter die Haut und auf die Handlungsdispositionen 1 Doering-Manteuffel, Dimensionen, S. 19 2 Ebd., S. 20. Zu Informalität als Merkmal amerikanischer Kommunikationskultur siehe Wouters. Zu den das anfängliche Fraternisierungsverbot überwindenden Formen der Interaktion zwischen Besetzten und Besatzern siehe Höhn; Iriye; Hoffmann, Dilemma. 3 Zit. n. Berghahn, America, S. 56, Anm. 16.

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der Deutschen zielte. Freilich schlich sich dieses Ansinnen eher unreflektiert in die Betreuung deutscher Kriegsgefangener und die Arbeit in der amerikanischen Besatzungszone ein. Nach und nach wurde der Stellenwert von »discussion« als Instrument habituellen Wandels allerdings immer stärker reflektiert und von einem randständigen Bestandteil der Besatzungspolitik zu einem eigenständigen, auch zentralen Anliegen erhoben.

2.1 »Freier« Meinungsaustausch hinter Stacheldraht. Erste Gespräche in Prisoner of War Schools Die Beziehung zwischen Besatzern und Besetzten war durch eine fundamentale Asymmetrie gekennzeichnet. Mit der »Declaration Regarding the Defeat of Germany« bestimmten die Regierungen der vier Siegermächte am 5. Juni 1945, alle deutschen Behörden und das deutsche Volk hätten den Forderungen der Alliierten-Vertreter bedingungslos nachzukommen und alle Proklamationen, Befehle, Anordnungen und Anweisungen uneingeschränkt zu befolgen.4 In der amerikanischen Zone sollte Redefreiheit nur insofern gewährt werden, als sie militärische Interessen nicht beeinträchtigte. Politische Tätigkeiten waren nur nach Zustimmung des Militärgouverneurs genehmigt, die Verbreitung von nazistischen, militaristischen und pangermanischen Lehren wurde verboten.5 Zwar empfahl das »Long-Range Policy Statement for German Re-education« vom Juni 1946, den Deutschen »free communication« als demokratisches Grundprinzip zu vermitteln.6 Aber noch im Herbst 1947 mahnte Militärgouverneur General Clay, es müsse erst »die politische und wirtschaftliche Stabilität […] hergestellt sein, ehe das deutsche Volk seine Meinung frei äußern kann«.7 Solche Ansichten in der Spitze der Militärregierung standen einer Stimulierung von Diskussionen entgegen, insofern diese als symmetrische und ergebnisoffene Gesprächsform gedacht werden. Treffend erklärte der im Dritten Reich mit Publikationsverbot belegte deutsche Philosoph Karl Jaspers im Vorwort zu seiner aus mehreren Vorlesungen hervorgegangenen Studie über »Die Schuldfrage« von 1946: »Daß wir heute eine Militärregierung haben, heißt, ohne daß es ausdrücklich gesagt zu werden braucht, daß wir kein Recht haben, die Militärregierung zu kritisieren.«8 Allerdings verschickte Clay im Februar 1947 ein Memorandum innerhalb der Militärbehörde, das für die »expansion of discussions« in den kontrollierten Radiosendern plädierte, und zwar mit dem Ziel: »to promote democratic attitudes and thinking«.9 Zur gleichen Zeit kursierte in der 4 5 6 7 8 9

Declaration Regarding the Defeat of Germany. Vgl. Albertin; Benz, Parteigründungen. SWNCC 269/5, 5.6.1946, in: Bungenstab, S. 181 f., hier S. 181. Zit. n. Lange-Quassowski, S. 136. Jaspers, S. 13. Lucius D. Clay [Memo]: Teaching Discussion Methods by Radio to Promote Democratic Attitudes, Februar 1947, Akte 24, Box 122, 390/46/14-15/6-1, RG 260, NARA II.

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Community Education Division ein Leitfaden mit dem Untertitel »An Outline of Discussion Techniques for Orientation«, in dem es hieß: Of all the methods that have been employed in the Orientation Program, experience has shown that over a long period of time the most effective method of achieving the purpose of Orientation is discussion. […] 1. Since early New England town meetings, discussion (exchange of opinion) has been an American tradition. (Crakerbarrel, not stove ideas.) / 2. It is not only a democratic method but it actually gives practice in Democracy.10

In beiden Fällen erschien »die« Diskussion nicht als ein den Deutschen nach erfolgreicher Demokratisierung zu gewährendes Grundrecht, sondern als ein Instrument, ja, als eine Methode der Demokratisierung selbst. Zudem wurde ein vor Ort gemachter Lernprozess angedeutet, in dessen Verlauf sich »discussion techniques« als besonders effektiv herausgestellt hätten. Was war damit gemeint? In offiziellen Direktiven sucht man vergeblich nach entsprechenden Hinweisen. Ohnehin konkurrierten und koexistierten in den Schubladen der verschiedenen Planungsstellen höchst disparate Konzepte zur Demokratisierung der Deutschen. Der amerikanische Präsident Franklin D. Roosevelt war allen gegenüber skeptisch, und die erste Besatzungsdirektive schwieg sich in diesem Punkt aus.11 Das erhöhte einerseits die Unsicherheit, andererseits aber auch den Spielraum für die schon bald nach Kriegsende aktiven Re-Edukatoren, die etwa in der Education and Religious Affairs Branch, der Information and Control Division sowie den lokalen Büros zu finden waren beziehungsweise während der Phase des Hochkommissars in der Public Affairs Division, für die Shepard Stone tätig war.12 Das Personal auf der mittleren und unteren Ebene, das den Kontakt zwischen OMGUS- und HICOG-Behörden sowie der deutschen Bevölkerung aufbaute, wurde zwar durch Schulungen und Handbücher auf den Aufenthalt in Deutschland vorbereitet und musste sämtliche Aktivitäten regelmäßig mit übergeordneten Stellen rückkoppeln.13 Dennoch setzte es gerade im 10 An., Discussion Techniques. An Outline of Discussion Techniques for Orientation, [1946/47], S. 1, Akte 5, Box 116, 390/46/14-15/6-1, RG 260, NARA II. Die Community Education Division gehörte zur Education and Religious Affairs Branch. 11 Zu den zögerlichen Anfängen siehe Bungenstab, S. 32–67; Schwartz, S. 20 f.; Tent, Mission, S. 14; Braun, S. 16–24; Bausch, Kulturpolitik, S. 160. Die punitiv geprägte Direktive JCS 1067 wurde in ihrer endgültigen Fassung von Präsident Truman am 11.5.1945 als JCS 1067/6 unterzeichnet und blieb bis zum 16.7.1947 in Kraft. 12 Zum Aufbau der Militärregierung insgesamt vgl. Weisz. Die Education and Religious Affairs Branch wurde 1948 zur Education and Cultural Affairs Division ausgebaut. Sie gliederte sich intern in Education Branch, Community Education Branch, Religious Affairs Branch sowie Cultural Affairs Branch. Vgl. Tent, Education. Die Information and Control Division gliederte sich intern in Opinion Surveys Branch, Press Branch, Publication Control Branch, Motion Picture Branch, Radio Branch sowie Information Centers and Exhibit Branch. Siehe einführend zur Struktur die Lokalstudie von Bausch, Kulturpolitik. Für die HICOG-Phase vgl. Rupieper, Wurzeln. 13 Vgl. Bausch, Kulturpolitik, S. 153–160; Boehling, S. 30–40; Braun, S. 16–24.

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Bereich der Reeducation keine lückenlos ausformulierten Programme um, sondern passte die Aktivitäten den lokalen Bedingungen an oder entwarf sie teilweise sogar eigenständig. Das wurde durch das mangelnde Interesse an der Spitze der Militärregierung ebenso erleichtert wie durch die geografische Distanz zwischen den regionalen Abteilungen der Militärregierung und übergeordneten Stellen.14 Vor diesem Hintergrund ist in der Forschung zu Recht für einen stärker akteurszentrierten Ansatz geworben worden, der nicht die zentralen Direktiven, sondern die Praktiken vor Ort zum Ausgangspunkt nimmt.15 Die amerikanischen Akteure vor Ort standen vor dem Problem, dass viele Deutsche auf Versuche zur »Umerziehung« mit Unverständnis, Skepsis oder offenem Ressentiment reagierten. Das galt selbst für Angehörige des Widerstandes, der großen politischen Parteien und der Gewerkschaften, welche den Wiederaufbau politischen Lebens als demokratische Chance betrachteten, sowie für die westdeutschen Funktionseliten, die einen Aufbau demokratischer Strukturen ohne die Defizite der Weimarer Republik rückhaltlos unterstützten.16 Bei einer Befragung vom April 1947 hielt mehr als ein Drittel der Befragten die Umerziehungsambitionen für eine Erniedrigung.17 Ärger erregte bereits der pathologisierende und entmündigende Effekt des Begriffs Reeducation: Es handelte sich einerseits um einen Terminus der amerikanischen Erwachsenenpädagogik, mit dem das Wiedererlernen verschütteter Wissensbestände bezeichnet wurde. Reeducation war aber auch ein Wort aus der Psychiatrie, wo es auf den Umgang mit neurotischen Patienten verwies. Noch während des Zweiten Weltkriegs übertrugen amerikanische Psychiater dieses Verständnis von der individuellen auf die kollektive Ebene und rätselten: »Is Germany incurable?«18 Der im Deutschen gebräuchliche Terminus »Umerziehung« legte den Verdacht nahe, die Deutschen sollten durch äußere Eingriffe bis ins Innerste umgepolt werden, es stünde eine regelrechte »Charakterwäsche« an, welche sich von der gerade erst überstandenen Indoktrination im Dritten Reich nur inhaltlich unterscheide, indem die nationalsozialistische durch eine amerikanische Ideologie ersetzt würde.19 Reeducation schien zudem auf einen möglichst vollständigen, unilinearen Transfer des amerikanischen Demokratie- und Bildungsmodells nach Deutschland zu zielen, was als Bedrohung deutscher Traditionen und kultureller Errungenschaften interpretiert wurde. Insbesondere 14 Vgl. Boehling, S. ix; Braun, S. 24. 15 Vgl. Lammersdorf; Krauss; Boehling. 16 Vgl. Rupieper, Wurzeln, S. 421 f. Andererseits räumt der Autor ebd., S. 428, ein, dass Reaktionen der deutschen Bevölkerung auf die Besatzungspolitik nur ungenügend erforscht seien. 17 Ebd., S. 27. 18 Brickner. Erläuternd: Gerhardt, Re-education. 19 Schrenck-Notzing. Dem Terminus »Umerziehung« war eine pejorative Konnotation von Anfang an inhärent. Er wurde durch das Propagandaministerium des Dritten Reichs geprägt, um amerikanische Überlegungen zur Nachkriegspolitik zu diffamieren. Vgl. Gerhardt, Soziologie, S. 311. Die deutschen Aversionen beschrieb zeitgenössisch Oetinger [Wilhelm], Wendepunkt, S. 18 f.

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die bildungspolitischen Überlegungen zur Abschaffung des Humanistischen Gymnasiums erregten Empörung und scheiterten am Widerstand auf deutscher Seite.20 Schon die Übersetzung von Reeducation als »Umerziehung« war allerdings irreführend. »Education« verwies im Amerikanischen nicht nur auf das deutsche Wort Erziehung, sondern ebenso auf Bildung, und zwar im schulischen wie außerschulischen Bereich. Zudem war die amerikanische Vorstellung von »education« nicht auf das passive und einmalige Memorieren fest umrissener und von Lehrern vorgegebener Wissensinhalte reduziert. Vielmehr schloss der Terminus immer auch einen aktiven Beitrag der Lernenden ein. Entsprechend setzte die Notwendigkeit von Erziehung und Bildung im amerikanischen Verständnis keinen Status der Unwissenheit voraus, der durch einen einmaligen Akt des Wissenserwerbs überwunden werden konnte. Auch gingen einige amerikanische Akteure keineswegs davon aus, genuin amerikanische Demokratiemodelle als Kulturexport übertragen zu wollen, sondern plädierten dafür, an deutsche demokratische Traditionen anzuknüpfen.21 Selbst innerhalb jener Minderheit in der amerikanischen Besatzungsmacht, die von Anfang an uneingeschränkt für eine positive Reeducation-Politik warb, anstatt punitive Maßnahmen zu befürworten, stritt man freilich um hierfür geeignete Verfahren. Die einen wollten die Maßnahmen auf das Erziehungswesen und die Informationsmedien beschränken. Die anderen plädierten für eine Beeinflussung des kulturellen und geistigen Lebens insgesamt. Und während die einen die Jugend als alleinige Zielgruppe vor Augen hatten, plädierten die anderen für eine gezielte Demokratisierung der gesamten Bevölkerung.22 Der alliierte Anspruch einer systematischen Demokratisierung der Deutschen wurde zudem vor dem Hintergrund des massiven Widerstandes von deutscher Seite langsam umformuliert. Auch deshalb fand vor allem seit 1946 das Wort Reorientation verstärkt Verwendung, unter dem amerikanischen Hochkommissar John McCloy ersetzte es als offizielle Bezeichnung den Terminus Reeducation. Explizite Umerziehungsversuche wurden immer mehr durch indirekte Einflussnahme und eine die Hilfe zur Selbsthilfe fördernde Politik ersetzt.23 Nicht zuletzt Militärgouverneur Lucius D. Clay gehörte zu den Skeptikern einer planmäßig vorangetriebenen, habituellen Demokratisierung der Deutschen und setzte stattdessen auf die Verbesserung der ökonomischen Situation – man könne eine Demokratie nicht mit leeren Mägen aufbauen.24 Wie bereits erwähnt, sollten die fehlenden Direktiven von oben indes nicht nur als 20 Vor allem Tent, Mission, hat den deutschen Widerstand gegen die Abkehr vom Humanistischen Gymnasium herausgestellt, der sich am massivsten in Bayern artikulierte. Aber auch in die USA emigrierte deutsche Wissenschaftler wie Hans Rothfels, Otto von Simson und Arnold Bergstraesser sprachen sich energisch dagegen aus, die Struktur des höheren Schulsystems anzutasten. Vgl. konzis Doering-Manteuffel, Dimensionen, S. 14 f. 21 Vgl. Rupieper, Peacemaking, S. 47; Boehling, S. 15–40. 22 Vgl. Bungenstab, S. 30. 23 Vgl. Kellermann, Von der Re-education. 24 Vgl. Clay, S. 315–340.

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Defizit, sondern auch als Spielraum von unten erkannt werden. Denn für die Besatzungsoffiziere resultierten hieraus zwar größere Unsicherheiten, aber auch Gestaltungsmöglichkeiten. Einige der an transatlantischen Schreibtischen erdachten Demokratisierungsprojekte erwiesen sich in der Praxis als wenig tauglich und wurden daher aufgegeben, andere konnten modifiziert werden. Wieder andere entstanden offenbar erst aus den Erfahrungen vor Ort, die zwischen den »Ländern« der amerikanischen Besatzungszone variierten. Vor diesem Hintergrund wurden die entsprechenden Programme im Verlauf der Besatzungszeit keineswegs zurückgeschraubt, sondern vielmehr verändert und schließlich sogar ausgebaut.25 Unter dem Hohen Kommissar John J. McCloy genoss die Reorientation hohe Priorität, was sich auch in finanziellen Zuwendungen manifestierte.26 Der Haushaltsplan für das gesamte Bildungswesen hatte sich bei Clay auf 1 025 433 Dollar belaufen, unter McCloy wurde er auf 48 000 000 Dollar erhöht und umfasste beinahe die Hälfte des Gesamtetats von HICOG.27 Vordergründig ließe sich vermuten, dass argumentativer Meinungsaustausch erst in dieser späteren Phase der Demokratisierungspolitik eine Rolle spielte. Tatsächlich aber kennzeichnete die Arbeit mit Diskussionen die amerikanische Demokratisierungspolitik von Anfang an, wie nun verdeutlicht werden soll. Zuerst zeigte sich dies in den Prisoner of War Schools (POW Schools), in denen 1944 und 1945 eine als nicht nationalsozialistisch eingestufte und für besonders talentiert befundene Auswahl von deutschen Kriegsgefangenen in »democratic leadership« unterrichtet wurde, um nach der Entlassung den demokratischen Wiederaufbau Deutschlands zu stützen.28 Über 24 000 Gefangene machten an einer von vier Schulen ihren Abschluss, wobei sogenannte »group discussions«, »discussion groups« und »forums« einen integralen Aspekt des Lehrprogramms bildeten.29 Sie wurden erstens als effektive Alternative oder Ergänzung zum Vortrag begriffen, um verschiedene Unterrichtsstoffe – von den demokratischen Momenten deutscher Geschichte bis hin zum politischen System der USA – schnell und nachhaltig zu vermitteln. Zweitens zielte die Ausbildung auf die Ermutigung zur Diskussion. Der 1934 aus Deutschland emigrierte jüdische Politikwissen25 Nach Kellermann, Von der Re-education, S. 88, zeigte sich hier der pragmatische Charakter der Demokratisierungspolitik, die auf die Ausarbeitung eines »ideologischen und bis in alle Einzelheiten festgelegten Planes« verzichtete und damit die wiederholte Anpassung der Programme an den raschen Wechsel der politischen Ereignisse ermöglichte. 26 Nach ebd., S. 96, sollte unter HICOG »die Re-orientation zu einer Zentralfunktion des Amtes des Hochkommissars erhoben werden – auf gleicher Ebene mit den politischen und wirtschaftlichen Ämtern –, und das Programm, das Budget und der Beamtenapparat sollten entsprechend vergrößert werden«. Es ist das Verdienst von Rupieper, Wurzeln, erstmals ausführlich die Planung und Umsetzung von Demokratisierungsprogrammen unter HICOG analysiert zu haben. Zu McCloys Deutschlandpolitik siehe Schwartz. 27 Zahlen nach Kellermann, Von der Re-education, S. 97; Rupieper, Peacemaking, S. 50. 28 Vgl. zu den POW Schools die grundlegenden Studien von Smith; Krammer; Robin, aber auch Steinbach sowie mit Forschungsüberblicken Hilger; Reiss und jetzt Morina. 29 Vgl. vor allem den Erfahrungsbericht von Ehrmann, S. 309, 313, 317 f., hierzu Morina. Weitere Hinweise bei Smith, S. 101–129; Robin, S. 127–179.

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schaftler Henry W. Ehrmann, der in den POW Schools unter anderem als Geschichtslehrer fungierte,30 erläuterte die Unterrichtsziele mit folgenden Worten: 1. To impart to the students an understanding of their immediate past – Nazism and War – by giving them a new set of historical references. 2. To teach the students to think independently by discussing with them a subject presumably familiar to them since childhood, but on which the majority held clouded views due to historical legends traditional in Germany. 3. To encourage real give-and-take discussions among the students on issues which involve past experiences or frustrations as well as present fears and hopes.31

Auch außerhalb des eigentlichen Unterrichts wurden die Gefangenen zu kontroversem Meinungsaustausch animiert. Beispielsweise präsentierte man ihnen »Here is Germany«, einen Film, der ursprünglich zur Information amerikanischer GIs über die deutsche Geschichte produziert worden war und einen scharfen Kontrast zwischen einem »beautiful, industrious, clean and musical Germany« einerseits und dem Deutschland der Konzentrationslager andererseits zeichnete.32 Im Anschluss an die Vorführung, so Ehrmann, sei das Publikum gebeten worden, »to give their opinions on whether the film was to be considered fair or unfair to the German people«. Hieraus resultierten angeblich »heated discussions«, »lasting usually several hours«.33 Allerdings war den Gefangenen nicht nur gestattet, ihre Meinung zu äußern, sondern sie wurden dazu angehalten. Viele könnten nicht nur antizipiert haben, dass man von ihnen eine Meinung erwartete, sondern auch, welche dies war. Es überrascht also kaum, dass die Mehrheit der Gefangenen im Anschluss an die Präsentation von »Here is Germany« Verantwortung für den Aufstieg des Nationalsozialismus einräumte, obwohl sich unter ihnen frühe Gegner des nationalsozialistischen Regimes befanden, die teilweise selbst in Konzentrationslagern gewesen waren.34 Sie äußerten sich damit ganz in amerikanischem Sinne. Das Risiko der Siegermacht, amerikakritische Statements zu provozieren, war durch die »totale Institution« (Erving Goffman) eines Gefangenenlagers drastisch reduziert.35 Ein gewisser Widerspruch wurde jedoch durchaus erwartet. Das zeigt eine von Journalisten gemachte Filmaufnahme einer Klassendiskussion im Kriegsgefangenenlager Fort Getty, bei der sich deutsche Gefangene über die politische Situation der Vereinigten Staaten äußern sollten.36 Wie hier zu sehen und zu hören ist, kritisierte ein junger Deutscher den Umgang mit Schwarzen in den 30 31 32 33 34 35

Zu Ehrmanns Biografie siehe Morina, S. 85 f. Zit. n. ebd., S. 88 f. Ehrmann, S. 310. Ebd. Ebd. Vgl. Goffman, Asyle. Zu Herrschafts- und Kontrollstrukturen von amerikanischen Kriegsgefangenenlagern siehe Robin, S. 30–42. 36 Vgl. 111-ADC-9941, Moving Pictures Unedited, [POW School Fort Getty, 12/14/1945], Radio Recordings und Motion Pictures, NARA II.

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USA. Diese Aussage wurde vom Lehrer nicht inhaltlich korrigiert, sondern per Nachfrage pointiert: »You recognize this as our minority problem?« Darauf die knappe Antwort des Deutschen: »Yes, I do.«37 Die aufgezeichnete Klassendiskussion bildete schon insofern einen Ausnahmefall, als die Anwesenheit von Kamera und Mikrofon das Setting veränderte. Aber selbst wenn die Aufnahme für die Journalisten gestellt wurde, zeigt gerade dies, dass amerikakritische Wortmeldungen im Unterricht idealiter nicht vollständig unterdrückt wurden. Im Gegenteil: Die Möglichkeit zur Kritik an den USA wurde gezielt auf Zelluloid gebannt. Hintergrund könnte gewesen sein, dass kontroverser Meinungsaustausch von den Pädagogen nicht einfach als rationales Medium interpretiert wurde, in dessen Verlauf die Gefangenen von den als richtig erachteten Positionen überzeugt werden sollten. Sie galten auch als ein intrinsisch für bedeutsam erachteter Selbstzweck der Programme. Die Inhalte von Demokratie, so Ehrmann, würden im Unterricht zwar auch theoretisch vermittelt, aber: […] the only effective way of developing democratic responsibility and spontaneity is to live and work in situations where democratic practices can be applied. In the artificial atmosphere of PW camps such situations had to be created, and this was done by submitting to the prisoners problems that were of immediate concern to them as a group. Since they were on the eve of their repatriation, questions of reconstruction, discussed as concretely as possible, were particularly likely to arouse student participation in the debate, and to provoke the loosening-up process which would prepare the men for showing initiative once they were turned back to the status of citizens.38

Jenseits ostentativer Schweigsamkeit oder offener Aggressivität standen den Gefangenen in solchen Diskussionsveranstaltungen kaum Verhaltensmuster zur Verfügung, die nicht als Ausdruck gelungener Demokratisierungsarbeit interpretiert werden konnten: Stimmten sie ihren Lehrern inhaltlich zu, lag auf sachlicher Ebene ein positives Bekenntnis zur amerikanischen Demokratie oder zu verschütteten demokratischen Traditionen der deutschen Geschichte vor. Nahmen sie kritisch Stellung, bewegten sie sich handlungslogisch auf Demokratie als Lebensform zu. Beteiligten sie sich dagegen gar nicht an den Gesprächen, dann schien das die Dringlichkeit gerade dieser Unterrichtsform zu bestätigen. So berichtete Ehrmann, er habe »small discussion groups« eingerichtet, um »the students’ fairly general lack of spontaneity and initiative« zu begegnen.39 Insbesondere die sozial heterogene Zusammensetzung der Diskussionsgruppen hemme nämlich den Redefluss, aber dieses Problem habe sich minimieren lassen. Denn wenn die Gefangenen »finally realized that actually a high-ranking officer was engaged for weeks in exactly the same effort as the corporal – that of debating with his enemies of yesterday – their awe gradually overcame their reluctance to speak their minds and to engage in the give-and-take of discus37 Ebd., Min. 3. 38 Ehrmann, S. 313 f. 39 Ebd., S. 311.

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sion, for which there had never been much room in the German system of education, at any time or at any level«.40 Das damit anklingende Stereotyp einer im Bildungssystem verankerten, habitualisierten Redeunwilligkeit der Deutschen lässt sich empirisch nicht prüfen. Zumindest ist vor Vereinfachungen zu warnen. Schon in der Weimarer Republik wurde etwa mit »Arbeitsgemeinschaften« in der Erwachsenenbildung und der Volksbildung als symmetrischer Kommunikationsform experimentiert, und das »Lehrgespräch« im schulischen Unterricht geht als pädagogische Methode auf das 19. Jahrhundert zurück.41 Zwar war es nicht Ziel der in diesen Kontexten geführten Gespräche, die Lust am Meinungsaustausch per se zu fördern. Aber selbst das Dritte Reich, das die Möglichkeit zu freiem Meinungsaustausch in der öffentlichen wie in der privaten Sphäre massiv einschränkte und den Befehl als Handlungsmodus auch jenseits militärischer Räume einüben ließ, war kein System, in dem entweder geschwiegen oder geschrien wurde.42 Wenn ein junger westdeutscher Politiker nach dem Krieg formulierte, diejenigen, die »noch aus der Hitlerjugend kamen, wie ich selber zum Beispiel, kannten ja eben auch nur Befehl und Gehorsam«, dann war das bereits die Stilisierung einer Zeit, die man für vergangen hielt und zu überwinden suchte.43 Die in den POW Schools von Ehrmann beklagte Redeunwilligkeit könnte zudem teilweise dem situativen Kontext eines Kriegsgefangenenlagers entsprungen sein und der Überraschung der dort einsitzenden Schüler, ihre Meinung über politische Themen »frei« äußern zu sollen. Denn zumindest in deutschen Kriegsgefangenenlagern hatte es Diskussionsrunden wohl nie gegeben.44 Neben Redeunwilligkeit und Statusdenken sah Ehrmann ein weiteres Problem in der mangelnden Kompromissbereitschaft seiner Schüler. Demokratie als Lebensform bedeute, »that conflicts can be constructive, and that the constructive solution of conflict will almost always be compromise«. Diese Perspektive schien seinen Schülern neu zu sein: »Such lessons were not easily learned by Germans who dread conflict in the belief that its outcome can be only total victory by one side over the other, and who despise compromise as necessar40 Vgl. ebd., S. 312. 41 Vgl. Ciupke, Art. »Arbeitsgemeinschaft«. Breiter zur Erwachsenenbildung der Weimarer Republik Ciupke u. Jelich, Soziale Bewegung. Einführend zur Weimarer Reformpädagogik siehe Lamberti; Oelkers; Hansen-Schaberg sowie für das Gymnasium Gass-Bolm, S. 69 f. Speziell zur Rezeption Deweys im Deutschland der Zwischenkriegszeit vgl. Bellmann, S. 71 f. Zum Lehrgespräch siehe Kilian, Lehrgespräch. 42 Vgl. zu Kommunikation im Nationalsozialismus die knappen, aber konzisen Hinweise bei Föllmer, Einleitung, S. 35–58, sowie demnächst die Dissertationsschrift von Patrick Merziger, Freie Universität Berlin. Symptomatisch zur Aufwertung des »Befehls« ist der sprachwissenschaftliche Aufsatz von Kühn von 1943. 43 Erinnerungsbericht Werner Figgen, Hamm, 19.5.1984, zit. n. Holtmann, S. 303. 44 Erfahrungsgeschichtlich zu Krieg, Kameradschaft und Kriegsgefangenschaft im Zweiten Weltkrieg siehe Kühne, Kameradschaft; Biess, Homecomings. In den USA wurden Diskussionsgruppen auch dem regulären Militär vorgeschlagen. Vgl. Armed Forces Discussion Leaders’ Guide; Army Forty Hour Discussion Leaders’ Course.

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ily involving principles.«45 Die Deutschen, so Ehrmanns Eindruck, missverstanden die Gespräche im Unterricht als kompetitiven Schlagabtausch, bei dem es gelte, vor Kritik zu bestehen, ohne das Gesicht zu verlieren, oder besser noch: die eigene Meinung kompromisslos durchzusetzen. So offenbare sich in Gruppengesprächen ein »lack of self-restraint« und eine »disinclination even to attempt to grasp the significance of an opponent’s opinion«.46 Auch die Autoren der Kriegsgefangenenzeitschrift »Der Ruf« machten das Stereotyp des kompromisslosen Deutschen zum Thema, der seine eigene Meinung mit lauter Stimme durchzusetzen versucht, anstatt von seinem Gegenüber zu lernen. Eine Ausgabe des in der POW School Fort Kearny produzierten Blattes zeigte einen Cartoon zu genau diesem Thema. Auf mehreren kleinen Bildchen waren zwei gestikulierende und aufeinander einredende Männer zu sehen, die im letzten Bild mit zufriedenen Gesichtern auseinander gehen – beide siegesgewiss, aber ohne ihre konträren Positionen verändert zu haben.47 Das letzte Problem, das Ehrmann in Diskussionsrunden beobachtete, waren die mangelnden Verfahrenskenntnisse seiner Schüler. Die Gefangenen zeigten ihm zufolge »a general inability to conduct an orderly debate. This trait was caused

Abb. 1: Cartoon aus »Der Ruf. Zeitung der deutschen Kriegsgefangenen in den USA«, April 1945. 45 Ehrmann, S. 318. 46 Beide Zitate ebd., S. 314. 47 Der Ruf, 1.4.1945, S. 8.

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primarily by a complete ignorance of the most elementary rules of parliamentary procedure – and those prisoners who had lived through the fourteen years of the republic were usually no better in this respect than ›Hitler’s children‹«.48 Ehrmanns Schützlingen dürften parlamentarische Regeln zwar sehr wohl ein Begriff gewesen sein. Vermutlich kannten sie aber nicht jenes Reglement für Diskutanten und Moderatoren, das Ehrmann implizit vor Augen hatte und das – wie im nächsten Abschnitt gezeigt wird – in den USA durch metakommunikative Ratgeberliteratur wissenschaftlich aufgewertet worden war. Insgesamt verweisen seine Beobachtungen nicht ungefiltert auf »typisch« deutsche kommunikative Routinen, sondern auf einen Kontext, in dem das Stereotyp des maulfaulen, kompromisslosen, aggressiven Deutschen maßgeblich geschaffen wurde. Bemerkenswert ist gleichwohl Ehrmanns Beobachtung, das diskursive Training in den POW Schools sei zumindest bei einem Teil der Gefangenen erfolgreich gewesen. Einige Studierende »gradually discovered the methods and techniques of tolerance, and learned how to compose divergent opinions without undue agitation. And when this happened the newly-founded talents became a further source of encouragement to them.«49 Bestätigen lässt sich zumindest, dass das Angebot zum Gespräch zur Kenntnis genommen wurde, und zwar, sofern überliefert, positiv. Herbert Tulatz etwa, der als Gefangener in Fort Eustis als Diskussionsleiter eingesetzt worden war, sah rückblickend den eigentlichen Wert der Kurse darin, die Gefangenen von der Bedeutung von Kritikfähigkeit überzeugt zu haben.50 Ein ehemaliger Getty-Veteran erinnerte sich sogar: »Unsere anregenden und geistreichen Lehrer […] munterten uns stets zu freiester Meinungsäußerung auf.«51 Und die Schriftsteller Alfred Andersch (1914–1980) und Hans Werner Richter (1908–1993), die sich während ihrer mehrjährigen Haft auf amerikanischem Boden kennengelernt hatten, standen mit ihrem ehemaligen Lehrer Ehrmann noch viele Jahre schriftlich in Kontakt. Sie gründeten nach ihrer Rückkehr ins besetzte Deutschland die legendäre »Gruppe 47« – ein Zirkel von Schriftstellern, der sich halbjährig traf und diskutierte.52 Auch weniger prominente Absolventen der POW Schools machten sich im besetzten Deutschland durch den umgehenden Aufbau von Diskussionsgruppen verdient, was die Militärregierung als Hinweis auf den »constructive influence of political re-education given in the American camps« las.53 48 49 50 51 52

Ehrmann, S. 314. Ebd. Vgl. Smith, S. 127, Anm. 70. Zit. n. ebd., S. 119, Anm. 49. Vgl. auch die Zitate bei Morina, S. 80, 89. Beide werden aufgeführt in der Liste der Briefwechsel von Ehrmann mit POWs. Vgl. Henry W. Ehrmann Papers, Series 2: Correspondence, 1941–1988, Sub-series 2: Correspondence with the Former Prisoners-of-War Pertaining to their Reeducation Program, 1945–1950, 1978, http://library.albany.edu/speccoll/findaids/ger013.htm#series2s2 (10.8.2007). Zur »Gruppe 47« vgl. Richter, Hans Werner Richter. 53 Adult Education Report for November and December 1946, Akte 16, Box 131, 390/46/15/ 1-2, RG 260, NARA II.

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Ursächlich für die diskursive Arbeit in den POW Schools waren keineswegs entsprechende Direktiven, denn die Pädagogen entwickelten den Kursplan weitgehend selbst, und sie schrieben ihrer Arbeit daher einen experimentellen Charakter zu.54 Zugleich dürften ihnen alle drei Veranstaltungsformate – eigenständige Diskussionsgruppen, Diskussionen im Unterricht und Diskussionen im Anschluss an Filmvorführungen – von amerikanischen Colleges, vielleicht auch aus der amerikanischen Erwachsenenbildung, als innovative Unterrichtsformen bekannt gewesen sein. Die Forschung hat diesen Transfer von schulischuniversitären Lehrformaten in die künstliche Atmosphäre eines Kriegsgefangenenlagers bislang eher belächelt. Der amerikanische Militärhistoriker Ron Robin verweist auf die Naivität der »mobilized humanists«, die das ihnen bekannte Lernumfeld von Colleges und Universitäten in den Kriegsgefangenenlagern schlicht nachzubauen versuchten. Vor allem hinter der Arbeit mit Diskussionen sieht er zudem einen für Geisteswissenschaftler typischen, naiven Glauben an die Kraft rationaler Überzeugung.55 Dabei entgeht Robin die nun zu erläuternde philosophisch-sozialwissenschaftliche Fundierung verschiedener Diskussionsformate in der amerikanischen Gesellschaft in der Zeit des New Deal: Sie sollten im Bildungssystem wie in der Gemeindearbeit eben nicht nur als kognitive Unterrichtsmethode fungieren, sondern zugleich als performativer Stabilisator und Produzent demokratischer Handlungsdispositionen. Dahinter stand nicht die psychologische Schule des Behaviorismus oder die Soziologie Talcott Parsons, die als Einflüsse der amerikanischen Demokratisierungspolitik zuletzt viel Beachtung gefunden haben,56 sondern vor allem die Educational Philosophy John Deweys.

2.2 »Democracy through Discussion«. Die kommunikative Fundierung des American Way of Life Formalisierte öffentliche Diskussionsveranstaltungen, in denen sich Bürgerinnen und Bürger über politische Fragen austauschten, sind seit den »town meetings« im New England der Kolonialzeit untrennbar mit dem amerikanischen Demokratieverständnis verknüpft.57 In der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts erreichte diese Tradition aber eine neue Dimension. Vor dem Hintergrund von Depression und Massenarbeitslosigkeit regte der amerikanische Präsident Roosevelt ab 1933 im Rahmen des New Deal nicht nur eine Reihe ökonomischer Reformen und sozialpolitischer Maßnahmen an.58 Er unterstützte auch Pro54 55 56 57 58

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Symptomatisch hierfür ebenfalls Ehrmann. Vgl. Robin, S. 4f. u. 129, Zitat S. 4. Vgl. Gerhardt, Talcott Parsons. Vgl. zeitgenössisch Auer u. Ewbank, Diskussion, S. 24–45 Einführend zum New Deal vgl. Eden; Brinkley; Kennedy und die Anthologie von Zinn, New Deal Thought. Anregend zur Frage einer »entfernten Verwandtschaft« von Faschismus, Nationalsozialismus und New Deal Schivelbusch.

gramme zur Veranstaltung von Podiums- und Gruppendiskussionen in der Gemeindearbeit und legte Rahmenlinien für die verstärkte Implementierung solcher Gesprächsformate in Schulen und Hochschulen fest. Die verschiedenen Diskussionsformate sollten offenbar die Kohäsion der Bürgerinnen und Bürger stärken, also den Zentrifugalkräften der amerikanischen Gesellschaft entgegenwirken.59 Zu einem weiteren Schub des politischen Interesses an den genannten Diskussionsformaten kam es unter anderen Vorzeichen im Verlauf des Zweiten Weltkriegs. Nun sollten sie zusätzlich die Loyalität der amerikanischen Bevölkerung sichern. »Especially since America’s entry into the Second World War«, so der Erziehungswissenschaftler Albert Craig Baird 1943, »has discussion assumed a practical role.« Die Regierung Roosevelt, wurde weiterhin erläutert, »endorsed the discussion techniques as a mean to stimulate public thinking, to increase public information about war activities, and to secure full civilian participation in the total war program«.60 Vor diesem Hintergrund unterstützte Roosevelt nicht nur weiterhin die programmatische Implementierung der gängigen Diskussionsformate in Schulen, Hochschulen und in der Erwachsenenbildung,61 sondern die Regierung brachte auch eine Reihe von Pamphleten zur Organisation und Leitung von Diskussionen heraus.62 Das wurde von progressiven Erziehungswissenschaftlern unterstützt. »Educational trends in American schools and colleges and in adult education during the past two decades«, so Baird, »have indicated a well-defined interest in the study and practice of discussion. Both as a learning and as a policy-determining technique, the art of cooperative thinking and speaking has had the attention of leaders in education.«63 Als »generating spirit of the whole movement« galt der Erziehungswissenschaftler und Philosoph John Dewey (1859–1952).64 Zusammen mit William James und Charles Sanders Peirce gehörte er zu den prominentesten Vertretern der philosophischen Strömung des amerikanischen Pragmatismus.65 Mit seinen 59 Vgl. zeitgenössisch den Hinweis bei Studebaker u. Williams, Education. Die Forschung hat diese kommunikative Dimension des New Deal meines Wissens nach bislang weder thematisiert noch untersucht. 60 Baird, S. v. Vgl. auch Bowman, Organization, S. 8. 61 Vgl. Bogardus, S. iiif. 62 Vgl. etwa United States Department of Agriculture, What is the Discussion Leader’s Job. Diese Veröffentlichung wurde vom Department of Agriculture gedruckt, weil es speziell um die Veranstaltung von organisierten Diskussionen in ländlichen Gebieten ging. In der gleichen Reihe erschienen: Group Discussion and its Techniques; Organization of Groups for Discussion and Action; Suggestion for Group Members; Suggestion for Group Discussion Leaders; Suggestion for Panel Discussions. 63 Baird, S. v. 64 Ebd. 65 Einführend zum »amerikanischen Pragmatismus«, der sich aus einer Vielzahl heterogener Strömungen zusammensetzte, siehe Menand, Pragmatism; ders., The Metaphysical Club. Dewey lehrte zunächst an der University of Chicago und von 1904 bis 1930 an der Columbia University in New York. Vgl. die Biografie von Westbrook. Zur gegenwärtigen Wiederentdeckung der Schriften Deweys und zur Kritik siehe Bellmann.

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Schriften über die Beziehung von Demokratie, Erziehung und Gemeinschaft prägte er nicht nur wissenschaftliche Diskurse, sondern erreichte auch politische Kreise sowie eine breite Öffentlichkeit. Wenngleich einige Ideen umstritten blieben – unter anderem, da er ein partizipatorisches Demokratiemodell vertrat und von naturalistischen Prämissen ausging –, entfalteten sie beträchtliche Wirkungskraft. Offensichtlich gelang es Dewey, einen unter amerikanischen Eliten latent bestehenden Konsens zu explizieren und wissenschaftlich weiter zu treiben. Zu den in seinen Texten schriftlich fixierten und wissenschaftlich erhöhten Prämissen der amerikanischen Umerziehungspolitik gehörte etwa der optimistische Glaube an die Lernfähigkeit ganzer Gesellschaften und einzelner Individuen – auch im Erwachsenenalter –, die enge Verbindung von Demokratie und Erziehung, die Betonung des Learning by Doing und die Deutung von Demokratie als Lebensform. Das alles ist in der Forschung zur Reeducation hinlänglich bekannt.66 Übersehen wird aber der Stellenwert, der zwischenmenschlicher Kommunikation in Deweys Demokratiekonzeption zukam, was sich auch in seinem erziehungswissenschaftlichen Hauptwerk »Democracy and Education« von 1916 zeigt.67 Dewey fasste Demokratie nicht nur als politisches System, sondern auch als eine spezifische Form alltäglicher Interaktion, die er maßgeblich als münd liche Face-to-Face-Kommunikation dachte. In der Familie ebenso wie am Arbeitsplatz oder in der Schule sollten Menschen als freie und gleiche Individuen ihre Erfahrungen austauschen: »A democracy is more than a form of government; it is primarily a mode of associated living, of conjoint communicated experience.«68 Dabei sollte »Erfahrung« nicht in der traditionellen Perspektive als subjektive Wahrnehmung der Welt fungieren, die der objektiven Wirklichkeit gegenübersteht. Deweys Anliegen lag vielmehr gerade darin, anhand dieser Kategorie die Polarisierung zwischen subjektiven Eindrücken und objektiven Erkenntnissen zu überwinden, wobei er auch auf naturwissenschaftliche Ansätze rekurrierte. Geistes-, Sozial- und Naturwissenschaften standen in seiner Perspektive nicht in Spannung, sondern waren interdependent. Gruppenprozesse ließen sich in Laborsituationen künstlich produzieren und dann empirisch beobachten, wobei der Pragmatist an quasi naturwissenschaftliche Gesetzmäßigkeiten im Sozialen glaubte.69

66 Einführend zum Œuvre siehe Suhr. Knapp, aber treffend zum Stellenwert Deweys für die Reeducation Tent, Mission, S. 5. Vgl. auch Lange-Quassowski, S. 67–81, sowie den frühen Text von Schlander, der sich allerdings stark auf Deweys Auseinandersetzung mit dem deutschen Idealismus konzentriert. Zuletzt siehe Bittner, vor allem S. 122–135. Eine eigenständige Studie zum Stellenwert Deweys für Konzeptionen der Reeducation in Deutschland steht noch aus. 67 Dewey, Democracy. 68 Ebd., S. 101. 69 Vgl. einführend zu Deweys Erfahrungsbegriff Bohnsack, vor allem S. 32–38. Zu naturalistischen und evolutionstheoretischen Perspektiven, siehe Bellmann, S. 103–125.

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Entscheidend für die vorliegende Thematik ist, dass Dewey Demokratie nicht einfach nur als ein Set bestimmter Verhaltensweisen dachte, die regelmäßig reaktiviert werden müssten, sondern vielmehr als Modus der Vergemeinschaftung selbst.70 Durch intensive Gespräche über Klassengrenzen hinweg müssten Individuen gemeinsame Deutungsmuster, Verhaltensmuster und Interessen überhaupt ausbilden. So erst würden sie zur Gemeinschaft. »Communication«, so Dewey, »is a process of sharing experience till it becomes a common possession.«71 Akademische Gelehrsamkeit war für die in diesem Rahmen beworbenen Gespräche, die alle Schichten erreichen sollten, keine Voraussetzung. Deweys Kommunikationsideal verwies nicht auf eine genuin intellektuelle Fertigkeit und ging über die Idee des Erkenntnisgewinns hinaus. Idealiter brachten die Sprecher neben akademischem oder politischem Wissen auch ihre Erfahrungen und Geschmäcker in ein Gespräch ein. Auf dieser Grundlage, so die Hoffnung, werde ein Gespräch für alle Beteiligten zu einem »enjoyment of new meanings, new values«.72 Letztendlich könnten die Konfliktparteien ihre tiefer liegenden gemeinsamen Interessen erkennen, darüber ihre verengten, ursprünglichen Perspektiven überwinden und zu neuen Erkenntnissen wie neuen gemeinsamen Zielen gelangen.73 Die gewünschten Gespräche waren also eine soziale Praxis, bei der sich die Akteure vergemeinschafteten, miteinander lernten, ähnliche Meinungen, ähnliche Verhaltensdispositionen entwickelten – und die ihnen Freude bereitete. »Enjoyment« war kein kontingentes Nebenprodukt der von Dewey angestrebten Kommunikation, sondern avancierte zu einem intrinsisch wertvollen Selbstzweck. Wie sollte Kommunikation konkret aussehen? Das Ideal war eine lebhafte und zugleich respektvolle Aussprache, deren Teilnehmer vor gegensätzlichen Positionen nicht zurückschreckten, sondern den Konflikt suchten. Letzteres sollte aber nicht geschehen, um einen vermeintlichen Gegner zu übertrumpfen. Stattdessen sollten die Sprechenden stets bereit sein, ihre Position zu verändern und aus der Kommunikation zu lernen. Aus einer Haltung der Offenheit heraus könnten sie so zu neuen – gemeinsamen und daher verbindenden – Einsichten gelangen. Wer mit der richtigen Haltung in ein Gespräch eintrete, durchlaufe wie von selbst einen solchen Lernprozess: »Try the experiment of communicating, with fullness and accuracy, some experience to another and you will find your own attitude toward the experience changing.«74 Der Austausch verschiedener Meinungen wurde als fortwährender Prozess des »trial-and-error« gedacht, dessen Teilnehmer und Teilnehmerinnen nicht nach einer einzigen

70 Vgl. einführend zu Deweys Werk in demokratietheoretischer Perspektive Caspary. Zu Demokratie als »communio« siehe auch knapp Bellmann, S. 132–135. 71 Dewey, Democracy, S. 11. Konzis zum Zusammenhang von Demokratie und Kommunikation siehe ebd., S. 4–7. Eine ausführliche Analyse bei Caspary, S. 8–44, 108–173. 72 Zit. n. ebd., S. 26. 73 Vgl. ebd., S. 26 f. 74 Dewey, Democracy, S. 5 f.

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endgültigen Wahrheit suchten, sondern pragmatisch nach jeweils brauchbaren Lösungsvorschlägen Ausschau hielten.75 Auch extreme Positionen jenseits eines demokratischen Grundkonsenses sollten hingenommen werden.76 So kritisierte Dewey zwar scharf den amerikanischen Rassismus, schloss hieraus aber keineswegs, rassistische Meinungen seien aus demokratischen Gesprächen auszuschließen. Im Gegenteil erhoffte er sich von echter Diskussion, solche Positionen schrittweise zu pulverisieren.77 Dafür mussten sie aber erst einmal von einem latenten in einen manifesten Status überführt werden, das heißt durch das Gespräch an die Oberfläche geführt werden. Der Pragmatist forderte entsprechend »open and public communication in which prejudices have the opportunity to erase each other«78 sowie »discussion in which there takes place purification and pooling of the net results of the experience of multitudes of people«.79 Solche Diskussionen könnten verschiedenen Gruppen der Gesellschaft ihre Besonderheiten belassen und gleichzeitig ein Band zwischen ihnen knüpfen, sodass eine gemeinsame politische Kultur entstünde.80 Stets sollten die Diskutanten Interessen und Anliegen der anderen respektvoll zur Kenntnis nehmen, ganz nach dem Motto: »treat those who disagree – even profoundly – with us as those from whom we may learn«.81 Zugleich wies der Pragmatist darauf hin, dass der Staat das Recht auf Meinungsäußerung nicht nur tolerieren, sondern aktiv stimulieren sollte: »Free inquiry and freedom of publication and discussion must be encouraged and not merely grudgingly tolerated.«82 Dieses Plädoyer verschmolz mit der Verwissenschaftlichung von Diskussionen in der amerikanischen Pädagogik und Didaktik. Seit den zwanziger Jahren erlebten in den USA wissenschaftliche Abhandlungen, praktische Leitfäden und journalistische Artikel einen Boom, die sich der »discussion« als Verfahren der schulischen und akademischen Bildung wie der Gemeindearbeit widmeten – und von denen ein Teil später in der amerikanischen Besatzungszone zirkulierte. Allein von Mitte der zwanziger bis Mitte der dreißiger Jahre verzehnfachte sich ihre Zahl.83 In der zweiten Hälfte der dreißiger und im Verlauf der vierziger Jahre nahmen die Veröffentlichungen sogar noch weiter zu, wobei zu den Autoren Erziehungs- und Sozialwissenschaftler, aber auch praktisch tätige Pädagogen oder Sozialarbeiter zählten. Sie produzierten teilweise schlanke, 75 76 77 78 79 80 81 82 83

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Vgl. Schlander, S. 50. Vgl. erneut Caspary, S. 8–44. Ebd., S. 16. Dewey, John Dewey Responds, S. 86. Ders., The Basic Values, S. 276. Vgl. Caspary, S. 17. Dewey, Creative Democracy, S. 243. Ders., Ethics, S. 345. Vgl. die Bibliografie und den entsprechenden »Chart showing number of discussion publications 1912 to 1936 (Books, pamphlets, and articles are included)«, in: Judson u. Judson. Siehe auch Studebaker, The American Way.

populärwissenschaftliche Heftchen, teilweise aber auch mehrere hundert Seiten umfassende Monografien.84 Einige dieser Texte stilisierten »die« Diskussion per se zu einem Instrument, einer Methode oder »technique«.85 Bei anderen verwies das Wort »discussion technique« als Plurale tantum auf die Vielzahl jener Regeln, die Diskussionsleiter erlernen sollten, um eine »gute« Diskussion zu stimulieren.86 In jedem Fall entwickelten sie ein dezidiert technisches Diskussionsverständnis, das den regelrechten Einsatz dieses kommunikativen Musters als Instrument der Reeducation entscheidend vorbereitete. Diese Literatur, die Deweys Texte teilweise höchst eigenwillig aufgriff, aber auch über sie hinausging, behandelte nie den schriftlich geführten Austausch von Argumenten über einen strittigen Gegenstand, sondern stets die raum- und zeitkonkrete, mündliche und damit stets leibliche Erfahrung des Redens mit mehreren Personen. Wenngleich informelle Gespräche durchaus in die Überlegungen einbezogen wurden, richteten sie das Interesse auf formalisierte und themenzentrierte Gespräche im öffentlichen und semi-öffentlichen Raum, die durch einen Moderator geführt wurden und bis ins Detail durchregelt waren. Gerade diese Regelhaftigkeit der Kommunikation in Gemeinschaft, ihre explizite Organisation, Leitung und Funktionsbestimmung transformierte den bloßen »talk« zur »discussion«.87 Die in der Ratgeberliteratur definierten Regeln für Diskussionen bezogen sich dabei nicht nur auf das Gespräch selbst – das geeignete Thema, die Organisation von Sprecherwechseln, das eventuelle Führen eines Protokolls –, sondern auch auf die soziale Zusammensetzung der Gruppe und die geeignete situative wie räumliche Einbettung. Empfohlen wurden beispielsweise eine sozial, geschlechtlich, rassisch heterogene Zusammensetzung der Gruppe, damit der für eine Diskussion notwendige Minimaldissens auch gegeben sei, sowie eine angenehme Raumgestaltung, damit sich alle Anwesenden wohlfühlten und entspannen könnten.88 Insgesamt verwiesen die Texte auf eine enorme Breite möglicher Diskussionsformate, deren jeweilige Regeln minutiös – wenngleich nicht einheitlich – erläutert wurden. Mit einem Hang zur Übersystematisierung wurden unter anderem »open forum«, »public forum«, »panel discussion«, »town meeting«, 84 Vgl. aus der Masse der Abhandlungen insbesondere die ausführlichen Darstellungen von Auer u. Ewbank, Discussion; dies., Handbook, sowie, die Literatur bereits zusammenfassend, Lasker. Außerdem Baird; Studebaker u. Williams, Education; dies., Forum Planning Handbook; Ely; Lindstrom; Adler; Utterback; Bogardus; Nichols. Zur Einführung noch immer hilfreich sind die begriffsgeschichtlichen Ausführungen von Hilgers, S. 144–166. 85 Vgl. etwa Auer u. Ewbank, Discussion, S. 15–23. 86 Vgl. etwa Bowman, How to Lead Discussions; ders., Organization. 87 Vgl. ders., Organization, S. 7. 88 Vgl. etwa ders., How to Lead Discussions; United States Department of Agriculture, What is the Discussion Leader’s Job, S. 6, über »Making People Feel at Ease«, sowie Baird, S. v-129, zu den »principles« von Diskussionen, die hier von Charakteristika und Zielsetzungen über die Themen und Gesprächsregeln bis hin zur Vorbereitung und der Rolle des Moderators reichen.

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»round table«, »group discussion« oder »symposium« unterschieden, wobei sich diese Kategorien teilweise überlappten, teilweise auch abweichend definiert wurden.89 Zwei Formate standen im Zentrum des Interesses, nämlich »group discussion« und »forum«, wobei Letzteres von der »panel discussion« nicht immer klar geschieden wurde und mitunter auch unter »community discussion« oder »town meeting« firmierte. Der Unterschied zwischen beiden lag vor allem in der Größe der Teilnehmerzahl. So erläuterte Le Roy E. Bowman, Mitarbeiter am Teachers College der Columbia University, aber auch Supervisor für Erwachsenenbildung im Erziehungsministerium des Staates New York, in einem Handbuch über »group discussion« und »forum«: When talk takes on cooperative and purposeful features, it becomes discussion. Among members of an organization or any one group it is called group discussion. When persons of all groups are present and every adult has been invited, it is a forum or a community discussion.90

Die sogenannte »group discussion« war ein organisiertes, argumentatives Gespräch in einer Kleingruppe, deren Teilnehmer sich unter Leitung eines Lehrers oder Organisators beispielsweise an der Universität oder der Schule versammelten. Aus solchen Gruppendiskussionen konnten »discussion groups« mit einem festen Personenkreis hervorgehen, die sich über mehrere Wochen regelmäßig trafen und austauschten. Die Themen wurden im Voraus oder zu Beginn jeder Sitzung ad hoc und gemeinschaftlich festgelegt.91 Der Begriff des »public forum« verwies dagegen auf ein Gesprächsformat, das bei deutlich größeren Teilnehmerzahlen gewählt werden sollte. Es ging um eine öffentliche Veranstaltung mit einem Moderator und mehreren Experten einerseits, die auf einem Podium Platz genommen hatten, sowie einem eventuell mehrere hundert oder sogar tausend Personen starken Publikum, das reihenförmig davor saß und nach kurzen Einführungsreferaten Fragen an die Experten stellten durfte.92 Die Gesprächsregeln waren bei allen Diskussionsformaten präzise definiert, und allen gemeinsam war auch die Präsenz eines Moderators. Er genoss das Privileg der Gesprächsleitung und sollte sich ganz in den Dienst eines produktiven Gesprächsverlaufs stellen. Seine Aufgabe war etwa, die Kohärenz zwischen den unterschiedlichen Redebeiträgen herzustellen, aber auch, alle Anwesenden zu einer gleichmäßigen und gelösten Teilnahme zu animieren. Dazu sollte er zu Beginn die Gesprächsregeln erläutern und das Gespräch dann entlang dieser Regeln geschickt im Fluss halten. Dem Moderator oblag neben der eigentlichen Leitung auch die Vor- und Nachbereitung des Gesprächs. Er hatte zudem 89 90 91 92

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Vgl. zu den verschiedenen »Types of discussion« Auer u. Ewbank, Discussion, S. 298–319. Bowman, Organization, S. 7. Vgl. ders., How to lead Discussions; ders., Organization, S. 31–45. Zum »forum« vgl. ebd., S. 46–58; Baird, S. 215–235. Die obige Differenzierung folgt dem vom U. S. Department of Agriculture herausgegebenen Pamphlet »What is the Discussion Leader’s Job?«, S. 5.

für eine konstruktive Gesprächsatmosphäre zu sorgen und zu allen Anwesenden eine gute Beziehung herzustellen, damit sie sich im Gespräch trauten, eine selbständige Meinung zu entwickeln, und diese ohne Scheu oder Aggression vortrugen. Freilich sollten sie an dieser Meinung nicht verkrampft festhalten, sondern lernen, eigene Positionen im Verlauf des Gesprächs zu verändern und auf die Meinung der anderen einzugehen. Schüchterne seien gezielt zum Reden zu ermuntern, Redegewaltigen müsse diplomatisch Einhalt geboten werden, damit sich alle gleichmäßig, zwanglos und innerlich frei am Gespräch beteiligten. Zum Schluss obliege es dem Leiter, die Ergebnisse des Gesprächs zusammenzufassen, damit bei allen der Eindruck entstehe, gemeinsam vorangekommen zu sein.93 Vor allem bei festen Diskussionsgruppen, die sich über mehrere Wochen und Monate trafen, wurde bei guter Moderation ein kollektiver Lernprozess erwartet. Die Teilnehmer und Teilnehmerinnen sollten nicht nur ein zunehmendes Gruppengefühl ausbilden, sondern auch lernen, die vom Moderator erläuterten Gesprächsregeln zu verinnerlichen und selbst Verantwortung für Gesprächsverlauf und Gruppendynamik zu übernehmen. Sie würden dann eigenständig darauf achten, dass alle in etwa gleichmäßig zu Wort kämen, sich nicht ins Wort fielen sowie konstruktiv und freundschaftlich miteinander umgingen. Auf inhaltlicher Ebene stelle sich die Fähigkeit ein, sachlich an die Vorredner anzuknüpfen, nicht zu lange am Stück zu reden und nichts zu wiederholen, was schon gesagt worden sei. Dieser Lernprozess könne dadurch unterstützt werden, dass die Gesprächsregeln in einer Sitzung gezielt thematisiert – und diskutiert – oder aber durch ein Rotationsprinzip ergänzt würden, bei dem jeder Schüler einmal in die Rolle des Moderators schlüpfte.94 In handlungslogischer Perspektive galten Diskussionen damit als universaler Ausdruck von Demokratie als Lebensform. Als solche sollten sie parlamentarische Verfahren nicht substituieren, sondern ergänzen. Dem formalisierten Meinungsaustausch in der Gruppe oder sogar der ganzen Gemeinde wurden auf dieser Ebene mindestens vier Funktionen zugeschrieben. Er sollte, erstens, auf inhaltlich-sachlicher Ebene dem Erkenntnisfortschritt, der Problemlösung und Kompromissbildung dienen. Auf sozialer Ebene sollte er, zweitens, der Vergemeinschaftung dienen, das heißt der Ausbildung eines Gruppengefühls der Beteiligten, und zwar nicht trotz, sondern gerade wegen unterschiedlicher Meinungen. Schließlich ging es um kognitive Lerneffekte – die Ausbildung kritischen und logischen Denkens. Außerdem sei die Merkfähigkeit bei aktiver Gesprächsbeteiligung deutlich erhöht, weshalb Diskussionen als eine dem Vortrag gegenüber überlegene Unterrichtsform galten. Viertens rechnete die Literatur mit psychologischen Effekten, nämlich einer Erhöhung des Selbstvertrauens, der Zufriedenheit, des Mitgefühls, der Fähigkeit zu Toleranz und Aufgeschlos93 Vgl. bes. Bowman, How to Lead Discussions. Siehe außerdem zur Rolle des Moderators Auer u. Ewbank, Discussion, S. 320–342. 94 Vgl. Bowman, How to Lead Discussions.

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senheit.95 Diese Multifunktionalität wurde von verschiedenen Autoren unterschiedlich gewichtet und mitunter auch zu einer Art Impfstoff gegen undemokratische Indoktrination erhöht. So hieß es im Vorwort der 1941 erschienenen Abhandlung »Discussion and Debate. Tools of a Democracy«: For the authors, the two paramount objectives in the teaching of discussion and debate are: first, to provide the student with a knowledge of and a proficiency in the techniques of effective thinking and speaking on controversial issues; and second, to develop within his mental blood stream those immune bodies which will make him resistent to the virus of falseness and sophistry in those who seek to influence him.96

Insgesamt wurden Diskussionen damit hochgradig durchregelt und zu einer wissenschaftlich nobilitierten Methode demokratischer Lebensform aufgewertet. Die Gesprächsregeln verwiesen auf ein sowohl sach- als auch beziehungsorientiertes Gespräch, das man gerade über den letzten Punkt häufig vom »Debattieren« unterschied, während im Deutschen, wie vorne gezeigt, »Debatten« und »Diskussionen« zunächst als Synonyme verstanden wurden. Über das Wesen der Demokratie, so der Sozialreformer Bruno Lasker, gebe es zwei gängige Missverständnisse: »One is that democracy means rule by majority, the other that its essential instrument is debate. Historically and actually, both conceptions are incorrect.«97 Nach Lasker, der in einer 1949 erschienen Monografie unter dem Titel »Democracy through Discussion« die Masse der Literatur zu diesem Thema für ein breites Publikum rekapitulierte, war die »Debatte« an den politischen Raum des Parlaments gekoppelt. Der Zweck politischer Entscheidungsfindung und ein kompetitiver Charakter seien für sie konstitutiv. Daher beginne eine Debatte stets »with a clear-cut proposition, such as a legislative bill, and consists in an effort of rival factions to win over to their side – that is, for or against the proposition – as much support as possible«.98 Demgegenüber war »Diskussion« bei ihm offener angelegt und vom Zwang zur Entscheidungsfindung befreit. Dieser Gesprächsform liege gerade kein konkreter Antrag zugrunde, der angenommen oder abgelehnt werden konnte, sondern ein Problem, über das sich alle gemeinsam Klarheit zu verschaffen suchten. »In any event«, so Lasker, »most questions that come up for decision cannot be answered offhand with reference to two or more definite stakes. The best solution may turn out to be one which nobody had thought of before the discussion.«99 Während es in dieser Perspektive bei der Debatte um die Durchsetzung einer bestimmten Position ging, die sich auf ein einfaches dafür oder 95 96 97 98 99

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Vgl. Auer u. Ewbank, Discussion, S. 46–74; Studebaker u. Williams, Education; Ely, S. b. Auer u. Ewbank, Discussion, S. vi (Editor’s Foreword by Andrew Thomas Weaver). Lasker, S. 16. Ebd., S. 17. Ebd. Zu der in der zeitgenössischen amerikanischen Literatur typischen Abgrenzung von Diskussion und Debatte siehe Hilgers, S. 144–167.

dagegen beschränkte, wurde die Diskussion als ergebnisoffener Akt der Kooperation und des gemeinsamen Lernens entworfen. Die Anwesenden stünden sich nicht als Parteien gegenüber, sondern agierten in der Gruppe miteinander, ihr Interesse sei es nicht, einen Sieg über den Gegner zu erringen, sondern zusammen zu lernen und zu einer Lösung zu kommen, die unter Umständen keiner vorher antizipiert hatte – oder eine Reihe unterschiedlicher Meinungen zu produzieren. Sie setzten sich nicht gegeneinander durch, sondern lernten miteinander – und sie lernten einander kennen, weshalb die physische Präsenz der Sprecherinnen und Sprecher unerlässlich schien. »It is true«, so der New Yorker Pädagoge Bowman, »that the elected government in Washington decides much of our destiny on a national basis. But discussion of that destiny for most citizens has to take place on a village, a neighbourhood or a city basis. People must see each other face to face in order to get the stimulation and assurance of lively give-and-take.«100 Andererseits schien die Ergebnisoffentheit eines solchen Gesprächs natürliche Grenzen zu kennen. Vermeintlich ließ sich der inhaltliche Verlauf eines moderierten Erfahrungs- und Meinungsaustauschs zumindest insofern antizipieren, als extreme Positionen langsam nivelliert würden. Dieser bei Dewey bereits angedachte Zusammenhang wurde von Bowman noch einmal herausgestellt: Discussion gives a chance to the individual to speak his mind in the presence of others in his group or community. He feels while he is doing so that he is counted; that he »belongs«. His opinion is respected, whether agreed to or not. He has a chance to influence others. Meanwhile, on the other hand, he is influenced. Extreme and unwise views are modified best in discussion, even though the change is not be observed in any one meeting. A mutual discipline of individuals on each other is an ever present reality.101

Die Verknüpfung von Diskussion und Demokratie, das sei abschließend festgehalten, ist in westlichen liberal-demokratischen Gesellschaften der Gegenwart selbstverständlich. Dennoch ist die spezifische Art und Weise, wie diese beiden Schlüsselwörter in amerikanischen metakommunikativen Abhandlungen der dreißiger und vierziger Jahre verknüpft wurden, weitgehend in Vergessenheit geraten. Die untersuchten Schriften verstanden Demokratie nicht nur als parlamentarisches System, aber auch nicht lediglich als politische Kultur mit bestimmten Handlungsdispositionen, sondern als Modus kommunikativer Vergemeinschaftung selbst. Demokratie erschien als eine alle Sphären der Gesellschaft durchdringende Lebensform, bei der Menschen ihre Ansichten und Erfahrungen beständig respektvoll mit anderen austauschten, auf diese Weise erstens zum gemeinsamen Erkenntnisfortschritt beitrugen, zweitens einen verbindenden »common sense« ausbildeten und drittens zu einer Gruppe verschmolzen, in 100 Bowman, Organization, S. 8. 101 Ebd., S. 9.

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der ein jeder Selbständigkeit sowie Selbstbewusstsein ausbildete und zugleich den anderen tolerant, aufmerksam und empathisch gegenüberstand. Die Funktion von Kommunikation war die Kohäsion trotz und durch Dissens. Selbst Amerikaner hatten das Diskutieren in dieser Perspektive beständig zu lernen. Denn wenngleich sie sich um Demokratie bemühten, so Bruno Lasker 1949, sei diese in den USA keineswegs zur Vollendung gebracht. Wer kenne nicht, so spekulierte er, den Regierungsbeamten, der seine Untergebenen schikaniere, den Arbeiterführer, der die Gewerkschaft dominiere? Solche Leute würden im Prinzip an die Demokratie glauben, seien sich aber nicht im Klaren darüber, wie sehr sie gegen demokratische Prinzipien verstießen – und sie könnten daher von diskursiver Gruppenarbeit profitieren.102 Erst im Umfeld des Zweiten Weltkriegs scheint sich allerdings die Idee verfestigt zu haben, Diskussionen auch im Ausland als Instrument der Demokratisierung zu nutzen. »In many parts of the world, and in some circles among ourselves«, so Lasker, »democracy is under attack […]. There is urgent need, therefore, for further experimentation and, especially, for a rapid diffusion of proved methods of community self-study and of deliberative group discussion.«103 Ein Feld, in dem die Arbeit mit Diskussionen als Mittel und Zweck der Reeducation besonders intensiv erprobt, modifiziert und regelrecht entwickelt wurde, war die amerikanische Besatzungszone in Deutschland, in der die vorgestellten amerikanischen Texte zur Diskussionstechnik alsbald zirkulierten.

2.3 Learning by doing. Amerikaner als Initiatoren formalisierter Diskussionsereignisse In den USA sollten formalisierte Diskussionsereignisse den Zentrifugalkräften einer von Krisen und Krieg geschüttelten Gesellschaft entgegenwirken. Im besiegten Deutschland lag die von den Besatzern wahrgenommene Bedrohung nicht in einer Atomisierung der Individuen, sondern in deren autoritären Verhaltensweisen und ihrer Utopie einer ebenso hierarchischen wie harmonischen Volksgemeinschaft ohne Interessengegensätze.104 In diesem Tenor schrieb Edwin L. Sibert, Assistant Chief of Army Intelligence, im Juni 1946 einen Artikel für das »New York Times Sunday Magazine«. Unter dem Titel »The German 102 Vgl. Lasker, S. 3 f. sowie S. 4: »These are all good people. They all intend to play the game according to the rules of a democratic society; but they have never learned how to combine personal effectiveness with that transmutation of individual desires which takes place in a group process. They are willing, sometimes, to compromise on unimportant matters; but they have no idea how to integrate their own wishes with those of persons whose experiences and interests have made for a different set of values. And it is that integration which marks the democratic process.« 103 Ebd., S. vii. 104 Zum Topos der »Volksgemeinschaft« in der Zeit der Weimarer Republik und im Dritten Reiche siehe Föllmer, Verteidigung, S. 254–265; Bajohr u. Wildt.

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Mind: Our Greatest Problem« mokierte er die Befehlshörigkeit des deutschen Volkes und die daraus resultierenden geringen Chancen einer Demokratisierung, wobei er seine Ausführungen mit einer Anekdote aus dem Alltagsleben der Militärregierung im besetzten Deutschland eröffnete: Ein amerikanischer Offizier habe in einer deutschen Stadt den Bürgermeister aufgesucht, der seine Mitarbeiter mit den Worten »Achtung! – Attention!« umgehend in Alarmbereitschaft versetzte, »and all the clerks stood up with much clicking of heels«. Nachdem der Offizier dem Personal geboten hatte, sich wieder zu setzen, unterbreitete er dem Bürgermeister das Anliegen seines Besuches: »How do these people think, what do they say about us now that we’ve been here for a little while? Tell me about them.« Der Bürgermeister, so hieß es in dem Zeitungsartikel weiter, »was still standing and he pulled back his shoulders as he spoke just as if he were addressing a large crowd. ›Das Volk‹, he said, is ›streng demokratisch‹ – strictly democratic, strictly.«105 Sibert war entsetzt. Ihm zufolge war den Deutschen das Befehlen und Gehorchen, das Buckeln und Treten zur zweiten Natur geworden, während sie sich unfähig zeigten, als selbständige Individuen eine eigene Meinung zu entwickeln und diese ohne autoritäres Gehabe vorzubringen. Mit ähnlicher Quintessenz formulierte ein Bericht der Community Education Branch noch im Juni 1949: For over a generation the German people have been directed in what they should think and what they should do. This had led to a situation wherein the German adult has lost his ability and interest in expressing himself and has also lost his sense of being a participating and controlling unit in society.106

Ebenfalls in diesem Sinne äußerte sich der »Zook Report« vom Herbst 1946 – kein amtliches, aber ein ausgesprochen einflussreiches Dokument für die Ausprägung der amerikanischen Demokratisierungspolitik. Im August und September 1946 reiste eine Gruppe von amerikanischen Erziehungsexperten unter Leitung von George F. Zook, Präsident des »American Council on Education«, auf Einladung der Militärregierung durch Deutschland. Diese »United States Education Mission for Germany« sollte den Zustand des Bildungswesens in der amerikanischen Zone untersuchen und ein Programm für notwendige Reformen ausarbeiten. Nach Aufenthalten in Bayern, Großhessen und Württemberg-Baden legte die Gruppe im September 1946 einen umfangreichen Bericht vor, der am 12. Oktober 1946 unter dem Titel »Der gegenwärtige Stand der Erziehung in Deutschland« in deutscher Übersetzung erschien. Die ersten 20 000 Exemplare waren innerhalb von zwei Tagen verkauft, Nachdrucke folgten und ungefähr 35 000 Sonderdruck-Exemplare wurden an Kultusministerien und Lehrkräfte verteilt. Zum ersten Mal informierte man damit eine

105 Sibert, S. 7, siehe hierzu auch Lammersdorf. 106 Information – Community Education Branch, 16.6.1949, Section D, S. 4, Akte 4, Box 4, 390/46/12, RG 260, NARA II.

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breite deutsche Öffentlichkeit über die Maßstäbe der amerikanischen Reeducationpolitik.107 Die Experten sahen in den »habits of uncritical obedience«, dem autoritätsbewussten und untertänigen Verhalten der Deutschen, ein entscheidendes Problem, welches in Sozialisationsinstanzen wie der Schule verankert worden sei.108 »Under the Nazis«, so der Bericht, »there was a complete disregard of the ideals of equal opportunity, respect for the individual, the sharing of ideas through discussion, and the improvement of the way of life of the common people.«109 Vor diesem Hintergrund schlugen die Experten die Integration der »discussion method« in den Schulunterricht und die Veranstaltung von formalisierten und informellen Diskussionen in Schulen, Hochschulen und Volkshochschulen vor – stets mit dem Ziel einer Einübung in Demokratie als Lebensform.110 Andererseits rekurrierten sie auf die bereits praktizierte Reeducationpolitik vor Ort: »At several universities lecture series and discussion groups have been organized on general subjects on a voluntary basis.«111 Tatsächlich hatte sich eine mit formalisierten Diskussionsrunden arbeitende Reeducationpolitik unabhängig von den amtlichen Direktiven bei Erscheinen des »Zook-Reports« bereits in Umrissen herauskristallisiert. Spätestens im Sommer 1946 begannen die ersten »Liaison and Security Officers« (LSO) als lokal agierende Verbindungsoffiziere mit der Veranstaltung von Forum- und Gruppendiskussionen, bei denen sie selbst als Teilnehmer oder Leiter fungierten.112 Genau wie in den Kriegsgefangenenlagern handelte es sich bei diesen Veranstaltungen nicht um eine an der Spitze der Militärregierung geplante Aktion, die dann systematisch an der Basis umgesetzt wurde. Vermutlich verlief die Entwicklung eher umgekehrt, ging also von lokal agierenden Offizieren aus, die das Vakuum amtlicher Direktiven mit eigenen Einfällen und ihren Erfahrungen

107 Der Kommission gehörten neben renommierten amerikanischen Erziehungswissenschaftlern auch der deutsche Theologe Reinhold Niebuhr sowie die Reformpädagogen Franz Hilker und Erich Hylla an. Zu Entstehung, Inhalt und Rezeption siehe Braun, S. 30–35. 108 Vgl. George F. Zook, Chairman, U. S. Education Mission to Germany, Report of the Education Mission, S. 1, Akte 8, Box 3, 390/40/19/3, RG 260, NARA II. Im Folgenden zitiert als Zook-Report. 109 Zook-Report, S. 36. 110 Ebd.: »Teacher education should consciously seek to develop both students of elementary and secondary education with such an interest and teach them the free interchange of opinion, orderly debate, and other devices and techniques which will enable boys and girls under their care to understand democracy and to live in its spirit.« 111 Ebd., S. 59. 112 Zur lokalen Struktur der Militärregierung für die Zeit direkt nach der Besetzung vgl. vor allem Boehling, S. 41–71. Zur Aktivierung der »grassroots democracy« bereits unter OMGUS siehe ebd., S. 156–209, obwohl die Autorin Diskussionsveranstaltungen fast vollständig ausblendet. Nur ebd., S. 206, wird erwähnt, dass seit 1948 »Bürgerversammlungen« stattgefunden hätten.

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Abb. 2: Radio Frankfurt stellt sich seinen Hörern. Öffentliche Diskussionsveranstaltung, August 1947

vor Ort füllten.113 »Lectures and discussion groups«, urteilte der »Adult Education Report« für den Zeitraum April 1946 bis April 1947, »have become popular throughout the Zone as opportunities for the German people to express themselves freely on matters of public interest.« Sie würden von der Militärregierung unterstützt, da sie besonders nützlich seien für »the development of democratic thought and action«. Amerikaner nähmen zusammen mit Deutschen an solchen Gesprächen teil, was Letzteren ermögliche, »to become familiarized with the American ways of public discussion«.114 Veranstaltungen nach dem Typus des Public Forums fanden ebenfalls statt. Sie wurden auch als »Öffentliches Forum«, als »Forums-Versammlung«, »Bürgerversammlung« oder »Öffentliche Diskussion« bezeichnet.115 Bei solchen Veranstaltungen saßen in einem großen Saal vorne auf dem Podium mehrere Sprecher – zunächst Mitarbeiter oder Berater der Militärregierung, später fast ausschließlich deutsche Verwaltungsbeamte, Politiker oder andere Experten –, 113 Ein erster Überblick wurde von der Adult Education Section der Education and Religious Affairs Branch im August 1946 erstellt. Vgl. Adult Education: A Manual, prepared by the Adult Education Section/Education and Religious Affairs Branch, August 1946, S. 14, Akte 6, Box 4, 390/46/12, RG 260, NARA II. Im Folgenden zitiert als Adult Education: A Manual. 114 Adult Education Report, April 1946 – April 1947, S. 22, Akte 16, Box 131, 390/46/15/1-2, RG 260, NARA II. Im Folgenden zitiert als Adult Education Report, April 1946–April 1947. 115 Das Wort »Bürgerversammlung« wurde teilweise als Synonym für »Public Forum«, vor allem in ländlichen Regionen aber mitunter auch verwendet, um basisdemokratische Veranstaltungen nach dem Modell des »Town Meetings« zu bezeichnen, in deren Verlauf gemeinsam über kommunalpolitische Fragen abgestimmt wurde. Vgl. in idealisierender Perspektive zu Bürgerversammlungen in ländlichen Regionen den HICOG-Lehrfilm: »Der Stein des Anstosses/Public Forums« (BRD 1951).

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die kurze Einführungsreferate hielten und sich dann den Nachfragen des Publikums stellten. Anders als bei einem Vortrag mit anschließender Diskussion oder auch einer Podiumsdiskussion standen nicht der Vortrag oder das Gespräch auf dem Podium, sondern das Gespräch zwischen Podium und Publikum im Zentrum. Die verhandelten Fragen in der amerikanischen Zone reichten von der Reform des Schulwesens über das Problem der Wohnungslosigkeit bis zum Profil der lokalen Rundfunksender, die solche Veranstaltungen teilweise organisierten und übertrugen. Die Foren waren also einerseits breit angelegt, behandelten aber andererseits in der Regel Themen mit kommunalem Bezug.116 Das Publikum, teilweise mehrere hundert oder sogar tausend Personen stark, erhielt ohne Voranmeldung kostenfrei Eintritt und konnte sich auf den Stuhlreihen niederlassen. Prinzipiell war jeder zugelassen – Junge wie Alte, ehemalige Nationalsozialisten wie Widerstandskämpfer, Männer wie Frauen. Mit stolzem Tonfall berichtete der »Adult Education Report« für den Zeitraum von April 1946 bis April 1947: A truly democratic development has taken place in Ulm, the value of which will be appreciated by all those who have been »sweating« through a number of long-winded sessions of interminable German speech making. Acting on a suggestion of the LSO, a city forum has been established to meet from time to time to discuss municipal problems. The leading officials of the city sit on the stage with the townspeople in the audience. Discussion is open to all with a five minute limit on speeches. The forum is opened by an official who analyzes the problem for discussion and gives a progress report. The citizens take over from there. The administration closes with an answer to the question raised. The first topic was »reconstruction« and found an overflow audience anxious to participate.117

Dass die verschiedenen Diskussionsveranstaltungen in der amerikanischen Besatzungszone zumindest in ihrem formalen Ablauf amerikanischen Gepflogenheiten folgten, wurde durch metakommunikative Literatur gesichert. Bald nach Kriegsende forderten Mitarbeiter der Education and Religious Affairs Branch amerikanische Texte zur Diskussionstechnik an. »For some time«, erläuterte W. Hayes Beall, Chef der Youth Activities Section, im September 1946, »we have been particularly eager to obtain additional publications dealing with group discussion.« So forderte man in je 100-facher Ausführung die Broschüren »What Is the Discussion Leader’s Job?«, »Group Discussion and Its Techniques«, »Organization of Groups for Discussion and Action«, »Suggestions for Discussion Group Members«, »Suggestions for Group Discussion Leaders« sowie »Suggestions for 116 Vgl. etwa die »Öffentlichen Diskussionen«, die seit Frühjahr 1947 von Radio Frankfurt organisiert und übertragen wurden. Im Juni 1949 fand bereits die 26. Folge dieser Veranstaltungsreihe statt, die jeweils über Plakate beworben wurden, welche das Thema ankündigten. Siehe hierzu die Plakatsammlung, Öffentliche Diskussionen von Radio Frankfurt, Plakat Ö. D. Mai 1947, Nr. 51441 bis Plakat Ö. D. Juni 1949, Nr. 51462, HA HR. 117 Adult Education Report, April 1946–April 1947, S. 30.

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Panel Discussions« an.118 Diese vorne bereits erwähnten Texte waren vom United States Department of Agriculture für die amerikanische Gesellschaft erarbeitet worden, um in der Zeit des New Deal die Arbeit mit Forums- und Gruppendiskussionen sowohl im öffentlichen Raum als auch in der Erwachsenenbildung, der Jugendarbeit und dem Bildungswesen zu unterstützen.119 Im besetzten Deutschland fungierte die Ratgeberliteratur vermutlich zunächst als Nachhilfemaßnahme für die amerikanischen Re-Edukatoren selbst. Erstens erläuterten die Texte dem pädagogisch ungeschulten Teil des Personals die enge Verzahnung von Kommunikation und Demokratie sowie das Panorama der entwickelten Diskussionsformate. Zweitens lieferten sie konkrete organisatorische Hinweise etwa zur geeigneten Raum- und Gruppengröße, zur Vor- oder Nachbereitung eines Gesprächs. Sie gaben den Organisatoren also Verhaltenssicherheit und ermöglichten, dass die Gespräche nach dem in den USA erprobten und wissenschaftlich legitimierten, formalen Regelwerk abliefen. Drittens wurde das amerikanische Personal selbst in Diskussionstechnik geschult: Es erhielt durch die Literatur Tipps, wie sich ein zu eifriger (oder sachlich in eine vermeintlich »falsche« Richtung gehender) Diskutant subtil bremsen oder eine stille Teilnehmerin zu einer Wortmeldung ermuntern ließ. Das konnte sich für die Mitglieder der Besatzungsbehörden als äußerst hilfreich erweisen, denn sie genehmigten und organisierten argumentative Gespräche ja nicht nur, sondern sie nahmen auch an ihnen teil, mussten in ihnen bestehen und standen für den Verlauf gerade. Eine hohe Diskussionskompetenz war funktional, um eventuellen nationalsozialistischen oder amerikafeindlichen Statements geschickt den Boden zu entziehen, aber auch, um für demokratische Verhaltensweisen zu werben, ohne dem Eindruck amerikanischer Propaganda Vorschub zu leisten. Diskussionstechnik fungierte also von vornherein als Machttechnik – und als subtile Werbemaßnahme. Der von deutscher Seite immer wieder bemerkte lockere Kommunikationsstil der Amerikaner, die bei Wortmeldungen nicht stramm aufstanden, sondern lässig sitzen blieben, ihre Redebeiträge nicht steif vom Blatt ablasen, sondern ad hoc, spontan und umgangssprachlich vorbrachten, und denen es gelang, eine witzige Bemerkung einfließen zu lassen, mag von vielen Mitgliedern der Besatzungsmacht intuitiv gewählt worden sein. Er wurde aber auch in den kursierenden metakommunikativen Texten als Voraussetzung einer im amerikanischen Sinne guten Diskussion vorgeschlagen und angemahnt.120 118 Vgl. Brief von W. Hayes Beall, Chief, Youth Activities Section, an Captain Myron L. Broun, Signal Corps, Reorientation Branch, Civil Affairs Division, Washington DC, 4.9.1946, Akte 5, Box 116, 390/46/14-15/6-1, RG 260, NARA II. 119 Vgl. das vorherige Unterkapitel. 120 Vgl. United States Department of Agriculture, What is the Discussion Leader’s Job. In der gleichen Reihe erschienen Broschüren über »Group Discussion and Its Techniques«, »Organization of Groups for Discussion and Action«, »Suggestions for Group Members«, »Suggestions for Group Discussion Leaders«, »Suggestions for Panel Discussions«. Ebenfalls zirkulierte in der amerikanischen Besatzungszone Bowman, How to Lead Discussions.

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Obwohl Diskussionsgruppen und öffentliche Diskussionsveranstaltungen zunächst nur an einigen Orten stattfanden, erwog bereits das Handbuch zur Erwachsenenbildung vom August 1946 den systematischen Aufbau eines zonenübergreifenden Programms.121 Im Juli 1948 berichtete dann eine Zeitschrift für Mitglieder der amerikanischen Besatzungsmacht, Württemberg-Baden habe die Spitze übernommen »in holding open forums and town meetings throughout the state to bring officials and citizens together for discussions of questions and problems«.122 Und das Marburger Büro verkündete, allein im Oktober desselben Jahres seien 127 Bürgerversammlungen veranstaltet worden. Dieser Veranstaltungstypus bildete nach Ansicht der Amerikaner in Hessen zu diesem Zeitpunkt sogar den weitaus wichtigsten Teil des Demokratisierungsprogramms.123 Spätestens ab 1949 waren vermutlich alle LSO in der amerikanischen Zone angehalten, Diskussionsveranstaltungen unterschiedlichster Art zu organisieren oder deren Organisation anzuregen. Die Community Education Branch informierte im Juni 1949: Sponsored by the local Military Government officer, usually in cooperation with a German sponsoring committee. These forums meet to discuss currently the problems such as housing, recreation, welfare, health, local government, political affairs, agriculture. Their value lies in the fact that after discussion of vital problems, working committees of volunteers are appointed to carry out some plan of action arrived at as result of discussion. This thinking and acting together is accelerated by other forms of public discussion such as the debating society, literary society – study groups, the panel forum, radio broadcasts – listening groups, town hall meetings, German-American discussion clubs, and film-discussion programs. Most of these devices to create public understanding of community needs and possible solutions have been fostered by all the L & S officers in the American Zone.124

Die Arbeit der LSO wurde in der HICOG-Phase von den Kreisresidenzoffizieren übernommen, die nun sogar maßgeblich mit der Initiation von öffentlichen Diskussionsveranstaltungen und semi-öffentlichen Diskussionsgruppen beschäftigt waren, deren Zahl noch einmal massiv stieg.125 Allein in Marburg 121 122 123 124

Adult Education: A Manual, S. 14. An., Town Meetings. Vgl. Gimbel, S. 234. Information – Community Education Branch, 16.6.1949, Section E, S. 2, Akte 4, Box 4, 390/46/12, RG 260, NARA II. Siehe auch: Adult Education Newsletter – August 1949, issued monthly by the Adult Education Section, Community Education Branch, Education and Cultural Relations Division OMGUS, Akte 16, Box 131, 390/46/15/1-2, RG 260, NARA II, sowie Forums Handbook for Reorientation, o. D., S. 2, Akte 39, Box 132, 390/46/15/1-2, RG 260, NARA II, im Folgenden zitiert als Forums Handbook. 125 Zu den Tätigkeiten der Kreisresidenzoffiziere vgl. Rupieper, Wurzeln, S. 83–109, sowie Gimbel, S. 234–242. Zur Veranstaltung von Public Forums und Town Meetings siehe erneut Bausch, Kulturpolitik, S. 149–152; Beyer, S. 117–125. Vgl. auch Pilgert, Community Life.

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fanden von Oktober 1949 bis April 1951 248 öffentliche Foren statt, an denen schätzungsweise 26 000 Personen teilnahmen.126 Und der Tätigkeitsbericht des Kreisresidenzoffiziers für September 1950 umfasste beinahe ausschließlich »diskursive« Tätigkeiten. Er hatte laut eigener Aussage mit 25 Forums-Ausschüssen über die Abhaltung öffentlicher Foren beraten, vier Dörfer besucht, in denen die Gründung von Diskussionsgruppen vorbereitet werden sollte, und eine Frauengruppe organisiert. Zudem hatte er 14 Bürgermeister aufgesucht, um mit ihnen die Abhaltung von Bürgerversammlungen, öffentlichen Foren und öffentlichen Gemeinderatssitzungen zu erörtern. Er hatte in mehreren Dörfern versucht, Volkshochschulen einzurichten, Broschüren über parlamentarische Verfahrensregeln verteilt, vor Bürgermeistern einen Vortrag über ihre Verantwortung gegenüber der Gemeinde gehalten und selbst an Bürgerversammlungen und Foren im Kreis teilgenommen.127 Anders gesagt: Der Kreisresidenzoffizier hatte sich fast ausschließlich als Botschafter des Diskussionsprinzips durchs Land bewegt. Nach der einschlägigen Studie von Rupieper kam Foren und Bürgerversammlungen die Aufgabe zu, Bürger über kommunale Probleme zu informieren und eine intensivere Beteiligung am Gemeindeleben zu erreichen.128 Allerdings, so meine These, ging es den Amerikanern nicht ausschließlich um die Inhalte, sondern auch um die Form der Gespräche beziehungsweise um das gemeinsame Sprechen selbst. Die den Foren von amerikanischer Seite zugeordneten Zwecke manifestierten sich unter anderem in einem »Forum Handbook for Reorientation«, das die amerikanische Militärregierung an ihre Mitarbeiter verteilte, um sie mit detaillierten Hinweisen zur Initiierung, Durchführung und Auswertung dieser Veranstaltungsform vertraut zu machen: The purpose of forums should be to inform the local population on local, national or international problems and developments, to create and express public opinion by inaugurating freedom of speech, freedom of press and freedom of assembly, to show the merits of public discussion as a way of solving community problems and in taking part in the affairs of the world, to begin worthwhile local projects either as functional organizations or pressure groups, to make officials aware of their responsibility to the citizens and to make the citizens aware of their responsibility to the Government, to develop the knowledge of parliamentary procedure and the attitude necessary for constructive, civic discussions, and to offer the public a means to actively participate in local affairs through a constructive critical attitude toward elected officials.129

126 Vgl. Gimbel, S. 235. Diskutiert wurde nach ebd., S. 234, unter anderem: »Wie schaffen wir Arbeitsplätze in Marburg?«, »Was können wir vom Lastenausgleich erwarten?«, »Schulreform«, »Fremdenverkehr«, »Die Stadtverwaltung – Was sagen Sie dazu?«, »Der Wahlkampf – Was sagen Sie dazu?«, »Die Frage des Wasserleitbaus«. 127 Vgl. ebd., S. 231. 128 Vgl. Rupieper, Wurzeln, S. 99. Sehr ähnlich Gimbel, S. 236. 129 Forums Handbook, S. 1.

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Die multifunktionale Veranstaltungsform sollte also unter anderem der Information, der Stärkung kommunalpolitischen Engagements und der Einübung in demokratische Grundrechte dienen. Zugleich ging es aber auch darum, »to show the merits of public discussion as a way of solving community problems and in taking part in the affairs of the world« und »to develop the knowledge of parliamentary procedure and the attitude necessary for constructive, civic discussion«. Genau dieser letzte Punkt ist in der Forschung zu wenig betont worden: Öffentliche Forumsveranstaltungen waren nicht nur ein Instrument politischer Beteiligung und Information, sondern auch ein performativer Modus der Demokratisierung. Insofern standen sie weniger in der Tradition politischer Institutionen der USA als in den Fußstapfen amerikanischer Erwachsenenbildung und Jugendarbeit. Entsprechend bemerkte das Forum Handbuch, dass die Foren auf den langfristigen Wandel von »certain attitudes and habits of mind« zielten, wenngleich sich der Erfolg »in teaching democratic discussion« nicht ohne weiteres bestimmen lasse.130 In der Tendenz ähnlich listete der »Military Government Operation Report« für den Februar 1949 im Land Bremen unter seinen Tätigkeiten das »Adult Forum Program« sowie das »Youth Forum Program« auf und fügte in Klammern als Funktionsbestimmung hinzu: »to orient German leaders in art of public discussion, bring facts to bear on important issues, teach respect for minority views«.131 Vermutlich auch angesichts des deutschen Ressentiments gegenüber der alliierten Demokratisierungspolitik waren Amerikaner von dem Interesse überrascht, das die Menschen vor Ort den semi-öffentlichen und öffentlichen Diskussionsveranstaltungen zollten – und stilisierten diese zu einer von Deutschen vorangetriebenen Erfolgsgeschichte. »The desire of the German people to hear American and other allied speakers discuss topics of public interest«, so der »Adult Education Report« für den Zeitraum von April 1946 bis April 1947, »grew during the past year to such proportions, that the Military Government Education Branches and the U. S. Information Centers […] had in an ever increasing measure to supply adequate speakers and meeting places for public discussion.«132 In Hessen habe es Diskussionsgruppen »for the purpose of orienting Germans to democratic ideas« bereits im August 1946 in erheblicher Zahl gegeben, und sie würden gut angenommen. Beispielsweise sei in Wiesbaden eine Diskussionsgruppe innerhalb von drei Wochen von 14 auf 80 Mitglieder angeschwollen.133 Das »Weekly Information Bulletin«, eine für Mitarbeiter der Besatzungsbehörden monatlich gedruckte Zeitschrift, berichtete auffällig ausführlich und 130 Ebd., S. 8. 131 February 1949 Military Government Operation Report, 4.3.1949, Appendix A, 6/58-1/39, OMGBR E&CR Div., 16,1/2, StA HB. Die im Staatsarchiv Bremen gesichteten OMGUS-Akten sind anders registriert als die Originale in den NARA II. 132 Adult Education Report, April 1946–April 1947, S. 22 f. 133 Ebd., S. 29.

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Abb. 3: »Lesson in Democracy«. Titelseite des »Weekly Information Bulletin«, Januar 1947

überschwenglich über diese diskursiven Programme – und präsentierte sie ebenfalls als Erfolg. So hieß es in Bezug auf Diskussionsveranstaltungen in Württemberg-Baden im Juli 1948: »The response of the public was tremendous from the first.«134 Mit ähnlich stolzem Tonfall wurde für Bayern konstatiert: »Bavarians have participated enthusiastically in town meetings and open forums sponsored by Military Government«.135 Und schon im Januar 1947 hatte es das Foto einer Gruppendiskussion auf die Titelseite des Blattes geschafft. Das Frankfurter Verbindungsbüro für Jugendarbeit, so war auf der ersten Innenseite unter der Überschrift »Lesson in Democracy« zu erfahren, habe kürzlich einen Vortrag zu 134 An., Town Meetings, S. 12. 135 Hier schloss sich indes als kritische Darstellung an, die Graswurzeldemokratie sei noch immer »shaky«. Vgl. An., Open Forum Surveys.

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einem juristischen Thema organisiert, der vor allem von Jugendlichen besucht worden sei. Diese hätten sich im Anschluss in Diskussionsgruppen aufgeteilt, in denen Amerikaner als Moderatoren agierten.136 Das Foto zeigte einen Soldaten und seine jugendlichen Gesprächspartner und -partnerinnen in großer körperlicher Nähe und lockerer Haltung an einem Tisch, verbunden durch direkten Blickkontakt. Keine anderthalb Jahre nach Ende des Krieges hatten Mitarbeiter der amerikanischen Besatzungsbehörden also begonnen, semi-öffentliche Gruppendiskussionen sowie öffentliche Diskussionsveranstaltungen anzubieten. Dabei dürfte der soziale Sinn der Gespräche je nach Anlass, Ort und Zeitraum variiert haben. Die Gespräche konnten der politischen Information wie der schulischen Lehrstoffvermittlung oder der bloßen Kontaktaufnahme dienen. Aber sie sollten quer dazu die praktische Einübung in einen als genuin demokratisch gedachten Handlungsmodus ermöglichen. Die Gesprächsform wurde also nicht nur als Mittel zum Zweck – der politischen Information, der schulischen Lehrstoffvermittlung, der Kontaktaufnahme – gedacht, sondern sie war zusätzlich Selbstzweck: auch und gerade um des Diskutierens willen sollte diskutiert werden. Ohne klare Direktiven agierend, besannen sich die vor Ort tätigen ReEdukatoren dabei auf die aus den USA bekannten Methoden einerseits, und sie fühlten sich vermutlich andererseits durch die verhältnismäßig positiven Reaktionen bestätigt. Sie waren es, die aus praktischen Erfahrungen vor Ort lernten. Die amerikanischen Quellen dürften den Zulauf an den verschiedenen Diskussionsformaten allerdings geschönt haben, um endlich einmal Erfolge im Bereich der Demokratisierungsprogramme vorweisen zu können.137 Unbestreitbar ist gleichwohl, dass die Veranstaltungen zumindest nicht flächendeckend boykottiert wurden. Das ist erklärungsbedürftig – und lässt zunächst einmal eine tiefe Verwurzelung von argumentativem Meinungsaustausch in kommunikativen Routinen und Vorstellungswelten der deutschen Gesellschaft vermuten. Auch wenn den Menschen bestimmte Diskussionsformate neu gewesen sein mögen, auch wenn die Tradition öffentlichen Meinungsaustauschs im späten Kaiserreich und in der Weimarer Republik desavouiert, im Nationalsozialismus schließlich abgebrochen war, so war sie den Akteuren doch bekannt. Man wusste, worum es ging – scheinbar. Denn begünstigend kam vermutlich hinzu, dass mündlicher Meinungsaustausch in Deutschland keineswegs als handlungslogische Methode performativer Demokratisierung bekannt war und auch nicht als wissenschaftliche überhöhte Technik, sondern als wenig formalisiertes, teilweise auch kompetitives Instrument der Erkenntnis- und Wahrheitsfindung, etwa im wissenschaftlichen Bereich, sowie der Konsensbildung und Entscheidungsfindung, vor allem 136 Weekly Information Bulletin, Nr. 74, 6.1.1947, Titelblatt und erste Innenseite. 137 Beyer, S. 119, gibt zu Recht zu bedenken, dass die Lizenzpresse das Bild geschönt haben könnte, da »ein gewisser Erfolgszwang« herrschte. Siehe dazu auch weiter unten Kap. 3.

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in der Politik.138 Nach den linguistischen Studien von Jörg Kilian verwies das Wort »Diskussion« in der deutschen, politischen Kommunikation der ersten Nachkriegsjahre entsprechend nicht auf eine bestimmte Dialogsorte, sondern auf »das dialogische Prinzip schlechthin«.139 Und noch der Brockhaus von 1953 definierte »diskutieren« nur sehr allgemein als »erörtern, verhandeln«, aber auch »streiten, rechten«, womit ein aggressiver Ton erklang.140 Einigen Deutschen könnte daher entgangen sein, dass schon ihre bloße Teilnahme an Diskussionsveranstaltungen von amerikanischer Seite als Teilerfolg der Demokratisierung gefeiert wurde, ganz unabhängig davon, wie negativ sie sich inhaltlich über die USA äußerten. Nach Hein-Kremer fanden etwa Diskussionsveranstaltungen in den Amerikahäusern auch deshalb »recht positiven Anklang«, weil sie den Teilnehmern beziehungsweise den Besuchern die Möglichkeit boten, »Kritik zu äußern«.141 Die Möglichkeit zum Meinungsaustausch wurde von einigen Deutschen eventuell nicht als Instrument auktorialer Umerziehung erkannt, sondern als Ausdruck eines Verzichts auf Indoktrination gelesen und deshalb begrüßt. Dieser Zusammenhang war bereits in den POW Schools zu beobachten gewesen. Während bei monologischen Unterrichtstechniken die Überzeugung der Gefangenen dominierte, mit einer neuen Ideologie infiltriert zu werden, ließ sich diese Reserviertheit auch durch die Möglichkeit zum Widerspruch minimieren. Der Lehrer Ehrmann berichtete jedenfalls über den Unterricht in deutscher Geschichte: [T]he initial hesitation of the students about accepting such lessons, and their general hypersensitiveness in all questions involving national pride, were overcome by making them aware that the evidence laid before them was based on the investigations of German and foreign scholars alike, by giving them ample occasion to »talk back« to the instructor, and by insisting at the same time on the democratic potentialities in the German past.142

Ein weiteres Motiv zur Teilnahme an den Gruppen- und Forumsdiskussionen dürfte ein vitales Informationsbedürfnis gewesen sein. Die Infrastruktur und die Bürokratie, etablierte Netzwerke und Informationskanäle waren zerstört, und unmittelbar nach dem Krieg hatten die Alliierten die deutschen Massenmedien aufgelöst. Zeitgleich stand die Bevölkerung vor enormen organisatorischen und logistischen Aufgaben. So wurden Informationen über die politische Lage, über das Schicksal der heimkehrenden Soldaten oder über Essensvorräte notgedrungen mündlich übermittelt. »Die unfreiwillig mobile Zusammenbruchsgesellschaft«, formuliert Daniel Morat, »in der Verkehrsmittel knapp und permanent überfüllt waren, muss man sich wohl auch als eine beständig 138 139 140 141 142

Vgl. den obigen ersten Akt. Kilian, Demokratische Sprache, S. 94. Brockhaus, 16. Aufl., 1953, Bd. 3, S. 290. Hein-Kremer, S. 241. Ehrmann, S. 309.

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redende Gesellschaft vorstellen.«143 Zumindest musste mündliche Kommunikation in vielerlei Hinsicht Funktionen übernehmen, die traditionell von den Massenmedien sowie von verschiedenen sozialen und politischen Institutionen gelöst worden waren. Das Diskussionsangebot der Amerikaner stieß teilweise noch in dieses Vakuum traditioneller Informationskanäle, was ihren Zulauf gesteigert haben dürfte. Deutsche könnten sich für Diskussionsveranstaltungen also interessiert haben, weil dort für den Alltag wichtige Informationen vermittelt wurden – oder auch, wie nun gezeigt werden soll, weil es in ihnen zuweilen hoch herging.

2.4 Kontrolle und Tumult. Das deutsche Volk im Public Forum Im vorherigen Abschnitt wurde eher überblicksartig die Organisation von öffentlichen und semi-öffentlichen Diskussionsereignissen untersucht. Nun sollen, gleichsam aus größerer Nähe, die Erwartungen an und die Erfahrungen mit Face-to-Face-Kommunikation beschrieben werden. Das geschieht vor allem am Beispiel von »public forums«, die durch Fotos, Tonbandaufnahmen und Protokolle besonders gut überliefert sind. Um dem Eindruck deutscher Autonomie Vorschub zu leisten, sollte die Initiative zu Diskussionsveranstaltungen scheinbar von Deutschen selbst ausgehen. Das Forum Handbuch schlug vor, LSO sollten auf informellen Treffen mit lokalen Gemeindevertretern die Gründung von Diskussionsgruppen anregen, welche dann die Organisation von Forumsveranstaltungen eigenständig in die Hand nähmen. Dabei riet das Handbuch: »(a) Don’t ›talk down‹ to the people attending the discussion group. Get on the same level with the people. (b) Don’t leave the impression that the organizing of the discussion group is your idea.«144 Das heißt: Die objektiv bestehende Asymmetrie zwischen Besetzern und Besetzten sollte im Gespräch und durch das Gespräch nicht überwunden, sondern vielmehr verschleiert werden – damit sich die Besetzten nach den Vorstellungen der Besetzer verhielten, ohne sich der Beeinflussung bewusst zu sein. Dieses Muster zog sich fort. Wenn Amerikaner als Mitglied einer Besatzungsmacht an einer Diskussionsveranstaltung teilnähmen, so ein für deutsche Jugendleiter formulierter Leitfaden, berge dies ein strukturelles Problem: »In einer solchen Situation fehlt der Geist der absoluten Gleichheit, der für eine Diskussion so notwendig ist.«145 Daher bemühten sich manche amerikanischen 143 Morat, Techniken, S. 160. 144 Forums Handbook, S. 2. 145 Group Discussion for German Youth Groups/Gruppendiskussion für deutsche Jugendgruppen, hg. v. Hauptquartier des europäischen Befehlsbereichs, OPOT Division, Abteilung für deutsche Jugendangelegenheiten, o. O. o. J., Akte 5, Box 116, 390/46/14-15/6-1, RG 260, NARA II, im Folgenden zitiert als Group Discussion for German Youth Groups.

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Akteure, den Eindruck von Gleichheit nach Kräften herzustellen. Ganz auf der Linie von John Dewey wurde mitunter dafür plädiert, die Gespräche als einen in zwei Richtungen verlaufenden Lernprozess anzulegen. »Avoid an attitude of ›Telling the Germans‹«, ermahnte der amerikanische Verfasser eines Erfahrungsberichts seine Kollegen: »We must learn about them from their questions and learn to ask questions of our own.«146 Selbst Mitarbeiter der amerikanischen Behörden in leitenden Positionen wussten die Kritikfähigkeit von deutschen Mitarbeitern zu schätzen – oder behaupteten dies zumindest in bestimmten Kontexten. Im Juli 1949 erhielt der Bremer Bürgermeister Wilhelm Kaisen ein Empfehlungsschreiben, das einen langjährigen deutschen Mitarbeiter der Erziehungsabteilung der Militärregierung mit folgenden Worten pries: While Mr. Berger has been cooperative in every respect and at the same time a warm personal friend, he has been independent and courageous to the extent that he never hesitated to express his own opinions and convictions, no matter how much they might disagree with my own or those of any other official of Military Government. Such a frank and honest approach to the working out of our mutual problems was quite wholesome, and helpful in keeping our work on a solid and lasting foundation.147

Trotz dieses bemerkenswerten Lobs deutscher Kritikfähigkeit verliefen organisierte Diskussionsveranstaltungen keineswegs ergebnisoffen. In WürttembergBaden kursierte schon seit Mai 1948 das »Reorientation Program Handbook. Containing Questions and Answers for use at Gemeinde and Kreis Forums«. Es bestand aus einer Loseblatt-Sammlung, die laufend aktualisiert wurde und in 15 Kapiteln die häufigsten Fragen der einheimischen Bevölkerung in Bezug auf Bereiche wie Industrie, Landwirtschaft und Ernährung, Handel und Wirtschaft, Flüchtlinge und Zwangsarbeiter, Öffent liche Sicherheit, Politik, Entnazifizierung und Recht sowie Gesundheit thematisierte. Das Handbuch empfahl den Offizieren nicht nur geeignete Antworten, sondern legte ihnen ebenso nahe, bestimmte Auskünfte nicht zu erteilen.148 Einigen Mitgliedern der Besatzungsmacht reichten selbst diese Sicherheitsvorkehrungen nicht aus: Vor allem die öffentlichen Foren, so die Sorge, könnten jederzeit außer Kontrolle geraten. In der Tat ist darauf hinzuweisen, dass in Differenz zu den POW Schools das Publikum keine ausgewählte Elite darstellte, die man für demokratische Führungspositionen aufbauen wollte. Vielmehr war tatsächlich jeder zugelassen – also auch ehemalige oder noch immer überzeugte Nationalsozialisten. Befürchtet wurden von amerikanischer Seite aber weniger nationalsozialistische Statements, sondern vielmehr eine Instrumentalisierung 146 Vgl. M. Shannon, Research Assistant, Youth Activities Branch, Education & Religions Division, Report of Discussion Group, S. 4, Akte 5, Box 116, 390/46/14-15/6-1, RG 260, NARA II. 147 Brief von H. H. Crabill an W. Kaisen, Bremen, 6.7.1949, Akte 4, 7, 110-4, StA HB. 148 Alle Angaben nach Bausch, Kulturpolitik, S. 149.

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der Gesprächsarenen für kommunistische Propaganda. Der stellver tretende Militärgouverneur Major General George P. Hays formulierte 1949 auf einer Tagung für LSO: When the proposition of OMGUS sponsoring these forums was first presented, some of us were a little sceptical, because although we could see there would be great advantages, we could see disadvantages. If the public forums are properly conducted and controlled along right channels, they give the German people an opportunity to express themselves before their local leaders on local matters, encourage them to participate in government on the grass-root level, and also provide an opportunity for us to disseminate those ideas of democracy which we hope will be adopted by the Germans, and accepted by them in their legislation. On the other hand, if we have representatives in the field who are not temperamentally qualified, and permit these forums to get out of control, and the Communists take charge and other subversive elements use these forums to put over their own ideas, they would not be of particular benefit to us. As long as we sponsor these programs or participate in them, we must be sure the latter does not occur.149

Hays’ Worte verweisen nicht nur auf amerikanische Angst vor Kontrollverlust und kommunistischer Propaganda, sondern auch auf ein wirkungsvolles Gegenmittel: eine »gute« Moderation, wobei das Kriterium für Qualität in dieser Hinsicht nicht in einer neutralen Schiedsrichterfunktion lag, sondern in der Fähigkeit, den Fluss des Gesprächs und damit den Verlauf der Veranstaltung insgesamt subtil zu kontrollieren. Daher ist es keineswegs nebensächlich, dass öffentliche Foren immer in Anwesenheit von Mitgliedern der Besatzungsbehörden stattfanden, die den Gesprächsverlauf genau verfolgten, teilweise protokollierten oder sogar moderierten.150 Zugleich wurde die Leitung von Diskussionsgruppen und Forumsveranstaltungen nach und nach in ausgewählte deutsche Hände gelegt. »It is necessary«, so Dr. Vaughn R. DeLong in einem Vortrag vor Verbindungsoffizieren 1949, »to work through the Germans, which intensifies our problem. Germans to be used must be picked carefully. They must be trained to conduct themselves and to hold meetings in the way we would like to see that done.«151 Wenn für eine Forumsveranstaltung sowohl ein deutscher Organisator als auch ein deutscher Moderator gefunden worden waren, musste das Podium bestückt werden. Angefragte Deutsche reagierten häufig sehr negativ, da sie offenbar um ihre Autorität fürchteten. Schuldirektoren, so eine in Bayern gemachte 149 Complete report of a L&S conference, Nürnberg, 17.–31.1.1949, Afternoon Session, Friday, Akte 39, Box 132, 390/46/15/1-2, RG 260, NARA II. 150 Das wurde freilich nicht als Kontroll-, sondern als Evaluationsmaßnahme begründet. So schlug das Forums Handbook, S. 9, vor: »In order to evaluate forums the local MGO needs to have full report of forum meetings, preferably a stenographical report, and also observations upon audience reaction, and the activities of particular economic or political groups before or during the meeting.« 151 Complete report of a L&S conference, Nürnberg, 17.–31.1.1949, Morning Session, Wednesday, Akte 39, Box 132, 390/46/15/1-2, RG 260, NARA II.

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Erfahrung, »frequently seem to feel uncomfortable when present at open discussions between their pupils and Americans from Military Government. This resistance is frequently felt, and some series in secondary schools have been allowed to lapse due to it.«152 Ebenso regte sich Widerspruch bei deutschen Politikern, Bürgermeistern oder Verwaltungsmitarbeitern, die auf dem Podium als Referenten Platz nehmen sollten, wobei auf die Bürgermeister durch die Androhung finanzieller Einbußen ein gewisser Druck ausgeübt wurde.153 Einige fühlten sich den Fragen der Menschen schlichtweg nicht gewachsen, wie Mike Weyl, damals Leiter des Amerikahauses Stuttgart und Mitarbeiter der US Information Control Division, sich erinnert: »Manche haben das geliebt, das waren richtige Politiker, andere haben es gehaßt. Die hatten Angst davor.«154 Befürchtet wurden Meinungsmache von Nationalsozialisten, vor allem aber die parteipolitische Instrumentalisierung solcher Veranstaltungen sowie aggressive Angriffe aus dem Publikum. Zusätzlich lehnten Politiker die Bürgerversammlungen vor allem in kleineren Landgemeinden ab, weil man sie als Eingriff in die Kompetenzen der gewählten Gemeindevertreter verstand.155 Das eigentliche Publikum, das die Veranstaltungen vermutlich nicht als Beschränkung, sondern eher als Zuwachs von Einfluss interpretierte, war leichter zu gewinnen, wobei das Interesse regional stark variierte. Teilweise gelang es nicht, genügend Menschen zum Besuch einer Diskussionsveranstaltung zu motivieren,156 in anderen Fällen übertraf die Partizipation die räumlichen Kapazitäten. Im Rahmen der Aktivitäten der Information and Control Division in Württemberg-Baden waren öffentliche Foren unter dem Titel »Das Volk fragt, die Beamten antworten« die populärste Veranstaltung der Abteilung, bei der regelmäßig rund 1 000 Besucher erschienen. Radio Stuttgart zeichnete die Veranstaltungen auf und übertrug sie mit einer Verstärkeranlage sogar ins Freie, weil der Andrang stärker war, als Stadthallen und andere Gebäude es verkrafteten.157 152 Adult Education Report, April 1946–April 1947, S. 25. 153 Nach Bausch, Kulturpolitik, S. 150, wurden sie sogar »gezwungen«. Das scheint überzogen, da Widerstand formal möglich war, allerdings unter Umständen finanzielle Nachteile zur Folge hatte. Der Chef der hessischen Field Operation Division erklärte 1950 vor Kreisresidenzoffizieren: »Bürgermeistern und Landräten, die sich widersetzen oder nur halbherzig mitmachen, kann ein Teil der ECA-Hilfe entzogen werden.« Zit. n. Gimbel, S. 232. 154 Mike Weyl im Gespräch mit Ulrich M. Bausch am 15.8.1989, zit. n. Bausch, Kulturpolitik, S. 150. Zu den teilweise sehr negativen Reaktionen der Bürgermeister, Politiker und Verwaltungsbeamten siehe auch Gimbel, S. 238–240. 155 Vgl. ebd. sowie Beyer, S. 121; Report No. 159: Bavarian Reactions to Town Hall Meetings and Public Forums, 11.2.1949, OMGUS Reports, ZA. 156 Beyersdorf, S. 100 f., zeigt, dass in Coburg 1946 Versammlungen dieses Typs eingeführt worden seien, wobei das Interesse der Bevölkerung sehr gering war, weswegen sie 1947 nur noch sporadisch durchgeführt wurden und 1948 in dieser Form aufhörten. 157 Vgl. Bausch, Kulturpolitik, S. 149 f. Auch wenn Beyer, S. 119–122, in ihrer Lokalstudie zur bayerischen Stadt Schwabach zu Recht zu bedenken gibt, dass die Lizenzpresse das Bild geschönt haben könnte, kommt sie insgesamt zu einem positiven Ergebnis. Die Bürgerversammlungen in Schwabach hätten ein hinreichendes Unterstützungspotenzial gefunden.

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Abb. 4: Speaking Up. Öffentliches Forum in Pforzheim

Auch Fotografien eines Public Forums in Pforzheim hielten voll besetzte Stuhlreihen fest. Bei einer Umfrage der amerikanischen Militärregierung in Bayern vom Februar 1949 gaben allerdings nur sechs Prozent der männlichen Befragten an, bereits an einer öffentlichen Diskussion teilgenommen zu haben – und das waren sogar viermal so viel Männer wie Frauen.158 In sozialer Hinsicht erstreckte sich die Teilnahme aber auf breite Teile der Bevölkerung. Wie Fotografien zeigen, mischten sich Vertreter des weiblichen Geschlechts durchaus ins Publikum, zudem junge und ältere Menschen.159 Erhaltene Tondokumente lassen zwar vermuten, dass sich vor allem Männer meldeten – Ausnahmen bestätigten die Regel –, aber immerhin ergriffen Personen unterschiedlicher Schichten

158 Vgl. Report No. 159: Bavarian Reactions to Town Hall Meetings and Public Forums, 11.2.1949, OMGUS Reports, ZA. Zum Profil der nach Kriegsende von der Militärregierung eingesetzten, später durch Kommunalwahlen bestimmten Bürgermeister siehe die Lokalstudie von Beyer, S. 201–210. 159 Vgl. Military Government Wuerttemberg-Baden sponsored Open-Forum in Pforzheim, Akte 692; OMGWB Public Forums and America Haus, Akte 694, beide Box 19, RG 260 MGG: Scenes of Occupied Germany, 1943–1949, Still Pictures, NARA II.

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regelmäßig das Wort, also auch Bauern, Arbeiter und einfache Angestellte.160 Ein ehemaliger Angestellter des Resident Office in Marburg beklagte allerdings, nur etwa 15 Marburger hätten sich rege an den Diskussionen beteiligt und diese nahezu monopolisiert.161 Parallel wurden spezielle Forumsdiskussionen nur für Frauen und nur für Jugendliche abgehalten. Jugendliche galten als eine durch die nationalsozialistische Erziehung besonders infiltrierte und zudem noch leichter formbare Bevölkerungsgruppe, auf welche die amerikanische Demokratisierungspolitik einen speziellen Fokus legte.162 Das betraf auch diskursive Programme. Beispielsweise organisierte Radio Frankfurt im August 1948 den »Großen Diskussionsabend der Gießener Jugend« zum Thema »Was wäre, wenn wir regierten?«, der im Rundfunk übertragen wurde. Die Veranstaltung wurde durch Plakate beworben, die nicht nur darauf hinwiesen, dass die Saaltüren aus sendetechnischen Gründen zehn Minuten vor Beginn der Veranstaltung geschlossen würden, sondern auch verhießen: »Jeder Jugendliche kann seine Meinung äußern! Alle Jugendlichen sind herzlichst eingeladen!«163 Aber auch Erwachsene hatten ihre Fähigkeit zum Lernen und zur Veränderung in der Perspektive der Educational Philosophy keineswegs verloren. Zudem bestand die Annahme, dass ohne einen Wandel von Eltern und Lehrern auch habituelle Verschiebungen bei Jugendlichen nicht nachhaltig sein würden. Die Demokratisierung alltäglicher Handlungsformen setzte daher nicht nur bei den Funktionseliten, sondern auch bei »normalen« Bürgern an – und bei Bürgerinnen. Frauen wurden angehalten, sich mit anderen Frauen in Diskussionsgruppen auszutauschen, dem Ehemann argumentativ Einhalt zu gebieten und die Kindererziehung dialogisch zu gestalten. Im Gespräch sollten sie zudem lernen, wie Hein-Kremer ausführt, »konstruktive Kritik zu üben«.164 160 Die Berufe lassen sich häufig rekonstruieren, weil sich die Sprecher und Sprecherinnen zu Beginn ihres Redebeitrags kurz vorstellten. Vgl. etwa Erstes Forum für die Bevölkerung im Amerikahaus in Bremerhaven, 12.5.1948, Tondokument B 004886257, DRA; Öffent liche Diskussion in Frankfurt am Main über das Arbeitslosenproblem. 30. Öffentliche Diskussion von Radio Frankfurt, 17.3.1950, Tondokument B004885979, DRA. 161 Vgl. Gimbel, S. 236. 162 Vgl. zuletzt Fisher. 163 Plakat Jugend-Diskussionsabend August 1948, Nr. 51478, Plakatsammlung, HA HR. Vgl. ergänzend die gesamte Plakatsammlung »Öffentliches Jugendforum« von Radio Frankfurt, Plakat Februar 1948, Nr. 51476, bis Plakat August 1948, Nr. 51478, HA HR. Zu Jugendforen in Bremen siehe Adult Education Newsletter – August 1949, issued monthly by the Adult Education Section, Community Education Branch, Education and Cultural Relations Division OMGUS, S. 3 f., Akte 16, Box 131, 390/46/15/1-2, RG 260, NARA II. Die hier geplanten Jugendforen fanden dann auch statt. Vgl. An., Jugendfragen vor dem »Öffentlichen Forum«, mit Hinweis auf mehrere Veranstaltungen am 25.10., 8.11., 22.11., 13.12.1949. 164 In den Information Centers bekamen Frauenthemen ab 1947/48 eine größere Aufmerksamkeit. Ausgehend von der Annahme, Demokratie sei maßgeblich in den Familien verankert, nahmen Erziehungspraktiken einen großen Raum ein. So Hein-Kremer, S. 283–291,

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Die Teilnehmer und Teilnehmerinnen von öffentlichen Diskussionsveranstaltungen wurden vor Ort mit Hinweisen zu den geltenden Gesprächsregeln versorgt. So erhielten die Besucher eines Forums in Pforzheim während der Veranstaltung einen Zettel in die Hand, der sie ermahnte, sich kurz zu fassen, beim Thema zu bleiben, andere nicht zu unterbrechen, erst zu reden, wenn der Vorsitzende das Wort erteilt hatte, und sich kurz vorzustellen.165 Abhängig vom Thema, den Experten auf dem Podium und dem Geschick des Moderators variierten Atmosphäre und Verlauf dieser Veranstaltungen aber stark. Beispielsweise orientierten sich die von Radio Frankfurt organisierten »Öffentlichen Diskussionen« relativ weitgehend an dem von Handbüchern entfalteten Reglement, was maßgeblich dem Moderator Günter Hünecke zu verdanken war.166 Im Januar 1948 moderierte er mit ruhiger Sprechgeschwindigkeit und wohl modulierter Stimme, die schon stilistisch von nationalsozialistischer Agitation weit entfernt war, ein Forum zum Thema »Ist Auswanderung ein Ausweg?«, zu dem als Experten auf dem Podium Friedrich Brühne, Direktor des Arbeitsamtes Frankfurt, sowie Otto Herr, außenpolitischer Kommentator von Radio Frankfurt, geladen worden waren. Hünecke führte zunächst ins Thema ein, dann referierten Brühne und Herr fünf bis zehn Minuten lang über ihr Thema, anschließend moderierte Hünecke die Diskussion. Dabei unterbrach er die Teilnehmer diplomatisch, wenn sie zu lange redeten, stellte Bezüge zu den Vorrednern her und fasste das Gesagte am Ende noch einmal zusammen.167 Die anwesenden Amerikaner dürfte auch gefreut haben, dass Hünecke immer wieder explizit um Gegenmeinungen bat. Er schulte die Anwesenden in ihrem Verständnis für konkurrierende Positionen und im Umgang mit der daraus entstehenden Ambivalenz: »Ich glaube, dagegen werden sich andere Argumente anführen lassen. Ist jemand in der Lage, die dagegen sprechenden Argumente im Augenblick vorzutragen? Bitte, der Herr dort.«168 Zugleich ließ er Rede-

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hier S. 286. Erst im Herbst 1948 entstand der Entschluss zur Einrichtung einer »Women’s Affairs Section« innerhalb der »Education and Cultural Relations Branch«. Allgemein zu Frauen als Adressaten der Demokratisierungspolitik Rupieper, Bringing Democracy to the Frauleins; ders., Wurzeln, S. 205–250, mit der ausführlichen Darstellung eines FrauenForums ebd., S. 229–231. Vgl. Handzettel zum öffentlichen Forum in Pforzheim, Rückseite, in: Bausch, Kulturpolitik, S. 152. Vgl. Ist Auswanderung ein Ausweg?, 12. Öffentliche Diskussion von Radio Frankfurt, 14.1.1948, Tondokument 4672559 u. 4672560, HA HR; Eltern oder Staat – Wer bestimmt über die Schule?, 24. Öffentliche Diskussion von Radio Frankfurt, 25.3.1949, Tondokument 4 651252, HA HR; Radio Frankfurt stellt sich seinen Hörern, 18. Öffentliche Diskussion im Großen Sendesaal des alten Funkhauses, 25.8.1948, Tondokument 92.081, HA HR; Hat sich die Gewerbefreiheit bewährt?, 33. Öffentliche Diskussion des Hessischen Rundfunks im Großen Sendesaal von Radio Frankfurt, 9.3.1951, Tondokument 4660315, HA HR. Ist Auswanderung ein Ausweg?, 12. Öffentliche Diskussion von Radio Frankfurt, 14.1.1948, Tondokument 4672559 (Bd. 1) u. 4672560 (Bd. 2), HA HR. Ebd., Bd. 2, Min. 8.

beiträge subtil verpuffen, indem er sich nicht um eine Vertiefung bemühte. Das betraf allerdings vor allem die wenigen Frauen, die sich ins Gespräch einzubringen versuchten. Das für den gesamten Untersuchungszeitraum symptomatische Muster, wonach die Redebeiträge von Frauen in Diskussionen verhältnismäßig selten aufgegriffen werden, wurde vom Moderator noch gefördert.169 Andere Veranstaltungsreihen kamen dagegen kaum in Gang, weil sie thematisch überfrachtet waren, die Moderatoren über kein rhetorisches Geschick verfügten, die Beiträge amerikanischer Referenten mühselig ins Deutsche übersetzt werden mussten und die Teilnehmer von den anwesenden Experten klare Antworten erhofften, die diese gerade nicht geben konnten oder wollten.170 Das galt beispielsweise für das erste Forum in Bremerhaven, das im Mai 1948 im dortigen Amerikahaus stattfand. »Um nicht ins Endlose zu schweifen«, erläuterte der Moderator zu Beginn, sei »beschlossen worden«, die Tagesordnung auf vier Hauptpunkte zu beschränken. Diese waren aber sehr umfassend definiert und zudem von großer politischer Brisanz. Es handelte sich, so der Moderator weiter, um jene »vier Gebiete, die für Sie alle wohl die schwersten Probleme enthalten. Das ist die Ernährung und das Fischereiwesen, das ist Entnazifizierung, das ist Schulwesen, Schulreform und Erziehung, und das sind die allgemeinen Probleme, allgemeine Regierungs- und Verwaltungsprobleme.«171 Auf dem Podium waren zu diesem Zweck eine ganze Reihe von Leuten versammelt worden, zu denen ebenso ein deutscher Schulrat wie hochrangige Vertreter der Militärregierung zählten. Nach den einführenden Worten des Moderators begrüßte der Chef der Amerikanischen Militärregierung von Bremerhaven das Publikum, wobei seine Worte von einer Frau ins Deutsche übersetzt wurden: »Im Namen der Militärregierung heiße ich Sie willkommen und hoffe, dass dieses Programm aufklärend und belehrend sowohl als unterhaltend sein wird. Danke.«172 Allzu unterhaltsam war das Gespräch dann aber nicht. Schwerfällig moderiert kam das Frage-und-Antwort-Spiel kaum in Gang und enthielt immer wieder Momente der Schweigsamkeit und der Irritation. Nach den Ausführungen einer der Ex169 Ebd., Bd. 2, Min. 1, 13, 15. 170 Das Gros des amerikanischen Personals hatte keine oder nur geringe Deutschkenntnisse, sodass Gruppendiskussionen meist auf Englisch, Forumsdiskussionen häufig mit anschließender Übersetzung der englischen Redebeiträge ins Deutsche absolviert wurden. Von 64 Mitgliedern des Marburger Detachements zwischen 1945 und 1952, über deren Sprachkenntnisse wir dank der Lokalstudie von Gimbel, S. 60, Bescheid wissen, sprachen und verstanden 17 Deutsch, fünf verfügten über Grundkenntnisse, konnten aber nicht ohne Dolmetscher verhandeln, 41 sprachen und verstanden kein Deutsch. Zu den spezifischen Problemen von Diskussionsgruppen im Nachkriegsdeutschland zählten daher, so ein für deutsche Jugendleiter formulierter Leitfaden zu diesem Thema, Verständigungsschwierigkeiten zwischen Deutschen und Amerikanern. Vgl. Group Discussion for German Youth Groups, S. 11. 171 Erstes Forum für die Bevölkerung im Amerikahaus in Bremerhaven, 12.5.1948, Min. 1, Tondokument B 004886257, DRA. 172 Ebd., Min. 4.

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perten zum Thema Ernährung wandte sich der Moderator mit angestrengter Stimme und ungelenk formulierten Sätzen an einen Kaufmann im Publikum, der die zugrunde liegende Frage gestellt hatte: Moderator: »Befriedigt Sie die Frage, äh, die Antwort?« Kaufmann: »Nein.« Moderator: »Was wollen Sie weiterhin noch fragen zu diesem Thema?« Kaufmann: »Als Kaufmann hätte ich gern eine präzise Frage, und die lautet ja oder nein.« (Gelächter im Publikum) Moderator: »Buff, was möchte mancher von uns wissen […]. (Gelächter, Klatschen, Unruhe) Es gibt viele Fragen, nicht nur auf diesem Satz Gebiet, äh, auf die auch die höchststellenden Regierungsvertreter ihnen keine Ja- oder Nein-Antwort geben können, weil zu viel […] mitspielt bei der Entscheidung gewisser schwerer Probleme. Also vielleicht werden Sie doch noch Befriedigung finden im Laufe der Aussprache. Bitte sehr!« Anderer Experte auf dem Podium: »Trotzdem beantworte ich die Frage, auch als ein Verwaltungsbeamter, der nicht gern um den heißen Brei herumgeht. Und zwar kann ich sie jetzt schon beantworten, dass die Bewirtschaftung für die Ernährung hundertprozentig nicht aufgehoben wird.« (Gemurmel im Publikum)173

Dieser kabarettistisch anmutende Austausch verlief bezogen auf die verhandelten Sachfragen recht unergiebig, in metakommunikativer Hinsicht wurden allerdings eine Reihe von Informationen ausgetauscht. Den Erwartungen des Kaufmanns zufolge sollte auf eine eindeutige Frage eine eindeutige und knappe Antwort folgen: »ja oder nein«. Der geladene Experte hatte sich vor dieser Eindeutigkeit in amerikanischer Tradition gescheut, und der deutsche Moderator versuchte, dieses Verhalten zu rechtfertigen, indem er auf die Komplexität politischer Entscheidungen rekurrierte. Diese Einsicht wurde durch den nächsten, deutschen Sprecher konterkariert, der sich brüstete, »nicht um den heißen Brei herum« zu reden, sondern zur Sache zu kommen. Mitunter, beispielsweise bei Themen wie der Wohnungsnot in den ausgebombten Städten oder der finanziellen Not der Menschen, kam es auch zu tumultartigen Szenen. Das galt etwa für die dritte »Bremer Bürgerversammlung« vom 22. April 1949 zum Thema »Wohnungsbau – Was soll geschehen?«. Eine Gruppe Bremer Bürger hatte die Veranstaltung mit dem Wohlwollen der Militärregierung organisiert, es handelte sich also gar nicht um eine Reeducationmaßnahme im engeren Sinne, sondern um deren eigenständige Aneignung von deutscher Seite. Die Bürgerversammlung fand im Bürgerschaftssaal des neuen Rathauses statt, also in einem großen und durchaus repräsentativen Saal, in dem sich nach Darstellung der »Nordsee-Zeitung« »viele hundert Bremer« eingefunden hatten.174 Nach einem Gedächtnisprotokoll des Bremer Baudirektors 173 Ebd., Min. 5 f. 174 An., Bürgerversammlung, vgl. auch Akte betr. Bürgerversammlungen und sonstige Veranstaltungen aus Anlaß des Wohnungsbaus, Bestand 3 W.11 Nr. 452 Quadrangel 26, StA HB.

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Tippel, der als Experte eingeladen worden war, musste eine »große Zahl von Besuchern« sogar wegen »Überfüllung des Saales umkehren«.175 Von einer konstruktiven, höflichen, sich wechselseitig stützenden Atmosphäre war offenbar wenig zu spüren. Wie die Tageszeitungen berichteten, wurden die Referenten auf dem Podium beleidigt, bis die Versammlung im Tumult endete. Diesen Ablauf beschrieb auch Tippel: Von dieser Zeit ab wurde die Versammlung weniger eine Diskussion über ein Thema als eine Volksbelustigung, bei der Senatoren, Beamte und Maßnahmen der Verwaltung in unqualifizierter Weise kritisiert wurden. […] Der genaue Wortlaut ging in dem allgemeinen Getobe und Gejohle unter. […] Der Versammlungsleiter war der Situation leider nicht gewachsen, so sehr auch geklingelt wurde. Es schien, als verlange die Bevölkerung ihre Opfer.176

Tippel hatte dieses Protokoll für den sozialdemokratischen Bremer Bürgermeister Wilhelm Kaisen anfertigen lassen, der über den Verlauf der Veranstaltung Erkundigungen einzog und ihr gegenüber Vorbehalte hegte. Etwas diskutieren zu lassen, so Kaisen in einer Senatssitzung, sei »Sache der Parteien«.177 Er fasste die Gesprächsform also in konventioneller deutscher Perspektive als parteipolitisches Privileg und als genuin parlamentarische Praxis, an der Bürgerinnen und Bürger keineswegs beteiligt werden sollten. Kaisen sah daher keine Notwendigkeit, die Bremer Bürgerversammlung finanziell zu unterstützen, so dass sich die Veranstaltungsreihe nicht etablieren konnte.178 Ausdruck solchen Ressentiments war auch ein Rundbrief, den der Deutsche Städtetag im September 1949 an alle Landesverbände in der amerikanischen Zone mit folgendem Anliegen verschickte: In einer Mitgliedstadt sind auf Veranlassung der amerikanischen Militärregierung eine Reihe von Foren gebildet worden, die in regelmäßigen Sitzungen allgemein interessierende Fragen, insbesondere der Kommunalverwaltung, zur Erörterung stellen. Der Gemeindevorstand ist wiederholt gebeten worden, zu diesen Sitzungen einen Vertreter zu entsenden, der an Ort und Stelle, die an die Stadtverwaltung gerichteten Fragen beantworten soll. Die Mitgliedstadt hat hiergegen Bedenken, da es bei der Vielzahl der in ihr bestehenden Foren nicht möglich ist, jeweils einen Vertreter zu entsenden, der in allen an ihn gerichteten Fragen erschöpfend Auskunft geben kann. Sie befürchtet auch, daß der Vertreter der Stadtverwaltung in diesen Versammlungen

175 Baudirektor Tippel, Bericht für Herrn Präsident des Senats, Bürgermeister Kaisen, über den Verlauf der Bürgerversammlung am 22.4.1949 im Festsaal des Rathauses, Abschrift, Akte betr. Bürgerversammlungen und sonstige Veranstaltungen aus Anlaß des Wohnungsbaus, Bestand 3 W.11 Nr. 452 Quadrangel 26, StA HB. 176 Ebd. 177 Vgl. Auszug aus der Niederschrift über die Senats-Sitzung vom 9.9.1949, S. 3, Akte betr. Bürgerversammlungen in Bremen, Bestand 3 – V.2 Nr. 2992 Quadrangel 2, StA HB. 178 Vgl. Akte betr. Bürgerversammlungen in Bremen, Bestand 3 – V.2 Nr. 2992 Quadrangel 2, StA HB.

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unsachlichen Angriffen ausgesetzt sein könnte. Die Mitgliedstadt bittet um Feststellung, wie sich andere Stadtverwaltungen, in denen ebenfalls Foren bestehen, in dieser Beziehung verhalten.179

Den Deutschen Städtetag hatte also das Schreiben einer in der amerikanischen Zone liegenden Stadt erreicht, die sich gegen die amerikanische Vorgabe zur Veranstaltung von öffentlichen Foren sträubte. Die sich beklagende Stadt rekurrierte auf die mangelnde Befähigung der eigenen Gemeindevertreter, dem Volk erschöpfende Antworten zu geben, was in amerikanischer Perspektive freilich gar nicht die Funktion von Public Forums war. Solche kulturellen Missverständnisse bestätigen auch Umfragen der Militärregierung in Bayern vom Oktober 1948, bei denen unter anderem 108 Bürgermeister zu ihren Erfahrungen mit öffentlichen Diskussionsveranstaltungen befragt wurden – ein Drittel stand ihnen negativ gegenüber. Ein Bürgermeister wurde mit den Worten zitiert: »I doubt that meetings would apply to our small place. We know one another, we know our main worries – what’s the use of discussing them publicly?«180 Ein anderer erklärte: »Those darned meetings are of no value, only practical work can help us.«181 Auch hier verrät sich eine kulturell divergierende Ausdeutung von Kommunikation. Der erste Bürgermeister meinte, öffentliches Reden sei nicht notwendig, da man sich bereits kenne. Der zweite Bürgermeister polarisierte Handeln und Reden – auf deutscher Seite eine prominente Perspektive.182 Im amerikanischen Pragmatismus dagegen war Kommunikation soziale Praxis und in jeder Gemeinde zur Vergemeinschaftung unerlässlich – auch wenn man sich oberflächlich kannte, brauchte man das gemeinsame Gespräch, um andere und sich selbst besser kennenzulernen, die eigenen Interessen überhaupt herauszufinden und zu vermitteln. Wieder ein anderer Bürgermeister erläuterte in genauer Umkehrung amerikanischer Vorstellungen, dass die Deutschen erst zu Demokraten werden müssten, bevor man sie diskutieren lassen dürfe: Many people don’t have fixed ideas and differences in opinions are great; such evening of discussion would only emphasize opposing views. What we need is leadership and not discussion. Obviously, the leadership should not be dictatorial. It is my belief that such discussions are not timely right now and would not yield any positive results. If a few rowdies take part, the discussion will end up in a scandalous affair and decent citizens will keep away from any kind of a meeting.183 179 Brief von Dr. Grafe [im Auftrage], Deutscher Städtetag, Köln-Marienburg, an die Landesverbände in der amerikanischen Zone, 23.9.1949, Betreff: Entsendung von Vertretern der Gemeinde zu den Sitzungen des öffentlichen Forums, Akte betr. Bürgerversammlungen in Bremen, Bestand 3 – V.2 Nr. 2992 Quadrangel 2, StA HB. 180 Report No. 159: Bavarian Reactions to Town Hall Meetings and Public Forums, 11.2.1949, OMGUS Reports, ZA, S. 8. 181 Ebd. 182 Klassisch Schmitt. 183 Ebd. Vgl. auch Report No. 159, Bavarian Reactions to Town Hall Meetings and Public Forums, 11.2.1949, OMGUS-Reports, ZA, S. 7: »The one public meeting was called at the suggestion of the local MGO who didn’t take part. There won’t be another unless initiated

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Interessanterweise fiel das Urteil ausschließlich jener Bürgermeister, die über eigene Erfahrungen mit der Veranstaltungsform verfügten, insgesamt positiver aus. 78 Prozent derjenigen, die bereits an Town Meetings und öffentlichen Foren teilgenommen hatten, bewerteten diese in der gleichen Umfrage als »favourable«. In den Gemeinden, in denen es solche Veranstaltungen noch nicht gegeben hatte, waren es dagegen nur 22 Prozent.184 Das zeigt, dass sich die Vorbehalte gegenüber »Öffentlichen Diskussionen« durch praktische Erfahrung mitunter minimieren ließen. So erklärte einer der Befragten: »I would say such evenings are very useful although the people are quite stirred up as a result of currency reform and consequent price increases, and they are not ready yet for objective discussions. But, in general, such gatherings are very good, because they mainly serve to clear up matters.« Und ein anderer befand, »high feelings are calmed down, and the people learn the way of democracy.«185 Nicht immer jedoch ließen sich Bürgermeister und Politiker durch zunehmende Praxiserfahrung von dem Nutzen öffentlicher Diskussionsveranstaltungen überzeugen. Mitunter reagierten sie noch vor Ort ausgesprochen drastisch. So wurde der Militärregierung aus Württemberg-Baden der Fall eines Bürgers berichtet, der in einem öffentlichen Forum das Verhalten der Polizei kritisiert habe – und im Anschluss an die Versammlung wegen Beleidigung einer Amtsperson angezeigt und rechtskräftig verurteilt worden sei.186 Der Bremer Senator für das Bauwesen dagegen verbot seinen Mitarbeitern die offizielle Teilnahme an Forumsveranstaltungen. Er ließ die Anfrage des Deutschen Städtetages wie folgt beantworten: Auch in Bremen wurden eine Reihe von Foren veranstaltet, die zwar nicht in regelmäßigen, sondern mehr sporatisch [sic] stattfindenden Versammlungen zu aktuellen Tagesfragen Stellung nahmen. Es wurden dazu auch offizielle Vertreter der Stadt entsandt. Die Gesamterfahrungen sind je nach der Art des gestellten Themas sehr unterschiedlich. Es ist selbstverständlich, daß nur mitteilungsreife Angelegenheiten in diesen Foren bekanntgegeben wurden, konnten und durften. Wenn aber Fragen der Kriegszerstörung, insbesondere der Grundstücksregelung und Stadtplanung, Entscheidungen für Grundstücksankäufe usw. zur Erörterung standen, wurden, weil die by MG. I don’t think much of the idea, people show little interest, topics are sidestepped, the floor is used for personal accusations. The Landrat agrees with me.« In der Tendenz ebenfalls ähnlich ebd., S. 7: »I hardly could call it helpful. I don’t think much of it. Possibly the only effect would be that Military Government realizes that we have opinions of our own and that it is difficult for us to conceive of democracy of the American sort.«; »The idea itself is good, but it is difficult to accomplish anything. Those who come to the meetings, are too inclined to be swayed by personal feelings and to attack both the community and the mayor – as was the case here. Meetings of this kind require a political maturity on the part of the audience, which the people here don’t have. Therefore, I don’t intend to call another meeting very soon.« 184 Ebd., S. 4. 185 Ebd., S. 5. 186 Vgl. Notes on Workshop on Community Organization, Nürnberg, 17.–21.1.1949. E&CR, OMGUS, Report by N. E. Himes, 8.2.1949, Akte 1, Box 6, 390/46/12, RG 260, NARA II.

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Hauptbesucherzahl sich aus geschädigten Haus- und Grundbesitzern zusammensetzte, diese Foren sehr stürmisch z. T. tumultarisch, weshalb ich für meinen Bereich (Senator für das Bauwesen) die Anweisung gegeben habe, daß solche Foren von den mir unterstehenden Herren nicht mehr offiziell besucht werden dürfen. / Die Sie befragende Stadtverwaltung hat vollkommen Recht. Die Vertreter der Stadtverwaltungen sind nach den in Bremen gemachten Erfahrungen sehr unsachlichen und vollkommen unberechtigten Angriffen ausgesetzt worden.187

Aus all den genannten Problemen schlussfolgerten die verantwortlichen Stellen auf amerikanischer Seite aber nicht die Notwendigkeit zur Einstellung der Programme, sondern im Gegenteil ihren Ausbau. Wo »einmal eine Versammlung Erfolg gehabt hatte«, rekapituliert Gimbel, »versuchten die Amerikaner sogleich, die Deutschen für Frauenklubs, Jugendforen und andere Einrichtungen zu interessieren«.188 Vom amerikanischen Ideal abweichendes Redeverhalten wurde zum Indiz weiteren Schulungsbedarfs, der vor allem in der metakommunikativen Schulung der Organisatoren und Moderatoren gesehen wurde. Auch wenn sich Politiker störrisch zeigten, da sie in ihrer privilegierten Position nicht an Kritik gewöhnt waren, bestand unter anderen Bürgerinnen und Bürgern durchaus Interesse an »der« Diskussion. Aber es fehlte, so der Eindruck amerikanischer Re-Edukatoren, an Wissen über die Gesprächsform. Optimistisch brachte der in Bad Nauheim ansässige Leiter der Community Education Branch 1949 in einem Brief an eine amerikanische Kollegin diesen vor Ort gemachten Lernprozess mit folgenden Worten zum Ausdruck: In my many associations with German leaders in Adult Education I have found them quite willing to cooperate but they do not have any knowledge of the methods to do so. It took me nine months and many experiences to come to this conclusion. […] Therefore from now on our major emphasis is being placed on simple elementary methods of procedure, especially in such fields as group organization, community councils and discussion groups. […] There is a great deal to be done but progress is being made. I have found without exception the German people and educational leaders to be very friendly and cooperative. The so called German stubborness is not in the attitude of them but rather in their inability to use democratic procedures. This, it is our job to teach them.189

187 Brief vom Senator für das Bauwesen als Landesgeschäftsführer des Deutschen Städtetages, Bremen, gez. Theil, an den Deutschen Städtetag, Köln-Marienburg, 28.10.1949, Betreff: Entsendung von Vertretern der Gemeinde zu den Sitzungen des öffentlichen Forums, Bezug: Dort, Schreiben vom 23.9.d.J., Akte betr. Bürgerversammlungen in Bremen, Bestand 3 – V.2 Nr. 2992 Quadrangel 2, StA HB. 188 Gimbel, S. 240 f. 189 Brief von C. L. Vanderbie, Chief of Section, Adult Education Section, Community Education Branch, APO 807, Bad Nauheim, Germany, 2.6.1949, an Florence Lee Ohlsen, California, Akte 24, Box 131, 390/46/15/1-2, RG 260, NARA II.

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3. »Free discussion« als amerikanischer Minimalkonsens. Ausbau diskursiver Programme Anfangs waren Gruppen- und Forumsdiskussionen noch marginale Veranstaltungsformen innerhalb der ihrerseits marginalisierten Reeducationprogramme. Nach und nach durchzogen sie die amerikanische Besatzungspolitik aber wie ein roter Faden. Zwar ließ sich in den offiziellen Besatzungsdirektiven eine Dewey’sche Ausdeutung von mündlicher Kommunikation als Modus erfahrungsgesättigter Demokratieproduktion bis zum Ende der Besatzungszeit nicht finden. Auch die zentralen amtlichen Texte schwiegen sich in Hinblick auf eine regelrechte Diskursivierung der Deutschen konsequent aus. Dennoch durchzog dieser Gedanke die Berichte, Memoranden, Handbücher und Briefe der Offiziere, Pädagogen und Kulturvermittler vor Ort. Diskursive Programme wurden schließlich auf vier Ebenen verankert: Neben die bereits skizzierte Implementierung von Gruppen- und Forumsdiskussionen in den öffentlichen und semi-öffentlichen Raum als erster Ebene trat – zweitens – das Bildungswesen.1 Gerade in diesem Bereich wurden Umerziehungsversuche von deutscher Seite als arrogant und oberlehrerhaft empfunden und scharf abgelehnt. Pläne zur Überwindung des dreigliedrigen Schulsystems scheiterten am Widerstand deutscher Pädagogen und Kulturpolitiker,2 und von den im Rahmen der Entnazifizierung entlassenen Lehrern wurden die meisten bald wieder eingestellt.3 Die Bildungspolitik der Amerikaner zielte aber auch auf eine Dialogisierung des Unterrichts sowie des schulischen Lebens insgesamt. Diese Bemühungen waren ebenfalls nur bedingt erfolgreich, aber immerhin wurden sie keineswegs aufgegeben, sondern nach und nach genauer ausbuchstabiert. So gelang in einigen Bundesländern die Einführung von Social Studies als ein auf Gruppen- und Gesprächsarbeit angelegtes Unterrichtsfach sowie die Etablierung von Schülerarbeitsgruppen und Schülermitverwaltungen.4 Die mit amerikanischen Geldern gegründete Freie Universität Berlin ver1 Vgl. aus der Fülle der Literatur zur Demokratisierung des Bildungswesens vor allem die noch immer überzeugende Darstellung von Bungenstab, S. 69–138, mit eigenständigen Kapiteln zur Entnazifizierung und Umerziehung der Lehrer, zur Schulreform, zur Schulbuchrevision, zur Hochschulreform und zur Erwachsenenbildung; außerdem Tent, Mission, sowie als solide Regionalstudie Braun. Für die HICOG-Periode vgl. Rupieper, Wurzeln, S. 110–172, sowie Pilgert, West German Educational System. In deutsch-japanisch vergleichender Perspektive unerlässlich Rosenzweig. 2 Zu diesem wohl am besten untersuchten Bereich der amerikanischen Demokratisierungspolitik grundlegend Tent, Mission. 3 Vgl. Füssl, S. 9. 4 Im Laufe der Besatzungszeit avancierte die Aufnahme des Fachs Social Studies zu einer offiziellen Forderung. Vgl. prägnant Rupieper, Wurzeln, S. 127, sowie – bezogen auf Württemberg-

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fügte etwa über ein Studentenparlament, und mit HICOG-Geldern wurden Mensen sowie Begegnungsräume als Diskussionszentren zur Herausbildung demokratisch gesinnter Führungspersönlichkeiten gebaut.5 Symptomatisch für die bei den Reformbemühungen auf der Mikroebene entstehenden Konflikte ist ein Bericht, der die Reorientation-Behörde der Militärregierung in Bayern im August 1949 erreichte. Als Autor zeichnete ein gewisser Delbert G. Reck, der zusammen mit einem deutschen Schulrat namens Dr. Strobel die Gründung von »school discussion groups« in einer örtlichen Grundschule angeregt hatte. Zunächst veranstalteten die beiden Pädagogen regelmäßige Diskussionen im Klassenverband, bei denen sie selbst anwesend waren. Ziel sei es gewesen, »to impress upon the students the fact that they are not just so many bodies occupying benches but are students and as such are permitted to think and speak their minds«.6 In einem zweiten Schritt wandten sie sich an alle Lehrer des Landkreises, die das Diskutieren im Unterricht eigenständig anregen beziehungsweise fortführen sollten und deshalb auf ihre Rolle als Diskussionsleiter vorbereitet wurden: To add impetus to the program, we called together all of the teachers in the Landkreis and explained to them the program emphasizing the following points: (1) This was a discussion for the pupils. (2) The teacher should under no circumstances dominate the discussion, but should act only as a discussion leader. (3) Pupils should be allowed to discuss any topic of common interest. No pupil should be ridiculed for being of a different opinion. (4) If any question grew out of the discussion which could not be answered on the spot, the teacher should make every effort to find the answer.7

Je nach Perspektive bedeutete eine Umstellung von frontalen Unterrichtsformaten zu Diskussionsgruppen keineswegs eine Abwertung des Lehrers. Die betroffenen Lehrer in Bayern befürchteten aber offenbar eine Unterwanderung ihrer Autorität und reagierten misstrauisch: During the teachers’ meeting and the ensuing discussion, much scepticism was expressed. One teacher expressed his opinion before the group that he could not tolerBaden, aber zugleich die ältere Forschung zur amerikanischen Zone insgesamt rekapitulierend – Braun, S. 115–118. Vgl. außerdem Lange-Quassowski, S. 213–242; Pilgert, West German Educational System, S. 50–52. Wie die vergleichende Studie von Rosenzweig zeigt, gelang in Japan die Einführung der Einheitsschule, in Deutschland dagegen ansatzweise eine innere Demokratisierung des Schullebens. 5 Rupieper, Wurzeln, S. 143. Allgemein zur Hochschulreform siehe ebd., S. 137–153; Bungenstab, S. 115–128. Zur Geschichte der Freien Universität als Grundlage noch immer hilfreich Tent, Freie Universität Berlin. Zu Versuchen der Integration der Politischen Wissenschaften in den westdeutschen Universitätsbetrieb siehe Marsen. 6 News and Views. Reorientation in the Field, Issue No. 14, 15.8.1949, OMG Bavaria, Reorientation Staff, o. S., Akte 2, Box 2, 250/72/13/3, RG 466, NARA II. 7 Ebd.

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ate a 12 year old adolescent standing in class and expressing an opinion in opposition to the teacher. We told him that it was exactly that attitude we were trying to overcome by instilling the idea of freedom of speech in the pupils.8

Es scheint unwahrscheinlich, dass sich das Misstrauen durch solche Worte reduzieren ließ – eher bestätigten sie die Befürchtung, die Autorität von Lehrern solle minimiert werden. Die Initiative war entsprechend nur bedingt erfolgreich. Nach einigem Hin und Her, so informierte der Bericht weiter, hätten sich zwar alle darauf verständigt, »to give the program a try and the Schulrat set the last hour each week as a free discussion hour«.9 Seitdem seien Diskussionen fortgeführt worden, einige Lehrer würden sogar über eine gute Entwicklung und ein wachsendes Interesse berichten. Stichproben ergaben aber, dass sich am Unterrichtsstil insgesamt wenig veränderte. Persönliche Besuche im Unterricht, fuhr der Autor fort, »revealed many to be still in the question and answer stage«.10 Die Versuche einer Diskursivierung des Schullebens erfolgten gerade in der HICOG-Periode nicht qua amtlicher Anweisung, sondern eher, indem sich Vertreter des Hochkommissariats zusammen mit internationalen Erziehungsexperten an deutsche Lehrerinnen und Lehrer wandten und versuchten, diese durch Diskussionen von Diskussionen zu überzeugen. 1950 organisierte HICOG einen sechswöchigen Workshop über die »Gestaltung des sozialkundlichen Unterrichts in der deutschen Schule«, an dem über hundert deutsche Lehrer aller Bildungsstufen teilnahmen. Sie kamen hier mit ausländischen Pädagogen in Kontakt, die keineswegs nur aus den USA, sondern auch aus England und aus Skandinavien angereist waren. Zu den im Workshopbericht fixierten Ergebnissen gehörte unter anderem die Erkenntnis, dass die »Diskussion und ihre Methoden« eine zentrale »Rolle im Aufbau und im Bestand der Demokratie« spielten: »Ihre Pflege in der Schule muß daher zu einem wichtigen Bestandteil der modernen Erziehung in Sozialkunde werden«.11 Die sich anschließende Omnipräsenz des Terminus »Diskussion« im Workshopbericht mag heutige Leserinnen und Leser ermüden, sie verweist aber auf die enorme Bedeutung, die die Autoren dieser Gesprächsform – zur Methode nobilitiert – zusprachen. Argumentative Gespräche seien »in allen Unterrichtsgebieten« anzuwenden, denn Kinder dürften »nie das Fragen verlernen«, sondern sollten vielmehr üben, »immer frei ihre Meinung zu sagen« und »die Meinung des anderen anzuhören«. Vor diesem Hintergrund sollte »Diskussionsmethode« sogar »als besonderes Fach für Fortgeschrittene« geschaffen, Schüler ab dem 9. Schuljahr in schulischen Diskussionsgruppen, Wochenendkreisen und Ähnlichem organisiert werden. Der Workshopbericht nannte 8 9 10 11

Ebd. Ebd. Ebd. Internationale Arbeitsgemeinschaft für Sozialkunde in Heidelberg, S. 94.

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ferner Regeln und Ziele argumentativer Gespräche, die in der Praxis möglicherweise auftretenden Probleme, und er erörterte Voraussetzungen für den Einsatz von »Diskussion als Unterrichts- und Erziehungsprinzip«. Das Thema müsse die Teilnehmer interessieren, der Lehrer solle mit wachsender »Diskussionsfähigkeit der Gruppe« langsam zurücktreten, am Ende eines Gesprächs sollten die Ergebnisse beziehungsweise die verschiedenen Stellungnahmen festgehalten werden, und es gelte die »Betonung des Gemeinsamen unter Achtung der gegensätzlichen Meinungen«. Schließlich wurde festgehalten, Lehrer müssten selbst das Diskutieren lernen, bevor sie es im Unterricht einsetzen könnten. Dazu sollten »Kurse zur Heranbildung von guten Diskussionsleitern« ebenso dienen wie »Diskussionsgruppen unter den Lehrern«.12 Im Bildungsbereich stand neben der Arbeit in Schulen und Hochschulen die Erwachsenenbildung sowie die offene Jugendarbeit. Die mit amerikanischen Geldern gegründeten Jugendhöfe, in denen »Diskussionsleiter« an die Stelle von »Führern« treten sollten,13 setzten eine formale Dialogisierung von Programm und Organisationsstrukturen genauso durch wie die nach dem Krieg neu eröffneten Volkshochschulen.14 Viele Erwachsenenpädagogen nahmen an Kursen teil, die sie in Diskussionstechniken einüben sollten – das war jedenfalls das explizite Ziel der Community Education Branch.15 Und das HICOG-Büro in Bayern berichtete im August 1951 ausführlich über eine zweitägige Konferenz über Diskussionstechnik für ausgewählte Jugendliche des Bezirks, an der 19 Jungen und Mädchen teilgenommen hätten. »But even though it was primarily a six hour lecture on techniques«, so der überraschende Befund, »the youth responded very enthusiastically throughout the day.« Außer der aktiven Teilnahme wurden die vor Ort bereits erzielten Fortschritte betont, welche die Jugendlichen gemacht hätten, und zwar nicht nur durch theoretische Vermittlung, sondern auch durch Praxis. Der zweite Tag, so hieß es weiter, »was devoted to practice discussion sessions led by each of the participants in turn«.16 Bei Tonband12 Ebd., S. 94 f. 13 Group Discussion for German Youth Groups, S. 12. 14 Zu den Volkshochschulen siehe noch immer Bungenstab, S. 129–138. Für die Jugendarbeit siehe vor allem Füssl, S. 148–167; Klönne, Pädagogische ›Verwestlichung‹, S. 25 f. 15 »It is the aim of this department to assist German adult education leaders to organize groups and classes such as forums and discussion and self-expression. Forums and discussion groups are a really excellent device to bring this about. In addition to encouraging the setting up of forums and discussion groups much needs to be done to train the leaders in the techniques of this type of procedure. Hence training courses for leaders will be a major factor in this program.« Vgl. Information – Community Education Branch, 16.6.1949, S. 4, Akte 4, Box 4, 390/46/12, RG 260, NARA II. 16 W. Rhyne, District Officer, Office of The United States High Commissioner for Germany, Office of Land Commissioner for Bavaria, District V, Augsburg, Public Affairs Highlights for August 1951, S. 7, Akte 3, Box 2, 250/72/13/3, RG 466, NARA II. Das »Information Bulletin« berichtete beispielsweise im Mai 1949 unter dem Titel »Training Youth Leaders« über eine Reihe von Kursen für Jugendliche im Rahmen der Reorientation, die »emphasized particularly free, non-partisan discussion of political issues […]«. Lam, S. 17.

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aufnahmen von Diskussionsveranstaltungen mit Jugendlichen ist immerhin deren rege und zugleich äußerst disziplinierte und sachorientierte Teilnahme auffällig.17 In welchem Maße es sich hier bereits um das Ergebnis entsprechender Schulungen handelt, ist offen. Aber die amerikanischen Akteure waren jedenfalls in diesem Bereich mit ihrer Arbeit zufrieden. Als Fazit des zweitägigen Kurses für Diskussionstechnik in Bayern hieß es: »The value of this method was apparent as each discussion was better than the last. […] The course was described by all as a complete success. Participation by practically every youth was enthusiastic, sincere and thoughtful.«18 Parallel zu solchen als positiv gedeuteten Erfahrungen mit diskursiven Programmen gewannen im Verlauf der Besatzungszeit jene Re-Edukatoren die Oberhand, die auf autoritäre Vorgaben möglichst verzichten wollten – und auch das erleichtete die Aufwertung der Gesprächsform. Das war in der Bildungspolitik besonders deutlich. Auf einer Konferenz der Erziehungsabteilung der Militärregierung im Oktober 1948 entwarf Alonzo Grace, neuer Leiter der Abteilung, die Parole »from directive to persuasion« und erläuterte, noch niemals habe eine Besatzungsarmee einem anderen Volk mit Erfolg ein System von Kultur und Bildung zwangsweise übergestülpt.19 Grace wandte sich scharf gegen eine strukturelle Reform des Schulwesens und plädierte stattdessen dafür, die Zusammenarbeit mit den Deutschen unterhalb der offiziellen Regierungsebene zu intensivieren und den Aufbau von Institutionen und Organisationen in Deutschland zu unterstützen, um demokratisch orientierte Personen zu fördern. Das war einerseits Hinweis auf die Zurücknahme der einst ambitionierten und zudem autoritären Umerziehungspläne und damit auch Eingeständnis eines Scheiterns. Je nach Perspektive ist statt einer Aufweichung aber andererseits auch eine Fokussierung amerikanischer Umerziehungsambitionen zu erkennen, und zwar auf einen Handlungsmodus, der als Inbegriff demokratischer Lebensform galt: überzeugen hieß diskutieren. Neben die gezielte Diskursivierung des Gemeindelebens und des Bildungssystems trat – als dritte Ebene – das Bemühen um eine Diskursivierung der Massenmedien.20 So wurden die von den USA kontrollierten Rundfunksender zur Ausstrahlung von Diskussionssendungen aufgefordert, wobei man sich 17 Vgl. Jugendforum Radio Frankfurt [1947], Arbeitsdienst oder freiwilliger Wiederaufbau, Tondokument 4672077, HA HR; Öffentliche Diskussion über die Schuld der Jugend im Dritten Reich, 2.8.1946, Tondokument B 004887364, DRA; Jugendforum, 13.10.1947: Jugend und die Parteien, Tondokument B002410340, DRA. 18 W. Rhyne, District Officer, Office of The United States High Commissioner for Germany, Office of Land Commissioner for Bavaria, District V, Augsburg, Public Affairs Highlights for August 1951, S. 7, Akte 3, Box 2, 250/72/13/3, RG 466, NARA II. 19 Vgl. dazu Bungenstab, S. 139. Diesen Wandel postulierte Grace auf der Berchtesgadener Erziehungskonferenz (8.–12.10.1948). Dazu ebd., S. 45–56; Braun, S. 40–45. 20 Bereits die Neugestaltung des Zeitungswesens mit einer klaren Trennung von Nachricht und Kommentar diente, so prägnant Doering-Manteuffel, Dimensionen, S. 17, »dem Erziehungsziel, erfahrbar zu machen, was ›Diskussion‹ ist«.

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einen informell-freundlichen Redestil ohne Befehlston wünschte, wie ihn etwa Peter von Zahn beherrschte.21 Der Organisation von im Rundfunk übertragenen, öffentlichen Diskussionsveranstaltungen war, wie oben gezeigt, teilweise ein recht guter Erfolg beschieden.22 Studiogespräche, so die Kritik von amerikanischer Seite, fielen für amerikanischen Geschmack dagegen häufig zu abstrakt und wenig lebendig aus.23 Auch diese Sendungen sollten aber der Werbung für die dabei zur Anwendung kommende kommunikative Gattung dienen. Sogar Lucius D. Clay erhoffte sich von Gesprächen im Radio einen mimetischen Lerneffekt der Hörerschaft und stilisierte sie zu einem effektiven Begleitprogramm der Kurse für Diskussionsleiter. Er erklärte im Februar 1947: In coordination with local GYA officers, radio control officers at each of the stations have developed both round-table and forum-type discussion programs. However, it is believed that such activities could be usefully extended. […] Such programs have two main advantages: a. They promote democratic attitudes by encouraging respect for difference of opinion and by decreasing uncritical acceptance of various proposals inherent in public issues. b. They assist in the training of leaders of discussion groups, one of the great needs in Germany today for the promotion of democratic thinking.24

Viertens und letztens ist die Kulturpolitik zu nennen, die im Verlauf der Besatzungzeit zunehmend an Bedeutung gewann. Als mit der Besatzungsdirektive JCS 1779 vom Juli 1947 eine gezielte Demokratisierungspolitik endlich auf höchster Ebene bestätigt wurde, stand dahinter der sich unübersehbar zuspitzende Ost-West-Gegensatz. Entsprechend ging es nun nicht mehr allein um die Überschreibung nazistischer Verhaltensmuster, sondern um eine Immunisierung gegen sowjetische Propaganda und um kräftige Werbung für die USA.25 Vor allem eine antikommunistisch orientierte Kulturarbeit sollte im Zeitalter des Kalten Krieges für den American Way of Life Werbung machen. Das führte zu einer Aufwertung und zu einer Funktionserweiterung der Kulturarbeit. Mit Amerika häusern und Austauschprogrammen wurden hier zwei Initiativen umgesetzt, die als überaus erfolgreich gelten, über Jahrzehnte fortgesetzt wurden – 21 Vgl. bereits frühzeitig den Zook-Report. Auf Diskussionssendungen im Programm der US-kontrollierten Rundfunksender verweist am Beispiel Stuttgarts Lersch, S. 77–92. Vgl. auch Bausch, Kulturpolitik, S. 149–152. Grundlegend zur Rundfunkpolitik nach 1945 noch immer Bausch, Rundfunkpolitik. Siehe auch Mettler; Hartenian. Zu Peter von Zahn als Paradebeispiel einer »new voice« siehe Badenoch, S. 92–109. Breiter zu von Zahns Schaffen vgl. Nathans. 22 Vgl. das vorherige Kapitel zu den öffentlichen Foren. 23 Vgl. Fischer, S. 216 f. 24 Lucius D. Clay [Memo]: Teaching Discussion Methods by Radio to Promote Democratic Attitudes, Februar 1947, Akte 24, Box 122, 390/46/14-15/6-1, RG 260, NARA II. 25 Zum Wandel der Reeducation- und Kulturpolitik vor dem Hintergrund des sich verschärfenden Ost-West-Gegensatzes siehe knapp Hein-Kremer, S. 254–259, sowie die Studie von Gienow-Hecht, welche die Ambivalenzen der Umorientierungspolitik herausarbeitet.

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und die beide über eine kommunikative Dimension verfügten. Denn im Rahmen der Austauschprogramme durften ausgewählte Pädagogen, Politiker und andere Teile der Führungseliten sowie Schüler und Studenten in die USA reisen, womit sich auch die Hoffnung verband, sie für amerikanische Kommunikationskultur einzunehmen. Unter dem Titel »The Establishment of Forums and Discussion Groups« berichtete etwa die Community Education Branch im Juni 1949, zwanzig Deutsche seien in die USA gegangen, »to study adult education programs, including forums and discussion groups and to influence German adult education programs as a result of their observation«.26 Entsprechend wurden auch Amerikaner nach Deutschland eingeladen, um hier über Diskussionstechnik zu berichten.27 Neben den Austauschprogrammen bildeten die Amerikahäuser das langfristig erfolgreichste Fundament amerikanischer Kulturarbeit.28 Nach dem Jahreswechsel 1946/47 hatten die zunächst als »U. S. Information Center« bezeichneten Häuser gegenüber dem ursprünglich im Zentrum stehenden Bibliothekswesen mit einem Erweiterungsprogramm begonnen, und 1950 gab es bereits insgesamt 27 eigenständige »Amerikahäuser«.29 Das von Anbeginn bestehende Angebot an Diskussionsgruppen wurde in diesem Rahmen nach und nach ausgebaut.30 Es erfreute sich regen Zulaufs, wobei der Flyer des Amerikahauses in Bremen von der Jahreswende 1951/1952 mit dem Angebot, das Diskutieren zu lernen, regelrecht Werbung betrieb: Lieber junger Amerika Haus Besucher. Im Januar 1952 startet das Amerika Haus Bremen zwei neue Diskussionsgruppen, die, wie wir hoffen, auch unter Ihnen viele Interessenten finden werden. Die eine Gruppe befasst sich mit Gegenwartsfragen und wird unter dem Titel »Zwischen den Schlagzeilen« von dem bekannten Kommentator von Radio Bremen, Hans-Herbert Westermann, geleitet. Ohne sich auf irgendeine spezifische politische Richtung festzulegen, soll hier jungen Menschen die Gelegenheit gegeben werden, sich zwanglos über Gegenwartsprobleme zu informieren und sich gleichzeitig in der Diskussion zu ueben.31

26 Information – Community Education Branch, 16.6.1949, S. 15 f., Akte 4, Box 4, 390/46/12, RG 260, NARA II. Zu den Austauschprogrammen siehe neben der zeitgenössischen Bestandsaufnahme von Kellermann, Cultural Relations, vor allem Schmidt, Civil Empire, sowie Puaca. 27 »American women experts in the area of civic participation to conduct discussion groups with women’s organizations. (3) American experts in the area of teacher training to conduct courses in teaching methods, with considerable emphasis on forum and discussion techniques.« Information – Community Education Branch, 16.6.1949, S. 15 f., Akte 4, Box 4, 390/46/12, RG 260, NARA II. 28 Grundlegend zu den Amerikahäusern Hein-Kremer; Schildt, Abendland, S. 167–195. 29 Zum Ausbau und zur Funktionserweiterung siehe Hein-Kremer, S. 178–343, insbesondere S. 229–253. 30 Vgl. zahlreiche verstreute Hinweise ebd., S. 265–283. 31 Flyer o. T., in: Programs, Amerika-Haus I, 1951, Okt. – [unleserlich], Bestand 9, S 9-16-1, StA HB.

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Die Amerikahäuser boten kulturelle und politische Information, sie zielten damit aber immer auch auf Einschreibung demokratischer Verhaltensweisen.32 Wie ein Meinungsaustausch in der Gruppe zu führen sei, wurde in diesem Rahmen praktisch erfahren – und explizit erläutert. Die in den Amerika häusern eingerichteten Diskussionsgruppen widmeten sich wöchentlich wechselnden Themen, wozu auch »Form und Sinn einer Diskussion« selbst zählen konnte.33 Und die Mitarbeiter der Amerikahäuser erhielten schon im Frühjahr 1947 die explizite Anweisung, die Deutschen an eine Regierungsform zu gewöhnen, »based on a free and open discussion of public issues as compared to a form of government directing a people’s thinking and forms of expression […]«.34 In diachroner Perspektive ist insgesamt auffällig, dass sich die kommunikative Gattung Diskussion von einem randständigen zu einem omnipräsenten Modus amerikanischer Demokratisierungspolitik entwickelte. Neben der Funktionserweiterung amerikanischer Kulturarbeit im Zeichen des Kalten Krieges wirkten sich vermutlich die relativ positiven deutschen Reaktionen günstig auf die Programme aus, verknüpft mit dem auf amerikanischer Seite entstehenden Eindruck, dass die Deutschen zwar eifrig, wenngleich unbeholfen und ohne Kenntnis amerikanischer »discussion technique« diskutierten. Dass sich die Gesprächsform gleichsam als Minimalkonsens der unterschiedlichen Fraktionen auf amerikanischer Seite durchsetzte, verdankte sie aber auch ihrer Ambivalenz: Diskussionen konnten sowohl als Methode habitueller Umerziehung wie als Verzicht auf diese interpretiert werden, da ja allen Beteiligten die Möglichkeit blieb, sich »frei« zu äußern. Die erste Perspektive ermöglichte ambitionierten amerikanischen Re-Edukatoren, denen in ihrer eigenen Besatzungsmacht immer wieder die Marginalisierung drohte, diskursive Programme voranzutreiben und für beeindruckende Erfolgsmeldungen zu nutzen. Die zweite Perspektive machte Diskussionen auch jenen amerikanischen Akteuren akzeptabel, die eine programmatische, auf den Habitus zielende Umerziehungspolitik für unnötig, unmöglich oder paradox hielten. Das zeigt das Beispiel Shepard Stones, der eingangs bereits zitierte Mitarbeiter des amerikanischen Hochkommissariats. Er stand autoritären Demokratisierungsversuchen durchaus ambivalent gegenüber. In einem Brief an seine Familie aus dem Jahr 1950 erklärte er aber gleichwohl oder gerade deswegen: 32 Hein-Kremer, S. 252, übersieht dagegen diesen Zusammenhang in ihrer Bemerkung, die Aktivitäten der Amerikahäuser hätten nicht auf Indoktrination gezielt, sondern primär darin bestanden, den Deutschen aus ihrem geistigen Isolationismus zu helfen, sie über die naturund geisteswissenschaftlichen Forschungsleistungen zu informieren und außerdem einen Querschnitt durch die kulturellen Leistungen der USA zu liefern. 33 Vgl. etwa »Women’s Activities: Time and Frequency: weekly; Name of Group: Women’s Club; Description of Activity: Discussion of various topics: ›Stellung der Frau im engl. Leben und der engl. Frauenbewegung‹, ›Form und Sinn einer Diskussion‹, ›Bonner Grundgesetz‹ total monthly attendance: 163«, U. S. Information Center Kassel, Library Data Report, Mai 1950, Akte: Library Data Reports USICS, Box 4, 250/72/18/2-3, RG 466, NARA II. 34 Zit. n. Hein-Kremer, S. 281.

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The big problem is to make Germany a country upon which you can rely to be peaceful and anti-totalitarian. If that can be accomplished [in] the next ten years, it will be a major achievement. Again, I say I must try. And those of us here, using our energies and what ability we have, try to do our best. There is nothing like free and open discussion, social contact, friendliness with the people of good will. I don’t know if we are getting very far, but I’m certain we are on the only track that may lead in the right direction.35

35 Zit. n. Berghahn, America, S. 58.

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4. Diskussionstechnik als deutsches Novum? Metakommunikative Programme Von der Doppeldeutigkeit der kommunikativen Gattung Diskussion als Instrument von Reeducation wie als Verzicht auf asymmetrische Propaganda hat sich das Gros der Forschung in die Irre führen lassen. Meist werden die in der amerikanischen Besatzungszone geführten informellen Gespräche, semi-öffentlichen Gruppendiskussionen sowie öffentlichen Diskussionsveranstaltungen lediglich als Foren der deutsch-amerikanischen Kontaktaufnahme, der politischkulturellen Information, mitunter auch als Form der politischen Partizipation gelesen. Die Gesprächsform erscheint als neutrale Hülle, innerhalb derer die entscheidenden Sachverhalte vermittelt und ausgehandelt wurden. Zeitgenossen sahen das noch anders. 1961 legte Alfons W. Hilgers eine philologische Dissertation zur Begriffsgeschichte parlamentarischer Termini vor, in der er eine nur vorübergehende Konjunktur von Ratgeberheften zum »Diskutieren« in der unmittelbaren Nachkriegszeit feststellte und zum Entstehungskontext erläuterte: Natürlich konnte es nicht ausbleiben, daß gerade die Amerikaner in ihrem Fortschrittsoptimismus versuchen würden, die von ihnen mit so großem Aufwand und auch mit etlichem Erfolg entwickelte Methode der discussion nun auch in Deutschland anzusiedeln. Es muß heute mit Bedauern festgestellt werden, daß diese Versuche meist in höchst ungeeigneter Form vorgenommen wurden und daher auf die Dauer keinen Erfolg haben konnten.1

Dass Diskussionen zumindest einem Teil der Re-Edukatoren nicht als in ihrem Verlauf und ihren Effekten kontingente, »freie« Gespräche, sondern als wissenschaftlich ausbuchstabierte und legitimierte Methode der Einübung demokratischer Handlungs- und Deutungsmuster galten und damit als intrinsisch wertvoller Selbstzweck, lässt sich besonders deutlich an metakommunikativen Ratgebertexten und Filmen veranschaulichen, die in dem Gebiet der amerikanischen Besatzungszone zirkulierten – und von denen Alfons W. Hilgers einige untersucht hatte. Diese Texte und Filme, die teilweise auch in Kursen zur Diskussionstechnik eine Anwendung fanden, waren auf amerikanischer Seite besonders umstritten. Ihre Analyse ist daher geeignet, um die Skepsis und die Konflikte innerhalb der Besatzungsmacht noch einmal zu verdeutlichen. Auf deutscher Seite dagegen war die metakommunikative Dimension der Demokratisierungspolitik besonders willkommen. Amerikanisches Know-how über »Diskussionstechnik« wurde vor allem von praktisch tätigen Pädagogen und Erziehungswissenschaftlern zu einem der deutschen Gesellschaft genuin 1 Hilgers, S. 183 f.

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Neuen und dringend benötigten Gut stilisiert, mit dem sich aggressiver Schlagabtausch nach Weimarer Art verhindern, Meinungsdifferenz und Gemeinschaftsdenken verbinden lasse. Zugleich eigneten sich Pädagogen und Erziehungswissenschaftler die Idee einer regelrechten Diskussionstechnik kreativ an, bezogen sie auf die deutsche Situation und entwickelten die amerikanischen Vorlagen eigenständig weiter.

4.1 »Die Kunst der Diskussion«. Ratgeberliteratur für kompromisslose Deutsche? Texte über das Diskutieren kamen als Fortbildungsmaßnahme für amerikanische Diskussionsleiter nach Deutschland, die argumentative Gespräche nicht nur anregen, sondern auch subtil kontrollieren sollten. Doch diese Literatur blieb keine Geheimwaffe der Besatzungsmacht. Im Gegenteil: Die Lektüre wurde den Deutschen zur Nachahmung empfohlen. Mit leichter Verspätung kursierte in der amerikanischen Besatzungszone entsprechende deutschsprachige Literatur, wobei amerikanische Vorlagen teilweise schlichtweg übersetzt, meist aber auch ergänzt und damit in den deutschen Kontext eingebettet wurden. Beispielsweise veröffentlichte der in München ansässige Leibniz Verlag, zuvor R. Oldenbourg Verlag, 1948 mit Genehmigung der Militärregierung ein knapp 60 Seiten umfassendes Büchlein über die »Die Kunst der Diskussion«. Darin fand sich die deutsche Übersetzung eines amerikanischen Ratgeberheftes zum Thema »How to Lead Discussions. A Guide for the Use of Group Leaders«, den der an der Columbia University tätige Erziehungswissenschaftler Le Roy E. Bowman verfasst hatte und das in den USA 1946 bereits in achter Auflage erschienen war. Daneben wurde eine Übersetzung jener »Merksätze für die Praxis« abgedruckt, die das United States Department of Agriculture im Rahmen des New Deal erarbeitet hatte und die von der Education and Religious Affairs Branch 1946 angefordert worden waren. Schließlich enthielt das Büchlein den Essay eines deutschen Pädagogen, Joseph H. Pfister, zur Geschichte argumentativer Rede seit der Antike.2 Warum wurden den deutschen Leserinnen und Lesern solche metakommunikativen Hinweise überhaupt gegeben? Zunächst dürften einige Amerikaner aus ihrer heimatlichen Bildungsarbeit wie selbstverständlich mit dem Gedanken vertraut gewesen sein, Diskussionspraxis stets durch metakommunikative Erläuterungen zu begleiten. Die Dringlichkeit solcher Informationen wurde subjektiv allerdings durch den Eindruck erhöht, bestimmte Diskussionsformate und -regeln sowie die Idee einer spezifischen Diskussionstechnik seien 2 Vgl. Die Kunst der Diskussion. Zu den amerikanischen Vorlagen vgl. United States Department of Agriculture, What is the Discussion Leader’s Job; Bowman, How to Lead Discussions.

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den Deutschen nicht bekannt.3 Man bemerkte eine »initial German inaptitude in the technique of discussion«4 oder beobachtete, »techniques of group processes such as parliamentary practises […] discussion and forum techniques« seien »virtually unknown.«5 Zugleich bestätigten Deutsche willfährig den Eindruck, das Diskutieren sei hierzulande regelrecht von der Pieke auf zu lernen: Im Juni 1949 fand ein Seminar der Militärregierung statt, das Bürgermeister über das neu ins Leben gerufene Open-Forum-Programm informierte – und der Bürgermeister von Mannheim erklärte dazu, »that the Germans were at fault in not having learned to listen to what the other has to say«.6 »In Deutschland«, konstatierte auch ein 1947 von einem deutschen Autor verfasstes Büchlein mit dem Titel »Ratschläge für Diskussionsgruppen«, habe »man kaum mit dem Diskutieren Erfahrung, geschweige denn mit Methoden, seine Ergebnisse öffentlich wirksam zu machen. Die hier erörterte Weise des öffentlichen Wirkens liegt dem Deutschen vielleicht auch seiner Wesensart nach ferner.«7 Das betonte auf andere Weise auch der bereits erwähnte Aufsatz von Joseph H. Pfister. Pfisters geistesgeschichtliche Skizze über argumentativen Meinungsaustausch mit dem Titel »Diskussion – Turnier des Geistes« setzte in der griechischen Antike bei Sokrates, Platon und Aristoteles sowie bei den jüdischen Tempelschulen ein. Von hier zog Pfister eine Linie zur mittelalterlichen Scholastik und gelangte über Thomas von Aquin, Martin Luther und katholische Konzilien schließlich zum englischen Parlamentarismus. Von England und Frankreich aus sei das Diskutieren dann »auch nach Amerika gebracht worden«, wo es unter den Bedingungen eines intensivierten Gemeinschaftslebens und einer größeren Einzelverantwortung eine »neue Blütezeit« erlebte.8 Gleichwohl seien Platons Dialoge »die klassischen Vorbilder der Diskussionsmethode bis zum heutigen Tag«, wobei diese Traditionslinie in Deutschland abgerissen sei: Mit der Redekunst ist auch die Diskussion außer Übung gekommen, und man weiß heute kaum noch, daß sie von der Antike bis in die Neuzeit eine legitime Forschungs-, Lehr- und Lernmethode war, die den Charakter des abendländischen Denkens grundlegend bestimmt hat, ja, daß sie ein Wesenselement des abendländischen Geistes ist. Diese Behauptung wird viele überraschen – und manche verstimmen, jene nämlich, die glaubten, sie könnten die ehrlichen Bemühungen fortschrittlicher Pädagogen, die Diskussion wieder als reguläre Lehrmethode in Schule und Hochschule, Jugend- und Erwachsenenbildung einzuführen, mit den bekannten Femeworten »neumodisch«, 3 Eine in Bremen gegründete Arbeitsgruppe zur Veranstaltung von Public Forums führte aus, »that the Panel Discussion technique has greater possibilities in Germany than any other form of discussion because 1.) it is new to the German people, and 2.) it provides optimum use of time for individual discussion«. E&CR Committee on Forum Planning, First Progress Report, 18.8.1949, Akte: Highlights 1949, 6/58-1/33, OMGBR E&CR Div., Bestand 16,1, StA HB. 4 Zook-Report, S. 59. 5 Lam, S. 17. 6 An., Open-Forum Seminars, S. 21. 7 Dietrich, S. 16. 8 Pfister, S. 54, Hervorhebung im Original.

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»ausländisch« usw. leichtweg in Verruf bringen. Gelingt der Nachweis, daß die Diskussion ebenso alt und ehrwürdig ist wie die abendländische Kultur und daß sie unseren Geist entscheidend geformt hat, dann dürften diese Einwände wohl erledigt sein.9

Pfister wollte offenbar die »abendländische« Herkunft der »Kunst der Diskussion« herausstellen, um deren symbolisches Kapital in der deutschen Gesellschaft zu erhöhen.10 Parallel stilisierte er sich als fortschrittlichen Pädagogen, der sich jenen Kollegen in den Weg stellte, welche Diskussionstechnik als neumodische oder sogar ausländische Angelegenheit abzuwiegeln suchten. Die »Renaissance« argumentativer Gespräche im öffentlichen Leben und als Lehrmethode an den Schulen, Hochschulen und in der Erwachsenenbildung, so sein Fazit, würde »einer der schönsten und gewichtigsten Beiträge sein, die von der Erziehung aus für das große Ziel geleistet werden kann, unser Volk endlich mündig, reif und frei zu machen, so wie die Lehrer der Weisheit das Menschenbild von jeher gezeichnet haben«.11 Noch in den fünfziger Jahren zogen westdeutsche Erwachsenenpädagogen diesen Aufsatz heran, um zu zeigen, »dass die Kunst des Gesprächs nicht eine Erfindung der Neuzeit« sei.12 Die Publikation solcher Texte ging auf die amerikanische Besatzungsmacht zurück. Sie kontrollierte seit Kriegsende den gesamten Buchmarkt und zählte zu ihren Aufgaben sowohl die »guidance of German publishers in the production of books and magazines which are effective in the democratic reeducation of Germany« als auch: »Stimulating German publishers of items considered essential to Military Government«.13 Vor diesem Hintergrund entstanden in den ersten Besatzungsjahren mehrere Texte, die sich mit »der« Diskussion beschäftigten, wobei stets der mündlich geführte Meinungsaustausch in der Gruppe oder in öffentlichen Veranstaltungen gemeint war.14 Die besonders stark verbreitete Kompilation »Die Kunst der Diskussion«, so die Anregung zweier Mitarbeiter der Militärregierung, sollte zum Beispiel in Bremen an alle »elementary and secondary parent group[s]« der Stadt verteilt werden, und zwar mit der Maßgabe: »that each parent group devote at least one meeting to the text of this book«. Außerdem sei das Buch im Schulunterricht im Rahmen des »new Social Studies Course for the 8th year of the Oberschule« einzusetzen.15 Ent9 Ebd., S. 49 f. Hervorhebung im Original. 10 Zum Abendland-Topos in öffentlichen Diskursen der Nachkriegszeit siehe Schildt, Abendland, S. 20–83. 11 Pfister, S. 58. 12 Kelber, Fibel, S. 121. 13 Plans & Directives Branch, Information Control Division, Office of Military Government for Germany (U. S.), 19.9.1947, Akte: Misc. Documents 1, Box 6, 390/46/12, RG 260, NARA II. 14 Vgl. u. a. Dietrich; An., Führer für Diskussionsleiter; An., Gruppen-Diskussionen; [Damaske], Diskussion; Köhler. Weitere Literaturangaben bei Hilgers, S. 183–187; Kelber, Fibel. 15 James R. Mitchell, Secondary Education OMG, and Floyd A. Hines, Elementary Education OMG, to Mr. Schulke, E. S.C, 21.1.1949, Carrier Sheet, Office of Military Government for Bremen, Akte: Mr. Crabill 1949, 6/56–3/34, OMGBR – E&CR Div., Bestand 16, 1, StA HB.

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standen war es mit Hilfe der amerikanischen Militärregierung, die es für 1,50 DM zonenweit vertrieb und verkündete: »This booklet will fill a need long apparent in this field.«16 Ratgeberliteratur wurde nicht nur vom Amerikanischen ins Deutsche übersetzt, sondern teilweise auch eigens für die Besatzungszone verfasst. Schon 1947 erschien eine Broschüre auf Deutsch und Englisch, die sich als »Leitfaden« für jene präsentierte, »die das Interesse und die Fähigkeit haben, der deutschen Jugend zu helfen, Diskussionen innerhalb ihrer Verbände und Organisationen in demokratischer Form durchzuführen. Da eine schlechte Diskussion schlimmer als gar keine ist, sollten Leute, die dieser Voraussetzung nicht genügen, weder helfend noch als Teilnehmer oder Leiter bei Gruppendiskussionen mitwirken.«17 Autoritär mahnend wurde also Diskussionskompetenz zur conditio sine qua non für die Leitung von Jugendgruppen erhoben. Zugleich antizipierte die Broschüre, das Wesen einer amerikanischen »discussion group« sei den deutschen Lesern nicht bekannt, und erläuterte daher in knappen Worten: »Alle Gruppen haben Probleme, die sie besprechen müssen (Gruppendiskussion).« Es gebe »allerdings auch Gruppen, die eigens zum Zwecke der Diskussion geschaffen wurden (Diskussionsgruppen)«.18 Anschließend beschrieb das Heft detailliert die Voraussetzungen einer »guten Diskussion«, wobei die Aufgaben des Moderators, die heterogene Zusammensetzung der Gruppe, die Begrenzung von Zeit und Thema behandelt sowie Tipps zur Schaffung eines angenehmen Gesprächsklimas und einer vertrauensvollen Atmosphäre geliefert wurden. »Wer diese Grundsätze meistert«, so die Verheißung, »und ihre Annahme fordert, verfügt über die einzige wirkliche Macht, den Weltfrieden zu erhalten – AUSSPRACHE IN DEMOKRATISCHER FORM!« beziehungsweise: »DEMOCRATIC DISCUSSION!«19 Eine »gute Diskussion« sei »Selbstregierung«, eine »schlechte Diskussion« dagegen »Diktatur« – so die Quintessenz des Heftes.20 Die Adressaten der metakommunikativen Literatur waren einerseits die Leiter von semi-öffentlichen Diskussionsgruppen oder öffentlichen Diskussionsveranstaltungen. Als ein »besonders deutsches Problem« von Diskussionsgruppen galt nämlich dem soeben zitierten Ratgeberheft »die Tatsache, dass die Aufgaben des Diskussionsleiters, wie sie in diesem Leitfaden beschrieben werden, im direkten Gegensatz stehen zur Tätigkeit des Führers, wie sie von den Nationalsozialisten dargestellt wurden«.21 So enthielt auch die Kompilation »Die 16 Herbert T. Schulke, Chief, E. S. C., to Harold H. Crabill, Chief, E&CR Div., 26.1.1949, Carrier Sheet, Office of Military Government for Bremen, Akte: Mr. Crabill 1949, 6/56-3/34, OMGBR – E&CR Div., Bestand 16,1, StA HB. 17 Group Discussion for German Youth Groups, S. 1. 18 Ebd., S. 2, Hervorhebung im Original. 19 Ebd., S. 1, Hervorhebung im Text. 20 Ebd., S. 14 f. 21 Group Discussion for German Youth Groups, S. 12. Siehe auch E&CR Committee on Forum Planning, First Progress Report, 18.8.1949, Akte: Highlights 1949, 6/58-1/33, OMGBR E&CR Div., Bestand 16,1, StA HB.

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Kunst der Diskussion« mit dem Beitrag von Bowman einen Text, der sich ausschließlich an Diskussionsleiter richtete. Diese wurden ermahnt, sich als Moderator inhaltlich zurückzunehmen, das Gespräch geschickt im Fluss zu halten und dabei nicht nur auf den sachlichen Erkenntnisfortschritt zu achten, sondern auch auf das Wohlgefühl der Teilnehmer und ihre gleichmäßige Beteiligung. Erläutert wurde auch, am Ende einer guten Diskussion stünde in der Regel kein festes Ergebnis, sondern vielmehr die Erkenntnis, dass es so etwas gar nicht gebe.22 Das argumentative Gespräch avancierte damit zu einem Instrument der Einübung in Ambivalenz und Vielstimmigkeit. Die in der Kompilation ebenfalls enthaltenen »Merksätze für die Praxis«, erstellt vom United States Department for Agriculture für den amerikanischen Markt, richteten sich dagegen an Moderatoren wie reguläre Teilnehmer von Diskussionen. Der sieben Seiten starke Text fasste in durchnummerierten und knapp formulierten Sätzen insgesamt fast fünfzig Regeln für das Gelingen eines organisierten, forma lisierten Meinungsaustauschs zusammen und demonstrierte die Detailregulierung mündlicher Kommunikation.23 Leiter und Teilnehmer wurden hier unter anderem ermahnt, sitzen zu bleiben, nicht zu lange zu reden, ungezwungen und locker zu sein: »Zwanglosigkeit ist das einzig Wahre.«24 Außerdem wurden sie in ihrem Selbstvertrauen gestärkt und zum Mitmachen ermutigt, getreu dem Motto: »Sage deine Meinung frei heraus.«25 Das war in den USA, wo der Text verfasst worden war, eine legitime Aufforderung, die in der amerikanischen Besatzungszone bei eingeschränkten Freiheitsrechten widersprüchlich scheinen musste. Solche metakommunikative Texte fanden in den bereits erwähnten Kursprogrammen ihren Einsatz. Sie erläuterten Lehrern, Journalisten und Pädagogen, warum Diskussionen wichtig und vor allem: wie sie im Detail zu führen seien. Beispielsweise fand in der Nähe von Oldenburg vom 2. bis 15. Juli 1949 eine »Adult Education Summer School on political thinking« statt, die in amerikanisch-britischer Kooperation organisiert wurde. Zu den Teilnehmern gehörten auch vier Bremer Volkshochschullehrer, die sich bei einem anschließenden Treffen mit Vertretern der Bremer Militärregierung weniger über die Inhalte, sondern vor allem über die Formen des Unterrichts äußerten. In ihren von den Amerikanern zusammengefassten Aussagen wird wie unter einem Brennglas die von deutscher Seite empfundene Novität amerikanischer Diskussionstechnik gebündelt: die Belohnung von Widerspruch, der nicht als destruktiv gedeutet wurde, sondern als produktiver Beitrag zum Unterricht: Post-course meetings with the Bremen delegation of teachers were arranged to consider the carry-over in the political science instruction discussion methods applied at Dreibergen, encouragement and development of individual thinking in political and 22 23 24 25

Vgl. Bowman, Wie leitet man Diskussionen. Vgl. Merksätze für die Praxis. Ebd., S. 42. Ebd.

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other public problems. »What was new to us«, the German participants in these sessions explained, »was the opportunity offered to make up our own minds on the various problems discussed without being told what to think, to hear subjects presented and principles set forth in objective statements unencumbered by personal bias and opinion, finally to participate in discussion which did not settle all problems for once and for ever, but which left questions unsettled and thereby open for personal reflection«.26

Auch die Ergebnisoffenheit der Gespräche und die fehlende Notwendigkeit, sich auf ein Argument als finale Lösung gemeinsam verständigen zu müssen, war den deutschen Pädagogen demnach neu. Schließlich dürfte das Genre des Diskussionsratgebers für sie eine Innovation gewesen sein. In deutscher Sprache waren vor 1945 vor allem metakommunikative Texte zur beziehungsorientierten »Konversation«27 sowie zur sachorientierten, auch kämpferischen »Debatte« erschienen, wobei Letztere eine nur geringe Wertschätzung für jene erkennen ließen, die im Gespräch ihre Meinung änderten. Stattdessen vermittelte eine Ratgeberschrift von 1923 Tipps über die »Technik des Debattierens« beziehungsweise über die »Kunst, recht zu behalten«.28 Bei anderen Autoren erschien mündlicher Meinungsaustausch im politischen oder akademischen Raum von vornherein als unerquickliche und agonale Angelegenheit, als Gefecht, das es durchzustehen galt, wobei man dank gut vorbereiteter, ausführlich vorgetragener und eventuell vorher schriftlich notierter Argumente als Sieger das Feld zu verlassen hoffte. Da sich an einen Vortrag nämlich häufig ein »Meinungsaustausch, eine sogenannte Diskussion anschließt«, warnte eine metakommunikative Ratgeberschrift von 1930 die Leser, »so hat der Redner dessen gewärtig zu sein, daß er zu guter Letzt noch in ein geistiges Gefecht verwickelt wird, in welchem er standzuhalten hat.«29 Die von Georg Simmel einst beobachtete und vorne als deutsche Konvention herausgestellte Spannung zwischen der sachorientierten »Diskussion« und der beziehungsorientierten »Konversation« erscheint vor dem Hintergrund dieser deutschen Ratgebertexte durchaus folgerichtig. Wenn nämlich Meinungsaustausch als aggressiver Schlagabtausch verstanden wurde, dann war er tatsächlich wenig geeignet für den Aufbau und die Pflege freundschaftlicher Kontakte.30 Gegen diese Folie wird zugleich deutlich, wie sehr die amerikanische Ratgeberliteratur zur »discussion technique« den aus deutscher Perspektive bestehenden Kontrast zwischen den beiden Gesprächsformen aufbrach und verwischte. Sie entwarf unter dem Label »discussion« ein Gesprächsideal, das sachund beziehungsorientiert sein sollte, das der Erkenntnisproduktion, aber auch 26 James E. McDaniel, Acting Chief, E&CR Division, Monthly Evaluation Report, August 1949, S. 4, 6/58-1/32, OMGBR E&CR Div., Bestand 16,1, StA HB. 27 Vgl. zu dieser kommunikativen Gattung die Ausführungen im ersten Akt. 28 Erdmann, Titel. 29 Vgl. Manz, S. 59. Siehe erläuternd Hilgers, S. 180. Vgl. auch Geratewohl, S. 326 f. 30 Vgl. die obigen Ausführungen im ersten Akt sowie Simmel, S. 65.

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der reibungslosen Vergemeinschaftung zu dienen hatte, das als kognitive wie als soziale Tätigkeit gedacht wurde, und dessen Effekte sich vor allem auf der zweiten Ebene präzise antizipieren ließen. Attraktiv dürfte die Vorstellung einer regelrechten »Diskussionstechnik« – als deutsches Wort eine Schöpfung der Nachkriegszeit – für deutsche Pädagogen auch deshalb gewesen sein, weil sie eine Domestizierung aggressiver Schlagabtausche nach Weimarer Muster zu verhindern versprach.31 Eine 1948 in Leipzig verlegte, volkspädagogische Schrift erläuterte: Das Zauberwort Aussprache erweckt in denjenigen unter uns, die noch die Zeiten des freien Meinungsaustauschs vor 1933 erlebt haben, widerspruchsvolle Bilder. Zu einem Teil sind diese Erinnerungen nicht angenehm: Wie haben Schwätzer und Hetzer in allen Arten von Gesprächen die Freiheit mißbraucht! Wie langsam gedieh oft die Politik, weil sie schwer mit öffentlicher Beratung und Kritik belastet war! Welch kleinliche Besserwisserei verdarb die Streitfragen der Wissenschaft! Durch Aussprachen unter schlechtem Stern haben wir zu einem guten Teil unsere Freiheit, unsere Politik und unsere Wissenschaft zerredet und verwirtschaftet. Daneben tauchen wieder andere Bilder auf: In solchen vielleicht gar nicht glücklichen Wortkämpfen hat wohl jeder einmal eine jener Erleuchtungen empfangen, die fürs ganze Leben zählen und wie sie nur auf dem Boden des Redewechsels gedeihen. Der nachdenklichere Mensch hat als Gast oder Teilnehmer bei großen und kleinen Wechselreden bedeutende Gedanken und Entwicklungen in der geistigen Schmiede gesehen. Und oftmals hat er in den vergangenen zwölf Jahren, in denen die öffentliche Erörterung unter das lebensnotwendige Maß gedrückt war, den Kindern und Werdenden das Schauspiel und die Schule solcher echten Aussprachen gewünscht. Doch nun, wo wir wieder aufleben wollen, obendrein mit allzu vielen ungeschulten und übel wollenden Unterrednern, wird ihm doch ein wenig bange.32

Während diese Schrift in der sowjetischen Besatzungszone erschien, wurde der Großteil metakommunikativer Literatur zu Diskussionstechniken in den westlichen Besatzungszonen gedruckt, vor allem in der amerikanischen.33 Die Aufmachung des besonders stark verbreiteten Büchleins »Die Kunst der Diskussion« zeugte allerdings von dem Versuch, die amerikanische Demokratisierungspolitik als Entstehungskontext des Bandes unbedingt zu verschleiern. Der Buchdeckel nannte weder Herausgeber noch Genre der Publikation, zeigte dafür aber die Fassade eines griechischen Tempels und im Vordergrund, eingerahmt von Ölzweigen, vier in griechische Gewänder gekleidete Menschen, die offenbar ein Gespräch führten. Damit wurde »die Kunst der Diskussion« räumlich und zeitlich loka lisiert. Sie stammte aus der europäischen Antike – und nicht aus 31 Zur gewalttätigen Konfliktkultur der Weimarer Republik siehe Schumann, Politische Gewalt; Reichardt, Faschistische Kampfbünde, zur parlamentarischen Kommunikation Mergel, Parlamentarische Kultur, sowie zum »Weimar-Komplex« in der politischen Kultur Westdeutschlands Ullrich. 32 Becker, S. 5. 33 Vgl. die Bibliografie in Hilgers.

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Amerika.34 Die erste bedruckte Innenseite ließ immer noch nicht erkennen, wer die Veröffentlichung veranlasst hatte oder als Herausgeber fungierte.35 26 heitere Zeichnungen, die beim Durchblättern zuerst ins Auge fielen, verliehen dem Buch eine unterhaltsame Note. Erst auf der zweiten Innenseite war äußerst klein gedruckt zu erfahren, dass die Kompilation 1948 in München unter einer Zulassungsnummer der Nachrichtenkontrolle der Militärregierung veröffentlicht worden und größtenteils auf der Grundlage amerikanischer Vorlagen entstanden war.36 Wer als Herausgeber der Schrift fungierte, blieb allerdings offen. Eine eventuelle Bedeutung der Militärregierung als Initiator oder sogar Financier der Veröffentlichung wurde damit subtil verschleiert. Diese Depolitisierung wurde im Text zementiert. In einem Vorwort führte der Verlag in den Inhalt und die Zielsetzung der Publikation ein, blendete aber den Kontext der Reeducation geschickt aus. Zwar wurde darauf verwiesen, dass »die Diskussion« in »Fragen des täglichen Lebens, seien sie praktischer oder geistiger Art, vor allem in der Politik im weitesten Sinn« eine »entscheidende Rolle« spiele. Zugleich beugten die Autoren aber dem Eindruck vor, das Büchlein solle einer Transformation der politischen Kultur dienen und verfolge etwa ein gesellschaftspolitisches Ziel. Nicht nur, dass jeder explizite Hinweis auf die politische Situation Deutschlands nach dem Zweiten Weltkrieg vermieden wurde. Um die Veröffentlichung zu begründen, verwies der Verlag auf den individuellen Nutzen, den der Leser aus der Lektüre ziehen könne. »Wer gewandt zu diskutieren weiß«, hieß es, »wer schlagfertig und sicher seine Meinung vorzutragen und zu vertreten versteht, hat den Erfolg auf seiner Seite.« Der Verlag stellte das Buch damit in den Dienst des einzelnen Lesers, nicht der amerikanischen Militärregierung. Schließlich wurde die Bereitschaft zu diskutieren beziehungsweise »durch Rede und Widerrede die eigene Auffassung zu erweitern und zu vertiefen« nicht an ein bestimmtes politisches System gebunden, sondern als eine menschliche »Gabe« beschrieben. Diese »schlummere« im Menschen und brauche »nur geweckt« werden. Dabei wolle das Buch »ein Helfer« sein.37

34 35 36 37

Die Kunst der Diskussion, Titelbild. Ebd., erste Innenseite. Ebd., zweite Innenseite. Ebd., S. 5: Vorbemerkungen des Verlags.

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4.2 Filme über das Recht auf Widerspruch. Ein umstrittenes Instrument der Reeducation Sowohl die Militärregierung OMGUS als auch das Hochkommissariat HICOG produzierten zahlreiche Lehrfilme für das deutsche Publikum.38 Schon kurz nach Kriegsende wurden Dokumentarfilme in der amerikanischen Besatzungszone als Instrument der Kulturpolitik eingesetzt – zunächst mit punitiver Absicht etwa über die Konzentrationslager, dann in werbender Absicht etwa über das Leben in den USA, schließlich als positives Instrument habitueller Demokratisierung.39 Im Sinne des letzten Punktes wurde bereits 1946 die Produktion eines Films über das demokratische Recht auf freie Meinungsäußerung (Arbeitstitel: »Freedom of Speech«) von der zuständigen Information and Control Division genehmigt, freilich auf persönliche Intervention von General Clay wieder gestoppt.40 Wie Brigitte J. Hahn betont, zeigt sich hier, »für welch ›heißes Eisen‹ er einen solchen Film zum damaligen Zeitpunkt hielt«.41 Auch ein zweiter, 1948 unternommener Vorstoß zur Realisation der Produktion, nun unter dem Arbeitstitel »A Town Speaks«, wurde durch einflussreiche Militärpolitiker vom OMGUS gestoppt.42 Das gleiche Schicksal ereilte ein 1947 angeregtes Filmprojekt mit dem Arbeitstitel »Freedom to Criticize«. Der Film wurde im September 1947 von übergeordneter Dienststelle abgewiesen, obwohl Stuart Schulberg, Chef der Documentary Film Unit, ihn mit folgendem Hinweis verteidigt hatte: For too long the German has regarded the official as a sort of demi-God who stands above criticism or judgement. Democracy in Germany is doomed unless this attitude is changed, unless every German regards the official as no more than a public servant who is elected to do his bidding.43

Schulberg nahm die eventuellen Befürchtungen seiner Kollegen, die Zuschauer könnten zur Kritik an Autoritäten und damit auch der Militärregierung animiert werden, vorweg. Manch einer, räumte er ein, »may feel the film provides a blueprint for protest and group action against Military Government«. Wenn der Film indes gut gemacht werde, »it can only create respect among the Germans and lead them to realize the ultimate responsibility in a democracy lies with the citizens 38 Zur Einführung in die amerikanische Filmpolitik insgesamt vgl. noch immer Culbert sowie jetzt Goldstein. Zum Einsatz von Dokumentarfilmen in der französischen, amerikanischen und britischen Zone siehe die Beiträge in Roß. Speziell zum Einsatz von Dokumentarfilmen unter OMGUS siehe noch immer die grundlegende Studie von Hahn, Umerziehung, sowie Weckel, Nachsitzen. Für die Wandlungstendenzen der amerikanischen Filmpolitik siehe knapp und konzis Hahn, Dokumentarfilme. 39 Vgl. Hahn, Umerziehung. Speziell zur ersten Phase siehe Weckel, Nachsitzen. 40 Vgl. Hahn, Umerziehung, S. 141–145, ferner S. 407–409, 435. 41 Ebd., S. 142. 42 Vgl. ebd., S. 144. 43 Zit. n. ebd., S. 407. Zur Planung und Abweisung des Filmprojekts siehe ebd., S. 407 f.

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and not merely with the government they elect«. Er glaube nicht, so schlossen seine Bemerkungen, »there is a more important lesson that can be tought in Germany«.44 Aber die OMGUS-Führung wünschte offenbar keine Produktion von Dokumentarfilmen, die zu Kritik, Widerspruch und Diskussion aufriefen. Dass, wie weiter oben schon gezeigt, Forums- und Gruppendiskussionen praktiziert wurden, obwohl der Film »Freedom to Criticize« keine Genehmigung erhielt, verweist auf die Inkonsistenzen der verschiedenen Programme und die relative Autonomie der in einem programmatischen Vakuum agierenden Re-Edukatoren. Wichtig dürfte aber auch die Vorstellung von bestimmten Diskussionsformaten als einer wissenschaftlich geprüften Technik der Erwachsenenpädagogik und der Jugendarbeit gewesen sein. Anders als bei einer abstrakten Aufforderung zum Widerspruch im Kinosaal wurden die genannten Diskussionsformate nicht nur von Amerikanern kontrolliert, die gegebenenfalls eingreifen konnten, sondern sie verliefen auch nach ganz bestimmten, in den USA entwickelten Regeln. In einer durch die Educational Philosophy geschulten Perspektive konnten konkrete Diskussionsereignisse mit Moderator als Laboratorien demokratischen Verhaltens interpretiert werden, deren Risiken sich klar abschätzen und durch eine geschickte Diskussionsleitung minimieren ließen. Zudem lieferte die Educational Philosophy die begründete Hoffnung, dass sich in einer gut moderierten Diskussion ein demokratischer Grundkonsens im Verlauf des Gesprächs selbst »herausmendeln« würde. Die Hindernisse bei Filmproduktionen zum Recht auf freie Meinungsäußerung schwanden dagegen erst mit dem Amtsantritt der amerikanischen Zivilverwaltung. Von 1949 bis 1952 wurden unter dem Markenzeichen »Zeit im Film« zahlreiche kurze Dokumentarfilme zur Reorientation vertrieben.45 In der Regel handelte es sich um Kurzfilme, die mit rund 15 Minuten Länge im Vorprogramm der Kinos liefen, zunächst über den »Allgemeinen Filmverleih« der amerikanischen Filmkontrolle verliehen sowie nach dessen Auf lösung 1951 von kommerziellen Verleihern übernommen wurden. Parallel waren die »Zeitfilme« auch in den 1948 eingerichteten nichtkommerziellen Vertrieb integriert, das heißt, sie wurden in Amerikahäusern sowie durch mobile Vorführtrupps in ländlichen Gebieten gezeigt.46 Sie behandelten Gegenwartsprobleme in aufklärerischer Absicht, indem sie anhand von alltäglichen Situationen demokratische Verhaltensweisen idealtypisch in Szene setzten.47

44 Ebd, S. 408. 45 Einführend zur Geschichte der »Zeitfilme« siehe Goergen. Der Filmhsitoriker hat von den rund 80 Zeit filmen, die zwischen 1949 und 1952 durch die Motion Picture Branch, Information Services Division, Office of Public Affairs, HICOG produziert wurden, fünfzig ausgewertet. 46 Vgl. Goergen, S. 34. 47 Vgl. hierzu sowie zu den Inhalten ebd., S. 47–51. Die Filme sind teilweise mit Bürgern vor Ort, meist aber mit Schauspielern in kleinen Spielhandlungen inszeniert, stumm aufgenommen und nachträglich synchronisiert sowie mit Off-Kommentaren versehen worden.

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In diesem Rahmen propagierten sie eine verstärkte Verankerung von Diskussionen in prinzipiell allen Lebensbereichen.48 So hieß es beispielsweise in »Jugend im Zeltdorf« (1950): »Hier wird nicht befohlen, sondern wir wollen in gemeinsamer Arbeit ein Programm aufstellen.«49 In »Zeltlagerpraxis«, ebenfalls ein Lehrfilm aus dem Bereich der Jugendarbeit, wurde ein Zeltlager als Staat en miniature nachgebildet, damit die »Zeltbürger« Erfahrungen sammeln konnten, die sie später als Staatsbürger benötigten. Denn, so die Erkenntnis: »Diskutieren will erst gelernt sein.«50 Freilich sollten Diskussionen als Handlungsmodus nicht nur an die Stelle von Befehlen treten, sondern auch von Schweigsamkeit. »Man lernt nie aus« (1951) zeigte den Selbstmordversuch einer Schülerin wegen Nichtversetzung in die nächste Jahrgangsstufe, wozu der Schulleiter später bemerkte: »Dabei hätte es gar nicht so weit kommen brauchen. Über gewisse Dinge muß man sich aussprechen.«51 »Jedermann ein Fußgänger« (1950) demonstrierte analog, dass auch kommunale Verkehrsprobleme nur zu lösen seien, »wenn man sie von verschiedenen Standpunkten aus beurteilt«. Wenn nicht jedermann mithelfe, sprach der Kommentar die Zuschauer unter Rekurs auf das Dritte Reich direkt an, »dann könnte es auch wieder so kommen: ›Ich befehle!‹ Würde Ihnen das gefallen? Aber wohl kaum.«52 Insgesamt entwarfen die Zeitfilme das Idealbild einer Gesellschaft, in der Diskussionen in allen Lebensbereichen verankert waren und den Menschen von klein auf an als wichtiger Handlungsmodus vermittelt wurden. Dieses Idealbild wurde als Kontrast zum Nationalsozialismus beschrieben, gezeichnet als eine durch Befehl und Gehorsam strukturierte Diktatur.53 Während die im Verlauf der amerikanischen Demokratisierungspolitik produzierten Lehrfilme ihre Inhalte gleichsam diskursivierten, wurde das Publikum immer dezidierter dazu aufgefordert, im Anschluss an Filmvorführungen 48 »Diskussionen statt Befehle« war nach Goergen, S. 49, einer der zentralen Topoi des gesamten Zeitfilm-Programms. 49 Zit. n. ebd., S. 49. 50 Zit. n. ebd. 51 Zit. n. ebd., S. 48. 52 Zit. n. ebd., S. 49. 53 Mit Hilfe von Jeanpaul Goergen, für dessen Unterstützung ich mich nachdrücklich bedanke, wurde die von ihm erstellte Datenbank »Reeducation-Filme« durchgesehen. In Hinblick auf das Thema Diskutieren vgl. insbesondere »Jungen unter sich« (1949), »Ein Experiment« (1949), »Jedermann ein Fußgänger« (1950), »Ein Vorschlag zur Güte« (1950), »Tagebuchblätter« (1950), »Haus der Jugend. Ein Film über die Zusammenarbeit von Groß und Klein« (1950), »Ferien vom Alltag« (1950), »Eine Kleinstadt hilft sich selbst« (1950), »Der Fall Strobl« (1950), »Diskussion überflüssig?!« (1950), »… und was meinen Sie dazu?« (1950), »Jugend im Zeltdorf« (1950), »Zeltlagerpraxis. Ein Lehrfilm für Zeltlagerleiter und Zeltberater« (1950), »Ein Wille – ein Weg« (1951), »Der unsichtbare Stacheldraht« (1951), »Der Stein des Anstoßes« (1951), »Man lernt nie aus« (1951), »Der leere Stuhl« (1951), »Ein Fenster in die Welt« (1951), »Es hat geklingelt« (1951), »Der Traum der Bäuerin« (1952), »Müller will nicht gefragt werden« (o. J.), »Unsere Gruppe« (o. J.). Vgl. auch die kommentierte Filmografie von Goergen u. Roß.

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seine Meinung zu äußern. Am Anfang war das nicht vorgesehen. 1945 wurde unter Billy Wilder in punitiver Absicht »Die Todesmühlen« gedreht, ein abschreckender Film über die Konzentrationslager. Die Deutschen sollten ihn sich in der Regel freiwillig ansehen. Die lokal relativ autonom agierenden Militäroffiziere knüpften aber teilweise den Erhalt von Essensmarken an den Filmbesuch. Zudem gab es Kinos in Bayern, die das Publikum mit der Vorführung überraschten.54 Im Anschluss verließen die Zuschauer sofort den Saal; es gab gerade keine Aussprache – und viele erregten sich über amerikanische Propaganda. Möglicherweise auch um diese Negativerfahrung reicher, verzichtete das spätere Filmprogramm nicht nur auf punitive Inhalte, sondern veränderte auch den Rezeptionsrahmen. Der Besuch von Filmvorführungen, die in den U. S. Information Centers oder im Vorprogramm der Kinos liefen, war prinzipiell freiwillig. Außerdem sollte jede Vorführung mit der Ankündigung beginnen, »that the film is a presentation of American Military Government and that the reaction and free opinion of the audience would be appreciated«.55 Die Betrachter wurden also gezielt zum Widerspruch ermuntert. Allerdings sicherte sich die amerikanische Besatzungsmacht nach der bewährten Methode gegen unerwünschte Gesprächsverläufe nach Filmvorführungen ab. Die in der Regel deutschen Filmvorführer wurden von den lokalen LSO sorgfältig ausgewählt und hierbei auf ihre politische Übereinstimmung mit den Zielen der Reeducation geprüft. Die LSO hatten die Filmvorführer über Neuerungen der Reeducationpolitik stets zu informieren und konnten für deren Fehlverhalten unmittelbar zur Rechenschaft gezogen werden. Zu den Kriterien der Auswahl gehörte technische Qualifikation, aber auch die Fähigkeit »to carry on a pertinent discussion of the film program, and be in full sympathy with the objectives of reorientation«.56 Entsprechend wurden die Kandidaten in speziellen Schulungen nicht nur im Umgang mit Projektoren und Filmbändern, sondern auch in Diskussionsleitung unterwiesen.57 Zwei der unter HICOG produzierten Filme setzten nicht nur das Kommunikationsideal der Re-Edukatoren in Szene, sondern auch einige der im Rahmen der Reeducation entwickelten Möglichkeiten, Diskussionstechnik zu erlernen.58 54 Vgl. Hahn, Umerziehung, S. 110. 55 Handbook on Film Reorientation Program, S. 2, Akte 39, Box 132, 390/46/15/1-2, RG 260, NARA II. 56 Ebd. 57 Vgl. Adult Education Newsletter – August 1949. Issued monthly by the Adult Education Section, Community Education Branch, Education and Cultural Relations Division OMGUS, S. 5, Akte 16, Box 131, 390/46/15/1-2, RG 260 NARA II, über das »Film Projectionists’ Training« in Haus Schwalbach sowie das Handbook on Film Reorientation Program, S. 3, wonach die Filmvorführer den LSO unterstanden, zu deren Aufgabe nicht zuletzt zählte: »constantly brief and train the projectionist in the field of film discussions and orient him on the synopses of each film. […] The projectionist must maintain the highest standards of democratic procedure in his operations.« 58 … und was meinen Sie dazu; Diskussion überflüssig.

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Bezeichnenderweise wurden beide Lehrfilme, die unter den Arbeitstiteln »Diskussionstechnik I« und »Diskussionstechnik II« vorbereitet wurden, zwar mit amerikanischen Geldern produziert und von HICOG genehmigt, aber von einem deutschen Team bearbeitet.59 Insofern verwiesen sie bereits auf die kreative Aneignung amerikanischer Programme zur Erhöhung von Diskussionsbereitschaft und -kompetenz durch deutsche Multiplikatoren. HICOG lobte beide als »incentive film[s] showing the proper way to conduct discussions«.60 Man zeigte solche Filme in Amerikahäusern und in Häusern der Erwachsenenbildung – und ließ sie diskutieren: Im Dezember 1950 erhielt die Militärregierung den Bericht des Amerikahauses in Wiesbaden, welches eine Veranstaltung zum Thema »Let us discuss about the art of talking« durchgeführt hatte, die sich wie folgt gestaltete: After a short introduction into the essentiality of a discussion viz. the respect of the partner’s meaning, the film of the same name, produced at »Haus Schwalbach« was shown to the audience of the evening. Then Dr. M. suggested to talk about this film within a fixed time in 3 groups. At the end of the set term the single groups uttered their results. It was interesting how many points of view were found! In the following roundtable-conference the film was generally acknowledged. The management of the discussion by M-K. was excellent. The attempt to […, unleserlich, d. Vf.] for a productive discussion proved as successful.61

Geleitet wurde die Veranstaltung von Dr. Ilse Mayer-Kulenkampff, die als Vertreterin einer schmalen Minderheit von Pädagogen die Idee einer Erziehung zur Demokratie qua Diskussion und Gruppenarbeit mit großem Engagement zu ihrem eigenen Anliegen machte. 1916 geboren, hatte sie unter anderem in Göttingen Geschichte, Theologie und Germanistik studiert, mitten im Krieg in Geschichte promoviert und von 1943 bis 1946 als Erzieherin in einem Landeserziehungsheim gearbeitet. Nach dem Zweiten Staatsexamen 1947 arbeitete sie als Lehrerin in West-Berlin und kam 1948 in Kontakt mit der Education and Cultural Relations Division des OMGUS. Im August des gleichen Jahres nahm sie an einer »Conference on Leadership« in Wiesbaden teil und ging danach für ein Jahr in die USA. Mit einem kirchlichen Stipendium beschäftigte sie sich an einem von Quäkern geleiteten Institut vor allem mit Jugend- und Gruppenarbeit. Im Anschluss wurde sie in dem besagten Haus Schwalbach aktiv und avancierte nach verschiedenen Tätigkeiten in der Erwachsenenbildung in den fünfziger Jahren schließlich zur Professorin für Sozialpädagogik in Oldenburg.62 59 Regie: Eva Kroll, Drehbuch: Günther Hoffmann, Kamera: Erich Küchler. 60 Motion Picture Branch Monthly Report – July 1950, HICOG Frankfurt – No. 491, 15.8.1950, S. 6, Akte 2, Box 2, 250/72/13/3, RG 466, NARA II. 61 Library Data Report, Dezember 1950, Wiesbaden, U. S. Information Center Wiesbaden Haus Schwalbach, Akte: Library Data Reports USICS, Box 4, 250/72/18/2-3, RG 466, NARA II. 62 Zur Biografie Mayer-Kulenkampffs vgl. Frey, S. 48; Peters u. a. sowie ergänzend Report on Wiesbaden Conference on Leadership, 20.8.1948, verfasst von: Office of Military Government for Germany (U. S.)/Education and Cultural Relations Division/Group Activities

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Ohne eine intrinsische Motivation in Abrede zu stellen, illustriert dieser Lebenslauf auch, wie das Engagement für die amerikanische Besatzungsmacht eine attraktive Ausbildung gewährleisten und zu einem Karrieresprungbrett werden konnte. Was wurde nun in den Filmen zur Diskussionstechnik gezeigt, die MayerKulenkampff präsentierte? Der eine der beiden Lehrfilme, der schließlich unter dem Titel »Diskussion überflüssig?« ins Programm kam, präsentierte Diskussionstechnik als Methode und Unterrichtsfach in der Schule. Dabei problematisierte er das auf deutscher Seite mitunter bestehende Ressentiment gegenüber einer von den Alliierten verordneten Diskussionskultur. Eine der ersten Sequenzen zeigte eine Gruppe von Schülerinnen und Schülern, die im Geschichtsunterricht von einem jungen und äußerst autoritären Lehrer gegängelt wurden. Der Lehrer hatte einem seiner Schüler eine schlechte Note gegeben, weil dessen Ausführungen über die deutsche Geschichte »falsch« gewesen seien.63 Der Schüler wandte ein, er habe seine Ansichten doch begründet. Habe er also eine »fünf« für seine »eigene Meinung« erhalten? Darauf erläuterte der Lehrer in scharfem Tonfall: Sie haben den Sinn der Diskussion gründlich missverstanden, scheint mir. Ihre eigene Meinung kann bei der Diskussion über den nächsten Schulausflug, über ein Sportfest oder über die Ausschmückung der Klassenräume von Bedeutung sein. Im Unterricht muss die Diskussion im Allgemeinen auf die Wiederholung des Lehrstoffes beschränkt sein. Allein schon aus Zeitmangel. Wir haben ja schließlich unseren Lehrplan, dessen Erfüllung von mir ebenso gut wie von Ihnen gefordert wird. Sie sollen in der Schule lernen und nicht schwätzen.64

So schnell ließ sich der Schüler indes nicht bremsen: Warum lerne man dann überhaupt das Diskutieren? Die Antwort lautete prompt: »Weil es so befohlen ist.«65 In der anschließenden Pause entwickelte sich ein Gespräch zwischen den Schülerinnen und Schülern für und wider Diskussionen im Unterricht. Während einige argumentierten, es sei schließlich wichtig zu lernen, wie man sich eine eigene Meinung bilde, und dass beim Reden die Merkfähigkeit höher sei als beim Zuhören oder beim bloßen Lesen, gaben andere zu bedenken, ein Lehrer müsse lange studieren, »bevor er sich seine eigene Meinung bilden kann«.66 Schließlich fuhr einer der Schüler genervt dazwischen: »Mann, ist doch wieder so’n moderner Quatsch. Wisst ihr überhaupt, dass die Diskussion aus Amerika kommt?«67 Der Film rekurrierte also auf Skepsis gegenüber argumentativen

63 64 65 66 67

Branch/APO 696-A, Akte: General Corr. Vol. 1, Box 7, 390/46/12, RG 260, NARA II; [Abschrift von Zeitungsartikel] Ilse Kulenkampff stresses Cultural Contacts Need, The Carolinian, 19.11.1948, Akte 8, Box 121, 390/46/14-15/6-1, RG 260, NARA II. Diskussion überflüssig, Filmmeter 104–106. Ebd., Filmmeter 111–121. Ebd., Filmmeter 106–124. Ebd., Filmmeter 139–144. Ebd., Filmmeter 200–204.

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Umgangsformen als amerikanischem Import und vorübergehender Modeerscheinung, antizipierte den Unwillen vor allem der jüngeren, vom Nationalsozialismus geprägten Lehrer gegenüber diskursiven Unterrichtsmethoden – und versuchte damit wohl Zuschauer zu erreichen, die ähnliche Bedenken hegten. Auf dieser Grundlage betonte der Film in einem zweiten Schritt, dass argumentativer Meinungsaustausch tief in abendländischer Tradition stehe und für alle Beteiligten gewinnbringend praktiziert werden könne. Das erläuterte der in der nächsten Sequenz eintretende Lehrer für »Diskussionsunterricht«, der mit grauem Haar und freundlich-nachsichtiger Miene als Vertreter einer älteren, vor-nationalsozialistischen Lehrergeneration zu erkennen war. »Mit Sicherheit«, erläuterte der Pädagoge seinen Schülern, »wurde die Kunst der Diskussion bereits 2 000 Jahre vor der Entdeckung Amerikas geübt. In Griechenland zum Beispiel gab es Menschen, die sich aus dem Spazierengehen und aus der Diskussion sogar eine philosophische Lehre bildeten.«68 Der zweite Lehrfilm mit dem Titel »… und was meinen Sie dazu?« hatte jenes »Haus Schwabach« zum Thema, in dem die Referentin Mayer-Kulenkampff arbeitete: eine in Hessen liegende Institution für Erwachsenenbildung und Jugendarbeit, die als Teil des amerikanischen Demokratisierungsprogramms gegründet worden war.69 Mit welchen inhaltlichen und dramaturgischen Strategien versuchten die Macher des Films in diesem Fall, die Zuschauer zu mehr oder besseren Diskussionen zu motivieren? Die ersten Filmminuten zeigten eine malerische deutsche Kleinstadt im Morgengrauen, deren Kommunikationskultur durch Schweigsamkeit, autoritäre Anweisungen und Streit geprägt war.70 Unter anderem nahm eine Kleinfamilie am Küchentisch schweigend das Frühstück ein, bis der Vater polterte: »Na nu, kalter Kaffee? Was ist denn das für ne Schlamperei?« Die Mutter leitete die Kritik postwendend an ihn zurück: »Lies du nicht so lang die Zeitung, dann wird dir dein Kaffee nicht kalt!« Und die Tochter wurde vom Vater barsch angefahren, noch bevor sie etwas gesagt hatte: »Du bist doch überhaupt nicht gefragt!« Schließlich knallte der Vater seine Zeitung auf den Tisch und verließ Türen schlagend das Haus: »Kalter Kaffee am frühen Morgen! Ich möchte doch wirklich wissen, wer hier der Herr im Hause ist!«71 Diese und andere Szenen waren mit der Stimme eines Erzählers aus dem Off unterlegt, der ironisch kommentierte: Wo kämen wir denn hin, wenn jeder ungefragt reden würde. Das gehört gewissermaßen zum eisernen Bestand der Kindererziehung. Kein Wunder, wenn dann auch die Erwachsenen nichts von der Diskussion halten. Überall das Gleiche. Entweder spricht einer und die anderen hören zu. Oder es sprechen mehrere gleichzeitig und keiner versteht, worum es sich handelt.72 68 69 70 71 72

Ebd., Filmmeter 205 f. Als zeitgenössische amerikanische Darstellung siehe An., Haus Schwalbach. … und was meinen Sie dazu, Filmrolle 1, Filmmeter 1–121. Ebd., Filmrolle 1, Filmmeter 52–67. Ebd., Filmmeter 112–121.

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Der Filmanfang zeichnete die Karikatur eines Landes, in dem die Sozialisationsinstanzen Schule und Familie der heranwachsenden Jugend die Lust am Meinungsaustausch autoritär austrieben, weswegen »auch die Erwachsenen nichts von der Diskussion« hielten. Zugleich verwiesen schon die ersten Filmminuten auf Möglichkeiten, das vermeintlich Versäumte im Erwachsenenalter nachzuholen. Denn während der wütende Vater Türen schlagend das Haus verließ, rumpelte ein Megaphonwagen mit einer frohen Botschaft durch die Kleinstadt: Öffentliche Diskussion über das Thema: Die Gleichberechtigung der Frau. Heute Abend, 20.00 Uhr im Rathaussaal. Lernen Sie diskutieren! In der Diskussion können auch Sie Ihren Beitrag im öffentlichen Leben unserer Stadt leisten. Heute Abend 20.00 Uhr im Rathaussaal. Öffentliche Diskussion über das Thema: Die Gleichberechtigung der Frau. Heute Abend 20.00 Uhr im Rathaussaal. Lernen Sie diskutieren.73

Der Film rekurrierte damit auf ein reales Veranstaltungsformat, nämlich jene »Öffentlichen Diskussionen«, die auf dem Gebiet der amerikanischen Besatzungszone organisiert und vorne beschrieben wurden. Die nächste Filmsequenz setzte dann die Differenz zwischen »guten« und »schlechten« Diskussionen plastisch in Szene. Die Zuschauer sahen die angekündigte Veranstaltung im Rathaussaal, bei der auch der bereits erwähnte Familienvater auf einem Holzstuhl Platz genommen hatte. Allerdings verlief das Gespräch hier nicht produktiver als jenes am Frühstückstisch. Die Diskutanten standen sich mit radikalen Meinungen kompromisslos gegenüber und gerieten in Rage. Eine Frau provozierte die Entrüstung des Publikums mit dem Statement »die Männer« hätten »grundsätzlich versagt«, woraufhin eine andere erwiderte, es solle »alles so bleiben, wie es war«. Und der Familienvater ließ sich auf das gestellte Thema erst gar nicht ein. »Gleichberechtigung der Frauen!«, rief er abfällig dazwischen. »Wer spricht denn von der Gleichberechtigung der Männer?«74 Solche Äußerungen brachten das Gespräch nicht weiter, sondern führten zu allgemeiner Frustration und bestätigten die Skepsis des Publikums: »So ein Unsinn!«, murmelte ein Herr mit Halbglatze vor sich hin. »Öffentliche Diskussion. Dabei kann ja nichts herauskommen. Das habe ich mir doch gleich gedacht. Wer kann denn schon diskutieren? Etwa diese da? Diese Dauerredner?«75 Abhilfe war allerdings möglich. Das jedenfalls fand eine junge Dame, die neben dem Herrn mit Halbglatze saß und nun flüsternd einwandte: »Glauben Sie nicht, dass es nur daran liegt, dass die Menschen im Saal einfach nicht wissen, wie sie sich verhalten sollen? Man muss ihnen einmal die Spielregeln geben.«76 Diese Spielregeln seien aber nur die »Außenseiten« und müssten 73 74 75 76

Ebd., Filmmeter 68–86. Ebd., Filmmeter 122–135. Ebd., Filmmeter 134–139. Ebd., Filmmeter 140–143.

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den Menschen erklärt werden. Schließlich handele es sich »bei der Diskussion doch nicht so sehr um die Anwendung einer neuen Technik, als vielmehr um eine neue Geisteshaltung«.77 Diese Neu-Etikettierung der Diskussion von einer »neuen Technik« zu einer »neuen Geisteshaltung« konnte die kritischen Herren indes noch nicht überzeugen. »Schrecklicher Gedanke«, wandte ein dritter Mann ein, der das Gespräch belauscht hatte, »wahrscheinlich ein neuer -ismus. Etwa: Diskussionismus.«78 Der jungen Dame gelang es aber sofort, die vermeintliche Novität der Gesprächsform zu relativieren: »Aber im Ernst, meine Herren. Es geht doch hier nicht um einen grundsätzlich neuen Gedanken oder gar einen neuen -ismus, sondern nur um die praktische Anwendung einer alten, leider in Vergessenheit geratenen Idee, der Toleranz. Langweilt es Sie, wenn ich es Ihnen erkläre?«79 Sie bat um Papier und Bleistift – und erläuterte den Herren, was über »die« Diskussion zu wissen sei. Der in diesem Rahmen betonte Nexus von Diskussion und Demokratie wurde freilich nicht autoritär verkündet, sondern nach sokratischer Methode scheinbar im Gespräch mit den beiden Herren entwickelt, bis die Dame schloss: »Ich sehe, Sie sind doch kein ganz so hoffnungsloser Fall für die Diskussionstechnik. Wie wäre es mit einem Versuch als Gast beim nächsten Lehrgang für Diskussionsleiter in Schwalbach?«80 Wie bereits angesprochen, war »Haus Schwalbach« ein in den ersten Nachkriegsjahren mit amerikanischen Geldern finanziertes Haus für politische Bildung. Leiterin des Hauses war seit 1949 Magda Kelber (1908–1987). Kelber war noch in der Weimarer Republik in Naturwissenschaften promoviert worden und 1933 nach England gegangen, wo sie sich den Quäkern anschloss und Erfahrungen in der Erwachsenenbildung sammelte. 1946 kam sie zurück nach Deutschland und arbeitete zunächst in der britischen, später in der amerikanischen Besatzungszone. 1949 ging sie für zwei Monate zu einem Bildungsaufenthalt in die USA und dürfte sich spätestens hier mit der amerikanischen Tradition der Educational Philosophy beschäftigt haben. Ihr Wissen und ihre Erfahrungen legte sie seit den späten vierziger Jahren in mehreren metakommunikativen Ratgebertexten nieder, an die sich der Film »… und was meinen Sie dazu?« eng anlehnte.81 Der mittlere Filmteil zeigte dann einen der beiden Herren bei dem besagten »Lehrkurs für Diskussionsleiter« in Haus Schwalbach, dessen Verlauf ausführlich in Szene gesetzt wurde und sich präzise an der Ratgeberliteratur von Kelber selbst orientierte, die wiederum auf die vorne vorgestellte Kompilation 77 78 79 80 81

Ebd., Filmmeter 151–156. Ebd., Filmmeter 157 f. Ebd., Filmmeter 159–165. Ebd., Filmmeter 189–204. Einführend zum Werk Magda Kelbers, auf die weiter unten noch eingegangen wird, siehe Frey. Zu Kelbers in den späten vierziger und frü hen fünfziger Jahren verfassten Schriften, die sich explizit mit Diskussionstechnik beschäftigten, zählen insbesondere dies., Fibel; dies., Sprechen wir uns aus.

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»Die Kunst der Diskussion« verwies. Der Kurs machte den hohen Grad der Durchregelung sowohl von öffentlichen wie von Gruppendiskussionen deutlich.82 Zugleich fand er selbst als Diskussionsgruppe statt. Idealiter sollte das Gespräch thematisch, räumlich und zeitlich streng begrenzt sein, Sprecherwechsel sollten durch den Moderator kontrolliert werden, der zudem die Rednerliste führte, das Gespräch eröffnete und schloss. Auf ein präzises Zeitmanagement wurde besonders Wert gelegt, Unpünktlichkeit, aber auch längere Redebeiträge seien zu vermeiden. »Und denken Sie immer daran«, so die Leiterin, »wir wollen uns kurz fassen. Nicht länger als zwei Minuten bitte.«83 Außerdem sollten die Redebeiträge keinesfalls schriftlich vorbereitet und abgelesen, sondern möglichst spontan und aus dem Stegreif formuliert werden. »Der Hauptfeind jeder Diskussion«, stellte einer der Teilnehmer fest, »ist der Dauerredner«, und erläuterte:84 Wo auch immer dieser unangenehme Typ erscheint, zerstört sein Auftreten und seine Haltung, ja schon seine Sprechweise von vornherein die Grundlagen einer erfolgreichen Diskussion. Wir kennen ihn in verschiedenen Abarten. In der Familie tritt er uns als der weibliche Haustyrann, manchmal auch als der männliche entgegen, der nur seine Meinung gelten lässt und allen anderen kurz und schroff das Wort abschneidet. Es kann kein Zweifel daran bestehen, dass dieser Typ in der Öffentlichkeit, im Betrieb, in der Verwaltung zur Zusammenarbeit ungeeignet ist, weil diese Menschen nicht reden, um der Sache zu dienen oder sich mit ihren Mitmenschen zu unterhalten […]. 85

Der Kursteilnehmer hatte diesen Redebeitrag, der damit noch keineswegs beendet war, offenbar schriftlich vorbereitet. Er las ihn von einem Blatt Papier ab – und bemerkte nicht, wie sehr sich die anderen Anwesenden langweilten. Er entpuppte sich also selbst als ein auf papierene Vorlagen gestützter Dauerredner. Das bot der Lehrerin die Möglichkeit zu demonstrieren, wie man einer solchen Person Einhalt gebot, ohne sie zu frustrieren. »Entschuldigen Sie«, fuhr die Kursleiterin mit sanfter Stimme dazwischen, »darf ich einen Augenblick unterbrechen. Sie haben uns so viele interessante Punkte genannt, dass ich vorschlage, die ersten beiden zunächst einmal zu diskutieren. Wollen Sie aber bitte die anderen festhalten, da sie so aufschlussreich waren. Wir kommen später bestimmt darauf zurück.«86 Während dieser Worte zeigte die Kamera den Blick des »Dauerredners«, der erst irritiert dreinblickte, bei den lobenden Worten dann aber stolz in die Runde zu lächeln begann und sich entspannt zurücklehnte. Dazu bemerkte der Kommentator aus dem Off: 82 … und was meinen Sie dazu, Filmrolle 2, Filmmeter 1–228. Vgl. hierzu als wahrscheinliche literarische Vorlage: Die Kunst der Diskussion; Kelber, Fibel. 83 … und was meinen Sie dazu, Filmrolle 2, Filmmeter 59–61. 84 Ebd., Filmmeter 65. 85 Ebd., Filmmeter 65–89. 86 Ebd., Filmmeter 90–96.

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Tja, Fingerspitzengefühl muss ein guter Diskussionsleiter haben. […] Was meinen Sie wohl, welche Wirkung es gehabt hätte, wenn etwa Professor Müller der Geduldsfaden gerissen wäre und er gesagt hätte: »Aber das gehört doch gar nicht zur Sache. Aus! Schluss!« […] Welcher Redner lässt es sich auch schon vorwerfen, dass seine wohlvorbereiteten Ausführungen nicht zur Sache gehören.87

Wie der Film veranschaulichte, galt es, trotz eines umfassenden Regelkorsetts eine lockere, entspannte und vor allem kooperative Atmosphäre zu schaffen. Um die Teilnehmer in die richtige Stimmung zu versetzen, wurde unter anderem empfohlen, die Anwesenden nicht zu weit voneinander entfernt zu platzieren und das Rauchen zu erlauben. »Nein, nein«, beruhigte die Kursleiterin einen der anwesenden Herren, »Sie brauchen Ihre Zigarette nicht auszumachen. Sie können alle gerne rauchen. Eine freundliche, aufgelockerte Stimmung hilft zur Diskussion.«88 Zudem sei es Aufgabe des Moderators, zu allen Teilnehmern eine gute Beziehung aufzubauen, die Schüchternen zu Wortbeiträgen zu ermuntern und den allzu Wortgewaltigen diplomatisch Einhalt zu bieten, ohne sie zu düpieren und zu demotivieren. »Der Diskussionsleiter«, erläuterte sie, »muss wie ein Dirigent dafür sorgen, dass sein Diskussionsorchester nicht durch Missklänge gestört wird.«89 Diese Orchestermetapher führte sie noch weiter aus: Er muss die Trompeten dämpfen. Muss der zarten Harfe Gehör verschaffen. Und er darf auch keine privaten Duette erlauben, sondern er muss durch eine unauf fällige und zurückhaltende Leitung dafür sorgen, dass unter Beteiligung aller Teilnehmer die Diskussion fließt, das Thema wie ein Ball von Stimme zu Stimme weitergegeben wird. Auf keinen Fall darf ein Teilnehmer die Führung an sich reißen und die übrigen nicht zu Worte kommen lassen. Und der Diskussionsleiter soll sich nur dann einschalten, wenn es notwendig ist, das bisher erarbeitete Material zusammenzufassen oder den roten Faden wiederzufinden. Auf keinen Fall soll er versuchen, seine eigene Meinung durchzusetzen, sondern er muss die Diskussion nach den vereinbarten Spielregeln in Gang halten.90

Zumindest im Falle des Herrn mit der Halbglatze trugen solche Instruktionen Früchte. Er wagte im Anschluss an den Kursus, selbst eine »Öffentliche Diskussion« im Rathaussaal zu organisieren – und leitete sie mit leuchtenden Augen.91 Ein sozial, generational und geschlechtlich gemischtes Publikum war erschienen, diskutierte »sehr angeregt« und »lebhaft«.92 Zufrieden kommentiert der Erzähler aus dem Off: »So ungefähr sollte eine gute Diskussion verlaufen. Es 87 88 89 90 91 92

Ebd., Filmmeter 97–108. Ebd., Filmmeter 49–52. Ebd., Filmmeter 110–115. Ebd., Filmmeter 116–137. Ebd., Filmrolle 3, Filmmeter 40–145. Ebd., Filmmeter 40–145, Zitat Filmmeter 90–97.

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kommt darauf an, möglichst viele Ansichten zu hören und ebenso viele wie verschiedenartige Menschen zur Mitarbeit heranzuziehen.«93 Damit machte der Film noch einmal deutlich, dass eine Diskussion nicht unmittelbar der Konsensbildung und Entscheidungsfindung dienen sollte, sondern zunächst einmal der spielerischen Produktion und Kontrastierung divergierender Meinungen, dem Kennenlernen der Mitmenschen sowie der gemeinsamen Horizonterweiterung. Der Fokus auf »Erfahrung« statt »Meinung« wertete zudem die Redebeiträge von Menschen ohne höhere Bildung auf. Nicht nur die auf einem Gebiet ausgewiesenen Experten erschienen als wertvolle Diskussionsteilnehmer, sondern alle Menschen unabhängig von ihrem Geschlecht, ihrem sozialen und beruflichen Hintergrund. Dieser Linie entsprechend, galten nicht nur politische Themen als geeigneter Gegenstand, sondern alle, welche die Anwesenden aufgrund ihres eigenen biografischen Hintergrunds angingen und interessierten. Man brauche mit dem Diskutieren daher nicht, so das Schlusswort des Erzählers, »bis zur nächsten Betriebsratssitzung oder Stadtverordnetensitzung zu warten«. Vielmehr könnte ein jeder »heute noch den Versuch machen, tolerant die Meinung unserer Mitmenschen anzuhören und mit ihnen zu diskutieren. Am besten gleich hier. Über den Film zum Beispiel.«94 Dieser Lehrfilm zur Diskussionstechnik fasste in idealisierender Perspektive noch einmal zentrale Elemente der amerikanischen Diskursivierungspolitik in der deutschen Nachkriegsgesellschaft zusammen, wie sie im Verlauf der Besatzungszeit, im ständigen Kontakt mit Deutschen und teilweise sogar von diesen unterstützt entwickelt worden waren: Auf dem Gebiet der amerikanischen Besatzungszone wurden gezielt Möglichkeiten zur Steigerung der Diskussionspraxis geschaffen. Wider das Stereotyp vom unpolitischen und maulfaulen Deutschen nahmen zahlreiche Menschen an solchen Veranstaltungen teil, wobei sie – in zeitgenössischer Perspektive – die Lebendigkeit des Gesprächs mitunter durch zu lange Redebeiträge zu ersticken und die konstruktive Atmosphäre durch zu offen zur Schau gestellte Aggression zu gefährden drohten. Hier sollte dann die metakommunikative Nachhilfe greifen. Die in Institutionen der Erwachsenenbildung und Jugendarbeit veranstalteten Kurse führten praktisch und theoretisch in »Diskussionstechnik« ein, das heißt in die Regularien zur Teilnahme an moderierten Diskussionsgruppen oder größeren Diskussionsveranstaltungen. Zugleich verweist der Film auf den Stellenwert deutscher Multiplikatoren, die das Drehbuch geschrieben und die Regie geführt hatten. Das veranschaulicht die kreative Aneignung der amerikanischen Reeducationpolitik durch deutsche Akteure, die abschließend beleuchtet werden soll.

93 Ebd., Filmmeter 125–148. 94 Ebd., Filmmeter 148–156.

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4.3 Von der »discussion« zum »Gespräch«. Kreative Aneignung und Ausblendung amerikanischer Programme Die im besetzten Deutschland durchgeführte Demokratisierungspolitik lässt sich nicht immer eindeutig auf amerikanische, britische oder französische Akteure zurückführen. Wie bereits betont, entwickelte die amerikanische Seite keine ausgefeilten Programme in den USA, die dann in Europa umgesetzt wurden. Stattdessen entstanden gerade die auf formalisierte Diskussionsrunden setzenden Aktivitäten auch als Ergebnis von kommunikativen Erfahrungen vor Ort. Daher ist neben dem »learning by doing« aller Beteiligten auch die Verflechtung verschiedener Ideen und Praktiken zu berücksichtigen – inklusive des Engagements einer Reihe von deutschen Akteuren, die sich das Ziel einer Erziehung zur Demokratie zu eigen machten oder von sich aus betrieben. Auf der Mikroebene der Demokratisierung kam es im Bereich kommunikativer Programme vor allem zu einer Amalgamierung amerikanischer, britischer und deutscher Impulse, wie der Bericht eines Bremer Lehrers mit Nachnamen Schütze veranschaulicht, der 1948 in einer Schrift zur Schulreform abgedruckt wurde. Vor rund zwei Jahren, so hieß es dort, habe sich ein junger amerikanischer Offizier dazu bereit erklärt, »mit Mitgliedern des Vegesacker Jugendringes Diskussionen in englischer Sprache abzuhalten«. Demnach war die Initiative an den Offizier herangetragen worden und nicht von ihm ausgegangen. Weiter hieß es: Zur Teilnahme meldeten sich natürlich vorwiegend ältere Schüler und Schülerinnen der hiesigen Oberschulen, und einige meiner Schüler baten mich, bei den Diskussionen zugegen zu sein, um ihnen gegebenenfalls als Dolmetscher helfen zu können. Ich tat das selbstverständlich gern […]. Die amerikanische Erziehung, das kulturelle Leben in den Vereinigten Staaten, die moderne Kunst, soziale Probleme, die Stellung der Neger in den USA, religiöse Fragen und manche andere Themen wurden diskutiert; wir alle lernten viel dabei und freuten uns stets auf den Dienstagabend. Als einige Monate später Lt. Hacket zu unserem Bedauern nach Süddeutschland versetzt wurde, stand es für uns fest, daß das nicht das Ende unserer Diskussionen bedeuten durfte. War einmal kein Amerikaner anwesend, so diskutierten wir auch allein, aber bald fanden wir in Sergeant Withers einen interessierten Förderer, in dessen Haus wir viele anregende Abende verbrachten. Immer mehr wurden wir mit der Kunst der Diskussion vertraut, die wir doch alle erst erlernen müssen. Oder wollte jemand leugnen, daß es gerade uns Deutschen nicht immer leicht fällt, bei solchen Diskussionen sachlich zu bleiben und vor allem auch die Meinung des anderen zu achten und ruhig anzuhören?95

Auch dieser Lehrer rekurrierte also auf die vermeintlich traditionell verankerte Unfähigkeit der Deutschen, abweichende Meinungen gelassen zu ertragen. Die Formel der »Kunst des Diskutierens« könnte ihm durch die im selben Jahr unter diesem Titel gedruckte, amerikanisch geprägte Ratgeberschrift bekannt ge95 Schütze, S. 29 f.

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wesen sein.96 Schütze selbst aber bezog sich nicht auf dieses Büchlein als positive Orientierungshilfe, sondern auf praktische Erfahrungen mit Briten, die sich an dem Gesprächskreis ebenfalls beteiligten und den Deutschen »zum Vorbild« geworden seien: Die bescheidene und objektive Art und Weise, in der sie bei häufig sehr großen Meinungsverschiedenheiten – besonders in religiösen Fragen – ihren Standpunkt vertraten, ohne das Gefühl zu haben, daß nur ihre Ansicht die einzig richtige sein könne, nötigte uns die größte Hochachtung ab. Mit diesen Engländern und verschiedenen Amerikanern, die gelegentlich im Hause von Sergeant Withers zu Gast waren, veranstalteten wir auch häufig sogenannte »debates«, wie sie an englischen und amerikanischen Schulen gepflegt werden. Man stellt dabei irgendeine Frage zur Diskussion, die von einer Partei, dem »house« im positiven, von der anderen, der »opposition«, aber im negativen Sinne beantwortet wird.97

In dem Bremer Gesprächskreis wurde also nach englischem Muster »debattiert«, wobei man die Anwesenden in zwei Fraktionen teilte und ihre antagonistischen Positionen gegeneinander antreten ließ. In solchen Praktiken wurde nicht Kompromissbereitschaft, sondern argumentative Durchschlagskraft trainiert. Wie hier anklingt, ging aber auch die britische Demokratisierungspolitik von dem Grundsatz aus, dass demokratische Einstellungen nicht frontal vermittelt, sondern vielmehr durch aktive Teilnahme an Gruppenarbeit selbständig erlernt werden sollten, um demokratische Tugenden wie Pluralismus, Kompromissfähigkeit und eben Diskussionsbereitschaft zu schulen.98 Wie die Studie über den Aufbau der Schülerselbstverwaltung in Niedersachsen von Friedhelm Boll eindrucksvoll zeigt, nahmen die Jugendlichen mit großer Begeisterung die Möglichkeit zum Meinungsaustausch in Jugendgruppen, Foren und Gesprächskreisen auf und prägten als neue Maxime: »Reden ist Silber, diskutieren Gold«.99 Zudem sollte auch in britischen Kriegsgefangenenlagern der »Wert der Diskussion« vermittelt werden,100 und in den von den Briten kontrollierten Rundfunksendern wurden ebenfalls diskursive Programme gepflegt.101 Die diskursiven Programme der amerikanischen Demokratisierungspolitik könnten aber sehr viel ambitionierter und umfassender als die britischen gewesen sein, da sie die Arbeit im Gespräch nicht notwendig als »hands off approach« interpretierten. Außerdem wurden sie – etwa in den Amerikahäusern – 96 97 98 99 100

Die Kunst der Diskussion. Schütze, S. 20. Vgl. Boll, Auf der Suche, vor allem S. 105–224. Ebd., S. 206. Wember, S. 159. Hierzu wurden aber keine Diskussionsgruppen eingerichtet, sondern Vorträge gehalten. Anders dagegen in »Wilton Park« in England, ursprünglich auch ein Kriegsgefangenenlager, das zu einem Ort intensiver Diskussion zwischen deutschen und britischen Eliten ausgebaut wurde. Vgl. Mayne sowie Faulk, S. 147–152. 101 Vgl. vor allem den vom BBC geprägten Nordwestdeutschen Rundfunk: Rüden u. Wagner, Geschichte, Bd. 1; Wagner, Geschichte, Bd. 2.

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über die Besatzungszeit hinaus fortgeführt.102 Schließlich etablierten sich die Amerikaner in zeitgenössischer Perspektive als Spezialisten schlechthin für das Know-how »richtigen« Diskutierens. Die jungen Protagonisten der von Friedhelm Boll untersuchten niedersächsischen Gesprächsgruppen und Selbstverwaltungen stießen auf der Suche nach kooperativen Führungsstilen auf Haus Schwalbach und die amerikanische Gruppenpädagogik.103 Und einige Lehrer suchten die Institutionen der amerikanischen Besatzungsmacht sogar gezielt auf, um sich über »discussion techniques« zu informieren. Der Leiter des Amerikahauses in Bad Homburg berichtete jedenfalls im November 1950, zwei »German high school teachers« hätten die Bibliothek besucht und »expressed their wish to improve their knowledge of discussion techniques. They were pleased to find several articles on this particular topic in the ›Amerika-Dienst‹.«104 Das in den USA entwickelte Reglement »guten« Diskutierens in der Gruppe stieß selbst in der westdeutschen Erziehungswissenschaft auf positive Resonanz. Das zeigt stellvertretend ein 1959 publizierter Aufsatz von Erich Weniger, einer der einflussreichsten Erziehungswissenschaftler der frühen Bundesrepublik, der die alliierte Demokratisierungspolitik eher skeptisch bewertete. Aber er machte auch Ausnahmen: Die eigentlich positive Leistung der Amerikaner in der Umerziehung geschah auf den Zusammenkünften, den Freizeiten, den Sonderkursen, den Wochenend-Arbeitsgemeinschaften, bei denen deutschen Erziehern und deutschen Jugendlichen aus den neuen Jugendgruppen die amerikanischen Formen der Gesprächsführung und Meinungsbildung, die Methode der amerikanischen Erziehung, die Zusammenhänge des politischen Lebens vermittelt und eine Fülle von Material in die Hand gegeben wurden.105

Es dauerte allerdings relativ lange, bis die Idee formalisierter Gruppengespräche als Instrument demokratischer Lebensform von jenem dominanten Strom der deutschen Nachkriegspädagogik anerkannt wurde, zu dem Erich Weniger selbst gehörte. Treffend erinnert einer seiner Studenten das prekäre Ansehen von »Haus Schwalbach« in der westdeutschen Erziehungswissenschaft der fünfziger Jahre: Das Besondere dieses »Heims für Volksbildung und Jugendpflege« war die Gruppenpädagogik. Magda Kelber, die damals sehr bekannte Leiterin, hat das so formuliert: Uns kommt es nicht so sehr auf das »Was« an als auf das »Wie« überhaupt. Ich erinnere mich noch genau, wie wir damals in Göttingen in dem Gefühl, an der Quelle der geisteswissenschaftlichen Pädagogik zu sitzen, belächelt und verspottet haben, was 102 Auch die öffentlichen Foren blieben weitgehend auf die amerikanische Besatzungszone beschränkt. Vgl. Borinski, S. 150–152. 103 Boll, Auf der Suche, S. 223 f. 104 Library Data Report, Bad Homburg, November 1950, Akte: Library Data Reports USICS, Box 4, 250/72/18/2-3, RG 466, NARA II. 105 Weniger, S. 524.

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in Haus Schwalbach getan wurde: Die Form, die Methode vor den Inhalt zu rücken, das sei wie Trockenschwimmen oder Reiten auf dem Holzpferd. Das seien wohl alles amerikanische Albernheiten, denn der Inhalt sei das erste, dem sich die Form zu fügen habe.106

Neben der Melange amerikanischer und britischer Einflüsse sind deutsche Traditionen zu berücksichtigen. Einige Mitarbeiter der amerikanischen Militärregierung setzten mit diskursiven Programmen ein Projekt fort, das sie schon lange vor 1945 begonnen hatten. Erich Hylla (1887–1976) hatte bereits 1930 John Deweys Hauptwerk »Democracy and Education« ins Deutsche übersetzt, 1946 wurde er zum Berater in der Erziehungsabteilung des Militärgouverneurs.107 Er prägte die Programme von hier aus mit und trug so seinen eigenen Anteil an den »multiple restorations« (Jeffrey Herf) nach 1945.108 Die einflussreichsten Texte von westdeutschen Autoren, die auf der Grundlage britisch-amerikanischer Vorlagen für Diskussionen als Element demokratischer Lebensform warben, kamen aber nicht aus der Tradition deutscher Reformpädagogik. Magda Kelber, die bereits Leiterin von Haus Schwalbach war, war beispielsweise vor allem von den Quäkern und der britischen Erwachsenenpädagogik geprägt worden. Sie legte seit den späten vierziger Jahren mehrere Hefte zu Gruppengespräch und Gruppenpädagogik vor, die ihre »Fibel der Gesprächsführung« von 1954 bündelte. Dieses knapp 150 Seiten umfassende Büchlein erschien bis in die siebziger Jahre in immer neuen Auflagen und stellte minutiös Formen und Regeln von formalisierten Gruppengesprächen dar. Auch wenn sich Kelber auf amerikanische wie britische Traditionen berief, wird gerade in Hinblick auf das Gruppengesprächen zugeschriebene Reglement der Einfluss amerikanischer Vorlagen deutlich.109 Ganz in diesem Sinne hoffte die Autorin, ihre Schrift möge dazu beitragen, »dass wir unsere Gespräche nach allgemein anerkannten Regeln führen und unsere Gegensätze in fairer Weise austragen« und »Demokratie von der bloßen Staatsform zu einer Lebensform wird, die die kleinsten Dinge unseres täglichen Lebens durchdringt«.110 Kelbers populärwissenschaftlicher Ratgeber erschien in der Reihe »Leskes Betriebsfibeln« und richtete sich nicht an eine bestimmte Berufsgruppe, wie etwa Lehrer in der Schule, sondern im Prinzip an alle Berufstätigen, welche auf Versammlungen oder in Gruppen aller Art miteinander kommunizierten – in 106 Raapke, S. 28. 107 Dewey, Demokratie. Hylla emigrierte 1933 in die USA und wurde 1946 Berater in der Erziehungsabteilung des US-Militärgouverneurs, wirkte am »Zook-Report« mit, arbeitete ab 1950 für das Erziehungsministerium in Hessen und gründete 1951 die »Hochschule für Internationale Pädagogische Forschung in Frankfurt/Main«. 108 Herf, Multiple Restorations. 109 Vgl. das Literaturverzeichnis in Kelber, Fibel, S. 138–140, das sowohl deutsche Texte zur Diskussion enthält, die nach dem Krieg in der amerikanischen Besatzungszone gedruckt wurden, als auch die britisch-amerikanischen Vorlagen. So zitiert sie u. a. Die Kunst der Diskussion; Lasker. 110 Vgl. Kelber, Fibel, S. 6.

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der Freizeit genauso wie am Arbeitsplatz. Aus ihrer Perspektive waren Gruppengespräche in allen Lebensbereichen von eminenter Bedeutung, weswegen sie ihren Ratgeber nicht auf ein bestimmtes Praxisfeld einengte. Zum Ausgangspunkt ihrer Darstellung machte sie, wie andere auch, ein angebliches deutsches Defizit: In England könne man »auf Jahrzehnte des Gesprächs in allen Situationen zurückblicken«, in Deutschland aber stünde man »am Anfang einer Entwicklung, in der demokratische Gewohnheiten erst wieder geübt werden müssen«. Daher sei »die Kunst des gemeinsamen Gesprächs eine der wichtigsten Formen, in denen wir eine demokratische Lebenshaltung im Kleinen wie im Großen üben und praktizieren können«.111 Entsprechend begann sie ihre Ausführungen mit der Anekdote einer Vereinsversammlung, bei welcher den Mitgliedern keine Möglichkeit zur Diskussion der auf dem Podium vorgetragenen Punkte erteilt worden war. Kelber wandte sich von hier direkt an ihre Leser: Sie können sicher aus eigener bitterer Erfahrung ähnliche Beispiele anführen. Sie kennen die Versammlung, in der drei geübte Diskussionsredner das Feld beherrschen und das Volk schweigt. Sie kennen den Dauerredner, dessen Motto ist: »… und alles, was ich gesagt habe, hat mir sehr gut gefallen.« […] All diese Schönheitsfehler verderben uns die Lust zur sogenannten »Diskussion«. Dabei beruhen sie beileibe nicht auf böser Absicht. Man kennt nur weithin die Spielregeln des Gesprächs nicht, ja, man weiß nicht einmal, daß es solche gibt. […] Dabei sind die Grundsätze eines guten, geordneten Gruppengesprächs ganz einfach. Jeder kann die Spielregeln lernen. Und das wollen wir nun miteinander tun.112

Ein wichtiges Moment kreativer Aneignung war Kelbers Entscheidung, auf das Wort »Diskussion« in ihrer Publikation weitgehend zu verzichten. Häufiger nutzte sie die Termini »Aussprache« oder »Gespräch«, die konsequent als Synonyme fungierten. Das hatte keineswegs stilistische Gründe. Die Festlegung auf den Ausdruck »Diskussion« sei »durchweg vermieden« worden, »da er für viele nur die Form des Streitgesprächs umfaßt und uns daran gelegen war, die Vielfalt der in geordneter Form und mehreren oder zahlreichen Menschen vor sich gehenden Gespräche zu erfassen«.113 Kelber hatte also Differenzen zwischen dem kooperativen amerikanischen und dem konfrontativen deutschen Diskussionsbegriff bemerkt und versuchte, daraus resultierende Missverständnisse zu vermeiden. Zu den Personen, die im Rahmen der Reeducation für kooperative Gruppengespräche und Demokratie als Lebensform warben, gehörte auch Theodor Wilhelm (1906–2005), neben Erich Weniger und Theodor Litt der wohl einflussreichste Erziehungswissenschaftler der westdeutschen Nachkriegszeit.114 Im Dritten Reich Vertreter der nationalsozialistischen Pädagogik, wurde er nach 111 112 113 114

Ebd., S. 121. Ebd., S. 8. Ebd., S. 115. Vgl. einführend zu Person und Werk Gagel, Geschichte, S. 51–69.

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dem Krieg zunächst als Lehrer in Oldenburg tätig und setzte sich dann unter neuem Namen als Wissenschaftler durch. 1951 verfasste er unter dem Pseudonym Friedrich Oetinger das Buch »Wendepunkte der politischen Erziehung. Partnerschaft als pädagogische Aufgabe«, das ab 1953 unter dem Titel »Partnerschaft: die Aufgabe der politischen Erziehung« erschien und die erste umfassende Monografie zur politischen Bildung nach dem Zweiten Weltkrieg darstellte.115 Unter Verweis auf die Reeducation rezipierte er hier auch das Werk John Deweys.116 Dabei rekurrierte er auf eine Monografie über den Pragmatismus des deutschen Amerikanisten Eduard Baumgarten von 1938. Dieser hatte Dewey punktuell nationalsozialistisch umgedeutet, indem er etwa das Moment der Gemeinschaftsbindung im Sinne einer exklusiven Volksgemeinschaft prononcierte.117 Wilhelm entwickelte vor diesem Hintergrund einen Begriff des Politischen, der nicht staatliche Macht, sondern menschliche Kooperation und Gemeinschaft in den Mittelpunkt stellte. So warb er für »kommunikative Partnerschaft« als Mittel wie als Zweck politischer Bildung, welche sich damit von der Staatsbürgerkunde der Weimarer Republik und der politischen Erziehung des Nationalsozialismus lösen sollte. Beide hätten schon durch die Wahl der Lehrmethoden zum Gehorsam und zur Autoritätshörigkeit erzogen, aber auch zur Kompromisslosigkeit, zum Dogmatismus und damit zur Kriegsbereitschaft. Wilhelms Ziel dagegen war der friedliebende Mensch, der mit seinen Bürgern kooperierte. Auf amerikanische Texte zur Diskussionstechnik verweisend, umriss er die Spielregeln der Kooperation, etwa Kompromissbereitschaft, Offenheit, Toleranz, die sportliche Spielgesinnung, und ermahnte: »Entscheidend ist der Ton. Mag es bei der wissenschaftlichen Auseinandersetzung vor allem auf das Ergebnis ankommen, beim kooperativen Gespräch ist der Ton ebenso wichtig.« Man solle seinen »Gegner« als »Partner« behandeln, ihm Interesse entgegenbringen, den »Ton der Unwiderruflichkeit« sowie persönliche Angriffe vermeiden und stets das Verbindende betonen.118 115 Oetinger [Wilhelm], Wendepunkt, neu veröffentlicht als: Wilhelm, Partnerschaft. Zu der bedauerlicherweise noch nicht wissenschaftlich aufgearbeiteten Biografie siehe knapp Giesecke, Demokratie; Hentges. Aus Wilhelms eigener Perspektive siehe Wilhelm, Verwandlungen. 116 Nach Gagel, Geschichte, S. 59, war Oetinger [Wilhelm], Wendepunkt, die bis dahin einzige umfassende und ausdrückliche Rezeption Deweys, abgesehen von Einflüssen auf die Projektmethode der deutschen Reformpädagogik. 117 Baumgarten. Vgl. hierzu Grammes; Gagel, Geschichte, S. 64–67. Die breitere Rezeption Deweys in Westdeutschland nach 1945 wurde durch einen 1949 erschienenen Beitrag von Sidney Hook in der Kulturzeitschrift »Der Monat« erleichtert. Vgl. Hook, S. 42: »Weder im Guten noch im Bösen hat je ein amerikanischer Philosoph so entscheidenden Einfluss auf die Anschauungen von Juristen, Soziologen, Psychologen, Erziehern, Fürsorgebeamten und vielen Gruppen von Forschern und Praktikern in Grenzgebieten der verschiedenen Wissensgebiete ausgeübt. Während die Philosophen an der Universität Deweys Philosophie meist einigermaßen ratlos gegenüberstanden, haben denkende Männer in Kunst, Wissenschaft und in den akademischen Berufen sie verständlich und nützlich gefunden.« 118 Vgl. Oetinger [Wilhelm], Wendepunkt, S. 230–238, Zitate S. 237.

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Wilhelm radikalisierte damit eine Verschiebung der Perspektive auf »Diskussion«, wie sie im Rahmen der alliierten Demokratisierungspolitik angelegt war: von der Sach- auf die Beziehungsebene, vom Inhalt auf die Form, von kognitiven auf performative Momente. Ganz ähnlich wie Kelber verzichtete aber auch er nach Möglichkeit auf den Terminus Diskussion, weil dieser im Deutschen – anders als im Amerikanischen – die falschen Assoziationen wecke. Das Problem hierzulande sah er keineswegs darin, dass zu wenig diskutiert würde, im Gegenteil: »Wir diskutieren eifrig.«119 Nur sei Diskutieren in Deutschland eine autoritative und eben keine kooperative Praxis: Vorträge ziehen oft einen Kometenschweif von interessierten Fragen und abweichenden Meinungen nach sich. Und dennoch haben wir das Empfinden: es ändert sich im Grunde nichts, weil wir aus einer eigenartigen Haltung heraus »diskutieren«, welche die Diskussion in das Gegenteil von dem verkehrt, was sie eigentlich sein soll. Sie ist bei uns mehr Deklamation als wirkliches Gespräch. […] »Autoritativ« ist die Atmosphäre der Diskussion dann, wenn die Teilnehmer ihren Standpunkt bereits mitbringen oder verhältnismäßig schnell einen festen Standpunkt beziehen, und der ganze Ablauf der Diskussion nun darin besteht, daß diese Standpunkte von den Teilnehmern verteidigt und durchgehalten werden. […] In einer kooperativen Atmosphäre ist die Haltung der Diskussionspartner anders. […] Die Streitbarkeit ist von anderer Art, nicht von der rechthaberischen, eigensinnigen, geltungsbedürftigen, demonstrativen, sondern sie ist gedämpft durch die Bescheidenheit des Suchenden, der mit der Möglichkeit des eigenen Irrtums rechnet. […] Die autoritative Art zu diskutieren liegt uns ausgesprochen, die kooperative liegt uns ausgesprochen nicht. Es liegt uns, unsere persönliche Überzeugung mit dem Pathos der Absolutheit zu versehen und zu missionieren, mit dem Eifer dessen, der sich im Besitz der Wahrheit wähnt. Es liegt uns nicht, uns für das, was der andere vorbringt, offen zu halten und auf ihn zu hören, anders, wohlwollender, revisionsbereiter, als allein aus dem taktischen Interesse, Schläge zu parieren. Das eine müssen wir wirklich vordringlich lernen, das andere nicht. Es ist gefährlich, daß beides sich unter dem Namen »Diskussion« empfiehlt.120

Wilhelms schärfster Kritiker in den ersten Nachkriegsjahren war der Bonner Pädagoge Theodor Litt, der Wilhelm vorwarf, das Wesen der Politik zu verfehlen. Denn dabei handele es sich nicht um Kooperation, sondern um Kampf und Macht, weshalb dem Staat die Aufgabe der Ausbalancierung der Kräfte zukommen müsse.121 Langfristig war Wilhelm vor allem desavouiert, weil sein nationalsozialistischer Hintergrund und die nationalsozialistische Ausdeutung des Pragmatismus durch Baumgarten offenbar wurden.122 Tatsächlich aber lag in der Verbindung – und Versöhnung – von Gemeinschaftsdenken und pluralistischem Meinungsaustausch eine zentrale Leistung seines Werkes. Die Verän119 120 121 122

Ebd., S. 231. Ebd., S. 232 f. Zu dieser Kontroverse siehe Gagel, Geschichte, S. 49–76; Braun, S. 119 f. Vgl. vor allem Keim. Dagegen in scharfem Ton Wilhelm, Verwandlungen.

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derungen kommunikativer Ideale nach 1945 gelangen offenbar nicht nur trotz, sondern auch mit dem nationalsozialistischen Erbe, was noch zu untersuchen wäre. In »Wendepunkt der politischen Erziehung« von 1951 verwies Wilhelm explizit auf die Reeducation als Hintergrund seiner Ausführungen. Er wandte sich direkt an die den alliierten Maßnahmen gegenüber skeptischen Pädagogen und versuchte, sie vom vorpolitischen Antlitz einer Erziehung zur Demokratie zu überzeugen.123 In späteren Veröffentlichungen fehlte diese Verteidigung. Vielmehr erklärte Wilhelm in »Pädagogik der Gegenwart« von 1959, das sich zum Standardwerk der westdeutschen Didaktik mauserte, »daß die Pädagogik der Gegenwart in der Tat mit der Reformpädagogik beginnt«.124 Ob diese Neuakzentuierung einer veränderten Einschätzung der Reformpädagogik entsprach, sei dahingestellt. Es könnte sich auch um eine Strategie gehandelt haben, das neue Buch nicht durch das schlechte Image der amerikanischen Reeducation zu desavouieren – oder davon abzulenken, dass Wilhelm selbst eben kein Reformpädagoge, zudem überzeugter Nationalsozialist gewesen war. Sicher ist aber ein Effekt seines Vorgehens, nämlich die in den Jahrzehnten nach dem Zweiten Weltkrieg immer stärkere Ausblendung alliierter Umerziehungsmaßnahmen. Die amerikanischen Re-Edukatoren hatten sich von Anfang an bemüht, die Diskursivierung der westdeutschen Gesellschaft als ein von Deutschen selbständig betriebenes Projekt erscheinen zu lassen – zumindest hierin waren sie erfolgreich. Die Unsichtbarmachung des amerikanischen Einflusses wurde durch die zunehmende Übersetzung der in den USA beworbenen Forums- und Gruppendiskussionen unter dem Label des »Gesprächs« erleichtert. Auch deshalb konnte Alfons W. Hilgers 1961 in seiner Dissertation konstatieren, die emotionale Bewertung des Wortes Diskussion habe sich in Westdeutschland seit Ende des Krieges verschlechtert. Er führte das unmittelbar auf die amerikanische Demokratisierungspolitik zurück. In seiner Perspektive hatten Diskussionen in der westdeutschen Nachkriegsgesellschaft an symbolischer Wertigkeit verloren, nicht obwohl, sondern gerade weil sie gezielt implementiert werden sollten: Wen aber wundert es da, daß die Diskussion im Laufe der Zeit ebenso abgewertet wurde wie die Debatte? Zu dem Gefühl, dass es sich letztlich doch um erfolgloses Gerede handele, gesellte sich nämlich nun noch der nicht ganz unbegründete Verdacht, die Diskussion stehe in enger Beziehung zu den nicht sehr populären Bemühungen der westlichen Siegermächte um die »re-education«, die Umerziehung des deutschen Volkes zu der so lange beschimpften und nun suspekten Demokratie.125 123 Dabei räumte er freimütig ein, auch diese setze ein »ganz bestimmtes Menschenbild« voraus, »das viel voluntaristischer ist, als die demokratische Theorie selbst wahrhaben will«. Oettinger [Wilhelm], Wendepunkt, S. 18 f. 124 Vgl. Wilhelm, Pädagogik, S. 56. 125 Hilgers, S. 186 f., Hervorhebung im Original.

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Hilgers scheint sich also dem skeptischen Eindruck Billy Wilders anzuschließen, in dessen eingangs behandeltem Spielfilm aus dem Jahr 1961 von einer diskursivierten Gesellschaft nichts zu sehen war. Auch andere Anhänger oder sogar persönlich Beteiligte der alliierten Demokratisierungspolitik zeigten sich in dieser Zeit besorgt über die nur schleppenden oder gar ausbleibenden Fortschritte der Bundesdeutschen. Aber dieses Urteil fiel vorschnell aus. So machte Hilgers die abnehmende Wertschätzung von Diskussionen daran fest, dass angeblich keine jüngere Literatur zu diesem Thema erschienen sei.126 Er übersah dabei zahlreiche jüngere Texte über argumentativen Meinungsaustausch in der Gruppe, die unter Labeln wie »Gespräch«, »Aussprache« oder »Gesprächsführung« Literatur zur »discussion technique« rezipierten.127 Sie umgingen das Wort »Diskussion«, das im Deutschen einen agonalen Klang hatte, beschrieben aber die im Amerikanischen als »discussion« gefasste Sache. Wie im nächsten Teil des Buches gezeigt werden soll, erfuhr die kommunikative Gattung des Diskutierens nach Gründung der Bundesrepublik keinen Einbruch, sondern im Gegenteil eine stetige Aufwertung. Die amerikanische Demokratisierungspolitik trieb diese Entwicklung keineswegs allein oder primär voran, aber sie trug doch zu ihr bei. Bereits in den auf amerikanischem Boden befindlichen Kriegsgefangenenlagern, so ist zu resümieren, wurden Forums- und Gruppendiskussionen eingeführt, wobei sich die Gefangenen teilweise in der Rolle des Moderators abwechselten, um Sensibilität für die Regeln des Gesprächsablaufs zu entwickeln. In der amerikanischen Besatzungszone fanden dann halböffentliche Diskussionsgruppen und öffentliche Diskussionsveranstaltungen statt, zunächst nur punktuell, schließlich immer regelmäßiger und flächendeckender. In der HICOG-Phase durchzog die Veranstaltung von Diskussionen sämtliche Aktivitäten zur habituellen Demokratisierung der Westdeutschen – von den auf der Ebene der Graswurzeldemokratie liegenden Programmen über die Medienpolitik und die Kulturpolitik bis hin zur Bildungspolitik und zur außerschulischen politischen Bildung. Gleichzeitig wurden metakommunikative Filme zur »Diskussionstechnik« gezeigt, entsprechende Ratgeberschriften gedruckt und Kurse eingerichtet, die ausschließlich die Technik des Diskutierens einüben sollten, verstanden als spielerisch-kooperative Gruppenaktivität. Die amerikanische Reeducationpolitik, die von Anfang durch Deutsche mitgestaltet wurde, hinterließ damit neben institutionalisierten Foren und Formen des Meinungsaustauschs in den Medien, in der Kulturarbeit und im Bildungswesen eine Reihe geschulter Moderatoren, eine teilweise im Argumentieren frühzeitig geübte Jugend sowie ein wissenschaftlich nobilitiertes Verständnis 126 Ebd., S. 187. 127 Vgl. neben den verschiedenen Auflagen von Kelber, Fibel, erschienen in 9. Aufl. 1970, vor allem E. Müller, Kunst, in der 2. Aufl. 1969; Fabian. Neben dieser Ratgeberliteratur sind auch pädagogische Abhandlungen hervorzuheben, neben Wilhelm, Pädagogik, 1963 in 3. Aufl., und Borinski, vor allem Pöggeler, Methoden.

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von Diskussionen als kooperative und soziale statt ausschließlich kompetitive und kognitive Praxis. Das rückte das kommunikative Muster »Diskussion« von der parlamentarisch-konfliktiven »Debatte« ab und führte es stattdessen an die freundlich-gesellige »Konversation« heran – und genau das ermöglichte einen langfristigen Wandel kommunikativer Dispositionen in Westdeutschland.

Dritter Akt

Westdeutsche Obsessionen. Diskussionen als symbolisches Kapital in post-diktatorischen Zeiten

1. Einleitung »Deutschland«, formulierte Karl Jaspers 1946, »kann nur wieder zu sich kommen, wenn wir Deutschen in der Kommunikation zueinander finden.«1 Nach den Erfahrungen von Diktatur und Krieg, so erläuterte der im Dritten Reich unter Publikationsverbot stehende Philosoph, habe das Gespräch über politische Grenzen hinweg besondere Virulenz, denn »Einheit durch Zwang« tauge nichts, sie verfliege als »Schein in der Katastrophe.« Nur in der Akzeptanz von Dissens sah Jaspers zudem ein Fundament, um »mit den anderen Völkern reden zu können«.2 Dabei entwarf er ein Gesprächsideal, das die Bereitschaft zum kooperativen Hinhören und zum Umdenken betonte. »Wir wollen lernen«, so Jaspers eindringlich, »miteinander zu reden. Das heißt, wir wollen nicht nur unsere Meinung wiederholen, sondern hören, was der andere denkt. […] Das Ergreifen des Gemeinsamen im Widersprechenden ist wichtiger als die voreilige Fixierung von sich ausschließenden Standpunkten, mit denen man die Unterhaltung als aussichtslos beendet.«3 Jaspers stieß vorübergehend durchaus auf Gleichgesinnte. In den allerersten Jahren nach Kriegsende florierten semi-öffentliche Diskussionsgruppen verschiedener Art, in denen sich die gebildeten Eliten, aber etwa auch politisch oder kulturell interessierte Jugendliche austauschten. Spontane Kreisbildungen standen zudem im Zentrum der Parteibildungsphase, sie waren Ausgangspunkt der allerorts neu gegründeten Zeitschriften oder von Leserkreisen. Wie Friedhelm Boll betont, gab es »wohl kaum eine Epoche in der deutschen Geschichte, in der informelle Gesprächskreise, Solidargemeinschaften und Zirkel eine größere Rolle hatten als in der Nachkriegszeit«.4 Das war auch ein Ergebnis der eben geschilderten Demokratisierungspolitik, die das argumentative Gespräch in der Gruppe anregte und forcierte sowie durch metakommunikative Empfehlungen 1 2 3 4

Jaspers, S. 24. Ebd., S. 18. Ebd., S. 14 f. Boll, Auf der Suche, S. 18.

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kanalisierte. Laut dem Literaturwissenschaftler Hans Mayer, der 1933 nach Frankreich emigriert war und später unter amerikanischer Besatzung als Chefredakteur von Radio Frankfurt arbeitete, bevor er in die sowjetische Besatzungszone zog, kam die nach Kriegsende einsetzende »Ära der Disputationen« allerdings schon mit der Währungsreform wieder an ihr Ende.5 Vor dem Hintergrund des Kalten Krieges und der langsamen Konsolidierung der politischen wie ökonomischen Situation sank das Interesse an parteien- und frontenübergreifendem Meinungsaustausch ebenso wie die Bereitschaft, sich der Verbrechen des Zweiten Weltkriegs anzunehmen.6 Gleichwohl nahm, wie nun gezeigt werden soll, die Institutionalisierung des Handlungsmodus »Diskutieren« nach Gründung der Bundesrepublik Deutschland weiter sprunghaft zu. Der Austausch von Meinungen über einen strittigen Gegenstand entwickelte sich von einem zwar bekannten, aber nur von wenigen sozialen Gruppen in wenigen Praxisfeldern sowie lediglich situativ aufgewerteten Phänomen zu einer kommunikativen Gattung, die von immer neuen Personengruppen regelrecht beworben und letztlich in alltäglichen Routinen fest verankert wurde. Diese Entwicklung setzte nicht schubartig in den sechziger Jahren ein, sondern lange vorher, wobei sie verschiedene Handlungsräume und soziale Gruppen mit unterschiedlichen Tempi erreichte. Auch in Hinblick auf die Formen des Diskutierens fallen Brüche auf: Das im Rahmen amerikanischer Reeducationpolitik beworbene Reglement eines beziehungsorientierten, dissensfreudigen sowie ergebnisoffenen Gruppengesprächs, das sich mit Jaspers Plädoyer zum Hinhören und zur Wertschätzung von Widerspruch kongenial ergänzte und das in den fünfziger Jahren parteiübergreifend Anhänger fand, geriet langfristig wieder in Vergessenheit. Der Spannungsbogen der Darstellung verläuft über zwei Fallstudien, die beide auf öffentlich und ostentativ zur Schau gestellte Orte von Diskussionslust in Westdeutschland verweisen und zugleich auf Versuche, die allgemeine Diskussionsdichte – auch im Privaten – zu erhöhen. Es geht einerseits um Werner Höfers »Internationalen Frühschoppen mit sechs Journalisten aus fünf Ländern«, die beliebteste und langlebigste Diskussionssendung in den westdeutschen Massenmedien, sowie andererseits um die westdeutschen Studentenproteste, deren Protagonisten die Bundesrepublik auch mit der Forderung nach mehr und »echter« Diskussion provozierten, verunsicherten und veränderten. Höfers »Frühschoppen«, in den frühen fünfziger Jahren entstanden, steht für den Versuch einer Diskursivierung seitens der etablierten Eliten, also von »oben«, fast zu Beginn des Untersuchungszeitraums: Mit didaktischem Anspruch sollte 5 Mayer, S. 402. 6 Die ersten Nachkriegsjahre, so betont Laak, S. 43, wurde von vielen Intellektuellen als »eine Phase von außergewöhnlicher intellektueller Ernsthaftigkeit und als große Zeit von Gesprächskreisen aller Art erinnert, die wohl selten zuvor in solch offener Zusammensetzung aufgetreten waren.« Siehe zu den diversen Gesprächsarenen der ersten Nachkriegsjahre vor allem ebd., S. 42–69, sowie Boll, Auf der Suche; Morat, Techniken; Forner. Zur Wertschätzung von Dialogizität auch Kilian, Demokratische Sprache, S. 94.

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der Bevölkerung Lust auf den freien Meinungsaustausch gemacht werden, welcher sich in einem humorig-höflichen, international besetzten Männerbund mit autoritärem Moderator vollzog. Zugleich verweist diese Fallstudie auf die Implementierung von Diskussionssendungen in die Massenmedien. Die Studentenbewegung erreichte ihre Hochphase am Ende des Untersuchungszeitraums und verweist auf die Forderung nach Diskussion seitens einer Protestbewegung, die sich gleichsam von »unten« gegen den Staat und das »Establishment« installierte. Die Protagonisten dieser Bewegung verfügten bereits über einen hochgradig diskursiven Habitus, den sie weiter festigten, und sie zeugten damit von einem Wandel alltäglicher Deutungsmuster und Handlungsroutinen. Damit benennen die Fallstudien die beiden zeitlichen und analytischen Pole der Darstellung, die durch ein diachron angelegtes Kapitel zu den fünfziger und sechziger Jahren sowie einen Ausblick in die siebziger und achtziger Jahre ergänzt werden. Welche Hypothesen lassen sich ausgehend von den Fallstudien über die verordnete und eingeforderte Diskussionskultur der westdeutschen Gesellschaft insgesamt entwickeln? Und welche Effekte hatte die alliierte Politik der Reeducation, das heißt der Versuch einer Diskursivierung von »außen«?

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2. Die »school of applied democracy«. Werner Höfers Diskussionssendung »Internationaler Frühschoppen« Seit den frühen fünfziger Jahren verfolgten Millionen westdeutsche und auch manche ostdeutsche Haushalte jeden Sonntag den »Internationalen Frühschoppen mit sechs Journalisten aus fünf Ländern«.1 Die von Werner Höfer (1913– 1997) geleitete Diskussionssendung kann mit einer Laufzeit von über drei Jahrzehnten und durchgehend hohen Einschaltquoten als eine der erfolgreichsten Produktionen in den bundesdeutschen Massenmedien überhaupt gelten.2 Sie wurde parallel in Rundfunk und Fernsehen übertragen, die ihrerseits immer mehr in die Alltagskultur eindrangen und zu entscheidenden Schaltstellen politischer Information sowie kultureller Selbstverständigung avancierten.3 Wenngleich weder Medien- noch Geschichtswissenschaften sich der Sendereihe bisher intensiver angenommen haben, waren die Zeitgenossen von der »Werner-HöferSchau« fasziniert.4 Regionale, überregionale, aber auch internationale Zeitungen widmeten sich dieser Sendereihe in den fünfziger und sechziger Jahren als einem bemerkenswerten und spezifisch westdeutschen Phänomen.5 Unter dem 1 Aus stilistischen Gründen wird die Sendereihe im Folgenden als »Internationaler Frühschoppen« oder »Frühschoppen« abgekürzt. 2 Einführend zur Entwicklung des »Frühschoppen« vgl. die knappen Skizzen von Foltin, S. 73–75; Geisler; Stülb; Lilienthal und neuerdings Keller, S. 113–119. Siehe außerdem die Selbstdarstellung durch Höfer, Internationaler Frühschoppen, sowie zeitgenössisch Heim. Die Rezeption in der DDR ist ein eigenständiges Thema, das in der vorliegenden Arbeit nicht behandelt werden kann. Kurz erwähnt und in breitere Tendenzen eingebettet wird der »Frühschoppen« außerdem bei Wagner, Geschichte, Bd. 2, hier die Beiträge von Fuge u. Hilgert; Lührs. 3 Vgl. einführend zu Merkmalen, Phasen und Ambivalenzen der Medialisierung Bösch u. Frei, Ambivalenzen. Zum Wechselverhältnis von Massenmedien und politischer Öffentlichkeit siehe Weisbrod, Öffentlichkeit; Frevert u. Braungart. Einführend zur Geschichte von Rundfunk und Fernsehen nach 1945 siehe die Forschungsüberblicke von Diller, Forschungen; Marßolek, Radio; Schildt, Jahrhundert, die methodischen Überlegungen von Lindenberger, Vergangenes Hören und Sehen, sowie die grundlegenden Arbeiten zum Rundfunk von Marßolek u. von Saldern, Radiozeiten; Dussel, Hörfunk; Hodenberg, Konsens; Badenoch, und zum Fernsehen Kreuzer u. Thomsen; Hickethier, Geschichte. 4 An., Werner-Höfer-Schau. 5 Zur höchst umfangreichen zeitgenössischen Berichterstattung in den Printmedien siehe unter anderem: Zeitungsausschnittssammlung zur Sendung »Internationaler Frühschoppen«, Laufzeit 1958–1973, Akte 5677; Zeitungsausschnittssammlung zur Sendung »Internationaler Frühschoppen«, Laufzeit 1968–1975, Akte 5678; Presseinformationen und Presseartikel zu Werner Höfer und dem Internationalen Frühschoppen, Laufzeit 1956–1997, Akte 8963; Chronik, Ansprachen, Presseinformationen, Akte 9875; Presseausschnittssammlung zur Person Werner Höfer, Band 1/4, Akte 11168; Presseausschnittssammlung zur Person

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Titel »Weekly TV Discussion of News Drawing 10 Million in Germany« brachte im November 1970 sogar die »New York Times« einen Beitrag, der mit den Worten begann: Almost two-thirds of the West German citizenry gets its daily dose of information about the world from television. […] Paradoxically, the best-known and best-liked journalist here is not a newscaster but a man who has been conducting a discussion of the main topic of the week with four or five foreign correspondents every Sunday noon since 1953. He is 57-year-old Werner Höfer. His program, »Internationaler Frühschoppen«, is West Germany’s longest-lived television program. It enjoys a solid audience of about 10 million or, one quarter of the adult population of Germany.6

Als rätselhaft galt dem Autor, dass die Westdeutschen ausgerechnet einem politischen Gespräch unter Journalisten so viel Aufmerksamkeit schenkten. Tatsächlich sucht der »Frühschoppen« in anderen Ländern seine Parallele vergeblich, und amerikanische Überlegungen, das Sendeformat zu kopieren, versandeten.7 In Westdeutschland erfreute sich Höfers Journalistenrunde dagegen fast von der ersten Sendung an großer Beliebtheit. Erklärungsbedürftig ist insbesondere die Zeitstruktur dieser Erfolgsgeschichte. Die Anfänge der politischen Diskussionssendung und ihr rascher Aufstieg zu einem Fixstern bundesdeutscher Wochenendgestaltung fallen gerade nicht in die »dynamischen Zeiten« der langen sechziger Jahre, als sich die Gesellschaft politisierte, demokratisierte und die Massenmedien »Zeitkritik« zum journalistischen Prinzip erkoren.8 Nein, der »Internationale Frühschoppen« ist ein Kind der frühen fünfziger Jahre, also einer – so das einschlägige Urteil der Forschung – politisch eher desinteressierten und konsensorientierten Dekade, Werner Höfer, Band 2/4, Akte 11169; Presseausschnittssammlung zur Person Werner Höfer, Band 3/4, Akte 11170; Presseausschnittssammlung zur Person Werner Höfer, Band 4/4, Akte 11171; Glückwunschschreiben anlässlich der 1000 Sendungen u.s.w., Akte 11221; 15 Jahre »Internationaler Frühschoppen« im Fernsehen, Pressestimmen, Teilnehmerübersicht, Akte D1210; 25 Jahre »Internationaler Frühschoppen«, Akte D 1503, alle HA WDR. 6 Binder, o. S. 7 Als Vorbild der Sendereihe wird mitunter die US-amerikanische Produktion »Meet the Press« genannt, die seit November 1947 jeden Sonntag auf NBC übertragen wurde. Sie zeigt bis heute eine Runde von Journalisten, die wie bei einer Pressekonferenz eine Person des öffentlichen Lebens interviewen. Vgl. zu »Meet the Press« Ball sowie ebenfalls die Differenzen zwischen beiden Sendeformaten betonend Geisler, S. 239. Die in den frühen siebziger Jahren bei CBS entwickelte Idee, nach dem Modell des »Internationalen Frühschoppen« eine Diskussionsrunde allein mit Journalisten zu veranstalten, konnte sich in den USA nicht durchsetzen. Vgl. WDR Information, Nr. 332/70, 25.11.1970, Pressestelle, Akte 8963, HA WDR: »Der lobende Hinweis auf den ›Internationalen Frühschoppen‹ in der New York Times vom 4.11.1970 hat zur Folge gehabt, daß CBS, eine der drei großen amerikanischen Fernsehgesellschaften, gebeten hat, die Magnetaufzeichnung einer FrühschoppenSendung zur Verfügung zu stellen, um sich über Konzeption und Realisation ein Bild zu machen.« 8 Vgl. zu den sechziger Jahren Hodenberg, Konsens, S. 293–360.

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in der die Massenmedien kaum Kritik an der Regierung Adenauer zu formulieren wagten und das Fernsehen bevorzugt Unterhaltungssendungen brachte.9 »Trotz der allgemeinen Politikverdrossenheit im Wirtschaftswunderland«, so wundert sich daher der Rundfunkhistoriker Mark Lührs, »traf Höfer mit seiner sonntäglichen Gesprächsrunde einen Nerv der Bevölkerung.«10 Im Folgenden sollen vor allem diese rätselhaften Anfänge des »Frühschoppen« in den fünfziger und sechziger Jahren beleuchtet werden. Bei der Analyse stehen in synchroner Perspektive weniger die Gesprächsinhalte, sondern vor allem die Gesprächsformen der Sendereihe im Zentrum, was einerseits der Anlage des Buches entspricht, andererseits aber auch, wie zu zeigen sein wird, dem Selbstverständnis Höfers. Er begriff die Produktion nicht zuletzt als Werbekampagne für eine als demokratisch gedachte Kulturtechnik: das Diskutieren. Die Fallstudie basiert auf schriftlichen und audiovisuellen Quellen. Sie umfassen die Hörer- und Zuschauerpost sowie die umfangreiche Presseausschnittsammlung zur Sendereihe. Darüber hinaus wurden Akten zu ihrer Planung, Durchführung und Auswertung gesichtet. Hierzu gehören beispielsweise Sendemanuskripte, statistische Erhebungen zum Zuschauerverhalten, Gehaltsabrechnungen, interne und externe Korrespondenz von Werner Höfer und seinen Intendanten.11 Technisch war es zunächst nicht möglich, live ausgestrahlte Sendungen parallel aufzuzeichnen, daher steht für die erste Dekade kein Filmmaterial zur Verfügung.12 Aus den fünfziger Jahre konnten aber die ersten erhaltenen Tonbandmitschnitte zum »Internationalen Frühschoppen« ausgewertet werden.13 Für die sechziger Jahre wurden drei ausgewählte Sendungen eingesehen, zu denen auch schriftliche Quellen zur Verfügung stehen, beispielsweise Hörer9 Nach ebd., S. 205, waren die Massenmedien durch eine generelle Tendenz zu apolitischem »Konsensjournalismus« gekennzeichnet, zu dessen Merkmalen Meinungsjournalismus, Harmoniestreben sowie Staatsnähe und Anpassungsbereitschaft der Journalisten zählten. Zur Beliebtheit unterhaltender Sendeformate, die zunächst in Spannung zu den in kulturkritischen Elitendiskursen formuliertem Anspruch an ernsthafte Programminhalte stand, siehe Meyen; Weingart; Dussel, Streit; und in deutsch-deutsch vergleichender Perspektive Classen. Grundlegend zu Rundfunk- und Fernsehangeboten sowie den Publikumspräferenzen in den fünfziger Jahren Schildt, Moderne Zeiten, S. 229–261, 283–305. 10 Lührs, S. 303. 11 Mit der dankenswerten Unterstützung von Dr. Birgit Bernhard wurde das gesamte elektronisch erfasste Schriftgut des HA WDR für die fünfziger und sechziger Jahre auf die Stichworte »Internationaler Frühschoppen« und »Werner Höfer« durchsucht, um die entsprechenden Akten komplett einzusehen. 12 Mit der Hilfe von Dr. Hans Hauptstock wurde ausgehend von der Videodatenbank des WDR eine Liste aller erhaltenen originalen Fernsehsendungen von der Erstausstrahlung bis 1973 erstellt (Sendereihe »Internationaler Frühschoppen« vom 6.1.1966, Archivnr. 0164369 bis »Internationaler Frühschoppen« vom 9.12.1973, Archivnr. 0267360, VA WDR). 13 Tondokument 5098674, Demnächst auf dieser Welle. Ausblicke aufs Programm, Einblicke in die Produktionen des NWDR Köln, 11.1.1952, Sendebeginn 19.30, NWDR; Tondokument 10002414, Internationaler Frühschoppen mit sechs Journalisten aus fünf Ländern. Diskussion zu aktuellen politischen Themen, 13.9.1952 [ältester erhaltener Mitschnitt der Sendereihe], Sendebeginn 12.00, beide NWDR, AA WDR.

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und Zuschauerpost, Korrespondenz oder Presseausschnitte.14 Das erlaubt die dichte Beschreibung von ausgewählten Fernsehereignissen.15 Im Folgenden wird der »Frühschoppen« nach einführenden Bemerkungen zum Sendeformat – wie bei einem Close Up – aus größerer Nähe betrachtet, um einige Merkmale der Binnen- und Außenstruktur des Gesprächs genauer auszuloten. Es wird auf die Gesprächsatmosphäre einzugehen sein, auf die männerbündisch-internationale Zusammensetzung der Teilnehmer sowie auf die besondere Balance von Gesprächsthemen und -tabus unter einer äußerst aktiven Gesprächsleitung. Auf dieser Grundlage wird gezeigt, dass die skizzierten Sendemerkmale auch einer pädagogischen Zielsetzung dienen sollten, nämlich einer Anregung zur Diskussion. Nach Bemerkungen zum Sozialprofil des Publikums und zur Ritualisierung der Senderezeption wird abschließend die sich langsam wandelnde öffentliche Bewertung des »Frühschoppen« angesprochen. Zunächst von vielen Seiten für seine demokratisierenden Effekte gelobt, geriet die Sendereihe in der linksliberalen Presse seit den späten sechziger Jahren als pseudo-demokratisches, inhaltsleeres Ritual auch in die Kritik.

2.1 Sendeformat. Die »amphibische« Diskussion Der »Internationale Frühschoppen« war ein moderiertes Studiogespräch zwischen aus- und inländischen Journalisten über aktuelle außenpolitische, seltener innenpolitische Themen. Es wurde seit dem Januar 1952 über das UKWProgramm des Nordwestdeutschen Rundfunks (NWDR) gesendet und ging nach dessen Aufspaltung 1956 in den Zuständigkeitsbereich des WDR über.16 Das Fernsehen schloss sich der Übertragung seit August 1953 an, ebenso zahlreiche andere Rundfunkanstalten, etwa der Norddeutsche Rundfunk, der Süddeutsche Rundfunk Stuttgart, der Sender Freies Berlin und Radio Bremen. Sie alle präsentierten den »Internationalen Frühschoppen« jeden Sonntag ab zwölf Uhr, anfangs über dreißig, später in der Regel über vierzig bis 45 Minuten.17 14 Video 0267221, Internationaler Frühschoppen mit sechs Journalisten aus fünf Ländern, Thema: Besuch aus Frankreich – Besuch aus Dänemark, 13.6.1965, Sendebeginn 12.00, WDR; Video 0267242, Internationaler Frühschoppen mit sechs Journalisten aus fünf Ländern, Thema: Fragen an, in und um Berlin, 16.7.1967, Sendebeginn 12.00, WDR. Video 0267247, Internationaler Frühschoppen mit sechs Journalisten aus fünf Ländern, Thema: Wie konnte geschehen, was in Deutschland in den Jahren 1933 und 1939 geschehen ist?, 27.8.1967, Sendebeginn 12.00, WDR, alle VA WDR. 15 Parallel wurden mit Hilfe von Maria Lutze, WDR, mehrere Standbilder der Sendereihe von der Erstausstrahlung bis in die siebziger Jahre gesichtet. 16 Grundlegend zur Entwicklung von NWDR und WDR siehe Rüden u. Wagner, Geschichte, Bd. 1; Wagner, Geschichte, Bd. 2; Rüden u. Wagner, Vom NWDR. 17 Nach dem Zweiten Weltkrieg etablierten sich in der britischen Zone der NWDR, in der französischen Zone der Südwestfunk sowie in der amerikanischen Zone Radio Bremen, Radio Frankfurt, Radio Stuttgart und Radio München, während in Berlin der Sender Freies Berlin den Betrieb aufnahm. Die Ansage der Sendung vom 4.7.1954 erklärte, es handele sich

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Da das westdeutsche Fernsehen in den frühen fünfziger Jahren noch in den Anfängen steckte,18 handelte es sich beim »Frühschoppen« um eine der ersten und zudem um die langlebigste Fernsehdiskussionssendung der Bundesrepublik. Sie gehörte zu den Aushängeschildern der ARD, wenngleich die Zuständigkeit für den in Fernsehen und Rundfunk übertragenen und insofern »amphibischen Frühschoppen« (Werner Höfer) bis zum Schluss beim WDRHörfunkdirektor lag.19 Die in den Medienwissenschaften übliche Abgrenzung zwischen dem Genre der »Fernsehdiskussion« und dem der »Talkshow« ist allerdings umstritten, wobei sich die Unschärfen an Höfers Sendereihe plastisch illustrieren lassen. Als Funktion der Fernsehdiskussion gilt konventionell die argumentative Erörterung eines bestimmten Sachverhalts: Sie soll informieren. Die Talkshow dagegen stellt die geladenen Gäste ins Zentrum und will unterhalten.20 Der »Frühschoppen« sollte indes, folgt man Höfers Darstellungen, sowohl informieren als auch unterhalten, er war sach- wie personenorientiert.21 Diese Verknüpfung diente der Erfüllung einer weiteren Funktion, die in der heutigen Medienwissenschaft völlig in Vergessenheit geraten ist, nämlich der Stimulierung von Diskussionsbereitschaft.

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um eine Sendung des Nordwestdeutschen Rundfunks Köln, Ultrakurzwellensender West und Zweites Programm Nord, angeschlossen seien das Zweite Programm des Süddeutschen Rundfunks und das Fernsehen des Nordwestdeutschen Rundfunks mit den Sendern Bonn, Hamburg, Hannover, Köln und Langenberg, sowie der Sender Freies Berlin, Radio Bremen, der Hessische Rundfunk mit dem Fernsehsender Feldberg und der Südwestfunk mit seinen Fernsehsendern. Vgl. Laufplan für den Tonträgerdienst, Titel: Internationaler Frühschoppen, Sonntag den 4.7.1954, Akte 5663, HA WDR. Im Dezember 1952 nahm das NWDR-Fernsehen seinen Betrieb auf, im November 1954 folgte dann das Gemeinschaftsprogramm der »Arbeitsgemeinschaft der Rundfunkanstalten Deutschlands« (ARD), bezeichnet als »Deutsches Fernsehen«. Einführend zur Institutionen- und Programmgeschichte des westdeutschen Fernsehens in den fünfziger und sechziger Jahren vgl. in sozial- und kulturhistorischer Perspektive Schildt, Beginn; ders., Moderne Zeiten, S. 262–300; Dussel, Vom Radio- zum Fernsehzeitalter. Speziell zum NWDR-Fernsehen siehe Hickethier, Bilder; Witting-Nöthen; Pfeifer; Rölle. Höfer, Der amphibische Frühschoppen. Zu den Merkmalen des Sendeformats Fernsehdiskussion und seiner Geschichte in Westdeutschland siehe vor allem Foltin, S. 69–76; N. Schneider, Art. »Fernsehdiskussion«, sowie zeitgenössisch Barloewen u. Brandenburg, die in den frühen siebziger Jahren dafür plädierten, die Talk Show als eine personen- und nicht sachbezogene Sendung von Fernsehdiskussionen abzugrenzen. Informativ auch Holly u. a. Einführend zur Geschichte der Talkshow im westdeutschen Fernsehen inklusive amerikanischer Vorläufer siehe Foltin und jetzt Keller, der unter dem Label »Talkshow« sehr breit Gesprächssendungen unterschiedlichster Art vorstellt. Vgl. Höfer, Der amphibische Frühschoppen. Foltin, S. 71, ordnet den »Frühschoppen« daher auch dem Genre der Talkshow zu. Höfer selbst grenzte die Sendung von den westdeutschen Talkshows der frühen siebziger Jahre scharf ab, weil es sich um »eine Diskussion über ein vorgegebenes, von der Aktualität diktiertes Thema« handele, was es so bei einer Talkshow nicht gebe. So Höfer, Talk menschlich, S. 15.

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Nicht nur im Fernsehen, auch im Rundfunk waren Diskussionssendungen, in denen die Teilnehmer ihre Argumente vor den eingeschalteten Mikrofonen ad hoc und live entwickelten, ein junges Format.22 Im Nationalsozialismus war es dem gleichgeschalteten Rundfunk nicht erlaubt gewesen, Redebeiträge auszustrahlen, ohne sie vorher schriftlich zu fixieren und genehmigen zu lassen.23 In der Weimarer Republik hatte es immerhin den zaghaften Versuch gegeben, »Kontradiktorische Gespräche« über Wissenschaft, Kunst und Technik und schließlich auch Politik 1928 ins Programm zu bringen. Wie Winfried B. Lerg paraphrasiert, erklärte dazu die Pressestelle des Preußischen Staatsministeriums, man wolle das Volk bewegende Fragen, auch wenn diese dem Streit der Parteien noch nicht entzogen seien, beherzt anpacken und von einer gehässigen auf eine sachlich-leidenschaftslose Ebene überführen. Die ersten Teilnehmer der Sendung »Gedanken der Zeit« sprachen dann aber nicht spontan, sondern lasen vorab formulierte, vortragsähnliche und von der Zensur genehmigte Statements vom Blatt ab. Lediglich zwölf von insgesamt 21 Sendungen brachten keine Vorträge, sondern tatsächlich Gespräche.24 Allerdings provozierte dies etwa bei Heinz Monzel, einem katholischen Rundfunkpolitiker, den Vorwurf, die Polarisierung der politischen Kultur voranzutreiben.25 1941 wurde die Sendung rückblickend in einer rundfunkkundlichen Untersuchung mit dem Hinweis kommentiert, sie sei Ausdruck jener »Sowohl-als-auch-Haltung« gewesen, der »die Meinungsfreiheit wichtiger war als die Verbreitung klarer und allen einleuchtender Grundsätze«.26 Erst nach Ende des Zweiten Weltkriegs brachte der Rundfunk regelmäßig Diskussionssendungen, in denen »frei« gesprochen wurde, ohne eine Kontrolle oder Manipulation des gesprochenen Wortes a priori oder a posteriori.27 Von den West-Alliierten waren solche Sendungen nicht nur relativ bald genehmigt, sondern auch vielfältig angeregt worden, wenngleich sich die Zensurbestimmungen eher langsam lockerten. Die Befürwortung von Diskussionssendungen entsprach der generellen Medienpolitik der Alliierten, die entscheidende institutionelle Weichen für eine langfristige Demokratisierung der Medienöffentlichkeit stellte – sowohl auf der Ebene der Printmedien wie hinsichtlich des an der BBC orientierten öffentlich-rechtlichen Rundfunks. In der amerikanischen 22 Zur Programmentwicklung des Rundfunks in den fünfziger Jahren siehe Schildt, Moderne Zeiten, S. 229–261; ders., Hegemon. Zur Einbettung in längerfristige Tendenzen der Programmgestaltung vgl. Dussel, Hörfunk, S. 315–384, sowie breiter Marßolek u. von Saldern, Radiozeiten. Als kulturhistorischer Überblick zur Entwicklung des Rundfunks in der Bundesrepublik Koch u. Glaser, S. 235–281; Marßolek, Radio. 23 Grundlegend zur Entwicklung des Rundfunks im Nationalsozialismus siehe Marßolek u. Saldern, Zuhören; Dussel, Hörfunk, S. 176–243; Diller, Rundfunkpolitik, S. 438–536. 24 Zu Gesprächsprogrammen in der Weimarer Republik siehe noch immer Lerg, S. 418–428, sowie jetzt Keller, S. 60–67. 25 Vgl. Lerg, S. 427. 26 Zit. n. ebd., S. 428. 27 Als aktuellster Überblick über verschiedene Gesprächsformate Keller, S. 77–86.

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Besatzungszone wurde dezidiert für Diskussionssendungen geworben, welche die Hörer gewissermaßen mimetisch in demokratische Lebensform einüben sollten.28 Für den NWDR führte die britische Militärregierung 1946/47 eine Rundfunkschule ein, die das britische Verständnis eines sowohl fairen wie kritischen, unabhängigen Journalismus zu vermitteln suchte und eine neue Elite des Nachkriegsjournalismus hervorbrachte. Zudem formulierte die britische Besatzungsmacht das Plädoyer, nicht nur parteipolitische Positionen zu vermitteln, sondern die öffentliche Diskussion anzuregen und die Bevölkerung zu befähigen, daran teilzunehmen.29 Vor diesem Hintergrund produzierte der NWDR eine Reihe von Diskussionssendungen. Dazu gehörten neben dem »Frühschoppen« auch »Das Politische Forum«, in dem seit 1949 Vertreter der Parteien diskutierten, sowie »Der Hörer hat das Wort«, in der die Hörer aufgefordert wurden, zu einem bestimmten Thema schriftliche Statements zu formulieren, die dann verlesen wurden.30 Obwohl das Interesse der Westdeutschen an politischen Sendungen generell gering war, waren solche Diskussionssendungen relativ beliebt. Der »Hörer hat das Wort« fand ebenso Anklang wie Höfers Runde.31 Und im Fernsehen wurden Studio-Gespräche, Interviews, Diskussionsrunden und Round-Table-Sitzungen ebenfalls etabliert.32 So moderierte 1953 nicht nur Werner Höfer eine Diskussionssendung, die über die Bildschirme flimmerte. Sein Kollege Horst Plato lud beispielsweise unter dem Thema »Gleichberechtigung der Frau« eine Runde von fünf Experten in das Hamburger NWDR-Studio ein und bat sie ebenfalls, an einem sichelförmigen Tisch Platz zu nehmen, um sich auszutauschen.33 Eine 1954 vom NWDR unter Fernsehteilnehmern telefonisch geführte Umfrage kam parallel zu dem Schluss, »dass Diskussionssendungen, sofern sie gut ›gemacht‹ und aktuell sind, bei den Fernsehteilnehmern stets grossen Anklang finden«.34 85 Prozent der Befragten, die aufgrund des Besitzes von Telefon 28 Vgl. vorne, zweiter Akt. 29 Vgl. Fuge u. Hilgert; Schwarzkopf; Mettler; Lersch. 30 »Der Hörer hat das Wort« lief von 1949 bis 1958 unter der Leitung von Hans Otto Wesemann im NWDR/WDR Köln. Vgl. Schumacher-Immel. Zu den Diskussionssendungen des NWDR im Überblick Fuge u. Hilgert, S. 133–141. 31 Vgl. Schumacher-Immel; Lührs, S. 303. Siehe außerdem zu den dialogorientierten »Nachtprogrammen«, »Funk-Universitäten« und »Abendstudios«, die in Hamburg wie Frankfurt und Baden-Baden produziert wurden und sich mit einer Sendezeit ab 22.00 Uhr an die geistige Elite richteten M. Boll; Schildt, Abendland, S. 83–110. 32 Vgl. Zimmermann, S. 276. Zu Gesprächssendungen in den fünfziger Jahren siehe Keller, 87–103. 33 Vgl. das Foto in Pfeifer, S. 245. 34 Wolfgang Ernst, Ergebnisse der telefonischen Befragungen von privaten Fernsehteilnehmern im Sendegebiet des NWDR (mit Berlin), Fernsehprogramm vom 9.6.1954, [S. 2], Akte 11129, HA WDR. Von 1952 bis 1955 umfasste die NWDR-Hörerforschung auch die Zuschauerforschung. Zu den verschiedenen Methoden der 1947 gegründeten und zeitweilig von Wolfgang Ernst geleiteten Abteilung Hörerforschung des NWDR siehe Wagner, Seekarten.

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und Fernseher mindestens den oberen Mittelschichten zugeordnet werden dürfen, befürworteten die Übertragung einer öffentlichen Diskussionsveranstaltung, weil diese interessant, lehrreich und aktuell sei. Vor allem aber begrüßte das Publikum, wie zumindest die NWDR-Hörerforschung auf der Grundlage ihrer Befragungen konstatierte, »dass dadurch die Möglichkeit gegeben sei, die verschiedenen Meinungen kennenzulernen«.35 Auch das Publikum anderer Rundfunkanstalten bevorzugte bei politischen wie bei kulturellen Themen die »aktive« Auswahl zwischen divergierenden Meinungen gegenüber der stärker »passiven« Rezeption eines Vortrags oder eines Kommentars – ein Bedürfnis, dem die Programmgestalter durch gesprächsorientierte Sendungen Folge leisteten.36 Das könnte auf den nationalsozialistischen »Volksempfänger« mit seinen monologischen Programmen als Negativfolie verweisen, aber ebenso auf die für die fünfziger Jahre typische kulturpessimistische Sorge vor der Manipulation durch in die Privatsphäre eindringende »Massenmedien«, d. h. vor »Technik« und »Entfremdung« als Chiffren der Moderne.37 Zugleich erhellt die Befürwortung von Sendungen, die mehrere Meinungen nebeneinander stellten, das relative Desinteresse gegenüber dem politischen Kommentar, der eben nicht nur ein politisches, sondern auch ein dezidiert monologisches Sendeformat darstellte.38 Bei Diskussionen hatte das Publikum möglicherweise eher den Eindruck, sich seine Meinung selbst wählen beziehungsweise eigenständig bilden zu dürfen. Zudem wurden solche Gespräche als per se spannend wahrgenommen, da Verlauf und Inhalt nicht im Voraus bekannt waren und nicht von oben gesteuert wurden. Das verdeutlicht ein Essay des Theaterkritikers Friedrich Luft in der Intellektuellen-Zeitschrift »Der Monat«. Lufts Ausführungen unter dem Titel »Ich lerne Fernsehen« waren zwar von der kulturpessimistischen Sorge gezeichnet, das Fernsehen biete kaum intellektuell anregende Programme, es leiste der Isolierung und Verdummung Vorschub. Sie mündeten aber in ein Bekenntnis für die Vorliebe zu Diskussionssendungen: Ich selber bin ein Freund der ›Gespräche des Monats‹, wenn ein – wahrscheinlich sehr sorgsam ausgewähltes Krethi und Plethi sich über aktuelle Fragen in die Haare kriegt, oder wenn ein bewegtes ›Mittwochgespräch‹ aus dem Kölner Bahnhofswarte35 Vgl. Wolfgang Ernst, Ergebnisse der telefonischen Befragungen von privaten Fernsehteilnehmern im Sendegebiet des NWDR (mit Berlin), Fernsehprogramm vom 9.6.1954, [S. 2]. 36 Eine im Sendegebiet des Süddeutschen Rundfunks vorgenommene Hörerumfrage kam 1950 zu ähnlichen Ergebnissen. Demnach sprachen sich 23 Prozent der Befragten gegen politische Sendungen aus, 25 Prozent war gleichgültig, ob politische Inhalte als Diskussion oder als Vortrag verhandelt würden, 33 Prozent – und damit die größte Gruppe – sprach sich für Diskussionen aus und nur 19 Prozent für Vorträge. Eine Folgeumfrage von 1959 kam zu ähnlichen Ergebnissen, wobei nach zeitgenössischer Einschätzung vor allem Jugendliche und Dauerhörer an Diskussionssendungen interessiert waren. Angaben nach Keller, S. 77 f. 37 Grundlegend zu kulturpessimistischen Strömungen und Schlagworten der frühen fünfziger Jahre Schildt, Moderne Zeiten, S. 324–397. 38 Zur schwierigen Position des politischen Kommentars beim NWDR siehe Jacobmeyer; Fuge u. Hilgert, S. 129–132.

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saal übertragen wird und der rege Herr Ludwig auf den Wassern weiser oder törichter Meinungen segelt, hier provozierend, dort begütigend. Bei solchen öffentlichen Auseinandersetzungen ist immer die Gefahr, die Komik, die Rührung nahe. Und sie wird hergestellt, ohne daß der Lauf der Diskussion vorgezeichnet wäre. Es kann Fürchterliches passieren. Oder es kann aus dem Schwung des Augenblicks Herrliches entstehen. Man selber scheint beteiligt und fühlt sich mitverantwortlich, wenn auch einmal eine Debatte im Sande oder im Ärgerlichen verläuft.39

Diskussionssendungen waren also offenbar beliebt, und zwar nicht allein wegen ihres Inhalts, sondern weil die Form überzeugte. Auch der »Frühschoppen«, so Luft deutlich verhaltener, sei »zumeist ein Plus«. Ein Nachbar habe ihn sogar gebeten, so führte er aus, »einen sonntäglichen Dauerpaß um 12 Uhr für unsere Wohnung zu bekommen. Das unvorbereitete Gespräch, das dort mit immer wechselnden ausländischen Pressekorrespondenten vonstatten geht, gehöre schon zu seinem festen Wochenend.«40 Im Zentrum des »Frühschoppen« stand Werner Höfer. Er eröffnete, leitete und schloss das Gespräch, wobei sein Moderationsstil in der zeitgenössischen Presse mitunter als autoritär und selbstgefällig beschrieben wurde. Wie »Der Spiegel« Ende der fünfziger Jahre in seiner Titelgeschichte kritisierte, lag Höfers eigener Redeanteil bei einem Drittel der Sendezeit insgesamt. Er verteilte aber nicht nur zu seinen Gunsten das Rederecht, sondern behielt sich auch vor, abrupte Themenwechsel vorzuschlagen und seinen Gästen das Wort abzuschneiden. Dabei wies ihn die Kameraführung als Zentrum der Sendung aus.41 Höfer, 1913 in der Eifel geboren, betreute den »Frühschoppen« über mehr als drei Jahrzehnte, bis er sich im Dezember 1987 angesichts öffentlicher Irritationen über seine Verfehlungen im Dritten Reich zum Rücktritt gezwungen sah und so einer Entlassung zuvorkam. Der »Frühschoppen«, zu diesem Zeitpunkt insgesamt 1 874 Mal gesendet, wurde durch den »Internationalen Presseclub« ersetzt, der konzeptionell ähnlich, aber nicht identisch war.42 Höfer war seit den dreißiger Jahren als Journalist für die Printmedien aktiv gewesen, frühzeitig in die NSDAP eingetreten und hatte während des Dritten Reichs für die 39 Luft, S. 62. Zu den hier angesprochenen »Kölner Mittwochgesprächen« siehe unten, Kap. 3. 40 Ebd. 41 Zur Kritik an Höfers Moderationsstil vgl. An., Werner-Höfer-Schau, S. 53. Zum Gesprächsverlauf siehe auch Heim; Höfer, Der amphibische Frühschoppen. 42 Die Biografie Höfers wurde noch nicht wissenschaftlich aufgearbeitet. Vgl. die knappen Hinweise bei Geisler; Marzok; Kammann sowie den informativen Nachruf von Jenke, leider mit hagiografischen Tendenzen. Vgl. auch das ausführliche Interview von Höfer, Wenn ich mich erinnere. Parallel zur Tätigkeit beim »Frühschoppen« arbeitete Höfer vorübergehend in der Chefredaktion der »Neuen Illustrierten« und beim »Stern«. 1964 übernahm er dann die Leitung des 3. Programms des WDR, 1972 wurde er von Intendant Klaus von Bismarck zum Fernsehdirektor des WDR berufen, im Juli 1977 schied er aus dem aktiven Dienst aus, moderierte aber weiterhin den »Frühschoppen«. Angaben nach An., Werner Höfer im Alter von 84 Jahren gestorben, WDR Information, Pressestelle, 28.11.1997, Akte 8963, HA WDR.

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nationalsozialistische Presse geschrieben, unter anderem für die vom Reichspropagandaministerium herausgegebene Wochenzeitung »Das Reich«. 1943 erschien unter seinem Namen ein Artikel im »12-Uhr-Blatt«, der die Hinrichtung des jungen Pianisten Karlrobert Kreiten legitimierte.43 Am Ende des Zweiten Weltkriegs geriet Höfer als Grenadier in amerikanische Kriegsgefangenschaft,44 wurde aber 1946 entnazifiziert und arbeitete zunächst für Radio Koblenz. Von dort rekrutierte ihn dann Hans Hartmann, Intendant des NWDR.45 Höfers »braune« Vergangenheit war im Prinzip spätestens seit den sechziger Jahren bekannt.46 Parallel machte er nicht nur im Rundfunk, Fernsehen und in den Printmedien Karriere, sondern er erhielt auch zahlreiche Auszeichnungen, darunter 1973 das Bundesverdienstkreuz.47 Erst das auf »Vergangenheitsbewältigung« angelegte Klima der achtziger Jahre einerseits und Höfers Selbstüberschätzung als aller Kritik enthobener Medienstar andererseits setzten ausgehend von einem Artikel im »Spiegel« einen öffentlichen Skandal in Gang, der schließlich zum Rücktritt Höfers und zum Ende des »Frühschoppen« führte.48 Der »Fall Höfer« wirbelte in den achtziger Jahren auch deshalb so viel Staub auf, weil Höfer zu den beliebtesten Journalisten Westdeutschlands zählte und vielen als Inbegriff eines liberalen Publizisten galt.49 Höfers Bekanntheitsgrad hatte sich im Verlauf der sechziger Jahre noch einmal verstärkt, ist aber auch für die fünfziger Jahre kaum zu unterschätzen. Programmzeitschriften wie »Radio-Revue« oder »Funk- und Fernseh-Illustrierte«, die ein breites Publikum adressierten, widmeten sich seiner Person und seiner Sendung ebenso wie 43 Höfer arbeitete im Dritten Reich zunächst für »B. Z. am Mittag« und »Dame«, später für das »12-Uhr-Blatt«, und er schrieb für »Das Reich«, so Jenke, S. 4, »was von ihm erwartet wurde«. Bezüglich des fraglichen Artikels über Kreiten, der am 20.9.1943 im »12-Uhr-Blatt« erschien, rechtfertigte sich Höfer, die entsprechenden Passagen seien ihm hineinredigiert worden. 44 In der Linie von An., Werner-Höfer-Schau, S. 51, geht die Literatur meist von amerikanischer Kriegsgefangenschaft auf französischem Boden aus. So auch der tabellarische Lebenslauf in Fernseh-Information, FI-Berufsbiografien (95), Werner Höfer, Juli 1977; interpress archiv, internationaler biographischer pressedienst, Nr. 66, 16.3.1978, Werner Höfer, beides Akte 11169, HA WDR; Marzok, S. 65 f. 45 Höfer betreute hier zunächst die regionale Informationssendung »Aus unserem Westdeutschen Tagebuch«, von Höfer umbenannt in »Echo des Tages«. Vgl. Jenke, S. 5. 46 Vgl. ebd., S. 5 u. 9 f. 47 Angaben nach Fernseh-Information, FI-Berufsbiografien (95), Werner Höfer, Juli 1977; interpress archiv, internationaler biographischer pressedienst, Nr. 66, 16.3.1978, Werner Höfer, Akte 11169, HA WDR. 48 Vgl. Lambart; Geisler, S. 248–251; Kammann, der die mediale Berichterstattung über NSVergangenheit und Karriereende Höfers analysiert. Der Fall wurde ausgesprochen kontrovers aufgenommen, aber nicht entlang der herkömmlichen politischen Muster. Vielmehr stellten sich die im Springer-Verlag erscheinenden Blätter »Welt« und »Bild« auf die Seite des »Spiegel«, während einige linksliberale und sozialdemokratische Blätter eine Intrige vermuteten. Eine Auswahl von Presseausschnitten zum »Fall Höfer« bietet Akte 11170, HA WDR. 49 Zu dieser Dynamik siehe insbesondere Kamman, S. 213.

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»Der Spiegel«, dessen Titelblatt 1959 Höfers schmunzelndes Konterfei zeigte.50 Im gleichen Jahr führte das Institut für Demoskopie in Allensbach eine Umfrage zur Popularität von Publizisten durch, wobei Höfer den ersten Platz erreichte. 34 Prozent der befragten Personen kannten ihn, das waren 28 Prozent der befragten Frauen und 40 Prozent der befragten Männer.51 Eine 1970 in der »Zeit« veröffentlichte Umfrage über den Bekanntheitsgrad von »Leute[n], die sich öfter zu politischen Fragen äußern«, zeigte ihn ebenfalls an der Spitze. 77 Prozent aller befragten Bundesbürger war Höfer »dem Namen nach bekannt«. Von 43 Prozent wurde er sogar »besonders geschätzt«. 52 Der ehemalige WDR-Hörfunkdirektor Manfed Jenke stilisierte Höfer rückblickend sogar zu einer »mythische[n] Gestalt unserer Mediengesellschaft«, zu einer »Ikone – heute würde man sagen: Kultfigur – des deutschen Fernsehens«.53 Diesen Status hatte sich Höfer maßgeblich durch seine Präsenz im »Frühschoppen« erworben. Aber was war dort eigentlich zu sehen und zu hören?

2.2 Atmosphäre. Humor und Suspense Für die Fernsehzuschauer war die Gesprächsatmosphäre zunächst einmal durch die Studioeinrichtung präformiert. Wie Studiofotos und auch Fernsehaufzeichnungen von verschiedenen Frühschoppensendungen verdeutlichen, sahen die Zuschauer ein äußerst schlicht gehaltenes Studio, dessen ganze Einrichtung aus einem Vorhang oder einer Wand und einem davor platzierten, halbrunden, nieren- oder sichelförmigen Tisch bestand. An diesem Tisch saß Höfer mit seinen meist männlichen Gästen, die Anzug und Krawatte trugen. Zwei bis drei Kameras zeigten die Runde in der Regel von vorne und etwa auf Augenhöhe, sodass Unterkörper und Beine hinter dem nach vorne verkleideten Tisch verborgen blieben. Für eine expressive Gestik war damit wenig Raum.54 Aufrecht, mit fast starrer Körperhaltung und mit reduzierter Mimik saßen Höfer und seine Gäste während der gesamten Sendung auf ihren Stühlen. 50 Vgl. An., Werner-Höfer-Schau; An., Werner Höfer. Journalistische Delikatessen, in: Funkund Fernseh-Illustrierte, 24/1958, Akte 8963, HA WDR; An., Sie müssen es wissen, in: Radio-Revue, 10.9.1957, Akte 8963, HA WDR. 51 Vgl. Noelle u. Neumann, S. 95. Kurz nach Höfer rangierten Jürgen Thorwald und Ernst Friedländer, während Personen wie Henri Nannen und Rudolf Augstein weit hinten lagen. 52 Vgl. die Liste in Höfer, Vor allem. 53 Jenke, S. 3. 54 Vgl. die Abbildung sowie die Bilder in An., Werner-Höfer-Schau; Heim. Weitere Abbildungen wurden im Fotoarchiv des WDR eingesehen, so zu den Sendungen vom 20.3.1966 und vom 20.5.1973. Die Studioeinrichtung blieb im Kern unverändert. Lediglich bei der ersten Fernsehübertragung fand Höfers Journalistenrunde nicht im Studio, sondern in den Düsseldorfer Rheinterrassen statt. Vgl. hierzu das abgebildete Foto in B. Land, Frühschoppen. Am Anfang verwässert, in: Hör Zu!, Nr. 35, 1.9.1973, Presseausschnitt o. S., Akte 5677, HA WDR. Der Versuch, 1966 einen runden Tisch einzuführen, scheiterte am Protest des Publikums. Siehe hierzu weiter unten.

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Abb. 5: Herren im Gespräch. Werner Höfer, Dritter von rechts, mit seinen Gästen in den fünfziger Jahren

Trotz dieser Institutionalisierung einer gewissen Nüchternheit bestand für das Fernsehpublikum und auch für die Rundfunkhörer aber durchaus die Möglichkeit, den Gefühlshaushalt der diskutierenden Journalisten zu erkennen oder ihnen Emotionen zuzuschreiben. Rundfunkhörer konnten die vermeintliche emotionale Befindlichkeit der Teilnehmer an Sprechgeschwindigkeit und Stimmlage ausmachen. Zudem war zu hören, ob Höfers Gäste in Ruhe abwarteten, bis ihnen das Rederecht durch den Moderator erteilt wurde, oder ob sie einander ungeduldig ins Wort fielen und ungefragt zu einem Thema Stellung bezogen.55 Fernsehzuschauer konnten zusätzlich beobachten, wie sich die Journalisten körperlich zueinander in Beziehung setzten. Der halbrunde Tisch präsentierte sie als dicht gedrängte Kleingruppe, bei der die einzelnen Mitglieder nur wenige Zentimeter Abstand zueinander hatten. Und bei Großaufnahmen wurde die Mimik der Diskutanten genau ausgeleuchtet. Eventuell hoben sich die auf diese Weise ausgedrückten Emotionen sogar besonders auffällig und wirkungsvoll gegen die nüchterne Studioeinrichtung ab.56 Ebenso wie die Studioeinrichtung blieb auch der Gesprächsaufbau über die Jahrzehnte gleich. Nach der Anmoderation durch Egon Hoegen zeigte die Ka55 Vgl. Tondokument 10002414, Internationaler Frühschoppen, 13.9.1952, AA WDR. 56 Vgl. Video 0267221, Internationaler Frühschoppen, 13.6.1965; Video 0267242, Internationaler Frühschoppen, 16.7.1967; Video 0267247, Internationaler Frühschoppen, 27.8.1967, alle VA WDR.

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mera die aus sechs Journalisten bestehende Runde, von denen zwei rechts und drei links von Höfer Platz genommen hatten. Der Moderator begrüßte das Publikum in freundlich-sachlichem Tonfall, führte kurz in das Thema ein und stellte die Gäste vor. Er nannte den Namen, das Heimatland, die Zeitung, für welche die betreffende Person schrieb, und flocht hin und wieder eine kleine persönliche Bemerkung ein. Höfer begann die eigentliche Diskussion sodann, indem er sich direkt an einen seiner Gäste mit einer Frage wandte. Im Folgenden moderierte er das Gespräch, indem er seine Gäste in der Regel bat, zu einem bestimmten Punkt direkt Stellung zu beziehen. In der Gesprächsmitte verteilte er das Rederecht qua direkter Aufforderung mit Namen oder durch Kopfnicken. Gegen Ende der Sendung bat Höfer seine Gäste um ein Schlusswort, das ein jeder der Reihe nach formulieren durfte. Schließlich fasste er selbst ausgewählte Aspekte des Gesprächs zusammen, setzte zu einem Trinkspruch an und erhob sein Glas. Das »Prost, meine Herren!«, gefolgt von einem im Kanon gemurmelten »Prost!« der Gäste, beendete die Sendung nach dem immer gleichen Muster. Die Kamera zeigte noch einmal in der Totale die ganze Runde, nun mit erhobenen Gläsern, bevor abgeblendet wurde.57 Höfer und seine Gäste bedienten sich eines umgangssprachlichen Vokabulars, sie redeten in der Regel langsam und deutlich in mittlerer bis tiefer Tonlage. Die eingeladenen Auslandskorrespondenten ließen einander ausreden und warteten nach Ende eines Redebeitrags meist in Ruhe ab, bis Höfer der nächsten Person das Wort erteilte. Zu Überlappungen von Redebeiträgen kam es offenbar vor allem, wenn Höfer einem seiner Gäste ins Wort fiel, um ihm dieses zu entziehen, was in der Regel rasch gelang. Die dadurch bedingte Klarheit des Ausdrucks war schon angesichts der Übertragungsbedingungen ratsam. Die technische Qualität der Übertragung war so schlecht, dass die Hörer bei der Überlappung von Redebeiträgen und schneller Sprechweise kaum noch etwas verstehen konnten und zudem Mühe hatten herauszuhören, wer überhaupt sprach. Auch deshalb erreichten Höfer zahlreiche Beschwerdebriefe, sobald sich doch einmal »das Aufeinanderprallen der Meinungen zum Furioso steigerte«.58 Im »Frühschoppen« wurde damit einerseits über Setting, Gesprächsaufbau und Redeweise Sachlichkeit in Szene gesetzt.59 Andererseits wurde diese gezielt durchbrochen. Höfer streute in seine Moderation beständig kleine Provokatio57 Zu Sendeverlauf und Gesprächsaufbau vgl. ebd. sowie die zeitgenössische Beschreibung von Heim; Höfer, Der amphibische Frühschoppen; An., Werner-Höfer-Schau. 58 L. F. an Werner Höfer, Berlin, 17.7.1967, in: Abschnitt »Fragen an, in und um Berlin«, Akte 5673, HA WDR. Vgl. mit weiteren Quellenbeispielen und einer Analyse dieser »Erregung über Erregung« bereits Verheyen, Fernsehschule, S. 273–278. Um die Persönlichkeitsrechte zu wahren, werden die Autoren der Zuschauer- und Hörerpost hier und im Folgenden nach Absprache mit dem HA WDR nur mit den Anfangsbuchstaben von Vor- und Nachnamen genannt. 59 Vgl. zur Sachlichkeit als politischem Stil Mergel, Der mediale Stil, S. 39; Holtmann, Politik, S. 301–316, sowie die knappe Bemerkung bei Bösch u. Frei, Ambivalenzen, S. 16.

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nen ein, welche die Runde regelmäßig zum Lächeln, mitunter auch zu offenem Gelächter verführte. Diese permanente Humorigkeit kann etwa die Sendung vom 13. Juni 1965 zum Thema »Besuch aus Frankreich – Besuch aus Dänemark« verdeutlichen, die Höfer mit einer Frage an den dänischen Auslandskorrespondenten Hendrik Bonde-Hendriksen einleitete: »Fangen wir doch ganz harmlos an, denn die ersten Besucher dieser Woche waren Ihr Ministerpräsident, Ihr Außenminister. Was haben sie mitgebracht, was haben sie mitgenommen von Bonn?« Der Angesprochene bemerkte die kleine Spitze und konterte: »Ich protestiere erst gegen das Wort harmlos.« Hier stellten sich bereits die ersten freundlichen Lacher in der Journalistenrunde ein.60 Im buchstäblichen Sinne war Nüchternheit ohnehin nicht vorgesehen. Der Titel der Sendung verwies auf ein feuchtfröhliches männerbündisches Brauchtum, das Höfer vom »Gasthaus ins Studio verlagert« hatte, wie eine freie Mitarbeiterin der Pressestelle des WDR erklärte. Zum traditionellen »Frühschoppen« kämen »sonntags nach dem Gottesdienst die Männer der Gemeinde im Wirtshaus zusammen […]! Sie prosten sich zu und unterhalten sich über die Predigt, das Wetter, die Politik – bis es Zeit wird, nachhause zu gehen, weil die Familie mit dem Sonntagsbraten wartet.«61 Tatsächlich waren auf dem Tisch die Requisiten einer solchen Stammtischrunde zu sehen, nämlich Weingläser, Aschenbecher, mitunter Zigarettenschachteln und Feuerzeuge. Wie in einem Gasthaus schenkte eine weibliche Bedienung deutschen Weißwein nach, bei Bedarf gleichfarbigen Apfelsaft.62 Selbst den Rundfunkhörern dürfte die mit Hilfe von Alkohol und Tabak nachgestellte Stammtischatmosphäre nicht vollständig entgangen sein. Das Schlürfen aus den Gläsern, der Klang beim Nachschenken des Weins gehörten ebenso zur typischen Geräuschkulisse der Sendungen wie das regelmäßige Klicken eines Feuerzeugs, das Ratschen eines Streichholzes, das Paffen oder Inhalieren.63 Die Fernsehteilnehmer konnten darüber hinaus beobachten, wie Rauchschwaden um die Gesichter der Journalisten zogen und diese teilweise sogar verdeckten.64 Beim »Frühschoppen« handelte es sich also um eine von Alkohol stimulierte Live-Sendung in künstlich produzierter Stammtischatmosphäre, was mit einem informell-freundschaftlichen, teilweise auch heiteren Gesprächsstil korrespondierte. Allerdings wurde in der Presse festgestellt, dass Höfer seine Gäste mitunter gezielt provozierte. So konstatierte die überaus breit gelesene, illustrierte Programmzeitschrift »Hör zu!« 1956, wer die Sendungen lange beobachtet habe, 60 Video 0267221, Internationaler Frühschoppen, 13.6.1965, Min. 1, VA WDR. 61 Heim, S. 11, übers. n. WDR Information Nr. 327/66, Anhang, S. 4, Akte 5677, HA WDR. 62 Vgl. zur Bedeutung von Alkohol für die Runde Höfer, Der amphibische Frühschoppen, S. 158 f. u. 161. 63 Vgl. Tondokument Nr. 10002414, Internationaler Frühschoppen, 13.9.1952, AA WDR. 64 Vgl. W. S. an den WDR, betr. Werner Höfers Sonntags-Frühschoppen, Niederseelbach, 1966, Akte 5679, HA WDR: »Könnten die Teilnehmer nicht, ebenso wie dies Herr Höfer tut, während dieser 45 Minuten auf das Rauchen verzichten. Die Qualmerei stört oft, da Rauchschwaden das Bild der Sprechenden verdecken oder mindestens störend beeinflussen.«

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wisse genau, dass sich Höfer zweimal im Jahr »für eine Sache oder gegen eine Person« engagiere; dann falle er »aus der Rolle, mal weniger, mal mehr«.65 Solche durch die Anlage der Produktion gezielt in Kauf genommenen »Kontrollverluste« waren eine Möglichkeit, dem Publikum zu demonstrieren, dass die Sendereihe live übertragen und nicht zensiert wurde. Die dadurch bedingte Unvorhersehbarkeit des Sendeverlaufs und der Eindruck, zeitnah dabei zu sein, könnte die Spannung des Publikums gesteigert haben.66 Höfer selbst betonte mehrfach, die für das Radio konzipierte Sendung nicht für das Fernsehen verändert zu haben. Auf Einblendung von Grafiken oder Filmausschnitten werde verzichtet, sodass »eigentlich gar nichts« passiere: »Da sitzen sechs Mannsbilder um einen Tisch herum, nippen gelegentlich an einem Glas Wein, qualmen munter vor sich hin und reden sich die Köpfe heiß über die jüngsten politischen Ereignisse.«67 Allerdings war im Fernsehen erstens zu sehen, wie Höfer mitunter mit ausladenden Gesten seine Gäste zu domestizieren versuchte oder wie diese mit Hilfe ihrer Hände und Arme das Wort zu ergattern suchten.68 Zweitens bediente sich die Sendereihe durchaus fernsehspezifischer Formen der Dramatisierung. Die Kameras waren keineswegs neutrale Beobachter, sondern interpretierten das Geschehen. Aufnahmen in der Halbtotalen, welche die gesamte Runde mit relativ geringem Körperabstand am Tisch zeigten, wechselten sich mit Porträtaufnahmen in für damalige Verhältnisse rascher Bildfolge ab. Auf diese Weise wurde einerseits die Gruppendynamik in Szene gesetzt, andererseits die Mimik der beteiligten Personen im Detail ausgeleuchtet.69 Das Publikum könnte hierin einen Reiz erkannt haben. So war die 1952 für den Rundfunk konzipierte Sendereihe nur aus Anlass der »Großen Deutschen Rundfunk-, Phono- und Funkausstellung« in Düsseldorf im August 1953 zum ersten Mal im Fernsehen gezeigt worden. Um das Publikum mit dem Gerede der Journalisten nicht zu langweilen, schwenkte die Kamera auf die Landschaft 65 H. Z., Ohne Netz und doppelten Boden, Hör zu!, Nr. 11, 1965, Akte 5677, HA WDR. Zur Erfolgsgeschichte der seit 1946 publizierten »Hör zu!«, die sich in den fünfziger Jahren zu einer breit rezipierten Familienzeitschrift entwickelte, siehe Seegers. 1950 lag die Auflage bereits bei über einer Million, 1962 erreichte sie mit 4,2 Millionen einen Höhepunkt, wobei statistische Schätzungen aufgrund der höheren Nutzungsrate jeden dritten Bundesbürger als Leser ausweisen. Angaben nach ebd., S. 16. 66 Live-Berichterstattungen suggerierten »ein hohes Maß an Authentizität und eine geringere Manipulierbarkeit der Information«, und die »Gleichzeitigkeit von Geschehnissen, Berichterstattung und Rezeption trug zur Glaubwürdigkeit unter den Zuschauern und Zuhörern bei«. So Vogel, S. 209. Vgl. auch die oben bereits zitierten Ausführungen von Luft, S. 62. 67 So zitiert Höfer seine eigenen Worte, die er angeblich 1953 nutzte, um einem »Fernseh-Abgesandten aus Berlin« das Konzept des »Frühschoppen« zu erläutern. W. Höfer, Ein Prost mit Folgen. Vor 15 Jahren der erste Fernseh-Frühschoppen, in: Rheinische Post am Sonntag, 24.8.1968, Akte D1210, HA WDR. 68 Vgl. Video 0267242, Internationaler Frühschoppen, 16.7.1967, Min. 18–25, 28 f., 33–35, 38–41. 69 Vgl. Video 0267221, 0267242, 0267247.

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im Hintergrund der Szenerie – sofort aber gingen beim Sender empörte Anrufe von Zuschauern ein: »Was soll der Unfug? Wir wollen diese Leute sehen, die sich gehörig die Meinung sagen!«70 Und als Höfer seine Gäste im Januar 1966 vorübergehend an einem runden statt halbrunden Tisch empfing und die Kamera daher mehrere Diskutanten nur von hinten zeigte, gingen zahlreiche Beschwerdebriefe ein. Die Fernsehzuschauer baten, zur alten Sitzordnung zurückzukehren.71 Denn nur diese erlaube es, Gruppendynamik und nonverbal ausgedrückte Reaktionen zu erkennen. »Der halb runde Tisch«, hieß es in einem Zuschauerbrief aus Köln, »war für uns besser, insofern als man von Ihren Gesprächspartnern die volle Vorderansicht hatte und man bei der Unterhaltung die Mienen, Gesten sowie die Reaktionen der Einzelnen besser wahrnehmen konnte.«72 Ganz auf dieser Linie mutmaßte ein Fernsehkritiker 1972, von »zehn Frühschoppen-Interessierten« würden »vermutlich etwa sieben bis acht die Sendung über den Bildschirm« anstatt über das Radio aufnehmen, und zwar »aus dem einleuchtenden Grund, daß es keine faszinierendere Landschaft geben kann als das menschliche Gesicht mit seinem Wechsel von Erwartung, Verblüffung, Fragehaltung, Schalk, Ärger, Trotz, Triumph, Trauer und Nachdenklichkeit«.73 Aber wer redete eigentlich im »Frühschoppen«? Und wer hatte es trotz physischer Präsenz schwer, sich Gehör zu verschaffen?

2.3 Gäste. Ein westlicher Männerbund unter deutscher Führung Der »Frühschoppen« war ein Gespräch unter Journalisten aus dem Bereich der Printmedien. Die Sendereihe setzte damit Vertreter einer Berufsgruppe in Szene, die nach Ende des Krieges in Westdeutschland regelrecht in Mode kam, wobei sich Sozialprofil und Arbeitsweisen veränderten. Immer mehr junge Abiturienten oder Studierende wählten den Beruf des Journalisten, obwohl dieser finanziell noch längst nicht so auskömmlich war, wie es dem Selbstverständnis der Berufsgruppe entsprochen hätte. Während sich die Protagonisten dieser Zunft selbst gerne zur Elite des Landes zählten, lag ihr Einkommen nur im mitt70 Heim, S. 12, übers. n. WDR Information Nr. 327/66, Anhang, S. 6, Akte 5677, HA WDR. 71 Vgl. Abschnitt, Akte 5670, HA WDR. 72 M. J. an Werner Höfer, Hamburg-Harburg, 17.1.1966, Akte 5670, HA WDR. Bei der Präsentation am runden Tisch, so ein anderer Zuschauer, entzöge sich nicht nur »das bisher interessante Mienenspiel« der anderen Teilnehmer, sondern es ginge auch der Diskussionscharakter verloren: »Das Schwenken der Kamera auf einzelne Teilnehmer für wenige Sekunden reicht nicht aus, um den Eindruck einer Diskussion wieder herzustellen. Die widersprüchliche Reaktion der Teilnehmer geht fast völlig verloren.« W. B. an Werner Höfer, Oberursel, 10.1.1966, Akte 5670, HA WDR. Vgl. unter anderem auch M. L. an Werner Höfer, Köln-Sülz, 10.1.1966; F. K. an Werner Höfer, Hamborn, 2.2.1966; R. W. an Werner Höfer, [Ort unleserlich], 4.2.1966; M. L. an Werner Höfer, Düren, 17.1.1966; alle Akte 5670, HA WDR. 73 Brühl, S. 21. Vgl. auch Kogon, S. 148 f.

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leren Bereich.74 Zugleich erfuhr der bundesdeutsche Journalismus nach 1945 eine starke Verwestlichung: Arbeitstechniken und Präsentationsweisen wurden langsam an britisch-amerikanische Vorbilder angeglichen, und die ermöglichten Auslandsaufenthalte in Großbritannien oder den USA begünstigten eine Verwestlichung des Habitus.75 Im »Frühschoppen« waren ohnehin vor allem ausländische Journalisten zu sehen. Für die Teilnahme an Höfers Diskussionsrunde erhielten sie ein Honorar von anfangs fünfzig, dann hundert und Ende der fünfziger Jahre bereits 250 Mark sowie die teilweise Übernahme von Reisespesen – und mediale Präsenz.76 Ein Spezifikum des »Frühschoppen« war dessen Internationalität. Höfer lud in der Regel je einen Journalisten der drei Westmächte USA, Großbritannien und Frankreich ein, außerdem wurde ein Vertreter eines kleineren, »neutralen« oder aktuell in der Presse verhandelten Landes dazu gebeten sowie ein Journalist der Bundesrepublik.77 Bei der ersten im Fernsehen übertragenen Frühschoppen-Sendung waren dies Joachim Kausch (Bundesrepublik Deutschland), Arnold Kuenzli (Schweiz), Terence Prittie (Großbritannien), Thomas K. Hodges (USA) und Pierre Bourgeaux (Frankreich).78 Manchmal kamen auch Journalisten aus anderen, teilweise sogar außereuropäischen Ländern hinzu, etwa aus Argentinien, Israel, Schweden, Ungarn oder Vietnam, um nur eine schmale Auswahl zu nennen.79 Diese internationale Zusammensetzung demonstrierte die Überwindung bundesdeutscher Isolation nach dem verlorenen Weltkrieg, die Reintegration in die westliche Staatenwelt und den wieder aufgenommenen 74 Zum Journalismus als Wachstumsbranche der frühen Bundesrepublik und zum Sozialprofil der bürgerlich und männlich geprägten Berufsgruppe siehe Hodenberg, Konsens, S. 229–244. 75 Zum punktuellen Wandel journalistischer Praxis als Ergebnis alliierter Reformen siehe ebd., S. 103–144. 76 Vgl. Höfer, Internationaler Frühschoppen, S. 49, wonach 1952 zunächst 50 Mark gezahlt wurden, sowie die Kostenabrechnungen für Teilnehmer der Frühschoppensendungen von Juli 1953 bis Januar 1954, Akte 5663, HA WDR; An., Werner-Höfer-Schau, S. 47, wonach die Bezahlung inzwischen, also 1959, bei 250 Mark lag. Für die westdeutschen Teilnehmer war eine Teilnahme am Frühschoppen damit sehr lukrativ – 1955 verdiente ein Redakteur durchschnittlich 882 Mark. So Hodenberg, Konsens, S. 234. 77 So die Formulierung von Heim, S. 11. Vgl. für die Teilnehmer der ersten Jahre der Fernsehübertragung Kostenabrechnungen von Juli 1953 bis Januar 1954, Akte 5663, HA WDR. 78 Vgl. das Foto in W. Höfer, Ein Prost mit Folgen. Vor 15 Jahren der erste Fernseh-Frühschoppen, in: Rheinische Post am Sonntag, 24.8.1968, Akte D1210, HA WDR. 79 Bis in die frühen sechziger Jahre hinein waren insgesamt sechs Journalisten aus Afrika eingeladen worden, ein Argentinier, drei Belgier, ein Brasilianer, fünf Dänen, ein Finne, zwei Griechen, neun Niederländer, ein Iraker, zwei Israeli, neun Italiener, sechs Japaner, elf Jugoslawen, ein Kanadier, ein Koreaner, drei Norweger, neun Österreicher, ein Pakistani, ein Peruaner, fünf Polen, drei Russen, sieben Schweden, zwei Spanier, ein Syrer, drei Türken, ein Ungar und ein Vietnamese. Vgl. Zehn Jahre »Internationaler Frühschoppen«, 369 Namen aus 37 Ländern, Stand bis 4.12.1960, in: D1210, HA WDR. Vgl. außerdem für die sechziger Jahre Frühschoppen/Teilnehmer 14.8.1966 bis 30.5.1971, Akte 11222, HA WDR.

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Dialog mit Ländern, denen Deutschland kurz zuvor noch feindlich gegenübergestanden hatte. Die Sendereihe befriedigte und schürte damit ein Interesse am vor allem westlichen Ausland. Der britische Journalist und Historiker Neal Ascherson vermutete, das Interesse der Westdeutschen am »Frühschoppen« resultiere aus der hierzulande besonders ausgereiften Sensibilität für das Image Deutschlands coram globum.80 Höfer selbst dagegen erklärte mit anderem Akzent: Was dieses Gespräch für die Hörer, für die politisch Interessierten ebenso wie für die indifferenten, so aufschlußreich macht, ist zunächst einmal die Begegnung mit Leuten, die zwar nicht die amtliche, aber doch die öffentliche Meinung ihres Landes auf ihre Weise repräsentieren, die der Politik ihrer Regierung durchaus nicht unkritisch gegenüberstehen, die Politik unserer Regierung aber mit jener Aufmerksamkeit beobachten, zu der Leute berechtigt sind, die vor kurzem noch unsere Feinde waren und inzwischen unsere Freunde geworden sind. 81

Die im »Frühschoppen« geladenen ausländischen Journalisten stammten nach Möglichkeit aus dem Kreis der in Bonn akkreditierten Korrespondenten, was nicht nur die Reisekosten minderte, sondern auch gute Kenntnisse der politischen, sozialen und kulturellen Situation des Landes sowie seiner Sprache garantierte.82 Viele von Höfers Gästen sprachen hervorragend deutsch, was ein zuweilen unbeholfenes Stolpern durch die deutsche Grammatik, eigenwillige Wortschöpfungen und einen Akzent nicht ausschloss. Auch dies verlieh der Sendung ein spezifisches, internationales Flair – und verschob zugleich die Machtverhältnisse zugunsten Höfers und seines deutschen Kollegen, die den anderen sprachlich überlegen waren. Das Auswahlkriterium hervorragender deutscher Sprach- und Landeskenntnisse hatte einen weiteren Effekt, denn es verengte den Kreis potenzieller Kandidaten erheblich. Einige Journalisten entwickelten sich daher zu regelrechten Stammgästen, die sowohl dem Moderator 80 Vgl. An., Höfers Stammtisch-Politik, in: Capital Nr. 5, 1968, S. 42–44, hier S. 44: »Ich bedauere, daß wir in England keine solche Sendung mit Auslandskorrespondenten haben. Aber für Deutschland ist die Meinung des Auslandes ernster als für uns. Die Deutschen sind ein bißchen sensibel in bezug auf das, was im Ausland über sie geschrieben wird.« 81 Höfer, Der amphibische Frühschoppen, S. 159, Hervorhebung im Original. Freilich, so betonte Fritz Brühl, lange Zeit Hörfunkdirektor des WDR, in dessen Verantwortungsbereich der »Frühschoppen« bis zum Ende fiel, wurden die Gäste nicht als offizielle Repräsentanten ihres Herkunftslandes präsentiert, sondern nach ihrer »persönliche[n]« Meinung gefragt, »die sich nicht mit der Meinung einer Zeitung, der Regierung, der vox populi des Landes zu decken braucht«. Brühl, S. 21. 82 1968 bemerkte Höfer in der Schweizer Zeitschrift »Elle« auf die Frage, woher seine Gäste kämen: »In der Verwaltung wollte man sparen und entschied deshalb ursprünglich, ich solle die Sendung allein mit den Bonner Auslandskorrespondenten machen. Das ging nicht. Jetzt habe ich Gäste aus Frankfurt, Berlin, Hamburg, München, Paris, Zürich, Basel, Wien, London… Beim Tode Adenauers sogar aus Washington und New York, denn ich wollte damals die Journalisten haben, die während Adenauers Glanzzeit Korrespondenten in London waren.« Peter, S. 44 f.

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als auch dem Stammpublikum über die Jahre zu alten Bekannten wurden.83 Wie eine TV-Serie hatte Höfers Sendereihe damit trotz wechselnder Themen einen hohen Wiederholungs- und Wiedererkennungseffekt, was die Bindung des Publikums erhöht haben dürfte. »Der Spiegel« allerdings kritisierte schon 1959: Was in den Jahren der Rückkehr Deutschlands auf die internationale Bühne interessant war, nämlich Meinung und Naturell ausländischer, in Deutschland arbeitender Journalisten, ist mit der Zeit einem ermüdenden Karussell der immer gleichen Gesichter gewichen, die ergeben oder belustigt zuschauen, wie der Diskussions-Star Höfer von Land zu Land […] und von Thema zu Thema hüpft.84

Höfer »hüpfte« vor allem diesseits des Eisernen Vorhangs von Land zu Land. Auch wenn er in seltenen Ausnahmen einen Journalisten aus dem Ostblock einlud, handelte es sich in der Regel um einen innerwestlichen Dialog. Vor allem waren DDR-Journalisten ausgeschlossen. Zur Begründung verwies Höfer in einem Interview mit der schweizer Zeitschrift »Elle« auf eine »besondere Schwierigkeit«, nämlich den ungeklärten völkerrechtlichen Status der Deutschen Demokratischen Republik. Beim »Frühschoppen« wäre aus jedem Land nur jeweils ein Vertreter zugegen – und die Gegenwart eines ostdeutschen Kollegen käme daher »einer Frühschoppen-Anerkennung der DDR gleich«. Hier nun passe das Publikum »sehr genau auf«.85 Zunächst einmal war es freilich Höfer, der aufpasste. Die Aufbereitung seiner Journalistenrunde entsprach damit den politischen Leitideen der frühen Bundesregierung. Ganz auf der von Konrad Adenauer entwickelten Linie zementierte sie die Westbindung der Bundesrepublik und setzte deren Alleinvertretungsanspruch in Szene.86 Die personale Zusammensetzung des »Frühschoppen« bestätigte nicht nur politische Positionen der Regierung Adenauer, sondern sie reproduzierte auch Strukturen sozialer, genauer: geschlechtlicher Ungleichheit. Im Unterschied zu DDR-Journalisten waren Frauen als Gäste zu keinem Zeitpunkt völlig ausgeschlossen. Anders als bei einem »echten Frühschoppen«, so Höfer bei einer kurzen Werbung, die im Oktober 1952 über UKW-West lief, seien auch Frauen »zugegen«. Im maschinenschriftlichen Manuskript hatte es statt »zugegen« noch »zugelassen« geheißen – eine gnädig-herablassende Formulierung, die handschriftlich abgemildert wurde.87 Damen mischten sich aber nur selten in die 83 So kam eine zeitgenössisch vom WDR erstellte Auflistung aller Frühschoppengäste während der ersten zehn Jahre auf 369 Namen, unter anderem 48 Amerikaner, 33 Engländer und 25 Franzosen. Da zum Beispiel in jeder Sendung ein Franzose anwesend war und die Sendung pro Jahr ca. 52 oder 53 Mal lief, verteilten sich diese auf knapp über 500 Sendungen. Im Durchschnitt nahm jeder zwanzig mal am »Frühschoppen« teil. Vgl. Zehn Jahre »Internationaler Frühschoppen«, Akte D1210, HA WDR. 84 An., Werner-Höfer-Schau, S. 48. 85 Peter, S. 45. 86 Zum politischen Hintergrund siehe Wolfrum, S. 96–143 und 283–326. 87 Werner Höfer, Sendemanuskript, Streifzug durch UKW West, Sendung am Mittwoch, den 22.10.1952, 21.00–21.40, S. 5, Akte 5663.

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Herrenrunde. Legt man die Zahl aller Frühschoppengäste zugrunde, Doppelpräsenzen nicht eingerechnet, lag der Anteil weiblicher Gäste in den fünfziger Jahren bei rund sechs Prozent.88 Er stieg auch im Verlauf der sechziger Jahre nicht an.89 Allerdings waren immerhin sieben Prozent aller westdeutschen Frühschoppengäste im Verlauf der fünfziger Jahre weiblich.90 Dieser Prozentsatz entsprach zumindest dem Frauenanteil in der Berufsgruppe der westdeutschen Journalistenbranche insgesamt, der nach Schätzungen Hodenbergs bei etwa sechs bis zehn Prozent lag,91 wobei sich die meisten Journalistinnen im Familien-, Frauen-, Mode- und Ratgebersektor bewegten, mitunter auch im Feuilleton, während »die Berichterstattung in den klassischen Ressorts wie Politik und Wirtschaft […] in der Vorstellungswelt des Journalismus klare Männersache« war.92 Dazu passt, dass der Anteil der Frühschöppnerinnen künstlich in die Höhe getrieben, indem Höfer hin und wieder eine ganze Sendung als Damenrunde konzipierte. Hier waren ausschließlich Frauen geladen – um »Frauenthemen« zu diskutieren.93 Das korrigierte den männerbündischen Charakter der Sendungen nicht, sondern unterstrich ihn sogar. Denn in der Regel – so war ex negativo zu schlussfolgern – diskutierten Männer über Männerthemen, und das hieß: große Politik. Die männerbündische Dynamik wird noch deutlicher durch die Frage, ob die hin und wieder anwesenden Frauen auch gleichermaßen zu Worte kamen wie ihre männlichen Kollegen und ihren Worten Gehör geschenkt wurde. Wie Pierre Bourdieu zeigt, sind die pragmatischen Glückensbedingungen in einem argumentativen Gespräch keineswegs allein von der Kraft der vorgebrachten Argumente abhängig, sondern von der Position des Sprechers im sozialen Feld.94 In der Praxis heißt dies, dass die Aufmerksamkeit bestimmten Spre88 Vgl. Zehn Jahre »Internationaler Frühschoppen«, 369 Namen aus 37 Ländern, Stand bis 4.12.1960, Akte D1210, HA WDR. 89 Vgl. die Liste aller Teilnehmer/innen in Höfer, Der Internationale Frühschoppen. Die Ereignisse des Jahres, Anhang, o. S. 90 Eingeladen waren unter anderem Inge Deutschkron, Marion Gräfin Dönhoff und Hilde Purwin. Vgl. Zehn Jahre »Internationaler Frühschoppen«, 369 Namen aus 37 Ländern, Stand bis 4.12.1960, Akte D1210, HA WDR. 91 Erst in den späten sechziger Jahren sei die Quote auf rund 15 Prozent gestiegen, vor allem bei freien Mitarbeitern, weniger bei den fest angestellten Redakteuren und so gut wie gar nicht in den Chefetagen. Vgl. Hodenberg, Konsens, 230 f. 92 Ebd., S. 238. 93 Am 5.2.1967 diskutierte Höfer die »Frauenfrage« und »Frauenquote« mit Heli BoleschIhlefeld (BRD), Stéphane Roussel (Frankreich), Joyce Shub (USA), Herdis Sjörgen (Schweden) und Lakshmy Janakiram (Indien). Die Sendung ist nicht erhalten, aber es liegen über 100 Einsendungen von Zuschauern und Hörern vor. Vgl. Akte 5672, HA WDR. Am 23.5.1965 fand eine »Frauenrunde« anlässlich des Besuchs der britischen Queen in Deutschland statt. Angaben nach Akte 5669, HA WDR. Die auf dem Aktendeckel verzeichnete Zuschauerpost zu dieser Sendung ist allerdings nicht enthalten. 94 Bourdieu, Ce que parler.

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chern gegenüber größer als gegenüber anderen ist, weswegen ihre Redebeiträge eher ernst genommen und aufgegriffen werden. Ein Moderator kann das ausgleichen. In der Perspektive der oben vorgestellten amerikanischen Ratgeberliteratur zur Diskussionstechnik genoss er das Privileg der Gesprächsleitung allein, um sich in den Dienst der Gesprächsführung zu stellen. Das hieß nicht nur, Wortgewaltige zu bremsen, sondern auch, eher stille Personen gezielt zum Redebeitrag zu ermuntern. Schließlich sollte er den Bezug der Redebeiträge untereinander sichern beziehungsweise durch Zusammenfassungen, Ergänzungen und Pointierungen herstellen.95 Höfer dagegen nutzte das Privileg der Gesprächsleitung, um sich selbst inhaltlich einzubringen, er agierte also in einer Doppelrolle als Moderator und Diskutant. Es gelang ihm auch keineswegs immer, eine gleichmäßige Beteiligung der anderen Anwesenden herzustellen. Das kann anhand der als Tondokument erhaltenen Frühschoppensendung vom 13. September 1952 skizziert werden.96 An diesem Tag lud Höfer zum ersten Mal eine Frau zu sich ins Studio ein. Rein akustisch war von der Präsenz Anneliese Maus’ vom amerikanischen Magazin »Time-Life« allerdings nicht viel zu bemerken: Sie kam kaum zu Wort. Als Thema stand an diesem Tag das »arabisch-israelische Verhältnis« auf dem Programm, zu dem neben Anneliese Maus auch Fritz Brühl von der »Süddeutschen Zeitung«, George Martin aus Großbritannien, Jacob Eberhuis aus den Niederlanden und Jaques Lerge vom französischen »Figaro« geladen waren. Höfer eröffnete die Sendung mit einer anekdotischen Beschreibung seiner Anfahrt ins Studio, die durch eine Autopanne erschwert worden sei: »Ich muss zu meiner Schande gestehen, dass zwei deutsche Wagen durchgefahren sind, weil ich leider kein hübsches Mädchen bin. Ja, die Dolores«, so Höfer vermutlich in Anspielung auf die Helferin im Studio, »die hätte mehr bewirkt.«97 Wenige Minuten nach diesem sexistischen Hinweis auf die Verführungskraft weiblicher Reize schritt Höfer zur Vorstellung seiner Gäste und kam hier auch auf Anneliese Maus zu sprechen, »den neuen Gast in unserer Runde, eine Dame«.98 Maus wurde also sogleich in ihrer Sonderrolle als Frau vorgestellt, eine Rolle, in der Höfer sie auch im Folgenden regelmäßig ansprach. Nach der Vorstellungsrunde ließ Höfer sich mit ironischem Unterton über die Klatschgeschichten europäischer Höfe aus und fragte: »Ich weiß nicht, wer außer mir die Klatschzeitungen Europas liest, aber vielleicht, weil Sie eine Dame sind … Frau Maus … Sie nicht?« Der so Angesprochenen gelang kein souveräner Konter, sondern sie kicherte kurz und erklärte dann mit dünnem Stimmchen: »Neiiin.«99 95 Vgl. oben, zweiter Akt. 96 Vgl. Tondokument 10002414, Internationaler Frühschoppen mit sechs Journalisten aus fünf Ländern, 13.9.1952, AA WDR. 97 Ebd., Min. 1 f. 98 Ebd., Min. 4. 99 Ebd., Min. 6.

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In der zehnten Sendeminute versuchte Maus auf eigene Faust, sich in die Diskussion einzuschalten. Mitten in das rege Gespräch der anderen hinein und ohne von Höfer direkt adressiert worden zu sein, begann sie mit verhältnismäßig leiser Stimme einen Satz zur politischen Lage, wurde freilich sogleich von den anderen übertönt – und brach dann ab. Zwei weitere Male versuchte sie, ohne Erteilung des Rederechts durch den Moderator zu Wort zu kommen – beide Male ging ihre Stimme im Gespräch der anderen unter, der Redebeitrag wurde von keinem aufgegriffen. Dreimal allerdings erteilte Höfer ihr mit einer väterlich-vertraulichen Anrede explizit das Wort: »Ich glaube«, so erklärte er in der 16. Minute, »wir sollten unsere amerikanische Freundin einmal fragen […].« Die Antwort der so Angesprochenen fiel allerdings derart leise aus, dass sie kaum zu verstehen war – und noch bevor sie den ersten Satz beendet hatte, war ihre Chance schon verpasst. Die anderen vier Journalisten redeten an ihrer Stelle weiter und ließen sich über das von Höfer gestellte Problem fachkundig aus.100 Beim zweiten Mal fragte Höfer seine amerikanische Kollegin, wie das Wiedergutmachungsabkommen in Amerika aufgenommen worden sei. Maus räusperte sich zunächst, um dann ihren geringen Kenntnisstand einzuräumen. Sie »habe noch keine Informationen erhalten darüber«.101 Darauf fiel Höfer ihr gleich wieder ins Wort. Das dritte Mal ging es nicht um die Politik, sondern um eine Gruppe von Menschen, die vorm Studio des WDR ein Liedchen sangen, das nun im Rundfunk zu hören war: Höfer: Was spielen die denn da draußen? ›Kölsche Mädchen können bützen.‹ Das ist ja völlig unverfänglich. [Maus lacht.] Höfer: Miss Maus, verstehen Sie das übrigens, was das heißt? Maus: Ja, also, Kölner Dialekt verstehe ich nicht sehr gut. Ich weiß aber ungefähr … Höfer: Herr Martin, wollen Sie es ihr übersetzen? Martin: Busseln.102

In diesem Dialog verdichtet sich noch einmal das Dilemma von Anneliese Maus als Gast bei Höfer. Erstens wurde sie immer wieder als Frau angesprochen, das heißt auf ihre Sonderrolle verwiesen, während sich die Männer auf diese Weise als Männer in Szene setzten. Zweitens zeigte ihr Gesprächsverhalten Merkmale, die Frauen in westlich-modernen Gesellschaften soziokulturell eingeschrieben wurden. »Gender« wird dabei nicht zuletzt durch sprachliche Stile verhandelt und hergestellt.103 Mit der »Polarisierung der ›Geschlechtscharaktere‹« seit dem späten 18. Jahrhundert definierten aufklärerische Pädagogen, Anthropologen und Philosophen Eigenschaften wie Passivität und Emotionalität als spezifisch weiblich, Aktivität und Rationalität dagegen als spezifisch männlich, sodass so100 101 102 103

Ebd., Min. 16. Ebd., Min. 27. Ebd., Min. 12. Speziell zur Konstruktion von Gender in Fernsehgesprächen siehe Kotthoff.

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ziale Differenzen zwischen den Geschlechtern über ihre vermeintliche Natur legitimiert und verankert schienen.104 Selbst wenn zwischen Klassen, Konfessionen und Nationen zu differenzieren ist, stand Maus’ Verhalten doch in der Linie des so konturierten weiblichen Geschlechtscharakters. Sie schaltete sich kaum offensiv oder gar aggressiv in das Gespräch ein, lachte freundlich über die Witze der anderen, selbst wenn diese eine sie selbst beleidigende Note trugen, und ordnete sich der Gruppe unter. Sie verhielt sich damit im Kern so, wie es westlichen Frauen im 19. Jahrhundert für die kommunikative Gattung der bürgerlichen »Konversation« vermittelt worden war.105 In sozialer Hinsicht, das heißt auf der Beziehungsebene, war ihr Gesprächsverhalten daher funktional: Die Verwässerung oder Abwertung der eigenen Meinung kann die Distanz zwischen den Gesprächspartnern verringern. Auch Füllwörter und »Ich weiß nicht so recht«Floskeln erleichtern das »bridge building« mit dem Gesprächspartner. In einem massenmedial übertragenen Rundfunkgespräch wie dem »Frühschoppen« war ein solches Verhalten allerdings dysfunktional. Da Höfer dies nicht ausglich, lagen die Konsequenzen klar auf der Hand: Während die Sendung insgesamt dreißig Minuten dauerte, lag der Redeanteil von Anneliese Maus bei nur knapp zwei Minuten. Fast die Hälfte dieser Zeit verbrachte sie mit nur angefangenen und nicht zu Ende geführten Sätzen oder aber mit der Relativierung ihrer dann gar nicht mehr ausgeführten Meinung. Kein einziger Redebeitrag wurde inhaltlich von den anderen aufgegriffen und fortgeführt. Annemarie Maus’ sachlicher Input zur Diskussion über das arabisch-israelische Verhältnis ging damit gegen Null. Vielleicht wurde sie auch deshalb kein weiteres Mal eingeladen.106 Die Sendereihe zeigte also nicht nur eine in der westdeutschen Gesellschaft ausgesprochen beliebte Berufsgruppe und bestätigte die Integration der Bundesrepublik in den westdeutschen Staatenbund, mit deren Vertretern die Westdeutschen bei Höfer gewissermaßen auf Augenhöhe ins Gespräch kamen. Sie präsentierte Politik auch als maskulinen Zeitvertreib und bot hiermit den maskulinen Betrachtern ein attraktives Identifikationsangebot. Das galt auch für die Figur Höfers als durchsetzungsstarker Moderator. Viele Bundesbürger waren durch den Krieg körperlich oder psychisch beschädigt, ihre Ehefrauen 104 Hausen. Vgl. auch Honegger; Trepp; Kessel. 105 Vgl. Linke, Sprachkultur, sowie die Ausführungen weiter oben. 106 Auch Frauen, die schlagkräftiger waren, mussten sich dagegen wehren, von Höfer immer wieder als Frau adressiert zu werden. Vgl. An., Werner-Höfer-Schau, S. 57, sowie M. JepsenFöge, Der Mann, der keine Fehler macht. Hier stellt Frühschöppner Werner Höfer keine Fragen. Mi Jepsen-Föge sah ihn mit den Augen einer Frau, in: Hör zu!, 16.11.1968, Presseausschnitt o. S., D1210, HA WDR. Der Artikel begann mit folgender Bemerkung: »Als ich Werner Höfer das erste Mal für die HÖR ZU interviewte, forderte er mich schlicht auf, meine Fragen kurz und – männlich (!) zu stellen. Würde wohl im umgekehrten Falle eine Frau einen männlichen Interviewer bitten, sie charmant und weiblich zu befragen? Wohl kaum. Aber so sind die meisten Männer: Das höchste Lob, das sie einer berufstätigen Frau zu zollen vermögen, heißt: Sie steht ihren Mann.«

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und Kinder erkannten sie nach Rückkehr aus der Kriegsgefangenschaft eher wider willig als Patriarchen an, und das seit dem späten 19. Jahrhundert verhaltensstabilisierende Ideal soldatischer Männlichkeit wurde mit der militärischen Niederlage, aber auch durch die aufgedeckten Verbrechen in den Konzentrationslagern brüchig.107 In solchen Zeiten instabiler Männlichkeitskonstruktionen demonstrierte die Sendereihe eindringlich, dass man seinen Mann auch und gerade beim Gespräch über Politik stehen konnte, und zwar nicht durch Rechthaberei, sondern durch geschliffene Argumente. Der »Frühschoppen« könnte zudem von Männern als Instrument kurzweiliger Informationsbeschaffung genutzt worden sein, um diesen Informationsvorteil gegenüber Frauen in die Wagschale zu werfen. So erinnerte sich die Journalistin Carla Woter 1997 im »Bonner General-Anzeiger«: Vom Kirchgang heimgekehrt, den Braten im Ofen, konnte der Sonntag in Deutschland beginnen. Punkt 12 Uhr. High noon in bundesdeutschen Haushalten, und das 35 Jahre lang. Mutter saß mit Schürze vorm Fernseher, das Kind mußte ruhig sein, und Vater erklärte beim anschließenden Mittagessen die Weltlage. Ein betoniertes Ritual, aber vom Bildschirm nicht wegzudenken.108

In dieser Stilisierung lauschte also die Frau, reduziert auf ihre Rolle als Hausfrau und Mutter, ihrem Ehemann, welcher ihr – gestützt auf Höfers Journalistenrunde – die Weltlage erklärte. Zu den Merkmalen innerfamiliärer Hierarchie, wie sie in den fünfziger und sechziger Jahren als natürlich und zeitlos eingefordert wurden, gehörte eben nicht nur das Ideal einer Familie mit »male bread winner«, bei welcher die Ehefrau höchstens ein kleines Zubrot verdienen durfte, sondern auch eine hierarchische Gesprächskultur, bei welcher der Vater die Themen setzte und sich hierbei als Experte gerierte.109 Das galt vor allem für Gespräche über Politik. So gaben bei einer Meinungsumfrage von 1959 rund 77 Prozent der befragten Männer, aber nur 46 Prozent der befragten Frauen an, zumindest hin und wieder über Politik zu diskutieren.110 Ganz in dieser Linie präsentierte der »Frühschoppen« politische Gespräche als Männersache. Zugleich zeigte die Sendung, wie im folgenden Abschnitt erläutert wird, welche Themen für ein humoriges Gespräch unter Männern besonders geeignet erschienen und welche besser zu vermeiden waren.

107 Vgl. zur Destabilisierung von Männlichkeit nach 1945 sowie den Versuchen einer Remaskulinisierung in den fünfziger Jahren Schissler, »Normalization«; Biess, Survivors; Poiger, Krise; Goltermann; Kühne, Kameradschaft; Rahden, Demokratie; Schneider, Einigkeit; Meyer u. Schulze. 108 Zit. n. Jenke, S. 4. 109 Zu Spielräumen weiblicher Berufstätigkeit in der frühen Bundesrepublik vgl. Born u. a.; Oertzen. Zur Institution der Ehe im weiblichen Lebenszusammenhang siehe Heineman, What difference. 110 Vgl. Almond u. Verba, S. 327. Auf diese Erhebung wird weiter unten noch genauer einzugehen sein – ebenso wie auf die geschlechtliche Zusammensetzung von Höfers Publikum.

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2.4 Themen und Tabus. Das Ausland im Fadenkreuz Ein für Zeitgenossen auffälliges Merkmal der Themenwahl bildete ihre Aktualität. Der »Frühschoppen« war neben der »Tagesschau« eine der wenigen politischen Live-Sendereihen im westdeutschen Fernsehen, wobei Höfer erst im Verlauf der jeweiligen Sendewoche das Thema festlegte, um auf jüngste politische Ereignisse reagieren zu können. In den sechziger Jahren standen außenpolitische Themen dabei nach einem genauen Proporz im Zentrum. Zumindest zeigt die Übersicht aller Sendungen aus dem Jahr 1968, dass Höfer jeden Monat eine Sendung konzipierte, die sich ausschließlich mit der westdeutschen Innenpolitik beschäftigte. Die Themen der Frühschoppensendungen im Oktober 1968 hießen beispielsweise »Spuren im Ostblock. Wirkungen der Prager Ereignisse und der Moskauer Intervention«, »Olympische Flamme, lateinische Schatten. Probleme zwischen Mexiko und Feuerland«, »Völkerverbindend – völkertrennend? Olympia in Mexiko«, »›Apollo‹ im Weltraum, Nobelpreis für Asiaten« sowie »Blickpunkt Bonn. Auslandskorrespondenten über deutsche Politik im Urteil des Auslands«. Bei der zuletzt genannten Sendung waren ausnahmsweise nur westdeutsche Journalisten anwesend – es wurde verhindert, dass das Ausland über die Bundesrepublik zu Gericht saß.111 Anders als Christina von Hodenberg dies in ihrer Studie vermutet, war eine solche Behandlung innenpolitischer Themen allerdings keine Innovation der sechziger Jahre.112 Zwar liegt für die fünfziger Jahre keine vollständige Übersicht der behandelten Themen vor, sodass sich das genaue Verhältnis von Innen- versus Außenpolitik nicht bestimmen lässt. Aber innenpolitische Themen wurden durchaus verhandelt, selbst die jüngste deutsche Vergangenheit war kein Tabu. So ließ Höfer an der Jahreswende 1959/1960 gleich zweimal die Frage des Antisemitismus in Deutschland diskutieren. Die Sendungen sind nicht erhalten, aber ein Aktenordner mit Hörer- und Zuschauerpost zeugt von einer überdurchschnittlichen Publikumsresonanz.113 Bei Bedarf jedoch verstand Höfer es offenbar, seine Vormachtstellung als Moderator zu nutzen, um das Thema rasch zu wechseln, sobald das Gespräch auf den Nationalsozialismus zusteuerte. Durch einen »Toast« überwand er die dunklen Seiten der deutschen Vergangenheit – und negierte seine eigene Beteiligung. Das zeigt zumindest ein vom »Spiegel« protokollierter Ausschnitt aus einer Sendung der fünfziger Jahre, in der sich Höfer im Gespräch mit einem niederländischen Journalisten befand: Höfer: Wieviel Jahre … haben Sie in Deutschland verbracht, Herr van Looi? Van Looi: Freiwillig? Fünfzehn. 111 Vgl. Höfer, Der Internationale Frühschoppen. Die Ereignisse des Jahres. 112 Nach Hodenberg, Konsens, S. 329 »wich« Höfer bei der »Spiegel«-Affäre 1962, »erstmals von der Praxis ab, außenpolitische Ereignisse zu debattieren«. 113 Vgl. Hörerpost zum Internationalen Frühschoppen vom 27.12.1959 und 3.1.1960, Akte 5665, HA WDR.

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Höfer: Gibt es auch unfreiwillig verbrachte? Van Looi: Zwei. Höfer: Ja, ich bin nicht schuld daran, aber ich möchte mich im Namen der Deutschen, die daran schuld waren, entschuldigen dafür (hebt sein Glas), bin aber froh, daß Sie es offensichtlich einigermaßen überstanden haben. Kann man das sagen? Van Looi: Ja. Höfer: Gut, Herr van Looi, wir sind bei Ihrer reizenden Kronprinzessin …114

In einer anderen Frühschoppensendung von 1959 kam es – so erneut die Darstellung im »Spiegel« – zu einem kontroversen Gespräch über die Bewertung der DDR-Flagge mit Hammer und Sichel. Hier standen sich die ausländischen Gäste einerseits und Höfer andererseits gegenüber, wobei Höfers Position der offiziellen westdeutschen Haltung entsprach, indem er sich über die ostdeutsche »Spalterflagge« empörte. Dieser Standpunkt stieß auf Widerstand, und zwar sowohl beim dänischen Journalisten Adolph Rastén als auch bei dem französischen Gast Georges Kelber. Ihnen schloss sich auch Louis P. Lochner aus den USA an.115 Höfer wechselte nun die Strategie, indem er Rastén ein Mitspracherecht in deutsch-deutschen Angelegenheiten absprach – ein eigentlich absurdes Unterfangen, da Rastén qua seiner Anstellung als Auslandskorrespondent ein Experte westdeutscher Politik war. Darum war er ja überhaupt in den Frühschoppen eingeladen worden: Höfer: Lieber Herr Rastén, Ihr Land, ein wunderbares Land, ein kleines Land, ein Land, über das durch den Krieg, den die Deutschen zu verantworten haben, sicherlich manches Ungemach gekommen ist – aber das haben Sie ja wohl nicht kennengelernt? Rastén: Nein, das ist richtig. Höfer: Und ich glaube, über diese Dinge – bitte, verzeihen Sie, das ist keine Belehrung, aber ich muß das in einem Akt von Notwehr sagen … Rastén: Ja, ja. Höfer: … über diese Dinge kann nur jemand reden, der sie auch empfinden muß. Rastén: Ja, aber es gibt sehr viele verschiedene Empfindungen auch in Westdeutschland gegenüber dieser Frage.116

Solche Gesprächsbeispiele zeigen erneut, dass Höfer das Gespräch nicht nur in formaler, sondern auch in inhaltlicher Hinsicht lenkte. Das galt dem »Spiegel« zufolge nicht nur, wenn das Thema auf den Nationalsozialismus kam, sondern auch bei ausländischen Stellungnahmen zu westdeutschen Problemen insgesamt. »Als Diskussionsleiter«, erregte sich das Magazin, »nimmt sich Höfer dagegen gern und rücksichtslos das Recht, Themen abzubiegen, die etwa für deutsche Ohren verdrießlich zu hören wären. Als ein englischer Gast über Adenauers jüngste London-Reise mitteilte: ›Ich glaube, es wird heute im Hyde114 An., Werner-Höfer-Schau, S. 56. 115 Ebd., S. 48. 116 Ebd.

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Park gegen ihn demonstriert‹, beendete Höfer sofort die Sendung: ›Im HydePark wird immer gegen etwas demonstriert … Und wissen Sie, ich möchte auch demonstrieren. Ich möchte eigentlich mit den Waffen, die wir hier haben, mit dem Glas …‹ und er leitete zu dem Toast über, der den ›Internationalen Frühschoppen‹ traditionsgemäß beendet.«117 Was dem Publikum »als die eigentliche Aufgabe der allwöchentlichen Stammtisch-Sendung erscheinen mochte«, so das erzürnte Fazit, »nämlich die Meinung ausländischer Beobachter, die Ansicht ausländischer Deutschland-Experten zu einem deutschen Problem zu hören«, das würde Höfer systematisch unterbinden.118 Die Kanzlerdemokratie Konrad Adenauers, so resümiert Hodenberg, zielte auf einen »Verlautbarungsjournalismus ohne kritische Fragen und wollte die Medien dazu bewegen, über Politik zustimmend und in personalisierender Form zu berichten«.119 Diese Politik ging nach Hodenberg weitgehend auf. Die Journalisten hätten sich »in das enge Korsett des Konsenses« gefügt und damit dem Geschmack des Publikums entsprochen: »Leser und Hörer bevorzugten ganz überwiegend die Affirmation des Erreichten und scheuten die Auseinandersetzung mit Konfliktstoff.«120 Das Fernsehen dieser Dekade, formuliert noch schärfer Knut Hickethier, kannte weder politische Magazine noch kritische Kommentare. Es begnügte sich als »Medium der Biederkeit« mit Sendungen »von gepflegt provinziellem Zuschnitt«.121 Wie dagegen bereits gezeigt, hat es sehr wohl politische Diskussionssendungen gegeben, für die sich das Publikum erstens interessierte und die zweitens – allein durch ihren Live-Charakter und den Verzicht auf Absprachen über die Gesprächsinhalte – einen unkalkulierbaren Sendeverlauf in Kauf nahmen. Es müsste daher sowohl für den »Frühschoppen« wie auch für andere Gesprächssendungen im Fernsehen noch geprüft werden, ob hiermit gezielt Spielräume geschaffen wurden, um die Grenzen des Sagbaren in der Ära Adenauer auszutesten und Übergriffe der Kanzlerdemokratie zu umschiffen. Spätestens in der »Spiegel«-Affäre vom Herbst 1962 gab Höfer gezielt regierungskritischen westdeutschen Journalisten ein Podium, was Ärger aus höchsten politischen Kreisen, aber zugleich die Zustimmung von Millionen Zuschauern einbrachte.122 117 Ebd., S. 58. 118 Ebd. Vgl. auch ebd., S. 49: »Nur wenn sich nun aber wirklich auch der bescheidenste Bürger für ein innerdeutsches Thema interessiert […], läßt Höfer zu diesem Thema die Meinungen aufeinanderprallen, freilich nicht ohne den Fehltritt durch ein voller Pathos skandiertes Bekenntnis wiedergutzumachen.« 119 Hodenberg, Konsens, S. 176. 120 Ebd., S. 228 u. 225, in dieser Reihenfolge. 121 Hickethier, Geschichte, S. 92. 122 Höfer hatte sich bereits am Ende der Sendung vom 28.10.1962 mit der »Spiegel«-Redaktion solidarisiert. In der Sendung vom 11.11.1962, zu der ausschließlich westdeutsche Journalisten geladen waren, ging es allein um dieses Thema. Er selbst nahm auf Seiten der »Spiegel«-Redaktion Stellung, was ihm Kritik bis hin zum Innenminister a.D., Josef Hermann Dufhues, eintrug. Als Reaktion darauf sah sich der Intendant des WDR, Klaus von Bismarck, genötigt, Dufhues zu versichern, »daß unser Haus seinerseits scharfe Kritik an

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Zu erkennen ist gleichwohl, dass Höfer die Erwartungen der Adenauerzeit, die politische Medienkontrolle ebenso wie ein durch Sicherheit, Stabilität und Harmonie gekennzeichneter Publikumsgeschmack, punktuell bediente. Er präsentierte zwar eine politische Diskussionssendung und machte damit den Austausch divergierender Meinungen zum Programm. Aber er wusste auch, wie er das Risiko allzu lauter Misstöne sowie einer offenen Kritik an der Regierung Adenauer durch die Auswahl der Themen und durch seine Moderatorenleistung reduzieren konnte. Schließlich ebnete der »Frühschoppen« auf subtile Weise jene politischen Machtverhältnisse ein, in die seine Entstehungsgeschichte eingebettet war. Denn insofern die kommunikative Gattung Diskussion eine formale Gleichrangigkeit der Gesprächspartner schuf oder zumindest suggerierte, nivellierte das Sendeformat die auf der politischen Bühne bestehende Hierarchie zwischen den repräsentierten Nationen. In gewisser Weise wurde diese sogar auf den Kopf gestellt, da der Gesprächsleiter ein Westdeutscher war. Die thematische Schwerpunktlegung auf die Außenpolitik trieb diese Tendenz noch weiter. So verfolgte das Publikum ein auf der politischen Bühne undenkbares Szenario, bei dem ein Westdeutscher den Vertretern der Siegermächte das Wort erteilte oder sie zur Ruhe brachte. Beim Medienereignis »Frühschoppen«, das durch das Publikum vor den heimatlichen Rundfunk- und Fernsehgeräten mitgestaltet wurde, saßen die Deutschen zu Gericht über das Ausland – nicht umgekehrt. Der rasche Themenwechsel bei deutschlandkritischen Bemerkungen und die geringe Vertiefung politischer Fragen waren gleichwohl mehr als vorauseilender Gehorsam vor den Kontrollbestrebungen der Regierung Adenauer. Auffällig ist nämlich, dass Höfer – wie die Sendung zu den arabisch-israelischen Beziehungen exemplarisch zeigt – seine Gäste auch bei außenpolitischen Themen beständig dazu animierte, das Thema zu wechseln. Fast ein Drittel der Sendezeit war die Sendung mit Anneliese Maus von den arabisch-israelischen Verhältnissen der Form geübt hat, in der Herr Höfer seine Funktion als Gesprächsleiter wahrnahm bzw. nicht erfüllte und einseitig in das Gespräch eingriff«. Im Übrigen aber, so vermerkte er am Ende des Briefes, sei die eingegangene Hörer- und Zuschauerpost höchst interessant: »Etwa 45 % der Zuschriften sind negativ für Herrn Höfer. 55 % dagegen zollen ihm mehr oder weniger überschwänglichen Beifall.« Vgl. Brief von Klaus von Bismarck an Herrn Innenminister a.D., Josef Hermann Dufhues, 16.11.1962, Akte 6578, HA WDR. Die Rolle der Sendereihe als Katalysator der »Spiegel«-Affäre und anderer innenpolitischer Skandale der sechziger Jahre müsste noch genauer untersucht werden, wobei die mehrere Aktenordner umfassende Zuschauer- und Hörerpost einen reichhaltigen Ausgangspunkt bieten würde. Vgl. Akte 5675, Hörerzuschriften zum Internationalen Frühschoppen – Spiegelaffäre 11.11.1962 (1); Akte 5676, Hörerzuschriften zum Internationalen Frühschoppen – Spiegelaffäre 11.11.1962 (2), beide HA WDR. Es handelt sich teilweise um mehrseitige Briefe, die nicht nur die Position des Autors in der »Spiegel«-Affäre, sondern auch den eigenen Lebenslauf skizzieren. Zur Dynamik medienpolitischer »Affären« in der frühen Bundesrepublik, die sich seit den späten fünfziger Jahren massiv häuften, wobei sie von den Massenmedien einerseits vorangetrieben wurden und andererseits nicht selten deren Kontrolle durch den Staat zum Gegenstand hatten, vgl. Hodenberg, Konsens, S. 323–360.

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weit entfernt und verließ nicht selten ganz den Bereich der Politik.123 Das war typisch. Gerade in den ersten Jahren ging es unter einem recht breit formulierten Oberthema um diverse aktuelle politische Fragen der letzten Woche, wobei die Teilnehmer »nur Gedankenbrocken anliefern« sollten und »wie beim Stammtisch ruhig vom Hundertsten ins Tausendste abschweifen« konnten.124 Es gehörte regelrecht zu den Charakteristika der Sendereihe, dass Höfer sich und seinen Gästen die Freiheit erlaubte, regelmäßig vom Thema abzuweichen oder es im vorgegebenen Rahmen rasch zu wechseln.125 Diese nur lockere thematische Fokussierung unterstützte den Charakter des Gesprächs als einer weder politisch-ernsthaften noch akademisch-nüchternen, sondern vielmehr unterhaltsam-freundschaft lichen Angelegenheit. Der Form nach war es damit von einer parlamentarischen Debatte ebenso weit entfernt wie von einem akademischen Colloquium. Es handelte sich um ein flüssig vor sich hinplätscherndes, mäßig kontroverses Gespräch unter Männern verschiedener Nationalitäten. Und genau hierin lag für Höfer die politische Funktion der Sendereihe. Selbst insofern die Sendung nicht instrumentell als Arena demokratischer Öffentlichkeit fungierte, diente sie dennoch performativ der suggestiven Werbung für einen demokratischen Handlungsmodus: das Diskutieren.

2.5 Bildungsauftrag. Andiskutieren statt Ausdiskutieren Ziel des »Frühschoppen« war nicht eine vertiefte und substanzielle Analyse politischer Fragen oder gar öffentliche Regierungskritik. Es ging, wie im Folgenden genauer gezeigt werden soll, um ein locker-unterhaltsames Gespräch, das gezielt an der Oberfläche blieb, dafür aber seine Unterhaltsamkeit bewahrte und vom Publikum auch ohne Vorbildung gut verstanden, ja, regelrecht konsumiert werden konnte. Ausgehend von der vorne skizzierten Ausdifferenzierung zwischen den kommunikativen Gattungen der »Diskussion« einerseits und der »Konversation« andererseits, wie sie im 19. Jahrhundert vollzogen wurde, wird deutlich, dass Höfer beide Gesprächsformen systematisch verknüpfte. Und genau hierin sah er einen politischen Bildungsauftrag. Höfers Idee war erstens, »Politik ›süffig‹ zu machen, womit«, wie er präzisierte, »nicht nur die anregende Mitwirkung des Weines gemeint ist, sondern vor allem der selbstverständliche Fluß eines kollegialen Gesprächs – dieses Experi123 Vgl. Tondokument 10002414, Internationaler Frühschoppen, 13.9.1952, AA WDR. 124 Brühl, S. 21. 125 Dies änderte sich über die Jahre ein wenig, da die thematische Fokussierung etwas stärker wurde. Jedenfalls bemerkte der Schweizer Auslandskorrespondent F. R. Allemann 1968: »Am Frühschoppen habe ich schon vor der Fernsehzeit teilgenommen. Damals war es leider Höfers Art, Diskussionen gerade dann abzubrechen, wenn es interessant wurde. Damals versuchte er, eine Art Wochenspiegel zu machen und alle wichtigen Themen anzuschneiden. Heute ist das ja anders. Höfer hat nur noch ein zentrales Thema. Da ist mehr Zeit.« F. R. Allemann, zit. n. An., Höfers Stammtisch-Politik, S. 44.

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ment wurde von den Hörern mit Interesse akzeptiert. Es gibt jedenfalls kompetente Kritiker, die den ›Internationalen Frühschoppen‹ für die anregendste Bemühung des Rundfunks um eine Popularisierung der Politik halten.«126 Die Heranführung des breiten Publikums an politische Themen werde verfehlt, so lange man die Inhalte zu ernsthaft und akademisch verpacke. Es sei nämlich »nichts erreicht, wenn man eine informationsträchtige Diskussion auf höchstem Niveau ansiedelt, und kaum jemand kann oder will folgen. Es ist aber keine Schande, wenn man versucht, auch Leuten, die es gerne ein bißchen gefälliger, leichter, ein bißchen mehr im Konversationsstil haben wollen, entgegenzukommen: der Moderator als Entertainer«.127 Die lockere Gesprächsführung diente also einem Zweck: der »Popularisierung der Politik«, die durch eine Verquickung der kommunikativen Gattung der Diskussion mit jener der Konversation erreicht werden sollte. Die Sendereihe kann damit als Versuch interpretiert werden, die Scheidung zwischen »ernsthaften« Bildungsformaten in den Massenmedien einerseits und »unterhaltsamen« Sendereihen andererseits zu überwinden – ebenso wie zwischen ernsthaften und unterhaltsamen kommunikativen Mustern. Zweitens aber war die gewählte Präsentationsform – ein als heitere Konversation verpacktes politisches Gespräch – nicht nur Mittel zur Auflockerung schwer verdaulicher Inhalte, sondern auch Selbstzweck. Höfer sah eine wichtige Aufgabe seiner Sendung darin, dass Menschen verschiedener Nationalität und verschiedener Meinung überhaupt zu einem Glas Wein zusammenkamen und trotz aller Differenzen ein vergnügliches Gespräch führen konnten. Er interpretierte die Sendung als Beitrag zur Völkerverständigung und notierte mit gewisser Eitelkeit in einem Brief an den Sozialdemokraten Alfred Börner von November 1953: Unser ›Internationaler Frühschoppen‹ feiert am 1. Januar-Sonntag des nächsten Jahres, also am 3.1.1954, seinen zweiten Geburtstag. Wenn ich nicht der Vater dieser Sendung wäre, fiele es mir leichter, Ihnen zu sagen, dass gerade dieses Fernseh- und Radioprogramm die vermutlich erfolgreichste politische Sendung des NWDR ist. Zumindest hat sie eins erreicht: die politischen Professionals wie auch die Laien zu interessieren und zum Diskutieren anzuregen. Ausserdem hat sie dazu beigetragen, einem breiten Publikum vorzuführen, wie mühelos sich Vertreter verschiedener Nationen verstehen und vertragen, wenn sie auch unterschiedliche Ansichten haben.128

Tatsächlich präsentierte Höfer seinem Publikum eine Männerrunde, die sich – gestützt auf Alkohol, Tabak und Witzchen – zu amüsieren schien, obwohl und gerade weil man unterschiedlicher Meinung war. Meinungsdifferenzen wurden im Gespräch nicht aufgehoben, sondern in Szene gesetzt. Gelächter in der Runde, zuweilen provoziert durch Höfers Wortakrobatik, gehörten ebenso zu 126 Höfer, Der amphibische Frühschoppen, S. 159 f. Siehe auch ders., Popularisierung. 127 Höfer, Internationaler Frühschoppen, S. 52. 128 Brief von Werner Höfer an Alfred Börner, 30.11.1953, Akte 5663, HA WDR.

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den Stilmerkmalen des Gesprächs wie die freundlichen Neckereien, aber auch die Respektsbekundungen, die Höfer seinen Gästen gegenüber aussprach. Und egal, wie hart man sich vorher attackiert hatte, das »Prost, meine Herren!« und das Anstoßen der Gläser beschworen die Kohäsion der Versammelten. Für den Briten Neal Ascherson lag hierin einer der wenigen Fehler von Höfers Moderationsleistung: Er lasse die divergierenden Meinungen nicht hart genug aufeinanderprallen, sei zu konfliktscheu und würde die Freundschaft der Anwesenden überflüssigerweise betonen: Am Frühschoppen gefällt mir weniger: […] daß Höfer immer den Standpunkt vertritt: Wir sind doch alle gute Freunde, die sich bei einem guten Glas Wein nicht streiten werden. Er sollte versuchen, die selbstverständlich bestehenden Meinungsverschiedenheiten weniger zu vertuschen.129

Allerdings scheint Höfer gerade mit seinem humorig-autoritären, Meinungsdifferenzen produzierenden, aber nicht ausreizenden Moderationsstil das Publikum angesprochen zu haben. Das zeigt ex negativo die Sendung vom Juni 1967, als die Journalistenrunde über die Studentenproteste diskutierte und es ungewohnt scharf zur Sache ging.130 Höfer hatte fünf männliche Journalisten eingeladen. Zu Gast waren James O’Donnell aus den USA, Roland Delcour aus Frankreich, der eben erwähnte Neal Ascherson aus Großbritannien, der Schweizer Paul Werner und Jürgen Reiss aus der Bundesrepublik. In der 18. Sendeminute bat der französische Journalist die Runde mit französischem Akzent: »Darf ich vielleicht eine Lanze brechen für diese arme Berliner Kommilitone?« Im Anschluss verteidigte er die Protestformen der Studenten in zunehmend hohem Tonfall und ließ sich dabei von Höfer nur vorübergehend unterbrechen. Erst nach mehr als einer Minute gelang es dem Moderator, durch Verweis auf die »Stimme Amerikas!« und unter Zuhilfenahme seines ausgestreckten Arms, O’Donnell das Wort zu erteilen. Dieser kritisierte Delcour mit den amerikanisch eingefärbten Worten: »Hör auf, mein französische Kollege, mit diese Geschwätz!« Während O’Donnell nun seinen eigenen, entgegengesetzten Standpunkt weiter ausführte und hierzu mit der Brille in der Hand den Takt schlug, präsentierte die Kamera nicht nur ihn selbst, sondern auch seinen Nachbarn, Neal Ascherson. Ascherson lächelte bei O’Donnells Worten kaum merklich in sich hinein, schüttelte kurz den Kopf, lenkte den Blick schließlich von seinem Nachbarn auf die Tischplatte und zündete sich eine Zigarette an. Wenig später erklärte er in nüchternem Tonfall, er sei anderer Meinung, worauf der Amerikaner verkündete: »Ich weiß, dass Sie nicht diese Meinung sind, ich lese auch den Observer, aber ich bin meine Meinung! Im Namen der Toleranz!«131 An dieser Stelle unterbrach Höfer und bemerkte in freundlichem Tonfall: »Um Rheinwein auszutauschen und sich konfrontieren zu lassen, sitzen wir 129 Zit. n. An., Höfers Stammtisch-Politik, S. 44. 130 Vgl. Video 0267242, Internationaler Frühschoppen, 16.7.1967, VA WDR. 131 Ebd., Min. 18–20.

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hier.« Er erinnerte also seine Gäste – und damit auch sein Publikum –, dass über dem im Gespräch deutlich werdenden inhaltlichen Dissens ein formaler Konsens stand. O’Donnell ließ sich auf dieses Harmoniegesuch jedoch nicht ein, sondern parierte unter Anspielung auf die Studentenproteste: »Und nicht mit Steinen!« Die von Höfer daraufhin aufgeworfene Frage: »Sehen Sie Steine?« musste O’Donnell zwar verneinen. Er nutzte sie allerdings wenig später als Vorlage, um Delcour zur Rede zu stellen: »Sind Sie für Steine oder gegen?«132 Dies entfachte einen erneuten Schlagabtausch und provozierte ein Stimmengewirr.133 Dabei zeigte die Kamera zwischenzeitlich auch jene beiden Journalisten, die in den letzten Minuten kaum zu Wort gekommen waren. Während Delcour, Ascherson und O’Donnell rechts von Höfer Platz genommen hatten, saßen links von ihm Paul Werner vom Züricher »Tages-Anzeiger« und der »Tribune de Genève« sowie Jürgen Reiss, unter anderem tätig für die Deutsche Welle. Die Kamera zeigte sie als verstummtes Paar, die Augen auf die streitenden Kollegen gerichtet.134 Hier setzte sich schließlich Höfers Stimme durch. Er schlug ein neues Thema vor.135 Der Unruhe war damit aber kein Ende gesetzt. Im weiteren Verlauf der Sendung rangen noch mehrmals verschiedene Gesprächsteilnehmer gleichzeitig um das Wort und erhöhten ihre Tonlage dabei merklich. Sie beleidigten sich gegenseitig oder verliehen ihren Argumenten durch eine expressive Mimik sowie eine hörbar auf den Tisch geschlagene Hand Nachdruck.136 Auch Höfer selber wurde äußerst laut und erhob sich einmal sogar kurz von seinem Stuhl. Es kann nur gemutmaßt werden, ob er hiermit seine gefährdete Autorität als Moderator effektvoll reinstallieren wollte, ob er seine Empörung gezielt in Szene setzte oder ob er tatsächlich die Kontrolle über seine Körpersprache verlor und aufgrund inneren Aufruhrs aus der Rolle fiel.137 Zugleich bemühte er sich mehrmals, die Aggression seiner Gäste in Harmonie zu überführen. Dies zeigt beispielsweise die Schlusssequenz. Kurz vor Ende der Sendezeit gab Höfer allen Teilnehmern die Möglichkeit, ein Schlusswort zu sprechen.138 Das nutzte O’Donnell zu einer letzten Attacke, indem er verkündete: »Der Kollege Delcour sollte endlich die Geschichte der Französischen Revolution lesen! Da gab es Girondin, und da gab es Jacobin. Ich bin Girondin, der ist Jacobin!«139 Während die Kamera zeigte, wie O’Donnell seine dunkel getönte Hornbrille effektvoll wieder aufsetzte, war das Lachen einiger Kollegen auszumachen. Höfer ging auf den Angriff zunächst nicht ein, verkündete aber wenig später mit weit auseinander gebreiteten Armen: »Auch mein letztes Wort, mein Toleranzedikt: Prosit meine Herren, Prosit 132 133 134 135 136 137 138 139

Alle Zitate ebd. Ebd., Min. 21. Ebd., Min. 22 f. Ebd., Min. 23. Vgl. neben ebd., Min. 18–23, insbesondere Min. 24 f., 28 f., 33–35, 38–41. Ebd., Min. 40 f. Ebd., Min. 43. Ebd., Min. 44.

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Berlin […]. Prost Freunde«. Das letzte Bild zeigte eine Herrenrunde mit erhobenen Weingläsern – einer der Journalisten lachte leiste, ein anderer murmelte: »Prosit Werner«. Durch ein Trinkritual wurde also das freundschaftliche Klima der Runde ein letztes Mal in Szene gesetzt beziehungsweise wiederhergestellt.140 Offenbar, das lässt sich resümieren, konnte es im »Internationalen Frühschoppen« zumindest seit den späten sechziger Jahren durchaus zu Situationen kommen, in denen sich die Gäste hart attackierten. Die im Anschluss an diese Sendung umgehend eingehende Zuschauer- und Hörerpost verdeutlicht allerdings, dass zumindest ein Teil des Publikums damit überfordert war. Höfer erreichten über fünfzig Postkarten und Briefe, wobei sich über die Hälfte der Autoren und Autorinnen über die ungewohnte »Erregung« im Gespräch mokierte, der Höfer nicht – wie sonst – Herr geworden sei.141 Die Post verwies damit nicht nur auf ein hohes Bedürfnis nach einem ruhigeren Gespräch, sondern lässt auch vermuten, dass dies im »Frühschoppen« lange Zeit die Regel war. Das Risiko eines lauten Schlagabtauschs oder einer auf den Tisch geschlagenen Faust war zwar in der Konzeption eines von Alkohol stimulierten Live-Gesprächs angelegt und erhöhte die Spannung. Aber in der Regel konnte das Publikum relativ sicher sein, dass sich Höfer erfolgreich bemühte, eine freundschaftliche Atmosphäre umgehend wieder herzustellen, um an den gemeinsamen Grundkonsens zu erinnern: Das Bedürfnis, »Rheinwein auszutauschen und sich konfrontieren zu lassen«.142 Solche metakommunikativen Ermahnungen beschränkte Höfer nicht auf das Studio, sondern auch auf die schriftliche Kommunikation, die er mit Teilen seiner Anhängerschaft führte. Ihn erreichte vor allem positive, aber auch kritische Post, die er in der Regel persönlich beantwortete. Nach einigen Sendungen erhielt er aber so viele Briefe, Postkarten und Telegramme, dass er sich für eine an alle gerichtete Standardantwort entschied. So bekam er nach einer Sendung vom August 1967 zum deutsch-amerikanischen Verhältnis zahlreiche Zuschriften, die sich über die deutschlandkritischen Aussagen des amerikanischen Jour140 Alle Zitate ebd., Min. 44 f. 141 Vgl. H. P. B. an Werner Höfer, Berlin, 17.7.1967, Abschnitt »Fragen an, in und um Berlin«, Akte 5673, HA WDR: »[…] ich wundere mich eigentlich, daß Sie nicht eingriffen.« Briefe, in denen Zuschauer oder Hörer Höfer ein zu starkes Eingreifen in die Diskussion vorwarfen, kamen so gut wie nicht vor. Vgl. aber auch ebd., H. B. an Werner Höfer, WittenBommern, 15.7.1967: »Ich unterstelle, daß Sie sich nach besten Kräften bemühen, um objektiv zu reden und zu schreiben, und zwar soweit wir es als Menschen können. Dasselbe darf ich jedoch auch von Ihnen den Andersdenkenden gegenüber erwarten. Also keine Verketzerung, sondern Tolerierung der anderen Meinung. Sie müssten noch besonders vorsichtig argumentieren, da Sie jeden Sonntag die Gelegenheit haben, vor einem großen Forum von Zuschauern Ihre persönlichen Ansichten unter das Volk zu bringen, während der Angegriffene zwar täglich durch seine Zeitungen agieren kann, aber mir scheinen die Diskussionen im Frühschoppen wirkungsvoller zu sein, da für die Masse das Lesen zu beschwerlich sein dürfte.« 142 Video 0267242, Internationaler Frühschoppen, 16.7.1967, Min. 18, VA WDR.

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nalisten empörten. Anstatt sich aber nun inhaltlich auf die Post einzulassen und die im Rahmen der Sendung von den eingeladenen Journalisten geäußerten Positionen zu entschärfen oder zu verteidigen, antwortete Höfer mit einem metakommunikativen Argument, nämlich dem Hinweis auf den abstrakten Wert von Meinungsaustausch und vor allem Meinungsdifferenz. In seiner an alle verschickten Standardantwort bedankte sich Höfer zunächst »herzlich« für »jede Äußerung – und sei sie noch zu kritisch«. Er signalisierte seinen Kritikerinnen und Kritikern also, wie sehr er ihre Stellungnahme begrüßte. Sodann erinnerte er an den formalen Konsens, der den in der Sendung entstandenen Dissens ermöglichte und zugleich legitimierte: [E]ine Diskussionssendung wie der ›Internationale Frühschoppen‹ ist dazu da, kontroverse Ansichten in freimütigem Austausch von Wort und Widerwort zur Geltung kommen zu lassen. Es ist dabei unvermeidlich, daß immer ein Teil der Zuschauer und Zuhörer sich in seinen Ansichten entweder bestätigt oder herausgefordert fühlt.143

Wenn die Kritik der schreibenden Hörer und Zuschauer ohnehin nicht den Inhalt, sondern die Form des Gesprächs betraf, wie nach der Sendung zu den Studentenprotesten, dann parierte Höfer dies auf ähnliche Weise. Die von vielen kritisierte »Polyphonie« des Gesprächs erkläre sich daraus, so Höfer, »daß es sich beim ›Internationalen Frühschoppen‹ um ein spontanes, in keiner Weise präpariertes oder organisiertes Gespräch« handele, »in dessen Hitze solche akustischen Ballungen unvermeidlich sind. Wollte man sie vermeiden, müßte man sich für eine artige Addition gesitteter Monologe entscheiden, was dann im Ergebnis auf gepflegte Langeweile hinausliefe.«144 Er warb hier also um Verständnis für die Turbulenzen eines argumentativen und live gesendeten Gesprächs. Und er unterstrich, dass die Sendung hierdurch an Unterhaltungswert gewann. In Höfers eigener Perspektive lag im freundschaftlichen Miteinander ein zentrales Wesensmerkmal des »Frühschoppen«, das auch dessen Popularität erhöhte. »Ein unverwechselbarer ›Reizfaktor‹ dieses internationalen Gedankenaustauschs«, so seine Vermutung, »liegt fraglos darin, daß – bei aller Gegensätzlichkeit der Ansichten – das Gespräch immer in einem versöhnlichen und persönlichen, in einem animierten und kollegialen Klima verläuft. Kein Eisen ist zu heiß, um nicht doch angepackt zu werden; aber keiner verbrennt sich daran den Mund.«145 Dass die behandelten Themen dabei nicht vertieft wurden, sodass am Ende jeder Sendung kein eindeutiges Ergebnis, sondern vielmehr ein Cocktail mitunter höchst unterschiedlicher und völlig unvermittelter Ansichten stand, galt Höfer nicht als Fehlleistung, sondern als Verdienst. Prägnant formulierte er 1969 gegenüber der »Welt«: 143 Vgl. Vorlage für Antwortbrief auf Hörer- und Zuschauerpost zum Internationalen Frühschoppen vom 20.8.1967 zum deutsch-amerikanischen Verhältnis, Akte 5673, HA WDR. 144 Brief von Petra Lathendorf, Sekretariat, Westdeutscher Rundfunk/Internat. Frühschoppen, ohne Adressat, Köln, o. D., Abschnitt »Fragen an, in und um Berlin«, Akte 5673, HA WDR. 145 Höfer, Der amphibische Frühschoppen, S. 159.

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Meine Mission ist es, Menschen, die über bestimmte Ereignisse und Zusammenhänge besser informiert sind als das Gros der Zuschauer, dazu zu bringen, diese Informationen mit anderen freimütig auszutauschen und dadurch den Zuhörern und Zuschauern klarzumachen, daß jedes Problem mindestens zwei Seiten hat und daß weder Ideen noch Menschen noch Völker selten nur recht oder ganz unrecht haben. Beim »Internationalen Frühschoppen« kann am Schluß nur im Idealfall eine Art Endurteil herauskommen; in der Regel werden nur neue Fragen übrig bleiben – und die Verführung zu weiterer Diskussion.146

Wenngleich dieses Zitat die Hoffnung auf ein »Endurteil« als regulative Idee eines Gesprächs bestätigte, ist doch offensichtlich, dass sich Höfer mit seiner Sendung nicht in den Dienst abschließender Konsensfindung stellte. Eugen Kogon konstatierte 1967 zutreffend, dass im »Frühschoppen«, einer »tour d’horizon über die bemerkenswertestes Ereignisse der Woche« gerade nicht »gründlich« diskutiert werde: Die »Zuschauer-Zuhörer sollen das Bedeutsame lediglich markiert bekommen«. Die »eigentliche Problem-Erörterung« verlange »viel mehr. Zuerst einmal Zeit.«147 Tatsächlich zielte die Sendereihe nicht auf die Ermittlung eines besseren Arguments im Singular, sondern auf die Produktion einer ganzen Reihe von Argumenten, die gleichberechtigt nebeneinander standen und das Publikum in den Umgang mit Ambivalenz wie mit Dissens einübten. Anstatt sich um eine möglichst erschöpfende Behandlung offener Fragen zu bemühen, bis ein vermeintlicher Konsens gefunden war, choreografierte er einen kontroversen, aber auch lockeren Schlagabtausch – mit dem Ergebnis, dass am Ende – abgesehen von Höfers höchst eigenwilligen Zusammenfassungen – kein Konsens, sondern Dissens stand, eine Meinungsdifferenz, die es zu akzeptieren und als Ergebnis einer gemeinsamen Horizonterweiterung zu genießen galt. Gerhard Schäffner konstatiert, Höfer »lehrte das Publikum, daß man unterschiedliche Meinungen zivilisiert ausdiskutieren konnte …«.148 Meines Erachtens versuchte Höfer dem Publikum aber vielmehr zu vermitteln, dass strittige Themen gerade nicht ausdiskutiert werden mussten. Es war erlaubt, sie anzudiskutieren – und trotz auch weiterhin unterschiedlicher Meinungen gut Freund zu bleiben oder zu werden. Ganz in diesem Sinne beschrieb die Journalistin Susanne Heim, die als freie Mitarbeiterin für das Presseamt des WDR arbeitete, den »Internationalen Frühschoppen« 1967 explizit als »VHF school of applied democracy« und machte zugleich deutlich,149 dass sich der pädagogische Effekt der Sendung nicht nur auf die im Gespräch vermittelten Inhalte, sondern auch auf die Art der Gesprächsführung bezog. »The mass media«, erklärte sie zu den Anfängen der Sendereihe, »had the task of familiarizing the public with the rules of the game in democ146 Werner Höfer, in: A. d. Haas, Das Geheimnis des Erfolgs. Gespräch mit Werner Höfer (»Oldtimer« des deutschen Fernsehens), in: Die Welt, 1.2.1969, Akte D1210, HA WDR. 147 Kogon, S. 147, Hervorhebung im Original. 148 Schäffner, S. 98. 149 Heim, S. 10. »VHF« ist die Übersetzung von »UKW«.

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racy. The obvious choice as a model for democracy seemed to be free conversation and unhampered exchange of opinion.«150 Höfer sorge entsprechend dafür, […] that the sporting spirit of applied democracy is preserved and the discussion does not degenerate into a quarrel: fairness is the supreme law. He defends it where necessary by firm intervention and where possible with humour. To speak one’s mind without rubbing other people up the wrong way: this rule in the democratic game is outstandingly and empathically demonstrated during the »Internationaler Frühschoppen«.151

Die Autorin fasste Demokratie hier nicht als politisches System, sondern als Summe von Spielregeln zwischenmenschlicher Interaktion, die geprägt wurden von Teamgeist und Fair Play. Der weiter oben bereits angesprochene, 1951 mit HICOG-Geldern produzierte Film über Diskussionstechnik hatte das in einem Gleichnis verdeutlicht: In einer Montage wurde eine Diskussion im Klassenverbund mit einem Fußballspiel parallelisiert, wobei dem Ball auf dem Fußballplatz das Thema der Diskussion entsprach. Der Ball musste regelmäßig abgegeben werden, damit ein guter Spielzug entstehen konnte. Die Spieler mussten also kooperieren, wobei unkooperatives Verhalten vom Schiedsrichter (vom Moderator) geahndet wurde, der zugleich Anfang und Ende des Spiels bestimmte. Über eine Niederlage hatte sich niemand zu grämen. Erstens war die Chance auf eine Revanche gewiss, und zweitens bereitete ein gutes Spiel – eine gute Diskussion – per se großes Vergnügen. Drittens trainierten auch die unterlegenen Spieler ihre Fähigkeiten und steigerten so ihre Chance, es beim nächsten Mal besser zu machen.152 Höfers Anliegen einer Verführung zu weiterer Diskussion entsprach im Kern dem Ziel von Teilen der westlichen Besatzungsmächte wie einigen Deutschen, die Menschen nach dem Krieg für argumentativen Meinungsaustausch als alltäglichen Handlungsmodus zu gewinnen und zu lehren, dass Meinungsdifferenzen kein Grund für den Abbruch eines Gesprächs seien, sondern dessen Voraussetzung und manchmal auch dessen Ergebnis. Der Journalist selbst hat freilich nie bekundet, in den Fußstapfen der Reeducationpolitik zu stehen – das wäre für seinen Beliebtheitsgrad auch kaum von Vorteil gewesen. In Interviews erklärte Höfer vielmehr, es sei eine »ziemlich triviale Erkenntnis, daß der spezifische Aggregatzustand von Demokratie die Diskussion« sei.153 »Lernfähig, lerneifrig«, wie die Deutschen seien, hätten sie dies nach dem Kriege dann allerdings »sehr wörtlich genommen«.154 Hierzu passt auch der an anderer Stelle geäußerte Eindruck, man habe unter Demokratie eben damals »permanente Diskussion« verstanden.155 150 151 152 153 154 155

Ebd., S. 11. Ebd., S. 12. Vgl. Diskussion überflüssig, Filmmeter 11–39, 231–254. Höfer, Internationaler Frühschoppen, S. 39. Ebd. Höfer, Wenn ich mich erinnere, S. 137: »Wenn man damals jemanden gefragt hätte: Was ist Demokratie?, hätte er die nicht einmal falsche Antwort gegeben: permanente Diskussion.«

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Diese regelrechte Gleichsetzung von »Diskussion« und »Demokratie« ist aber keineswegs selbstverständlich, sondern verweist präzise auf jene Vorstellung von Demokratie als Lebensform anstatt nur parlamentarische Praxis, die in den westlichen Besatzungszonen nach 1945 vermittelt werden sollte. Und lerneifrig war Höfer damit zunächst einmal selbst. Zumindest entsprach die Anlage des »Frühschoppen« in großen Teilen jenem westlichen und vor allem amerikanischen Diskussionsideal, das nach 1945 über Kurse, Bücher oder Filme in Westdeutschland bekannt gemacht werden sollte – und mit dem Höfer als Journalist in der Besatzungszeit sicherlich in Berührung gekommen war. Bei Kriegsende in Gefangenschaft war er nach seiner offiziellen Entnazifizierung zunächst für das von der französischen Besatzungsmacht kontrollierte Radio Koblenz tätig gewesen. Hier realisierte er die »Gespräche über den Schlagbaum«, zu denen vier Journalisten aus den vier Besatzungszonen eingeladen wurden – ein offensichtlicher Vorläufer von Höfers späterer Sendereihe, der zeigt, wie unmittelbar sich der »Frühschoppen« aus der Besatzungssituation heraus entwickelte.156 Neben dem biografischen Hintergrund sind die implizit im »Frühschoppen« entwickelten Gesprächsregeln auffällig. Erstens achtete Höfer auf die heterogene Zusammensetzung seiner Runde. Amerikanische Ratgebertexte, die in den westlichen Besatzungszonen kursierten, sahen hierin eine wichtige Voraussetzung für die Schaffung jenes Grunddissenses, ohne den ein Gespräch nicht in Gang kommen konnte. Sie empfahlen daher, national, rassisch, sozial gemischte Gruppen – Höfer wählte unterschiedliche Nationalitäten. Zweitens garantierte Höfer, ebenfalls wie in der amerikanischen Literatur empfohlen, die Lebendigkeit des Gesprächs, indem er für eine humorvolle und informelle Atmosphäre sorgte und die Spontanität seiner Gäste strukturell unterstützte. So betonte er, die Gäste würden keine Fragen im Voraus erhalten, könnten sich also nicht inhaltlich vorbereiten.157 In der Perspektive zeitgenössischer Ratgeberliteratur sollte der Moderator außerdem die Diskutanten aus der Reserve locken, humorvoll sein, auf die Kürze der Redebeiträge achten, Thesen pointieren und langatmige Monologe verhindern.158 All das gelang Höfer mit Bravour. Schließlich achtete er auf das Wohlbefinden seiner Diskutanten. Da es beim Diskutieren aus amerikanischer Perspektive auch um die Stärkung des Selbstvertrauens wie des Gruppengefühls ging, galt es als unerlässlich, dass der Moderator zu allen Diskutanten eine gute Beziehung aufbaute – unter Umständen schon vor dem Gespräch – und durch allerlei Requisiten auf dem Tisch und an den Wänden eine angenehme Atmosphäre schuf. Auch diesen Anforderungen kam Höfer in nuce nach. Er lud seine Gäste immer schon eine Stunde vor der Sendung ein, um mit 156 Vgl. Jenke, S. 5. 157 Vgl. Peter, S. 45: »P.: Sprechen Sie sich vorher mit den Gästen über gewisse Fragen ab? H.: Nein, und ich habe es gar nicht gern, wenn man das von mir verlangt, wie es – begreiflicherweise – manche Ostjournalisten tun.« 158 Vgl. die Fallstudie weiter oben sowie exemplarisch für den folgenden Absatz Die Kunst der Diskussion.

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ihnen bei einem Glas Cognac »warm« zu werden, während der Sendung taten Wein und Tabak ihr Übriges.159 Vor allem amerikanische Beobachter lobten daher Höfers Moderationsleistung. »Herr Höfer«, so David Binder in der »New York Times«, sei »ein außerordent lich disziplinierter Diskussionsleiter […], der keine Monologe und keine langweiligen Gemeinplätze duldet«. Indem er Einleitungsfragen stelle und höflich unterbreche, wenn ein Teilnehmer abschweife, halte er das Gespräch »in Bewegung« und provoziere manchmal sogar »absichtlich eine Kontroverse«.160 Manche Kollegen, bemerkte Wellington Long, ein anderer amerikanischer Auslandskorrespondent, »beschweren sich immer darüber, daß Höfer ihnen das Wort abschneidet. Wahrscheinlich reden die Leute zu lange. Ich mache alles kurz. Mir ist es wohl deshalb noch nicht passiert.«161 In Zuspitzung dieser Perspektive konstatierte der deutsche Journalist Norbert Seitz vor einigen Jahren, der »oftmals als zu autoritär gerügte« Moderationsstil sei »in Wahrheit der gerade aus den USA importierte Talkstil« gewesen, »langatmigem Reden ins Wort fallen zu dürfen«.162 Diese Adelung ist überzogen, da Höfers hoher Redeanteil und seine scharfen inhaltlichen Einlassungen dem amerikanischen Ideal guter Diskussionsleitung widersprachen. Aber im »Frühschoppen« ging es immerhin nicht papieren und steif zu, wie Mitarbeiter des Hochkommissariats an anderen Gesprächssendungen in den westdeutschen Massenmedien kritisierten.163 Außerdem erinnerte Höfer seine Gäste und sein Publikum regelmäßig an den über dem Gespräch stehenden Grundkonsens – das Bekenntnis zu Meinungsdifferenz. Ein zentrales Lernziel der Sendung betraf die Form, nicht die Inhalte der Interaktion: Divergierende Ansichten sollten ausgetauscht werden, ohne dass ein eindeutiges Ergebnis erzielt werden musste oder die Gesprächspartner einander gram wurden – das war der Aggregatzustand der Demokratie. Aber wer schaltete am Sonntag eigentlich den Fernseher oder das Radio ein, um Höfers Runde zu verfolgen?

2.6 Ritualisierung der Senderezeption. Immer wieder sonntags Der »Frühschoppen« war stets im Rundfunk zu empfangen, dem »Hegemon der häuslichen Freizeit« (Axel Schildt) in den fünfziger Jahren. Nach dem Zweiten Weltkrieg schichtübergreifend fast flächendeckend in den Haushalten vorhanden, nahm das Radio »noch einmal und verstärkt eine dominierende Stellung 159 Vgl. Höfer, Der amphibische Frühschoppen. 160 Binder, S. 95, dt. Übersetzung durch WDR Information, Pressestelle, 9.11.1970 308/70, D1210, HA WDR. 161 »Zu bemängeln habe« er, hieß es weiter, »eigentlich nur das Schlusswort. Aber Höfer ist Gastgeber, und man kann ihm nicht das Recht auf das letzte Wort abstreiten.« Zit. n. An., Höfers Stammtisch-Politik, S. 44. 162 Seitz, S. 31. 163 Vgl. Fischer, S. 216 f.

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als Vermittlungsinstanz für Information und Unterhaltung in den westdeutschen Wohnstuben« ein, da es sich erst jetzt als »alle Klassen und Schichten durchdringendes Massenmedium« etablierte.164 Dabei war Rundfunkhören in den fünfziger Jahren noch eine gemeinschaftliche, die Familie und eventuellen Besuch umfassende Angelegenheit. Das zunächst noch im Wohnzimmer positionierte Radio lieferte einerseits Hintergrundmusik bei der Hausarbeit und beim Essen, andererseits versammelten sich Familienmitglieder und Freunde bei manchen Sendungen auch gezielt, um gemeinsam Radio zu hören. Erst in den sechziger Jahren wurde das Radiomöbel von seinem zentralen Platz im Wohnzimmer durch den Fernseher verdrängt und hielt nun verstärkt in Küche, Schlaf- oder Kinderzimmer Einzug. Obwohl das Fernsehen langsam die Abendunterhaltung übernahm und sich zum neuen Leitmedium entwickelte, hielt sich die fast flächendeckende Versorgung der westdeutschen Haushalte mit Rundfunkgeräten.165 Das Fernsehen seinerseits fasste im Verlauf der fünfziger und sechziger Jahre unaufhaltsam in westdeutschen Haushalten Fuß. 1953 hatten nur fünf Prozent der Rundfunkhörer überhaupt schon einmal eine Fernsehsendung gesehen, 1958 waren es 93 Prozent. Parallel stieg die Zahl der angemeldeten Teilnehmer auf über drei Millionen Fernsehhaushalte Ende der fünfziger Jahre an – die »Schwarzseher« kamen noch hinzu.166 Die teuren Fernsehgeräte waren einerseits noch lange Luxusartikel, auch Prestigegründe gehörten zur Anschaffungsmotivation dazu. Andererseits nahm das Fernsehen nach und nach vor allem dort eine Monopolstellung in der Freizeitgestaltung ein, wo Alternativen rar waren, das heißt bei Arbeitern, Menschen mit niedriger Schulbildung und in kleineren 164 Schildt, Hegemon, S. 458. 1951 kamen auf je 100 Haushalte 64 angemeldete Geräte, bis 1960 hatte die Rundfunkdichte auf 85 Prozent zugenommen. Zu Beginn der Dekade hatte noch eine mittelständische Hörerschaft dominiert. Nach einer Erhebung des Deutschen Instituts für statistische Markt- und Meinungsforschung 1951 lag bei den Hörern des Nordwestdeutschen Rundfunks der Arbeiteranteil bei nur 15,4 Prozent, unter Einbeziehung der Landarbeiter sowie der nicht selbstständigen Handwerker und Bergleute bei 32,4 Prozent – ein Anteil, der auch von Beamten und Angestellten erreicht wurde. Dies stellte, so ebd., S. 461, »die Sozialstruktur der Gesamtbevölkerung auf den Kopf«. Im Verlauf der fünfziger Jahre nivellierten sich aber diese sozialen Unterschiede. Schließlich durfte ein Radio als Gegenstand des täglichen Bedarfs nicht mehr gepfändet werden. Es stellte damit keinen Luxusartikel mehr dar, sondern war zum selbstverständlichen Gebrauchsgegenstand geworden. 165 Vgl. Dussel, Vom Radio- zum Fernsehzeitalter; Schildt, Hegemon. 166 Vgl. zu den Rezeptionsgewohnheiten Schildt, Moderne Zeiten, S. 262–305; ders., Beginn, S. 478 f. Eine von der Hörerforschung des NWDR im Januar 1954 aufgestellte »Berufliche Gliederung der am 1.12.1953 gemeldeten Fernsehteilnehmer« kam insgesamt auf 9527 Geräte, wovon 2425 auf Gastwirte und Hoteliers entfielen, 2075 auf Rundfunkhändler, 2942 auf Selbstständige (Kaufleute, freie Berufe, Handwerker u. a.), 971 auf Angestellte und nur 429 auf Arbeiter, 223 auf Beamte und 93 auf Landwirte. Bei 105 Personen handelte es sich um Rentner, 156 hatten keinen Beruf und 108 entfielen auf die Kategorie »Verschiedene«, welche unter anderem Institute und Behörden umfasste. Vgl. Wolfgang Ernst, Berufliche Gliederung der am 1.12.1953 gemeldeten Fernsehteilnehmer, Akte 11129, HA WDR.

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Gemeinden. Das Fernsehen regelte hier den Zeitplan des Feierabends und des Wochenendes. Es hatte damit erheblichen Anteil an der neuen Häuslichkeit des Familienlebens und einer regelrechten Verhäuslichung des Mannes.167 Wer am Vortag das Fernsehprogramm nicht verfolgt hatte, konnte sich am Gespräch mit Bekannten und Nachbarn unter Umständen nicht beteiligen. Da ein Fernsehgerät vor allem angeschafft wurde, um den häuslichen Feierabend und das Wochenende zu verschönern, versammelten sich in der Regel mehrere Personen vor den Geräten – eine telefonische Umfrage des NWDR ermittelte im Mai 1954, dass abends rund vier bis fünf Personen vor den eingeschalteten Bildschirmen saßen.168 Im Verlauf der sechziger Jahre löste das Fernsehen dann sogar das Radio als Leitmedium in den Privathaushalten ab, und seit den frühen siebziger Jahren gehört es schichtübergreifend zum Standard.169 Für die besondere Beliebtheit des »Frühschoppen« gibt es zahlreiche Hinweise. 1957 beispielsweise veröffentlichte die Illustrierte »Funk und Familie« Ergebnisse der Zuschauerbefragung von »Infratest« sowie der »Gesellschaft der Freunde des Fernsehens« und konstatierte, in der Rubrik »Aktuelle Sendungen« läge der »Internationale Frühschoppen« nach wie vor auf dem ersten Platz, wobei sich fünfzig Prozent der potenziellen Zuschauer laut eigenen Angaben regelmäßig, zehn Prozent öfter, acht Prozent gelegentlich und 25 Prozent nie zuschalteten. Von jenen, welche die Sendung sähen, gefalle sie 62 Prozent gut, sieben Prozent gut mit Einschränkungen, während nur sechs Prozent die Reihe ablehnten und 25 Prozent keine Angaben machten.170 1958 befragte dann die »Funk- und Fernseh-Illustrierte« ihre Leser, welche Fernsehsendung der letzten Woche ihnen am besten gefallen habe. Auf den ersten drei Plätzen 167 Vgl. Schildt, Beginn, S. 482. 168 Vgl. Wolfgang Ernst, Ergebnisse der telefonischen Befragungen von privaten Fernsehteilnehmern im Sendegebiet des NWDR mit Berlin, Fernsehprogramm vom 23.5.1954, aus Köln, Frankfurt und Hamburg, Akte 11129, HA WDR. 169 Vgl. zu dieser Tendenz Dussel, Vom Radio- zum Fernsehzeitalter. 170 Vgl. An. Fernseh-Dezember im Spiegel der Zuschauer, in: Funk und Familie Nr. 6, 1957, Presseausschnitt o. S., Akte 8963, HA WDR. Nach den regelmäßigen Infratest-Befragungen, so wusste etwa die Hauszeitschrift der Blaupunkt-Werke 1959 zu berichten, »nimmt der ›Frühschoppen‹ die erste Stelle unter den aktuellen Sendungen im Deutschen Fernsehen ein. Die Bewertungen zeigen mit +4 bis +6 sehr hoch. Die Zuschauerzahlen bewegen sich zwischen 35–50 Prozent.« Vgl. J. Rick, Internationaler Frühschoppen und sein Gastgeber Werner Höfer, in: Hauszeitschrift der Blaupunkt-Werke, H. 12, Febr. 1959, S. 56–58, hier S. 58, Akte 8963, HA WDR. Bei einer vom NWDR durchgeführten telefonischen Befragung von Fernsehteilnehmern vom Sonntag, den 23.5.1954, hatten fünfzig Prozent der erfolgreich kontaktierten Personen an diesem Tage ferngesehen, zehn Prozent hatten das Programm des NWDR laut eigenen Angaben nicht gesehen und vierzig Prozent hatten sich gar nicht gemeldet. Neben dem »Frühschoppen« wurde allerdings zugleich nach den Sendungen »Wer gegen wen?« sowie der Übertragung des Endspiels um die Deutsche Fußballweltmeisterschaft gefragt. Vgl. Wolfgang Ernst, Ergebnisse der telefonischen Befragungen von privaten Fernsehteilnehmern im Sendegebiet des NWDR mit Berlin, Fernsehprogramm vom 23.5.1954, aus Köln, Frankfurt und Hamburg, Akte 11129, HA WDR.

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lagen reine Unterhaltungsprogramme, auf Platz vier fanden sich »Toi-toi-toi« von Peter Frankenfeld sowie – als erstes politisches Programm – die sonntägliche Journalistenrunde.171 Vor dem Hintergrund solcher Zahlen beschrieb »Der Spiegel« Höfers Runde 1959 als die »beliebteste Diskussionssendung« in der Bundesrepublik, zu der sich regelmäßig rund dreißig bis vierzig Prozent der deutschen Fernsehteilnehmer einschalteten. Damit erreichte der »Frühschoppen« zunächst Traumquoten, die auch durch die Monopolstellung eines einzigen Programms ermöglicht wurden, das nur wenige Stunden pro Tag auf Sendung war. Der Beliebtheitsindex, so »Der Spiegel« weiter, liege unter dem der Sportübertragungen, sei aber annähernd so hoch wie bei Quizsendungen. Die Sendung könne daher als »fester Bestandteil des öffentlichen Lebens in der Bundesrepublik« bezeichnet werden.172 In den sechziger Jahren lagen die Einschaltquoten »nur« bei 14 bis 21 Prozent, zugleich aber nahm die Verbreitung von Fernsehgeräten massiv zu, sodass die absoluten Zuschauerzahlen weiter stiegen. So hatten sich 1961 durchschnittlich rund 21 Prozent der Fernsehteilnehmer zugeschaltet, bei knapp unter sechs Millionen angemeldeten Fernsehgeräten insgesamt. Im ersten Quartal 1968 waren es dann 15 Prozent, allerdings bei inzwischen über 14 Millionen angemeldeten Fernsehgeräten.173 Auf dieser Grundlage berechnete die »Westfälische Rundschau« zum 15. Jubiläum des Fernseh-Frühschoppens 1968: »Bei zwei Personen pro Empfangsgerät sitzen jetzt sonntags rund vier Millionen Zuschauer vor den Apparaten, das sind über 200 Millionen im Jahr.«174 Susanne Heim erklärte 1966 etwas großzügiger, im Jahresdurchschnitt würden zwanzig Prozent der rund zwölf Millionen angemeldeten Fernsehgeräte eingeschaltet, und da man 3,5 Personen pro Empfangsgerät schätze, säßen also bis zu acht Millionen Zuschauer vor den Bildschirmen.175 Der eingangs bereits zitierte David Binder von der »New York Times« war mit geschätzten 10 Millionen 171 W. Höfer, Journalistische Delikatessen, in: Funk- und Fernseh-Illustrierte, Nr. 24, 1958, Akte 8963, HA WDR. 172 Vgl. An., Werner-Höfer-Schau, S. 51. Wie Hodenberg, Konsens, S. 19, prägnant feststellt, verfügten die fünfziger und sechziger Jahre über eine relativ homogene, kaum pluralisierte Massenkommunikationsöffentlichkeit: »[…] verhältnismäßig wenig audiovisuelle Medien sendeten für ein breites Publikum, die Konkurrenz war gering, gut platzierte Sendungen avancierten vorhersehbar zum Stadtgespräch und konnten mit umfangreichem Presseecho und Politikerreaktionen rechnen.« 173 Zahlen nach WDR/Pressestelle: Beurteilung des Internationalen Frühschoppens, 7.8.1968, Akte D 1210, HA WDR. 174 Die Zeitung ging dabei von durchschnittlich 14 Prozent Zuschauern aus. Weiter hieß es: »Der Urteilsindex lag in den letzten vier Jahren zwischen +5,2 und +5,6. Mit anderen Worten: Die Zuschauer finden den Internationalen Frühschoppen überdurchschnittlich gut. Ein Prädikat, über Jahre gleichmäßig gesteigert, das sich sehen (und hören) lassen kann.« An., Rund vier Millionen Zuschauer beim »Frühschoppen«-Geburtstag. Standardsendung einmalig in der Geschichte des Deutschen Fernsehens, in: Westfä lische Rundschau, 24.8.1968, Akte D1210, HA WDR. 175 Vgl. Heim, S. 13.

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Zuschauern noch wohlwollender, wobei die Rundfunkhörer hier noch immer nicht einbezogen waren.176 Der »Frühschoppen« war keine Produktion für die schmale intellektuelle Elite des Landes, sondern mindestens für die gebildeten Mittelschichten, tendenziell sogar für die Mittelschichten insgesamt. Dafür spricht erstens der Sendeplatz, der anders als etwa das Nachtprogramm des NWDR so gelegt war, dass die gesamte Familie vor dem Radiomöbel oder dem Fernsehgerät Platz nehmen konnte. Entsprechend war die Hörer- und Zuschauerpost, die nach einzelnen Sendungen bergeweise bei Höfer einging, in sozialer Hinsicht breit gestreut. Höfer erhielt mehrheitlich Post von Männern, aber auch von Frauen sowie von Menschen unterschiedlicher Altersgruppen, sodass ihn ebenso das Schreiben einer 76-jährigen Witwe erreichte, deren Mann Schrift leiter gewesen war,177 wie eines jungen Mannes von 28 Jahren, der Höfer 1967 gegenüber erklärte, er verfolge die Sendung seit seiner Geburt.178 Zwar gab immer nur ein Bruchteil der Schreibenden den eigenen Beruf beziehungsweise den des Ehepartners oder der Eltern an. Bezogen auf eine Sendung vom August 1967, die sich mit der deutschen Vergangenheit beschäftigte, zählten hierzu aber unter anderem ein Bürgermeister a.D., ein Bankdirektor a. D., der Direktor eines Stadtkrankenhauses, ein Internist, ein Veterinärmediziner, ein Pfarrer sowie ein Verlagsbuchhändler, aber ebenso ein »kleine[r] Mann der Straße«, wie sich der Absender selbst beschrieb.179 Höfer dürfte also auch Personen erreicht haben, die normalerweise nicht den Politikteil der Tageszeitungen lasen.180 Susanne Heim, die in den sechziger Jahren im Namen der Pressestelle des WDR über den »Frühschoppen« schrieb, betonte zugleich dessen Beliebtheit bis in die Eliten: »[…] our programme is followed by a fairly stable community, including all age levels and reaching the highest government circles.«181 Einiges spricht dafür, dass vor den Fernsehgeräten mehr Männer als Frauen Platz nahmen. Laut einer Allensbach-Umfrage von Oktober 1960 behaupteten insgesamt 13 Prozent jener Personen, die in den letzten drei Wochen Fernsehen 176 Vgl. Binder, S. 95. 177 J. S. an Werner Höfer, Viersen, 18.8.1967, in: Abschnitt »Politik in und um Deutschland vorgestern, gestern, heute«, Akte 5673, HA WDR. 178 Vgl. H. P. B. an Werner Höfer, Berlin, 17.7.1967, in: Abschnitt »Fragen an, in und um Berlin«, Akte 5673, HA WDR. 179 An. an Werner Höfer, Dortmund, 27.8.1967. Vgl. außerdem Dr. R. S., Bürgermeister a. D./ Rechtsanwalt und Notar, an Werner Höfer, Gelsenkirchen, 28.8.1967; H. K. M., Bankdirektor a. D., an Werner Höfer, München, 28.8.1967; Prof. Dr. H. D., Direktor des Stadtkrankenhauses Worms, an Werner Höfer, Worms am Rhein, 28.8.1967; Dr. F. M. Internist, an Werner Höfer, Singen, 5.9.1967; Dr. Med. Vet. S., Veterinäroberrat, an Werner Höfer, Bremervörde, 27.8.1967; A. E., Pfarrer, an Werner Höfer, Dürmentingen, 27.8.1967; E. S., Verlagsbuchhändler, an Werner Höfer, Herten, 27.8.1967, alle in: Abschnitt »Politik in und um Deutschland vorgestern, gestern, heute«, Akte 5673, HA WDR. 180 Das vermutete ein Zuschauer oder Hörer, vgl. H. B. an Werner Höfer, Witten-Bommern, 15.7.1967, in: Abschnitt »Fragen an, in und um Berlin«, Akte 5673, HA WDR. 181 Heim, S. 12.

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geschaut hatten, auch den »Frühschoppen« vom Sonntag, den neunten Oktober, eingeschaltet zu haben. Dies waren 17 Prozent der Männer und neun Prozent der Frauen.182 Durch die Wahl des Sendeplatzes am Sonntag um zwölf Uhr waren die Hausfrauen von der Rezeption im Wohnzimmer strukturell abgeschlossen, da sie in der Regel in der Küche das Essen zubereiteten.183 Immerhin konnten sie so dem Gespräch am Radio folgen, was angeblich sogar für Höfers eigene Familie galt. Die »Augsburger Allgemeine« meinte zu wissen, Höfer präsentiere den »Frühschoppen« auch deshalb in Fernsehen und Rundfunk, »weil Frau Höfer […] nur eben dann gucken kann, wie die Köpfe aussehen, und dann beim Kochen in der Küche das Radio anstellt.«184 So wurden die Frauen durch den »amphibischen« Charakter der Sendereihe als Publikum zweiter Klasse sowohl einbezogen als auch degradiert.185 Passend zu den Einschaltquoten lag der von Infratest ermittelte Beliebtheitsindex in den sechziger Jahren durchgehend um »+5« und war damit ebenfalls recht hoch. Das galt etwa für den »Frühschoppen« vom 3. März 1968, bei dem mit Henri Nannen »Über den publizistischen Umgang mit Staatsoberhäuptern« diskutiert worden war, wobei sich der Index »+5« zusammensetzte aus den Bewertungen »ausgezeichnet« (35 Prozent), »gut« (46 Prozent), »zufriedenstellend« (zwölf Prozent), »mäßig« (vier Prozent) und »sehr schlecht« (drei Prozent).186 Auch der Tenor der Hörer- und Zuschauerpost war zustimmend.187 Obwohl manche Rezipien182 Noelle u. Neumann, S. 121. 183 Vgl. R. Holler, Frühschoppen mit großer Politik. Fünfzehn Jahre Höfer-Runde. Langlebigste deutsche Wochensendung, in: Augsburger Allgemeine, 24.8.1968, Akte D1210, HA WDR. 184 Ebd. 185 Zu innerfamiliären Geschlechterverhältnissen in den fünfziger Jahren sowie zur ideologischen Überhöhung eines Ideals der »bürgerlichen Kleinfamilie« vgl. Schissler, »Normalization«; Moeller, Protecting Motherhood; Heineman, Hour; Sachse; Oertzen; Niehuss; Buske, S. 195–229. 186 Vgl. WDR Pressestelle, Beurteilung des Internationalen Frühschoppens, 7.8.1968, Akte D1210, HA WDR. Vgl. auch die Hörer- und Zuschauerpost zu dieser Sendung in Akte D1236, HA WDR. 187 Vgl. Hörerzuschriften, zum Teil von A-Z, Sendereihe Internationaler Frühschoppen, Laufzeit 1959–1960, hier unter anderem Einsendungen zu Sendungen vom 27.12.1959 (Antisemitismus) sowie 3.1.1960 (Schmierereien an der Synagoge in Köln), Akte 5665; Hörerzuschriften zu Sondersendungen, Sendereihe Internationaler Frühschoppen, Laufzeit: 04/ 1965–09/1965, unter anderem zu Sendungen vom 20.6.1965 (Freiheit und Gerechtigkeit in einem geteilten Land), 19.4.1965 (Gastarbeiter), 26.9.1965 (Die Wahl in Analysen und Perspektiven), Akte 5669; Hörerzuschriften zu Sondersendungen, Sendereihe Internationaler Frühschoppen, Laufzeit 1965/66, hier u. a. Hörerpost der Sendung vom 30.1.1966 (Bildungsnotstand), Akte 5670; Hörerzuschriften zu Sondersendungen, 1966/67, hier u. a. zu Frauenfrage/Frauenquote (5.2.1967); Akte 5673, Hörerzuschriften zu Sondersendungen, Sendereihe Internationaler Frühschoppen, Laufzeit Mai bis August 1967; Zuschriften zur Sendung vom 16.7.1967 (Fragen an, in und um Berlin), 4.6.1967 (Schah-Besuch), Akte 5672; Hörerzuschriften zum Internationalen Frühschoppen – Spiegelaffäre 11.11.1962 (1), Akte 5675; Hörerzuschriften zum Internationalen Frühschoppen – Spiegelaffäre 11.11.1962 (2), Akte 5676, alle HA WDR.

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ten nur dann zur Feder griffen, wenn sie einen Kritikpunkt fanden, mühten sie sich in der Regel, im ersten Satz zunächst ihre allgemeine Zustimmung zur Sendung zu betonen. In diesem Sinne formulierte eine Zuschauerin aus Köln 1966: Seit Jahren richte ich meinen Sonntagvormittag danach ein, nur nicht den Internationalen Frühschoppen zu versäumen. Und auch ich möchte Ihnen bei dieser Gelegenheit einmal sagen, daß ich diese Sendung als eine der interessantesten finde, auf die ich mich immer wieder freue.188

Wie hier anklingt, besaß der »Frühschoppen« sogar die Kraft, in manchen bundesdeutschen Haushalten die Zeitstruktur des Sonntags dauerhaft zu verändern.189 Obwohl es durchaus üblich war, während des Rundfunk- und Fernsehbetriebs gemeinsam zu essen, wurde das traditionell um zwölf Uhr beginnende Mittagessen verschoben. »Bei Millionen von Deutschen«, berichtete die »Frankfurter Rundschau« im August 1968 unter Rekurs auf eine Umfrage, »kommt sonntags die Suppe nicht eher auf den Tisch, als bis Werner Höfers ›Frühschoppen‹ beendet ist.«190 Die »Kölnische Rundschau« schmückte die gleiche Information mit dem Hinweis auf innerfamiliäre Konflikte aus: »In den ersten Jahren«, so das Blatt, »beschimpften ihn bundesdeutsche Hausfrauen noch als Störenfried des sonntäglichen Mittagstisches. Inzwischen haben sie sich längst daran gewöhnt, daß die Suppe nicht vor dem Ende von Werner Höfers ›Internationalem Frühschoppen‹ serviert wird.«191 Wurde bei den einen das Mittagessen nach hinten verschoben, zogen andere den Sonntagsspaziergang vor. Das lässt sich anhand der Hörer- und Zuschauerpost ablesen. Im August 1953, noch vor der ersten Fernsehübertragung, erhielt Höfer etwa den Brief eines Hörers aus Köln, der beteuerte, »daß ich diese Sendung besonders schätze, richte ich doch meinen Sonntagsspaziergang stets so ein, daß ich um ›Zwölfe‹ daheim am Gerät Ihnen zuhören kann«.192 Wieder andere ersetzten den »echten« durch Höfers Frühschoppen. Es fand also jener Prozess der Substitution statt, der als ein Merkmal der Medialisierung gilt.193 So er188 M. L. an Werner Höfer, Köln-Sülz, 10.1.1966, Akte 5670, HA WDR. Vgl. auch W. S. an den WDR, betr. Werner Höfers Sonntags-Frühschoppen, Niederseelbach [1966], Akte 5670, HA WDR. 189 Zu den mediengestützten Strukturen und Ritualen bundesdeutscher Sonntagsgestaltung siehe Badenoch, S. 190–195. 190 An., 15 Jahre Frühschoppen-Sendung, S. 13. Anders dagegen Marzok, S. 63, die betont, wenn Egon Hoegen den »Frühschoppen« ansagte, »hatten sich die Familien meist schon um den Eßtisch versammelt, um sich zum Sonntagsbraten auch die internationale Politik mundgerecht servieren zu lassen«. 191 H. J. Weskamp, Kein Störenfried des Mittagstisches mehr. Werner Höfers »Frühschoppen« seit 15 Jahren, in: Kölnische Rundschau, 24.8.1968, D1210, HA WDR. 192 J. S. an Werner Höfer, Köln-Riehl, 23.8.1953, Akte 5663, HA WDR. 193 Vgl. Bösch u. Frei, Ambivalenzen, S. 18. Neben Substitution (Ersetzen sozialer Handlungen durch Medien) verweisen die Autoren auf Agenda Setting (mediale Beeinflussung der Themen, über welche Menschen sprechen), Akkomodation (gesellschaftliche Anpassungen an Medienfunktionen) und Amalgamtionen (Vermischung von Medienrezeptionen mit anderen sozialen Handlungen).

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hielt Höfer 1966 den Brief eines Zuschauers aus Aachen, der versicherte: »Seit 10 Jahren verzichte ich auf den persönlichen Sonntagsfrühschoppen einzig nur, um Ihre Frühschoppensendung nicht zu versäumen.«194 Der »Frühschoppen« verweist damit exemplarisch auf eine Routinisierung des Radiohörens und Fernsehschauens, ein Spezifikum westdeutscher Mediennutzung, sowie auf die hiervon ausgehende Synchronisierung privaten Lebens durch die Massenmedien. Bei Werner Höfers Journalistenrunde genau wie bei der »Tagesschau« oder beim »Stahlnetz« taten Millionen Bundesbürger genau das Gleiche: Sie hörten Radio oder schauten fern.195 Die Diskussionssendung wurde in diesem Rahmen nicht passiv konsumiert, sondern aktiv angeeignet und im Familien- und Bekanntenkreis besprochen. Beispielsweise präsentierte sich ein Briefschreiber aus Köln gegenüber Höfer als »eifriger Zuhörer Ihrer Frühschoppenrunde, die immer so hochaktuell ist und später in der Familie oder am Biertisch eifrig diskutiert wird«.196 Untersucht man den »Internationalen Frühschoppen« als Kommunikationsereignis, ist daher zu berücksichtigen, dass die interpersonale Kommunikation nicht auf das Aufnahmestudio beschränkt blieb. Vielmehr wurde sie vom Publikum fortgeführt, das sich zudem teilweise eben auch im Anschluss der Sendung per Brief, Postkarte oder Telegramm an Höfer wandte. Bei »innenpolitischen Skandalen«, so Höfer, füllte die Hörer- und Zuschauerpost sogar »ganze Waschkörbe«.197 Auch das verweist auf das hohe Maß, in dem Höfer sein Publikum zu fesseln und zu aktivieren wusste. Schließlich wurde der Erfolg der Sendereihe von zahlreichen Zeitungen, Zeitschriften und Illustrierten fortgeschrieben und zum Mythos überhöht. Anlässlich des 15-jährigen Jubiläums der ersten Fernsehübertragung brachten 1968 zahlreiche überregionale und regionale Tageszeitungen, Illustrierte und Nachrichtenmagazine ausführliche Artikel über Werner Höfer und seine Sendereihe, die zu diesem Zeitpunkt bereits 783 Mal auf dem Bildschirm und 869 Mal im Hörfunk zu verfolgen gewesen war.198 Ab einem gewissen Zeitpunkt dürfte der Erfolg des »Frühschoppen« damit eine Eigendynamik entfaltet haben, bei der das Bewusstsein von Millionen Bundesbürgerinnen und -bürgern, dass »man« am Sonntag den diskutierenden Journalisten zuhörte, die Senderezeption zusätzlich anstachelte. Nicht zuletzt die zunehmende Selbstbeobachtung der Gesellschaft durch die Medien verhalf der Sendereihe zum Kultstatus.199 194 N. B. an Werner Höfer, Aachen, 7.2.1966, Akte 5670, HA WDR. 195 Zur Ritualisierung des Zuschauens in den sechziger Jahren vgl. Hickethier, Einschalten, S. 267–269. 196 [Name unleserlich] an Werner Höfer, Köln, 9.1.1966, Akte 5670, HA WDR. 197 Zit. nach dem Interview mit Höfer von Peter, S. 45. 198 Vgl. etwa R. Holler, 15 Jahre »Internationaler Frühschoppen«. Ehrenrunde bei Werner Höfers populärer Jubiläumssendung, in: Westdeutsche Allgemeine Zeitung, 17.8.1968, Akte D1210, HA WDR. Weitere Artikel zur Jubiläumssendung ebd. 199 Zur Geschichte der Massenmedien als Beobachtungssysteme erster und zweiter Ordnung vgl. Knoch u. Morat sowie als theoretischer Hintergrund Luhmann, Realität.

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Mit großer Regelmäßigkeit schaltete also ein ansatzweise schicht-, kohortenund geschlechterübergreifendes Segment der Bundesrepublik jeden Sonntag den Fernseher oder das Radio ein, um Höfers Runde zu verfolgen. Zumal da die Sendereihe auf der Ebene interpersonaler wie massenmedialer Kommunikation nachbearbeitet wurde, handelte es sich um eine feste Institution des öffentlichen Lebens, welche in die häusliche Sphäre ragte. Millionen Westdeutsche wuchsen mit Höfers Runde regelrecht in die westdeutsche Nachkriegsdemokratie hinein. Der »Frühschoppen« avancierte für sie zu einem unumstößlichen Sonntagsritual, wobei der Ritualbegriff hier nicht in pejorativer Absicht auf einen inhaltsleeren und funktionslosen Restbestand vormoderner Gesellschaft verweist. Die Kulturwissenschaften sprechen Ritualen inzwischen vielmehr eine hohe Symbolrationalität zu, womit die integrative, Werte vermittelnde und ordnungsstiftende Funktion von Handlungsweisen gemeint ist, die nach einem festen Schema ablaufen, in regelmäßigen Abständen wiederholt werden und deren Funktion nicht instrumenteller, sondern performativer Art ist.200 Daher ist anzunehmen, dass die Sendereihe einerseits mentale Bedürfnisse der westdeutschen Gesellschaft aufgriff und befriedigte, diese andererseits aber auch präformierte. Wie ist dies abschließend zu bewerten und zu welchen Bewertungen kamen die Zeitgenossen?

2.7 Öffentliche Deutungen. Vom Lob zur Kritik Der »Frühschoppen« war schon insofern erfolgreich, als er ein Millionenpublikum fand, das ihm über Jahrzehnte treu blieb. Ob davon auch eine Diskursivierung des Publikums ausging und die Sendereihe Deutschen die Bedeutung einer demokratischen Diskussion lehrte, wie Michael E. Geisler meint, ist eine ganz andere Frage.201 Die Geschichtswissenschaften tun sich mit der Rekonstruktion der Aneignung von massenmedialen Angeboten generell schwer. Medieninhalte werden eigensinnig und oftmals jenseits der von Medienmachern kalkulierten Absichten angeeignet, denn ihre Inhalte lassen sich vielfältig deuten und erlangen erst im Kontext der Mediennutzung ihren sozialen Sinn.202 Immerhin kann die Hörer- und Zuschauerpost aber als Indikator für die Kraft des »Frühschoppen« interpretiert werden, das Publikum zu animieren, eine eigene Meinung überhaupt zu entwickeln und diese zumindest schriftlich an den Moderator zu schicken. Wenn zudem die im »Frühschoppen« gezeigte Form der Interaktion zu den Sendeinhalten hinzugezählt und bedacht wird, dass Millionen Westdeutsche auf dieser Ebene jede Woche über mehrere Dekaden die gleiche Botschaft erhielten, dann ist es wahrscheinlich, dass sich die gezeigten Handlungsweisen durchaus in das Bewusstsein der Zuschauer und Zuhörer einschrieben. 200 Einführend Dücker. 201 Vgl. Geisler, S. 239 u. 241. 202 Vgl. Bösch u. Frei, Ambivalenzen, S. 13.

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Da viele Gäste dem Publikum über die Jahre vertraut wurden, vermittelte der »Frühschoppen« ihnen plastisch, dass Differenzen in der Sache einer über nationale Grenzen hinweg formierten kollegialen Männerfreundschaft nicht im Wege standen, sondern diese sogar beförderten: Echte Männer trafen sich regelmäßig, maßen ihre argumentativen Kräfte – und amüsierten sich dabei. Ein Buchhändler aus Herten schrieb Höfer: Wenn man Ihren Frühschoppen Sonntags vormittags ziemlich regelmäßig sieht oder wenigstens hört, bekommt man allmählich ein ganz merkwürdiges Verhältnis zu Ihnen persönlich. – Ich bitte Sie jetzt schon, vorsorglich gewissermaßen, um Entschuldigung dafür, daß ich es fertig bringen könnte, Ihnen, wenn ich Ihnen mal per Zufall begegne, kameradschaftlich auf die Schulter zu klopfen und zu sagen: Aber höre mal, mein Lieber, da und da bin ich der und der Ansicht.203

Der Autor imaginierte also eine Begegnung mit Höfer, die sich automatisch im Modus einer Diskussion vollzog, womit eine wesentliche Zielsetzung der Sendung erreicht gewesen wäre. Es handelte sich aber natürlich um eine rein fiktive Begegnung. Und das schriftliche Mitteilungsbedürfnis vieler Zuschauer und Hörer Werner Höfer gegenüber kann auch – umgekehrt – als Indiz dafür gelesen werden, dass diesen Personen im Familien- und Bekanntenkreis niemand zur Verfügung stand, mit dem sie ihre Überlegungen austauschen konnten. Das könnte zumal für die Frauen gegolten haben, die sich schriftlich an Höfer wandten, um ihre Position zu entwickeln. Zu Hause hätte ihnen bei einem solchen Unterfangen womöglich keiner zugehört. Es darf daher bezweifelt werden, ob aufgrund der Rezeption dieser Sendereihe zu Hause, am Arbeitsplatz oder in der Freizeit mehr diskutiert wurde. Angenommen werden kann aber, dass Höfer das streng regulierte, argumentative Gespräch unter Männern salonfähig machte und zeigte, wie gut man sich nicht nur trotz, sondern auch gerade wegen verschiedener Meinungen verstehen konnte. Er kultivierte eine bestimmte Form des argumentativen Schlagabtauschs – moderiert, männlich, politisch, heiter – und riss damit eine in der deutschen Kommunikationskultur fest verwurzelte Trennung kommunikativer Gattungen ein: Traditionell war hier die »Diskussion« als Spielart der »Debatte« und damit als ein der Entscheidungsfindung dienender kompetitiver Schlagabtausch etabliert worden. Die Sachorientierung einer solchen Diskussion versetzte sie in Spannung zur kommunikativen Gattung der »Konversation«. Deren Funktion lag ganz auf der Beziehungsebene; sie sollte die sozialen Bande zwischen den Gesprächspartnern stärken – weswegen offener Dissens ebenso wie politische Themen tendenziell vermieden wurden.204 Höfer gelang es, diese Trennung zwischen einer auf die Sachebene fixierten Diskussion und einer auf

203 E. S., Verlagsbuchhändler, an Werner Höfer, Herten, 27.8.1967, in: Abschnitt »Politik in und um Deutschland, vorgestern, gestern, heute«, Akte 5673, HA WDR. 204 Vgl. vorne, erster Akt.

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die Beziehungsebene gerichteten Konversation zu überwinden. Sein Rezept war, Dissens als Treibstoff eines anregenden Gesprächs zu nutzten. Als sich die erste Fernsehübertragung zum 50. Mal jährte, konstatierte Norbert Seitz im »Tagesspiegel« daher, Höfer habe sich »trotz seiner Verfehlungen in der NS-Zeit« den »ehrbaren Ruf des demokratischen Pioniers« erworben, indem er »den zuschauenden Deutschen einen unterhaltsamen Anschauungsunterricht in tolerantem Diskutieren« erteilte. Bei ihm sei »etwas hierzulande völlig Neues« geschehen, nämlich »intelligentes Streiten um Meinungen – ganz ohne Kehlköpfe und Fäuste«.205 Vor allem der Pioniercharakter des Höferschen Wirkens ist aber zu relativieren. Wie oben gezeigt, waren Diskussionssendungen im Rundfunk und Fernsehen der fünfziger Jahre generell en vogue und schon vorher mit politisch-edukativem Ziel von den West-Alliierten eingefordert worden – inklusive des Plädoyers für eine lebendige, dissensfreudige Atmosphäre. Zudem wurden, wie die Sendung zur Studentenbewegung zeigte, die Stimmen hin und wieder auch bei Höfer etwas lauter, und es wurde auch mal mit der flachen Hand auf den Tisch geschlagen. Höfers Sendereihe demonstrierte also nicht, dass man bei Dissens immer höflich und zurückhaltend bleiben musste. Sie zeigte vielmehr, dass eine gewisse Erregung erlaubt war, so lange man darüber nicht die Bereitschaft verlor, das Gespräch fortzusetzen und sich einander herzlich zuzuprosten. Speziell mit dieser kommunikativen Konzeption traf Höfer den Geschmack des Publikums. Das zeigen nicht nur die hohen Einschaltquoten, sondern das lässt sich auch an den Hörer- und Zuschauerbriefen erkennen. Jene bei Höfer nach den Sendungen eingehenden Postkarten und Briefe, die nicht den Inhalt, sondern die Form der Gespräche thematisierten, lobten mehrheitlich das angebliche Feingefühl des Moderators. Sie interpretierten die Moderation als durchaus taktvoll und damit für einen Deutschen untypisch. »Ich darf Ihnen sagen«, schrieb der bereits erwähnte Verlagsbuchhändler aus Herten, »daß ich Ihr Geschick, Ihr Taktgefühl deshalb bewundere, weil es unsern Landsleuten so häufig fehlt.«206 Er selbst warte nur noch auf den Tag, an welchem Höfer zum Außenminister berufen werde.207 Als exemplarisch kann auch die Post eines Pfarrers aus Dürmentingen gelten, der zum einen für »die Abwechslung und Aktualität« dankte, die Höfer »Sonntag für Sonntag den Fernsehern und Hörern auftische«, und ihm zweitens »Anerkennung« zollte für »die Art, wie Sie das Gespräch leiten und vor dem Abgleiten bewahren«.208 Höfer hatte das hier gepriesene Konzept seiner Sendung in den frühen fünfziger Jahren entwickelt und hielt eisern daran fest. Die erhaltenen Aufzeichnungen und die zahlreichen zeitgenössischen Beschreibungen machen deutlich, wie 205 Seitz, S. 31. 206 E. S., Verlagsbuchhändler, an Werner Höfer, Herten, 27.8.1967, in: Abschnitt »Politik in und um Deutschland, vorgestern, gestern heute«, Akte 5673, HA WDR. 207 Ebd. 208 A. E., Pfarrer, an Werner Höfer, Dürmentingen, 27.8.1967, Akte 5673, HA WDR.

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wenig sich der Studioaufbau, die Zusammensetzung der Gäste und Themen, sowie die Gesprächsführung über die Dekaden wandelten. Was sich veränderte, war indes die Bewertung der Sendung in der Öffentlichkeit. In den fünfziger und in großen Teilen der sechziger Jahre war die Berichterstattung in den Printmedien insgesamt sehr positiv. Mit überwiegender Mehrheit lobte die Presse den demokratischen und demokratisierenden Charakter der Sendung.209 Eine Jury aus Fernsehkritikern zeichnete den »Frühschoppen« Mitte der fünfziger Jahre wiederholt als beste Sendung der Kategorie »Diskussionen und Gespräche« aus.210 Und 1956/57 erhielt Höfer bereits den »Deutschen Fernseh-Preis« mit der Begründung: Überragend als Gesprächsleiter, konziliant als Gesprächspartner hat er den Mut und die Fähigkeit, auch die schwierigen politischen Themen anzupacken und diskutieren zu lassen, ohne die Teilnehmer zu einheitlichen Auffassungen zu zwingen. Höfers Sendung regt die Zuschauer an, sich eine eigene Meinung zu bilden und bewirkt so einen intensiven Kontakt zwischen Fernsehprogramm und Zuschauer.211

Als das Wochenmagazin »Der Spiegel« im Herbst 1959 seine Titelgeschichte der »Werner-Höfer-Schau« widmete, geschah dies allerdings bereits aus Verärgerung. Werner Höfer, so der Tenor, ein autoritärer, eitler und egozentrischer Moderator, schneide seinen Gästen regelmäßig das Wort ab, lasse keine Kritik an der Regierung Adenauer gelten und nehme zu viel Redezeit für sich selbst in Anspruch. Diese nutze er dann für akrobatische Kettensätze, humorige Trinksprüche und willkürliche Themenwechsel. Höfer scheue sich nicht, »den Fachleuten, die er an den Tisch gebeten hat und die ihm als dem Chairman höflich die Vorhand lassen, ungeniert ins Wort zu fallen oder ihnen sogar über den Mund zu fahren. So schnitt er einem griechischen Kollegen, der über Zypern gesprochen hatte, das Wort ab, kam auf ein anderes Gebiet und erklärte: ›Und damit sind wir bei dem Thema, das – verzeihen Sie – etwas belangreicher ist.‹« Kurz: Der »Frühschoppen« sei eine pseudodemokratische Farce.212 Diese Kritik bezog sich nicht allein auf die Themensetzung der Sendereihe, sondern auch auf die in ihr kultivierte Form der Interaktion, die beziehungsund nicht sachorientiert sei, Themen anreiße, aber nicht im Detail durchspreche. Höfers Strategie sei es, »alle echten Diskussionen möglichst mit Conférencier-Mätzchen zu verharmlosen oder in nationalem Stammtisch-Pathos zu ertränken«.213 Wenngleich erst zehn Jahre später, geriet die Erfolgsgeschichte des »Frühschoppen« genau im Sinne dieser Kritik ins Stocken. Die bis dahin fast durchgehend positive massenmediale Berichterstattung schwenkte nun auf 209 Vgl. die Presseausschnitte in Akte 56787; 5678; 8963; 11168; 11169; 11170; 11171; 11221, D1210, D1503, alle HA WDR. 210 Nach Lührs, S. 303. 211 Vgl. Kopie und Abschrift der Urkunde in Akte 8963, HA WDR. 212 An., Werner-Höfer-Schau, Zitat S. 55. 213 Ebd., S. 49.

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einen stärker distanzierten Kurs ein, wobei fast exakt auf jene Argumente zurückgegriffen wurde, die »Der Spiegel« schon 1959 gegen Höfer ins Feld geführt hatte. Der »Frühschoppen« wurde vor allem in linksliberalen Blättern als autoritär und ritualisiert, inhaltsleer und langweilig beschrieben. Auch die »Süddeutsche Zeitung« kritisierte Höfers Sendung unter dem Titel »Das Gespräch im Würgegriff« und kam zu dem Ergebnis, dass es sich statt um eine Präsentation von »demokratischen Spielregeln« um ein »höfisches Zeremoniell« handele: Diskussionen im Fernsehen sind nach Ansicht mancher Fernsehleute mit ein Ausdruck der Tatsache, ›daß heute überall der dialogische Prozeß das autoritäre Denken ablöst‹. Diese Entwicklung, die dadurch gekennzeichnet ist, daß ›dem Dialog der Vorzug vor der Ansprache oder der einseitigen Mitteilung‹ (ZDF-Jahrbuch 1969) gegeben wird, soll auch als ein Zeichen für die zunehmende Demokratisierung der Anstalten selbst dienen. Wenn man sich jedoch näher mit Fernsehdiskussionen beschäftigt, bleibt von der Vorstellung einer demokratischen Entwicklung nicht mehr viel übrig.214

Der »Frühschoppen« erschien den Autoren also nicht als demokratische, sondern als undemokratische Institution, weil der Moderator Meinungsaustausch nicht befördere, sondern unterdrücke. Der für die politische Kultur des Landes schädliche Einfluss der Diskussionssendung wurde außerdem darin gesehen, dass er dem Publikum politische Partizipation vorgaukele und abnehme. Ähnlich formulierte Wolf Donner in der »Zeit« vom März 1971 unter dem Titel »Nett, fair, seriös. Höfers Frühschoppen – ein Mythos, eine Institution« folgenden Abgesang: Eine der erfolgreichsten Sendungen der Welt, Studienobjekt und Vorbild für die Anstalten vieler Länder. Ein Mythos und eine Institution, ein allwöchentlich vor den Ohren und den Augen von Millionen zelebrierter Festakt, den der gute Deutsche scheinbar als Entrée zum Sonntagsbraten braucht wie die Vietnam-Toten in der Tagesschau zur Verdauung des Abendessens. / Der Frühschoppen erfüllt offensichtlich eine wesentliche Funktion in der Psychologie des bundesbürgerlichen Sonntags: Die Zuhörer und Zuschauer leisten ihren politischen Informationsdienst in der trägegemütlichen Hausschuh-Passivität des Sonntagmittag ab, sie dürfen es beruhigt dem erlauchten Kreis redender Fachleute überlassen, sich Gedanken zu machen. […] Hier bleibt alles sonntäglich, friedlich und arglos, ein netter Plausch, ein Kammerkonzert, und Werner Höfers sonorer Baß ist das vertraute, verläßliche Leitmotiv darin. [….] / Warum ist diese Sendung eigentlich immer so wenig konkret [….], warum bleibt alles so oberflächlich, unverbindlich und steril, warum erscheinen hier selbst heiße Eisen nur mehr lauwarm, warum erheben sich selbst längere Monologe fast nie über allgemeine Leitartikel-Wischiwaschi, warum entstehen hier nie echte Dialoge und Auseinandersetzungen?215 214 B. W. Wittek u. R. G. Gansera, Das Gespräch im Würgegriff. Der »Frühschoppen« als Modell: statt demokratischen Spielregeln höfisches Zeremoniell, in: Süddeutsche Zeitung, 18.9.1970, Akte 5677, HA WDR. 215 W. Donner, Nett, fair, seriös. Höfers Frühschoppen – ein Mythos, eine Institution, in: Die Zeit, 26.3.1971, Akte 5677, HA WDR.

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Diese Kritik wurde nicht nur von linksliberalen Printmedien erhoben. So diskutierten die Leser der Zeitschrift »Gong« 1970 die Frage: »Soll Werner Höfer abtreten?«, was vierzig Prozent der antwortenden Leserinnen und Leser begrüßten.216 1971 wurde in der »Rheinischen Post« unter der Überschrift »Sind 20 Jahre Frühschoppen genug?« ein Leserbrief abgedruckt, in dem ein DiplomKaufmann fragte, wer »eigentlich den Frühschoppen-Direktor« kontrolliere.217 Tatsächlich hatte der »Frühschoppen« seit Beginn der siebziger Jahre verstärkt mit sinkenden Zuschauerquoten zu kämpfen, die jetzt nur noch zwischen sechs und zwölf Prozent lagen.218 Höfer selbst schob dies vor allem auf die Konkurrenz durch das »Sonntagskonzert« im ZDF und bemerkte verärgert: »Es ist eine uralte Abmachung zwischen ARD und dem ZDF, daß politische Sendungen nicht durch Unterhaltungssendungen kaputtgemacht werden sollen.«219 Hier beharrte er also ausnahmsweise auf den ausschließlich politischen Gehalt seiner Sendung – und nicht, wie sonst, auf ihren zusätzlichen Unterhaltungswert. Unabhängig von der Konkurrenz durch das Sonntagskonzert veränderten sich aber westdeutsche Ansprüche an den »freien« Meinungsaustausch, wie weiter unten noch zu zeigen sein wird. Diskussionssendungen allein dürften Ende der Sechziger für viele Zuschauer und Hörer zu einer Selbstverständlichkeit geworden sein, wobei die aggressiver geführten Verhöre und Streitgespräche, wie sie seit den frühen sechziger Jahren in den Magazinen »Monitor« und »Panorama« zu sehen waren, mehr Spannung und »Zeitkritik« versprachen.220 Auch hatten Sendungen wie »Zur Person«, in welcher der ehemalige »Spiegel«-Journalist Günter Gaus Politiker und Intellektuelle von Hannah Arendt über Gustaf Gründgens bis Willy Brandt mit einer provokanten Fragetechnik interviewte, mehr Tiefgang und einen höheren Informationswert.221 Dagegen boten die seit den frühen siebziger Jahren adaptierten und boomenden Talkshows amerikanischen Stils mehr Unterhaltung.222 Der »Frühschoppen« dagegen war sich selbst treu geblieben – und wurde langsam zum Anachronismus. Er stand nicht für 216 GONG-Leser diskutieren: Soll Werner Höfer abtreten?, Presseausschnitt, in: Der Gong, 7.11.1970, Akte 5677, HA WDR. 217 H.-O. Siltart, Sind 20 Jahre Frühschoppen genug?, in: Rheinische Post, 11.2.1971, Akte 5677, HA WDR. 218 Vgl. M. Kluge, Deshalb werden die Fernsehzuschauer Werner Höfer untreu. Das Sonntagskonzert im Zweiten Programm macht dem Internationalen Frühschoppen immer mehr Konkurrenz, in: TV Hören + Sehen, 28.11.1970, Akte 5677, HA WDR. 219 Zit. n. ebd. 220 Zu »Zeitkritik« als Merkmal eines seit den ausgehenden fünfziger Jahren aufkommenden journalistischen Stils in den westdeutschen Massenmedien siehe Hodenberg, Konsens, S. 293–360. Zu den hierfür stehenden politischen Fernsehmagazinen ebd., 302–322. Informativ auch Schumacher. 221 Zu Prominenten-Interviews als Genre des westdeutschen Fernsehens siehe Zimmermann, S. 275–277. 222 Zu der ab März 1974 vom WDR ausgestrahlten Sendung »Je später der Abend«, der Werner Höfer den Namen gab, und der ab 1974 vom NDR produzierte Sendung »III nach Neun« siehe Foltin, S. 77–87.

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die scharfe Kritik am Gegner, sondern für das gemeinsame Lachen mit Andersmeinenden, nicht für das Ausdiskutieren, sondern für das Andiskutieren. Genau das war nach 1945 als »neue« demokratische Kulturtechnik propagiert worden, das übte in den fünfziger Jahren bereits einen starken Reiz auf Hörerinnen und Hörer, Zuschauerinnen und Zuschauer aus. Und genau das verlor gegen Ende der sechziger Jahre für einen Teil der Bevölkerung langsam seine Attraktivität. Obwohl der »Frühschoppen« aber wegen mangelnder Sachorientierung und mangelnder Aggressivität seit den späten sechziger Jahren in Kritik geriet, wurde er von Millionen Westdeutschen noch immer jeden Sonntag gesehen und gehört – und sei es nur, weil dies zu einer Macht der Gewohnheit geworden war. Die offiziellen Stellen lobten und feierten die Sendung nach wie vor als wesentlichen Beitrag zur demokratischen politischen Kultur des Landes. Als das Presse- und Informationsamt der Bundesregierung anlässlich des zwanzigjährigen Frühschoppen-Jubiläums 1972 zu einem Empfang einlud, hielt Klaus von Bismarck, langjähriger Intendant des WDR, eine Ansprache und bemerkte: Gehe ich fehl in der Meinung, daß hier [im »Internationalen Frühschoppen«, d. Vf.] zum ersten Mal für die deutschen Hörer und Zuschauer permanent anschaulich und kenntnisreich diskutiert wurde? Trugen dazu nicht wesentlich die ausländischen Gesprächsteilnehmer bei, die sich in der Kunst auskannten, knapp, einprägsam und freimütig zu formulieren? Ist der Frühschoppen nicht für viele diskussionsungewohnte Mitbürger eine Art von ständigem Seminar für offene Aussprache geworden? Ein Lehrstück, daß man auch in der konträrsten Situation miteinander reden kann, wenn man etwas zu sagen hat? Wenn es stimmt, daß Demokratie permanente Diskussion ist, dann ist dies eine demokratische Institution.223

Bismarck schrieb die knappen, spontanen Redebeiträge also der Präsenz ausländischer Journalisten zu. Sie waren allerdings, wie gezeigt worden ist, ebenso Ergebnis des Moderationsstils Höfers und der Anlage der Sendereihe, in der die kommunikative Gattung der »Diskussion« mit jener der »Konversation« systematisch verschmolzen wurde. Mit dem Anspruch einer Erhöhung von Diskussionsbereitschaft, so ist abschließend festzuhalten, stand Höfer indirekt in der Tradition der alliierten Demokratisierungspolitik, wobei er deren Versatzstücke eigenständig aufgriff und modifizierte: Er passte das Genre der Diskussionssendung in die deutsche Stammtischtradition ein und machte sich eine innovative Doppelrolle als Moderator und Diskutant zu eigen. Das nivellierte die politische Hierarchie zwischen der jungen Bundesrepublik und den Besatzungsmächten, deren journalistische Vertreter bei Höfer als Gäste geladen waren. Tatsächlich wäre der »Frühschoppen« wohl kaum zu einer westdeutschen Kultsendung avanciert, wenn er die 223 WDR Information Nr. 2/72, 3.1.1972: Ansprachen aus Anlaß eines Empfangs des Presseund Informationsamtes der Bundesregierung zum 20jährigen Bestehen des »Internationalen Frühschoppens« am 2.1.1972 im Dom-Hotel zu Köln, S. 2, Akte 8963, HA WDR.

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Vorgaben der Alliierten mit offensichtlich didaktischem Anspruch exakt umgesetzt hätte.224 Er war kein Produkt der Reeducation, sondern stand für deren überaus kreative und wohl auch deshalb erfolgreiche Aneignung. Ob sich das Publikum von den Vorzügen eines lockeren Meinungsaustauschs mit Andersdenkenden über nationale Grenzen hinweg überzeugen ließ, ist eine andere Frage. Immerhin, das soll nun gezeigt werden, war Höfer keineswegs der Einzige, der die Bundesbürgerinnen und -bürger mit pädagogischem Anspruch zum Diskutieren ermunterte. Vielmehr verweist die Entstehung dieser Sendung in den frühen fünfziger Jahren auf das Profil einer Dekade, die den »freien« Meinungsaustausch nur in geschützten Räumen, aber doch gezielt einübte.

224 So betont Gienow-Hecht für die im Rahmen der Reeducation geplante »Neue Zeitung«, dass deren Erfolg nicht zuletzt auf Anleihen an deutsche Traditionen in inhaltlicher wie gestalterischer Hinsicht zurückzuführen war. Das allerdings schloss eine Verwässerung der ursprünglich gehegten amerikanischen Demokratisierungsambitionen ein.

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3. Diskussionslust in Zahlen? Diachrone Tendenzen »Diskussion ist das große Modewort der Nachkriegspädagogik: keine Partei ohne Diskussionsabend, kein Vortrag ohne anschließende Diskussion, keine Schule ohne Ambitionen und keine Besatzungsbehörde ohne gute Ratschläge…«. Das konstatierte in den frühen fünfziger Jahren der Erziehungswissenschafter Theodor Wilhelm, der aufgrund seiner nationalsozialistischen Vergangenheit unter dem Pseudonym Friedrich Oetinger schrieb.1 Indizien für eine Konjunktur des Diskussionsbegriffs in der unmittelbaren Nachkriegszeit liefert aber auch das »Digitale Wörterbuch der Deutschen Sprache des 20. Jahrhunderts« (DWDS), ein nach Dekaden und Textsorten gewichteter Korpus akademischer und literarischer, populärer und journalistischer Texte.2 Im Kaiserreich war die Verwendungshäufigkeit des Wortes »Diskussion« demnach noch sehr gering, sie nahm dann aber in den zehner und zwanziger Jahren zu, bevor es in der Zeit des Nationalsozialismus zu einem Einbruch kam.3 Dreißig Jahre nach Kriegsende war »Diskutieren« zu einem gängigen Terminus der Umgangssprache geworden.4 Laut dem DWDS stieg die Verwendungshäufigkeit vor allem in den fünfziger und sechziger Jahren an, sodass sie das Vorkriegsniveau übertraf, wobei zwischen Ost- und Westdeutschland nicht differenziert werden kann.5 Ohnehin verweist die Zunahme der Worthäufigkeit in verschiedenen schriftlichen Genres nicht auf die analoge Zunahme der so bezeichneten kommunikativen Praxis. Sie kann aber zumindest als Indiz für eine gesteigerte 1 Oetinger [Wilhelm], Wendepunkt, S. 231. 2 Das an der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften bearbeitete DWDS bietet die Möglichkeit, die Häufigkeit bestimmter Worte in deutschen Zeitungen, Gebrauchstexten, in der Belletristik und der wissenschaftlichen Literatur des 20. Jahrhunderts zu ermitteln. Es handelt sich um eine zeitlich und nach Textsorten gewichtete Auswahl. Die Texte sind über die Dekaden und Textsorten weitgehend gleichmäßig verteilt, nur Gebrauchsliteratur in der 7. und 8. Dekade sowie Belletristik in der 9. Dekade sind unterdurchschnittlich vertreten. Nähere Informationen unter www.dwds.de/textbasis/kerncorpus. Es wurde mit der Kerncorpus-Version 0.95 vom 26.6.2005 gearbeitet. 3 In der ersten Dekade des 20. Jahrhunderts ist »Diskussion« im DWDS-Textkorpus rund 200 Mal nachgewiesen, in den zwanziger Jahren dann fast 400 Mal. In den dreißiger und vierziger Jahren sinkt die Häufigkeit auf Werte zwischen 250 und 350. In den Fünfzigern ist das Wort rund 600 Mal nachgewiesen. In den sechziger Jahren nimmt der Gebrauch von »Diskussion« mit rund 680 Einträgen weiter zu, für die siebziger Jahre finden sich rund 800, in den Achtzigern fast 1 200 Einträge. In den Neunzigern lässt die Verwendung dann wieder nach mit rund 700 Nachweisen. Verlaufsstatistik »Diskussion«, DWDS-Kerncorpus, digitale Abfrage, 13.8.2007. Vgl. auch Verlaufsstatistik »diskutieren«, DWDS-Kerncorpus, digitale Abfrage, 13.8.2007. 4 Vgl. zur Semantik in den siebziger Jahren Dieckmann, S. 171 f. 5 Vgl. Verlaufsstatistik »diskutieren«, DWDS-Kerncorpus; Verlaufsstatistik »Diskussion«, DWDS-Kerncorpus.

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Aufmerksamkeit gelesen werden. Journalisten, Pädagogen, freie Autoren, Intellektuelle schrieben immer öfter über Diskussionen – um sie einzufordern, um sie zu theoretisieren, um sie abzubilden, um sie zu kritisieren. Die Konjunktur des Wortes »Diskussion« lässt sich nicht auf die Verdrängung anderer Termini mit ähnlicher Semantik zurückführen. Denn die Verwendung von Worten wie »Gespräch«, »Dialog«, »Aussprache« nahm laut DWDS im Verlauf des 20. Jahrhunderts ebenfalls zu, und zwar in ähnlichen Schüben.6 Die Termini »Befehl«, »Konversation« oder »Disputation« wurden in den frühen siebziger Jahren dagegen deutlich seltener als zur Jahrhundertmitte verwendet.7 Auf eine große Faszination der deutsch-deutschen Nachkriegsgesellschaft speziell für den Diskussionsbegriff verweist außerdem die Zahl der neu entwickelten Komposita. Wörter wie »Podiumsdiskussion«, »Gruppendiskussion«, »RoundTable-Diskussion« stammen alle aus dem 20. Jahrhundert, viele aus den Jahren nach 1945.8 Sie zeigen an, wie sehr sich Diskussion als kommunikative Gattung ausdifferenzierte. Einige lexikalische Neuschöpfungen der Nachkriegszeit sind heute schon fast wieder vergessen, etwa der nach dem Zweiten Weltkrieg in Mode gekommene »Diskutant«9 sowie die »Diskussionseuphorie«10 oder »Diskussionsfreudigkeit«, die auf eine emotionale Aufladung verweisen.11 Welche Hinweise gibt es jenseits dieser noch recht vagen wortgeschichtlichen Indizien für eine zunehmende Verankerung und Aufwertung von Diskussionen im kommunikativen Haushalt Westdeutschlands der fünfziger und sechziger Jahre? Kommunikative Muster und Gattungen, das sei an dieser Stelle noch einmal erinnert, werden durch zeitgenössische Benennungen nicht nachträglich etikettiert, sondern hergestellt. Ihre Verwendung ermöglicht es den Akteuren, ein bestimmtes Handlungsregister intuitiv zu aktivieren. Wer sich in einer »Diskussion« wähnt, der verhält sich daher im Regelfall anders als bei einem »Flirt«. Oder er geht ein gewisses Risiko ein, etwa den Vorwurf sexueller Belästigung auf einer Sitzung des Betriebsrats. Gerade auf der Suche nach Diskussionen als in alltäglichen Wissensbeständen verankerten »kommunikativen Gattungen« wäre es daher wenig sinnvoll, a priori eine feste Definition zu entwickeln. Vielmehr ist dem zeitgenössischen Sprachgebrauch zu folgen, wobei die Semantik von Termini wie Flirt, Konversation oder Diskussion im 20. Jahrhundert alles andere als stabil war. Diese semantischen Verschiebungen und die mit ihr verbundenen Wandlungen sozialer Praxis sind Gegenstand der Fallstudien und werden im Folgenden nur nachrangig behandelt. Sie sind aber im Hinterkopf 6 Vgl. die Verlaufsstatistiken »Dialog«, »Gespräch«, »Debatte«, »Disputation«, »Aussprache«, DWDS-Kerncorpus, digitale Abfrage, 13.8.2007. 7 Vgl. Verlaufsstatistiken »Befehl«, »Konversation«, »Disputation«, DWDS-Kerncorpus, digitale Abfrage, 13.8.2007. 8 Vgl. Deutsches Wörterbuch von Jacob Grimm und Wilhelm Grimm, Neubearbeitung, Bd. 6, 1983, Sp. 1142. 9 Vgl. Kämper, S. 676 u. 678. 10 Höfer, Internationaler Frühschoppen, S. 39. 11 Oetinger [Wilhelm], Wendepunkt, S. 231.

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zu behalten, wenn nun versucht wird, die Aufwertung und Institutionalisierung von Diskussionen im »kommunikativen Haushalt« der westdeutschen Nachkriegsgesellschaft auszuloten.

3.1 Pädagogisch kultivierte Gesprächigkeit. Die fünfziger Jahre Im kollektiven Gedächtnis sind die westdeutschen fünfziger Jahre zu einer Zeit des Schweigens geronnen. Romane und Selbstzeugnisse ebenso wie wissenschaftliche Analysen beschrieben lange ein Jahrzehnt, in dem Bundesbürger und -bürgerinnen trotz oder vielmehr wegen der Zerstörungskraft des Zweiten Weltkriegs und des Holocaust nach vorne blickten und das Land wiederaufbauten, statt über die Verbrechen des Dritten Reichs zu räsonieren. Die Bevölkerung, so heißt es, wollte von deutscher »Kollektivschuld« nichts hören und berauschte sich stattdessen am »Wirtschaftswunder« und am »Wunder von Bern«.12 Entscheidende Aspekte der nationalsozialistischen Vergangenheit blieben auch in der privaten Kommunikation ausgeblendet.13 Die nur wenige Jahre zurückliegende planmäßige Ermordung von vielen Millionen Menschen ließ sich »kommunikativ beschweigen« (Hermann Lübbe), aber eben nicht: besprechen.14 Dieses Bild der fünfziger Jahre als schweigsamer Dekade ist von den Sozialwissenschaften zementiert worden. In den frühen sechziger Jahren legten die amerikanischen Politologen Gabriel Almond und Sidney Verba eine quantitativ und vergleichend angelegte Studie über die politische Kultur von demokratischen Nationen vor, zu denen sie die Vereinigten Staaten von Amerika, Großbritannien, Mexiko, Italien und die junge Bundesrepublik zählten. In Westdeutschland hatten Almond und Verba bereits 1959 Umfragen durchführen lassen, in deren Rahmen man rund 950 erwachsene Bundesbürgerinnen und -bürger mit standardisierten Fragebögen interviewte. Das auf dieser Grundlage gewonnene Urteil über die frühbundesrepublikanische Demokratie fiel ambivalent bis negativ aus. Wenngleich sich die Westdeutschen im Ver12 Als Beispiel für literarische Verdichtungen vgl. etwa Hahn, Das verborgene Wort, sowie zeitgenössisch Koeppen. Für die Sozialwissenschaften siehe Mitscherlich u. Mitscherlich; Giordano; Schwan; Greiffenhagen. Grundlegend zu den fünfziger Jahren in sozial- und kulturhistorischer Perspektive vgl. die Sammelbände von Schildt u. Sywottek; Schissler, Miracle Years; Naumann, Nachkrieg; Moeller, West Germany; Bollenbeck u. Kaiser; Faulstich, Die Kultur der fünfziger Jahre, sowie Schwarz, Ära Adenauer, der hier die »aufregende Modernität« der fünfziger Jahre dem Diktum der »Restauration« entgegenstellt. Speziell zu Alltagskultur und »Zeitgeist« siehe Schwarz, Geist; Schildt, Moderne Zeiten; ders., Abendland. In wirtschaftshistorischer Perspektive noch immer grundlegend: Abelshauser. 13 Grundlegend Herf, Zweierlei Erinnerung; Frei, Vergangenheitspolitik; Fröhlich u. Kohlstruck; Boll, Sprechen; Goltermann; Welzer sowie zusammenfassend Wolfrum, S. 169–181. 14 Vgl. Lübbe, S. 594, der den weitgehenden Verzicht auf eine öffentliche Auseinandersetzung mit den Verbrechen des Nationalsozialismus bekanntlich funktional als notwendige Bedingung für die Integration ehemaliger Nationalsozialisten in die junge Demokratie deutete.

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gleich zu den »Vorzeigedemokratien« Großbritannien und USA ausgesprochen gut über politische Fragen informiert zeigten, nahmen sie Möglichkeiten zur aktiven politischen Teilhabe – außer bei Wahlen – kaum wahr. Die Westdeutschen beteiligten sich außerdem, folgt man ihren eigenen Aussagen, nur selten an politischen Diskussionen. Und nur wenige konnten sich erinnern, in der Schule an Debatten oder als Kinder an familiären Entscheidungen beteiligt gewesen zu sein. Aus diesen und anderen Befunden schlussfolgerten Almond und Verba, dass die Bundesrepublik zwar ein demokratisches System habe, aber statt von einer »civic culture« von einer »subject culture« geprägt sei.15 Zu einer ähnlichen Diagnose kam der westdeutsche Soziologe Ralf Dahrendorf 1965 in seiner Studie »Gesellschaft und Demokratie in Deutschland«, die rasch zum Bestseller avancierte. Hier ging Dahrendorf bekanntlich der Frage nach, warum »das Prinzip der liberalen Demokratie in Deutschland so wenig Freunde gefunden« habe.16 Diskussionen standen keineswegs im Zentrum dieses Buches, das mit der These nicht-intendierter, sozialer Effekte des Nationalsozialismus Aufmerksamkeit erregte, wurden aber integral verhandelt. Dahrendorf fasste Diskussionen als eine Form des sozialen Konflikts, wie er in liberalen Demokratien kein notwendiges Übel, sondern funktional sei. In der Bundesrepublik jedoch, beschrieb Dahrendorf das von ihm ausgemachte Dilemma, »hallt in den Institutionen der Gesellschaft und in den Köpfen der Menschen die autoritäre Aversion gegen soziale Konflikte nach«. Wandel zeichne sich ab, aber noch zeugten Politik und Wirtschaft, Rechtswesen und Schule, Universität und Militär von dem Wunsch, Konflikte ein für alle Mal zu lösen, statt sie zu institutionalisieren. Das machte Dahrendorf auch an der Bedeutung argumentativer Gespräche fest: Die Diskussion hat an Beliebtheit nicht sehr gewonnen; das gilt für den Streit noch weniger, vom Streik ganz zu schweigen. Als schwelende Hoffnung zumindest trägt sich mancher Deutscher nach wie vor mit dem Gedanken, es müsse doch möglich sein, denjenigen oder diejenige zu finden, die auf alle Fragen eine richtige Antwort wissen.17

Das hier erneut durchscheinende Bild der fünfziger Jahre als diskussionsfeindliche Dekade erscheint im Lichte jüngerer Forschungsergebnisse freilich als zu einseitig. Damit ist weniger gemeint, dass rechtskonservative, durch den Nationalsozialismus schwer desavouierte Intellektuelle um Carl Schmitt und Ernst Jünger »Gespräche in der Sicherheit des Schweigens« (Dirk van Laak) kultivierten und in der Situation des Lehr- und Publikationsverbotes die »Kommunikation unter Freunden gezielt als Gegeninstrument zur publizistischen 15 Vgl. Almond u. Verba, S. 63–84, 266–306, 312 f. Ähnlich auch Greiffenhagen, S. 54. 16 Dahrendorf, Gesellschaft, Zitat S. 26. Zur Einbettung seiner Schrift in intellektuelle und soziokulturelle Tendenzen der sechziger Jahre siehe Scheibe, zur Person Dahrendorfs vgl. auch dessen Memoiren Dahrendorf, Über Grenzen. 17 Vgl. ders., Gesellschaft, S. 161–175, 464–480, beide Zitate S. 472.

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Öffentlichkeit« (Daniel Morat) aufbauten. Denn bei dem dort geäußerten Lob des »echten Gesprächs« schwang das erhabene Gefühl klandestiner Vergemeinschaftung und esoterischer Erweckung mit, gleichsam im Arkanum geschützt vor der öffent lichen Meinung. »Diskussionen« wurden in diesem Umfeld als eine liberale, die Öffentlichkeit stets inkludierende Tätigkeit gedacht und abgelehnt.18 Entscheidend ist vielmehr die Feststellung von Axel Schildt, welcher mit breiterem Fokus der »Verklärung« der fünfziger Jahre »als Epoche harmonischer Konsensfindung« widerspricht und konstatiert, »daß es wohl nie zuvor in der deutschen Geschichte eine derart breite und massenmedial vermittelte gesellschafts- und kulturdiagnostische Diskussion als Dauerzustand gegeben« habe.19 Ihm zufolge erlebte diese Dekade eine »Blüte von zum Zweck der Verständigung verschiedener Gruppen und zur gemeinsamen Reflexion von Vergangenheit und Gegenwart geschaffener Foren, hinter denen ein breites Spektrum von Organisationen stand« und die maßgeblich bürgerlicher Selbstvergewisserung dienten.20 Diese Beobachtung gilt es weiter zu treiben und zu differenzieren. Wie im Folgenden gezeigt werden soll, wurde argumentativer Meinungsaustausch in der Gruppe eben nicht nur aus der politischen Defensive heraus, in klandestinen Foren oder medial vermittelt geführt. Schon in den frühen fünfziger Jahren gab es einen Schub von dezidiert öffentlichen Debatten und semi-öffentlichen Diskussionsgruppen, die heterogene Personengruppen ins Gespräch bringen sollten – und brachten. In den Jahren einer »Modernisierung unter konservativen ›Auspizien‹« (Christoph Kleßmann) begannen Teile der westdeutschen Eliten für das »Diskutieren« zu werben. Die Gesprächsform wurde nicht notwendig als funktionaler Bestandteil von politischer Öffentlichkeit verstanden, aber auch nicht allein, wie Axel Schildt betont, als Vergewisserung bürgerlicher Eliten betrieben. Vielmehr, so meine These, wurden Diskussionen als schichtübergreifend wertvoller Ausdruck der Demokratie als Lebensform beworben, wobei alliierte Programme Pate standen. Zunächst sind die Räume dieser pädagogisch kultivierten Freude am Gespräch zu bestimmen. Unter anderem verstanden sich die nach dem Krieg neu gegründeten kirchlichen Akademien als Stätten der Begegnung und des Gesprächs, in denen die ideologischen Fronten und die Aggressionen der jüngsten Vergangenheit überwunden werden sollten.21 Die Veranstalter boten Gruppen-, Podiums- oder Forumsgespräche an, und zwar ebenso unter Verweis auf einen kommunikativen Wahrheits- und Verkündungsbegriff wie unter Rekurs auf die Notwendigkeit ziviler, kooperativer Handlungsmuster nach den Jahren des

18 Laak, vor allem S. 42–52; Morat, Tat, S. 314–360, Zitat S. 315. Vgl. auch die Skizze interpersonaler Kommunikation in der Nachkriegszeit bei Morat, Techniken, S. 160–162. 19 Schildt, Abendland, S. 1. 20 Ebd., S. 11 f. 21 Hierzu grundlegend ebd., S. 111–165.

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Krieges.22 In einigen Evangelischen Akademien fanden ab Mitte der fünfziger Jahre sogar Tagungen zum Thema »Demokratie als Lebensform« statt, in deren Verlauf explizit formale Diskussionsregeln eingeübt werden konnten.23 Die gleichen kommunikativen Formen etablierten sich auch in der Jugendarbeit.24 In den Amerikahäusern und Volkshochschulen bildeten »Diskussionsgruppen« bis in die späten fünfziger Jahre sogar ein eigenständig beworbenes Veranstaltungsformat.25 Außerdem boten Filmklubs für Jugendliche Vorführungen an, in deren Anschluss stets eine Aussprache über das Gesehene stattfand – eine Idee, die unter alliierter Besatzung dezidiert als Instrument der Demokratisierung eingeführt worden war.26 Zudem erlebten Diskussionssendungen in Rundfunk und Fernsehen den von den Alliierten erhofften Boom – der »Frühschoppen« war nur die berühmteste Sendung dieser Art.27 Schließlich erfuhren nicht nur zahlreiche geschlossene Gesprächskreise wie die »Darmstädter Gespräche« und Kongresse wie der »Kongreß für kulturelle Freiheit« eine Blüte,28 sondern 22 Vgl. Boventer, Ethos; Müller, Daß die Menschen miteinander reden; ders., Kunst. Siehe als Hintergrund außerdem Schelsky, Dauerreflexion; Buber, Ich und Du. 23 Vgl. Schildt, Abendland, S. 143. Ergänzend zur Genese Evangelischer Akademien: Treidel. 24 Zur Jugendarbeit vgl. Boll, Auf der Suche; ders., Von der Hitler-Jugend, und als Selbstzeugnis Giesecke, Mein Leben, S. 96–140. Zum Gespräch in der politischen Bildung siehe zeitgenössisch Oetinger [Wilhelm], Partnerschaft; Borinski; Pöggeler, Über das Gespräch; [Schulz], Über das Gespräch. Einführend zu Kontroversen und Entwicklungstendenzen innerhalb der politischen Bildung in den fünfziger Jahren Gagel, Geschichte; Ciupke u. Jelich, Ein neuer Anfang. 25 Zu den Volkshochschulen siehe Ciupke, Abendlandmythos; ders., Verbündete; Ciupke u. a., Erwachsenenbildung; Schildt, Abendland, S. 167–195. Zu den Amerikahäusern siehe ebd., S. 111–165; Hein-Kremer. Die Autoren erwähnen diskursive Veranstaltungsformate, machen diese aber nicht zum eigentlichen Untersuchungsgegenstand und unterschätzen insgesamt ihre zeitgenössisch attestierte Bedeutung. 26 Vgl. Fehrenbach, S. 169–210, und Schmidt, Von der Technik des Diskutierens. 27 Vgl. als Überblick jetzt Keller, S. 60–161, sowie für das Fernsehen noch immer Zimmermann, S. 276. Einen hohen Dialoganteil wiesen auch die seit den späten vierziger Jahren entstehenden »Nachtprogramme«, »Funk-Universitäten« und »Abendstudios« der Rundfunksender auf, die sich an eine schmale intellektuelle Elite des Landes wandten und dieser zugleich ein Forum zur Popularisierung akademischer Diskurse boten. Vgl. Schildt, Abendland, S. 93–110; Boll, Nachtprogramm. Der »Frühschoppen« steht dagegen für jene Sendungen, die sich dezidiert an ein breites Publikum wandten. Siehe überblicksartig zu verschiedenen Diskussionssendungen im NWDR Fuge u. Hilgert; Lührs sowie Schumacher-Immel. 28 Das erste »Darmstädter Gespräch« fand 1950 in Darmstadt statt, bis 1960 folgten weitere sechs Veranstaltungen, bis 1975 waren insgesamt zehn »Darmstädter Gespräche« organisiert worden. Die Gesprächsprotokolle wurden umgehend veröffentlicht. Vgl. Sabais. Die Themen der »Darmstädter Gespräche« in den fünfziger Jahren waren »Das Menschenbild in unserer Zeit«, »Mensch und Raum«, »Mensch und Technik«, »Individuum und Organisation«, »Theater«, »Ist der Mensch messbar«, »Der Mensch und seine Meinung«. Vgl. Kogon u. Sabais mit bibliografischen Angaben zu den vorherigen Veröffentlichungen im Anhang. Zum »Kongreß für kulturelle Freiheit«, dessen wichtigste Treffen in West-Berlin und in Hamburg 1950 beziehungsweise 1953 stattfanden sowie allgemein zur Kongressbewegung der fünfziger Jahre siehe Hochgeschwender.

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auch dezidiert öffent liche Veranstaltungen – etwa die in der amerikanischen Besatzungszone florierenden Forumsdiskussionen oder die »Kölner Mittwochgespräche«, auf die sogleich zurückzukommen sein wird.29 Parallel erschienen in den fünfziger Jahren eine Reihe von metakommunikativen Ratgebertexten von Praktikern der politischen Bildung, die sich speziell an die in diesen Foren agierenden Diskussionsleiter wandten. Lange bevor an der Wende zu den sechziger Jahren »Diskussion« zu einem Zentralbegriff intellektueller Entwürfe von Öffentlichkeit wurde, 30 galt Dissens als pädagogisch wertvoll. Das »Gespräch« und genauer die »Diskussion« wurden zu Zentralbegriffen der politischen Pädagogik der westdeutschen Nachkriegszeit.31 Das in diesem Rahmen beworbene Kommunikationsideal verwies stets auf einen symmetrisch angelegten Meinungsaustausch, der entlang allgemein bekannter Regeln formalisiert wurde. Entscheidend war die ständige Präsenz eines Moderators (bezeichnet als »Leiter«), die klare räumliche, thematische und zeitliche Befristung der Gespräche, die ergebnisoffene, kooperative und tolerante Haltung der Teilnehmer sowie eine Reflexion des Eigenwerts des Gesprächs als demokratischer Handlungsmodus und – von hier ausgehend – die Betonung der regelgestützten Form.32 Dabei wurden Diskussionsregeln einerseits in metakommunikativen Ratgebertexten,33 andererseits in Zeitschriften vorgestellt, wenn etwa Filmklubs aus ihrer Arbeit berichteten. Diese widmeten der eigentlichen Präsentation von Filmen ebenso viel Aufmerksamkeit wie dem darauf folgenden gemeinsamen Gespräch über das Gesehene und der »Technik des Diskutierens«.34 Die in solchen Texten entwickelten Regeln, die in weiten Teilen der von Amerikanern vermittelten Diskussionstechnik entsprachen, prägten offenbar die Ebene sozialer Praxis. Das zeigt sowohl Höfers »Frühschoppen« als auch die zeit-

29 Zu den Forumsdiskussionen siehe zeitgenössisch Borinski, S. 150–152. Zu den »Kölner Mittwochgesprächen« vgl. Historisches Archiv der Stadt Köln und ergänzend Steinberg, Rangierbahnhof. Beiden Publikationen ist leider die Tendenz einer gewissen Glorifizierung der »Mittwochgespräche« eigen, die als Ausdruck einer inzwischen vergangenen Gesprächskultur gefeiert werden. Zahlreiche Veranstaltungen liegen als Tondokument im AA WDR sowie im Historischen Archiv der Stadt Köln vor. Vgl. das Tondokument 3252299, Der Streit der frühen Jahre. Die Kölner Mittwochgespräche 1950–1956, Eigenproduktion WDR vom 22.9.1993, AA WDR. 30 Zu Ersterem siehe die Studie von Hodenberg, Konsens, S. 53 f., zu Letzterem den Überblick von Steffani. Zu politikwissenschaftlichen Perspektiven auf »Die Diskussion als ein Instrument der Demokratie« siehe die 1951 eingereichte Dissertation von Lührsen. 31 Vgl. zusammenfassend den Handbuchartikel von Reiring, Sp. 782 f. 32 Vgl. u. a. die pädagogischen Texte von Borinski; Pöggeler, Über das Gespräch, sowie als Kritik aus ostdeutscher Perspektive Dorst, S. 152–165. 33 Vgl. etwa Kelber, Sprechen wir uns aus; dies., Fibel. Vgl. auch An., Führer; An., GruppenDiskussionen; Köhler. Weitere Titel in der Bibliografie von Hilgers. 34 Schmidt, Von der Technik des Diskutierens, S. 85. Für den Hinweis auf diesen Text danke ich Phillipp von Hugo.

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genössisch wohl bekannteste öffentlichen Diskussionsveranstaltung, die »Kölner Mittwochgespräche«. Höfer schrieb dieser Veranstaltungsreihe eine Art Vorbildfunktion bei der Entwicklung seiner eigenen Diskussionssendung zu, über deren Anfänge 1952 er erinnerte: […] damals war es eine Lust, in diesem Land, wo es noch mehr Trümmer als Restauriertes gab, zu leben. Denn an allen Ecken und Enden wurde diskutiert, jeder mit jedem und über alles. Dieses Land war so etwas wie ein einziger großer Hyde-Park, und an jeder Ecke baute jemand seine Apfelsinenkiste auf und ergriff das Wort. Der interessanteste Tatort für derartiges war der damals noch eher zertrümmerte als wiederaufgebaute Kölner Hauptbahnhof, wo ein einfallsreicher und unternehmensfroher Buchhändler, Ludwig mit Namen, die Mittwochsgespräche etablierte. Das war eine sehr ermunternde und ermutigende Veranstaltung, auf der intelligente, wagemutige Leute auftraten, ihre Thesen auf den Tisch hauten, sich Löcher in den Bauch fragen ließen und sich den Mund fusselig redeten, der Züge nicht achtend, die das Gemäuer erzittern ließen. Das hat merkwürdigerweise aufgehört, als die Restauration – auch des Hauptbahnhofs – in jedem Sinne soweit fortgeschritten war, daß man sich solche Späße dort nicht mehr leisten konnte.35

Diese Beschreibung von Westdeutschland als eine Art »Hyde Park«, in dem sich Menschen spontan im öffentlichen Raum ihre Meinung sagten, war stark überzogen. Aber zumindest die »Kölner Mittwochgespräche« hat es tatsächlich gegeben. Von 1950 bis 1956 fanden im Alten Wartesaal des Kölner Hauptbahnhofs im wöchentlichen Rhythmus rund 270 Abende statt, bei denen prominente Gäste aus Kultur, Wissenschaft und Politik referierten und ihre Thesen einem sozial äußerst heterogenen Publikum von durchschnittlich 300, teilweise aber auch bis zu 800 Menschen zur Diskussion stellten.36 Es ging keineswegs um ein nach außen abgeschlossenes, »echtes« Gespräch unter Intellektuellen, dessen utopische Qualität angeblich umso stärker beschworen wurde, »als sich ein Schweigen, das eher aporetische Qualität besaß, parallel zu den Gesprächskreisen immer drückender auf die frühe Bundesrepublik legte«.37 Vielmehr handelte es sich um eine dezidiert öffentliche und sozial inklusive Form des Meinungsaustauschs. Die Elite des Landes blieb bei den »Kölner Mittwochgesprächen« gerade nicht unter sich, sondern die prominenten Redner bis hin zu Theodor W. Adorno mussten sich mit verschiedenen sozialen Schichten und beiden Geschlechtern auseinandersetzen, was manchen irritierte. Die Heterogenität des Publikums im überfüllten, häufig auch überhitzten Wartesaal, aber auch das Drängen der Veranstalter auf lebhaft präsentierte und kontroverse, nicht abgelesene Redebeiträge machte die Veranstaltung im wahrsten Sinne populär und verlieh ihr eine mitreißende Atmosphäre, welche die Teilnehmer regelrecht

35 Höfer, Der Internationale Frühschoppen, S. 39. 36 Vgl. Steinberg, Kölns »Kopfbahnhof«; ders., Rangierbahnhof. 37 Vgl. Laak, S. 66–69, Zitat S. 68.

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elektrisierte.38 So erinnerte sich Carl Werckshagen, einst Chefdramatiker an den Städtischen Bühnen Kölns: Wenn ich bei Gerhard Ludwigs Mittwochsgesprächen im gedrängten vollen Wartesaal, d. h. in der unmittelbarsten, hautnahen Öffentlichkeit zu Worte kam, war mir zumute, als befände ich mich am richtigen, mir vorbestimmten Platz und in der richtigen Rolle, und als spräche ich unter dem Zwang einer strömenden Inspiration, in einem Zustand der Bewegtheit […].39

Der Buchhändler Gerhard Ludwig, Initiator der »Mittwochgespräche«, war von deren Erfolg offenbar selbst überrascht – und erklärte sich das rege Interesse auch über die zurückliegenden Jahre argumentativer Abstinenz in der Diktatur.40 Werner Höfer, dessen ursprünglich für das Radio geplante Diskussionsrunde 1953 laut eigener Aussage nur ausnahmsweise einmal im Fernsehen übertragen worden war, hatte mit den positiven Reaktionen der Zuschauer ebenfalls nicht gerechnet. Das Publikum reagierte bei der ersten Fernsehübertragung derart überschwänglich, dass Höfer mit seinen rauchenden und trinkenden Gästen auch fortan über die Bildschirme flimmern durfte – und schließlich zum Aushängeschild des Westdeutschen Rundfunks avancierte.41 Im Rückblick erschien ihm der unmittelbare Erfolg der Sendung indes kaum noch verwundernswert. Ein in den siebziger Jahren von ihm herausgegebener Sammelband über »Sternstunden« der bundesdeutschen Fernsehgeschichte stellte zu den Anfängen des »Frühschoppen« sogar fest, damals sei eben »die Zeit der ›Diskussionssucht‹« gewesen.42 Mit dieser These stand er keineswegs allein da. »Mehr und mehr drängt«, so konstatierte auch der Journalist und Schriftsteller Friedrich Sieburg 1954, »der Mensch von heute zum Gespräch.« Diese Aufwertung dialogischer Umgangsformen korrespondiere mit dem sinkenden »Prestige der Ansprache, des Vortrags, des Referats«, also mit asymmetrischen Formen der Kommunikation, die durch das Dritte Reich desavouiert worden seien: »Man glaubt dem Manne nicht, der die Hörer in zwanzig Minuten Wehrlosigkeit versetzt, weil jedes Wort ex cathedra noch heute von zwölf Jahren des Zwangs zum Zuhören befleckt ist.«43 Sieburg sah also – ähnlich wie Ludwig und anders als zehn Jahre später Dahrendorf – die Gesprächskultur der fünfziger Jahre nicht als Fortsetzung des Dritten Reichs, sondern betonte den Bruch: Gerade weil die Zeit des Nationalsozialismus die Menschen in den Status passiver Zuhörer versetzt habe, wurden Monologe danach nicht fortgeführt, sondern abgelehnt – und durch das Gespräch ersetzt. Im Tenor ähnlich erinnerte ein Festredner anläss38 39 40 41 42 43

Angaben nach Steinberg, Kölns »Kopfbahnhof«, S. 18 u. 22. Werckshagen, S. 9 f. Vgl. Steinberg, Kölns »Kopfbahnhof«, S. 14–16. Vgl. Heim, Internationaler Frühschoppen, S. 10–13. Vgl. [Höfer], Wort (und Widerwort), S. 71. Sieburg, S. 172 f.

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lich der 25-Jahr-Feier der Evangelischen Akademie Hermannsburg-Loccum, es sei »nach der Zeit einer überanstrengten Diktatur das freie Atmen der Wahrheitssuche und Wahrheitsfindung« gewesen, dass die Gespräche »aufregend« habe erscheinen lassen.44 Und Theodor Wilhelm mutmaßte 1951: Von innen gesehen macht sich in unserer Diskussionsfreudigkeit die jahrelange Gängelung unserer Meinung durch die staatliche Inquisition Luft. In den Augen der Besatzungsmächte war die Diskussion die Patentempfehlung an Menschen, die erst wieder daran gewöhnt werden sollten, daß in der Demokratie der Einzelne die Politik der Regierung mitträgt. Aus England und USA wurden uns die Praktiken und Erfahrungen der Diskussion als Mittel der öffentlichen Meinungsbildung freigiebig und wohlmeinend zur Verfügung gestellt. Vieles ist dankbar aufgegriffen worden.45

Nach dem Ende des nationalsozialistischen Regimes, so vermutet auch Daniel Morat, sei es eben »trotz verdrängten Schuldbewusstseins und neuen Misstrauens, trotz Entnazifizierung und alliierter Zensur für viele Menschen auch eine Befreiung« gewesen, »wieder offen sprechen zu können und den freien Meinungsaustausch zu pflegen«.46 Diese Vermutung ist aber voreilig, denn der Wille zum argumentativen Gespräch ist keineswegs in der menschlichen Natur verankert, sodass er in Diktaturen unterdrückt, aber nicht restlos pulverisiert werden kann, und sich danach umso stärker Bahn bricht. Und Theodor Wilhelm zum Beispiel war vor Kriegsende ohnehin nicht gegängelt worden. Im Gegenteil hatte er sich als Schriftleiter der »Internationalen Zeitschrift für Erziehung« wortreich geäußert.47 Der Verweis auf die »Gängelung unserer Meinungen« im Dritten Reich erlaubte ihm jedoch, sich selbst als Opfer oder Marionette eines diktatorischen Regimes zu stilisieren. Ebenso wenig kann sein Text als Beleg für tatsächliche »Diskussionsfreudigkeit« nach Ende des Krieges gelesen werden. Es handelte sich vielmehr um die Selbstbeschreibung eines diffusen »wir« als diskussionsfreudig und damit um eine diskursive Koppelung von argumentativer Aussprache, Lust und Nachkriegszeit, welche auf diese Weise vom Nationalsozialismus abgegrenzt wurde, der im Umkehrschluss als freudlos und diskussionsfeindlich erschien. Wilhelms Darstellung liefert damit keinen Hinweis auf eine nach Ende des Krieges realiter ausbrechende Diskussionslust, sondern vielmehr für die Zweck mäßigkeit des entsprechenden Narrativs, das von den Schatten einer nationalsozialistischen Biografie ablenkte. Wie Moritz Föllmer pointiert feststellt, gehört »die bis heute weit verbreitete Vorstellung, dass im ›Dritten Reich‹ anonyme bürokratische Mechanismen und ein harscher Befehlston vorgeherrscht hätten […] in den Kontext von vielfältigen Bemühungen, sich eindeutig von der Vergangenheit abzusetzen«.48 Da44 45 46 47 48

Zit. n. Boventer, Ethos, S. 135. Oetinger [Wilhelm], Wendepunkt, S. 231. Morat, Techniken, S. 160. Ähnlich Laak, S. 45; Steinberg, Kölns »Kopfbahnhof«. Zu Wilhelms Biografie siehe Giesecke, Demokratie. Föllmer, Einleitung, S. 38.

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her ist zu erwägen, ob die von Zeitgenossen beobachtete Diskussionssucht nicht überzeichnet wurde. Ebenso ist davor zu warnen, das einem »freien« Meinungsaustausch innewohnende Moment der Freiheit zu überschätzen. Die »Mittwochgespräche« beispielsweise, die unter dem Slogan »Freier Eintritt, freie Fragen, freie Ant worten« beworben wurden, waren frei im Sinne von umsonst, öffentlich und insofern, als die Teilnehmer ihre Redebeiträge nicht vom Blatt ablasen, sondern spontan formulierten. Außerdem unterlagen sie keinerlei Zensur, sondern waren durch Grundrechte wie Meinungs-, Presse- und Versammlungsfreiheit geschützt. Aber die Redner agierten keineswegs autonom. Vielmehr folgten die Sprecher bestimmten Routinen und schrieben diese fort, sie waren äußeren wie inneren Zwängen ausgesetzt. Dies galt besonders für die »freie« Rede in den fünfziger Jahren, die von den Alliierten beobachtet und indirekt gestaltet wurde. Nicht nur beim »Frühschoppen«, sondern auch bei den »Kölner Mittwochgesprächen« ist auffällig, wie sehr die Gesprächsregeln der nach dem Krieg beworbenen Diskussionstechnik entsprachen: Kurze, dissensfreudige, humorvolle Redebeiträge, die sich, umgangssprachlich formuliert, auf die breite Bevölkerung interessierende Themen bezogen, wobei sich die Moderatoren nicht scheuten, Sprecherinnen und Sprechern metakommunikative Hinweise zu geben. So bat Ludwig seine intellektuellen Gäste manchmal im Voraus um lebendige, nicht schriftlich vorbereitete Beiträge, denn das Publikum reagiere am besten »auf solche Persönlichkeiten, die einen freien, gelockerten Eindruck machen, wo man spürt, hier spricht ein Mensch und nicht eine Redemaschine«.49 Und seine Entscheidung, zwei Experten auf dem Podium zu platzieren, die nach einführenden Referaten mit Fragen aus dem Publikum konfrontiert wurden, war die kreative Aneignung genau jenes Veranstaltungsformats, um dessen Verbreitung sich die Amerikaner so intensiv bemüht hatten: das Public Forum.50 Diskussionen kannten die Deutschen schon lange vor 1945, aber das Diskussionsformat des Public Forums, das war tatsächlich neu. Viele Personen in der politischen Bildung, in den Medien oder der Kulturarbeit, die das Diskutieren als demokratische Kulturtechnik fassten und vor diesem Hintergrund regelrecht trainieren ließen, hatten für die amerikanische oder britische Besatzungsmacht gearbeitet. Das galt für Werner Höfer, aber auch für Magda Kelber, die mit »Haus Schwalbach« jene vorne bereits erwähnte, hessische Institution für Erwachsenenbildung leitete und Kurse zur Diskussionstechnik anbot.51 Gerhard Ludwig, 1909 in Berlin geboren, war 1946 auf Bitten der britischen Militärregierung nach Köln gekommen, wo er zwischen 1939 und 1943 bei DuMont Schauberg tätig gewesen und mit der Herausgabe der »Neuen Illustrierten« beauftragt worden war, bevor er 1949 eine Buchhandlung im Köl-

49 Zit. n. Steinberg, Kölns »Kopfbahnhof«, S. 21. Etwas ausführlicher zu den Gesprächsregeln in den Kölner Mittwochgesprächen siehe Verheyen, Eifrige Diskutanten. 50 Vgl. die vorherigen Ausführungen im zweiten Akt. 51 Einführend zu Kelbers Gruppenpädagogik Frey.

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ner Hauptbahnhof eröffnete.52 In diesem Kontext könnte auch er von Kursen zur Diskussionstechnik oder den öffentlichen Forumsveranstaltungen in der amerikanischen Besatzungszone erfahren haben, die den »Kölner Mittwochgesprächen« so auffallend ähnelten. »Ich finde«, erklärte Ludwig außerdem, »jede Art von Diskussion ist ein Ansatz zur Demokratie.«53 Ein solcher Satz verriet keine zeitlose und insofern selbstverständliche Deutung von Demokratie, sondern kann auch als Substrat einer handlungslogischen Sicht auf Demokratie als Lebensform gelesen werden, wie sie im Rahmen der vorne skizzierten Programme propagiert wurde. Ein weiteres Beispiel für solche biografische Verflechtungen ist Gerhard Merzyn (1918–1983). Er hatte 1950 für zwei Jahre die deutsche Leitung des Amerikahauses in Hannover übernommen, wo er die amerikanischen Programme zur Diskussionstechnik kennen lernte und begleitete. 1951 sowie 1952 initiierte er als Kulturreferent des Amerikahauses sogar ein »Jugendforum«, also eine Forumsdiskussion, bei der sich alle 14 Tage rund 400 junge Menschen trafen. Seit 1952 war er am amerikanischen Konsulat für öffentliche Angelegenheiten in der Kulturabteilung aktiv. Auf an Evangelischen Akademien angesiedelten Tagungen für junge Leute fungierte er zudem seit spätestens 1954 als Referent über »Demokratie als Lebensform«, was er in erster Linie als Einübung in formale Regeln der Diskussionsführung verstand. Parallel wurde er als Direktor für das von Vertretern aus Universität, Wirtschaft und Politik geplante »Haus Rissen« in Hamburg gewonnen, das sich als Stätte der politischen Bildung und des Dialogs zwischen Menschen unterschiedlicher Berufsgruppen und politischer Orientierung verstand.54 In den regelmäßig angebotenen Seminaren, die grundlegende Kenntnisse von Gesellschaft, Staat und Wirtschaft vermitteln sollten, wurden »Referate« gehalten, »Gespräche« veranstaltet, aber auch sogenannte »Diskussionsübungen« durchgeführt, wie die Festschrift zum fünfjährigen Bestehen des Hauses 1959 notierte.55 Dabei kann Merzyn, der Demokratie nicht als »Ideal«, sondern als »das kleinste Übel« fasste, keineswegs als beflissener Adept alliierter Umerziehungsbemühen gelten, obwohl er sich deren Wissen punktuell zu eigen machte. Er warnte die jugendlichen Tagungsteilnehmer etwa, auch wenn die »amerikanische und englische Demokratie« oft als »Vorbild« angesehen würde, müsste man sich »immer darüber im klaren sein, daß wir die Verhältnisse in diesen Ländern nicht kopieren können«. Und er warb auch deshalb für »kritische Mitarbeit« statt »negativer Kritik« als Merkmal von Diskussionskunst, weil hierdurch »eine Auflockerung der Masse erreicht« werde könne: »der Einzelne kommt zum Zug«. Zugleich stellte Merzyn ganz in der Linie alli52 Sehr knapp zur Biografie vgl. Steinberg, Kölns »Kopfbahnhof«, S. 13. 53 Vgl. Angaben zum Tondokument 5103456, Der Streit der frühen Jahre, Datenbank, AA WDR. 54 Vgl. Hagenmeyer. Zur Biografie Merzyns ebd., S. 22, Anm. 22, S. 44–47. Zu Merzyns Tätigkeit als Referent für »Demokratie als Lebensform« siehe Schildt, Abendland, S. 143. 55 Zit. n. Hagenmeyer, S. 106 f.

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ierter Demokratisierungspolitik fest: »Diskussionen waren im 3. Reich nicht erwünscht. […] Nun aber hat sich die politische ›Marktlage‹ verändert, und wir müssen uns ernstlich bemühen, das Versäumte so gut und so schnell wie möglich nachzuholen, denn die Diskussion ist eine der Grundlagen der demokratischen Staatsform überhaupt.«56 Betrachtet man die historische Genese der skizzierten Diskussionsformate in der Übersicht, fallen also Kontinuitäten zu den ersten Nachkriegsjahren auf. In vielen Fällen weisen die Veranstaltungsreihen in die Besatzungszeit zurück. Teilweise waren sie Versuche, die Gesprächseuphorie der ersten Nachkriegsjahre in die fünfziger Jahre zu überführen. Das betraf etwa die Organisatoren der »Darmstädter Gespräche«, aber auch die kirchlichen Akademien.57 Teilweise waren sie aber auch – dies hat die Forschung bislang nicht stark genug herausgestellt – als Element der Umerziehungspolitik gezielt beworben worden. Das galt nicht nur für den Rundfunk, sondern ebenso für die Amerikahäuser, die Jugendhöfe, die Volkshochschulen. Einige Formate knüpften allerdings sogar an die Vorkriegszeit an, wie Paul Ciupke insbesondere für die »Aussprachekreise« in der politischen Bildung betont.58 Diese Kontinuitäten übersahen viele Zeitgenossen, denn das Bedürfnis, sich von der Vergangenheit wirkungsvoll abzugrenzen, ermöglichte Übertreibungen und Vereinfachungen. So erklärte der Theaterkritiker Siegfried Melchinger (1906–1988), das öffentliche Gespräch sei eine »Einrichtung, wenn nicht Erfindung unserer Nachkriegszeit«.59 Die Grenzen der von Höfer behaupteten Diskussionsfreudigkeit lassen sich auch in politischer Hinsicht aufzeigen. Das Konversationslexikon »Der große Herder« von 1953 widmete dem Terminus »Diskussion« zwar einen ungewöhnlich langen Eintrag, der aber kritische Untertöne aufwies. »Die Diskussion« sei nicht nur »eine Grundform« der Demokratie, erfuhr der Leser dort, sondern des »geistigen Lebens in Europa u. a. aller von hier geprägten Kulturen überhaupt«. Sie könne allerdings auch zum »leeren u. ziellosen Gerede (uferlose D.)« werden.60 Damit klang ein konservativer Warnruf vor einem Zuviel an Kommunikation in der parlamentarischen Demokratie an, der an die Parlamentarismus56 Alle Zitate n. Schildt, Abendland, S. 143. 57 Vgl. vor allem Laak, S. 42–69. So erinnert der Publizist und Pädagoge Hermann Glaser: »In dieser Zeit liegt auch der Wurzelgrund für die in den verschiedenen Landesteilen sich ansiedelnden evangelischen und katholischen Akademien: Örtlichkeiten, die für den aufstrebenden Trümmergeist, für die engagierte Bereitschaft, Probleme des ›Wesentlichen‹ im Geiste offener Brüderschaft anzugehen, charakteristisch waren – Ausdruck einer in den fünfziger Jahren dann ihren Höhepunkt erreichenden Begegnungseuphorie, die Studienräte und Pastoren, musisch aufgeschlossene Hausfrauen und zaghaft-skeptische Oberschüler, inspiriert von ehemals jugendbewegten Erwachsenenbildnern, zu Diskussionen in ländlich abgeschiedener Atmosphäre zusammenführte.« Glaser, Positionen, S. 136. 58 Vgl. Ciupke, Art, »Arbeitsgemeinschaft«; ders., Abendlandmythos, der aber westliche Einflüsse auf die politische Bildung und insbesondere auf die hier in der Nachkriegszeit verankerten diskursiven Programme zu niedrig veranschlagt beziehungsweise ausblendet. 59 Melchinger, S. 76. 60 Der große Herder, Bd. 2, 1953, Sp. 1411.

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kritik Carl Schmitts erinnert.61 Das allerdings macht das Bekenntnis zum knapp gehaltenen und in der Tradition des europäischen »Abendlands« situierten Meinungsaustausch unter dem Etikett Diskussion – und nicht Gespräch oder Dialog – gleichwohl umso interessanter.62 Trotz konservativer Skepsis gegenüber deliberativen Verfahren konnte das Diskutieren per se befürwortet werden – als Ausdruck einer sich gegen die vermeintlich monologische Massenkultur und Technik behauptenden Individualität, als jahrhundertealte geistesgeschichtliche, europäische Tradition und als Garant friedlicher Verständigung diesseits des Eisernen Vorhangs im Kalten Krieg. Solche Annäherungen wurden erleichtert, weil Ratgebertexte zur Leitung von Gruppen-, Podiums- oder Forumsdiskussionen, die sich auf amerikanische Texte zur »discussion technique« stützten, explizit den Terminus »Gespräch« dem Wort »Diskussion« vorzogen. Zur Begründung hieß es, »Diskussion« habe im Deutschen einen kompetitiven, aggressiven Klang.63 Die in diesen Texten beworbene Idee der kooperativen, argumentativen Interaktion in größeren und kleineren Gruppen, die nicht primär auf ein inhaltliches Ergebnis, sondern ebenso auf die soziale Annäherung und vor allem performative Veränderung der Redenden zielte, war tatsächlich weit entfernt von der Schmittschen Deutung von Diskussionen als partikularen Interessenkämpfen. Sie wies eher eine gewisse Nähe zu der philosophischen, auch theologischen Idee eines »eigentlichen Gesprächs« (Friedrich Schleiermacher) auf, das jenseits von unmittelbaren, gar politischen Zwecken als Kern kommunikativer Humanität fungieren sollte.64 Es stand nicht die Kritik am Gegenüber und schon gar nicht an der Regierung im Zentrum, sondern die den Einzelnen verändernde Erfahrung des gemeinsamen Argumentierens selbst. Auch deshalb wurde das »Gespräch« in der Philosophie der Bundesrepublik während der fünfziger Jahre zu einer Leitkategorie. Hier fand die in intellektuellen Zirkeln gepflegte auratische Kommunikation ihre philosophische Überhöhung.65 Bemerkenswerter als politische Differenzen sind soziale und vor allem geschlechtsspezifische Asymmetrien. Dass in der von Almond und Verba durchgeführten Umfrage 76 beziehungsweise siebzig Prozent der US-Amerikaner respektive Briten, aber nur sechzig Prozent der befragten Westdeutschen angaben, zumindest manchmal über Politik zu sprechen,66 war maßgeblich geschlechtsspezifischer Differenz zu verdanken. Stolze 77 Prozent der in der Bundesrepublik befragten Männer behaupteten nämlich, zumindest hin und wieder über Politik zu diskutieren, bei jenen mit höherer Schulbildung waren es sogar 88 61 Schmitt. 62 Zum Abendlandtopos in intellektuellen Debatten der fünfziger Jahre siehe Schildt, Abendland. 63 Vgl. Kelber, Fibel, S. 115. Mit dem gleichen Argument Oetinger [Wilhelm], Partnerschaft, S. 233. Siehe hierzu die ausführlicheren Ausführungen weiter vorne, zweiter Akt. 64 Vgl. Laak, S. 63–69; Schleiermacher. 65 So Laak, S. 68. 66 Vgl. Almond u. Verba, S. 79.

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Prozent. Die analogen Werte lagen in den USA bei 83 (Männer insgesamt) sowie 95 Prozent (Männer mit höherer Schulbildung) beziehungsweise in Großbritannien bei 77 und 83 Prozent. Bei den Frauen fielen die Differenzen zwischen den Nationen sehr viel größer aus. Nur 46 Prozent der Frauen in der Bundesrepublik im Vergleich zu 63 Prozent in Großbritannien und siebzig Prozent in den USA behaupteten von sich selbst, mindestens gelegentlich über Politik zu diskutieren.67 Die Differenz zwischen Westdeutschland einerseits und den USA und Großbritannien als den von Almond und Verba eingeführten Vergleichsländern und westlichen »Vorzeigedemokratien« andererseits lag damit wesentlich in dem Ausmaß geschlechtsspezifischer Differenzierung begründet.68 Umgekehrt heißt das: Nimmt man nur jene Personen in den Blick, die Leute wie Höfer vermutlich implizit ohnehin vor Augen hatten – gebildete Männer –, dann standen diese ihren Vergleichsgruppen in den westlichen Industrieländern nur relativ wenig nach. Vor allem das angesprochene Muster geschlechtlicher Differenz war von den Zeitgenossen normativ erwünscht – nicht nur, weil Politik in den fünfziger Jahren als maskuline Angelegenheit galt, sondern auch, weil Männern ein militärisch-aggressives Verhalten zugeschrieben wurde, das nun überwunden werden sollte. Nach Theodor Wilhelm stand vor allem das »falsche Pathos der Männlichkeit« einem kooperativ-dialogischen und daher friedlichen Umgangsstil in der Bundesrepublik entgegen.69 Auch das erstmals 1950 verlegte und dann in mehreren Auflagen erschienene Anstandsbuch »Man benimmt sich wieder« ermahnte mit Blick auf den Zweiten Weltkrieg speziell männliche Leser zum Kompromiss. Dieser wurde als demokratische, zivile, ja, den Frieden erhaltene Technik beworben, die zu militärisch-kriegerischen Umgangsformen in Kontrast stehe: So ist der Mann, der ›sein Gesicht wahren‹ will, ein erträglicher Verhandlungspartner, mit anderen Worten, ein typischer Kompromißler. / Das Wort vom ›typischen Kompromißler‹ wurde mit Absicht gewählt, weil es bei uns als Tadel aufgefasst wird, während der ›good compromiser‹ bei fast allen anderen Völkern ein hochgeachteter und sehr geschätzter Mann ist, dessen Person und ›kompromißliche‹ Fähigkeiten man sucht und lobt. Diesen scharfen Gegensatz zwischen deutscher und fremder Auffassung vom Werte des ›teilweisen Nachgebens‹ sollten wir heutzutage viel deutlicher erkennen, als dies bisher der Fall war. Wir halten oder hielten das starre Beharren auf einer gesamten Forderung für stolz, tapfer und männlich, während die übrige Welt es als unklug ansieht und schädlich, weil es beiderseits befriedigende Ergebnisse einer Verhandlung und überhaupt ein ausgeglichenes Zusammenleben verhindert. […] Der letzte Krieg und damit unser heutiges Unglück entbrannte an dieser gegensätzlichen 67 Vgl. ebd., S. 327. 68 Ebd., S. 324–335, widmen sich in einem eigenständigen Kapitel den politischen Einstellungen von Frauen und verweisen hier durchaus auf die starken Differenzen zwischen dem amerikanischen, britischen und westdeutschen Fall. Freilich versäumen sie es, diese Beobachtung in ihre Gesamtergebnisse einzubetten. 69 Oetinger [Wilhelm], Wendepunkt, S. 241, Hervorhebung im Original.

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Auffassung vom ›gewahrten Gesicht‹. […] Da der Kompromiß immer einen TeilErfolg, der Bruch aber einen Misserfolg bringt, sollten wir uns nach solch bitterer Erfahrung im Großen zur Nützlichkeit des Kompromisses im Kleinen verstehen.70

Solche Anstandsbücher verweisen auf eingeforderte Normen sozialen Verhaltens, nicht auf deren Verankerung in der sozialen Praxis. Häufig herrschte im Alltag vermutlich noch immer ein barscher autoritärer Ton vor, der keine anderslautenden Meinungen duldete. Entscheidend ist jedoch, dass solche Verhaltensweisen angesichts von Militarismus und Nazismus zunehmend fragwürdig erschienen. Das prägte sogar normative Vorstellungen zur Kindererziehung. »Wir sind aufgewachsen in der Atmosphäre von Zucht, Ordnung und Autoritätsglaube«, so ein Elternratgeber von 1955, »wir sahen im Gehorsam den entscheidenden Prüfstein für den Erzieher. […] Wenn es uns darum zu tun ist, daß die nächste Generation glücklicher wird, müssen wir unsere Kinder von Beginn an einen anderen Weg als bisher führen.«71 Wie Till van Rahden betont, begannen katholische Familienexperten bereits in den frühen fünfziger Jahren »zu argumentieren, dass das Leitbild des patriarchalisch-autoritären Vaters und ein militärisch-soldatisches Verständnis von Männlichkeit der Idee der Demokratie widersprächen«. Nicht erst um 1968, sondern bereits in den fünfziger Jahren hätten sich die normativen Vorstellungen der in einer demokratischen Gesellschaft verankerten Form von väterlicher Autorität verschoben, und zwar nicht allein in sozialdemokratischen oder linksliberalen Kreisen, sondern im konservativen Spektrum der bundesdeutschen Öffentlichkeit.72 Und während Magda Kelber dafür warb, im öffentlichen Raum, in den Familien und sogar am Arbeitsplatz das kooperative Diskutieren zu erlernen, während Theodor Wilhelm »Partnerschaft als pädagogische Aufgabe« konturierte, experimentierten die ersten Betriebe tatsächlich mit Psychologen, um stärker »partnerschaftliche« Umgangsformen einzuführen.73 Vor dem Hintergrund der skizzierten Befunde ist der Eindruck der schweigsamen fünfziger Jahren nicht ad acta zu legen, aber zu differenzieren. Zumindest in bestimmten Räumen und Segmenten der Gesellschaft bestand ein Inter70 Meißner, S. 198 f., Hervorhebung im Original. 1955 erschien das Buch bereits in 14. Aufl. (75–100 000 Exemplare). Siehe ausführlicher zu diesem Text Jureit sowie zu weiteren Anstandsbüchern aus der Zeit Wouters. In Anstandsbüchern aus der DDR finden sich in den fünfziger Jahren ähnliche Tendenzen. Vgl. Kleinschmidt, S. 160–165, über »Die Umgangssprache«. Einführend zu Männern und Männlichkeiten in der westdeutschen Gesellschaft der fünfziger Jahre Poiger, Krise; Rahden, Demokratie; Biess, Homecomings. 71 Graupner, S. 11. Der vorherige Satz spielte auf den Nationalsozialismus an: »Daß die Welt in den vergangenen Jahrzehnten aus den Fugen geraten ist, daß Dinge geschehen sind und noch geschehen, die nicht des Menschen würdig sind, findet seine Deutung, neben anderem, auch in dem falschen Erziehungsideal der Deutschen.« Solche Anspielungen auf das Dritte Reich waren in der Ratgeberliteratur der fünfziger Jahre aber eine Ausnahme. Vgl. HöfflerMehlmer. 72 Rahden, Demokratie, Abschnitt 6. Vgl. auch ders., Demokratie. 73 Vgl. Rosenberger; Kelber, Fibel; Oetinger [Wilhelm], Wendepunkt.

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esse an argumentativen Gesprächen, das groß genug war, um von Zeitgenossen als Spezifikum der Zeit beschrieben zu werden, Diskussionssendungen wie dem »Frühschoppen« hohe Einschaltquoten zu sichern, metakommunikative Ratgebertexte zu motivieren und in Akademien, Jugendhöfen oder in Veranstaltungsreihen wie den »Mittwochgesprächen« institutionalisiert zu werden. Die westdeutschen fünfziger Jahre können damit als Dekade pädagogisch kultivierter und politisch entschärfter Inseln der Diskussionslust verstanden werden, die von alliiertem Know-how über Diskussionstechnik geprägt waren. Vor allem öffentliche und semi-öffentliche Diskussionsveranstaltungen florierten, aber sie wurden nicht notwendig mit der Absicht geführt, einen Beitrag zur Formierung kritischer Öffentlichkeit zu schaffen. Manchem Veranstalter ging es vielmehr um die Etablierung von Demokratie als Lebensform und insofern um die Erfahrung des kooperativen Gesprächs trotz Meinungsdifferenzen im Hier und Jetzt. Im Verlauf der fünfziger Jahre zeichneten sich indes auch Veränderungen ab. Womöglich ist es kein Zufall, dass die äußerst lebhaften und manchmal recht turbulenten »Mittwochgespräche«, an denen Hunderte von Bundesbürgerinnen und -bürgern aktiv beteiligt waren, 1956 einschliefen.74 Dagegen konnte sich der sehr viel betulichere »Frühschoppen« durchsetzen, der durch einen besonders autoritären Gesprächsleiter gekennzeichnet war und die Masse der Westdeutschen in den Status eines schweigsamen Publikums zwang. Höfer schnitt den geladenen Journalisten regelmäßig das Wort ab, wechselte die Themen willkürlich und reservierte überdurchschnittlich viel Redezeit für sich selbst. Genau hiermit scheint er aber den Geschmack von Millionen Westdeutschen getroffen zu haben, die es sich daheim vor dem Radio und immer öfter auch vor dem Fernsehgerät gemütlich machten. Bereits gegen Ende der fünfziger Jahre geriet Höfers Stil allerdings in die Kritik. 1959, also in dem Jahr, in dem Almond und Verba ihre eingangs erwähnte Umfrage über die politische Kultur der Westdeutschen durchführten, widmete »Der Spiegel« der »Werner-Höfer-Schau« die vorne bereits erwähnte Titelgeschichte, um die vermeintlich ritualisierte, autoritäre und inhaltsleere Lieblingssendung der Westdeutschen als pseudodemokratische Farce zu entlarven.75 Mit ähnlichen Argumenten plädierten die Protagonisten der Studentenbewegung zehn Jahre später für basisdemokratische Formen des freien Meinungsaustauschs, wie weiter unten zu zeigen sein wird. Der Moderator sollte abgeschafft, die Redezeit entgrenzt und »falsche« Höflichkeit im Gespräch überwunden werden. Statt bei Differenzen das Thema zu wechseln, sollten diese »ausdiskutiert« werden, bis ein Konsens oder zumindest ein Kompromiss ge74 Umbauarbeiten im Rahmen der Rekonstruktion des im Krieg stark zerstörten Bahnhofsgebäudes machten zunächst eine Unterbrechung der Veranstaltung notwendig, aber auch nach Abschluss der Bauarbeiten wurde sie nicht wieder aufgenommen. Dies galt, obwohl Ludwig zahlreiche Briefe von Anhängern der »Mittwochgespräche« erhielt, welche die Dringlichkeit der Veranstaltung ins Feld führten. So Steinberg, Kölns »Kopfbahnhof«, S. 29 f. 75 An., Werner-Höfer-Schau.

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funden war. Aus dieser Perspektive erschienen die Merkmale organisierter öffentlicher Diskussionen in den fünfziger Jahren – ein privilegierter Moderator, klare Verfahrensregeln für alle Beteiligten, höfliche Humorigkeit – als Hindernisse auf der Suche nach herrschaftsfreier Diskussion. Auch das könnte dem Eindruck Vorschub geleistet haben, in den fünfziger Jahren sei eigentlich gar nicht diskutiert worden. Die Frage nach der Schweigsamkeit jener Dekade entpuppt sich damit auch als Frage nach den Kriterien eines »freien« Gesprächs.

3.2 Veralltäglichung des Dissenses. Die sechziger Jahre Die fünfziger Jahre können, wie gezeigt, als Jahrzehnt pädagogisch gerahmter und politisch gezähmter Inseln der Diskussionslust inmitten einer insgesamt noch recht monologisch-hierarchischen Kommunikationskultur verstanden werden. Selbst öffentliche Diskussionsveranstaltungen wurden nicht notwendig als Foren der Kritik installiert, sondern als Arenen der Kooperation – und der Einübung in tolerantes, friedliches, Meinungsdifferenzen akzeptierendes Verhalten. Ein Charakteristikum der »langen« sechziger Jahre lag darin, dass die kommunikative Gattung Diskussion den geschützten Raum der Volkshochschulen, Jugendhöfe, kirchlichen Akademien, Amerikahäuser, Filmklubs und des Bildungsfernsehens immer öfter verließ und sich außerhalb davon zu einer Kraft politischen Umbruchs entwickelte.76 Dabei verlor nicht zuletzt der konventionelle Stil öffentlicher Diskussionsveranstaltungen seine Legitimität: ihre thematische, räumliche, zeitliche und soziale Begrenzung sowie ihr Fokus auf die »gute«, auch höfliche Form. Denn Diskussionen wurden nun nicht mehr aus der Wertschätzung am kooperativen Meinungsaustausch per se eingefordert, sondern verstärkt als politisches Instrument von Regierungs-, Kultur- oder »Zeitkritik« genutzt.77 Sie begleiteten die Formierung einer linksliberalen Öffentlichkeit, drangen aber auch verstärkt ins Private vor und entwickelten sich zum Instrument eines teilweise bitter ausgeführten Generationenkonfliktes. Auf der Ebene der Versammlungsöffentlichkeit ist zunächst an die zahlreichen Podiumsdiskussionen und Gesprächskreise zu denken, in denen sich reformorientierte Intellektuelle seit den späten fünfziger Jahren noch einmal 76 Einführend zu den »langen« sechziger Jahren, von der jüngeren Forschung in sozial- und kulturhistorischer Perspektive von ca. 1958 bis zur Tendenzwende 1973 gezogen, siehe Schildt, Wohlstand; Frese u. Paulus; Schönhoven. 77 Zu den Ebenen der Medienöffentlichkeit, Versammlungsöffentlichkeit und Encounteröffentlichkeit siehe den inzwischen klassischen Systematisierungsvorschlag von Gerhards u. Neidhardt. »Kritik« avancierte seit den späten fünfziger Jahren auch in den Sozialwissenschaften zu einem Modewort, was Helmut Schelskys Argwohn erregte: »Allerdings ist der Begriff der ›kritischen‹ Theorie heute vieldeutig und durch die Zeitkritik, Kulturkritik, Sozialkritik usw. in einem Maße inflationiert oder sogar mit ihr verschmolzen, daß uns zweckmäßig erscheint […], einen anderen Begriff dafür zu wählen.« Schelsky, Ortsbestimmungen, S. 95.

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verstärkt artikulierten.78 Aber zu berücksichtigen sind ebenso die vielfältigen Diskussionsveranstaltungen im Umfeld der Ostermarschbewegung, die neben den gebildeten Mittelschichten auch Angehörige der Facharbeiterschaft erreichten.79 Parallel dazu erlangten öffentliche Diskussionsveranstaltungen in den Kirchen und der Arbeiterbewegung nochmals einen erhöhten Stellenwert sowie schließlich im letzten Drittel der sechziger Jahre im Rahmen der Studentenproteste.80 Deren Protagonisten forderten nicht nur Passanten auf offener Straße zur Diskussion auf, sondern schufen mit Teach-in und Sit-in neue Gesprächsarenen im öffentlichen Raum.81 Die Medienöffentlichkeit setzte Meinungsaustausch über politische Themen nicht nur verstärkt, sondern vor allem »kritischer« in Szene.82 Das galt für die von Günter Gaus geleitete Interviewreihe »Zur Person« oder die politischen Fernsehmagazine.83 »Panorama«, »Report« und »Monitor« präsentierten einerseits – ähnlich wie der »Internationale Frühschoppen« – mündlichen, argumentativen Meinungsaustausch, der in die Berichterstattung eingespeist wurde. Andererseits wurden diese Interviews und Diskussionen – in radikaler Differenz zu Höfers Sendung – nicht als integratives Gespräch über Meinungsgrenzen hinweg humorig-höflich geführt, sondern als mitunter aggressive Kritik an der Regierungspolitik oder am Gesprächspartner.84 Seismographisch begleitet, vielleicht auch wirkungsvoll vorangetrieben wurden diese Entwicklungen durch liberale, reformorientierte Intellektuelle wie Ralf Dahrendorf, Franz Schneider, Harmut von Hentig und Jürgen Habermas. In unterschiedlichen Varianten forderten sie die Institutionalisierung »politischer Öffentlichkeit« als Sphäre kritischen Räsonnements in liberal-demokratisch verfassten, pluralistischen Gesellschaften ein – und erhoben neben der »Demokratie« auch die »Diskussion« zum Zentralbegriff, wobei die Ausdeutung beider Termini ebenso mannigfaltig war wie ihre Verknüpfungsmöglichkeiten.85

78 Auch Gesprächskreise wie etwa der 1961 gegründete »Bergedorfer Gesprächskreis«, die »Nürnberger Gespräche« (1965–1969) oder die bereits seit 1950 tagenden »Darmstädter Gespräche« sind zur Versammlungsöffentlichkeit zu zählen. Vgl. Kogon u. Sabais; Sabais; Gollwitzer u. Kogon; Glaser, Haltungen. 79 Vgl. Nehring; Otto. 80 Vgl. Großbölting. 81 Vgl. Gilcher-Holtey, Transfer, sowie die folgende Fallstudie. 82 Einführend zu Dimensionen und Etappen »politischer Medialisierung« in der Bundesrepublik siehe besonders Weisbrod, Öffentlichkeit; ders., Medien. 83 Die Sendereihe »Zur Person. Porträts in Frage und Antwort« von und mit Günter Gaus (1929–2004) wurde erstmals am 10.4.1963 im ZDF ausgestrahlt. Vgl. Gaus, Porträts. Eine wissenschaftliche Analyse dieser einflussreichen Sendereihe steht meines Wissens aus. 84 Die politischen Fernsehmagazine »Panorama« und »Report« (beide seit 1961/62) und »Monitor« (ab 1965) untersucht Hodenberg, Konsens, S. 302–322, die hier auch zeigt, wie die Massenmedien seit den späten fünfziger Jahren zur Arena dezidiert »kritischer Öffentlichkeit« avancierten, getragen von einer jungen, westlich orientierten Journalistengeneration. 85 Vgl. hierzu ausführlich Scheibe; Hodenberg, S. 31–86.

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Viele Vertreter der politischen Bildung und Praktiker der freien Erwachsenenarbeit drangen allerdings weiterhin auf einen dezidiert kooperativen Diskussionsstil. In ihrer Perspektive entfaltete dieses Anliegen vor dem Hintergrund der Studentenproteste eine neue Aktualität. Vor allem seit dem letzten Drittel der sechziger Jahre konstatierten sie nicht nur einen Boom an argumentativer Interaktion, sondern auch eine steigende Notwendigkeit und Nachfrage nach entsprechenden Schulungen, vor allem für Moderatoren. »Das Bedürfnis nach einer Anleitung für die Diskussionsleitung«, so formulierte Eberhard Müller von der Evangelischen Akademie Bad Boll im Vorwort der 1969 erschienenen, zweiten Auflage seines Büchleins über »Die Kunst der Gesprächsführung«, »ist in den letzten Jahren ständig gewachsen. […] In einer großen Zahl von Kursen über die Gesprächsführung, die in der Evangelischen Akademie Bad Boll durchgeführt wurden, sind die in diesem Studienbuch dargelegten Gedanken fortlaufend erprobt und ergänzt worden.« Er schloss mit der Hoffnung, »in einer Zeit, in der überall Diskussion gefordert wird, aber oft wenig gemeinsame Einsichten gewonnen werden«, möge sein »kleiner Band« von Hilfe sein.86 Die auf das Vorwort folgende Darstellung setzte mit dem Hinweis auf die antiken Ursprünge des »Streitgesprächs« ein, das damit als europäisch-abendländische Kulturerrungenschaft gefasst wurde. Im Anschluss führte Müller die Leser in »moderne Gesprächsarten« ein, nämlich in das »Rundgespräch«, die »Vortragsdiskussion«, die »Gruppenarbeit«, die »Podiumdiskussion«, das »Forum«, die »Debatte« und die »Dienstbesprechung« sowie schließlich in die »Methodik der Diskussionsführung« selbst.87 Inhaltlich war der Text damit der ersten Ausgabe der »Fibel der Gesprächsführung« von Magda Kelber aus den frühen fünfziger Jahren sehr ähnlich sowie dem unter alliierter Besatzung veröffentlichten Text »Die Kunst der Diskussion« von 1948, der teilweise Übersetzungen amerikanischer Beiträge zur Diskussionstechnik enthielt.88 Müllers Ausführungen dürften also durch die Rezeption amerikanischer Literatur zumindest indirekt Impulse erfahren haben. Das Interesse an formalisierten und dezidiert kooperativen Gruppengesprächen in der politischen Bildung erhielt in den sechziger Jahren aber auch neue Anregungen durch sozialwissenschaftliche Konzeptionen der »Gruppendynamik« und des »Gruppengesprächs« – verstanden als wissenschaftliches Verfahren wie als Modus affektiver Persönlichkeits- und Beziehungsbildung.89 In den 86 Müller, Kunst, Vorwort. Weitere populäre Ratgeberliteratur dieser Art Kelber, Fibel, 9. Neuauflage von 1970; Fabian. Zum innerfachlichen Methodenverständnis der Erwachsenenbildung siehe zeitgenössisch Pöggeler, Erwachsenenbildung, S. 201–209, hier mit Ausführungen über die »Anthropologie des Dialogs« und dessen hermeneutische Funktionen. 87 Müller, Kunst, S. 11, 27 f., 30, 39, 41, 43, 49, 56 f. 88 Kelber, Fibel; Die Kunst der Diskussion. 89 Vgl. als ersten systematischen Versuch der Verbindung von Gruppendynamik und Erwachsenenbildung, teilweise unter Rekurs auf Alexander Mitscherlich, Brocher. Zu Gruppendiskussionen als sozialwissenschaftlicher Methode siehe aus den fünfziger Jahren Pollock, an der Wende zu den Siebzigern dann Mangold, Gruppendiskussionen.

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späten sechziger Jahren erfuhren dann die nicht-direktive »Gesprächstherapie« des amerikanischen Psychotherapeuten Carl Rogers sowie das von der DeutschAmerikanerin Ruth Cohn entwickelte Konzept der »Themenzentrierten Interaktion« beziehungsweise der »Gruppenarbeit« eine kreative Aneignung.90 Die katholische Kirche entwickelte sogar ein gesprächstherapeutisch und gruppendynamisch informiertes Verständnis der Beichte.91 Die multidisziplinäre Verwissenschaftlichung des kommunikativen Miteinanders im 20. Jahrhundert zeigt sich aber auch in der Hermeneutik Hans-Georg Gadamers sowie in den Schriften des österreichisch-israelischen Religionsphilosophen Martin Buber.92 Der Erwachsenenpädagoge Franz Pöggeler erklärte in seinem »Handbuch zur Erwachsenenbildung« von 1974, die »Entdeckung des Dialogs als eines Definiens moderner Menschlichkeit« sei Personen wie Martin Buber regelrecht zu verdanken.93 Sowohl in der Seelsorge als auch im Bildungswesen habe man den Dialog früher lediglich als »Vehikel zur Verbreitung fertiger Erkenntnisse« gefasst, nun aber würde er als »eine Weise der gemeinsamen Wahrheitserkenntnis, als Suche nach Wahrheit, als einen Prozeß der Sozialisation der Einsicht« begriffen.94 Pöggelers Text veranschaulicht, wie ein Plädoyer für das Gespräch über eine kulturpessimistische, skeptische Haltung zur Moderne begründet werden konnte: »Vielleicht beruht die größte Wirkung dialogischen Verhaltens in unserer Zeit darauf, daß der dialogische Mensch es ablehnt, sich manipulieren zu lassen.«95 Gewiss berge der Dialog Risiken, etwa wenn der Glaube von Christen durch das Gespräch mit Nicht-Christen erschüttert werde. Dass aber »heute mehr Gespräche geführt werden als in früheren Zeiten« habe seinen Grund auch in der »Vereinsamung und Isolation vieler Menschen in der atomistischen Massengesellschaft«. Insgesamt zielte Pöggeler damit darauf, die Sorge seiner Mitmenschen vor einem »Dialogismus« zu entkräften. Vor diesem Hintergrund bekannte er sich dezidiert zur Demokratie: Aber noch aus einem anderen Grund zeigt sich, daß die Aversion gegen den Dialog – trotz mancher Missbräuche und Missverständnisse – eine falsche Haltung ist: Zum modernen Menschen gehört die Freiheit der Information und Kommunikation. Diese ist wichtiger Bestandteil einer freiheitlich-demokratischen Lebensordnung, und sie artikuliert sich in der Freiheit zum Dialog, in der Gewöhnung an den Dialog. Wir haben deshalb heute gar nicht mehr die Wahl, den Dialog als Lebensform und Existenzweise zu bejahen oder zu verneinen. Es ist uns nicht mehr möglich, auf einen gleich-

90 Rogers; Cohn, Lernen; dies., Von der Psychoanalyse. 91 Vgl. Ziemann, S. 290–314. 92 Vgl. Buber, Ich und Du; Gadamer, hier vor allem S. 361–465. Zur »Verwissenschaftlichung des Sozialen« als Tendenz des 20. Jahrhunderts siehe Raphael. 93 Pöggeler, Erwachsenenbildung, S. 203. 94 Ebd., S. 202. 95 Ebd., S. 205.

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sam prädialogischen Punkt der soziokulturellen Entwicklung zurückzugehen, wenn wir nicht die Basis unserer modernen Existenz gefährden wollen.96

Auch in diesem Text wurden die Termini Diskussion, Gespräch und Dialog nicht gegeneinander ausgespielt – wie in manch konservativen Kreisen –, sondern locker vermischt. Pöggeler ging von seiner Darstellung der hermeneutischen und religiösen Funktion des Dialogs unmittelbar über zu den in der Erwachsenenpädagogik inzwischen etablierten Verfahren der Gruppenpädagogik. Dazu zählte die »Pro-Contra-Methode«, bei der die Teilnehmer einer Podiumsdiskussion in schneller Abfolge ihre Meinung formulierten, bevor das Plenum einbezogen wurde.97 Martin Buber hätte das von ihm favorisierte Kommunikationsideal von solch inszenierten Schaukämpfen wohl scharf abgegrenzt. Im spontanen, von der Öffentlichkeit geschützten und gerade nicht formalisierten Gespräch zwischen zwei Menschen sollte sich ihm zufolge Humanität realisieren, hier würde der Mensch seinem Gegenüber gewahr, erkenne sich selbst – und Gott.98 Die Vermischung von Dialog und Diskussion war für den pädagogischen Diskurs der fünfziger und sechziger Jahre aber ebenso symptomatisch wie die noch immer betonte Trennung von Diskussion und Debatte. »In der Diskussion«, resümierte der Sprachwissenschaftler Werner Dieckmann zeitgenössische Texte zur schulischen Gesprächserziehung, »kommen Partner zusammen, die ihre Meinung austauschen oder gemeinsam einen Sachverhalt klären; ein Konsens ist nicht erforderlich; die Leitung hat ein Diskussionsleiter. In der Debatte treffen Gegner aufeinander, die kontroverse Meinungen vertreten; sie ist noch strenger geregelt; die Leitung hat ein Vorsitzender; zum Schluß wird abgestimmt.«99 Ganz in der Linie älterer Literatur der ersten Nachkriegsjahre erschien das Debattieren hier als kompetitives, auf eine Entscheidung drängendes Gespräch, von dem das Diskutieren als stärker kooperative, Dissens produzierende und akzeptierende Praxis abgegrenzt wurde. Die in pädagogischen und intellektuellen Diskursen geforderte Aufwertung von Diskussionen strahlte im letzten Drittel der langen sechziger Jahre auf manches Berufsfeld aus – wobei die Gesprächsform oftmals gerade nicht als Modus der Kooperation eingeführt, sondern verstärkt als Instrument der Kritik genutzt wurde. Zu denken ist etwa an Lehrer, welche sich im Rahmen der Schülerbewegung mit öffentlichen Diskussionsveranstaltungen konfrontiert sahen 96 Ebd., S. 204. 97 Ebd., S. 206–209. 98 Vgl. Buber, Nachwort, S. 297: »In unserer Zeit, in der das Verständnis für das Wesen des echten Gesprächs selten geworden ist, werden seine Voraussetzungen von dem falschen Öffentlichkeitssinn so gründlich mißkannt, daß man vermeint, ein solches Gespräch vor einem Publikum interessierter Zuhörer mit gebührender publizistischer Assistenz veranstalten zu können. Aber eine öffentliche Debatte von noch so hohem ›Niveau‹ kann weder spontan noch unmittelbar noch rückhaltlos sein; eine als Hörstück vorgeführte Unterredung ist von dem echten Gespräch brückenlos verschieden.« 99 Dieckmann, S. 162.

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oder aber mit jungen, stärker dialogorientierten Kollegen. In den von sozialdemokratischer Seite vorangetriebenen Bildungsreformen der frühen siebziger Jahre, welche vor allem in den Fächern Deutsch und Gemeinschaftskunde auf die Verstärkung des Diskussionsprinzips im Unterricht drangen, trafen sich die Interessen dieser von 1968 geprägten Berufsanfänger mit reformorientierten Lehrern der älteren Jahrgänge, die schon in den frühen fünfziger Jahren für eine »Demokratisierung« der Schule plädiert hatten.100 Ein anderes Berufsfeld waren die Redaktionen von Printmedien, in welchen auf Verlangen der jüngeren Kollegen stundenlang über interne Hierarchien diskutiert wurde.101 Untersucht werden muss noch, inwiefern solche Tendenzen auch für andere Berufe galten und in welchem Maße sich die familiäre Kommunikation diskursivierte. Für das im Umfeld der 68er entstehende linksalternative Milieu ist dies mit Sicherheit anzunehmen, für andere gesellschaftliche Gruppen indes unklar.102 Parallel zur Aufwertung von Diskussionen in unterschiedlichen sozialen Räumen und Handlungsfeldern änderte sich die Politik. Bundeskanzler Konrad Adenauer hatte in den fünfziger Jahren den Austausch mit Journalisten als exklusives und asymmetrisches »Teegespräch« betrieben. Er sprach zur Bevölkerung im Ton eines nachsichtigen Patriarchen und verhielt sich innerhalb der CDU äußerst autoritär, ohne hiermit auf nennenswerten Widerstand zu stoßen.103 Wie Frank Bösch betont, hing der in den frühen sechziger Jahren einsetzende innerparteiliche Autoritätsverlust Konrad Adenauers dann aber auch mit diesem Führungsstil zusammen, den die um 1930 geborenen Jüngeren in Frage stellten, unter anderen Helmut Kohl. Auf den von Adenauer geleiteten Sitzungen des Parteivorstandes unterbrach Kohl den Vorsitzenden noch während des Lageberichts, kritisierte die Gewohnheit zu langer Referate, da dies die verbleibende Zeit für Diskussionen beschneide. Er forderte, so Bösch, »eine offene Diskussionskultur und praktizierte sie zugleich durch sein direktes Nachfragen oder namentliches Nennen von Problemen«.104 Kohl profitierte hiervon zunächst einmal selbst, lag aber auch in einem allgemeinen Trend. Wie Gabriele Metzler in ihrer Studie über »Konzeptionen politischen Handelns« in der frühen Bundesrepublik konstatiert, wandelten sich diese im Verlauf der sechziger Jahre vom »Pathos der Entscheidung« zur Idee eines »government by

100 Vgl. Küster; Schildt, Nachwuchs, sowie zur Formierung einer in der Öffentlichkeit breit diskutierten »kritischen Erziehungswissenschaft« seit den späten sechziger Jahren, welche sich nur vordergründig auf die Kritische Theorie der Frankfurter Schule bezog, Behrmann. 101 Hierzu Hodenberg, Konsens, S. 413–437. 102 Vgl. die nächste Fallstudie. 103 Vgl. Bösch, Politik. 104 Ebd., S. 210. Wie hier ausgeführt wird, machten die jüngeren Politiker auf diese Weise auf sich aufmerksam und wurden in jenes informelle Netzwerk einbezogen, das sie kritisierten. Zugleich, so ebd., habe die von der »Studentenbewegung kultivierte Respektlosigkeit« hier ihr »moderates Pendant« gefunden.

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discussion«.105 Willy Brandt bewies Gespür für den Zeitgeist, als er der Bevölkerung in seiner Regierungserklärung vom Oktober 1969 erklärte, dass diese Regierung »auch jene Solidarität zu schätzen« wisse, »die sich in Kritik äußert«, und fortfuhr: »Wir sind keine Erwählten; wir sind Gewählte. […] Deshalb suchen wir das Gespräch mit allen, die sich um diese Demokratie mühen.«106 Nicht nur die von der SPD anvisierten politischen Inhalte, auch die von ihr repräsentierten politischen Formen entsprachen dem Geschmack der Bundesbürgerinnen und -bürger. Meinungsumfragen lassen tatsächlich vermuten, dass nicht nur der erste sozialdemokratische Bundeskanzler, sondern weite Teile der Bevölkerung inzwischen »das Gespräch suchten« – zumindest mehr als jemals zuvor und mehr als in anderen westlichen Industriestaaten. Seit den frühen fünfziger Jahren liegen sozialwissenschaftliche Umfragen zu politischen Einstellungen und Verhaltensweisen vor, die jeweils auch die Frage enthielten, wie oft man an politischen Diskussionen teilnehme.107 Schon im Verlauf der fünfziger Jahre stieg die Zahl derer, die nach eigenen Angaben gelegentlich oder sogar täglich über Politik diskutierten, deutlich an, nämlich von 37,1 Prozent im Juli 1953 auf 60,5 Prozent im Juni 1959. Diese aufsteigende Tendenz setzte sich in den sechziger Jahren fort: Im Oktober 1965 diskutierten 75,5 Prozent der Befragten nach eigenen Angaben täglich oder gelegentlich über Politik, im Dezember 1972 waren es 84,5 Prozent der befragten Bundesbürgerinnen und -bürger. Im gleichen Zeitraum fiel der Wert jener, die nach eigenen Angaben nie über Politik diskutierten, entsprechend ab – von rund 63 Prozent im Juli 1953 auf rund 39 Prozent im Juli 1961 bis hin zu 15,5 Prozent im Dezember 1972.108 Die Veröffentlichung dieser Daten in den achtziger Jahren trug wesentlich dazu bei, die Bundesrepublik vom Stigma einer Untertanengesellschaft zu befreien. »Germany transformed« wurde 1981 von westdeutschen und amerikanischen Sozialwissenschaftlern erleichtert verkündet, die die oben genannten Zahlen zusammengetragen und ausgewertet hatten.109 Die erhobenen Daten bildeten soziale Wirklichkeit freilich nicht ab, sondern konstruierten sie viel-

105 Vgl. Metzler, S. 424. Vgl. aber auch Appel, S. 71. 106 Brandt, S. 33. 107 Die Datensätze wurden zusammengefügt sowie in diachroner Perspektive ausgewertet von Baker u. a. Vgl. zur Datengrundlage, der jeweiligen Repräsentativität und der Vergleichbarkeit der zusammengeführten Datensätze ebd., S. 299–316. 1953 wurden Bundesbürger/ innen im Alter von 18 bis 79 Jahren; 1961 Bürger/innen der Bundesrepublik und aus WestBerlin ab 16 Jahren; 1965 Bundesbürger/innen ab 21 Jahren; 1969 Bundesbürger/innen ab 21 Jahren; 1972 Bundesbürger/innen ab 18 Jahren sowie 1976 Bundesbürger/innen ab 18 Jahren befragt. Ergänzend wurden die Ergebnisse von Almond u. Verba von 1959 hinzugezogen, in dessen Rahmen Interviews mit Westdeutschen im Alter über 18 Jahre durchgeführt worden waren. Zur Frage nach der Häufigkeit politischer Diskussionen siehe Baker u. a., Germany, S. 39–45; ebd., Appendix B, S. 312 f., Abschnitt: »Political Discussion«. 108 Vgl. Baker u. a., S. 40. 109 Vgl. ebd.; Greiffenhagen.

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mehr.110 Die Ergebnisse waren unter anderem abhängig von der Gestaltung der Fragebögen und der Auswahl der Befragten, aber auch vom Zeitpunkt der Befragung, etwa unmittelbar vor oder nach einer Bundestagswahl. Zudem verweisen die Daten nicht, wie die politische Kulturforschung zu oft unterstellt, auf realiter praktiziertes Verhalten, sondern bestenfalls auf die Bedeutung, welche die konkret Befragten »politischen Diskussionen« in ihrem Leben zuschrieben, und zwar ex post in einer höchst künstlichen Interviewsituation. Dabei könnten sich die interviewten Menschen ebenso auf organisierte Diskussionsveranstaltungen bezogen haben wie auch auf politische Gespräche auf der Encounterebene, die spontan und ohne vorherige Bestimmung des Themas zustande gekommen waren. Zugleich ist zu bedenken, dass der Begriff des »Politischen« nicht nur historisch variabel ist und individuell höchst unterschiedlich ausgedeutet werden kann, sondern sich im Untersuchungszeitraum thematisch und räumlich ausdehnte. Zumindest im entstehenden linksalternativen Milieu der ausgehenden sechziger Jahre konnte eine »politische Diskussion« ebenso auf einen Meinungsaustausch über die neue Ostpolitik der Regierung Brandt verweisen wie auf die Aufteilung der WG-internen Küchenarbeit, denn die Neue Frauenbewegung proklamierte zurecht: »Das Private ist politisch.«111 Aber trotz solcher Relativierungen sind die Ergebnisse bemerkenswert, und zwar erstens wegen der Deutlichkeit des Wandels von Selbstbeschreibungen und zweitens wegen dessen relativ kontinuierlichem Verlauf. Es ergibt sich der Eindruck einer fast gleichmäßigen Zunahme der behaupteten Häufigkeit politischer Diskussionen von den frühen fünfziger Jahren bis in die beginnenden Siebziger, wobei sich der Wert jener, die nach eigenen Angaben zumindest hin und wieder über Politik diskutierten, mehr als verdoppelte. Diese Tendenz setzte offenbar ein, bevor der von den reformorientierten Eliten formulierte Ruf nach innerer Demokratisierung in den sechziger Jahren an Lautstärke gewann. Nicht einmal um 1968, also in jener in der nächsten Fallstudie zu behandelnden Zeit studentischen Protests und soziokulturellen Umbruchs, als die von Gestaltbarkeitsglaube und Reformeuphorie getragene Dynamik der langen sechziger Jahre ihren Höhepunkt erreichte, ist eine Radikalisierung zu erkennen. Stattdessen ging es auf hohem Niveau noch weiter. 110 Vgl. am Beispiel der katholischen Kirche in der frühen Bundesrepublik Ziemann, S. 131– 202. Grundlegend zur Sozial- und Kulturgeschichte demoskopischer Umfrageforschung in der frühen Bundesrepublik inklusive der politischen Agenda der Akteure: Kruke. 111 Vgl. zeitgenössisch Sander. Es ging in diesem Rahmen um eine Kritik an Vorstellungen gesellschaftlicher Transformation, die einseitig auf die Produktionsverhältnisse abzielten und damit in der Perspektive der Neuen Frauenbewegung den unauflösbaren Konnex von Produktion und Reproduktion vernachlässigten. Ziel war die Erweiterung des Politikbegriffs, der Macht- und Herrschaftsstrukturen in zwischenmenschlichen Beziehungen einbeziehen sollte. Vgl. Schulz, Der lange Atem, S. 91. Zur historischen Variabilität der Semantik des Wortes »Politik« siehe Steinmetz, »Politik«, wobei dieser Band auf die Neubestimmung des Terminus im Rahmen der Frauenbewegung nicht eingeht. Vgl. dazu Davis.

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An der Wende zu den siebziger Jahren waren die in Umfragen erreichten Werte nicht mehr nur im intertemporalen, sondern auch im internationalen Vergleich besonders hoch. Bei international durchgeführten Umfragen, welche die Frage nach »politischen Diskussionen« enthielten, hatte die Bundesrepublik andere westeuropäische Länder – für die USA stehen Vergleichszahlen aus – nicht bloß erreicht, sondern auf einmal überflügelt. Wie eine von der Europäischen Kommission in Auftrag gegebene Meinungsumfrage in allen Ländern der Europäischen Gemeinschaft von 1973 ergab, rangierte Westdeutschland hier auf dem »ersten« Platz, relativ dicht gefolgt nur von Dänemark, während die anderen Länder mit mehr als zehn Prozent Differenz auf den hinteren Rängen lagen. In der Bundesrepublik gaben nun 80,8 Prozent an, täglich oder gelegentlich über Politik zu diskutieren, in Dänemark 70,3, in Großbritannien 65,1 und in Frankreich nur 54,3 Prozent.112 In Großbritannien diskutierten demnach an der Wende von den sechziger zu den siebziger Jahren, im Vergleich zu der Umfrage von Almond und Verba, sogar weniger Leute über Politik als rund eine Dekade zuvor. Allein dies veranschaulicht, dass die westdeutsche Entwicklung keineswegs auf die Angleichung an einen westeuropäischen Normalfall verweist. Es gibt einen weiteren Grund, die skizzierten Umfrageergebnisse weniger als Indiz für Politisierung und in diesem Rahmen für Westernisierung zu lesen, denn als spezifisch westdeutschen Fall einer »Diskursivierung«, das heißt die Aufwertung argumentativer Handlungsmuster. Während sich nämlich in der westdeutschen Umfrage von 1972 immerhin 84,5 Prozent der Befragten nach eigenen Angaben gelegentlich oder täglich an politischen Diskussionen beteiligten, bekundeten in der gleichen Umfrage nur 56 Prozent der Befragten ein »Interesse an Politik«.113 Das heißt: Ein Teil der Befragten nahm der eigenen Erinnerung nach an argumentativen Gesprächen teil, ohne sich für deren Inhalte zu interessieren. Die Selbstbeschreibung als diskutierender Bürger hatte offenbar einen noch höheren Stellenwert als die Behauptung politischen Interesses. Wie vor diesem Hintergrund vermutet werden kann, war das Diskutieren zu einer kommunikativen Gattung mit höchster Wertigkeit herangereift. Das darf

112 Vgl. Standard Eurobarometer, 1973, Frage nach Teilnahme an politischen Diskussion (in Prozent): BRD: »häufig« oder »gelegentlich« 80,8 / »nie«: 19,2 Prozent; Frankreich: 54,3 / 45,6; Belgien: 44,8 / 55,1; Niederlande: 60,3 / 39,6; Italien: 58,8 / 41,2; Luxemburg: 70,3 / 29,7; Dänemark: 74,4 / 25,5, Irland: 63,3 / 36,7; Großbritannien: 65,1 / 34,9. Das »Standard Eurobarometer« ist eine von der Europäischen Kommission in Auftrag gegebene Meinungsumfrage, die seit den frühen siebziger Jahren unter der Leitung von Ronald Inglehart in regelmäßigen Abständen in allen Ländern der Europäischen Gemeinschaft beziehungsweise der Europäischen Union durchgeführt wird. Das Eurobarometer enthält eine Variable zur Häufigkeit politischer Diskussionen im Alltag. Die Verteilung dieser Variable von 1973 bis 1994 hat Ronald Inglehart im Juni 2006 für mich aufbereitet. Für seine Hilfe möchte ich mich hiermit ausgesprochen herzlich bedanken. Zur Verteilung von 1973 vgl. auch Inglehart u. Rabier. 113 Vgl. Figure 2.1, Participation in Politics, 1972, in: Baker u. a., S. 41.

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nicht einfach als Ergebnis eines Wertewandels gefeiert werden,114 der die Bürgerinnen und Bürger nach Demokratie, Pluralismus, Autonomie oder Vernunft greifen ließ. Aus soziologisch und geschichtswissenschaftlich informierter Sicht handelt es sich vielmehr um einen von multiplen Faktoren begünstigten, dem Willen Einzelner entzogenen, auch von sozialen Zwängen begleiteten, langfristigen Wandel kollektiver Deutungsmuster, dem sich der Einzelne kaum entziehen kann. In der Endphase der »frühen« Bundesrepublik, so bleibt an dieser Stelle festzustellen, wurde keineswegs in allen Praxisfeldern und von allen Menschen beständig diskutiert, zumal Gegenläufigkeiten und Ungleichzeitigkeiten der skizzierten Tendenzen zu berücksichtigen sind. Eine Hausfrau aus dem Arbeitermilieu agierte in einem anderen Umfeld kommunikativer Routinen als ein Professor der Soziologie. Und in vielen Milieus und Praxisfeldern dürfte sich der Trend zur argumentativen Interaktion erst in den siebziger und achtziger Jahren ausgebildet haben. Es liegt aber die Vermutung nahe, dass inzwischen in vielen situativen und sozialen Kontexten mit einer Diskussion gerechnet werden musste – und dass damit nicht mehr die Forderung, sondern die Verweigerung von Diskussion zunehmend einer Begründung bedurfte. Zu den alltäglich beobachteten oder für Selbstbeschreibungen in Anspruch genommenen kommunikativen Handlungsmodi einer Mehrheit der Menschen gehörte mündlicher, argumentativer Meinungsaustausch nun mit relativ großer Wahrscheinlichkeit dazu. Er hatte damit bereits eine gewisse »Veralltäglichung« erfahren und war auf dem besten Weg, eine Selbstverständlichkeit zu werden. Aber welche sozialen Gruppen trugen diese Tendenz in erster Linie und trieben sie voran?

3.3 Von jungen, gebildeten Männern. Das soziale Antlitz der »Diskussion« Sehr unterschiedliche Quellen deuten auf einen hohen Stellenwert hin, den die Westdeutschen »Diskussionen« in ihrem Leben in den frühen siebziger Jahren beimaßen – zumindest im Vergleich zu vorherigen Dekaden und zu anderen westeuropäischen Ländern. Freilich war die westdeutsche Gesellschaft nicht homogen. Die zitierte sozialwissenschaftliche Forschung sieht in Bildung und Einkommen zentrale Ressourcen für politische Beteiligung allgemein und somit auch für »politische Diskussionen«.115 Tatsächlich gaben Menschen mit höheren Schulabschlüssen und höherem Einkommen in den durchgeführten Umfragen der fünfziger, sechziger und siebziger Jahre besonders häufig an, zumindest hin 114 Grundlegend zur Wertewandelforschung in postindustriellen, westlichen Gesellschaften Ingelhart, in geschichtswissenschaftlicher Perspektive Rödder u. Elz, Wertewandel. 115 Vgl. Baker u. a., S. 42–45, zum Zusammenhang sozioökonomischer Wandlungsprozesse und der Beteiligung an politischen Diskussionen.

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und wieder über Politik zu diskutieren.116 Da das Durchschnittseinkommen im Verlauf der frühen Bundesrepublik deutlich stieg117 und die Zahl der Abiturienten mit der »Bildungsexpansion« zunahm,118 könnte sich diese Entwicklung auf die Ergebnisse insgesamt ausgewirkt haben. Allerdings nahmen auch die Umfragewerte innerhalb der verschiedenen Bildungs- und Einkommensgruppen zu, sodass 1972 mehr Hauptschüler von sich behaupteten, häufig oder gelegentlich über Politik zu diskutieren, als das Abiturienten um 1953 getan hatten. Analog war die Zahl der angeblich über Politik diskutierenden Personen aus dem untersten Einkommensviertel 1972 höher als die der Menschen aus dem obersten Einkommensviertel von 1953.119 Die Bewertung politischer Diskussionen divergierte zwar entlang sozialer Kategorien, war aber tatsächlich in der westdeutschen Gesellschaft insgesamt gestiegen.120 Noch mehr als die Einkommenssituation wirkte sich ein höherer Schulabschluss auf die Antworten aus – Abiturienten gaben besonders häufig an, über Politik zu diskutieren.121 Um dieses Phänomen zu erklären, reicht der Hinweis auf die diesen Personen zur Verfügung stehenden Ressourcen zur Teilnahme an politischen Gesprächen allerdings nicht aus. Denn vor allem verfügten Abiturienten auch über Ressourcen, um sich im Verlauf eines argumentativen Gesprächs durchzusetzen. Gegenüber einem Arbeiter mit Hauptschulabschluss 116 Vgl. ebd., S. 43, Table 2.2 Political Discussion and Social Status, 1953–1972; ebd., S. 44, Table 2.3 Multiple Classification Analysis of Political Discussion and Social Status, 1953– 1972. 117 Das Bruttoinlandsprodukt hatte sich, berechnet nach konstanten Preisen, von 1950 bis 1960 mehr als verdoppelt und erfuhr nochmals eine beinahe Verdoppelung bis in die Mitte der siebziger Jahre. Die langen sechziger Jahre erlebten jährliche Zuwachsraten von bis zu acht Prozent. Zahlen nach Schildt, Sozialgeschichte, S. 19. Das Stichwort der »Bildungsexpansion« verweist auf den Trend zu höherer Bildung. 1952 besuchten ca. achtzig Prozent der 13-jährigen Schüler Volksschulen (Hauptschulen), sechs Prozent Mittelschulen (Realschulen) und zwölf Prozent Gymnasien, diese Relation verschob sich bis 1960 auf siebzig zu 11 zu 15. Noch 1960 verließen aber neunzig Prozent die Schule mit einem Hauptschulabschluss, im Laufe der sechziger Jahre sank diese Zahl auf achtzig Prozent. Entsprechend stieg die Zahl der Gymnasiasten auf 1,4 Mil lionen im Jahr 1970, als der Abiturientenanteil am Jahrgang bei 10,7 Prozent lag. Die Zahl der Studierenden verdoppelte sich von ca. 130 000 im Wintersemester 1950/51 auf rund 247 000 im Wintersemester 1960/61. Zahlen nach ebd., S. 31, 53, 65. 118 Das eigentliche Jahrzehnt der Bildungsexpansion waren dann allerdings die siebziger Jahre, in denen die in Umfragen ermittelten Werte zur Häufigkeit politischer Diskussionen nicht mehr weiter stiegen, wie weiter unten gezeigt wird. Der Abiturientenanteil am jeweiligen Durchschnittsjahrgang erhöhte sich von 10,6 Prozent 1970 auf 23,5 Prozent 1989. Zahlen erneut nach ebd., S. 64 f. 119 Vgl. Baker u. a., S. 43. 120 Es müsste gleichwohl noch genauer untersucht werden, inwiefern sich die Alltagskommunikation nicht nur im akademischen Milieu, sondern auch unter Angestellten, unter Arbeitern und in ländlichen Regionen veränderte. Vgl. Mooser, Arbeiterleben; ders., Abschied von der ›Proletarität‹; Kocka u. Prinz. 121 Vgl. Baker u. a., S. 44.

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besaßen sie mehr Bildung, einen breiteren Wortschatz und mehr argumentative Übung. Die gebildeten Mittelschichten und noch mehr die Akademiker hatten damit einen Vorteil in einem »kommunikativen Haushalt«, der Diskussionen privilegierte. Das wird den Akteuren kaum bewusst gewesen sein, sondern mag sich ihnen in aller Unschuld als Diskussionsfreude präsentiert haben. »Endlich soll die Welt doch sehen, wie gescheit ich bin!«, notierte Heide Berndt, zeitweilig Assistentin von Alexander Mitscherlich, im Mai 1973 in ihrem Tagebuch, als sie sich zum wiederholten Mal den baldigen Abschluss ihrer Doktorarbeit vornahm. In Klammern fügte sie hinzu: »Als ob meine Gescheitheit wichtig wäre, außer dem Vergnügen, die sie mir in Diskussionen bereitet.«122 Für die Sozialgeschichte der frühen Bundesrepublik und hier insbesondere für die zwar lange überschätzten, aber wohl doch vorhandenen Erosionserscheinungen des traditionellen Bürgertums ist daher symptomatisch, dass eben nicht die bürgerliche und teilweise auch adlige kommunikative Gattung der »Konversation«, sondern die in sozialer Hinsicht sehr viel offenere »Diskussion« eine Aufwertung erfuhr.123 Die Techniken gehobener Konversation waren im 19. Jahrhundert als bürgerliches Distinktionsmerkmal kultiviert worden: Sie wurden nicht durch die schulische, sondern allein durch die familiäre Sozialisation vermittelt und eingeübt.124 Diskutieren dagegen war gerade keine exklusiv bürgerliche Praxis, denn es konnte außerhalb der Familie erlernt und sogar recht plump zur Durchsetzung eigener Interessen eingesetzt werden, etwa gegenüber dem Chef am Arbeitsplatz. Oder anders formuliert: Während die Konversation gläserne Wände zwischen den Klassen respektive den Schichten errichtete, zog die Diskussion Grenzen zwischen Menschen unterschiedlichen Bildungsgrades – relativ unabhängig von ihrem familiären Hintergrund. Zugleich zielten die von den späten vierziger bis in die siebziger Jahre vorangetriebenen Schulreformen immer konsequenter auf eine Durchsetzung von Diskussionen im Unterricht und die weitgehende Vermeidung frontaler Wissensvermittlung, was Schülerinnen und Schüler entsprechend trainierte.125 Wenn die kommunikative Gattung Diskussion allem Anschein nach eine stärkere Aufwertung in Westdeutschland erfuhr als in anderen westeuropäischen Ländern, könnte das also auch darauf verweisen, dass es sich um eine Gesellschaft mit relativ großer sozialer Mobilität handelte. Eventuell fand die frühe Bundesrepublik, die sich selbst vorschnell als »nivellierte Mittelstandsgesell-

122 Tagebuch Heide Berndt, Bd. 2, 30.6.1974, Nl. Heide Berndt, APO-Archiv. 123 Zur Debatte um den Ort von »Bürgertum« und »Bürgerlichkeit« in der westdeutschen Nachkriegsgeschichte siehe unter anderem Wehler, Deutsches Bürgertum; Conze, Eine bürgerliche Republik; Hettling; Berghahn, Recasting. 124 Vgl. Linke, Sprachkultur. 125 Vgl. neben den vorherigen Ausführungen zur Reeducationpolitik Behrmann; Gass-Bolm; Uhle sowie zeitgenössisch zur Diskussion als Unterrichtsmethode mit ausführlichen Hinweisen auf die Literatur Dieckmann.

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schaft« (Helmut Schelsky) entwarf, im Diskutieren sogar ihr vermeintlich nivellierendes Kommunikationsideal.126 So verhältnismäßig durchlässig die Gesprächsform Diskussion in sozialer Hinsicht war, so undurchlässig war sie in geschlechtlicher Perspektive. In der 1959 von Almond und Verba geleiteten Umfrage war es vor allem der niedrige Wert von Frauen in puncto »politischer Diskussion« gewesen, der das bundesdeutsche Gesamtergebnis unter den in westlichen Ländern üblichen Wert drückte. Nur 46 Prozent der interviewten Bundesbürgerinnen diskutierten eigenen Angaben zufolge mindestens hin und wieder über Politik – im Vergleich zu 77 Prozent der Männer.127 In der Eurobarometer-Umfrage von 1973 gaben siebzig Prozent der befragten Frauen an, zumindest hin und wieder über Politik zu diskutieren, bei den Männern waren es sogar 92 Prozent.128 Die Anzahl der Frauen war damit zwar deutlich gestiegen, aber trotzdem reichte der Wert in den frühen siebziger Jahren noch nicht an den der Männer aus den späten fünfziger Jahren heran. Damit liegt ein weiteres Indiz dafür vor, dass die Teilhabe an Diskussionen in der frühen Bundesrepublik eine eher männliche Praxis war – und blieb. Das ist schon deshalb wenig verwunderlich, weil es Männer waren, die im Untersuchungszeitraum die deutliche Mehrheit der Abiturienten, aber auch »diskursiver« Berufe wie Journalisten und Akademiker ausmachten. Als solche nahmen sie an öffentlichen Diskussionsveranstaltungen teil, machten hier ihren Einfluss geltend – und verliehen der kommunikativen Gattung ein dezidiert männliches Antlitz. Die Gesprächsform belohnte außerdem die als spezifisch männlich konnotierten Eigenschaften der Aggressivität, Rationalität und Durchsetzungskraft, während Zurückhaltung, Empathie oder gar Schüchternheit als vermeintlich weibliche Eigenschaften in einem »harten«, argumentativen Rededuell einen Nachteil darstellten.129 Während die bürgerliche und noch mehr die aristokratisch-höfische »Konversation« Frauen eine zentrale Bedeutung beigemessen hatte, in welcher sie das Gespräch dezent im Fluss hielten und für das Wohlbefinden aller Beteiligten sorgten,130 waren öffentliche Diskussionen in der Spätphase der frühen Bundesrepublik von Männern dominiert und männlich geprägt. Die Analyse des »Internationalen Frühschoppen« hat gezeigt, dass die hier in Szene gesetzte Dis126 Zur Nivellierung sozialer Ungleichheit in wissenschaftlichen Beschreibungen der westdeutschen Gesellschaft wie in den durch Meinungsumfragen ermittelten Selbsteinschätzungen siehe Nolte, Ordnung, S. 318–351. Während 1955 noch siebzig Prozent der Söhne in der Schicht ihrer Väter blieben, galt dies 1969 nur noch für 56 Prozent. Vgl. Schildt, Sozialgeschichte, S. 33. 127 Vgl. Almond u. Verba, S. 327. 128 Standard Eurobarometer, 1973, Frage nach Teilnahme an politischen Diskussionen, BRD/ Geschlecht. 129 Der Anteil der Abiturientinnen stieg von 36 Prozent im Jahr 1960 auf 46 Prozent im Jahr 1975. Vgl. Schildt, Sozialgeschichte, S. 52. Zum geringen Anteil der Journalistinnen siehe Hodenberg, Konsens, S. 236–243. 130 Vgl. Linke, Gesprächskultur; Craveri.

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kussionslust auch als Inszenierung von »westlicher« Männlichkeit verstanden werden kann, die Millionen Westdeutschen – Männern wie Frauen – vorgeführt wurde. Dem symbolischen Kapital der »Diskussion«, von Carl Schmitt als geschwätzige, feige und weibliche Praxis diffamiert, kam diese Maskulinisierung sicherlich zugute.131 Männer waren es dann aber auch, die Frauen im Gespräch das Wort abschnitten und ihre Redebeiträge ignorierten.132 Das erklärt zusätzlich, warum die »Diskursivierung« der westdeutschen Gesellschaft einer Nivellierung geschlechtlicher Ungleichheit keineswegs per se zugutekam. Zur Veranschaulichung sei auf eine psychoanalytisch begleitete »Elterngruppe« in den frühen siebziger Jahren verwiesen, die sich regelmäßig zum Austausch über persönliche Belange traf. Die Männer redeten mehr als die Frauen, was die Beteiligten mit einem Bildungsvorsprung auf maskuliner Seite erklärten. Das verweist auf den in der frühen Bundesrepublik strukturell asymmetrischen Zugang der Geschlechter zu höherer Bildung. Zugleich zeigt das Beispiel, wie ein durch Bildung unterfüttertes, maskulines Selbstvertrauen in die Kraft der eigenen Argumente auch bei Gesprächsthemen fern des klassischen Bildungskanons zum Vorteil werden konnte. Das Protokoll notierte: Die Männer reden zu Beginn der Sitzung etwa eine halbe Stunde über Organisationsprobleme des Kinderladens. Schließlich bemerkt man, daß bei diesem Thema immer nur die Männer sprechen, während die Frauen still bleiben. / Lutz erklärt das damit, daß die Männer in dieser Gruppe im allgemeinen eine bessere Ausbildung erfahren hätten und deshalb beim Gespräch über politische, theoretische und allgemeine organisatorische Probleme überlegen seien. / Inge murmelt irgend etwas, was nach Unbehagen klingt. / Marga meint, die Männer müßten lernen, auch das, was die Hausfrauen sagten, mehr ernst zu nehmen. Die schlechter gebildeten Frauen könnten sich vielleicht nicht so gescheit ausdrücken, aber das bedeute doch nicht, daß sie nichts zu sagen hätten. Allerdings sei es hier wohl üblich, das höher zu bewerten, was sehr abstrakt und mit vielen Fremdwörtern vorgebracht werde.133

Während der Einfluss der Geschlechtszugehörigkeit auf die Bedeutung, welche die Befragten politischen Diskussionen in ihrem Leben zuschrieben, im Untersuchungszeitraum gleichwohl leicht nachließ, nahm die Bedeutung des Lebensalters stark zu. In den frühen fünfziger Jahren unterschieden sich die Alterskohorten in ihrem Antwortverhalten kaum. Junge und alte Menschen gaben – so 131 Vgl. Orozco, o. S. 132 Der Männerüberschuss wie auch die Unterbrechung oder Nichtaufnahme der Redebeiträge von Frauen finden sich in allen Diskussionsveranstaltungen, die in der vorliegenden Studie genauer untersucht wurden: in den Public Forums der unmittelbaren Nachkriegszeit, dem »Internationalen Frühschoppen«, den »Kölner Mittwochgesprächen«, der Studentenbewegung. Vgl. die entsprechenden Abschnitte in diesem Buch. Als Hintergrund siehe Trömel-Plötz. Vgl. außerdem die Schilderung der diskursiven Praktiken im männlich dominierten westdeutschen Journalismus an der Wende zu den siebziger Jahren von Hodenberg, Konsens, S. 397–439. Zu den in den sechziger Jahren nur schleppend einsetzenden Wandlungstendenzen der Geschlechterverhältnisse siehe Paulus; Frevert. 133 Richter, Die Gruppe, S. 78, Hervorhebung im Original.

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sie über das gleiche Geschlecht, einen ähnlichen Bildungsgrad und ein ähnliches Einkommen verfügten – ähnliche Antworten. Aber im Verlauf des Untersuchungszeitraums differenzierten sich die Antworten deutlich aus. Je jünger die Befragten, desto häufiger gaben sie in den späten sechziger Jahren an, über Politik zu diskutieren.134 Je mehr relative Lebenszeit die Akteure also in der westdeutschen Gesellschaft der ersten Nachkriegsdekaden verbracht hatten, desto eher nahmen sie nach eigenen Aussagen an politischen Diskussionen teil. Diese sehr viel stärkere Verankerung von Diskussionen unter jungen Menschen kann als Hinweis auf die mit zunehmendem Lebensalter abnehmende Formbarkeit von Denkmustern und Verhaltensdispositionen gelesen werden. Während es älteren Menschen vermutlich schwerfiel, sich der gewandelten Kommunikationskultur anzupassen, und sie tendenziell an den einmal habitualisierten, noch stärker soldatisch-autoritären Verhaltensweisen festhielten, manifestierte sich die Diskursivierung der westdeutschen Gesellschaft besonders deutlich in der Kommunikationskultur der Jüngeren.135 Der sich erst im Verlauf der sechziger Jahre deutlich abzeichnende Alterskohorteneffekt lässt sich aber noch genauer fassen. »Man kann«, so formuliert der Soziologie Heinz Bude, »Deutschland als Land der Generationen bezeichnen – jedenfalls im Unterschied zu Großbritannien, das bis heute ein Land der Klassen ist oder zu Frankreich, dessen Selbstverständnis auf der Idee der Republik gründet.«136 Zumindest scheinen die harten Zäsuren der Geschichte des 20. Jahrhunderts Erfahrungshaushalt und Verhaltensdispositionen unterschiedlicher Jahrgangsgruppen deutlich auseinandergerückt zu haben. Zugleich entwickelten bestimmte Personengruppen innerhalb dieser Alterskohorten nicht nur ähnliche Handlungsdispositionen, sondern auch ein distinktes Generationenbewusstsein, das heißt, sie definierten sich selbst als Generation und grenzten sich über dieses Verständnis von Älteren und Jüngeren ab oder wurden von anderen als distinkte Gruppe wahrgenommen – etwa die »68er«. Während also eine Kohorte sämtliche Personen einer Gesellschaft umfasst, die zusammenliegenden Jahrgängen angehören, und daher numerisch objektiv bestimmt werden kann, ist eine Generation in diesem Sinne – und damit in lockerer Anlehnung 134 Zu den Alterskohorteneffekten siehe Baker u. a., S. 45–51, insbesondere ebd., S. 48, Figure 2.2 Political Discussions and Generations, 1953–1972. Ein solcher Einfluss der Kohortenzugehörigkeit auf die Häufigkeit politischer Diskussionen lässt sich auch durch die Datensätze des Eurobarometers von 1973 bestätigen. Je jünger die Interviewten waren, so können die Ergebnisse zusammengefasst werden, desto häufiger gaben sie an, »häufig« oder »gelegentlich« (statt »nie«) über Politik zu diskutieren. Standard Eurobarometer, 1973, Frage nach Teilnahme an politischen Diskussionen, BRD/Alterskohorten (in Prozent): 1956–1965: häufig 30,0 / gelegentlich 56,0 / nie 14,0; 1946–1955: 25,3 / 57,9 / 16,8; 1936–1945: 24,3 / 60,2 / 15,5; 1926–1935: 23,9 / 56,3 / 19,8; 1916–1925: 19,9 / 61,2 / 18,9; 1906–1915: 18,3 / 58,1 / 23,4; vor 1905: 15,0 / 55,0 / 30,0; Total: 16,2. 135 Zu Generationenkonflikten und einer zunehmenden Entfremdung zwischen Älteren, die teilweise noch im Kaiserreich sozialisiert worden waren, und Jüngeren, siehe Siegfried, Time, S. 60–72. 136 Bude, 50er Jahre, S. 145.

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an Karl Mannheim – eine soziologische und zugleich subjektive Kategorie.137 Zu betonen ist außerdem, dass die der deutschen Geschichte des 20. Jahrhunderts zugeschriebenen »Generationen« immer nur kleine Minderheiten der jeweiligen Alterskohorte ausmachten. Sie waren weder schicht- beziehungsweise klassenübergreifend strukturiert, und ihre Dynamik erfasste Männer und Frauen keineswegs gleichermaßen.138 Vielmehr gelang es vor allem männlichen, gebildeten Akteuren, sich über die Stilisierung als Generation zum selbst ernannten Sprachrohr und Repräsentanten einer ganzen Alterskohorte zu machen, öffentliche Aufmerksamkeit zu erhalten – und viele Quellen zu hinterlassen.139 Es besteht daher stets die Gefahr, Generationen zu essentialisieren oder sie als Agens des Wandels zu überschätzen. Ausgehend von den in diesem Kapitel herangezogenen Meinungsumfragen lassen sich zunächst ohnehin nur Alterskohorten unterscheiden. Zu berücksichtigen sind erstens die vor 1925 Geborenen, deren maskuline Hälfte im Zweiten Weltkrieg den Großteil der Soldaten stellte und aus denen sich die Führungsschichten des Dritten Reichs rekrutierten. Als ihre gemeinsame Grunderfahrung nach 1945 gilt, dass die Welt, in der sie gelebt und in der sie es teilweise zu Erfolg gebracht hatten, zerbrochen war. Der Wunsch nach politischer, ökonomischer und gesellschaftlicher Stabilität könnte für viele zu einem Grundbedürfnis geworden sein, und Clemens Albrecht bezeichnet sie entsprechend als »sekurierende« Generation.140 In jedem Fall rekrutierte sich aus diesen Jahrgängen die nationalsozialistische Führungselite; die Männer gerieten bei Kriegsende mehrheitlich in Kriegsgefangenschaft, sie waren Gegenstand der politischen Säuberungsaktionen der West-Alliierten. Und nach der abgebrochenen Entnazifizierung trugen diese Männer – und auch die Frauen – den wirtschaftlichen Wiederaufschwung. Nach Ulrich Herbert wich die anfangs vorherrschende Verbitterung einem Anpassungsdruck, der schließlich eine Rückkehr 137 Einführend zu Generation, Generativität und Generationalität als Kategorien der Geschichtswissenschaft siehe noch immer die frühe Darstellung von Jaeger sowie jetzt die Sammelbände von Jureit u. Wildt, hier insbesondere die Einführung der Herausgeber, und Reulecke, Generationalität, hier insbesondere auch den Beitrag von Giesen. Auf die Komplexität, Vielfalt und Vagheit des Generationenbegriffs, der neben den oben gemeinten Kollektivierungen auch auf unmittelbare Verwandtschaftsbeziehungen verweisen kann oder eben auf Alterskohorten, ist hier nicht einzugehen. Grundlegend für die obige Perspektive ist Mannheim, der zwischen Generationslagerung, Generationszusammenhang und Generationseinheit unterscheidet und das Moment der Subjektivität noch unterschätzt. 138 Zu den »Generationen« in der deutschen Geschichte des 20. Jahrhunderts siehe noch immer die Systematisierung von Fogt sowie die Skizzen von Herbert, Drei politische Generationen; Reulecke, Generationen; Wildt. 139 Die Männlichkeit der in der deutschen Geschichte des 20. Jahrhunderts ausgemachten Generationen wird in der Forschung zwar nicht verschwiegen, aber meist nicht analytisch fruchtbar gemacht. Vgl. dagegen Benninghaus; Kätzel. 140 Dies schließt auch die zwischen 1900 und 1910 geborene »Kriegsjugendgeneration« ein. Vgl. Albrecht, Die Frankfurter Schule, S. 503–506. Grundlegend Herbert, Best; Frei, Karrieren; Leggewie; Loth u. Rusinek; Etzemüller.

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in bürgerliche Existenzen ermöglichte, allerdings unter dem Verlust der politischen Identität. Die langfristig zu beobachtenden politischen und kulturellen Neuorientierungen seien zunächst von Opportunismus getragen gewesen und dann nicht selten in politische Konversionen übergegangen.141 Der in der gemeinsamen Wehrmachtserfahrung entwickelte soldatische Habitus war nach 1945 nicht mehr ungebrochen öffentlich vermittelbar.142 Wenig überraschend zeigen Meinungsumfragen, dass das kommunikative Selbstverständnis von Menschen dieser Alterskohorte auch lange nach 1945 wenig diskursiv angelegt war, wenngleich auch ihre Umfragewerte langsam stiegen.143 Zudem verdeutlichen die im Rahmen dieser Studie bereits mehrfach erwähnten Personen wie Werner Höfer, Theodor Wilhelm, Gerhard Merzyn oder Karl-Otto Apel und Horst-Eberhard Richter, dass auch und gerade aus diesen Alterskohorten Menschen hervorgingen, die sich für die »Diskursivierung« der westdeutschen Gesellschaft nachhaltig einsetzten.144 Im Rahmen der Reeducation dürften einige von ihnen in Kontakt mit den auf Diskussion ausgelegten Kursprogrammen gekommen sein, so zum Beispiel Alfred Andersch und Hans Werner Richter, die in der gleichen amerikanischen »Prisoner of War School« in Diskussionsgruppen gelernt hatten, bevor sie später die Gruppe 47 gründeten – eine Diskussionsgruppe von Schriftstellern.145 Aber auch den anderen waren die Ziele der Reeducation sicherlich bekannt, einige der Genannten arbeiteten sogar, wie oben bereits gezeigt, für die entsprechenden Programme der west lichen Besatzungsmächte. Vor dem Hintergrund ihrer Erfahrungen mit der Gesprächskultur der Weimarer Republik und des Dritten Reichs überzeugte sie die Idee argumentativer Gruppenarbeit, welche in Toleranz, Meinungspluralismus und auch Empathie für Andersdenkende einüben sollte, vermutlich besonders. Es ist daher mehr als ein Zufall, dass diese Personen allesamt auch später für jenen kooperativen und regelgestützten Diskussionsstil standen, der unmittelbar nach 1945 als amerikanische »discussion technique« propagiert worden war. Nach Gründung der Bundesrepublik ermöglichten und leiteten sie dann Diskussionssendungen, -gruppen und -veranstaltungen und stellten damit den jüngeren Menschen Foren zum Meinungsaustausch bereit. Die angrenzende jüngere Alterskohorte, die ca. zwischen 1925 und 1935 Geborenen, erreichten in den Umfragen zur Häufigkeit politischer Diskussionen deutlich höhere Werte als die Älteren; nicht von Anfang an, aber im Verlauf der fünfziger und sechziger Jahre mit steigender Tendenz.146 Kindheit und Jugend 141 Herbert, Drei politische Generationen, S. 97–102. 142 Zu Mythos und Praxis soldatischer Kameradschaft sowie Formen ihrer Überführung in die frühe Bundesrepublik siehe Kühne, Kameradschaft, S. 209–270. 143 Vgl. in Baker u. a., S. 47, die Alterskohorten »Wilhelmine« und »Weimar«. 144 Höfer war Jahrgang 1913, Wilhelm 1907, Merzyn 1918, Apel 1922, Richter 1923. 145 Vgl. H.-W. Richter sowie die vorherigen Ausführungen zur Reeducation. Richter wurde 1908, Andersch 1914 geboren. 146 Vgl. in Baker u. a., S. 47, die Alterskohorten »Third Reich« und »Early Federal Republic«. Letztere reicht bis 1940, sodass ihr bereits Teile der 68er-Generation angehören.

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dieser Personen fielen in das Dritte Reich und wurden durch die nationalsozialistischen Jugendorganisationen geprägt, viele waren Mitglieder der Hitlerjugend oder des BDM gewesen. Anders als die Älteren erlebten sie Kriegseinsätze bestenfalls in der letzten Kriegsphase und machten daher ausnahmslos die Erfahrung alliierter Überlegenheit. Nach dem Krieg waren sie jung genug, um sich politisch und kulturell neu zu orientieren. Die Männer kamen von der Front in der Regel nicht in Kriegsgefangenschaft, sondern durften zurück auf die Schulbank. Die Besten dieser Alterskohorte gelangten aufgrund des von den Älteren hinterlassenen Vakuums in der Bundesrepublik relativ frühzeitig zu Einfluss, überdurchschnittlich viele von ihnen wurden erfolgreiche Journalisten, Wissenschaftler oder Politiker und prägten die öffentliche Meinungsbildung sowie die Politik. Diese schmale Elite, zu der unter anderem die Sozialwissenschaftler Jürgen Habermas und Ralf Dahrendorf, der spätere Bundeskanzler Helmut Kohl und der Journalist Günter Gaus sowie der Schriftsteller Günter Grass gehören, ist unter wechselnden Labels intensiv erforscht worden und figuriert in den Geschichtswissenschaften inzwischen als »45er«.147 Dieses Etikett rekurriert auf das Kriegsende, die Erschütterung des Zusammenbruchs als prägende Grunderfahrung. Folgt man Selbstzeugnissen, demonstrierte das Kriegsende den einst vom Nationalsozialismus Infiltrierten die eigene Verführbarkeit durch politische Ideologien und legte damit das Fundament für eine generelle Skepsis gegenüber allen dogmatisch vertretenen Überzeugungen. Auf dieser Grundlage entwickelten die 45er, so die gängige Darstellung, eine pragmatische, dezidiert undogmatische Haltung, was sich schon an den Buchtiteln ihrer Lebenserinnerungen ablesen lässt, etwa die von Günter Gaus verfassten »Widersprüche. Erinnerungen eines linken Konservativen«.148 Das von Helmut Schelsky in den fünfziger Jahren geprägte Etikett der »skeptischen Generation« traf sich daher kongenial mit subjektiven Selbsteinschätzungen und -stilisierungen, zu denen die Orientierung an Pragmatismus und Nüchternheit gehörte.149 Vor allem die den 45ern zuzuordnenden, reformorientierten Intellektuellen gelten in der Forschung als entscheidende Vorreiter von Demokratisierung, Liberalisierung und – durch Austauschprogramme in die USA geprägt – Westernisierung.150 Die Bedeutung der 45er für die »Diskursivierung« Westdeutschlands bestand in diesem Rahmen zunächst darin, dass sie an prominenter Stelle für das »Diskussionsprinzip« (Franz Schneider) als Element liberaler Öffent147 Diese Bezeichnung wurde geprägt von Moses, The Forty-Fivers, S. 951, dem Vorschlag von Joachim Kaisen, Jg. 1928, folgend. Vgl. aus der großen Menge der Literatur vor allem den umfassenden Forschungsbericht ebd., sowie Bude, Deutsche Karrieren; Lau; Klönne, Jugend; Schörken; Boll, Auf der Suche. Habermas, Darendorf und Gaus wurden 1929, Kohl 1930 und Grass 1927 geboren. 148 Gaus, Widersprüche. Vgl. auch Dahrendorf, Über Grenzen. 149 Zur Publikations- und Wirkungsgeschichte von Schelsky, Die skeptische Generation, siehe Kersting, Helmut Schelskys »Skeptische Generation«. 150 Vgl. pointiert Herbert, Drei politische Generationen, S. 102–109.

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lichkeit in modernen Gesellschaften warben.151 Vor allem aber setzten sie das Diskutieren über politische Gegenstände im öffentlichen Raum als maskuline, junge, auch westliche Praxis selbst in Szene, indem sie an Fernseh-, Radio- und Podiumsdiskussionen teilnahmen oder entsprechende Sendeformate etwa als Journalisten initiierten.152 Die Affinität, aber ebenso die Fähigkeit zum argumentativen, rationalen, hinterfragenden Gespräch lässt sich dabei nicht allein aus dem Schock über den Niedergang des Dritten Reichs und dessen zutage tretenden Verbrechen erklären. Zu bedenken ist vielmehr, dass die alliierte Reeducationpolitik ihr hauptsächliches Augenmerk auf genau diese Alterskohorte und die Leistungsstärksten unter ihnen gerichtet hatte, wobei sie ihnen in der Jugendarbeit, in Amerikahäusern und Filmklubs gezielt die Möglichkeit zur Diskussion bot. Die Programme sollten die Einsicht vermitteln, dass keine Meinung absolut wahr sei, dass sich jeder Sachverhalt von zwei Seiten betrachten lasse und dass sich Meinungen im Verlauf eines Gesprächs – oder eines Lernprozesses – verschieben dürfen. Auf dem biografischen Erfahrungshintergrund der später berühmt gewordenen 45er scheinen diese Botschaften eine ganz eigene Plausibilität entfaltet zu haben. Und selbst wenn sie ihre Affinität zum sachlich-argumentativen Gespräch unabhängig von den alliierten Programmen zur Demokratisierung entwickelt haben sollten, so bot sich ihnen in den Jugendparlamenten, den Filmklubs und so weiter doch frühzeitig eine Arena, diskursiven Fähigkeiten tatsächlich zu erproben, zu schulen und zu stärken.153 Dass die Generation der 45er später »den Grund« für die innere Reform und Liberalisierung der frühen Bundesrepublik legte, wie Ulrich Herbert formuliert, ist insofern zu differenzieren.154 Vielmehr gelang ihnen nur deshalb, wirksam für Demokratisierung und Liberalisierung der frühen Bundesrepublik zu werben, weil sie ihre kommunikativen Kompetenzen in Kindheit und Jugend kräftig geschult hatten und ihnen später in Fernseh- oder Podiumsdiskussionen die Möglichkeit geboten wurde, ihre Meinung öffentlich zu entfalten. Diese von den Älteren und von den Alliierten geschaffenen Gesprächsarenen sowie die in biografischen Erfahrungen wurzelnde Diskursivierung von Handlungsdispositionen bildeten einen wichtigen »Grund« innerer Reformen der frühen Bundesrepublik. Zugleich nutzten viele 45er die Forderung nach offener und kritischer Diskussion für ihren ganz persönlichen beruflichen Aufstieg, um sich gegenüber autoritären Vorgesetzten zu profilieren. Das galt nicht nur für Politiker wie Helmut Kohl, sondern auch für Journalisten der 45er-Generation, welche seit Ende der fünfziger Jahre einen neuen, kritischeren und aggressiveren, journalistischen Stil einführten.155 151 Vgl. Schneider, Pressefreiheit. 152 Vgl. Hodenberg, Konsens, S. 293–360. Vgl. auch die Kontrastierung des ostentativ kühlen und rationalen Argumentationsstils von Günter Gaus mit dessen Gegenüber, Rudi Dutschke, bei Herbert, Drei politische Generationen, S. 111 f. 153 Vgl. die Fallstudie zur Reedcuation in diesem Buch. 154 Herbert, Drei politische Generationen, S. 108 f. 155 Vgl. Bösch, Politik; Hodenberg, Konsens, S. 245–292.

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Die Umfragen zur Teilnahme an politischen Diskussionen lassen außerdem vermuten, dass seit den sechziger Jahren nicht nur die schmale, reformorientierte Elite der 45er, sondern die gesamte Alterskohorte eine große Affinität zu argumentativen Umgangsformen entwickelte. Die 45er artikulierten lediglich besonders deutlich eine breit verankerte soziokulturelle Tendenz, und sie speisten ihren betont sachlichen Diskussionsstil in die Kommunikationskultur der frühen Bundesrepublik ein. Die Umfragewerte ihrer Alterskohorte wurden zudem von jenen übertroffen, die das Kriegsende als Kleinkinder erlebten oder nach dem Krieg geboren wurden.156 Dabei handelte es sich um die erste Alterskohorte, die maßgeblich in der westdeutschen Nachkriegsgesellschaft sozialisiert worden war. Zugleich erlebten diese Personen in ihrer Jugend keine Umwälzung politischer Strukturen, sondern deren schrittweise Verfestigung, womit sich – so Clemens Albrecht – ihr Grundinteresse von der Stabilisierung zur Veränderung von Strukturen verschob.157 Aus dieser Alterskohorte ging die Generationseinheit der 68er hervor, also die Träger der westdeutschen Studentenbewegung. In deren Umfeld, so wird in der nächsten Fallstudie gezeigt, wurde die wachsende »Diskussionslust« der frühen Bundesrepublik besonders nachhaltig aufgesogen, noch einmal mit neuen Akzenten versehen und auf die Spitze getrieben. Insgesamt trug die Gesprächsform am Übergang von den sechziger zu den siebziger Jahren damit ein maskulines, junges und gebildetes Antlitz. In der westdeutschen Gesellschaft, vom Jugendkult ergriffen, vom Leistungsethos erfüllt und von Männern geführt, muss sich das auf den Nimbus von Diskussionen im kommunikativen Haushalt günstig ausgewirkt haben. Wer in einen diskursiven Modus fiel, der zierte sich mit dem symbolischen Kapital der Jugend, der Bildung und der Männlichkeit. Junge Männer mit höherer Bildung waren aber nicht nur jene, welche vom breiten Trend der Diskursivierung besonders deutlich erfasst wurden. Sie waren auch jene, die eine besonders große Chance hatte, sich in argumentativen Gesprächen durchzusetzen sowie mit rhetorischen und intellektuellen Fähigkeiten zu brillieren. Oder anders formuliert: Jene Westdeutschen, die politischen Diskussionen an der Wende zu den siebziger Jahren einen besonders hohen Stellenwert in ihrem Leben zuwiesen und die Aufwertung der Gesprächsform auf diese Weise vorantrieben, profitierten in der Regel auch von der Logik argumentativer Gespräche – anstatt ihr aufgrund von Schüchternheit, eines freundlichen Lächelns oder grober Wissenslücken zum Opfer zu fallen. Ein solch strategischer Nutzen allein reicht indes nicht aus, um das Verhalten der Akteure zu erklären. In der nächsten Fallstudie soll daher aus größerer Nähe das Redebedürfnis von 68ern und 68erinnen beleuchtet werden – im Öffentlichen wie im Privaten.

156 Vgl. in Baker u. a., S. 47, die Alterskohorten »Early Federal Republic« und vor allem »Late Federal Republic«. 157 Albrecht, Die Frankfurter Schule, S. 506 f.

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4. »Überall brach das Diskussionsfieber aus«. Die Entstehung der 68er-Generation aus ständigem Gespräch Die schillernde Chiffre »1968« verweist auf eine mythisch überhöhte Phase von politischem Protest und verdichtetem, soziokulturellem Wandel in den westlichen Industrienationen der späten sechziger Jahre. Im Zentrum der westdeutschen Ereignisse stand – Zeitgenossen zufolge – die »Revolte der Studenten«.1 Unter Rekurs auf Theoretiker der Neuen Linken kritisierten Studierende hierarchisch-autoritäre, illiberale Strukturen an der »Ordinarienuniversität« und im »Obrigkeitsstaat«, die Verabschiedung der Notstandsgesetze, den Einfluss der Springer-Presse und die Tabuisierung der Verbrechen des Nationalsozialismus, eine als repressiv empfundene Sexualmoral und ein als bürgerlich tituliertes Familienleitbild sowie – last but not least – den militärischen Kriegseinsatz der USA in Vietnam. Bei Happenings und Demonstrationen kam es zu Sachschäden und Verletzten, je nach Perspektive eingegrenzt oder angeheizt durch Polizeieinsätze. Nach dem Tod des Studenten Benno Ohnesorg im Juni 1967 erfuhren die öffentlichen Proteste eine Intensivierung und Radikalisierung, bevor die politische Bewegung ab 1969 in Splittergruppen zerfiel. Diese waren ebenso mit der entstehenden linken Alternativkultur verbunden wie mit den kommunistischen »K-Gruppen« und dem Terrorismus der Roten Armee Fraktion.2 Auf den Fernsehbildschirmen bundesdeutscher Haushalte wurden diese Ereignisse nicht neutral abgebildet, sondern wirkungsvoll in Szene gesetzt. Nach Bernd Weisbrod handelte es sich um die erste Jugendbewegung, die sich nachgerade »im Modus« des Fernsehens vollzog.3 Zu den spezifischen Insignien von »1968« in der frühen Bundesrepublik gehörten aber nicht nur das süffisante Spiel mit den Medien und eine große Gewaltbereitschaft, sondern ebenso die demonstrative Wertschätzung von Diskussionen. Die auch und gerade in kommunikativer Hinsicht als hierarchisch und autoritär empfundene westdeut1 Siehe etwa die zeitgenössische Analyse von Hermann, Revolte. Breiter zu »1968« als bundesdeutscher Kulturrevolution vgl. Siegfried, Sound, mit einer kommentierten Bibliografie S. 271 f. Einführend in jüngere Forschungsprojekte siehe die Sammelbände von Klimke u. Scharloth, Handbuch 1968; Hodenberg u. Siegfried. Hilfreich, wenngleich zeitgenössischen Perspektiven immer wieder verhaftet: Kraushaar, Achtundsechzig. Forschungsberichte mit Hinweisen auf die weitere Literatur bieten Weinhauer; Kraushaar, Zeitzeuge; Kersting, Enzauberung. Einführend in vergleichender u. transnationaler Perspektive: Gilcher-Holtey, 1968 – vom Ereignis zum Gegenstand; Fink; Klimke u. Scharloth, 1968 in Europe; Frei, 1968. 2 Zu den »K-Gruppen« und dem »Kommunistischen Bund« siehe Steffen sowie, auch als Selbstzeugnis zu lesen, Koenen, Das rote Jahrzehnt. Zu der jetzt intensiven Terrorismusforschung siehe Haupt und zum linksalternativen Milieu die Projektskizze von Reichardt, Wärme. 3 Vgl. Weisbrod, Medien, S. 281. In mediengeschichtlicher Perspektive hervorzuheben sind Fahlenbrach; Kraushaar, 1968 und die Massenmedien, sowie demnächst die Dissertationsschrift von Meike Vogel, Universität Bielefeld.

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sche Gesellschaft sollte aufgebrochen, das »kommunikative Beschweigen« (Hermann Lübbe) der Vergangenheit beendet, Mitsprache, Kritik und Widerspruch ermöglicht werden – an den Universitäten, aber auch in Familien, Parteien und Verbänden. Der utopisch überhöhte Glaube an herrschaftsfreie Kommunikation trieb die Proteste voran. Die kommunikative Gattung erfuhr in deren Verlauf eine nochmalige Aufwertung und Veränderung, produzierte Enttäuschungen und schrieb sich in den Habitus vieler Aktivisten nachhaltig ein. »1968« vollzog sich daher – so meine These – auch und gerade »im Modus« der Diskussion. Ebenso wie für »1968« ist für die Formel der »68er« vor allem eine gewisse Unschärfe konstitutiv. Als pejorative Fremdbeschreibung kreiert, dient sie inzwischen positiven Selbststilisierungen. Von zwei Seiten wird so ein subjektives Zusammengehörigkeitsgefühl von bestimmten Personengruppen zusammenliegender Jahrgänge als Generation entworfen.4 Es handelt sich dabei im Kern um die zwischen 1967 und 1969 im linken Spektrum politisch aktiven Studierenden, Doktorandinnen und Doktoranden sowie teilweise auch jungen Assistentinnen und Assistenten, die sich um eine Demokratisierung von Hochschule und Gesellschaft bemühten oder zumindest mit entsprechenden Aktionen sympathisierten. Viele der an den Protesten direkt oder indirekt beteiligten Personen, die parallel oder leicht zeitversetzt mit alternativen Lebensformen experimentierten, entwickelten im Verlauf der Protestereignisse ähnliche Geschmacksmuster und Verhaltensdispositionen sowie ein distinktes Generationenbewusstsein. Die 68er-Generation ist insofern nicht als stabile Trägergruppe der Studentenbewegung anzusehen, sondern als deren Ergebnis5 – und zwar auch als Ergebnis stunden-, tage-, ja nächtelanger Diskussionen. Das zunehmend auf »Diskussion« angelegte kommunikative Klima der frühen Bundesrepublik wurde, so die nun zu entwickelnde These, von dieser Generation inkorporiert und auf die Spitze getrieben. Der bloße Befund, im Rahmen der Studentenproteste sei intensiv argumentiert worden, wäre allerdings wenig originell. Kaum eine Analyse der Proteste kommt ohne einen Hinweis auf die von der amerikanischen »Free Speech Movement« übernommene Forderung nach Redefreiheit, ohne die Erwähnung 4 Vgl. zu wechselnden historischen Deutungen »der« 68er Kersting, Entzauberung. Zu »Generation« als subjektiv produzierter Konstruktion sozialer Formationen im obigen Sinne siehe den kanonischen Text von Mannheim, zuletzt die Sammelbände von Jureit u. Wildt; Reulecke, Generationalität, und die auf die deutsche Geschichte des 20. Jahrhunderts bezogene Skizze von Herbert, Drei politische Generationen. 5 So auch Gilcher-Holtey, 68er Bewegung, S. 124. Vgl. neben der knappen, aber treffenden Analyse von Herbert, Drei politische Generationen, S. 109–114, vor allem Fahlenbrach, S. 11–115, mit methodisch-theoretischen Überlegungen zu 1968 als habituellem Generationenkonflikt. Ergänzend siehe einige der zahlreichen Selbstbeschreibungen von Personen, die sich selbst als 68er fassen: Kätzel; Bude, Altern, zuletzt unter anderem Enzensberger; Schneider, Rebellion. Bibliografische Angaben zu der großen Masse an älteren autobiografischen Texten der 68er-Generation bei Kersting, Entzauberung.

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von Podiumsdiskussionen, Teach-ins oder Sit-ins oder ohne ein Foto aus, das Studierende mit Professoren oder Polizeibeamten im mündlichen Schlagabtausch zeigt.6 Allerdings wird der Gesprächsform selbst in der Forschung wenig Aufmerksamkeit gewidmet. Einerseits figurierte sie als eher neutrale Hülle, durch die hindurch mehr oder weniger sachliche Kontroversen ausgehandelt und auf deren Grundlage eine »transnationale Gegenöffentlichkeit« geschaffen worden sei. Andererseits wird gerade der Bruch mit mündlichen Formen des Meinungsaustauschs betont, die Ironisierung der parlamentarischen Demokratie und die Bereitschaft zur Gewalt. Beide Deutungsmuster schreiben punktuell zeitgenössische Wahrnehmungen fort und verkennen die zentrale Bedeutung sowie die performativen Effekte von Diskussionen in der Studentenbewegung.7 Im Folgenden wird zunächst gezeigt, inwiefern das, was die Akteure als »Diskussion« bezeichneten, nicht nur ein Mittel, sondern auch einen intrinsisch verfolgten Zweck, ein Machtinstrument und vor allem ein Movens der Proteste darstellte. »Überall«, so erinnert die heutige Journalistin und Publizistin Barbara Sichtermann, in den späten sechziger Jahren Studentin der Sozialwissenschaften und der Volkswirtschaftslehre an der Freien Universität Berlin, »brach das Diskussionsfieber aus, die bisher Gegängelten wollten nun ›kritisieren‹«.8 Danach geht es um die Frage, wie sich dieses »Diskussionsfieber« über den lebensgeschichtlichen Hintergrund der Akteure erklären lässt, woher die Gesprächsform also ihre Dringlichkeit bezog. Auf dieser Grundlage werden in performativer Perspektive die sozialen und sozialsymbolischen Effekte der so produzierten Dauerdiskussionen beschrieben, die ebenso der Vergemeinschaftung nach innen dienten wie nach außen der Distinktion. Der anschließende Ausblick in die siebziger und achtziger Jahre deutet an, dass die Diskussionslust, die in der frühen Bundesrepublik insgesamt bereits massiv gewachsen war, um und nach 1968 einen Höhepunkt erreichte, aber dann an Grenzen stieß, Aporien produzierte und Gegenbewegungen freisetzte. Die Fallstudie richtet sich nicht ausschließlich, aber schwerpunktmäßig auf Frankfurt am Main und West-Berlin als Zentren studentischen Protests – und öffentlich in Szene gesetzter kommunikativer Energie. Beispielsweise zeichnete die in Berlin ansässige »Kommune 2« (K2) ausgewählte Diskussionen auf Tonband auf, fertigte auf der Basis der Mitschnitte Wortprotokolle an und veröffentlichte diese in den späten sechziger Jahren.9 Eine solche Publikations6 Vgl. etwa Gilcher-Holtey, 68er Bewegung, S. 25–35, S. 56–61; dies., Transfer. 7 Ausnahmen sind das laufende Forschungsprojekt von Belinda Davis, Rutgers University, sowie die inzwischen abgeschlossene linguistische Habilitationsschrift von Joachim Scharloth, Universität Zürich. Davis beschreibt das Ende (weiblicher) Schweigsamkeit, Scharloth fokussiert dezidiert die performative Dimension von Sprechakten, betont aber die Ironisierung und Abwendung von Diskussion, so jedenfalls Scharloth, Ritualkritik. Die Habilitationsschrift konnte noch nicht eingesehen werden. 8 Sichtermann, S. 109. 9 Kommune 2, Versuch. Zu den Autoren zählten Christl Bookhagen, Eike Hemmer, Jan Raspe, Eberhard Schultz, Marion Stergar.

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praxis semi-privater Gespräche über teilweise höchst intime Gegenstände ist ein wichtiger Aspekt einer Kulturgeschichte mündlicher Kommunikation, weswegen die entsprechende Fallstudie gezielt mit publizierten Quellen arbeitet, mit bereits zeitgenössisch edierten Protokollen, Flugblättern, Fotos und Selbstzeugnissen. An ihnen lässt sich die enorme Bedeutung ablesen, welche die Akteure der kommunikativen Gattung Diskussion coram publico zuschrieben und damit das symbolische Kapital, das der Gesprächsform inzwischen innewohnte.10 Daneben werden wenige Interviews, die Tagebücher einer Aktivistin der Studentenbewegung sowie Zeitungsartikel zur westdeutschen Studentenbewegung in die Analyse integriert.11

4.1 Was wollt ihr eigentlich? »Diskutieren!« Organisatorisch und intellektuell wurde die westdeutsche Studentenbewegung nicht nur vom Sozialistischen Deutschen Studentenbund (SDS), sondern auch von anderen linksliberalen Studentenorganisationen getragen. Sie verstanden sich als Speerspitze jener Außerparlamentarischen Opposition (APO), die sich im Verlauf der sechziger Jahre gegen die Verabschiedung der Notstandsgesetze und die mangelnde innere Demokratisierung der Bundesrepublik formiert hatte.12 Unter den öffentlich Protestierenden waren Kinder aus Akademikerhaushalten und Männer überproportional vertreten, wobei genaue Zahlen ausstehen. Das hängt unter anderem mit dem Ausmaß zusammen, in dem die quantitativen Schätzungen der damals aktiven Personen auseinandergehen. Ulrich Herbert geht relativ großzügig von »5000 Aktivisten und etwa 30 000 Enthusiasmierte[n]« aus und weist zugleich darauf hin, selbst wenn man »eine vielleicht zehnmal so große Gruppe von Sympathisanten« hinzunehme, käme man auf höchstens fünf bis zehn Prozent der demografischen Altersgruppe.13 Diese Personengruppe war zudem nach innen äußerst heterogen, wobei neben den verschiedenen politischen Flügeln auch zwischen Zentrum und Peripherie zu unterscheiden ist. Es kann daher nicht darum gehen, »die« Studenten- oder 10 Eine Sammlung einschlägiger zeitgenössischer Texte bei Sievers. Zu zeitgenössischen Deutungen der 68er-Bewegung siehe Kersting, Unruhediskurs. Einen hilfreichen Einblick in die Archiv- und Quellenlage zu den Studentenprotesten bieten Gassert u. Richter; Becker u. Neumann. 11 Bestand E 0702 (später 12.12): Ausschnitte aus allen Berliner und überregionalen Zeitungen von 1963–1970 zu den Studentenunruhen in West-Berlin [135 Ordner]; Bestand: Nl. Heide Berndt: Tagebücher, private Korrespondenz, Notizblöcke 1962 bis 1994 [41 Aktenordner, 1 Karton], APO-Archiv. 12 Richter, Außerparlamentarische Opposition, gliedert die APO der Jahre 1966 bis 1969 in drei Teilgruppen, nämlich die Studentenbewegung um den SDS, die Bewegung gegen die Notstandsgesetze sowie die Ostermarschbewegung. Zur Kritik siehe Weinhauer, S. 413 f. Zur Genese der APO noch immer informativ: Otto. Zur Programmatik der Studentenbewegung im engeren Sinne siehe Kimmel. 13 Herbert, Drei politische Generationen, S. 103.

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»die« 68er-Bewegung als geschlossene Einheit erfassen zu wollen. Beide Label sind nur als heuristische Hilfskonstruktionen zu verstehen.14 Schon zeitgenössisch wurde gerätselt, was die protestierenden Studierenden eigentlich wollten. 1968 veröffentlichte der Pädagoge, Publizist und Historiker Hermann Glaser zusammen mit seinem Kollegen Axel Silenius eine Aufsatzsammlung über den »Protest der Jugend«, die mit der Bemerkung begann: »Sinnvolle außerparlamentarische Opposition, Spaß am Radau oder antidemokratische Umtriebe? Das ist die Frage angesichts der Studentenunruhen in den deutschen Universitätsstädten.«15 Aber nicht nur die Polizei im Verbund mit den kulturellen und politischen Eliten zerbrach sich den Kopf über die Motive der Protestierenden, sondern auch die Presse und weniger exponierte Zeitgenossen. Im April 1968 berichtete die konservative Tageszeitung »Die Welt« beispielsweise von Demonstrationen in West-Berlin. »Immer wieder«, so die Beschreibung, sei »von den Zuschauern die bohrende Frage« formuliert worden: »Was wollt ihr eigentlich?« Die Antwort lautete: »Diskutieren!«16 Für viele Zeitgenossen war diese Aussage allerdings wenig glaubhaft, und tatsächlich spalteten sich die Protestgruppen an der Konsequenz, mit der sie an mündlichem Meinungsaustausch als einem positiv bewerteten Handlungsmuster festhielten, von Anfang an nach innen auf. Einige Gruppierungen setzten von vornherein auf Provokation und damit auf die Ironisierung konventioneller Formen politischer Aushandlungen, wozu auch die als Ritual begriffenen Diskussionsveranstaltungen gehörten.17 Dieter Kunzelmann von der in München ansässigen Künstlergruppe »Subversiven Aktion« warb bereits 1963 in einem Rundbrief für eine revolutionäre Bewegung und konstatierte: »Der Worte sind genug gewechselt…«18 Im Mai 1967 wurde die wenige Monate zuvor in Berlin 14 Während »Studentenbewegung« in der Forschung als ein theoretisch eher wenig elaborierter Terminus fungiert, der eng an zeitgenössische Deutungsmuster angelegt ist, hat insbesondere Gilcher-Holtey, 1968 – Vom Ereignis zum Gegenstand, die Kategorie der »68er-Bewegung« als Alternative stark gemacht. Dieser Terminus ist insofern sinnvoll, als er die über die Hochschulreform und politische Topoi im engeren Sinne hinausgehende soziokulturelle Agenda und Basis der Proteste verdeutlicht. Er ist aber auch problematisch, weil das sozialwissenschaftliche Konzept »sozialer Bewegungen« mit starken Prämissen über kollektive Orientierungen und deren Struktur operiert, die übrigens ebenfalls zeitgenössische Perspektiven der siebziger Jahre fortschreiben. So bei Rucht. Im Folgenden wird daher meist in stärkerer Anlehnung an die Quellensprache von der Studentenbewegung im engeren Sinne gesprochen, von den sich parallel und im personellen Verbund entwickelten alternativen Lebensformen, der Neuen Linken, dem linksalternativen Milieu und von 68ern und 68erinnen. 15 Glaser u. Silenius, S. 5. 16 An., Immer wieder die Frage: »Was wollt ihr eigentlich?« Stundenlang diskutieren Berliner mit den Demonstranten, in: Die Welt, 17.4.1968, S. 13, Ordner E 0702, April 1968/1, Zeitungsausschnittssammlung, APO-Archiv. 17 Vgl. Böckelmann u. Nagel; Langhans u. Teufel sowie die Analyse von Scharloth, Ritualkritik. 18 Zit. n. Enzensberger, S. 21.

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gegründete »Kommune 1« (K1), zu der Kunzelmann inzwischen gehörte, vom SDS ausgeschlossen, und zwar auch mit der Begründung, sie entzögen sich dem »Prinzip der demokratisch argumentierenden Auseinandersetzung im Verband«.19 Nach innen argumentierte man in der K1 freilich munter weiter, und »[o]rdentliche Studenten, die wir waren«, so die Erinnerung von Mitbewohner Ulrich Enzensberger, »führten wir über unsere Diskussionen Protokoll«.20 Die Studentenbewegung war bei der Wertschätzung von Diskussionen also in sich hochgradig ambivalent – und doch stand genau diese Gesprächsform im Kern der Bewegung, sie trieb die Proteste voran und schrieb sich in den Erfahrungshaushalt und den Habitus der Beteiligten nachhaltig ein. Heuristisch ist es ohnehin nicht sinnvoll, den öffentlich artikulierten Wunsch nach Diskussion als vorgeschobene Behauptung ad acta zu legen. Er ist stattdessen in ethnologischer Perspektive ernst zu nehmen und genauer zu betrachten. Bereits im Zentrum jener Konflikte, die den Zeitgenossen als Auftakt der westdeutschen und insbesondere der West-Berliner Studentenbewegung galten, stand ein idealiter argumentatives Gespräch. 1965 untersagte der Rektor der Freien Universität Berlin, Prof. Dr. Herbert Lüers, eine für den Mai des Jahres geplante Podiumsdiskussion im Auditorium Maximum, weil einer der eingeladenen Redner, der Publizist Erich Kuby, Hausverbot hatte. Kuby hatte sich kritisch zum Namen »Freie« Universität geäußert. Die Veranstaltung fand schließlich – außerhalb des Universitätsgeländes – dennoch statt, aber ein Teil der Studierenden war alarmiert. Flugblätter wurden verteilt, und das Studentenparlament beauftragte den Allgemeinen Studentenausschuss (AStA), in Verhandlungen mit dem Rektor zu treten, um »die Bestätigung unseres Rechtes, jedermann zu jeder Zeit über jedes Thema in unserer Freien Universität zu hören und mit ihm zu diskutieren, zu erwirken«.21 Nach Lüers’ Ansicht bestand ein solches Recht aber keineswegs, und die Fronten verhärteten sich.22 Knapp ein Jahr später kam es zu einem von rund 2000 Studenten betriebenen Sitzstreik im HenryFord-Bau der Freien Universität Berlin. »Dieses erste ›sit-in‹«, so Glaser und Silenius, »dauerte bis gegen Mitternacht; der Rektor forderte schließlich Polizei an. Die sitzenden und diskutierenden Studenten wurden aus der Halle des Universitätsgebäudes getragen.«23 19 Sozialistischer Deutscher Studentenbund/Landesverband Berlin. Pressemitteilung [Mai 1967], in: Lönnendonker, Freie Universität Berlin, Teil 4, S. 428 f. Zur »K1« siehe Siegfried, Sound, S. 86–102, zu ihren Aktionskonzepten Holmig. 20 Enzensberger, S. 109. 21 Anhang zum Protokoll der 5. Sitzung vom 14.5.1965, zu Tagesordnungspunkt 3/III. Diskussion über Redeverbot für Kuby, in: Lönnendonker, Freie Universität Berlin, Teil 4, S. 202. Die Formulierung orientierte sich am Free Speech Movement der University of Berkeley. 22 Vgl. die knappen Ausführungen von Gilcher-Holtey, 68er Bewegung, S. 29 f. Zu Defiziten und Reformbedarf der Universität in der Perspektive von Studierenden und jüngeren Akademikern Mitte der sechziger Jahre siehe stellvertretend Nitsch u. a. 23 Glaser u. Silenius, S. 5. Einführend zur Universitätsgeschichte der sechziger Jahre siehe Jessen u. John. Zur Hochschulreform: Rudloff.

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In der Hochphase der Studentenbewegung, das heißt von 1967 bis 1969, war die Forderung nach Diskussionen omnipräsent. Idealiter symmetrisch angelegte Wortgefechte galten den Studierenden als conditio sine qua non der angestrebten Demokratisierung von Hochschule und Gesellschaft, als Mittel und Zweck im Zuge der Überwindung autoritärer, illiberaler Strukturen und des Aufbaus einer demokratischen Gegenöffentlichkeit.24 Nicht nur an den Universitäten, sondern auch in allen anderen gesellschaftlichen Institutionen wie Familien, Verbänden, Kirchen und Kindergärten sollte eine strukturelle sowie habituelle Demokratisierung ermöglicht werden, was auch hieß, Raum für argumentative Aushandlungsprozesse anstelle autoritärer Entscheidungen und starrer Konventionen zu schaffen. Selbst wenn man innerhalb der Studentenbewegung mit Pavel A. Richter zwischen den »Linkssozialisten« und den »Anti-Autoritären« unterscheidet, wobei die Ersteren die Entdemokratisierung der Bundesrepublik durch organisatorisch gebündelte Programme zu verhindern suchten und die Letzteren stärker die autoritären Strukturen der westdeutschen Gesellschaft durch provokative (und auch spontane) Aktionen offenlegen wollten,25 so hielten doch beide an »Diskussionen« als Ziel der Proteste fest. Die Anti-Autoritären, so informierte ein unter anderem von Rudi Dutschke herausgegebenes Büchlein über die Studentenbewegung, bemühten sich, »die zur reinen Akklamation erstarrten Formen der parlamentarischen Demokratie und deren bürokratischen Machtapparat aufzubrechen«, und sie versuchten, »Vorstellungen von direkter Demokratie zu verwirklichen«. Dazu gehörte »direkte Aktion«, aber auch genauso »rationale Diskussion«.26 Unter Rekurs auf Meinungs- und Redefreiheit, Selbst- und Mitbestimmung forderten Studierende dabei zunächst Professoren und Dozenten zum Gespräch heraus, manchmal mündlich oder mit Hilfe von Flugblättern und Resolutionen.27 Das brachte den Lehrbetrieb an einigen Orten zum Stocken. Beispielsweise wurde im Januar 1968 am Romanischen Seminar der Freien Universität Berlin vorübergehend der Lehrbetrieb eingestellt. Vorausgegangen, so berichtete 24 Vgl. die zeitgenössischen Sammlungen von programmatischen Texten zur Hochschulreform von Leibfried; Jacobsen u. Dollinger; Schmidt u. Thelen; Bergmann u. a.; Zoller. Informativ sind auch die Analysen von Journalisten, die der Studentenbewegung nicht angehörten, sie aber wohlwollend kommentierten, wie Mager u. Spinnarke; Hermann, Revolte. Speziell zu Konzeptionen und Aktionsformen der »Gegenöffentlichkeit« siehe knapp, aber treffend, Kraushaar, 1968 und die Massenmedien, S. 336–340. 25 Vgl. Richter, Außerparlamentarische Opposition. 26 Bergmann u. a., erste Innenseite. Ähnlich erklärte Claussen, S. 7: »Auf dem Schild der Studenten stand eine Forderung, die einst die bürgerliche Wissenschaft gegen den Feudalismus formuliert hatte: Öffentlichkeit und Diskussion. Diesem Prinzip von Öffentlichkeit ist die Studentenbewegung verpflichtet geblieben: ihr Organisationsprinzip ist das der großen Diskussion mit anschließender plebiszitärer Abstimmung.« Hervorhebung im Original. 27 »Das Zauberwort«, so konstatiert auch Wolfgang Schuller, der hier eine Flugblattsammlung zur Studentenbewegung beschreibt, »das für harmlose Außenstehende das unschuldige Verlangen nach Liberalität oder gar ›herrschaftsfreiem Diskurs‹ assoziieren sollte, hieß Diskussion.« Schuller, S. 40. Mit anderen Akzenten Kopperschmidt.

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die »BZ« am 25. Januar 1968, »waren Tumulte während einer Übung. Studenten hatten den Dozenten Dr. Friedrich aufgefordert, mit ihnen über die Problematik des Grundstudiums zu diskutieren. Die Übung wurde daraufhin abgebrochen.«28 Der SDS war ohnehin überzeugt, dass nicht nur einzelne Dozenten, sondern die Universitätsleitung insgesamt den Austausch von Argumenten auf Augenhöhe unterbinden wolle. Schon im Mai 1967 erklärte der Berliner Landesverband des SDS in einer Pressemitteilung, die Universitätsbürokratie sei »offenkundig unfähig, auch nur rational über Reformen mit Studenten zu diskutieren«, und betreibe eine sich »verschärfende[n] Restriktionspolitik gegen die unruhig gewordene Studentenschaft«.29 Vor diesem Hintergrund habe sich »die hochschulpolitische Auseinandersetzung auf ihren abstrakteren Kern« reduziert, nämlich auf die Frage, »ob die wissenschaftliche Anstalt Universität nach dem Gesetz der rationalen Auseinandersetzung unter in dieser Auseinandersetzung Gleichen zu strukturieren ist oder aber nach dem Gesetz, daß im Zweifelsfalle die institutionelle Autorität entscheidet«.30 Und weiter: »Der SDS weiß, daß er in dieser Auseinandersetzung nur dann eine treibende Kraft sein kann, wenn er in seinem Verbandsleben die demokratische, rationale Diskussion zum Zentrum macht.«31 Zumindest sicherte das Bekenntnis zu freiem Meinungsaustausch dem SDS eine breite und immer breiter werdende Zustimmung unter den Studierenden. Zu diesem Schluss kam eine Expertise über »Die Protestbewegung unter den Studenten der Freien Universität Berlin«, die 1967 vom Berliner Senator für Inneres herausgegeben worden war: Ein »erheblicher Teil der Studenten«, nämlich etwa 3 bis 4 000, habe aufgrund einzelner Handlungen der jeweiligen Rektoren den Eindruck gewonnen, es werde versucht, »Meinungs- und Informationsfreiheit anzugreifen und einzuschränken«. Wann immer »begründet oder unbegründet« der Eindruck entstehen konnte, dass »diese Freiheitsrechte bedroht seien, reagierte diese Studentengruppe mit Protesten, und zwar ohne Rücksicht auf den sachlichen Anlaß für die betreffende Maßnahme«.32 Nach dieser Schilderung waren nicht die verhandelten Inhalte, sondern das Recht auf Meinungsäußerung selbst Movens der Mobilisierung. Die Proteste gewannen auch vor diesem Hintergrund eine Eigendynamik, die sich schwer eingrenzen ließ. Selbst die konservative Studentenorganisation RCDS solidarisierte sich nach einer Durchsuchungsaktion in den Räumen des SDS im Januar 1967 mit ihrem politischen Gegner. Man stimme zwar »politisch mit dem SDS in keinem Punkt überein«. Gleichwohl werde man sich »mit aller Kraft dafür einsetzen, daß auch 28 An., Ernste Zuspitzung, S. 8. Vgl. zeitgenössisch auch Hager, S. 41. 29 Sozialistischer Deutscher Studentenbund/Landesverband Berlin. Pressemitteilung [Mai 1967], in: Lönnendonker, Freie Universität Berlin, Teil 4, S. 428 f., hier S. 428. 30 Ebd. 31 Ebd. 32 Die Protestbewegung unter den Studenten der Freien Universität Berlin, S. 6 f.

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ihm das Recht und die Möglichkeit zur freien politischen Meinungsäußerung nicht beschnitten wird«.33 Vor diesem Hintergrund, so schloss der Bericht des Senator für Inneres, fiele es dem SDS nun relativ leicht, den falschen Eindruck zu erwecken, auch zu »Krawallen« sei es nur gekommen, weil die Polizei aus politischen Gründen das Demonstrationsrecht versagt habe.34 Dieser Bericht räumte also eine gewisse Mitschuld von Rektoren an den Protesten ein, weil sie den Eindruck hatten entstehen lassen, das Recht auf freie Meinungsäußerung zu verhindern. Diese Ansicht teilte Fritz Leonhardt, Professor für Ingenieurwissenschaften und Rektor der Universität Stuttgart, der 1968 ein Büchlein über die Studentenbewegung verfasste, das von der »Stuttgarter Zeitung« für die Ausgewogenheit der Darstellung gelobt wurde.35 Wer auf den Wunsch nach Diskussion mit Verboten reagiere, erklärte der Professor, verhalte sich falsch und heize die Proteste an.36 Ähnlich fiel das Urteil linksliberaler Journalisten aus. Friedrich Mager, geboren 1928, und der 1940 geborene Ulrich Spinnarke, beide Redakteure beim Bayerischen Rundfunk, bezogen in einer 1967 veröffentlichten Monografie über die Studentenbewegung eindeutig Stellung für die Protestierenden. Denn die öffentlichen Reaktionen »bestätigten im Nachhinein sehr eindrücklich, daß die Studenten berechtigten Anlaß hatten, Kritik an einer solchen Gesellschaft zu üben«. Die Journalisten waren nicht zuletzt über die mangelnde Diskussionsbereitschaft der westdeutschen Gesellschaft irritiert. »Ohne den Inhalt der studentischen Kritik zur Kenntnis zu nehmen«, disqualifiziere man die Protestierenden. »An die Stelle des Arguments« sei so »die Diffamierung getreten«.37 Und weiter: »Macht wird um so härter demonstriert, je schwächer sie begründet wird.«38 Tatsächlich stieß die von den Aktivisten entfaltete kommunikative Energie außerhalb der Bewegung immer wieder an Grenzen. Das galt, wenn Funktionseliten sich dem Gespräch entzogen, aber auch, wenn sich etwa Werksarbeiter nicht wie geplant durch Gespräche mobilisieren ließen, weil die Sprache der APO sie nicht erreichte. »In manchen Jugendgruppen«, so stellte Fritz Leonhardt in seiner kleinen Studie fest, gebe es »einen Jargon, der von keinem normalen Menschen mehr verstanden werden« könne.39 Reichliche Beispiele für die 33 34 35 36

Zit. n. ebd., S. 7. Ebd., S. 7. Thier, S. 89. Leonhardt, S. 57 f.: »Einen anderen Grund zur Eskalation von Demonstrationen geben wir den Studenten, wenn wir Verbote aussprechen, die man mit gesundem Menschenverstand und normalem Empfinden nicht zu verstehen vermag. […] Wie mancher Antrag, Vorträge oder Podiumsgespräche in Universitätsräumen abhalten zu lassen, wurde schon abgelehnt! Jedesmal wurden Emotionen geweckt, die Antragsteller wurden gereizt, und sie demonstrierten gegen solche Verbote und veranstalteten ihre Diskussionen entweder unter freiem Himmel oder in irgendeinem Raum außerhalb der Universität.« Hervorhebung im Original. 37 Mager u. Spinnarke, S. 151. 38 Ebd., S. 152. 39 Leonhardt, S. 20. Der Autor schloss gleichwohl mit dem Plädoyer für Verständnis. Die Sprache der APO, ihr theoretisch-soziologischer »Jargon« sowie die Integration neomarxis-

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Desavouierungen der Forderung nach Diskussion lieferte zudem die Presse, die sich in die Lager aggressiver Angreifer, kritischer Verteidiger und bedingungsloser Unterstützer schied.40 Der ersten Gruppe, an deren Spitze die in WestBerlin ansässige »Bild-Zeitung« stand, ist auch der konservative »Rheinische Merkur« zuzuordnen. Er berichtete am 5. Januar 1968 verärgert: Obwohl in der Bundesrepublik ein Überangebot an Diskussionsakademien und Podiumsgesprächen besteht, hielt Rudi Dutschke es für notständlich angebracht, sich am Heiligen Abend in die Berliner Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche zu verfügen, um Plakate gegen den Vietnam-Krieg am Altar abstellen zu lassen. Als Kirchendiener dagegen einschritten, bemächtigte Dutschke sich der Kanzel. Bei der Abdrängung aus der Kirche wurde er durch einen Krückstock am Kopf verletzt. / Drei von der Protestitis geplagte Bremer Pastoren telegraphierten daraufhin an den Pastor der Gedächtniskirche: »Auch Jesus hat schließlich die Ordnung des Tempels um der Sache willen gestört«, und forderten, Studenten-Diskussionen in der Kirche zuzulassen und sich bei Dutschke zu entschuldigen. / Dies ließen sich die Kommunarden und Störtrupps des SDS nicht zweimal sagen: Ihrer fünfzig erschienen beim Silvester-Christgottesdienst – ohne Dutschke – und brüllten in Sprechchören: »Wir wollen diskutieren!« […] / Den von der Protestitis befallenen Diskutiten ist zu empfehlen, beim nächsten Bundesliga-Spiel das Fußballfeld mit dem Ruf: »Wir wollen diskutieren!« zu blockieren. / Sie würden dann ein blaues Wunder erleben, ohne mit dem Offizial-Delikt der mit Gefängnis bis zu drei Jahren bedrohten Störung des Gottesdienstes in Konflikt zu kommen.41

Wie in kommunikationsgeschichtlicher Perspektive auffällt, wurden die protestierenden Studierenden in dieser Darstellung zwar abgewertet und ihre Forderung »Wir wollen diskutieren!« ad absurdum geführt. Dennoch geschah dies nicht über eine Abwertung der Gesprächsform per se, sondern weil das Anliegen nach symmetrischer Kommunikation als monologischer Sprechchor vorgetragen worden war, und zwar in einem Raum, der konventionell und aus der Perspektive der Autoren mit guten Gründen vor Diskussion geschützt war: der kirchliche Gottesdienst. Schließlich rekurrierte der Artikel auf das bereits bestehende »Überangebot an Diskussionsakademien und Podiumsgesprächen«, was eine Distanz zum argumentativen Gespräch erkennen lässt, aber auch das Bewusstsein, es würde in der Bundesrepublik in eigens dafür hergestellten Räumen ausreichend kultiviert. tischer, radikaldemokratischer und später auch psychoanalytischer Termini in das alltäglich verwendete Vokabular ist von linguistischen Studien untersucht worden. Vgl. Scharloth, Sprache; Mattheier; Wengeler, »1968«; Straßner; Czubayko; Jäger, Linke Wörter. Zur in Flugblättern verwendeten Sprache siehe Brunotte. Breiter zur Interaktion zwischen Studenten- und Arbeiterbewegung, hier am Beispiel von Westdeutschland und Italien, siehe Tolomelli. 40 So Kraushaar, 1968 und die Massenmedien, S. 331. 41 M. R., Diskutitis – Protestitis, in: Rheinischer Merkur, 5.1.1968, S. 3, Ordner 0702, Januar 1968/1, Zeitungsausschnittssammlung, APO-Archiv.

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In der Tat bestanden in der Bundesrepublik inzwischen zahlreiche »Diskussionsakademien«, aber Angehörige der Neuen Linken sahen die Funktion einer »diskutierenden Öffentlichkeit« nicht zuletzt in der Entlarvung von Manipulation in diesen etablierten Foren, der Zerschlagung von Autoritarismus und der Aufdeckung von Tabus.42 Auch vor diesem Hintergrund beschlossen Mitglieder des SDS oder anderer Studentenorganisationen des politisch linken Spektrums immer wieder, das Gespräch mit den politischen und kulturellen Eliten demonstrativ zu stören. Das mag ein Konflikt in Köln vom Februar 1969 veranschaulichen. Der rechtsliberale AStA der Universität Köln hatte eine Veranstaltung zum Thema »Große Koalition und kein Ende« organisiert, bei der Vertreter der drei Bundesparteien auf dem Forum diskutierten. Etwa sechzig Mitglieder des SDS nutzten diese Gelegenheit, um der Bundesregierung eine Mitverantwortung für die Verschleppung mehrerer Intellektueller der südkoreanischen Opposition von West-Berlin nach Südkorea zuzuschreiben. Die SDSler verlangten von den anwesenden Politikern eine Stellungnahme für die inzwischen Verurteilten und stellten nach rund einer Stunde ein Ultimatum mit den Alternativen, einer vorgelegten Resolution zuzustimmen oder die Veranstaltung zu beenden. Das Podium wurde schließlich mit Eiern und Tomaten beworfen und die Veranstaltung aufgelöst. Besonders der SPD-Bundesgeschäftsführer Hans-Jürgen Wischnewski, der ebenfalls auf dem Podium saß, ließ sich jedoch nur mit Mühe von dort vertreiben. Und er versuchte auch danach noch, das Streitgespräch fortzusetzen.43 Professoren, Politiker und Intellektuelle taten sich mitunter auffällig schwer, Gespräche mit der Studentenbewegung schlicht abzubrechen oder nicht zu ermöglichen. Manch einer traute sich kaum, die studentische Forderung nach »Diskussion« als per se illegitimen Anspruch abzutun. Am 27. Januar 1969 suchten Mitglieder der Außerparlamentarischen Opposition eine Sitzung des »Bergedorfer Gesprächskreises« (BGK) auf, die zwar öffentlich angekündigt worden war, aber keineswegs öffentlich zugänglich sein sollte.44 »Wir wollen diskutieren«, zitierte die Presse die Forderungen der Aktivisten und bemerkte weiter: »Nach einer Auseinandersetzung bieten Prof. Eugen Kogon und Dr. Kurt A. Körber der APO an, mit ihnen über ein Thema des BGK zu diskutieren. Die herbeigerufene Polizei kann sich zurückziehen.«45 Hier hatten sich also der Publizist und Politikwissenschaftler Eugen Kogon sowie der Begründer des »Bergedorfer 42 Vgl. Negt, Studentischer Protest; Negt u. Kluge, aber auch den Überblick zu Formen und Orten der eingeforderten Demokratisierung von Vilmar, Bd. 1 u. 2. 43 Vgl. Holl u. Glunz, S. 90 f. 44 Der »Bergedorfer Gesprächskreis« wurde 1961 von Kurt A. Körber als Gesprächsforum zwischen Wissenschaft und Wirtschaft zu Fragen allgemeinen Interesses gegründet. Die Protokolle sämtlicher Treffen finden sich im Internet: www.koerber-stiftung.de/internationale_ verstaendigung/bergedorfer_gespraechskreis/protokolle/index.html. 45 Zit. n. Schmid u. Wegner, S. 145. Es handelte sich um die 32. Tagung des »Bergedorfer Gesprächskreis« in Hamburg-Bergedorf im Bergedorfer Schloss, Thema: Die Biologie als technische Weltmacht.

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Abb. 6 und 7: Kommunikation. Bild oben: Vom SDS gesprengte AStA-Forumsveranstaltung mit SPD-Bundesgeschäftsführer Hans-Jürgen Wischnewski (3. v. r.), Köln 1969 Bild unten: Hans-Jürgen Wischnewski im anschließenden Streitgespräch

Gesprächskreis«, Kurt A. Körber, Unternehmer und Mäzenat, dem Drängen des SDS gefügt. Die Forderung nach »rationaler Diskussion«, bei der sich vermeintlich das bessere Argument durchsetzte, weshalb die Machthaber nichts zu befürchten hätten, funktionierte in der westdeutschen Gesellschaft der späten sechziger Jahre manchmal als effektives Mittel, um plebiszitäre Partizipation in formal geschlossenen Gesprächskreisen und Gremien zu erwirken. Auf der nächsten Sitzung des »Bergedorfer Gesprächskreises« sah das allerdings bereits anders aus. Anwesend waren erneut Kurt A. Körber und Eugen Kogon, aber unter anderem auch der 1930 geborene Publizist Dr. Arno Plack und der junge Rechtswissenschaftler Dr. Ulrich K. Preuß, Jahrgang 1939, heute Professor des Rechts und Verfassungsrichter. Kogon informierte die Anwesenden, die »hiesige Außerparlamentarische Opposition« habe ein Flugblatt verteilt, mit dem sie Aktionen gegen die heutige Sitzung des Gesprächskreises ankündige. Er wünsche »Übereinstimmung unter den Anwesenden«, wie man sich dazu verhalten wolle. Er selbst fürchte, »daß es sich dabei nicht um eine Form der Auseinandersetzung zu rationaler Klärung, sondern auf Macht hin handelt. Von 255

einer Diskussion solcher Art erwarte ich nichts.« Darauf notierte das Protokoll zunächst einen Wortbeitrag von Plack. Dieser plädierte dafür, »einen Versuch der Diskussion zu machen«, denn es würde »die Situation verhärten, wollte man sich nicht gesprächsbereit zeigen«. Plack befürchtete und prophezeite also eine Eskalation der Proteste. Körber dagegen erklärte, er sei »überzeugt, sie wollen gar kein Gespräch. Sie wollen sich nur in der Öffentlichkeit als anerkannte Macht darstellen.« Der implizit an den »Bergedorfer Gesprächskreis« gegangene Vorwurf der Diskussionsunwilligkeit wurde also umgedreht und nun behauptet, es seien die SDSler selbst, die eigentlich gar nicht diskutieren wollten. Das Protokoll notierte weiter: Kogon: Man will nicht die wissenschaftliche Klärung eines komplexen Tatbestandes mit uns vollziehen, und damit in die Diskussion etwa Erfahrungen einbringen, die wir möglicherweise nicht haben, was ja legitim wäre. Sie wollen etwas anderes, weil sie das, was wir hier tun, ablehnen. […] Preuß: Auch nach meiner Meinung geht es zunächst nicht um ein Gespräch. Ich habe aber den Ausführungen von Herrn Hacker entnommen, daß das, was verändern, was eine Bewegung in bestimmte Rituale, Tabuisierungen und Ritualisierungen von gesellschaftlichen Verhältnissen bringen kann, vor allem die Gewalt ist. / Wir sollten uns daher nicht der Illusion hingeben, man könne mit Gesprächen gesellschaft liche Probleme lösen, denn dazu ist die bürgerliche liberale Ordnung nicht die geeignete Voraussetzung. Auch wir unterliegen in diesem Gespräch Ritualisierungen, aus der Herr Kogon nicht heraustreten will. Wir sollten akzeptieren, daß gesellschaftliche Auseinandersetzung aus einem komplexen System von Aktionen, Diskussionen und Öffentlichkeit nicht repräsentativer, sondern demonstrativer oder plebiszitärer Art stattfindet.46

Kogon befürchtete also, es gehe den Studierenden nicht um »rationale Klärung«, sondern um »Macht«, worin sich die normative Erwartung manifestierte, beides voneinander trennen zu können. Preuß dagegen, schon damals ein national bekannter Protagonist der Studentenbewegung, brachte sich einerseits argumentativ ein, bestätigte aber andererseits den Zweifel der APO am problemlösenden Potenzial eines »Gesprächs«. Allerdings war Meinungsaustausch in seiner Darstellung nicht per se ein unproduktives Unterfangen, sondern ausschließlich deshalb, weil die »bürgerliche liberale Ordnung« ihm zu enge Grenzen ziehe. In Preuß’ Darstellung erschien die Diskussionspraxis des »Bergedorfer Gesprächskreises« damit als »Ritual«, wobei er diesen Begriff pejorativ verwendete als Rekurs auf ein auf der Inhaltsebene funktionsloses Herrschaftsinstrument zur Konsolidierung des Status quo.47 Beide Seiten unterstellten sich also wechsel46 Vgl. Protokollband des 33. Bergedorfer Gesprächskreises in Hamburg-Bergedorf im Bergedorfer Schloss, 21.7.1969, Verstärken oder verringern sich die Bedingungen für Aggressivität?, S. 6, abgedruckt in: www.koerber-stiftung.de/internationale_verstaendigung/bergedorfer_ gespraechskreis/protokolle/index.html. 47 Vgl. zu seinen politischen Forderungen Preuß.

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seitig die Behinderung rationaler Erkenntnissuche durch Machtstreben beziehungsweise die Verschleierung »objektiver« Herrschaftsstrukturen durch nur vermeintlich rationale Argumentation. Und beide Seiten schmückten sich mit dem symbolischen Kapital von Diskussionen als demokratischer Praxis. Auch die Reaktion von Professoren zeigt, wie explizit sich die Eliten manchmal als Hüter und nicht als Gegner von argumentativem Meinungsaustausch in Szene zu setzen versuchten. Viele der zum Gespräch herausgeforderten Personen nahmen für sich selbst sehr wohl in Anspruch, zu argumentativem Meinungsaustausch bereit und in der Lage zu sein. Beispielsweise hatte der SDS im Rahmen der angestrebten Hochschulreform kritisiert, dass die Entwicklung der Institute vom Willen der Ordinarien abhänge und nicht durch eine universitäre Öffentlichkeit bestimmt werde, bestehend aus gleichrangigen Wissenschaftlern und Studierenden.48 Die Mehrheit der westdeutschen Professoren widersetzte sich dem Anspruch, Studierende an der Gestaltung der Lehrpläne oder sogar an der Besetzung von Professuren zu beteiligen. Sie taten das aber keinesfalls unter Rekurs auf ihr Recht auktorialer Entscheidungen oder auf den Status quo. Im »Marburger Manifest«, einer von 1500 Professoren und Dozenten unterzeichneten Erklärung vom April 1968, die sich gegen die »sogenannte Demokratisierung der Hochschulen« richtete, wurde eine andere Strategie gewählt. Da die Studierenden noch nicht über genügend Erfahrung und Sachkenntnisse bei der Bewertung von Forschung und Lehre verfügten, sei »sachgemäße Diskussion und Entscheidung in den Universitätsgremien« unmöglich.49 Darum lehne man ein Mitbestimmungsrecht der »noch Lernenden« ab.50 Aber nicht nur liberale Intellektuelle wie die Mitglieder des »Bergedorfer Gesprächskreises« und Professoren, sondern auch Politiker versuchten gleichsam, den Spieß umzudrehen und der gegnerischen Seite die Verhinderung von Gesprächen zuzuschreiben. So erklärte Bundeskanzler Kurt Georg Kiesinger Ende April 1968 bei einer Sondersitzung des Bundestags zur innenpolitischen Situation, er habe sich während des Wahlkampfes in Baden-Württemberg wiederholt den Studenten »gestellt« und sie nach ihrer Meinung gefragt. Immer wieder sei man ihm eine Antwort schuldig geblieben. »Das Schlagwort«, so Kiesinger, »das reine Schlagwort regierte die Szene.« Und das habe ihn »sehr enttäuscht«.51 Helmut Schmidt betonte in der anschließenden Aussprache, man selbst sei zu Gesprächen bereit, aber: »Was wir dabei für wirklich entbehrlich halten, sind Schaudiskussionen, Diskussions-Happenings und der Versuch zur Geräusch-

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Schmidt u. Thelen, S. 22. Das »Marburger Manifest«, S. 109. Ebd., S. 110. Bundeskanzler Kiesinger zum Bericht der Bundesregierung, in: Probleme der Jugend unserer Zeit, S. 26–38, hier S. 28. Dieser Sonderdruck aus dem Bulletin des Presse- und Informationsamtes der Bundesregierung enthält die Regierungserklärungen und ausgewählte Protokolle der Aussprache der 169. Sitzung des Bundestages am 30.4. sowie der 170. Sitzung am 7.5.1968, die sich mit der Studentenbewegung sowie der Hochschulreform beschäftigten.

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überwältigung desjenigen, der anders denkt und anders redet.«52 Ebenso wie die attackierten Führungseliten das Desinteresse der Studierenden an Gesprächen betonten, versuchten sie zudem im Umkehrschluss, die Proteste über deren Verquickung mit Gewalt und Terror zu desavouieren. Der Rektor der Universität Frankfurt, Walter Rüegg, ermahnte die »bürgerlichen Institutionen«, sich nicht »zu Gewaltakten provozieren zu lassen«. Stattdessen sollte man die »Provokateure« so weit bringen, dass sie »die eigene Unfähigkeit und Gewalttätigkeit demonstrieren«.53 Statt vor diesem Hintergrund klären zu wollen, welche Seite 1968 »wirklich« diskutierte, was einen normativen Diskussionsbegriff voraussetzt, ist gerade die Phrasenhaftigkeit der Forderung auf beiden Flügeln der eigentliche Befund. In den späten sechziger Jahren kämpften das der Demokratieunfähigkeit vermeintlich überführte »Establishment« ebenso wie die Protestbewegung selbst um das symbolische Kapital einer Gesprächsform, deren wahrhafte Ermöglichung beide Seiten für sich in Anspruch nahmen – und in deren positiver Bewertung sich alle einig waren. So lange die Studierenden »Diskussion« einforderten, ohne diesen Terminus inhaltlich zu füllen oder mit Gewalt zu verknüpfen, befanden sie sich im Einklang mit großen Teilen der bürgerlichen Eliten – und zwar zunehmend. Sie brachten mit der Forderung nach Diskussion einen in der Bundesrepublik bereits latent bestehenden, aber durch die Studentenproteste explizierten und weiter gefestigten Grundkonsens zum Ausdruck, auf den sich die bürgerlichen Eliten öffentlich verständigten und zu dem sie sich zunehmend auch gegenüber der jungen Generation bekannten. Rüegg konstatierte schließlich sogar, es »gehört zur eigentlichen gesellschaftlichen Rolle der Studenten, Kritik an Autoritäten zu üben, in erster Linie an ihren eigenen Lehrern«.54 Eventuell strichen die Eliten ihre Bereitschaft zum Gespräch auch deshalb so deutlich hervor, weil die Unterdrückung von freier Meinungsäußerung sowohl mit dem Nationalsozialismus als auch mit den Ländern jenseits des Eisernen Vorhangs verglichen werden konnte und wurde. »Überlegen wir uns doch«,

52 Probleme der Jugend unserer Zeit, S. 48. 53 Rüegg, S. 16. 54 Ebd., S. 4, weiter hieß es: »Dieses Verhalten ergibt sich nicht nur aus ihrem jugendlichen Status, der Ausgliederung aus autoritativen Gesellschaftsgruppen, wie der Familie oder Schulklasse, vielmehr ist es begründet in der für die Universität konstitutiven Komponente der rationalen Kritik gegenüber den vorgegebenen Einrichtungen, Meinungen, Verhaltensweisen und Normen, soweit diese mit der Erfahrung im Widerspruch stehen oder durch Erweiterung des Erfahrungshorizontes in einen solchen geraten sind.« Auf S. 19 ergänzte Rüegg: »Die Studenten sollen vor allem auf der Ebene des Fachgebietes stärker beteiligt werden. Die kritische Diskussion der laufenden Lehrveranstaltungen, die Orientierung über die Forschungsvorhaben, die Mitwirkung bei der Gestaltung des Lehrplans und der Prüfungsordnungen, die Disposition über die dem Studium dienenden Sachmittel, kurz alle Kontroll-, Beratungs- und Entscheidungskompetenzen, in denen die Studenten sich ein qualifiziertes Urteil bilden können, gehören zu den unmittelbarsten Erfordernissen eines studentischen Mitspracherechts.«

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so Leonhardt, »wie sehr wir es verurteilen, daß uns einst im Dritten Reich die freie Meinungsäußerung fast unmöglich gemacht worden war, wie sehr wir östliche Länder verurteilen, in denen die herrschenden Parteien und Regierungen nicht frei kritisiert werden dürfen.«55 »Freier« Meinungsaustausch gerann gegen diese Folie zu einer non-diktatorischen und non-totalitären Praxis per se. Bundesinnenminister Ernst Benda widmete in seinem »Bericht der Bundesregierung zur innenpolitischen Situation«, den er im April 1968 im Bundestag vortrug, einen ganzen Abschnitt seiner Darstellung der »Diskussion als Lebenselement der Demokratie«. »Weder die Diskussion noch die kämpferische Auseinandersetzung hierüber«, stellte er fest, »verstößt gegen die verfassungsmäßige Ordnung. Demokratie, erst recht parlamentarische Demokratie, setzt vielmehr solche Diskussion und solche Auseinandersetzung voraus.«56 Das war ebenfalls der Tenor der folgenden Aussprache und der Redebeiträge durch die verschiedenen Parteien. Walter Scheel, Vorsitzender der FDP, ebenso wie Helmut Schmidt, Vorsitzender der SPD, und Rainer Barzel, Vorsitzender der CDU/ CSU-Bundestagsfraktion, betonten allesamt nicht nur das in einer parlamentarischen Demokratie verbriefte Recht auf Meinungsaustausch, sondern auch die Pflicht dazu, und kamen vor diesem Hintergrund zu einer insgesamt positiven Bewertung der Mehrheit »der« Jugend, die kritisch, politisch und demokratisch sei. Barzel ermahnte, man »müsse dazu beitragen, daß aus Demonstrationen wieder Gespräche würden und daß Unruhe durch Argumente und nicht durch Gewalt geäußert werde«.57 Man suchte demnach das Gespräch – eine Erkenntnis, die in der prominenten Regierungsantrittsrede von Willy Brandt prononciert wurde.58

4.2 Die ausdiskutierte Revolte. Utopie und Enttäuschung Während sich unter den bürgerlichen Eliten das von allen Seiten geteilte Bekenntnis zum Gespräch festigte und immer offensiver nach außen getragen wurde, was teilweise auch zu den Erfolgen der Studentenbewegung gezählt werden kann, zogen sich deren Protagonisten vom Gespräch als Instrument politischer Aushandlung punktuell zurück. Im Januar 1969 erklärten Studierende der Johann Wolfgang Goethe-Universität: »Früher einmal haben wir geglaubt Verhandlungen am runden Tisch seien noch möglich: Unsere Argumente allein seien stark genug. Spätestens seit den Polizeiandrohungen Rüeggs hat wohl jeder eingesehen, daß Konflikte auch Machtkonflikte sind.«59 Die Erkenntnis, dass sich 55 Leonhardt, S. 58. 56 Ernst Benda, Bericht der Bundesregierung zur innenpolitischen Situation, in: Probleme der Jugend unserer Zeit, S. 5–25, hier S. 6. 57 Probleme der Jugend unserer Zeit, S. 52. 58 Brandt, S. 33. 59 Sinnvolle und sinnlose Selbstkritik am Uni-Teach-In, 8.1.1969, in: Zoller, S. 162–164, hier S. 162, Hervorhebung im Original.

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ein vermeintlich besseres Argument nicht immer zwanglos durchzusetzen vermochte, wurde als Ergebnis eines am eigenen Leib erfahrenen, negativen Lernprozesses beschrieben. Für ein frühzeitig enttäuschtes Vertrauen in Diskussion spricht auch die berühmte Rede des 68ers Peter Schneider vor der Vollversammlung aller Fakultäten der Freien Universität Berlin am 5. Mai 1967 mit dem Titel »Wir haben Fehler gemacht«. Endlich habe man »gefressen«, so Schneider, »daß wir gegen den ganzen Plunder am sachlichsten argumentieren, wenn wir aufhören zu argumentieren und uns hier in den Hausflur auf den Fußboden setzen. Das wollen wir jetzt tun.«60 Vor dem Hintergrund ist in Erwägung zu ziehen, inwiefern sich die wachsende Gewaltbereitschaft vieler Aktivisten aus der Enttäuschung über abgebrochene, nicht zustande gekommene oder als autoritär wahrgenommene Versuche argumentativen Austauschs speiste. Parallel könnte unter den Studierenden selbst das Interesse an fraktionsübergreifenden, ergebnisoffenen Gesprächen langsam abgenommen haben. Annelie Keil, die 1968 bei Wilhelm Hennis in Hamburg promovierte, vorher an der Hamburger Universität Mitglied des AStA gewesen war und dann als Wissenschaftliche Assistentin nach Göttingen ging, hat rückblickend den Eindruck, sie selbst habe damals als »Alt-68igerin« ein größeres Interesse an gemeinsamen argumentativen Gesprächen gezeigt als die etwas jüngeren Protagonisten der Studentenbewegung, die sich von Diskussionen keine Wirkungen mehr erhofften. Sie selbst fand es »immer schwierig, wenn Lehrveranstaltungen gesprengt wurden«, denn: »Ich war so drin im diskursiven Stil.«61 Enttäuschungen wurden aber nicht nur durch Verweigerung von Diskussion produziert, sondern auch durch einen utopischen Erwartungsüberschuss in das Potenzial der Gesprächsform selbst. Das bekamen nicht zuletzt die Protagonisten der »Frankfurter Schule« zu spüren.62 In einem Text vom 18. Oktober 1968 stellten Studierende des Philosophischen Seminars der Johann Wolfgang Goethe-Universität in Frankfurt am Main fest: »Sinn und Geltung philosophischer Theorien sind wesentlich an die Sphäre herrschaftsfreier Kommunikation der Philosophierenden gebunden.« Aber »der traditionelle Stil philosophischer Seminare« genüge dem nicht. Hier stehe auf der »einen Seite ein monologisierender Professor, der dem Seminar seine Problemstellung, seinen Seminarplan und die Bedingungen der Diskussion vorschreibt«. Auf der anderen Seite befinde sich »ein durch seine Vorbildung und die repressive, autoritäre Seminarstruktur in eine Konsumentenhaltung gedrängtes Publikum« sowie »einige 60 Schneider, Wir haben Fehler gemacht, S. 13 f. 61 Gespräch d. Vf. mit A. Keil. Keil, geb. 1939, wurde in den sechziger Jahren in Politikwissenschaft von Wilhelm Hennis in Hamburg promoviert. Mitte der sechziger Jahre war sie AStA-Referentin an der Universität Hamburg. 1969 erhielt sie eine Stelle als Wissenschaftliche Rätin in Göttingen. Zur ambivalenten Selbstverortung als 68erin siehe dies. 62 Zu den vielschichtigen Verbindungs- und Abgrenzungslinien zwischen Studentenbewegung und »Frankfurter Schule« siehe Kraushaar, Frankfurter Schule; Gilcher-Holtey, Kritische Theorie.

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›fortgeschrittene‹ Kommilitionen«.63 Die Studierenden kritisierten also die privilegierte Position des Professors im Seminar, der erstens über die Regeln und das Thema des Gesprächs verfügte, dieses zweitens leitete, wobei er sich selbst mehr Redezeit beimaß als den anderen, und dem dabei drittens ein Wissensvorsprung zugutekam. Das war auch die Quintessenz eines »Bericht[s] von einer demokratischen Seminarform«, in dem es hieß: Wissenschaftliche Arbeit zielt auf einen herrschaftsfreien Raum in der Universität. […] Herrschaftsfrei werden kann wissenschaftliche Arbeit nur, wenn sie die Übertragung gesellschaftlicher, industrieller und kirchlicher Herrschaftsansprüche in ihren Bereich reflektiert und unterbindet […] Der im herrschaftsfreien Raum angestrebte Dialog zwischen Lehrenden und Lernenden kann von hineingetragener Herrschaft frei werden – nicht als bloße Utopie: So kann sich an selbstbestimmter Arbeit die Freiheit der Lehre neu verstehen und sich als neu verstandene mit der Freiheit der Lernenden vermitteln.64

Die Frankfurter Studierenden machten zur Reform des Seminars konkrete Vorschläge, die alle auf die Überwindung formalisierter Hierarchien zielten. Herrschaftsfreie Kommunikation wurde damit als eine Sache beschrieben, die sich durchaus realisieren ließe, wenn man nur Reformen ermöglichte. In diesem Sinne regten die Studierenden an, dem Professor die Gesprächsleitung zu entziehen und das Thema selbst zu bestimmen. Das Seminar sollte zusätzlich in einen »Raum verlegt werden, der die Entfaltung von Spontanität nicht verhindert«. Außerdem sollte es keine zeitliche Begrenzung mehr haben, sondern das Gespräch selbst dessen Ende bestimmen.65 Den Studierenden schwebte also offenbar vor, ein Thema argumentativ einzukreisen, bis sich ein von allen geteilter – und möglichst endgültiger – Konsens einstellte, und zwar, ohne äußere oder nicht-argumentative Eingriffe. Dieser normative Erwartungsüberschuss verdichtete sich auch in dem umgangssprachlichen Terminus »Ausdiskutieren« – ein Begriff, der in der westdeutschen Studentenbewegung ironiefrei Verbreitung fand.66 Sein Präfix verweist auf die Vorstellung, ein Gespräch so lange führen zu können, bis alle erdenklichen Gesichtspunkte ausgetauscht worden sind und endgültige Klärung besteht. Damit zeigten sich Anklänge an die von Jürgen Habermas formulierte Konsensustheorie der Wahrheit – wenig elaboriert und ein wenig vor deren philosophischer Ausformulierung.67 Mit ihrem Verhalten stellten die Studierenden daher nicht den argumentativen Schlagabtausch als solchen in Frage, sondern seine tradierten Formen. Argumentative Gespräche sollten nicht abgeschafft, sondern erst wahrhaft und 63 64 65 66

Ohne Titel, 18.10.1968, in: Zoller, S. 9–11, hier S. 9. Vilmar, S. 161. Ohne Titel, 18.10.1968, in: Zoller, S. 9–11, hier S. 11. Vgl. etwa die Verwendung des Terminus in: Sinnvolle und sinnlose Selbstkritik am UniTeach-In. 8.1.1969, in: Zoller, S. 162–164, hier S. 162, wo festgestellt wird, ein Teach-in könne manchmal nicht »der Ort sein […], wo alle Sachfragen systematisch ausdiskutiert werden«. 67 Vgl. Habermas, Wahrheitstheorien.

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herrschaftsfrei ermöglicht werden: basisdemokratisch aufgelockert, unreguliert und unbefristet. Das richtete sich nicht zuletzt gegen Jürgen Habermas selbst, damals Philosoph am Institut für Sozialforschung – und Professor der eben zitierten Studierenden. In einem Seminar des Wintersemesters 1968/69 hatte Habermas angeblich einen Studenten für ein salopp referiertes Paper kritisiert. Im Anschluss schrieb dieser einen Brief an seinen Professor, der auf Beschluss einer Basisgruppe veröffentlicht und wenig später in einem Sammelband mit Dokumenten zur Frankfurter Studentenbewegung publiziert wurde. Hier erläuterte der Zurechtgewiesene: »Herr Habermas, ich wähle die Form des Briefes, weil ich nicht in der Lage bin, gegen Sie in der Seminar-Öffentlichkeit Widerstand zu leisten.« Zweck des provokanten Referatsstils sei gewesen, »erstarrte Diskussionsformen zu durchbrechen und eine lebendige, angstfreie Kommunikation herzustellen«. Er habe zu zeigen versucht, »daß es mehr die Projektion der Verängsteten ist, die den Zwang im Seminar bewirkt, als der um seine Autorität besorgte Professor. Naiv setzte ich voraus, daß Sie bereit sein würden, mit dem Abbau Ihrer Autorität einverstanden zu sein […].«68 Der Student war tatsächlich zu optimistisch. Selbst die der Studentenbewegung gegenüber grundsätzlich positiv eingestellten Professoren wie der Rektor der Universität Stuttgart, Fritz Leonhardt, bestanden darauf, »einem herrschaftsfreien Zustand« dürfe nicht das Wort geredet werden, »denn ohne – allerdings leistungsbezogene und kontrollierbare – Herrschaft mit befragbarer Autorität funktioniert weder die Gesellschaft noch die Universität«. Leonhardt plädierte gleichwohl für demokratische Verhaltensweisen und einen kooperativen Diskussionsstil, er folgte also einer handlungslogischen Sicht auf Demokratie, wie sie nach 1945 immer wieder unter westdeutschen Eliten eingefordert worden war: Ein weiteres Ziel der Demokratisierung muß es sein, die vernunftgemäße und von Verantwortungsbewusstsein getragene Zusammenarbeit in einer freien und offenen Atmosphäre zu pflegen, d. h. die Demokratisierung muß sich vor allem im geistigen Reich in der Einstellung der Glieder zueinander und in einer Änderung der Verhaltensweisen vollziehen, wobei die gegenseitige Achtung und die Toleranz anderer Meinungen, aber auch Nachsicht gegenüber jugendlichem Eifer, wesentlich sind. All dies läuft auf die Anerkennung der Gleichberechtigung im Vorbringen von Argumenten, im Anhören und im Diskutieren hinaus.69

Ein wenig »naiv« war der oben zitierte Student aber auch in der Annahme, angstfreie Kommunikation im Seminar würde sich einstellen, sobald die privilegierte Position des Professors aufgebrochen sei. Denn auch ein sich vertraulich gebender Professor steht formal über den Studierenden, deren Leistungen er benotet. Außerdem kristallisieren sich bei Gruppengesprächen, die über keinen 68 Brief von G. Stamer an Prof. Habermas; auf Beschluß der Basisgruppe veröffentlicht, 28.10.1968, in: Zoller, S. 29 f., alle Zitate S. 29. 69 Leonhardt, S. 121, Hervorhebung im Original.

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offiziellen Leiter verfügen, informelle Moderatoren heraus, welche der Aufgabe einer gleichmäßigen Beteiligung aller Anwesenden unter Umständen schlechter nachkommen.70 Selbst für unmoderierte Diskussionen in der Studentenbewegung ohne Gegenwart von Professoren ist daher anzunehmen, dass sich informelle Hierarchien herausbildeten, bestimmte Leute nun häufiger und andere entsprechend seltener zu Wort kamen.71 Die Erwartung, herrschaftsfreie und angstfreie Kommunikation unmittelbar realisieren zu können, musste daher fast notwendig Enttäuschungen produzieren. Ein Beispiel für die sich daraus ergebenden Dynamiken ist die Gründung der Neuen Frauenbewegung. Auf dem Frankfurter Bundeskongress des SDS im September 1968 warf bekanntlich eine Delegierte mehrere Tomaten in Richtung des männlich besetzten Vorstandstisches, weil die Rede einer Frau nicht aufgegriffen, symmetrische Kommunikation also verhindert wurde.72 Folgt man Alice Schwarzer, wirkte dies mobilisierend. Die SDS-Frauen gründeten »Weiberräte«, das heißt »Frauengruppen, zu denen Männer keinen Zutritt hatten«. Und hier »redeten Frauen, endlich, ohne von den sprachgewaltigen Genossen überrollt zu werden«.73 Zumindest in der rückblickenden Perspektive der Beteiligten verweisen die Anfänge der Frauenbewegung also auf negative Erfahrungen mit Kommunikation. Diese konnten jedoch nur deshalb gemacht werden, weil reale mit idealen Sprechsituationen kontrastierten. Die Dialektik von utopischem Erwartungsüberschuss und Enttäuschung produzierte nicht intendierte Handlungsfolgen und initiierte Prozesse des Wandels. Herrschaftsfreie Kommunikation wurde nicht erreicht, aber die Hoffnung auf sie trieb die Protestbewegungen voran und veränderte sie.74 Zugleich wandte sich die Frauenbewegung keineswegs von der Hoffnung auf herrschaftsfreie Kommunikation ab, sondern versuchte diese ihrerseits zu realisieren. Freilich wurden nicht mehr Professoren, Rektoren oder die »bürgerliche Ordnung« im Allgemeinen, sondern das vermeintlich starke Geschlecht als Primärbedrohung wahrhaft symmetrischer Gesprächsbeziehungen interpretiert – und folglich aus vielen Gesprächsarenen ausgeschlossen. Ohne Männer, so die Hoffnung, würde sich jenseits aller Hierarchien reden lassen. Ungleichheit ist sozialer Praxis und damit selbst dem vermeintlich freien Austausch von Argu70 Das zeigt für Diskussionsgruppen im Internet Matthias Trénel, Die Wirksamkeit von Prozessmoderation in der Online-Deliberation, laufendes Dissertationsprojekt an der Humboldt-Universität zu Berlin. 71 Vgl. die Selbstkritik in Zoller, insbesondere S. 163. 72 Es handelte sich um Helke Sanders »Rede des Aktionsrates zur Befreiung der Frauen« bei der 23. Delegiertenkonferenz des SDS im September 1968 in Frankfurt am Main. Vgl. dies. 73 Schwarzer, So fing es an, S. 13. 74 Zu Genese und Programmatik der westdeutschen Frauenbewegung siehe auch Berndt; Dermitzel; Kommune 2, Kindererziehung, sowie ebenfalls zeitgenössisch Schwarzer, Der »kleine Unterschied«. In vergleichender, geschichtswissenschaftlicher Perspektive zur Neuen Frauenbewegung Schulz, Der lange Atem. Speziell zur Praxis der Frauen- und Weiberräte ebd., S. 79–96, wobei kommunikative Routinen und Erfahrungen hier nicht behandelt werden.

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menten aber stets inhärent. Auch die Kommunikationskultur der Frauenbewegung war daher in sich hierarchisch organisiert, was schnell wieder zu Frustrationen führte. Das zeigt der Bericht von Sibylla Flügge, die die Gründung eines »Weiberrats im SDS« einerseits positiv erinnerte, denn wenn nun »eine Genossin einen Betrag brachte, wurde ihr zugehört«. Außerdem, so hieß es weiter, »war sie selbst viel sicherer, weil sie die anderen Frauen hinter sich wußte und weil sie wußte, daß ihr notfalls eine andere weiterhelfen würde«. Gleichwohl blieb die Erfahrung ambivalent, denn im ersten Weiberrat tauchten »schon bald große Probleme auf, weil die Gruppe für persönliche und herrschaftsfreie Diskussion zu groß geworden war und weil neu hinzukommende Frauen sich ausgeschlossen fühlten. Die Konkurrenz- und Autoritätskonflikte wurden mit der Zeit so stark, daß eine befriedigende Arbeit nicht mehr möglich war.«75 Voller Enttäuschung wurde hier beschrieben, wie wenig sich herrschaftsfreie Diskussion einstellte, obwohl man »unter sich« blieb. Auch maskuline Aktivisten bemerkten beunruhigt, dass sich in »nächtelangen, leidenschaftlichen Diskussionen« eine »vertraute Situation« herstellte, nämlich »die Aufteilung in Wortführer und Akklamateure, Interpreten und Interpretierte, Produzierende und Konsumenten«.76 Diese Erfahrung wiederholte sich in Kommunen und Wohngemeinschaften, die sich ab 1967 in zahlreichen Städten ausbreiteten.77 Sie waren in sich sehr unterschiedlich, sodass die in Berlin ansässigen K1 und K2 eher als prominente Extremfälle denn als Prototypen fungierten. Mit Sicherheit aber wurde der Lebensstil, den die Kommunarden dezidiert nach außen trugen, im entstehenden Milieu der Neuen Linken intensiv zur Kenntnis genommen. Vor allem der Erfahrungsbericht, den die K2 im Jahre 1969 vorlegte, setzte das Kommuneleben als radikalen Versuch zu permanenter Kommunikation in Szene. In der K2 wurden unter anderem Gruppendiskussionen im Voraus geplant, als fester Programmpunkt in die Zeitstruktur des Kommunelebens eingepasst, auf ein Tonband aufgenommen, nachträglich ausgewertet – und in Transkriptform veröffentlicht. Die Kommunarden bildeten sogar ein Foto ihres »Protokollbuchs« ab.78 Bei den derart fixierten Gesprächen ging es unter Rekurs auf die in den sechziger Jahren wiederentdeckten Schriften des Psychiaters und Psychoanalytikers Wilhelm Reich zur »Sexuellen Revolution« thematisch weniger um die Hochschulpolitik als um Beziehungsprobleme oder um die Verteilung der Hausarbeit.79 Dahinter stand das Ziel, die traditionellen Herrschaftsstrukturen der bürgerlichen Familie ebenso zu überwinden wie jene bürgerliche 75 76 77 78

Flügge, S. 74. Kommune 2, Versuch, S. 20. Einführend Siegfried, Time, S. 546–661. Vgl. die Transkripte von Diskussionen in Kommune 2, Versuch, S. 114–124, 163–181, 195–198, 211–214, 221–252, 257–264, und die Abbildung des Protokollbuchs S. 149. 79 Vgl. Reich, Die sexuelle Revolution. Zur zeitgenössischen Rezeption von Reich und seiner Reinterpretation und Fortentwicklung durch Reiche siehe Schulz, 1968; Herzog, Antifaschistische Körper.

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Moral, die das Individuum dazu zwinge, seine spontanen Emotionen zu unterdrücken und eine »Charakterpanzerung« (Wilhelm Reich) aufzubauen. So versammelte man sich allabendlich, um über alltägliche Erfahrungen, aber auch individuelle Ängste und vor allem sexuelle Nöte zu sprechen, wobei schnell deutlich wurde, wie wenig sich diese durch Verbalisierung minimieren ließen. Dass Gruppengespräche über intime Erfahrungen und Nöte auch den Teilnehmenden unter Umständen wenig Freude bereiteten, hatte sich schon 1966 bei einem klausurartigen Treffen einiger SDSler in einem Landhaus in Süddeutschland gezeigt. Angeblich wurde hier »eine Woche ununterbrochen« diskutiert, wobei an alle die Bitte erging, auch etwas über »private Probleme« zu sagen. Das Ergebnis war ernüchternd: Die Verwendung von psychoanalytischen Versatzstücken in der Diskussion verstärkte nur die inquisitorische Atmosphäre, in der niemand etwas von seinen persönlichen Problemen preisgeben wollte. Der detektivische Scharfsinn, mit dem einige versuchten, den individuellen Rationalisierungen auf die Spur zu kommen, wurde schon damals als »Psychoterror« ironisiert. Die Tendenz, psychoanalytisches Wissen repressiv in der Gruppe einzusetzen, ist auch heute noch in Studenten- und Schülergruppen zu beobachten. Mehrere Genossen weigerten sich deshalb von vornherein, etwas über sich zu erzählen. Der Versuch, die persönliche Existenz auf diesem Wege mit der politischen Diskussion zu vermitteln, mußte abgebrochen werden. 80

Solche Beispiele verweisen auf den schmalen Grat zwischen der Verheißung »echter« Kommunikation und der Erfahrung vermeintlich ebenso echten »Psychoterrors«. Es ist daher aber nur umso bemerkenswerter und erklärungsbedürftiger, warum die opponierende Studentenschaft zumindest untereinander eifrig weiterdiskutierte und den Handlungsmodus organisierter Gruppengespräche sogar vom Öffentlichen ins Private übertrug. Wenngleich die normativen Erwartungen an Kommunikation im Verlauf der Studentenbewegung gesunken sein mochten und die Gewaltbereitschaft stieg, so nahm das rein quantitative Ausmaß, in dem diskutiert wurde, doch keineswegs ab. Im Gegenteil. Das lag, wie nun gezeigt werden soll, auch an den sich neu etablierenden Gesprächsregeln, die eine umfassende Entgrenzung der Gesprächsform »Diskussion« ermöglichten.

4.3 Die Regel der Regellosigkeit. Entgrenzungen des Gesprächs Die von der Erwachsenenpädagogin Magda Kelber in den frühen fünfziger Jahren verfasste »Fibel der Gesprächsführung«, die methodische Hilfe bei der Durchführung von Gruppengesprächen, Podiumsdiskussionen, Versammlungen und anderen Formen formalisierten Meinungsaustauschs versprach, er80 Kommune 2, Versuch, S. 18.

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schien 1970 bereits in neunter Auflage. Im Vorwort zur achten Auflage von 1968 ging die Autorin auf die »Revolte der Studenten« ein: Die »Fibel« ist durch eine gründliche Überarbeitung erweitert und auf den neuesten Stand gebracht worden. Wir hoffen, daß sie damit noch brauchbarer geworden ist. / Die Aktualität des Themas ist gerade durch die Ereignisse dieses vergangenen Jahres, ausgelöst durch die Aktionen der Studenten in vielen Ländern, erneut deutlich geworden. Daß die Gespräche, die allerorts dringend erforderlich sind, wenn wir einander besser verstehen und zu gemeinsamen Lösungen kommen wollen, in der bestmöglichen Weise geführt werden und dadurch zu guten Ergebnissen sachlicher und menschlicher Art kommen mögen – dazu soll dieses kleine Buch einen Beitrag leisten.81

Es liegt indes kein Hinweis vor, dass die Protagonisten der Studentenbewegung die von Kelber empfohlenen Gesprächsregeln einhielten. Im Fall der geplanten Veranstaltung mit Erich Kuby, die am Anfang der westdeutschen Protestbewegung stand, hatten sich Studierende immerhin noch für die Organisation einer klassischen Podiumsdiskussion eingesetzt. Üblicherweise saßen dabei mehrere eingeladene Redner – Frauen wurden äußerst selten eingeladen – auf einem Podium und tauschten sich unter Leitung eines Moderators über ein vorher festgelegtes Thema aus. Der Moderator stellte die Teilnehmer vor, eröffnete und schloss das Gespräch und verteilte das Rederecht. Moderator und Redner saßen auf Stühlen, hielten ihre Körper relativ still und gerade, trugen Anzüge, hatten keinen Körperkontakt und fielen sich nicht ins Wort. Die übrigen Personen agierten bloß als Zuhörer. Sie griffen nicht ein, sondern klatschten allenfalls am Ende eines Redebeitrags. Wer selbst etwas sagen wollte, wartete ab, ob der Moderator die Diskussion ins Plenum öffnete, und meldete sich dann durch Handheben zu Wort. Studienbücher zur Gesprächsführung, die in der Zeit der Studentenbewegung veröffentlicht wurden, betonten außerdem die Regeln der Höflichkeit und Freundlichkeit, die nicht nur auf dem Podium, sondern etwa auch bei Dienstbesprechungen und in der Gruppenarbeit einzuhalten seien. Denn kein Diskutant sollte in einem Gespräch beleidigt, frustriert oder verletzt werden. Außerdem wurde – wie schon in der im Rahmen der alliierten Demokratisierungspolitik verteilten Literatur – scharf zwischen der kooperativen, ergebnisoffenen Diskussion und der kompetitiven, partikularen Interessendurchsetzung dienenden Debatte unterschieden: »Wer ein Gespräch führt und, statt den anderen unbekümmert die Wahrheit zu sagen, Interessen vertritt oder seine Karten verdeckt, diskutiert nicht. Er debattiert.«82 In der Hochphase der Studentenproteste wurden die Termini Debatte und Diskussion aber wieder – wie traditionell in Deutschland üblich – als Synonyme verwendet. Und das skizzierte Regelwerk, das einen Brückenschlag zwischen den kommunikativen Gattungen der Diskussion und der Konversation erlaubte, hatte seine Verbindlichkeit bei einem Teil der im linken Spektrum politisch ak81 Kelber, Fibel, 9. Aufl., hier »Vorwort zur 8. Auflage«, o. S. 82 Müller, Kunst, S. 52. Vgl. auch Kelber, Fibel; Fabian; Pöggeler, Methoden, S. 154–212.

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tiven Studierenden bald verloren. Redebeiträge auf dem Podium wurden durch Zwischenrufe kommentiert oder die Redner auf andere Weise in ihrer Argumentation behindert. Die »Berliner Morgenpost« berichtete am 26. Januar 1969, zu einer Filmvorführung mit anschließender Diskussion zum Thema »Pornographie und Gesellschaft« hätten sich rund 3000 Teilnehmer im Auditorium Maximum der Technischen Universität eingefunden. Die eingeladenen Referenten seien aber nur »selten zu Wort« gekommen, denn die »persönlichen sexuellen Probleme der jugendlichen Diskussionsredner standen im Vordergrund. Einige Studenten entledigten sich dann ihrer Kleidung und diskutierten nackt weiter.«83 In der studentischen Kommunikationskultur verschmolz die Idee des herrschaftsfreien philosophischen Diskurses mit der basisdemokratischen politischen Debatte und dem psychoanalytisch informierten Gruppengespräch. Allerdings ist unwahrscheinlich, dass kommunikative Regeln theoretisch reflektiert aus entsprechenden Schriften abgeleitet wurden. Überzeugender lässt sich die Diskussionskultur, die sich in der westdeutschen Studentenbewegung herausbildete, in fast allen Punkten als Anti-These zu jenen kooperativ-höflichen, sozial, thematisch, zeitlich und räumlich begrenzten und durch einen Moderator geleiteten Gesprächen lesen, für die Magda Kelber ebenso warb wie Werner Höfer – und die aus studentischer Sicht für das »Establishment« standen. Das gilt nicht nur für die Informalisierung des Umgangs, die große körperliche Nähe und lockere Körperhaltung sowie die legere Kleidung, die auf Fotos der diskutierenden und sich versammelnden Studierenden hervorsticht.84 Auch die zeitliche, soziale, thematische und räumliche Begrenzung forma lisierter Diskussionsveranstaltungen wurde aufgehoben. Damit bildeten sich freilich neue, nun implizite Regeln für die Sprecherinnen und Sprecher heraus. Und das ungeheure quantitative Ausmaß, in dem die Studentenbewegung diskutierte, war teilweise eine Folge dieser neuen Diskussionsregeln. Zu den neu etablierten Regeln argumentativer Interaktion gehörte erstens ein gelockerter Umgang mit Zeit, und zwar sowohl in Bezug auf eine bestimmte Diskussion insgesamt als auch auf einzelne Redebeiträge bezogen. Argumentative Gespräche wurden radikal entfristet, um sie nicht »künstlich« einzuengen. Ex negativo zeigt sich hier wieder die Idealvorstellung eines quasi-natürlichen, freien Flusses der Argumente. So erklärten Studenten der Philosophie an der Johann Wolfgang Goethe-Universität in dem schon erwähnten Forderungskatalog zur Seminarreform, Seminare sollten keine zeitliche Begrenzung haben, sondern so lange geführt werden, bis die Diskussion »zu Ende« sei.85 Auch wer aufgrund persönlicher Zeitnot auf das Ende eines Gesprächs drängte, musste 83 An., Beim FU-Gespräch, S. 6. Zur Delegitimierung von Vortragsdiskussionen als kommunikativer Gattung siehe Scharloth, Ritualkritik, S. 83–86. 84 Vgl. etwa das Foto vom Sit-in im Foyer des Henry-Ford-Baus der FU Berlin am 19./20.4.1967 in Larsson, Bild 192/193. 85 Ohne Titel, 18.10.1968, veröffentlicht in: Zoller, S. 9–11, hier S. 11.

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mit Kritik rechnen, die keineswegs höflich-humorig vorgebracht wurde, wie das Werner Höfer zelebrierte. Das bekam wiederum Jürgen Habermas zu spüren, der im Wintersemester 1968/69 unter anderem mit Alexander Mitscherlich kurzfristig zu einer Diskussion mit dem SDS eingeladen worden war. Er erschien auf der betreffenden Veranstaltung, bemerkte aber nach etwa einer Stunde, er habe erst vor Kurzem von der Versammlung erfahren, könne seine »Termine leider nicht in die Abende produzieren« und würde um Verständnis dafür bitten, in zehn Minuten zu gehen.86 Einer der Anwesenden konstatierte, so das Transkript eines Tonbandprotokolls, das sei »gegenüber den Studenten eine Unverschämtheit … (Unruhe)«.87 Ein anderer erklärte: »Herr Professor Habermas, können Sie mal formulieren, was für Sie heute abend so wichtig ist, daß Sie hier jetzt nicht über das Institut reden können?«88 Mitscherlich und Habermas verließen kurz darauf den Raum, die Studierenden blieben noch lange Zeit versammelt. So bürgerte sich im Verlauf der Studentenrevolte ein, bis zur physischen Erschöpfung zu diskutieren. Am Ende waren dann vor allem Personen mit einer guten körperlichen Konstitution zugegen, was die Konsensfindung erleichterte. Das durch den Linguisten Harald Weinrich geprägte, geflügelte Wort der »Diktatur des Sitzfleisches« verweist nicht nur in pejorativer Hinsicht auf die Kosten des »Ausdiskutierens«, sondern auch auf die physische Dimension mündlicher Kommunikation.89 Neben die zeitliche trat die bereits angedeutete räumliche Entgrenzung. Zu den Protestformen der Studentenbewegung gehörte das Sit-in, das eine vom Bundesinnenministerium veröffentlichte Informationsbroschüre mit skeptischen Untertönen als ein »in der Regel generalstabsmäßig vorbereiteter Sitzstreik« beschrieb, »durch den eine spontane Protesthaltung zum Ausdruck kommen soll«, sowie das Teach-in, in der Perspektive des Bundesinnenministeriums häufig Begleiterscheinung eines Sit-ins: »Permanente Diskussion wird ergänzt durch spontane Einzelbeiträge aus dem Publikum«.90 Als Veranstaltungsort dienten potenziell alle Räume der Universität, die hierfür groß genug waren. Ein Treppenhaus konnte genauso umfunktioniert werden wie eine Wiese oder aber ein Sitzungssaal, in dem eben noch das Rektorat getagt hatte. Das erleichterte es, die tagsüber an der Universität begonnenen Gespräche abends und nachts fortzuführen. Anstatt beim Übertritt in einen anderen sozialen Raum auch die kommunikative Gattung zu wechseln, wie es konventionell üblich war, etwa von der sachorientierten Diskussion zur beziehungsorientierten Konversation, 86 Die Diskussion fand im Wintersemester 1968/69 im Tagungsraum im Kolbheim am Beethovenplatz statt. Vgl. das auf der Grundlage von Tonbandprotokollen erstellte Wortprotokoll in: Wolff u. Windaus, S. 113–158, hier S. 126, Redebeitrag Habermas. 87 Ebd., Redebeitrag Knapp. 88 Ebd., Redebeitrag Wolff. 89 Vgl. Weinrich. 90 Bundesministerium des Innern, Referat Öffentlichkeitsarbeit, Zitate S. 51 u. 52 in dieser Reihenfolge. Siehe außerdem programmatisch Vester sowie die kulturhistorische, transnationale Analyse von Klimke, Sit-in.

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wurde das argumentative Gespräch auf andere – und potenziell alle – Praxisfelder ausgedehnt. Dieses Phänomen galt nicht nur für Kneipen und damit für Orte der Freizeitkultur und Abendgestaltung, sondern auch für Wohngemeinschaften, welche die Trennung von Öffentlichkeit und Privatheit durchbrechen sollten. 1972 erschien der Erfahrungsbericht einer »additive[n], teilsozialisierte[n] Wohngemeinschaft« ohne »vergesellschafteten Sex«. Die ostentativ nach außen getragene Intensität argumentativer Interaktion hob sich von den programmatisch radikaleren Kommunen aber nicht wesentlich ab, sodass der Erfahrungsbericht etwa von einer »Knutsch-Diskussion« Zeugnis ablegte.91 In der K2 avancierte argumentative Interaktion – öffentlichen Selbstdarstellungen zufolge – ohnehin zu einem omnipräsenten Element des Zusammenlebens. Klar grenzte einer der Bewohner die kommunikativen Routinen des Kommunelebens von der »bürgerlich« geprägten Konversation ab, die als anstrengende, da nicht vom Interesse am Gegenstand stimulierte Gesprächsform erschien: Meine allgemeinen Eindrücke über den Alltag in der Kommune kann ich nicht mit einem Satz beschreiben. Er besteht aus permanentem Gespräch mit den anderen in der Küche, im Bad, im Fahrstuhl, und eigentlich nie angestrengte Konversation, sondern nur das, was einen interessiert, politische Sachen, unsere Finanzen, die anliegende Arbeit, persönliche Wünsche oder Schwierigkeiten.92

Ein weiteres Merkmal der neuen Formen geplanter Diskussionsereignisse betraf die Bandbreite legitimer Gesprächsthemen. Die Topoi, die auf angekündigten, organisierten und protokollierten Diskussionen in der westdeutschen Gesellschaft jenseits des studentischen Milieus konventionell verhandelt wurden, schlossen politische und kulturelle Themen ein – und damit zahlreiche Gebiete aus. Das persönliche Befinden der Anwesenden wurde in der Regel ebenso wenig zum Gegenstand gemacht wie ihr Sexualleben. Zudem war das Verschweigen »von etwas« durchaus legitim. Es könne, so erklärte Eberhard Müller in seinem Studienbuch über »Die Kunst der Gesprächsführung«, in manchen Situationen sogar erforderlich sein, die Unwahrheit zu sagen, nur um einen Gesprächspartner, den anderen in die Enge drängten, zu schützen. Neben dem Recht auf freie Rede sei jedem auch das Recht auf Schweigsamkeit einzuräumen.93 In der Kommunikationskultur der Studentenbewegung sollte dagegen tendenziell alles radikal und kompromisslos an die Oberfläche geholt, eine a priori vollzogene Themenbegrenzung also überwunden werden. Das dehnte die Palette möglicher Gegenstände vor allem in zwei Richtungen aus. Erstens wurden nun auch »private«, persönliche und intime Probleme in die Diskussion politischer Gegenstände eingeflochten. Hierzu gehörten sowohl die momentanen Gefühle der Sprecher und Sprecherinnen, die sie zum Aus91 Petersen, Zitate S. 12 u. 15. 92 Kommune 2, Versuch, S. 55 f. 93 Müller, Kunst, S. 52.

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druck zu bringen suchten, als auch Merkmale ihrer Lebenssituation. Beispielsweise versuchten einige Berliner SDSler, eine »neue Form von Arbeitskreisen« in die Arbeitspraxis des SDS zu integrieren, nämlich ein »Colloquium, in dem die artikulierten persönlichen Interessen und Probleme in die Diskussion über die neue Praxis mit eingebracht werden sollten«.94 Die hiermit gemachten Erfahrungen seien indes wenig befriedigend gewesen: Das Colloquium verhieß jedem, endlich im Kreise der Genossen mitreden zu können, indem man von dem sprach, was sonst als privat tabuiert war: Spaß und Sexualität. Das – so schien das Versprechen der holländischen Provos und der amerikanischen subkulturellen Bewegung – sollte politisch sein und damit dem selbstgesetzten Leistungsanspruch und gleichzeitig dem Emanzipationsbedürfnis von diesem genügen. Gegen dieses versprochene Wunderland wirkten die Versuche, das dürftige theoretische Fundament des Kommune-Colloquiums zu zerfetzen, als altväterliche Grippe der bisherigen SDS-Autoritäten. […] Die großen Erwartungen, die vor allem bei jüngeren Genossen erweckt waren, wurden allerdings jämmerlich enttäuscht. Für die Praxisdiskussion gab es überhaupt keinen neuen Ansatz. Auch die Aufforderung jeder solle doch einmal von seinen Problemen sprechen, förderte angesichts der ja nicht aufgehobenen psychischen Ängste nur Banalitäten zutage. Das Colloquium entschlief nach zwei Sitzungen.95

Wenngleich in diesem Falle die Artikulation intimer Probleme im Rahmen der SDS-Diskussionen offenbar rasch wieder eingestellt wurde, hielten viele Protagonisten der Studentenbewegung doch an der Forderung fest, im Zuge der Überwindung von öffentlichen und privaten Räumen auch die vermeintlich künstliche Trennung von politischen und persönlichen Gegenständen einzureißen. Außerdem sollte die Ausweitung des legitimen Themenkatalogs um persönliche Erfahrungen eine Aufwertung jener Gesprächsteilnehmer bewirken, die sich bei bestimmten politischen Gegenständen aufgrund mangelnder Vorkenntnisse weniger einbringen konnten. Es ging, ähnlich wie in den Gesprächsprogrammen der Reeducation, um die Egalisierung der Redenden und um den Abbau exklusiver Zugangsschranken zum Gespräch. Das galt sogar für Kinder, die man von vornherein in einen diskursiven Modus einzuüben hoffte. In Kinderläden sollten sie von klein auf in einem repressionsfreien Raum die eigene Sexualität zwanglos erfahren, also zu »unautoritären« Persönlichkeiten heranwachsen.96 Antiautoritäre Erziehung hieß aber ebenso, dass auf Verbote und Anweisungen verzichtet wurde, man stattdessen den argumentativen Meinungsaustausch mit dem Nachwuchs suchte – und ebenfalls protokollierte. Vor diesem Hintergrund wurden die Irritationen, die der neue, dem Anspruch nach zwang94 Kommune 2, Versuch, S. 21. 95 Ebd., S. 23. 96 In den 1968 gegründeten Kinderläden wurde die antiautoritäre Kindererziehung praktisch erprobt und parallel theoretisch entfaltet. Vgl. Bott; Kommune 2, Kindererziehung; Dermitzel; Schmidt, 3 Aufsätze.

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lose Umgang mit Sexualität bei Erwachsenen und Kindern hinterließ, in Elterngruppen und der K2 ebenfalls immer wieder intensiv zur Sprache gebracht.97 Die zweite Richtung der Ausdehnung des Gegenstandsbereichs organisierter Diskussionen betraf metakommunikative Themen. Die Infragestellung konventioneller Diskussionsregeln, das Experimentieren mit neuen Formen und das normative Ideal herrschaftsfreier Diskussion begünstigten eine hohe Sensibilität für Abweichungen vom Kommunikationsideal, welche sofort in das Gespräch eingebracht werden durften. Beispielsweise berichteten die Mitglieder der K2 über das von ihnen praktizierte Gesprächsverhalten, »wenn jemand sichtbar niedergeschlagen oder traurig war, fand sich meistens einer, der nach zwei, drei Stunden die Debatte unterbrach: ›Ich finde es Scheiße, daß hier so abstrakt diskutiert wird, wenn es einem so dreckig geht.‹« Ein Zwischenruf erfolgte angeblich meist auch, wenn sich einer »nicht an der Diskussion beteiligte«.98 Das ursprünglich vorgesehene Thema wurde also durch einen metakommunikativen Akt unterbrochen, ergänzt und bisweilen sogar ersetzt. Auch hieraus dürfte sich eine Dynamik von immer mehr und längeren Gesprächen ergeben haben, wie folgendes Zitat über die Erfahrungen in der K2 veranschaulicht: Wir kamen jeden Abend zusammen (Eingezogene und Noch-Nicht-Eingezogene) und diskutierten darüber, wie man den SDS in ähnliche verbindliche Kollektive auflösen könne und welche inhaltlichen Arbeitsthemen für diese Gruppen wichtig wären. Wir kamen dabei nicht weiter als bis zu dem Vorschlag, kleine Arbeitskreise zu bilden, in denen die persönliche Situation der einzelnen Teilnehmer mitbearbeitet werden sollte, mit dem Ziel, sie in Wohn-Kommunen zu überführen. Die Diskussion über politische Themen zerfranste immer mehr, es traten immer stärkere Spannungen zwischen uns auf. Persönliche Verhaltensschwierigkeiten, Unlust oder bestimmte Wünsche konnten nicht mehr einfach der Diskussion entzogen werden, indem der Betroffene nicht mehr teilnahm, nichts sagte oder nach Hause ging. Sie drängten sich immer mehr auf, je mehr man die Reaktionen der anderen durch den täglichen Umgang zu verstehen versuchte. So brach eines Abends Lisbeth Schlotterer mit einem verzweifelten Vorwurf in unsere Debatte ein: ›Was wollt ihr eigentlich verändern in dieser Gruppe, wenn ich jeden Tag für alle abwaschen muß und die Küche mache und keiner sich mal mit Michaela (ihrer kleinen Tochter) beschäftigt! Das ist doch genauso wie bei Berufspolitikern in den Parteien.‹ Es wurde jedem bewußt, daß wir uns mit der Arbeitsteilung in der Ehe Schlotterer und in der Gruppe nicht mehr nur abstrakt unter dem Motto der Frauenrolle in der bürgerlichen Gesellschaft beschäftigen konnten. Noch deutlicher sind akute persönliche Probleme immer wieder von Rainer Langhans in die Diskussion gebracht worden. Er zeigte uns durch Beschäftigung während der gemeinsamen Diskussion (Bücher lesen) und lässig hingeworfenen Bemerkungen immer wieder, daß er jede politische Diskussion ablehnte, solange er mit dem Problem der Trennung von seiner früheren Freundin allein fertig werden müsse.99 97 Kommune 2, Versuch, 68–107; Bott, vor allem S. 39 f. 98 Kommune 2, Versuch, S. 20. 99 Ebd., S. 38.

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Nach dieser Darstellung löste sich der Gegenstand einer über mehrere Abende geführten Diskussion zunehmend auf, weil einige Teilnehmer die Behandlung ihrer individuellen Probleme zur Voraussetzung für den Fortgang des ursprünglich geplanten Gesprächs machten. Zu den im Rahmen der Studentenbewegung etablierten Gesprächsregeln gehörte, so ist abschließend zu resümieren, die räumliche, zeitliche, soziale und thematische Entgrenzung von Diskussionen als kommunikativem Muster. Als Ergebnis dieser Regel der Regellosigkeit musste zu jeder Tageszeit, zu jedem Thema und an jedem Ort mit einem mündlichen Schlagabtausch gerechnet werden – tagsüber im Seminar oder im Teach-in, abends in der Kneipe oder in der Wohngemeinschaft, ohne Begrenzung der Zeit, ohne Begrenzung der Themen und getragen von einem normativen Erwartungsüberschuss, der keine Tabuisierungen zuließ. Denn die »echte« Diskussion war in der Perspektive der Akteure allein jene, die sich ohne jegliche Regulierungen »frei« entfalten konnte und bei der die Anwesenden ihre Befreiung von inneren und äußeren Zwängen zum Ausdruck brachten. Die Aktivisten rieben sich daher mit tage- und nächtelangen Gesprächen auf, um zu neuen Einsichten zu gelangen und strittige Gegenstände möglichst zwanglos in der Gruppe auszudiskutieren. Mit solchen Verhaltensweisen entwickelten 68erinnen und 68er eine diskursive Hartnäckigkeit, die in der westdeutschen Gesellschaft ein Novum darstellte und das Zusammenleben langfristig veränderte. Gleichwohl hatten sie das Diskutieren in eben dieser Gesellschaft regelrecht gelernt.

4.4 Diskutieren lernen in der frühen Bundesrepublik. Argumentative Übungen Viele 68er und 68erinnen haben bis heute eine besondere Affinität zum Diskutieren. Das ist keine neue These. In den neunziger Jahren geführte Interviews mit Vertretern der 68er-Generation verweisen auf den in dieser Personengruppe unter anderem zu findenden Typus des »Konsensualisten«. Dieser, so der Soziologe Heinz Bude, suche »Harmonie in der Interpretationsgemeinschaft« und folge der impliziten Erkenntnistheorie, »daß sowohl das geschlossene gedankliche System als auch die blitzartige Einsicht erst im herrschaftsfreien Diskurs die letzte Rechtfertigung finden«.100 Eine kulturhistorische Perspektive legt nahe, in einer solchen Orientierung nicht das Ergebnis einer autonomen und rationalen Einsicht in den Wert deliberativer Verfahren zu sehen. Vielmehr ist zu vermuten, dass 68er und 68erinnen ihre Disposition zum Meinungsaustausch als Ergebnis soziokultureller Prägungen langsam verinnerlichten. Das betraf nicht nur die Jahre der Studentenproteste selbst, sondern auch kommunikative Alltagserfahrungen in Kindheit und Jugend. Es wird daher nun versucht,

100 Bude, Altern, S. 92.

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die spezifische Diskussionslust dieser Generation über ihren biografischen Hintergrund zu erklären. Die westdeutsche Studentenbewegung war, das ist vorweg zu betonen, von Anfang an in transnationale Verflechtungen eingebunden, die sich im Verlauf der Protestjahre verdichteten, sodass die in Westeuropa, in den USA, teilweise aber auch in einigen Ländern des Ostblocks aufbegehrenden Studierenden gemeinsame Wertvorstellungen, mentale Dispositionen und einen ähnlichen Habitus entwickelten.101 Die Rebellion gegen bestehende Konventionen, die Erfahrung des politischen Umbruchs und das Experimentieren mit neuen Lebensstilen unterlagen also einer globalen Dynamik. Auch kommunikative Praktiken wurden durch Transferprozesse geprägt. Das galt etwa für das Interesse an Gruppengesprächen, das teilweise über die Rezeption amerikanischer psychoanalytischer und soziologischer Texte zu »Gruppendynamik« und »Gesprächstherapie« vertieft wurde.102 Aber die bundesdeutschen Studierenden eigneten sich ebenso die in der amerikanischen Bürgerrechtsbewegung entwickelte Praxis des Teach-in und Sit-in an sowie die Forderungen der sich seit 1964 an der University of California, Berkeley konstituierenden »Free Speech Movement«.103 Die in der westdeutschen Studentenbewegung etablierten kommunikativen Routinen waren teilweise Ausdruck eines transatlantischen Wissenstransfers, obwohl sich die Akteure selbst durch dezidierten Anti-Amerikanismus profilierten.104 Eine große Bedeutung für die Aneignung des Teach-in wird Michael Vester zugeschrieben, der 1960 und 1961 stellvertretender Vorsitzender des SDS war und als Fulbright-Stipendiat am Bowdoin College in Maine studiert hatte.105 Hier kam er mit den Protesttechniken der amerikanischen Studenten-, Bürgerrechts- und Antikriegsbewegung in Kontakt, die er in theoretischen Texten durchleuchtete, um sodann ihre Implementierung in Westdeutschland zu empfehlen. Am amerikanischen Teach-in faszinierten ihn dabei genau jene Gesprächsmerkmale, welche die westdeutsche Bevölkerung nach amerikanischen Besatzungsvorstellungen schon fünfzehn Jahre zuvor für das Public Forum hät101 In transnationaler Perspektive siehe neben der bereits erwähnten Literatur auch die Forschungsagenda von Della Porta. 102 In der transnational vernetzten Studentenbewegung zirkulierten diese Ansätze, bevor sie ins Deutsche übersetzt wurden. Siehe auf deutsch aus den frühen siebziger Jahren Cohn, Lernen; Rogers. In der bundesdeutschen Erwachsenenpädagogik wurde die »Gruppendynamik« allerdings unabhängig davon entdeckt, und zwar bereits seit etwa Mitte der sechziger Jahre, teilweise unter Rekurs auf die Schriften von Alexander Mitscherlich. Siehe Brocher. 103 Vgl. speziell zur »transnationalen Zirkulation« von Sit-in und Teach-in den Aufsatz von Klimke, Sit-in. Pointiert zur Agenda und Genese des »Free Speech Movement« GilcherHoltey, 68er Bewegung, S. 26–29. Zu Differenzen, Ähnlichkeiten und wechselseitigen Bezügen des westdeutschen SDS und der nur zufällig ebenfalls als SDS abgekürzten amerikanischen »Students for a Democratic Society« siehe Schmidtke. 104 Zu Antiamerikanismus im 20. Jahrhundert siehe breit Behrends u.a. 105 Der folgende Absatz auf der Grundlage von Klimke, Sit-in.

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ten einnehmen sollen: die Offenheit der Veranstaltungsform, die Breite des Publikums, die konstruktive und suchende Haltung der Diskutanten, die ihre Argumente nicht im Voraus bis ins Letzte entwickelten, sondern im Verlauf des Gesprächs konstituierten. Die Teach-ins seien innerhalb Amerikas erfolgreich gewesen, so Vester, […] weil sie nie geschlossene Veranstaltungen der schon Überzeugten waren. Politisierend wirkte der analytische Stil und die Breite der Teilnehmer, zu denen seit Jahren auch Regierungs- und Unternehmensvertreter gehörten. […] Die amerikanischen teach-ins beweisen, daß Diskussionsbereitschaft keineswegs zur Verwässerung dezidierter Ansichten in faulen Kompromissen führen muß. Vielmehr schärft sich das Argument im Disput, während die bloße Gesinnungskundgebung das Misstrauen gegenüber der Stärke des eigenen Arguments dokumentiert.106

Was Vester entgangen sein dürfte – und was bislang auch die Forschung übersehen hat – ist, dass die im Rahmen der amerikanischen Reeducationpolitik gestarteten Austauschprogramme dezidiert der Konfrontation mit amerikanischen Kommunikationsstilen und -techniken dienen sollten, wovon man sich einen subtilen Werbeeffekt erhoffte. Zwar ging es den Organisatoren der späten vierziger und frühen fünfziger Jahre vor allem um die Gesprächsformate der Gruppendiskussion und des Public Forums, aber mit dem später entwickelten Teach-in teilten beide die von Vester herausgehobenen Merkmale: soziale Breite, soziale Offenheit sowie ein kooperativer Gesprächsstil, der verschiedene Meinungen nicht hart aufeinanderprallen lassen sollte, sondern konstruktiv miteinander verknüpfte. Genau diese Merkmale sollten den Westdeutschen auch durch die im Rahmen der US-amerikanischen Reeducationpolitik entstandenen Austauschprogramme vermittelt werden. Insofern war Vesters transatlantische »Entdeckung« eines amerikanischen Veranstaltungsformats nicht so eigenständig, wie es ihm selbst vermutlich erschien, sondern durch die amerikanische Besatzungspolitik in Westdeutschland strukturell begünstigt, ja, ermöglicht worden.107 Amerikanisierung »von unten« und »von oben« griffen wirkungsvoll ineinander. 68er und 68erinnen gehörten der ersten Kohorte in der westdeutschen Geschichte an, die mit den von West-Alliierten institutionalisierten Arenen des »Diskutierenlernens« aufwuchs – und zwar innerhalb einer insgesamt zunächst noch wenig diskursiv angelegten Gesellschaft. Die nach 1945 neu etablierten Inseln der Gesprächigkeit könnten diese Generation – gerade wegen ihres Ausnahmecharakters – besonders stark geprägt haben. Erstens waren Rundfunk- und Fernsehprogramme in den fünfziger Jahren, das wurde vorne bereits gezeigt, keineswegs so dissensfeindlich, wie es die stereotype Kennzeichnung dieser Dekade als einer Zeit des »Konsensjournalismus« glauben macht. Natürlich nahmen die späteren Revolutionäre an diesen Sendungen nicht aktiv 106 Vester, S. 16 f. 107 Das übersieht auch Klimke, Sit-in.

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teil. Es ist aber an die Hoffnung von Militärgouverneur Clay zu erinnern, die im Rundfunk demonstrierten Handlungsmodi könnten sich mimetisch auf die Hörerschaft übertragen oder zumindest Vorbildcharakter entwickeln.108 Sehr wahrscheinlich ist, dass viele spätere 68er und 68erinnen diskursive Programme regelmäßig hörten, teilweise auch sahen und so mit Diskussionen als kommunikativer Gattung von klein auf vertraut waren. Hier erlebten sie Personen der 45er-Generation wie Ralf Dahrendorf, die ebenso elegant wie durchsetzungsstark diskutierten und zudem für einen westlichen, dynamisch-modernen demokratischen Habitus standen. Die eigenen Eltern dürften kaum so wortgewandt gewesen sein, ihr teilweise noch wenig diskursiv angelegter Kommunikationsstil war damit leicht als Relikt der Vergangenheit auszumachen. Ohnehin war die spezifisch militärische Männlichkeit der Alten durch das Dritte Reich und den Holocaust schwer beschädigt worden war: »Als ihr dann aus dem Krieg nachhause kamt,« so der 68er Peter Schneider in einem imaginären Gespräch mit der älteren Generation, da »bestand kein Grund, sich an euch ein Beispiel zu nehmen. Wir hätten euch womöglich auf den Schoß genommen. Aber euren berühmten Respekt, wo sollten wir den hernehmen, bei so leeren Händen und so wenig Haut auf den Knochen. Ihr hattet ja nichts zum Imponieren als euer Loch im Bauch, und das hatten wir auch.«109 Neben die Massenmedien als punktuell diskursiver Arena traten die Schulen. An zahlreichen Gymnasien dürfte ein Kontrast zwischen der breiten Mehrheit des konventionell unterrichtenden Lehrpersonals und einer verschwindend kleinen Minderheit von Lehrern bestanden haben, die »modernen« und das hieß in dieser Zeit: diskursiven Unterrichtstechniken gegenüber aufgeschlossen waren. Solche Lehrer waren vor allem in den Fächern Geschichte und Gemeinschaftskunde zu finden, und sie gehörten vermutlich mehrheitlich der Generation der 45er an, die nach dem Krieg zu Beginn ihrer Berufstätigkeit mit der »verordneten Debattierkultur« der West-Alliierten in Kontakt gekommen war. Das ist eine Formulierung des 1928 geborenen Hermann Glaser, der 1967 die »Nürnberger Gespräche« gründete – laut eigener Aussage im festen Glauben an eine regelrechte Gleichsetzung von Demokratie und Diskussion. Von 1953 bis 1964 hatte Glaser als Lehrer an einem Nürnberger Gymnasium unterrichtet, wo es ihm unter anderem gelang, in seinem Unterricht Tische und Stühle umzustellen, um die »Ausrichtung auf den Katheder« zu überwinden. Der Hausmeister habe sich gewundert, der Direktor habe es zugelassen, und die Schüler hätten die neue Sitzordnung begrüßt.110 Aus Sicht der Schüler dürfte die Anziehungskraft eines Lehrers wie Glaser – jung, diskussionsbereit, dem 108 Vgl. die obige Fallstudie zur amerikanischen Demokratisierungspolitik. 109 Schneider, Brief an die herrschende Klasse, S. 39. 110 Gespräch d. Vf. mit H. Glaser. Glaser, Jg. 1928, war vorübergehend Leiter der Jugendakademie für politische Bildung in Nürnberg, ab 1964 Leiter des Schul- und Kulturreferats der Stadt und Begründer der »Nürnberger Gespräche«. Vgl. Glaser, Spießer-Ideologie; ders., Teamwork; ders., Haltungen.

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Westen gegenüber aufgeschlossen – durch seine Minderheitenposition im Kollegium noch gesteigert worden sein. Anders formuliert: Um heranwachsende Jugendliche für das Ideal dialogbereiter Pädagogik zu gewinnen, brauchte es keinen flächendeckenden Wandel der Unterrichtspraxis. Vielleicht waren die hin und wieder ermöglichten Gespräche im Unterricht gerade deshalb attraktiv, weil sie eine Ausnahme von der Regel bildeten. Und sie standen in westlicher Tradition. Als Mentoren, so Glaser, seien Protagonisten der Weimarer Reformpädagogik für ihn stets wichtig gewesen, die eigentlichen Anregungen seien aber von »den Amerikanern« gekommen, die »praktischer« waren, »handgreiflicher«.111 Ein späteres Beispiel für die in sich gebrochene, widersprüchliche und daher höchst dynamische Kultur innerhalb der Schulen ist eine Abiturientenrede von 1968, in der eine Frankfurter Gymnasiastin vor dem Hintergrund der Schüsse auf Benno Ohnesorg für eine Erziehung zum Ungehorsam plädierte. Sie wisse zu schätzen, begann sie ihre Ausführungen, dass »die Lehrer dieser Schule die ersten waren«, die sie nicht mit einem »Übermaß an Regeln, Vorurteilen und peinlichen Missverständnissen gequält« hätten. Deshalb aber werde ihr Dank auch »unkonventioneller« ausfallen als üblich.112 Die Schülerin bereitete ihre Zuhörer also auf eine kritische Rede vor – und betonte zugleich die vermutliche Befürwortung dieser Kritik durch die Lehrer selbst. Dieses Muster setzte sich im Verlauf des Vortrags fort. Schließlich zitierte die Rednerin Hildegard HammBrücher, damals Staatssekretärin im hessischen Kultusministerium, mit dem Satz: »Wenn Sie in eine deutsche Schule kommen, können Sie gar nicht meinen, daß wir in einer Demokratie leben.« Derart abgesichert fragte die Vor tragende, worin die Schule ihre Aufgabe sehe: Will sie den jungen Menschen zum Mitläufer erziehen? Zum Jasager? Zum Streitvermeider um jeden Preis? / Oder sieht sie ihre Aufgabe darin, in jungen Menschen staatsbürgerliches Bewußtsein zu wecken? / Erziehen unsere Schulen zum Ungehorsam, regen sie Kritik an, formen sie die Schüler zu freien Menschen, fordern sie die eigene Stellungnahme heraus, regen sie an zu selbständigem Denken? / Sie tun es leider viel zu wenig. Dieses Prinzip durchläuft ganz bestimmt nicht alle Fächer.113

In dieser Rede wurde also bemängelt, die Erziehung zum selbständigen Denken durchziehe nicht alle Fächer – aber sie durchzog offensichtlich schon einige.114 Schließlich bekannte die Schülerin ihre Scham dafür, gehorcht zu haben, 111 Gespräch d. Vf. mit H. Glaser. Grundlegend zur Entwicklung des westdeutschen Gymnasiums in den fünfziger und sechziger Jahren siehe Gass-Bolm, S. 81–263. 112 Die Rede ist abgedruckt in Leonhardt, S. 32–36, hier S. 32. 113 Ebd., S. 34. 114 »Schlimm« sei es, so ging aus dem Vortrag weiter hervor, »wenn ein Lehrer ein halbes Jahr lang im Sozialkundeunterricht in gläubiger Einseitigkeit nur seinen Standpunkt zur OderNeiße-Linie« darlege und kein Schüler widerspreche. Problematisch sei ebenso, wenn im Sozialkundeunterricht »eine falsche Harmonielehre« vertreten werde, denn auch in der Demokratie gebe es »Konflikte und Kampf der Interessen«. Ebd., S. 35.

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als sie »mit dieser Rede zur Zensur befohlen« worden sei. Immerhin habe sie einen Trost gehabt: »Der Lehrer, zu dem ich dann zur ›Zensur‹ ging, der dachte darüber genauso wie ich. Das hier zu sagen, soll mein Dank an meine Lehrer sein!«115 Die Schülerin wusste sich mit ihrer Kritik an der Schule also im Konsens mit der Schule oder zumindest mit einem Teil der Lehrerschaft.116 Noch wichtiger als die Anfänge kommunikativen Wandels im Unterricht dürften kommunikative Routinen außerhalb des Unterrichts gewesen sein. Unterstützt durch britisch-amerikanische Reformbemühungen hatten sich vielfältige Praxisfelder etabliert, in denen der Austausch von Argumenten erprobt und erlernt werden konnte: Organe der Schülermit- und Schülerselbstverwaltung, Schülerzeitungen sowie die außerhalb der Schule stattfindenden Kurse in politischer Bildung, die sich an besonders talentierte Schüler und Vertreter der Schülermitverwaltungen richteten. Gerade die außerschulische politische Bildung war eine Arena, in der Jugendliche in den fünfziger und frühen sechziger Jahren diskutieren durften – und es lernen sollten.117 Die 68erin Annelie Keil erinnert sich, wie sie Mitte der fünfziger Jahre über das von ihr besuchte Gymnasium in Nordrhein-Westfalen auf »Schülerlehrgänge zur politischen Bildung« hingewiesen wurde. Keil reiste mehrmals zu einwöchigen Kursen auf den Jugendhof Vlotho, eine 1946 gegründete außerschulische Jugendbildungsstätte des Landschaftsverbandes Westfalen-Lippe, die zunächst von Klaus von Bismarck geleitet wurde. Vlotho hatte für weitere Jugendhöfe in der britischen Besatzungszone, aber auch darüber hinaus Vorbildcharakter in dem Versuch, »Demokratie als Lebensform« erfahrbar zu machen.118 Keil stieß hier auf studentische »Teamer« wie Ekkehart Krippendorff, der später als junger Assistent und Politikwissenschaftler in die West-Berliner Studentenbewegung eng verwickelt war, sowie Hermann Giesecke, der dann Assistent von Theodor Wilhelm alias Friedrich Oetinger wurde. Unter deren Anleitung behandelten die Jugendlichen Themen wie Ideologie und Ideologiekritik, Parlamentarismus, das Verbot der KPD, Rechtsstaatlichkeit und Öffentliche Meinung in Arbeitsgruppen, sie sahen Filme und diskutierten im Anschluss darüber.119 Nach Beginn des Studiums wurde Keil selbst zur »Teamerin« ähnlicher Kurse im Jugendhof Steinkimmen. Für Keil waren diese Lehrgänge für Politische Bildung etwas »Besonderes«, weil sie politischen Austausch ermöglichten, aber auch – grundsätzlicher –, weil sie eine »Möglichkeit zur 115 Ebd., S. 36. 116 Konfliktlinien innerhalb der Lehrerschaft beschreibt die Regionalstudie von Küster. 117 Zur Schülermitverwaltung siehe Gass-Bolm, S. 118–126, 216–221, zu Schülerzeitungen ebd., S. 215–224. Zur Entwicklung der politischen Bildung in der westdeutschen Gesellschaft der fünfziger und sechziger Jahre siehe Gagel, Geschichte, S. 77–198. Vgl. als Hintergrund das Kapitel weiter oben zu den fünfziger Jahren. 118 Gespräch d. Vf. mit A. Keil, 10.4.2008. 119 Ebd. Siehe außerdem die Lebenserinnerungen von Giesecke, Mein Leben, vor allem S. 96–140, über den »Vlothoer ›Bildungskonzern‹« sowie Gieseckes Tätigkeit auf dem Jugendhof Steinkimmen.

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Diskussion« boten, die ihr anderswo fehlte. Hier habe sie nicht nur gelernt, ihre eigene Meinung zu äußern, sondern auch, Fragen zu stellen, anderen zuzuhören und Diskussionen nicht als Weitergabe von Sachinformationen, sondern als Prozess der Meinungsbildung zu schätzen. Dabei sei es durchaus nicht darum gegangen, einen Konsens zu erzielen, sondern man habe »Minderheitenmeinungen« bewusst stehen gelassen.120 Das entsprach dem in der unmittelbaren Nachkriegszeit als gleichsam deutsch-amerikanisch-britischer Kooperation entstandenem Gesprächsideal, das keine sachliche Einigkeit der Anwesenden produzierten sollte, sondern ihre soziale Zusammengehörigkeit trotz und durch Meinungsdifferenz. Der Zugang zu diesen Gesprächsarenen war durchweg freiwillig. Damit erreichten sie nicht die gesamte Alterskohorte, sondern nur eine schmale Minderheit. Es handelte sich um eine Elite der Schülerschaft – genau jene begabte, politisch und kulturell interessierte Elite, von der später viele ein Studium aufnahmen und aus der die Protagonisten der 68er-Bewegung hervorgingen. Selbst das kommunikative Klima an den Universitäten hatte teilweise schon vor der Studentenbewegung begonnen, sich zu verändern. Ähnlich wie bei den Schulen war der von den Alliierten gemachte Versuch einer Demokratisierung in vielen Bereichen am Widerstand der Professoren gescheitert. Immerhin aber gelang mit der Freien Universität Berlin die Gründung einer Universität, die über ein Studentenparlament verfügte sowie über ausgebaute Mitspracherechte von Assistenten und Studierenden. Außerdem veranschaulichte die Gestaltung der neuen Gebäude, dass Universitätsarchitektur Raum für informelle Gespräche schaffen sollte – was etwa im Henry-Ford-Bau spätestens 1968 auch genutzt wurde.121 Walter Rüegg behauptete sogar, durch die Studentenbewegung sei endlich die öffentliche Aufmerksamkeit auf Reformen gelenkt worden, die man seit den fünfziger Jahren ohnehin betrieben habe.122 Und Max Hork heimer hatte 1952, damals Rektor der Frankfurter Universität, auf einer studentischen Vollversammlung die von Studierenden nicht ausgeschöpften demokratischen Einflussmöglichkeiten gerügt. In der »Massendemokratie« sei es nicht mehr möglich, dass sich die Bürger in »Urversammlungen« aussprächen, aber die studentische Vollversammlung könne einer solchen Urversammlung entsprechen. Hier könnten »alle, die etwas zu sagen haben, sich zusammenfinden und die wählen, die sie vertreten sollen […]«.123 Wie Wolfgang Kraushaar treffend feststellt, wurde dieser Vorschlag von keiner Studentengruppe so ernst genommen wie vom SDS.124 Neben diesen institutionellen Veränderungen ist ein Wandel der Lehre in Erwägung zu ziehen. Fritz Leonhardt etwa, seit Ende der fünfziger Jahre Profes120 121 122 123 124

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Gespräch d. Vf. mit A. Keil. Zur Geschichte der FU Berlin noch immer Tent, Freie Universität Berlin. Rüegg, S. 6. Zit. n. Kraushaar, 1968 und die Massenmedien, S. 336. Ebd., S. 337.

sor für Ingenieurwissenschaften, nahm rückblickend in Anspruch, sich frühzeitig um einen Wandel kommunikativer Stile bemüht zu haben. Schon am Anfang seiner Lehrtätigkeit habe er »das Durchsprechen von konstruktiven Übungsaufgaben in Gruppen von 10 bis 15 Studenten« angeboten. Allerdings sei »fast niemand« gekommen, »während die Studenten in großer Zahl erscheinen, wenn ein Assistent eine Übungsaufgabe an der Tafel vorrechnet, was eifrig mitgeschrieben wird«.125 Zumindest einige 68er und 68erinnen dürften von Lehrern und Professoren oder auch von den im Rundfunk und Fernsehen agierenden Journalisten also nachgerade zum Diskutieren ermutigt und angeregt worden sein. Sie wuchsen in eine Gesellschaft hinein, deren Elite argumentative Interaktion zunehmend schätzte und punktuell ermöglichte – während sich vermutlich viele Eltern sowie das Gros der Lehrerschaft dieser Tendenz noch stärker entzogen. Die rhetorische Brillanz einiger Protagonisten der Studentenbewegung dürfte daher nicht allein individueller Begabung entsprungen sein. Stattdessen wurde sie in jenen »Diskutierschulen« vorbereitet, die nach 1945 im Rahmen der Reeducation entwickelt und – flankiert von Erziehungswissenschaftlern, Journalisten, Pädagogen und Lehrern – in den fünfziger und frühen sechziger Jahren fortgeführt worden waren. Vor diesem Hintergrund war es von den opponierenden Studierenden durchaus geschickt, ausgerechnet mit Hilfe einer Gesprächsform in die Konflikte von 1968 einzutreten, in der man selbst Übung besaß – während die meisten Angehörigen der älteren Generation weniger sicher in argumentativen Wortgefechten waren.126 Denn wenn Eltern, Lehrer und Professoren sich durch die Forderung nach Diskussion irritieren ließen, dann auch, weil sie das Redebedürfnis der nachwachsenden Generation in die Enge trieb. Der Ehemann von Gudrun Ensslin, Bernward Vesper, beschrieb in seinem auf Tagebuchfragmenten basierenden Erfahrungsbericht »Die Reise« einen autoritären Vater, der sich in Kontroversen erregte anstatt sachliche Argumente vorzubringen. Als Vesper mit seinem Vater ein klärendes Gespräch über das Dritte Reich suchte, war dieser dem Anliegen nicht souverän gewachsen, sondern reagierte mit körperlich sichtbarer Aufregung und Aggression: »Sein Herz schlug wild, die Adern schwollen, er stand da, als wollte er sich auf mich stürzen.«127 Diese Unfähigkeit zur rationalen Kommunikation dürfte sein Ansehen in den Augen des Sohnes umso mehr beschädigt haben. Manch ein Vertreter der Elterngeneration könnte dagegen in solchen Situation ein Déjà-vu erlebt haben, wenn nämlich die Aufforderung zum Diskutieren – wie die Aufforderung zur Auseinandersetzung mit dem NS – noch aus der Zeit der von Amerikanern und Briten betriebenen und von deutscher Seite vielfach als Anmaßung empfundenen Umerziehungspolitik in Erinnerung war. 125 Leonhardt, S. 78. 126 Vgl. das Kapitel weiter oben über das Sozialprofil der Diskussion. 127 Ebd., S. 438. Zu den fünfziger Jahren in der Perspektive Heranwachsender siehe auch Bude, 50er Jahre, sowie speziell zur Vater-Sohn-Beziehung von 68ern Kraft.

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Freilich übernahmen die schon in jungen Jahren im Argumentieren Trainierten keineswegs den von der Reeducation vorgeschlagenen Diskussionsstil, jene kooperative, ergebnisoffene, zuhörende Haltung, welche das gemeinsame Bekenntnis zum Dissens als Grundkonsens herauszustellen suchte. Die Studentenbewegung vollzog, wie bereits angedeutet, im Gegenteil eine radikale Abkehr von dem Ideal der klaren Regulierung argumentativer Gruppengespräche und von deren Wertschätzung als kooperativ-friedlicher Interaktionsform. Denn Diskussionen fungierten im Kontext der Studentenbewegung nicht – wie noch in der Reeducation – als Instrument zur Einübung in einen zivilen Umgang mit Pluralismus und Ambivalenz, sondern sie waren ein Instrument zur Kritik und zur Durchsetzung der eigenen Position. Ein Moderator war in dieser Perspektive ebenso kontraproduktiv wie »falsche Höflichkeit«. Theodor Wilhelm, inzwischen Professor für Pädagogik in Kiel, stellte 1973 in einer Monografie über den »Kompromiß« verbittert fest, im Kommunikationsstil der »jungen Revolutionäre« würde sich ein altes deutsches Syndrom manifestieren, das er selbst seit Ende des Krieges zu minimieren versucht habe: die Fehlinterpretation von Diskussionen als kompetitive, auf die Vernichtung des Gegners zielende Gefechte.128 Dabei dürfte Wilhelms Verdruss durch das Ausmaß angeheizt worden sein, in dem er nun selbst wegen seiner nationalsozialistischen Vergangenheit in Beschuss geriet. Auch deshalb vermochte er von dem sich wieder etablierenden harten Diskussionsstil nicht zu profitieren, sondern gehörte zu dessen Opfern.129 Tatsächlich scheint die kommunikative Dimension der alliierten Umerziehungsbemühungen den Protagonisten der Studentenbewegung vollständig entgangen zu sein. Die Studierenden selbst zielten nicht auf die Etablierung friedlich-kooperativer Umgangsformen, sondern sie nutzten argumentative Gespräche als kritisch-agonale Technik. Zugleich drangen sie auf die Überwindung der konventionellen öffentlichen Diskussionskultur der fünfziger und sechziger Jahre, wie sie sich beispielsweise auch in Werner Höfers »Frühschoppen« manifestierte, während die aggressive Diskussionskultur noch früherer Zeiten ihren Schrecken verloren hatte. Dass der »Frühschoppen« – anders als es der Titel der Sendung behauptete – gerade nicht in der Tradition deutscher Stammtischgespräche stand, sondern mit der Koppelung von Diskussion und Konversation, von ernsthaftem und doch humorvoll-höflichem Meinungsaustausch hochgradig innovativ und britisch-amerikanisch war, wurde nicht erkannt. Ähnlich wie dies Dagmar Herzog für den Umgang mit Sexualität gezeigt hat, ist daher auch für die Kultivierung bestimmter Kommunikationsstile im Verlauf der frühen Bundesrepublik anzunehmen, dass die Innovationen der fünfziger Jahre schon in den sechziger Jahren nicht mehr als solche registriert wurden.130 Die 128 Wilhelm, Kompromiß, S. IX-XI. 129 In Wilhelm, Verwandlungen, S. 499, richtete sich der Pädagoge vor allem gegen die Anschuldigen von Wolfgang Keim, Jg. 1940, den er als »68er« verortete. 130 Vgl. Herzog, Politisierung, S. 269–310.

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politisch aktiven Studierenden übersahen auch deshalb die Nachhaltigkeit, mit der sich die frühe Bundesrepublik dem Diskutieren bereits zugewandt hatte – und sie entwickelten vor diesem Hintergrund, wie nun gezeigt werden soll, das Bewusstsein einer Avantgarde, die eine monologische, autoritäre und durch den Nationalsozialismus moralisch desavouierte Gesellschaft zum Gespräch zwang.

4.5 Pathologisierung der Schweigsamkeit. Kommunikative Prägungen Ebenso wie die politischen Zielsetzungen und Aktionsformen der Studierenden zwischen Berkeley, Paris und West-Berlin punktuell divergierten, variierte auch die nationsspezifische Matrix der Sozialisation. Transnationale Stimuli erlangten auf der Folie nationaler Erfahrungen ein je eigenes Profil. Spezifisch für die Protagonisten der westdeutschen Studentenbewegung war nicht nur die systematische und auch auf ein umfassend angelegtes Demokratisierungsprogramm zurückgehende Heranführung an argumentativen Meinungsaustausch in Kindheit und Jugend, sondern auch der nur scheinbar dazu in Widerspruch stehende Eindruck, in einer schweigsamen Gesellschaft aufgewachsen zu sein. Gerade das Nebeneinander dieser zwei konfligierenden Erfahrungen verlieh ostentativer Diskussionsbereitschaft ihre Dringlichkeit. In der Erinnerung von 68ern, in autobiografisch geprägten Texten und lebensgeschichtlichen Interviews, ist die Unmöglichkeit, mit Lehrern, Eltern, Professoren in ein symmetrisch strukturiertes, argumentatives und ergebnisoffenes Gespräch zu treten, zu einem festen Narrativ geronnen. Folgt man diesen Erinnerungen, so war die Kommunikationskultur in der Familie, in Schule und Hochschule, aber auch in den Kirchen und den Nachwuchsorganisationen der Parteien durch autoritäre und asymmetrische Kommunikation gekennzeichnet, etwa durch die kommunikativen Gattungen des Lehrgesprächs, der Anordnung, der Befragung. Vesper, dessen Roman sich ex post zum Kultbuch der Studentenbewegung entwickelte, stilisierte die Erziehungspraktiken seiner Mutter als militärischen Drill: »›Morgen müssen wir die Päckchen packen‹, sagte sie, so erteilte sie einen Befehl. ›Befehl ist Befehl!‹ rief sie. ›Wenn Du zu den Soldaten kommst, wirst Du lernen, es heißt: ›Jawoll, Herr Hauptmann.‹ Hacken zusammen, und dann: ›Befehl ausgeführt!‹ Hacken zusammen.«131 Die Familie, die Schule, aber auch die ersten Semester an den Universitäten, bevor die Studentenbewegung einsetzte, werden nicht als Räume des freien Meinungsaustauschs erinnert. Im Gegenteil. »An der Universität wurde damals nicht diskutiert, auch nicht im Seminar«, bemerkt Annelie Keil, die 1959 ein Studium der Politikwissenschaft in Hamburg aufgenommen hatte.132 Heide Berndt, als wis131 Vesper, Die Reise, S. 456. 132 Gespräch d. Vf. mit A. Keil, 10.4.2008.

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senschaftliche Assistentin am Sigmund-Freud-Institut zeitweilig in der Frankfurter Studentenbewegung aktiv, erinnerte in ihrem Tagebuch, als Kind von der Mutter für ihre »gottverdammte Redseligkeit« getadelt worden zu sein, während der Vater ihre »Taktlosigkeit moniert[e]«.133 Die Unfähigkeit von Eltern und Lehrern, später von Professoren und Politikern, bei Kritik zuzuhören und zu antworten, gerann im Rückblick zu einer symptomatischen Negativerfahrung für das Leben in der frühen Bundesrepublik und zu einem typischen Merkmal der älteren Generation. »Und da ihr diejenigen seid, die man anbrüllen muß, um sich verständlich zu machen«, begann Peter Schneider einen 1967 verfassten »Brief an die herrschende Klasse«, »hört zu.«134 Solche Zuschreibungen sind aber relativ. Sie verweisen zunächst auf eine Deutung der Schreibenden, die sich spätestens im Modus der Erinnerung konstituierte, sowie auf eine enttäuschte Erwartung an offene, symmetrische Kommunikation und schließlich auf eine große Sensibilität für die Problematik nicht-diskursiver Handlungsformen. Entscheidend ist daher nicht, in welchem Ausmaß in den Familien tatsächlich befohlen und geschwiegen wurde, sondern dass weniger diskutiert wurde, als dies die heranwachsende Jugend für angemessen hielt. Für diese Einschätzung ist wiederum grundlegend, dass diskursive Umgangsformen in der frühen Bundesrepublik lange vor 1968 eine Aufwertung erfahren hatten – und nicht-diskursive Umgangsformen eine Abwertung. Schon seit dem unmittelbaren Ende des Zweiten Weltkriegs wurde von Amerikanern und Briten sowie spätestens seit Gründung der Bundesrepublik auch von Deutschen selbst die Nichtbereitschaft zu Widerspruch und Diskussion mehr oder weniger direkt mit Militarismus, Nazismus und den Schrecken des Zweiten Weltkriegs gleichgesetzt oder für diese verantwortlich gemacht. Das galt etwa in den fünfziger Jahren für die vorne skizzierte Ratgeberliteratur zu Gruppengesprächen in allen Lebenslagen, die sich vor allem an Diskussionsleiter wandte. Aber das betraf auch die ein breites Publikum adressierende Anstandsliteratur, die männliche Leser zur Kompromissbereitschaft ermahnte – am Arbeitsplatz, in der Familie, unter Freunden und Bekannten – und erinnerte, es sei ein Defizit an Kompromissbereitschaft gewesen, welches die Deutschen in den Zweiten Weltkrieg geführt habe.135 Als 1968 die bereits erwähnte Abiturientin eines Frankfurter Gymnasiums in ihrer Abitursrede zu einer »Erziehung zum Ungehorsam« aufrief, verteidigte der Rektor der Universität Stuttgart die Rede daher treffend mit folgenden Worten: Wer Mißmut über Karin Storchs Aufforderung zum Ungehorsam empfindet oder äußert, möge doch bedenken, daß diese Abiturientin sicher manchen Prozeß gegen die Naziverbrecher verfolgt hat, die sich bekanntermaßen oft geradezu damit ent-

133 Tagebuch Heide Berndt, Bd. 1, 22.3.1973, Nl. Heide Berndt, APO-Archiv. 134 Schneider, Brief an die herrschende Klasse, S. 39. 135 Vgl. etwa Kelber, Fibel; Meißner.

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schuldigten, daß sie nur gehorsam Befehle ausführt hätten. Heute wird diesen Opfern einer falschen Erziehung in Gehorsams-Schulen vorgehalten, daß sie sich hätten weigern müssen, Befehle auszuführen, wenn sie Verbrechen gegen die Menschlichkeit bewirkten.136

Schweigender Gehorsam erschien in dieser Darstellung als entscheidendes Verhaltensmuster, das den Holocaust überhaupt ermöglicht hatte. Damit hatte er seine Legitimität weitgehend eingebüßt. Ungehorsam und Widerspruch wurden dagegen zu höchst wertvollen Handlungsmustern erhoben, die Verbrechen gegen die Menschlichkeit verhindert konnten. Vom Nationalsozialismus mehr oder weniger abstrahierend, avancierte die Bekundung der eigenen Meinung auch in der politischen Theorie der sechziger Jahre zum unverzichtbaren Signum demokratischer Gesellschaften. Reformorientierte Intellektuelle wie Ralf Dahrendorf oder Jürgen Habermas warben öffentlichkeitswirksam für Meinungspluralismus und beklagten dessen defizitäre Verankerung in der westdeutschen Gesellschaft. Angesichts der Heterogenität der in diesen Texten kursierenden Kommunikationsideale, die hier nicht vertieft werden können, treten die Gemeinsamkeiten umso deutlicher hervor: Erstens wurde »die« Diskussion unter den an öffentlichen Einfluss gewinnenden, liberalen und linksliberalen Stimmen stets als etwas Positives gefasst. Meinungsaustausch sollte ermöglicht, verbessert und gestärkt werden. Zweitens wurden Diskussionen stets mit Demokratie verknüpft, so unterschiedlich die Demokratiemodelle auch im Detail waren. Drittens kam diese positive Koppelung von Demokratie und Diskussion selten ohne einen negativen Rekurs auf Deutschland aus. In der Bundesrepublik, so der Tenor, wurde nicht, nicht genug oder nicht wirkungsvoll genug diskutiert. Das klang, stark vereinfacht, etwa bei Habermas’ prominenter Schrift über den »Strukturwandel der Öffentlichkeit« von 1962 durch. Dieses Buch kann auch als Warnung vor einer durch die Massenmedien strangulierten und insofern vermachteten westdeutschen Öffentlichkeit gelesen werden, in der an die Stelle räsonierender Privatleute die Masse der Kulturkonsumenten getreten sei.137 Und dies war auf ganz andere Art und Weise auch eine Beobachtung Ralf Dahrendorfs.138 Dass diese Personen aus einer Minderheitenposition heraus die westdeutsche Gesellschaft zu mehr Demokratie, Öffentlichkeit und Pluralismus aufriefen, dürfte ihr Ansehen unter den politisch interessierten Jüngeren gestärkt haben. Wie Moritz Scheibe zuerst und überzeugend gezeigt hat, verweist das von Habermas und Dahrendorf Mitte der sechziger Jahre ausgedrückte Defizitbewusstsein außerdem seismografisch auf das Selbstverständnis wachsender Teile 136 Leonhardt, S. 37. 137 Vgl. zu diesem »zweiten Strukturwandel der Öffentlichkeit« Habermas, Strukturwandel, S. 225–359, sowie zur historischen Einbettung des Textes Scheibe, S. 255–257. 138 Dahrendorf, Gesellschaft, widersprach damit auch den positiven Gesellschaftsdeutungen Helmut Schelskys. Einführend zu Gesellschaftsdeutungen und -konstruktionen der Nachkriegssoziologie Nolte, Gesellschaft, S. 208–390.

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der Intellektuellen, die hierarchische Strukturen sowie autoritäre Normen und Verhaltensweisen in der westdeutschen Gesellschaft diagnostizierten und daher nach Reformen verlangten. Die Sorge, die Bundesrepublik sei zwar im institutionellen Sinne eine Demokratie, habe aber keine »innere« Demokratisierung erfahren, wurde in immer neuen Varianten eindrücklich artikuliert.139 Zeitgleich bestätigten ausländische Beobachter und Wissenschaftler das Urteil einer im Vergleich mit anderen westlichen Demokratien defizitären »politischen Kultur«. Das galt vor allem für die prominente Studie von Almond und Verba, die in den frühen sechziger Jahren veröffentlicht wurde und diesen Terminus für die Wissenschaften entfaltete.140 Das Defizitbewusstsein westdeutscher und westlich orientierter Intellektueller wurde vom westlichen Ausland also kräftig unterstützt. In demoskopischen Umfragen zeigte sich aber wenig später bereits, dass immer mehr Menschen statt für »Gehorsam und Unterordnung« für »Selbständigkeit und freien Willen« plädierten.141 Der sich damit andeutende Wandel ist auf multiple Faktoren zurückzuführen, aber er verweist auch auf die Abwertung asymmetrischer Umgangsformen. Die kommunikativen Muster des barsch vorgebrachten Befehls und des schweigend vollzogenen Gehorsams verloren im kommunikativen Haushalt Westdeutschlands ihr Ansehen, langsam, aber unaufhaltsam. Das deutsche Defizitbewusstsein wurde wissenschaftlich nicht nur durch Soziologen und Politologen, sondern auch durch die Psychoanalyse flankiert. Ihre Protagonisten priesen Meinungs- und Erfahrungsaustausch in der Gruppe dem modernen Menschen im Allgemeinen – und den Deutschen im Besonderen. Nach den prominenten Thesen von Alexander und Margarete Mitscherlich, veröffentlicht 1967 unter dem Titel »Die Unfähigkeit zu trauern«, litten die Bundesbürger und -bürgerinnen an einer autoritären Fixierung auf Adolf Hitler sowie an dem Unvermögen, sich der nationalsozialistischen Vergangenheit zu stellen. Der konstatierte Teufelskreis zwischen Ich-Schwäche, Autoritätshörigkeit und gekränktem Narzissmus sei nur durch die beständige Erinnerung, Wiederholung, Durcharbeitung der Vergangenheit zu durchbrechen, kurz: durch das drüber reden.142 Nicht der mit militärischen Verhaltensweisen assoziierte Befehl, sondern die durch die Tabuisierung des Nationalsozialismus desavouierte Schweigsamkeit fungierten hier als negativ konnotierte Kommunikationsmuster, gegen welche das Gespräch als heilsame Alternative beworben wurde. Schweigsamkeit konnte dabei sowohl als Indiz individueller Schuld interpretiert werden wie als Beleg eines mangelnden Willens, sich dieser anzunehmen 139 140 141 142

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Vgl. Scheibe. Siehe auch den Forschungsbericht von Hodenberg, Intellektuelle Aufbrüche. Almond u. Verba, S. 79. Vgl. Scheibe, S. 259–264, mit Hinweisen auf weitere Literatur. Vgl. Mitscherlich u. Mitscherlich. Als erste Kritik siehe Moser. Zur Biografie von Alexander Mitscherlich siehe Dehli; Freimüller. Zur »Psychologisierung der Sozialdiagnose in den sechziger Jahren« siehe Nolte, Gesellschaftsstruktur. Zur kreativen Aneignung psychologischer und psychoanalytischer Deutungsmuster in der katholischen Kirche Ziemann, S. 261–314.

und sie kommunikativ zu verflüssigen.143 In dieser Perspektive war Nicht-Bereitschaft zur Diskussion mehr als undemokratisch. Sie war unmoralisch, pathologisch und typisch deutsch im schlechtesten aller möglichen Sinne. Noch stärker als anderswo in Europa oder den USA speiste sich der westdeutsche Konflikt um 1968 aus dem Umgang mit den Verbrechen des Nationalsozialismus.144 Nach Norbert Frei konnte das Unbehagen über die mangelnde NS-Aufarbeitung bei der jungen Generation aber nur deshalb aufkommen, weil sie längst begonnen hatte. Die in den späten dreißiger und frühen vierziger Jahren Geborenen waren den in der zweiten Hälfte der fünfziger Jahre einsetzenden frühen »Aufklärungsbestrebungen« in einer besonders »zwiespältigen Weise ausgesetzt«, denn den »kritischen Initiativen, wie sie von einer Minderheit älterer Intellektueller, aber auch aus den Reihen der eigenen ›großen Brüder‹ aus der HJ- und Flakhelfergeneration vorangetrieben wurden«, standen die »im Zweifelsfall abwehrenden oder apologetischen Reaktionen ihrer Väter und Mütter entgegen«.145 Während der Holocaust in der Familie wenig besprochen wurde, gehörte zur Schullektüre vieler 68er das »Tagebuch der Anne Frank«, einige Jugendliche sahen den Konzentrationslager-Film »Nacht und Nebel« (1955) oder kamen über die Massenmedien mit ersten Aufarbeitungsversuchen des Nationalsozialismus in Berührung.146 Werner Höfers »Frühschoppen« widmete sich 1959 den Hakenkreuz-Schmierereien an der gerade wieder eingeweihten Kölner Synagoge.147 Im gleichen Jahr kam der Antikriegsfilm »Die Brücke« von Bernhard Wicki in westdeutsche Kinos, den Annelie Keil im Jugendhof Vlotho nicht nur in der Gruppe mit anderen sah, sondern auch diskutierte.148 1961 begann der Eichmann-Prozess in Jerusalem, über den die deutsche Presse ausführlich berichtete, und 1963 der Auschwitz-Prozess in Frankfurt am Main.149 In einer für die politische Sozialisation entscheidenden Phase wurden 68er und 68erinnen also ebenso mit der Verdrängung des Nationalsozialismus konfrontiert wie mit den ersten und noch zaghaften Bemühungen der Aufarbeitung.150 Diese Kontrasterfahrung verdoppelte sich auf der Ebene kommunikativer Stile: Die in den späten dreißiger und vierziger Jahren Geborenen wuchsen in einer Gesellschaft auf, in der eine kleine, aber durchaus öffentlichkeitswirksame 143 Hierzu auch Albrecht, Frankfurter Schule, S. 516–518. Vgl. außerdem Schwan, S. 124–163. 144 Bereits im Rahmen des amerikanischen »Free Speech Movement« wurde der Holocaust aber auf die Agenda gesetzt. Vgl Gilcher-Holtey, Die 68er Bewegung, S. 56–60. 145 Frei, 1968, S. 79 f. Zur Beziehung der 68er- und der 45er-Generation siehe Herbert, Drei politische Generationen; Hodenberg, Konsens, S. 361–440. 146 Frei, 1968, S. 78 f. 147 Vgl. die Zuschauer- und Hörerpost in Akte 5665, Hörerzuschriften, zum Teil von A-Z, Sendereihe Internationaler Frühschoppen, Laufzeit 1959–1960, hier unter anderem Einsendungen zum »Frühschoppen« vom 27.12.1959 (Antisemitismus) sowie 3.1.1960 (Schmierereien an der Synagoge in Köln), HA WDR. 148 Gespräch d. Vf. mit A. Keil. 149 Zum Hintergrund Frei, Vergangenheitspolitik; Herf, Zweierlei Erinnerung. 150 Zur Intensivierung der öffentlichen Thematisierung der NS-Vergangenheit in den sechziger Jahren siehe Schildt, Umgang; Siegfried, Aufarbeitung.

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Gruppe von westlich orientierten Schriftstellern, Pädagogen, Wissenschaftlern beständig die Ermöglichung und Implementierung von Diskussionen als genuin demokratischer, »guter«, nicht-diktatorischer und westlicher Kulturtechnik einforderte, parallel das argumentative, begründende Gespräch über den Nationalsozialismus anregte und die Bereitschaft hierzu der Gesellschaft insgesamt absprach. Diese Widersprüchlichkeit der späten fünfziger und frühen sechziger Jahre, die von den politisch interessierten Gymnasiasten besonders intensiv wahrgenommen wurde, nährte die Proteste um 1968. Es war nicht allein der Verdruss über vermeintlich bleierne Zeiten, der schließlich zu einer offenen Protestbewegung führte, sondern vielmehr die Spannung zwischen dem von wenigen formulierten Plädoyer zur Aufarbeitung des Nationalsozialismus und dem Unwillen der breiten Mehrheit, diesem Plädoyer nachzukommen. Dieses Spannungsverhältnis konnte auch deshalb eine solche Dynamik entfalten, weil sich die Vermeidung von bestimmten Themen der Kommunikation mit der Vermeidung bestimmter kommunikativer Formen zu überlagern schien. Auch weil die Tabuisierung des Holocaust auf dem Selbstverständnis der heranwachsenden, akademischen, politisch links orientierten Jugend lastete, sollte im Umkehrschluss alles ausgesprochen werden. Westliche oder westlich geprägte Demokraten, so musste es der heranwachsenden Jugend scheinen, konnten diskutieren – die Deutschen hatten es zu lernen. Während viele Eltern weder diskursive Umgangsformen noch das Gespräch über den Holocaust zu Hause systematisch propagierten und praktizierten, gab es für politisch interessierte und begabte Abiturienten und Studierende relativ frühzeitig die Chance, beides zu tun, und zwar gleichzeitig. So wusste die aus dem amerikanischen Exil nach Deutschland reisende, jüdische Philosophin Hannah Arendt im Mai 1961 in einem Brief an Heinrich Blücher von einer Tagung der »Studienstiftung des deutschen Volkes« in der Eifel über die Stipendiaten Folgendes zu berichten: Wir sprachen erst über den Eichmann-Prozeß und davon ausgehend über Gott und die Welt, aber doch im wesentlichen über Politik. Adenauer sehr unbeliebt, obwohl die anwesenden Professoren versuchten, ihn zu verteidigen. Sie wissen, sie leben in einem unbeschreiblichen Saftladen. Man könnte mit ihnen was machen, aber es ist niemand da, der mit ihnen wirklich spricht. Sie waren sehr begeistert von mir, aber eben auch darum, weil es wirklich niemanden gibt auf weiter Flur. Der Generationsbruch ist ungeheuer. Sie können mit ihren Vätern nicht reden, weil sie ja wissen, wie tief sie in die Nazi-Sache verstrickt waren. Einige von ihnen waren in Amerika zum Studium und ganz erleichtert, daß ich den anderen halbwegs klarmachen konnte, wie man in Amerika über Politik diskutiert. Das schien ihnen allen wie ein Paradies. Vor allem, daß man nicht übelnimmt, sich nicht versteift, Meinungen ändern kann, andere anhören kann usw.151 151 Arendt u. Blücher, S. 43 f. Frei, 1968, S. 80, deutet den Anfang dieses Zitats als Hinweis auf das kommunikative Beschweigen des Nationalsozialismus, das die angehenden 68er belastete. Das übersieht, dass Arendt mit den Stipendiaten »über Gott und die Welt« sprach,

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Arendt ist insofern zu korrigieren, als die meisten Jugendlichen höchstens oberflächlich über die Verstrickungen ihrer eigenen Eltern in »die Nazi-Sache« informiert waren. Gerade darin lag für viele eine Belastung.152 Treffend sind aber die anderen von ihr genannten Strukturmerkmale jener kommunikativen Konstellation, in welcher die Kohorte der in den späten dreißiger und frühen vierziger Jahren geborenen, besonders leistungsstarken und als talentiert befundenen Abiturienten aufwuchs.153 Hierzu gehörte erstens der Eindruck, mit Älteren »nicht reden« zu können – und zugleich zweitens die Möglichkeit, genau das in einer Gruppe mit Gleichgesinnten zu artikulieren. Drittens ist auch die Begeisterung symptomatisch, die einer in zeitgenössischer Perspektive spezifisch amerikanisch-westlichen, dissensfreudigen Diskussionskultur entgegen gebracht wurde, welche Jugendliche und Studierende über Auslandsaufenthalte oder über westliche Intellektuelle kennenlernten. Schließlich war Arendt eine der prominentesten, aber keineswegs die einzige Intellektuelle, die in gezielt geschaffenen Arenen mit der »jungen Generation« doch noch ins Gespräch kam.154 Die normative Überhöhung von Meinungsaustausch als genuin demokratischer Kulturtechnik und die damit verknüpfte Desavouierung von Schweigsamkeit als Ursache des Nationalsozialismus wie als Indikator eines fortlebenden autoritären Charakters prägte 68er und 68erinnen in Kindheit und Jugend. Das Nebeneinander beider Deutungsmuster delegitimierte jene Lehrer, Eltern und später Professoren, die einen Meinungsaustausch autoritär zu unterbinden suchten, auf mehrfache Weise. Wer eine Diskussion verhinderte, der verhielt sich undemokratisch, nazistisch und typisch deutsch. Zuweilen sprachen die protestierenden Studierenden der älteren Generation die Befähigung zum wahrhaftigen, verständlichen und wahrheitsorientierten Gespräch sogar von also auch ganz andere Themen anriss. Und offenbar hatte sie auch hier den gleichen Gesamteindruck: Die Stipendiaten hatten ein großes Bedürfnis nach Austausch, und es war auch deshalb so groß, weil es von Professoren und Eltern nicht erfüllt wurde. 152 Vgl. Welzer; Bar-On u. Schmidt; Heimannsberg u. Schmidt; Boll, Sprechen. 153 Ob unter den von Arendt beschriebenen Stipendiaten auch spätere Aktivisten der westdeutschen Studentenbewegung saßen, ist nicht bekannt, für das obige Argument auch nicht entscheidend. Es handelte sich aber um genau die Alterskohorte, aus der die 68er hervorgingen, wobei einige der Prominentesten von ihnen Stipendiaten der Studienstiftung gewesen waren: Gudrun Ensslin und Berward Vesper. Das galt auch für Personen wie Ulrike Meinhof und Hans Magnus Enzensberger, die etwas älter waren, die Studentenbewegung aber stark beeinflussten. 154 Auch in den kirchlichen Akademien erhielten die Abiturienten und Studierenden die Chance, sich mit Professoren über Themen jenseits des fachspezifischen Curriculums auszutauschen. Beispielsweise berichtete der Rektor der Universität Stuttgart, Fritz Leonhardt, wie er während einer Tagung über »Volk, Nation und Vaterland« mit Studierenden – und Protagonisten der Studentenbewegung – diskutierte. Diese Tagung fand an der Evangelischen Akademie in Bad Boll statt, deren Leiter wiederum Eberhard Müller war, Autor des bereits erwähnten Studienbuchs über »Die Kunst der Gesprächsführung«. Leonhardt, S. 21.

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vornherein ab. »Wir können die Herrschenden nicht zwingen, die Wahrheit zu sagen«, formulierte Bernward Vesper in seinem tagebuchartigen Essay über die Zeit der Studentenbewegung, »aber wir können sie zwingen, immer unverschämter zu lügen.«155 Vespers Ehefrau Gudrun Ensslin teilte diesen Eindruck und spitze ihn zu – unter Rekurs auf den Nationalsozialismus.156 Sie soll auf einer öffentlichen SDS-Versammlung am Abend des 2. Juni 1967, kurz nachdem Benno Ohnesorg erschossen worden war, geschrien haben: »Sie werden uns alle umbringen – ihr wisst doch, mit was für Schweinen wir es zu tun haben – das ist die Generation von Auschwitz, mit der wir es zu tun haben – man kann mit Leuten, die Auschwitz gemacht haben, nicht diskutieren.«157 Ensslin, die sich dem Terrorismus verschrieb, war keine typische Vertreterin der Studentenbewegung. Doch der Eindruck, mit einer älteren Generation konfrontiert zu sein, die für den Holocaust verantwortlich war und sich für das argumentative Gespräch auch deshalb nicht eignete, war weit verbreitet. Zugleich erhöhte dies den Druck auf 68er und 68erinnen, selbst zum Sprechen in der Gruppe in der Lage zu sein. Nach ersten Erfahrungen mit Gruppendiskussionen berichteten etwa Mitglieder der K2 von einer Zweiteilung in jene, die aktiv redeten, und jene, die schwiegen. Die »Schweigenden« hätten »ihr Unvermögen, zur gemeinsamen Arbeit beizutragen, als subjektiven Mangel« empfunden, »ihre Unfähigkeit erschien als privates Problem – als psychische Hemmung, die in den Debatten unter dem Schlagwort ›Autoritätsproblem‹ verhandelt wurde«.158 Interessant ist nicht die beobachtete Asymmetrie in argumentativen Gesprächen, sondern vielmehr, dass die Schweigsamkeit einiger Teilnehmer weder als Ergebnis informeller Hierarchien gedeutet noch als Ausdruck persönlicher Entscheidung oder Veranlagung akzeptiert wurde. Die Schweigsamkeit erfuhr stattdessen eine Pathologisierung, indem man sie als Ausdruck einer autoritären Charakterstruktur las – und damit als latentes Indiz einer faschistischen Persönlichkeit, die es umso dringlicher zu überwinden galt.

4.6 Dauerdiskussionen als Vergemeinschaftung und Distinktion 68erinnen und 68er kontrastierten ihre Bereitschaft zum Gespräch mit der empfundenen Diskussionsfeindlichkeit der Gesellschaft. Sie begriffen sich vor allem auch in dieser Hinsicht als Avantgarde. »Kommune«, so ein Text aus dem Umfeld der Studentenbewegung in West-Berlin, »versucht, das Selbstverständliche, das was nirgendwo in dieser Gesellschaft besteht, zu verwirklichen: Kommunikation. Oder: weil in unserer Gesellschaft Kommunikation unmöglich ist, 155 156 157 158

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Vesper, Die Reise, S. 9. Zur Lebensgeschichte der beiden siehe die essayistische Darstellung von Koenen, Vesper. Zit. n. ders., Das rote Jahrzehnt, S. 383. Kommune 2, Versuch, S. 20.

müssen wir Kommune machen.«159 Zugleich begannen die Protestierenden eine intensive Arbeit am Selbst. Nach Rudi Dutschke musste das Individuum nicht nur gegen autoritäre Herrschaftsstrukturen aufbegehren – es musste sich selbst von ihnen befreien. Antiautoritäres Handeln wurde daher als permanenter Lernprozess gefasst. Der Anspruch auf Bildung von Gegenmacht durch Gegeninstitutionen wie Kommunen, Kinderläden und Gegenuniversitäten – eine zentrale Transformationsstrategie der Neuen Linken – verband sich dabei mit der Aufarbeitung des Holocaust zu einer spezifischen Form der Vergangenheitsbewältigung.160 Auch vor diesem Hintergrund wurde im Umfeld der Studentenbewegung eine Praxis zelebriert, mit der sich autoritäre Charakterstrukturen sowohl aufdecken wie reduzieren ließen: das Diskutieren. Wenn sich Vertreter der Neuen Linken mündlich und in Gruppen über Orgasmusprobleme austauschten oder gemeinsam eine Gruppengesprächstherapie durchführten, ging es nicht zuletzt um die kommunikative Verflüssigung autoritärer Charakterstrukturen. Wie Dagmar Herzog betont, las die Neue Linke die vermeintliche Unterdrückung von Sexualität, vor allem die Lustfeindlichkeit, in der Linie von Wilhelm Reich als unmittelbares Indiz einer latent faschistoiden, repressiven Gesellschaftsstruktur, die von den Individuen gleichsam inkorporiert worden war – und damit als Hinweis auf jene deutsche Vergangenheit, welche 68erinnen und 68er aus ihren Handlungsdispositionen auszugrenzen versuchten.161 Solange »die Menschen die biologische Anforderung der natürlichen (orgastischen) Selbstbefriedigung nicht zulassen«, hatte Wilhelm Reich unter Eindruck des aufziehenden Dritten Reichs formuliert, blieben »auch echte Demokratie und verantwortungsbewusste Freiheit Illusion«.162 In Weiterentwicklung dieser These erklärte Arno Plack, es wäre »kurzschlüssig zu meinen, alles das, was in Auschwitz geschah, sei typisch deutsch«. Es sei aber »typisch für eine Gesellschaft, die die Sexualität unterdrückt«.163 Und es schien, so ließe sich hinzufügen, typisch für eine Gesellschaft zu sein, die über Sexualität nicht offen sprach. In den ständigen Gruppendiskussionen über private Liebesprobleme – nach Herzog in dieser Intensität typisch für die Neue Linke vor allem in der BRD164 – verschmolz die Wertschätzung für Diskussionen als genuin demokratische, nicht-dikatorische Verhaltenstechnik mit dem Bemühen, autori159 An., Systematische Gebrauchsanweisung für alles andere, in: Sander u. Christians, o. S. 160 Vgl. Gilcher-Holtey, 68er Bewegung, S. 61. 161 Herzog, Antifaschistische Körper, S. 541, führt die in der westdeutschen Protestbewegung besonders ausgeprägte Beliebtheit Wilhelm Reichs auf ein von den 68ern empfundenes Verlangen zurück, »die Lektionen der älteren Generation umzukehren«, das heißt: die vermeintlich in den Körpern eingespeicherte Erfahrung des Faschismus aus den Körpern zu vertreiben. 162 Reich, Funktion, S. 19. Siehe auch ders., Die sexuelle Revolution. Zur Verknüpfung von Marxismus und Psychoanalyse im Werk Reichs sowie zu seiner Wiederentdeckung in der Oppositionsbewegung der sechziger Jahre vgl. Schulz, 1968, S. 122–124. 163 Zit. n. Herzog, Antifaschistische Körper, S. 542. 164 Vgl. ebd., S. 530.

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täre Charakterstrukturen und Tabus aller Art an die Oberfläche zu holen und argumentativ aufzulösen. Die diskursive Energie im Umfeld der Studentenbewegung diente daher nicht immer der expliziten Aufarbeitung der Vergangenheit, aber beständig deren Abarbeitung oder genauer: performativen Wegarbeitung aus dem Habitus, und zwar unabhängig davon, welches Thema konkret verhandelt wurde. Wer zu einem zwanglosen Gespräch in der Gruppe nicht in der Lage war oder sich ihm verweigerte, der stand implizit unter Verdacht, den Nationalsozialismus noch immer in sich zu tragen und – schlimmer – sich der notwendigen Therapeutisierung zu entziehen. Dass es auch die »nicht enden wollenden Diskussionen über Orgasmus und Weltrevolution« waren, die in den Worten Barbara Sichtermanns, »die Jugend zur APO trieb[en]«, war nicht zuletzt dem spezifischen Nimbus diskursiver Handlungsweisen in post-diktatorischen Zeiten zu verdanken.165 Das Bemühen, eine performative Wandlung vom autoritären zum unautoritären, vom gehorchenden, schweigenden oder befehlenden zu einem alle Tabus – von Libidoproblemen bis hin zum Nationalsozialismus – offen aussprechenden und in der Gruppe frei redenden Individuum zu vollziehen, wurde praktisch gelebt und verinnerlicht. Und es wurde als Distinktionsmerkmal nach außen getragen. Schon dass so viele Quellen über kommunikative Routinen der Studentenbewegung im Umlauf sind, war keineswegs primär dem dokumentarischen Willen Außenstehender zu verdanken. Wichtig war vielmehr das Bemühen der Aktivisten selbst, die Flüchtigkeit eines mündlichen Gesprächs zu fixieren. Im Kontrast zur Elterngeneration und im Einklang mit Studierenden anderer Länder inszenierten sich die 68er als eine Generation, die Probleme nicht verdrängte, sondern offen zur Sprache brachte. Dieses Selbstbild wurde fotografisch untermauert. Zahlreiche in den zeitgenössischen Printmedien abgedruckte Bilder der Studentenrevolte zeigten immer wieder das gleiche Motiv, nämlich Diskussionen, wobei die Forschung inzwischen die geschickte Instrumentalisierung massenmedialer Dynamiken durch die Studentenbewegung herausgearbeitet hat.166 In das kollektive Gedächtnis der alten Bundesrepublik hat sich daher nicht nur das Bild von Demonstrierenden eingebrannt, die Hand in Hand und im Dauerlauf durch die Straßen stürmen. Auch die Gestik und Mimik diskutierender Studenten wurden Bestandteil der Ikonografie von »68«. Zur Repräsentation der Studentenbewegung gehört die Darstellung von überfüllten Räumen mit Personen, die sich dicht gedrängt um Mikrophone scharen und ganz offensichtlich: diskutieren.167 Über manche Podiumsdiskussion wurden ganze Dokumentarfilme gedreht und in Umlauf gebracht.168 Vor allem aber fertigten die Aktivisten mit großer 165 Sichtermann, S. 113. 166 Siehe mit Hinweisen auf weitere Literatur Kraushaar, 1968 und die Massenmedien. 167 Vgl. Ruetz, 1968; ders., Ihr müßt; Larsson; Das Establishment antwortet der APO, Buchumschlag. 168 Vgl. Transkripte und Standbilder zeitgenössischer Filme in Wolff u. Windaus.

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Akribie Protokolle an und veröffentlichten sie.169 Auch auf diese Weise demonstrierten sie eine enorme Bedeutung, die man dem freien Gespräch zuwies. Das galt für psychoanalytisch überhöhte Gruppendiskussionen, aber auch für genuin politische Gespräche und öffentliche Veranstaltungen. Ein Beispiel für Letzteres ist der berühmte Berliner Vortrag von Herbert Marcuse über »Das Ende der Utopie« vom Juli 1967. Nicht nur der Vortrag wurde veröffentlicht, sondern auch das anschließende Gespräch, worauf der Untertitel des Buches sogar den Fokus legte: »Herbert Marcuse diskutiert mit Studenten und Professoren Westberlins an der Freien Universität über die Möglichkeiten und Chancen einer politischen Opposition in den Metropolen in Zusammenhang mit den Befreiungsbewegungen in den Ländern der Dritten Welt.« Die Umschlag-Innenseite betonte, die Protokolle seien keineswegs nachträglich angefertigt oder gar redigiert worden, sondern basierten auf den »vollständigen Tonbandprotokollen«.170 Das stellte die Wertschätzung für das gesprochene und nicht-zensierte Wort der Umwelt – und der Nachwelt – unter Beweis. Die Herausgeber des Buches schrieben dem gesprochenen Wort also höchste Bedeutung zu – und ließen ihre Leser und Leserinnen unmittelbar daran teilhaben. Diskussionen waren aber nicht nur nach außen als Distinktionsmerkmal für die Bewegung wichtig, sondern auch nach innen als eine von allen geteilte, hochgradig vergemeinschaftende Schlüsselerfahrung. Für die Konstituierung eines Generationenbewusstseins von Gleichaltrigen sind Erfahrungen zentral, die durch eigene Erlebnisse verankert werden und sich weder den Älteren noch den Nachgeborenen vermitteln lassen.171 Dazu gehörte die Erfahrung intensiver Diskussion. Aufschlussreich sind die Erinnerungen der bereits erwähnten 68erin Annelie Keil. Sie, die 1969 sogar am Woodstock-Festival teilgenommen hatte, erinnert nicht alleine die physische Partizipation an kollektiven Großereignissen, sondern ebenso deren Verarbeitung im Modus gemeinsamer Gespräche als zentrale Erfahrung ihrer politischen Biografie sowie als Motor weiteren Engagements: Die Verabschiedung der Notstandsgesetze, die Verhaftung der schwarzen Bürgerrechtlerin Angela Davis in den USA, die Reden von Rudi Dutschke und die Attentate auf ihn und Benno Ohnesorg, die Massaker von My Lai in Südvietnam (1968) und der Vietnamkrieg insgesamt, die großen Vietnamdemonstrationen in Westberlin (1966) und anderswo, später die große Demonstration gegen das geplante AKW Brokdorf (1976), der Radikalenerlass und die Berufsverbote, die mit den unglaublichsten Begründungen ausgesprochen wurden, waren für mich nicht irgendwelche Ereignisse, sondern Auslöser nächtelanger Diskussionen und nervenaufreibender Auseinandersetzungen, kontroverser Einschätzungen und letztlich Anlass zur persönlichen wie 169 Vgl. Kommune 2, Versuch; Sander u. Christians; Wolff u. Windaus; Zoller; Vesper, Bedingungen. Zum kalkulierten Spiel mit massenmedialer Repräsentation siehe Fahlenbrach; Liehr; Lachenmeier. 170 Kurnitzky u. Kuhn, S. 7. 171 Vgl. Giesen.

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beruflichen Beteiligung an anderen gesellschaftlich relevanten Bewegungen, die die »geistigen Strömungen« aufnahmen, wie die Frauenbewegung, Schwulen- und Lesbenbewegung, Antipsychiatrie- und Gesundheitsbewegung, Lehrlings-, Schüler- und Jugendzentrumsbewegung, Hausbesetzerbewegung oder die Bewegung gegen Sozialabbau.172

Tatsächlich waren nächtelange Diskussionen und nervenaufreibende Auseinandersetzungen nicht nur inhaltlich für die Beteiligten relevant und symbolisch hochgradig aufgeladen, sondern sie stellten auch eine verbindende Erfahrung und physische Anstrengung dar. Sprechen ist eine körperliche Tätigkeit, die mit einer spezifischen Mimik und Gestik verbunden war sowie – im Umfeld der Studentenbewegung – mit großer körperlicher Nähe. Dicht gedrängt standen, saßen oder hockten die Aktivisten nebeneinander und tauschten sich aus.173 In solchen Momenten wurden argumentative Siege errungen und Niederlagen erlitten, Allianzen gebildet und wieder aufgelöst, Endorphine ausgeschüttet und Hemmschwellen überwunden. Als sich das Generationenbewusstsein der 68er in den späten sechziger Jahren zu formieren begann, verbrachten diese den Großteil ihres Alltags daher schlichtweg im immer gleichen Handlungsmodus: dem Diskutieren. Die Gesprächsform war omnipräsent und schrieb sich daher – so meine Vermutung – in den Habitus und die Erinnerung der Beteiligten nachhaltig ein, und zwar auch im Sinne einer leiblichen Erfahrung. Nach Oskar Negt waren es die sich ins Unendliche ziehenden Dauerdiskussionen, in denen »der größte Teil der Ideen, der Sprachformeln, der Symbolorientierungen der Bewegung von ’68 geboren« wurden.174 Aber auch das Selbstverständnis der 68er als 68er wurde maßgeblich während und durch Diskussionen kreiert. »Reden, reden, reden« war 1969 ein Zeitungsartikel betitelt, der eine Wiener Wohngemeinschaft porträtierte. »Konflikte«, so verriet einer der Kommunarden, »werden bei uns ausdiskutiert, das strengt oft an!«175 Nicht die Lust, sondern der Zwang zum Argumentieren bestimmte für ihn offenbar den Alltag in der österreichischen Szene. Besonders drastisch aber sind die Beschreibungen von Dagmar Przytulla, einer ehemaligen Bewohnerin der West-Berliner K1. Przytulla erzählt in einem Interview, wie sie in den späten sechziger Jahren ungeplant schwanger wurde, worüber sie sich eigentlich gefreut habe. Aber in einer »großen Kommunedebatte« wurde beanstandet, dass sie »das Schwangerwerden nicht vorher mit der Kommune besprochen hatte«. Auch der vermutliche Vater, Dieter Kunzelmann, distanzierte sich, und am Ende der Diskussion stand daher die Entscheidung für einen Schwangerschafsabbruch.176 Da Moderatoren in solchen Gesprächen nicht eingesetzt wurden, hingen die pragmatischen Glückensbedingungen verstärkt von der Position eines Sprechers oder 172 173 174 175 176

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Vgl. Keil, S. 9. Ruetz, 1968, S. 38, 47, 48, 61, 118, 119, 120, 122, 123, 126 f.; Larsson, Bild 184. Negt, Achtundsechzig, S. 186. Zit. n. Danneberg u. a., S. 307. Zit. n. dem Interview von Kätzel, S. 210 f.

einer Sprecherin im sozialen Feld ab – Przytulla konnte sich nicht durchsetzen. Der Abbruch wurde durchgeführt und aus der Kommunekasse bezahlt. Spätestens danach, erklärt Przytulla rückblickend, war für sie klar, dass sie nicht länger in der Kommune bleiben wollte.177 Aber auch wenn die Erfahrungen weniger traumatisch waren, wurde die Omnipräsenz von Gruppengesprächen in der Sphäre des vormals »Privaten« zuweilen als Belastung empfunden. So erinnert sich eine einstige Berliner Aktivistin, sie und ihr Ehemann hätten andere Kommunen besucht, um sich an deren Gesprächen zu beteiligen. Man habe darüber geredet, »wie die Privatheit aufgehoben werden könnte«. Die rückblickende Bewertung solcher Ereignisse fällt auffällig negativ aus: »Mich hat das irgendwann ziemlich angekotzt, vor allem diese Kommunediskussionen.«178 Aber Diskussionen waren eben nicht nur eine Quelle des Ärgers, sondern auch der Aufregung, des Stolzes, der Befriedigung und Lust. Vor allem waren sie omnipräsent. So kam es bei manchen zu einer Habitualisierung von Streitlust und permanenter Gesprächsbereitschaft, die auch nach Ende der Studentenbewegung ein typisches Signum der ehemals Beteiligten bildete. Annelie Keil erinnert im Hinblick auf die siebziger Jahre, während um sie herum »bei den Studierenden der jungen 68iger der Organisations- und Schulungswahn tobte«, habe sie sich »als Hochschullehrerin an der Universität Bremen mit Freunden zu den ›Mittwochssozialisten‹ bekannt, einer Gruppe von engagierten Linken, die sich Mittwochs am großen Tisch in meiner Wohngemeinschaft zur Diskussion ihrer Stellungnahmen trafen«.179 Tagebücher lassen ebenfalls erahnen, wie kontroverse Gespräche zum zentralen Interaktionsmuster nicht nur politischer Zirkel, sondern auch privaten Lebens werden konnten. Zwar kritisierte Heide Berndt in ihrem Tagebuch aus den siebziger Jahren ihren Ehemann für dessen Unfähigkeit zur Selbstkritik im Gespräch. Er würde »jede Diskussion« mit ihr »als stolzer Sieger« verlassen, weil nur dies mit seinem Verständnis von Männlichkeit vereinbar sei: »Also darf Verständigung nicht sein.«180 Ihr ExFreund, erinnert sich Berndt, habe sie immerhin »in der Illusion der intellektuellen Verständigung« wach gehalten: »Und doch hat er seine Unfähigkeit zur ›herrschaftsfreien Kommunikation‹, wie das der herrische Habermas nannte, nur auf einer höheren Ebene agiert.«181 Selbst solche Frustrationen führten aber nicht zur Abwertung des Interaktionsmusters. Im Gegenteil. Berndt suchte ihren Tagebuchnotizen zufolge immer wieder das Gespräch mit ihrem Mann, und auch beim Besuch von Freunden fiel sie offenbar wie selbstverständlich in einen argumentativen Modus, sodass die kommunikative Gattung Diskussion an die Stelle der klassischen Konversation trat: Das Gespräch in Gesellschaft war idea177 Ebd, S. 211. Zur Lebensgeschichte siehe aus der Innenperspektive Kunzelmann sowie jetzt Reimann. 178 Zit. n. dem Interview von Kätzel, S. 49. 179 Keil, S. 8. 180 Vgl. Tagebuch Heide Berndt, Bd. 2, 9.7.1974, Nl. Heide Berndt, APO-Archiv. 181 Ebd.

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liter ein Austausch von Argumenten. Nur bei dieser Tätigkeit fühlte sich Berndt lebendig und authentisch, und genau hierin sah sie eine Zentraldifferenz zu Ehepaaren außerhalb des linksalternativen Milieus: Als »junges Ehepaar mit Kind« bekommen wir jetzt eine Menge Kontakte zu »normalen« Leuten unserer Einkommensschicht und Herkunft. Sehr merkwürdig ist das, nicht mit Genossen zu verkehren. Auf die Dauer wohl sterbenslangweilig. […] wie deren Leben sich gestaltet, wohl bald befriedigt, weil ständig die gleichen Klischees darin auftauchen, an erster Stelle der Holzkohlengrill, das teure Fleischessen, die guten alkoholischen Getränke und die Sorgen um die schlanke Linie. Nicht, daß ich etwas gegen solche Freuden und Sorgen hätte, aber wenn Gespräche in diesen Dingen aufgehen, wenn außer ein paar bürgerlichen Fachsimpeleien der Mütter und den [unleserlich, d. Vf.] nichts mehr geredet wird, ist’s schon traurig. Nicht einmal schlimm. Aber furchtbar traurig. Wieviel lieber streite ich mit [Name unleserlich, d. Vf.] und Karin über ihr Sympathisieren und Mitläufertum bei der KP bzw. SWE. Ich ärgere mich zwar sehr wenn Karin mit [unleserlich, d. Vf.] verkündet, daß man sich »entscheiden müsse« (was ich für dämlichen Existentialismus halte), wenn [Name unleserlich, d. Vf.] gar persönliche Karriere (was ihm unbenommen sei!) mit politischer Theorie verwechselt. Aber in solch hitzigen Diskussionen spielt sich mehr Leben ab als beim guten Essen von jungen Medizinern oder besseren Bankangestellten.182

Die Disposition zum symmetrisch angelegten, argumentativen Meinungsaustausch in allen Lebenslagen gehört als Erkennungsmerkmal auch zur literarisch verdichteten 68er-Generation dazu. Rund zehn Jahre nach den Schüssen auf Benno Ohnesorg trat der Soziologe Urs Jaeggi, geboren 1931, als Schriftsteller hervor und legte einen autobiografisch inspirierten Roman über die westdeutsche Studentenbewegung vor.183 »Brandeis« war Erfolg beschieden, und als das Buch 1998 aufgrund der noch immer bestehenden Nachfrage in Neuauflage erschien, lobte das Nachwort: »Eine der ehrlichsten Aufrechnungen der Studentenbewegung, die anschaulichste Darstellung der Szene, die aufrichtigste Bilanz jener Zeit ist dieser Roman.«184 Zumindest in formaler Hinsicht ist Jaeggis Darstellung ungewöhnlich, weil sie den Leser über Seiten an mündlichen Diskussionen beteiligt: Vermeintlich ungekürzt werden die mal banalen, mal gespreizten und häufig redundanten Wortwechsel zwischen WG-Bewohnern oder Kommilitonen in direkter Rede wiedergegeben, mitunter sind auch seitenlange Wortprotokolle abgedruckt, etwa unter dem Titel »Arbeiter diskutieren über Demokratie«.185

182 Tagebuch Heide Berndt, Bd. 2, 31.8.1974, APO-Archiv. 183 Jaeggi. Urs Jaeggi, 1931 in der Schweiz geboren, erhielt 1966 einen Ruf an die neu gegründete Reformuniversität Bochum. Nach einem Forschungsaufenthalt an der New School for Social Research in New York lehrte er von 1972 bis 1982 an der Freien Universität Berlin. 184 Hunt, S. 284. 185 Jaeggi, S. 149–151, Zitat S. 149. Vgl. auch ebd., S. 24 f., S. 47 f., 53 f., 116 f., 121–123 u. a.

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Allerdings werden solche Gespräche keineswegs immer als produktive Verfahren des Erkenntnisgewinns, sondern durchaus ambivalent beschrieben. »Es war etwas Neues, Erregendes«, so stellt die Hauptfigur von Urs Jaeggis Roman aus der Dozentenperspektive zwar einerseits fest, wie die Jüngeren »diskutierten, wie die aufgebrachten und interessierten Studenten die Hörsäle und Seminare füllten und überfüllten. Sie redeten unaufgefordert, griffen ein, wo sie es für nötig fanden, gaben dem angeschnittenen Thema eine ganz neue Richtung, bohrten sich ins Neue. Die Studenten teilten sich in Gruppen, diskutierten, schrieben Arbeitspapiere, redeten, fast Tag und Nacht.«186 Andererseits soll Brandeis, der Protagonist, reden, obwohl er dies nicht möchte: [I]n Bochum, im Juli 1969, sitzt er lange Abende in der Wohngemeinschaft von Kurt. Warum kannst du darauf nichts sagen, fragt Kurt. Überleg dir das doch. Weshalb weichst du aus? Streng dich doch an. Du wirst hier nicht bedroht, wir bedrohen dich nicht. Du kannst ganz frei reden, versuch es. Versuch ganz frei zu reden, auch wenn es dir schwerfällt.187

In nuce enthalten diese Passagen die zentrale These der vorliegenden Fallstudie. Gezeigt werden sollte, dass »1968« auch für eine bestimmte Erfahrung der Face-to-Face-Kommunikation steht, nämlich für die Erfahrung, pausenlos zu diskutieren – tagsüber im Teach-in, abends in der Kneipe und nachts in der Wohngemeinschaft, ohne Beschränkung der Zeit und ohne Beschränkung der Themen sowie nicht selten unter erheblichem kollektiven Druck. Es überrascht vor diesem Hintergrund nicht, wie intensiv diese hohe Diskussionsdichte von den Beteiligten im Rückblick beschrieben worden ist – mal ironisch, mal wehmütig, mal entsetzt und manchmal mit unüberhörbarem Stolz in der Stimme. Ein Hang zur Glorifizierung ist den Erinnerungen Barbara Sichtermanns eigen: Resümierend kann man sagen, daß 1968 die bundesdeutsche Demokratie vertiefte, ausbaute und differenzierte. […] Bis dahin galten Hierarchien als Einbahnstraßen – von oben kamen Befehle, unten wurde gehorcht. Wer keine Lust hatte, nur zu gehorchen, mußte eben sehen, daß er nach oben kam. Jetzt wurde mit diesem Prinzip gebrochen. Einfache Arbeiter, Mitglieder, Angestellte, Soldaten, Kinder, Hausfrauen, Bittsteller und so weiter – sie alle sollten sagen können: Nein. Warum? Oder: Das sehe ich nicht ein. Oder: Dazu möchte ich meine Meinung sagen. Und sie alle begriffen in Windeseile und fingen an, dazwischenzureden. Für die alten Funktionseliten war das eine grausame Störung ihrer Geschäftsgänge. Aber der neue Geist des Widerspruchs buhte sie aus. Eine Ära unerhörter »Diskussionen« begann, ein wölfischer Debattenhunger brach aus.188

Sichtermann erkennt also im Rückblick einen enormen Wandel kommunikativer Handlungsmuster gegen Ende der frühen Bundesrepublik. Wenn sie er186 Ebd., S. 60. Vgl. auch ebd., S. 24 f., 47–48 und 53–59. 187 Ebd., S. 54. 188 Sichtermann, S. 105.

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innert, überall sei »das Diskussionsfieber« ausgebrochen,189 so ist diese der Pathologie entlehnte Begriffswahl keineswegs abwertend gemeint. Eher scheint es Sichtermann um die Art und Weise zu gehen, mit dem sich der Wille zur Diskussion verbreitete: Wie ein Virus griff er immer weiter um sich und infizierte jeden, der mit ihm in Berührung gekommen war. Den bisherigen Ausführungen zufolge mag dieses »Diskussionsfieber« zwar an der Oberfläche plötzlich ausgebrochen sein – ihm ging aber eine über Jahrzehnte währende Inkubationszeit voraus. Die nur vordergründig schubartige Verdichtung öffentlicher Kommunikation lässt sich abschließend noch einmal anhand einer Regionalstudie von Thomas Küster über das »Erlernen des Dialogs« am Beispiel eines Gütersloher Gymnasiums in den späten sechziger Jahren veranschaulichen. Ab 1967 sei es in der dortigen Schülerzeitschrift, so Küster, bereits zu »Vorboten einer kritischeren Wahrnehmung« und einer »gestiegenen Aktionsbereitschaft« gekommen, indem etwa die Zensur von Schülerzeitschriften behandelt wurde. Die massiven Demonstrationen anlässlich des SchahBesuchs und des Todes von Benno Ohnesorg lösten dann zwar »keine unmittelbaren Reaktionen« aus, immerhin aber veranstaltete ein Diskussionskreis, der sich im Rahmen der politischen Bildung am Gymnasium gebildet hatte, eine Podiumsdiskussion zu diesem Thema.190 Im Verlauf des Sommers 1967 kam es in Gütersloh dann zu öffentlichen Demonstrationen, an denen sich zahlreiche Schülerinnen und Schüler beteiligten. Im folgenden Jahr radikalisierten sich die Proteste, sodass etwa die Christvesper 1968 in eine Diskussionsveranstaltung über den Wohlstand der westlichen Industrieländer und die Not in der »Dritten Welt« transformiert wurde.191 Die Bereitschaft zum Gespräch über die 68er-Bewegung, so folgert Küster, sei bereits während der Hochphase der Proteste sehr ausgeprägt gewesen. Und die »Fähigkeit zum kritischen Dialog« habe sich daher nicht erst in den siebziger Jahren als Folge dieser Ereignisse ergeben. Sie sei vielmehr »unter jenen Altschülern und Schulverantwortlichen, die der Generation der 30- bis 40-Jährigen angehörten, auch schon vor 1968 […] deutlich ausgeprägt« gewesen.192 Genau das geriet in den Dekaden nach 1968 aber in Vergessenheit – die Selbstinszenierung (und Selbstwahrnehmung) von 68ern und 68erinnen als einzig wahrhaftig diskutierender Generation war höchst erfolgreich. Auch von Nachgeborenen wird die Disposition zum Meinungsaustausch als Merkmal »der« 68er beschrieben, nun oft in pejorativer Absicht. »Die 68er haben genug gequatscht«, findet etwa Kitty Caspari.193 Sie ist die wortkarge Protagonistin eines bissigen Romans über die westdeutsche Studentenbewegung aus der Per189 Ebd., S. 109. 190 Küster, S. 690. 191 Ebd., S. 693 f. Zur Schülerbewegung siehe ergänzend Schildt, Nachwuchs, zeitgenössisch Haug u. Maessen; Amendt. 192 Küster, S. 695. 193 Dannenberg, S. 135.

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spektive jener, die als Kinder der 68er das Licht der Welt erblickten. Die Autorin Sophie Dannenberg, Jahrgang 1971, beschreibt die Träume der damaligen Aktivisten sowie die Traumata eines in ihren Reihen geborenen Mädchens, das antiautoritäre Erziehungsexperimente »erlitten« hat. In den Feuilletons wurde dieser Roman aus dem Jahr 2004 scharf kritisiert. So zeigte sich die »Frankfurter Rundschau« empört über den »schauerlichen Kitsch« des »Anti-68erKettensägenmassaker[s]«,194 und die »Süddeutsche Zeitung« mokierte sich über den »unerbittlich-herrischen Gestus« von Dannenbergs »Abrechnung«, die ebenso »unlustig« wie »läppisch« sei.195 Das Monatsmagazin »NEON«, das sich explizit an Menschen zwischen zwanzig und dreißig Jahren richtet, bewertete den Roman dagegen positiv. Es handele sich um das »lustigste Buch der Welt«, und das war den Redakteuren sogar die Einrichtung einer Internet-Seite wert.196 Unter dem Motto: »›Du, lass uns mal drüber reden‹: NEON-Leser schreiben über die 68er-Spleens ihrer Eltern« wurde die Zielgruppe zum digitalen Austausch über Dannenbergs Debüt aufgerufen.197 Zu den mit »68« in Verbindung gebrachten Auffälligkeiten gehörte also ein bestimmtes Kommunikationsverhalten: die Aufforderung zum Gespräch, umgangssprachlich formuliert, ergänzt durch ein Füllwort, das den Eindruck von Eile vermeidet, und eingeleitet durch eine Anrede, die Nähe suggeriert: »Du, lass uns mal drüber reden.« Beispielhaft sei auch auf »Faserland« verwiesen, ein deutscher Roman aus dem Jahr 1995, der das Lebensgefühl der um 1970 Geborenen und in gut situierten Verhältnissen aufgewachsenen jungen Westdeutschen zu veranschaulichen suchte. Der Autor Christian Kracht, geboren 1966, präsentierte hier einen jungen Mann aus wohlhabendem Hause, der von einem adeligen Freund in einer teuren Barbour-Jacke mit den Worten beschimpft wird, er sei »ein blöder Hippie, der glaubt, man könne Sachen verändern durch Diskussionen«.198 Interessant an dieser Zuschreibung ist, wie eindeutig der Glaube an die Kraft der Argumente allein den »Hippies« zugeschrieben wird, womit 68er und 68erinnen gemeint sein dürften – obwohl sich in deren Diskussionsbereitschaft nur ein Trend der frühen Bundesrepublik insgesamt verdichtete, der um und unmittelbar nach 1968 seinen Höhepunkt erreichte und schließlich an seine Grenzen stieß. 68erinnen und 68er, so ist abschließend festzuhalten, forderten das »Diskutieren« als einen dominanten Interaktionsmodus im hochschulpolitischen Bereich ein, verankerten es über neu geschaffene Kommunikationsräume und kommunikative Techniken und übertrugen es in außeruniversitäre Sphären der Gesellschaft. Jenseits der Möglichkeit, dass unterschiedliche Konflikte auch unterschiedliche Lösungsmodi benötigen, wobei sich manche Konflikte nur non194 195 196 197 198

Hillgruber, S. 16. Mangold, Nie wieder Wendland, S. 16. Mocek, S. 154. Ebd. Kracht, S. 58.

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verbal oder gar nicht regeln lassen, wurde versucht, hochschulpolitische bis intim-sexuelle Probleme nach einem analogen Muster, nämlich über stunden-, tage-, nächtelange Gespräche vermeintlich herrschaftsfrei zu lösen. Die 68erGeneration kultivierte damit eine Kommunikationskultur, die auf betont lockeres und zwangloses Argumentieren setzte. Allerdings haben die Versuche, Grenzen des Verstehens argumentativ einzureißen – nur scheinbar paradox – Grenzen des Verstehens vorausgesetzt und geschaffen. Ersteres gilt für die Beziehung der 68er zu Vertretern der älteren Generationen, die angeblich oder tatsächlich nicht zu diskutieren vermochten. Letzteres betrifft das Verhältnis zwischen 68ern und Protagonisten der jüngeren Generation. Diese sind mit den Aporien endlosen Argumentierens aufgewachsen und empfinden die Forderung nach Diskussion nicht mehr als Novum. Vielmehr erkennen sie hierin das Charakteristikum einer älteren Generation, die ihnen fremd gegenübersteht.

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5. Von der Diskussionslust zum Frust. Ausblick in die siebziger und achtziger Jahre In zeitgenössischer Perspektive brach das Diskussionsfieber um 1968 nicht nur überall aus, wie Barbara Sichtermann betont, sondern vor allem ausgesprochen plötzlich. Meines Erachtens weist die Diskursivierung der westdeutschen Gesellschaft dagegen bis mindestens in die unmittelbare Nachkriegszeit zurück, wobei sie tendenziell schicht-, alters- und geschlechtsübergreifend wirkte. Unterstützt durch alliiertes Know-how wurde im Radio und Fernsehen, in der Schule und in Kursen zur politischen Bildung für Diskussion als demokratische Kulturtechnik geworben, die es nach den Erfahrungen des Nationalsozialismus regelrecht neu zu erlernen gelte. Die in den späten dreißiger und vierziger Jahren Geborenen bildeten die erste Kohorte, die in diesen institutionalisierten Gesprächsarenen von Beginn an aufwuchs, zugleich aber in der Familie und im Schulunterricht im Regelfall mit einer monologisch-hierarchischen Kommunikationskultur konfrontiert wurde, gegen die sie sich schließlich mit einem aggressiven Gesprächsstil zur Wehr setzte. Die Widersprüchlichkeit der frühen Bundesrepublik setzte damit Energien frei, die zunächst in der Studentenbewegung kulminierten und sich später im Habitus vieler 68erinnen und 68er verfestigten. In den siebziger und achtziger Jahren bestand die hohe Wertschätzung von Diskussionen fort, vor allem im linksalternativen Milieu.1 In den zahlreichen Wohngemeinschaften, in Eltern- und Männergruppen, Bürgerinitiativen, in den neuen sozialen Bewegungen und in Gruppentherapien wurden politische, persönliche und auch sexuelle Konflikte der gleichen Lösungsstrategie unterworfen: argumentativer Meinungsaustausch in der Gruppe.2 Auch die »Beziehungskiste« der siebziger und achtziger Jahre, so der Soziologe Hubert Knoblauch, bestand »vor allem aus Diskussionen«.3 Die Bereitschaft zum radikalen, authentischen, durch keinerlei Rücksichtnahme auf eigene Gefühle oder die Befindlichkeit der anderen begrenzten Gespräch galt im linksalternativen Milieu als notwendige Basis der Überwindung eines repressiven Habitus – und damit einer repressiven Gesellschaft. Das war jedenfalls der Eindruck des in den sieb1 Zu sozialen, politischen und kulturellen Tendenzen der Bundesrepublik »nach dem Boom« siehe Doering-Manteuffel u. Raphael mit Hinweisen auf die grundlegende Literatur. 2 Für die breite Palette der im linksalternativen Milieu rezipierten metakommunikativen Literatur siehe stellvertretend Richter, Die Gruppe; ders., Lernziel; Schwäbisch u. Siems. Zu kommunikativen Praktiken in den neuen sozialen Bewegungen Roth, Kommunikationsstrukturen. Zu den Männergruppen, die sich zwischen den Polen »Ausdiskutieren und Ausschwitzen« beziehungsweise »institutionalisierter Dauerreflexion und neuer Wildheit« aufrieben, siehe Behnke u. Meuser. 3 Knoblauch, Einleitung, S. 8 f.

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ziger Jahren im linksalternativen Milieu prominenten Psychoanalytikers HorstEberhard Richter. Er begleitete eine Reihe von »progressiven Elterngruppen« und politischen »Initiativgruppen« des studentischen Spektrums, die im Wochenrhythmus oder noch öfter Gruppengespräche in Anwesenheit eines Psychoanalytikers führten. Richter notierte seine in diesen Arenen gemachten Erfahrungen in einer Art Werkstattbericht, der 1972 in erster, 1978 bereits in zehnter Auflage erschien. Der Autor berichtete dort etwa, wie sich Mitglieder einer von ihm begleiteten politischen Initiativgruppe trefflich durch den Vorwurf der »Diskussionsunlust« hatten provozieren lassen – was einen intensiven Meinungsaustausch anregte.4 Zum verbindenden Element der Elterngruppen zählte er eine radikale Bereitschaft zu Kritik und Selbstkritik und ein rücksichtsloses Streben nach Wahrhaftigkeit: Wenn sie also mit sich selbst unzufrieden sind, so überbieten sie sich einander im Grad der Selbstverurteilung. Diese Neigung zur Kraßheit und Übertreibung entspricht dem Ideal, daß man ja nichts vertuschen oder verschleiern will. Das ist ja eben eine der wichtigsten Kontrastnormen gegenüber dem üblichen bürgerlichen Sprachstil: Man will um keinen Preis etwas beschönigen oder retuschieren. Denn man glaubt, daß die Repression mit der Tendenz beginne, in der Sprache Mißstände zu verharmlosen. Eben dies wollen sie bei sich keineswegs zulassen. […] Das Ideal der rücksichtslosen Wahrhaftigkeit gegenüber sich selbst und in der Gruppe spielt eine große Rolle. Derjenige genießt in der Gruppe eine hohe Achtung, der sich selbst in seinen Mängeln unverhüllt darstellen kann und der sich zu jeder Zeit fähig zeigt, Kritik zu ertragen. Diese Neigung, mit der äußeren Welt wie mit sich selbst unerbittlich, ja oft grausam zu Gericht zu gehen, erscheint mir zumal für ältere Beobachter mitunter erschreckend. […] Manchmal hat man den Eindruck, daß hier eine Gegenreaktion gegen die traditionellen Mechanismen des narzistischen Selbstschutzes in ein problematisches Extrem ausgeschlagen ist.5

Der 1923 in Berlin geborene Horst-Eberhard Richter gehörte selbst zu jenen »älteren Beobachtern«, die dem Hang der Jüngeren zum mündlichen Wortgefecht teilweise irritiert gegenüberstanden. Trotzdem befürwortete und unterstützte er die Bereitschaft zum Gespräch. Es sei erstens ein »ungeheurer Fortschritt«, die 4 Richter, Die Gruppe, S. 222: »Zwischen diesem Zusammentreffen und der nächsten offiziellen Sitzung eine Woche später veranstaltete der Studentenkreis zusammen mit einer der Kinderladen-Elterngruppen der Stadt einen Filmabend. Man hatte sich eine Kopie des Fernsehfilms von Gerhard Bott ›Erziehung zum Ungehorsam‹, der die Kinderladenerziehung behandelt, besorgt. Die anschließende Diskussion fiel ziemlich langweilig aus, so als seien diese revolutionären Erziehungsformen das Selbstverständlichste von der Welt. […] Da es schien, als drücke man sich darum herum, sich mit dem Film auseinanderzusetzen und Farbe zu bekennen, machte der Verfasser eine Bemerkung, in der er die offenkundige Diskussionsunlust ansprach. Das wirkte prompt provozierend. Ein älteres Mitglied der Getto-Arbeitsgruppe griff den Verfasser an und warf ihm autoritäres Verhalten vor. Der Verfasser habe anläßlich der letzten Sitzung mehrere Male Diskussionsvoten regelrecht benotet.« 5 Ebd., S. 171 f.

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Suche nach neuen Formen des Zusammenlebens im Gespräch anzugehen, anstatt Konventionen fortzuschreiben.6 Außerdem sei per se wertvoll, »daß diese Menschen laufend intensiv und kritisch über das Neue, was sie experimentierend tun, nachdenken und sprechen«.7 Gerade die »unablässige kritische Reflexion der Erfahrungen« war nach Richter ein intrinsisch bedeutsamer Eigenwert der »Gruppen«, wobei die Radikalität dieses Anliegens häufig verkannt würde: Außenstehende machen sich vielfach keine zutreffende Vorstellung davon, mit welcher nahezu wissenschaftlichen Gründlichkeit derartige Gruppen das, was sie machen, beobachten und im einzelnen durchsprechen. Das sieht z. B. so aus, daß das Benehmen der Kinder im Kinderladen und die Wechselbeziehungen zwischen erwachsenen Aufsichtspersonen und Kindern regelmäßig protokolliert werden. Die Protokolle liegen zum Durchlesen aus und werden auf den gemeinsamen Diskussionsabenden genau besprochen.8

Die Arbeit von Horst-Eberhard Richter steht exemplarisch für die Aufwertung von Diskussionen in Wissenschaften wie Psychologie, Philosophie, Pädagogik, Soziologie, Politikwissenschaft sowie in Institutionen wie dem Bildungswesen, der staatlichen Kindererziehung, aber eben auch der Psychotherapie – eine Tendenz, die sich durch die gesamte frühe Bundesrepublik zog und spätestens an der Wende zu den siebziger Jahren machtvoll und unübersehbar an die Oberfläche trat. Richter hatte nach einem Studium der Medizin, Psychologie und Philosophie sowie einer Ausbildung zum Psychiater zunächst in Berlin gearbeitet, vorübergehend an der Psychiatrischen und Neurologischen Klinik der Freien Universität Berlin, bevor er 1962 einen Lehrstuhl für Psychosomatik erhielt und 1973 Geschäftsführender Direktor des Zentrums für Psychosomatische Medizin am Klinikum der Justus-Liebig-Universität Gießen wurde. Er trieb die Hinwendung der Psychoanalyse zur stärker diskursiven Gruppentherapie voran, betonte aber zugleich, diese »neue Bewegung« sei »weniger eine Erfindung der Psychotherapeuten«. Vielmehr handele es sich um »deren zwangsläufige Reaktion auf veränderte Therapiebedürfnisse der Menschen«. Es kämen nämlich »immer mehr Menschen zum Psychotherapeuten, die lernen wollen, sich einer Gruppe zu öffnen, in einer Gruppensituation etwas den anderen zu geben und von den anderen etwas zu nehmen«.9 Wie diese Beobachtung veranschaulicht, ist Diskursivierung nicht in einer Top-down-Logik als Tendenz zu denken, die von den Wissenschaften auf die Ebene sozialer Praxis diffundierte. Vielmehr wurde die Verwissenschaftlichung des Kommunikativen von sich wandelnden Mentalitäten, Bedürfnislagen und Handlungsdispositionen angeregt und vorangetrieben. 6 7 8 9

Ebd., S. 174. Ebd., S. 176, Hervorhebung im Original. Ebd., S. 177, Hervorhebung im Original. Ebd., S. 34. Biografische Angaben nach ebd., Klappentext.

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Auch die Entstehung der Diskursethik lässt sich in Teilen als philosophische Theoretisierung und vor allem Elaborierung dieser breiteren, mentalitätsgeschichtlichen Tendenz lesen. 1973 veröffentlichte der westdeutsche Philosoph Karl-Otto Apel seine einschlägige Studie über das »Apriori der Kommunikationsgemeinschaft«, während sein Kollege Jürgen Habermas 1971 die »Vorbereitenden Bemerkungen zu einer Theorie der kommunikativen Kompetenz« vorgelegt hatte. Diese und andere Texte richteten sich ganz auf den an Wahrheit, Richtigkeit, Verständlichkeit und Wahrhaftigkeit orientierten Austausch von Argumenten über Geltungsansprüche zwischen idealiter gleichberechtigten Gesprächspartnern als Findungs- und Herstellungsmodus menschlicher Vernunft und Wahrheit.10 Die Diskursethik wurde in der bundesdeutschen Philosophie von konservativer Seite zwar scharf attackiert.11 Sie war aber vielen Menschen außerhalb der Philosophie unmittelbar plausibel. Vor allem Habermas’ Schriften scheinen einen in bestimmten Milieus latent ohnehin bestehenden Wissensbestand ausgedrückt haben, wobei Wissen hier nicht als objektive Erkenntnis, sondern als kulturelle Sinnstiftung zu verstehen ist. Die allgemeine Wertschätzung für Diskussionen erklärt nicht nur die breite Rezeption der Schriften, sondern auch die Vereinfachungen, zu denen es dabei kam. Obwohl sich etwa Habermas’ Ausführungen zum »herrschaftsfreien Diskurs« nur auf die begründete Rede über Geltungsansprüche bezogen (also gerade nicht auf Kommunikation insgesamt) und obwohl sie eine »ideale Sprechsituation« von Alltagskontexten abgrenzten, wurden beide Formeln mitunter wörtlich genommen, um alltägliche Erfahrungen an ihnen zu messen. Ein Beispiel hierfür bietet das »Kursbuch«, Selbstverständigungsorgan der Neuen Linken. Es lieferte 1974 eine Analyse linker Subkultur, die sich auf »Vorbereitende Bemerkungen zu einer Theorie der kommunikativen Kompetenz« von Jürgen Habermas stützte: In der Kneipe, so scheint es doch, kann man alles sagen. Viele halten sie für einen Ort, an dem man ungezwungen und frei reden kann. Manchem gar mag sie als Vorwegnahme einer »idealen Sprechsituation« erscheinen. Denn in ihr ergibt sich augenscheinlich eine zwanglose »Kommunikationsstruktur«, aufgrund derer »für alle möglichen Beteiligten eine symmetrische Verteilung der Chancen, Sprechakte zu wählen und auszuüben, gegeben ist.« Es besteht in ihr »nicht nur prinzipielle Austauschbarkeit der Dialogrollen, sondern eine effektive Gleichheit der Chancen bei der Wahrnehmung von Dialogrollen« (Habermas, a. a. O., S. 137). In der Kneipe kann also potentiell nicht nur jeder mit jedem (und jeder) reden, sondern es gibt in ihr keine Statusunterschiede, die es etwa einzelnen oder einer Gruppe von Gästen erlauben würden, andere zu fragen oder etwas zu behaupten, ohne selbst nach dem gefragt werden zu können, was sie behaupten. In ihr ließe sich das schöne Modell einer herrschafts10 Vgl. Habermas, Vorbereitende Bemerkungen; ders., Wahrheitstheorien; Apel, Transformationen, Bd. 2. Zur Biografie von Habermas vgl. Moses, German Intellectuals, S. 105–130. Zur Genese der »Frankfurter Schule« Albrecht u. a., Die intellektuelle Gründung. Einführend zur Diskursethik in philosophischer Perspektive Steinhoff. 11 Zur zeitgenössischen Kritik an der »Utopie der Herrschaftsfreiheit« vgl. Spaemann sowie die Analyse von Hacke, vor allem S. 194–204.

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freien Diskussion noch am ehesten für realisierbar halten, wenn sie nicht gerade in einem entscheidenden Punkt dessen Karikatur wäre. / In der Kneipe findet nämlich keineswegs eine freie Diskussion statt, sondern in gewissem Sinne eine Befreiung von der Diskussion. Es gilt in ihr nicht der »zwanglose Zwang des besseren Argumentes« (a. a. O., S. 137), sondern gerade der Verzicht auf einen Argumentationszwang. / Denn die sich abends in den Kneipen versammeln machen tagtäglich die Erfahrung, daß Argumentationen auch im scheinbar zwanglosen Diskurs von Seminaren oder politischen Gruppen trotz des Ziels der Wahrheitsfindung, dem sie dienen, in ihrem Ergebnis nicht zu trennen sind von Chancen des Statuserwerbs und Prestiges. Der Argumentationszwang, dem alle vernünftige Diskussion sich unterwirft, impliziert die Notwendigkeit, in den jeweiligen Gruppen Position zu beziehen. Und das empfinden sie als ungemein belastend. Unabhängig von jeder Sachhaltigkeit ist eine Diskussion für sie ein Kampf um Anerkennung […]. Auch der »zwanglose Zwang des besseren Argumentes« erzeugt den Zwang, besser zu argumentieren.12

Der Autor, Klaus Laermann, stilisierte die Kneipe also als einen Ort, der für die tentative Annäherung an das Kommunikationsideal eines herrschaftsfreien Diskurses unter freien und gleichberechtigten Gesprächspartnern vordergründig besonders geeignet schien. Tatsächlich aber, so seine Beobachtung, finde gerade keine »Diskussion« statt, sondern eine Befreiung von einem außerhalb der Kneipe allgegenwärtigen »Argumentationszwang«. Zumindest seiner eigenen Wahrnehmung zufolge lebte Laermann bereits in einer Welt, in der vielerorts argumentiert werden musste, wobei die Sprecherinnen und Sprecher eher an ihrer Reputation als der Erkenntnissuche interessiert schienen. Diskussionslust, so lässt sich schlussfolgern, stellte sich in diesen Kontexten nicht mehr notwendig ein, aber die Gesprächsform hatte eine Institutionalisierung erfahren, und so wurde eifrig weiter diskutiert – aus der Macht der Gewohnheit, um auf Andere Eindruck zu machen und um Sanktionen zu vermeiden. Außerhalb des linken Alternativmilieus sind ähnliche Tendenzen zu erkennen, wenngleich deutlich weniger ausgeprägt. Die sozialdemokratischen Schulreformen zielten immer konsequenter auf die weitgehende Vermeidung frontaler Wissensvermittlung, vor allem in Gemeinschaftskunde, aber auch in Geschichte, Deutsch und anderen Fächern. Diese Forderung war von Minderheiten schon lange vorher angeregt worden, ließ sich aber erst jetzt in zahlreichen Bundesländern konsequent durchsetzen.13 Den Protagonisten der Studentenbewegung ist in diesem Rahmen zu verdanken, dass sie die öffentliche Sensibilität für eine dialogisch orientierte Schule, die zum Widerspruch, zum Hinterfragen und zur Kritik erzog, noch einmal stärkte, wobei viele selbst den Lehrerberuf wählten. Neben die Sozialisationsinstanz Schule trat die Familie. Zumindest als Tendenz fand ein Wandel der Erziehungsstile »vom elterlichen Verbot zur Begründung« statt, der in den fünfziger Jahren bereits vorbereitet

12 Laermann, S. 177, unter Rekurs auf Habermas, Vorbereitende Bemerkungen. 13 Einen, allerdings sehr knappen, Überblick der Bildungsdiskurse der Siebziger bietet Uhle.

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wurde und sich in den sechziger Jahren mehr und mehr durchsetzte.14 Aus der »schweigenden Kindheit« scheint nach und nach eine »Kindheit des Sprechens und Zwischenrufens geworden« zu sein, wobei verlässliche Studien zur Ebene sozialer Praxis für die unterschiedlichen Milieus noch ausstehen.15 Gerade familiäre Kommunikationsstile variierten zwischen den Milieus, aber auch jenseits akademischer Kreise sind Diskursivierungstendenzen wahrscheinlich. Horst-Eberhard Richter etwa betreute in den siebziger Jahren eine neunköpfige Familie aus einer »Randschichtsiedlung«. Der Vater war Gelegenheitsarbeiter, beide Eltern hatten bereits eine psychiatrische beziehungsweise nervenklinische Behandlung hinter sich. Ein entscheidendes Problem des Familienlebens sah Richter darin, »daß der eine den anderen im Streitfall stehen läßt und aus der Stube oder gar aus dem Haus läuft«.16 Die betreuenden Psychoanalytiker hätten dagegen auf argumentative Lösungsmechanismen gedrungen, die sich angeblich auch ansatzweise etablierten.17 Für eine kleinbürgerliche Familie im ländlichen Schwaben der achtziger Jahre liegt eine ethnografische Studie vor, die bereits einen hohen Grad an Diskursivierung vermuten lässt. Der Vater war gelernter Schneider, ehemaliger Restaurantbesitzer und dann Verkäufer. Die Familienmitglieder trafen sich regelmäßig, um strittige Themen zu besprechen. In der Sprache des 25-jährigen Sohnes, eines Polizeibeamten, hieß dies, »also bewuß ä Thema herausgreife und da irgend ä These dazu aufstelle, auf des die andere anspringet«. Der Soziologe Hubert Knoblauch weist ausgehend von dieser Fallstudie auf die hohe gemeinschaftsbildende Funktion vordergründig oft destruktiver und ergebnisloser Gespräche hin, die zu einer stabilisierenden Routine der untersuchten Familie geworden seien.18 Der Journalist Reinhard Mohr beschrieb die Bundesrepublik der siebziger und achtziger Jahre als ein Land, in dem Linksalternative »in Wohngemeinschaften lebten und über Orgasmusschwierigkeiten diskutierten«. Aber auch insgesamt sei Westdeutschland auf dem Weg gewesen, »eine diskutierende Gesellschaft zu werden«, was Mohr – vorschnell – für ein Ergebnis der 68er-Bewegung hielt:19 Noch in der parteipolitischen Phrase, man solle im Streitfall »weniger übereinander als miteinander reden«, setzte sich die weichgespülte Version der alternativen Idee von der Heilkraft pausenlosen Diskutierens fort. Auch der durchaus bemerkenswerte Satz »Lieber tausendmal reden als einmal schießen«, der einen zentralen Topos der Regierung Kohl/Genscher krönte, drückte das mittlerweile vorherrschende Bewußtsein der westdeutschen Gesellschaft aus, die angesichts der apokalyptischen Bedrohung der friedlichen Wohlstandsintensität durch Atomkrieg und Umweltzerstörung

14 15 16 17 18 19

Niehuss, S. 333; Rahden, Demokratie. Trotha, S. 461. Richter, Die Gruppe, S. 275. Ebd., S. 281. Vgl. Knoblauch, Kommunikationskultur, S. 113–144, Zitat S. 141. Mohr, S. 90.

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den alles umfassenden kritischen Diskurs entdeckt hatte. »Schluß mit dem Quatsch! Jetzt wird erst mal diskutiert!« – was 1967/68 als subversive Aktion auf Unternehmerversammlungen, in Staatstheatern und Kirchen anfing, war inzwischen der kategorische Imperativ der ganzen Gesellschaft geworden. Plötzlich begannen auch grundsolide und beruflich erfolgreiche Bürger, über alles zu reden, alles irgendwie in Frage zu stellen, auch den anderen zu Wort kommen zu lassen, erst mal genau hinzuhören und eigene Positionen – wenn nicht radikal, dann wenigstens gründlich – zu überdenken. Auch in Fernsehspielen, Familienserien und Tatort-Krimis nahm das Reden über gesellschaftliche Probleme kein Ende. Jetzt erst hatte die Soziologie, als universitäre Disziplin längst im Winterschlaf, noch eine späte, große Stunde. Jürgen Habermas schrieb zwar keine Fernsehdrehbücher, aber Kommissar Schimanski und Kollege Thanner kämpften noch an der Currywurstbude um den transsubjektiven Geltungsanspruch normenregulierter Handlungen und expressiver Selbstdarstellungen.20

In Mohrs essayistisch-ironischer Skizze hatte sich die Idee von der »Heilkraft pausenlosen Diskutierens« vom linken Milieu in alle Nischen der Bundesrepublik ausgebreitet, sodass die Protagonisten bundesdeutscher Fernsehunterhaltung nach herrschaftsfreiem Diskurs im Habermas’schen Sinne strebten und »grundsolide« Bürger begannen, »über alles zu reden«. Die im »Kursbuch« von 1974 für das linke Milieu gemachte Beobachtung einer Omnipräsenz argumentativer Interaktion wurde also auf das Leben in Westdeutschland insgesamt ausgedehnt, wobei Mohr einen selektiven Blick hatte, der vor allem die Massenmedien, die Eliten und das eigene – journalistische und linke – Umfeld einschloss. Mit seiner Einschätzung stand er gleichwohl nicht alleine da. Erstmals in den achtziger Jahren wurde auch in den amerikanischen Sozialwissenschaften behauptet, eine besonders ausgeprägte Streitkultur im Öffentlichen wie im Privaten sei ein spezifisches westdeutsches Phänomen – keine zwanzig Jahre vorher hatte genau das Gegenteil als typisch deutsch gegolten.21 Natürlich ist zwischen verschiedenen sozialen Gruppen und kommunikativen Räumen zu unterscheiden, aber insgesamt lässt sich vermuten: Während stundenlange Diskussionen in der Schule, in der Kaffeepause oder sogar beim Verzehr des Sonntagsbratens im Verlauf der frühen Bundesrepublik immer seltener begründet werden mussten, gerieten tendenziell jene Personen in Begründungsnot, die den Sinn einer solchen Praxis in Zweifel zogen. Diese Aufwertung der kommunikativen Gattung Diskussion wurde durch Prozesse der Westernisierung und Amerikanisierung sicherlich begünstigt. Wie gezeigt, waren Westdeutsche immer wieder beeindruckt von dem lässigen, informellen, lockeren Umgangsstil der Amerikaner, von amerikanischen und britischen Diskussionsformaten. Ein Beispiel hierfür ist eine weit verbreitete Ratgeberschrift von Georg Fabian, die unter dem Titel »Diskutieren – Debattieren« erstmals 1964, in zweiter Auflage 1966 und 1977 bereits in siebter Auflage er20 Ebd., S. 89. 21 Vgl. Hall u. Hall; Baker u. a.

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schien. Für Fabian, Jg. 1915, nach dem Krieg Lehrer in Osterode im Harz, Stadtjugendpfleger und Mitarbeiter im Kreis- und Stadtparlament, lag die »Stärke der angelsächsischen Staaten« gerade in »zahlreichen Formen der Diskussion und Debatten«. »Das Leben dort« würde »in einem Maße von diesen Gesprächsformen durchsetzt, wie wir es uns kaum vorstellen können«. Das bewiesen nicht nur die zahlreichen »debating societies« und »discussion-clubs«, sondern auch »die überraschend hohe Zahl von Veröffentlichungen über Diskussion und Debatte«.22 Beeindruckt zeigte sich Fabian vor allem von Bruno Laskers Werk »Democracy through Discussion«, das kurz nach dem Zweiten Weltkrieg verfasst worden war. Er formulierte: »Demokratie durch Diskussion! Die Diskussion ist eine wesentliche Ausdrucks- und Lebensform der Demokratie. Ohne Diskussion ist die Demokratie nicht denkbar.«23 Die Emphase, mit welcher das Motto »Demokratie durch Diskussion« in solchen Texten aufgegriffen wurde, war aber weit mehr als passive Übernahme britisch-amerikanischer Vorgaben. Offenbar fiel dieser Gedanke in Deutschland auf einen besonders fruchtbaren Boden, er überzeugte vor dem Hintergrund historischer Erfahrungen, wurde modifiziert und symbolisch überhöht. Großer Bedeutung kam dabei dem stereotypen Bild der deutschen Vergangenheit als einer durch physische Aggression sowie Befehl und Gehorsam strukturierten Gesellschaft zu. Mit »dem Blick auf unsere jüngste Geschichte«, so Fabian, »können wir sagen: Das ›monologische Zeitalter‹ ist bei uns vorüber, jene Zeit, in der nur einer im Parlament sprach, nur eine vorgefaßte Meinung galt.« Aber auch außerhalb des Parlaments sei Demokratie ohne Diskussion nicht denkbar: »Wer nie die Meinung anderer anhört, nur aus sich heraus entscheidet, ist auf dem besten Wege, ein ›Nichtdemokrat‹ zu werden. Er gerät sehr bald in Widerspruch zur Gemeinschaft.«24 Diskussionsbereitschaft wurde in diesem Text also nicht nur beworben, sondern mit Nachdruck eingefordert: Wer sich in der jungen Demokratie nicht verdächtig machen wollte, der hatte seine Fähigkeit zum Hinhören unter Beweis zu stellen. Auch deshalb dürften die Westdeutschen, wie vorne bereits gezeigt, in Umfragen zur Häufigkeit politischer Diskussionen im Alltag in den frühen siebziger Jahren nun sogar über Großbritannien oder Frankreich gelegen haben. Sie entledigten sich der Insignien einer undemokratischen Gesellschaft. Die Diskursivierung der westdeutschen Gesellschaft verweist damit weniger auf eine »Ankunft im Westen« (Axel Schildt),25 sondern eher auf dessen eigentümliche und demonstrative Überholung, die auch der Bearbeitung eines deutschen Schuldkomplexes diente. In Hinblick auf den Diskussionsstil blieben nationale Differenzen ohnehin bestehen – zumindest langfristig. Das lässt sich anhand der akademischen Gesprächskultur in der politisch eher linken Disziplin der Friedensforschung ver22 23 24 25

Fabian. S. 23. Ebd., S. 10. Ebd. Schildt, Ankunft.

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anschaulichen. Der norwegische Friedensforscher Johan Galtung verglich in den frühen achtziger Jahren kommunikative Verhaltensweisen seiner Kollegen. Der Stil der britisch-amerikanischen Wissenschaftler fördere den Diskurs, da er von der allgemeinen Auffassung ausgehe, […] daß Intellektuelle ein Team bilden, daß ihre Zusammengehörigkeit bewahrt bleiben muß, daß es ein Gentleman’s Agreement gibt, demzufolge »wir zusammenhalten und trotz unserer Differenzen unsere Debatte fortsetzen sollten«, daß der Pluralismus ein übergreifender Wert ist, der höher steht als die Werte, die den individuell oder kollektiv vertretenen Glaubenssystemen zuerkannt werden. Seminare führen vorwiegend Leute verschiedener Prägung zusammen; wer den Vorsitz hat, wird die Debatte zurückhaltend leiten, und der/die erste Diskutant(in) wird seine oder ihre Wortmeldung mit der üblichen Bemerkung beginnen, wie etwa: »Es war ein Vergnügen, den Vortrag von Mr. X zu hören, und ich bewundere nicht nur seine Beherrschung der Fakten sondern auch die Zusammenstellung der Fakten, aber …«26

Nach diesem »aber«, so Galtung, folgten dann unter Umständen »viele bohrende Spitzen und beißende Bemerkungen«, wobei die Differenzen zwischen den USA und Großbritannien in der Relation der beiden skizzierten Redeteile liege.27 In den USA sei das Lob lang, die Kritik kurz, in Großbritannien dagegen umgekehrt. Ähnlich würde der US-Professor in einem Graduiertenseminar alles tun, »um selbst in der miserabelsten Darstellung doch jenes kleine Körnchen Gold zu finden, das, wenn man es poliert, noch einen glaubwürdigen Glanz erzeugt«, was man von seinem britischen Kollegen nicht unbedingt erwarten könne.28 Beide, so die Quintessenz, gingen aber gemeinsam »von dem Gedanken aus, in einer Debatte die verschiedensten Anschauungen zur Sprache zu bringen und sie zu konfrontieren, damit sich letzten Endes vielleicht etwas ergebe, das mehr ist als die Summe seiner Teile. Es gilt, den anderen aufzubauen, nicht, ihn fertigzumachen.«29 Diese kooperative, Brücken bauende Grundhaltung unterschied sich nach Galtung prinzipiell von jenem Diskussionsverhalten unter Akademikern, das er an westdeutschen, aber auch an französischen Universitäten beobachtet hatte: Erst einmal wird die Meinungsstreuung oder Meinungsvielfalt in einer einzelnen Debatte wahrscheinlich viel kleiner, das Publikum viel homogener sein, so daß man es mit weniger Widerspruch zu tun hat. Zweitens wird es selbst unter Freunden keine Höflichkeitsbezeugungen in der Einführung geben, jedenfalls mit Sicherheit nicht, wenn auch nur die geringste Diskrepanz der Meinungen vorliegt. Drittens wird sich niemand von seinem oder ihrem Weg abbringen lassen, nur um das kleinste Körnchen Gold zu finden, das kleine Element der Hoffnung, auf dem sich aufbauen ließe – im Gegenteil: die Diskutanten werden schnurstracks auf den schwächsten Punkt zu26 27 28 29

Galtung, S. 308 f. Ebd., S. 309. Ebd. Ebd.

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steuern. […] Dieser schwächste Punkt wird aus dem Meer von Worten herausgefischt, ins hellste Rampenlicht gestellt, damit auch ja keine Zweifel aufkommen, und dann mit dem Seziermesser auseinandergenommen, was mit beachtlicher Wendigkeit und Verständigkeit geschieht. Vermutlich wird sich die Debatte weitgehend derartigen Aspekten widmen, und wenn überhaupt, so wird es am Ende nur wenige besänftigende Worte geben, um den Angeklagten als menschliches Wesen wieder aufzurichten; kein Versuch wird unternommen, das Blut aufzuwischen, und das verletzte Ego wieder zusammenzufügen. Entgegen der sachsonischen Sitte, sich bei solchen Gelegenheiten in Humor und Schulterklopfen zu üben, ist hier der Blick eher kühl, die Miene starr, und in den Augenwinkeln ist womöglich eine Spur von Hohn und Spott zu erkennen. Der Vortragende erlebt die Situation als Opfer.30

Galtungs zugespitzte Ausführungen basierten nicht auf systematisch und empirisch durchgeführten Forschungsprojekten, sondern auf seiner eigenen Erfahrung als Akademiker auf internationalem Terrain. In diesem Sinne kann die Quelle aber sehr wohl als Indikator für große Differenzen zwischen westdeutscher und britisch-amerikanischer Diskussionskultur im akademischen Bereich mehr als dreißig Jahre nach Kriegsende gelesen werden. Galtungs Urteil ist dabei jener Kritik von US-Amerikanern auffällig ähnlich, die nach 1945 die geringe kommunikative Kompetenz der Deutschen bemängelten und ihnen daher die Grundsätze guter Diskussionstechnik zu vermitteln suchten. Dahinter stand, so wurde vorne gezeigt, dass sich die kommunikative Gattung »Diskussion« im Deutschen als Spielart der sachorientierten »Debatte« etablierte und nicht – wie in den USA – als Verwandte der beziehungsorientierten »Konversation«. Besonders interessant ist, dass in Galtungs Perspektive der aggressive deutsche Diskussionsstil eigentlich die Bereitschaft zur Diskussion hätte verringern müssen. Aber obwohl argumentative Gespräche hierzulande in der Perspektive ausländischer Betrachter fast brutale Praktiken der Erniedrigung waren, mochte oder konnte man nicht auf sie verzichten. Insgesamt ist dieser Stellenwert von Diskussionen in der westdeutschen Gesellschaft am besten mit Thomas Luckmanns Konzept der kommunikativen Gattungen zu erfassen, die der gesamten Ausführung zugrunde lagen und nun noch einmal expliziert werden sollen.31 In Luckmanns Perspektive gerinnt mündliche Kommunikation an der Schnittstelle von Struktur und Handeln zu bestimmten Mustern, welche sich der Tendenz nach immer weiter verfestigen, bis sie zu einer sozialen Institution geronnen sind. Kommunikative Gattungen haben dabei immer einen primären Zweck und sind daher funktional: Die Konversation etwa dient der Beziehungspflege, der Flirt der Anbahnung einer sexuellen Partnerschaft und die Diskussion der Erörterung strittiger Gegenstände. Als Ergebnis soziokultureller Prozesse bilden sich damit in unterschiedlichen Kulturen unterschiedliche »kommunikative Haushalte« heraus. Sie unterscheiden sich durch die Palette der vorhandenen kommunikativen Gattungen – der 30 Ebd., S. 309 f. 31 Vgl. auch zum Folgenden noch einmal Luckmann.

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frühneuzeitliche Ehrenhandel etwa ist bei uns heute aus der Mode gekommen – und durch deren relative Wertigkeit. »In manchen Gruppen in manchen Gesellschaften«, so sei noch einmal Luckmann zitiert, »muß man Rededuelle führen können, in anderen Witze erzählen«.32 In der westdeutschen Gesellschaft der siebziger und achtziger Jahre, so lässt sich resümieren, hatten die kommunikativen Gattungen des Befehlens und Gehorchens kaum noch Platz. Sie hatten ihre symbolische Wertigkeit weitgehend eingebüßt. Stattdessen musste man vor allem eines: Diskutieren. Diskussionen hatten sich in zahlreichen Praxisfeldern zu festen Routinen verfestigt, sie verfügten dabei über bestimmte Gattungsregeln, welche die Akteure beachten mussten. Diskursives Verhalten wurde belohnt und geschätzt, abweichendes – nicht-diskursives – Verhalten war damit dem Risiko der Sanktionierung ausgesetzt. Kommunikative Gattungen haben nach Luckmann eine Entlastungsfunktion, sie dienen der Bewältigung spezifischer, strukturell verankerter Probleme, die mit ihrer Hilfe geregelt werden. Diese Funktionen müssen nicht allein auf der Ebene zwischenmenschlicher Verständigung liegen, sondern können auch sozialer und symbolischer Art sein. Mithilfe der kommunikativen Gattung »Konversation« grenzten sich bürgerliche Gruppen im 19. Jahrhundert sowohl von der Kultur der höfischen Gesellschaft ab als auch von der Kultur der Arbeiterschaft. Die westdeutsche Nachkriegsgesellschaft, so meine Vermutung, »brauchte« das Diskutieren nicht allein, um sich über strittige Fragen zu verständigen, sondern auch, um sich von der deutschen Vergangenheit zu distanzieren. Wie die obigen Fallstudien zeigen, vollzog sich die Diskursivierung der westdeutschen Gesellschaft nicht unbemerkt und ungewollt hinter dem Rücken der Akteure, sondern wurde von ihnen teilweise herbeigesehnt und durch unterschiedlichste Maßnahmen unterstützt. Gegen das Bild einer auf Befehl und Gehorsam reduzierten NS-Gesellschaft wurde von ganz unterschiedlichen Akteursgruppen für das Diskutieren als Inbegriff demokratischer Lebensform geworben. »Diskussion gleich Demokratie«, lautete die vereinfachte Losung, wobei beide Begriffe umkämpft waren und sich jeweils sowie in ihrem Verhältnis zueinander verschoben. Das Bemühen zum Gespräch mit Andersdenkenden, die Betonung der eigenen Widerspruchsfähigkeit, lässt sich daher als eigentümlich praxeologische Form der Vergangenheitsbewältigung fassen, als teils bewussten, teils unbewussten Versuch, sich die Diktaturerfahrung buchstäblich vom Leib zu reden und vermeintliche Spuren des Nationalsozialismus aus dem eigenen Habitus zu entfernen. Die Wertschätzung von Diskussionen als kommunikativer Gattung im kommunikativen Haushalt Westdeutschlands geriet seit den frühen siebziger Jahren aber auch ins Stocken. Die ideologische Aggressivität der K-Gruppen ebenso wie der Terrorismus der Roten Armee Fraktion gingen mit einer kryptisch-klandestinen Kommunikationskultur einher,33 und wo Willy Brandt einst ostentativ 32 Ebd., S. 202. Zum frühneuzeitlichen Ehrenhandel als kommunikativer Gattung vgl. Dinges. 33 Vgl. Koenen, Das rote Jahrzehnt; ders., Vesper.

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das Gespräch gesucht hatte, schritt Helmut Schmidt ebenso ostentativ zur Tat.34 Zudem flachte die von der politischen Kulturforschung ermittelte Kurve politischer Diskussionen in Westdeutschland in den frühen siebziger Jahren plötzlich ab und stagnierte von nun an auf hohem Niveau. In der Regel gaben rund achtzig Prozent der Befragten an, »häufig« oder »gelegentlich« über Politik zu diskutieren. Entsprechend lag der Wert jener, die angaben, dies »nie« zu tun, lediglich bei rund zwanzig Prozent.35 Dass die Umfragewerte in den achtziger Jahren nicht einbrachen, war den 68ern und den um sie herum gestreuten Jahrgängen zu verdanken. Die Kohorte der zwischen 1939 und 1945 Geborenen wies in den achtziger Jahren sogar noch höhere Werte auf als in den frühen siebziger Jahren. Hoch waren auch die Umfragewerte der nach oben und unten direkt angrenzenden Kohorten. Die »junge« Generation dagegen, das heißt die um und nach 1960 Geborenen, hatte in den achtziger Jahren einen unterdurchschnittlichen Wert. Von ihnen behaupteten 1984 nur siebzig Prozent, »häufig« oder »gelegentlich« beziehungsweise rund dreißig Prozent, »nie« über Politik zu diskutieren – ein Wert, der nur von den vor 1905 Geborenen noch überboten wurde.36 Damit hatten Menschen über 75 und Menschen unter dreißig eins gemeinsam: Eigenen Angaben nach diskutierten sie über Politik relativ selten. Auch noch in den achtziger Jahren lagen damit jene Alterskohorten in puncto Diskussionshäufigkeit an der Spitze, die die meiste Zeit ihres Lebens in der frühen Bundesrepublik verbracht hatten. Das passt zu der These, eine Sozia lisation in der westdeutschen Nachkriegsgeschichte könnte für die Entwicklung eines diskursiven Habitus besonders günstig gewesen sein. Die Studentenprotestler hatten sich in den späten sechziger Jahren noch über Versuche geärgert, Lust am Widerspruch als typisches Jugendphänomen abzutun.37 Rund zehn bis fünfzehn Jahre später wollte aber ausgerechnet die Jugend nicht mehr diskutieren, was dem vorschnellen Eindruck ihres angeblichen politischen Desinteresses Vorschub leistete.38 Horst-Eberhard Richter dagegen sah im »Rechtstrend« der Gesellschaft einen entscheidenden Grund des sinkenden Engagements in politischen und therapeutischen Diskussionsgruppen.39 Beides greift zu kurz. Die Ursachen der Stagnation und – in jüngeren Bevöl34 Zu parteipolitischen Tendenzen der siebziger Jahre vgl. Faulenbach; Schildt, Kräfte. Einführend zum Rücktritt Brandts und den Anfängen der Regierung Schmidt Wolfrum, S. 330–353. 35 Standard Eurobarometer, 1973–1988, Frage nach Teilnahme an politischen Diskussionen, BRD (in Prozent). 1973: »nie« 19,2 Prozent; 1976: 25,9; 1980: 18,5; 1984: 16,2; 1988: 19,1. Möglich waren die Antworten »häufig«, »gelegentlich«, »nie«. 36 Standard Eurobarometer, 1984, Frage nach Teilnahme an politischen Diskussionen, BRD: Jahrgänge 1966–1975: »nie« 30,4 Prozent; 1956–1965: 11,9; 1946–1955: 11,7; 1936–1945: 11,7; 1926–1935: 14,3; 1916–1925: 20,8; 1906–1915: 24,3; vor 1905: 47,6; Total: 16,2. Möglich waren die Antworten »häufig«, »gelegentlich«, »nie«. Zahlen erstellt mit Hilfe von R. Inglehart. 37 Vgl. Haug u. Maessen, erste Innenseite. 38 Vgl. Geisthövel. 39 H.-E. Richter, Die Gruppe, S. 346.

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kerungsgruppen – sogar Abnahme von der in Umfragen ermittelten Diskussionshäufigkeit waren viel komplexer und hatten mit den Gesprächsinhalten wenig zu tun. Auch mit den modernisierungstheoretischen Determinanten der Bildungsstandards und des Einkommens hing die nachlassende »Diskursivierung« kaum zusammen, denn beides nahm weiterhin zu. Plausibler sind Sättigungs- und Ermüdungserscheinungen mit der kommunikativen Gattung selbst. Anlässlich des dreißigjährigen Jubiläums der Evangelischen Akademie der Pfalz 1981 versuchte beispielsweise einer der Festredner, »das Gespräch als Medium der Wahrheit zu empfehlen«. Er schickte aber die besorgte Frage vorweg, ob man nicht längst »gesprächsmüde geworden« sei, denn: »Müssen wir nicht immer und überall diskutieren? Die Kinder in der Schule, die Eltern in der Elternversammlung, die Kirchenvorsteher im Kirchenvorstand?«40 Mit dem von Eltern und Lehrern vorgebrachten Anspruch, man solle und könne über alles zwanglos und auf Augenhöhe reden, könnten viele Menschen inzwischen gelangweilt, zuweilen auch verärgert und überfordert worden sein – vor allem die Jüngeren. In jedem Fall eignete sich Diskussionsbereitschaft immer weniger als Mittel der Distinktion. In den neunziger Jahren erklärte der 1957 geborener Sänger der Punkband »Fehlfarben«, Peter Hein, in Erinnerung an seine Schulzeit in den siebziger Jahren: Einige Lehrer »taten so fortschrittlich und diskutierten mit allem und jedem. Es war alles nur langweilig.« »Ich hätte«, fuhr er fort, »statt immer jeden Scheiß auszudiskutieren und über Enzensberger zu blubbern, viel mehr Wert darauf gelegt, englische Texte zu übersetzen, um zu lernen, was in meinen Flugzeugbastelanleitungen steht.«41 So lassen sich die auf Unverständlichkeit angelegte, proletarisch geprägte Kultur des Punk, aber auch das demonstrative Schweigen der »Null-Bock-Generation«42 als eine auf der Metaebene angesiedelte Verweigerung gegenüber einer als perfide und redundant angesehenen Kommunikationskultur lesen, die verbal-dialogisch stets nach dem »besseren Argument« fahndet.43 Das veranschaulicht ex negativo noch einmal, wie sehr das Diskutieren in der alten Bundesrepublik zu einer kommunikativen Gattung mit hoher Wertigkeit herangereift war, deren Präsenz von einer Mehrzahl der Akteure beständig fortgeschrieben wurde. Argumentative Handlungsmuster hatten in Westdeutschland seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs eine deutliche Aufwertung und Verankerung erfahren, sodass sie den Menschen nun quasi-objektiviert gegenüberstanden. Natürlich war es weiterhin möglich, sich einem mündlichem Meinungsaustausch zu entziehen, aber man musste mit negativen Reaktionen rechnen – oder gute Gründe anführen. 40 Jung, S. 107. 41 Interview mit Peter Hein zit. n. Teipel, S. 22. Zur ironisch-skeptischen Distanz der jüngeren Generation gegenüber diskursiven Praktiken siehe auch die satirische Darstellung einer »zivilgesellschaftlichen Vollversammlung« in Goebel u. Clermont, S. 68–71. 42 Vgl. zu diesem zeitgenössisch geprägten Terminus Schäfer. 43 Zu der auf Unverständigkeit und Unverständlichkeit angelegten Kultur des Punk siehe Geisthövel.

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Fazit

Dieses Buch zielt auf die Historisierung einer sozialen Praxis, die heute so selbstverständlich scheint, dass man ihre Geschichte leicht übersieht. Es geht um das »Diskutieren«, hier im weitesten Sinne verstanden als der mündliche Austausch von Argumenten über einen strittigen Gegenstand. In sozialwissenschaftlichen Texten genießt dieses Handlungsmuster große Wertschätzung – beispielsweise wenn unter dem Stichwort »Zivilgesellschaft« auf eine zwischen Staat, Ökonomie und Privatheit gelagerte Sphäre gemeinwohlorientierter Selbstorganisation und kritischen Räsonnements verwiesen wird oder auf ein Set »ziviler« Verhaltensweisen wie die Fähigkeit zur gewaltfreien, kommunikativen Konfliktlösung.1 Abhandlungen zur Zivilgesellschaft, die in dieser Weise ein deliberatives Moment betonen, liegen oft die diskursethischen Schriften von Jürgen Habermas zugrunde, dessen Ausführungen zum »herrschaftsfreien Diskurs« freilich umstritten sind.2 Sowohl Michel Foucault wie Pierre Bourdieu haben auf Macht- und Herrschaftsstrukturen interpersonaler Kommunikation hingewiesen, von denen argumentative, scheinbar rationale Gespräche nicht ausgenommen werden können.3 Niklas Luhmann hat in kritischer Auseinandersetzung mit Habermas die Grenzen der »Diskussion als System« herausgearbeitet,4 während Habermas selbst einräumt, der Ausdruck »ideale Sprechsituation« würde in die Irre führen, »soweit er eine konkrete Gestalt des Lebens suggeriert«.5 Tatsächlich stehen auf empirischer Ebene hinter der Durchsetzung eines vermeintlich »besseren Arguments« immer auch Herrschaft und Macht, Emotionen und Interessen. Das »Diskutieren« vor diesem Hintergrund als illusionär zu begreifen und von der kulturhistorischen Analyse auszuklammern, wäre indes voreilig. Vielmehr stellt sich gerade angesichts der Problematik, dass das Ideal rationaler Argumentation auf der Ebene sozialer Praxis nicht erreicht werden und insofern Enttäuschung produzieren kann, nur umso dringlicher die Frage: Warum versuchen und versuchten Akteure dennoch, argumentative Gespräche über einen strittigen Gegenstand unter dem Anspruch 1 Vgl. einführend zu deliberativen Konzeptionen von Zivilgesellschaft Kneer sowie die grundlegende Studie von Cohen u. Arato. In geschichtswissenschaftlicher Perspektive siehe Hildermeier u. a.; Kocka, Zivilgesellschaft; Gosewinkel. 2 Vgl. Habermas, Vorbereitende Bemerkungen; ders., Faktizität. 3 Vgl. Foucault, Subjekt; Bourdieu, Ce que parler. 4 Vgl. Luhmann, S. 316–341. 5 Habermas, Die Neue Unübersichtlichkeit, S. 14.

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nach gleichberechtigten Personen im Alltag zu verankern? Wie wurden kommunikative Handlungen, welche die Zeitgenossen als »Diskussionen« bezeichneten, Tag für Tag bewertet und erfahren? Welche Bedeutung schrieb man ihnen zu, und unter welchen Bedingungen gerannen sie zu festen Routinen? Wer fiel Diskussionen zum Opfer, wer konnte von ihnen profitieren, wem waren sie wichtig und warum überhaupt? Auf diese Fragen versucht die vorliegende Studie erste Antworten zu entwickeln, die als Thesen ihrerseits zur Diskussion einladen – und nun noch einmal zusammengefasst werden. Ausgehend von mehreren Fallstudien, so ist zunächst zu erinnern, wurde die Bedeutung von mündlichem, formalisiertem, häufig organisiertem Meinungsaustausch in der westdeutschen Kommunikationskultur während der knapp ersten drei Jahrzehnte nach dem Zweiten Weltkrieg erkundet. Es ging um die Art und Weise, wie argumentative Gespräche konkret geführt und erfahren wurden, aber auch um die wachsende Disposition zu diskutieren sowie um die symbolische Wertigkeit, die diesem kommunikativen Muster im kommunikativen Haushalt Westdeutschlands zukam – zeitlich von Versuchen der Westalliierten, den Deutschen das Diskutieren als eine vermeintlich in Vergessenheit geratene, demokratische Kulturtechnik zu vermitteln, bis hin zum Bemühen linksalternativer Kommunarden, selbst sexuelle Probleme herrschaftsfrei »auszudiskutieren«. Das Erkenntnisinteresse richtete sich in diesem Rahmen nicht auf zufällige, in ihrer Entstehung und Form kontingente Gespräche, sondern auf routinisierte Gesprächsformen, die im Alltagswissen verankert waren und die zugleich, nur scheinbar paradox, zum Gegenstand zeitgenössischer Normierungsversuche wurden. Dabei wurden Diskussionen nicht in der Tradition von Jürgen Habermas als tentativ herrschaftsfreie Diskurse gefasst, sondern als eine soziale Praxis, die mit Macht und Herrschaft eng verwoben ist, auch wenn sie dies beständig verschleiert. Für die Gerinnung von Kommunikation zu formalisierten »kommunikativen Gattungen« (Thomas Luckmann), so eine weitere Prämisse der Ausführungen, ist die Alltagssprache konstitutiv: Wer sich zum Beispiel in einem »Bewerbungsgespräch« sieht, passt sein Redeverhalten entsprechend an, und zwar in der Regel automatisch. Es ist daher alles andere als unerheblich, dass sich das Wort »Diskussion« im Deutschen erst im Verlauf des 19. Jahrhunderts zu einem gängigen Synonym für mündlichen Meinungsaustausch entwickelte. Aber auch avant la lettre und gleichsam jenseits davon hatte mündlicher Meinungsaustausch unter formal gleichrangigen Gesprächspartnern bereits in dieser Zeit eine begrenzte Institutionalisierung erreicht. In sozialer Hinsicht betraf das vor allem Männer und die gebildeten Eliten, die sich hierüber Distinktionsgewinne verschafften. Räumlich ist vor allem das Bildungssystem, das Vereinswesen und das Parlament zu nennen. In jedem Fall führt die Geschichte des Diskutierens in Deutschland auch im Sinne einer formalisierten Praxis weit vor 1945 zurück. Indizien für einen deutschen »Sonderweg« im Sinne eines »weniger« an Meinungsaustausch sind nicht belegt, wenngleich sowohl die symbolische Wertigkeit der Gesprächsform wie die Räume ihrer Institutiona lisierung stark 314

begrenzt waren und sie in der Kommunikationskultur des Nationalsozialismus eine massive Beschneidung erfuhren. Im langen 19. Jahrhundert wurden Diskussionen als sachorientierte und ernsthafte, als akademische und politische Gesprächsform institutionalisiert. Man schrieb ihnen – ähnlich wie heute – die Funktionen des Erkenntnisgewinns, der Kritik und der Meinungsbildung zu. Eng an die politische »Debatte« angelehnt, galten Diskussionen folglich als wenig unterhaltsam, manchmal als kämpferisch, die Beziehungsebene trat gegenüber der Sachebene in den Hintergrund, die Performanz gegenüber den inhaltlichen Ergebnissen. In der »Konversation«, dem stärker von Frauen geprägten und dezidiert beziehungsorientierten Gespräch in gehobener Gesellschaft, war die Chance zum Meinungsaustausch vor diesem Hintergrund eng begrenzt. Politischen Disput galt es dort zu vermeiden. Während also die kommunikativen Gattungen des Diskutierens und Debattierens ineinander verschmolzen, so lässt sich idealtypisch formulieren, differenzierten sich die kommunikativen Gattungen des Diskutierens und Konversierens scharf aus. Nicht eine geringe Institutionalisierung von Diskussionen, sondern deren ausgeprägte Nähe zum politischen Streitgespräch ist für Konventionen deutscher Kommunikationskultur spezifisch. Dass offen ausgetragener Dissens auch eine vergemeinschaftende Komponente hat, ist von der Forschung rückblickend gezeigt worden, sowohl für die frühe Sozialdemokratie wie für die parlamentarische Kultur der Weimarer Republik.6 Den Zeitgenossen war dies allerdings weitaus weniger bewusst. Und jenseits des Umfeldes der Arbeiterbildungsvereine und den Anfängen der Reformpädagogik ist es zudem unwahrscheinlich, dass Akteure versuchten, Diskutieren als regelgestützten Handlungsmodus dezidiert zu lernen. Genau das war nach 1945 anders. Nach der Diktatur des Nationalsozialismus bemühten sich unterschiedlichste Akteursgruppen, der westdeutschen Gesellschaft eine Disposition zum Diskutieren in vielfältigen Handlungsräumen gleichsam habituell einzuschreiben, wobei die kommunikative Gattung »Diskussion« gezielt von der agonalen, ergebnisorientierten »Debatte« gelöst und stattdessen an die beziehungsorientierte »Konversation« herangeführt wurde. Verstanden als spezifischer »Aggregatzustand von Demokratie«, erschien etwa dem Journalisten Werner Höfer die Kultivierung von Dissens als zentrales Element einer inneren Demokratisierung der frühen Bundesrepublik und zugleich als Schlüsselqualifikation einer friedlichen Gesellschaft, die mit Andersdenkenden in den Dialog zu treten wusste, anstatt sie zu bekriegen. Entsprechend war die jenseits politischer Informationen liegende zentrale Botschaft des »Internationalen Frühschoppen mit sechs Journalisten aus fünf Ländern«, dass Meinungsdifferenzen zwischen Angehörigen der sich noch vor Kurzem im Zweiten Weltkrieg bekämpfenden Staaten nicht zum Streit führen mussten, sondern als männerbündische Gruppenaktivität spielerisch praktiziert und ausgehalten werden konnten. Das sollte geschehen, ohne einen Konsens oder eine Entscheidung her6 Vgl. Welskopp; Mergel, Parlametarische Kultur.

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beizuzwingen, und wurde kontrolliert durch einen zwar humorvollen, aber doch äußerst strengen und den Verlauf des Gesprächs jovial formenden Moderator. Das ehemalige NSDAP-Mitglied Höfer war als humoristisches Moderationstalent eine Ausnahmefigur. Das pädagogische Anliegen teilte er aber mit einer ganzen Reihe von Publizisten, Erwachsenenpädagogen und Erziehungswissenschaftlern seiner Altersgruppe, die in den frühen fünfziger Jahren begannen, für die junge Demokratie Orte zu schaffen, in denen das Diskutieren als kooperative, beziehungsorientierte Praxis erprobt und erlernt werden konnte. Erinnert sei etwa an Gerhard Ludwig, der die legendären Kölner »Mittwochgespräche« schuf, oder an Gerhard Merzyn, der mit Haus Rissen in Hamburg eine Institution leitete, die dem Dialog zwischen unterschiedlichen sozialen Gruppen der Gesellschaft dienen sollte. Die genannten Personen teilten nicht nur dieselbe Alterskohorte – sie alle waren in der Spätphase des Kaiserreichs geboren –, sondern auch die Erfahrung, in den ersten Nachkriegsjahren für die West-Alliierten gearbeitet zu haben: Höfer als Journalist, Ludwig als Verleger, Merzyn als Leiter eines Amerikahauses. Sie ließen sich offensichtlich von einem hier propagierten Lehrprogramm inspirieren und führten es mit eigenen Akzenten fort. Eine ganz andere Personengruppe, die sich erst deutlich später, aber besonders öffentlichkeitswirksam für die Aufwertung von Diskussionen in der westdeutschen Gesellschaft einsetzte, waren die Protagonisten der Studentenbewegung. Sie forderten und übten basisdemokratisch aufgelockerte und deregulierte Diskussionen als zentralen Handlungsmodus ein, tagsüber im Seminar oder im Teach-in, abends in der Kneipe oder in der Wohngemeinschaft, und zwar umgeben von einer Gesellschaft, die ihnen durch eine hierarchischmonologische Kommunikationskultur und das Verschweigen der Verbrechen des Nationalsozialismus gekennzeichnet zu sein schien. Die Studierenden setzten sich ostentativ als diskutierende Generation in Szene, forderten auch von anderen mehr Gesprächsbereitschaft und schufen damit neue kommunikative Spielräume, aber auch Grenzen des Verstehens: gegenüber Älteren, die angeblich nicht zu diskutieren vermochten, gegenüber nicht-akademischen Milieus, die dem Jargon der Aktivisten nicht folgen konnten, und später gegenüber einem Teil der nachwachsenden Generationen, der nicht mehr bereit war, »jeden Scheiß auszudiskutieren«.7 Zugleich lehnten 68er und 68erinnen den von Höfer kultivierten Diskussionsstil ab: Der höfliche, humorvoll-autoritäre, häufig an der Oberfläche bleibende, bestehende Tabus akzeptierende und nach einer bestimmten Zeit stets beendete Meinungsaustausch, der nach festen Regeln verlief, wurde nicht als Innovation erkannt – und durch deregulierte Gespräche ersetzt. Diese Entgrenzung galt in sozialer, thematischer, räumlicher und zeitlicher Hinsicht. Dahinter stand die Hoffnung auf eine »herrschaftsfreie Diskussion«, auch wenn in der studentischen Kommunikation die Regel der Regellosigkeit sogleich neue Hi7 Interview mit Peter Hein zit. n. Teipel, S. 22.

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erarchien und Exklusionsmechanismen schuf. Allerdings gelang es, die soziale Basis öffentlicher Diskussionen zu erweitern und den argumentativen Meinungsaustausch in Praxisfeldern aufzuwerten, die Akteure wie Höfer, Ludwig oder Merzyn weniger interessiert hatten und die noch immer durch ausgeprägte hierarchische Beziehungen zwischen den Gesprächspartnern gekennzeichnet waren: das akademische Seminar, in dem sich Professoren und Studierende gegenübersaßen, der Schulunterricht, wo die Schulreformen eine breite Dialogisierung der Unterrichtsformen ermöglichten, und vor allem die Familie, in der die patriarchalische Autorität ihre Legitimität immer mehr verlor. Da zwischen den skizzierten Akteursgruppen – den moderaten und moderierenden Diskursivierern der fünfziger Jahre und den radikaleren Protagonisten der Studentenbewegung – gravierende Meinungsdifferenzen über Formen und Funktionen eines »freien« Gesprächs bestanden, entging ihnen die im Kern vorhandene Ähnlichkeit ihres Anliegens: die Aufwertung argumentativer Auseinandersetzung. Und insofern diese schließlich gelang, überschätzten beide die Durchsetzungskraft ihrer eigenen Handlungen. Das prägt auch heutige Deutungen der westdeutschen Geschichte. So wie manche meinen, Personen wie Höfer hätten den Deutschen das Diskutieren beigebracht, vermuten andere, erst die Studentenbewegung habe eine monologisch-hierarchische in eine dialogische Kommunikationskultur überführt. Wieder andere stellen die Generation der »45er« als Agens des Wandels ins Zentrum und suggerieren, im Zuge von Demokratisierung und Liberalisierung habe auch das Diskutieren wie selbstverständlich eine Aufwertung erfahren. All diesen Interpretationen entgeht jedoch erstens, dass es das komplexe Zusammenspiel sehr unterschiedlicher Akteursgruppen und Triebkräfte war, das eine Aufwertung von Diskussionen als kommunikative Gattung im kommunikativen Haushalt Westdeutschlands ermöglichte. Es handelte sich um eine langfristige, bis in das 19. Jahrhundert zurückgehende Tendenz, die nach Ende des Zweiten Weltkriegs einen regelrechten Take-off erfuhr, in den späten sechziger Jahren mit hohen normativen Erwartungen auf die Spitze getrieben und nach Überdehnungen teilweise wieder zurückgenommen wurde. Zweitens wird übersehen, dass »Diskursivierung« gerade nicht unmittelbar in Demokratisierungs- und Liberalisierungsschüben aufging, sondern eine eingeständige, soziokulturelle Tendenz darstellte, welche Macht- und Herrschaftsstrukturen keineswegs überwand, sondern unmittelbar in diese eingebettet war. Drittens ist bislang nicht erkannt worden, wie nachhaltig die Ausbildung von Diskussionsbereitschaft im Sinne einer alltäglichen Handlungsdisposition von der britischen und vor allem der amerikanischen Demokratisierungspolitik gestützt und präformiert wurde. Noch vor dem Zweiten Weltkrieg hatte ein Zweig US-amerikanischer Pädagogen, Sozialreformer, Erziehungs- und Sozialwissenschaftler die Vorstellung einer regelrechten »discussion technique« entwickelt, welche systematisch in demokratische Verhaltensweisen und Dispositionen einüben sollte. Hier ging es nicht um zufällig zustande kommende Gespräche, sondern vor allem um orga317

nisierten Meinungs- und Erfahrungsaustausch in kleineren Gruppen oder größeren Versammlungen, bei denen stets ein Moderator den Gesprächsverlauf kontrollierte, der für die gleichmäßige Beteiligung aller Anwesenden und eine produktiv-höfliche Gesprächsatmosphäre sorgen sollte. Dieses Diskussionsverständnis unterschied sich von dem im deutschen Sprachraum vorherrschenden zum einen durch seinen technischen Charakter. Zum anderen wurde die »discussion« gedanklich von der parlamentarischen »debate« getrennt und somit vom Zwang kompetitiver Entscheidungsfindung gelöst. Ebenso wenig ging es um ein konsensorientiertes akademisches Gespräch. Stattdessen sollten alle gesellschaftlichen Gruppen freimütig und umgangssprachlich ihre Erfahrungen und Ideen in das Gespräch einspeisen, sich freundlich verhalten, einander kennen und schätzen lernen und qua Argumentation zu einer positiv gestimmten Gruppe zusammenwachsen. Der Fokus des Gesprächs wurde also von der Sachauf die Beziehungsebene ausgedehnt, vom kompetitiven Gegeneinander zum kooperativen Miteinander durch Dissens. Idealtypisch verschmolzen die kommunikativen Gattungen der »Diskussion« und der »Konversation« – und genau das war aus deutscher Perspektive neu. Vor diesem Hintergrund wurden Deutsche in der amerikanischen Besatzungszone erstaunlich frühzeitig zum Diskutieren ermuntert sowie in Diskussionstechnik geschult. Man hielt sie in Kursen und Filmen oder auf Handzetteln zu kurzen, spontan formulierten, freundlich-locker vorgebrachten Redebeiträgen an und führte sie in die Moderation von öffentlichen und semi-öffentlichen Diskussionsrunden ein, die nicht auf die Herstellung eines abschließenden Konsenses zielten, sondern auf die gemeinsame Produktion von Dissens – und die tolerante, wissbegierige Freude daran. Diese Aktivitäten waren sowohl innerhalb der amerikanischen Besatzungsmacht wie auch auf deutscher Seite umstritten, sie entwickelten sich zunächst dezentral in enger Interaktion zwischen einer Handvoll Besatzern und einer Minderheit der Besetzten. Während große Teile der Reeducationpolitik aber am Widerstand von Deutschen scheiterten und eingestellt werden mussten, wurden gerade die diskursiven Programme immer weiter ausgebaut und gefestigt. Das hing auch mit der Doppeldeutigkeit von Diskussionen zusammen, die sowohl als ein performatives Instrument der Demokratisierung gelesen werden konnte, das direkt auf den Habitus zielte, wie als »freies« Gespräch und damit als Verzicht auf autoritäre Indoktrination. Zugleich waren Arenen des Meinungsaustauschs für die Besatzer attraktiv, um den Besetzten das Gefühl zu geben, ihre Positionen ernst zu nehmen – und sie doch handlungslogisch zu beeinflussen. So setzte sich das Diskutieren als Minimalkonsens und als subtiles Machtinstrument der Reeducationpolitik durch. Der genaue Effekt der so entstandenen Programme ist schwer abzuschätzen. Viel spricht jedoch dafür, dass nicht zuletzt vor dem Hintergrund der alliierten Demokratisierungspolitik mündlicher Meinungsaustausch in den Medien, im Bildungswesen und in der außerschulischen politischen Bildung fest verankert wurde. Zudem liegen Hinweise vor, dass sich ein Teil der als Multiplika318

toren angesprochenen Lehrer, Publizisten und Journalisten von der spezifisch amerikanischen Idee einer regelrechten »discussion technique«, welche die Gesprächsform der »Diskussion« von der kämpferischen »Debatte« abgrenzte, dafür aber mit der beziehungsorientierten »Konversation« verband, anregen ließ. Das Ideal eines kontroversen und doch freundschaftlichen Gesprächs könnte für sie nach der Erfahrung der aggressiven politischen Kultur der Weimarer Republik einerseits, der Aufwertung von Befehl und Gehorsam in der nationalsozialistischen Diktatur anderseits besondere Plausibilität entfaltet haben. Die Reeducation ist als Movens westdeutscher Diskussionsdichte und vor allem als prägende Kraft der sich in Westdeutschland etablierenden formalisierten Diskussionsstile daher unbedingt einzubeziehen, wenngleich sie nicht als entscheidender oder gar eigenständiger »Faktor« überschätzt werden sollte. Eine punktuelle Wirkung konnten die Programme überhaupt nur deshalb entfalten, weil Deutsche von vornherein an ihrer Gestaltung beteiligt waren und ähnliche Ziele verfolgten. Das lässt sich auch in diachroner Perspektive veranschaulichen. Unmittelbar nach Kriegsende und unabhängig von alliierten Einflüsterungsversuchen warb etwa Karl Jaspers als Lehre aus der Vergangenheit für den Versuch, divergierende Positionen nicht zu bekämpfen oder im Verborgenen bedrohlich schwelen zu lassen, sondern sie auszusprechen und durch Kommunikation zueinander zu finden. Jaspers Plädoyer zum offenen Hinhören sollte das Gespräch über politische Fraktionen hinweg sowie mit dem Ausland erleichtern – und traf sich kongenional mit der amerikanischen Werbung für kooperative Verfahren der »discussion technique«. Auch vor diesem Hintergrund wurden die ersten Jahre nach Kriegsende von Intellektuellen immer wieder als Phase besonders reger öffentlicher und semi-öffentlicher Gespräche erinnert. Freilich dürfte der oft beschriebene Kontrast zwischen dem monologischen Zeitalter vor 1945 und dem regelrechten Ausbruch von »Diskussionsfreude« unmittelbar danach häufig zu scharf gezeichnet worden sein. Für einen ehemaligen Nationalsozialisten wie den Pädagogen Theodor Wilhelm alias Friedrich Oetinger hatte dieses Narrativ beispielsweise eine Entlastungsfunktion: Es ließ das Dritte Reich als Phase deutscher Geschichte erscheinen, in der nicht einmal die Eliten die Möglichkeit zur Äußerung ihrer Meinung gehabt hatten, und es grenzte die westdeutsche Gesellschaft radikal von dieser Vergangenheit ab. Schließlich empfahlen sich die emsigen Diskutanten den Besatzungsmächten auch als mustergültige Demokraten und hoffnungsvolle Multiplikatoren, in die es sich zu investieren lohnte. Im Verlauf der fünfziger Jahre ebbte öffentlich und spontan zur Schau gestellte Diskussionslust zwar einerseits ab. Gleichzeitig begann sich der vermeintlich »freie« Meinungsaustausch jedoch in verschiedenen Arenen zu routinisieren: in der außerschulischen politischen Bildung, in der Arbeit kirchlicher Akademien, in Filmklubs und Amerikahäusern, im Bildungswesen und in den Massenmedien. Werner Höfers »Internationaler Frühschoppen« verschmolz dabei besonders deutlich die amerikanische Diskussionstechnik mit der deut319

schen Stammtischtradition. Unter der Leitung eines Moderators, der auf kurze und pointierte, umgangssprachlich formulierte, lebhafte Redebeiträge drang und seine Gäste nicht nur durch Komplimente und Scherze, sondern auch durch Alkohol und Tabak in gute Laune zu versetzen wusste, avancierte die selbst ernannte »school of applied democracy«8 zu einer der beliebtesten, langlebigsten und meist gesehenen TV-Sendungen Westdeutschlands, die zudem parallel im Radio lief. Dass Frauen hier nur äußerst selten zu Wort kamen, der Nationalsozialismus in der Regel geschickt umschifft und die Regierung Adenauer erst in ihrer Endphase kritisiert wurde, minderte das Zuschauer- und Höhrerinteresse lange Zeit nicht. Vor allem gefiel offenbar, dass Kontroversen kurz angefacht wurden, ohne aber zu eskalieren. Die fünfziger Jahre waren damit in den Massenmedien wie außerhalb eine Zeit pädagogisch kultivierter, hochgradig regulierter Inseln der Diskussionslust inmitten einer insgesamt noch sehr hierarchischen und durch vielfältige Tabus gekennzeichneten Kommunikationskultur. In den sechziger Jahren entwickelte sich die kommunikative Gattung des Diskutierens außerhalb der geschützten Räume der Akademien, Volkshochschulen und Filmklubs immer stärker zu einem wichtigen Instrument politischer und regierungskritischer Öffentlichkeit. Zugleich wurde das Recht auf Meinungsaustausch im Rahmen einer Protestbewegung eingefordert und von deren Protagonisten nachhaltig habitualisiert. Die westdeutsche Studentenbewegung vollzog sich nicht nur im Modus der Demonstration, sondern auch im Modus argumentativer Gespräche über strittige Gegenstände. Neben die bereits erreichte »Diskursivierung« der Massenmedien trat damit eine »Diskursivierung« von Habitusstrukturen. Mit der Studentenbewegung nahm aber auch das Interesse für die unmittelbar nach Kriegsende so stark betonten »demokratischen Spielregeln« von Gesprächen ab, das aus dem Amerikanischen abgeleitete Wort »Diskussionstechnik« fiel in Vergessenheit und die Wertschätzung für eine Verknüpfung der kommunikativen Gattungen »Diskussion« und »Konversation« ging verloren. Stattdessen fungierten die Termini »Diskussion« und »Debatte« nun wieder als Synonyme. Auch deshalb wurde Höfers »Frühschoppen« immer seltener ein demokratischer Eigenwert zugesprochen, und von linksliberaler Seite geriet die Sendung nun als pseudodemokratisches, da durch einen autoritären Moderator gegängeltes Sonntagsritual in die Kritik. Von den unterschiedlichen Kommunikationsstilen abstrahierend, setzte nach 1945 gleichwohl eine sprunghafte Aufwertung und Institutionalisierung von »Diskussionen« als mündlicher Handlungsmodus ein. Der Austausch von Argumenten über einen strittigen Gegenstand avancierte von einem zwar vorhandenen, aber nur in wenigen sozialen Sphären verankerten Phänomen zu einer hochgradig institutionalisierten und geschätzten kommunikativen Gattung, auch und gerade jenseits des Parlaments. Vor allem die gebildeten Schichten, die jüngeren Menschen und die Männer ordneten argumentativen Gesprächen 8 Heim, S. 10.

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von den fünfziger bis in die siebziger Jahre einen zunehmend größeren Stellenwert in ihrem Leben zu und dürften mehr und mehr Zeit im Modus argumentativer Rede verbracht haben. Sich einer Diskussion ohne Ansehensverlust zu ver weigern, wurde damit gerade für sie immer schwieriger. Zugleich verfügten sie über Ressourcen, um sich in argumentativen Gesprächen durchzusetzen – und dabei den Eindruck zu erwecken, dies sei allein den Argumenten selbst zu verdanken. Junge, gebildete Männer profitierten also von einer Dynamik, die sie selbst immer stärker vorantrieben. Aber die Tendenz zur »Diskursivierung« erreichte in abgeschwächter Form auch ältere Menschen, Frauen und weniger Gebildete. Zwar ist die Geschichte mündlicher Face-to-Face-Kommunikation ein flüchtiger Gegenstand, welcher sich präziser Rekonstruktion entzieht. Unterschiedlichste Quellengattungen von Selbstzeugnissen bis hin zu Datensätzen der empirischen Sozialforschung verkünden in diesem Punkt jedoch stets die gleiche Botschaft. Die Gründe für die damit in Umrissen skizzierte »Diskursivierung« der westdeutschen Gesellschaft, also die Gerinnung argumentativer Gespräche über strittige Gegenstände zu einer hochgradig institutionalisierten und geschätzten kommunikativen Gattung, sind komplex und lassen sich nicht abschließend bestimmen. Neben dem bereits angesprochenen expliziten Engagement unterschiedlicher Akteursgruppen sind günstige Struktur- und Rahmenbedingungen sozioökonomischer, kultureller sowie politischer Art zu bedenken: die Bildungsexpansion, das Wirtschaftswachstum, Amerikanisierung und Westernisierung bei gleichzeitiger Abgrenzung von der DDR im Kalten Krieg sowie schließlich nicht nur die Einführung eines demokratischen politischen Systems, sondern auch die von den West-Alliierten angestoßenen Reformen des Bildungssystems, der außerschulischen politischen Bildung und der Massenmedien. In jedem Fall verweist die zunehmende Verankerung von »Diskussionen« im kommunikativen Haushalt Westdeutschlands nicht notwendig auf dessen »Rationalisierung«, sondern zunächst – weniger normativ und stärker soziologisch ausgedrückt – auf eine spezifische Normierung sozialen Verhaltens, welche Menschen auf Mündigkeit eichte. Ein weiteres, zentrales Moment ist daher zu beachten: Nach Thomas Luckmann bilden Gesellschaften genau jene kommunikativen Gattungen aus, die sie »brauchen«, denn kommunikative Gattungen haben zunächst einmal eine Entlastungsfunktion. Sie sind die Antwort auf bestimmte Probleme, die sich einer sozialen Gruppe immer wieder stellen. Aufgeklärte und liberal-demokratische Gesellschaften brauchen Diskussionen zum einen, um sich über Geltungsansprüche öffentlich zu verständigen sowie um Regeln sozialen Verhaltens, die nicht traditionell legitimiert sind, in öffentlichen wie privaten Handlungsfeldern auszuhandeln und zu begründen. Aber kommunikative Gattungen übernehmen nicht nur kommunikative, sondern auch soziale Funktionen, indem ihre Kultivierung etwa der Distinktion dient. Die Westdeutschen brauchten das Diskutieren in diesem Sinne zusätzlich, so ist zu vermuten, um sich ihrer eigenen Demokratiefähigkeit, Westlichkeit und Friedlichkeit zu vergewissern. Je mehr 321

im Rückblick die Zeit vor 1945 zu einem »monologischen Zeitalter« gerann, desto mehr avancierte ostentativ zur Schau gestellte Diskussionsbereitschaft zu einem symbolischen Kapital. Bundesbürger und -bürgerinnen redeten sich die Verhaltensweisen einer Untertanengesellschaft, die auf Befehl Millionen Menschen ermordet hatte, gleichsam aus dem Leib. Wer in den frühen siebziger Jahren am Küchentisch, im Ehebett, in einer Sitzung diskutierte, der mag sich über das Thema gelangweilt oder aber über seinen Gesprächspartner geärgert haben. Aber zumindest erlaubte ihm sein Verhalten, sich als unautoritärer Charakter und als westlicher Demokrat zu fühlen. Diskussionen genossen den Nimbus einer genuin westlichen, demokratischen, in Deutschland jungen Gesprächsform. Und sie fungierten als performativer Modus, um sich die Schatten der Vergangenheit buchstäblich aus dem Habitus zu reden. Gleichwohl geriet die Aufwertung alltäglichen Diskutierens im kommunikativen Haushalt Westdeutschlands seit den siebziger Jahren auch ins Stocken. Seither ist nicht mehr nur von neokonservativer Seite das Lamento zu hören, es würde im Öffentlichen wie Privaten zu viel diskutiert, es bestehe ein unproduktiver und anstrengender Diskussionszwang. In Romanen, Filmen und Sachbüchern von heute Dreißig- bis Vierzigjährigen wird der alten Bundesrepublik ein Übermaß argumentativer Kommunikation zugeschrieben, das die Betroffenen gelangweilt, ermüdet oder ihnen einfach Zeit gestohlen habe. Solche Erschöpfungserscheinungen ziehen sich bis in die Gegenwart fort. Im Sommer 2008 wurde beispielsweise auf einer öffentlichen Diskussionsveranstaltung der Freien Universität Berlin über die »zerredete Republik« räsoniert.9 Und das satirische »Streiflicht« der »Süddeutschen Zeitung« sah in dem jüngst mehrfach zu beobachtenden Phänomen, dass Talkshow-Gäste das Studio verlassen, anstatt die Aussprache weiterzuführen, das Indiz für eine Trendwende: Bald könnte es auch hierzulande wieder »still, wunderbar still« werden.10 Dieser Schluss ist allerdings voreilig: Wo kommunikative Gattungen einmal ihre Institutionalisierung erfahren haben, sind sie nur schwer wieder aus der Welt zu schaffen. Das Diskutieren, so bleibt zu hoffen, wird weitergehen – ob es uns Spaß macht oder nicht. Eventuell ist es ohnehin nicht die Quantität der Gespräche, die im vereinigten Deutschland der Gegenwart verdrießt, sondern eher ihre Qualität. Die nach dem Zweiten Weltkrieg in Westdeutschland propagierte Erkenntnis, dass der »freie« Meinungsaustausch in vielen Situationen einer kooperativen Grundeinstellung, klarer Regeln und eines geschickten Leiters bedarf, damit das Gespräch einen produktiven Verlauf nimmt, Freude bereitet und natürlich bestehende Asymmetrien abgefedert werden können, scheint kaum noch bekannt – auch nicht bei den Älteren. »Diskussionsregeln?«, erklärte auf meine Nachfrage Peter Dienel, der in den sechziger Jahren als Studienleiter der Evangelischen Akademie 9 »Die zerredete Republik« – oder: Was bringen politische Talkshows wirklich? SPIEGELGespräch mit Maybrit Illner, 2.6.2008, Henry-Ford-Bau, Freie Universität Berlin. 10 Vgl. An., Das Streiflicht.

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Hermannsburg-Loccum aktiv war und in den siebziger Jahren ein auf Diskussionsgruppen setzendes Bürgerbeteiligungsverfahren entwickelte: »Ich finde, man muss höflich sein. Nicht so viel reden. Hinhören können. Noch was?«11 Damit benannte Dienel allerdings genau das Substrat jener »discussion technique«, die einst in Westdeutschland als eine demokratische Kulturtechnik beworben wurde, die vielen Deutschen gegen die Negativfolie des Dritten Reichs so wichtig erschien – und von der man heute nichts mehr weiß. Jüngere Personen empfinden dezidierte Diskussionsbereitschaft zudem nicht mehr als symbolisches Gut, das sich zu Distinktionsgewinnen eignet, oder als aufregendes Novum, das Glücksgefühle produziert. Der Austausch von Argumenten über einen strittigen Gegenstand ist für sie in diversen Praxisfeldern zu einer vertrauten, manchmal belastenden Routine geworden. Die »Diskussionslust«, welche die frühe Bundesrepublik prägte und veränderte, kann im wiedervereinigten Deutschland der Gegenwart kaum nachvollzogen werden. Sie ist uns fremd geworden und auch deshalb zum Gegenstand historischer Analyse avanciert.

11 Gespräch d. Vf. mit P. Dienel. Zum Bürgerbeteiligungsvefahren »Planungszelle« siehe ders.

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Verzeichnis der Abbildungen

Abb. 1: Cartoon, in: Der Ruf. Zeitung der deutschen Kriegsgefangenen in den USA, 1.4.1945, S. 8. Abb. 2: Radio Frankfurt stellt sich seinen Hörern. Öffentliche Diskussionsveranstaltung im Großen Sendesaal von Radio Frankfurt an der Eschersheimer Landstraße, August 1947, HA HR. Abb. 3: Lesson in Democracy. Diskussionsgruppe mit deutschen Jugendlichen unter Leitung eines amerikanischen Soldaten, Titelseite des Weekly Information Bulletin, Nr. 74, 6.1.1947. Abb. 4: Speaking Up. Öffentliches Forum in Pforzheim, Box 19, RG 260 MGG: Scenes of Occupied Germany, 1943–1949, Still Pictures, NARA. Abb. 5: Herren im Gespräch. Der »Internationale Frühschoppen mit sechs Journalisten aus fünf Ländern« in den fünfziger Jahren, Bild: WDR. Abb. 6: Vom SDS gesprengte AStA-Forumsveranstaltung mit SPD-Bundesgeschäftsführer Hans-Jürgen Wischnewski u. a., Köln, 6.2.1969, Foto: Wolfgang Drehsen, Abbildung aus: Holl u. Glunz (Hg.), 1968, S. 90. Abb. 7: Hans-Jürgen Wischnewski im anschließenden Streitgespräch, Köln, 6.2.1969, Foto: Wolfgang Drehsen, Abbildung aus: Holl u. Glunz (Hg.), 1968, S. 91.

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Abkürzungen

AA WDR APO-Archiv AfK AfS AHR An. AStA BA FA BDM DRA E&CR E&RA GG GWU GYA HA HR HA WDR HICOG HZ JCS KZfSS KRO LSD LSO NARA II Nl. OMG OMGBR OMGUS OMGWB POW RG SDS SHB StA HB SWNCC US VA WDR VfZ WZB ZA

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Audioarchiv des Westdeutschen Rundfunks, Köln Archiv »APO und soziale Bewegungen«, FU-Berlin Archiv für Kulturgeschichte Archiv für Sozialgeschichte American Historical Review Anonymus Allgemeiner Studierendenausschuss Bundesarchiv-Filmarchiv, Berlin Bund deutscher Mädel Deutsches Rundfunkarchiv, Wiesbaden Education and Cultural Relations Division Education and Religious Affairs Branch Geschichte und Gesellschaft Geschichte in Wissenschaft und Unterricht German Youth Activities Historisches Archiv des Hessischen Rundfunks, Frankfurt a. M. Historisches Archiv des Westdeutschen Rundfunks, Köln Office of the United States High Commissioner for Germany Historische Zeitschrift Joint Chiefs of Staff Kölner Zeitschrift für Soziologie u. Sozialpsychologie Kreisresidenzoffizier Liberaler Studentenbund Deutschlands Liaison and Security Officer National Archives and Records Administration, College Park, Maryland, US Nachlass Office of Military Government Office of Military Government for Bremen Office of Military Government for Germany, US Zone Office of Military Government for Wuerttemberg-Baden Prisoner of War Record Group Sozialistischer Deutscher Studentenbund Sozialdemokratischer Hochschulbund Staatsarchiv Bremen State-War-Navy Coordinating Committee United States of America Videoarchiv des Westdeutschen Rundfunks, Köln Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung Zentralarchiv für Empirische Sozialforschung, Köln

Quellen- und Literaturverzeichnis

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Audioarchiv des Westdeutschen Rundfunks, Köln (AA WDR) Tondokument 5098674, Demnächst auf dieser Welle. Ausblicke aufs Programm, Einblicke in die Produktionen des NWDR Köln, 11.1.1952, Sendebeginn 19.30, NWDR. Tondokument 10002414, Internationaler Frühschoppen mit sechs Journalisten aus fünf Ländern. Diskussion zu aktuellen politischen Themen, 13.9.1952 [ältester erhaltener Mitschnitt der Sendereihe], Sendebeginn 12.00, NWDR. Tondokument 3252299, Der Streit der frühen Jahre. Die Kölner Mittwochgespräche 1950– 1956, Eigenproduktion WDR, 22.9.1993.

Bundesarchiv – Filmarchiv, Berlin (BA FA) Mag-Nr. 801: … und was meinen Sie dazu?/Diskussionstechnik I, BRD 1950, Produktion: Zeit im Film, Berlin u. München, Regie: E. Kroll, Buch: G. Hoffmann, 35 mm, s/w, 594 m, 22 Min. Mag.-Nr. 2166: Diskussion überflüssig?!/Diskussionstechnik II, BRD 1950, Produktion: Zeit im Film, Berlin u. München, Regie: E. Kroll, Buch: G. Hoffmann, 35 mm, s/w, 514 m, 19 Min. Mag-Nr. 19546: Der Stein des Anstosses/Public Forums, BRD 1951, Produktion: Zeit im Film, Berlin u. München, Regie: W. Becker, Buch: K. Heuser u. G. Grindel, 16 mm, s/w, 21 Minuten.

Deutsches Rundfunkarchiv, Wiesbaden (DRA) Tonaufnahmen von »Öffentlichen Diskussionen« und »Jugendforen« in der amerikanischen Besatzungszone 1947–1949. Tonaufnahmen von »Öffentlichen Diskussionen« und »Jugendforen« von Radio Frankfurt 1948–1951.

Historisches Archiv des Hessischen Rundfunks, Frankfurt a. M. (HA HR) Plakatsammlung zu »Öffentlichen Diskussionen« und »Jugendforen« von Radio Frankfurt, Plakat Jugendforum, Radio Frankfurt, Februar 1948, Nr. 51476 bis Plakat Jugend-Diskussionsabend, Radio Frankfurt, August 1948, Nr. 51478. Tonaufnahmen der »Öffentlichen Diskussionen« und »Jugendforen« von Radio Frankfurt 1948–1951.

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Historisches Archiv des Westdeutschen Rundfunks, Köln (HA WDR) Provenienz Intendanz. Provenienz HF Direktor. Provenienz Pressestelle. Provenienz Printarchiv Presse.

National Archives and Records Administration, College Park, Maryland, US (NARA II) Written Records RG 260: Records of United States Occupation Headquarters, World War II, Records of the Office of Military Government for Germany, U. S. Zone (OMGUS): Records of the Education and Cultural Relations Division: Records of the Division Headquarters. Records of the Education Branch. Records of the Community Education Branch. Records of the Information Control Division: Records of the Division Headquarters. Records created by the Office of the Adjutant General: General Correspondance and other Records. RG 466: Records of the Office of the United States High Commissioner for Germany (HICOG): Records of the United States High Commissioner for Germany, John J. McCloy. Records of the Office of the Land Commissioner for Hessen. Records of the Office of the Land Commissioner for Bremen. Records of the Office of the Land Commissioner for Bavaria. Still and Motion Pictures RG 260: Records of the U. S. Occupation Headquarters, World War II: Records 260-MGG: Scenes of Occupied Germany, 1943–1949. RG 200: March of Time T-Number Series (»MT-T«) Card Catalog, ca. 1935–1951; 111-ADC-9941, Moving Pictures Unedited.

Staatsarchiv Bremen, Bremen (StA HB) Bestand 3: Senatsregistratur (1875–1958): 3-W.11: Wohnungs- und Siedlungswesen. 3-V.2: Vereine, Parteien, Gewerkschaften, Genossenschaften, Versammlungen und Kongresse. Bestand 4,111: Senator für das Bildungswesen. Bestand 7,110-4: Nl. Wilhelm Berger, Pädagoge. Bestand 16,1: Schriftgut der Amerikanischen Militärregierung 1944–1949. Bestand 9, S 9-16-1: Programme, Amerika-Haus I.

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Video 0267247, Internationaler Frühschoppen mit sechs Journalisten aus fünf Ländern, Thema: Wie konnte geschehen, was in Deutschland in den Jahren 1933 und 1939 geschehen ist?, 27.8.1967, Sendebeginn 12.00, WDR. Standbilder »Internationaler Frühschoppen«.

Zentralarchiv für Empirische Sozialforschung, Köln (ZA) OMGUS Reports, Nr. 1–188, 1945–1949. HICOG Reports, Nr. 189–210, 1949–1955. Embassy Reports (US), Nr. 222–234, 1955–1957. BTW-disc 2000: Deutsche nationale Wahlstudien 1949–1998.

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