Diskurs und Kriminalität: Außergesetzliche Anwendungsregeln als diskursive Praktiken im Wechselverhältnis zwischen Kriminalisierungsdiskursen und Strafrechtsanwendung [1 ed.] 9783428529971, 9783428129973

Wie beeinflusst der Zeitgeist die Rechtsanwendung - und umgekehrt? Dieser Frage geht Tobias Singelnstein aus einer inter

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Diskurs und Kriminalität: Außergesetzliche Anwendungsregeln als diskursive Praktiken im Wechselverhältnis zwischen Kriminalisierungsdiskursen und Strafrechtsanwendung [1 ed.]
 9783428529971, 9783428129973

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Schriften zur Rechtstheorie Heft 246

Diskurs und Kriminalität Außergesetzliche Anwendungsregeln als diskursive Praktiken im Wechselverhältnis zwischen Kriminalisierungsdiskursen und Strafrechtsanwendung

Von Tobias Singelnstein

asdfghjk Duncker & Humblot · Berlin

Tobias Singelnstein · Diskurs und Kriminalität

Schriften zur Rechtstheorie Heft 246

Diskurs und Kriminalität Außergesetzliche Anwendungsregeln als diskursive Praktiken im Wechselverhältnis zwischen Kriminalisierungsdiskursen und Strafrechtsanwendung

Von Tobias Singelnstein

asdfghjk Duncker & Humblot · Berlin

Der Fachbereich Rechtswissenschaft der Freien Universität Berlin hat diese Arbeit im Sommersemester 2008 als Dissertation angenommen.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Alle Rechte vorbehalten # 2009 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Fremddatenübernahme: Klaus-Dieter Voigt, Berlin Druck: Berliner Buchdruckerei Union GmbH, Berlin Printed in Germany ISSN 0582-0472 ISBN 978-3-428-12997-3 Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier ∞ entsprechend ISO 9706 *

Internet: http://www.duncker-humblot.de

Für Saskia, Oskar und Benno

Vorwort Die vorliegende Arbeit wurde im Juli 2007 abgeschlossen und im Sommersemester 2008 am Fachbereich Rechtswissenschaft der Freien Universität Berlin als Dissertation angenommen. Ich hoffe, dass sie zu einem produktiven Austausch zwischen Rechts- und Sozialwissenschaften beizutragen vermag. Ich bin einer Vielzahl von Menschen zu Dank verpflichtet, die mich während der Arbeit an dieser Dissertation begleitet und unterstützt haben. An erster Stelle ist dabei mein Doktorvater Professor Dr. Ulrich Eisenberg zu nennen, der mich mit seiner Unterstützung und Förderung nicht nur wissenschaftlich geprägt, sondern auch immerwährend in meinem Weg bestärkt hat, welcher ohne seinen Ansporn und seine Anregung so nicht verlaufen wäre. Gleichfalls zu danken habe ich Professor Dr. Hubert Rottleuthner für die sehr umsichtige und äußerst gründliche Erstellung des Zweitgutachtens. In finanzieller Hinsicht und in Form der ideellen Förderung wurde ich während der Arbeit an der Dissertation durch die Hans-Böckler-Stiftung mit einem Promotionsstipendium sowie einem Druckkostenzuschuss für die Veröffentlichung unterstützt. Für diese Würdigung meiner Arbeit möchte ich mich an dieser Stelle ebenfalls herzlich bedanken. Sodann gilt mein Dank meinen Freunden und Kollegen, die mir in der Zeit der Promotion mit Rat und Hilfe zur Seite standen. Dabei sind zuvorderst Peer Stolle und Dr. Jens Puschke LL.M. sowie meine Kollegen am Lehrstuhl für Kriminologie, Jugendstrafrecht und Strafvollzug am Fachbereich Rechtswissenschaft der Freien Universität Berlin zu nennen. Darüber hinaus danke ich Thomas Dempwolf, Cora Hermann, Matze Just, Frank Noll, Rike Peiser, Steffen Sibler und Annette Triebig für ihre Hilfe. Mein ganz besonderer Dank gilt zum einen meinen Eltern, Bernhard und Monika Singelnstein, die mich auch auf diesem Schritt meines Lebenswegs stets sowohl unterstützt, als auch beraten und ermutigt haben. Zum anderen möchte ich von ganzem Herzen meiner Familie danken. Saskia Murach mit Oskar und Benno hat die Zeit der Promotion nicht nur mit Anteilnahme und unendlich viel Verständnis begleitet. Sie hat mir auch den Rücken freigehalten und mir mit ihrer unbändigen Lebenslust den notwendigen Ausgleich vermittelt. Ohne sie und ihre Unterstützung hätte diese Arbeit in dieser Form wohl nicht das Licht der Welt erblickt. Berlin, im November 2008

Tobias Singelnstein

Inhaltsverzeichnis A. Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Forschungsgegenstand und Fragestellung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Ziel der Arbeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Gang der Untersuchung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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B. Theoretische Verortung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Soziologische Theorie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Interpretatives Paradigma . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Ansätze und Entwicklung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Diskurs als Konzept im interpretativen Paradigma . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Kriminologische Theorie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Überblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Die Labeling-Perspektive . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Neuere Ansätze . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Weitergehendes Erkenntnisinteresse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Zusammenschau und Ausblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

20 20 21 22 25 28 28 29 30 33 35 36

C. Rechtsanwendung im Prozess der Kriminalisierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Instanzen und Spielräume . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Das Wirken der Instanzen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Sachverhaltsfeststellung und Kontingenz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Normen und Interpretationsspielräume . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Fazit und Relevanz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Spielraumausfüllung und außergesetzliche Regeln . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Zur Rolle außergesetzlicher Regeln . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Konzepte und Formen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Entstehungsbedingungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Wissen als übergeordnete Ebene . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Zusammenschau . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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D. Diskurs und Kriminalisierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Anschlussfähigkeit des Diskurskonzepts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Kontingenz und Wissen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Erkenntnisinteresse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Diskurs als gesellschaftliches Wissen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

67 67 67 71 73

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Inhaltsverzeichnis 1. Begriff . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Struktur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Wandel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Effekte des Diskurses . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Konstituierung von Wirklichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Recht und Strafverfolgungsinstanzen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Diskurs als Wissensrahmen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . IV. Formierung des Diskurses . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Tiefenstruktur und Anwendung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Initiierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Etablierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Bedeutung des Rechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . V. Zusammenschau . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

73 79 85 90 90 94 97 101 101 104 108 111 113

E. Kriminalisierung als diskursive Praxis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Wissen und Kriminalisierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Rolle des Wissens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Bedeutung der Subjekte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Fragestellungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Diskursgeleitete Rechtsanwendung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Wissen als Grundlage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Wege des Wissens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Außergesetzliche Anwendungsregeln . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Definitionsmacht des Diskurses . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Formierung durch die Instanzen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Wissen und Wandel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Anwendungsregeln als Mechanismus der Formierung . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Kriminalität der Instanzen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . IV. Methodik und Schritte einer empirischen Umsetzung am Beispiel von Delikten mit extrem rechtem Hintergrund . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Zur Methodologie und Methodik der Diskursanalyse . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Allgemeiner gesellschaftlicher Diskurs über die extreme Rechte . . . . . . 3. Spezialdiskurse über Delikte mit extrem rechtem Hintergrund . . . . . . . . 4. Rechtsanwendung im Wandel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . V. Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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F. Macht und Kriminalisierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Kriminalität und Macht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Bisherige kriminologische Ansätze . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Diskurs und Macht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Gouvernementalität als Ansatz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Grundlagen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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142 143 147 153 156 163

Inhaltsverzeichnis

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2. Wirkungsweise und Bedeutung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Zur Gouvernementalität der Rechtsanwendung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Regierung, Kriminalität und Recht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Regierte Rechtsanwendung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Rechtsanwendung als Regierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . IV. Zusammenschau . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

176 179 180 186 191 196

G. Zusammenfassung und Bewertung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 199 Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 204

„Von allen Urtheilen ist das Urtheil über den Werth von Menschen das beliebteste und geübteste – das Reich der größten Dummheiten. Hier einmal Halt zu gebieten, bis es als eine Schmutzigkeit, wie das Entblößen der Schamtheile, gilt – meine Aufgabe.“ (Nietzsche 1999, 138) „Nicht dass die Richter den Anweisungen der Macht folgten, ist das Problem, sondern dass sie sich konform verhalten gegenüber dem, was die Macht verschweigt.“ (Foucault 2003b, 946)

A. Einführung Das folgende erste Kapitel soll eine Einführung in das Thema leisten. Hierfür wird in einem ersten Abschnitt zunächst der Forschungsgegenstand beschrieben, um davon ausgehend die Fragestellung und den Gang der Untersuchung darzustellen.

I. Forschungsgegenstand und Fragestellung In der kriminologischen Forschung haben sich im Wesentlichen zwei Paradigmen der Betrachtung und Untersuchung des Phänomens Kriminalität etabliert. Während die ätiologische Perspektive Kriminalität als gegeben voraussetzt und hiervon ausgehend vor allem die als Täter beurteilten Personen und ihr Verhalten untersucht, versteht die konstruktivistische Perspektive den Prozess der Kriminalisierung als zentralen Forschungsgegenstand.1 Denn dieser Perspektive zufolge handelt es sich bei Kriminalität um das Ergebnis eines wertenden Zuschreibungsprozesses von der Gesetzgebung bis hin zur Rechtsprechung, in dem Geschehensabläufe als zu verfolgend oder nicht zu kriminalisierend bewertet werden. Danach haben wir es bei Kriminalität mit einem sozialen Konstrukt zu tun, das vor allem durch die Instanzen formeller Sozialkontrolle produziert wird. Die Untersuchung des Phänomens Kriminalität hat sich daher (zumindest auch) mit diesem Kriminalisierungsprozess durch strafrechtliche Sozialkontrolle und seiner Funktionsweise zu befassen.2 Dieses ist in den vergangenen Jahrzehnten in vielfältiger Weise geschehen, sodass Erkenntnisse über den Kriminalisierungsprozess und seine Instanzen einen nicht geringen Teil des kriminologischen Forschungsstandes ausmachen. Gleichwohl zeigen sich hierbei Lücken

1 Dazu näher unten B.II.1. – Indes ist diese Zweiteilung kaum geeignet, der Heterogenität kriminologischer Erkenntnis gerecht zu werden, Eisenberg 2005, § 3, Rn. 2. 2 Siehe zu dieser Perspektive näher unten B.II.2.

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A. Einführung

und sind aktuelle theoretische Entwicklungen sowohl im Bereich der Soziologie als auch der Rechtstheorie wenig aufgegriffen und nutzbar gemacht worden, obwohl ihnen für die angesprochenen Fragestellungen erhebliche Relevanz zukommt. Ein Grundgedanke dieses kriminologischen Paradigmas war stets die Vorstellung, dass im Zuschreibungsprozess der Kriminalisierung nicht vorrangig die Festlegungen des Gesetzgebers maßgeblich sind. Vielmehr kommen dieser Vorstellung zufolge auf der Anwendungsebene strafrechtlicher Sozialkontrolle – um die es hier gehen soll3 – auch außergesetzliche Einflüsse in verschiedener Form zum Tragen. Dies wurde vor allem mittels Ansätzen des interpretativen Paradigmas der Soziologie4 theoretisch konzipiert und empirisch untersucht. Der Schwerpunkt lag dabei regelmäßig auf einer Betrachtung der im Rahmen des Kriminalisierungsprozesses erfolgenden Zuschreibung bzw. der Aushandlung entsprechender Deutungen. Zu wenig beachtet wurden hingegen zwei Aspekte, die an den entgegengesetzten Polen dieser Fragestellung verortet werden können: Zum einen ist nur wenig untersucht worden, auf welche Art und Weise solche außergesetzlichen Einflüsse – rechtstheoretisch bzw. -methodisch gesehen – konkret Eingang in die Rechtsanwendung finden. Zum anderen wurde kaum der Frage nachgegangen, wo und wie solche Einflüsse auf überindividueller Ebene inhaltlich gebildet werden. Hiervon ausgehend soll in der vorliegenden Arbeit unter Heranziehung des Ansatzes außergesetzlicher Anwendungsregeln untersucht werden, wie und auf welcher inhaltlichen Grundlage die Instanzen bei ihren Entscheidungen offene und verdeckte Wertungs- und Entscheidungsspielräume neben gesetzlichen Regelungen ausfüllen. Diese Fragestellung soll unter Heranziehung einer diskursanalytischen Perspektive in Verbindung mit dem machttheoretischen Ansatz der Gouvernementalität verfolgt werden. Als Diskurs werden dabei – in Abgrenzung zu Debatten – strukturierte, sich wandelnde, überindividuelle Wissensvorräte verstanden, die im Zusammenspiel mit nicht-diskursiven Praktiken in Form von Handlungen, Sichtbarkeiten und Vergegenständlichungen soziale Wirklichkeit konstituieren und so das Handeln und Denken der Subjekte leiten.5 Vor diesem Hintergrund soll insbesondere untersucht werden, wie das Wechselverhältnis von Diskursen und der Praxis der Kriminalisierung theoretisch konzipiert werden kann. Bei diesem Ansatz handelt es sich um eine genealogische Herangehensweise in dem Sinne, dass sie den herrschenden kulturellen Horizont auf Distanz zu bringen und so zu hinterfragen versucht.6 Kriminalisierung erfolgt danach nicht belie3

Siehe unten B.II.4. Dazu unten B.I.1. 5 Siehe zu dem damit zugrunde gelegten Verständnis von sozialer Wirklichkeit und daraus folgend Wahrheit und Objektivität insbesondere unten D.III.1. 6 Zu diesem Konzept Foucault 1992; Honneth 2003, 117; Lemke 1999, 178 f. 4

II. Ziel der Arbeit

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big, sondern ist geprägt von Wissen, das in Diskursen produziert wird. In entgegengesetzter Perspektive haben die Instanzen der Strafverfolgung an einer solchen gesellschaftlichen Konstituierung von Kriminalität über Diskurse einen wesentlichen Anteil, indem sie den Diskurs (re-)produzieren. Dementsprechend kommt im vorliegenden Zusammenhang Formen von Macht in der Rechtsanwendung ebenfalls in zweifacher Weise eine Bedeutung zu, die über den Einzelfall hinausgeht. Aus kriminologischer Sicht ordnet sich die Fragestellung damit – soweit es um den Einfluss von Diskursen auf Strafverfolgung geht – zunächst in das allgemeine Forschungsfeld der Erklärung justiziellen und polizeilichen Entscheidungsverhaltens und hier insbesondere in die Forschung über außerrechtliche Einflüsse ein.7 Aber auch die entgegengesetzte Wirkungsrichtung betrifft den kriminologischen Forschungsgegenstand, wenn es um die gesellschaftliche Wahrnehmung und das Bild von Kriminalität geht, die wiederum auf den Kriminalisierungsprozess (zurück)wirken, sodass sich die Konstituierung von Kriminalität im Kriminalisierungsprozess ohne Einbeziehung der Rolle von Diskursen nicht (vollends) klären ließe.8 Für beide Fragestellungen kann zudem zwischen abstrakter und konkreter Ebene differenziert und damit von einer Relevanz sowohl für die Beurteilung einzelner Geschehensabläufe als auch für die Wahrnehmung und Beurteilung von Kriminalität insgesamt bzw. einzelner Deliktsbereiche ausgegangen werden. Aus rechtstheoretischer und -soziologischer Sicht reiht sich ein solcher Ansatz in eine neuere Theorieentwicklung ein, die Recht weniger als feststehende Hierarchie aus Normen und Rechtsquellen begreift, sondern sich der dynamischen Vielfalt von Akteuren, Apparaten und Systemen – dem „law in action“ – widmet, das sich beständig selbst reproduziert.9

II. Ziel der Arbeit Das Ziel der Arbeit lässt sich vor diesem Hintergrund, knapp formuliert, als Erhellung des Wechselverhältnisses zwischen gesellschaftlichen Wissensbeständen über Kriminalität einerseits und der Rechtsanwendung in Kriminalisierungsprozessen andererseits beschreiben. Dabei will der hier verfolgte Ansatz gesell7

Zu den verschiedenen Erklärungsmodellen Albrecht 2005, 248 ff. Insoweit unterscheidet sich die Thematik vom kriminologischen Forschungsfeld der Zusammenhänge zwischen Verbrechensdarstellungen in Medien und Kriminalität (vgl. hierzu Eisenberg 2005, § 50, Rn. 13 ff., 25 ff.) nicht nur darin, dass Medien und Diskurs nicht gleichgesetzt werden können, sondern letzterer nur (ausschnittweise) durch die Medien transportiert wird. Vielmehr ist bereits die Perspektive eine grundsätzlich andere, nachdem in diesem Bereich eher ätiologisch die Beeinflussung von abweichendem Verhalten bzw. Verbrechensfurcht durch Mediendarstellungen, nicht aber die Konstituierung von Kriminalität als sozialem Phänomen untersucht wird. 9 Dazu Buckel/Christensen/Fischer-Lescano 2006; zur Rolle strafrechtlicher Dogmatik Kräupl 2006, 88; Schulz-Schaeffer 2004. 8

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A. Einführung

schaftliches Wissen, das danach die dichotome Aufteilung in normal und abweichend organisiert und als kulturelle Basis der Rechtsanwendung begriffen werden kann, als eine grundlegende Kategorie für die kriminologische Betrachtung von Kriminalisierungsprozessen konzipieren. Er strebt insofern eine Erweiterung der theoretischen Grundlage einer interpretativen kriminologischen Perspektive an, nachdem hier in den vergangenen Jahren neuere Ansätze der sozialwissenschaftlichen Theorie und insbesondere des interpretativen Paradigmas nur noch wenig aufgegriffen worden sind. So konnte sich gerade die Diskursanalyse in verschiedenen Sozialwissenschaften als Ansatz etablieren,10 während dies für kriminologische Fragestellungen nahezu ausgeblieben ist. Die Bedeutung von Diskursen für die konkrete Rechtsanwendung und die Kriminologie ist daher bislang kaum untersucht.11 Angesichts dessen will die Arbeit einerseits das Potential der sozialwissenschaftlichen Diskursanalyse als Forschungsperspektive für die Kriminologie aufzeigen.12 Andererseits verknüpft der hier verfolgte Ansatz die Diskursanalyse mit dem kriminologischen Konzept außergesetzlicher Anwendungsregeln in der Rechtsanwendung, um dieses theoretisch zu fundieren. Zu diesem Zweck wird zunächst der kriminologische Kenntnisstand zur Rolle und Bedeutung außergesetzlicher Regeln in der Rechtsanwendung zusammengetragen. Anschließend werden solche Regeln in der diskursanalytischen Perspektive als diskursive Praktiken konzipiert und so theoretisch und forschungspraktisch handhabbar gemacht. Dabei sollen insbesondere die Genese und Effekte dieser Handlungsmuster in der Kriminalisierung untersucht und dargestellt werden. Diese Verbindung von sozialwissenschaftlicher Diskursanalyse und dem Konzept außergesetzlicher Regeln ermöglicht es, das Verständnis von Kriminalisierung als Interpretationsprozess auf eine breitere Grundlage zu stellen. Denn mit der Diskursanalyse wird ein neuerer Ansatz im interpretativen Paradigma fruchtbar gemacht, der sich der Frage widmet, wie die inhaltlichen Vorgaben für die Kriminalisierung auf einer überindividuellen Ebene zustande kommen. Das Konzept der Anwendungsregeln bietet umgekehrt Antworten auf die Frage an, wie diese Vorgaben in die Rechtsanwendung gelangen. 10 Siehe Angermüller 2001; Bublitz 1999, 22 f.; Diaz-Bone 2003, Abs. 1 ff.; Keller 2004; Klemm/Glasze 2005. 11 Rezeptionen der Arbeiten Michel Foucaults in der Kriminologie sind zwar nicht selten, siehe zur Einordnung Arrigo/Milovanovic/Schehr 2005, 1 ff. Jedoch gibt es bislang keine systematische Einbindung des auf ihn zurückgehenden Forschungsprogramms einer sozialwissenschaftlichen Diskursanalyse (siehe aber Althoff/Leppelt 1995). Zudem beziehen solche Arbeiten in weiten Teilen nicht das Spätwerk Foucaults mit ein, also vor allem die Studien zur Gouvernementalität. Ihre Rezeption in der Kriminologie beschränkt sich regelmäßig auf die Rolle von Selbstführung als Sozialkontrolle, nicht jedoch auf diese Ebenen der Macht bei den Instanzen von Sozialkontrolle selbst. 12 Siehe zu einer solchen Perspektive auch Walker/Boyeskie 2001.

II. Ziel der Arbeit

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Damit ist der Ansatz in besonderem Maße geeignet, einen Erkenntnisfortschritt zu erbringen. Er bietet einerseits eine mehrdimensionale Perspektive, die die Ebene des Subjekts und individuellen Handelns, gesellschaftliche Strukturen und Institutionen einbezieht und verbindet. Im Rahmen dessen vermag er nicht nur konkret zu beschreiben, dass, wo und wie im Zuschreibungsprozess Wertungen vorgenommen werden, sondern auch, wie sich diese konstituieren und durchsetzen. Zum anderen verbindet er dies mit einer Machtanalytik, die Macht differenziert und auf verschiedenen Ebenen lokalisiert. Kriminalisierung erscheint somit nicht (alleine) als Ergebnis einer machtvollen Zuschreibung durch einen abstrakten Staat, sondern als Resultat vielschichtiger Prozesse in einem komplexen dezentralen Netz von Macht und Wissen. Diesen Zusammenhängen soll in der Arbeit auf theoretischer Ebene nachgegangen werden, indem kriminologische und diskursanalytische Ansätze – verbunden mit dem machtanalytischen Konzept der Gouvernementalität – miteinander verknüpft werden. Aus der Perspektive der Kriminologie sind damit neben der theoretischen Fundierung des Konzepts außergesetzlicher Anwendungsregeln Neuerungen innerhalb des gesellschaftskritischen Paradigmas möglich. Dies gilt insbesondere für die Frage, welche Rolle Diskurse13 bei der Konstituierung von Kriminalität als gesellschaftlichem Phänomen spielen. Dabei soll es in der Arbeit nicht – wie man auch ansetzen könnte – um das diskursive Wissen der Kriminalisierten gehen, das die Grundlage für deren soziale Praktiken bildet, sondern um das Wissen und Handeln der Instanzen der Strafverfolgung als Akteure des Kriminalisierungsprozesses, die die Definition und Bewertung solcher Praktiken erst vornehmen. Die Relevanz der diesbezüglichen Befunde über das Verhältnis von gesellschaftlichem Wissen und Rechtsanwendung ist insofern noch gesteigert, als diese sich auch auf andere Bereiche von Rechtsanwendung übertragen lassen. Die Ergebnisse sind somit nicht auf Kriminalisierungsprozesse beschränkt, wenngleich sie hier besondere Bedeutung haben. Aus Sicht der Diskursanalyse können die Ergebnisse der Arbeit einen Erkenntnisfortschritt für die Frage bringen, wie Diskurs und Praktiken miteinander verknüpft sind und zusammenspielen. An dieser Stelle ist vor allem von Interesse, wie sich Diskurse in Form von Subjektivierung und Reproduktion im Alltag umsetzen und wirken, aber auch die Frage, wie sich ihr Wandel vollzieht und welche Rolle Praktiken dabei spielen. Der – bislang kaum genauer untersuchte14 – Bereich der Rechtsanwendung ist dabei insofern von besonderem Interesse, als hier verschiedene Ebenen von unterschiedlich stark institutionalisier13 Der Begriff des Diskurses wird sowohl in der Einzahl für den Gesamtdiskurs als auch in der Mehrzahl zur Bezeichnung verschiedener Diskursstränge verwandt, siehe näher unten D.II.2. 14 Das Recht und seine Anwendung werden in solch einer Perspektive kaum einmal systematisch in den Blick genommen; insbesondere hat auch Foucault an keiner Stelle eine derartige Untersuchung vorgelegt, siehe Gehring 2000, 18 f.

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A. Einführung

tem Wissen zusammenspielen und die Instanzen als besondere Akteure mit einer ausgeprägten Alltagspraxis gelten können. Der hier verfolgte Ansatz ist daher gerade auch aus Sicht des für die Sozialwissenschaften zu konstatierenden „practical turn“ bedeutsam, zumal gerade das Konzept der Diskursanalyse einer stärkeren handlungstheoretischen Fundierung bedarf.15 Damit knüpft die Arbeit sowohl an den Stand der kriminologischen Instanzenforschung, als auch der Diskursforschung, und so an Fragen eines aktuellen Erkenntnisinteresses in Sozialwissenschaften wie Kriminologie an.

III. Gang der Untersuchung Die Arbeit gliedert sich unter Einschluss dieser Einführung und der abschließenden Zusammenfassung in sieben Kapitel. Im folgenden zweiten Kapitel (B.) wird zunächst eine Verortung des hier verfolgten Ansatz im Feld soziologischer Theorien und im Bereich der Diskursanalyse im Besonderen vorgenommen, um sodann die einschlägigen kriminologischen Theorie-Ansätze zu erörtern. Anschließend werden im dritten Kapitel (s. unten C.) bisherige Erkenntnisse zur Arbeit der Instanzen der Strafverfolgung und insbesondere zu deren Wirken bei der Rechtsanwendung zusammengetragen. Dabei liegt ein Schwerpunkt auf Erkenntnissen bezüglich der Rolle außergesetzlicher Regeln. Von diesen Grundlegungen ausgehend wird in den folgenden Kapiteln der hier verfolgte Ansatz konkret ausgearbeitet. Im vierten Kapitel (unten D.) wird in einem ersten Schritt die Anschlussfähigkeit des diskursanalytischen Konzepts für die zuvor erarbeiteten Fragestellungen geklärt, um dann den damit skizzierten theoretischen Horizont in drei großen Schritten abzuschreiten: Im vierten Kapitel wird auf abstrakter Ebene untersucht, welche Rolle Diskurse bzw. das durch sie produzierte und institutionalisierte Wissen bei Kriminalisierungsprozessen spielen. Hieran anschließend wird im fünften Kapitel (unten E.), das den Kern der Arbeit bildet, beleuchtet, wie das Wechselverhältnis von diskursivem Wissen und Rechtsanwendung im Kriminalisierungsprozess auf einer konkreten Ebene ausgestaltet ist. Dies betrifft zum einen die Frage, auf welchen Wegen solches Wissen die Kriminalisierung prägt. Zum anderen und in entgegengesetzter Perspektive geht es darum, inwiefern Kriminalisierungsprozesse an der Konstituierung solcher Wissensbestände beteiligt sind. In einem weiteren Abschnitt dieses Kapitels werden die genannten Zusammenhänge dann am Beispiel von Diskursen zu Delikten mit extrem rechtem Hintergrund16 und deren strafjustizieller Bearbeitung auf einer konkreten Ebene nachgezeichnet, um den bis dahin ausgearbeiteten Ansatz beispielhaft empirisch zu veranschaulichen. Nachdem bereits im vierten Kapitel 15 16

Dazu Keller 2005, 60, 147 f.; Reckwitz 2003, 282 f. Zur Begrifflichkeit siehe näher unten E.IV.1.

III. Gang der Untersuchung

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untersucht wird, inwiefern die Forschungsperspektive der Diskursanalyse gewinnbringend auf kriminologische Fragestellungen angewendet werden kann, stellt vor allem dieser Teil der Arbeit eine neuartige Herangehensweise dar, indem er das Konzept außergesetzlicher Anwendungsregeln in die diskursanalytische Perspektive integriert, um so diskursive Praktiken bei der Rechtsanwendung im Rahmen von Kriminalisierungsprozessen erfassen zu können. Im sechsten Kapitel (F.) schließlich wird der verfolgte Ansatz im Hinblick auf die Frage der Macht untersucht. Dies erfolgt unter Heranziehung des machtanalytischen Ansatzes der Gouvernementalität, der eine differenzierte Erfassung von verschiedenen Formen von Macht ermöglicht und sich gut an die Forschungsperspektive der Diskursanalyse anschließen lässt. Auch hierbei handelt es sich insofern um ein innovatives Vorgehen, als der Ansatz der Gouvernementalität auf die Rechtsanwendung durch die Strafverfolgungsinstanzen angewendet wird, um so in der Rechtsanwendung liegende und wirkende Formen von Macht sichtbar zu machen.

B. Theoretische Verortung Die theoretischen Ausgangspunkte der Arbeit sind auf zwei Ebenen zu suchen, die in Beziehung zueinander stehen. Zum einen handelt es sich um eine kriminologische Arbeit, woraus sich die spezielle Thematik und das Erkenntnisinteresse ebenso ergeben wie das Erfordernis, die Arbeit im Feld kriminologischer Theorieansätze zu verorten. Andererseits macht es die interdisziplinäre und oft nahezu eklektizistische Vorgehensweise der Kriminologie – wenn sie Theorien anderer Wissenschaften auf ihren speziellen Themenbereich überträgt und weiterentwickelt1 – notwendig, die Arbeit auch auf solch gleichsam übergeordneter Ebene theoretisch zu platzieren. Da die in Rede stehende Thematik einer soziologisch orientierten Perspektive in der Kriminologie zuzuordnen ist, geht es dabei darum, diese im Feld der soziologischen Theorien zu positionieren.2 Dieser Schritt hat deswegen besondere Bedeutung, weil ein innovatives Potential des verfolgten Ansatzes gerade darin besteht, ein neueres Konzept soziologischer Theorie und Methodik aufzugreifen und für die bezeichnete kriminologische Perspektive fruchtbar zu machen.

I. Soziologische Theorie Die Verortung des verfolgten Ansatzes im Feld der soziologischen Theorie soll zum einen die Zusammenhänge, den Ursprung sowie Entwicklungsperspektiven für die Kriminologie verdeutlichen. Zum anderen wird mit der Darstellung des interpretativen Paradigmas der Soziologie als metatheoretischem Rahmen des zu untersuchenden Zusammenhangs3 von regelgeleiteter Rechtsanwendung und Diskurs die Grundlage für die theoretische Fundierung in den folgenden Kapiteln gelegt. Außerdem lässt dieser Schritt die gemeinsame Herkunft und Vereinbarkeit bestehender kriminologischer Ansätze und des hier verfolgten Zusammenhangs deutlich werden: Das Konzept der Diskursanalyse und der Ansatz einer regelgeleiteten Rechtsanwendung lassen sich – wie in weiten Teilen auch die hier verfolgte kriminologische Perspektive insgesamt – im interpretativen 1

Vgl. Eisenberg 2005, § 1, Rn. 34 f. Zu den grundlegenden perspektivischen Differenzen zwischen Kriminalsoziologie und Strafrechtswissenschaft – Verantwortlichkeitsannahme, Annahme einer Differenz von kriminellem und nicht kriminellem Verhalten und Annahme der Funktionalität strafrechtlicher Sozialkontrolle – siehe Peters 2000. 3 Zum Begriff des Paradigmas und der daraus folgenden Differenzierung siehe Morel u. a. 2001, 307 ff. 2

I. Soziologische Theorie

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Paradigma verorten; beide teilen entscheidende Grundannahmen, Herangehensweisen und Methoden, sodass sie auf theoretischer Ebene fruchtbar zusammengebracht werden und sich gegenseitig ergänzen können. 1. Interpretatives Paradigma Die grundlegende Vorstellung der in der Einführung bereits skizzierten Fragestellung ist es, dass Interaktion ein interpretativer Prozess ist, in dem Bedeutung, Sinn und Wissen eine zentrale Rolle spielen, welche sich dort erst bilden und wandeln.4 Dies gilt nicht alleine für die verfolgte kriminologische Perspektive (dazu unten II.), sondern ebenso für den hier vertretenen Ansatz der Diskursanalyse. Die Arbeit mit ihren verschiedenen Zugängen kann daher im interpretativen Paradigma verortet werden, das einen kognitiven Konsens verneint und von subjektiven Wirklichkeitsverständnissen und somit einer sozial definierten Realität ausgeht. Diese Position des interpretativen Paradigmas lässt sich in den folgenden drei Grundannahmen des Symbolischen Interaktionismus zusammenfassen: • Menschen handeln Sachen, Situationen, anderen Menschen, Institutionen, Werten, Handlungen anderer etc. gegenüber auf Grund der Bedeutung, die diese für sie besitzen. • Diese Bedeutungen entstehen in der Interaktion mit anderen Menschen. • Im interpretativen Prozess der Auseinandersetzung mit Sachen, Menschen und Situationen werden diese Bedeutungen genutzt und wandeln sich.5 Dreh- und Angelpunkt dieser Perspektive sind somit zum einen Sinn, Bedeutung und das (Alltags-)Wissen über die Welt, das für uns Wirklichkeit darstellt und die Grundlage und Struktur unseres Handelns bildet; zum anderen sind es die gesellschaftlichen Prozesse, in denen dieses Wissen hergestellt und objektiviert wird.6 Hierbei ist die Vorstellung leitend, dass solche Wissensbestände die Handelnden nicht nur bestimmen, sondern durch sie in Interaktionsprozessen auch (re-)produziert werden. Daraus ergibt sich, dass es keinerlei soziale Strukturen außerhalb und unabhängig von den interpretativen Prozessen der Interaktion geben kann, dass mithin nichts einfach Gegebenes vorzufinden ist, was untersucht werden könnte.7 Denn die Dinge sprechen nicht von sich aus und die Gegenstände kommen nicht selbst über unsere Bewusstseinsgrenze hinweg. Ins Blickfeld der Forschung rücken mit dieser Perspektive, die eng mit dem so genannten „cultural turn“ in den Sozialwissenschaften verbunden ist, daher die 4 5 6 7

Siehe dazu Mottier 1999, 126 f.; Weymann 2001, 95 ff. So Blumer 1981, 81. Siehe für einen aktuellen Überblick Hitzler 2002. Vgl. Peuckert 2001, 359 f.

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B. Theoretische Verortung

Prozesse der Produktion von Bedeutung, Sinn und Wissen als Praxis der Konstituierung von Realität, die auch die Subjektbildung bestimmt.8 Infolge der unterschiedlichen Annahmen bzw. Herangehensweisen der verschiedenen metatheoretischen Ansätze bzw. Paradigmen in den Sozialwissenschaften unterscheiden diese sich nicht nur in ihren Begrifflichkeiten und theoretischen Konzepten. Auch aus erkenntnistheoretischer Sicht bestehen erhebliche Differenzen bezüglich des Forschungsgegenstandes sowie der Möglichkeiten und Strategien der Erkenntnisgewinnung.9 Die hier verfolgte Forschungsperspektive steht dabei nicht alleine demjenigen sozialwissenschaftlichen Paradigma diametral gegenüber, das davon ausgeht, dass Interaktion von Rollenerwartungen, Normen etc. geleitet wird, an denen sich die Individuen orientieren. Sie unterscheidet sich mit ihrem methodisch qualitativ orientierten, sinnverstehenden und hermeneutischen Zugang auch grundlegend von der klassischen kausalgesetzlichen Forschung des Positivismus wie auch in Abstufungen von interessen-, ideenpolitischen und ideologiekritischen Ansätzen, die in vergleichbarer Weise von der Trennung bzw. Trennbarkeit von Materie und Idee ausgehen.10 2. Ansätze und Entwicklung Im interpretativen Paradigma haben sich verschiedene Herangehensweisen herausgebildet, die sich vor allem darin unterscheiden, wo sie die Konstituierung von Sinn verorten.11 Ein erster zentraler Ansatz war der von Mead und Blumer geprägte Symbolische Interaktionismus, demzufolge menschliches Verhalten im Wesentlichen nicht von objektiven Umständen, sondern den individuellen, subjektiven Definitionen von Situationen bestimmt ist.12 Solche zugeschriebenen Bedeutungen werden danach – ebenso wie Elemente der Subjektivierung beispielsweise in Form von Identität, Rolle und Selbstbewusstsein – im Wege sozialer Interaktion erlebt, erlernt und reproduziert, die sich über so genannte Symbole in Form von Worten, Gestik und Handlungen vollziehen soll.13 Menschen handeln also Dingen und anderen Menschen gegenüber aufgrund der subjektiven Bedeutungen, die diese für sie haben und die erst im Rahmen von Interaktion entstehen, gelernt werden und sich verändern.14 8 Zu dieser Entwicklung detailliert Reckwitz 1999, 19 ff. sowie auch Morlok/Kölbel/Launhardt 2000, 16 f.; Sack 1975, 133. 9 Dabei gehen die verschiedenen Ansätze zwar von gegensätzlichen Grundannahmen aus, haben in ihrer unterschiedlichen Leistungsfähigkeit aber gleichwohl eine Berechtigung nebeneinander. 10 Dazu van Dyk 2006, 54 ff. 11 Siehe Hitzler 2002. 12 Dazu Morel u. a. 2001, 52 ff.; Weymann 2001, 98 ff. 13 Speziell zu richterlichem Handeln Rottleuthner 1973, 126 ff. 14 Peuckert 2001, 355 f.; vgl. aus devianztheoretischer Sicht Matza 1964, 6.

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Der Symbolische Interaktionismus versteht demnach Verhalten von Individuen sowohl als Ergebnis sozialer Prozesse als auch selbst als sozialen Prozess. Eine solche Interaktion setzt voraus, dass die Beteiligten die Situation gleich verstehen und definieren, wobei es sich um einen Aushandlungsprozess handeln soll, an dem die Individuen unterschiedlich stark beteiligt sind. Das Besondere dieser Perspektive besteht also darin, dass sie von einem stark aktiven Part des Individuums ausgeht und die Bedeutung von Symbolen und Definitionen bzw. Zuschreibungen im Rahmen der Interaktion betont. Entsprechend geht dieser mikrosoziologisch angelegte Ansatz von einer ständig im Wandel befindlichen Sozialstruktur aus und kann insofern kaum gesamtgesellschaftliche Aspekte erfassen. Parallel dazu bzw. im Anschluss hieran entwickelte sich die soziologische Phänomenologie,15 die Symbole eher als vorhandenes, geteiltes Wissen versteht und stärker betont, wie sich dieses bei den Einzelnen biografisch herausbildet. Ihr geht es nicht so sehr um konkrete Interaktionen, sondern um die Frage, wie sich eine alltägliche Lebenswelt konstituiert, wie Individuen Handlungen unter Rückgriff auf vorhandenes Wissen interpretieren.16 Hierunter werden neben Sprache und Typisierungen auch Regeln für den Umgang mit Dingen und bestimmten Situationen verstanden, die die sinnhaft handelnden Subjekte zwar vermittelt bekommen, aber auch weiterentwickeln. Auch dieser Ansatz geht mithin davon aus, dass die Welt, wie wir sie erleben, immer schon interpretiert ist und wir uns in ihr aufgrund von Wissen orientieren, das im Wesentlichen nicht unseren direkten Erfahrungen entspringt, sondern sinnhaft-sozial konstituiert und vermittelt wird.17 Hieraus entwickelte sich mit der auf Garfinkel zurückgehenden Ethnomethodologie ein dritter zentraler Ansatz innerhalb des interpretativen Paradigmas, der mitunter als empirische Weiterentwicklung der Phänomenologie bezeichnet wird. Dabei handelt es sich um einen Forschungsansatz, der darauf gerichtet ist, die grundlegenden Regeln und Methoden zu identifizieren, mit denen Individuen Dinge und Situationen interpretieren, um sie sich sinnhaft zu erschließen. Es geht daher nicht darum, ein solches Wissen zu klassifizieren, sondern zu klären, wie der Einzelne zu diesem Wissen kommt und wie er es anwendet.18 Gesellschaftliche Gegebenheiten werden dabei zwar als äußerlich vorhanden und zwingend wahrgenommen, sie werden jedoch nur durch die permanente Umsetzung und Behandlung im Alltag real.19

15 Teilweise werden diese Ansätze auch zusammen unter dem Namen Phänomenologie geführt. 16 Peuckert 2001, 356 f. 17 Siehe Morel u. a. 2001, 67 ff. 18 Garfinkel 1976, 31 f.; Weymann 2001, 102 f.; siehe auch Peuckert 2001, 358. 19 Morlok/Kölbel/Launhardt 2000, 18 f., zu daraus folgenden rechtssoziologischen Konzepten 30 ff.

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B. Theoretische Verortung

Bereits diese drei als ursprünglich begriffenen Ansätze des interpretativen Paradigmas gehen in unterschiedlicher Intensität davon aus, dass Wirklichkeit (jedenfalls auch) gesellschaftlich definiert und daher nicht objektiv ist. Dabei verwenden alle drei als zentrale Elemente ihres Ansatzes Kategorien wie Sinn, Bedeutung und Wissen.20 Im Anschluss hieran präzisieren neuere, vor allem sprach- und wissenssoziologische Ansätze im interpretativen Paradigma diese Vorstellung und bauen sie aus. Bestimmend innerhalb dieser zunehmend konstruktivistischen Perspektive war dabei der Zugang von Berger/Luckmann (1996), die Gesellschaft einerseits als subjektive und zum anderen als objektivierte Wirklichkeit verstehen: Subjektiv, weil Welt sich dem Einzelnen nur über Sinnstrukturen und Wissen erschließt, die er sich aneignet; gleichzeitig aber objektiviert, soweit ein bestimmtes Wissen von vielen und für viele als gültig anerkannt, institutionalisiert und legitimiert wird, um auf diesem Wege Realität zu werden. Dieser Vorstellung zufolge gibt es keine erfahrbare objektive Wirklichkeit, sondern handelt es sich bei unseren Vorstellungen von dieser um Bestände von Wissen und Bedeutungen, die sich als eine Interpretation der materiell existenten Welt durchgesetzt haben, sodass Realität gesellschaftlich definiert ist. Dabei handelt es sich um eine ständige Produktionsleistung, weshalb das objektivierte Wissen und soziale Praktiken als in einem Wechselverhältnis stehend begriffen werden können.21 Gleichwohl ist allen diesen Ansätzen ein wesentlicher Mangel immanent. Es gelingt ihnen kaum, ihre handlungstheoretischen Erkenntnisse mit gesellschaftstheoretischen Aspekten zusammenzuführen, um zu erklären, warum sich zu einem bestimmten Zeitpunkt ein bestimmtes Wissen oder ein Arsenal von Bedeutungen durchsetzt, entsteht oder verflüchtigt, wie Wissen und die sozialen Praktiken seiner Erzeugung und Vermittlung konkret zusammenwirken und welche Rolle hierbei Aspekte wie Macht spielen.22 So gehen Berger/Luckmann zwar davon aus, dass Deutungs- und Handlungswissen in sozialer Interaktion als Prozessen kollektiver Aushandlung sozialer Wirklichkeit entstehen, institutionalisiert, weitergegeben und modifiziert werden, wobei sie sich auf basale Prozesse von Wissenskonstruktion und -aneignung auf der alltäglichen Erfahrungsebene konzentrieren. Aspekte wie die Rolle von Institutionen, die Macht zum Setzen von Wirklichkeit u. ä. werden von ihnen aber nicht als eigenständiger Gegenstand behandelt. Die beiden Autoren bieten jedoch immerhin Anknüpfungspunkte, um machtvolle, systematische, institutionalisierte Wissensproduktion und -vermittlung in einem theoretischen Ansatz fassen zu können, der gesellschafts- und handlungstheoretische Aspekte verbindet.23 20 21 22 23

Zusammenfassend Arbeitsgruppe Bielefelder Soziologen 1981. Berger/Luckmann 1996; zusammenfassend Keller 1999. Vgl. Hitzler 2002, Fn. 10. Vgl. Keller 2006, 116 ff., 121 ff.

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3. Diskurs als Konzept im interpretativen Paradigma An dieser Stelle ist das mittlerweile relativ breit rezipierte theoretische und methodische Konzept der Diskursanalyse von Interesse. Dessen hier verfolgter Ansatz erweitert die genannten Grundlagen um eine Ebene institutionell-organisatorischer Produktion von Wissen durch Diskurse. Diesem ursprünglich auf Arbeiten Michel Foucaults und anderer24 zurückgehenden und heute von vielen Seiten weiter entwickelten Ansatz25 gelingt es so, einerseits das Verhältnis von Praktiken und Wissen in einer konstruktivistischen Perspektive zu kombinieren und dabei andererseits gesellschaftstheoretische Aspekte zu integrieren. Das Phänomen des Diskurses hat in den vergangenen Jahren bis Jahrzehnten in starkem Maße Eingang nicht nur in die Alltagssprache, sondern auch in die wissenschaftliche Forschung gefunden. Dabei werden unterschiedliche Diskursbegriffe26 wie auch sehr verschiedene theoretische und methodische Herangehensweisen verwendet. Diese lassen sich grob einteilen in eine sprachwissenschaftlich orientierte, eine historische, eine ideologiekritische sowie eine sozialwissenschaftlich-wissenssoziologische Richtung.27 Die Diskursanalyse hat sich damit in den vergangenen Jahren als eigenständige, transdisziplinäre28 Forschungsperspektive entwickelt und etabliert, die in sich recht heterogene Herangehensweisen vereinigt.29 Für die in dieser Arbeit verfolgten Fragestellungen ist insbesondere die sozialwissenschaftliche bzw. wissenssoziologisch orientierte Richtung von Relevanz. Diese ist nicht alleine auf Text und Sprache oder historische Fragestellungen fokussiert, sondern in der Lage, auch soziale Praktiken in einer interpretativen Perspektive einzubeziehen und mit der zunächst eher strukturalistischen Orientierung der Diskursanalyse zu kombinieren. Diesem diskursanalytischen 24 Insbesondere aus linguistischer Sicht gehen die Grundlagen eines solchen Ansatzes noch weiter zurück bis hin zu Ferdinand de Saussure, der festhielt, dass die Bedeutung von Worten bzw. allgemein Zeichen relativ und vom gesamten Sprachsystem abhängig ist, da der Beziehung der Zeichen untereinander eine erhebliche Bedeutung zukommt. 25 Zusammenfassend Keller 2006. 26 Während im Alltag eine synonyme Verwendung statt Diskussion oder Debatte dominiert und Habermas’ Diskursbegriff das Ideal einer aufgeklärten intellektuellen Auseinandersetzung beschreibt, fassen die verschiedenen Ansätze der Diskursforschung recht unterschiedliche Dinge unter den Begriff, von einem sprach- oder textorientierten Verständnis bis hin zur Vorstellung langfristig entstandener Wissensordnungen bzw. der hinter diesen stehenden Struktur ihrer Entstehung. 27 Vgl. Keller 2004, 20 ff. Zu ersterer aus kriminologischer Sicht beispielsweise Hoffmann 1997. 28 So Jäger 1999, 158, wenngleich der Schwerpunkt freilich auf den Geistes- und insbesondere den Sozialwissenschaften liegt. 29 Es handelt sich insofern nicht um eine spezifische Methodik oder Theorie; diese hängen von der jeweiligen Fragestellung und Konzeption ab.

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Ansatz zufolge sind Wahrnehmung und Handeln durch sozial konstruiertes Wissen bestimmt, das in symbolischen Ordnungen vermittelt wird, die in Diskursen gesellschaftlich produziert, legitimiert und transformiert werden.30 Demnach beschreiben Diskurse nicht Realität, sondern konstituieren sie vielmehr, indem sie Wissen, Bedeutung und Sinn hervorbringen, verbreiten, als wirklich und wahr darstellen.31 Auf diesem Wege bringen sie eine symbolische soziale Ordnung ebenso wie die Subjekte selbst hervor. Denn das diskursive Wissen bildet nicht nur die Grundlage für das Denken und Handeln der Subjekte, sondern der Einzelne verinnerlicht in Subjektivierungsprozessen solche basalen Vorstellungen auch als Wirklichkeit und bildet hieraus sein Selbstverständnis. Das Erkenntnisinteresse der Diskursanalyse richtet sich dementsprechend darauf, die „Prozesse der sozialen Konstruktion, Objektivation, Kommunikation und Legitimation von Sinn-, das heißt Deutungs- und Handlungsstrukturen auf der Ebene von Institutionen, Organisationen bzw. sozialen (kollektiven) Akteuren zu rekonstruieren und die gesellschaftlichen Wirkungen dieser Prozesse zu analysieren“.32 Mit dieser interpretativen Herangehensweise, nach der Wirklichkeit von in Diskursen produziertem Wissen bestimmt ist, verfolgt der Ansatz ein besonderes Verständnis von Wahrheit und Wirklichkeit. Insbesondere geht er nicht davon aus, dass es eine objektive, erfahrbare Wahrheit gibt, die nur durch die „falsche“ Wahrheit des Diskurses verdeckt würde. Vielmehr postuliert sie, dass sich die Dinge selbst, das tatsächliche, reale Substrat der Materialität in keiner Weise von sinnhafter Zuschreibung trennen und befreit darstellen lassen. Unsere Wirklichkeit ist danach immer bereits eine Interpretation der Materialität bzw. basiert Wirklichkeit gar selbst auf diskursivem Wissen, sodass es eine „tatsächliche“, objektive Wahrheit nicht geben kann. Dementsprechend geht es diesem diskursanalytischen Ansatz nicht um die Freilegung einer verdeckten Wahrheit, sondern um die Darstellung der Kontingenz von Wirklichkeit, das heißt darum zu zeigen, dass diese nicht festgelegt ist, sondern auch anders sein könnte, werden kann, bloße Möglichkeit ist.33 Wenngleich dieser Ansatz der Diskursanalyse im interpretativen Paradigma verortet werden kann, unterscheidet er sich doch an zentraler Stelle von den meisten anderen interpretativen Ansätzen dadurch, dass er eine überindividuelle Ebene verfolgt. Zwar geht es auch hier um die Herstellung und den Wandel von Sinn, Wissen und Bedeutung, die danach jedoch nicht intentional oder unmittelbar durch Aushandlung zwischen den Subjekten erfolgen, sondern durch den Diskurs geprägt und bestimmt werden. Dieser ist als Tiefen- oder Hintergrund30

Keller 2005, 183 ff. Zu diesem Verständnis von sozialer Wirklichkeit, Wahrheit und Objektivität genauer unten D.III.1. 32 Keller 2006, 115. 33 Diaz-Bone 2006, Abs. 17; Fischer 2001, 106 f. 31

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struktur kommunikativen und interaktiven Handelns zu verstehen, die festlegt, welche Sprecher zu welchen Themen mit welchen Aussagen gehört werden, was zu einem bestimmten Themenfeld sagbar ist und was sich als Interpretation von Wirklichkeit durchsetzt. Diese Sichtweise stellt gegenüber sonstigen interpretativen Ansätzen einen auch erkenntnistheoretischen Bruch dar. Statt Subjekten und ihren Lebenswelten steht die Tiefenstruktur gesamtgesellschaftlicher Wissensordnungen im Zentrum der Betrachtung. Es geht mithin weniger um die differierende Interpretation einer bestehenden Wirklichkeit, sondern um deren wissensbasierte und daher kontingente Hervorbringung durch die Praktiken der Subjekte. Damit macht diese Vorstellung das Individuum gleichwohl nicht zum Nullum oder negiert die Existenz von Akteuren mit Interessen und Ideologien. Der Ansatz thematisiert vielmehr auch die praktischen Gebrauchsweisen der Wissensordnungen und so das Verhältnis von Strukturen, Ereignissen, Handlungen und Subjekten; er kann insofern als poststrukturalistisch bezeichnet werden.34 Diesem Verständnis folgend wird hier davon ausgegangen, dass der Diskurs mit seiner Prägung von Wissen als Wirklichkeit einen Rahmen bereitstellt, in dem zwar gesellschaftliches Handeln stattfindet, der aber nicht zu überwinden ist. Innerhalb dieses Rahmens agieren also Subjekte mit unterschiedlich starkem Einfluss und streiten – durchaus auch intentional – um die Interpretation von Welt und Wirklichkeit, die jedoch durch die diskursiven Wissensordnungen erheblich vorgeprägt ist. Zugleich kommt den Subjekten aber für den hier verfolgten diskursanalytischen Ansatz selbst eine prominente Bedeutung zu, da sie diesem zufolge nicht nur durch den Diskurs geprägt werden, sondern diesen auch umsetzen und somit ständig selbst ihren Wirklichkeitsrahmen (re-)produzieren. Gerade dieses Wechselverhältnis zwischen dem Diskurs und den Praktiken der Subjekte ist für die Fragestellung nach der regelgeleiteten Rechtsanwendung und der Produktion und Veränderung einer kollektiven Wissensordnung der Kriminalisierung von besonderem Interesse. In der Arbeit wird es somit insbesondere darum gehen, dieses Wechselverhältnis innerhalb des diskursanalytischen Ansatzes herauszuarbeiten. Neben dieser handlungstheoretischen Perspektive ermöglicht ein solcher Forschungsansatz auch eine gesellschaftstheoretische Perspektive, soweit er den Blick auf verschiedene Formen von Macht eröffnet. Dies gilt zum einen, da dem Diskurs selbst eine machtvolle Wirkung zukommt. Zum anderen ist es diesem Ansatz nach nicht zufällig, welche Interpretationen der Wirklichkeit sich im Diskurs durchsetzen. Der Diskurs wirkt insofern nicht nur mächtig, er gibt auch Auskunft über Machtverhältnisse.

34

Vgl. Keller 2004, 17.

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4. Zusammenfassung Sozialwissenschaftliche Diskursforschung lässt sich zusammenfassend beschreiben als Untersuchung des Zusammenhangs von kommunikativen sozialen Praktiken und der Produktion von Wissensordnungen, den in diesen Prozessen wirksam werdenden Regeln sowie den gesellschaftlichen und sozialen Folgen.35 Mit dieser interpretativen, poststrukturalistischen Perspektive schließt die hier verfolgte Fragestellung an bisherige Ansätze im interpretativen soziologischen Paradigma an. Während sich die Diskursforschung in den Sozial-, Geschichtsund anderen Geisteswissenschaften in den vergangenen Jahren bis Jahrzehnten als theoretisches und methodisches Konzept etablieren konnte, ist dieses für kriminologische Fragestellungen weitgehend ausgeblieben. Demnach liegen heute zwar zahlreiche Arbeiten im Rahmen des hier gewählten speziellen theoretischen und methodischen Zugangs vor, die sozialwissenschaftliche Diskursforschung theoretisch fundieren und empirisch umsetzen.36 Dies gilt jedoch kaum für die Kriminologie und insbesondere nicht für das Wechselverhältnis zwischen Diskurs und Rechtsanwendung. Soweit sich Arbeiten doch mit dieser Thematik beschäftigen, untersuchen sie zumeist nur das abstrakte Verhältnis von Diskursen und Institutionen.37 Dies stellt sich vor allem deswegen als Lücke dar, da die theoretischen Ansätze des interpretativen Paradigmas nicht nur inspirierend auf die Kriminologie gewirkt haben, sondern zu wesentlichen Teilen gar die Grundlage der gesellschaftskritischen Richtung der Kriminologie bilden, die Kriminalität nicht als Eigenschaft einer Handlung, sondern als Ergebnis sozialer Interaktionen und Strukturen versteht.38

II. Kriminologische Theorie Als Gegenstand der Kriminologie werden im Folgenden soziale Kontrolle und abweichendes Verhalten verstanden, wenngleich der thematische Schwerpunkt der Erörterungen hier auf dem Strafrecht liegt.39 Als abweichendes Verhalten werden Handlungen im Widerspruch zu herrschenden sozialen Verhaltensanforderungen bezeichnet; soziale Kontrolle umfasst demgegenüber die Techniken und Mechanismen, mit denen eine Gemeinschaft oder Gesellschaft versucht, soziale Ordnung herzustellen, indem sie ihre Mitglieder zur Einhaltung solcher Verhaltensanforderungen bringt, das heißt dazu, sich definierten Erwartungen

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Keller 2004, 7. Vgl. Diaz-Bone 2003; Keller/Hirseland/Schneider/Viehöver 2006; Keller 2004. 37 Siehe aber auch Frehsee/Löschper/Smaus 1997; Althoff/Leppelt 1995. 38 Vgl. Lamnek 1997, 45. 39 Dessen Theoretiker sehen das Strafrecht ebenso als Teil eines funktional zusammenwirkenden Gesamtsystems sozialer Kontrolle, vgl. Jescheck 2003, Rn. 1. 36

II. Kriminologische Theorie

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entsprechend zu verhalten. Dabei reicht das Spektrum von der Sozialisation als Internalisierung von Normen und Werten bis hin zum Strafrecht.40 1. Überblick Im Zuge der Untersuchung dieses Themenfeldes haben sich in der kriminologischen Forschung, wie eingangs bereits angesprochen, verschiedene Perspektiven etabliert. Dabei kann man, entsprechend der dargestellten Entwicklung in der soziologischen Theorie und derjenigen der Gesellschaftswissenschaften überhaupt, im Wesentlichen zwei Richtungen unterscheiden: Eine an einem naturwissenschaftlichen Wissenschaftsverständnis orientierte Richtung, die ein eher sozialtechnologisches Interesse verfolgt, steht einer gesellschaftskritischen Herangehensweise gegenüber. Diese Differenz spiegelt sich seit Ende der 1960er Jahre bis heute wider in der Unterscheidung zwischen der traditionellen, ätiologischen Kriminologie auf der einen Seite und einer gesellschaftliche Strukturen und Entstehungszusammenhänge in den Blick nehmenden Richtung auf der anderen. Während erstere eher quantitativ die als Täter beurteilte Person und ihr Verhalten untersucht und sich primär mit der Entstehung und Entwicklung von Kriminalität befasst, versteht die andere Kriminalität als gesellschaftliches Verhältnis, als soziale Beziehung.41 Dieses neuere gesellschaftskritische Paradigma entwickelte sich zunächst in der angloamerikanischen, anschließend auch in der deutschen Kriminologie unter anderem unter Bezugnahme auf den Symbolischen Interaktionismus, die Phänomenologie und später auch die Ethnomethodologie durch interaktionistische Devianztheoretiker wie Goffmann, Becker, Cicourel, Lemert und Matza.42 Als zweites Standbein können konflikttheoretische sowie marxistische Ansätze gelten, die einen Schwerpunkt auf die Ebene der Normsetzung sowie auf eine theoretische Herangehensweise legen.43 Im Anschluss an die zuerst genannten 40 Zu Geschichte und Aktualität des Begriffs Janowitz 1973; Nogala 2000; Scheerer 2000 m.w. N. – Der Begriff „soziale Kontrolle“ wird hier ausdrücklich in Bezug genommen, da er auch über grundlegende Veränderungen und verschiedene Epochen hinweg geeignet ist, die unterschiedlichen Prozesse und Mechanismen zu erfassen, die für das kriminologische Erkenntnisinteresse relevant sind. 41 In der Literatur erfolgt entsprechend meist eine vereinfachende Differenzierung in Kriminalitäts- und Kriminalisierungstheorien. Nicht selten werden letztere auch unter dem Label „Kritische Kriminologie“ zusammengefasst. – Wenngleich sich diese beiden Richtungen was ihre theoretische Grundlage (hierzu Eisenberg 2005, §§ 4 ff.) und einzelne empirische Befunde wie auch Vertreter angeht, grundlegend widersprechen, so stehen sie doch in wissenschaftlicher Auseinandersetzung. 42 Vgl. etwa Matza 1964; Lemert 1975; Becker 1981; zusammenfassend Young 2002, 252 ff. 43 Umfassend zu dieser Entwicklung in der angloamerikanischen und anschließend der deutschen Forschung sowie zur Einschätzung als Paradigmenwechsel Lamnek 1997, 25 ff.; insbesondere zur Entwicklung in Großbritannien Boogaart/Seus 1991. –

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B. Theoretische Verortung

soziologischen Theorieansätze entwickelte sich bezüglich der Ebene der Normanwendung eine auch empirisch rege Forschungstätigkeit. Dabei haben sich vor allem Ansätze hervorgetan, die Kriminalität als soziale Zuschreibung verstehen und unter diesem Blickwinkel untersuchen.44 Diese im interpretativen Paradigma zu verortenden Ansätze begreifen Kriminalisierung als Selektionsprozess und dessen Akteure als zentralen Forschungsgegenstand. Sie lassen sich als kriminologischer Konstruktivismus zusammenfassen.45 Nach dieser Perspektive handelt es sich bei (erfasster) Kriminalität um das Ergebnis eines wertenden Definitions- und Zuschreibungsprozesses46, der bei der Gesetzgebung beginnt, sich über Anzeigeerstattung, polizeiliche und staatsanwaltliche Ermittlung fortsetzt und schließlich bei Rechtsprechung und Strafvollstreckung endet. Die dabei fortschreitende Auswahl bestimmter Geschehensabläufe als Kriminalität orientiert sich an abstrakten und konkreten Bewertungen, die bestimmte sozial abweichende Verhaltensweisen als Straftat einstufen.47 Nach dieser Vorstellung haben wir es bei Kriminalität daher mit einem sozialen Konstrukt zu tun, das durch (ganz überwiegend) private Anzeigeerstattung sowie die Instanzen formeller Sozialkontrolle produziert wird.48 Diese Perspektive wurde in den vergangenen Jahrzehnten im Wesentlichen bestimmt vom Labeling Approach bzw. Etikettierungsansatz, der sich auf das Strafrecht konzentrierte, auch wenn er andere Mechanismen sozialer Kontrolle einbezog. Insbesondere in den vergangenen Jahren entwickelten sich in Fortsetzung dieser gesellschaftskritischen Richtung verschiedene neuere Ansätze. Diese versuchen, unter Einbeziehung neuerer theoretischer Elemente die veränderten Techniken und Formen sozialer Kontrolle zu erfassen und deren Wandel zu erklären. 2. Die Labeling-Perspektive Die Entwicklung des kriminologischen Konstruktivismus ist sowohl in der angloamerikanischen als auch in der deutschen Forschung eng verbunden mit Für einen struktur- und konfliktbezogenen Ansatz bereits bei Marx in dessen Artikeln zu den Debatten über das Holzdiebstahlsgesetz siehe Arnold 2005. 44 Dies steht der Annahme der Notwendigkeit sozialer Normen und ihrer Bedeutung für gesellschaftliche und soziale Integration nicht entgegen. Vielmehr richtet die gesellschaftskritische Richtung der Kriminologie ihren Blick vorrangig auf einerseits Produktion, Inhalt, Art und Ausmaß sowie andererseits auf die Durchsetzung solcher sozialen Normen. 45 Synonym verwendet werden Begriffe wie Interaktions-, Etikettierungs-, Definitions- oder sozialer Reaktionsansatz, vgl. Kunz 2004, 173. 46 So im Grundsatz bereits Durkheim 1992, 130. 47 Zu dieser theoretischen Perspektive Sack 1968 sowie Albrecht 2005, 34 ff. 48 Insofern greift die regelmäßig von ätiologischen Darstellungen vorgetragene Kategorisierung zu kurz, nach der es in dieser Perspektive um die Untersuchung der Bedeutung gesellschaftlicher Reaktion für die Entstehung kriminellen Verhaltens gehe.

II. Kriminologische Theorie

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dem Aufkommen des Labeling Approach.49 Dieser theoretische Ansatz, der auf dem Symbolischen Interaktionismus von Mead fußt,50 entwickelte sich in der Kriminologie in verschiedenen Stadien ab Mitte des vergangenen Jahrhunderts. Ausgehend von Tannenbaum,51 der erstmals Kriminalisierung als Zuschreibungsprozess verstand, etablierte Lemert die Unterscheidung zwischen primärer und sekundärer Devianz. Letztere entsteht danach erst aufgrund der Stigmatisierung und Etikettierung durch die Kontrollinstanzen, die die Übernahme des damit erzeugten negativen Fremdbildes als Selbstbild und in Folge dessen eine entsprechende Verhaltensänderung nach sich zieht.52 Becker schließlich entwickelte aus diesen Vorarbeiten eine Theorie krimineller Karrieren, welche sich in Folge der Zuschreibung von Merkmalen und entsprechenden Erwartungshaltungen entwickeln sollen.53 Im Anschluss an diese sozialpsychologisch orientierten Ansätze hat sich eine marxistisch inspirierte Variante des Etikettierungsansatzes entwickelt, die den Zuschreibungscharakter sozialer Kontrolle betont.54 Sie geht davon aus, dass abweichendes Verhalten ubiquitär ist, während das Merkmal Kriminalität wie andere negative und positive Güter in Prozessen gesellschaftlicher Auseinandersetzung verteilt und zugeschrieben wird. Daraus folgt, dass die Selektivität nicht zufällig ist, sondern auf differierenden Interpretationen von Handlungen basiert. Sie findet zwar auf individueller Ebene statt, orientiert sich aber an Kriterien und Mechanismen, die auf der gesellschaftlichen Ebene angesiedelt sind, und ist abhängig von der Definitionsmacht der Beteiligten.55 Die Qualität eines Gegenstandes strafrechtlicher Sozialkontrolle in Form einer bestimmten Bedeutung, eines als wirklich oder wahr geltenden Sinns, wird demnach nicht durch den Gegenstand selbst, durch seine Materialität hergestellt. Die Qualität ist vielmehr unabhängig von dem materiellen Gegenstand, sodass nicht die inkriminierte Handlung, sondern die Produktion der ihr zugeschriebenen Qualität von Interesse ist.56 Damit steht dieser Ansatz der ätiologischen Perspektive insofern diametral entgegen, als er die Ontologisierung von Kriminalität generell mit der 49

Dazu detailliert Eisenberg 2005, § 8 m.w. N.; Kuhlen 1978, 7 ff. Meier 2005, 72 f.; Kürzinger 1996, Rn. 128. 51 Tannenbaum 1951. 52 Ausführlich Lemert 1951, 74 ff.; 1975. 53 Siehe hierzu Becker 1981. 54 Hierzu Sack 1968, 433, 470; 1972. 55 Sack 1968, 469 ff. – Im Anschluss an die sich aus diesen Ansätzen ergebende kontroverse Auseinandersetzung mit den überkommenen kriminologischen Theorien zeigten sich verschiedentlich Integrationsbemühungen. Hess/Scheerer 1997, 85 ff. haben einen Ansatz vorgeschlagen, den sie als Makro-Mikro-Makro-Modell bezeichnen: Ausgehend von der Frage warum und wie strafbewehrte Verbote aufgestellt werden, über die Ebene, dass trotzdem solche Handlungen begangen und wie sie verfolgt werden, bis dahin, welche gesellschaftlichen Folgen dies hat. 56 Vgl. Peters 2000, 263. 50

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B. Theoretische Verortung

Begründung ablehnt, dass man nicht erst das Ergebnis untersuchen könne bevor man sich den Prozess angesehen hat, der zu diesem Ergebnis führt.57 Die Ethnomethodologie und die Phänomenologie von Schütz und Husserl als weitere Ansätze des interpretativen Paradigmas haben sich im kriminologischen Konstruktivismus ebenfalls niedergeschlagen. Insbesondere haben Garfinkel und Cicourel einen ethnomethodologischen Ansatz entwickelt, der Basisregeln der Mitglieder der Kontrollinstanzen identifiziert, die im Rahmen der Interaktion im Kriminalisierungsprozess zur Auswahl bestimmter Personen führen. Nach dieser Vorstellung muss bei Entscheidungen im Kriminalisierungsprozess die Komplexität der Welt reduziert werden, was mit Hilfe von Basisregeln, die sich insbesondere aus Alltagstheorien und ideologisch-moralischen Vorstellungen speisen, als Selektionskriterien für die Wahrnehmung und Bewertung geschieht. Somit erfolgt die Reaktion der Instanzen nicht aufgrund von Rechtsbrüchen, sondern aufgrund der durch die genannten Regeln bedingten selektiven Wahrnehmung und Interpretation von Wirklichkeit.58 Diesen theoretischen Bestrebungen folgte eine Vielzahl von Untersuchungen zu unterschiedlichen Aspekten und Bereichen der Selektivität und Interpretation. Infolgedessen hat das konstruktivistische Paradigma sein provokantes Wesen heute ein Stück weit verloren. Es hat sich zu einer etablierten Forschungsperspektive entwickelt und ist insoweit fester Bestandteil kriminologischer Erkenntnis, als allgemein anerkannt ist, dass (registrierte) Kriminalität als Phänomen auch vom Wirken der Instanzen formeller Sozialkontrolle abhängig ist.59 Die Instanzen und der durch sie erfolgende Definitionsprozess sind daher ein wesentlicher Gegenstand kriminologischer Forschung geworden.60 Die Ubiquitätsthese sowie der oft als „radikal“ bezeichnete reine Zuschreibungsansatz werden hingegen immer wieder abgelehnt. Dabei wird regelmäßig übersehen, dass keineswegs die Verhaltensebene, sondern nur die ihr zugeschriebene Qualität als objektives Substrat negiert wird und dass es sich um einen Ansatz vor einem bestimmten theoretischen Hintergrund handelt, dessen zentrale Thesen heute in domestizierter Form wesentlicher Bestandteil des Kanons kriminologischer Erkenntnis sind.61 57 Sack 1968, 442; Sack 1972, 25: „Das Merkmal Kriminalität (. . .) steht zur Disposition einer spezifischen Gruppe von Funktionsträgern (. . .). Eine Wissenschaft, die sich dafür interessiert, wie Kriminalität entsteht (. . .), hat zu allererst das Verhalten der Leute zu untersuchen, zu deren Disposition die Eigenschaft Kriminalität gestellt ist.“ 58 Siehe dazu Cicourel 1976; Garfinkel 1976; Eisenberg 2005, § 8, Rn. 9 f. 59 So heute wohl die allgemeine Auffassung, vgl. beispielsweise Kunz 2004, 176 ff., 233 ff. Zum Konstruktivismus im Rahmen der Soziologie sozialer Probleme siehe den Überblick bei Schmidt 2000. 60 Kaiser 1996, § 32, Rn. 10. 61 Siehe Kürzinger 1996, 131 f.; Kaiser 1996, § 32, Rn. 11; Kunz 2004, 50 f., 183 ff. – Soweit der Ansatz als widerlegt bezeichnet wird, bezieht sich dies regelmäßig nur auf die direkte schichtspezifische Selektivität, die indes nur eine mögliche

II. Kriminologische Theorie

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3. Neuere Ansätze Neuere Arbeiten der gesellschaftskritischen Richtung der Kriminologie aus dem angloamerikanischen Raum aber auch der deutschsprachigen Kriminologie versuchen im Besonderen, die Veränderungen sozialer Kontrolle in den vergangenen Jahrzehnten zu erfassen.62 Diese Arbeiten, die teilweise unter dem schillernden Stichwort der „Postmoderne“ diskutiert werden,63 verfolgen vorwiegend ideologiekritische und poststrukturalistisch orientierte Ansätze, die einer naturalistischen, positivistischen Perspektive die Kontingenz von Denken und Wissen wie auch ein differenziertes Machtverständnis entgegenhalten. Dabei sind sie insbesondere darum bemüht, neuere Formen sozialer Kontrolle – wie etwa Ausschluss- und Kontrolltechniken – theoretisch zu fassen. Als mehr oder weniger impliziter Ausgangspunkt der meisten dieser Arbeiten lässt sich im Anschluss an die Positionierung im gesellschaftskritischen Paradigma bezeichnen, dass Formen und Ziele sozialer Kontrolle sich vor dem Hintergrund gesellschaftlicher Zustände und Bedingungen entwickeln.64 Dementsprechend steht der erhebliche gesellschaftliche Wandel seit Ende der 1960er Jahre – der sich wirtschaftlich als Übergang vom Fordismus zum Postfordismus beschreiben lässt und mit einem grundlegenden soziokulturellen Wandel65 sowie veränderten Subjektivierungsweisen einhergeht – in Verbindung mit einer deutlichen Veränderung sozialer Kontrolle. Die Entkoppelung von System- und Sozialintegration66 lässt einigen dieser Ansätzen zufolge dem Einzelnen deutlich mehr Freiräume. Danach hat die Pluralität als normal angesehener Verhaltensmuster erheblich zugenommen und befinden sich Werte vermittelnde und disziplinierende Institutionen auf dem Rückzug. Zugleich haben einem Teil der Arbeiten zufolge die zu beobachtenden sozialen Verwerfungen neue Anforderungen an soziale Kontrolle hervorgebracht.67 Im Anschluss an diese Analyse haben solche neueren Ansätze in den vergangenen Jahren vor allem die Ausweitung und Vorverlagerung staatlicher und professionell-privater Sozialkontrolle, die Renaissance des Ausschlusses68 sowie neue Kontrolltechniken69 analysiert und thematisiert, die an Bedeutung gewinFolge darstellt, nicht jedoch auf den theoretischen Ansatz insgesamt, siehe Peters 1997, 269. 62 Hierzu umfassend Frehsee 2003; Garland 2001; Singelnstein/Stolle 2006. Siehe auch Böhnisch 2001, 66 ff.; Kaiser 2005 m. N. zu dieser Debatte auch in der Strafrechtswissenschaft. 63 Siehe etwa Ludwig-Mayerhofer 1997; Kaiser 2005; Schwartz/Friedrichs 1994; Vold/Bernard/Snipes 1998, 269 ff. 64 Siehe etwa Garland 2004, 37 f. 65 Singelnstein/Stolle 2006, 17 ff. m. N. 66 So beispielsweise Böhnisch 2001. 67 Dazu umfassend Singelnstein/Stolle 2006, 25 ff.

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nen.70 Soziale Kontrolle wird danach in die Einzelnen hineinverlagert bzw. in deutlich umfangreicherem Maße von abstrakten, allgemein wirkenden und nicht auf die Betroffenen individuell ausgerichteten Mechanismen getragen. Dabei handelt es sich danach um eine Ausdifferenzierung in verschiedene Richtungen infolge des Rückzuges des Integrationskonzepts. Hatte wohlfahrtsstaatlich Sozialkontrolle noch den Anspruch, für soziale Integration und gesellschaftliche Problemlösung zu sorgen, geht es den neuen Techniken vorwiegend um das effiziente Verwalten der Probleme und Risiken. Das Strafrecht hat vor diesem Hintergrund trotzdem nicht an Bedeutung verloren, sondern wird im Gegenteil wichtiger, da es ihm gelingt, sich den veränderten Vorgaben anzupassen, indem es kontrollierende und ausschließende Elemente aufnimmt. Dementsprechend zeichnet sich auch im Strafrecht eine parallele Tendenz der Normalisierung und Polarisierung ab. Während ein Großteil erfasster leichter Kriminalität mittels Diversion, das heißt vor allem durch Verfahrenseinstellungen, als normaler Bestandteil der sozialen Wirklichkeit behandelt und damit nur noch verwaltet wird, werden als zentral definierte Risikokonstellationen durch den Gesetzgeber und die Strafverfolgungsinstanzen kriminalisiert. Das Strafrecht gewinnt so eine stärkere Bedeutung als allgemeines Regulierungsmittel für soziale Konflikte und Risiken und es verändert sich im Zuge dessen. Auf der Ebene der Sanktionen treten ausschließende und kontrollierende Elemente zunehmend neben solche der Resozialisierung. Letztere tritt nicht mehr nur faktisch, sondern auch konzeptionell hinter das Wegschließen und die Notwendigkeit der exemplarischen Normverdeutlichung nach außen zurück. Bei den Tatbeständen geht eine Entwicklung der Ausweitung und Entgrenzung einher mit zunehmender Unbestimmtheit.71 Auf der Ebene der Normsetzung finden sich heute auch regulationstheoretisch orientierte Ansätze.72 Dieser ursprünglich von Antonio Gramsci entwickelte Theorieansatz ist bemüht, die als zu einseitig ökonomisch erkannte marxistische Theorie den sich wandelnden Gegebenheiten in den zunehmend komplexer funktionierenden Industriegesellschaften anzupassen.73 Auf diesem Weg können regulationstheoretische Ansätze 68 Vgl. zu dieser Praxis Kunz 2005; Singelnstein/Stolle 2006, 64 ff. – Ausgeschlossen werden diejenigen, die sich nicht mehr von den Kontrolltechniken lenken lassen oder ohnehin als „überflüssig“ oder als Risiko eingestuft werden. 69 Siehe zum manipulativen Charakter Krasmann 2003a. 70 Die Entwicklung beschreibend, in der Bewertung indes nicht eindeutig Kaiser 2005, 1356 ff. 71 Singelnstein/Stolle 2006, 63 ff., 69 ff. 72 Vgl. zum Beispiel Böhnisch 2001, 95 ff. 73 Insbesondere ging Gramsci davon aus, dass sich Macht in solch pluralen Gesellschaften nicht vorrangig durch direkte (ökonomische) Gewaltausübung durchsetzt, sondern vielmehr über kulturelle und mediale Einflusswege beständig (indirekt) aufgebaut und verfestigt wird. In diesem Zusammenhang prägt er den Begriff der „kulturellen Hegemonie“, die als Instrument wie Ziel der Machtausübung fungiert. Macht besteht

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zeigen, wie handlungsbezogene Macht in der Interaktion einerseits und strukturelle Machtformen andererseits zusammenspielen und -wirken. Insgesamt betrachtet können diese neueren Ansätze heute – jedenfalls auf der Ebene der Normanwendung – als zweites großes Standbein der gesellschaftskritischen Kriminologie neben der Labeling-Perspektive bezeichnet werden.74 Damit wird dieses Paradigma der Kriminologie den neueren Entwicklungen im Bereich sozialer Kontrolle gerecht. Gleichzeitig ist es bemüht, sich entwickelnde theoretische Ansätze aus den mit ihr korrespondierenden soziologischen Richtungen aufzugreifen. 4. Weitergehendes Erkenntnisinteresse Nichtsdestotrotz zeigen sich im theoretischen Feld des gesellschaftskritischen kriminologischen Paradigmas Lücken. Dies betrifft zum einen die mangelnde Rezeption neuerer soziologischer Ansätze innerhalb des interpretativen Paradigmas, wie insbesondere der Forschungsperspektive der Diskursanalyse. Zum anderen sind verschiedene Fragestellungen, die sich aus den grundlegenden Vorstellungen dieser kriminologischen Perspektive ergeben, bislang wenig geklärt. Dies zeigt sich insbesondere bei der Frage nach dem Verhältnis von gesellschaftlichem Wandel und Sozialkontrolle. Die neueren Ansätze gehen, wie dargestellt, weithin davon aus, dass sich Abweichung und Sozialkontrolle vor dem Hintergrund gesellschaftlichen Wandels entwickeln – wenngleich im Rahmen dessen, quasi auf untergeordneter Ebene, auch Ideologien, Akteure u. ä. wirksam werden können.75 Wie aber setzt sich dieser Wandel in Vorstellungen und Praktiken von Abweichung und Sozialkontrolle, auf der Ebene der Normsetzung und derjenigen der Normanwendung um? Damit sind zugleich die Aspekte Macht und Einfluss angesprochen, die als Thema für die gesellschaftskritische Kriminologie immer eine zentrale Rolle gespielt haben.76 Gleichwohl fehlt ein angemessen differenziertes Machtmodell, das die verschiedenen Formen und Ebenen von Macht bei Normsetzung und Normanwendung erfassen würde: Herrschaft als institutionalisierte Macht und danach in modernen Gesellschaften darin, in der gesellschaftlichen Auseinandersetzung Themen, Akzente und Sichtweisen setzen und durchsetzen zu können. 74 Quensel 2002, 47 sieht die Gouvernementalität gar sich anschicken, „führendes Paradigma der theoretischen Kriminologie zu werden“. 75 Zu diesem Verhältnis Garland 2004, 37 f. 76 Dies zeigt sich bereits bei der Entstehung dieses Paradigmas, das dem soziologischen Interaktionismus vorwarf, soziostrukturelle Bedingungen zu vernachlässigen. Demgegenüber wollte die gesellschaftskritische kriminologische Richtung gerade das Verhältnis zwischen Abweichung und gesellschaftlichen Strukturen, also den Mechanismen und Institutionen von Recht und Macht in der Gesellschaft, aufdecken, siehe Lamnek 1997, 30.

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B. Theoretische Verortung

beispielsweise solche auf der Ebene des Subjekts, struktur- und handlungsbezogene, repressive und produktive.77 Zwar wurden verschiedentlich interaktionistische, handlungsbezogene Ansätze kombiniert mit beispielsweise marxistischen Theorieelementen, um die Aushandlungsebene mit dem Aspekt von Macht als Struktur verknüpfen und dies theoretisch fundieren zu können.78 Ebenso versuchen etwa neuere, regulationstheoretisch orientierte Ansätze Macht im Zusammenhang mit Sozialkontrolle zu konzipieren.79 Dies kann jedoch weitergehende Bemühungen zur theoretischen Fassung von verschiedenen Formen von Macht im Rahmen sozialer Kontrolle nicht ersetzen, die etwa auch das Verhältnis von gesellschaftlichem Klima und Wirken der Instanzen sozialer Kontrolle einbeziehen. Denn zum einen lassen sich die genannten Ansätze nur unzureichend auf die (handlungsbezogene) Ebene der Normanwendung übertragen. Zum anderen gelingt es ihnen nur teilweise, dem Umstand gerecht zu werden, dass Macht nicht alleine als einseitiges Herrschaftsverhältnis aufgefasst werden kann, sondern ebenso über vielfältige Interaktionsstrukturen wirksam wird. Das daraus sich ergebende Erkenntnisinteresse lässt sich mit den beschriebenen soziologischen Ansätzen im interpretativen Paradigma verfolgen.80 Insbesondere zur Diskursanalyse als einer an Bedeutung gewinnenden Forschungsperspektive in den Sozialwissenschaften finden sich indes nur vereinzelt kriminologische Arbeiten,81 obwohl sich dort eine konstruktivistische Perspektive und eine differenzierte Machtanalytik sehr gut miteinander verbinden lassen, sodass die Herangehensweise das zentrale Erkenntnisinteresse der gesellschaftskritischen Richtung berührt.

III. Zusammenschau und Ausblick Vor diesem Hintergrund ist der hier verfolgte Ansatz, Theorie und Methodik der sozialwissenschaftlichen Diskursanalyse verbunden mit dem machttheoretischen Ansatz der Gouvernementalität auf kriminologische Fragestellungen anzuwenden und Diskurs als Konzept im gesellschaftskritischen Paradigma der Kriminologie zu positionieren, geeignet, bereits auf theoretischer Ebene einen eigenständigen Erkenntnisfortschritt zu erbringen.82 Denn die Frage, wie grund77

Ebenso Böhnisch 2001, 92; vgl. auch Lamnek 1997, 30, 42 ff. Vgl. beispielsweise Taylor/Walton/Young 1973. 79 Vgl. zum Beispiel Böhnisch 2001, 95 ff. 80 Siehe etwa den Sammelband Frehsee/Löschper/Smaus 1997. 81 Einführend Althoff/Leppelt 1995; Althoff 2002. Vgl. auch den Überblick über die theoretischen Zugänge bei Kunz 2004, 101 ff.; Bussmann/Kreissl 1996. 82 Zu den sich aus dem französischen Poststrukturalismus für die Kriminologie ergebenden, bislang jedoch wenig verfolgten Perspektiven Arrigo/Milovanovic/Schehr 2005. 78

III. Zusammenschau und Ausblick

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legende Formen von Wissen, Sinn und Bedeutung im Kriminalisierungsprozess entstehen, sich wandeln oder stabilisieren und welche Wechselwirkungen dabei zwischen Rechtsanwendung einerseits und gesellschaftlichem Diskurs andererseits stattfinden, ist für die kriminologische Fragestellung der sozialen Konstituierung von Abweichung von zentralem Interesse. Dabei ist der hier verfolgte Ansatz insofern besonders bedeutsam, als er – anknüpfend an den bisherigen Forschungsstand, den „cultural turn“ und hier insbesondere das „Praxis-Paradigma“ (Reckwitz) der Sozialwissenschaften – neuere Entwicklungen im interpretativen Paradigma für die Kriminologie fruchtbar zu machen versucht.83 Denn obwohl das interpretative Paradigma die zentrale soziologische Theorie-Basis der gesellschaftskritischen Perspektive der Kriminologie darstellt,84 wurde deren Weiterentwicklung in den vergangenen Jahren bislang nur wenig rezipiert. An dieser Stelle soll die vorliegende Arbeit einen Beitrag leisten, indem sie die Diskursanalyse als einen Ansatz im Rahmen dieser Theorieentwicklung aufgreift und so den soziologischen Erkenntnisfortschritt auf kriminologische Fragestellungen überträgt. Im Gegensatz zu anderen Ansätzen versucht die Diskursanalyse, den theoretischen Kern des interpretativen Paradigmas in Form der Annahme von Kontingenz, Konstruktion und Zuschreibung konsequent umzusetzen, ohne letztlich doch auf ideologiekritische Elemente zurückzugreifen wie es die Labeling-Perspektive mitunter getan hat.85 Außerdem widmet sich die Diskursanalyse übergeordneten Fragestellungen, die die Labeling-Perspektive nur wenig erhellen konnte. Diese untersuchte zwar die Orte und Instanzen der konkreten Zuschreibung im Kriminalisierungsprozess sowie die Merkmale, nach denen die Zuschreibung erfolgt. Hiervon ausgehend konnte sie auf übergeordneter Ebene gesellschaftstheoretische Aspekte anschließen, um zu klären, warum gerade diese Merkmale für die Zuschreibung relevant sind. Wie und warum sich diese Merkmale aber konstituieren, durchsetzen und wandeln, wie also auf einer übergeordneten Ebene überindividuell die inhaltlichen Grundlagen für die Selektivität entstehen und auf welchem Wege sie für das Wirken der handelnden Subjekte im Kriminalisierungsprozess handlungsleitend werden, blieb unterbelichtet. An dieser Stelle, wo sich gesellschafts- und handlungstheoretische Aspekte treffen, eröffnet der diskursanalytische Ansatz eine Perspektive, die für die Kriminologie weiterführende Antworten liefern kann.86 Dies wird noch dadurch verstärkt, dass strafrechtliche Tatbestände zunehmend unbestimmter gefasst werden, sodass Wertungsspiel83

Siehe dazu Keller 2005, 59 f.; Reckwitz 1999, 26 ff. Dazu Blomberg/Cohen 1995a, 5 f. 85 In besonderem Maße gilt dies beispielsweise für die Theorie der sekundären Devianz (dazu oben B.II.2.), die auf der Suche nach Erklärungsansätzen nur andere Kausalzusammenhänge in den Vordergrund gerückt hat. 86 Die Kritik an interpretativen Ansätzen bei Smaus 1986 trifft angesichts dessen nicht ganz zu. 84

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B. Theoretische Verortung

räume breiter und deren Ausfüllung durch die Instanzen im Kriminalisierungsprozess wichtiger werden. In dem Maße wie das Gesetz weniger bestimmt ist, werden andere Einflüsse bei der Interpretation von Handlungen im Kriminalisierungsprozess bedeutsamer und stellt sich die Frage, warum und wie die Rechtsanwendung trotz größerer Flexibilität einheitlich und konsequent erfolgt. Hier kann das vorgelegte Konzept der regelgeleiteten Rechtsanwendung als Form diskursiver Praktiken Antworten anbieten. In diesem Sinne will der hier verfolgte, methodisch im (für die Kriminologie) unterentwickelten Bereich qualitativer Forschung zu verortende Ansatz Mikround Makroebene87, statische und dynamische Elemente, Handlung und Struktur88 miteinander verbinden und ist nicht auf einen Deliktsbereich beschränkt. Andere Sichtweisen auf das Thema Kriminalität werden durch die spezielle theoretische und methodische Herangehensweise nicht ausgeschlossen, wenngleich sich die theoretischen Annahmen mitunter gegenüberstehen. Vielmehr stellen sie verschiedene Perspektiven auf die Thematik dar, die unterschiedliche Aspekte beleuchten und sich insofern ergänzen.89 Dies ist bereits dem Umstand geschuldet, dass der Forschungsgegenstand der Kriminologie in komplexen sozialen Geschehensabläufen und Beziehungen besteht, die sich nicht mit kausalen Gesetzmäßigkeiten, sondern nur mittels einer Analyse verschiedener Sichtweisen, Zusammenhänge und Wechselbeziehungen erhellen lassen, ohne dass man sie vollends erklären könnte.90

87 Die einzelnen theoretischen Ansätze setzen regelmäßig auf verschiedenen Erklärungsebenen an. Zwischen der Mikroebene zur Erklärung individuellen Verhaltens und der Makroebene, die gesellschaftliche und sozialstrukturelle Aspekte in Bezug nimmt, werden noch die Meso- (Umfeld des Individuums) und die Exo-Ebene (gesellschaftliche Teilsysteme) angesiedelt, vgl. Kunz 2004, 108 ff. 88 Siehe Mottier 1999, 140. 89 Siehe zu einem Integrationsversuch Hess/Scheerer 1997. 90 So die wohl allgemeine Auffassung in der Kriminologie, vgl. Kaiser 1996, § 5, Rn. 29; Kunz 2004, 106 f.; Göppinger 1997, 103 ff.

C. Rechtsanwendung im Prozess der Kriminalisierung Als zweiter Schritt einer Hinführung auf die vertiefende Behandlung der Fragestellung soll nunmehr das Forschungsfeld detailliert beschrieben werden, in dem das Thema zu verorten ist. Hierfür ist vorrangig der kriminologische aber auch der rechtssoziologische Forschungsstand bezüglich der Rechtsanwendung im Kriminalisierungsprozess durch die Instanzen allgemein wie auch hinsichtlich der Rolle außergesetzlicher Regeln im Besonderen von Interesse.

I. Instanzen und Spielräume Die Rechtsanwendung im Kriminalisierungsprozess durch die Instanzen der Strafverfolgung lässt sich differenzieren in eine Stufe der Sachverhaltsermittlung und eine Stufe der Handhabung von Normen,1 die für den zentralen Schritt der Subsumtion erforderlich sind. Die folgenden Abschnitte widmen sich daher ausgehend von einem Überblick über die Instanzen- bzw. Rechtsstabsforschung bezüglich der Rechtsanwendung den Prozessen auf diesen beiden Stufen. 1. Das Wirken der Instanzen Die Instanzen des Kriminalisierungsprozesses vom Anzeige erstattenden Bürger bis hin zu dem das Urteil verkündenden Richter interpretieren gemäß der oben dargelegten theoretischen Perspektive Geschehensabläufe, schreiben ihnen das Merkmal „Kriminalität“ zu oder nicht und produzieren so Kriminalität als gesellschaftliches Phänomen.2 Dementsprechend ist die Arbeit dieser Instanzen seit Jahrzehnten ein zentraler Forschungsgegenstand der Rechtssoziologie wie auch der Kriminologie.3 Zu Beginn standen dabei vor allem die Richter und

1 Vgl. Rehbinder 2003, 8. – Unter Normen werden im Folgenden und in Abgrenzung zu sozialen Normen im Allgemeinen solche rechtlicher und insbesondere strafrechtlicher Art verstanden, siehe zu den soziologischen Normbegriffen Langer 1994, 212 ff.; Lamnek 1997, 80 ff.; Peters 1995, 146 ff. 2 Siehe dazu die Überblicke bei Blankenburg 1995, 9 ff.; Meier 2005, 241 ff.; Rottleuthner 1987, 122 ff. 3 Siehe Rasehorn 1989, 20 ff. – Die Anfänge einer Soziologie der Justiz finden sich bereits im 19. Jahrhundert, wanderten angesichts des Nationalsozialismus jedoch in die USA ab. In Europa ist das Thema erst in den 1960er Jahren wieder Forschungsgegenstand geworden, vgl. Rehbinder 2003, 175 f.

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C. Rechtsanwendung im Prozess der Kriminalisierung

insbesondere deren Sozialprofil im Mittelpunkt des Interesses.4 Zu Beginn der 1970er Jahre entwickelte sich die Forschung dann hin zu einer Soziologie richterlicher Tätigkeit und mit dem Aufkommen des Etikettierungsansatzes gewann dieses Themenfeld auch für die Kriminologie an Bedeutung. Dabei entstanden bereits in den ersten Jahren grundlegende Arbeiten zur Praxis der Gerichte5, der Polizei6 und der Staatsanwaltschaften7. Später wurde auch der im Kriminalisierungsprozess zentralen Schwelle der Entdeckung und Anzeige von als Straftaten beurteilten Geschehensabläufen nachgegangen.8 Zahlreiche Arbeiten zu speziellen Aspekten des Wirkens der Instanzen im Kriminalisierungsprozess folgten.9 Eine zentrale These und Forschungsfrage war dabei die bereits eingangs skizzierte Vorstellung, dass sich die dem Kriminalisierungsprozess immanente Selektivität an bestimmten inhaltlichen Kriterien orientiert. An dieser Stelle wurde der Zuschreibungsansatz zumeist mit verschiedenen gesellschaftstheoretischen Modellen verbunden und entsprechend davon ausgegangen, dass etwa Kriterien wie Geschlecht und sozialer Status bei der Auswahl maßgeblich seien.10 Auf dieser Grundlage würden bestimmte Personen und Verhaltensweisen durch die Instanzen als einschlägig ausgewählt und andere nicht. Die diesbezügliche Forschung konzentrierte sich dementsprechend auf den Versuch des Nachweises, dass sich die Rechtsanwendung überhaupt an derartigen inhaltlichen Kriterien orientiert. Weniger genau nachgegangen wurde hingegen der Frage, wie diese inhaltlichen Kriterien zustande kommen, Eingang in die Rechtsanwendung finden und dort verarbeitet werden. Hierfür wurde vielmehr oftmals auf im Prozess der Rechtsanwendung bestehende Wertungs- und Entscheidungsspielräume hingewiesen. Auch rechtssoziologische Arbeiten konzentrierten sich in der Regel auf die Tatsachenseite der Rechtsanwendung im Gegensatz zur Rechtsarbeit 4 Siehe Kaupen 1969 sowie die Zusammenfassungen bei Rasehorn 1989, 71 ff., Rottleuthner 1987, 100 ff. 5 Lautmann 1972; Peters 1973. 6 Feest/Blankenburg 1972; Brusten/Feest/Lautmann 1975 m.w. N. 7 Siehe etwa Blankenburg/Sessar/Steffen 1978 sowie den Überblick über den Forschungsstand bei Eisenberg 2005, § 27, Rn. 63 ff. 8 Zur Anzeigeerstattung zusammenfassend Eisenberg 2005, § 26, Rn. 1 ff. – Weitere Arbeiten liegen zu Institutionen der Sozialkontrolle außerhalb von Strafrecht und Kriminalisierung vor, siehe etwa Brusten/Hurrelmann 1973 zu Schulen und Bürger 1990 zu Heimen. 9 Siehe den Überblick bei Albrecht 2005, 175 ff.; Eisenberg 2005, §§ 27, 31. – Während eine solchermaßen soziologisch orientierte Instanzen- oder Rechtsstabsforschung bis heute als Bestandteil des kriminologischen Forschungskanons angesehen werden kann, konzentriert sich die Rechtssoziologie seit einigen Jahren auf Bedarfsforschung, siehe Rehbinder 2003, 176 ff. sowie den Überblick zu neueren Arbeiten bei Machura 2001, 294. 10 Eine überragende Bedeutung eines Kriteriums konnte dabei nicht zweifelsfrei nachgewiesen werden, begegnet aber auch methodischen Problemen, vgl. Göppinger 1997, 154 ff. – Zur schichtspezifischen Kriminalisierung als am umfassendsten erforschten Aspekt siehe die Übersicht bei Geißler 1994a.

I. Instanzen und Spielräume

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in Form der Normhandhabung. Teilweise wurden aus den Ergebnissen von Untersuchungen zur sozialen Herkunft und Einstellung von beispielsweise Richtern schnelle Schlüsse auch für die Selektivität gezogen, ohne dass das Entscheidungsverhalten selbst konkret untersucht worden wäre.11 An diesem Punkt setzt der hier verfolgte Ansatz mit seiner Fragestellung an, wie bestimmte außerrechtliche Einflüsse Eingang in die Rechtsanwendung finden und so für den Prozess der Kriminalisierung leitend werden.12 In Annäherung hieran wird nunmehr zunächst das Wirken der Instanzen bei der Sachverhaltsfeststellung einerseits und bei der Handhabung von Normen für die Subsumtion andererseits dargestellt – wenngleich diese beiden Stufen der Rechtsanwendung in der Praxis kaum zu trennen sind und sich in erheblichem Maße gegenseitig beeinflussen. Ist die für die Rechtsanwendung zu wählende Norm die eine Seite des Kriminalisierungsprozesses, so sind der Sachverhalt und seine Feststellung die andere. Beide Teile sind untrennbar verbunden und voneinander abhängig, keiner von beiden kann (alleine) als Voraussetzung des oder Folgerung aus dem jeweils anderen gesehen werden.13 Vielmehr wird die Subsumtion als Technik der Rechtsanwendung beschrieben als ein ständiges Hinund Herwandern des Blickes (Engisch) zwischen abstrakter Norm und konkretem Sachverhalt.14 Dies lässt deutlich werden, dass nicht nur die Auswahl und Interpretation von Normen vom jeweiligen Sachverhalt abhängig ist, sondern umgekehrt die Wahrnehmung der Welt und auf diesem Wege die Feststellung eines Sachverhaltes ebenso beeinflusst ist von den Voraussetzungen einer ggf. bereits in den Blick genommenen Norm.15 In diesem Sinne kommt beiden Aspekten bei den verschiedenen Instanzen eine unterschiedlich starke Bedeutung zu im Rahmen der verschiedenen Phasen der jeweiligen Entscheidungsprozesse von der Identifizierung des Problems bis zur Mitteilung des Ergebnisses.16 2. Sachverhaltsfeststellung und Kontingenz Am Beginn eines Aktes konkreter Rechtsanwendung als Tätigkeit der Instanzen im Kriminalisierungsprozess steht die Feststellung eines strafrechtlich er-

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Siehe zur Kritik Rasehorn 1989, 22 f.; Rottleuthner 2005, 582 ff. m.w. N. Siehe bereits Lamprecht 1989. – Die Arbeit befindet sich damit in Nähe zu verschiedenen neueren rechtssoziologischen Arbeiten, die bezüglich Richtern interpretative Konzepte anwenden (siehe Morlok/Kölbel/Launhardt 2000 m.w. N.), wenngleich dies nicht speziell für den kriminologischen Gegenstandbereich und unter Anwendung der Diskursanalyse erfolgt. 13 Siehe Larenz/Canaris 1995, 33 ff. 14 Zu diesem Schritt aus rechtstheoretischer Perspektive Schünemann 1993. 15 Siehe Esser 1970, 60 f.; Lüderssen 1975a, 144 ff. m.w. N. zur hermeneutischen Diskussion. 16 Zu diesem Prozess Kriele 2004, 31 ff.; Lautmann 1972, 14 ff. 12

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C. Rechtsanwendung im Prozess der Kriminalisierung

heblichen Sachverhalts durch Beweiserhebung und Beweiswürdigung, das heißt die Rekonstruktion eines Geschehens nach gewissen Regeln.17 Dieser Prozess stellt keine voraussetzungsfreie Ermittlung eines tatsächlichen, objektiv wahren Geschehensablaufes dar.18 Aus der Perspektive juristischer Praxis ist dies bereits offenbar, da es in keinem Fall gelingen wird, alle irgendwie relevanten tatsächlichen Umstände nach wissenschaftlichen Methoden vollständig zu erfassen und alle möglichen Erkenntnismittel einzusetzen. Vielmehr findet bereits auf dieser Ebene eine Unterscheidung zwischen relevanten und nicht relevanten Fakten statt.19 Das Strafrecht trägt dem Rechnung, indem es ein gewisses Maß an Beweisen für die verschiedenen Verdachtsformen und die subjektive Gewissheit der richtenden Person für eine Verurteilung ausreichen lässt (§ 261 StPO).20 Darüber hinaus ist in der Praxis das Verfahrensstadium so genannter „Vorermittlungen“ anerkannt, in dem die Sachverhaltsfeststellungen noch nicht für einen Verdacht ausreichen, aber gleichwohl bereits Ermittlungen zulässig sein sollen. Aus konstruktivistischer Perspektive kann die Sachverhaltsfeststellung aber auch über diese praktischen Einschränkungen der Möglichkeiten der Rekonstruktion von Wahrheit hinaus nur als eine mögliche Interpretation eines Geschehensablaufes verstanden werden. Denn dieser ist zunächst einmal wertfrei und liefert seine Bedeutung nicht mit. Wir verstehen ihn erst in der Interpretation, die ihn für uns zur Wirklichkeit macht,21 und bei der auf einer schmalen Basis von (Sinnes-)Daten ein äußerst detailreiches und in sich differenziertes Setting rekonstruiert und veranschaulicht wird.22 Die zu rekonstruierende Handlung ergibt sich somit erst aus der Bewertung des Beobachters im Laufe der Interaktion im Kriminalisierungsprozess, sodass Handlungen stets verschiedene Rekonstruktionen zulassen.23 Dies beginnt bereits damit, dass (nur) bestimmte Geschehensabläufe als strafrechtlich relevant wahrgenommen und ausgewählt werden24 und setzt sich bei der darauf folgenden Feststellung des Sachverhalts in der Form fort, dass die Geschehensabläufe eingeordnet und nach bestimmten Strategien weitergehend interpretiert, Informationslücken geschlossen und Mehrdeutigkeiten entschieden werden. Die Handelnden konstituieren dabei so-

17 Dabei lässt sich erneut differenzieren zwischen einerseits Einzeltatsachen und andererseits generellen Tatsachen als sozialen Gesetzmäßigkeiten, vgl. Rehbinder 2003, 9 ff. 18 Siehe aus methodischer Sicht Larenz/Canaris 1995, 99 ff. 19 Zu diesem Prozess bei Richtern Lautmann 1972, 49 ff. 20 Dazu Eisenberg 2005, § 31, Rn. 32 ff. 21 Siehe Fischer 2001, 106 f.; einschränkend Kuhlen 1978, 63 ff. 22 Ziem 2006, 2. 23 Vgl. Frehsee 2003, 397; Sack 1968, 465. 24 Zu rechtlichen und rechtstatsächlichen Spielräumen bei der Annahme eines Tatverdachts im Sinne von § 152 Abs. 2 StPO durch die Polizei Eisenberg/Conen 1998.

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ziale Wirklichkeit, indem sie sich den Sachverhalten aktiv zuwenden, um sie zu verarbeiten, zu strukturieren und zu interpretieren.25 Entsprechend geht es im Kriminalisierungsprozess nicht um die Beurteilung einer feststehenden Wirklichkeit, sondern um die Interpretation eines Geschehens als Sinnzuschreibung, die bereits in die Wahrnehmung eines Geschehensablaufes hineinwirkt und diese prägt.26 Dies schlägt sich auch in dem Umstand nieder, dass in der gerichtlichen Praxis regelmäßig die Sachverhaltsfeststellung ganz im Vordergrund steht, während die rechtliche Bewertung eher selten problematisch ist. Die Sachverhaltsfeststellung als eigenständiger Bestandteil der Rechtsanwendung lässt sich somit als Konstruktion sozialer Wirklichkeit in Form der Wahrnehmung, Auswahl, Ordnung und Interpretation von Faktenannahmen im interaktiven Wechselspiel zwischen den Beteiligten verstehen.27 Dabei bestehen ganz erhebliche Interpretations- und Wertungsspielräume, die durch die Rechtsanwender ausgefüllt werden (müssen).28 Dies gilt zum einen, da der Vorgang der Sachverhaltsfeststellung rechtlich nur wenig geregelt bzw. regelbar ist; vielmehr fehlt es in weiten Teilen an anerkannten, feststehenden Regeln für die Beweiserhebung wie auch für die Beweiswürdigung.29 Aber auch darüber hinaus ist das Ergebnis der Interpretation im Rahmen der Sachverhaltsermittlung aus konstruktivistischer Perspektive kontingent, denn es sind stets verschiedene Sinnzuschreibungen für ein Geschehen möglich. Die Spielräume bei der Sachverhaltsfeststellung sind daher prinzipiell unbegrenzt, wenngleich bestehende kulturelle Grenzen und Festlegungen30 die Möglichkeiten der Interpretation faktisch einschränken. 3. Normen und Interpretationsspielräume Auf die Ermittlung des Sachverhalts folgt als zweiter Schritt der Rechtsanwendung die für die Subsumtion notwendige Auswahl relevanter Normen und deren Auslegung durch die Instanzen.31 Das Spektrum möglicher Normen reicht dabei von Verwaltungsvorschriften wie den RiStBV bis hin zum Europaund Verfassungsrecht. Ihre Bedeutung nimmt im Ablauf des Kriminalisierungs25 Siehe Morlok/Kölbel 2001, 294 f. m.w. N.; Sack 1975, 133; zur Bedeutung der polizeilichen Vernehmung Malinowski/Brusten 1976. 26 So Seibert 1997, 249; allgemein zur Definition von Situationen als Bestandteil sozialer Interaktion Weymann 2001, 97 f. 27 Morlok/Kölbel/Launhardt 2000, 22 f. m.w. N.; siehe auch Hoffmann-Riem 2005, 521. 28 Vgl. Hess/Scheerer 1997, 119. 29 Rehbinder 2003, 10; zur Bedeutung und historischen Entwicklung Sarstedt 1976. 30 Siehe zu verschiedenen Kulturbegriffen Rehberg 2001, 66 f. 31 Zum Programmbereich von Normen und dessen Einfluss auf die Normauswahl Hoffmann-Riem 2005, 523 ff.

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prozesses angesichts der zunehmend verfahrensmäßigen Vorgehensweise von Instanz zu Instanz stetig zu.32 Aus rechtssoziologischer Sicht lässt sich differenzieren in einerseits Primärnormen als Handlungsnormen, die sich unmittelbar an den Bürger richten, und andererseits Sekundärnormen, die sich an den Rechtsstab richten und dort Entscheidungen und Verwaltung regeln.33 Normen sind als abstrakte Beschreibung einer Vielzahl möglicher Sachverhalte naturgemäß nicht eindeutig. Nachdem die Begriffsjurisprudenz in der Auseinandersetzung mit der Freirechtsschule der Interessen- oder Wertungsjurisprudenz gewichen ist, herrscht heute nicht mehr die Vorstellung vor, dass man eine lückenlose Rechtsordnung schaffen könnte, aus der sich alle Einzelentscheidungen logisch ableiten ließen.34 Stattdessen wird die Lückenhaftigkeit anerkannt und mit der Flexibilität von Normen zugunsten materieller Gerechtigkeit bewusst gearbeitet,35 die mit dem Aspekt der nicht mehr über allem stehenden Rechtssicherheit in Ausgleich gebracht werden muss.36 So setzt der Gesetzgeber auf der Tatbestandsseite neben der Verweisung auf außerrechtliche Normensysteme, wie etwa Verkehrssitte und gute Sitten, oder normativen Tatbestandselementen immer wieder auch unbestimmte Rechtsbegriffe bzw. Generalklauseln ein, die ein besonders hohes Abstraktionsniveau aufweisen. Auf der Rechtsfolgenseite ermöglicht die Einräumung von Ermessen Flexibilität. Die Gründe hierfür können vielfältig sein: der Wunsch nach Rechtsentwicklung durch die Praxis, keine weitergehende Einigungsmöglichkeit im Gesetzgebungsverfahren, die (vermeintliche) Unmöglichkeit, genauere Kriterien festzulegen, oder einfach eine falsche Einschätzung bezüglich der Handhabbarkeit der Norm.37 Dies bringt es mit sich, dass unbeschadet des verfassungsrechtlichen Bestimmtheitsgebots neben dem und durch das Gesetz auch auf dieser Stufe Wertungs- und Entscheidungsspielräume bestehen, die im Prozess der Rechtsanwendung ausgefüllt werden (müssen).38 So handelt es sich zum Beispiel bei Regelungen des Allgemeinen Teils des Strafrechts in besonderem Maße um solche, die eine Wertungsentscheidung erforderlich machen bzw. einen erheblichen

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Blankenburg 1995, 16. Rehbinder 2003, 127 f., 220. 34 Vgl. zu dieser Auseinandersetzung Kaufmann 1997, 20 ff.; Kriele 2004, 43 ff.; Sack 1968, 460 ff.; Schünemann 1993, 308 ff.; Zippelius 2003, 253 ff., auch zu weiteren Konzepten in diesem Bereich. 35 Hiermit lässt sich auch die angesichts der gesellschaftlichen Umbrüche erstaunliche Kontinuität der gerichtlichen Sanktionspraxis in den vergangenen 100 Jahren erklären, siehe Albrecht 2005, 238 ff. 36 Vgl. Kaufmann 1997, 54 f.; Rehbinder 2003, 122 f. 37 Zum Verhältnis von Rechtsdogmatik und Rechtsanwendung grundlegend Baufeld 2006, 171 ff. 38 Eisenberg 2005, § 40, Rn. 13; Meier 2005, 241; Rottleuthner 1981, 119 f. 33

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Auslegungsspielraum zulassen.39 Dies betrifft insbesondere solche, die sich auf den subjektiven Tatbestand beziehen.40 Hier spielt regelmäßig das Vorliegen eines Vorsatzes eine entscheidende Rolle (§ 15 StGB); beim Versuch und Rücktritt von einer Straftat kommt gleich mehreren subjektiven Tatbestandsmerkmalen zentrale Bedeutung zu (§§ 22 ff. StGB). Aber beispielsweise auch Fragen der Schuldfähigkeit (§§ 20 f. StGB) und der Strafzumessung (§§ 46 ff. StGB) erfordern stets ein hohes Maß an wertender Rechtsanwendung. Prozessual besehen gilt dies etwa für die Entscheidung über die Eröffnung der Hauptverhandlung (§§ 199 ff. StPO), der Opportunitätseinstellungen (§§ 153 ff. StPO) oder der freien Beweiswürdigung allgemein (§ 261 StPO)41. Auch für die Verwaltung – wie sie teilweise im Bereich der Strafverfolgung zu finden ist bzw. dortigen Organisationsstrukturen ähnelt – hat man im Rahmen der Implementationsforschung festgestellt, dass nach Aufgabenbereichen verschieden große Handlungsspielräume und ihre Ausfüllung von Bedeutung sind.42 Die Ausfüllung dieser unstreitig vorhandenen Spielräume erfolgt aus juristischer Perspektive mittels Auslegung als rechtswissenschaftlicher Methode43, der Ausfüllung unbestimmter Rechtsbegriffe bzw. durch Ermessensausübung. Hierin besteht gerade der Kern juristischer Tätigkeit, der die Antwort auf die Frage ermöglichen soll, ob ein konkreter Sachverhalt unter eine allgemein gefasste Norm subsumiert werden kann.44 Dogmatisch besehen lässt sich diese Frage mit dem Gesetz beantworten; außerrechtliche Einflüsse sollen weitestgehend außen vor bleiben, solange das Gesetz nicht selbst ihre Berücksichtigung vorsieht, wie etwa bei der Strafzumessung gemäß § 46 Abs. 2 StGB. Dabei ist heute in der rechtswissenschaftlichen Methodenlehre die Auffassung herrschend, dass es nicht nur eine richtige Auslegung einer Norm geben kann.45 Vielmehr ermöglicht die abstrakte Norm bereits verschiedene Möglichkeiten der Auslegung, sodass trotz dieses methodischen Vorgehens bestimmte Entscheidungsspielräume bestehen bleiben, die Raum für weitergehende Einflüsse bieten.46 Darüber hinausgehende Spielräume verneint diese Sichtweise jedoch mehrheitlich und geht davon aus, dass die Methode der Auslegung außerrechtlichen Einflüssen zumindest gewisse Grenzen ziehe, indem sie nicht jedes Verständnis einer Norm zu39 Hierzu detailliert Eisenberg 2006. – Zu solchen bei Überwachungsmaßnahmen zur Beweisbeschaffung Eisenberg/Singelnstein 2005. 40 Siehe etwa Frehsee 2003, 426 ff.; Sessar 1981, 18 f. 41 Dazu Eisenberg 2005, § 31, Rn. 32. 42 Vgl. Rehbinder 2003, 220 ff., demzufolge die unter anderem dadurch entstehenden Vollzugsdefizite, Zielverschiebungen und ungewollten Selektivitäten ein erhebliches Ausmaß angenommen haben. 43 Hierzu Larenz/Canaris 1995, 133 ff. 44 Siehe Lüderssen 1984, 72 ff. 45 Vgl. Esser 1970, 51 f.; Hoffmann-Riem 2005, 516; Schünemann 1993, 303 f.; Zippelius 2003, 256 ff. 46 Morlok/Kölbel/Launhardt 2000, 17 f.; zusammenfassend Kaufmann 1999, 2 ff.

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lassen würde.47 In diesem Sinne stelle insbesondere der Wortlaut der Norm eine absolute Grenze dar, über die die Auslegung nicht hinweggehen könne, sodass das Gesetz einen festen Rahmen bilde und nur innerhalb dessen ausfüllungsbedürftige Spielräume bestehen würden. Indes lassen sich bei der Handhabung von Normen auch über diese Grenzen hinaus Spielräume finden. Diese ergeben sich zunächst daraus, dass die Normen in ihrem systematischen Zusammenspiel verschiedene Möglichkeiten der Anwendung und Begründung ermöglichen. Nicht selten lässt sich mit einer juristisch korrekten Argumentation sowohl das eine als auch das andere Ergebnis begründen bzw. erfolgt die Auswahl der juristischen Lösung dem angestrebten, in den Blick genommenen Ergebnis48 oder bezieht außerhalb des juristischen Sachverhalts bestehende Aspekte in die Entscheidung ein.49 In diesem Sinne kennt bereits die juristische Methodik und Praxis – trotz bzw. gerade wegen des Analogieverbotes aus Art. 103 Abs. 2 GG – verschiedene Techniken, um über die Wortlaut-Grenze hinwegzukommen und unerwünschte Entscheidungen zu vermeiden, wie etwa die analoge Anwendung von Normen oder die Berufung auf höherrangiges Recht bis hin zum Naturrecht. Zudem bestehen Regelungslücken und werden aus Zeitgründen oftmals nicht alle möglichen Anwendungsvarianten des Normprogramms durchgegangen werden können. Darüber hinaus ist der noch deutlich zentralere Umstand zu berücksichtigen, dass die Bedeutung von Sprache und daher auch von rechtlichen Normen nicht dauerhaft festgelegt ist, sondern den Worten und Sätzen nur von außen zugeschrieben wird. Sie wandelt sich daher im Laufe der Zeit und ist nicht frei von subjektiven Einflüssen, was sich etwa in wandelnden Ergebnissen der Auslegung niederschlägt. Das Verständnis und die Anwendung von Normen sind daher ähnlich kontingent wie die Sachverhaltsfeststellung. Die vermeintliche Klarheit des Wortlauts ergibt sich erst aus einer gefestigten Praxis von Sprache und Rechtsanwendung,50 die aber eben nicht feststehend ist, sondern sich stetig wandelt.51 Dies betrifft zunächst bereits die Semantik im linguistischen Sinne, das heißt die Bedeutung, die den einzelnen Worten und Begriffen einer Norm in einer Gesellschaft zu einem bestimmten Zeitpunkt zugeschrieben wird.52 Zwar finden Veränderungen, die die Denotation, also den Kern der Wortbedeutung betreffen, hier nur sehr langsam und schleichend statt. Anderes gilt jedoch für den Bereich der Konnotation, das heißt den sozialen und individuellen Über47

Zur Auseinandersetzung Lüderssen 1975, 215; Meier 2005, 241. Siehe Rottleuthner 1973, 9 f. 49 Kaufmann 1999, 2 f.; Larenz/Canaris 1995, 27 ff. 50 Dazu Zippelius 2003, 256 f.; vgl. zum rechtstheoretischen Hintergrund Kuhlen 1978, 111 ff. 51 Siehe Esser 1970, 35 ff., 95 ff.; Lorenz/Pietzcker/Pietzcker 2005, 430 ff. schlagen zur Feststellung der Wortlautgrenze eine empirischen Sprachgebrauchsanalyse vor. 52 Siehe dazu Busse 1993; Linke/Nussbaumer/Portmann 1996, 151, 369 ff. 48

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lagerungen des Bedeutungskerns mit weiteren Aspekten.53 Die im Rahmen dessen einem Sprachelement vom jeweiligen Verwender zusätzlich beigemessenen Bedeutungsaspekte wandeln sich schneller, da die Konnotation weniger verbindlich und sozial fixiert ist; das Verständnis von Worten kann an dieser Stelle gar zwischen verschiedenen Sprachanwendern divergieren. Dies wird über die Ebene der Semantik hinausgehend noch dadurch verstärkt, dass sich das Verständnis einer rechtlichen Regelung nicht alleine aus der Summe der Bedeutungen ihrer einzelnen Worte ergibt. Denn einerseits eröffnet die Zusammenschau der einzelnen Begriffe und ihrer Bedeutung wiederum verschiedene Interpretationsmöglichkeiten bis man zu einem umfassenden Verständnis der Norm gelangt. Und andererseits ist im Sinne der linguistischen Pragmatik das Verständnis sprachlicher Äußerungen nicht alleine von einer objektiven Bedeutung der sprachlichen Einheiten abhängig, sondern ebenso von der jeweiligen Gestaltung des kommunikativen Austausches und dessen Rahmenbedingungen.54 Auch diese Faktoren sind gesellschaftlich weniger stark fixiert als die Denotation im Sinne der Semantik und können sich daher schneller wandeln. Der damit beschriebene Wandel im Verständnis von Normen ist weniger von der gesellschaftlichen Sprachpraxis als von einer etablierten Praxis der Rechtsanwendung abhängig, die definiert und festlegt, wie eine Norm zu verstehen und anzuwenden ist.55 Die Bedeutung von Normen lässt sich danach nur bei gleichzeitiger Vorstellung der damit erfassten Sachverhalte verstehen, ihre Anwendung ist ein norm- und situationsdeutender Prozess. Im Rahmen dessen spielt der Anwender die Lösung durch eine ins Auge gefasste Norm durch, wobei die Zielvorstellungen maßgebend sind, die er mit der Norm verbindet. Hierbei werden selbst scheinbar deskriptive Begriffe vom Normzweck her bestimmt und ausgefüllt.56 Normen entstehen in dieser Perspektive erst durch die Praxis ihrer Verwendung, indem der verstehende Anwender ihren Inhalt mitbestimmt und bei jeder Anwendung weiterentwickelt.57 Durch diese wertende Ausfüllung der tatbestandlichen Rechtsbegriffe sind Ober- und Untersatz in der Rechtsanwendung oftmals bereits so vorbewertet, dass der syllogistische Schluss zur Formsache wird. Die Wirkung des gesetzlichen Tatbestandes ergibt sich somit weniger aus seiner sprachlichen Semantik, als aus den rechtlichen Bedeutungen, die ihm in jedem Akt der Rechtsanwendung zugeschrieben werden.58

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Siehe Linke/Nussbaumer/Portmann 1996, 153 f. Dazu Linke/Nussbaumer/Portmann 1996, 170 ff. 55 Siehe Müller-Tuckfeld 1998, 116 sowie auch Kaufmann 1997, 112 f. 56 Esser 1970, 29 ff., 52 f., 72 f. 57 Vgl. aus ethnomethodologischer Perspektive Morlok/Kölbel/Launhardt 2000, 18, 30 f.; vgl. auch Rottleuthner 2003, 16 f. m.w. N.; Luhmann 1987, 362 f. 58 Esser 1970, 53 ff. 54

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C. Rechtsanwendung im Prozess der Kriminalisierung

Daran wird deutlich, dass nicht nur das systematische Zusammenspiel der verschiedenen Normen umfassende Spielräume für das Verständnis und bei der Anwendung gesetzlicher Regelungen eröffnet. Auch die Bedeutung der einzelnen Normen selbst und ihrer einzelnen Tatbestandmerkmale ist nicht feststehend oder objektiv, sondern von der jeweiligen gesellschaftlichen Sprachpraxis, der Konnotation des Verwenders und der Interpretation im Rahmen der Praxis der Rechtsanwendung abhängig. Das Verständnis von Normen kann sich daher deutlich schneller verändern, als die Denotation im Sinne der Semantik das vorsieht. Dieser Umstand wird noch dadurch verstärkt, dass es sich bei der rechtswissenschaftlichen Sprache um eine Fachsprache handelt, die sich alltäglich und detailliert mit dem Verständnis und der Interpretation von sprachlichen Einheiten beschäftigt. So werden Begriffe aus der gemeinen Sprache in der Fachsprache durch Auslegungen und sonstige wissenschaftliche Bearbeitung umgedeutet, ausdifferenziert und gewandelt.59 Dies kann soweit gehen, dass ihnen am Ende eine wesentlich andere Bedeutung zukommt als im Alltag, wie sich beispielsweise an den Begriffen der Wegnahme oder der Zueignungsabsicht aus § 242 StGB oder dem der Gewalt im Sinne von § 240 StGB zeigen lässt. Wie breit die Interpretationsspielräume bei der Normhandhabung sind, hängt vor diesem Hintergrund weniger von einer nur vermeintlich zu erreichenden sprachlich-semantischen Genauigkeit der Norm ab. Denn diese erfordert ggf. nur einen höheren Begründungsaufwand, um ein sich nicht ohne weiteres aus der sprachlichen Fassung der Regelung ergebendes Ergebnis dennoch zu erreichen, wenn etwa eine bestimmte Sachverhaltskonstellation nunmehr als problematisch wahrgenommen und entsprechend nach einer strafrechtlichen Lösung gesucht wird. Entscheidender ist, in welchem Maße das Verständnis der Bedeutung der gesetzlichen Regelung bei den Instanzen institutionalisiert und etabliert ist. Dies kann sich etwa aus einer gefestigten Judikatur ergeben,60 wenngleich im Laufe der Zeit auch gegen ein solches etabliertes Verständnis „radikale Inhaltsänderungen“ als Normgestaltung durch die Praxis möglich sind.61 In diesem Sinne kann die theoretische und relativ statische Auffassung von einer feststehenden, objektiv gegebenen Bedeutung von Normen der sozialen Praxis der Rechtsanwendung als komplexem sozialem Vorgang nicht gerecht werden.62 Denn das gefestigte, etablierte Verständnis des Gesetzes begrenzt zwar die Interpretationsspielräume der Instanzen in konkreten Aushandlungsprozessen.63 59

Vgl. Fluck 1980, 47 ff. Siehe Groenemeyer 2003, 8; Langer 1994, 95; zur variierenden Festigkeit solcher Wissensbestände bei der Zuschreibung Bock 2000, 81. 61 Dies betrifft etwa Konstellationen, in denen sich eine neue „Theorie“ bei der Auslegung eines bestimmten Tatbestandmerkmals durchsetzt, siehe Esser 1970, 52 f., 109 ff. 62 Siehe Kunz 2004, 179 f.; Sack 1972, 17 f. 63 Siehe Danwitz 2004, 60. 60

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Abstrakt und auf längere Zeit besehen jedoch ist die Handhabung und Interpretation von Normen ebenso kontingent wie die Sachverhaltsfeststellung. Der Normtext kann daher als „Durchzugsgebiet für konkurrierende Interpretationen“ 64 verstanden werden.65 Gemäß der hier verfolgten Perspektive wird somit davon ausgegangen, dass nicht nur dem Gesetz naturgemäß immanente und insofern vorgesehene Wertungs- und Entscheidungsspielräume bestehen. In einem weiteren Sinne kann auch das Gesetz insgesamt, das heißt die Bedeutung seiner einzelnen Tatbestände und Tatbestandsmerkmale, nicht als feststehend angesehen werden. Vielmehr handelt es sich beim Wortlaut der Norm um eine sehr relative Grenze der Auslegung, sodass auch darüber hinaus bei der Handhabung gesetzlicher Regelungen Interpretationsspielräume bestehen.66 Entscheidender als die Normen und deren Festlegungen sind im interaktiven Prozess der Kriminalisierung das sich wandelnde Verständnis der Subjekte von der Bedeutung von Normen sowie insbesondere der Grad der Institutionalisierung dieser Interpretationen. 4. Fazit und Relevanz Sachverhaltsfeststellung wie auch die Auswahl und Auslegung von Normen als Bestandteile strafrechtlicher Rechtsanwendung lassen sich als interpretative Prozesse verstehen. Während dies auf der Ebene der Normsetzung vergleichsweise selbstverständlich ist – der Gesetzgeber definiert Regelungsprobleme und bearbeitet diese –, werden Entscheidungen im Rahmen der Rechtsanwendung dem Konzept nach entweder richtig oder falsch getroffen: Ein Sachverhalt ist entweder erwiesen oder nicht, er lässt sich unter einen Straftatbestand subsumieren oder nicht. Aus interpretativer Perspektive lassen jedoch weder die Rekonstruktion eines Geschehensablaufes noch die genauere Bestimmung des Regelungsgehaltes von Normen nur eine mögliche Lösung zu, vielmehr bestehen bei beiden Akten ausfüllungsbedürftige Spielräume.67 Diese Interpretations-, Wertungs- und Entscheidungsspielräume sind bis zu einem gewissen Maße vorgesehen und zulässig. So gilt für die Sachverhaltsrekonstruktion etwa der Grundsatz der freien richterlichen Beweiswürdigung (§ 261 StPO); hinsichtlich Normen ist anerkannt und alltägliche Rechtspraxis, dass verschiedene Lösungen möglich sind. Jedoch bestehen auch darüber hinaus und in wesentlich umfangreicherem Maße Spielräume, die von der juristischen 64

Christensen 1989, 255 f. Vgl. zum Prozess der Kommunikation über Recht Luhmann 1981, 57 ff.; zu einem aktuellen Beispiel aus der Praxis Eisenberg/Reuther 2006. 66 Vgl. Albrecht 2005, 248; zu Internet im Strafvollzug als Beispiel für einen Bereich gewandelten Normverständnisses siehe Knauer 2006. 67 So auch Vorheyer 2006, 276. 65

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C. Rechtsanwendung im Prozess der Kriminalisierung

Methodik und Dogmatik nicht berücksichtigt werden. Denn sowohl Handlungen als auch Worten sind Sinn und Bedeutung nicht immanent, sodass sie feststehend wären. Sie sind vielmehr kontingent und werden erst von außen verliehen. Diese Zuschreibung von Sinn und Bedeutung zu Geschehensabläufen wie auch gesetzlichen Regelungen im Kriminalisierungsprozess lässt sich als soziale Konstruktion einer Wirklichkeit verstehen, die sich im Laufe der Zeit wandelt und unterschiedlich fest ist. Abstrakt besehen sind die damit erfassten Interpretationsspielräume bei der Rechtsanwendung angesichts der Kontingenz der Bedeutungszuschreibungen unbegrenzt.68 Sie könnten also unabhängig von den jeweiligen Definitionen der Beteiligten auf der Mikroebene theoretisch auch anders ausgefüllt werden.69 Allerdings besteht diese Unbegrenztheit nicht aktuell, denn in der Praxis kann einer Norm oder einem Geschehen nicht jede beliebige Bedeutung zugeschrieben werden. Die Möglichkeiten der Interpretation werden vielmehr durch kulturelle Festlegungen begrenzt. Diese bestehen hinsichtlich der Normhandhabung in einer institutionalisierten Auslegung und der etablierten Bedeutung von Sprache sowie bezüglich der Sachverhaltsfeststellung in Beständen von Wissen über die Welt, die die Interpretation von Geschehensabläufen prägen. Genauer betrachtet sind die bestehenden Interpretationsspielräume daher nicht aktuell unbegrenzt, sondern nur unbegrenzt wandelbar. Für einen solchen Wandel sowohl der Interpretation von Geschehen als auch von Normen lassen sich verschiedene Formen ausmachen, von einer bewussten Neu- oder Uminterpretation einzelner Aspekte bis hin zu einem längere Zeit in Anspruch nehmenden, grundlegenden Bedeutungswandel durch eine Veränderung der kulturellen Begrenzungen von Interpretationsspielräumen.70 Diesen Befunden kommt angesichts der bereits eingangs angesprochenen zu beobachtenden gesellschaftlichen Pluralisierung und Diversifizierung von Wertund Verhaltensmustern71 eine gesteigerte Bedeutung zu. Im Zuge dessen vervielfältigen sich die üblichen Deutungen und Sinnzuschreibungen zu Geschehensabläufen und sind gesellschaftlich weniger fest, weshalb die Spielräume der Instanzen breiter werden.72 Außerdem wandeln sich auch die anzuwendenden Normen. Das zunehmend an Gefahren und Risiken anstatt am Rechtsgüterschutz orientierte heutige Strafrecht greift nicht nur wesentlich früher ein als überkommene Strafrechtsnormen. Es ist in seiner Ausgestaltung auch unklarer und flexibler, arbeitet mehr mit Generalklauseln, normativen Elementen und unbestimmten Rechtsbegriffen, sodass die Qualität wie Quantität der im Rahmen 68 69 70 71 72

Siehe zur Perspektive der Critical Legal Studies Frankenberg 2006, 110 f. Vgl. hierzu Baufeld 2006, 180 f. Siehe Vold/Bernard/Snipes 1998, 270 f. Zusammenfassend hierzu Singelnstein/Stolle 2006, 21 ff. So auch Kreissl 2003, 43.

II. Spielraumausfüllung und außergesetzliche Regeln

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von Rechtsanwendung zu füllenden Spielräume zu- bzw. deren kulturelle Begrenzung abnimmt.73 Bei den einzelnen Tatbeständen sind die Schutzgüter wie auch die verbotenen (Gefährdungs- bzw. Risiko-)Handlungen weniger greifbar, die rechtsstaatlichen Zurechnungsgrundsätze weniger klar.74 Dieses „richterliche Strafrecht“ (Baratta) als administrative Rationalisierung bedeutet daher eine Ausweitung der Entscheidungskompetenzen und der Ermessensfreiheit der Justiz wie auch der Polizei, deren ausfüllungsbedürftige Spielräume somit breiter werden.75 Vor diesem Hintergrund ist der hier verfolgte Ansatz nicht nur aus kriminologischer, sondern auch aus rechtstheoretischer und methodischer Sicht von Relevanz.76

II. Spielraumausfüllung und außergesetzliche Regeln Die Bewertung eines Geschehensablaufes als Kriminalität im Kriminalisierungsprozess ist, wie gezeigt, sowohl bei der Sachverhaltsfeststellung als auch bei der Auswahl und Auslegung von Normen kontingent. Dies wirft zwei grundlegende Fragen auf. Zum einen ist von Interesse, anhand welcher inhaltlichen Kriterien die Instanzen im Rahmen der Rechtsanwendung Interpretationsspielräume ausfüllen. Zum anderen stellt sich die Frage, wie diese Kriterien zustande kommen und sich wandeln, das heißt welche steuernden Faktoren dabei relevant werden und so zu einer gleichmäßigen Ausfüllung der Spielräume führen.77 An dieser Stelle können im Folgenden darzustellende Konzepte außergesetzlicher Regeln fruchtbar gemacht. 1. Zur Rolle außergesetzlicher Regeln Während es dem konstruktivistischen Ansatz zufolge zwar grundsätzlich möglich ist, eine bestimmte Verhaltensweise ebenso als normal wie auch als abweichend anzusehen, so erfolgt die Ausfüllung der dabei bestehenden Spielräume im Rahmen der Rechtsanwendung doch vergleichsweise einheitlich. Kriminalisierung und das gesellschaftliche Bild von Kriminalität sind also nicht 73

Grünwald 1975, 236 f.; Naucke 1999, 336 f., 344. Hierzu zusammenfassend Roxin 1997, 20 f.; Singelnstein/Stolle 2006, 40 f. 75 Siehe Ludwig-Mayerhofer 1998, 45 ff.; Scheerer 1993, 82 sowie zur gesamten Entwicklung Baratta 1993, 398 f., 401 f., der diese als Administratisierung des Strafrechts deutet, unter anderem aufgrund der Annäherung der Tatbestände an Formen des Verwaltungshandelns, die er in der nur noch punktuellen Reaktion auf Gefährdungen sieht. Damit verändere sich die Funktion von Justiz, der vom Gesetzgeber immer mehr Entscheidungen überantwortet würden. 76 Morlok/Kölbel/Launhardt 2000, 44 ff.; Morlok/Kölbel 2001, 296 f. schlagen aus diesen Befunden heraus methodische Konsequenzen vor. 77 So bereits Opp 1973, 111. 74

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C. Rechtsanwendung im Prozess der Kriminalisierung

beliebig oder zufällig.78 Dies macht deutlich, dass die Möglichkeiten für die Zuschreibung im Kriminalisierungsprozess trotz bestehender Interpretations- und Entscheidungsspielräume, wie bereits dargestellt, kulturell beschränkt sind.79 In diesem Zusammenhang sind steuernde Faktoren bei der Rechtsanwendung relevant, die die Spielraumausfüllung und damit den Zuschreibungsprozess leiten und so zu der genannten Kontinuität und Einheitlichkeit führen.80 Als solche steuernde Faktoren können insbesondere außergesetzliche Regeln für die Rechtsanwendung verstanden werden, die bei den verschiedenen Instanzen existieren und in der Kriminologie in unterschiedlicher Form analysiert werden.81 Der Mensch in seinen sozialen Beziehungen folgt regelmäßigen Verhaltensmustern, die Grundbestandteile von Rollen, Institutionen und Kulturen sind und als implizite Normen überall dort bestehen, wo es soziale Handlungen gibt.82 Ihre Regelmäßigkeit wirkt entlastend für den Einzelnen, wird aber auch mittels Druck kontrolliert und stabilisiert; hinter ihnen stehen Tradition und Autorität der sie anwendenden Mehrheit. Sie stellen Reaktionsmuster dar, die durch Imitation, Identifikation und Suggestion gelernt und so als Vor- und Einstellungen internalisiert werden.83 Dies gilt auch für den Prozess der Rechtsanwendung und wird bei den Strafverfolgungsinstanzen einerseits durch den Umstand verstärkt, dass es sich um Organisationen handelt, die aufgrund ihrer gesellschaftlichen Rolle und teilweisen Isolation eine institutionelle Erfahrungswelt mit eigenen sozialen Regeln und Normen entwickeln.84 Andererseits spielen implizite Regeln und Normen als wichtige Ressource für die Handlungsproduktion eine umso größere Rolle, je schwieriger eine Handlung organisatorisch und moralisch zu handhaben ist. Daher kommt solchen justiz- und polizeikulturellen Wahrnehmungs-, Denk- und Handlungsschemata der agierenden Rollenträger als Ergebnis sozialen Handelns85 im Rahmen der Rechtsanwendung eine besondere Bedeutung zu, zumal die theoretische Ausbildung der Juristen nur bedingt in der Lage ist, das in der Praxis nötige Gespür für Probleme und die Kompetenz zu deren Lösung zu vermitteln.86

78

Fischer 2001, 107; MacNaughton-Smith 1975, 203. Peters 1973, 27 f.; Quensel 2003, 27; vgl. auch Kuhlen 1978, 150 f. 80 Insofern lässt sich justizielles Entscheidungsverhalten nur unter Berücksichtigung solcher komplexen justizorganisationalen Kontexte richtig erfassen, vgl. Langer 1994, 58 m.w. N. 81 Sack/Lindenberg 2001, 192 f. 82 Siehe Weymann 2001, 94 f.; Rémy 2005, 103 f. 83 Rehbinder 2003, 37, 41 f. 84 Morlok/Kölbel/Launhardt 2000, 24 f.: „berufssozialisatorisch zu erwerbende Regelinterpretationen“; siehe auch Ehrlich 1989, 118 f. 85 Vgl. Rehberg 2001, 84 f. 86 Rémy 2005, 104 ff. 79

II. Spielraumausfüllung und außergesetzliche Regeln

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Entsprechend dieser Vorstellung geht auch in der kriminologischen Literatur die Mehrzahl der Autoren heute mehr oder weniger explizit davon aus, dass außergesetzliche Regeln als steuernde Faktoren bei der Rechtsanwendung von Bedeutung sind.87 Diese Vorstellung entwickelte sich zunächst mit dem Aufkommen der Labeling-Perspektive und dem damit verbundenen Wechsel des Blickes vom „Täter“ hin zu den Instanzen der Strafverfolgung.88 Für den Prozess der unmittelbaren Kriminalisierung sind in diesem Zusammenhang insbesondere solche außergesetzlichen Regeln von Interesse, die die materielle Rechtsanwendung in Form der Subsumtion betreffen und so mitbestimmen, ob und welche Verhaltensweisen als kriminell eingestuft werden. Zwar können hierbei mittelbar auch formelle außergesetzliche Regeln hinsichtlich des Verfahrensablaufes von Bedeutung sein,89 soweit sie etwa aus Gründen der Ökonomisierung festlegen, ob ein bestimmter Geschehensablauf verfolgt wird oder nicht. Wesentlicher prägen das gesellschaftliche Bild von Kriminalität und Abweichung jedoch erstgenannte Regeln, die daher im Zentrum der Arbeit stehen sollen. Solche außergesetzlichen Regeln finden sich bei allen Instanzen der Kriminalisierung mit je unterschiedlichen Schwerpunkten, abhängig davon, ob die Tätigkeit eher auf der Sachverhaltsfeststellung oder der Normhandhabung liegt und wie die jeweilige Instanz organisatorisch gefasst ist.90 Dementsprechend kommt bei der Polizei eher Regeln bezüglich der Sachverhaltsfeststellung Bedeutung zu, die die Wahrnehmung bestimmter Geschehensabläufe als einschlägig sowie ihre Rekonstruktion betreffen,91 während für Staatsanwaltschaften92 und Gerichte93 Regeln für die Normhandhabung mindestens ebensolche Rele-

87 Siehe Albrecht 2005, 203 f.; Bock 2000, 122 ff.; Eisenberg 2005, § 40; Göppinger 1997, 154 ff.; Hess/Scheerer 1997, 123 f.; Meier 2005, 241; Singelnstein 2003; empirisch zum Beispiel des rechtlichen Umgangs mit Prostitution Vorheyer 2006. 88 Siehe bereits MacNaughton-Smith 1968. 89 Siehe nur die Nachweise bei Eisenberg 2005, § 40, Rn. 3 ff.; Morlok/Kölbel/ Launhardt 2000, 25. 90 Vgl. Sessar 1981, 27 f.; zu Polizei und Staatsanwaltschaft siehe die Zusammenstellung bei Eisenberg 2005, § 27, Rn. 28 ff. bzw. Rn. 93 ff.; empirisch zur Staatsanwaltschaft Ludwig-Mayerhofer/Rzepka 1993, 135 f. 91 Zu solchen bei der Tatverdachts-Feststellung Eisenberg/Conen 1998, 2245 ff.; Malinowski/Brusten 1976, 107 ff. – Nach Feest/Blankenburg 1972 handeln Polizisten auf Streifenfahrten in den meist nicht eindeutigen Verdachtssituationen in relevantem Maß nach alltagstheoretischen Vorstellungen. Blankenburg/Sessar/Steffen 1978 zufolge führen Staatsanwaltschaften nur selten eigene Ermittlungen durch und übernehmen durch die Polizei dokumentierte Stigmatisierungen. 92 Siehe etwa Blankenburg/Sessar/Steffen 1978; Heghmanns 2001, 556; Singelnstein 2003, 12 ff. 93 Siehe den Überblick bei Albrecht 2005, 249 ff.; empirisch zu solchen für die Strafzumessung zur Erklärung regionaler Unterschiede Langer 1994, 297 ff.; zu informellen Erledigungsstrukturen zwischen Staatsanwaltschaften und Ermittlungsrichtern

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vanz haben dürften.94 Schließlich spielen außergesetzliche Regeln für die Wahrnehmung bestimmter Verhaltensweisen als Abweichung auch beim Anzeige erstattenden Bürger eine Rolle. Unabhängig von den Unterschieden zwischen den verschiedenen Formen solcher Praktiken werden diese im Folgenden als außergesetzliche Regeln zusammengefasst. Diese lassen sich als Bestandteil einer Justiz- und Polizei- bzw. zusammengenommen als Strafverfolgungskultur begreifen, verstanden als Verhaltensmuster, die im Handeln und Denken der Entscheider regelmäßig wiederkehren.95 2. Konzepte und Formen Dieser Vorstellung nach folgt der Entdeckungs-, Ermittlungs- und Überführungszusammenhang, der die Handlung zur Straftat und den Bürger zum Täter macht, bestimmten Regeln, die die Sachverhaltsfeststellung und die Anwendung des Gesetzes leiten.96 Solche Metaregeln wurden zunächst von Vertretern der Labeling-Perspektive theoretisch konzipiert. Danach erfordert die Strafrechtsanwendung in Anlehnung an linguistische Ansätze wie die Sprache einen Satz zusätzlicher Regeln, die die Anwendung des Regelsystems als Oberflächenstruktur ermöglichen und bestimmen.97 Neben dem sichtbaren, schriftlichen Zeichensatz besteht also ein zweiter, impliziter Zeichensatz, der das Verständnis des ersten ermöglicht und diesem zugeordnet ist.98 Die Regeln dieser Tiefengrammatik, die auf die Zeichen des ersten Satzes Bezug nimmt, versetzen den Anwender erst in die Lage, die Normen des Strafrechts als sprachliche Oberflächengrammatik richtig anzuwenden.99 Dabei sind sie wesentlich variabler und flexibler als gesetzliche Regelungen und unterliegen in noch stärkerem Maße als die Gesetzgebung außerrechtlichen Einflüssen.100 Wenngleich diese Regeln dem Anwender nicht unbedingt bewusst sein müssen, so sind sie doch trotz mangelnder Sichtbarkeit einer rationalen Rekonstruktion zugänglich.

zur Vermeidung von Ablehnungsentscheidungen bei Anordnungen zur akustischen Wohnraumüberwachung Meyer-Wieck 2004, 137 f. 94 Weitere Beispiele finden sich bei Albrecht 2005, 203 f. 95 Siehe zu Normen und Werten als Bestandteil von Kultur Rehberg 2001, 73 ff.; bezüglich Polizei Behr 2002, 272, 275; Pütter 2000; Rasehorn 1989, 25. 96 Siehe beispielsweise Peters 1973, 26 ff.; Sessar 1981, 24 ff. 97 Sack 1968, 459 f. unter Bezugnahme auf Ferdinand de Saussures Differenzierung in „langue“ und „parole“. 98 Aus semiotischer Sicht Seibert 1996. 99 Vgl. Langer 1994, 91 ff.; aus linguistischer Perspektive ergeben sich Bezüge zu Fragestellungen der Pragmatik, die Sprachgebrauchsregeln als hinter dem Zeichensatz der Sprache stehende Tiefenstruktur thematisiert, siehe Linke/Nussbaumer/Portmann 1996, 170 ff. 100 Vgl. hierzu Eisenberg 2005, § 22, Rn. 3; Singelnstein 2003, 3 f.

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Zusammengenommen werden diese Meta- bzw. Anwendungsregeln im Gegensatz zum Gesetz („first code“) als so genannter „second code“ bezeichnet, der neben den gesetzlichen Regelungen Entscheidungen in der Rechtsanwendung leitet101 und so die strukturelle Verteilung von Kriminalität in der Gesellschaft bestimmt.102 Das gesellschaftliche Bild von Abweichung wird damit nicht alleine durch den Gesetzgeber und die von ihm erlassenen Normen bestimmt, sondern ebenso von den Anwendungsregeln als Tiefengrammatik, deren Rekonstruktion daher Aussagen darüber ermöglicht, warum und wie sich Kriminalität als soziale Realität konstituiert.103 Beide Ebenen lassen sich zwar analytisch trennen, sind aber in der Praxis eng miteinander verschränkt.104 Inhaltlich besehen stellt der „second code“ keine Anwendungsregeln im engeren Sinne dar, das heißt solche zur bloßen Konkretisierung von Normen. Er transportiert vielmehr auch eigene Inhalte und Kriterien in die Rechtsanwendung, die dem Gesetz gänzlich fremd und von diesem nicht vorgesehen sind. Auf diesem Wege reguliert er beispielsweise, ob eine bestimmte Verhaltensweise unter ein konkretes Tatbestandsmerkmal fällt, oder wie die Strafzumessung für gewisse Begehungsweisen zu erfolgen hat. Diese impliziten Regeln sind dieser Vorstellung zufolge maßgeblich für die Kriminalisierung, denn sie bestimmen auch unabhängig von den Regelungen des Gesetzes als first code, welches Verhalten verfolgt wird oder nicht.105 So kann ein bestimmtes Verhalten zwar nach dem Gesetz strafbar sein, wird aber aufgrund einer solchen Anwendungsregel gleichwohl nicht verfolgt, während andererseits eine Person aufgrund von Regeln des „second code“ kriminalisiert wird, auch wenn sie den „first code“ nicht verletzt hat. Der oftmals implizite, unbewusste Charakter solcher materiellen Anwendungsregeln ist dabei insoweit von besonderer Relevanz, als der Gesetzesbindung von den Rechtsanwendern Bedeutung zugemessen wird.106 Diese Vorstellung und Befunde sind in der Kriminologie breit aufgegriffen worden und können in Teilen als anerkannt angesehen werden. So geht die Mehrzahl der Autoren heute von der Existenz und dem Wirken von Anwendungsregeln in einem engeren Sinne aus, die die Ausfüllung der zuvor beschriebenen, der Rechtsanwendung immanenten und anerkannten Wertungs- und Entscheidungsspielräume leiten. Indes wurde unbeschadet der Übernahme der Begrifflichkeiten der theoretische Hintergrund der dargelegten Ansätze zum „second code“ mit seinen Implikationen nur wenig erfasst. Der Schwerpunkt 101 102 103 104 105 106

MacNaughton-Smith 1968. Sack 1968, 463 ff. Siehe auch Vorheyer 2006, 288. Sack 1975, 136; siehe auch Blum/McHugh 1975, 176 f. MacNaughton-Smith 1975, 202 ff. Lautmann 1972, 86 ff.

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der Rezeption liegt daher auf dem Aspekt der Normkonkretisierung durch Regeln und weniger darauf, dass es sich um einen eigenständigen, zweiten Regelkomplex handelt, der eigenen Kriterien und Inhalten folgt. Umstritten ist auch, welches Ausmaß der Einfluss außergesetzlicher Regeln in der Praxis tatsächlich hat.107 Gleichwohl sind diese Fragestellungen in den vergangenen Jahren nur wenig weiter verfolgt oder beforscht worden. Eine Ausnahme hiervon stellt der Ansatz der institutionalisierten Handlungsnormen dar. Dieser erfasst auch über den Bereich von reinen Anwendungsregeln hinaus – und damit in umfassenderer Weise – Wesen und Wirken außergesetzliche Regeln bei der Normanwendung und Sachverhaltsfeststellung. Dabei betont er den Aspekt der Institutionalisierung außergesetzlicher Regeln bei den Instanzen, der sich auch in der Qualifizierung als Normen anstelle von bloßen Regeln niederschlägt.108 Unter institutionalisierten Handlungsnormen werden danach regionale wie überregionale Binnennormen verstanden, die unabhängig bzw. nur mittelbar abhängig von den gesetzlichen Regelungen und ggf. im Widerspruch zu diesen stehend die Arbeit der Organe der Strafrechtspflege beeinflussen bzw. prägen109 und bezüglich derer zunächst zwischen formellen und materiellen Handlungsnormen unterschieden werden kann. Bei formellen institutionalisierten Handlungsnormen handelt es sich um organisationsbedingte Regeln, die den formellen Ablauf der Verfahrensbearbeitung und -erledigung betreffen. Die Kontrolle ihrer Einhaltung durch den einzelnen Amtsträger sowie die Sanktionierung von Verstößen ist mittels Beförderungsund Überwachungsnormen möglich, aber auch durch informelle Maßnahmen, wie die Entziehung von Unterstützung und durch Isolierung. Grundlage solch pragmatischer Umgangs- und Erledigungsnormen sind zumeist die Erwartung und das Erfordernis von Effizienz und Einheitlichkeit in der Erledigungspraxis.110 Materielle institutionalisierte Handlungsnormen hingegen sind inhaltliche Anwendungsregeln als normative Entscheidungshilfen bei der Normsubsumtion und Entscheidungsfindung.111 Sie beruhen auf Plausibilitätserwägungen und beziehen erwartungsgemäß auch vom Tatgeschehen unabhängige Merkmale in die 107

Siehe etwa zu Alltagstheorien Göppinger 1997, 100; Kaiser 1996, § 5, Rn. 24. Grundlegend Eisenberg 2005, § 40. 109 Eisenberg 2005, § 40, Rn. 1, 13 ff.; Singelnstein 2003, 3. 110 Eisenberg 2005, § 40, Rn. 1 ff. – Insofern erlangt dieser Bereich angesichts allgemein zu beobachtender Prozesse der Ökonomisierung eine besondere Bedeutung. 111 Vgl. Blankenburg/Sessar/Steffen 1978, 16; Kunz 2004, 179 f.; Langer 1994, 196 f. – Besonders anschaulich sind dabei Normen, die die Strafzumessung betreffen. Strafverteidiger berichten etwa aus dem Kriminalgericht Moabit von Strafzumessungstaxen – insoweit ist vom „Moabiter Landrecht“ die Rede – beispielsweise im Bereich Betäubungsmittel. Danach sollen 30 Kilogramm mit drei Jahren, 90 mit viereinhalb Jahren Freiheitsstrafe geahndet werden. Zu solchen bei der Sanktionierung von Delikten nach § 316 StGB und zur Rolle entsprechender „Taxenpapiere“ empirisch Hassemer 1986. 108

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Bewertung mit ein.112 Dabei dienen sie der Legitimation von Entscheidungen, die aufgrund formeller institutionalisierter Handlungsnormen getroffen werden, und stehen vermutlich mit den Interessen gesellschaftlicher Machtgruppen in gewissem Einklang. Die Verinnerlichung materieller Handlungsnormen führt zu einer Einschränkung der sozialen Wahrnehmung der Amtsträger mit einer Neigung zur Vereinheitlichung und Stereotypenbildung.113 Weiterhin kann bezüglich institutionalisierter Handlungsnormen zwischen veröffentlichten – wie den RiStBV und anderen Richtlinien und Verwaltungsvorschriften – und nur intern erfahrbaren differenziert werden.114 Letztere lassen sich wiederum in geschriebene – zum Beispiel Verfügungen, Memos – und ungeschriebene unterteilen115. Gemäß rechtssoziologischem Verständnis kann sodann differenziert werden zwischen expliziten, bewussten und formulierten Normen, und impliziten Normen als nichtrationalen, unbewusst bejahten Regeln im Rahmen der wiederkehrenden Gleichförmigkeit des jeweils gebilligten Handelns116. Parallel dazu ist von einer differierenden Form auch der Sanktionierung von Verstößen auszugehen. Je nach dem sozialen Druck, der dabei aufgewendet wird, um die Einhaltung zu erreichen, lassen sich Kann-, Soll- und Muss-Regeln unterscheiden.117 Während die Einhaltung geschriebener Handlungsnormen durch die Drohung mit formellen Sanktionen sichergestellt werden kann, kommen bei Verstößen gegen ungeschriebene Handlungsnormen unmittelbar nur informelle Sanktionen in Betracht.118 Hinsichtlich Art, Umfang und Inhalt dieser außergesetzlichen Regeln, die das materielle Strafrecht ebenso wie das Strafprozessrecht und die Nebengebiete betreffen, zeigen sich ganz erhebliche regionale Unterschiede, die zumeist mit dem Grad der Institutionalisierung (bewusst – unbewusst, geschrieben – ungeschrieben) in Zusammenhang stehen dürften.119

112

Eisenberg 2005, § 40, Rn. 13 ff.; Kunz 2004, 260 f.; Kürzinger 1996, 142. Eisenberg 2005, § 40, Rn. 15, 27. 114 Eisenberg 2005, § 40, Rn. 1. 115 Hier lag ein Schwerpunkt der Forschung stets bei der Polizei, die danach bei ihren Ermittlungen gemäß eigenen kriminalpolitischen Vorstellungen und zur Eröffnung weitergehender Ermittlungsbefugnisse oft einen schwereren Tatverdacht annimmt. – Zu ungeschriebenen Regeln bei Richtern unter dem Aspekt der Tradition Rasehorn 1989, 30. 116 Vgl. Morlok/Kölbel 2001, 300. 117 Dazu sowie zu Identifizierung und Internalisierung als Gründen für die Befolgung vgl. Rehbinder 2003, 41 f., 153 ff. 118 Zu verschiedenen Formen einer solchen sozialen Kontrolle bei den Instanzen Langer 1994, 59 ff.; bei Richtern Rasehorn 1989, 137 ff. 119 Siehe zu regional stark divergierenden Handlungsmustern Langer 1994, 389 ff. sowie Suhling/Schott 2001, 53, die diese als Ausdruck unterschiedlicher lokaler Justizkulturen interpretieren. 113

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Die Ansätze eines „second code“ mit ihrem Schwerpunkt auf materiellen Anwendungsregeln im weiteren Sinne wie auch das umfassendere Konzept der institutionalisierten Handlungsnormen erfassen somit außergesetzliche Regeln, die einerseits die Ausfüllung von gesetzlich vorgesehenen bzw. zugelassenen Spielräumen leiten, wie sie oben für die Sachverhaltsfeststellung ebenso wie für die Normhandhabung dargestellt wurden. Andererseits sind diese formellen und materiellen, bewusst oder auch unbewusst wirkenden Regeln auch darüber hinausgehend von Bedeutung. Denn sie sind zum einen in der Lage, gesetzliche Regelungen zu überlagern und so im Widerspruch zu diesen stehende Inhalte und Interessen umzusetzen.120 Zum anderen werden sie auch bei der Ausfüllung von weitergehenden, gesetzlich nicht vorgesehenen Spielräumen relevant, wie sie oben beschrieben wurden. Damit geht diese Perspektive über eine rein hermeneutische Diskussion hinaus, wenn sie sich den Konstruktionsregeln sozialer Wirklichkeit widmet und nicht nur das die Subjekte prägende Vorverständnis als bei der Rechtsanwendung relevant betrachtet.121 3. Entstehungsbedingungen Weniger genau nachgegangen wurde bislang der Frage, wie die beschriebenen außergesetzlichen Regeln zustande kommen, wie sie generiert, transformiert und institutionalisiert werden. Die diesbezüglichen Entstehungsbedingungen, die gerade für materielle Anwendungsregeln vielfältig sind, sind jedoch von besonderem Interesse. Schließlich bilden sie die inhaltliche Grundlage für die Ausfüllung von Spielräumen bei der Rechtsanwendung und damit für die Lösung des Auswahlkonflikts, vor dem der Rechtsanwender angesichts der verschiedenen möglichen Interpretationen über die soziale Realität und die Bedeutung von Normen steht.122 Auf der Ebene der Sachverhaltsfeststellung bestimmen die bei den Instanzen Tätigen mit solchen Regeln ihre Umwelt, das heißt sie machen sich ein Verhalten durch die Zuschreibung einer gesellschaftlich verfügbaren Handlungsorientierung sozial verständlich.123 Ein erster, nahe liegender Faktor bei der Entstehung außergesetzlicher Regeln und der Lösung des Auswahlkonflikts sind zunächst die bestehenden gesetzlichen Regelungen selbst. Außergesetzliche Regeln können diesen verpflichtet sein und sich daher nach ihren Vorgaben richten. Dies gilt mit Einschränkungen auch für die Stufe der Sachverhaltsfeststellung, soweit hierfür gesetzliche Regelungen bestehen bzw. eine mit wissenschaftlichen Methoden erfolgende Rekons120

Eisenberg 2005, § 40, Rn. 13 f.; Singelnstein 2003, 3. Siehe Sack 1975, 133 f. 122 Vgl. Lautmann 1972, 21 f.; zu Einflüssen bei der Selektion Hess/Scheerer 1997, 131 ff. 123 Vgl. Blum/McHugh 1975, 173 f. 121

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truktion möglich ist, die danach der Ermittlung einer tatsächlichen Wahrheit verpflichtet wäre. Vor allem aber betrifft dies die Stufe der Normhandhabung, auf der bestehende Spielräume dogmatisch besehen innerhalb des gesetzlichen Rahmens durch Anwendung rechtswissenschaftlicher Methoden ausgefüllt werden. Einem Einfluss außerrechtlicher Kriterien sollen hier verschiedene steuernde Faktoren entgegenwirken, wie zum Beispiel Verfahrensregeln, Präjudizien, Methodik, organisatorische und institutionelle Vorkehrungen.124 Diese Betrachtungsweise vermag einerseits den Umständen nicht gerecht zu werden, dass außergesetzliche Regeln beispielsweise auch im Widerspruch zum Gesetz stehen können und dass eine vollständige Sachverhaltsrekonstruktion nach wissenschaftlichen Methoden an mangelnden Ressourcen scheitert. Andererseits blendet sie aus, dass die Rechtsanwender bei der Lösung des Auswahlkonflikts zu verschiedenen Strategien greifen.125 Angesichts dessen ist zu konstatieren, dass sich außergesetzliche Regeln nicht alleine an der Rechtslage orientieren, sondern in erheblichem Maße auch auf außerrechtlichen Einflüssen basieren.126 Die inhaltliche Grundlage materieller außergesetzlicher Regeln zur Spielraumausfüllung ist daher deutlich breiter und vielfältiger.127 Sie wird von verschiedener Seite als Vorverständnis der Rechtsanwender thematisiert,128 und zwar als solches hinsichtlich der Sinnzuschreibung bei der Sachverhaltsermittlung ebenso wie als solches bezüglich der Bedeutung gesetzlicher Regelungen, die in der Praxis ohnehin kaum voneinander zu trennen sind.129 Dieses Vorverständnis stellt im Verhältnis zu rechtlichen Vorgaben eine übergeordnete Ebene dar. Denn die Rechtsanwendung und insbe124 So Hoffmann-Riem 2005, 517 m.w. N. – Gleichwohl ist beispielsweise die noch als Normfindung bezeichnete Konkretisierung von unbestimmten Rechtsbegriffen in ihrer Methode wenig klar und umstritten oder werden etwa Informationsbeschaffungspflichten in der Praxis umgangen und (sozial)wissenschaftliche bzw. sachverständige Erkenntnisse nicht einbezogen, indem Richter sich zum Beispiel selbst die notwendige Sachkunde zuschreiben, vgl. Rehbinder 2003, 11 ff., 19. 125 Lautmann 1972, 21 ff. 126 Siehe Ehrlich 1989, 331 ff.; Morlok/Kölbel 2001, 294 ff. mit umfangreichen Nachweisen. – Dass die Faktoren, die auf die Entscheidungsfindung Einfluss nehmen mitunter andere sind als die, die sodann in der Begründung der Entscheidung genannt werden, wird mit der rechtssoziologischen Differenzierung zwischen Herstellung und Darstellung von Entscheidungen berücksichtigt. 127 Albrecht 2005, 248 f. differenziert bezüglich Handlungsgründen bei Richtern zwischen materialistischem, sozialpsychologischem, psychoanalytischem, rollen- und bürokratietheoretischem Modell. 128 Grundlegend Esser 1970; Rottleuthner 1973, 32 ff.; siehe auch Kunz 2004, 179 f.; Lüderssen 1975a, 147; Meier 2005, 256; zum Begriff Rottleuthner 1981, 121 ff. 129 Entsprechend der genannten Schwerpunktsetzung werden Entstehungsbedingungen bezüglich formeller Regeln im Folgenden nicht näher beleuchtet; bei diesen kommt aber jedenfalls auch der Behördenorganisation und -hierarchie Bedeutung zu und werden die Regeln eher solche bewusster Art sein.

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sondere die Spielraumausfüllung trifft stets auf das schon bestehende Vorverständnis des Rechtsanwenders und ist von diesem unausweichlich beeinflusst,130 indem sowohl die Interpretation von Rechtsbegriffen als auch Geschehensabläufen im Hinblick auf das wertungsbezogene Regelungsziel der Rechtsanwendung erfolgt. Dies gilt auch für die genannten steuernden Faktoren juristischer Methodik, deren Wirkung daher begrenzt ist, sodass sich der Einfluss des Vorverständnisses in keinem Fall aus dem Prozess der Rechtsanwendung heraushalten lässt.131 Das Gesetz stellt somit nur eine relative Grenze und einen relativen Bezugspunkt für außergesetzliche Regeln dar, während die Untersuchung des Vorverständnisses der Rechtsanwender für eine Analyse justiziellen und polizeilichen Entscheidungsverhaltens von grundlegenderer Bedeutung ist, zumal es sich und mit ihm der Gehalt rechtlicher Regelungen im Laufe der Zeit wandelt. Das Vorverständnis der Rechtsanwender selbst wiederum ist geprägt von einer nochmals übergeordneten Ebene, auf der sich verschiedene Formen von internalisiertem Wissen und Einstellungen über und zu sozialen Geschehensabläufen und Sprache in der Person des Rechtsanwenders verorten lassen.132 Für deren Bildung und Wandel können sehr verschiedene Faktoren von Bedeutung sein133, die sich einerseits aus der Tradition, der Lebenswelt134 und Organisation der Strafverfolgungsbehörden und dem gesellschaftlichen Bild über Rechtsanwender ergeben, wobei Erfahrungen, subkulturelle Werte und Partikularnormen135 ebenso von Bedeutung sind wie zum Beispiel die obergerichtliche Rechtsprechung136 und die Medienberichterstattung. Andererseits liegen mögliche Faktoren auch in der Person des jeweiligen Rechtsanwenders. So können etwa der soziale Status als gesellschaftliche Stellung, die soziale Herkunft, Sozialisation und Rolle und ein daraus sich ergebendes Selbstverständnis sowie das angenommene Fremdbild Relevanz entfalten.137 Weiterhin können auch (intentionale) äußere Einflüsse bedeutsam sein, wie etwa solche des sozialen Umfeldes138, das Wirken von Lobbyisten139 oder Maßnahmen politischer Art

130 Vgl. Eisenberg 2005, § 40, Rn. 15; zum Merkmal Geschlecht Maiwald/Scheid/ Seyfarth-Konau 2003. 131 Esser 1970, 123 f., 134 ff. 132 Siehe zum Begriff des Wissens Rehberg 2001, 80 f. 133 Vgl. bezüglich Richtern Albrecht 2005, 248 f.; zur Polizei Behr 2002, 272; zur Problematik dessen für die Forschungspraxis Rottleuthner 2005, 597 f. 134 Zu diesen für Richter Rasehorn 1989, 25 ff. 135 Siehe Lüderssen 1975, 221; Morlok/Kölbel/Launhardt 2000, 22 f. m.w. N. 136 Dazu Lautmann 1972, 95 ff. 137 Siehe die Zusammenstellung bei Eisenberg 2005, § 31, Rn. 11 ff.; vgl. auch Bock 2000, 122 f.; Brauweiler/Wörfel 1982; Göppinger 1997, 154 f.; zu den genannten Kategorien Rehbinder 2003, 43 ff. 138 Vgl. Lautmann 1972, 18. 139 Vgl. Garland 2004, 41.

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bis hin zu Weisungen beispielsweise durch die Justizverwaltung an die Staatsanwaltschaften.140 Die daraus entstehenden Wissensbestände und Einstellungen schlagen sich für die Stufe der Sachverhaltsfeststellung in Alltagstheorien, Stereotypenbildungen, Interpretationsschemata, Deutungsmustern und Plausibilitätserwägungen141 nieder, wobei dem jeweiligen Kontext des Geschehensablaufes Bedeutung zukommt142. Dies lässt sich zum Beispiel an erfahrungsbasierten, zumeist zirkulären Verdachtsstrategien und Bewertungen143 erkennen, die bei polizeilichem Handeln zu beobachten sind. Auf der Ebene der Normhandhabung sind Wissen und Einstellungen beispielsweise für die Konstituierung von Normalfiguren sowie in Form von Motiven oder der Erwünschtheit eines bestimmten Ergebnisses von Relevanz.144 Wissen und Einstellungen schlagen sich somit im Rahmen des Vorverständnisses der Rechtsanwender in regelhafter Form nieder, auf die diese bei der Spielraumausfüllung zurückgreifen,145 und zwar noch mehr auf der Herstellungsebene als auf der Darstellungsebene von Entscheidungen.146 Auf diesem Wege findet das Vorverständnis und mit ihm außerrechtliche Kriterien Eingang in den Prozess der Rechtsanwendung.147 Es ist so von Einfluss auf die Sinn- und Bedeutungszuschreibung, die insofern sozial und kulturell geprägt ist. Dieser Einfluss kann verschieden stark sein und steht in Verbindung mit dem Grad der Institutionalisierung dieser regelhaften Wissensbestände und Einstellungen – von unbewussten Anwendungsregeln und Routinen bis hin zu geschriebenen institutionalisierten Handlungsnormen und daraus folgenden kollektiven Praktiken, die sich über einen längeren Zeitraum ausbilden, leitend wirken und eine Kontinuität in der Rechtsanwendung gewährleisten. Das Vorverständnis der Rechtsanwender wird so mittels außergesetzlicher Regeln in die Organisationen der Strafverfolgung integriert und institutionalisiert.148 140

Siehe allgemein etwa Albrecht 1994. Hierzu Brauweiler/Wörfel 1982; Göppinger 1997, 100; Kaiser 1996, § 5, Rn. 24; Lautmann 1972, 22 f., 57 ff.; Rottleuthner 1973, 83 ff.; Schetsche 1996, 65 ff. sowie die Nachweise bei Morlok/Kölbel 2001, 294 ff. Zum Stereotyp des „gefährlichen Fremden“ bei der polizeilichen Detektion von Betäubungsmittelkriminalität EisenbachStangl 2004. 142 Krasmann 2003b, 58. 143 Siehe den Überblick bei Eisenberg 2005, § 27, Rn. 28 ff.; vgl. auch Blankenburg 1995, 15 f.; Meier 2005, 245 f.: „polizeispezifische Einschätzung der Strafwürdigkeit“. 144 Eisenberg 2005, § 31, Rn. 33; Lautmann 1972, 22 f. 145 Malinowski/Brusten 1976, 108 f. 146 Hoffmann-Riem 2005, 528, 537, auch zu einem pragmatischen Umgang in der Praxis hiermit; ähnlich Rehbinder 2003, 10, 25 („Lebenserfahrung“); empirisch Hassemer 1986. – Besonders deutlich wird dies im Bestreben, Entscheidungen gegenüber Kontrollinstanzen unangreifbar, also insbesondere revisionsfest zu verfassen. 147 Siehe Esser 1970, 133 ff.; Rehbinder 2003, 180. 148 Siehe auch Schetsche 1996, 94 ff. 141

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C. Rechtsanwendung im Prozess der Kriminalisierung

Vor diesem Hintergrund ist für die Konstituierung von Anwendungsregeln und im Besonderen von institutionalisierten Handlungsnormen weiterhin die spezielle Organisationsform von Bedeutung, die die Instanzen des Kriminalisierungsprozesses auszeichnet149 – abgesehen vom Anzeige erstattenden Bürger, der insofern eine besondere Stellung aufweist. Sowohl die zentralen Instanzen Polizei, Staatsanwaltschaft150 und Gericht, als auch beispielsweise Wissenschaft, Gerichtsdiener, Bewährungs- und Jugendgerichtshelfer sind in sozialen Strukturen zusammengefasst, die als Institution und Organisation im soziologischen Sinn151 verstanden werden können. Es handelt sich um Komplexe aus sozialen Normen bezüglich eines wesentlichen gesellschaftlichen Bereichs, die von einer Mehrzahl von Personen umgesetzt werden zur arbeitsteiligen, rationalen Erreichung eines formulierten Ziels.152 Wie diese Organisationen konkret ausgestaltet sind, wird von der Organisationssoziologie unterschiedlich analysiert.153 Für die hier verfolgten Fragen ist die Feststellung ausreichend, dass innerhalb dieser Organisationen die dort tätigen Individuen durch besondere soziale Beziehungen verbunden sind und für sie dort ein bestimmter, besonderer Bestand sozialer Regeln gilt.154 Dies sind nur zum Teil solche offizieller, formaler Art. Darüber hinaus sind Organisationen immer auch von informellen Strukturen und Verhaltensnormen geprägt.155 Zusammengenommen lassen sich somit die verschiedenen allgemeinen und spezialisierten Wissensbestände und Einstellungen, die das Vorverständnis der Rechtsanwender darstellen, als wesentliche Basis außergesetzlicher Regeln für Sachverhaltsfeststellung wie Normhandhabung verstehen. Demgegenüber stellt das Gesetz einen nur relativen Bezugspunkt dar. Interpretation im Kriminalisierungsprozess ist dementsprechend stark abhängig von dem sich wandelnden Vorverständnis und den daraus entstehenden außergesetzlichen Regeln, die so eine zwischen Normbrechern und Angepassten differenzierende soziale Ordnung ständig neu reproduzieren.156

149

Göppinger 1997, 154: „organisationsspezifische Eigengesetzlichkeiten“. Siehe zu institutionellen Gegebenheiten bei diesen Eisenberg 2005, § 27, Rn. 1 ff. 151 Hierzu Schimank 2001, 208 ff. 152 Rehbinder 2003, 45 f. – In diesem Sinne werden heute organisations- und tätigkeitsbezogene Einflüsse, wie beispielsweise auch lokale Justizkulturen, als bedeutsamer angesehen als der soziale Status und Hintergrund der Akteure, siehe Machura 2001, 294. 153 Hierzu Zimmermann 2001 m.w. N. 154 Vgl. Blankenburg 1995, 20 f. Zu Abwehrmechanismen gegenüber Ritualen, Kritik und Zweifel aufgrund von Identifikation mit der Institution aus psychologischer Sicht Fabricius 1996, 144 f. 155 Schimank 2001, 215 f. 156 Lamnek 1997, 47. 150

II. Spielraumausfüllung und außergesetzliche Regeln

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4. Wissen als übergeordnete Ebene Der Schwerpunkt der bisherigen, hier dargestellten Ansätze außergesetzlicher Regeln liegt auf Spielräumen und Situationen, in denen die Zuschreibung umstritten ist und daher ausgehandelt wird.157 Diese Ansätze erfassen somit im Wesentlichen Regeln und Entstehungsbedingungen, die sich auf einer Ebene mit dem Gesetz befinden und parallel zu diesem wirken. Dabei sind die das Vorverständnis der Rechtsanwender bildenden Formen des Wissens relativ konkret und nicht unerheblich von Meinungen und Einstellungen geprägt, die um die Deutungshoheit über bestimmte Themenfelder ringen und ihre Position zu etablieren suchen. Während der intentionale Einfluss von Akteuren und Auswirkungen gesellschaftlicher Machtverhältnisse auf dieser konkreten Ebene immer wieder Thema kriminologischer Arbeiten ist, bleibt eine dem übergeordnete Ebene für die inhaltliche Konstituierung des Vorverständnisses und von außergesetzlichen Regeln158 weithin unterbelichtet: Diejenige basaler gesellschaftlicher Bestände von Wissen über die Welt.159 Aus konstruktivistischer Perspektive findet interpretierende Zuschreibung nicht alleine in konkreten Aushandlungsprozessen aufgrund des beschriebenen Vorverständnisses statt. Gerade die hier in Bezug genommenen neueren Ansätzen im interpretativen Paradigma gehen vielmehr davon aus, dass soziale Wirklichkeit und Wahrheit in einem umfassenden Sinn kontingent, das heißt keine feststehende Kategorie neben der Rechtspraxis ist, sondern generell erst aus einer Zuschreibung von Sinn und Bedeutung zu materiell existenten Dingen entsteht.160 Dem zufolge gibt es keine ontische Realität, die es zu erkennen gelte, sondern sind Wahrheit und Wirklichkeit das, was die Subjekte als Sinn und Bedeutung denken und leben.161 Die Herstellung dieser sozialen Wirklichkeit erfolgt auch über das konkrete Vorverständnis hinaus auf der Grundlage von Wissen über die Welt, das die einzelnen Subjekte haben und anwenden.162 Außerrechtliche Einflüsse in Form von gesellschaftlichen Wissensbeständen können daher im Wesentlichen auf zwei Wegen Eingang in die Rechtsanwendung finden. Zum einen können außergesetzliche Regeln der Instanzen auf einer konkreten Ebene Kriterien berücksichtigen und umsetzen, die im Widerspruch zur aktuell geltenden Bedeutung des Gesetzes stehen und so einem 157

Vgl. Göppinger 1997, 134. Siehe zu dieser Differenzierung Blomberg/Cohen 1995a, 6. 159 Zu in diese Richtung gehenden theoretischen Ansätzen in verschiedenen Disziplinen siehe den Überblick bei Bussmann 1996, 93; siehe auch Eisenberg 2005, § 40, Rn. 15. 160 Seibert 1997, 249; siehe auch Frankenberg 2006, 111. 161 Siehe Müller-Tuckfeld 1997, 465 f. m.w. N.; Peters 1997, 268. 162 Vgl. Haferkamp 1972, 3 ff.; Blum/McHugh 1975, 178 f.; Smaus 1986. 158

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C. Rechtsanwendung im Prozess der Kriminalisierung

Wandel von Wissen Rechnung tragen. Zum anderen kann ein derart verändertes Wissen aber auf längere Sicht auch dazu führen, dass Normen und Geschehensabläufen gesellschaftlich eine andere Bedeutung, ein anderes Verständnis zugeschrieben wird, sodass sich das Verständnis rechtlicher Regelungen und die Rechtsanwendung implizit dem Wandel des Wissens anpassen.163 Dies ist im Hinblick auf das Recht durchaus funktional, setzt doch der Wunsch nach Stetigkeit von Normen deren Anpassung und Wandel im Laufe der Zeit voraus.164 Die gesetzliche Regelung als „first code“ behält dabei ihre Geltung. Sie wandelt sich aber, indem sich das Verständnis von ihr und die diesbezüglichen Anwendungsregeln verändern. Beiden Wegen ist gemein, dass ihnen gesellschaftliche Wissensbestände zugrunde liegen, die so letztlich maßgeblicher sind als der Wortlaut des Gesetzes. Damit ist die Ebene überindividueller, basaler Wissensbestände nicht nur für Anwendungsregeln im engen Sinne von Bedeutung, sondern auch für außergesetzliche Regeln in einem weit verstandenen Sinn, die – wie oben unter 2. dargestellt – mit dem Verständnis von umfassenden, vom Wortlaut des Gesetzes unabhängigen Interpretationsspielräumen korrespondieren. Darüber hinaus prägt sie die gesellschaftliche Wahrnehmung des Themenfeldes Kriminalität und die darauf basierenden Praktiken insgesamt insofern, als das dort bestehende Wissen aus wissenssoziologischer Perspektive die Grundlage gesellschaftlicher Interaktion darstellt.165 Solche basalen, eher strukturell geprägten und langfristig entstandenen gesellschaftlichen Wissensbestände über die Bedeutung von Sprache und das soziale Zusammenleben sind deutlich breiter und fester institutionalisiert als das Vorverständnis auf konkreterer Ebene, sodass sie beständiger sind und sich langsamer wandeln.166 Sie werden von den Rechtsanwendern im Laufe der (Berufs-) Sozialisation erlernt und als kulturelle Vorprägung in ihre Tätigkeit eingebracht.167 In diesem Sinne schafft und reproduziert das Recht – und insbesondere das Strafrecht – sein ganz eigenes Feld aus Begriffen, Bedeutungen und Sinn. Luhmann hat dies auf die Orientierung am Schema Recht/Unrecht zurückgeführt, die die Entwicklung und endlose Reproduktion der eigenen Elemente, Begrifflichkeiten und Kommunikation des Rechts als fortdauernde gesellschaft163 Siehe zu Rechtsprechungsänderungen aufgrund geänderter normrelevanter Tatsachen und Anschauungen Kähler 2004, 82 ff. 164 Siehe Ehrlich 1989, 120 ff. 165 Stammermann/Gransee 1997, 437, 453; Quensel 2003, 27 ff. – Damit sowie mit dem hier verfolgten diskursanalytischen Ansatz (siehe oben B.I.3.) wird Bezug genommen auf neuere Ansätze der Wissenssoziologie, die relevantes Wissen wesentlich breiter als bis dahin üblich verstehen und sich insbesondere dem Alltagswissen der Allgemeinheit widmen, das sie als zentral für die gesellschaftliche Konstruktion von Wirklichkeit ansehen, siehe grundlegend Berger/Luckmann 1996. 166 Vgl. Hoffmann 1997, 202. 167 Siehe zur Internalisierung Berger/Luckmann 1996, 139 ff.

III. Zusammenschau

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liche Ausdifferenzierung hervorbringe.168 Hess/Scheerer etwa haben diese Mischung aus Wissen, Theoremen, Denkfiguren und Begriffssystematiken im Anschluss an Berger/Luckmann als „Sinnprovinz Kriminalität“ bezeichnet,169 die unter anderem von der Strafrechtswissenschaft sowie Teilen der Kriminologie dauernd reproduziert wird, einem stetigen Wandel unterliegt und das Ergebnis unzähliger Interaktionen darstellt.170 In diesem Zusammenhang gelten Ansätzen im interpretativen Paradigma gerade auch die Wissenschaften als konstruierte symbolische Ordnungen, wobei die Rechtswissenschaft und die mittels der Justiz erfolgende Übersetzung ihrer Konzepte in die Praxis ein Paradebeispiel darstellt.171 Kaum eine andere Wissenschaft kann sich einer derart unmittelbaren Rezeption im praktischen Leben erfreuen.172 Diese – bisherigen Ansätzen außergesetzlicher Regeln übergeordnete – Ebene, auf der sich Sinn und Bedeutung als Wissen über die Welt konstituieren und wandeln, bringt es mit sich, nicht (alleine) die Instanzen als soziale Struktur oder den sozialen Status und die soziale Rolle der bei ihnen tätigen Subjekte als zentrale Faktoren für eine inhaltliche Leitung bei der Spielraumausfüllung anzusehen. Vielmehr stellt sich in dieser Perspektive die Frage, wie sich die gesellschaftlichen Wissensbestände konstituieren, die die Zuschreibung von Sinn und Bedeutung sowohl bei der Sachverhaltsfeststellung als auch bei der Normhandhabung prägen und so die Grundlage für das interpretative Handeln der Einzelnen bilden. Dies bedeutet aus kriminologischer Perspektive: Wer Kriminalität und ihre soziale Produktion untersuchen will, der muss sich dem gesellschaftlichen Wissen hierüber widmen.

III. Zusammenschau Die Rechtsanwendung durch die Instanzen im Kriminalisierungsprozess, das heißt Sachverhaltsfeststellung und Normhandhabung, sowie die Subsumtion als Punkt, an dem diese beiden Schritte zusammenkommen, ist wesentlich geprägt von ausfüllungsbedürftigen Entscheidungs-, Wertungs- und Interpretationsspielräumen. Dies gilt bereits, da die vollständige Rekonstruktion eines Sachverhalts ebenso wenig möglich ist wie die Bedeutung einer Norm eindeutig ist. Aber auch darüber hinaus bestehen Spielräume, denn die Beantwortung der Frage, ob ein festgestellter Geschehensablauf unter einen bestimmten Tatbestand gefasst werden kann, ist abhängig von dem Verständnis, das der Rechtsanwender von 168 Luhmann 1987, 360 ff. – Siehe zu dieser Perspektive auch Rottleuthner 2005, 581; Cremer-Schäfer 1993, 91. 169 Hess/Scheerer 1997, 88; vgl. auch Peters 2000, 257. 170 Vgl. Böhnisch 2001, 64 f. 171 Vgl. Reckwitz 1999, 20 f. 172 Zu diesem Verhältnis Radtke 2007.

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C. Rechtsanwendung im Prozess der Kriminalisierung

dem sprachlich abstrakt gefassten Tatbestand hat, und von Sinn und Bedeutung, die er dem Geschehensablauf zuschreibt. Die Grenzen der Spielräume werden damit nicht durch das Gesetz als festen Rahmen oder durch eine ontische Realität gezogen, sondern vielmehr durch das Verständnis des Rechtsanwenders und die im Rahmen dessen möglichen, vertretbaren bzw. im Gegensatz dazu ausgeschlossenen möglichen Interpretationen. Die Ausfüllung dieser Spielräume erfolgt im Wesentlichen anhand von verschiedenen Formen außergesetzlicher Regeln – von unbewussten Interpretationsmustern bis hin zu geschriebenen institutionalisierten Handlungsnormen. Diese basieren ihrerseits ganz erheblich auf allgemeinen und spezialisierten Wissensbeständen, die sich in der Rechtsanwendung in regelhafter Form niederschlagen und ggf. institutionalisieren. Neben einer konkreteren, sich schneller wandelnden Ebene des Wissens ist dabei eine übergesetzliche Ebene der Interpretation von zentraler Bedeutung, auf der sich basale Bestände gesellschaftlichen Wissens konstituieren und wandeln. Dieses Wissen über Sprache und Kriminalität bildet die Grundlage außergesetzlicher Regeln und damit der Ausfüllung der beschriebenen Spielräume, die auf diesem Wege geleitet und begrenzt wird, sodass die Spielräume keineswegs beliebig ausgefüllt werden können.173 In diesem Sinne versucht der hier verfolgte Ansatz mit einem erweiterten Verständnis von Spielräumen bei der Rechtsanwendung der Frage nach basalen gesellschaftlichen Wissensbeständen als grundlegendem Entstehungszusammenhang außergesetzlicher Regeln nachzugehen.174

173 174

72 ff.

Vgl. Bock 2000, 81. Zum Wechselverhältnis zwischen Recht und Gesellschaft allgemein Horn 2004,

D. Diskurs und Kriminalisierung In den folgenden vertiefenden Kapiteln sollen die in der vorangegangenen Grundlegung entwickelten Fragestellungen näher untersucht werden. Im Kern geht es dabei um die Beschreibung und Analyse der dargestellten übergeordneten Wissensebene als interpretativem Rahmen von Kriminalisierungsprozessen. Dabei wird eine der vorangegangenen Grundlegung entgegengesetzte Perspektive verfolgt: Ging der Blick dort von den konkreten Schritten der Rechtsanwendung über die außerrechtlichen Einflüsse bis hin zu deren Grundlagen, werden im Folgenden zunächst die interpretativen Grundlagen der Kriminalisierung näher beleuchtet. Im Anschluss daran wird deren konkrete Rolle im Kriminalisierungsprozess untersucht, um schließlich Aspekten von Macht in diesem Verhältnis nachzugehen.

I. Anschlussfähigkeit des Diskurskonzepts Die aufgeworfenen Fragestellungen lassen sich in der eingangs beschriebenen gesellschaftskritischen Perspektive der Kriminologie verorten, die ihrerseits den verschiedenen Ansätzen des interpretativen Paradigmas der Soziologie nahe steht. In diesem Zusammenhang ermöglicht der hier verfolgte Ansatz neue Antworten insbesondere auf die Fragen, wie die inhaltlichen Vorgaben für die Zuschreibung im Kriminalisierungsprozess zustande kommen und wie diese Vorgaben in konkreten Prozessen der Rechtsanwendung umgesetzt werden. Dem soll hier unter Heranziehung des Ansatzes einer sozialwissenschaftlich-wissenssoziologischen Diskursanalyse nachgegangen werden. 1. Kontingenz und Wissen Der zentrale Unterschied des hier verfolgten Ansatzes zu bisherigen Arbeiten in einer solchen interpretativen kriminologischen Perspektive1 besteht in der Antwort auf die Frage, anhand welcher Kriterien Zuschreibung im Kriminalisierungsprozess erfolgt. In der Vergangenheit stand hierbei die Ebene sozialer Interaktion zwischen Subjekten im Mittelpunkt. Dies betrifft etwa Analysen zur Rolle von detaillierten Anwendungsregeln, kognitiven Schemata, von Aushandlungsprozessen, Deutungsmustern, Narrationen, Mythen oder „frames“ in konkreten Prozessen der Interpretation von Abweichung bzw. das aktive, organi1

Siehe zum Konstruktivismus allgemein den Überblick von Schmidt 2000.

68

D. Diskurs und Kriminalisierung

sierte Handeln kollektiver Akteure bei der Konstruktion sozialer Wirklichkeit.2 Demgegenüber widmet sich der hiesige Ansatz einer übergeordneten Ebene des Wissens3, auf welcher der kulturelle und soziale Rahmen solcher Interaktion angesiedelt ist, und die in der Kriminologie bislang wenig beleuchtet wurde.4 Der sinnhafte Rahmen für die Interpretationen im Laufe des Kriminalisierungsprozesses besteht dieser Vorstellung zufolge aus überindividuellen, gesellschaftlichen Beständen basalen Wissens, das für die als Zuschreibung verstandene Kriminalisierung leitend wirkt. Wenn eine bestimmte Verhaltensweise als Abweichung interpretiert wird, so geschieht dies zwar auf der Basis eines beschränkten kulturellen Vorrats an Deutungsmustern oder Anwendungsregeln. Diese gründen aber ihrerseits auf einem Bestand gesellschaftlichen Wissens, durch den sie geprägt und begrenzt sind. Als Wissen sollen dabei in einem weiten Sinne Vorstellungen über die Welt gelten, die die Grundlage dafür bilden, wie der Einzelne mit seinen Augen und aus seiner lebensweltlichen Perspektive die Welt interpretiert. Das Subjekt wird insofern in einer ungewohnten Perspektive thematisiert: nicht als Fundament, sondern als Effekt von Wissen.5 Wissen in diesem Sinne kann in ganz verschiedenen Formen bestehen und lässt sich nicht klar von Werten, Meinungen und Einstellungen abgrenzen, sondern beinhaltet diese gar eher. Der Erforschung dieses Wissens, das sich als Form von Kultur verstehen lässt6, kommt aus kriminologischer Sicht erhebliche Bedeutung zu, weil es die Wahrnehmung und den Umgang einer Gesellschaft mit Abweichung bestimmt.7 Dementsprechend richtet sich das Erkenntnisinteresse eines solchen Ansatzes auf die Frage, wie sich diese gesellschaftlichen Wissensbestände als Grundlage und Bedingung sozialer Kontrolle konstituieren und im Laufe der Zeit wandeln und wie sich dieses Wissen in gesellschaftlichen Debatten und Interaktionsschemata wie auch individuellem Erleben und Handeln niederschlägt.8 Hierfür lässt sich an dieser Stelle die sozialwissenschaftliche Diskursanalyse als theoretisches und methodisches Konzept anschließen, die sich gerade den Fragen widmet, wie Wissen in Form von symbolischen Systemen und Ordnungen gesellschaftlich produziert und legitimiert wird und welche Wirkung ihm 2 Siehe zu solchen Ansätzen beispielsweise Gusfield 1981; 1996; Hilgartner/Bosk 1988; Reichertz 2002; Scheffer 2003; Schetsche 1996; 2000 sowie die Nachweise bei Garland 1992, 420; Stehr 2002. 3 Zum Begriff Keller 2006, 127. 4 Siehe indes zur allgemeinen Perspektive der Cultural Criminology Hayward/ Young 2004. 5 Mottier 1999, 142. 6 Gusfield 1981; Reckwitz 2003, 286 f. 7 Siehe zu diesem Bezugsrahmen bereits Abele/Stein-Hilbers 1978 sowie Cohen 1993, 219 zur Bedeutung professionellen Wissens für Sozialkontrolle. 8 Siehe zum Ganzen Groenemeyer 2003, 11 ff.

I. Anschlussfähigkeit des Diskurskonzepts

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zukommt. Die Verbindung dieses Forschungsprogramms, das an Arbeiten Michel Foucaults anschließt, mit Aspekten der wissenssoziologischen Perspektive eröffnet dabei die Möglichkeit, verschiedene Ebenen in einem Konzept zusammenzubringen.9 Während sich die Wissenssoziologie ausgehend von der durch Berger/Luckmann angestoßenen Neuorientierung eher auf die Mikroebene bzw. individuelles Wissen oder Jedermanns-Wissen konzentrierte, geht es der Diskursanalyse um basale gesellschaftliche Wissensbestände. Die bereits bei Berger/Luckmann vorgesehene Differenzierung zwischen kollektiven gesellschaftlichen Wissensbeständen einerseits und individuellen Wissensbeständen andererseits sowie deren permanente wechselseitige Konstituierung10 lässt sich auf diesem Wege kombinieren mit der von Foucault ins Auge gefassten grundlegenden Ebene basalen Wissens in Form von Diskursen,11 die zwar im interpretativen Paradigma angelegt, aber nicht ausgearbeitet war.12 Als Diskurse werden dabei systematische Wissensvorräte verstanden, die sich in einem Zusammenspiel von diskursiven und nicht-diskursiven Praktiken herausbilden.13 Es handelt sich mithin nicht um autonome, im Hintergrund wirkende Strukturen, die einseitig Handeln anleiten würden,14 sondern um spezifische Wissensbestände, die sich im Wechselverhältnis mit sozialen Praktiken und aufgrund verschiedener Bedingungen, Einflüsse und Kräfteverhältnisse herausbilden und verändern.15 Diese Wissensbestände konstituieren eine bestimmte Sichtweise auf die Welt als gesellschaftliche Realität, indem eine bestimmte Interpretation naturalisiert, als wahr qualifiziert und verankert wird. Demnach negiert die diskursanalytische Perspektive nicht die Existenz sozialer Wirklichkeit oder hält deren Deutung – wie der Relativismus – für beliebig, sondern geht davon aus, dass soziale Wirklichkeit nur eine mögliche Interpretation der Welt in Form von gesellschaftlich institutionalisiertem Wissen ist, die gerade vorherrscht.16 In diesem Sinn richtet sie ihren Blick auf die Produktion dieser Wirklichkeit und nicht auf diese selbst; die materielle Wirklichkeit ist in dieser Perspektive nicht von Interesse.17 9 Waldschmidt 2004, 150. – Zu einer wissenssoziologischen Perspektive auf soziale Probleme Schetsche 2000. 10 Insbesondere die hermeneutische Wissenssoziologie hat dabei die auch hier mit der Diskursanalyse verfolgte Verbindung von strukturorientierten und interaktionistischen, konstruktivistischen Ansätzen vorangetrieben, vgl. dazu die Beiträge in Hitzler/ Honer 1997; Hitzler/Reichertz/Schröer 1999. 11 Siehe Keller 2005, 45 f. 12 Keller 2006, 126. 13 Vgl. Jäger 2006, 85 ff. 14 So das von anderen, eher strukturalistisch geprägten diskursanalytischen Ansätzen verfolgte Konzept, das an frühere Arbeiten Michel Foucaults anschließt. 15 Siehe auch Valverde 2003, 28 f. 16 Althoff 2002, 47; Lemke 1999, 178 ff., 188 f. 17 Missverständlich daher Hess/Scheerer 1999, 54 f.

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D. Diskurs und Kriminalisierung

Diese Herangehensweise ermöglicht es, theoretisch konsequent – und in Abgrenzung zu ideologiekritischen, akteursorientierten Zuschreibungsansätzen – Kontingenz und Zuschreibung im Kriminalisierungsprozess zu thematisieren, ohne in eine ontologisierende Perspektive zu verfallen, die im Widerspruch zum Kontingenzmodell steht.18 In der Vergangenheit lag der Schwerpunkt der gesellschaftskritischen kriminologischen Perspektive angesichts der zentralen Bedeutung des Labeling-Ansatzes auf der Frage, wie sich die Zuschreibung im Rahmen des Kriminalisierungsprozesses vollzieht. Nur wenig nachgegangen wurde hingegen der übergeordneten Fragestellung, anhand welcher Kriterien und Inhalte diese Zuschreibung vorgenommen wird.19 An dieser Stelle griff der Labeling-Ansatz, wie bereits dargelegt, in der Regel auf andere gesellschaftskritische Theorien zurück und ging mehr oder weniger davon aus, dass sich die Zuschreibung nach den Interessen ökonomisch bzw. politisch mächtiger Schichten richte. Diese Interessen würden sich in den Aushandlungsprozessen der Kriminalisierung machtvoll durchsetzen und so von den Instanzen der Strafverfolgung exekutiert.20 Eine solche Verbindung greift indes zu kurz bzw. ist theoretisch inkonsequent; betont doch der Zuschreibungsaspekt gerade die Kontingenz von Kriminalität als sozialer Wirklichkeit, während die genannten angeschlossenen Theorien für sich in Anspruch nehmen zu wissen, warum Kriminalisierung in der jeweils herrschenden Form erfolgt und was die „tatsächliche“ Wahrheit dahinter sei, die der Konstruktivismus negiert.21 An dieser Stelle lässt sich das kriminologische Erkenntnisinteresse weiterentwickeln, wenn man den Zuschreibungsaspekt des Labeling-Ansatzes, wie hier beabsichtigt, mit neueren Ansätzen des interpretativen Paradigmas verbindet, die von Kontingenz in einem umfassenden Sinn ausgehen und gleichwohl in der Lage sind, die inhaltliche Produktion von sozialer Wirklichkeit näher zu beschreiben. Anstelle der mehr oder weniger intentionalen Definitionsmacht der Instanzen des Labeling-Ansatzes – der vor allem in konkreten Aushandlungsprozessen Bedeutung zukommt – soll daher hier der eingeführte Ansatz einer regelgeleiteten Rechtsanwendung verfolgt und mit dem Konzept der Diskursanalyse verbunden werden. Auf diesem Wege wird eine Verbindung von konkreter Kriminalisierung und den dahinter stehenden Strukturen möglich, ohne dass dies auf Kosten der theoretischen Konsequenz gehen würde.22 18

Dazu Kreissl 1996, 28 f. Siehe Peters 2000, 263 f. zu dieser Fragestellung als Bestandteil des kritischen Paradigmas. 20 Vgl. Sack 1968; 1972 sowie Smaus 1986, die versucht, interpretative und materialistische Ansätze trotz ihrer verschiedenen Grundannahmen zu integrieren. 21 Fischer 2001, 113; Groenemeyer 2003, 7; Hess 1986, 34; Kreissl 1996, 28 f., 32; Müller-Tuckfeld 1997, 462 ff.: Verbindung des Kontingenz- mit dem Disziplinierungsmodell. 22 Dazu Carrabine 2000, 326. 19

I. Anschlussfähigkeit des Diskurskonzepts

71

2. Erkenntnisinteresse Das Erkenntnisinteresse einer solchen diskursanalytischen Perspektive betrifft ganz allgemein gesprochen die Frage, wie gesellschaftliche Wissensordnungen über Kriminalität und Abweichung beschaffen sind, sich konstituieren, auswirken und wandeln. Dies ist zunächst auf einer grundlegenden Ebene von Interesse, auf der sich dieser Ansatz als Ergänzung der interpretativen, gesellschaftskritischen Theorie-Perspektive in der Kriminologie verstehen lässt.23 Die genannten Wissensordnungen als überindividuelles kulturelles Phänomen sind gemäß der eingangs eingeführten interpretativen Perspektive leitend für das Denken, Wahrnehmen und Handeln nicht nur der Instanzen der Strafverfolgung, sondern der Gesellschaft insgesamt.24 Die damit verbundene Feststellung der Kontingenz abweichenden Verhaltens wie auch seiner Bearbeitung macht nicht nur deutlich, dass es anders sein könnte. Diese Perspektive stellt sich außerdem den Grundfragen der Kriminologie, indem sie Antworten darauf anbietet, was Kriminalität ist, wie und warum bestimmte soziale Phänomene aufgrund von Wissen zu einer bestimmten Zeit als problematisch und bearbeitungsbedürftig definiert werden.25 Dem soll im folgenden Kapitel nachgegangen werden, in dem allgemein untersucht wird, inwiefern diskursives Wissen für die Konstituierung von Kriminalität bedeutsam ist, wie also die inhaltlichen Vorgaben für die Zuschreibung im Kriminalisierungsprozess auf einer diesem übergeordneten Ebene zustande kommen und sich verändern. Darüber hinaus ist die Perspektive der Diskursanalyse auch auf einer konkreten Ebene der Instanzenforschung für die Kriminologie bedeutsam, da sie der Frage nachgeht, wie das Verhältnis der gesellschaftlichen Wissensbestände bezüglich Kriminalität und den Praktiken der Subjekte aussieht.26 Dies betrifft zum einen die Frage, wie sich dieses Wissen bei den Subjekten auswirkt. Die Vorgaben in Form von Wissen begrenzen hier die prinzipiell unbegrenzten Möglichkeiten der Zuschreibung und setzen sich auf der Ebene der Rechtsanwendung in außergesetzliche Regeln im weiteren Sinne um. Zum anderen bedeutet diese Perspektive umgekehrt eine genauere Auseinandersetzung mit der Frage, welche gesellschaftliche Bedeutung und Wirkung dieser Zuschreibungspraxis zukommt. Denn diese beschreibt danach nicht gesellschaftliche Realität, sondern prägt sie, indem sich in ihr und durch sie eine bestimmte Sichtweise auf die Welt durchsetzt, die als sozial konstruiertes Wissen Wahrnehmung und Handeln der Subjekte bestimmt. Damit ist das Wechselverhältnis dieser Prozesse angesprochen: Ebenso wie die beschriebenen Formen von Wissen die Praxis der Rechtsanwendung beeinflussen, wirkt diese auch auf die gesellschaft23 24 25 26

Siehe dazu auch die Übersicht bei Arrigo/Milovanovic/Schehr 2005, 11 ff. Siehe oben B.I. Siehe Groenemeyer 2003, 7 ff. Vgl. Hayward/Young 2004, 260.

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D. Diskurs und Kriminalisierung

lichen Wissensbestände zurück, indem sie alltäglich, massenhaft und konkret hervorbringt, was unter Kriminalität zu verstehen ist und so dieses Wissen reproduziert, fortführt und wandelt. Insofern schlagen sich die regelgeleiteten Zuschreibungen des Kriminalisierungsprozesses wiederum in dem vergleichsweise stabilen gesellschaftlichen Wissen über Kriminalität nieder und gestalten dieses mit.27 Diese Wirkung betrifft nicht nur die handelnden Subjekte im Kriminalisierungsprozess mit ihrem speziellen Wissen, sondern in Form von Alltagswissen die Gesellschaft insgesamt.28 Jedermann besitzt Vorstellungen und Wissen darüber, was Kriminalität in ihren verschiedenen Formen ist und wie sie am besten bearbeitet werden soll. Gleichwohl sind die Wissensbestände bei den Instanzen der Strafverfolgung für den vorliegenden Zusammenhang von besonderem Interesse. Denn zum einen handelt es sich um spezielle und somit über das allgemeine Alltagswissen hinausgehende Formen von Wissen. Zum anderen spielen die Instanzen im Diskurs über Kriminalität angesichts ihrer besonderen Position eine exponierte Rolle. Im fünften Kapitel wird es daher speziell darum gehen, in welchem Verhältnis das gesellschaftliche Wissen einerseits und die Strafrechtsanwendung als Wirken der Instanzen andererseits zueinander stehen. Dieser Ansatz einer Wechselwirkung zwischen Praktiken der Rechtsanwendung in Form der Spielraumausfüllung anhand außergesetzlicher Regeln einerseits sowie gesellschaftlichen Wissensbeständen andererseits ist nicht alleine aus kriminologischer und diskursanalytischer, sondern auch aus rechtstheoretischer bzw. -methodischer Sicht von Interesse.29 Die Heranziehung des machtanalytischen Ansatzes der Gouvernementalität im sechsten Kapitel schließlich ermöglicht es, die mit diesem Verständnis von Wissen verbundenen Formen und Wirkungen von Macht in der Rechtsanwendung theoretisch zu erfassen. Dies betrifft zum einen Macht bei den Instanzen des Kriminalisierungsprozesses, denen angesichts der dargelegten Spielräume auch über das gesetzlich vorgesehene Maß hinaus erhebliche Entscheidungsbefugnisse darüber zukommen, ob eine bestimmte Verhaltensweise als Kriminalität einzustufen ist oder nicht. Die Frage, wer seine Vorstellung über Normalität und Abweichung gesellschaftlich durchsetzen kann, zeigt sich damit nicht alleine auf der Ebene der Normsetzung, sondern auch auf der Ebene der Normanwendung.30 Andererseits ist die Ausfüllung dieser Spielräume nicht beliebig, sind nicht alle Ergebnisse dabei möglich. Vielmehr erfolgt der evidente Wandel der Bewertung bestimmter Geschehensabläufe im Laufe der Zeit31 dem hier 27 28 29 30 31

Vgl. Garland 2004, 60 ff.: „kulturelle Muster“. Link 1997, 425 f. Siehe Kräupl 2006, 88; Schulz-Schaeffer 2004. Dazu auch Eisenberg 2005, § 23, Rn. 28 ff.; § 25, Rn. 18 f. Siehe Peters 1995, 21 f.

II. Diskurs als gesellschaftliches Wissen

73

verfolgten Ansatz zufolge aufgrund der längerfristigen Veränderung diesbezüglicher Wissensbestände. Angesichts dessen erscheinen die handelnden Subjekte der Kriminalisierungsinstanzen weniger als intentionale Akteure und Anwender einer Definitionsmacht, sondern sind selbst geprägt von einer übergeordneten Ebene des Wissens. Insgesamt betrachtet macht die Anwendung des Konzepts der Diskursanalyse in Verbindung mit dem machtanalytischen Ansatz der Gouvernementalität auf die im vorangegangenen Kapitel eingeführten Fragestellungen eine Verbindung von Handlungs- und Strukturaspekten möglich, indem Wissen als Struktur und soziale Praktiken miteinander verbunden werden.32 Das Ziel kriminologischer Forschung in dieser Perspektive besteht nicht darin, Kriminalität zu negieren oder klassisch ätiologisch zu untersuchen. Ebenso wenig geht es darum, die Falschheit der gegenwärtig geltenden Wahrheit offen zu legen. Vielmehr soll die Kontingenz und das Zustandekommen von Kriminalität als gesellschaftlichem Wissen im Feld von Erkenntnis, Praktiken und Macht untersucht werden.33 Denn dieses Wissen gilt in der hier verfolgten Perspektive als zentral für die Konstituierung und den Wandel von Kriminalität als sozialem Phänomen,34 indem es die diesbezüglichen Definitionen, Interpretationen und Praktiken sowohl der Betroffenen und Instanzen als auch der Gesellschaft insgesamt leitet.

II. Diskurs als gesellschaftliches Wissen In den folgenden Abschnitten soll zunächst allgemein dargestellt werden, welche Bedeutung überindividuelle Wissensbestände im Hinblick auf Abweichung und Kriminalisierung haben. Dementsprechend geht es weniger um die Erklärung individuellen Verhaltens, als um die gesellschaftlichen und sozialstrukturellen Aspekte und Auswirkungen solchen Wissens.35 Dabei sind sowohl Wissensbestände bezüglich Abweichung und Kriminalität selbst, als auch bezüglich deren Bearbeitung von Interesse. Zu diesem Zweck wird in einem ersten Schritt das hier verwendete diskursanalytische Konzept in seinen Unterschieden zu anderen Herangehensweisen herausgearbeitet, um anschließend die gesellschaftlichen Effekte von Diskursen sowie ihre Formierung zu untersuchen. 1. Begriff Die verschiedenen Ansätze der Diskursanalyse verstehen unter Diskursen recht unterschiedliche Dinge, wie auch die Verwendung des Begriffs in der All32 33 34 35

Zu einer solchen Perspektive allgemein Giddens 1992, 77 ff.; Mottier 1999, 140. Siehe auch Hess/Scheerer 1997, 89 ff. Fischer 2001, 110; Valverde 2003, 222. Vgl. Kunz 2004, 109 f.

74

D. Diskurs und Kriminalisierung

tagssprache deutlich werden lässt.36 In einem ersten Schritt können die Ansätze der Diskursanalyse zunächst von der Diskurstheorie nach Jürgen Habermas abgegrenzt werden.37 Diese versteht unter Diskurs das anzustrebende Ideal einer aufgeklärten intellektuellen Auseinandersetzung und hat in verschiedenen Formen auch Anwendung auf das Recht gefunden.38 Demgegenüber fasst die Diskursanalyse bzw. Diskursforschung Diskurse als gesellschaftliches Phänomen auf, das es zu untersuchen gilt. Innerhalb dieser Forschungsperspektive haben sich in verschiedenen Ländern und zeitlich versetzt unterschiedliche Richtungen mit divergierenden theoretischen und methodischen Herangehensweisen entwickelt,39 deren Differenzen sich bereits in dem jeweils verwendeten Diskursbegriff niederschlagen. Grob betrachtet lassen sich hier eine sprachwissenschaftlich orientierte40, eine historische, eine ideologiekritische sowie eine sozialwissenschaftlich-wissenssoziologische Richtung der Diskursanalyse unterscheiden.41 Während den ersten beiden Richtungen ein eher sprach- oder textorientierter Diskursbegriff zugrunde liegt, gehen die anderen in stärkerem Maße auf den Strukturalismus sowie insbesondere auf Arbeiten Michel Foucaults zurück,42 in denen dieser epochalen oder grundlegenden Wissensordnungen bzw. Erkenntnisstrukturen („Episteme“ oder „Dispositive“) in zurückliegenden Jahrhunderten nachgegangen ist, die danach als Strukturen der konkreten Erkenntnistätigkeit in verschiedenen Bereichen und deren sprachlichen Ergebnissen zugrunde liegen.43 Damit wendet er sich gegen die Vorstellung einer kontinuierlichen historischen Wissenschaftsentwicklung und, wenn man so will, einer dialektischen Erkenntnisentwicklung überhaupt.44 Mit „Überwachen und Strafen“45 hat er in diesem Zusammenhang auch eine Arbeit zum Thema Kriminalität und Strafverfolgung vorgelegt. Die auf diese Herangehensweise Bezug nehmenden Ansätze der Diskursanalyse und insbesondere die sozialwissenschaftlich-wissenssoziologische Richtung 36 Siehe zum Diskursbegriff bereits oben B.I.3. sowie die Analyse von Sawyer 2003. 37 Dazu etwa Link 1999, 148 ff.; Paroussis 1995, 22 ff.; Renn 2005, 104 ff. – Zur wissenschaftlichen Auseinandersetzung um Foucaults Werk sowie Möglichkeiten der Rezeption Keller 2005, 140 ff.; Knoblauch 2006, 213 f. 38 Siehe beispielsweise Alexy 1995; Engländer 2002; Krawietz/Preyer 2004. 39 Angermüller 2001, 7 ff.; Fein/Florea 2007. 40 Hierzu aus kriminologischer Sicht Hoffmann 1997. 41 Vgl. Keller 2004, 20 ff. 42 Dies gilt insofern, als sich Foucaults Arbeiten verschiedene Konzepte entnehmen lassen, die im Rahmen der daraus entstehenden Forschungsrichtung der Diskursanalyse weiterentwickelt wurden. Foucault selbst hat in diesem Sinne sein Werk als Werkzeugkasten, als „tool-box“ verstanden. 43 Siehe Paroussis 1995, 43 f., 47 f.; zu dem dort verwendeten Diskursbegriff sowie den verschiedenen Phasen im Werk Foucaults van Dyk 2006, 62 ff.; Keller 2005, 120 ff. 44 Siehe zur Einordnung Teubner 1989, 734 f. 45 Foucault 1994.

II. Diskurs als gesellschaftliches Wissen

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haben dementsprechend ein weitergehendes Diskursverständnis. Für sie bildet nicht die gesellschaftliche Kommunikation oder eine inhaltliche bzw. semantische Analyse von Texten das Zentrum der Betrachtungen. Sie widmen sich stattdessen den dahinter stehenden, regelhaften Strukturen in Form von abstrakteren institutionalisierten Wissensbeständen, die Kommunikation, Sinn und Bedeutung konstituieren, bestimmen, strukturieren und ordnen.46 Demnach stehen hier im Unterschied zu text- bzw. sprachorientierten Ansätzen weniger einzelne Kommunikationsakte und -formen sowie die Rolle der dabei beteiligten Subjekte und ihrer Lebenswelten im Vordergrund. Stattdessen geht es um die Hintergrundstruktur solcher sozialen Vorgänge und damit um den überindividuellen Strom von Wissen im Laufe der Zeit zu einem bestimmten Thema sowie um die Regeln, die dieses Wissen strukturieren. Als Diskurs werden von den ideologiekritischen und sozialwissenschaftlichen Ansätzen der Diskursanalyse mithin kollektive gesellschaftliche Wissensbestände verstanden, deren Entstehung durch abstraktere Formen von Wissen und Formationsregeln als Tiefenstruktur geleitet wird. Diese bilden nicht nur die notwendige Voraussetzung für Kommunikation, indem sie für ein bestimmtes, von den Kommunikationspartnern geteiltes Verständnis der Welt sorgen und so ein gegenseitiges Verständnis herstellen, ohne das Kommunikation nicht funktionieren könnte. Vielmehr sorgt diese Hintergrund- oder Tiefenstruktur interaktiven Handelns auch selbst für die Produktion von Wissen über die Welt, indem sie den überindividuellen Rahmen möglicher Kommunikation beschreibt.47 Damit lässt sich dieser Begriff des Diskurses auch von der alltagssprachlichen Verwendung des Wortes abgrenzen, wo er vorrangig als Synonym für Diskussion bzw. sprachliche Auseinandersetzung fungiert, die im Folgenden als Debatte oder Diskussion bezeichnet werden. Dabei handelt es sich um nicht ganz kurzfristige kommunikative Akte zwischen verschiedenen Akteuren, in denen diese versuchen, ihre jeweilige Position zu einem bestimmten Thema durchzusetzen. Demgegenüber betrifft der hier eingeführte Diskursbegriff eine übergeordnete Ebene, die nicht unmittelbar dem Einfluss der Subjekte ausgesetzt, sondern diesen strukturell vorgeordnet und damit ihrer Kontrolle entzogen ist. Denn es handelt sich hierbei um das historische Ergebnis unzähliger Deutungen und Handlungen, das von einzelnen Subjekten oder Gruppen nicht intentional zu beeinflussen ist.48 Vielmehr beschränkt es selbst die Möglichkeitsräume für jeden Einzelnen, sodass Debatten als Effekt des Diskurses verstanden werden können. Vergleichbares gilt auch für die Rolle und Bedeutung der Medien, die als Transporteur und Transmissionsriemen diskursiven Wissens fungieren.49 46

Müller-Tuckfeld 1997, 483. Bührmann/Schneider 2007, Abs. 9 f. 48 Keller 2006, 131, 136. 49 Dazu Mathiesen 1997, 219 ff.; McMullan/McClung 2006, 69 ff.; Peelo/Soothill 2000; siehe auch Böhnisch 2001, 67: „Das antisoziale Verhalten wird nicht nur als 47

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D. Diskurs und Kriminalisierung

Darüber hinaus kommt ihnen jedoch keine exklusive Position in dem Sinne zu, dass sie einen unmittelbaren Einfluss auf die Produktion oder Lenkung dieses Wissens hätten50, wenngleich sie es auch in einer bestimmten Art und Weise auswählen und präsentieren.51 In diesem Zusammenhang ist von Interesse, dass sich auch der Blickwinkel der Medienwirkungsforschung verschoben hat. Diese geht heute nicht mehr von einer linearen Wirkung hin zu den Konsumenten aus, sondern sieht die Medien zunehmend als nur einen Faktor im komplexen gesellschaftlichen Kommunikationsprozess an. Danach haben Medien einen eher geringen Einfluss darauf, was und wie die Menschen denken; aber sie bestimmen in einem gewissen Maße, worüber Menschen nachdenken, kommunizieren, was sie aufgreifen und kognitiv verarbeiten, indem sie es mit anderen Wissensbeständen verbinden (agenda-setting).52 Der bis hierhin grob skizzierte Begriff des Diskurses als gesellschaftlicher Wissensordnung scheint mir aus verschiedenen Gründen für die von mir verfolgten Fragestellungen besonders geeignet. Dies gilt zunächst und im Besonderen, da er nicht alleine auf Text und Sprache oder historische Fragestellungen fokussiert, sondern auch Praktiken in einer interpretativen Perspektive einbezieht. Mit seiner überindividuellen Herangehensweise ermöglicht er darüber hinaus, sich den strukturellen Grundlagen der Kriminalisierung in Form von Wissen zu nähern53 und so auf dieser Ebene das Wechselverhältnis zwischen Gesellschaft und Kriminalisierung zu untersuchen. Diese grundlegende Herangehensweise lässt sich zum einen von der im kriminologischen Bereich bislang dominierenden Perspektive der Untersuchung der Auswirkungen von Medienberichten oder öffentlicher Meinung auf die Kriminalisierung abgrenzen. Zum anderen unterscheidet sie sich auch grundlegend von solchen Ansätzen, die Diskurse als Auseinandersetzung im konkreten Gerichtsverfahren verstehen und untersuchen.54

unterscheidbar und deshalb steuerbar, sondern auch als lebbar dargestellt; gleichzeitig wird es aber auch durch die Art der medialen Zur-Schau-Stellung angeprangert. (. . .) Der Diskurs über Delinquenz und Normalität fungiert so als moderner Pranger, in dessen Bannkreis das Verbotene vor allen sichtbar wird und miterlebt, gleichzeitig aber auch abgespalten und abgeurteilt werden kann.“ (Hervorhebungen im Original) 50 Siehe näher zur Wirkung des Diskurses als Wissensrahmen und zu dessen Wandel unten 3. und III.3. 51 Dazu Baumann 2000; Brüchert 2005; Eisenberg 2005, § 50, Rn. 25 f.; Lamnek 1990. 52 Siehe den Überblick bei Bussmann 1996, 75 ff. sowie auch Schetsche 1996, 21 ff.; Stehr 1997a, 369 ff.; 2002. 53 Allgemein zur Rolle von Sinn und Bedeutung in einer solchen theoretischen Perspektive sowie in Abgrenzung zu zweckorientierten und normativistischen Handlungsmodellen Reckwitz 1999, 25 f. 54 Siehe etwa Scheffer 2003; 2005; Seibert 2004 sowie auch Hannken-Illjes 2005.

II. Diskurs als gesellschaftliches Wissen

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Als auf diesem Diskursbegriff aufbauende Herangehensweise ist die sozialwissenschaftlich orientierte Richtung der Diskursanalyse hinsichtlich der hier verfolgten Zwecke am besten geeignet. Dies ist vor allem darin begründet, dass sie sich gut an die im vorangegangenen Kapitel dargestellten und zugrunde gelegten bisherigen Annahmen und Ergebnisse kriminologischer Forschung anschließen lässt.55 Dabei berücksichtigt sie auf der theoretischen Ebene konsequent das Kontingenzmodell und vermeidet damit Brüche bisheriger Ansätze, indem sie Diskurse nicht als intentionale Herrschaft, sondern als Tiefenstruktur begreift, die aufgrund vielfältiger Bedingungen und Wechselverhältnisse mit sozialen Praktiken entsteht und sich wandelt. Innerhalb dieser Richtung werden hier schwerpunktmäßig Arbeiten herangezogen, die sich in Anlehnung an das Spätwerk Foucaults entwickelt haben und daher beispielsweise nicht-diskursive Praktiken einbeziehen,56 sowie solche, die den Ansatz der Diskursanalyse im interpretativen Paradigma verorten und wissenssoziologisch konzipieren. Danach wird kollektives gesellschaftliches Wissen als grundlegend für die gesellschaftliche Konstruktion von Wirklichkeit angesehen57 und diese interpretativhermeneutische Herangehensweise mit der eher strukturalistisch orientierten Analyse von Diskursen kombiniert.58 Vor diesem Hintergrund und zusammenfassend beschrieben werden Diskurse hier als strukturierte wie auch strukturierende Bestände basalen gesellschaftlichen Wissens von unterschiedlichem Abstraktionsgrad verstanden; strukturiert, da sie durch Praktiken hervorgebracht werden, die auf abstrakteren, regelhaften Wissensbeständen basieren, welche sich daher als diskursive Tiefenstruktur verstehen lassen; strukturierend, da sie ihrerseits die Produktion konkreterer Wissensbestände besorgen, indem sie entsprechende Praktiken der Subjekte anleiten. Somit stellen Diskurse dem hier verfolgten Verständnis nach keine einseitig wirkmächtige, vom Handeln der Subjekte unabhängige Struktur dar, sondern stehen mit diesem vielmehr in einem Austausch.59 Dabei werden sie zwar durch die Praktiken der Subjekte hervorgebracht. Gleichwohl folgt diese Hervorbringung einer regelhaften Tiefenstruktur, die diese Wissensproduktion überindividuell reguliert.60 Demnach sind Wahrnehmung und Handeln durch sozial konstruiertes Wissen bestimmt, das in Diskursen konstituiert, etabliert und transfor55

Dazu bereits oben D.I. Siehe zur Entwicklung des Werkes von Foucault etwa Lemke 1997, 38 ff. 57 Zu dieser neueren wissenssoziologischen Perspektive Berger/Luckmann 1996, 16. 58 Siehe Waldschmidt 2004, 149 ff. sowie den Überblick bei Diaz-Bone 2003, Abs. 1 ff. 59 Ich beziehe mich damit auf einen Diskursbegriff, der auf Foucaults Spätwerk zurückgeht (siehe zur Entwicklung Keller 2005, 134 ff.) und sich erst langsam in der deutschen Rezeption durchsetzt, aber für die hier verfolgten Fragestellungen besonders geeignet ist. 60 Siehe Bublitz 1999, 23; Diaz-Bone 2004a, 52. 56

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D. Diskurs und Kriminalisierung

miert wird. So beruht etwa auch das Wissen über Kriminalität nicht auf eigener Erfahrung, sondern besteht in dem gesellschaftlichen Bild, das in einer Gesellschaft zu einem bestimmten Zeitpunkt als Wirklichkeit von Kriminalität gilt und als handhabbare Entität, als Wahrheit konstituiert wird.61 Dies geschieht nicht alleine durch Schreiben, Sprechen und Denken auf der Grundlage von Wissen, sondern vollzieht sich in einem Zusammenspiel diskursiver mit nicht-diskursiven Praktiken in Form von Handlungen, Sichtbarkeiten und Vergegenständlichungen, die miteinander verwoben und verschränkt sind.62 Bei solchen diskursiven Wissensbeständen handelt es sich um basales, das heißt grundlegendes, gesamtgesellschaftlich gültiges Wissen. Es geht um Vorstellungen von der Welt, die in einem solchen Maße etabliert und institutionalisiert sind, dass sie eine Wahrheitswirkung entfalten, und nicht um konkreteres, subjektives Erfahrungswissen individueller Akteure oder deren alltägliche Deutungskonflikte;63 es geht weniger um die Akte der Zuschreibung durch die Subjekte als vielmehr um die prägenden Bedingungen hierfür.64 Dies meint nicht notwendig Episteme als epochale Erkenntnisstrukturen, wie Foucault sie zunächst untersucht hat, oder vergleichbare, ganz grundlegende gesellschaftliche Vorstellungen.65 Jedoch handelt es sich um implizites Wissen, das über längere Zeit entstanden ist, sich verfestigt hat und objektiviert wurde, das eine gewisse Abstraktion aufweist und in seinem Bereich als grundlegend gelten kann.66 Im Gegensatz zu Debatten – in deren Rahmen verschiedene Interpretationen in Auseinandersetzung treten –, Alltagstheorien und Vorverständnissen, soweit sie von subjektiven Erfahrungen geprägt sind, und anderen derart konkreten Ebenen geht es um Wissensbestände, die als objektiv richtig und wahr gelten.67 Derartige Formen von Wissen brauchen mitunter lange Zeit, um sich durchzusetzen und allgemeingültig zu werden. Dafür sind diese Ordnungen aber auch lange Zeit stabil. Ihre Grundsätze können Jahrhunderte bestehen bleiben, wenngleich sich einzelne Aussagen oder Stränge darin verändern. Dies lässt sich auch für den Bereich sozialer Kontrolle beobachten, der in den vergangenen Jahrhunderten zwar (auch grundlegende) Änderungen erfahren hat, aber in wesentlichen Grundstrukturen der gleiche geblieben ist: Die Dichotomie von Abweichung und Normalität, die Notwendigkeit der Sanktionierung bzw. sozialen Reaktion auf Abweichung und der Nutzen der Strafe sind als zentrale, selbstverständliche Topoi erhalten geblieben.

61 62 63 64 65 66 67

Hess 1986, 32 ff. Siehe näher Wrana/Langer 2007, Abs. 8 ff. Zur Abgrenzung, auch zum Labeling Approach, Keller 2006, 123 f. So Mottier 1999, 144; siehe auch Schneider/Hirseland 2005, 255 ff. Siehe Diaz-Bone 2004a, 63. Keller 2005, 41, 181. Siehe Foucault 2003, 13 ff.

II. Diskurs als gesellschaftliches Wissen

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Indem solche diskursiven Wissensbestände die diskursiven und nicht-diskursiven Praktiken der Subjekte anleiten, bringen sie gesellschaftliche Wirklichkeit hervor und formieren das Bewusstsein der Subjekte.68 Dies gilt nicht alleine, weil eine materiell existente Realität für das einzelne Subjekt nur begrenzt unmittelbar erfahrbar ist bzw. nicht jenseits von bereits vorgenommenen Bedeutungszuschreibungen existiert. Vielmehr handelt es sich bei dem, was wir als Wirklichkeit verstehen, um eine Interpretation aufgrund von Deutungs- und Handlungswissen über die Welt, das sich in Form von Diskursen durchsetzt.69 In diesem Sinne überlagert gesellschaftliches Wissen die materielle Realität nicht nur oder ist für soziales Denken und Handeln bedeutsamer als die eigene Erfahrung einer ontischen Wirklichkeit.70 Vielmehr sind es gerade die auf diskursivem Wissen basierenden Praktiken der Subjekte selbst, die Wirklichkeit produzieren. Diese anti-essentialistische Erkenntnisauffassung bedeutet nicht, die Existenz einer materiell existenten Realität zu negieren oder einen „freien Wettbewerb“ möglicher Interpretationen anzunehmen.71 Stattdessen kehrt die Diskursanalyse die dominierende Perspektive auf die Produktion von Wirklichkeit – der zufolge aufgeklärte Subjekte planvoll materielle Realität erforschen und produzieren und dabei immer zunehmende Bestände eines objektiven Wissens ergründen – um: Danach ist es vielmehr das basale, überindividuelle Wissen, das das Denken und Handeln der Subjekte anleitet und dafür sorgt, dass gerade bestimmte Themen und Dinge in einer bestimmten Weise thematisiert und bearbeitet werden sowie die Maßstäbe festlegt, nach denen Gültigkeit und Wahrheit beurteilt werden. Indem dieses Wissen auf diesem Weg die Praktiken der Subjekte leitet, produziert es einerseits Wirklichkeit, denn es bestimmt, über was geredet und was materiell hergestellt wird. Andererseits bringt es aber auch die Subjekte selbst hervor, deren Bewusstsein sich auf der Grundlage dieses Wissens konstituiert72 – eines Wissens über die Welt, das sich als Form von Wahrheit durchgesetzt und etabliert hat und so zu einem bestimmten Zeitpunkt gültig ist, als wahr gilt; eines Wissen, das auch anders sein könnte und sich verändert.73 2. Struktur Diskurse als gesellschaftliche Wissensbestände bestehen aus einer Menge einzelner Aussagen, die vom grammatikalischen Satz, der logischen Proposition, 68

Bublitz 1999, 23; Jäger 2006, 86. Keller 2006, 120, 129 f. 70 Dies gilt umso mehr, je stärker es nicht um einfache, sinnlich erfahrbare Dinge des Alltags, sondern um komplexe soziale Fragen und Prozesse geht, wie sie Kriminalität und ihre Bearbeitung darstellen, siehe Martschukat 2004, 76 ff. 71 Kritisch Kunz 2004, 52 ff. 72 Schneider/Hirseland 2005, 256 f. 73 Siehe Lemke 1999, 181 ff.; Müller-Tuckfeld 1997, 481 f., 486 f. 69

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D. Diskurs und Kriminalisierung

vom analytischen Sprechakt wie auch der Formulierung abzugrenzen sind.74 Sie stellen im Unterschied zu bloßen Äußerungen sinnhafte Entäußerungen dar, denen eine besondere Wirkung zukommt und die meist gehäuft und regelmäßig auftreten.75 Im Kontext der Kriminalisierung könnte dies etwa die Feststellung sein, dass ein bestimmtes Verhalten oder Merkmal ein Problem darstellt, dass es sich dabei um Kriminalität handelt oder gar eine besonders schwere Straftat auszeichnet. Derartige Aussagen eines Diskurses erscheinen zwar verstreut an unterschiedlichen Stellen und in verschiedenen Diskurssträngen. Sie werden aber nach dem gleichen regelhaften Muster, der gleichen Tiefenstruktur aus abstraktem Wissen gebildet, weshalb sie in besonderer Weise miteinander verknüpft sind.76 Es ist daher gerade diese Tiefenstruktur, die den Diskurs hervorbringt, ihn formiert77 und somit als Regelsystem der Wissens- und Bedeutungsproduktion den wesentlichen Gegenstand diskursanalytischer Fragestellungen bildet. Die Bedeutung von Aussagen für die Diskursanalyse ergibt sich entsprechend nicht vorrangig aus dem, was gesagt wird, sondern eher daraus, wie es gesagt wird und in welcher Beziehung eine Aussage im Verhältnis zu anderen Aussagen steht.78 Diskursive Aussagen werden nicht alleine in Form von textlichen oder sprachlichen Akten umgesetzt und hervorgebracht, sondern können sich ebenso in Bildern, Handlungen, Gepflogenheiten und vergleichbaren nicht-diskursiven Praktiken niederschlagen.79 Dabei handelt es sich um Handlungsweisen, die ebenfalls aus kollektiven Wissensbeständen als diskursiver Tiefenstruktur resultieren. Diese stellt einerseits für bestimmte Situationen jeweils sozial konventionalisierte, mitunter nur implizit gewusste Formen angemessenen Verhaltens bereit, die sich auf diesem Wege institutionalisieren.80 Andererseits leitet sie aber auch in einzelnen Situationen Handeln an, indem sie die Wahrnehmung prägt und bestimmte Handlungsoptionen in Form von Wissen bereitstellt. Nicht-diskursive Praktiken verkörpern mithin diskursives Wissen, basieren auf ihm und reproduzieren es zugleich.81 Vergleichbares kann für Materialisierungen des Diskurses gelten, das heißt für materielle Erscheinungen, in denen sich bestimmte Wissensbestände oder Aussagen eines Diskurses niederschlagen und somit auf materielle Art und Weise als Realität institutionalisieren.82 Als solche 74 75

Siehe hierzu Paroussis 1995, 46. Siehe Diaz-Bone 2004a, 48 f.; Martschukat 2004, 71 sowie auch Lemke 1997,

46 f. 76 77 78 79 80 81 82

Bublitz 1999, 22 f.; Keller 2005, 201; Link 1999, 152. Krasmann 1995, 241. Siehe Althoff 2002, 48 ff.; Foucault 1988, 58 ff. Siehe Bublitz 1999, 24 f.; Klemm/Glasze 2005, Abs. 19. Siehe Althoff 2002, 51 f. Keller 2004, 44 f., 50; 2005, 219 ff. Krasmann 1995, 256 f.

II. Diskurs als gesellschaftliches Wissen

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gelten beispielsweise bestimmte Formen der architektonischen Gestaltung, aber auch die Etablierung von Institutionen u. ä. Solche nicht-diskursiven Praktiken und Materialisierungen lassen sich mit dem hier verwendeten weiten Diskursbegriff nicht nur als Effekt, sondern auch als Bestandteil des Diskurses fassen. Denn sie transportieren selbst Aussagen, wenn auch in einem anderen Aggregatzustand, dem eine eigenständige Bedeutung zukommt.83 Von außen besehen lässt sich der gesellschaftliche Gesamtdiskurs – verstanden als Gesamtheit diskursiver Erscheinungen in einer Gesellschaft zu einem bestimmten Zeitpunkt – differenzieren in verschiedene Diskursformen, -stränge und -ebenen, weshalb auch von Diskursen in der Mehrzahl gesprochen wird.84 Diese einzelnen Diskursteile wiederum bestehen aus Formationen von einzelnen Aussagen, die sich wie beschrieben in diskursiven und nicht-diskursiven Praktiken niederschlagen.85 Dabei kann zunächst zwischen verschiedenen Diskursformen unterschieden werden. Das gesellschaftliche Wissen ist sehr komplex, seine Bestände sind nicht konsistent und es gibt soziale Strukturen seiner Verteilung. Jeder Einzelne verfügt nur über einen bestimmten Teil des Wissens und lebt insofern in einer einmaligen Welt.86 Vor diesem Hintergrund lässt sich differenzieren in kollektive gesellschaftliche Diskurse einerseits und Wissensbestände andererseits, die nicht so allgemein und daher gruppenspezifisch geprägt sind87. Erstere transportieren und prägen allgemeine, basale gesellschaftliche Wissensbestände, die sozusagen das Alltagswissen der Allgemeinheit darstellen und von allen geteilt werden. Diese Wissensvorräte werden mit der Sozialisation erworben und weiter vermittelt und bilden die Grundlage für das Handeln und die Interaktion von Individuen in der Gesellschaft.88 Demgegenüber ist das Wissen der Spezialdiskurse den Experten auf dem jeweiligen Gebiet vorbehalten,89 wenngleich sich diese verschiedenen Diskurse in einem permanenten Austausch befinden.90 Nach Link und anderen lässt sich die Struktur des Diskurses vor diesem Hintergrund als gesellschaftlicher Gesamtdiskurs beschreiben, der aus (wissenschaftlichen) Spezialdiskursen und einem (allgemeinverständlichen, öffentlichen) Interdiskurs besteht. Während die Spezialdiskurse spezielles, ausdif83

Martschukat 2004, 75. Eine solch schematische Sichtweise kann indes nur der Verdeutlichung für die analytische Betrachtung dienen, denn die verschiedenen Stränge, Ebenen und Formen lassen sich nicht klar abgrenzen, sie sind miteinander verschränkt und verbinden sich gegenseitig. 85 Vgl. Jäger 1999, 158 ff. 86 Keller 2006, 127. 87 Siehe Eisenberg 2005, § 50, Rn. 14: Einfluss zum Beispiel von Alter, Geschlecht und sozioökonomischem Status. 88 Zu diesem Prozess der Internalisierung von Wissen Berger/Luckmann 1996, 140 ff. 89 Siehe auch Berger/Luckmann 1996, 43 ff. 90 Hierzu aus linguistischer Sicht Fluck 1980, 160 ff. 84

82

D. Diskurs und Kriminalisierung Soziale Wirklichkeit in Form sich durchsetzender Interpretationen und Materialisierungen Hervorbringung durch Praktiken

Rückwirkung auf den Diskurs

Gesamtdiskurs als Gesamtheit der diversen Teildiskurse und des Interdiskurses

Kollektiver gesellschaftlicher Diskurs („Interdiskurs“)

Juristischer (Spezial-)Diskurs weitere Diskurse, die ggf. mit sonstigen (Teil)Diskursen verschränkt sind

Sozialwissenschaftlicher (Spezial)Diskurs

Abbildung 1: Die Struktur der Diskurse als gesellschaftliche Wissensbestände, die soziale Wirklichkeit konstituieren

ferenziertes Wissen zu einem bestimmten Themenfeld oder gemäß einer bestimmten Sichtweise oder Methodik formen und transportieren, vereinigt der Interdiskurs Bestandteile dieser Spezialdiskurse als Wissen der Allgemeinheit aus den Spezialdiskursen und integriert diese somit91. Als Diskursstränge bzw. Teildiskurse werden demgegenüber jeweils ein bestimmtes Thema betreffende Teile des gesellschaftlichen Gesamtdiskurses verstanden. Diese stellen also eine typische, wiederkehrende Verkettung von Aussagen zu einem Gegenstand in einer bestimmten Zeit dar.92 Die bestehenden 91 Siehe auch Diaz-Bone 2006, Abs. 16; Klemm/Glasze 2005, Abs. 19; Link 1999, 154 f. 92 Jäger 2006, 98 f.; Link 1999, 153 f.

II. Diskurs als gesellschaftliches Wissen

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Diskursstränge sind miteinander verschränkt und verbunden, überschneiden und beeinflussen sich gegenseitig. Verschiedene Diskursebenen lassen sich schließlich nach ihrem inhaltlichen Abstraktionsgrad sowie der Intensität ihrer Etablierung und Institutionalisierung unterscheiden.93 Während eine bestimmte Ebene von Aussagen von ganz grundlegender, selbstverständlicher Bedeutung für ein Themenfeld ist, abstrakteres Wissen betrifft und eine weitergehende Wahrheitswirkung entfaltet, sind andere mehr in Bewegung und weniger fest etabliert.94 Dementsprechend reichen solche Ebenen des Diskurses von basalen gesellschaftlichen Vorstellungen, wie etwa dem jeweils gültigen Menschenbild, der herrschenden Vorstellung von Möglichkeiten der Erkenntnisgewinnung, den bestehenden, alle Erkenntnis betreffenden Ordnungs- und Regelstrukturen, über grundlegendes Wissen in bestimmten Themenbereichen bis hin zu konkretem, sich schneller wandelndem Wissen über die Welt.95 Diskursebenen lassen sich vor diesem Hintergrund als regelhafte Tiefenstruktur der ihnen jeweils untergeordneten Diskursebenen verstehen. Jede Diskursebene bildet damit die Grundlage der nächst konkreteren Ebene, denn sie stellt das grundlegende Wissen bereit, das auf den folgenden konkreteren Ebenen die Hervorbringung von Wissen strukturiert und leitet. Die innerhalb eines Diskursstranges transportierten Bedeutungen und Wissensbestände verteilen sich nicht lose, sondern erscheinen in strukturierten Formen und geordnet miteinander verbunden in den diskursiven und nichtdiskursiven Praktiken.96 So werden beispielsweise nach Link ganze Wissensbestände in Form von Kollektivsymbolen transportiert, die allgemein bekannt sind und genutzt werden, um Wirklichkeit zu deuten. Dieser abstrakte, dynamische und langfristige Vorrat an Bildlichkeiten verknüpft Wissen und stellt Zusammenhänge her, aktiviert es implizit und verfestigt es auf diese Weise.97 Andere Autoren analysieren ähnliche Praktiken und Mechanismen im Diskurs mit vergleichbaren Wirkungen. Dazu gehören etwa so genannte story lines, plots oder kulturelle Stereotypen, die Aussagen verbinden und so Sinn bilden, ebenso wie diskursspezifische Interpretationsrepertoires oder Deutungsmuster als grundlegende Regulationsmuster98. Während letztere Geschehensabläufe der Wahrnehmung und Interpretation vor dem Hintergrund diskursiven Wissens zugänglich machen, verknüpfen plots und story lines das in einem spezifischen Diskurs bestehende Repertoire an Aussagen zu bestimmten Erzählungen und Abfolgen, 93

Anders Jäger 1999, 167, der unter Ebenen eher verschiedene Diskursorte ver-

steht. 94 95 96 97 98

Siehe auch Ziem 2006, 3 f., der solche Ebenen als Frames versteht. Vgl. auch Keller 2005, 224 f., der indes von Formation spricht. Keller 2006, 133 ff. Vgl. Jäger 1999, 133 f. m.w. N. Siehe etwa Höffling/Plaß/Schetsche 2002.

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D. Diskurs und Kriminalisierung

die an ganz verschiedenen Orten auftauchen. Als solche kann im hier verfolgten Zusammenhang beispielsweise die Aussagenkette über so genannte „jugendliche Intensivtäter“ angesehen werden, die als Topos in der öffentlichen Diskussion Bedeutung erlangt hat. Allein die Nennung des Begriffs mobilisiert heute einen Wissensbestand, der die Konstruktion und Problematisierung des Phänomens wie auch seine Ursachen und notwendige Bearbeitungsstrategien umfasst. Insgesamt besehen beinhaltet das diskursive Interpretationsrepertoire die verschiedenen Aussagen eines Diskurses, die über story lines miteinander verbunden und verbreitet werden, sodass sich dieses Wissen auf der Ebene konkreter Wahrnehmung und individuellen Handelns in entsprechenden Deutungsmustern niederschlägt.99 Mit Hilfe dieser eingeführten Elemente einer Struktur und Ordnung des Diskurses lässt sich das Diskursfeld bezüglich des Feldes Kriminalität und ihrer Bearbeitung zunächst differenzieren in einen juristischen, einen kriminologischen, einen kriminalpolitischen, einen psychologischen und weitere Spezialdiskurse. Aus diesen finden jeweils bestimmte Elemente des Wissens vor allem über Kriminalität aber auch über das Recht Eingang in den Interdiskurs, der auf der Ebene der Allgemeinheit stattfindet und kollektives gesellschaftliches Wissen bündelt.100 Innerhalb dieser Diskurse kann man jeweils verschiedene Diskursstränge unterscheiden, beispielsweise über bestimmte Delikts- oder Sanktionsformen. Parallel dazu finden sich hier schließlich auch verschiedene Diskursebenen. So sind etwa die Formierung von Kriminalität als Gegenstand und die abstrakte Notwendigkeit und Wirksamkeit der Strafe von ganz grundlegender Bedeutung und werden als Selbstverständlichkeit angesehen.101 Diese Aussagen sind daher in einem viel intensiveren Maße institutionalisiert102 als die diskursive Thematisierung und Bearbeitung bestimmter Formen von Abweichung und Kriminalität. Gleichwohl sind auch diese Wissensbestände regelmäßig stark etabliert und wandeln sich nur langsam im Laufe der Zeit103 – unabhängig davon, dass es hierbei immer wieder Phasen des Umbruchs gibt, in denen sich Teildiskurse etwa über eine bestimmte neue Deliktsform herausbilden oder in Bewegung geraten. Schließlich lassen sich diese einzelnen Diskursteile wiederum aufteilen in einzelne Aussagen über Kriminalität, die durch diskursive und nicht-diskursive Praktiken sowie durch Materialisierungen geprägt und transportiert werden.

99

Keller 2006, 133 ff. Vgl. Link 2005, 91 f. 101 Siehe zum Gefängnis Carrabine 2000, 316 ff. 102 Singelnstein/Stolle 2006, 96. 103 Dazu zusammenfassend Groenemeyer 2003. 100

II. Diskurs als gesellschaftliches Wissen

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Das so beschriebene Feld aus Diskursen über das Thema Kriminalität lässt sich zusammengenommen als Dispositiv der Kriminalisierung bezeichnen. Der Begriff des Dispositivs bezeichnet die Ordnung in einem thematischen Bereich, aufgrund derer Wahrheiten und Positivitäten hervortreten, die uns als gegebene Tatsachen erscheinen.104 Ein Dispositiv setzt sich aus der Gesamtheit von Diskursen, Praktiken und deren Effekten und Materialisierungen in diesem Feld zusammen, die netzwerkartig miteinander verbunden sind, sich gegenseitig hervorbringen und beständig Wissen produzieren und verteilen.105 Zusammengenommen legen die einzelnen Bestandteile eines Dispositivs fest, was zu einem bestimmten Zeitpunkt als wahr oder falsch gilt und bringen so auch Kriminalität bzw. bestimmte Formen hiervon als vermeintliche Entität hervor.106 Das Dispositiv der Kriminalisierung umfasst damit sowohl das in den verschiedenen Diskursen transportierte Wissen über Kriminalität, die damit einhergehenden sozialen Praktiken als Umsetzung wie auch Entstehungszusammenhang dieses Wissens – wie beispielsweise Strafverfolgung und speziell Strafrechtsanwendung – sowie die daraus folgenden Materialisierungen und Positivitäten. Justiz und Rechtswissenschaft107 sind dabei nur eine von vielen Disziplinen und Institutionen, die an der Herstellung und Verteilung dieses Wissens beteiligt sind. Somit können soziale Normen, abweichendes Verhalten und speziell Kriminalität und ihre verschiedenen Arten sowie die Praktiken formeller Sozialkontrolle als Elemente bzw. Ergebnis dieses Dispositivs verstanden werden.108 Es handelt sich um ein vergleichsweise stabiles Dispositiv, das sich breit etablieren konnte, sodass Kriminalität heute als selbstverständlich vorausgesetzt wird und in zahllosen gesellschaftlichen Feldern und Institutionen – wie etwa Erziehung, Statistik, Politik – als Gegenstand auftaucht und behandelt wird.109 3. Wandel Es ist offenbar, dass das in den Diskursen und ihren Praktiken enthaltene Wissen nicht dauerhaft feststehend ist, sondern sich im Fluss befindet. Obgleich Diskurse basales Wissen bündeln und relativ dauerhaft und regelmäßig Prozesse der Bedeutungszuschreibung und Wirklichkeitsproduktion leiten, verändern sie sich kontinuierlich.110 Dies geschieht durch die diskursiven und nicht-diskursi104 Foucault verwendete den Begriff in seiner späteren Schaffensphase, um Sagbarkeits- und Wahrheitsordnungen in bestimmten gesellschaftlichen Bereichen zu fassen, siehe Foucault 1978; Jäger 2006, 89 ff.; Opitz 2006, 49 f. 105 Opitz 2004, 48 f.; Jäger 1999, 158; Keller 2005, 253: „Infrastruktur der Diskursproduktion“. 106 Siehe hinsichtlich sexuellem Missbrauch Fitzsimons 1999, 384 ff. 107 Speziell zu dieser Radtke 2007, 90 ff. 108 Siehe Foucault 2005b. 109 Vgl. zu diesem Prozess Opitz 2006, 49. 110 Siehe Keller 2006, 131.

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D. Diskurs und Kriminalisierung

ven Praktiken der Subjekte, die durch das diskursive Wissen geprägt und geleitet sind. Gleichwohl verbleiben dem Einzelnen dabei auf konkreter Ebene Spielräume, sodass sich die Praktiken innerhalb des durch den Diskurs gezogenen überindividuellen Rahmens111 verändern können. Dies kann in seiner Gesamtheit zu einer Verschiebung und damit auf längere Sicht zu einem Wandel der Diskurse und ihres basalen Wissens führen, ohne dass dies subjektiv steuerbar wäre. So können etwa im Rahmen der Kriminalisierung Medien, Lobbyisten und andere Akteure wirken, wie auch subjektiv gesteuerte konkrete Zuschreibungen stattfinden. Eine zielgerichtete Beeinflussung der dem übergeordneten Ebene basalen diskursiven Wissens ist so jedoch nicht zu erreichen.112 In welchem Maße und mit welcher Geschwindigkeit Veränderungen der diskursiven Tiefenstruktur erfolgen und was für Faktoren dafür notwendig sind, hängt davon ab, inwieweit das jeweilige diskursive Wissen geregelt, konventionalisiert, etabliert und verfestigt ist.113 Dies variiert für die verschiedenen Wissensbestände und daraus folgenden Praktiken entsprechend der vorangehend vorgenommenen Differenzierung in verschiedene Diskursebenen je nach ihrem Abstraktionsgrad. Konkretere Ebenen verändern sich eher und schneller als solche, auf denen basalere, fester institutionalisierte Wissensbestände zu verorten sind. Außerdem spielt auch der Faktor Zeit eine relevante Rolle, wenn es um den Wandel von Diskursen und des in ihnen enthaltenen Wissens geht. Diskurse stellen so Stabilität her bei gleichzeitiger Möglichkeit des Wandels.114 In diesem Sinne sind vergleichsweise fest institutionalisierte Ebenen des Diskurses einerseits von besonderer Bedeutung angesichts ihres grundlegenden Charakters. Andererseits benötigt ihr Wandel erhebliche Zeit, finden Veränderungen dieser Grundlagen nur sehr langsam statt. Sie lassen sich eher in Jahrhunderten als in Jahren messen und ablesen. Vor diesem Hintergrund hat beispielsweise Foucault mit seinen historischen Untersuchungen vom Mittelalter bis zur Gegenwart die den jeweiligen Gesellschaftsformen bzw. bestimmten gesellschaftlichen Bereichen zugrunde liegenden Wissensordnungen in den Blick genommen. So hat er etwa in „Überwachen und Strafen“115 den grundlegenden Wandel der Strafe vom Mittelalter bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts nachgezeichnet. Neben derart fest institutionalisierten Teilen des Diskurses lassen sich aber auch Ebenen untersuchen, auf denen das Wissen weniger fest etabliert ist und die sich entsprechend schneller wandeln. Diese Ebenen betreffen nicht derart grundlegendes Wissen, wie etwa den Nutzen der Strafe im Diskurs über

111 112 113 114 115

Siehe hierzu unten III.3. Zum Ganzen näher unten IV. Jäger 1999, 129. Vgl. Valverde 2003, 35. Foucault 1994.

II. Diskurs als gesellschaftliches Wissen

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Kriminalität und Strafverfolgung. Sie handeln von konkreteren Fragen und betreffen etwa bestimmte Delikte oder deren verschiedene Ausformungen. Während sich somit beispielsweise Kriminalität und Abweichung als Gegenstand sowie die Notwendigkeit der Strafe über Jahrhunderte hinweg als diskursive Wahrheiten erhalten haben, wandeln sich doch ihre Formen und Begründungen. Dies gilt sowohl für Wissen bezüglich sprachlich verfasster gesetzlicher Regelungen, als auch für Wissen über gesellschaftliches Zusammenleben und soziale Verhaltensweisen, die im Bestand erfahrungsbasierten und theoretischen gesellschaftlichen Wissens über Kriminalität zusammenfließen und so das gesellschaftliche Bild hiervon prägen.116 Augenfällig wird dieser Prozess, wenn man an die grundlegenden Veränderungen des gesellschaftlichen Verständnisses von Kriminalität in den vergangenen Jahrhunderten denkt. Dieses komplexe Wissen wird auf Seiten der Kriminologie etwa in Form von „Kriminalitätstheorien“ vermittelt, denen solche Wissensbestände als latente Botschaft zu Grunde liegen und so das gesellschaftliche Bewusstsein prägen. So enthalten diese Theorien stets die implizite Aussage, dass es Kriminalität als abgrenzbares Verhalten überhaupt gibt, während sich die Annahmen darüber ändern, was dessen Ursachen sind, wie es zu bekämpfen und zu bewerten ist.117 An diesem Beispiel lässt sich daher das soeben auf abstrakter Ebene erarbeitete Verständnis der verschiedenen Diskursebenen und ihres Wandels konkreter veranschaulichen. So wird etwa seit den 1970er Jahren – und in Deutschland verstärkt seit der Wiedervereinigung – auf einer vergleichsweise konkreten, aber gleichwohl noch übergeordneten Diskursebene ein Paradigmenwechsel sowohl hinsichtlich des Gegenstandes als auch der Ziele und Techniken von Kriminalitätskontrolle konstatiert.118 Dominierte bis dahin ein Verständnis dieses Feldes, das zumindest dem Anspruch nach von dem Ziel geprägt war, durch allgemein verbindliche Regeln gesellschaftliche Integration zu erreichen, die auch diejenigen umfasst, die gegen diese Regeln verstoßen haben, steht heute das Ziel persönlicher Absicherung im Vordergrund.119 Individuelle Sicherheit und Abgrenzung statt kollektiver Absicherung werden zum gesellschaftlichen Leitbild.120 Parallel dazu wandelt sich auch das Bild von Abweichung und Kriminalität als Gegenstand sozialer Kontrolle, die einerseits weniger als zu lösende soziale Konflikte und Probleme verstanden werden. Andererseits werden statt konkreter Bedrohungssituationen, die ohne Intervention absehbar eine Schädigung nach sich ziehen würden, zunehmend abstrakte Gefahren bzw. das Risiko als erwartbarer, tech116

Vgl. Becker 1997, 330; Hess/Scheerer 1997, 134 f. Quensel 1986, 16 ff. 118 Krasmann 2003, 237 ff.; Singelnstein/Stolle 2007, 54 ff.; zu einer solchen Analyse für den angloamerikanischen Raum bereits Feeley/Simon 1992; Garland 1996, 447 ff. 119 Hierzu Singelnstein/Stolle 2006, 25 f., 29 ff., 33 ff. 120 Siehe Castel 2005; Lindenberg/Schmidt-Semisch 2000, 308 f. 117

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D. Diskurs und Kriminalisierung

nisch zu regulierender Sachverhalt ins Auge gefasst, den es präventiv zu kontrollieren gilt.121 Kriminalitätskontrolle wird heute weniger als Problemlösung in Form sozialer, kollektiver Absicherung verstanden, sondern als möglichst frühzeitige Detektion, Kontrolle und Abwehr von Risiken.122 Noch schneller verändert sich auf einer konkreteren Ebene das Wissen darüber, was als Abweichung und Kriminalität gilt. Auf Seiten des kriminologischen Diskurses schlägt sich dieses Wissen in sich wandelnden Kriminalitätstheorien nieder, die sich durchsetzen, weil sie dem Zeitgeist entsprechen und eines bestimmten Maßes an Plausibilität nicht entbehren.123 Im juristischen Diskurs wirkt sich der Wandel solchen Wissens auf den Gegenstand, das Verständnis und die Anwendung der gesetzlichen Regelungen aus. Dies gilt zum einen für bestimmte Delikte in Gänze, die auftauchen und wieder verschwinden.124 So mutet die Hexenverfolgung, die im Mittelalter selbstverständlich war, aus heutiger Sicht irrational und absurd an. Die Strafbarkeit von Homosexualität hingegen, die unter bestimmten Voraussetzungen bis 1994 gesetzlich festgeschrieben war, wird heute zwar ebenfalls abgelehnt. Es ist dem heutigen Verständnis jedoch noch nicht derart entrückt, mit welcher Begründung Homosexualität unter Strafe gestellt wurde; auch wenn dies heute nicht mehr geteilt wird, so erscheint diese Begründung doch nicht in gleichem Maße irrational wie im Fall der Hexenverfolgung. Zum anderen verändern sich auf konkreterer Ebene die inhaltliche Ausgestaltung der verschiedenen Delikte und damit deren tatbestandliche Grenzen, auch ohne dass eine Deliktsform im Ganzen verschwinden würde. Dies geschieht etwa, wenn bestimmte Verhaltensweisen als problematisch wahrgenommen und sodann unter einen Straftatbestand subsumiert werden, der hierfür bis dahin nicht als anwendbar galt. So wurden beispielsweise Brandanschläge auf Flüchtlingsheime bis Anfang der 1990er Jahre als Brandstiftung geahndet – seitdem gelten sie als versuchter Mord und werden dementsprechend verfolgt, es wird also grundsätzlich ein Tötungsvorsatz unterstellt.125 Solche detaillierten Veränderungen finden laufend statt und sind auf einer sich einfacher wandelnden Diskursebene angesiedelt. Auch diese lassen sich gemäß dem hier verfolgten Ansatz mit dem Konzept der Diskursanalyse erfassen und untersuchen.126 Denn dessen Anwendbarkeit beschränkt sich nicht auf ganz 121

Groenemeyer 2003, 31 ff.; Frehsee 2003, 278 f. Dazu Garland 2001; Lindenberg/Schmidt-Semisch 1995, 3. 123 Zur empirischen Analyse Althoff 2002, 59 ff.; siehe auch Lamprecht 1989, 9 ff.; Quensel 1986, 13 ff. 124 Vgl. Sack/Lindenberg 2001, 183 f. 125 Neubacher 1998, 106 ff. 126 Siehe beispielsweise Hajer 2004 zum „Sauren Regen“, Schwab-Trapp 2004 zum Kosovo-Krieg, Viehöver 2004 zum Klimawandel, Waldschmidt 2004 zum Humangenetik-Diskurs. 122

II. Diskurs als gesellschaftliches Wissen

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grundlegende, Jahrhunderte lang stabile Diskursebenen. Vielmehr kann der diskursanalytische Ansatz auch konkretere Wissensebenen mit ihren Aussagen, Strängen und Teildiskursen erfassen, die auf diesem grundlegenden Wissen basieren. Deren Veränderungen vollziehen sich zwar schneller und kontinuierlich, erfolgen aber gleichwohl nicht plötzlich, sondern entwickeln sich Schritt für Schritt.127 Die Diskurse verschieben sich quasi, wobei das Tempo variieren kann. Auf längere Sicht lassen sich daher eher langsame Veränderungen von dynamischen Phasen unterscheiden, in denen sich im Wechselspiel aus Diskurs und Praktiken ein bestimmtes Normalverständnis wandelt, durchsetzt und institutionalisiert.128 Während sich auf diesem Weg im Bereich der strafrechtlichen Sozialkontrolle in den vergangenen Jahrhunderten wie beschrieben zwar (grundlegende) Änderungen ergeben haben, so sind doch wesentliche Grundstrukturen erhalten geblieben: Die Dichotomie von Abweichung und Normalität, die Notwendigkeit der Sanktionierung bzw. sozialen Reaktion auf Abweichung und der Nutzen der Strafe haben als gültiges gesellschaftliches Wissen nach wie vor Bestand und sorgen für die Produktion einer dementsprechenden Wirklichkeit. Betrachtet man in dieser Weise den Wandel des Wissens über Kriminalität und deren Bearbeitung, so kann man das Recht als zentralen Faktor nicht außen vor lassen – wenngleich es im Verhältnis zur juristischen Perspektive eine untergeordnete Rolle spielt. Denn diese sieht das Recht ja als allein relevant für die Beantwortung der Frage an, was Kriminalität ist und was nicht. Dies gilt nicht nur für den juristischen Spezialdiskurs, sondern für das gesellschaftliche Wissen in diesem Feld überhaupt. Einerseits stellt das Recht besonders formalisierte soziale Regeln und rechtsethische Auffassungen dar; umgekehrt sind aber auch die Setzung und das jeweilige Verständnis von Recht bedeutsam für Konstituierung und Wandel derselben. Dies kann so weit gehen, dass das Recht einen Wandel der bisher vorherrschenden Anschauungen einleitet und durchsetzt.129 An diese allgemeine Erkenntnis anschließend lässt sich die Beziehung von diskursivem Wissen und Recht ebenso als Wechselverhältnis denken: Das Gesetz ist einerseits eine Wirkung, ein Effekt des Diskurses; andererseits sind die rechtlichen Regelungen und ihre Anwendung in der Lage, das gesellschaftliche Wissen über Kriminalität zu beeinflussen und zu verändern. Diese beiden Bedeutungen des Rechts im Verhältnis zum Diskurs als Effekt einerseits und Teil der Formierung andererseits werden in den folgenden Teilen genauer zu betrachten sein.

127 128 129

Fitzsimons 1999, 389. Groenemeyer 2003, 21. Zippelius 2003, 43 f.; Eisenberg 2005, § 22, Rn. 7 ff.

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D. Diskurs und Kriminalisierung

III. Effekte des Diskurses Der Effekt der bis hierhin beschriebenen Diskurse als Wissensordnungen besteht einerseits darin, dass sie es dem Einzelnen ermöglichen, die Welt zu verstehen und sich in ihr zurechtzufinden. Sie bieten ein Koordinatensystem, mit dem Erscheinungen in dieser Welt in Übereinstimmung mit anderen gedeutet, verstanden und eingeordnet werden können. Andererseits und in umgekehrter Richtung konstituieren Diskurse auf diesem Weg gesellschaftliche Wirklichkeit. Diese Wirkung des Wissens soll im Folgenden zunächst grundsätzlich dargestellt werden. Im Anschluss werden verschiedene Formen von Materialisierungen von Kriminalitätsdiskursen beschrieben. 1. Konstituierung von Wirklichkeit Das in Diskursen produzierte, legitimierte und transformierte Wissen konstituiert, wie bereits angesprochen, gesellschaftliche Wirklichkeit, indem es eine bestimmte Sichtweise der Welt als Realität verankert.130 Es bestimmt zum einen die soziale Wahrnehmung der Einzelnen. Zum anderen und daraus folgend leitet es das Handeln der Subjekte, sodass soziale Praktiken letztlich immer auf diskursivem Wissen basieren.131 Kollektive gesellschaftliche Wissensbestände bilden somit den Ausgangspunkt und die Grundlage für soziale Interaktion in der Gesellschaft. Diskurse beschreiben gesellschaftliche Realität damit nicht nur. Sie prägen sie vielmehr, indem sich in ihnen und durch sie eine bestimmte Sichtweise auf die Welt durchsetzt.132 Denn durch das Handeln der Einzelnen bringt das diskursive Wissen die Praktiken und Gegenstände hervor, von denen es handelt.133 Foucault hat vor diesem Hintergrund konstatiert, dass jede Gesellschaft „ihre eigene Ordnung der Wahrheit, ihre ,allgemeine Politik‘ der Wahrheit“ habe.134 Dieser Vorstellung entsprechend richtet sich die Fragestellung der Diskursanalyse nicht darauf, ob ein bestimmtes Geschehen materiell stattgefunden hat. Betrachtet wird vielmehr umgekehrt die Frage, wie sich ein bestimmtes Wissen als Wahrheit herausbilden konnte und wie es Wirklichkeit produziert, indem es sich in den Praktiken der Subjekte niederschlägt und dort umgesetzt wird.135 130

Foucault 1978, 51. Vgl. Keller 2006, 115 ff., 121 ff.; Krasmann 1995, 246 f. 132 Dazu auch Diaz-Bone 2004a, 50. 133 Siehe Bublitz 1999, 23 f., 31; Foucault 1988, 74; Hanke 2004, 98. 134 Foucault 1978, 51. 135 Siehe Foucault 1992, 34 f. – Frehsee 2003, 399 f. verweist darauf, dass eine objektive Kriminalitätswirklichkeit gar nicht mess- und feststellbar ist, sodass sich alleine deswegen Vergleiche zwischen gesellschaftlichen Vorstellungen und einer „tatsächlichen Wirklichkeit“ verbieten. 131

III. Effekte des Diskurses

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Daneben besteht der Wirklichkeit konstituierende Effekt des Diskurses nicht nur in dieser produktiven, schaffenden Seite, sondern er hat auch eine ausschließende Seite. Denn in dem Maße, indem eine bestimmte Interpretation als richtig und wahr etabliert ist, schließt sie andere Deutungen aus. Der Diskurs ist daher immer beschränkt, er grenzt die Sagbarkeit möglicher Interpretationen ein, sodass stets nur einige gesellschaftlich akzeptiert oder überhaupt möglich sind.136 Man hat nicht zu jeder Zeit das Recht und die Möglichkeit, alles zu sagen. Vor diesem Hintergrund geht es der Diskursanalyse bei der Dekonstruktion der geltenden Wahrheit auch um die Frage, welche Deutungen gerade nicht sagbar sind. Diese Zusammenhänge lassen sich auch für das Dispositiv der Kriminalisierung beobachten. Die Wahrnehmung von Handlungen Dritter ist geprägt durch das Wissen, das wir über menschliches Verhalten in unserer Gesellschaft haben.137 Dementsprechend ist auch die Wahrnehmung und Interpretation bestimmter Verhaltensweisen als Kriminalität – allgemein und in konkreten Erscheinungsformen138 – von diesem Wissen abhängig,139 und zwar auch, wenn man selbst involviert ist.140 Dies betrifft nicht alleine die grundlegende Frage, ob es sich überhaupt um Kriminalität handelt, sondern auch die Einordnung nach Art und Schwere des Delikts. Weiterhin strukturiert das diskursive Wissen nicht nur unsere Wahrnehmung fremder Verhaltensweisen. Es ist auch grundlegend für die Produktion von Sinn und Bedeutung, die eigenem Handeln beigemessen werden.141 Noch abstrakter und grundlegender besehen bestimmt dieses Wissen gar, was wir überhaupt denken und wahrnehmen können. Denn es bildet die Grundlage unserer geistigen Auseinandersetzung und begrenzt so zugleich deren Möglichkeiten. Dies wird bereits beim Betrachten verschiedener Kulturen deutlich: Was in der einen logisch und selbstverständlich ist, ist in der anderen derart fern liegend, dass es nicht einmal zur Diskussion steht. Die damit angesprochene diskursive Produktion von Wirklichkeit findet nicht nur in den Köpfen der Einzelnen statt. Das gesellschaftliche Wissen schlägt sich auch in den diskursiven und nicht-diskursiven Praktiken der Subjekte nieder sowie in Materialisierungen, Vergegenständlichungen des Diskurses. Es wird so etabliert und objektiviert, wird als wahr qualifiziert und bringt im Wege der Umsetzung durch die Subjekte seine eigene Wirklichkeit hervor.142 Dieser Ef136

Müller-Tuckfeld 1997, 483. Siehe auch Frehsee 2003, 398. 138 Zu historischen Beispielen für eine veränderten Wahrnehmung von bestimmten Verhaltensweisen Eisenberg 2005, § 25, Rn. 20 ff. 139 Hierzu Althoff/Leppelt 1995. 140 Zu solchen Ansätzen in der Perspektive postmoderner Theorie Schwartz/Friedrichs 1994, 231 f. 141 Siehe Schetsche 1996, 2. 142 Bublitz 2006, 233 f.: „Soziale Wirklichkeit ist eine Wirkung von Diskursen.“ 137

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D. Diskurs und Kriminalisierung

fekt der Hervorbringung beschränkt sich nicht allein auf Gegenstände, Praktiken und Institutionen. Er betrifft auch die Subjekte selbst. Denn erst in der Wissensund Bedeutungsordnung, die gesellschaftliche Wirklichkeit ausmacht, wird das biologische Individuum subjektiviert, also zum Subjekt. Die gesellschaftlichen Wissensbestände und darauf basierende Praktiken stellen dabei die empirische Ordnung dar, an denen sich der Einzelne von Beginn an orientiert und strukturiert.143 Denn die Wirklichkeit der Alltagswelt ist schon definiert und objektiviert, wenn der Einzelne sie kennen lernt, um sie anschließend mit anderen intersubjektiv zu teilen.144 Ob man sich an diese Ordnung hält oder nicht, ist daher keine intentionale Entscheidung des Subjekts, sondern dieser vorgelagert. Diese Prozesse und Effekte des Diskurses führen zur Naturalisierung einer bestimmten Interpretation und zu ihrer Etablierung als sozialer Wirklichkeit.145 Diese Perspektive stellt damit die Existenz natürlicher Gegebenheiten und einer wahren Vernunft in Frage. Dies bedeutet nicht, dass es keine materiell existenten Dinge gäbe. Jedoch ist diesem Ansatz zufolge die Wahrnehmung der Wirklichkeit durch das Subjekt immer bereits von einer bestimmten Interpretation in der Form von Wissen über die Welt beeinflusst.146 Soziale Realität stellt somit immer bereits eine intellektuelle Bearbeitung, eine Interpretation von Geschehen in der Form von Wissen dar147 bzw. wird auf der Basis solchen Wissens durch die Praktiken der Subjekte hergestellt. Soziale Wirklichkeit ist in dieser Vorstellung daher real und kontingent zugleich.148 Realität ist damit gleichwohl nicht beliebig und Interpretationen von Geschehensabläufen können trotzdem als richtig oder falsch betrachtet werden. Denn gesellschaftliche Wirklichkeit ist ja vorhanden, nur eben in Form und als Effekt gesellschaftlichen Wissens. Ob eine Interpretation richtig oder falsch ist, hängt somit nicht davon ab, wie sehr sie mit einem materiellen Geschehen übereinstimmt. Entscheidend ist, ob sie im Widerspruch zu den geltenden diskursiven Wissensbeständen steht oder nicht.149 In diesem Sinne entstehen beispielsweise Ereignisse erst dadurch, dass sie als solche diskursiv wahrgenommen und aufgegriffen werden. Ohne diskursive Rezeption gibt es aus Sicht der Diskursanalyse ein Ereignis nicht.150 Ebenso wenig ist in dieser Perspektive ein Gegendiskurs oder eine sonstige Gegenposition zum jeweils herrschenden Diskurs denkbar. Denn es ist gerade dieser Diskurs, der die Grundlagen unseres Denkens sowie 143 144 145 146 147 148 149 150

Müller-Tuckfeld 1997, 484. Berger/Luckmann 1996, 24 ff., 43 ff. Vgl. Berger/Luckmann 1996, 70 f. Siehe Walter 2003, 159. Hajer 2004, 273 ff.: Phänomene werden mit Bedeutung versehen. Siehe Lemke 1997, 332 ff.; Valverde 2003, 8 ff. Fischer 2001, 107. Bublitz 1999, 25; Jäger 1999, 132.

III. Effekte des Diskurses

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dessen Grenzen festlegt. Auf Ebenen des konkreteren und sich schneller wandelnden Wissens lassen sich zwar – wie auch generell in Phasen des Umbruchs – durchaus Gegenpositionen denken und bilden. Auch diese liegen jedoch wenn schon nicht außerhalb des Vorstellbaren, so doch außerhalb des Sagbaren und werden somit als falsch abgetan.151 Auch Widersprüche und Regelverstöße sind diskursiv geregelt und somit Bestandteil des Diskurses; wenn sie sanktioniert oder zurückgewiesen werden, zeigt sich auf einer konkreten Ebene die Wirkung des Diskurses.152 Dieser umfassende Effekt der Konstituierung von Wirklichkeit ist in verschiedener Hinsicht gesellschaftlich funktional.153 Denn er ermöglicht nicht nur soziale Kommunikation und damit menschliches Zusammenleben, indem er einen gemeinsamen, geteilten Wissensvorrat bereitstellt, auf den sich der Einzelne bezieht.154 Er entlastet den Einzelnen auch im alltäglichen Handeln und Denken, indem er legitimierte, institutionalisierte Deutungen der Welt bereitstellt, die somit nicht ständig neu erbracht werden müssen. Diese gemeinsame Grundlage gesellschaftlichen Wissens führt unter anderem auch dazu, dass die strafjustiziellen Entscheidungen der Instanzen mit dem Rechts- und Kontrollempfinden der Allgemeinheit korrespondieren und von diesem getragen werden. Entsprechend ist strafrechtliche Sozialkontrolle kein einseitiger Vorgang, sondern ein gegenseitiger Prozess von Durchsetzung und Akzeptanz.155 Zusammenfassend betrachtet konstituiert das in den gesellschaftlichen Diskursen gebildete und transportierte Wissen somit soziale Wirklichkeit. Dies gilt in besonderem Maße für den Bereich von Kriminalität und Kriminalisierung. Diese stellen ebenso wie andere gesellschaftliche Phänomene keine Tatsachen dar, die außerhalb unseres Bewusstseins und daher unabhängig von unseren Vorverständnissen, unserem Wissen wären. Vielmehr wird auch dieser Teil sozialer Welt erst durch solches Wissen gestaltet, strukturiert und als Wirklichkeit hervorgebracht.156 Dies betrifft bereits ganz grundsätzlich die Existenz der Kategorie Kriminalität als solche,157 die sozial konstruiert und erst einige hundert Jahre alt ist.158 Innerhalb dessen bestimmt unser Wissen sodann, wie Abweichung und Kriminalität gesellschaftlich verstanden werden und wie mit ihnen allgemein umgegangen wird. Hier schlagen sich beispielsweise der angesprochene Wandel des Verständnisses von Ziel und Gegenstand strafrechtlicher So151

Foucault 2003, 13 ff., 22 ff. Jäger 1999, 129; Link 2005, 97. 153 Siehe Hess/Scheerer 1997, 139 ff. 154 Siehe zu diesem ermöglichenden Effekt auch Krasmann 1995, 245. 155 Vgl. Böhnisch 2001, 65 f. 156 So explizit Walter 2003, 159 im Hinblick auf so genannte (jugendliche) „Intensivtäter“. 157 Zu dieser Perspektive hinsichtlich des Wahnsinns Lemke 1997, 335 ff. 158 Singelnstein/Stolle 2006, 97 ff. m.w. N. 152

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D. Diskurs und Kriminalisierung

zialkontrolle sowie die gewachsene Bedeutung persönlicher Sicherheit in einer veränderten sozialen Wirklichkeit von Kriminalität und Strafe nieder.159 Abweichendes Verhalten wird immer weniger als Ergebnis gesellschaftlicher Zustände begriffen, sondern als persönliche Verfehlung, die jeder Einzelne zu verantworten und damit auch deren Konsequenzen zu tragen hat. In diesem Zusammenhang gewinnen Ordnungsvorstellungen an Bedeutung, wie etwa die, nicht angebettelt zu werden, keine Betrunkenen sehen zu müssen oder nicht mit Armut und anderen gesellschaftlichen Problemen konfrontiert zu werden.160 Auf einer noch konkreteren Ebene schließlich legt das diskursive Wissen fest, welche Verhaltensweisen unter welchen Umständen Kriminalität darstellen oder nicht. Diese gesellschaftlich institutionalisierten Wissensbestände betreffen nicht alleine oder vorrangig die Instanzen des Kriminalisierungsprozesses oder sonstige professionell mit Kriminalität befassten Akteure. Es handelt sich vielmehr um gesellschaftliches Wissen, das in verschiedenen Formen und Intensitäten jeden Einzelnen prägt.161 Dies gilt zum einen auch für die Kriminalisierten selbst,162 deren Selbstbild und Rolle von diesem Wissen gebildet werden. Zum anderen betrifft es ebenso die Allgemeinheit, die durch das gesellschaftliche Wissen über Kriminalität geprägt ist, was sich in den sozialen Praktiken der Einzelnen niederschlägt. So entscheidet das jeweilige Kriminalitäts-Wissen darüber, ob ein bestimmtes Verhalten überhaupt wahrgenommen, sodann als Kriminalität angesehen und schließlich als derart gravierend bewertet wird, dass Einzelne die Initiative ergreifen, um eine Strafverfolgung zu veranlassen. Auf diesem Wege beeinflusst das gesellschaftliche Wissen beispielsweise das Anzeigeverhalten und damit unmittelbar den Umfang offiziell registrierter Kriminalität.163 2. Recht und Strafverfolgungsinstanzen Das Wissen der Diskurse prägt nicht alleine soziale Wirklichkeit, sondern schlägt sich auch in Materialisierungen nieder. Solche in ganz verschiedenen Formen auftretende Vergegenständlichungen und Institutionen rahmen den Diskurs auf der jeweils betroffenen Ebene, verfestigen das dort bestehende Wissen und verschleiern seine historische Kontingenz164. Als eine solche Materialisierung lässt sich auch das Recht verstehen, in dem sich verschiedene Ebenen des 159 160

Garland 1997, 184 f.; siehe auch Althoff/Leppelt 1995, 74 ff. Siehe auch Castel 2005, 9 ff.; Legnaro 1997, 279; Singelnstein/Stolle 2006,

33 ff. 161

Vgl. auch Lamnek 1990, 174 f. Vgl. Fischer 2001, 111; Groenemeyer 2003, 19; Hess/Scheerer 1997, 105. 163 Zur Rolle und erheblichen Bedeutung des Anzeigeverhaltens im Kriminalisierungsprozess Albrecht 2005, 137 ff.; Singelnstein 2007, 218 ff.; speziell zu Online-Anzeigen Puschke 2005. 164 Keller 2006, 121; Scheffer 2005. 162

III. Effekte des Diskurses

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Diskurses widerspiegeln und das auf diese Weise eine Verkörperung der jeweiligen gesellschaftlichen Wahrheit darstellt.165 So lässt sich das Recht zum einen abstrakt als Materialisierung des diskursiv hergestellten Verständnisses von der Notwendigkeit eines gesellschaftlichen Instituts zur Regelung von Verhältnissen verstehen, als Ausdruck des philosophischen, theoretischen und politischen Diskurses hierzu. Zum anderen ist das Strafrecht im Besonderen und sind dessen einzelne Tatbestände auch Materialisierungen gesellschaftlicher Diskurse darüber, was als Kriminalität verfolgt werden sollte. Somit ist nicht nur das gesellschaftliche Bild von Kriminalität kontingent und eine historisch entstandene Formation von Wissen. Auch das Gesetz als materialisierter Ausdruck dieses Wissens ist nicht objektiv und feststehend, sondern wandelt sich mit ihm. Recht und Gesetz werden in dieser Perspektive nicht als konstitutiv, sondern als selbst von anderen Ebenen bestimmt angesehen.166 Neben dem Recht können weiterhin auch die mit Kriminalität befassten gesellschaftlichen Institutionen als Materialisierungen des Diskurses über Kriminalität verstanden werden, von der Kriminologie als Wissenschaft, Parteien und Verbänden über Medien bis hin zu den Instanzen der Strafverfolgung.167 Gerade Polizei, Staatsanwaltschaften, Strafgerichte und Strafvollzug verkörpern einerseits mit ihrer Existenz den abstrakten Diskurs über Kriminalität, Schuld und die Notwendigkeit von Strafe. Denn mit der in ihnen abgebildeten spezifischen sinnhaften Ordnung machen sie Vorgaben und schließen Alternativen aus. Andererseits schlagen sich auch hier im täglichen Wirken und der Organisation dieser Institutionen konkretere Ebenen des Diskurses und spezielle Teildiskurse etwa bezüglich bestimmter Formen von Kriminalität nieder168. Das Recht und die Instanzen der Strafverfolgung lassen sich in dieser Perspektive somit als geronnenes Wissen, als Effekt des Diskurses verstehen, die sich als Bestandteile des Dispositivs der Kriminalisierung den Veränderungen dieser interpretativen Wirklichkeit stetig anpassen.169 Gesetze beispielsweise werden danach nur vordergründig durch den Gesetzgeber initiiert und gestaltet. Aus Sicht der Diskursanalyse handelt es sich dabei hingegen um eine Institutionalisierung diskursiven Wissens, das sich auf überindividueller Ebene herausgebildet und etabliert hat.170 Denn dieses implizite diskursive Wissen beeinflusst, 165 Fitzsimons 1999, 382; allgemein zum Verhältnis von strafrechtlichen Regelungen und sonstigen Systemen sozialer Normen Eisenberg 2005, § 22, Rn. 4 f., 7. 166 Siehe näher zum Konzept des Rechts bei Foucault unten F.III.1. 167 Zu einer solchen Perspektive auf Organisationen und Institutionen allgemein Clegg 1998, 42 ff. 168 Zur Organisation und teilweisen Spezialisierung bei Polizei und Staatsanwaltschaft Eisenberg 2005, § 27, Rn. 10 ff. 169 Siehe dazu auch Herber 2003. 170 Siehe zu den Prozessen der Bestimmung und Auswahl von Regelungsproblemen durch den Gesetzgeber allgemein Eisenberg 2005, § 23, Rn. 1 ff.; zu Alltagsvorstel-

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D. Diskurs und Kriminalisierung

was als Schädigung und Konflikt, was als Brauchtum und Sitte oder als zur gesellschaftlichen Stabilisierung notwendig angesehen und daher strafgesetzlich geregelt wird. Ähnliches gilt für die Instanzen, sowohl in ihrer Existenz und Organisation, als auch in ihrem konkreten Wirken. Denn auch hier, auf der Ebene der Rechtsanwendung wirken sich das jeweils einschlägige gesellschaftliche Wissen und dessen Wandel aus. Nun ist es aus kriminologischer und rechtssoziologischer Sicht keine neue Vorstellung, dass das Recht und seine Bestimmungen nicht feststehend sind und gesellschaftlichen Einflüssen unterliegen. Es lässt sich gar als bloße Form verstehen, mit der Interessen und Werte um- und durchgesetzt werden und die vor allem für politische Zwecke genutzt wird – und zwar nicht nur auf der Ebene des Gesetzgebers, sondern angesichts politischer Einflussnahme auch auf der Anwendungsebene. Solche Veränderungen in der Rechtsanwendung werden aber vorwiegend dem intentionalen Wirken verschiedener Akteure zugeschrieben. Der hier verfolgte diskursanalytische Ansatz setzt sich davon insofern ab, als er das Recht in seiner Anwendung und deren Wandel als überindividuellen Effekt des Diskurses und somit als vorwiegend strukturell begründet ansieht. In diesem Sinn führt der oben beschriebene diskursive Wandel im Verständnis vom Gegenstand und von der Zielsetzung strafrechtlicher Sozialkontrolle zu einer Ausdifferenzierung gesetzlicher Regelungen und alltäglicher Praxis in verschiedene Richtungen.171 Zum einen ist eine Vorverlagerung als Antwort auf das Risikobild zu beobachten, denn ein solches Verständnis vom Gegenstand strafrechtlicher Sozialkontrolle macht deutlich mehr und wesentlich frühere Maßnahmen unabhängig von einer Verletzung oder konkret bestehenden Bedrohungslage notwendig. Dies zeigt sich in der Ausweitung der strafrechtlichen Tatbestände, der Zunahme von Gefährdungsdelikten und der Entwicklung der Vorfeldstrafbarkeit172 ebenso wie in der Verlagerung der polizeilichen Eingriffsschwelle von der konkreten Gefahr ins Vorfeld erfassbarer Bedrohungen hin zu einer abstrakten statistischen Annahme. Damit ist an der Schnittstelle zwischen Straf- und Polizeirecht eine Form der proaktiven Prävention in Entstehung begriffen, die sich nicht mehr an einem konkreten Individuum orientiert, sondern sich entweder an risikoträchtigen Orten, Strukturen und Lagen ausrichtet oder gleich die Bevölkerungsmitglieder in ihrer Gesamtheit als Risikofaktoren in den Blick nimmt.173 Zum anderen werden die Sanktionen absoluter, ausschließender und repressiver angesichts des gewandelten Ziels strafrechtlicher Sozialkontrolle unter dem Primat der Sicherheit. So gewinnen harte Sanktionen an gesellschaftlicher Legitimation und werden beispielsweise Freiheitsentziehungen wieder öflungen der Bevölkerung hinsichtlich Strafzwecken und Rechtsgütern empirisch Kräupl 2006; Roberts 2003. 171 Dazu Singelnstein/Stolle 2006, 73 ff. 172 Siehe bereits Naucke 1999, 340 f.; Prittwitz 1993, 174 ff. 173 Vgl. Naucke 1999, 342.

III. Effekte des Diskurses

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ter mit Aspekten der Vergeltung statt zweckgerichtet begründet. Zwar dient die staatliche Strafe laut Gesetz (auch) noch dem Ziel der Disziplinierung und Behandlung. Das Resozialisierungskonzept gerät jedoch zunehmend unter öffentlichen und politischen Druck zugunsten von Forderungen nach einem repressiven und ausschließenden Charakter der Strafe174 – unabhängig davon, dass die als Verwahrvollzug zu bezeichnende Praxis in den Anstalten in weiten Teilen ohnehin dem entspricht.175 3. Diskurs als Wissensrahmen Zusammenfassend betrachtet etablieren Diskurse und die aus ihnen hervorgehenden Praktiken und Materialisierungen kollektive Wissensbestände und konstituieren so soziale Wirklichkeit.176 Diese Normalisierung einer bestimmten Sichtweise auf die Welt wirkt nicht unbegrenzt, umfassend determinierend. Denn Diskurse bilden, etablieren und transportierten nicht alle Formen von Wissen, sondern lediglich basale gesellschaftliche Wissensbestände. Sie legen damit nur den sich stetig verändernden Rahmen, die Eckpunkte sozialer Wirklichkeit fest, innerhalb derer verschiedene Interpretationen und Einflüsse erfolgen (können): Was als abweichendes Verhalten bzw. als wirksames Gegenmittel, was als Sicherheit, Bedrohung oder notwendige Maßnahme der Kriminalitätsbekämpfung angesehen wird, ist weitgehend durch das diskursiv geformte Wissen vorgegeben, das für uns Wirklichkeit darstellt und als objektiv verstanden wird. Innerhalb dieses Rahmens – aber eben auch nur dort – sind unterschiedliche Wege möglich, die massenhaft beschritten und auf lange Zeit gesehen eine Verschiebung des Rahmens bewirken können.177 Diese Vorstellung von Diskursen als Wissensrahmen lässt sich an das oben dargestellte Konzept der Diskursebenen anschließen.178 Danach lassen sich verschiedene, aufeinander aufbauende Ebenen von Diskursen nach ihrem Abstraktionsgrad differenzieren, sodass eine Diskursebene immer die Tiefenstruktur der Wissensproduktion auf den ihr übergeordneten, konkreteren Wissensebenen bereitstellt. Diese Festlegungen auf den verschiedenen Ebenen des Diskurses können zusammengenommen als Wissensrahmen verstanden werden, der aus vielen verschiedenen Beständen von Wissen zu unterschiedlichen Gebieten und Themen besteht, die derart strukturiert kognitiv abrufbar sind. Wenn diese Ebenen des Wissens zunehmend konkreter werden, so handelt es sich irgendwann nicht 174

Stolle/Brandt 2004. Siehe zum Jugendstrafvollzug Eisenberg/Singelnstein 2007, 184, 188. 176 Althoff/Leppelt 1995, 41 ff. 177 Dazu oben II.3. sowie unten IV.; siehe auch Gusfield 1981, 11 f. – Die Verwendung des Begriffs unterscheidet sich damit grundlegend von den frames im Sinne der Rahmenanalyse als methodischem Konzept. 178 Siehe oben II.2. 175

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D. Diskurs und Kriminalisierung

mehr um basales, bindendes Wissen im diskursiven Sinne, sondern um detailliertere Wissensbestände, die der Aushandlung zwischen Akteuren unterliegen und daher keine Wahrheitswirkung im diskursanalytischen Sinn entfalten. Sie stellen mithin keinen Bestandteil des diskursiv gezogenen Wissensrahmens selbst dar, sondern befinden sich innerhalb dessen. Wo diese Grenze verläuft – zwischen Wissen in Form objektiver Wirklichkeit, das andere Sichtweisen ausschließt, und solchem, das in der Debatte nur als eine von mehreren zulässigen Interpretationen angesehen wird – lässt sich nicht immer klar feststellen. Denn zum einen gibt es notwendig Übergangsphasen, in denen sich ein bestimmtes Wissen herausbildet, um sich dann erst zu verfestigen, zu objektivieren und Bestandteil des Wissensrahmens zu werden. Zum anderen sind die Grenzen aber auch fließend. Als eine der konkreteren Ebenen des diskursiv hergestellten Wissensrahmens kann das Wissen über bestimmte Formen von Kriminalität gelten. Innerhalb des dadurch gezogenen Rahmens kann man sich über einzelne Varianten, Probleme der Rechtsanwendung u. ä. in Form von Debatten auseinandersetzen.

Gesamtdiskurs als Gesamtheit der verschiedenen Teildiskurse und des Interdiskurses

Wissensrahmen als verfestigte Interpretation die sich als soziale Wirklichkeit verankert, und den Rahmen bildet, innerhalb dessen sich Wissen, Bedeutungen und Praktiken (nur) weiter entwickeln und beeinflusst werden können durch Debatten, intentionalen Einfluss etc.

Abbildung 2: Die im Abstraktionsgrad abnehmenden, aufeinander aufbauenden Ebenen des Diskurses bilden zusammengenommen den Wissensrahmen, innerhalb dessen Debatten stattfinden und intentionale Einflussnahmen möglich sind

III. Effekte des Diskurses

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Eine solche symbolische Ordnung des Wissens vermag Stabilität herzustellen und gleichzeitig Veränderung zuzulassen. Es handelt sich um ein Netzwerk oder System aus kulturell fixiertem aber prinzipiell variablem Wissen, das angesichts der Kontinuität des sich gegenseitig ablösenden Wissens die Stabilität nicht grundsätzlich in Frage stellt.179 Während etwa die Existenz der Kriminalität und die Notwendigkeit der Strafe seit langem unbestritten sind, verändert sich das Verständnis von Kriminalität und ihren einzelnen, im Gesetz vertypten Formen vergleichsweise schnell und permanent.180 So produziert und organisiert das Dispositiv der Kriminalisierung eine Wirklichkeit der Kriminalität, indem es soziale Kollektive und Interessengruppen strukturiert, Logiken der Gefahr, Sicherheit und Kriminalisierung herausbildet,181 Feind- und Täterbilder konstruiert und alternative Deutungen ausblendet.182 Diese permanente Produktion von Realität durch das Dispositiv führt zur Ausrichtung der Subjekte an dieser Form von Wirklichkeit.183 Die damit entstehende Wirkung des Wissens als Rahmen möglichen Denkens und Handelns funktioniert umso effektiver, je mehr das diskursive Wissen als wahr angesehen wird, objektiviert und etabliert ist. Dies ist umso mehr der Fall, je abstrakter und langfristiger die jeweilige Diskursebene ist. Abstrakte Diskursebenen produzieren demnach einen absoluter wirkenden Rahmen als solche, die konkretere Formen von Wissen betreffen und sich schneller wandeln. Ist eine Sichtweise oder Interpretation noch weniger akzeptiert als solche Ebenen, verliert sie diesem Modell zufolge immer mehr ihre rahmende Wirkung bis sie nicht mehr als objektive Wirklichkeit gilt, sondern nur noch eine Position darstellt, die sich im Widerstreit mit anderen befindet.184 Mit der Existenz dieser verfestigten, kohärenten und relativ stabilen Wissensordnungen ist gesellschaftliche Realität und Entwicklung nicht schicksalsähnlich vorgezeichnet. Denn innerhalb dieses Wissensrahmens, der den Bereich möglicher Interpretationen von Wirklichkeit zwar erheblich einengt und bestimmt, finden auf quasi untergeordneter Ebene, wie bereits dargelegt, Auseinandersetzungen um die Konstituierung von Realität statt, auch wenn diese den durch die Diskurse gebildeten Wissensrahmen alleine nicht zu überwinden vermögen.185 Die Subjekte können sich auf dieser konkreten Ebene durchaus zwischen verschiedenen Varianten und Sichtweisen entscheiden – diese stellen aber nur ei179

Siehe Ziem 2006, 2 ff. Vgl. zu Trunkenheit am Steuer die Studie von Gusfield 1981. 181 Zu Szenarien in Verbindung mit der Einrichtung von Videoüberwachung Stolle/ Hefendehl 2002, 269 ff. 182 Siehe Althoff/Leppelt 1995, 64 f. 183 Dazu auch Simon/Feeley 1995, 164 ff. 184 Siehe auch Ziem 2006, 4 f. 185 Siehe bereits oben II.3. sowie zu einer Differenzierung zwischen konkreten Interaktionsprozessen, einer Institutionen- und einer dem übergeordneten Makroebene Blomberg/Cohen 1995a, 6. 180

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D. Diskurs und Kriminalisierung

nen kleinen Ausschnitt der grundsätzlich möglichen Interpretationen dar.186 Auf dieser Debatten-Ebene agieren Akteure mit unterschiedlich starkem Einfluss und streiten – durchaus auch intentional – um die Interpretation von Welt und Wirklichkeit, die jedoch durch die diskursiven Wissensordnungen begrenzt ist. Nur innerhalb dieser Begrenzung, die festlegt, was denk- und sagbar ist, lässt sich das komplexe Zusammenspiel aus Politik, Medien, Öffentlichkeit, Polizei und Justiz lokalisieren und analysieren. Diskurse sind somit Ansammlungen basalen Wissens, das die Aussage- und Handlungsproduktion durch die Subjekte und damit die Konstituierung konkreterer Wissensformen strukturiert.187 Diese Vorstellung steht dem oben dargestellten Modell des Wandels von Diskursen durch eine Verschiebung der Praktiken der Subjekte nicht entgegen. Im Gegenteil kann gerade der Umstand, dass den Subjekten innerhalb des Wissensrahmens Spielräume verbleiben, dazu führen, dass sich die Praktiken der Subjekte in Ausnutzung dieser Freiräume in die eine oder andere Richtung verändern. Wenn dies in relevantem Umfang geschieht und ggf. mit anderen Umständen zusammentrifft, kann es, wie oben beschrieben, zu einer Verschiebung oder gar einem Bruch des Wissensrahmens führen. Der beschriebene Effekt des Diskurses als Wissensrahmen lässt sich an einem Beispiel aus dem Feld der Kriminalpolitik darstellen, das sich eher auf der Normsetzungsebene abspielt, nämlich dem Umgang mit Urheberrechtsverletzungen im Musik- und Software-Bereich. Die betroffenen Unternehmen haben hier eine Kampagne unter dem Titel „Raubkopierer sind Verbrecher“ initiiert, die die Strafbarkeit von bestimmten Urheberrechtsverletzungen eindrucksvoll deutlich machen soll. Zu diesem Zweck wurden in den Werbespots so genannte „Raubkopierer“ – immerhin ein mutmaßlich erheblicher Teil der jüngeren Bevölkerung – mit Gefängnis und dem dort zu erwartenden Leid einschließlich einer wahrscheinlichen Vergewaltigung durch Mitgefangene bedroht. Zugunsten wirtschaftlicher Partikularinteressen wird ein falsches Bild der Strafbarkeit und der Strafzumessung gezeichnet, um so Punitivität und Abschreckung in diesem Bereich herzustellen. Bei der Wahl dieses Weges im Umgang mit Urheberrechtsverletzungen handelt es sich zunächst um eine bewusste, intentionale Entscheidung der einschlägigen Akteure, die innerhalb des gültigen Wissensrahmens zu verorten ist und auch anders hätte ausfallen können. Ebenso wird jedoch deutlich, dass dieser Schritt auf grundlegende gesellschaftliche Wissensbestände zurückgreift – Urheberrecht, Rechtsverletzungen, Notwendigkeit von Strafe, Kriminalisierung zur Lösung gesellschaftlicher Probleme, Abschreckung und Punitivität. Dieses Wissen begrenzt auf einer übergeordneten Ebene die Möglichkeiten der Interpretation und Reaktion im Umgang mit Urheberrechtsverletzungen. Denn es legt etwa fest, dass diese ein Problem sind, das gelöst werden 186 187

Vgl. Keller 2006, 135 f. Siehe Althoff/Leppelt 1990, 170 f.

IV. Formierung des Diskurses

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muss, und dass Kriminalisierung hierbei ein möglicher und letztlich auch nötiger Weg ist. Infolge dessen handelt es sich um eine durchaus verbreitete Praxis, bestimmte gesellschaftliche Phänomene als „kriminell“ oder „abweichend“ zu klassifizieren, um damit unerwünschte Verhaltensweisen zu stigmatisieren und auf diesem Weg Eigeninteressen durchzusetzen. Die hier verfolgte Perspektive widmet sich daher nicht der Fragestellung, wie einzelne machtvolle Individuen, Akteure, Gruppierungen oder Institutionen Kriminalisierung beeinflussen oder gar lenken. Denn dies findet innerhalb des durch die verschiedenen Ebenen des Diskurses hergestellten Wissensrahmens statt.188 Vielmehr geht es um die Frage, wie sich dieses längerfristig etablierte, grundlegende Wissen als Rahmen solcher intentionalen Auseinandersetzungen konstituiert, der die möglichen Räume für Denken und Handeln beschränkt.

IV. Formierung des Diskurses Die Diskursanalyse bleibt nicht dabei stehen, bestimmte Diskurse in ihrem Aufbau zu rekonstruieren und ihren Wandel zu beschreiben. Sie fragt auch, wie es dazu kommt, dass sich gerade bestimmte Interpretationen herausbilden, etablieren und sich sodann wieder wandeln, auf bestimmte Weise strukturieren oder versiegen. 1. Tiefenstruktur und Anwendung Die Vorstellung darüber, wie sich Diskurse formieren, herausbilden und etablieren, variiert je nach dem verfolgten Ansatz mitunter relativ stark. Ansätze, die an frühere Arbeiten Foucaults anschließen189, verstehen Diskurse in der Regel als autonome Tiefenstruktur, die sich vergleichsweise unabhängig von den Interaktionen der Subjekte nach eigenen Gesetzmäßigkeiten entwickelt, was als „Wuchern“ bezeichnet worden ist.190 Diese Tiefenstruktur fungiert danach als Grundmuster der Wissensproduktion, das den jeweiligen Aussagen und Praktiken als Prinzip zugrunde liegt, sodass es kein Zufall ist, dass bestimmte Aussagen verstreut an unterschiedlichen Stellen auftauchen. Solche Arbeiten fragen danach, welcher Gegenstand bzw. thematische Bereich von einem Diskurs hervorgebracht wird, nach welchem System und Sinn dessen Begrifflichkeiten gebildet werden, wer welche Sprecherpositionen innehat und welche strategischen Ziele in einem solchen Diskurs verfolgt werden.191 Es geht also um die Formationsregeln kollektiv geteilter Wissensstrukturen.192 188 189 190 191 192

Siehe zu dieser Differenzierung bereits oben C.II.4. Als einschlägig gelten insbesondere etwa Foucault 1988; 2003. Bublitz u. a. 1999. Siehe Bührmann 2005, Abs. 16 ff. zu Foucault 1988. Diaz-Bone 1999, 124.

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D. Diskurs und Kriminalisierung

Der Blick dieses Ansatzes richtet sich damit auf das Innenleben von Diskursen und verortet dort die Bedingungen dafür, dass sich ein bestimmtes Wissen entwickelt, dass sich eine bestimmte Interpretation von Wirklichkeit als wahr durchsetzt, dass bestimmte Aussagen gehört werden, während andere nicht sagbar sind.193 Entscheidend für die Analyse dieser überindividuellen Gesetzmäßigkeiten der Diskurse ist nicht so sehr, was inhaltlich gesagt wird, sondern wie dies passiert und welche Effekte es hat: Wie kommt es dazu, dass in einem bestimmten Themenfeld eine Aussage in diskursiven und nicht-diskursiven Praktiken auftaucht, neues Wissen bildet und ggf. ältere Aussagen verdrängt? Warum entsteht gerade diese Aussage und setzt sich als eine Deutung durch bzw. was ist dafür notwendig? Wie sieht die Beziehung, das Geflecht der verschiedenen Aussagen untereinander aus, die sich gegenseitig unterstützen, beeinflussen, widersprechen und so eine bestimmte Sicht auf die Welt prägen, die als handlungsleitendes Wissen den Praktiken der Subjekte zugrunde liegt? Dieser Untersuchungsschritt der Diskursanalyse, der die Identifizierung solcher Aussagen und ihrer Verknüpfungen zum Ziel hat und damit das Feld nur möglicher Aussagen analysiert und beschreibt, wird als Archäologie bezeichnet.194 Sie sucht in Texten nach den Regelmäßigkeiten, dem Code des Deutens und somit der jeweils geltenden Wissensordnung und ihrer Tiefenstruktur zu einer bestimmten Zeit.195 In späteren Arbeiten hat Foucault sein Verständnis von Diskursen und ihrer Formierung weiterentwickelt und ausdifferenziert.196 Statt der inneren Formationsregeln rückte dabei in stärkerem Maße das Verhältnis von Diskursen zu Institutionen, Subjekten und ihren Praktiken in den Fokus. Diese im Anschluss an Nietzsche als Genealogie bezeichnete Perspektive untersucht weniger als Momentaufnahme einen Diskurs zu einer bestimmten Zeit, sondern versteht Diskurse eher als prozesshafte, sich entwickelnde Phänomene.197 Sie untersucht sie in dem Bestreben, den jeweils herrschenden kulturellen Horizont auf Distanz zu bringen, um seine Kontingenz, seine Gewordenheit zu zeigen und ihn auf diese Weise hinterfragbar zu machen.198 Es geht darum, das erkennbar zu machen, was im Alltag nicht sichtbar ist, weil es als völlig selbstverständlich erscheint.199 Danach gibt es eine Vielzahl ganz verschiedener Bedingungen und Einflüsse, die zur Herausbildung und Veränderung diskursiven Wissens führen, ohne dass sich hierfür ein alleine verantwortliches, zugrunde liegendes Prinzip ausmachen ließe. Die Formierung eines Diskurses erfolgt danach aufgrund des 193 194 195 196 197 198 199

Dazu Althoff/Leppelt 1995, 32 ff. Siehe Foucault 1988, 41 f., 58 ff. Vgl. Keller 2005, 129 f. Siehe beispielsweise Foucault 1978; 1983; 1994. Vgl. Althoff/Leppelt 1995, 61 f. Honneth 2003, 117; grundlegend auch Foucault 1992. Lemke 1999, 188.

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komplexen Zusammenspiels von Kräfteverhältnissen, Machteffekten, überkommenen Wissensstrukturen, divergierenden Zielsetzungen und Ereignissen, die zusammengenommen dazu führen, dass eine bestimmte Interpretation hervortritt und sich etablieren kann.200 Die damit hervorgehobene Bedeutung der Subjekte und ihrer Praktiken für die Diskursproduktion201 führt dazu, dass diesen eine ambivalente Rolle zukommt. Denn einerseits (re-)produzieren sie mit ihrem Handeln gesellschaftliches Wissen und sind so an der Formierung des Diskurses unmittelbar beteiligt. Andererseits aber stellen Diskurse, wie dargelegt, eine überindividuelle Wissensstruktur dar, die den Rahmen für das Denken und Handeln der Subjekte herstellt. Sie ist daher intentionalen Einflüssen grundsätzlich entzogen, auch wenn sie sich aufgrund der sich verändernden Praktiken der Subjekte langsam verschiebt. Umgekehrt hat in dieser Perspektive jedoch auch die diskursive Tiefenstruktur, die die (Re-)Produktion des Wissens bestimmt und als natürlich erscheinen lässt, nicht zwangsläufig an Bedeutung verloren.202 Sie kann und soll hier vielmehr als abstraktes, basales Wissen konzipiert werden, das als Grundmuster das Auftauchen von gleichen Aussagen in unterschiedlichen Kontexten und somit die Formierung des Diskurses leitet.203 Diese Überlegung führt zurück zur Frage nach dem Aufbau und der Ordnung von Diskursen, die als auf unterschiedlich abstrakten Ebenen befindlich beschrieben wurden. Dieser Gedanke lässt sich hier wieder aufgreifen: Die abstraktere, basalere Wissensebene bildet danach jeweils die Grundlage für darauf aufbauende Ebenen bzw. umgekehrt ist jeder Diskurs abhängig und geprägt von den ihm zugrunde liegenden basaleren, abstrakteren Wissensbeständen. Während Foucault mit seinen Arbeiten etwa grundlegende Erkenntnisstrukturen quer zu den verschiedenen Bereichen von Wissenschaft und Gesellschaft herausgearbeitet und beispielsweise gefragt hat, wie Wahnsinn und Kriminalität überhaupt als gesellschaftliche Gegenstände entstanden sind, lassen sich solche Tiefenstrukturen auch auf konkreteren Ebenen finden.204 Diese betreffen beispielsweise nur bestimmte Diskursstränge bzw. Themengebiete. Sie sind daher weniger basal, prägen auf ihrem Feld aber in gleicher Art und Weise Erkenntnis und Wissensproduktion auf konkreteren Ebenen, wie etwa im Bereich der Kriminalisierung die Grundannahmen über Kriminalität und die Notwendigkeit der Strafe. In diesem Sinne kann jede dieser strukturellen Wissensebenen als Tiefenstruktur der jeweils konkreteren Wissensebenen verstanden werden, sodass sich mit der Diskursanalyse nicht alleine his200 201 202 203 204

Valverde 2003, 28 f.; siehe auch Althoff/Leppelt 1995, 24 ff. Siehe dazu auch Reckwitz 2003, 298. So Diaz-Bone 2004a, 52. Keller 2004, 44 f. Bublitz 2006, 243: „Diskurse als Strukturachsen der Gesellschaft“.

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torische Prozesse über lange Zeiträume, sondern ebenso auch aktuelle Fragestellungen untersuchen lassen.205 Zusammenfassend besehen ist damit ein Ansatz herausgearbeitet und vorgestellt, der die Praktiken der Subjekte ebenso integriert wie das Konzept einer diskursiven Tiefenstruktur in Form von Wissen. Diskurse stellen danach basales Wissen dar, das die Aussage- und Handlungsproduktion bei den Subjekten strukturiert und damit die Konstituierung konkreterer Wissensformen leitet. Denn indem die Einzelnen diese überindividuelle Tiefenstruktur, den Wissensrahmen anwenden, bringen sie auf einer konkreteren, eher wandel- und beeinflussbaren Ebene selbst Wissen hervor und reproduzieren damit zugleich die Tiefenstruktur.206 Die Formierung von diskursivem Wissen basiert damit auf zweierlei: Dem basalen, prägenden Wissen des Grundmusters und dem Anwendungsakt der Subjekte. Dabei handelt es sich um einen sich grundsätzlich reproduzierenden Kreislauf. Diesen Zusammenhängen soll hier für das Dispositiv der Kriminalisierung und dessen Diskurse nachgegangen werden, deren sich wandelnde Interpretationen festlegen, was Kriminalität und Abweichung ist. Diese Diskurse erscheinen nicht aus dem Nichts, sondern lassen sich danach als pfadabhängig bezeichnen; sie entwickeln sich aus bereits bestehenden Wissensbeständen, Praktiken und Institutionalisierungen fort.207 Dabei stellt die Kriminalisierung regelmäßig nur einen Ausschnitt bzw. einen Aspekt der diskursiven Thematisierung einer bestimmten Sache dar, die zumeist wesentlich breiter und umfangreicher ist, wie sich etwa am Beispiel des Stalking gezeigt hat. Ebenso wie sich die Wirkung dieses Wissens nicht auf die Kriminalisierungsinstanzen beschränkt, sondern die Gesellschaft in ihrer Gesamtheit prägt, sind auch die Prozesse der Produktion dieses Wissens und die Gesetzmäßigkeiten des Diskurses nicht auf Polizei und Justiz beschränkt. Sie laufen vielmehr in der Gesellschaft insgesamt ab und speisen sich somit aus ganz unterschiedlichen Einflüssen. Von besonderem Interesse für die Frage nach der Formierung sind dabei zwei Gesetzmäßigkeiten bzw. Auswirkungen, die im Folgenden besonders herausgegriffen werden sollen: Wie entsteht ein Diskurs über ein bestimmtes Thema (Initiierung)? Und was führt dazu, dass sich gerade eine bestimmte Interpretation durchsetzt (Etablierung)? 2. Initiierung Wie bei der Formierung insgesamt lassen sich auch für die Entstehung von Diskursen Momente innerhalb und außerhalb des Diskurses in den Blick neh205 206 207

Siehe Opitz 2004, 55 ff. Vgl. Wrana/Langer 2007, Abs. 25 f. Bührmann/Schneider 2007, Abs. 36 ff.; Groenemeyer 2003, 21.

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men. In früheren Arbeiten hat Foucault sich auf die Analyse von Regeln zur Formation bestimmter diskursiver Grundmomente konzentriert: der Gegenstände, der Äußerungsmodalitäten, der Begriffe und der Strategien eines Diskurses.208 Es ging ihm um die Untersuchung der Hervorbringung von Aussagen unter verschiedenen Aspekten.209 Mit der genealogischen Herangehensweise erlangten dann prozesshafte und handlungspraktische Aspekte größere Bedeutung sowie die spezielle Verbindung von Macht und Wissen. Die Entstehung von Diskursen bzw. die Diskursivierung bestimmter gesellschaftlicher Bereiche ist daher wie bereits angesprochen von ganz verschiedenen Faktoren abhängig. Dies betrifft zum einen gewisse Produktionsstätten des Diskurses an verschiedenen Orten der Gesellschaft, die Foucault etwa als „Apparate“ oder „Brennpunkte“ bezeichnet hat.210 Zum anderen sind für die Entstehung von Diskursen aber auch bestimmte Bedingungen von Relevanz, die dafür sorgen, dass eine Rede oder Äußerungen an einem bestimmten Punkt wahrgenommen und diskursiv behandelt wird. Bereits an dieser frühen Stelle setzen sich damit Interpretationen in Form von Äußerungen gegen andere Sichtweisen durch, werden nur bestimmte Sachen von bestimmten Leuten zu einer bestimmten Zeit gehört, aufgenommen und weiter behandelt. Dies kann zum Beispiel deshalb geschehen, weil sie im Rahmen des gegenwärtig gültigen Wissens als besonders plausibel erscheinen oder eingängig sind. Insofern sind thematische Kontexte zu dem betreffenden Themenfeld bedeutsam und können die Wahrscheinlichkeitsbedingungen für das Auftreten oder Ausbleiben eines bestimmten Diskurses beeinflussen.211 Diese außerhalb des Diskurses bestehenden Bedingungen bestimmen mit, welche Äußerungen wann zu Aussagen eines Diskurses werden. Dies bedeutet jedoch nicht alleine eine Verknappung und damit ausschließende Wirkung des Diskurses, der nur bestimmte mögliche Äußerungen als Aussagen zulässt.212 Stattdessen lässt sich dieser Effekt des Diskurses auch positiv beschreiben, wenn man in den Blick nimmt, dass es sich um Wissen handelt, das durch die Subjekte, ihren „Willen zum Wissen“ (Foucault) und ihre Praktiken hervorgebracht wird, die durch andere Bedingungen gefördert und angereizt werden.213 Vor allem relevant für die Initiierung von Diskursen aber sind die jeweils zugrunde liegenden abstrakteren Wissensbestände. Der hier verfolgten Vorstellung nach handelt es sich bei der Formierung von Diskursen, wie beschrieben, um einen Kreislauf von unterschiedlich abstrakten Wissensbeständen, der durch die 208 209 210 211 212 213

Foucault 1988, 48 ff.; siehe dazu Althoff 2002, 50 ff. Keller 2004, 46. Foucault 1983, 35 ff.; dazu McMullan/McClung 2006, 71 ff. Vgl. Pulver 1999, 278, 281. Siehe dazu Althoff/Leppelt 1995, 38 f.; Keller 2005, 131 f. Siehe zu einem Beispiel Foucault 1983, 23 ff.

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Subjekte reproduziert wird. Demnach basiert das Entstehen eines Teildiskurses wesentlich auf basalen, abstrakten Wissensbeständen zu diesem thematischen Bereich, die den Rahmen dieses Teildiskurses bilden und in wechselseitigem Zusammenwirken mit anderen Bedingungen, Ereignissen und Kräfteverhältnissen zur Hervorbringung neuer, konkreterer Wissensbestände führen können. Das dort bestehende abstrakte, institutionalisierte Wissen bildet somit den Rahmen und die Basis für die Initiierung konkreterer Diskurse. Dieses Wechselverhältnis soll im Folgenden im Fokus der Betrachtungen stehen. Dabei handelt es sich in der Regel eher um kontinuierlich ablaufende Prozesse als um plötzliche Ereignisse, auch wenn deren Geschwindigkeit variieren und sich verändern kann. Diese Hervorbringung bestätigt damit zugleich das zugrunde liegende basale Wissen, den Wissensrahmen. Gleichwohl kann sich natürlich auch dieser Wissensrahmen, das heißt das ganz grundlegende Wissen wandeln, kann sich die Grundlage der bestehenden Denk- und Handlungsmuster214 verändern und beispielsweise zu einer neuen Rationalität der Kriminalisierung führen.215 Für Diskurse im Rahmen des Dispositivs der Kriminalisierung bedeutet diese Vorstellung zunächst eine Abhängigkeit von übergeordneten Diskursebenen, wie zum Beispiel regelmäßig denjenigen, auf denen die Notwendigkeit, die Formen und die Zwecke der Strafe angesiedelt sind. Aber auch die ebenfalls noch grundlegenden Logiken und Leitlinien von Kriminalpolitik und Strafrechtspraxis spielen eine solche Rolle, sodass zum Beispiel das gegenwärtige Verständnis von Risiken und Sicherheit, aber auch von effizienter, ökonomischer Strafverfolgung das konkrete Wissen über bestimmte Formen von Kriminalität und ihre Bearbeitung prägen. Regelmäßig haben nur Äußerungen Chancen auf eine Diskursivierung, die sich innerhalb dieses Rahmens befinden. Dies gilt zwar nicht uneingeschränkt; darüber hinausgehende Äußerungen müssen jedoch besondere andere Eigenschaften mitbringen, um sich zu etablieren. So können sie etwa besonders innovativ sein oder im Gegenteil auf sonstige, bereits etablierte und daher gängige Aussagen und diskursive Elemente Bezug nehmen und mit diesen zusammenspielen. Insofern werden dann auch thematische Kontexte des jeweiligen Kriminalisierungsdiskurses relevant, etwa wenn es um die Frage geht, wie eine bestimmte Verhaltensweise gesellschaftlich gesehen und bewertet wird. Modellhaft gezeichnet lassen sich allgemeine Mechanismen zur Initiierung von Kriminalisierungsdiskursen vor diesem Hintergrund wie folgt beschreiben:216 Ein Sachverhalt wird zunächst gesellschaftlich als solcher überhaupt wahrgenommen. Im Anschluss daran wird er als soziales Problem oder als Konflikt angesehen und in diesem Sinne weitergehend thematisiert. Bei der Diskus-

214 215 216

Vgl. dazu Lemke 1997, 339 ff.; Opitz 2004, 54. Garland 1997, 184 f. Vgl. Pulver 1999, 308 ff.

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sion um Lösungen dieses Problems zeichnen sich keine hinreichenden Möglichkeiten ab bzw. werden die bestehenden Möglichkeiten nicht als ausreichend angesehen, sodass die Kriminalisierung als gesellschaftlicher Mechanismus bei der Bearbeitung von Problemen übrig bleibt. Insofern wird auf übergeordnete Diskursebenen zurückgegriffen. Dieser Weg macht es indes erforderlich, das bestehende Problem auf eine konkrete Handlung zu reduzieren, die sich als Verhaltensweise kriminalisieren, verurteilen und bestrafen lässt. Dieses Verhalten wird mit einem moralischen Makel versehen – etwa indem es mit gewissen Eigenschaften assoziiert wird, die andere Delikte auch haben – und oft bestimmten gesellschaftlichen Gruppen zugeordnet, um es dann zu kriminalisieren. Das bedeutet, es wird entweder unter bereits bestehende Straftatbestände subsumiert. Wenn dies nicht möglich sein sollte, können neue Tatbestände geschaffen oder bestehende erweitert werden, wie es häufig unter dem Schlagwort der „Schließung von Strafbarkeitslücken“ geschieht.217 Wenn eine Verhaltensweise auf diesem Weg als Straftat anerkannt ist, lässt sie sich – als Steigerung dessen – als besonders schlimmes Delikt diskursivieren.218 Als eindrucksvolles Beispiel für solch eine Initiierung eines Kriminalisierungsdiskurses aus der jüngeren Vergangenheit lässt sich das so genannte „Stalking“ anführen. Hierunter wird ein in verschiedenen Formen mögliches, belästigendes „Nachstellen“ einer Person gegenüber einer anderen verstanden (vgl. § 238 StGB). Solche Verhaltensweisen waren zwar teilweise bereits von Straftatbeständen erfasst, spielten aber als besondere Form abweichenden Verhaltens im juristischen und im kriminologischen Diskurs in Deutschland bis in die 1990er Jahre hinein keine Rolle, das heißt sie wurden noch nicht einmal bewusst zur Kenntnis genommen und waren als soziale Wirklichkeit im Prinzip nicht vorhanden. Dies änderte sich in den 1990er Jahre, nachdem sich der entsprechende Diskurs in den USA bereits seit Anfang der 1980er Jahre in verschiedenen Phasen entwickelt hatte, von der erstmaligen Wahrnehmung und frühen Berichten über derartige Verhaltensweisen bis zur Etablierung als besonders problematische Form von Delinquenz. Dabei standen jeweils verschieden Formen von „Stalking“ im Fokus, von besonderen Arten sexueller Belästigung über das so genannte „Star-Stalking“ bis hin zu Formen häuslicher Gewalt. Im Anschluss hieran fand „Stalking“ als besondere Deliktsform auch in Deutschland Eingang in den juristischen und kriminologischen Diskurs, der schließlich zur Schaffung des § 238 StGB führte.219

217 Siehe allgemein zu verschiedenen theoretischen Überlegungen bezüglich der Entstehung von Straftatbeständen Eisenberg 2005, § 25, Rn. 6 ff. 218 Zu solchen Prozessen Krasmann 2003c, 98. 219 Siehe zur Entwicklung Mullen/Pathé/Purcell 2000, 23 ff.; Müller 2007, 45 ff.

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3. Etablierung Wenn auf diesem Wege ein Kriminalisierungsdiskurs initiiert ist, bedeutet dies nicht zwangsläufig, dass er sich auch durchsetzt, das heißt sich in diskursiven und nicht-diskursiven Praktiken niederschlägt und schließlich als Wissen derart etabliert, dass er gesellschaftliche Wirklichkeit konstituiert. Vielmehr ist der Weg von der Initiierung bis zum Bestandteil interpretativer Wirklichkeit regelmäßig langwierig und kann als schrittweiser Prozess angesehen werden. Am Anfang dessen steht die Initiierung des Diskurses, die mitunter Brüche innerhalb der bis dahin bestehenden Wissensordnung hervorbringt. Denn hier konkurrieren nicht selten noch verschiedene Interpretationen zu einer Thematik innerhalb des bestehenden diskursiv gezogenen Wissensrahmens. Dabei setzt sich sodann eine Sichtweise durch und wird durch die beschriebenen Mechanismen schrittweise als Teil des Diskurses etabliert. Dies geschieht, indem das betreffende Thema mehr oder weniger breit aufgegriffen und bearbeitet wird. Durch diese Praktiken entstehen einerseits einschlägige Wissensbestände, die ihrerseits weitergehende Diskursivierungen in Gang setzen können. Zum anderen werden damit jeweils die Grundannahmen dieses Teildiskurses bestätigt und so Stück für Stück institutionalisiert. Wird beispielsweise eine rechtliche Regelung neu eingeführt, so lässt sich regelmäßig zunächst eine Debatte oder Auseinandersetzung über deren Auslegungen und Anwendungsbereich beobachten. Die sich dabei durchsetzende Auffassung – manchmal sind es auch zwei oder drei, die sich über längere Zeit in der Diskussion halten – kann sich dann zunehmend als wahr und als gültiges Wissen über das Recht etablieren. Mit diesem Status wird sie nicht mehr ohne weiteres in Frage gestellt, sondern im Gegenteil durch die mit legitimierenden Begründungen einhergehende Weitergabe an folgende Generationen objektiviert. Denn diese kennen nur die institutionalisierte, als wahr geltende Interpretation, nicht mehr den Prozess, in dem sie sich durchgesetzt hat. Auf diesem Weg weitet und wandelt sich das System aus institutionalisiertem Wissen.220 Als weiteres anschauliches Beispiel kann der Diskurs über das Rauchen in den vergangenen Jahren gelten. Im Zuge dessen hat sich als Allgemeinwissen durchgesetzt, dass Rauchen – und insbesondere auch passives Rauchen – schädlich ist und Mitmenschen daher davor zu bewahren sind. In diesem Zusammenhang hat beispielsweise das Aufhören mit dem Rauchen eine veränderte Bedeutung erlangt. Es wird stark positiv gezeichnet und Rauchen weniger als individuelles, denn als volkswirtschaftliches Problem angesehen. So veranstalten heute zum Beispiel Radiosender über mehrere Wochen hinweg diesem Zeitgeist entsprechend Kurse zum Aufhören221 und es werden vielerorts Zahlen veröf-

220

Vgl. Berger/Luckmann 1996, 65 f.

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fentlicht, welche die Kosten des Rauchens für das Gesundheitssystem beziffern. Aber auch die Praxis des Rauchens selbst verändert sich. War es in vergangenen Jahrzehnten selbstverständlich, in Autos, Wohnungen und Restaurants auch bei Anwesenheit von Nichtrauchern zu rauchen, so schlägt sich das in diesem Themenfeld entstandene diskursive Wissen nun zunehmend auch in entsprechend gewandelten Verhaltensweisen nieder. Vor dem Rauchen in Autos und Wohnungen wird gefragt bzw. auf den Balkon gegangen; Restaurants weisen häufiger Nichtraucherbereiche aus; Taxis, Ferienhäuser u. ä. Institutionen werben damit, eine Nichtraucher-Einrichtung zu sein; der Gesetzgeber hat verschiedene Maßnahmen ergriffen. Diese sozialen Praktiken etablieren somit das veränderte diskursive Wissen über das Rauchen, das nicht intentional von bestimmten Akteuren initiiert wird, sondern sich aufgrund des Zusammentreffens einer Vielzahl von Umständen und Praktiken schrittweise etabliert. Als frühzeitige und niedrigschwellige Mechanismen der Etablierung von Wissen lassen sich zunächst Schematisierungen und Kategorienbildung verstehen. Solche Konstruktionen von Regelmäßigkeiten und Vergleichbarkeiten in Form von Klassifikationen führen zur Wahrnehmung der Welt in diesen Kategorien und zur Reduktion der Komplexität sozialen Lebens. Der Einzelne greift im Alltag auf bekannte Interpretationsmuster zurück und sortiert anhand gewusster Schemata.222 Diese Vereinfachung funktioniert angesichts der dabei zu beobachtenden und sich zugleich herausbildenden dichotomen Sichtweise auch regelmäßig. Denn wenn es nur die binäre Differenzierung in zwei Möglichkeiten gibt, in gut und böse, krank und gesund, schuldig und unschuldig, lässt sich nahezu jede soziale Erscheinung hier einordnen. Mit dieser Einordnung bestätigt sich in jedem Fall aufs Neue auch das dieser Sichtweise und Kategorisierung zugrunde liegende Wissen.223 Die dabei relevanten Klassifizierungen sind somit einerseits Effekt des Diskurses, andererseits Werkzeug seiner Etablierung. Wurde ein Bestand diskursiven Wissens so in einem ersten Schritt etabliert, hängt seine weitere Entwicklung davon ab, ob er sich gegen konkurrierende Deutungen durchsetzen kann und objektiviert wird, inwieweit er sich also von einer möglichen zur gängigen oder gar „objektiv richtigen“ Interpretation entwickelt. Hierbei können Mechanismen eine Rolle spielen, die dieses Wissen in einem bestimmten Kontext immer wieder aktivieren. So hat etwa Link eine Theorie der Kollektivsymbole vorgelegt. Bei diesen handelt es sich um einen Bestand an Bildern zur Deutung gesellschaftlicher Wirklichkeit, der den Individuen als allgemein bekannt zur Verfügung steht. Diese anschaulichen Modelle und Metaphern produzieren als kulturelle Stereotype bildhaft gesellschaftliche 221 So der öffentlich-rechtliche Sender Antenne Brandenburg zur Jahreswende 2006/2007. 222 Vgl. Sack/Lindenberg 2001, 171. 223 Siehe Scraton 2002, 29.

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Wirklichkeit.224 Es handelt sich mithin um die Gesamtheit von Bildlichkeiten, mit denen wir uns in symbolisch-verdichteter Form ein Bild von der Welt machen.225 Einen ähnlichen Mechanismus stellen so genannte story lines oder – in Anlehnung an die Psychologie – kognitive Schemata dar, die bestimmte Aussagen eines Diskursstranges miteinander und mit sonstigen Kontexten verknüpfen. Auf diesem Weg wird dieses Wissen jedes Mal implizit aktiviert, wenn der entsprechende Kontext auftaucht. In diesem Sinne aktiviert etwa das Verschwinden eines Kindes heute implizit das Wissen Sexualstraftäter, Kindermörder, Wegsperren und lässt sich so als story line verstehen. Als weiterer Mechanismus bei der Etablierung von Diskursen lassen sich außerdem Ereignisse ausmachen. Ereignisse im Sinne der Diskursanalyse sind kein tatsächliches, sondern ein besonderes diskursives Geschehen, das heißt ein solches, das vom Diskurs als Ereignis aufgenommen und bearbeitet wird.226 Ein Geschehen wird mithin erst durch den Diskurs zum Ereignis.227 Gleichwohl sind diskursiver Ereignisse bedeutsam für den Verlauf des Diskurses, können hieraus bruchhafte Rekonstruktionen des Diskurses folgen. Denn solche diskursiven Ereignisse müssen sich nicht zwangsläufig in den bestehenden Diskurs einpassen, sie können auch im Widerspruch zu ihm stehen, ihn stören und so zu Interpretationskonflikten bzw. einem Bruch führen. Dies kann langsam und stetig erfolgen, wenn die Diskursivierung eines Ereignisses eher als Prozess stattfindet und somit auch der diskursive Wandel derart verläuft, oder sehr schnell bei plötzlich auftretenden diskursiven Ereignissen. Eine Institutionalisierung von Wissensbeständen schließlich findet statt, indem diese sich in Typisierungen niederschlagen. Sie werden damit zum Allgemeingut und treten dem Einzelnen als äußeres, gegebenes Faktum gegenüber. Mit ihrer ständigen Weitergabe objektivieren und verfestigen sich diese institutionalisierten Wissensbestände fortwährend – wie in der vorliegenden Konstellation beispielsweise Kriminalität sowohl als gesellschaftliches Phänomen wie auch in ihren verschiedenen Formen.228 Sie werden als objektive Wirklichkeit erlebt, da sie unabhängig vom Einzelnen vorhanden sind.229 Je weiter ein bestimmtes Wissen auf diesen Wegen als Interpretation anerkannt und objektiviert ist, umso mehr und stärker konstituiert es Wirklichkeit als Effekt des Diskurses. Dabei ist hinsichtlich sozialer Wahrnehmung etwa zu berücksichtigen, dass der Einzelne jeweils bemüht ist, neue Informationen und bestehende Erfahrungen

224

Link 1997, 25 f. Vgl. Jäger 1999, 133 f. m.w. N. 226 Vgl. Link 1999, 149 f. 227 Jäger 1999, 132. 228 Zur medialen Konstruktion von Kinder- und Jugenddelinquenz, „Organisierter Kriminalität“ und Sexualdelikten Frehsee 2003, 404 ff. 229 Siehe Berger/Luckmann 1996, 56 ff. 225

IV. Formierung des Diskurses

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und Wissen in Übereinstimmung zu bringen. Dies führt einerseits dazu, dass neue Dinge vor dem Hintergrund des bestehenden Wissens interpretiert werden. Zum anderen ist durch diesen Mechanismus aber auch eine selektive Wahrnehmung in der Form bedingt, dass Dinge gar nicht oder anders wahrgenommen werden, wenn sie nicht mit dem jeweils bestehenden Wissenshorizont zu vereinbaren sind.230 Diese Etablierung geht soweit, dass bestimmte Wissensbestände derart evident sind, dass sie nicht mehr hinterfragt werden. Insofern ist gerade das Wissen am etabliertesten, über das nicht geredet wird, sondern das als Evidenz im Hintergrund steht, weil es selbstverständlich ist. Dies bedeutet umgekehrt, dass ein Thema, über das geredet wird, entweder nicht mehr selbstverständlich, sondern in einem Umbruch befindlich ist oder dass es noch nicht als selbstverständliches Wissen etabliert ist. Als äußerster Schritt in diese Richtung ist die Verdinglichung bezeichnet worden, das heißt die Auffassung von sozialen Phänomenen als nicht vom Menschen geschaffen, als außermenschliche Faktizität und Naturgegebenheit231 – wie sich am Beispiel der Kriminalität zeigt, die sozial konstruiert ist und gleichwohl als gesellschaftliche Entität begriffen wird. Auf dieser Diskursebene, wo gesellschaftliches Wissen derart fest institutionalisiert ist, entfaltet es somit auch seine stärkste Wirkung. Denn es führt hier nicht mehr alleine dazu, dass bestimmte Dinge besonders wahrgenommen werden oder die Sicht auf Alternativen verstellt ist, sondern es gilt als einzig zulässige Wahrheit. Selbst wenn andere Interpretationen in den Bereich des Vorstellbaren gelangen, so werden sie doch zusammen mit ihren Vertretern als abwegig abgetan. 4. Bedeutung des Rechts Im Dispositiv der Kriminalisierung produzieren Bestände basalen gesellschaftlichen Wissens Kriminalität als soziale Wirklichkeit, die sich neben der allgemeinen Wirkung auf die Gesellschaft in besonderer Weise auch bei den Instanzen auswirkt. Sie bildet die Grundlage sowohl für Sachverhaltsfeststellung als auch Rechtsanwendung, wenngleich die Kriminalisierung in der Regel nur einen Aspekt der diskursiven Bearbeitung eines Themas darstellt. Wie oben bereits gezeigt wurde, lässt sich das Gesetz dabei als Materialisierung des Diskurses, als geronnenes, etabliertes Wissen verstehen.232 Andererseits kommt dem Recht in seiner Anwendung aber auch eine aktive, konstituierende Rolle zu. Denn das Wirken der Instanzen ist relevant für die Formierung von Diskursen. Das in den Diskursen transportierte Wissen wird 230 231 232

Siehe Eisenberg 2005, § 50, Rn. 13 f. Berger/Luckmann 1996, 95 f. Siehe oben III.2.; vgl. auch Teubner 1989, 739.

112

D. Diskurs und Kriminalisierung

daher im Prozess der Kriminalisierung nicht nur umgesetzt. Es wandelt sich auch, sodass die Rechtsanwendung ihrerseits auf den Diskurs zurückwirkt und Einfluss auf das gesellschaftliche Verständnis von Kriminalität gewinnt. Die Rechtsanwendung durch die Instanzen der Strafverfolgung stellt sich daher nicht nur als ein Effekt des Diskurses dar, sondern sie spielt in entgegengesetzter Richtung auch eine Rolle bei dessen Entstehung und Wandel. Sie lässt sich gar als ein zentrales Moment für die Formierung der Diskurse im Dispositiv der Kriminalisierung verstehen und soll daher im folgenden Kapitel als besonderer Faktor bei der Formierung von Kriminalisierungsdiskursen genauer untersucht werden.233 Hierfür ist es hilfreich, zunächst zwischen gesellschaftlichem Wissen über Kriminalität einerseits und Wissen über das Recht – das heißt über seine Anwendung und seinen Gehalt – andererseits zu differenzieren. Bei der Schaffung von Gesetzen ist der Gesetzgeber zunächst darum bemüht, bestehende gesellschaftliche Wissensbestände über Kriminalität in Gesetzesform zu institutionalisieren, sodass das Wissen über Recht und das über Kriminalität übereinstimmen sollten. Abgesehen davon, dass dies dem Gesetzgeber nicht immer gelingt, wandeln sich jedoch die gesellschaftlichen Wissensbestände über Kriminalität im Laufe der Zeit, sodass die beiden Wissensformen nicht (mehr) übereinstimmen. Denn das in Recht gegossene und so institutionalisierte Wissen verändert sich angesichts seiner Materialisierung in Gesetzesform auf andere Art und Weise und in anderer Geschwindigkeit.234 Gleichwohl wandeln sich die Bedeutungen gesetzlicher Regelungen über die Zeit und passen sich den Veränderungen der interpretativen Wirklichkeit an. Umgekehrt kann es passieren, dass sich im juristischen Diskurs und im Prozess der Rechtsanwendung das Wissen über den rechtlichen Gehalt bestimmter Regelungen und damit auch über Kriminalität verändert. Dies hat Einfluss auf das gesellschaftliche Wissen über Kriminalität, das seinerseits wiederum auf die sozialen Praktiken in der Gesellschaft wirkt. Dies betrifft nicht alleine die Instanzen, sondern etwa auch den Gesetzgeber oder schlicht die Allgemeinheit. Die Rechtsanwendung lässt sich somit als ein Teilbereich der Konstruktion von Kriminalität auf dieser übergeordneten Wissensebene verstehen,235 als Ensemble diskursiver und nicht-diskursiver Praktiken, die mit den gesellschaftlichen Wissensbeständen über Kriminalität in Wechselwirkung stehen.236 Die Bedeutung dieses Zusammenhangs wird durch den Befund gesteigert, dass durch das Recht zunehmend flexiblere, weite Rahmenbedingungen gesetzt werden, in-

233 234 235 236

Althoff/Leppelt 1995, 25. Vgl. Berger/Luckmann 1996, 94. Zu einer solchen Perspektive auch Hess/Scheerer 1997, 88 ff. Siehe Valverde 2003, 190 f.

V. Zusammenschau

113

nerhalb derer sich strafrechtliche Sozialkontrolle den Erfordernissen der Praxis gemäß entwickeln kann.237

V. Zusammenschau Zusammenfassend besehen wird Kriminalität als soziale Wirklichkeit durch Bestände gesellschaftlichen Wissens konstituiert. Dieses Wissen wird in Diskursen initiiert, objektiviert, etabliert und wandelt sich im Laufe der Zeit. Dabei handelt es sich um eine überindividuelle, sozialer Interaktion übergeordnete Ebene, deren Interpretationen das Denken und Handeln der Subjekte prägen und leiten. Sie stellen so einen Wissensrahmen bereit, der für den Einzelnen objektiv erscheint und daher verbindlich ist; intentionale Einflussnahmen und Auseinandersetzungen sind nur innerhalb dieses Rahmens denkbar. Bezüglich der Kriminalisierung im Besonderen bildet das jeweils gültige gesellschaftliche Wissen über Kriminalität zusammen mit den damit in Verbindung stehenden Praktiken und Materialisierungen das Dispositiv der Kriminalisierung. Innerhalb dessen führen die Praktiken der Subjekte zu einem steten Kreislauf des diskursiven Wissens auf den verschiedenen Ebenen des Diskurses, die somit reproduziert werden und sich verändern. Dieser Vorstellung folgend ergibt sich für eine kriminologische Diskursforschung die Zielsetzung zu klären, wie soziale Probleme, Konflikte und schließlich Kriminalität in Diskursen als gesellschaftliche Realität entstehen und wie daraus folgend Wahrnehmung und Handeln bestimmt werden und sich verändern.238 Daher ist einerseits der Frage nachzugehen, wie Diskurse über soziale Probleme die Wahrnehmung und Bewertung (auch) im Kriminalisierungsprozess beeinflussen, welche Bedeutung diese Produktion von Realität für den Zuschreibungsprozess und damit die Definition von Abweichung hat. Für den Prozess der Rechtsanwendung ist dabei insbesondere von Interesse, wie dieser sich Veränderungen der interpretativen Wirklichkeit anpasst, wie also das rechtliche Wissen durch Veränderungen im gesellschaftlichen Wissen über Kriminalität beeinflusst wird. Andererseits ist gerade auch die Art und Weise strafrechtlicher Beurteilung als juristischer Spezialdiskurs bzw. als spezielle diskursive Praxis von zentralem Einfluss auf die Rezeption sozialer Probleme im Diskurs. Die Instanzen können daher als Institutionen verstanden werden, deren Wirken von erheblicher Bedeutung für die Formierung von Kriminalisierungsdiskursen ist,239 indem sie Wissen produzieren, objektivieren und kommunizieren und damit bestimmen, was als soziales Problem wahrgenommen und behandelt wird.

237 238 239

Kreissl 1997, 538. Vgl. Althoff/Leppelt 1995. Siehe auch Simon/Feeley 1995, 148 ff.

E. Kriminalisierung als diskursive Praxis Nachdem im vorangegangenen Kapitel dargelegt wurde, welche Rolle Diskurse abstrakt besehen bei der Konstituierung von Kriminalität spielen, soll diesem Zusammenhang nun auf einer konkreteren Ebene nachgegangen werden. Im Fokus der folgenden Betrachtungen steht die Frage, wie das Wechselverhältnis von überindividuellem, gesellschaftlichem Wissen einerseits und konkreten Prozessen der Kriminalisierung andererseits aussieht, welche Rolle also Wissen für die Produktion der Kriminalitätswirklichkeit durch die Rechtsanwendung spielt.

I. Wissen und Kriminalisierung Wenn Diskurse über Kriminalität soziale Wirklichkeit konstituieren, so gilt dies nicht nur für die Allgemeinheit oder den einfachen Bürger, sondern ebenso für die professionell handelnden Instanzen im Bereich der Kriminalisierung. Auch ihr Aktionsradius, ihr Handeln und Denken wird durch diskursives Wissen geprägt und begrenzt.1 Umgekehrt ist ihr Wirken von prominentem Einfluss auf das gesellschaftliche Wissen über Kriminalität. An diesen Punkten setzen die folgenden Betrachtungen an, um die Rolle von Diskursen für konkrete Prozesse der Kriminalisierung zu untersuchen. 1. Rolle des Wissens Interpretative Ansätze wie der hier verfolgte gehen, wie bereits verschiedentlich dargelegt, davon aus, dass soziale Wirklichkeit durch wissensbasierte Interpretationen und Bedeutungszuschreibungen gebildet wird. In dieser Perspektive sind Wahrheit und Wirklichkeit kontingent, das heißt nicht naturgegeben, sondern nur eine mögliche Interpretation der Welt.2 Diese jeweils gültigen Interpretationen etablieren sich als gesellschaftliches Wissen, das grundlegend ist für die Wahrnehmung und den Umgang des Einzelnen mit der Welt.3 Das Verhältnis zwischen derart objektiviertem Wissen und sozialen Praktiken lässt sich als wechselseitig betrachten: Im Rahmen solcher Praktiken wird auf gesellschaft1 2 3

Vgl. zu Überwachungstechnologien Zurawski 2007a, 85 f. Foucault 1978, 51. Althoff 2002, 47 f.

I. Wissen und Kriminalisierung

115

liches Wissen zurückgegriffen, das dabei aktualisiert und transformiert wird.4 Dies gilt auch für Kriminalisierungsprozesse. Die Feststellung und Qualifizierung eines bestimmten Verhaltens als Kriminalität im Laufe des Kriminalisierungsprozesses ist im Prinzip beliebig, wie die Herausarbeitung der im Prinzip unbegrenzt bestehenden Spielräume im dritten Kapitel gezeigt hat. Sie würde anders ausfallen, wenn der Betrachter und Beurteilende von einem anderen Wissen – über den zu beurteilenden Gegenstand wie auch den Gehalt des Gesetzes – als Grundlage der Interpretation ausginge. Solche Wissensbestände bilden somit die inhaltliche Grundlage der Kriminalisierung, indem sie die möglichen Interpretationen und Sinnzuschreibungen zu einem Verhalten kulturell begrenzen und so die Ausfüllung der genannten Spielräume leiten.5 Umgekehrt ist die Praxis der Kriminalisierung aber auch von Einfluss auf dieses gesellschaftliche Wissen, indem sich ihre Festlegungen und Interpretationen hier niederschlagen und zu Veränderungen führen.6 Die Rolle solchen Wissens bei der Kriminalisierung besteht daher zum einen in der inhaltlichen Leitung und Führung. Zum anderen stellt es aber auch einen Effekt dieser Praktiken dar, deren Ergebnisse sich als gesellschaftliches Wissen über Kriminalität festsetzen.7 Diskursives Wissen in diesem Sinn meint, wie eingangs dargelegt, grundlegende, kollektive Vorstellungen von der Welt, die derart etabliert sind, dass sie eine Wahrheitswirkung entfalten. Es handelt sich um längerfristige Wissensbestände, die eine gewisse Abstraktion aufweisen, wenngleich der Übergang zu konkreteren und weniger fest etablierten Interpretationen fließend ist. Dieses Wissen definiert nicht alleine die ganz grundsätzlichen Fragen der Kriminalitätsbearbeitung, sondern insbesondere auch, was Kriminalität in ihren einzelnen Formen ist. Es legt also fest, dass Gruppen von Verhaltensweisen oder Geschehensabläufen kriminell sind, sortiert sie in eine bestimmte Kategorie ein und bestimmt, ob es sich etwa um eine spezielle und daher anders zu bewertende oder beispielsweise eine besonders schwere Form von Kriminalität handelt, wie etwa Delikte mit rechtsextremem Hintergrund oder Sexualdelinquenz. Die grundsätzliche Richtung und Linie der Kriminalisierung eines solchen Falles wird durch den Wissensrahmen vorgegeben, sodass zum Beispiel eine als speziell oder als schwerwiegende Form von Kriminalität eingestufte Verhaltensweise auch eine entsprechende Behandlung erfährt. Für eine Betrachtung dieser Prozesse sind zunächst die besonderen Wissensbestände bei den Instanzen der Strafverfolgung von Interesse. Jedoch steht dieses spezielle Wissen als inhaltliche Grundlage der Kriminalisierung in Verbindung mit und wird geprägt durch das kollektive gesellschaftliche Wissen über 4 5 6 7

Siehe Keller 2005, 40 f. im Anschluss an Berger/Luckmann 1996. Siehe Krasmann 1995, 244 ff. Zu verschiedenen empirischen Beispielen für Kanada und die USA Valverde 2003. Siehe dazu auch Henry/Milovanovic 1991, 299 f.

116

E. Kriminalisierung als diskursive Praxis

Kriminalität. Denn der allgemeine gesellschaftliche Diskurs über Kriminalität und der detailliertere, professionelle Spezialdiskurs der Instanzen beeinflussen sich wechselseitig: Ebenso wie die allgemeine Wahrnehmung von Kriminalität für deren professionelle Bearbeitung von Bedeutung ist, beeinflussen die Ergebnisse von Kriminalisierungsprozessen die gesellschaftliche Wahrnehmung. Beide Formen von Diskursen decken sich insofern in ihren grundlegenden inhaltlichen Festsetzungen und finden mit ihren Aussagen immer wieder Eingang in den jeweils anderen, sodass das allgemeine gesellschaftliche Wissen für die vorliegende Fragestellung nicht außer Betracht bleiben kann.8 Innerhalb des Spezialwissens der Instanzen lässt sich weiterhin inhaltlich differenzieren zwischen Diskursen über Kriminalität als soziales Phänomen und solchen über das Recht, die die Interpretationen der gesetzlichen Regelungen beinhalten und bestimmen, was nach dem Gesetz Kriminalität ist. Während bei der Allgemeinheit erstere dominieren,9 bestehen bei den Instanzen der Strafverfolgung beide Diskursstränge nebeneinander. Für die dortigen Subjekte ist einerseits das Wissen darüber relevant, was dem Gesetz nach Kriminalität darstellt. Gleichwohl haben sie auch eine Vorstellung davon, was Kriminalität sozial und auch unabhängig von gesetzlichen Regelungen ist. Diese beiden Stränge beeinflussen und bedingen sich gegenseitig, sie überschneiden und treffen sich in vielfältiger Form und in der Regel decken sie sich. Beide Stränge können jedoch auch in Widerspruch zueinander geraten, denn sie unterscheiden sich an einem zentralen Punkt: der Existenz des Gesetzes. Diese Materialisierung und daher starke Institutionalisierung von Wissen mit ihrer Bindungswirkung führt dazu, dass sich Diskurse über das Recht nur langsamer und anders wandeln als sonstiges Wissen. Die Kriminalisierung durch die Instanzen auf der Normanwendungsebene lässt sich vor diesem Hintergrund als interpretative Tätigkeit verstehen, die durch Wissen geleitet ist, aber auch Wissen reproduziert. In dieser Perspektive wird Kriminalität nicht primär durch die Strafgesetze definiert, sondern durch das diskursive Wissen über Kriminalität, das sich in den verschiedenen Wis8 Valverde 2003, 190 f. macht dies daran deutlich, dass in Kanada und den USA die Fähigkeit zur Beurteilung der Fahrtüchtigkeit nach Alkoholkonsum mittlerweile eher als Laien- denn als Spezialwissen eingestuft wird, das entsprechende Wissen sich also vom Spezial- in den allgemeinen Diskurs verlagert hat. 9 Nichtsdestotrotz bestehen auch hier Vorstellungen davon, was der Gehalt strafrechtlicher Regelungen ist. Diese sind jedoch eher rudimentär und stimmen nicht unbedingt mit dem speziellen juristischen Wissen über das Recht überein. So ist nach wie vor die Vorstellung weit verbreitet, dass der Mord im Gegensatz zum Totschlag die vorsätzliche bzw. besonders planvolle Tötung eines Menschen sei. Die Bedeutung solcher allgemeinen Wissensbestände über das Recht für das gesellschaftliche Bild von Kriminalität ist im Verhältnis zu den Instanzen als gering einzustufen, die schon von Berufs wegen stets darum bemüht sind, beide Wissensbestände in Übereinstimmung zu bringen.

I. Wissen und Kriminalisierung

117

sensordnungen – vom Gesetz bis zum allgemeinen gesellschaftlichen Wissen – findet. Dieses Wissen bestimmt grundlegend, wie Polizei, Staatsanwaltschaft und Gericht einen ihnen zur Kenntnis gebrachten Geschehensablauf wahrnehmen und interpretieren einerseits, und wie sie rechtliche Regelungen verstehen und auf dieses Geschehen anwenden andererseits.10 Gleichwohl negiert dieser Ansatz nicht das Subjekt, sondern thematisiert vielmehr die praktischen Gebrauchsweisen der Wissensordnungen und so das Verhältnis von Strukturen, Ereignissen, Handlungen und Subjekten; er kann insofern als poststrukturalistisch bezeichnet werden.11 2. Bedeutung der Subjekte Von besonderem Interesse ist in dieser Perspektive die Rolle der Subjekte bei den Instanzen der Strafverfolgung. Denn in ihrer Praxis schlägt sich die eben dargestellte Wechselwirkung von Diskursen und sozialen Praktiken konkret nieder.12 Ebenso wie ihr institutionalisiertes Handeln aufgrund eines bestimmten Wirklichkeitsverständnisses als Effekt des Diskurses verstanden werden kann, sind die Instanzen auf besondere Art und Weise an der Formierung von Kriminalisierungsdiskursen beteiligt.13 Vor diesem Hintergrund bildet der hier verfolgte diskursanalytische Ansatz eine Verbindung aus strukturellen Elementen in Form des Diskurses einerseits und Formen der Interaktion durch die Praktiken der Subjekte andererseits, indem er die Frage nach der sozialen Konstruktion von Wissensordnungen mit derjenigen nach der Bedeutung der Subjekte verbindet. Diskurse können daher zwischen Handlung und Struktur angesiedelt werden als strukturierendes aber auch strukturiertes Phänomen.14 Betrachtet man zunächst die Effekte des Diskurses auf die Rechtsanwender, so erscheint das Subjekt als Objekt, das auf verschiedenen Ebenen von den Wirkungen des Diskurses geprägt ist. Dies betrifft einerseits ganz basale Fragen und Ebenen des Wissens, die sich im Laufe von Jahrhunderten herausgebildet haben und den Individuen sozialisatorisch vermittelt werden. Dieses Wissen umfasst etwa, welches Menschenbild gesellschaftlich gültig ist und welches grundlegende Selbstverständnis jeder einzelne angesichts dessen entwickelt. Auf einer konkreteren Ebene bestimmt das Wissen das Handeln der Subjekte, indem es ihre Wahrnehmung und Interpretationen von Sachverhalten prägt.15 Diese Wissensbestände und die darauf basierenden sozialen Praktiken stellen die em10

Vgl. Bublitz 2006, 234. Siehe Diaz-Bone 2006, Abs. 9 ff.; Keller 2004, 17. 12 Zu verschiedenen Ausprägungen des „practical turn“ in den Sozialwissenschaften Keller 2005, 60 ff.; Reckwitz 2003, 282 ff. 13 Zu diesem Wechselverhältnis allgemein bereits Berger/Luckmann 1996, 65 f. 14 Fein/Florea 2007, Abs. 12 ff. 15 Siehe Garland 1992, 418 f. 11

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E. Kriminalisierung als diskursive Praxis

pirische Ordnung dar, die für den Einzelnen grundlegend wie konkret gesellschaftliche Wirklichkeit ausmacht und so die Basis für sein Handeln darstellt.16 Die Wahrnehmung der Welt durch den Einzelnen ist daher immer bereits von einer bestimmten Interpretation in der Form von Wissen beeinflusst, ohne dass er sich dem entziehen und damit der Wirkung des diskursiv geprägten Wissens entgehen könnte.17 Dies bedeutet jedoch nicht, dass der Einzelne aufgrund dessen keinerlei Handlungsspielräume mehr hätte, sodass jede Entscheidung im Kriminalisierungsprozess durch gesellschaftliches Wissen determiniert wäre. Stattdessen kann bereits differenziert werden zwischen Bereichen, die vorrangig durch den Diskurs geprägt sind und solchen, in denen intentionales Wirken und Entscheiden der Subjekte möglich bleibt. In diesem Sinne wurden Diskurse oben bereits als Wissensrahmen beschrieben, der aus verschieden stark institutionalisierten Ebenen besteht, und innerhalb dessen den Subjekten Spielräume verbleiben.18 Darüber hinaus sind die Subjekte nicht nur passive Rezipienten des Diskurses, die durch das gesellschaftliche Wissen geprägt und bestimmt werden, sondern sie beeinflussen dieses Wissen vielmehr auch.19 Denn gemäß dem oben eingeführten weiten Diskursbegriff, der Praktiken einbezieht und eine handlungstheoretische Perspektive eröffnet,20 reproduziert sich das gesellschaftliche Wissen nicht in autonomen Diskursen. Vielmehr sind es die handelnden Subjekte selbst, die in ihren routinierten Praktiken das überindividuelle Wissen der Diskurse umsetzen und im Rahmen dieser fortwährenden Interpretation unbewusst wandeln.21 Sie vollziehen es nicht gleichförmig oder automatisch, sondern interpretieren, brechen, transformieren und aktualisieren es im Rahmen der Anwendung.22 Indem die Subjekte den Diskurs reproduzieren und in soziale Praktiken umsetzen, sind sie zugleich aktiv an seiner Bildung und Fortsetzung beteiligt, auch wenn dies nicht intentional geschieht. Obwohl Diskurse einen überindividuellen Charakter haben, werden sie dennoch durch die Subjekte vollzogen und mitgestaltet, wenn diese das Wissen deuten und modifizieren.23 Der Diskurs ist also in die Subjekte eingeschrieben und lebt zugleich nur durch sie; eine Struktur, die nur durch diese Transformation existiert.24 Dies gilt auch für die bei den Instanzen der Strafverfolgung Tätigen, die das Wissen über Krimi-

16 17 18 19 20 21 22 23 24

Müller-Tuckfeld 1997, 484. Zu diesem Verhältnis auch Bublitz 2006, 255 ff. Siehe oben D.III.3.; vgl. auch Frehsee 2003, 397. Allgemein zu dieser Perspektive des Praxis-Paradigmas Reckwitz 1999, 26 f. Siehe oben D.II.1. Siehe auch Althoff 2002, 72 f.; Diaz-Bone 2004a, 54. Dazu Renn 2005, 108 ff.; Vorheyer 2006, 276. Siehe Keller 2005, 204 ff.; Scraton 2002, 29. Reckwitz 2000, 298 ff.; Keller 2004, 59.

I. Wissen und Kriminalisierung

119

nalität in einer ganz besonderen Weise und sehr regelmäßig reproduzieren und deren Aussagen zu diesem Thema formell wie inhaltlich eine spezielle Aussagekraft zugemessen wird. Sie haben daher einen besonderen Zugang zu den Diskursen der Kriminalisierung und können dort mehr Aussagen setzen als andere Subjekte.25 Vor diesem Hintergrund lassen sich die Instanzen als Institutionen beschreiben, die wesentliche Elemente der symbolischen gesellschaftlichen Ordnung organisieren und herstellen.26 Zusammenfassend betrachtet bestimmt die überindividuelle Ebene diskursiven Wissens ganz erheblich die Prozesse der Kriminalisierung. Dies findet jedoch nicht einseitig und linear statt, sondern neben den Diskurs als strukturelles Element treten dem hier verfolgten Ansatz nach die sozialen Praktiken der Subjekte, die den Diskurs umsetzen und reproduzieren.27 Soziales Handeln ist somit keine direkte Folge des Diskurses als Struktur, sondern Ergebnis des aktiv-interpretierenden Umgangs der Subjekte mit dem diskursiven Wissen. Die Subjekte können angesichts dessen als Vermittlungs- und Umsetzungsinstanz zwischen Diskurs einerseits und Aussagen, Praktiken und Materialitäten im Dispositiv andererseits verstanden werden:28 Aufgrund der strukturierenden Prinzipien des Diskurses bringen sie diese diskursiven Elemente mit Hilfe von Interpretationsregeln hervor. Dabei mögen sie eigene Kalküle verfolgen, können sich aber den diskursiven Vorgaben nicht entziehen. Sie sind daher nicht Akteur im klassischen Sinne, sondern als Subjekte selbst hervorgebracht auf der Grundlage diskursiven Wissens, ohne dass dem ein irreduzibles Selbst zugrunde liegen würde.29 Dieses Verständnis von der Rolle und dem Wirken der Subjekte bei den Kriminalisierungsinstanzen unterscheidet sich damit grundlegend von den vorherrschenden theoretischen Modellen im Bereich der Kriminologie. 3. Fragestellungen Die beschriebenen Zusammenhänge sollen im Folgenden anhand der Praxis der Strafverfolgungsinstanzen auf der Ebene der Normanwendung näher untersucht werden. Zwar ließe sich das Wechselverhältnis zwischen Wissen und sozialen Praktiken auch für die Allgemeinheit – die in den meisten Fällen den Anzeigeerstatter stellt –, für die Medien, Lobbyisten, die Kriminalpolitik oder auch für die betroffenen Beschuldigten untersuchen. Im Folgenden sollen aber die Instanzen im Mittelpunkt stehen, die alltäglich und massenhaft auf der kon25 26 27 28 29

Dazu grundsätzlich Foucault 2003, 26 ff.; Walker/Boyeskie 2001, 115 f. Keller 2005, 126, 201: „aktualisierende Reproduktion“. Vgl. dazu Bührmann/Schneider 2007, Abs. 38. Keller 2005, 204 ff.; Schneider/Hirseland 2005, 252 f. Siehe zu diesem Verständnis des Subjekts auch unten F.II.2.

120

E. Kriminalisierung als diskursive Praxis

Soziale Wirklichkeit und konkretes Wissen über die Welt werden durch die Praktiken der Subjekte auf der Grundlage der diskursiven Tiefenstruktur hervorgebracht und etabliert

produzieren soziale Wirklichkeit anhand der Tiefenstruktur

werden geprägt durch gesellschaftliches Wissen und soziale Wirklichkeit

Subjekte

inhaltliche Leitung

Tiefenstruktur wird reproduziert und bestätigt

Diskursive Tiefenstruktur basales Wissen über die Welt, das die Grenzen des Wissensrahmens absteckt

Abbildung 3: Die Formierung des Diskurses im Kreislauf aus Tiefenstruktur, Anwendung durch die Subjekte und gesellschaftlichem Wissen

kreten Ebene wirken und so an zentraler Stelle Kriminalität als soziale Wirklichkeit konstituieren.30 Hinsichtlich der Normsetzungsebene wurde zudem bereits verschiedentlich der Frage nachgegangen, wie der Gesetzgeber durch andere Akteure oder den Wandel gesellschaftlicher Vorstellungen beeinflusst wird, während vergleichbare Fragestellungen für den Bereich der Normanwendung 30 Zur zunehmenden Bedeutung einer solchen Perspektive auf soziale Institutionen und Milieus allgemein Reckwitz 1999, 23.

I. Wissen und Kriminalisierung

121

eher unterbelichtet sind. Die Untersuchung der Strafverfolgungsinstanzen verspricht daher neue Erkenntnisse darüber, wie Kriminalität sozial konstituiert wird und sich wandelt, auch ohne dass der Gesetzgeber tätig wird – beispielsweise in Form von Änderungen der Rechtsprechung oder einem veränderten Anklageverhalten.31 Schließlich ermöglicht die Untersuchung gerade der Strafverfolgungsinstanzen auch aus rechtsmethodischer wie rechtstheoretischer Sicht interessante Betrachtungen der Rechtsanwendung, auf die im Folgenden ein besonderes Augenmerk gelegt werden soll. Der damit gewählte diskursanalytische Ansatz bezüglich der Rechtsanwendung im Kriminalisierungsprozess ist darauf gerichtet zu untersuchen, wie das wechselseitige Zusammenspiel von diskursivem Wissen und sozialen Praktiken im Dispositiv der Kriminalisierung funktioniert; wie also die Zusammenhänge zwischen abstraktem Wissen und konkreter sozialer Interaktion aussehen, mittels derer dieses Wissen vermittelt, wirksam und umgesetzt wird.32 Im Rahmen dessen geht es einerseits darum, wie das Verhältnis zwischen dem speziellen Wissen der Instanzen und dem allgemeinen gesellschaftlichen Diskurs und kollektiven Alltagswissen über Kriminalität beschaffen ist. Zum anderen ist von Interesse, wie sich die verschieden stark institutionalisierten Formen von Wissen im Kriminalisierungsprozess zueinander verhalten, wie also in der Praxis das Zusammenspiel funktioniert zwischen dem Gesetz als Materialisierung, dem speziellen Wissen der Instanzen über dessen Gehalt und Anwendung sowie dem Wissen darüber, was Kriminalität ist.33 Die zentralen Fragestellungen lauten dementsprechend einerseits: Inwieweit wird die Rechtsanwendung durch die Strafverfolgungsinstanzen durch das in Diskursen konstituierte Wissen über Kriminalität bestimmt? Wie funktioniert dies konkret, das heißt wie sieht das Verhältnis der verschiedenen Wissensebenen aus? Wie schlagen sich Veränderungen der interpretativen KriminalitätsWirklichkeit in der Rechtsanwendung und im Wissen über Recht nieder? Umgekehrt gilt es zu fragen: In welchem Umfang und wie sind die Instanzen selbst an Transport, Umsetzung und Wandel dieser diskursiven Wissensbestände und damit an der Konstruktion von Kriminalität als sozialer Wirklichkeit beteiligt? Wie wirken sich Veränderungen der Rechtsanwendung und des Wissens über Recht bei den Instanzen auf das gesellschaftliche Wissen über Kriminalität aus? Dabei sollen jene Ebenen des Diskurses im Zentrum stehen, auf denen das Wissen über Abweichung und ihre verschiedenen Formen transportiert und transformiert wird und die somit grundlegend festlegen, welche konkreten Verhaltensweisen kriminell sind – im Gegensatz vor allem zu abstrakteren Ebenen, auf 31

Siehe zu einem solchen Verständnis auch Löschper 2000, Abs. 8 ff. Vgl. Berger/Luckmann 1996, 83. 33 Zu einer solchen kriminologischen Herangehensweise allgemein Barak/Henry/ Milovanovic 1997, 93 ff.; Hayward/Young 2004, 259 f. 32

122

E. Kriminalisierung als diskursive Praxis

denen die Grundprinzipien der Strafe, des Strafrechts und sozialer Kontrolle angesiedelt sind. Denn dieses nicht ganz abstrakte Wissen ist für die gesellschaftliche Wahrnehmung und Bedeutung von Kriminalität in ihren verschiedenen Formen besonders relevant.

II. Diskursgeleitete Rechtsanwendung Im folgenden Abschnitt sollen zunächst die Effekte näher untersucht werden, die die diskursiven Wissensbestände über Kriminalität auf die Rechtsanwendung im Kriminalisierungsprozess in Form von Sachverhaltsfeststellung und Normhandhabung haben. Zu diesem Zweck werden die verschiedenen Formen solchen Wissens und Wege ihres Einflusses im Prozess der Rechtsanwendung beleuchtet. In diesem Zusammenhang wird der oben eingeführte Ansatz außergesetzlicher Regeln in der Rechtsanwendung wieder aufgegriffen.34 1. Wissen als Grundlage Dass die Gesellschaft, ihre Vorstellungen und Prinzipien – wenn man so will der Zeitgeist – das Recht beeinflussen und umgekehrt, ist nicht neu und für den Bereich der Normsetzung gar selbstverständlich. Ebenso gilt aus kriminologischer Sicht als gesichert, dass strafrechtliche Regelungen nicht unabhängig sind von außerrechtlichen Normen, sondern etwa der Grad ihrer Geltung von der Übereinstimmung mit diesen abhängt.35 Weniger klar ist eine solche Vorstellung des Zusammenhangs von Kriminalisierung und gesellschaftlichen Vorstellungen hingegen für den Bereich der Normanwendung. Zumindest aus juristischer Perspektive ist es auf dieser Ebene das Gesetz, das die Entscheidung bestimmt bzw. einen Einfluss gesellschaftlichen Wandels, der über einen solchen im Rahmen der Auslegung hinausgeht, für zulässig erklären kann. Dem tritt der hier verfolgte interpretative Ansatz von Grunde auf entgegen, indem er das gesellschaftliche Wissen als wesentliche inhaltliche Grundlage auf der Normanwendungsebene macht.36 Dieser Vorstellung zufolge handelt es sich bei Kriminalität um eine kontingente Kategorie, die von den jeweils geltenden, sich wandelnden Wissensbeständen abhängig ist. Denn auch bzw. gerade wenn man das Gesetz als geronnenes, materialisiertes Wissen versteht, wird deutlich, dass alleine hieraus ein Ergebnis der Rechtsanwendung nicht abgeleitet werden kann. Vielmehr verdeutlicht bereits der Begriff der Rechtsanwendung, dass das Gesetz noch eines Anwendungsaktes bedarf. Erst dieser Interpretationsvorgang, der das Wissen des 34 35 36

Siehe dazu oben C.II. Dazu Eisenberg 2005, § 22, Rn. 7 ff. Vgl. allgemein Reckwitz 1999, 26.

II. Diskursgeleitete Rechtsanwendung

123

Anwenders erfordert, ermöglicht die Subsumtion. Das spezielle Wissen bei den Strafverfolgungsinstanzen über Kriminalität und Recht bildet somit, wie oben bereits allgemein dargelegt37, in den konkreten Kriminalisierungsprozessen die wesentliche inhaltliche Grundlage für die Rechtsanwendung mit der die bei den Instanzen tätigen Subjekte den Alltag der Strafverfolgung bewältigen. Es stellt diejenigen Typisierungen und Routinen bereit, um auftretende Probleme zu lösen und in das bestehende Sinnsystem zu integrieren.38 Diese Wirkungen des speziellen Kriminalisierungs-Wissens entfalten sich bei den unterschiedlichen Instanzen und Schritten der Kriminalisierung auf verschiedene Art und Weise.39 Dabei kann das Wissen in unterschiedlich starkem Maße etabliert und institutionalisiert sein – von allgemeinen gesellschaftlichen Wissensbeständen über Kriminalität, die das Vorverständnis des Rechtsanwenders prägen, bis hin zu konkreten, institutionalisierten Anwendungsregeln, die zu bestimmten Praktiken bei der Rechtsanwendung führen. Der damit formierte Wissensrahmen stellt die abstrakten Grundlagen der Kriminalisierung bereit und konturiert so soziale Wirklichkeit.40 Er lässt aber innerhalb dessen, wie oben allgemein dargestellt41, Debatten und eine gewisse Bandbreite an Interpretationen zu. So können beispielsweise politische Einflussnahmen und Anweisungen, kriminalpolitisch oder rechtspraktisch motivierte Entwicklungen der Judikatur und ähnliche akteursbedingte bzw. intentionale Veränderungen in dem hier verfolgten Ansatz berücksichtigt werden. An dieser Stelle lässt sich daher auf einer konkreten Ebene die Unterscheidung zwischen bewusst-intentionalen Veränderungen innerhalb des Wissensrahmens und einem eher strukturell geprägten Wandel des diskursiv gezogenen Wissensrahmens selbst wieder aufgreifen. Damit in Verbindung stehend lässt sich in zeitlicher Hinsicht differenzieren zwischen eher kurzlebigen Projekten und detailorientierten Veränderungen – zum Beispiel bei der Auslegung bestimmter Tatbestandsmerkmale –, längerfristigen Entwicklungen und einem grundlegenden Wandel.42 Dementsprechend können sich Veränderungen innerhalb weniger Jahre, ggf. aber auch erst im Rahmen von einigen Jahrhunderten vollziehen. Effekte von Diskursen beschränken sich dabei nicht auf die Konstituierung eines herrschenden Wissensrahmens, sondern lassen sich auf allen Ebenen ausmachen. Denn sie beeinflussen (mittelbar) etwa auch das intentionale Handeln von Akteuren bei der Kriminalisierung, wie etwa politische Interventionen und theoretische Ideen, indem sie die Vielzahl möglicher Interpreta37 38 39 40 41 42

Siehe oben D.III. und E.I.1. Siehe Berger/Luckmann 1996, 43 ff. Vgl. Simon/Feeley 1995, 147 f. Bührmann/Schneider 2007, Abs. 21 ff. Siehe oben D.III.3. Vgl. Groenemeyer 2003, 20.

124

E. Kriminalisierung als diskursive Praxis

tionen begrenzen. Auch solche kleinteiligen Veränderungen in der Kriminalisierung basieren auf und legitimieren sich mittels der jeweils herrschenden, diskursiv vermittelten Interpretationen über das zu bearbeitende Problem und die geeignete Form der Bearbeitung.43 Vor diesem Hintergrund erlangen die das Wissen transportierenden und transformierenden Diskurse eine zentrale Bedeutung für das Verständnis der Rechtsanwendung im Kriminalisierungsprozess.44 Ihre Festlegungen sind danach wesentlicher als diejenigen gesetzlicher Regelungen, die selbst auch nur Materialisierungen solchen Wissens darstellen. Ein Wandel dieser kulturellen Grundlagen der Rechtsanwendung bedeutet notwendig auch einen Wandel der möglichen Interpretationen auf der Normanwendungsebene. Hieraus ergeben sich für die weitere Betrachtung zwei zentrale Fragestellungen. Zum einen ist von Interesse, wie das spezielle Wissen der Instanzen als Grundlage der Kriminalisierung zustande kommt, woraus es sich bildet und wie es mit allgemeinen gesellschaftlichen Wissensbeständen in Verbindung steht. Zum anderen ist der Frage nachzugehen, wie dieses Wissen Eingang in den Prozess der Rechtsanwendung findet. 2. Wege des Wissens Das Wissen der Instanzen als inhaltliche Grundlage der Kriminalisierung ist Gegenstand und Ergebnis des diesbezüglichen Spezialdiskurses. Dieser reproduziert und entwickelt sich ständig fort und steht dabei im wechselseitigen Austausch mit dem allgemeinen gesellschaftlichen Diskurs über Kriminalität. Die Vorstellungen der Subjekte bei den Instanzen der Strafverfolgung über Kriminalität einerseits und die der Allgemeinheit andererseits klaffen nicht grundsätzlich auseinander, sondern beeinflussen sich gegenseitig.45 Ebenso wie sich daher die Praxis der Kriminalisierung auf das kollektive Wissen über Kriminalität auswirkt, muss dieses als prägend auch für das spezielle Wissen der Instanzen über Kriminalität und Recht angesehen werden. Angesichts dessen stellt sich die Frage, wie das Wissen vom allgemeinen gesellschaftlichen Diskurs über das Spezialwissen der Instanzen in die Rechtsanwendung bei der Kriminalisierung gelangt. Wie der erste Schritt auf diesem Weg aussieht – die Formierung und der Wandel des kollektiven gesellschaftlichen Wissens über Kriminalität – wurde bereits im vorangegangenen Kapitel beleuchtet. Hier stellt sich nunmehr die Frage, wie dieses allgemeine gesellschaftliche Wissen Eingang in den speziellen Diskurs der Instanzen findet und dort handlungsleitend wird. Dafür lässt sich 43 44 45

Groenemeyer 2003, 21. Vgl. Bublitz 2006, 233. Siehe zum Verhältnis von Inter- und Spezialdiskurs allgemein oben D.II.2.

II. Diskursgeleitete Rechtsanwendung

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zunächst auf die vorangegangenen Betrachtungen zur Verschränkung von Diskursen zurückgreifen, wonach der kollektive gesellschaftliche Diskurs bestimmte Elemente der Spezialdiskurse aufgreift und sozusagen als Sedimente der Allgemeinheit als Wissen zur Verfügung stellt. Umgekehrt können sich diese allgemeinen Wissensbestände der Allgemeinheit verändern und ihrerseits in den Spezialdiskursen niederschlagen. Denn die Subjekte der Instanzen bedienen sich bei ihrer Tätigkeit nicht nur ihres Erfahrungswissens und erworbenen Wissens aus zweiter Hand, sondern lassen auch Alltagswissen und Werte der Allgemeinheit einfließen.46 Im Zuge dessen wandeln sich zunächst die allgemeinen Vorstellungen über Kriminalität, die sich dann aber auch Schritt für Schritt auf das spezialisierte, ausdifferenzierte Wissen der Instanzen über Kriminalität und Recht auswirken.47 In einem nächsten Schritt kann sich das derart veränderte Wissen über Kriminalität auf die Rechtsanwendung im Kriminalisierungsprozess auswirken. Ebenso können sich Veränderungen in der Kriminalisierungspraxis aber auch aus einem eigenständigen Wandel des diskursiven Spezialwissens der Instanzen ergeben, das heißt ohne dass dieser auf Veränderungen des allgemeinen gesellschaftlichen Wissens zurückzuführen wäre. Aus juristisch-methodischer Sicht sollte ein solcher Einfluss diskursiven Wissens auf das Recht – sobald er sich nicht mehr im Wege der Auslegung bewerkstelligen lässt, wobei die Grenzen fließend sind – grundsätzlich durch den Gesetzgeber umgesetzt werden, indem dieser mit Gesetzesänderungen auf gewandelte Anschauungen und Wissensbestände reagiert. Rechtstatsächlich passt sich aber auch die Praxis der Rechtsanwendung einem Wandel der interpretativen Wirklichkeit bezüglich Kriminalität an48 – so die hier verfolgte These, der im Folgenden genauer nachgegangen werden soll. Dabei ist insbesondere von Interesse, wie diese Wirkung konkret stattfindet, wie also Veränderungen des speziellen Instanzenwissens zu einem Wandel auch der Rechtsanwendung führen. Veränderungen im gesellschaftlichen Wissen können sich sowohl in der Sachverhaltsfeststellung als auch in der Normhandhabung durch die Strafverfolgungsinstanzen niederschlagen.49 Während sich bezüglich ersterer die soziale Wahrnehmung und Interpretation von Geschehensabläufen unmittelbar aufgrund der veränderten Wissensbestände wandelt, stellt sich der Einfluss des Wissens bei der Normhandhabung und anschließenden Subsumtion als komplexer und vielschichtiger dar. Denn diese ist an das Gesetz gebunden. Zwar handelt es sich hierbei auch um Wissen, das lediglich materialisiert ist. Gerade dies stattet das damit verkörperte Wissen jedoch mit einer gewissen Festigkeit aus. Das Ge46

Valverde 2003, 52 f. Siehe zu solchen Prozessen auch Althoff/Leppelt 1990, 177 ff. 48 Siehe Fitzsimons 1999, 385 f. 49 Allgemein zum Diskurs als gesellschaftlicher Praxis Wrana/Langer 2007, Abs. 15 ff., 25 f. 47

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E. Kriminalisierung als diskursive Praxis

setz und das im Zusammenhang damit bei den Instanzen etablierte Wissen über Recht engen die Normhandhabung einerseits ein und machen sie andererseits überprüfbar. Ein Wandel der Kriminalisierung kann sich daher nicht alleine am Wissen der Instanzen als inhaltlicher Grundlage orientieren, sondern muss den Wortlaut des Gesetzes und die diesem zugeschriebenen Bedeutungen mit einbeziehen. Das Wissen der Rechtsanwender über Kriminalität kann dabei nur in dem Maße als inhaltliche Grundlage für die Kriminalisierung bestimmend werden, wie es sich gegen das bereits institutionalisierte Wissen durchsetzt, das heißt den Wortlaut bzw. das etablierte Wissen über das Gesetz überlagert. Das Verhältnis zwischen dem Wissen der Instanzen über Kriminalität einerseits und dem institutionalisierten Wissen über das diesbezügliche Recht andererseits lässt sich angesichts dessen als wechselseitiger Austausch betrachten. Beide Formen von Wissen stehen in Verbindung und prägen sich gegenseitig. Auf diesem Weg entsteht bei den Instanzen eine kontinuierliche Übereinstimmung zwischen dem Wissen über Kriminalität und dem Wissen über Recht. Vor diesem Hintergrund und da die Sachverhaltsfeststellung in diesem Zusammenhang bislang eher im Zentrum kriminologischer Forschung stand, liegt der Schwerpunkt im Folgenden auf dem Schritt der Normhandhabung und der Subsumtion, also der Rechtsanwendung im engeren Sinne. Ebenso wie die Sachverhaltsfeststellung ist auch die rechtliche Bewertung eines Geschehensablaufes, wie bereits gezeigt wurde50, geprägt von Wertungs- und Entscheidungsspielräumen, die im Prozess der Rechtsanwendung gefüllt werden müssen. Diese Spielraumausfüllung erfolgt durch die bei den Strafverfolgungsinstanzen tätigen Subjekte auf der Grundlage ihres Wissens, sodass an dieser Stelle Bestände speziellen Wissens über Kriminalität Eingang in die Rechtsanwendung finden.51 Hierbei kann zwischen verschiedenen Arten von Spielräumen unterschieden werden, wie oben bereits gezeigt wurde.52 Zunächst eröffnet das Gesetz selbst in unterschiedlichen Formen Spielräume, die methodisch zulässig sein können, teilweise aber auch nicht vorgesehen sind, wenngleich sie rechtstatsächlich existieren und gefüllt werden müssen. Neben solchen Spielräumen im oder durch das Gesetz, kann in einem weiten Sinne aber auch das Gesetz insgesamt, das heißt die Bedeutung seiner einzelnen Tatbestände und Tatbestandsmerkmale, nicht als feststehend angesehen werden. Zwar strukturiert der Wortlaut das Verständnis von den gesetzlichen Regeln in gewissem Maße, da er als sprachlicher Rahmen immer schon mit Bedeutungen besetzt ist. Diese Bedeutungen unterliegen jedoch zum einen, wie soeben dargelegt, selbst einem Wandel. Zum anderen ergibt sich der inhaltliche Gehalt einer

50 51 52

Siehe oben C.I. Vgl. Valverde 2003, 50 ff. Siehe näher C.I.3.

II. Diskursgeleitete Rechtsanwendung

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rechtlichen Regelung nicht alleine aus den zusammengesetzten sprachlichen Bedeutungen ihrer einzelnen Worte, sondern aus einem Verständnis der gesamten Regelung, das auch andere Aspekte heranzieht. Damit sind sehr umfassende Spielräume für das Verständnis gesetzlicher Regelungen eröffnet, deren Ausfüllung im Laufe der Zeit einem Wandel unterliegen kann. Dies spiegelt sich auch in der juristischen Methodik der Auslegung wider, die jedoch nur als Werkzeug zur Umsetzung gewandelten Wissens in die Rechtsanwendung angesehen werden kann und nur einen Teil der Spielraumausfüllung betrifft. Sie kommt nämlich nur dann zum Zuge, wenn der Rechtsanwender bewusst auf eine Differenz zwischen Gesetzesverständnis und Kriminalitätswirklichkeit trifft. Das Verständnis und die Anwendung gesetzlicher Regelungen sind daher nicht dauerhaft, sondern können vielmehr als institutionalisiertes Wissen verstanden werden, das sich stetig verändert, sodass mit dem gleichen Gesetz sehr unterschiedliche Sachen bewirkt werden.53 Die interpretierende Zuschreibung im Rahmen der Kriminalisierung wird dementsprechend nicht durch eine ontische Realität, das Gesetz als feststehenden Rahmen, die juristische Methodik oder ähnliche steuernde Faktoren begrenzt. Vielmehr unterliegen umgekehrt die gesetzlichen Regelungen einem Bedeutungswandel, soweit sich die diesbezüglichen Wissensbestände bei den Instanzen verändern und zu einer veränderten Spielraumausfüllung führen. Es geht bei der Rechtsanwendung mithin nicht „um die Anwendung des Gesetzes“, sondern „um einen bestimmten Umgang mit dem Gesetz“,54 der anderen Vorgaben folgt als einem vermeintlich objektiven Willen des Gesetzgebers, indem er Diskurse in ihrem Wandel in die Praxis der Kriminalisierung transportiert.55 Wie aber vollzieht sich dieser Prozess konkret? Diskursives Wissen schlägt sich auf der Ebene konkreter Wahrnehmung und individuellen Handelns in Schemata nieder, die soziale Komplexität reduzieren und insofern die Wahrnehmung einschränken. Erst die Umsetzung des Wissens in solche Formen macht die sinnvolle Wahrnehmung von Geschehensabläufen überhaupt möglich und für eine Bearbeitung in Form von Praktiken zugänglich, die ihrerseits wiederum Sinn stiften und Bedeutung produzieren.56 Indem die Instanzen solche auf diskursivem Wissen basierende Schemata anwenden, produzieren sie auf einer konkreten Ebene Wissen und setzen somit den Diskurs in die Praxis um. Solche Schemata stellen das Bindeglied zwischen Wissensbeständen und den Praktiken der Subjekte dar. Sie generieren sich aus diesem Wissen ebenso wie sie es kontinuierlich reproduzieren. Daher findet sich in bzw. zu einem bestimmten Diskurs jeweils ein gewisser Kernbestand an derartigen Schemata, die die soziale 53 54 55 56

Foucault 2003b, 946. Foucault 2003b, 946. Dazu Fitzsimons 1999, 385 f. Siehe Keller 2006, 134 ff.; Schetsche 1996, 68 ff.

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E. Kriminalisierung als diskursive Praxis

Wahrnehmung prägen, einschränken und strukturieren. Sie bilden daher auch die Grundlage der Kriminalisierung als überindividueller diskursiver Praxis.57 Auf der Ebene der Sachverhaltsfeststellung bestehen solche regelhaften Anwendungs- und Interpretationshilfen in Form von sozialen Deutungsmustern, worunter „sozial geltende, mit Anleitung zum Handeln verbundene Interpretationen“58 verstanden werden, die Alltagshandeln kollektiv strukturieren und von den Subjekten ausgetauscht und geteilt werden.59 Dieser Ansatz, der auch speziell im Rahmen kriminologischer Forschung konzipiert wurde60, lässt sich an die sozialwissenschaftliche Diskursanalyse anschließen, indem man Deutungsmuster als überindividuelle Umsetzungsregeln abstrakten diskursiven Wissens konzipiert. Die Frage nach „institutionell stabilisierten Regeln der Deutungspraxis“61 kann sich jedoch für die Rechtsanwendung nicht auf die Ebene der Sachverhaltsfeststellung und somit der Interpretation sozialer Wirklichkeit beschränken. Im Folgenden soll vielmehr die Rolle solcher Regeln bei der Normhandhabung im Zentrum stehen. Denn es ist gerade das Wechselverhältnis zwischen diskursivem Wissen einerseits und dem Verständnis und der Anwendung rechtlicher Normen andererseits, das hier gemäß der aufgeworfenen Fragestellung von besonderem Interesse ist. Die dabei wirksam werdenden, Deutungsmustern entsprechenden Schemata und Handlungsmuster können als außergesetzliche Anwendungsregeln analysiert werden, wie sie im dritten Kapitel eingeführt worden sind. 3. Außergesetzliche Anwendungsregeln Vor diesem Hintergrund soll hier nunmehr die Rolle außergesetzlicher Anwendungsregeln bei der Kriminalisierung näher untersucht werden. Aus Sicht der Rechtsanwendung ermöglichen solche schematisierenden Regeln, wie oben bereits dargestellt, das Verständnis und die Anwendung des Gesetzes. Wie im dritten Kapitel dargelegt wurde, bestehen bei der Rechtsanwendung prinzipiell unbegrenzte Spielräume, deren Ausfüllung lediglich durch diskursives Wissen kulturell begrenzt ist. Dieser Vorstellung zufolge lässt also eine gesetzliche Re57

Vgl. Diaz-Bone 2006, Abs. 14. Höffling/Plaß/Schetsche 2002, Abs. 4. 59 So der Ansatz von Schetsche 1996, 65 ff.; Plaß/Schetsche 2001, 522 ff., die das überkommene Konzept sozialer Deutungsmuster (dazu Keller 2005, 235 ff. m. N.) im Sinne der Untersuchung der Zirkulation gesellschaftlichen Wissens fortentwickelt haben (siehe Höffling/Plaß/Schetsche 2002, Abs. 3 ff.), ohne ihn jedoch unmittelbar mit einem diskursanalytischen Ansatz zu verbinden. Wurden Deutungsmuster zunächst als subjektives Erfahrungswissen verstanden und untersucht, werden sie damit nun (auch) als Ausdruck kollektiven abstrakten Wissens bei den Subjekten konzipiert. 60 Siehe Althoff 2002, 72 f.; Höffling/Plaß/Schetsche 2002. 61 Keller 2005, 188. 58

II. Diskursgeleitete Rechtsanwendung

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gelung oder ein bestimmtes Tatbestandsmerkmal eine Vielzahl möglicher Verständnisse und Anwendungsweisen zu. Welche davon als möglich oder richtig angesehen wird, hängt von diskursivem Wissen ab, das hier die Grenze des möglichen Verständnisses zieht und insofern die Rechtsanwendung bestimmt. Dieses Wissen gelangt jedoch nicht freischwebend oder derart abstrakt in den Prozess der Rechtsanwendung, sondern schlägt sich eben in außergesetzlichen Anwendungsregeln nieder, die in regelhafter Form das Wissen institutionalisieren und festlegen, wie ein bestimmtes Tatbestandsmerkmal oder eine gesetzliche Regelung zu verstehen und anzuwenden sind. Außergesetzliche Anwendungsregeln geben insofern Auskunft darüber, wie die einzelnen gesetzlichen Regelungen, ihre Formulierungen und Begriffe in ihrer wörtlichen wie rechtlichen Bedeutung zu verstehen und anzuwenden sind, bieten standardisierende Lösungen für sich wiederholende Fragestellungen und Entscheidungen an, vereinfachen insofern und instruieren den Rechtsanwender ohne unmittelbaren Zwang auszuüben.62 Dabei bedienen sie sich mitunter der Methodik der Auslegung und argumentieren mit dieser als Werkzeug. Den Deutungsrahmen, die „kulturelle Matrix“ (Quensel) außergesetzlicher Regeln jedoch stellen diskursive Wissensbestände bereit, die die Art und Zahl möglicher Interpretationen von Geschehensabläufen und das Verständnis gesetzlicher Regelungen begrenzen.63 Diskurse lassen sich daher als Basis außergesetzlicher Regeln auffassen, welche mit der Ebene eines konkreten Vorverständnisses in Verbindung und Wechselwirkung steht.64 Indem außergesetzliche Anwendungsregeln das diskursive Wissen auf eine solch konkrete Ebene übersetzen, machen sie es für die Rechtsanwendung überhaupt erst handhabbar. Denn bei dem hier in Rede stehenden Wissen handelt es sich um basale, abstrakte Formen, die für die Anwendung in einzelnen Kriminalisierungsprozessen konkretisiert werden müssen. So ist etwa das Wissen darüber, dass eine bestimmte Gruppe von Verhaltensweisen bzw. mit einem gewissen Merkmal ausgestattete Geschehensabläufe eine besonders schwere Form von Kriminalität darstellen, alleine noch nicht geeignet, regelmäßige Folgen für konkrete Entscheidungen in der Rechtsanwendung herbeizuführen. Vielmehr muss sich ein solches Wissen in entsprechenden Praktiken für derart konkrete Entscheidungen niederschlagen, die zu einer entsprechenden Behandlung solcher Geschehensabläufe etwa in der Form führen, dass die Polizei in jedem Fall ermittelt, die Staatsanwaltschaft besonders häufig anklagt und verfahrenssichernde Maßnahmen ergreift und die Gerichte harte Sanktionen verhängen. 62 Siehe oben C.II. sowie aus diskursanalytischer Sicht Keller 2005, 203; Renn 2005, 118 ff. 63 Becker 1997, 332 f.; Quensel 2003, 27 ff. 64 Siehe dazu bereits oben C.II.3. und 4. – Solche Koppelungen routinisierten Handelns und überindividueller Wissensbestände bilden gerade den Kern des Praxis-Paradigmas, siehe Reckwitz 1999, 31 f.

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E. Kriminalisierung als diskursive Praxis

Während aus Sicht der Rechtsanwendung das Wissen der Subjekte somit die Grundlage für die Herausbildung außergesetzlicher Regeln darstellt, ist die diskursanalytische Perspektive eine entgegengesetzte: Danach schlägt sich umgekehrt das diskursive Wissen in regelhaften Praktiken nieder, die die Kriminalisierung dominieren.65 Denn auch die speziellen Wissensbestände der Strafverfolgungsinstanzen über Kriminalität und über Recht ziehen einen Wissensrahmen und entfalten so eine Bindungswirkung, die die Rechtsanwendung prägt. Dies setzt sich in der Praxis mittels außergesetzlicher Regeln um. In diesen schlägt sich das Wissen der Subjekte bei den Instanzen in Form möglicher und üblicher Verständnisse gesetzlicher Regelungen und konkreten Wegen ihrer Anwendung nieder. Die Regeln grenzen so die prinzipielle Vielzahl möglicher Interpretationen ein und setzen damit die Festlegungen des Wissens in der Rechtsanwendung um.66 Dies geschieht bei den bereits oben herausgearbeiteten67 Wertungs- und Interpretationsspielräumen, die neben dem, durch das und in dem Gesetz bestehenden und deren Ausfüllung Aspekte in die Rechtsanwendung einführt, die vom Gesetz so nicht vorgesehen sind.68 Diese Ausfüllung durch Interpretationen und Entscheidungen erfordert eine Anleitung, eine Tiefengrammatik, die an dieser Stelle durch Wissen in regelhafter Form dargeboten wird. Dies betrifft nicht nur vergleichsweise weite und gesetzlich vorgesehene Spielräume, wie etwa auf der Tatsachenebene oder bei der Strafzumessung, sondern beispielsweise auch die Auslegung von Normen, selbst wenn diese im Widerspruch zum Gesetzeswortlaut steht. Damit ist diese „Routinewirklichkeit der Alltagswelt“69 der Strafverfolgungsinstanzen in der Lage, auftretende Veränderungen und Probleme unproblematisch zu integrieren. Angesichts dieser Funktion lassen sich außergesetzliche Regeln als anwendungsorientierte, implizite Transformationsmechanismen betrachten, die gesellschaftliche Wissensbestände in ihrem Wandel in die Rechtsanwendung übertragen.70 Sie können dabei wie Diskurse und im Anschluss an die ursprünglich linguistische Differenzierung in Oberflächenstruktur und Tiefengrammatik71 als Tiefenstruktur verstanden werden, die Verständnis und Anwendung von Elementen auf der Oberfläche regeln: Ebenso wie der Diskurs als basales Wissen die Interpretation der Welt an der Oberfläche leitet, indem er den diesbezüglichen Wissensrahmen zieht, bestimmen die außergesetzlichen Regeln als Grammatik die Modalitäten der Anwendung des Gesetzes als Oberflächenstruktur bei der

65 66 67 68 69 70 71

Vgl. Bublitz 2006, 234. Anschaulich Valverde 2003, 43 ff. Siehe oben C.I. Sack/Lindenberg 2001, 192 f. Berger/Luckmann 1996, 27. Reckwitz 2003, 292. Siehe dazu oben C.II.2.

II. Diskursgeleitete Rechtsanwendung

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Sachverhaltsfeststellung und bei der Normhandhabung.72 Sie leiten so die Praktiken der Kriminalisierung und entsprechen damit dem Regelsystem des Diskurses zur Produktion von Aussagen. Zusammengenommen lässt sich der Einfluss diskursiven Wissens bei der Rechtsanwendung daher als Wandel der außergesetzlichen Regeln zur Spielraumausfüllung begreifen, die den Kriminalitätsdiskurs in die verschiedenen Schritte der Rechtsanwendung transportieren.73 Es handelt sich bei außergesetzlichen Regeln im Kriminalisierungsprozess mithin um diskursive Praktiken, das heißt überindividuelle soziale Praktiken, die auf den Festlegungen der Diskurse beruhen, diese umsetzen und transportieren und somit die Wissensproduktion regulieren.74 Dies erfasst nicht nur solche Regeln, die sich auf der Ebene des diskursiv gezogenen Wissensrahmens und somit überindividuell konstituieren und wirken, also eher abstrakte, unbewusst wirkende Anwendungsregeln und Handlungsnormen. Ebenso sind auch außergesetzliche Regeln, die innerhalb dieses Wissensrahmens und damit auf einer untergeordneten Ebene anzusiedeln sind – wie etwa politisch intendierte Regeln, offizielle Anweisungen u. ä. –, durch das Wissen der Diskurse geprägt, das ihnen zugrunde liegt.75 Wenn man nun die Funktion und Wirkung solcher außergesetzlichen Anwendungsregeln näher beleuchten will, ist es hilfreich, sich zunächst noch einmal die drei verschiedenen Formen von Wissen bei der Rechtsanwendung im Kriminalisierungsprozess zu vergegenwärtigen. Die Basis bilden die sich in Diskursen herausbildenden gesellschaftlichen Wissensbestände über Kriminalität, ihre verschiedenen Formen und ihre strafrechtliche Erfassung.76 Dieses Wissen befindet sich in einem stetigen Fluss und wandelt sich kontinuierlich; da es nicht an Materialisierungen gebunden ist, ist dies ohne weiteres möglich. Auf der anderen Seite steht als weitere Form das Gesetz, das die Materialisierung gesellschaftlichen Wissens über Kriminalität zu einer bestimmten Zeit darstellt. Damit stellt das Gesetz einerseits eine deutlich festere Begrenzung der grundsätzlich gegebenen Kontingenz bei Interpretationen im Kriminalisierungsprozess dar. Andererseits ist es infolge seiner Materialisierung – die zudem in schriftlicher Form erfolgt und deren Interpretation und Deutung Gegenstand eines eigenen Berufsstandes ist – wesentlich weniger flexibel. Dies kann dazu führen, dass die einmal in Gesetzesform gegossenen Wissensbestände sich wandeln, sodass Gesetz und gesellschaftliches Wissen in Widerspruch zueinander geraten würden.77 72 73 74 75 76 77

Vgl. Sack 1968, 459. Vgl. auch Keller 2004, 104 f. Zur Rolle diskursiver Praktiken Diaz-Bone 2004a, 48. Siehe zu den verschiedenen Ebenen bereits oben C.II.3. und 4. Simon/Feeley 1995, 164 ff. Siehe auch Baufeld 2006, 189 f.

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E. Kriminalisierung als diskursive Praxis

An dieser Stelle erlangen als dritte Form von Wissen außergesetzliche Regeln Bedeutung, die ebenso als geronnenes Wissen aus den Kriminalisierungsdiskursen gelten können, das jedoch weniger fest und daher zwischen den beiden anderen Formen anzusiedeln ist.78 Dafür ist es prinzipiell unbegrenzt und inhaltlich wesentlich differenzierter als die abstrakten gesetzlichen Regelungen. In dieser Form transportieren die außergesetzlichen Regeln, wie soeben beschrieben, kontinuierlich das sich wandelnde gesellschaftliche Kriminalitätswissen und damit die kulturellen Festlegungen der Kriminalisierungsdiskurse in die Rechtsanwendung.79 Sie engen damit die im Kriminalisierungsprozess grundsätzlich bestehende Kontingenz weiter ein, als es bereits die gesetzlichen Regelungen tun. Auf diesem Weg ermöglichen wissensbasierte außergesetzliche Regeln als diskursive Praktiken einen schnelleren Wandel von Kriminalisierungsprozessen als dies der Gesetzgeber tun könnte,80 der dem Wandel von Wissen, Sozialmoral und rechtsethischen Vorstellungen meist hinterherhinkt.81 Indem sie als Tiefengrammatik den Umgang mit dem Gesetz bestimmen, bewerkstelligen sie eine permanente Anpassung des Gesetzesverständnisses und der Kriminalisierungspraxis an die sich wandelnde interpretative Wirklichkeit über Kriminalität. Insofern verknüpfen sie das Wissen der Instanzen über Kriminalität und dasjenige über das Recht. Dies geschieht eben über die Ausfüllung der verschiedenen Formen von Spielräumen, die den Punkt darstellen, an dem das Wissen der Instanzen über Kriminalität und über das Recht miteinander verbunden sind.82 Anwendungsregeln als diskursive Praktiken sorgen so dafür, dass sich die verschiedenen Formen von Wissen – vom Gesetz über das Wissen über dessen Gehalt und Anwendung bis hin zum jeweiligen Wissen über Kriminalität – in Übereinstimmung befinden. Sie organisieren den Austausch und die Wechselwirkung zwischen den diesbezüglichen speziellen Diskursen bei den Strafverfolgungsinstanzen. Die dabei erfolgende Anpassung der Kriminalisierungspraxis an verändertes Wissen über Kriminalität kann in ganz unterschiedlichen Geschwindigkeiten geschehen. Mitunter setzt sich eine veränderte Sichtweise nur langsam bei den Instanzen durch, wandeln sich die diesbezüglichen Anwendungsregeln zeitlich verzögert. Ebenso kann ein solcher Wandel aber auch ganz plötzlich von einem Tag auf den anderen geschehen, wie etwa die harsche Reaktion der Justiz auf die eher scherzhafte Verschickung von Briefen mit Substanzen, die äußerlich 78

Vgl. Althoff 2002, 72 f.; Bublitz 2006, 234. Vgl. hierzu die Analyse von Deutungsmustern zur Korruption bei Höffling/Plaß/ Schetsche 2002, Abs. 13 ff. 80 Zur Beweglichkeit des Rechts durch Bedeutungswandel Ehrlich 1989, 338 ff. 81 Zippelius 2003, 72 f. 82 Siehe dazu auch Hunt/Wickham 1994, 110. 79

II. Diskursgeleitete Rechtsanwendung

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Milzbrand-Erregern ähneln, nach derartigen Anschlägen in den USA im Jahr 2001 deutlich macht: Vergleichsweise schnell zeigte sich in verschiedenen Teildiskursen eine Thematisierung dessen und wurden an den Tatbestand und die Strafzumessung des § 145d StGB gewandelte, strenge Maßstäbe angelegt sowie entsprechende Strafen verhangen.83 Vergleichbares lässt sich seit dem Jahr 2006 immer wieder für die (vermeintliche) Ankündigung von Amokläufen durch Schüler beobachten. Heutzutage genügt mitunter bereits ein falsches Wort in einem bestimmten Tonfall, um einen präventiven Polizeieinsatz auszulösen, der ggf. ein Strafverfahren nach sich zieht. Hier haben sich folglich das gesellschaftliche und das professionelle Wissen der Instanzen über diese Formen von Abweichung gewandelt und führt zu einer anderen Behandlung.84 Die damit beschriebenen Prozesse der Übersetzung diskursiven Wissens in die Rechtsanwendung mittels außergesetzlicher Anwendungsregeln ermöglichen zum einen trotz des steten Wandels und des nicht formal geregelten Einflusses diskursiven Wissens eine kontinuierliche, regelmäßige Praxis der Instanzen.85 Zum anderen führen diese Prozesse dazu, dass das gesellschaftliche Wissen über Kriminalität und das vorwiegend bei den Strafverfolgungsinstanzen zu findende Wissen über das diesbezügliche Recht sich inhaltlich entsprechen. Die strukturelle Tendenz, an dieser Stelle einen Widerspruch zu vermeiden, kann so weit gehen, dass außergesetzliche Regeln im Widerspruch zum Wortlaut des Gesetzes stehen, sodass beispielsweise eine Regelung entgegen ihrer wörtlichen Bedeutung ausgelegt wird. Insofern belässt auch ein vermeintlicher eindeutiger Wortlaut Interpretationsspielräume – selbst abgesehen von der darüber hinausgehenden Möglichkeit, dass sich die Bedeutung eines Wortes oder einer Formulierung im Laufe der Zeit wandeln kann. Vor diesem Hintergrund lässt sich eine absolute Grenze dieser Anpassungsprozesse kaum ziehen, wenngleich es natürlich möglich bleibt, dass ein Rechtsanwender in einem konkreten Fall zu der Einschätzung kommt, dass er einen Fall nicht mit den rechtlichen Mitteln lösen kann, sein Wissen über Kriminalität und sein Wissen über Recht also nicht in Übereinstimmung bringen kann. Nicht zuletzt der Umstand, dass das Wissen über Kriminalität zu einer Hinwegsetzung auch über den Wortlaut führen kann, macht deutlich, dass dieses diskursive Wissen die entscheidende inhaltliche Grundlage im Kriminalisierungsprozess darstellt.86 Außergesetzliche Anwendungsregeln sorgen dabei dafür, dass sich die Mikroebene konkreter Rechtsanwendung und das Bild erfasster Kriminalität auf der Makroebene entsprechen, sodass sich aus dem diesbezüglichen gesellschaftlichen Wissen und den daraus 83

Weidemann 2002. Siehe etwa den Bericht „Falsche Spuren“ bei Zeit Online vom 7. Dezember 2006 sowie die Meldungen von dpa und Spiegel-Online („Polizei jagt die Amok-Trittbrettfahrer“) vom 8. Dezember 2006. 85 Siehe Reckwitz 2003, 289. 86 Siehe zu diesen Prozessen der Rechtsanwendung auch Baufeld 2006, 190 f. 84

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E. Kriminalisierung als diskursive Praxis

entstehenden Regeln die Strukturmerkmale des jeweils geltenden Verständnisses von Kriminalität ablesen lassen.87 4. Definitionsmacht des Diskurses Zusammenfassend besehen basiert die Konstituierung von Kriminalität als sozialer Wirklichkeit im Kriminalisierungsprozess auf sich kontinuierlich wandelnden Bestände diskursiven Wissens bei den Instanzen, das über die Ausfüllung von Spielräumen in die Rechtsanwendung gelangt und mit kollektiven gesellschaftlichen Wissensbeständen in Austausch steht. Wie und wovon die „Bilder des Bösen“ (Stehr) gezeichnet werden, hängt in dieser Perspektive daher nicht von machtvollen Akteuren oder gesellschaftlichen Herrschaftsstrukturen ab, die vorbei am Gesetz bzw. durch das Gesetz ihre Interessen durchsetzen würden. Vielmehr liegt die Definitionsmacht beim Diskurs, der als Tiefenstruktur die Rechtsanwendung im Kriminalisierungsprozess lautlos leitet.88 Der Diskurs sorgt dabei für eine differenzierte Reaktion auf Veränderungen der interpretativen gesellschaftlichen Wirklichkeit, indem er eine flexible Rekomponierbarkeit von Formen abweichenden Verhaltens und die Neukonfiguration von Individuen als sozial gefährliche Entitäten im Rahmen des Kriminalisierungsprozesses ermöglicht.89 Demnach ist Kriminalität ein Phänomen, das sich nicht alleine im Verhältnis zwischen dem Täter und dem Opfer als Subjekten und dem Kriminaljustizsystem als Zuschreibungsinstanz konstituiert. Als vierte Perspektive90 lassen sich Diskurse verstehen, deren Wissensbestände für alle Beteiligten Grundlage ihres Denkens und Handelns im Kriminalisierungsprozess sind und deren Einteilung in richtig und falsch, gut und böse, normal und abweichend Normalität und damit Abweichung gesellschaftlich definieren.91 Vor diesem Hintergrund können Prozesse der Kriminalisierung als diskursive Praxis im Dispositiv der Kriminalisierung verstanden werden, die sich im Zusammenspiel von Wissen, regelhaften Praktiken und Macht vollzieht.92 Mit Hilfe von Deutungsmustern und außergesetzlichen Anwendungsregeln setzen die Instanzen das basale Wissen der Diskurse über Recht und Kriminalität in 87

Vgl. Hess/Scheerer 1997, 122 f.; Peters 1973, 28. Foucault 2003b, 946. 89 Vgl. Krasmann 2003b, 55. 90 Das Verständnis als hinzutretende Perspektiven ist angeregt durch Amelung 2005, 7, demzufolge die Viktimodogmatik als Folge des Opferparadigmas im vergangenen Jahrhundert als zweite Perspektive neben die Sicht auf den Täter getreten ist, während die Kritische Kriminologie mit den Instanzen eine dritte Perspektive betonte. 91 Siehe Turkel 1990, 172. 92 Allgemein Bührmann/Schneider 2007, Abs. 12. 88

III. Formierung durch die Instanzen

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konkreten Kriminalisierungsprozessen um.93 Damit produzieren sie auf einer konkreten Ebene neues Wissen und bestätigen zugleich die Festlegungen des Diskurses.94 Außergesetzliche Regeln und Deutungsmuster verkörpern somit das durch die Instanzen interpretativ verarbeitete Wissen der Diskurse und bilden die Richtschnur für die Produktion konkreten Wissens. Mit ihnen wandeln sich angesichts dessen jeweils ganze Bestände konkreten Wissens über Kriminalität und deren als Wirklichkeit erscheinende Formen.

III. Formierung durch die Instanzen Es wäre aber zu kurz gegriffen, die Subjekte mit ihren diskursiven Praktiken alleine als passive Werkzeuge des Diskurses zu verstehen, die die Festlegungen dieser Tiefenstruktur exekutieren. Denn dem Handeln der Subjekte kommt in der hier vertretenen diskursanalytischen Perspektive – wie bereits beschrieben95 – durchaus eine eigenständige Bedeutung zu. Dies gilt im Rahmen der Kriminalisierung gerade für die Strafverfolgungsinstanzen, die dort angesichts ihrer zentralen Position prominent an der Umsetzung der diskursiven Wissensbestände beteiligt sind. Die Entstehungszusammenhänge für die Formierung von Kriminalisierungsdiskursen und damit für die Konstruktion von Kriminalität als sozialer Wirklichkeit sind vor diesem Hintergrund ganz erheblich auch in der Praxis der Strafverfolgungsinstanzen zu suchen. 1. Wissen und Wandel Das spezielle Wissen der Strafverfolgungsinstanzen über Kriminalität und über Recht bildet, wie soeben dargelegt, die zentrale inhaltliche Grundlage der Kriminalisierung. Es leitet die Subjekte bei der Rechtsanwendung und prägt ihr Denken und Handeln. Umgekehrt sind die Instanzen aber auch selbst in erheblichem Maße an der Produktion des gesellschaftlichen Bildes von Kriminalität beteiligt. Durch ihre tägliche Praxis der Einleitung und Einstellung von Verfahren, der Verurteilung und Freisprechung machen sie für die Allgemeinheit sichtbar, was Kriminalität ist und was nicht. Dabei reproduzieren sie einerseits das gesellschaftliche Wissen der allgemeinen und speziellen Diskurse über Kriminalität und ihre Kontrolle.96 Andererseits werden im Rahmen dessen die strukturellen Wissensbestände nicht eins zu eins angewendet und bestätigt. Vielmehr setzen die Instanzen ihr spezielles Wissen aktiv in die Praxis um, geben sozusa93 94 95 96

Zu diesem Zusammenhang Diaz-Bone 2004, 2. Dazu auch Althoff 2002, 72. Siehe dazu bereits oben I.2. sowie D.IV. Siehe Henry/Milovanovic 1991, 299 f.

136

E. Kriminalisierung als diskursive Praxis

gen einen Teil von sich hinzu,97 wobei eine gewisse Offenheit für Innovationen, Veränderungen, Brüche besteht.98 Sie bestätigen daher das gesellschaftliche Wissen über Kriminalität nicht nur, sondern bearbeiten und aktualisieren es, schreiben es fort, stellen es in Frage und transformieren es.99 Veränderungen in der Praxis der Kriminalisierung können sich daher nicht nur aus einem Wandel des allgemeinen gesellschaftlichen Diskurses über Kriminalität im Sinne diskursgeleiteter Rechtsanwendung ergeben, sondern auch aus geänderten Praktiken der Instanzen folgen, die ihrerseits das gesellschaftliche Wissen über Kriminalität beeinflussen. Dem soll im Folgenden genauer nachgegangen werden. Wie bereits an verschiedener Stelle dargelegt wurde, lässt sich die aus Wissen, Sinn und Bedeutung bestehende Grundlage der interpretativen Erschließung der Welt durch das Subjekt in unterschiedlich feste Bereiche differenzieren. In diesem Sinne wurde der Diskurs mit seinen verschieden Ebenen als Wissensrahmen beschrieben, der die Interpretations- und Handlungsmöglichkeiten der Subjekte begrenzt, aber noch so weit gezogen ist, dass innerhalb dessen eine gewisse Bandbreite an verschiedenen Interpretationen und Entscheidungen möglich bleibt.100 Hier, auf dieser konkreten, dem Diskurs untergeordneten Ebene finden keine absoluten Prägungen, keine Determinierung durch den Diskurs statt, sondern ist intentionales Wirken und Entscheiden durch die Subjekte möglich. Gleichwohl wirkt das Wissen des Diskurses auf dieser Ebene nicht nur begrenzend, sondern mittelbar auch leitend, indem es als Richtschnur, als inhaltliche Orientierung fungiert, die den Rechtsanwender bei seinen intentionalen Entscheidungen auch auf dieser konkreten Ebene führt.101 Ebenso wie das Gesetz als materialisierte Form abstrakten, wandelbaren Wissens Entscheidungsund Bewertungsspielräume einräumt, wie im dritten Kapitel gezeigt wurde, gilt dies in vergleichbarer Weise auch für das diskursive Wissen, das weniger formal institutionalisiert ist. Es macht als Wissensrahmen abstrakte inhaltliche Vorgaben, deren Umsetzung dem einzelnen Rechtsanwender gleichwohl Spielräume belässt.102 Versteht man auf diese Art Kriminalisierung als interpretativen Akt auf der Grundlage diskursiven Wissens, so bedarf dieses dabei, wie oben bereits angesprochen, der interpretativen Umsetzung, der Konkretisierung in der Praxis. Es muss sozusagen von der abstrakten, impliziten Ebene auf die des konkreten Falls übersetzt werden. Die speziellen Wissensbestände der Instanzen als diskursive Struktur produzieren somit nicht unmittelbar und selbst soziale Realität. 97

Vgl. zu einer solchen Perspektive Hess/Scheerer 1999, 39. Reckwitz 2003, 294 f. 99 Vgl. Berger/Luckmann 1996, 65; Keller 2004, 9. 100 Siehe dazu oben D.II.2. und D.III.3. 101 Vgl. Schneider/Hirseland 2005, 260 ff. 102 Siehe auch Simon/Feeley 1995, 147 f. 98

III. Formierung durch die Instanzen

137

Sie werden erst wirksam, indem sie in Schritten der aktiven Interpretation durch die Subjekte umgesetzt werden. Im Rahmen dessen transformieren die Instanzen das diskursive Wissen kontinuierlich.103 Denn die konkretisierende Anwendung des Wissens im Rahmen und als Ergebnis des jeweiligen Kriminalisierungsprozesses schlägt sich wiederum in den Diskursen über Kriminalität nieder und trägt so ihren Teil zu diesen bei. Insofern führt die Praxis der Kriminalisierung nicht allein zur Reproduktion, sondern auch zur Transformierung der Kriminalisierungsdiskurse. Dies geschieht nicht intendiert und ist vom Einzelnen nicht planbar, wird aber gleichwohl durch das Handeln der Subjekte bewirkt. Denn in seiner Gesamtheit führt dieses Handeln zu Verschiebungen des diskursiv gezogenen Wissensrahmens. Innerhalb dieses Rahmens und damit auf untergeordneter Ebene finden Umbrüche in den Vorstellungen statt, die in der Summe über die Zeit einen Wandel auch des diskursiven Rahmens und damit sozialer Wirklichkeit nach sich ziehen. Zusammengenommen kann die innerhalb der jeweils bestehenden Wissensordnung agierende interpretative Praxis der Kriminalisierung auf diesem Wege zu Verschiebungen der Kriminalitätswirklichkeit führen.104 Dies bedeutet nicht, dass das Handeln der Subjekte bei den Instanzen im Widerspruch zu dem durch die Diskurse gezogenen Wissensrahmen steht bzw. diesen verlässt. Vielmehr wird es sich in aller Regel innerhalb dieses Rahmens bewegen, der zudem keine festen, sondern fließende Grenzen zieht. Veränderungen und Verschiebungen können sich gleichwohl ergeben, wenn die bestehenden Spielräume bereits ein wenig abweichend von den leitenden diskursiven Vorgaben ausgefüllt werden.105 Abweichung in diesem Sinne bedeutet, dass die Spielräume durchschnittlich auf eine andere Art und Weise ausgefüllt werden, sodass sich der Schwerpunkt der Ausfüllung verändert. Diese Veränderungen können dazu führen, dass sich der Interpretations- und Handlungsspielraum der Instanzen langsam und Stück für Stück ein wenig in die eine oder andere Richtung verschiebt und auf diese Weise mittelfristig auch die Tiefenstruktur diskursiven Wissens über Kriminalität und Recht verändert, wenn eine derart veränderte Praxis eine gewisse Häufigkeit und Dauer erreicht. Eine einzelne innovative Ausfüllung wird daher kaum einen Wandel des Diskurses nach sich ziehen. Vielmehr vollzieht sich dieser – im Gegensatz zu bruchhaften Veränderungen des Diskurses – eher langsam, kontinuierlich, Schritt für Schritt und erfordert regelmäßig eine gewisse Menge von Abweichungen bei der Spielraumausfüllung.106

103 104 105 106

Keller 2004, 8 f. Vgl. Barak/Henry/Milovanovic 1997, 94 f. Siehe dazu Renn 2005, 108 ff. Vgl. Renn 2005, 118 ff.

138

E. Kriminalisierung als diskursive Praxis

Zusammenfassend besehen wenden die Strafverfolgungsinstanzen gesellschaftliches Wissen über Kriminalität bei der Rechtsanwendung nicht nur an. Sie transformieren es als zentrale Institutionen im Dispositiv der Kriminalisierung auch.107 Die Auswirkungen dieser interpretativen Prozesse beschränken sich nicht auf das spezielle Wissen bei den Instanzen. Sie finden sich auch in den kollektiven gesellschaftlichen Diskursen über Kriminalität wieder. Denn diese stehen nicht nur mit den Spezialdiskursen der Instanzen im Austausch, sondern das mit der Kriminalisierung als diskursiver Praxis transportierte Wissen über Kriminalität schlägt sich auch unmittelbar in den gesellschaftlichen Vorstellungen nieder.108 Eine veränderte Rechtsanwendung führt so zu einem Wandel der Kriminalitätswirklichkeit. Die Instanzen prägen insofern – in einer der diskursgeleiteten Rechtsanwendung entgegengesetzten Wirkrichtung – ihrerseits das spezielle wie allgemeine gesellschaftliche Wissen über Kriminalität und stellen dessen kontinuierlichen Wandel her. 2. Anwendungsregeln als Mechanismus der Formierung Im Abschnitt zur diskursgeleiteten Rechtsanwendung109 wurde beschrieben, wie gesellschaftliche Wissensbestände über Kriminalität die Rechtsanwendung beeinflussen und welche Rolle außergesetzliche Regeln dabei spielen. Auch in der entgegengesetzten Wirkrichtung sind im Verhältnis zwischen der Praxis der Strafverfolgungsinstanzen und den speziellen wie allgemeinen Diskursen außergesetzliche Anwendungsregeln als Transformationsmechanismus von Bedeutung. Denn zum einen ermöglichen sie Veränderungen in konkreten Kriminalisierungsprozessen und übersetzen diese auf die Ebene abstrakten Wissens. Zum anderen übertragen sie veränderte Vorstellungen von Kriminalität in einen Wandel des Verständnisses des Rechts. Die Ausfüllung von Spielräumen in konkreten Kriminalisierungsprozessen einerseits und das abstrakte, basale Wissen der Diskurse andererseits sind auf verschiedenen Ebenen angesiedelt.110 Angesichts dessen stellt sich die Frage, wie das Zusammenspiel zwischen diesen Ebenen des Wissens funktioniert und damit auch danach, auf welchem Wege die Festlegungen der Spielraumausfüllung das abstraktes Wissen der Diskurse beeinflussen – und zwar sowohl bei den Instanzen als auch allgemein in der Gesellschaft. Außergesetzliche Regeln können dabei auch hier als Transformations- oder Übersetzungsmechanismus verstanden werden. Als diskursive Praktiken fungieren sie nicht alleine als Mechanismus zur Umsetzung von gesellschaftlichem Wissen in die Rechtsanwendung. 107 108

Siehe allgemein Diaz-Bone 2006, Abs. 14. Siehe zu diesem Verhältnis von Praxis und Wissen allgemein Reckwitz 1999,

42 f. 109 110

Siehe oben II. Siehe bereits oben C.II.4.

III. Formierung durch die Instanzen

139

Sie sorgen auch für dessen ständige Reproduktion, Bestätigung und Objektivierung, die eine durchaus auch kreative Interpretationsleistung darstellt.111 Denn es handelt sich dabei nicht um automatisch auszuführende Anweisungen, sondern um Instruktionen, die der Interpretation bedürfen.112 Die daraus folgenden Praktiken sind regelorientiert, ohne vollkommen in deren Befolgung aufzugehen.113 Mithin werden diese Regeln bei jeder Anwendung im Hinblick auf einen konkreten Fall, eine bestimmte Konstellation genutzt und im Zuge dessen ggf. ein kleines Stück modifiziert, zum Beispiel um dem jeweiligen Fall „gerecht“ zu werden, oder auch aktualisiert, um Veränderungen der interpretativen Wirklichkeit zu erfassen.114 Dieses in Form von informellen Verhaltensroutinen mit Werkzeugcharakter 115 bestehende Handlungswissen wird somit ständig weiterentwickelt. Dies gilt sowohl für Deutungsmuster auf der Sachverhalts-Ebene, als auch für außergesetzliche Anwendungsregeln zur Normhandhabung. Beide leiten zwar einerseits die Ausfüllung von Wertungs- und Interpretationsspielräumen. Sie verändern sich aber auch, wenn Innovationen in der Rechtsanwendung hierfür Impulse liefern, die sich durchsetzen. Insofern können sich – auf veränderten Vorstellungen der Instanzen basierende – Abweichungen bei der Rechtsanwendung in außergesetzlichen Regeln materialisieren.116 Zugleich sorgen außergesetzliche Anwendungsregeln dafür, dass sich damit entstehende Veränderungen in der Rechtsanwendung verfestigen und in den diskursiven Wissensbeständen über Kriminalität und Recht niederschlagen.117 Denn sie führen dazu, dass Veränderungen in der Ausfüllung von Interpretations- und Entscheidungsspielräumen nicht nur vereinzelt auftreten, sondern eine Regelmäßigkeit und Dauer erreichen, die einen Wandel der Rechtsanwendung bedeuten. Ein solcher Wandel wiederum schlägt sich im Laufe der Zeit in den speziellen Wissensbeständen der Instanzen ebenso wie im kollektiven gesellschaftlichen Diskurs nieder und kann zu einem überindividuellen Wandel der diskursiven Tiefenstruktur führen.118 In diesem Sinne stellen außergesetzliche Regeln – auch in dieser Richtung – nicht nur die Verbindung zwischen den Ebenen konkreter Kriminalisierung und abstrakten Wissens her, sondern bilden auch das Scharnier zwischen Praxis und Diskurs. Darüber hinaus verbinden außergesetzliche Regeln die bei den Instanzen zu unterscheidenden Bestände von Wissen über Recht und Wissen über Kriminali111 112 113 114 115 116 117 118

So Valverde 2003, 52. Renn 2005, 118 f. Keller 2005, 61. Keller 2005, 203, 222 f. Zusammenfassend zu solchen Ansätzen Reckwitz 2003, 284 ff. Siehe für Deutungsmuster Höffling/Plaß/Schetsche 2002, Abs. 6, 8. Vgl. Baufeld 2006, 190. Vgl. Garland 2004, 56 ff.

140

E. Kriminalisierung als diskursive Praxis

tät, die sich gegenseitig beeinflussen – so wie das Verständnis des Gesetzes für das Wissen der Instanzen über Kriminalität bedeutsam ist, beeinflussen die Vorstellungen von abweichendem Verhalten die Anwendung von Normen. Außergesetzliche Regeln legen fest, wie diese Vorstellungen übereingebracht werden können und sorgen somit für deren Übereinstimmung.119 Denn sie bestimmen, wie rechtliche Regelungen angesichts des geltenden Wissens über Kriminalität zu verstehen und anzuwenden sind und prägen damit umgekehrt wiederum die Vorstellungen der Subjekte bei den Instanzen über Kriminalität. Ebenso wie die Diskurse bei der Interpretation der Welt begrenzen sie damit die prinzipiell bestehende Kontingenz bei der Rechtsanwendung, indem sie die Spielraumausfüllung leiten und einschränken. Das gesellschaftliche Wissen über Kriminalität ist danach erheblich durch die Rechtsanwendung im Kriminalisierungsprozess und deren Ergebnisse geprägt. Kriminalisierung kann daher als diskursive Praxis verstanden werden, die entscheidend dafür verantwortlich ist, was in unserer Gesellschaft als Kriminalität angesehen wird und was nicht. Außergesetzliche Regeln mit ihrer Transformationsfunktion bilden dabei die Schnittstelle zwischen Praxis und Diskurs. Sie können angesichts dessen in dieser Wirkrichtung als zentrale Mechanismen der Formierung von Kriminalitätsdiskursen analysiert werden.120 3. Kriminalität der Instanzen Das Recht verkörpert einerseits besonders formalisierte soziale Regeln und rechtsethische Auffassungen. Umgekehrt sind aber auch die Setzung und das jeweilige Verständnis von Recht bedeutsam für Konstituierung und Wandel derartiger Werte. Dies kann soweit gehen, dass das Recht bzw. seine Anwendung einen Wandel vorherrschender Anschauungen einleiten und durchsetzen.121 Auch diese Wirkrichtung in der Beziehung zwischen außerrechtlichen und rechtlichen Normen stellt zunächst keine neue Vorstellung dar. Jedoch dominiert hier bislang ebenfalls der Blick auf den Gesetzgeber,122 obwohl für die Konstituierung von Kriminalität als sozialer Wirklichkeit, wie dargestellt, auch der Praxis der Strafverfolgungsinstanzen gewichtige Bedeutung zukommt. Denn diese reproduzieren und transformieren permanent das diesbezügliche gesellschaftliche Wissen. Ebenso wie also die Rechtsanwendung nicht im „luftleeren Raum“, sondern in dem von gesellschaftlichen Wissensbeständen vorgegebenen Interpretationsrahmen stattfindet, hat die Rechtsanwendung wesentlichen Einfluss auf das gesellschaftliche Bild von Kriminalität, wie entsprechende Verhal119 120 121 122

Siehe Baufeld 2006, 189 ff. Dazu auch Barak/Henry/Milovanovic 1997, 93 f. Zippelius 2003, 43 f.; Eisenberg 2005, § 22, Rn. 7 ff. Vgl. Eisenberg 2005, § 22, Rn. 1.

III. Formierung durch die Instanzen

141

tensweisen im Leben wahrgenommen werden und was unter den gesetzlich typisierten Formen abweichenden Verhaltens verstanden wird. Dies schlägt sich wiederum in sozialen Routinen und Praktiken nieder und bildet die Basis für die jeweils herrschende Formation sozialer Kontrolle.123 Im Rahmen der routinierten Problembearbeitung durch die Instanzen wird Kriminalität als soziale Wirklichkeit beständig neu geschaffen, indem das diesbezügliche Wissen reproduziert und im Laufe der Zeit gewandelt wird.124 Damit produzieren die Instanzen nicht nur konkretes Wissen durch die Hervorbringung von juristischen Entscheidungen im Einzelfall. Die Praxis der Kriminalisierung und die dabei wirksam werdenden außergesetzlichen Regeln können, wie soeben beschrieben, vielmehr auch als wesentlicher Faktor bei der Formierung von diskursivem Wissen im Dispositiv der Kriminalisierung verstanden werden.125 Denn durch die stetige Transformation gesellschaftlicher Wissensbestände initiieren und etablieren die Instanzen mittels ihrer Praktiken gesellschaftliche Diskurse. Dabei agieren sie nicht nur angesichts ihrer gesellschaftlichen Funktion von einer besonderen Sprecherposition aus,126 sondern auch, da sie als Institutionen handeln und wahrgenommen werden. Der Einzelne spricht nicht nur für sich, sondern bringt jeweils die Position und Realität seiner Institution zum Ausdruck.127 Ihm kommt daher eine besondere Rolle bei der Formierung diskursiven Wissens zu, weshalb von einer institutionellen Anreizung zu Diskursen gesprochen werden kann.128 Mit dieser Bearbeitung von Abweichung aktualisieren die Strafverfolgungsinstanzen stetig und an zentraler Position die dichotomen Grenzziehungen der Kriminalisierung. Denn ihre diskursiven Aussagen und entsprechende Praktiken stellen den Gegenstand bzw. Bereich her, von dem sie handeln. Auf diesem Wege werden neue Formen von Kriminalität – beispielsweise „Stalking“ oder „Organisierte Kriminalität“ – ebenso produziert, wie deliktsübergreifende besondere Qualifizierungsmerkmale, beispielsweise in Form bestimmter Motivationslagen oder Begehungsformen, wie etwa Alkoholeinfluss oder „bandenmäßige“ Begehung. Die daraus folgenden variablen Kategorien und die Zuordnung der Betroffenen zu diesen im Rahmen des Kriminalisierungsprozesses stellen die Stigmatisierung der Kriminalisierten her, indem diese als „anders“ und „besonders“ konstruiert und sodann auch wahrgenommen werden. Im Zuge dessen transportieren die Instanzen ihre Interpretationen als gleichsam offizielle Sichtweise in die Gesellschaft. Die Praxis der Instanzen produziert somit das 123 124 125 126 127 128

Garland 2004, 63; Singelnstein/Stolle 2006, 33 ff. Groenemeyer 2003, 10. Siehe auch Valverde 2003, 190 f. Siehe dazu Foucault 2003, 25 ff. Vold/Bernard/Snipes 1998, 272. Vgl. Foucault 1983, 23 ff.

142

E. Kriminalisierung als diskursive Praxis

Normalverständnis eines sozialen Problems und stellt es aktiv her.129 Das damit produzierte Wissen mit seinen Wahrheitswirkungen schlägt sich in Form kultureller Muster bei der Allgemeinheit nieder130 – in den Problemdeutungen durch kollektive Akteure in Debatten und Medien, aber auch bei den einzelnen Subjekten bis hin zu den als abweichend Etikettierten selbst. Es bildet so eine übergreifende Verbindung zwischen den verschiedenen Lebenswelten, das heißt den individuellen Interpretationen und Sichtweisen auf die Welt, in denen der Einzelne sich einrichtet, die seine soziale Wirklichkeit bedeuten und sein soziales Verhalten grundlegend prägen. Die Instanzen legen somit die Grundlagen dafür, wie der Einzelne Abweichung versteht und sozial damit umgeht. Auf diesem Wege legitimieren und autorisieren sie zugleich ihre eigenen Einzelfall-Entscheidungen.131 Die Strafverfolgungsinstanzen setzen Diskurse damit nicht nur passiv um, sondern stellen in erheblichem Maße auch selbst die interpretative Kriminalitätswirklichkeit her.132 Sie sind ständig an der gesellschaftlichen Konstituierung von Kriminalität beteiligt, auch wenn dies nicht durch die Subjekte intendiert geschieht. Die Thematisierung diskursiver Praktiken ermöglicht so eine weitergehende Perspektive auf die Instanzen der Strafverfolgung. Diese können einerseits als durch den Diskurs geleitet verstanden werden, wodurch differenzierte Antworten auf die Frage ermöglicht werden, anhand welcher inhaltlichen Grundlagen und Einflüsse die Rechtsanwendung im Kriminalisierungsprozess Spielräume ausfüllt. Andererseits haben die Instanzen aber auch eine selbständige Bedeutung, indem sie den Diskurs täglich umsetzen und so an prominenter Stelle Kriminalität konstituieren, sodass ihnen selbst im Dispositiv der Kriminalisierung – zu dem Kriminalpolitik und kollektive gesellschaftliche Akteure ebenso gehören wie verschiedene Wissenschaften und die Rechtsanwendung133 – eine herausragende Bedeutung zukommt.

IV. Methodik und Schritte einer empirischen Umsetzung am Beispiel von Delikten mit extrem rechtem Hintergrund Im Folgenden soll veranschaulicht werden, wie der bis hierhin herausgearbeitete Ansatz des Zusammenspiels von Diskurs und Rechtsanwendung im Kriminalisierungsprozess mittels außergesetzlicher Anwendungsregeln empirisch bearbeitet werden könnte. Zu diesem Zweck werden zunächst die methodischen Herangehensweisen der sozialwissenschaftlichen Diskursanalyse dargestellt und 129 130 131 132 133

Groenemeyer 2003, 10, 19. Garland 2004, 60 f. Valverde 2003, 52. Siehe Valverde 2003, 5 ff. Allgemein zu Begriff und Konzept Bührmann/Schneider 2007, Abs. 19 ff.

IV. Methodik und Schritte einer empirischen Umsetzung

143

ein Ansatz herausgegriffen, mit dem sich die hier theoretisch erarbeiteten Zusammenhänge untersuchen lassen. Im Anschluss daran werden am Beispiel des polizeilichen und strafjustiziellen Umgangs mit Geschehensabläufen in den 1990er Jahren, denen ein extrem rechter Hintergrund zugeschrieben wird, die einzelnen Schritte eines solchen empirischen Forschungsvorhabens skizziert, um den beschriebenen theoretischen und methodischen Ansatz zu veranschaulichen. 1. Zur Methodologie und Methodik der Diskursanalyse Bei der Diskursanalyse handelt es sich, wie in der Einführung eingangs dargestellt, um eine Forschungsperspektive, die in unterschiedlichen theoretischen Ausprägungen Eingang in verschiedene Wissenschaftsbereiche gefunden hat. Ebenso differenziert stellt sich die Methodik der Diskursanalyse dar, ohne dass es hierfür bislang ein vollständig entwickeltes eigenständiges Konzept gäbe.134 Jedoch kann für den hier verfolgten Ansatz einer sozialwissenschaftlich-wissenssoziologischen Diskursanalyse auf den innerhalb des interpretativen Paradigmas zur Anwendung gelangenden Methodenkanon der qualitativen empirischen Sozialforschung zurückgegriffen werden.135 Einer solchen Heranführung der diskursanalytischen Perspektive an die für diesen Zweck zu modifizierenden klassischen Methoden der Sozialforschung steht aus methodologischer Sicht grundsätzlich nichts entgegen. Dies gilt ebenso für die Kriminologie, die sich der Methoden anderer Wissenschaften bedient und als Erfahrungs- oder Seinswissenschaft insbesondere auf die Methoden der empirischen Sozialforschung zurückgreift.136 Hierbei stehen zwar quantitative Ansätze (immer noch) erheblich im Vordergrund.137 Indes ist die Wahl der Methode immer abhängig vom Gegenstand und Ziel der Erkenntnis, sodass auch für kriminologische Fragestellungen eine qualitative Herangehensweise keinesfalls ausgeschlossen ist.138 Qualitative Methoden139 der Sozialforschung verfolgen als sinnverstehende, interpretative Herangehensweise in Abgrenzung zu quantitativen Methoden eher eine Perspektive des Verstehens als des Erklärens.140 Bei ihrer Suche nach der 134

Vgl. Jäger 2006, 113; Klemm/Glasze 2005, Abs. 7 f. Keller 2004, 10, 57 f.; siehe zu letzteren den systematischen Überblick von Mruck 2000. – Die Differenzierung und getrennte Entwicklung von qualitativen und quantitativen Methoden geht zurück auf den Methoden- und den Positivismusstreit in den Sozialwissenschaften, siehe dazu Schnell/Hill/Esser 1999, 83 ff. 136 Allgemein zum kriminologischen Erkenntnisbemühen Eisenberg 2005, § 12, Rn. 1 ff.; zu den Methoden der Rechtssoziologie Rehbinder 2003, 61 ff. 137 Siehe zu qualitativer Forschung in der Kriminologie indes die Überblicke bei Löschper 2000; Meuser/Löschper 2002. 138 Siehe Eisenberg 2005, § 13, Rn. 4; Kaiser 1996, § 6, Rn. 2 ff.; Kürzinger 1996, Rn. 36. 139 Zur Kritik des Begriffs Hitzler 2002, Abs. 14. 140 Siehe Bohnsack 2003, 13 ff.; Mruck 2000, Abs. 5 ff. 135

144

E. Kriminalisierung als diskursive Praxis

Entschlüsselung gesellschaftlicher Phänomene bemühen sie sich um ein tieferes Verständnis der sozialen Zusammenhänge im Sinne eines Nachvollziehens141 und versuchen, eine möglichst große Lebensnähe und Authentizität zu erreichen.142 Qualitativ orientierte Herangehensweisen haben sich aus der Erkenntnis entwickelt, dass quantitative Verfahren einerseits nur für bestimmte Arten von Fragestellungen geeignet sind.143 Andererseits sind solche Verfahrensweisen angesichts ihres geplanten Forschungsablaufs der Gefahr ausgesetzt, weniger offensichtliche Umstände und Zusammenhänge, die vom Forschungsdesign nicht erfasst worden sind, im Laufe des Forschungsprozesses zu übersehen und so zu einer selektiven Wahrnehmung zu gelangen.144 Demgegenüber handelt es sich bei qualitativen Methoden oft um naive Verfahren, die bemüht sind, möglichst frühzeitig mit dem praktischen Forschungsprozess zu beginnen, um aus dem empirischen Material heraus das konkrete Vorgehen zu entwickeln. Dieses gilt im Besonderen für die Diskursanalyse, deren Methode sich nicht einfach aus der Theorie ableiten lässt. Denn die Theorie als Konstruktion ist immer schon selbst Teil dessen, was sie analysiert, da sie eingebettet ist in einen Diskurs über Diskurse.145 Dementsprechend erfolgt eine Materialauswahl hierbei zunächst auf zu begründenden Vermutungen und kann dann bis hin zu einer Sättigung erweitert werden.146 Als problematisch erweist sich dabei insbesondere, dass qualitative Methoden es notwendigerweise erfordern, das empirische Material noch stärker einzugrenzen und das methodische Vorgehen nicht von vornherein im Detail festzulegen. Dies steht jedoch der Ermittlung von intersubjektiv überprüfbaren Aussagen oder einer Verallgemeinerungsfähigkeit nicht entgegen. Vielmehr sind innerhalb des Forschungsprozesses entsprechende Vorkehrungen zu treffen, die eine Nachvollziehbarkeit des Vorgehens gewährleisten und subjektive Einflüsse bei der Interpretation so weit wie möglich ausschließen.147 Zwar fehlen im Bereich qualitativer Forschung bislang allgemein akzeptierte Gütekriterien weithin, da sich diejenigen der quantitativen Forschung angesichts der grundlegenden Unterschiede nicht einfach übertragen lassen.148 Jedoch lassen sich gewisse anerkannte Standards und Forschungsprinzipien ausmachen, wie die der Offenlegung von Vorverständnis und Vorgehen, der Einsicht in die Grenzen von Objek141

Dazu Flick 2002, 16 ff.; Meier 2005, § 4, Rn. 7 ff. Bock 2000, 30 f.; zur Kombination qualitativer und quantitativer Verfahren siehe Mayring 2001. 143 Kaiser 1996, § 6, Rn. 6. 144 Siehe Eisenberg 2005, § 13, Rn. 5. 145 Bublitz 1999, 27 f.; Diaz-Bone 2006, Abs. 19. 146 Siehe Jäger 2006, 103 ff.; Keller 2006, 139 ff., auch zur Verlässlichkeit und Gültigkeit von Diskursanalysen. 147 Dazu Keller 2006, 140 f.; Mruck/Breuer 2003. 148 Mruck 2000, Abs. 30 ff.; siehe auch Lamnek 2005, 138 ff. 142

IV. Methodik und Schritte einer empirischen Umsetzung

145

tivität sowie der Reflexivität.149 Es ist entscheidend, deutlich zu machen, wo die eigene Interpretationsarbeit anfängt, und Distanzierungstechniken anzuwenden, um sich von subjektiven Erwartungen und Annahmen so weit wie möglich frei zu machen. Trotzdem bestehende und nicht zu eliminierende Einschränkungen müssen hingenommen werden; ansonsten wären bestimmte Fragestellungen nicht zu verfolgen, da sie sich mit quantitativen Methoden – die ihrerseits selbst nicht frei sind von subjektiven Einflüssen und vorgegebenen Interpretationen – eben nicht erfassen lassen.150 Dieses gilt gerade für solche Ansätze, die wie hier im interpretativen Paradigma zu verorten sind.151 Denn die Untersuchung der Produktion von Wissen, Sinn und Bedeutung – statt von Entitäten und ihren Zusammenhängen – lässt sich vor allem in qualitativer Herangehensweise vorstellen.152 Die Diskursanalyse versteht soziale Realität als Produkt von wissensbasierten Interaktionsprozessen. Sie widmet sich der Hinterfragung und Dekonstruktion von zu einem bestimmten Zeitpunkt gültigen Wissensbeständen.153 Ihr methodisches Vorgehen ist daher nicht darauf gerichtet, zwischen wahren und falschen Interpretationen zu unterscheiden oder die Auseinandersetzung zwischen verschiedenen Auffassungen zu analysieren. Stattdessen will sie ermitteln, wie sich in einem bestimmten Bereich welches Wissen als gültige Wahrheit durchsetzen konnte.154 In einem ersten Schritt geht es somit darum, Wissen, Denkschemata und Positivitäten als Konstruktionen in Frage zu stellen und zu dechiffrieren. In einem zweiten Schritt wird dann den Bedingungen nachgegangen, die zu diesen Evidenzen geführt haben, die also entsprechende Wissensbestände (re-)produzieren und als natürlich erscheinen lassen.155 Dementsprechend besteht das methodische Vorgehen der Diskursanalyse nicht in Inhalts- oder Textanalysen im engeren Sinne oder einer herkömmlichen Rekonstruktion von Sinn.156 Stattdessen geht es bei der Arbeit am empirischen Material um das Erkennen der diesen sprachlichen Einheiten zugrunde liegenden Wissensordnungen, um die Extraktion ihrer inneren Logik, als die sich die aus Wissen bestehende diskursive Tiefenstruktur verstehen lässt. Diese theoriegeleitete Suche nach den Mechanismen, den Systematisierungsregeln der Diskurse kann als „interpretative Analytik“ jenseits von Strukturalismus und Hermeneutik bezeichnet werden.157 149

Siehe zu den Standards qualitativer Forschung Lamnek 2005, 20 ff. Langer 1994, 392 ff.: „Schlüssel zur Lebenswelt der ,Gerichtsgemeinde‘ “. 151 Vgl. Flick 2002, 33 ff. 152 Zur Methodologie der Diskursanalyse grundlegend Keller 2005, 263 ff. 153 Zu Anlage und Ablauf einschlägiger Forschungsvorhaben Keller 2006, 137 ff. 154 Die Methodik vollzieht damit den der hier vertretenen diskursanalytischen Perspektive immanenten epistemologischen Bruch nach, siehe dazu oben B.I.3. 155 Lemke/Krasmann/Bröckling 2000, 21. 156 Angermüller 2001, 8. 157 Diaz-Bone 1999, 126 f.; Dreyfus/Rabinow 1994, 11 ff. 150

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E. Kriminalisierung als diskursive Praxis

Gemäß dem hier verfolgten Ansatz werden gesellschaftliche Wissensbestände durch soziale Praktiken aufgrund einer aus basalem Wissen bestehenden, diskursiven Tiefenstruktur hervorgebracht. In Umsetzung des genannten zweigeteilten Vorgehens ist daher zunächst eine Betrachtung der diskursiven Oberfläche angezeigt, das heißt des Wissens, das sich in dem jeweiligen Themenfeld zu einem bestimmten Zeitpunkt beobachten lässt. Dabei kann von bestimmten Themenfeldern im Sinne von Diskurssträngen und bzw. oder bestimmten Akteuren und Institutionen ausgegangen werden.158 Daran anschließend sind daraus die diskursive Tiefenstruktur, die diesem Wissen zugrunde liegende Regeln als dahinter stehende abstrakte Wissensebene zu ermitteln.159 Hat man auf diesem Wege die diskursive Tiefenstruktur freigelegt, so lassen sich davon ausgehend die diskursiven und nicht-diskursiven Praktiken untersuchen, die diese Tiefenstruktur in das konkrete Wissen an der Oberfläche umsetzen.160 Im Kern geht es diesem methodischen Vorgehen, dieser „Hermeneutik zweiter Ordnung“161 darum, die diskursive Tiefenstruktur in ihrer Regelmäßigkeit und als Grundmuster sozialer Praktiken erkennbar zu machen. Diese Herangehensweise ähnelt dem methodischen Vorgehen des Strukturalismus. Denn ebenso wie diesem, geht es auch hier darum, das als soziale Wirklichkeit bestehende Wissen in seine kleinsten Bestandteile zu zerlegen, um dann nach deren Verbindung zu suchen. Die kleinsten Einheiten des Diskurses stellen Aussagen dar, das heißt sich herauskristallisierende, verdichtete, immer wieder auftauchende Äußerungen, die als Eckpfeiler für die Wissensordnung in einem thematischen Bereich konstitutiv sind und zusammen genommen eine diskursive Formation bilden.162 Mithin geht es dem diskursanalytischen Vorgehen zunächst darum, in dem gewählten thematischen Feld die zu dieser Zeit gültigen und verstreut auftauchenden Aussagen herauszuarbeiten und von bloßen Äußerungen abzugrenzen. Im Anschluss hieran kann man sich sodann der Freilegung der diskursiven Tiefenstruktur widmen, das heißt dem Wissen, das sich auf den jeweils abstrakteren, übergeordneten Ebenen des Diskurses findet und daher die überindividuelle Hervorbringung der gefundenen Aussagen leitet, wobei auch diskursive Ereignisse und Kontexte zu berücksichtigen sind.163 Angesichts dessen kommt es weniger auf die einzelnen Aussagen und deren Gehalt an, sondern vielmehr auf ihre Gemeinsamkeiten, Zusammenhänge, Verknüpfungen und Beziehungen untereinander.164 In diesen spiegelt sich das basale Wissen der diskursiven Tiefenstruktur wider und lassen sich daher die Formationsregeln des 158 159 160 161 162 163 164

Diaz-Bone 1999, 131. Bublitz 2006, 246 f. Diaz-Bone 2004, 2. Diaz-Bone 1999, 126. Siehe bereits oben D.II.2. Dazu grundsätzlich Schwab-Trapp 2006; Keller 2006, 129 ff. Diaz-Bone 2006, Abs. 24; Jäger 1999, 175 ff.

IV. Methodik und Schritte einer empirischen Umsetzung

147

Diskurses erkennen. Die Analyse der Objekte, Begriffe und Thematisierungen, die auf dieser sichtbaren Ebene hervorgebracht werden, der Denkweisen und Klassifikationen, der Sprecher und ihrer Rollen ermöglicht so im Laufe der Zeit das Erkennen der Struktur des Diskurses in der Tiefe.165 Hiervon ausgehend können diskursive und nicht-diskursive Praktiken analysiert werden, die als kohärente, konstituierende Praxis die herausgearbeitete Tiefenstruktur in Aussagen an der Oberfläche umsetzen.166 Sie stellen damit den diskursiven Wissensrahmen her, der die jeweils gültigen Wahrheitsbedingungen festlegt, das heißt die Kriterien dafür, ob eine Äußerung als wahr oder falsch angesehen wird. Im vorliegenden Kontext der Rechtsanwendung in Kriminalisierungsprozessen können solche Praktiken zum einen aus Deutungsmustern bestehen bzw. auf solchen basieren, die als konkretere Formen von Wissen und als diskursive Praktiken die Sachverhaltsfeststellung leiten.167 Zum anderen fungieren auf der Ebene der Normhandhabung gemäß dem hier entwickelten Konzept außergesetzliche Anwendungsregeln als diskursive Praktiken, die für die Übereinstimmung von Rechtsanwendung und interpretativer Wirklichkeit sorgt.168 2. Allgemeiner gesellschaftlicher Diskurs über die extreme Rechte Vor diesem methodischen Hintergrund soll im Folgenden beleuchtet werden, wie die einzelnen Schritte eines empirischen Forschungsvorhabens aussehen könnten, das den in der Arbeit bis zu diesem Punkt herausgearbeiteten Ansatz außergesetzlicher Anwendungsregeln als diskursiven Praktiken in der Kriminalisierung untersucht. Dies erfolgt am Beispiel von Delikten mit extrem rechtem Hintergrund seit Beginn der 1990er Jahre169 und soll so zugleich die beschriebenen Zusammenhänge an einem konkreten Beispiel veranschaulichen. In zwei ersten Schritten werden dafür die Entwicklung des allgemeinen gesellschaftlichen Diskurses sowie des speziellen kriminologischen und des juristischen Diskurses zu diesem Thema unter Heranziehung bereits vorliegender Untersuchungen und Betrachtungen nachgezeichnet. Hiervon ausgehend wird sodann in einem dritten Schritt an verschiedenen Beispielen gezeigt, wie Rechtsanwendung und Anwendungsregeln in diesem Bereich empirisch erfasst werden kön165

Diaz-Bone 2006, Abs. 23. Siehe dazu Jäger 2006, 110 ff.; Klemm/Glasze 2005, Abs. 20. 167 Dazu Althoff 2002, 71 f.; siehe auch Keller 2006, 142. 168 Zu qualitativen Ansätzen bezüglich außergesetzlicher Regeln Langer 1994; Lautmann 1972; Rémy 2005. 169 Die Begriffe extrem rechts bzw. extreme Rechte werden hier in Abgrenzung zu einer in der Nähe totalitarismustheoretischer Vorstellungen befindlichen Rechtsextremismus-Konzeption verwandt; siehe zum Begriff und diesbezüglichen theoretischen Ansätzen zusammenfassend Kühnl 1996a. 166

148

E. Kriminalisierung als diskursive Praxis

nen. Die Leitfrage lautet dabei: Wie haben sich außergesetzliche Anwendungsregeln als diskursive Praktiken in einschlägigen Kriminalisierungsprozessen verändert? Der Diskurs über Delikte mit extrem rechtem Hintergrund seit den 1990er Jahren wurde als Gegenstand ausgewählt, weil er für die Untersuchung der Fragestellung besonderes geeignet scheint.170 Die strafrechtliche Beurteilung von rassistischen und neofaschistischen Motivationen und Einstellungen hat sich in diesem Zeitraum in der Bundesrepublik erheblich und teilweise bruchhaft verändert. Vergleichbares gilt für die allgemeine gesellschaftliche Wahrnehmung, sodass sich das Wechselverhältnis von diskursivem Wissen und Kriminalisierungsprozessen hier vermutlich gut untersuchen lässt. Dass die Wahrnehmung von Faschismus und Rassismus, ihre Bewertung sowie ihre justizielle Bearbeitung einem erheblichen diskursiven Wandel unterliegen, beschränkt sich indes nicht auf den Untersuchungszeitraum. Erinnert sei hier neben dem Bruch in Folge des 8. Mai 1945 beispielsweise an den – alleine in der 1940er und 1950er Jahren erheblichen Wandlungen unterliegenden – strafjustiziellen Umgang mit dem Nationalsozialismus und dem damit einhergehenden gesellschaftlichen Diskurs, der heute in weiten Teilen kaum noch vorstellbar scheint.171 Ein weiteres Beispiel sind die deutlichen Unterschiede in der Wahrnehmung und im justiziellen Umgang mit einschlägigen Geschehensabläufen während des Nationalsozialismus in Ost und West. Kriminalisierung stellt dabei jeweils nur einen Aspekt der diskursiven Thematisierung dieses Bereichs dar. Nachdem diese Phasen der Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus und mit den parlamentarischen Erfolgen der NPD in der zweiten Hälfte der 1960er Jahre beendet waren, spielten Straftaten mit extrem rechtem Hintergrund wie auch die extreme Rechte insgesamt keine derart zentrale Rolle mehr in den gesellschaftlichen Diskursen der Bundesrepublik.172 Ausnahmen hiervon betreffen einzelne Vorkommnisse in den 1970er und 1980er Jahren, wie gewisse terroristische Aktivitäten oder spektakuläre Propaganda-Aktionen, die als extrem rechts wahrgenommen und bewertet wurden. Die entsprechenden Täter wurden eher als einzelne Verrückte, teilweise auch als überzeugte, aber verblendete Fanatiker gezeichnet. Jedenfalls aber handelte es sich diesen Vorstellungen nach um Personen, die gesellschaftlich vollständig isoliert und politisch eher ungefährlich waren, vollkommen veralteten, überholten Vorstellungen anhingen und 170 Diese besondere Geeignetheit ist der ausschließliche Grund für die genannte Auswahl. Der in Rede stehende Ansatz ließe sich ebenso gut auch an verschiedenen anderen juristischen Diskursen untersuchen, die in der vergangenen Zeit Brüchen und Veränderungen unterlagen, wie beispielsweise der Diskurs über Maßregeln der Besserung und Sicherung und insbesondere die Sicherungsverwahrung in den beiden vergangenen Jahrzehnten oder die Kriterien für die Schuldfähigkeitsbegutachtung. 171 Hierzu Müller 1989, 240 ff. 172 Siehe Kühnl 1996, 128 ff.

IV. Methodik und Schritte einer empirischen Umsetzung

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eher selten zu wirklich bedrohlichen Straftaten neigten.173 Paradigmatisch hierfür steht das Bild vom „Ewiggestrigen“.174 Diese diskursive Wirklichkeit begann sich mit der Wende 1989 und stärker noch infolge des Zusammenschlusses der beiden deutschen Staaten erst langsam und dann immer schneller zu wandeln.175 Bei der Wahrnehmung der extremen Rechten insgesamt spielte auch die diskursive Rezeption des Wahlerfolgs der Republikaner bei der Berliner Abgeordnetenhauswahl 1989 eine nicht unwesentliche Rolle, die aber recht schnell wieder abebbte. In den Vordergrund gelangten mit Beginn der 1990er Jahre stattdessen vielmehr Neonazis, Skinheads und Hooligans, die seitdem in besonderem Maße das gesellschaftliche Bild von der extremen Rechten prägen.176 Bestimmend wurde hierbei zunächst die Vorstellung von sozial schlechter gestellten, nicht besonders intelligenten, zu Gewalttätigkeiten neigenden Männern – oftmals in Verbindung mit Alkohol.177 Im Zuge dessen bzw. parallel dazu wurden Rassismus und die extreme Rechte eher weniger als politisches, sondern zunehmend als strafrechtliches Problem verstanden, wodurch strafrechtlich relevante Geschehensabläufe mit extrem rechtem Hintergrund eine steigende Bedeutung erlangten. Im Vordergrund stand nunmehr das Bild des „Gewalttäters“. Dies schlägt sich nicht nur in den Statistiken nieder, wo derartige Delikte einen erheblichen Anteil ausmachen, sondern auch in der hervorstechenden Rolle, die solche Geschehensabläufe allgemein bei der diskursiven Verarbeitung der extremen Rechten als gesellschaftlichem Phänomen erlangt haben. Dieser Wandel im gesellschaftlichen Bild von der extremen Rechten setzte sich nicht plötzlich, sondern erst im Laufe von einigen Jahren durch. Seit Beginn der 1990er Jahre stiegen in den polizeilichen Statistiken die Zahlen von Gewaltdelikten mit extrem rechtem Hintergrund massiv an und erreichten 1992 ihren Höhepunkt.178 Dies betraf insbesondere gewalttätige Übergriffe auf ausländisch aussehende Personen und andere (vermeintliche) Randgruppen.179 Auf breiter Ebene wurde diese Entwicklung im allgemeinen gesellschaftlichen Diskurs jedoch erst zeitlich versetzt problematisiert.180 Zwar thematisierten bereits seit 1991 verschiedene gesellschaftliche Akteure verstärkt, dass Rassismus und 173

Vgl. hierzu im Einzelnen die Beiträge bei Benz 1989. Vgl. ID-Archiv am ISSG 1992, 29 ff. 175 Dazu Kühnl 1996, 136 ff. 176 Vgl. Eisenberg 2005, § 57, Rn. 40; Stöss 2005, 150 ff. 177 Vgl. die zusammenfassende Darstellung bei Stöss 2005, 157 ff. 178 Nimmt man hingegen die in der Polizeilichen Kriminalstatistik erfassten Delikte mit extrem rechtem, antisemitischem oder fremdenfeindlichem Hintergrund zusammen, so sind die Zahlen auch bis 2000 weiter angestiegen, siehe Bundesministerium des Innern/Bundesministerium der Justiz 2001, 283. 179 Dazu Stöss 2005, 153 ff. 180 Siehe Neubacher 1998, 24 f. 174

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E. Kriminalisierung als diskursive Praxis

Neofaschismus sich in einem erheblichen Aufwind befinden, sich gesellschaftlich verankern und einschlägige strafrechtlich relevante Geschehensabläufe massiv zunehmen.181 Bereits zu diesem frühen Zeitpunkt hatte sich der diskursive Wissensrahmen also bereits derart verschoben, dass solche Problematisierungen nun im möglichen Feld des Sagbaren lagen und entsprechende Wissensbestände begannen, sich zu etablieren. Im allgemeinen gesellschaftlichen Diskurs setzte sich diese Interpretation aber erst in den Jahren 1992 und 1993 vollständig durch und erlangten die extreme Rechte und Straftaten mit entsprechendem Hintergrund ihre besonders herausgehobene diskursive Bedeutung.182 Diese Entwicklung steht in direkter Verbindung mit zahlreichen Ereignissen, die entsprechend diskursiv verarbeitet wurden. Neben den zahllosen Brandanschlägen auf Flüchtlingsheime, von denen einige eine besondere diskursive Bedeutung erlangt haben, und einzelnen Todesfällen, die im gesellschaftlichen Diskurs entsprechend wahrgenommen wurden,183 lassen sich drei Ereignisse ausmachen, denen eine besonders herausragende Bedeutung für den Wandel im diskursiven Verständnis zukommt: das Pogrom von Rostock-Lichtenhagen im August 1992 sowie die Brandanschläge von Mölln im November 1992 und Solingen im Mai 1993.184 Die diskursive Aufbereitung des ersteren stand weniger im Zeichen von Straftaten mit extrem rechtem Hintergrund, sondern schwankte zwischen distanzierender Kritik, interessiertem Erstaunen und vorsichtigem Verständnis.185 Zwar setzte sich keine allgemeine gesellschaftliche Interpretation durch, dass es sich um rein negativ zu bewertende, strafrechtlich relevante Geschehensabläufe handelt. Aber die Wahrnehmung der Ereignisse in Rostock war doch mit dem Unbehagen verbunden, dass die Situation zu eskalieren und kaum noch kontrollierbar zu werden drohte. Bis dahin waren es in der gesellschaftlichen Wahrnehmung in aller Regel einzelne Täter gewesen, die sich an Übergriffen und Anschlägen beteiligten. Dabei waren zwar auch immer wieder Todesopfer zu beklagen, was jedoch nach den ersten Fällen 1990 und 1991 diskursiv eher nur noch am Rande wahrgenommen wurde. In diese Situation fallen dann im Abstand weniger Monate die Brandanschläge von Mölln und Solingen mit jeweils mehreren Toten. Deren besondere Beachtung und Bedeutung wurde stets damit erklärt, dass es mehrere Tote gegeben habe und nun nicht mehr „nur“ Flüchtlinge, sondern bereits seit Jahrzehnten in Deutschland lebende türkische Familien betroffen seien, darunter auch 181

Siehe Siegler/Tolmein/Wiedemann 1993, 78 f. Siehe den Überblick über die bis 1993 massiv steigenden offiziellen Zahlen zu Delikten mit extrem rechtem Hintergrund bei Eisenberg 2005, § 45, Rn. 153; Stöss 2005, 153 f. 183 Eisenberg 2005, § 50, Rn. 38. 184 Siehe Ohlemacher 1998, 7 f. m.w. N. 185 Siehe dazu die Medienanalyse bei Siegler/Tolmein/Wiedemann 1993, 169 ff. 182

IV. Methodik und Schritte einer empirischen Umsetzung

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Kinder. Beides hatte es indes auch zuvor bereits mehrfach gegeben186 und trotzdem war in diesen Fällen die diskursive Bearbeitung eine andere als dies bei Mölln und Solingen der Fall war.187 Der allgemeine gesellschaftliche Diskurs dieser Zeit ist gekennzeichnet durch eine intensive Auseinandersetzung mit der extremen Rechten, die ganz unter dem Vorzeichen strafrechtlich relevanter Geschehensabläufe erfolgte.188 Dies macht deutlich, dass an diesem Punkt ein erheblicher, bruchhafter Wandel der diesbezüglichen gesellschaftlichen Wissensbestände seinen Höhepunkt gefunden hat: Die bis dahin selbstverständliche, etablierte Perspektive auf solche Vorkommnisse wurde in Frage gestellt, indem Teile dessen diskursiv thematisiert und problematisiert wurden.189 Im Zuge dessen wandelte sich das gesellschaftliche Bild von der extremen Rechten, ihrer Bedeutung, ihrem Agieren und von ihren Protagonisten, um sich dann derart aktualisiert zu etablieren.190 Im Vordergrund dieser Interpretation standen weniger extrem rechte Parteien und Gruppierungen. Stattdessen dominierten strafrechtlich relevante Verhaltensweisen mit einem derartigen politischen Hintergrund, deren Täter als vereinzelte, spontane Gewalttäter erschienen,191 als frustrierte, an den Rand gedrängte Jugendliche und junge Erwachsene.192 Zugleich verschwand damit das zuvor noch bestehende leise Verständnis und schlug um in eine eindeutige und umfassende Ablehnung.193 Die Täter wurden so vom Rest der Bevölkerung isoliert und ausgegrenzt, nachdem sich in Rostock rassistische und extrem rechte Einstellungen bis in die Mitte der Gesellschaft gezeigt194 und das beschriebene diskursive Unbehagen ausgelöst hatten.195 Nachdem sich diese Interpretation von Delikten mit extrem rechtem Hintergrund Mitte der 1990er Jahre im gesellschaftlichen Diskurs verankert hatte und der „Gewalttäter“ als paradigmatisches Bild etabliert war,196 nahmen die diesbezüglichen Thematisierungen ab und die extreme Rechte war zunächst wieder weniger Gegenstand diskursiver Auseinandersetzungen. Dies sollte sich jedoch im Sommer 2000 und bis ins Jahr 2001 hineinreichend wieder ändern. Infolge 186

Für die 1980er Jahre beispielsweise Neubacher 1998, 26 f. Vgl. Ohlemacher 1998, 5 f. m.w. N. 188 Siehe beispielsweise den Band des Stern-Verlages Schmidt-Holtz 1993. – Dies schlägt sich etwa auch in einer veränderten Struktur von Nachfolgetaten bzw. der diskursiven Wahrnehmung dieser nieder, siehe Lüdemann/Erzberger 1994, 171 ff. 189 Siehe Frehsee 2003, 216 f.; Neubacher 1998, 81 ff.; Siegler/Tolmein/Wiedemann 1993, 13 f. 190 Vgl. Frehsee 2003, 411 f. 191 Siehe Willems 1993, 134 ff., auch zum späteren Wandel dieser Vorstellung. 192 Zusammenfassend Kretschmer/Jäger 1996, 806 ff.; siehe auch Müller-Münch 1998, 230 ff. 193 Ohlemacher 1998, 8 f. 194 Siehe dazu die Beiträge bei Jäger 1998. 195 Kretschmer/Jäger 1996, 805 f. 196 Dazu Koopmans 1996, 770 ff. 187

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E. Kriminalisierung als diskursive Praxis

der diskursiven Aufbereitung verschiedener Geschehensabläufe dieses Sommers, denen ein extrem rechter Hintergrund zugeschrieben wurde,197 erfolgte erneut ein Schub bzw. Bruch. Stellvertretend hierfür steht das Kanzlerwort vom „Aufstand der Anständigen“. Wie diese Formulierung bereits deutlich werden lässt, stand weniger die extreme Rechte selbst mit ihren Aktivitäten im Zentrum dieser diskursiven Problematisierung. Stattdessen ging es vor allem darum, wie jeder Einzelne und so die Gesellschaft insgesamt im Alltag dagegen aktiv werden kann.198 Gleichwohl fand unter dieser Überschrift bei der Suche nach Ansatzpunkten für solche Aktivitäten aber natürlich auch eine Problematisierung und Aktualisierung des gesellschaftlichen Wissens über die extreme Rechte statt. Dabei standen anders als noch fünf Jahre zuvor weniger abstrakte gesellschaftliche Ursachen für Rassismus und Neofaschismus199 im Mittelpunkt. Stattdessen wurde konkreter thematisiert, wie die extreme Rechte aussieht, agiert und organisiert ist. Zentrale Aspekte dieses gesellschaftlichen Diskurses waren etwa die berühmt-berüchtigten „national befreiten Zonen“, die subkulturelle Verankerung der extremen Rechten bzw. deren strategisches Agieren mit Musik und Propaganda.200 Die kulturelle und soziale Verankerung der extremen Rechten erlangte auf diesem Wege mindestens ebensolche Bedeutung wie der zuvor paradigmatisch diskursiv hergestellte „Gewalttäter“. Diese Entwicklung setzte sich fort in der diskursiven Thematisierung der extremen Rechten im Anschluss an den Einzug der NPD in den sächsischen Landtag im September 2004, wobei sich noch einmal deutliche Verschiebungen im Diskurs über die extreme Rechte zeigten. Wesentlicher Topos der Betrachtungen und somit stärker betont als bis dahin waren nun die organisatorischen Hintergründe der extremen Rechten vor allem in Form der NPD als Partei, die starke gesellschaftliche Verankerung in einigen Regionen sowie das teilweise bürgerliche Auftreten der Protagonisten.201 Zusammengenommen hat sich ausweislich der herangezogenen Untersuchungen und Materialien das gesellschaftliche Bild der extremen Rechten seit Beginn der 1990er Jahre erheblich gewandelt: Vom „Ewiggestrigen“ über den „Gewalttäter“ hin zu einer politischen Szene, die auch planvoll vorgehen kann, kulturell und sozial verankert ist – ein Bild, das man als „strategisch vorgehender Kader“ beschreiben könnte. An die Stelle des alkoholisierten, gewalttätigen Mannes ist die Vorstellung von organisierten, planvoll agierenden, mitunter auch

197 Siehe zu offiziellen Zahlen erfasster Delikte Peucker/Gaßebner/Wahl 2003, 210 ff. 198 Siehe Koopmans 2001, 469 ff. 199 Dazu Stöss 2005, 48 ff. 200 Siehe etwa Stöss 2005, 161 ff. 201 Vgl. zu diesen Verschiebungen beispielsweise die Themenwahl der Beiträge bei Klärner/Kohlstruck 2006.

IV. Methodik und Schritte einer empirischen Umsetzung

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bürgerlich auftretenden Aktivisten und Aktivistinnen getreten.202 Der diskursive Zusammenhang mit der strafrechtlichen Relevanz einschlägiger Geschehensabläufe ist im Zuge dessen gleichwohl nicht verloren gegangen, sondern hat sich offenbar ausdifferenziert. Als Delikte mit extrem rechtem Hintergrund stehen heute nicht mehr alleine Gewaltdelikte im Zentrum der Betrachtung. Stattdessen haben Propagandadelikte und Delikte im Zusammenhang mit Musik- und anderen kulturellen Veranstaltungen an diskursiver Bedeutung gewonnen. Dies prägt dem hier verfolgten Ansatz nach nicht nur die auf solchem Wissen fußenden Praktiken der extremen Rechten selbst, deren Aktivisten damit bestimmte Formen von Delikten hervorbringen. Das sich wandelnde Wissen ist danach auch von grundlegendem Einfluss auf die Zuschreibungsprozesse und Praktiken der Instanzen im Rahmen der Kriminalisierung. 3. Spezialdiskurse über Delikte mit extrem rechtem Hintergrund Der beschriebene Wandel des diskursiven Wissens seit Beginn der 1990er Jahre ist nicht auf den allgemeinen gesellschaftlichen Diskurs beschränkt, sondern lässt sich nach dem hier verfolgten Ansatz in besonderer Weise auch in den verschiedenen Spezialdiskursen wieder finden, die mit diesem Diskursstrang verbunden sind. Dieses gilt insbesondere für den juristischen und den kriminologischen Teildiskurs, deren Praktiken danach einerseits geprägt sind durch die Veränderungen des allgemeinen gesellschaftlichen Diskurses. Andererseits haben sie selbst wesentlichen Einfluss darauf, wie Geschehensabläufe mit extrem rechtem Hintergrund wahrgenommen und interpretiert werden.203 Ein weiterer Schritt einer empirischen Umsetzung des hier erarbeiteten Ansatzes müsste demnach darin bestehen, Entsprechungen der Brüche und Veränderungen des allgemeinen Diskurses im juristischen Diskurs und in der polizeilichen sowie strafjustiziellen Interpretation zu identifizieren, in denen politische Delikte in besonderem Maße einem sich wandelnden Verständnis und den daraus resultierenden Definitionen unterliegen.204 Im Folgenden soll am Beispiel der in Rede stehenden Delikte und unter Heranziehung bereits vorliegender Arbeiten veranschaulicht werden, wie eine solche vergleichende Betrachtung verschiedener Diskursstränge gestaltet werden könnte. Bis zum Beginn der 1990er Jahre galt ein extrem rechter Hintergrund in strafrechtlichen Verfahren als nicht besonders bedeutsam. Er wurde in nur ver202

Vgl. auch Neubacher 2001, 379 ff. So korrespondieren die beschriebenen Brüche des Diskurses etwa mit der Zahl offiziell erfasster Gewaltdelikte mit extrem rechtem Hintergrund, siehe Stöss 2005, 154. 204 Siehe Eisenberg/Sander 1987, 111 f.; Bundesministerium des Innern/Bundesministerium der Justiz 2001, 265. 203

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E. Kriminalisierung als diskursive Praxis

gleichsweise wenigen Fällen wahrgenommen, konstatiert und als bedeutsam bewertet. Dies betraf insbesondere Fälle, in denen die Gesinnung untrennbar mit dem in Rede stehenden Geschehensablauf in Verbindung stand, wie zum Beispiel bei Propagandadelikten. Dieser Konstituierung eines extrem rechten politischen Hintergrundes kam dabei eher eine erklärende als eine qualifizierende Bedeutung zu. Er galt nicht als besonderes Merkmal bestimmter Kriminalitätsformen und ihm kam strafjustiziell gesehen kaum eine wertende Wirkung zu; der massive Anstieg offiziell gezählter Delikte gegen Ausländer und Flüchtlinge wurde vor allem mit dem Schlagwort von den „fehlgeleiteten Jugendlichen“ erklärt. Der juristische und der kriminologische Spezialdiskurs bestanden in dieser Weise bis in das Jahr 1993 hinein, und fanden beide einen grundlegenden Bruch offenbar erst parallel zum Wandel des allgemeinen gesellschaftlichen Diskurses in Folge der Anschläge von Mölln und Solingen.205 Demgegenüber machten andere, vorwiegend zivilgesellschaftliche Akteure und antifaschistische Initiativen bereits früher geltend, dass bestimmte strafrechtlich relevante Geschehensabläufe einen extrem rechten Hintergrund aufweisen und zunehmen. Polizei und Justiz zogen sich in diesen Jahren regelmäßig den Vorwurf zu, „auf dem rechten Auge blind“ zu sein.206 Im Jahr 1993 wurden die extreme Rechte und einschlägige Geschehensabläufe dann zu einem größeren Thema auch in den speziellen juristischen und kriminologischen Diskursen.207 Dies betraf sowohl die Debatten in der Fachöffentlichkeit, was sich in der erheblichen Zunahme einschlägiger Veröffentlichungen zum Thema in den Jahren 1993 und 1994 niederschlägt, als auch die direkte strafjustizielle Tätigkeit, die von Politik und Medien zunehmend als zu milde kritisiert wurde.208 Immer öfter wurde nun ein extrem rechter Hintergrund konstatiert, den andere gesellschaftliche Akteure bereits Jahre früher gesehen hatten.209 Im Zentrum dieses Wandels befanden sich auch hier Gewaltdelikte, wie etwa Angriffe und Überfälle auf Minderheiten sowie Brandanschläge.210 Beide Formen erhielten in diesen Jahren eine spezielle diskursive Verbindung mit einem extrem rechten Hintergrund.

205 Dazu zusammenfassend Siegler/Tolmein/Wiedemann 1993, 79 ff.; siehe zur Polizei Gössner 1996, 839 f. 206 Siehe etwa die Dokumentation verschiedener Verfahren und das Fazit bei Müller-Münch 1998; Oberländer 1993. 207 Siehe zum Beispiel die Ergebnisse der Befragung von Richtern im Jahr 1994 bei Neubacher 1998, 321 ff.: Fast die Hälfte der Befragten hält „Rechtsextremismus“ für eines der „größten und drängendsten Probleme unserer Zeit“. Zur Erfassung solcher Delikte durch die Polizei und deren Abhängigkeit von den diskursiven Gegebenheiten Kubink 2002, 329 ff. 208 Vgl. Oberländer 1993, 175 ff. 209 Siehe auch Kubink 2002a, 309 f. 210 Siehe etwa Frehsee 2003, 212 ff.

IV. Methodik und Schritte einer empirischen Umsetzung

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Ebenso spiegelte sich in den Spezialdiskursen die Thematisierung der extremen Rechten seit dem Sommer des Jahres 2000 wider.211 Ab diesem Zeitpunkt lassen sich wieder regere Debatten in der Fachöffentlichkeit beobachten, nachdem diese in der zweiten Hälfte der 1990er Jahre deutlich abgenommen hatten. Neben den Gewaltdelikten gelangten dabei entsprechend der allgemeinen diskursiven Ausdifferenzierung andere strafrechtlich relevante Geschehensabläufe in den Blick und etablierten sich als solche, die immer öfter bis regelmäßig einen extrem rechten Hintergrund aufweisen.212 So haben einerseits Propagandadelikte und solche, die im Zusammenhang mit Musik- und anderen kulturellen Veranstaltungen stehen, an Bedeutung gewonnen.213 Andererseits wurden Fragen extrem rechter Organisierung wichtiger, beispielsweise des Inhalts, ob Angeklagte Mitglieder einschlägiger Organisationen sind oder ob die Organisierung eine strafrechtliche Qualifizierung erfüllt. Dem hier vertretenen Ansatz folgend legen diese Beobachtungen die Schlussfolgerung nahe, dass sich der allgemeine gesellschaftliche Diskurs über die extreme Rechte mit dem speziellen juristischen Diskurs verbunden bzw. innerhalb dessen ausgebreitet hat, sodass Verhaltensweisen mit extrem rechtem Hintergrund heute das Interpretationsrepertoire der Kriminalisierung aktivieren.214 Einschlägige Geschehensabläufe werden in Wahrnehmung und Interpretation nunmehr regelmäßig daraufhin überprüft, ob sie strafrechtlich relevant sind. Infolgedessen bedeutet ein extrem rechter Hintergrund zunächst nicht mehr nur einen beiläufigen Umstand eines strafbaren Verhaltens, sondern haben sich Delikte mit extrem rechtem Hintergrund als eigenständiges Feld von Kriminalität herausgebildet. Dies betrifft zum einen bestimmte Deliktsformen, die umgekehrt regelmäßig mit einem solchen Hintergrund diskursiv verknüpft werden – neben den ohnehin einschlägigen §§ 86a, 130 StGB betrifft dies wie bereits angesprochen etwa Brandanschläge auf bewohnte Häuser und Angriffe auf Minderheiten. Zum anderen werden solchen Delikten bestimmte typische Eigenschaften zugeschrieben. Galt Kriminalität mit extrem rechtem Hintergrund in den 1990er Jahren vorwiegend als gewalttätig, spontan und unbedacht, alkoholisiert und hemmungslos, trat spätestens mit dem beschriebenen diskursiven

211 Ausdruck dessen sind auch die neuen, seit dem 1. Januar 2001 geltenden, wesentlich weiteren Kriterien der Polizeien von Bund und Ländern für die statistische Erfassung „rechtsextremistisch motivierter Straftaten“, dazu Bundesministerium des Innern/Bundesministerium der Justiz 2001, 268 ff.; Kubink 2002a. Die zuvor geltenden Kriterien hatten dazu geführt, dass die offiziellen Zahlen – etwa bezüglich der Todesopfer einschlägiger Geschehensabläufe – nur einen Bruchteil der Zahlen sonstiger Erfassungen ausmachten, siehe etwa die Zusammenstellung und Auswertung in Frankfurter Rundschau vom 14. September 2000, S. 7 ff. 212 Zusammenfassend Neubacher 2001, 376 ff. 213 Siehe etwa Soiné 2004. 214 Zum sozialwissenschaftlichen Diskurs Neureiter 1996, 76 ff.

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E. Kriminalisierung als diskursive Praxis

Bruch seit dem Sommer 2000 eine Perspektive daneben, die einschlägige Geschehensabläufe eher als berechnend, geplant und gut organisiert zeichnet.215 Die Wahrnehmung und interpretative Zuschreibung eines extrem rechten Hintergrundes aktiviert daher heute nicht mehr nur das Interpretationsrepertoire der Kriminalisierung, sondern einen umfassenderen detaillierten Bewertungsmaßstab, mit dem derartige Verhaltensweisen verstanden und eingeordnet werden. Diese diskursive Hervorbringung nicht nur als gewöhnliche Kriminalität, sondern als besondere Form abweichenden Verhaltens diente als Begründung für umfassende gesetzgeberische Maßnahmen im Bereich der Inneren Sicherheit216 und zeigte Wirkung bis hinein in die Debatten der kritischen Kriminologie. Nicht wenige Protagonisten und Autoren dieser Richtung stellten angesichts des gewandelten Wissens die sonst vorherrschenden konstruktivistischen Betrachtungsweisen hinten an und bedienten sich als „Moralunternehmer“ der Mittel des Strafrechts217 oder ließen sich im Laufe der Zeit als so genannte „left realists“ auch ganz auf die Notwendigkeit des Strafrechts ein.218 Insgesamt besehen hat sich den hier herangezogenen Arbeiten zufolge seit den 1990er Jahren ein eigenständiges Feld extrem rechter Kriminalität diskursiv herausgebildet, die als besonders und schwerwiegend angesehen wird.219 Dies schlägt sich beispielsweise auch darin nieder, dass für betriebliche Entscheidungen von Unternehmen Delikte mit extrem rechtem Hintergrund eine bedeutsame Form von Kriminalität darstellen.220 Die Aktivitäten der extremen Rechten werden infolgedessen heute vor allem als strafrechtlich relevantes Phänomen interpretiert, weniger bzw. nur phasen- und ausnahmsweise als politisches Problem, mit dem vorrangig eine geistig-politische Auseinandersetzung geführt werden müsste, wie man dies noch in der alten Bundesrepublik sah.221 4. Rechtsanwendung im Wandel Die beschriebenen Veränderungen des diskursiven Wissens wandeln nicht alleine oder vorrangig das Handeln der extremen Rechten, die aufgrund des Wissens andere soziale Praktiken und damit veränderte Formen von Kriminalität mit extrem rechtem Hintergrund hervorbringen. Sie führen dem hier verfolgten

215

Siehe zu diesem Übergang Gaßebner u. a. 2003, 33 f. Siegler/Tolmein/Wiedemann 1993, 22 ff. 217 Siehe Peters 1996; Stehr 1997. 218 Dazu Hess 1997, 41 f.; Muncie 2000, 219. 219 Obwohl sich jedenfalls Gewalttäter mit extrem rechtem Hintergrund in soziobiografischer Hinsicht nicht von sonstigen Gewalttätern unterscheiden, siehe Marneros/ Steil/Galvao 2003. 220 So die Umfrage von Bussmann/Werle 2004, 90 ff. 221 Dazu Kalinowsky 1993, 515 f. 216

IV. Methodik und Schritte einer empirischen Umsetzung

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Ansatz nach ebenso bei den Instanzen der Strafverfolgung wie auch in der Gesellschaft insgesamt zu gewandelten Praktiken der Kriminalisierung.222 Dies betrifft nicht alleine die Ebene der Normsetzung, auf der sich der Wandel des Wissens in gesetzgeberischen Initiativen niederschlägt. So sind beispielsweise zum 1. April 2005 das Versammlungsrecht und der Tatbestand der Volksverhetzung verschärft worden;223 in regelmäßigen Abständen wird über die Einführung einer Kategorie so genannter „Hasskriminalität“ debattiert, die als eigener Tatbestand oder als qualifizierendes Merkmal innerhalb bestehender Tatbestände Eingang in das StGB finden soll. Vielmehr wirkt sich das veränderte Wissen über Kriminalität mit extrem rechtem Hintergrund nach hier vertretener Auffassung ebenso in der Rechtsanwendung aus, wandeln sich die diesbezüglichen Praktiken bei den Instanzen der Strafverfolgung. Dieser Vorstellung zufolge verändert sich nicht eine feststehende Wirklichkeit und im Zuge dessen die Rechtsanwendung und das Wissen über diese Wirklichkeit. Vielmehr führt der Wandel diskursiven Wissens über diese Delikte zur Herausbildung veränderter Praktiken in der Rechtsanwendung, die – zusammen mit zahlreichen anderen Mechanismen auf dieser Ebene – eine andere soziale Wirklichkeit hervorbringen, indem sie anhand der diskursiven Tiefenstruktur diese Form von Kriminalität und damit Bestände konkreteren Wissens produzieren. Diese Praxis der Rechtsanwendung im Kriminalisierungsprozess wird gemäß dem hier erarbeiteten Ansatz durch Deutungsmuster und außergesetzliche Anwendungsregeln geleitet, die für die Umsetzung des Wissens in Praktiken sorgen.224 Während erstere vor allem den Schritt der Wahrnehmung und Feststellung von Sachverhalten betreffen225, leiten Anwendungsregeln die Auswahl und Handhabung der Normen – sowohl im Bereich materiellen Rechts als auch bei prozessualen Normen. Der dritte und zentrale Schritt einer empirischen Umsetzung des hiesigen Ansatzes müsste demzufolge darin bestehen zu untersuchen, wie sich die genannten Regeln und Muster infolge der skizzierten diskursiven Veränderungen gewandelt und so eine veränderte Rechtsanwendung hervorgebracht haben. Wie dies aussehen könnte, soll im Folgenden anhand einiger Beispiele illustriert werden.226 Die skizzierte, sich seit Beginn der 1990er Jahre schrittweise durchsetzende Interpretation von Delikten mit extrem rechtem Hintergrund als besonderer, schwerwiegender Form von Kriminalität führt mutmaßlich zu einer Modifikation oder auch grundlegenden Veränderung zahlreicher solcher Muster und Re222

Siehe Neubacher 2001, 384 f. Dazu Poscher 2005, der dies als „aktionistisch wirkenden Kraftakt des Gesetzgebers“ wertet. 224 Siehe oben II.3 und III.2. 225 Zu sozialwissenschaftlichen Deutungsmustern bezüglich der extremen Rechten nach 1990 Neureiter 1996, 156 ff. 226 Zu einem solchen erklärenden Vorgehen Diaz-Bone 1999, 133 f. 223

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E. Kriminalisierung als diskursive Praxis

geln. Schematisch betrachtet hat sich zwar nur eine grundlegende Interpretationsweise geändert – nämlich die Frage, wie extrem rechte Motivationen und Einstellungen im Kriminalisierungsprozess zu berücksichtigen sind. Dies dürfte aber auf konkreteren Ebenen den Wandel ganz verschiedener konkreterer Regeln und Muster nach sich ziehen, die zusammengenommen Kriminalität mit extrem rechtem Hintergrund an der Oberfläche als Entität neu hervorbringen. Diese Veränderungen – die nicht auf das Strafrecht beschränkt, sondern beispielsweise auch für das Versammlungsrecht zu beobachten sind227 – können sich hier relativ schnell vollziehen, da das Wissen und die gesetzlichen Regelungen über politische Delikte vergleichsweise wenig fest institutionalisiert und eher unbestimmt sind.228 Ein besonders augenfälliger Wandel in der polizeilichen und strafjustiziellen Bearbeitung von Delikten mit extrem rechtem Hintergrund lässt sich in verschiedener Form für die in den 1990er Jahren den Diskurs bestimmenden Gewaltdelikte finden. Bereits in der alten Bundesrepublik galt die Justiz als eher nachsichtig im Umgang mit Beschuldigten mit extrem rechtem Hintergrund. Dieser Vorwurf der „Blindheit auf dem rechten Auge“ wurde Anfang der 1990er verschärft vorgetragen. Denn während sich bei einzelnen gesellschaftlichen Akteuren sowie nach und nach auch im gesellschaftlichen Diskurs die Wahrnehmung und Interpretation durchsetzte, dass Gewaltdelikte mit extrem rechtem Hintergrund massiv zunehmen und sich zu einem gesellschaftlichen Problem entwickeln, blieben Polizei und Justiz zunächst bei ihrer eher moderaten Linie.229 Obwohl auch die offiziellen Zahlen erfasster Gewaltdelikte bereits 1991 massiv ansteigen und 1992 ihren Höhepunkt erreichen230, war bei der polizeilichen und justiziellen Bearbeitung solcher Delikte bis in das Jahr 1993 hinein eher Zurückhaltung verbreitet. Das Vorliegen eines entsprechenden politischen Hintergrundes wurde oft gerade einmal festgestellt, ohne dass sich hieraus Konsequenzen ergeben hätten, teilweise wurde es sogar gar nicht berücksichtigt.231 Erst langsam und zeitlich verzögert setzte sich bei den Instanzen der Strafverfolgung eine veränderte Sichtweise durch und wandelten sich demnach wohl die diesbezüglichen Anwendungsregeln und Deutungsmuster hin zu einer massiveren Ausschöpfung der strafrechtlichen Mittel und einem schärferen Vorgehen gegen Delikte mit extrem rechtem Hintergrund.232 Dies schlägt sich im Laufe

227 Siehe zur verwaltungsgerichtlichen Rechtsprechung zum Versammlungsrecht im Zusammenhang mit Versammlungen von extrem rechten Gruppierungen Gusy 2002. 228 Vgl. Eisenberg/Sander 1987, 116. 229 Vgl. Frehsee 2003, 210 f.; Hess 1997, 44 f.; Wassermann 1994, 835 f. 230 Siehe Stöss 2005, 153 f. 231 Siehe dazu die zahlreichen bei Siegler/Tolmein/Wiedemann 1993, 81 ff. dokumentierten Verfahren; für die alte Bundesrepublik Kalinowsky 1993, 511 ff. 232 Vgl. Geiger 1993, 126, der eine Wende auf die Zeit nach Mölln datiert.

IV. Methodik und Schritte einer empirischen Umsetzung

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der 1990er Jahre konkret beispielsweise in einer merklich restriktiveren Strafzumessung nieder, die zunehmend mit der besonderen Qualität solcher Delikte sowie mit generalpräventiven Erwägungen begründet wird.233 Der extrem rechte Hintergrund wurde zunehmend nicht mehr nur als erklärender Umstand oder gar als für die juristische Bewertung unerheblich angesehen. Stattdessen lässt sich zunehmend die Vorstellung beobachten, dass das Vorliegen eines extrem rechten Hintergrundes ein besonderes Merkmal der Qualifizierung darstellt.234 Ein weiteres Beispiel für einen Wandel sind die Bedingungen, die an die Bejahung eines bedingten Tötungsvorsatzes geknüpft werden. War es bis in das Jahr 1993 hinein eher unüblich, einen solchen anzunehmen und einschlägige Gewaltdelikte daher als versuchte Tötungsdelikte anzuklagen, so setzten sich entsprechende Deutungsmuster und Anwendungsregeln nach und nach durch.235 Dies lässt sich recht gut für Brandanschläge auf bewohnte Häuser und Unterkünfte nachvollziehen, die bis dahin oft nur als Brandstiftung, Sachbeschädigung und (versuchte) Körperverletzung verfolgt wurden. Im Laufe des Jahres 1993 setzte sich bei Verwaltung und Staatsanwaltschaften236 wie auch in der Rechtsprechung237 eine Praxis durch, stets das Vorliegen eines bedingten Tötungsvorsatzes zu prüfen, schneller zu bejahen und Brandanschläge mit extrem rechtem Hintergrund in der Regel als versuchte Tötungsdelikte zu behandeln.238 Diese Praxis wurde später auf andere Geschehensabläufe ausgedehnt, wie zum Beispiel das Treten auf den Kopf mit schweren Stiefeln. In den nachfolgenden Jahren nahmen Staatsanwaltschaften teilweise gar bereits einen Tötungsvorsatz an, wenn in Schlägereien besondere Schlagstöcke zum Einsatz kamen.239 Der Wandel der justiziellen Bearbeitung solcher Delikte beschränkt sich jedoch nicht auf solch interpretationsoffene Bereiche wie die Strafzumessung und den subjektiven Tatbestand, sondern betrifft auch die Auslegung und das Verständnis weniger offener Normen. Hierfür lässt sich aus dem Verfahrensrecht als Beispiel etwa die Regelung des Gerichtsverfassungsgesetzes darüber anführen, wann die Bundesanwaltschaft befugt ist, ein staatsanwaltschaftliches Ermittlungsverfahren in seine Zuständigkeit zu übernehmen. Obgleich es sich hier um einen sehr beschränkten Bereich handelt, fällte der Bundesgerichtshof im Dezember 2000 – und damit während des „Aufstands der Anständigen“ – ein 233 Siehe Neubacher 1998, 76 ff., 273 ff., der die strengere Strafzumessung insbesondere bei Brandanschlägen belegt. 234 Vgl. dazu auch die Urteilsauswertung bei Gaßebner u. a. 2003, 63 ff. 235 Zu dieser Entwicklung Neubacher 1998, 104 ff. 236 Vgl. Neubacher 1998, 274 f. 237 Siehe hierzu die Grundsatzentscheidung des BGH vom 7. Juni 1994, Az: 4 StR 105/94, die diesen Rechtsprechungswandel zum Ausdruck bringt. 238 Dazu auch Gössner 1996, 850 ff. 239 Siehe zu Auseinandersetzungen zwischen Linken und extremen Rechten etwa die tageszeitung vom 24. Juni 2005, S. 22.

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E. Kriminalisierung als diskursive Praxis

Grundsatzurteil, das den § 120 Abs. 2 S. 1 Nr. 3 GVG sehr weit auslegt. Bei Gewalttaten gegenüber Ausländern mit extrem rechtem Hintergrund hat der Generalbundesanwalt danach weitgehende Möglichkeiten, das Verfahren zu übernehmen.240 Im ersten Leitsatz heißt es zur Begründung: „Daher ist der Bund für die Verfolgung der in § 120 Abs. 2 S. 1 Nr. 3 GVG genannten Katalogtaten rechts- oder linksextremistischer Gewalttäter nach der Alternative ,bestimmt und geeignet, die innere Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland zu beeinträchtigen‘ (Buchst. a der Vorschrift) ausnahmsweise nur dann zuständig, wenn die Tat darauf gerichtet ist, das innere Gefüge des Gesamtstaates oder dessen Verfassungsgrundsätze zu beeinträchtigen. Zu diesen Verfassungsgrundsätzen zählt der Ausschluß jeglicher Gewalt- und Willkürherrschaft gegenüber Minderheiten. Dieser Grundsatz wird beeinträchtigt, wenn der Täter das Opfer nur deshalb angreift, weil er es als Mitglied einer nationalen, rassischen, religiösen oder durch ihr Volkstum bestimmten Gruppe treffen will.“

Dieses nicht zwingende, gewandelte Verständnis241 führte unter anderem dazu, dass der im Vorfeld der Fußballweltmeisterschaft 2006 zu erheblicher diskursiver Bedeutung gelangte Überfall auf den schwarzen Deutschen Ermyas M. in Potsdam im Sommer 2006 zeitweise von der Bundesanwaltschaft übernommen wurde.242 Diese ließ die beiden Verdächtigen – die später lediglich wegen gefährlicher Körperverletzung angeklagt und auch von diesem Vorwurf freigesprochen wurden – mit verbundenen Augen und von vermummten Beamten schwer bewacht im Hubschrauber nach Karlsruhe zur Vernehmung bringen. Eine Praxis, die Mitte der 1990er Jahre bei einem Überfall auf einen ausländisch aussehenden Menschen unvorstellbar gewesen wäre. Ähnliches gilt für die Anwendung der §§ 129, 129a StGB, die in Verfahren wegen Delikten mit extrem rechtem Hintergrund bereits in der alten Bundesrepublik ein orchideenhaftes Dasein führten und quasi nicht zur Anwendung kamen. In den 1990er Jahren setzte sich die äußerst restriktive Anwendung der §§ 129, 129a StGB gegen die extreme Rechte fort243 – trotz des massiven Anstiegs erfasster Gewaltdelikte und der vereinsrechtlichen Verbote verschiedener Organisationen mit extrem rechtem Hintergrund. Diese Praxis hat sich in den vergangenen Jahren merklich gewandelt, wobei Fälle im Vordergrund standen, in denen eine Anwendung der beiden Regelungen nicht ohne weiteres auf der Hand lag. So bestätigte der Bundesgerichtshof im Jahr 2005 die Verurteilung der Mitglieder der extrem rechten Musikgruppe „Landser“ als kriminelle Vereinigung nach § 129 StGB.244 Das Urteil war damit begründet worden, dass die 240

BGH NJW 2001, 1359 ff., fortgesetzt in BGH NJW 2002, 1889 ff. Vgl. Gössner 1996, 847. 242 Siehe Berliner Zeitung vom 26. Mai 2006, S. 2. 243 Gössner 1996, 845 f.; Siegler/Tolmein/Wiedemann 1993, 95 ff.; siehe auch BGH NStZ 1995, 340 ff. 244 BGH NStZ 2005, 377 f. 241

IV. Methodik und Schritte einer empirischen Umsetzung

161

Gruppe mit ihren Liedern systematisch Straftaten begangen hätte.245 Im gleichen Jahr verurteilte das OLG Brandenburg eine Gruppe von zum Tatzeitpunkt Jugendlichen und Heranwachsenden als terroristische Vereinigung nach § 129a StGB, weil sie unter dem Namen „Freikorps“ im Havelland Brandanschläge auf Geschäftsobjekte von Ausländern verübt haben sollen. Das vom BGH bestätigte Urteil246 ist damit einer der – bislang noch – ganz wenigen Fälle, in denen Delikte mit einem extrem rechten Hintergrund nach § 129a StGB abgeurteilt worden sind. Die beiden Entscheidungen – in denen es immerhin „nur“ um eine Musikgruppe bzw. dem Jugendstrafrecht unterliegende Angeklagte ging – lassen deutlich werden, dass sich hier eine veränderte Praxis der strafjustiziellen Instanzen im Umgang mit organisierten Zusammenhängen mit extrem rechtem Hintergrund abzeichnet. Vor diesem Hintergrund kann auf die Veränderung entsprechender außergesetzlicher Anwendungsregeln etwa in der Weise geschlossen werden, dass bei organisierten Zusammenhängen einer gewissen Qualität nunmehr stets auch die §§ 129, 129a StGB ins Blickfeld der Rechtsanwender rücken und geringere Anforderungen an deren Anwendung gestellt werden. Diese Entwicklung lässt sich in Verbindung bringen mit dem gewandelten Bild von Straftaten mit extrem rechtem Hintergrund infolge des „Aufstands der Anständigen“ bzw. der damit einhergehenden diskursiven Verschiebungen: Die verstärkte Interpretation der extremen Rechten als kulturell und sozial verankert, als planvoll, strategisch und organisiert vorgehend führt dazu, dass entsprechende Aktivitäten, Zusammenschlüsse und damit einhergehende Verhaltensweisen als besonders bedrohlich und gefährlich angesehen werden. Zusammengenommen dürfte das gewandelte diskursive Verständnis bzw. Bild von Delikten mit extrem rechtem Hintergrund, das veränderte diesbezügliche Wissen zu einer deutlich anderen Rechtsanwendung in diesem Bereich geführt haben, wie die genannten Beispiele unterstreichen. Die gestiegene diskursive Bedeutung und Gefährlichkeit einschlägiger Geschehensabläufe animiert und aktiviert die bei den Instanzen tätigen Subjekte dazu, derartige Verfahren nicht wie bis dahin üblich zu erledigen, sondern selbständig und in allen Bereich nach rechtlichen Möglichkeiten zu suchen, solche Verhaltensweisen härter oder überhaupt erst zu verfolgen. So waren beispielsweise Staatsanwälte in verschiedenen Bundesländern in den vergangenen Jahren in zunehmendem Maße erkennbar bemüht, das Verbot des Verwendens von Kennzeichen verfassungswidriger Organisationen sehr umfassend und weitgehend durchzusetzen. Nachdem Jahrzehnte lang einschlägige Verhaltensweisen – wie etwa das Zeigen des „Hit245 Verbreiten von Propagandamitteln verfassungswidriger Organisationen, Volksverhetzung, öffentliche Aufforderung zu Straftaten, Billigung von Straftaten, Verunglimpfung des Staates und seiner Symbole und Beschimpfung von Bekenntnissen. 246 BGH NJW 2006, 1603 ff.

162

E. Kriminalisierung als diskursive Praxis

lergrußes“ – regelmäßig eher schleppend verfolgt wurden247, bemühen sich die Strafverfolger nunmehr sogar, in der Szene neu auftauchende Kennzeichen nach § 86a StGB zu verfolgen. Dies ging soweit, dass das Symbol und Firmenlogo der in der extrem rechten Szene beliebten Bekleidungsmarke „Thor Steinar“ mit der Begründung kriminalisiert wurde, dass es einer Kombination aus zwei alten germanischen Runen ähnlich sehe, die auch im „Dritten Reich“ Verwendung gefunden hätten.248 Die Staatsanwaltschaft und das Landgericht in Stuttgart verfolgten und verurteilten im Jahr 2006 einen Versandhändler nach § 86a StGB, der antifaschistische Anstecker vertrieben hatte, auf denen ein durchgestrichenes bzw. zertrümmertes Hakenkreuz zu sehen war, mit der Begründung, dass das Hakenkreuz in gar keiner Form und Weise verwendet werden dürfe.249 Eben diese Aktivierung der strafjustiziellen wie auch polizeilichen Instanzen schlägt sich dem hier verfolgten Ansatz nach in veränderten außergesetzlichen Anwendungsregeln und so in einer anderen Rechtsanwendung nieder, sowohl was das Verständnis der Tatbestände im materiellen Recht, als auch die Auslegung und Anwendung des Verfahrensrechts betrifft – wie die Beispiele des Tötungsvorsatzes und der Anwendung der §§ 129, 129a StGB einerseits sowie der Verfahrensübernahme durch den Generalbundesanwalt andererseits zeigen. Kriminalität mit extrem rechtem Hintergrund wird auf diesem Wege, so die These der Exemplifizierung, als soziale Wirklichkeit in veränderter Form neu konstituiert. Dies schlägt sich nicht nur in den erheblich gestiegenen Zahlen einschlägiger Geschehensabläufe in den offiziellen Statistiken250 sowie dem veränderten kollektiven gesellschaftlichen Wissen über solche Formen von Kriminalität nieder, sondern ebenso in weiteren Materialisierungen auf der Normsetzungsebene. Ein besonders deutliches Beispiel hierfür stellt die Bundesratsinitiative der Länder Sachsen-Anhalt und Brandenburg zur Änderung des StGB vom September 2007 dar. Danach sollen rassistische oder fremdenfeindliche Beweggründe einer Tat in Zukunft bei der Festsetzung der Strafe besonders berücksichtigt werden.251

247

Siehe Gössner 1996, 849 f. Siehe etwa den eine entsprechende Beschlagnahme bestätigenden Beschluss des Landgerichts Neuruppin vom 17. November 2004, Az: 12 Qs 34/04; ablehnend später OLG Brandenburg, Urteil vom 12. September 2005, Az: 1 Ss 58/05. 249 LG Stuttgart, Urteil vom 29. September 2006, Az: 18 KLs 4 Js 63331/05, aufgehoben durch den BGH am 15. März 2007, Az: 3 StR 486/06. 250 Siehe zu diesen Zahlen Bundesministerium des Innern/Bundesministerium der Justiz 2001, 282 ff.; Koopmans 2001, 470 ff.; Kubink 2002, 327 ff.; siehe aber auch Lüdemann/Erzberger 1994, 169 ff. 251 Siehe etwa Berliner Zeitung vom 16. August 2007, S. 6. 248

V. Zusammenfassung

163

V. Zusammenfassung Diskurse als regelhafte Tiefenstruktur der Aussageproduktion konstituieren gemäß dem vorstehend entworfenen und veranschaulichten Ansatz zufolge gesellschaftliche Wissensbestände und damit soziale Wirklichkeit. Dies gilt auch und gerade für Kriminalität und Kriminalisierung als interpretativem Prozess. Letzterer basiert zum einen wesentlich auf solchen diskursiven Wissensbeständen. Zum anderen reproduziert er sie alltäglich, bestätigt und wandelt sie. Kriminalisierung lässt sich daher als diskursive Praxis verstehen, die in zweifacher Weise mit den entsprechenden Diskursen in Verbindung steht. Zusammengenommen lassen sich diese Praktiken und Diskurse zum Thema Kriminalität als Dispositiv der Kriminalisierung beschreiben, in dem Kriminalität als soziale Wirklichkeit hergestellt wird.252 Das Wirken der offiziellen Kriminalisierungsinstanzen ist dabei nur ein Aspekt, neben den Medien, verschiedene Wissenschaften, Praktiken der Allgemeinheit und weitere Momente treten, die als netzwerkartiges Ensemble ebenso an der Konstituierung von Wahrheit und Wissen und damit von Kriminalität als gesellschaftlichem Phänomen beteiligt sind.253 Innerhalb dieses Dispositivs kommt den Strafverfolgungsinstanzen und ihrem Wirken bei konkreten Kriminalisierungsprozessen gleichwohl eine herausragende Bedeutung zu – insbesondere für die hier im Zentrum stehende Frage, wie Kriminalität in ihren verschiedenen Formen sozial konstruiert und als gesellschaftliche Wirklichkeit etabliert wird und sich wandelt. Grundlage des Handelns der Subjekte ist dabei deren spezialisiertes Wissen über Kriminalität einerseits und über das diesbezügliche Recht andererseits. Dieses Wissen ist geprägt von den allgemeinen gesellschaftlichen Wissensbeständen über Kriminalität, die von den Instanzen aufgenommen und transformiert werden und Eingang in ihr spezielles Wissen darüber finden, was Kriminalität ist. Umgekehrt prägen die anhand dieses Wissens erfolgenden Prozesse der Kriminalisierung durch die Instanzen ihrerseits die gesellschaftliche Vorstellung davon, was Kriminalität ist. Die allgemeinen gesellschaftlichen einerseits und die speziellen Wissensbestände der Instanzen über Kriminalität andererseits stehen somit durch die täglichen Praktiken der Kriminalisierung in einem ständigen wechselseitigen Austausch bzw. Kreislauf.254 Für den hier verfolgten Ansatz – der Wissen als zentrale inhaltliche Grundlage im Kriminalisierungsprozess ansieht – stellt sich aus kriminologischer wie rechtsmethodischer und -theoretischer Perspektive sodann die weitergehende Frage, wie das Verhältnis der beschriebenen Wissensbestände zum Gesetz aus252

Speziell zum Dispositiv des Geständnisses im Strafprozess Niehaus/Schröer

2005. 253 254

Siehe Simon/Feeley 1995, 148 f. Vgl. Henry/Milovanovic 1991, 306.

164

E. Kriminalisierung als diskursive Praxis

sieht, wie dieses Wissen in den Prozess der Rechtsanwendung gelangt und dort verarbeitet wird. Dabei spielen verschiedene Formen von Interpretations- und Handlungsspielräumen eine zentrale Rolle. Diese sind einerseits vom Gesetz vorgesehen bzw. ihm immanent, wie bereits im dritten Kapitel gezeigt wurde. Insofern determinieren die gesetzlichen Regelungen aus diskursanalytischer Perspektive nicht die Rechtsanwendung. Vielmehr stellt das Gesetz selbst nur einen Bestand materialisierten Wissens dar, dessen Verständnis und somit wörtliche Bedeutung sich wandeln kann. Dies hängt zentral vom Wissen der Instanzen über das Recht ab, über seinen inhaltlichen Gehalt und seine Anwendung. Die Ausfüllung dieser Spielräume bei der Rechtsanwendung eröffnet den Einfluss der beschriebenen Wissensbestände, die umgekehrt die grundsätzliche Kontingenz der Ausfüllung kulturell begrenzen. Hierfür schlägt sich das diesbezügliche Wissen bei den Strafverfolgungsinstanzen in verschiedenen Formen außergesetzlicher Regeln nieder. Das so sedimentierte, verfestigte Wissen leitet damit die Rechtsanwendung und garantiert deren Einheitlichkeit und Kontinuität. Es begrenzt unsichtbar die bestehenden Spielräume der Instanzen und ermöglicht somit eine stabile Ordnung, innerhalb derer trotzdem Wandel und Anpassung möglich sind. Die Rolle der bei den Strafverfolgungsinstanzen tätigen Subjekte besteht dabei nicht alleine darin, das sich abstrakt formierende, diskursive Wissen in der Rechtsanwendung zu exekutieren. Vielmehr reproduzieren die Kriminalisierungsprozesse und die Rechtsanwendung anhand außergesetzlicher Regeln als diskursiven Praktiken den Diskurs nicht nur. Sie bearbeiten und transformieren ihn auch, indem sie dem leitenden Wissen als inhaltlicher Richtschnur in der einen oder anderen Art und Weise folgen, was mittelfristig zum Wandel und zur Ausprägung außergesetzlicher Anwendungsregeln führt.255 Die Recht anwendenden Strafverfolger sind damit selbst aktiv an der Formierung der Kriminalisierungsdiskurse beteiligt – wenngleich dies auf einer überindividuellen Ebene stattfindet und daher nicht intendiert ist. Die Subjekte sind bei der Kriminalisierung daher einerseits geleitet und werden durch den Diskurs geprägt; andererseits sind sie an zentraler Position an der gesellschaftlichen Produktion der interpretativen Kriminalitätswirklichkeit beteiligt. Auf dieser Ebene führt der Wandel von Wissen über Kriminalität, die diskursive Thematisierung und Problematisierung bestimmter Geschehensabläufe zu einer Aktivierung der polizeilichen und strafjustiziellen Instanzen, nach neuen, angemessenen Wegen bei der Bearbeitung derartiger Verfahren zu suchen. Dieses Wissen und diese Wege können sich in Form von Deutungsmustern und Anwendungsregeln etablieren und führen so zu einer umfassend veränderten Rechtsanwendung. Diesem Verständnis nach steht, wie eben beispielhaft skizziert, die Veränderung der diskursiven Wahrnehmung der extremen Rechten von 255

Vgl. Keller 2006, 132 f.

V. Zusammenfassung

165

den „Ewiggestrigen“ über die „Gewalttäter“ hin zum Bild des „strategisch vorgehenden Kaders“ in Verbindung mit einem Wandel der Wahrnehmung und Interpretation von Geschehensabläufen mit extrem rechtem Hintergrund auch in Kriminalisierungsprozessen. Die sich verändernde Deutung als überhaupt rechtlich relevant, als strafrechtlich relevant, als besondere Form von Kriminalität

Soziale Wirklichkeit und konkretes Wissen über Kriminalität werden durch die Praktiken der Instanzen auf der Grundlage der diskursiven Tiefenstruktur hervorgebracht und etabliert

Subjekte bei den Instanzen

setzen die diskursive Tiefenstruktur mit Hilfe von Deutungsmustern und Anwendungsregeln um und stellen so an der Oberfläche soziale Wirklichkeit und konkretes Wissen über Kriminalität her, ebenso wie sie dadurch geprägt und geleitet werden

Diskursive Tiefenstruktur basales Wissen über die Welt, das die Grenzen des Wissensrahmens absteckt

Abbildung 4: Diskursive Formierung der „Kriminalitätswirklichkeit“ durch die Instanzen mittels Deutungsmustern und außergesetzlichen Anwendungsregeln als diskursive Praktiken

166

E. Kriminalisierung als diskursive Praxis

und schließlich als vergleichsweise schwere Form von Kriminalität hat demnach zu einer erheblich gewandelten Strafrechtsanwendung in diesem Bereich geführt: Von der regelmäßigen rechtlichen Irrelevanz eines solchen Hintergrundes Anfang der 1990er Jahre bis hin zur Strafverfolgung von Antifaschisten wegen des Verwendens eines durchgestrichenen Hakenkreuzes im Jahr 2006. Die veränderte Strafrechtsanwendung in diesem Bereich hat mithin – so die hier nur beispielhaft veranschaulichte These – Kriminalität mit extrem rechtem Hintergrund als soziale Wirklichkeit neu hervorgebracht, auch wenn sie sich im Vergleich zur sonstigen gesellschaftlichen Wahrnehmung der extremen Rechten eher langsam verändert hat. Zusammenfassend besehen leitet das Wissen der Diskurse somit die Instanzen der Strafverfolgung bei der Rechtsanwendung; es verdichtet sich zu Deutungsmustern und außergesetzlichen Anwendungsregeln, die zu einer Vereinheitlichung und Konsistenz in der Rechtsanwendung führen und die Vorgaben des Diskurses an der Oberfläche umsetzen. Die zuvor theoretisch beschriebene Umkehrung des Verhältnisses von basalem gesellschaftlichen Wissen und sozialer Wirklichkeit beschränkt sich vor diesem Hintergrund nicht alleine auf die ganz grundsätzlichen Fragen der Konstituierung und Arbeitsweise des Systems sozialer Kontrolle. Vielmehr schlägt sich gesellschaftliches Wissen auch auf der Ebene konkreter Deliktsformen im Recht und seiner Anwendung nieder und bringt so eine bestimmte Kriminalität, ihre Täter, Verfolger und Opfer als soziale Wirklichkeit hervor. Derartige Effekte lassen sich dementsprechend nicht alleine angesichts der „Geburt des Gefängnisses“256 oder des Übergangs vom behandelnden Strafrecht hin zu vorverlagerten Formen sozialer Kontrolle beobachten, die jeweils einen Wandel in den gesellschaftlichen Vorstellungen vom Abweichenden und seinem Handeln hervorbringen. Sondern auch der Wandel konkreterer Wissensebenen über Abweichung führt zur Entstehung bestimmter Formen von Kriminalität und ihren Tätern, wie das Beispiel der Delikte mit extrem rechtem Hintergrund in der vorstehenden Veranschaulichung deutlich werden lässt. Dies gilt nicht nur für die Ebene des Gesetzgebers, der diskursives Wissen in Recht umsetzt, sondern schlägt sich ebenso im Wandel der insofern kontingenten Rechtsanwendung nieder.

256

Foucault 1994.

F. Macht und Kriminalisierung Bis hierhin wurde untersucht, wie das Verhältnis zwischen Diskursen und Kriminalisierungsprozessen aussieht und in welcher Form die damit verbundene Wechselwirkung auf der Ebene der Rechtsanwendung konkret stattfindet. Das Erkenntnisinteresse der Diskursanalyse richtet sich jedoch nicht alleine darauf, wie ein bestimmtes Wissen in Form von Diskursen entsteht und sich durchsetzt, während andere Interpretationen und Deutungen nicht sagbar sind. Sie fragt auch, warum sich gerade ein bestimmtes Wissen durchsetzt, welche gesellschaftlichen Effekte und insbesondere welche Machtwirkungen damit verbunden sind. Im folgenden Kapitel soll daher beleuchtet werden, welche Rolle Macht in dem durch außergesetzliche Anwendungsregeln vermittelten Wechselverhältnis zwischen Diskurs und Rechtsanwendung spielt.

I. Kriminalität und Macht Dass die Setzung wie auch die Anwendung von Recht auf verschiedene Weise mit Macht in Verbindung steht, ist nicht neu, sondern dem Recht geradezu immanent. Nur wer ein gewisses Maß an Macht hat, kann Recht setzen, dessen Anwendung wiederum Machtwirkung entfaltet.1 Bei der Betrachtung dessen dominieren bestimmte Ansätze, während andere Formen von Macht bislang wenig Beachtung gefunden haben. 1. Bisherige kriminologische Ansätze Als Macht soll im Folgenden unter Bezugnahme auf den weberschen Machtbegriff zunächst die Fähigkeit oder Möglichkeit gelten, das Handeln anderer zu lenken. Danach handelt es sich bei Macht um eine asymmetrische Beziehung, die Ausdruck von Ungleichheit ist und bedeutet, dass bestimmte Menschen von der Ausübung von Macht durch andere betroffen sind.2 Im Hinblick auf das Recht besteht die grundlegende Vorstellung, dass dieses sich auf Macht stützt, die in dieser institutionalisierten Form als Herrschaft bezeichnet wird, ebenso wie es zugleich deren Ausübung begrenzt und sie somit legitimiert.3 Dieses gilt 1 Zum gesellschaftlichen Nutzen von Kriminalität allgemein Eisenberg 2005, §§ 9 ff. Zu Ansätzen einer Machtanalytik Buckel 2006; Luhmann 1981; Popitz 1986. 2 Dazu Popitz 1986, 37 f. 3 Popitz 1986, 38 ff., 50 ff.; Raiser 1999, 270 ff. m.w. N.

168

F. Macht und Kriminalisierung

im besonderen Maße für das Strafrecht, das angesichts seiner weitgehenden Eingriffe in Rechtspositionen von Bürgern besondere Machtwirkung entfaltet und einer besonderen Legitimierung bedarf. Umgekehrt lässt sich konstatieren, dass eine zentrale Funktion – und ein wesentlicher Effekt – strafrechtlicher Sozialkontrolle darin liegt, die gesellschaftlichen Verhältnisse und damit die jeweils bestehende Herrschaft zu erhalten.4 Die Rolle von Macht im Zusammenhang mit strafrechtlicher Sozialkontrolle kann jedoch nicht auf Herrschaft reduziert werden, das heißt auf die Ausübung von – ggf. demokratisch legitimierter – institutionalisierter Macht.5 Vielmehr bestehen daneben andere Formen, die mit dieser verschränkt sind und ineinander übergehen und denen im Folgenden nachgegangen werden soll. Diese Formen bestehen sowohl auf der Ebene der Normsetzung als auch auf der hier in Rede stehenden Ebene der Normanwendung.6 Denn die Definition dessen, welche Normen in der Praxis inwiefern gelten und welche Verhaltensweisen hiervon abweichen, ist, wie dargelegt, nicht feststehend, sondern wird durch die Praktiken der dort wirkenden Subjekte beeinflusst.7 Für die Ebene der Normsetzung haben verschiedene Autoren herausgearbeitet, dass sich die Wirkung von Macht dort nicht auf diejenige des Gesetzgebers beschränkt.8 So können der konflikttheoretischen Perspektive zufolge gesellschaftliche Gruppen, die über ausreichend Ressourcen und Definitionsmacht verfügen, ihre Interessen im Verteilungskonflikt normativ absichern, dem entgegengesetzte Bestrebungen als abweichend klassifizieren und ggf. auch kriminalisieren. Nach hegemonietheoretischen Ansätzen erfolgt die Setzung strafrechtlicher Regelungen nicht unbedingt offen und erkennbar machtförmig, sondern werden Moral- und Normvorstellungen der Individuen von der jeweils bestehenden kulturellen Hegemonie geprägt, die für die Akzeptanz und den Bestand der herrschenden Ordnung sorgt. Macht setzt sich nach diesem Ansatz eher subtil und nicht in Form von Zwang durch, wenn beispielsweise partikulare Interessen als neutrale gesellschaftliche Werte dargestellt und akzeptabel gemacht werden.9 Aus einer solchen ideologiekritischen Perspektive handelt es sich bei diesen

4 Siehe Eisenberg 2005, § 9, Rn. 1. – Rehbinder 2003, 127 ff., 145 f. differenziert aus rechtssoziologischer Sicht allgemein zwischen fünf sozialen Funktionen: Konfliktbereinigung (Reaktionsfunktion), Verhaltenssteuerung (Ordnungsfunktion), Legitimierung und Organisation sozialer Herrschaft, Gestaltung der Lebensbedingungen (Planungsfunktion) und Rechtspflege (Überwachungsfunktion). Diese Kategorien finden sich in der Zweiteilung in Notwendigkeit und Funktion wieder. 5 Siehe Raiser 1999, 265 ff. 6 Eisenberg 2005, § 1, Rn. 4. 7 Vgl. Sack/Lindenberg 2001, 175 f. 8 Siehe nur die Überblicke bei Eisenberg 2005, § 22, Rn. 7 ff., § 23, Rn. 1 ff.; Lamnek 1997, 88 ff. 9 Zusammenfassend Singelnstein/Stolle 2006, 112 ff.

I. Kriminalität und Macht

169

Normen und ihren Grundlagen um falsches Bewusstsein zur Sicherung von Herrschaft.10 Auf der Ebene der Anwendung strafrechtlicher Regelungen herrscht aus juristischer Perspektive heute die Vorstellung, dass deren Durchsetzung zwar ggf. mit Zwang und mit der Ausübung staatlicher Macht verbunden ist. Hierbei handelt es sich danach jedoch um rechtlich geregelte und somit legitimierte Formen der Machtausübung. In diesem Sinne soll der Grundsatz „nulla poena sine lege“ sicherstellen, dass nur der Gesetzgeber und nicht die vollziehende oder die rechtsprechende Gewalt über die Strafbarkeit entscheiden. Im Einzelnen werden aus diesem Gesetzlichkeitsprinzip neben dem Bestimmtheitsgebot auch das Rückwirkungsverbot, das Analogieverbot und das Verbot von Gewohnheitsrecht abgeleitet.11 Indes ist offenbar, dass es sich hierbei um eine Idealvorstellung handelt, die keine empirische Bestätigung findet, wie in den vorangegangenen Kapiteln deutlich geworden ist. Daher wird dieses Verständnis auf theoretischer Ebene grundsätzlich in Frage gestellt, vor allem durch interaktionistische, konflikttheoretische und marxistisch geprägte Ansätze.12 Diesen Ansätzen zufolge handelt es sich (auch) bei der Rechtsanwendung stets um eine Form von Machtauseinandersetzung, in der sich die mächtigere Seite durchsetzt. Dies gilt unabhängig davon, ob die einzelnen Ansätze den selektiven Charakter der Sanktionierung zur Manifestation der Regelgeltung und für die Demonstration von Macht betonen,13 das Recht als Reflex der Interessen der herrschenden Klasse und als Ausdruck von deren Macht begreifen14 oder Kriminalisierung als Auseinandersetzung um gesellschaftliche Ressourcen interpretieren. Aus diesen machtanalytischen Perspektiven lässt sich daher konstatieren, dass das Recht zwar einerseits auf der Normsetzungsebene statischer Ausdruck geronnener Macht und strukturelles Ergebnis gesellschaftlicher Auseinandersetzungen ist. Andererseits steckt aber auch in seiner täglichen Anwendung eine sich stets neu betätigende Macht. 2. Diskurs und Macht Den dargestellten machtanalytischen Ansätzen in der Kriminologie ist gemeinsam, dass sie Macht in der Strafrechtsanwendung als Verhältnis zwischen 10

Siehe etwa Hess 1986, 36 ff.; Smaus 1986. So die ständige Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, BVerfGE 105, 135, 152 f.; 92, 1, 12; 87, 209, 224; 85, 69, 73; siehe auch Schmidt-Aßmann 2006, Art. 103, Rn. 178 f. 12 Zusammenfassend Lamnek 1997, 45 ff.; zu neomaterialistischen Ansätzen Buckel 2006. 13 Siehe dazu Singelnstein/Stolle 2006, 104 ff. 14 Sack/Lindenberg 2001, 176. 11

170

F. Macht und Kriminalisierung

Staat und Bürgern bzw. zwischen bestimmten Klassen oder sonstigen gesellschaftlichen Gruppen verstehen. Dieses kann sich in Strukturen niederschlagen oder unmittelbar intentional geprägt sein. Jedoch handelt es sich stets um eine Situation, in der eine gesellschaftliche Gruppe eine andere in ihren Möglichkeiten beschränkt, was – diesen Ansätzen zufolge – zumeist auch bewusst und gewollt geschieht. Diese Sichtweise lässt sich mit dem hier eingeführten diskusanalytischen Konzept schwerlich vereinbaren. Denn demnach handelt es sich bei Diskursen um eine überindividuelle Ebene, auf der Wissen, Sinn, Bedeutung und damit gesellschaftliche Wirklichkeit hergestellt werden und die in Wechselwirkung mit der Rechtsanwendung im Kriminalisierungsprozess steht. Damit unterscheidet sich dieser Ansatz in zweifacher Weise grundlegend von den angesprochenen Herangehensweisen.15 Zum einen stellt er nicht ausschließende, unterdrückende Auswirkungen bzw. Formen von Macht in den Vordergrund, sondern betont mit der Konstituierung gesellschaftlicher Wirklichkeit einen produktiven Aspekt der machtvollen Wirkung diskursiven Wissens.16 Zum anderen – und damit in Verbindung stehend – führt der überindividuelle Charakter von Diskursen dazu, dass sich deren prägender Einfluss nicht als (intentionale) Machtausübung einer bestimmten gesellschaftlichen Gruppe darstellt. Denn der Diskurs stellt ja auf einer dem übergeordneten Ebene erst den überindividuellen Rahmen bereit, innerhalb dessen solche Einflussnahmen stattfinden: Indem bestimmte Aussagen und Diskurse in einer Gesellschaft als wahr oder falsch gelten, stellt diese ihre Wahrheitsordnung her. Diese Wahrheitsordnung ist zugleich Ergebnis von Macht – ebenso wie sie selbst eine machtvolle Wirkung entfaltet17. Insofern lässt sich der hier verfolgte Ansatz auch bezüglich der Machtanalytik als den bisherigen Ansätzen übergeordnet verstehen. Denn das diskursive Wissen bildet die Grundlage für Interaktion, Zuschreibung, Konflikt und die Hegemonie von Ideen oder Ideologien.18 Zwar ist die Mehrzahl der dominierenden machtanalytischen Ansätze der gesellschaftskritischen Kriminologie ebenso wie die sozialwissenschaftliche Diskursanalyse im interpretativen Paradigma zu verorten. Sie teilen mithin als Ausgangspunkt die Vorstellung, dass gesellschaftliche Ordnung aus der sozialen Objektivierung von Wissensbeständen und Verhaltensweisen, aus ihrer Institutionalisierung und Legitimierung entsteht.19 So haben insbesondere interaktionistische Arbeiten bei der strafjustiziellen Interaktion Mechanismen analysiert, die der machtvollen Herstellung von Konsens oder Evidenzen und damit einer be15 16 17 18 19

Althoff/Leppelt 1995, 44 ff. Siehe Opitz 2004, 46 f.; Waldschmidt 2004, 152 ff. Bührmann 2005, Abs. 26 f. Siehe Foucault 1978, 51. Vgl. Keller 1999.

I. Kriminalität und Macht

171

stimmten Form von Wirklichkeitskonstruktion dienen.20 Jedoch liegt dem jeweils die Vorstellung von mit einer besonderen Definitionsmacht ausgestatteten Akteuren der Strafverfolgung zugrunde. Im Gegensatz dazu liegt der Fokus des hier verfolgten Ansatzes nicht auf der Macht solcher Akteure, sondern im Gegenteil auf deren Leitung durch die übergeordnete Ebene diskursiven Wissens. Er nimmt weder staatlich institutionalisierte Macht als Herrschaft noch die Definitionsmacht der Instanzen in den Blick. Stattdessen geht es diesem Ansatz um eine Form von Macht, die in Verschränkung mit gesellschaftlichem Wissen Praktiken und auf diesem Weg materielle Wirkungen hervorbringt.21 Eine solche Macht kann somit als Effekt diskursiver Wissensstrukturen bei den einzelnen Subjekten verstanden werden, und zwar bei den Instanzen der Strafverfolgung ebenso wie bei der Allgemeinheit. Entsprechend der Analyse im vorangegangenen Kapitel geht es also um die leitende Wirkung des Diskurses bei der Rechtsanwendung einerseits, und um deren Wissen und damit Wirklichkeit konstituierende Wirkung andererseits: Ebenso wie sich das Recht und seine Anwendung an Veränderungen der interpretativen Wirklichkeit anpassen und so Machteffekten unterliegen, produzieren sie auch diskursives Wissen mit Machtwirkung.22 In dieser diskursanalytischen Perspektive beruht Macht einerseits nicht auf den Intentionen der handelnden Subjekte. Andererseits sind Machtverhältnisse nicht derart fest und asymmetrisch, wie es bei bislang dominierenden Machtvorstellungen der Fall ist. An dieser Stelle kann und soll hier die Machtanalytik Michel Foucaults für eine weitergehende Betrachtung angeschlossen werden. Diese stellt eine Verbindung aus Struktur und Praktiken her und versucht zu erfassen, wie sich diskursive Machteffekte auf der Ebene des Subjekts umsetzen und wirken. In diesem Zusammenhang gelangen andere Formen von Macht ins Blickfeld, sodass diese Herangehensweise eine differenziertere Sicht auf Formen gesellschaftlicher Macht ermöglicht, als bislang im Zentrum der kriminologischen Betrachtung standen.23 Dies kann ein verändertes Licht auf das Funktionieren von Rechtsanwendung und auf die Rolle von Kriminalisierung in der Gesellschaft werfen und verfolgt damit ein zentrales Erkenntnisinteresse der gesellschaftskritischen Richtung in der Kriminologie, der es stets (auch) darum ging, Aspekte von Macht in Recht und Kriminalisierung zu thematisieren.24

20 Siehe zum Beispiel Keckeisen 1976, 93 ff., der in diesem Zusammenhang Versprechungen, Drohungen, Täuschungen und Gewalt nennt. 21 Siehe Foucault 1983, 100 f.; Opitz 2004, 41. 22 Siehe auch Althoff 2002, 53 ff.; Garland 1992, 412; Scraton 2002, 28 f. 23 Althoff/Leppelt 1995, 48 f.; Vold/Bernard/Snipes 1998, 274. 24 Ähnlich auch Quensel 2002, 47 ff.

172

F. Macht und Kriminalisierung

II. Gouvernementalität als Ansatz Im Zusammenhang mit bzw. im Anschluss an seine diskursanalytischen Arbeiten hat Michel Foucault in seinem Spätwerk mit den Studien zur Gouvernementalität einen differenzierten machtanalytischen Ansatz vorgelegt.25 Unter Zugrundelegung dieser Arbeiten und der sich daraus entwickelnden Rezeption26 soll im Folgenden das Verhältnis zwischen Diskurs und Kriminalisierung hinsichtlich des Aspekts der Macht untersucht werden. 1. Grundlagen Bereits in seinen früheren Arbeiten hatte Foucault Macht nicht im herkömmlichen Sinne und vordergründig als Herrschaft verstanden, sondern vielmehr im Gegensatz hierzu eine Ebene der „Mikrophysik der Macht“ konzipiert, die er von der von ihm so bezeichneten juridischen oder souveränen Macht abgrenzte.27 Diese Ebene der Macht verstand er als vielfältige, organisierende Kräfteverhältnisse und bewegliche Strategien, die allgegenwärtig sind, von unten nach oben verlaufend alles durchdringen und deren Herausbildung mit dem Aufkommen der Bevölkerung als Entität und möglichem Objekt der Einwirkung in Verbindung steht.28 Er beschreibt sie als relationale, komplexe strategische Situationen, die Spannungsverhältnisse und Widersprüche enthalten; als bewegliches Netz ohne Zentrum.29 Dieses Netz stellt dieser Vorstellung zufolge in den modernen abendländischen Gesellschaften eine grundlegende Machtebene dar, während Gesetz und Herrschaft eher als daraus entstehende besondere Formen anzusehen sind.30 Ein zentraler Aspekt dieser Betrachtungen ist stets das diskursive Wissen mit seinen gesellschaftlichen Effekten31 und der damit verbundenen Machtwirkung. Am Anfang steht dabei eher noch die Analyse der Zugangsbedingungen zu Diskursen auf dem Programm, das heißt die Frage danach, wer wann in welchen

25 Zur Entwicklung des Machtkonzepts bei Foucault Carrabine 2000, 313 ff. sowie zum Wendepunkt im Spätwerk in Form der Studien zur Gouvernementalität Lemke 1997. 26 Vgl. zur Rezeption im angloamerikanischen Sprachraum, aber auch zu der in Deutschland und Frankreich Garland 1997, 175 ff.; Lemke/Krasmann/Bröckling 2000, 7; Pieper/Guitiérez Rodríguez 2003a, 7 f. 27 Zu dieser Lemke 1997, 98 ff. 28 Siehe dazu Bührmann 2005, Abs. 23 f.; Foucault 1983, 31 f. 29 Foucault 1983, 93 ff. 30 Foucault 1983, 93: „Kristallisierungen“. 31 Siehe zur Verbindung des Wissens der entstehenden Humanwissenschaften mit dem Strafrecht des 19. Jahrhunderts und dem daraus folgenden Wandel der Kriminalisierung im Sinne der Disziplin Foucault 1994; Lemke 1997, 77 f.

II. Gouvernementalität als Ansatz

173

Situationen etwas sagen kann und damit gehört wird.32 Später wendet sich Foucault dann verstärkt den Wirkungen diskursiven Wissens selbst zu. Aus dieser Perspektive stellt sich der Umstand, dass die Deutung, das Verständnis der Welt kontingent ist und sich jeweils nur eine mögliche Interpretation als Wahrheit verankert, als Machtwirkung dar.33 Macht steuert danach nicht von außen die Produktion und Durchsetzung eines bestimmten Wissens. Sie ist dem Wissen vielmehr inhärent, ist sein Effekt ebenso wie seine Form, sie ist überindividuell, produktiv, beweglich und allgegenwärtig. Indem das in einem bestimmten Bereich produzierte Wissen definiert und ausschließt und so Wirklichkeit strukturiert, übt es Macht aus.34 Wissen und die daraus folgenden Praktiken sind daher immer auch mit Effekten von Macht verbunden, weshalb Foucault von MachtWissen-Komplexen spricht und so deutlich macht, dass beide Aspekte in vielfältiger Weise miteinander verbunden und voneinander durchdrungen sind, ohne dass sich hierbei eine dominierende Wirkrichtung ausmachen ließe.35 In Fortführung dieser Überlegungen unterscheidet Foucault dann in seinem Spätwerk – vor allem in seinen Vorlesungen zur Gouvernementalität am Collège de France 1977 bis 197936 – Macht und Herrschaft, verschiedene Wirkungsweisen und -orte, und bezieht Prozesse der Subjektivierung sowie Verständnis und Rolle des Staates in sein Konzept mit ein.37 Er gelangt so zu einer differenzierten Machtanalytik, die Macht in den modernen Gesellschaften aus einem veränderten Blickwinkel betrachtet.38 Andere Formen von Macht und Herrschaft werden damit nicht negiert, jedoch rückt eine besondere Art von Macht ins Zentrum der Betrachtungen: Neben einer Ebene der Herrschaft als geronnener Macht in Form dauerhafter Asymmetrie mit den entsprechenden Techniken einerseits sowie strategischen Spielen der Macht auf einer mikrosozialen Ebene andererseits lässt sich danach eine dritte Ebene der Macht lokalisieren, die zwischen diesen beiden angesiedelt ist.39 Dieser dritten Ebene der von ihm so benannten Regierungstechniken im Sinne der Gouvernementalität, die im Folgenden Thema sein sollen, widmete sich Foucault sodann im Besonderen. Zentraler Kern des Ansatzes der Gouvernementalität sind die „systematische Verbindung und wechselseitige Konstituierung von Machttechniken, Wissensformen und Subjektivierungsprozessen“40, deren Verhältnis Foucault hier in den

32 33 34 35 36 37 38 39 40

Siehe insbesondere Foucault 2003. Siehe Althoff/Leppelt 1995, 40 ff.; Keller 2004, 49 f. Siehe auch Keller 2006, 127; Lemke 1997, 68 ff. Foucault 1978, 123 f.; Lemke 1999, 179 f.; Opitz 2004, 48 f. Foucault 2004; 2004a. Siehe detailliert zur Entwicklung Gordon 1991. Siehe etwa Foucault 1992. Lemke 1997, 308 f.; zur Entwicklung Lemke/Krasmann/Bröckling 2000, 8. Pieper/Guitiérez Rodríguez 2003a, 8.

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F. Macht und Kriminalisierung

Blick nimmt und dabei eine Ebene der Macht analysiert, die von so genannten Techniken der Regierung geprägt ist.41 Der Begriff der Regierung geht dabei über seine politische Bedeutung hinaus.42 Er umfasst diverse Techniken und Handlungsformen, „die in vielfältiger Weise auf die Lenkung, Kontrolle, Leitung von Individuen und Kollektiven zielen“43. Dies geschieht mittels Formen der Selbstführung und Techniken der Fremdführung, die sich ergänzen und gegenseitig durchdringen. Diese mit dem Aufkommen des Liberalismus44 seit dem 18. Jahrhundert verbundene Form der Macht überlagert Foucault zufolge an vielen Stellen Formen der souveränen, juridischen Macht und der Disziplinarmacht.45 Das Konzept der Regierungstechniken im Sinne der Gouvernementalität entwickelt Foucault aus der Vorstellung, dass sich die von ihm so bezeichnete christliche Pastoralmacht als spezifische Machttechnik auf den politischen Bereich und dessen Zielsetzungen ausgedehnt und insofern erweitert hat.46 Bei der Pastoralmacht handelt es sich danach um eine historisch entstandene Form von Macht, die zunächst die „Führung der Seelen“ als spezifisch christliches Konzept der Beziehung zwischen Herde und Hirte bezweckte.47 Diese Machttechnik ist (zunächst nur) auf das Seelenheil gerichtet. Dabei wirkt sie selbstlos wie auch individualisierend, und zwar ununterbrochen das ganze Leben über. Sie macht den Gehorsam zum Selbstzweck und prägt insofern das Subjekt ganz grundlegend, das sich mittels dieser Technik aktiv selbst konstituiert. Es handelt sich mithin um einen „spezifischen Modus der Führung von Einzelexistenzen“48. Damit unterscheidet sich diese Macht nicht nur in ihren Zielen, sondern vor allem auch in den Formen ihres Wirkens grundlegend von der politischen und juridischen Macht.49 Diese ursprüngliche christliche Pastoralmacht als spezifische Machttechnik hat sich Foucault zufolge verweltlicht und über das Seelenheil hinaus auf politische Bereiche und Zielsetzungen ausgedehnt.50 Ihre Ziele und Agenten haben 41

Foucault 2000. Dazu Burchell 1996, 19 f.; Foucault 2004, 173 ff. 43 Lemke/Krasmann/Bröckling 2000, 10. 44 Mit diesem Begriff bezeichnet Foucault eine Epoche, die eher seiner analytischen Perspektive entspricht; nicht gemeint sind hingegen parlamentarische Demokratie oder Marktwirtschaft, wenngleich diese politischen bzw. ökonomischen Systeme mit dem Liberalismus im Sinne Foucaults in Verbindung stehen, siehe auch Burchell 1996, 21 ff.; Dupont/Pearce 2001, 132; Fitzsimons 1999, 380 f. 45 Siehe Krasmann 1999, 108 f.; vgl. auch Foucault 1983, 101 f. 46 Foucault 1992, 11 ff. 47 Dazu Foucault 2005a, 167 ff. 48 Opitz 2004, 68. 49 Vgl. zu dieser Entwicklung Lemke 1997, 153 ff. 50 Dies hat Foucault anhand unterschiedlicher Regierungsformen in ihren jeweiligen historischen Kontexten untersucht (vor allem „Staatsräson“ und „Polizey“, siehe Fou42

II. Gouvernementalität als Ansatz

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sich vervielfacht, sodass sie grundlegend für die modernen Gesellschaften und Staaten geworden ist.51 Dabei wohnt dem Regieren eine ökonomische Zweckbestimmung inne: Es perfektioniert und maximiert als Machttechnik die von ihr geleiteten Vorgänge; es ist bestrebt, das Wohlbefinden der Regierten zu erhöhen, die Bevölkerung so groß und aktiv wie möglich zu machen, um so ihre Kräfte zu steigern.52 Es geht somit um eine möglichst weitgehende Perfektionierung und Ausdehnung der Macht.53 Diese von Foucault als Bio-Macht bezeichnete Form und Zielrichtung hat nicht mehr einzelne Individuen zum Ausgangspunkt, sondern nimmt die Bevölkerung als Ganzes in den Blick und macht sie als gefährdete und zu schützende Entität zum Gegenstand ihrer Maßnahmen der Regulierung.54 Dabei ist sie nicht auf Abschöpfung und Entzug gerichtet, sondern soll Kräfte hervorbringen, ordnen und stärken statt sie zu hemmen oder zu vernichten.55 Statt der Durchsetzung der Souveränität um derer selbst willen geht es um die nutzbringende Förderung des Lebens der Bevölkerung.56 Zu diesem Zweck gewinnen statistische Daten und Vermessungen eine erhebliche Bedeutung, mit deren Hilfe die Bevölkerung und sie betreffende Umstände berechenbar gemacht werden können. Damit betrifft der Ansatz der Gouvernementalität in Verbindung mit der so genannten Bio-Macht die langfristige Herausbildung moderner Subjektivität wie moderner Staatlichkeit. Denn ebenso wie die verweltlichte Pastoralmacht zur Herausbildung einer Subjektivierungsweise führt, die das Subjekt als aktives, verantwortliches konstituiert, bringt sie Staaten hervor, die durch diese aktiven Subjekte als starke und mächtige Instanz entstehen.57 Insofern erfüllt dieser Ansatz eine dreifache Scharnierfunktion, denn die Regierungstechniken verbinden den Begriff der Macht58 • mit dem des Wissens, da sie die Machtwirkung gesellschaftlicher Wissensbestände und entstandener Rationalitäten an zentraler Stelle einbeziehen; • mit dem der Subjektivität, indem sie zeigen, wie Fremd- und Selbstführung zusammenhängen, wenn sich das Subjekt die Maßstäbe anderer in eigenen Entscheidung zu eigen macht;

cault 2005a), bezieht den Begriff der Gouvernementalität später aber vor allem auf Regierungstechniken im Liberalismus. 51 Foucault 1994a, 248 ff. 52 Foucault 2005a, 181; Opitz 2004, 20. 53 Vgl. dazu Dupont/Pearce 2001, 130 f. 54 Siehe Bublitz 1999, 32 f.; Krasmann 2003, 126 f. 55 Foucault 2004, 13 f.; Lemke 1997, 134 ff. 56 Dazu Foucault 1983, 134 ff. 57 Siehe Mottier 1999, 147; Rose 2000, 94 ff. 58 Lemke/Krasmann/Bröckling 2000, 8.

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F. Macht und Kriminalisierung

• sowie in zweifacher Weise mit dem der Herrschaft: Ebenso wie Herrschaftstechniken bestimmte Formen der Selbstführung hervorbringen, kann der herrschende Staat als Materialisierung von Regierungstechniken verstanden werden. 2. Wirkungsweise und Bedeutung Die Perspektive der Gouvernementalität ist eng verbunden mit der Frage, wie in bestimmten historischen Epochen und vor allem in den modernen abendländischen Gesellschaften Menschen zu Subjekten gemacht werden, wie also Subjektivierungsprozesse gestaltet sind. Den Begriff des Subjekts versteht Foucault dabei im doppelten, auf den lateinischen Wortstamm zurückgehenden, Sinn: einerseits in Abhängigkeit jemandem unterworfen sein und andererseits durch Bewusstsein der eigenen Identität verhaftet sein und diese selbst aktiv zu entwerfen.59 Dabei geht er davon aus, dass für beide Formen der Subjektivierung die Unterwerfung unter das Regime eines anderen erforderlich ist. Dies geschieht bei Regierungstechniken eben gerade durch die ursprünglich pastorale Machtform, indem die Produktion subjektiver Innerlichkeit über machtvolle Wissensbestände mit bestimmten Führungstechniken verbunden wird.60 Das Subjekt hat dabei weder jemals einen ursprünglich-natürlichen Zustand noch kann es im Sinne einer eigenen Intentionalität handeln. Es ist vielmehr immer schon in dieses Geflecht aus Macht und Wissen verstrickt und durch die zugrunde liegende Rationalität geprägt, innerhalb derer es sich kontinuierlich selbst konstituiert.61 Der Begriff der Subjektivierungsweisen umfasst vor diesem Hintergrund die Praxis der Selbstdeutung auf der Grundlage des jeweils gültigen Wissens und daraus folgende Verhaltensweisen.62 Die hier in Rede stehende Ebene der Macht ist einerseits Ausgangspunkt dieses Prozesses der Subjektivierung, da sie subjektiviert. Andererseits ist sie auch Ergebnis dessen, da die Subjektivierung zum aktiven, verantwortlichen, zur Selbstführung fähigen und Macht ausübenden Subjekt mit eigenen Interessen eine notwendige Grundlage für die Herausbildung von Selbstführungs- und damit Regierungsformen im Liberalismus darstellt.63 An dieser Stelle schließt die Machtform der Regierungstechniken an. Sie macht sich die beschriebene Subjektivierungsweise zunutze, indem sie die Selbstführung der aktiven, verantwortlichen Subjekte mit Elementen der Fremdführung verknüpft. Regierung meint dabei die Einwirkung auf das Subjekt, in59 60 61 62 63

Vgl. Foucault 1994a, 243, 246 f. Opitz 2004, 65, 69. Siehe Mottier 1999, 150. Siehe Schneider/Hirseland 2005, 264 f. Pieper/Guitiérez Rodríguez 2003a, 8; siehe auch Opitz 2004, 58.

II. Gouvernementalität als Ansatz

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dem bestimmte Selbsttechniken gefördert und hervorgebracht bzw. umgekehrt Selbsttechniken in Herrschaftsstrukturen integriert werden.64 Es geht also um den Punkt, an dem Fremd- und Selbstführung miteinander verknüpft sind, sich begegnen und interagieren;65 um die Mechanismen, die dazu führen, dass sich Subjekte selbst so führen und ausrichten, dass es den abstrakten Vorgaben und Bedürfnissen am besten entspricht: das „Führen der Führungen“66. Dabei gestaltet der Einzelne aktiv selbst, indem er entscheidet, ob und wie er diesen Anforderungen gerecht zu werden sucht, um handlungsfähig zu bleiben. Diese reflexive Verbindung von Selbst- und Fremdführung bedeutet, dass in der Formierung des eigenen Selbst zugleich die Unterwerfung unter bereits bestehende, quasi vorgegebene Ziele und Zwecke liegt. Andererseits ist die Selbstführung, das heißt die Fähigkeit, sich gut und entsprechend den Vorgaben zu verhalten, Voraussetzung dafür, das Handeln anderer zu leiten.67 Der Mechanismus lässt sich daher zusammenfassend als Lenkung von Bewusstsein beschreiben.68 Im Unterschied zu den angesprochenen bislang dominierenden Machtkonzepten arbeiten Regierungstechniken nicht mit Zwang. Anstatt unmittelbar auf ein Subjekt einzuwirken, werden mittels Handlungen andere Handlungen verändert.69 Regieren im Sinne der Gouvernementalität bedeutet, „das Feld eventuellen Handelns“ von Anderen zu strukturieren70, auf ein prinzipiell offenes Feld möglicher Handlungen derart einzuwirken, dass bestimmte Verhaltensweisen gefördert und andere erschwert werden. Regierungstechniken wirken somit nicht absolut, sondern schaffen Wahrscheinlichkeiten: sie erleichtern oder erschweren, machen mehr oder weniger wahrscheinlich, lenken ab oder hin und nur in Grenzfällen verhindern sie ganz.71 Die Wirkung von Selbstführungstechniken besteht somit in der impliziten Anleitung zur Selbstregelung des eigenen Lebens anstelle einer offenen Vermittlung normativer Vorgaben und der Ausrichtung des Einzelnen an diesen. Der Schwerpunkt dieser Lenkung liegt nicht auf der Unterdrückung unerwünschter Verhaltensweisen als vielmehr in der Leitung des formal freien Einzelnen hin zu erwünschten Verhaltensweisen, hat also einen produktiven Effekt.72 Die von jedem Einzelnen selbst vollzogene Einsicht in die von strukturellen Rahmenbedingungen hergestellte Notwendigkeit macht dabei einen konkreten Zwang entbehrlich.73 Das eigene Verhalten wird von 64 65 66 67 68 69 70 71 72 73

Vgl. Lemke/Krasmann/Bröckling 2000, 29 f. Foucault bei Lemke 1997, 264. Foucault 1994a, 255; siehe auch Burchell 1996, 19. Krasmann 1999, 108. Siehe Foucault 2005a, 181. Foucault 1994a, 254. Foucault 1994a, 255. Foucault 1992, 40; 1994a, 255; Opitz 2004, 27. Dazu Lemke 1997, 129 f. Lemke 1997, 186 f.

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F. Macht und Kriminalisierung

alleine und vermeintlich selbst gewollt an antizipierte Standards angepasst. Selbstführung kommt so ohne sichtbaren äußeren Zwang aus, kann existierende Macht- und Herrschaftsverhältnisse in das Individuum einschreiben und ermöglicht so ein „Regieren aus der Distanz“.74 Damit setzen Regierungstechniken stets einen Raum von Freiheit auf der Seite des Subjekts voraus, das sich zwischen verschiedenen Möglichkeiten entscheiden kann.75 Sie zwingen nicht zu einem bestimmten Verhalten, sondern lenken lediglich auf eine bestimmte Art von Verhalten innerhalb einer prinzipiell unbegrenzten Zahl möglicher Verhaltensweisen hin, ohne dies absolut zu tun. Bei dieser Freiheit handelt es sich nicht um eine natürliche Gegebenheit, die durch die Regierung eingeschränkt würde. Vielmehr ist es gerade die Gouvernementalität, die diese Entscheidungsspielräume schafft, die für diese Form der Macht konstitutiv und unentbehrlich sind.76 Die direkte Beherrschung der Subjekte erweist sich im Gegensatz dazu als unproduktiv, da sie einerseits Widerspruch provoziert und andererseits das Potential der Subjekte nicht nutzt, sich in einem Raum der Freiheit produktiv, kreativ selbst zu leiten und zu optimalen Lösungen zu kommen. Mit Unterdrückung und Zwang kann der Mensch nie insgesamt, sondern immer nur in Teilen seines Verhaltens erreicht werden.77 Während direkter Zwang lediglich verhindert, führen Regierungstechniken dazu, dass der ganze Gesellschaftskörper durchdrungen wird von Aktivitäten der Subjekte auf der Suche nach bestmöglichen Verhaltensweisen im Sinne der Vorgaben der Fremdführung. Der Liberalismus steht damit für ein (mittelbares, führendes) Eingreifen, das ein (direktes) Nicht-Eingreifen ermöglicht.78 Es handelt sich damit um eine besonders ökonomische Form der Macht, um Gegenstandsbereiche an bestimmten Zwecken auszurichten.79 Vor diesem Hintergrund kann die Gouvernementalität als „Analytik einer dezentrierten Regierung“ (Opitz) und somit als Akzentverschiebung weg von der Konzentration auf Staat und Herrschaft und von der Dichotomie aus Unterdrückung und Freiheit verstanden werden.80 Es handelt sich um eine Form von Macht, die vielfältiger ist und weiter geht, als das übliche Verständnis von Macht, indem sie leise und produktiv agiert, in bestimmtes Wissen und bestimmte Vorstellungen gekleidet ist und das Subjekt nicht als Ausgangspunkt, sondern als zu konstituierend begreift.81 Grundlage dieser „Intervention in das 74

Krasmann 1999, 109 ff. Siehe Krasmann 2000, 201; Lemke 1997, 183 f. 76 Foucault 2005a, 197. 77 Siehe dazu bereits die Kritik an der Repressionshypothese bei Foucault 1983, 17 ff., 86 f. 78 So Opitz 2004, 57. 79 Foucault 2000, 49 f. 80 Siehe Rose 2000, 93. 81 Opitz 2004, 24 f. 75

III. Zur Gouvernementalität der Rechtsanwendung

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Selbstverständnis der Individuen“82 – und den daraus folgenden Praktiken immanent – ist die jeweils geltende, jedoch kontingente Wahrheit in einem bestimmten sozialen Feld, die jeweilige Denk-, Wahrnehmungs- und Handlungsweise, die sich dort durchgesetzt hat und die als Rationalität bezeichnet werden kann. Dies meint nicht eine feststehende, absolute Vernunft oder vergleichbare Wertungen, sondern eine spezifische Denk- und Handlungsweise, die sich für einen bestimmten gesellschaftlichen Bereich zu einem bestimmten Zeitpunkt als prägend etablieren konnte und an der entsprechende Regierungstechniken, Institutionen, Verfahren ansetzen.83 Das Wissen der Rationalität ist somit nicht objektiv, sondern selbst Ergebnis von Machtwirkungen wie auch selbst mit Machtwirkung ausgestattet,84 indem es die Subjekte anleitet und führt.85 Zusammenfassend besehen geht es also darum, dass der Einzelne durch Wissens- und Praxisformationen dazu angehalten wird, sich im Rahmen der ihm überlassenen Freiheiten und Entscheidungsspielräume gemäß bestimmten Maximen zu verhalten.86 An dieser Stelle schließt sich der Kreis zu den Diskursen bzw. Dispositiven, die als Bindeglied zwischen Fremd- und Selbstführung fungieren: Die Fremdführung liegt gerade darin, eine bestimmte Wahrheit zu produzieren, die für andere in ihrer Selbstführung leitend wird.87 Solche dem Wandel unterliegende Wissensformen sind daher ebenso wie die Techniken selbst Element der Regierung und so in das Feld der Machtverhältnisse einzuordnen.88 Aus dieser Perspektive können daher auch Konsens und Einverständnis Ergebnis von Machtwirkungen sein, geht es darum, die Bedingungen offen zu legen, unter denen eine bestimmte Sichtweise als wahr akzeptiert wird.89

III. Zur Gouvernementalität der Rechtsanwendung Im Rahmen der Kriminologie kann der Ansatz der Gouvernementalität, wie er soeben eingeführt wurde, auf verschiedene Fragestellungen und Aspekte gewinnbringend angewendet werden.90 Insbesondere ist er geeignet, die Entwicklung sozialer Kontrolle in den modernen abendländischen Gesellschaften, die dieser zugrunde liegenden Rationalität sowie neuere Formen und Techniken in 82

Keller 2005, 139. Siehe Krasmann 1999, 110. 84 Lemke/Krasmann/Bröckling 2000, 20 f. 85 Siehe Foucault 1992, 10; Lemke 1997, 327 ff. 86 Vgl. Keller 2005, 211. 87 Siehe auch van Dyk 2006, 62 ff. 88 Lemke/Krasmann/Bröckling 2000, 20 f. 89 Foucault 1992, 34. 90 Frühere Arbeiten Foucaults zur Macht dienten bereits dazu, die Rolle der Kriminologie im Feld von diskursivem Wissen und Macht zu beleuchten, siehe dazu Garland 1992; Pasquino 1991. 83

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F. Macht und Kriminalisierung

diesem Bereich analytisch zu erfassen.91 Im Folgenden soll der im Gegensatz dazu bislang kaum bearbeiteten Frage nachgegangen werden, welche Rolle Regierungstechniken und damit Fremd- und Selbstführung bei der Rechtsanwendung durch die Instanzen im Kriminalisierungsprozess spielen. Dabei wird davon ausgegangen, dass dieser zwischen Herrschaft und Machtspielen anzusiedelnden Ebene der Macht bei der Rechtsanwendung, die – wie gezeigt – wesentlich durch diskursives Wissen und daraus entstehende Anwendungsregeln bestimmt ist, eine zunehmende Bedeutung zukommt. In einem ersten Abschnitt wird dafür zunächst das Verhältnis von Regierungstechniken, Kriminalisierung und Recht allgemein beleuchtet, bevor genauer untersucht wird, wie einerseits die Rechtsanwendung durch Regierungstechniken geleitet wird und inwiefern sich andererseits die Rechtsanwendung im Kriminalisierungsprozess selbst als Regierungstechnik verstehen lässt. 1. Regierung, Kriminalität und Recht Für die vergangenen Jahrzehnte lässt sich mit dem Ansatz der Gouvernementalität ein grundlegender Wandel sozialer Kontrolle konstatieren, der sich sowohl auf deren Formen als auch auf deren Ziele bezieht.92 Rationalität und Regierung sind dabei (auch hier) Folge der Verschränkung unterschiedlicher, mitunter divergierender Strategien und Realitäten und nicht Ergebnis intentionaler politischer oder administrativer Vorhaben.93 Für die Rezeption des Gouvernementalitätsansatzes in diesem Bereich lassen sich zwei Schwerpunkte ausmachen. Einerseits wird hinsichtlich der Formen parallel zum Umbau des fürsorglichen Wohlfahrtsstaates eine Neuorganisation der Regierungstechniken analysiert, bei der die Führung zunehmend weg von staatlichen Institutionen hin zu den umsichtigen, responsibilisierten Subjekten verlagert wird.94 Dabei wird von einer zunehmenden Bedeutung von Formen sozialer Kontrolle ausgegangen, die nicht vorwiegend mit einer Sanktionierung von Abweichung arbeiten, sondern als Führung von Individuen wirken, die nicht ohne weiteres als solche erkennbar sind und sich netzwerkartig verteilen.95 Andererseits werden im Hinblick auf die Ziele und Zwecke sozialer Kontrolle so genannte „Dispositive der Sicherheit“ beschrieben, die das notwendige Gegenstück zu der für die Gouvernementalität konstituierenden Freiheit darstellen.96 Diese individualisierende Frei91 Siehe zum Beispiel Bessant 2002, 230 ff.; Garland 1997, 184 ff., 192; 2001; Krasmann 1999; 2003; O’Malley 1999. 92 Siehe bereits Feeley/Simon 1992; Krasmann 2003, 237 ff. 93 Vgl. Lemke/Krasmann/Bröckling 2000, 22. 94 Siehe Garland 2001; Lemke/Krasmann/Bröckling 2000, 30; Krasmann 1999; 2003a, 40 f. 95 Siehe Krasmann 2003a; zusammenfassend Singelnstein/Stolle 2006, 33 ff., 56 ff., 108 ff.

III. Zur Gouvernementalität der Rechtsanwendung

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heit wird als Bedingung einem Sicherheitskalkül unterstellt, damit sie nicht ungezügelt ist und keine Gefahr für die Allgemeininteressen bedeutet.97 Hierfür arbeiten „Dispositive der Sicherheit“ mit besonderen Strategien, Techniken und Formen. Diese bislang dominierenden Blickwinkel der Rezeption des Gouvernementalitätsansatzes haben eine weiter führende Perspektive auf die Ziele und Formen sozialer Kontrolle eröffnet. Dabei ist jedoch ein wesentlicher Bestandteil sozialer Kontrolle in den Hintergrund geraten: Das Recht und das Strafrecht im Besonderen werden in den einschlägigen Arbeiten bislang zumeist nur gestreift und nicht systematisch aus der Perspektive der Gouvernementalität untersucht.98 Dies scheint zum einen zwar nahe liegend, da sich dieser Ansatz nicht vorwiegend und vordergründig mit Phänomenen wie Staat und Recht befasst, sondern eben Regierungstechniken in den Mittelpunkt rückt, die danach vor allem bei den innovativen Formen der Regierung von und mittels Abweichung von Bedeutung sind. Andererseits haben das Strafrecht als Institution und die Instanzen dieser formellen Sozialkontrolle im Zuge des beschriebenen Wandels sozialer Kontrolle nicht an Bedeutung eingebüßt. Sie verändern sich zwar und passen sich den neuen Strategien an, sind aber nicht grundlegend in Frage gestellt.99 Gerade dies macht es aus rechtstheoretischer und -soziologischer Sicht interessant, sich innerhalb einer Betrachtung von Kriminalisierung und Sozialkontrolle mit dem Instrumentarium der Gouvernementalität auf das Strafrecht und seine Anwendung zu konzentrieren – zumal im vorangegangenen Kapitel gezeigt werden konnte, dass die Anwendung des Strafrechts in einem Wechselverhältnis mit gesellschaftlichen Wissensbeständen steht. Die damit aufgeworfene Fragestellung lautet also, welche Rolle Regierungstechniken im Zusammenhang mit der Rechtsanwendung im Kriminalisierungsprozess spielen. Dabei geht es nicht um eine Betrachtung des Rechts als souveräner Form von Macht, sondern um die Wirkung von Fremd- und Selbstführung als eigenständiger Machtebene bei der und durch die Strafrechtsanwendung. Hierbei scheint es sich zunächst zwar um eine für das Forschungsprogramm der Gouvernementalität ungewöhnliche Fragestellung zu handeln.100 Denn einerseits geht es statt um die Führung einer Gesellschaft insgesamt speziell um die Führung der Subjekte, die innerhalb der Instanzen formeller Sozialkontrolle im Rahmen eines in sich geschlossenen Dispositivs agieren. Andererseits steht ein Bereich im Mittelpunkt, der im Allgemeinen als vom Recht als herrschaftlicher 96

Dazu Singelnstein/Stolle 2007, 57. Lemke 1997, 186 f. 98 Vgl. aber Garland 1997, 185, 189 f., der auch die Frage aufwirft, inwieweit sich „a new rationality for the governance of criminal justice“ konstatieren lässt. 99 Siehe Singelnstein/Stolle 2006, 69 ff. 100 Vgl. auch Rose/Valverde 1998. 97

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F. Macht und Kriminalisierung

Machtform dominiert betrachtet wird. Speziell die Frage der Kombination des eigentlich souverän verstandenen Rechts mit Regierungstechniken ist jedoch von besonderem Interesse, zumal viele Untersuchungen im Feld der governmentality studies dazu neigen, deren Perspektive zu totalisieren und Brüche sowie Verschränkungen mit anderen Machtebenen auszublenden.101 Auch wenn es sich bei einer solchen Betrachtung um einen speziellen Ausschnitt aus dem Feld der Gouvernementalität der Gegenwart im Bereich von Sozialkontrolle handelt, so ist das Forschungsprogramm der Gouvernementalität doch gleichwohl gut geeignet, den genannten Fragestellungen hinsichtlich der Rechtsanwendung durch die Instanzen nachzugehen. Damit ist die Frage angesprochen, welche Rolle das Recht bei Foucault und insbesondere seinen Arbeiten zur Gouvernementalität überhaupt spielt und in welchem Verhältnis es bei ihm zur Macht steht. Wenngleich Foucault in seinen Arbeiten vor allem den Strafprozess immer wieder in den Blick nimmt, so widmet er sich dabei dem Recht und seiner Anwendung jedoch eher als Nebensache und untersucht beides an keiner Stelle systematisch.102 Denn Recht und Gesetz gelten ihm vorwiegend als Bestandteil und Form souveräner Macht, einer historischen, nicht im Zentrum seiner Arbeiten stehenden Machtform. Diese souveräne Form der Macht steht den von Foucault analysierten Regierungstechniken diametral gegenüber, da sie von einem Zentrum ausgeht, binär funktioniert, Homogenität anstrebt und repressiv wirkt.103 Nachdem Foucault angesichts dessen in früheren Phasen zu einer Entwertung des Rechts neigte und das historisch-zeitliche Nacheinander der verschiedenen Machtformen betonte, geht er später im Zusammenhang mit der Ausdifferenzierung seiner Machtanalytik eher von einem Nebeneinander aus, auch wenn er den Fokus seiner Arbeit auf die Regierungstechniken legt.104 Dabei betont er, dass die unterschiedlichen Formen von Macht miteinander verbunden und verschränkt sind, sodass sich im Recht etwa auch Formen der Disziplin und der Regierung finden lassen.105 Insbesondere geht er davon aus, dass Regierungstechniken – als seiner Auffassung nach grundlegende Machtform – andere Formen von Macht durchdringen und kolonisieren. Danach stellt das Aufkommen von Disziplinierung und Regierungstechniken im Anschluss an die souveräne Macht zwar jeweils einen erheblichen Bruch dar. Dies bedeutet 101 Siehe dazu Valier 2001. – Dies ergibt sich für solche auf der Ebene der Programme bereits aus der Fragestellung selbst, gilt aber auch für Untersuchungen auf der Ebene der Praxen. 102 Siehe Bougen 2000, 78; Gehring 2000, 18 f. 103 Vgl. Biebricher 2006, 151 f.; Ewald 1990, 138 f. 104 Foucault 2000, 64; zu dieser Entwicklung Biebricher 2006, 144 ff., 159 f.; Bougen 2000, 77 f. 105 Siehe Hunt/Wickham 1994, 49 f.; zur diesbezüglichen rechtstheoretischen Diskussion Biebricher 2006, 146, 154 ff.

III. Zur Gouvernementalität der Rechtsanwendung

183

jedoch nicht, dass die anderen Machtformen verschwunden wären. Sie bestehen vielmehr nebeneinander weiter, wenngleich sich ihr Gewicht verschoben hat, sodass souveräne Macht und Bio-Macht als zwei Seiten derselben Sache angesehen werden können.106 Die verschiedenen Formen von Macht und Herrschaft beeinflussen107 und durchdringen sich demzufolge gegenseitig, sodass sich die Vorrangstellung der einen oder anderen in einem bestimmten Feld verändern kann.108 So kommt Herrschaftstechniken gerade in Bereichen wie dem der Kriminalisierung eine besondere Bedeutung zu, auch wenn Regierungstechniken das grundlegende Prinzip der Macht darstellen.109 Das Recht – und selbst das Strafrecht – sind damit nicht darauf zu reduzieren, im Zeitalter der Souveränität als Befehl des Königs zentrale Form der Machtausübung gewesen zu sein.110 Vielmehr ist es als Institut und als Handlungsform des Staates wie auch als Verkörperung jeweiliger gesellschaftlicher Wahrheit erhalten geblieben.111 Im Sinne der Machtanalytik der Forschungsperspektive der Gouvernementalität ist es daher auch heute auf der Ebene der Herrschaft von Bedeutung. Zwar hat das Recht einerseits – ebenso wie die souveräne Macht allgemein – seine alleinige, zentrale Funktion auf dem Feld der Macht verloren und sind die dargestellten anderen Formen der Macht in den Vordergrund getreten. Andererseits und im Zuge dessen haben sich die Ziele und Wirkungsweise des Rechts als Institut erheblich verändert.112 Denn mit der gegenseitigen Verschränkung und Durchdringung der verschiedenen Machtformen war das Recht nicht mehr alleine Handlungsform souveräner Macht, keine bloße Sammlung dichotomer Verbotssätze. Im Gegenteil hat es sich als Institut den Veränderungen angepasst, reorganisiert und auf diesem Wege seine Bedeutung erhalten bzw. wurde es umgekehrt von den Regierungstechniken kolonisiert, die ihm ihre spezifischen Wirkungsweisen und Ziele eingeschrieben haben.113 Der Staat selbst lässt sich vor diesem Hintergrund als ein mit vielen Apparaten ausgestattetes System beschreiben, auf das sich in gewisser Weise alle 106 In eine ähnliche Richtung weisen die Arbeiten Agambens, wenn er die Rolle des Rechts im Verhältnis zu Politik und Regierung untersucht, siehe Geulen 2005, 130 f.; Steinhauer 2006. 107 Siehe zur Differenzierung zwischen diesen verschiedenen Formen von Macht bei Foucault bereits oben II.1. 108 Brunnett/Gräfe 2003, 55. 109 Lemke 1997, 262, 304; siehe aus kriminologischer Perspektive auch Prömmel 2002, 254. 110 So Hunt/Wickham 1994, 62 f. 111 Dazu Ewald 1990, 158 f.; Fitzsimons 1999, 382. 112 Dazu Foucault 1983, 139; siehe auch Krasmann 2003, 91. 113 Dazu Beck 1996, 500 f.; Bougen 2000, 78; Foucault 2004, 21 ff.; Hunt/Wickham 1994, 54 f., 58.

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F. Macht und Kriminalisierung

Machtverhältnisse beziehen. Nicht weil sie aus ihm herrühren, sondern weil sie sich in seiner Form verkörpern, sich quasi verstaatlichen,114 wenn sich das Normalisierungs-Wissen der Diskurse mit juristischen Kategorien und der Form des Staates verbindet.115 Die differenzierte Analyse von Machtverhältnissen im Sinne der Gouvernementalität bedeutet somit nicht, den Staat und seine Rolle zu negieren. Vielmehr kann dieser als durchzogen von Regierungstechniken verstanden werden, sodass diese ihn einerseits prägen und andererseits aus ihm heraus und durch ihn wirksam werden. Das zeitgenössische Recht kann somit über den Aspekt einer zentralisierenden, zwingenden Macht hinaus als anpassungsfähige Handlungsform verstanden werden, derer sich Regierungstechniken als moderne Machtformen bedienen.116 Infolgedessen wirkt das Recht heute nicht mehr vorwiegend binär, homogenisierend und zwingend, sondern dient den Zielen und Wirkungsweisen der Regierung.117 Diese ist, wie dargestellt, nicht auf die zwingende Durchsetzung von Normen oder die disziplinierende Zurichtung auf solche angelegt, sondern strebt die Aktivierung der Individuen an. Dementsprechend liegt ihr ein veränderter Normbegriff zugrunde. Die souveräne Macht arbeitete zur repressiven Kontrolle eines Territoriums mit dem Gesetz als binärer Handlungsanweisung, die ohne mögliche Handlungsalternativen mit Zwang durchgesetzt wurde. Der Disziplinierung als administrativer Formung von Individuen liegt demgegenüber ein Normbegriff zugrunde, der ein Verhaltensideal bedeutet. Die Norm formuliert eine anzustrebende Verhaltensweise, an der sich der Einzelne ausrichten soll; sie ist daher bereits nicht mehr alleine auf Repression und negative, zwingende Wirkung ausgerichtet.118 Regierungstechniken im Sinne der Gouvernementalität schließlich streben auch keine Ausrichtung an einem Ideal mehr an. Sie nehmen die Bevölkerung bzw. bestimmte Gruppen in den Blick und arbeiten dabei mit dem empirisch Normalen, der vorgefundenen Realität und suchen diese möglichst effektiv zu regulieren.119 In dieser Perspektive sind Abweichung und Kriminalität normale Verhaltensweisen, die in einer gewissen statistischen Häufigkeit in einer Gesellschaft auftreten und mit denen ein Umgang gefunden werden muss, um sie in hinnehmbaren Grenzen zu halten.120 Denn das Bemühen um eine Verringerung der Deliktsrate auf Null wäre ab einer gewissen Grenze, unter der immer wei-

114 115 116 117 118 119 120

Foucault 1994a, 258 f.; 2000, 66. Vgl. Ewald 1990, 148 ff.; Garland 1992, 410; Turkel 1990, 172. Siehe Gehring 2000, 31 f.; Lemke 1997, 185 f. Siehe Foucault 2004a, 360 f. Siehe auch Lemke 1997, 189 f. Foucault 2004, 98 f.; Krasmann 2003, 78, 87; Link 1997, 16 f. Feeley/Simon 1992, 455; Foucault 2004, 17 ff.

III. Zur Gouvernementalität der Rechtsanwendung

185

tergehende Maßnahmen erforderlich wären, unverhältnismäßig teuer und daher unökonomisch.121 Die diesbezüglichen Ziele und Strategien der Regierungstechniken schlagen sich im Recht wie auch in dessen Anwendung durch die Instanzen nieder. Die einzelnen Regelungen und Gesetze werden nicht mit souveräner Macht zwingend exekutiert, sind nicht selbst der zentrale, allein stehende Machtmechanismus. Ebenso besteht ihr Sinn nicht vorwiegend in der disziplinierenden Durchsetzung eines Verhaltensideals. Die Reaktion auf Abweichungen hiervon und also auf Kriminalität ist eine andere: Es geht weniger um die bessernde, behandelnde Zurichtung im Hinblick auf eine soziale Norm, sondern um die möglichst effektive, ökonomische Verwaltung der erwartbaren und als normal verstandenen Abweichung.122 Das Recht als Technik und Handlungsform dient dabei dazu, die Verwaltung des empirisch Normalen zu organisieren. Es ist weniger moralischer Zeigefinger für die Allgemeinheit als technische Verhaltensanweisung für die Administration; es soll nicht formen, sondern instruieren. Denn normal ist nicht, was normativ festgelegt wurde, sondern normal ist, was die Allgemeinheit macht, was den Durchschnitt darstellt, was empirisch gegeben ist.123 Die Regierungstechniken bedienen sich also des Rechts zur Durchsetzung ihrer Strategien,124 wobei nicht mehr die zwangsweise Unterdrückung bzw. normierende Zurichtung, sondern eine möglichst effektive und daher differenzierende Erfassung und Bearbeitung im Vordergrund steht. Bezogen auf das Strafrecht im Besonderen, ist damit einerseits die Frage angesprochen, welche Bedeutung diesem gegenwärtig für Sicherheit und Normalisierung zukommt. Andererseits geht es darum, wie Techniken der Selbst- und Fremdführung – die dem Ansatz der Gouvernementalität zufolge eine Responsibilisierung jedes Einzelnen und damit auch der handelnden Subjekte im Kriminalisierungsprozess anstreben125 – bei der Rechtsanwendung durch die Instanzen formeller Sozialkontrolle wirken. Diesen Zusammenhängen soll im Folgenden nachgegangen werden, um sich so einer Klärung des Verhältnisses von Wissen, Macht, Subjekt und Staatsformierung bezüglich formeller Sozialkontrolle zu nähern. Dabei lassen sich dem Wechselverhältnis zwischen diskursivem Wissen und Praxis der Kriminalisierung entsprechend auch hier zwei Wirkungsrichtungen unterscheiden: Einerseits sind die Instanzen strafrechtlicher Sozialkontrolle an der Herstellung sozialer Wirklichkeit in Form diskursiven Wissens beteiligt, andererseits aber unterliegen sie auch deren leitender Wir121

Foucault 2004a, 354 f. Siehe O’Malley 1996, 189 f. 123 Siehe bereits Foucault 1983, 139 f. 124 Zum Verhältnis der verschiedenen Machtformen in diesem Zusammenhang O’Malley 1996, 192. 125 Dazu auch Link 1997, 430. 122

186

F. Macht und Kriminalisierung

kung. Die Rechtsanwendung passt sich also, wie im vorangegangenen Kapitel dargestellt, Veränderungen der interpretativen Wirklichkeit ebenso an, wie sie Veränderungen dieser Wirklichkeit hervorbringt. In diesem Feld von Wissen, Praktiken und Wahrheit gelangt die Macht über das Wissen in die Praktiken und wird umgekehrt durch die Praktiken Wissen (re)produziert, das seinerzeit Machtwirkung entfaltet. 2. Regierte Rechtsanwendung In der erstgenannten Wirkrichtung werden auf diesem Wege aufgrund diskursiven Wissens bestimmte Formen von Abweichung als Entität hergestellt. Mit dem Ansatz der Gouvernementalität lässt sich dies angesichts der damit erfolgenden Führung als ein Feld verstehen, das von Macht in Form von Regierungstechniken geprägt ist.126 Denn das anleitende diskursive Wissen ist nicht neutral, sondern Diskurse bestätigen, objektivieren und wandeln eine bestimmte, herrschende Sicht auf die Welt.127 Entsprechend wirken Diskurse bereits insofern machtvoll, als sie mögliche andere Perspektiven, Fragestellungen, Aussagen etc. ausschließen.128 Im Kern jedoch stellen sie eine produktive Form von Macht dar: Es ist ihr Wissen und die diesem zugrunde liegende Rationalität, die Kriminalität als gesellschaftliches Phänomen, als soziale Wirklichkeit hervorbringen und formen – insgesamt wie auch in ihren einzelnen, unterschiedlichen Formen. Die insofern konstitutiv wirkenden Diskurse prägen und leiten das Handeln der Subjekte, die sich an dieser Wahrheit ausrichten und ggf. an Veränderungen anpassen.129 Es handelt sich mithin um eine Form von Macht, die nicht dadurch wirksam wird, dass sich die Subjekte bei den Instanzen ihren Vorgaben beugen. Sie prägt vielmehr durch Wissen das Handeln der Einzelnen und schlägt sich in deren Praktiken nieder.130 Der Kriminalisierungsprozess und die dort wirksam werdenden Anwendungsregeln als Praktiken – wie sie in den vorangegangenen Kapiteln beschrieben wurden – stellen vor diesem Hintergrund ein Abbild von Kriminalisierungsdiskursen dar. Diskursives Wissen kann als Leitlinie der Kriminalisierung angesehen werden, die neben das Gesetz als formale Hülle tritt und diesem übergeordnet wirksam wird, indem es diese Hülle variierend und den jeweiligen Anforderungen entsprechend mit Inhalt füllt.131 An dieser Stelle der Rechtsanwendung auf der Grundlage diskursiv geprägter Anwendungsregeln werden Regierungs126

Vgl. Krasmann 2003b, 58. Vold/Bernard/Snipes 1998, 271 f. 128 Vgl. Jäger 1999, 130; Eisenberg 2005, § 40, Rn. 27 ff.: Einschränkung sozialer Wahrnehmung. 129 Siehe auch Gehring 2000, 30. 130 Vgl. Eisenberg 2005, § 40, Rn. 15. 131 Siehe dazu Foucault 2004a, 242 f. 127

III. Zur Gouvernementalität der Rechtsanwendung

187

techniken relevant. Fremd- und Selbstführung begegnen sich hier, indem die Festlegungen diskursiven Wissens die Mechanismen beeinflussen, mittels derer das Subjekt selbst auf sich einwirkt und seine Art und seinen Weg der Rechtsanwendung entwickelt. Auf diesem Weg werden Selbsttechniken in Herrschaftsstrukturen integriert,132 indem der Einzelne seine Art und Weise der Rechtsanwendung an den diskursiven Vorgaben ausrichtet: Durch das gültige Wissen über Kriminalität wird der Rechtsanwender dazu angeleitet, das Recht in einer bestimmten Art und Weise zu verstehen und die ihm überlassenen Spielräume in einer bestimmten Art und Weise auszufüllen. Die Rechtsanwendung stellt somit eine reflektierte Technik dar, die Regeln, Vorschriften und Methoden für bestimmte Praktiken bereithält,133 die dazu führen, dass ein bestimmtes Wissen mit Machtwirkung in die Praktiken der Kriminalisierung gelangt. Im Unterschied zu souveränen Techniken – beispielsweise in Form von Sanktionen wegen Verstößen gegen informelle Normen bei den Instanzen und daraus resultierenden Techniken der Selbstdisziplinierung – streben Regierungstechniken keine Konformität im Sinne der Unterdrückung bestimmter Verhaltensweisen und damit eines Abbildes von Verbotsnormen an. Vielmehr verbinden Selbstführungstechniken gewisse inhaltliche Vorgaben mit Freiräumen des Subjekts, innerhalb derer dieses sich an solchen Leitlinien orientieren und den Freiraum kreativ ausfüllen kann. Auf diesem Weg gelangen die Techniken zu einer produktiven Form der Führung, die wesentlich ökonomischer ist als eine unterdrückende Macht.134 Dass Regierungstechniken in dieser Art und Weise innerhalb eines Apparates verortet werden, der geradezu als Inbegriff souveräner Macht angesehen wird, stellt keinen Widerspruch dar. Vielmehr ist diese Verknüpfung von Recht und Regierung von besonderem Interesse. Foucault hat ausdrücklich darauf hingewiesen, dass Regierungstechniken sich in traditionellen Formen – wie etwa juridischen Strukturen – institutionalisieren und die Gestalt eines in sich geschlossenen Dispositivs einnehmen können.135 Ebenso beschränkt sich das Konzept der Gouvernementalität nicht auf die Gesellschaft als Ganzes, sondern können auch Kollektive, wie beispielsweise die Instanzen formeller Sozialkontrolle, als von Regierungstechniken durchzogen verstanden werden. Die Machtverhältnisse innerhalb der Instanzen formeller Sozialkontrolle haben sich demzufolge erheblich verändert: In früheren Zeiten wurde die Übereinstimmung der Rechtsanwendung mit den Interessen der Macht vor allem über Strukturen und die persönliche Auswahl der Rechtsanwender sichergestellt. War es zunächst der Souverän selbst, der Recht sprach, stellte im deutschen Kaiser132 133 134 135

Vgl. Lemke/Krasmann/Bröckling 2000, 29 f. Siehe Foucault 1992, 10. Siehe allgemein zu Freiheit und Führung in Organisationen Clegg 1998, 44 f. Foucault 1994a, 258.

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F. Macht und Kriminalisierung

reich vor allem eine strenge Auslese der Anwärter für den Justizdienst sicher, dass die Rechtsanwendung nicht in Widerspruch zu mächtigen Interessen trat.136 Eine solche unmittelbare inhaltliche Steuerung über die Personalauswahl aber entspricht weder demokratischen noch marktwirtschaftlichen Prinzipien, die eine leistungsorientierte Auswahl bei prinzipieller Chancengleichheit favorisieren. Angesichts dessen erfordert (auch) die Führung der Rechtsanwendung heute solche diskursbasierten Regierungstechniken. Die Bedeutung der damit beschriebenen Führungstechniken bei der Rechtsanwendung nimmt in Folge einer allgemein zu konstatierenden Tendenz der Responsibilisierung und Ökonomisierung, die sich als Leitlinien in das Verhalten der Einzelnen einschreiben, zu.137 Denn die damit in Verbindung stehende Veränderung moderner Subjektivierungsweisen macht auch vor den Subjekten nicht halt, die bei den Instanzen formeller Sozialkontrolle tätig sind. Als Leitbild dessen fungiert der „Unternehmer seiner selbst“, der darauf hinweist, dass jeder in allen Belangen für sich selbst verantwortlich ist und dabei zugleich besonders effektiv und ökonomisch handeln soll.138 Dies schlägt sich bei den Instanzen zum Beispiel in Form neuer Konzepte, Theorien und Modelle zugunsten eines effektiven Ressourceneinsatzes nieder139 und bedeutet eine Forcierung der Selbstführung der Subjekte im Sinne der Gouvernementalität. 140 Infolgedessen steigt auch die Relevanz wissensbasierter Anwendungsregeln bei der Rechtsanwendung, denn der einzelne Rechtsanwender ist nun in besonderem Maße selbst für eine möglichst ökonomische, das heißt angemessene und einheitliche Rechtsanwendung verantwortlich, die der interpretativen Wirklichkeit in ihrem Wandel gerecht wird. In diesem Sinne wird er beispielsweise dazu angeleitet, neue Formen von Kriminalität oder Begehungsformen zu „entdecken“ und in die bestehende Bearbeitung von Kriminalität sowie die institutionalisierte Rechtsanwendung zu integrieren, wie das Beispiel der Delikte mit extrem rechtem Hintergrund gezeigt hat.141 Zugleich kommt einem solchen Verständnis von den Instanzen der Kriminalisierung auch angesichts des Wandels sozialer Kontrolle eine besondere Bedeutung zu, der der eingeführten Vorstellung von der so genannten Bio-Macht entspricht. Soziale Kontrolle richtet sich danach nicht mehr auf den Einzelnen, sondern auf die statistisch berechenbare, zu schützende und produktiv zu fördernde Bevölkerung als Ganzes. Infolgedessen wandelt sich auch das Verständ-

136 137 138

Dazu Müller 1989, 16 ff. Siehe Rose 2000, 89 ff. Dazu Bührmann 2005, Abs. 3 ff.; Foucault 2004a, 300 ff.; Krasmann 1999,

112 f. 139 140 141

Siehe zur Polizei etwa O’Malley 1999, 139 ff. Vgl. auch Garland 1997, 189 f. Siehe oben E.IV.4.

III. Zur Gouvernementalität der Rechtsanwendung

189

nis von Abweichungen von der sozialen Norm und insbesondere von Kriminalität. Diese werden zunehmend als berechenbare gesellschaftliche Gegebenheit verstanden, mit der Sozialkontrolle einen Umgang finden muss. Abweichung wird nicht mehr vorwiegend als Verfehlung im Einzelfall angesehen, die es strafrechtlich zu bearbeiten gilt. Im Vordergrund steht vielmehr die statistisch erfasste Gesamtheit von Abweichungen und deren Entwicklungen, anhand welcher Probleme und bedrohliche Tendenzen für die Bevölkerung als Gesamtheit ermittelt und bearbeitet werden.142 Es geht um das Management von Bevölkerungen, weniger um Gerechtigkeit im Einzelfall143 oder gar um die Erreichung einer weitgehenden Konformität. Vielmehr kann eine Gesellschaft in dieser Perspektive mit einem gewissen Maß an Abweichung gut leben bzw. benötigt sie gar, erfüllt sie doch eine positive Funktion als Symbol ihrer Regulierungsfähigkeit und ihres optimalen, effektiven Funktionierens.144 Dies bringt ein verändertes Verständnis von Abweichung selbst und infolgedessen ein sich veränderndes Verständnis der Ziele und Strategien sozialer Kontrolle hervor.145 Kriminalität wird nicht mehr als Folge eines individuellen, zu behandelnden Defekts, sondern auf der Ebene des Individuums als Ergebnis einer rationalen Kosten-Nutzen-Abwägung verstanden. Dementsprechend besteht das Ziel von Kriminalisierung nicht in der Besserung des Delinquenten, sondern in der Verteuerung abweichenden Verhaltens bzw. der Unschädlichmachung in Form des Ausschlusses bei schweren Fällen oder erfassten Wiederholungstätern.146 Dieses lässt sich zum Beispiel am Funktionswandel der Freiheitsstrafe von der Resozialisierung zum Verwahrvollzug beobachten, ebenso wie an der „three strikes“-Gesetzgebung in den USA, die Wiederholungstätern massive, langfristige Freiheitsentziehungen androht. Parallel hierzu führt das Verständnis von Abweichung als empirisch normalem, statistisch berechenbarem Sachverhalt dazu, dass Sozialkontrolle vorverlagert wird. Denn wenn sich das Eintreten von Abweichung anhand von Risikofaktoren als mehr oder weniger wahrscheinlich kalkulieren lässt, ermöglicht dies eine Intervention im Vorfeld.147 Das betrifft einerseits das Strafrecht, welches zunehmend mit weicheren Merkmalen, Gefährdungstatbeständen und anderen Konstruktionen seinen Zugriff ins Vorfeld konkreter Rechtsgutsbeeinträchtigungen verlagert und zugleich mittels Maßnahmen der Strafverfolgungsvorsorge effektiver ermitteln und verfolgen will. Andererseits und vor allem aber stehen

142

Siehe auch Feeley/Simon 1992, 456 f. Garland 1997, 190; Krasmann 2000, 197 f. 144 Vgl. Foucault 2004a, 354 f. 145 Siehe bereits Cohen 1993, 217 ff.; Garland 1996 für den angloamerikanischen Raum. 146 Siehe Foucault 2004a, 349 ff.; O’Malley 1996, 197 f. 147 Vgl. Krasmann 2003, 108 ff. 143

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F. Macht und Kriminalisierung

sonstige Formen sozialer Kontrolle immer mehr im Zeichen von Prävention und Risikovorsorge.148 Statt bei konkreten Gefahren oder Rechtsgutsbeeinträchtigungen setzen einschlägige Maßnahmen bereits bei Umständen und Situationen an, die statistisch besehen als Risiko erhöhend qualifiziert werden. Der damit entstehende verwaltende Zugriff sozialer Kontrolle auf die Gesamtheit von (statistisch zu erwartenden) Abweichungen schlägt sich in der Praxis der Kriminalisierung in unterschiedlichen Formen nieder.149 Für die Masse strafrechtlich erfasster Abweichungen, die einen bestimmten Schweregrad nicht erreichen, bedeutet dies eine Bearbeitung durch die Exekutive.150 Die diesbezüglichen gesetzlichen Regelungen sind dabei deutlich weniger bestimmt als das herkömmliche Strafrecht und räumen den Rechtsanwendern umfangreichere Bewertungs- und Entscheidungsspielräume ein.151 So werden heute beispielsweise bereits mehr als die Hälfte aller eingeleiteten strafrechtlichen Ermittlungsverfahren durch die Staatsanwaltschaften erledigt. Dies betrifft nicht alleine solche Verfahren, die mangels Beweisen oder mangels ermitteltem Beschuldigten nicht zur Anklagereife gelangen, sondern zu einem erheblichen Teil auch anklagefähige Verfahren im Bagatellbereich. 152 Für diese liegt die Sanktionskompetenz heute zum Großteil bei den Staatsanwaltschaften und damit bei der Exekutive, deren administrative Bearbeitung nicht nur ein förmliches Verfahren entbehrlich macht und Rechte des Beschuldigten massiv beschränkt, sondern auch eine wesentlich effektivere Erledigung dieser Masse an Verfahren ermöglicht.153 Vergleichbares gilt für das schriftliche Strafbefehlsverfahren in Fällen schwerwiegenderer Vorwürfe, das zwar die Mitwirkung eines Richters verlangt, jedoch zugunsten der Verfahrensökonomie ebenso wesentliche Förmlichkeiten des Strafverfahrens außer Kraft setzt. Im Ergebnis gelangen heute lediglich zwölf Prozent aller eingeleiteten Strafverfahren zur Anklage und damit zu der ursprünglich als Regelfall vorgesehenen strafrechtlichen Hauptverhandlung.154 Selbst hier führen Absprachen in Form so genannter „Deals“ immer mehr zu einer verwaltenden, Ressourcen sparenden Erledigungspraxis, bei der die ökonomische Bearbeitung im Vordergrund steht. Das Recht als Institut stellt das Programm und den Maßstab für diesen verwaltenden Zugriff auf strafrechtlich relevantes Verhalten bereit. Es passt sich insofern den Veränderungen der Regierungstechniken an und ist somit im Hinblick auf eine möglichst effektive Regelung und Verwaltung von Abweichung 148

Siehe dazu allgemein Castel 1991. Zusammenfassend Krasmann 2003, 239 ff.; vgl. auch Foucault 2004a, 245 ff. 150 Albrecht 1990a, 7 ff.; zur „Verpolizeilichung“ des Strafverfahrens Puschke 2006, 168 ff.; Rzepka 1999. 151 Dazu Ludwig-Mayerhofer/Rzepka 1993, 135 ff. 152 Siehe nur Eisenberg 2005, § 27, Rn. 88 ff. 153 Siehe empirisch Albrecht 1990a. 154 Eisenberg 2005, § 27, Rn. 93 ff. 149

III. Zur Gouvernementalität der Rechtsanwendung

191

selbst als regiert anzusehen.155 Im Gegensatz zum Gesetz als Grundlage der historischen Macht der Souveränität, wie Foucault sie versteht, ermöglicht das heutige Strafrecht Differenzierungen und vielfältige Entscheidungen. Dieser Umstand sowie die Vorverlagerung der Eingriffsschwelle und die zunehmende Risikoorientierung (auch) strafrechtlicher Sozialkontrolle bringen deutlich größere Beurteilungsspielräume und auf der Rechtsfolgenseite breitere Ermessensspielräume mit sich.156 Dem Rechtsanwender wird dadurch eine erhebliche Freiheit bei der Normhandhabung eingeräumt. Solche Formen von Freiheit sind, wie beschrieben, konstitutiv für Regierungstechniken im Sinne der Gouvernementalität. Sie überlassen dem Einzelnen den Spielraum, anhand der Vorgaben der Rationalität selbständig, aktiv und eigenverantwortlich die bestmögliche Lösung für den konkreten Fall zu finden.157 Es handelt sich also um einen Raum von Freiheit, der in einer bestimmten Weise auszufüllen ist, oder wie Foucault es einmal formulierte: „Nicht dass die Richter den Anweisungen der Macht folgten, ist das Problem, sondern dass sie sich konform verhalten gegenüber dem, was die Macht verschweigt.“158 Nachdem diese Selbstführung als besonders produktive Form von Macht derartige Freiheiten voraussetzt, deutet die Ausweitung der genannten Spielräume auf eine gestiegene Bedeutung von Regierungstechniken in der Rechtsanwendung hin bzw. macht sie umgekehrt doch jedenfalls erforderlich. Entsprechend dem „Unternehmer seiner selbst“ wird das einzelne Subjekt bei den Instanzen dazu angehalten, die ihm zur Entscheidung vorgelegten Fälle möglichst effektiv abzuschließen und das Recht anhand des jeweiligen diskursiven Wissens entsprechend anzuwenden. Auf diesem Wege gelangen Veränderungen des gesellschaftlichen Wissens in die Rechtsanwendung, wie im vorstehenden fünften Kapitel anhand des Umgangs mit Delikten mit extrem rechtem Hintergrund beispielhaft veranschaulicht wurde. 3. Rechtsanwendung als Regierung Die Rechtsanwendung kann indes nicht nur als von Regierungstechniken geleitet angesehen werden. Ihr kommt vielmehr umgekehrt auch eine führende Wirkung zu, sodass sie selbst als Regierungstechnik im Sinne der Gouvernementalität anzusehen ist. Ebenso wie sich die Praxis der Kriminalisierung sowohl als diskursgeleitet wie auch als diskurs(re)produzierend beschreiben lässt, spielt auch Macht im Sinne der Gouvernementalität bei der Kriminalisierung eine zweifache Rolle. Die Subjekte bei den Instanzen werden nicht nur durch 155 156 157 158

Vgl. Hunt/Wickham 1994, 105. Siehe insgesamt auch Krasmann 2003a, 46 f. Vgl. Lemke/Krasmann/Bröckling 2000, 30. Foucault 2003b, 946.

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F. Macht und Kriminalisierung

die diskursiv vermittelte Wahrheit geführt. Sie produzieren auch von einer besonderen Sprecherposition aus diskursives Wissen, indem sie es anwenden, bestätigen und aktualisieren. Das insofern hervorgebrachte Wissen wirkt nicht alleine auf die Instanzen selbst zurück, sondern ist als Bestand gesellschaftlichen Wissens für die Herstellung sozialer Wirklichkeit allgemein von Einfluss, sodass die diskursive Reproduktion in konkreten Kriminalisierungsprozessen eine Machtwirkung auf der Ebene der Allgemeinheit entfaltet.159 Das durch die Instanzen produzierte Wissen führt damit nicht nur zu einer Stabilisierung und Bestätigung des Systems strafrechtlicher Sozialkontrolle. Es bestimmt auf einer konkreteren Ebene auch, welches Verhalten gesellschaftlich als normal oder abweichend angesehen wird.160 Denn es ist gerade der Kriminalisierungsprozess, der diese Kategorien konstituiert. Damit sind die Instanzen im Rahmen des Dispositivs an der Produktion der Kriminalitätswirklichkeit in Form von diskursivem Wissen selbst maßgeblich beteiligt,161 wie im fünften Kapitel anhand des Umgangs mit Delikten mit extrem rechtem Hintergrund beispielhaft gezeigt wurde. Die auf diesem Weg durch die Rechtsanwendung im Kriminalisierungsprozess vermittelte Machtwirkung lässt sich als Regierungstechnik verstehen. Das moderne Subjekt ist diesem Ansatz zufolge mit Freiräumen ausgestattet, die ihm ein verantwortliches, gestaltendes und aktives Handeln nicht nur ermöglichen, sondern ihn dazu auffordern. Gleichwohl ist es dabei, wie beschrieben, nicht frei von Einflüssen, sondern wird geleitet und geführt, auch wenn ihm darin stets Entscheidungsspielräume verbleiben. An dieser Stelle werden das im Wege der Rechtsanwendung produzierte Wissen und die diesem zugrunde liegende Rationalität wirksam, indem sie bei den einzelnen Individuen bestimmte Selbsttechniken hervorbringen und fördern.162 Das Wissen stellt ein Mittel der Führung dar, dessen Wahrheitswirkungen den Einzelnen dazu bringen, sich gemäß bestimmten Maximen verantwortlich zu fühlen und zu verhalten. Wie sich der „Unternehmer seiner selbst“ auf dem Arbeitsmarkt von sich aus den abstrakten Anforderungen unterwirft und anpasst, so verinnerlicht der Einzelne das jeweils gegenwärtige Bild einer Kriminalitätswirklichkeit und orientiert sich in seinem Verhalten an den damit implizit transportierten Notwendigkeiten. Dies bedeutet nicht, dass er sich automatisch und einem Schema entsprechend den Vorgaben unterwerfen würde; stattdessen handelt es sich um eine aktive, selbstständige, eigenverantwortliche Umsetzung dieser Notwendigkeiten, die jeder anders und den jeweiligen Situationen entsprechend vornehmen kann 159 160 161 162

Vgl. Bessant 2002, 133 f.; Walker/Boyeskie 2001, 107. Siehe auch Böhnisch 2001, 68. Siehe Opitz 2004, 49. Vgl. Lemke/Krasmann/Bröckling 2000, 29 f.

III. Zur Gouvernementalität der Rechtsanwendung

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und soll. Das diskursive Wissen über Normalität und Abweichung wirkt so für den Einzelnen in seinem Denken und Handeln prägend und leitend und macht ihn selbst zum Ort von Kontrolle,163 und zwar umso mehr, je stärker der Diskurs wirkt. Je besser ein Dispositiv seine Wahrheit objektivieren kann, umso mächtiger wirkt es und umso weniger Zwang, Recht und Überzeugung sind nötig. Der Zuschreibung im Kriminalisierungsprozess kommt somit nicht nur Machtwirkung zu, weil sie Strafe zur Folge haben kann, sondern auch, da diese diskursiven Praktiken unsere Blicke, Köpfe und damit auch unser Handeln leiten.164 Diese Machtwirkung, die von der Konstituierung gesellschaftlicher Wirklichkeit ausgeht, ist (auch) in diesem Zusammenhang nicht repressiv und ausschließend, selbst wenn es für die Kriminalisierung auf den ersten Blick so scheinen mag.165 Die zentralere Bedeutung kommt ihrer produktiven, schaffenden Seite zu. Durch die Arbeit des Dispositivs der Kriminalisierung, durch die Diskursivierung bestimmter Themenbereiche, durch die Reproduktion dieser Diskurse in Prozessen der Kriminalisierung – oder kurz gesagt: durch die Produktion von Wissen über bestimmte Dinge – wird nicht nur Kriminalität als gesellschaftliche Wirklichkeit, sondern auch Normalität hergestellt.166 Indem soziale Kontrolle Formen von Abweichung ausgrenzt, stellt sie zugleich dar, was der gesellschaftliche Durchschnitt, was normal ist. Sie zwingt damit den Einzelnen nicht zu einem bestimmten Verhalten, sondern belässt ihm die Entscheidung hierüber. Sie macht aber deutlich, was eine Abweichung vom empirisch Normalen darstellt und daher mit Komplikationen und ggf. mit Nachteilen verbunden ist. Die Freiheit, sich zu verhalten, wie man will, bedeutet insofern zugleich die eigene Verantwortung für die Entscheidung, sich entweder so zu verhalten, wie man soll, oder mit den entsprechenden Folgen zu leben. Dies betrifft zum Beispiel den mitwirkungspflichtigen Gefangenen im Strafvollzug, der dazu angehalten ist, an seiner eigenen Behandlung aktiv zu arbeiten.167 Er ist ebenso wie der „Unternehmer seiner selbst“ mit dem in Mode kommenden Konzept des „Forderns und Förderns“ konfrontiert, das das Ziel einer eigenverantwortlichen Umsetzung der durch eine andere Instanz aufgestellten Verhaltensanforderungen konkret formuliert.168 Den Maßstab, die Leitlinie hierfür bildet das Wissen, das der Einzelne über Normalität und Abweichung hat und das der Verbotsnorm ihre konkrete Gestalt dadurch verleiht, dass die Möglichkeiten ihrer Übertretung

163

Siehe Bublitz 1999, 35; Link 1997, 425 f.; Turkel 1990, 170. Quensel 2003, 32. 165 Vgl. Foucault 1983, 17 ff. 166 Hierzu allgemein Ewald 1990, 159 f. 167 Siehe dazu Eisenberg/Singelnstein 2007, 184 f. 168 Siehe Pieper/Guitiérez Rodríguez 2003a, 11: „die Untertanen haben sich das Handeln des Souveräns zueigen gemacht“. 164

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F. Macht und Kriminalisierung

positiv und möglichst differenziert dargestellt werden.169 Das Recht in seiner Anwendung ist in diesem Sinne Führungstechnik.170 Eine solche Vorstellung von der Wirkung von Kriminalisierung ist zwar nicht gänzlich neu. Cremer-Schäfer und Stehr beispielsweise haben im Rahmen ihrer Untersuchungen zum „Moralunternehmertum“ das Strafrecht als Moralisierungsmechanismus bezeichnet, das heißt als Struktur, die Normen und Werte vor einem Publikum darstellt, allgemeinverbindlich macht und durchsetzt. Die Strafinstanzen etablieren danach Begrifflichkeiten, Konzepte und Denkmuster, die wieder aufgegriffen und multipliziert werden können.171 Mittels der Definition bestimmter Ereignisse, Verhaltensweisen und Personen als kriminell wird zugleich deutlich, was in einem positiven Sinne gesellschaftliche Erwartung, was herrschende Moral ist. So werden dieser Vorstellung folgend täglich die normativen Bedingungen von Gesellschaft definiert, Normen sozial hervorgebracht, geklärt und so eine herrschende Moral konstituiert und dargestellt.172 Jedoch bestehen hier ganz zentrale Unterschiede zu Regierungstechniken im Sinne der Gouvernementalität. Diesen geht es nämlich nicht um die durch Appelle zu bewirkende Ausrichtung autonomer Subjekte an Normen oder an einer herrschenden Moral, sondern um die Führung des Einzelnen mit dem Ziel einer möglichst effektiven Regierung. Die Machtwirkungen des Kriminalisierungswissens beschränken sich indes nicht auf die damit beschriebenen Anreize zur Eigenverantwortung für normales Verhalten, sondern gehen erheblich darüber hinaus. Vor allem kommt der mit der Produktion von Abweichung entstehenden Unsicherheit aktivierende Wirkung zu, die sich in verschiedener Weise darin niederschlägt, wie der einzelne seine Freiheit zu handeln ausübt.173 Eine solche Freiheit des Einzelnen bedeutet zum einen, für sich selbst Sorge zu tragen. Das umfasst eben auch, sich vor Kriminalität zu schützen, sicherheitsbewusst und kriminalpräventiv zu handeln.174 Der Einzelne wird so durch das im Kriminalisierungsprozess hergestellte Wissen dazu angehalten, gegen die Abweichung anderer Vorsorgen zu treffen wie auch sich selbst aktiv an der Bekämpfung von Abweichung zu beteiligen – auch wenn diese ihn gar nicht selbst betrifft.175 Soziale Kontrolle wird auf diesem Weg vom Staat weg auf die Allgemeinheit übertragen, indem die Individuen responsibilisiert werden, sich an der ständigen Prävention und Verfolgung von Abweichung zu beteiligen.176 Der Einzelne ist damit sowohl selbst 169 170 171 172 173 174 175

Vgl. Gehring 2000, 20 f., 30. Siehe Foucault 2000, 54. Stehr 1993, 117, 130. Cremer-Schäfer 1993, 91 ff. Krasmann 2003, 262 f. Siehe Garland 1997, 190 m.w. N.; O’Malley 1996, 199 ff. Valverde 2003, 163 ff.

III. Zur Gouvernementalität der Rechtsanwendung

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aktiv gestaltend tätig, als auch geprägt durch das diskursive Wissen, auf dessen Grundlage er mit seinen alltäglichen Praktiken nicht-konformes Verhalten ausgrenzt und stigmatisiert.177 Wissen kann angesichts dessen nicht wie üblich alleine als Ressource betrachtet werden, sondern es bringt auch Verantwortlichkeiten mit sich.178 Zum anderen beschränkt sich die aktivierende Wirkung der hergestellten, permanenten Unsicherheit nicht auf den Bereich von Abweichung und Sozialkontrolle. Sie hat darüber hinaus einen allgemeinen mobilisierenden Effekt. Denn wo Verunsicherung herrscht, kann sich der Einzelne nur auf sich selbst und sein Handeln verlassen.179 Er wird daher durch Unsicherheiten zu möglichst umfassender und effektiver eigener Aktivität angeleitet, was sich als besonders ökonomische Selbstführung im Sinne von Regierungstechniken analysieren lässt. Unsicherheit stellt somit eine wichtige Voraussetzung für das effektive Wirken von Regierungstechniken dar. In diesem Zusammenhang kommt den bereits angesprochenen Dispositiven der Sicherheit Bedeutung zu, die einerseits der für die Regierung unabdingbaren Freiheit gegenübergestellt werden. Andererseits verleihen sie auch dem Aspekt der Sicherheit eine entsprechende gesellschaftliche Bedeutung und stellen so eine permanente Verunsicherung her.180 Denn eine solche Thematisierung kennt nur eine Freiheit, die ständig bedroht ist, und nur eine Sicherheit, die niemals vollständig erreicht werden kann.181 Dies spiegelt sich etwa auch im Strafzweck der so genannten „positiven Generalprävention“ wider, dessen Bedeutung in der deutschen strafrechtswissenschaftlichen Diskussion in den vergangenen Jahrzehnten stark zugenommen hat, und demzufolge Kriminalisierung der Erhaltung und Stärkung des Vertrauens der Allgemeinheit in die Rechtsordnung dient.182 Das Verständnis des Staates und auch des Strafrechts beschränkt sich vor diesem Hintergrund nicht mehr darauf, dass diese beiden Institutionen Ausdruck der Ebene der Herrschaft sind. Vielmehr muss der Staat (auch) von der Ebene der Gouvernementalität her verstanden werden.183 Der Staat und seine Macht sowie die Selbstführung der Einzelnen sind konstitutiv aufeinander bezogen; die Kraft des Staates ergibt sich gerade aus der Wirkung der vielfältigen Regie176

Krasmann 2003, 266 ff.; Garland 1996, 452 ff. Vgl. auch Böhnisch 2001, 100; O’Malley 1996, 203 f.; Stehr 1997, 54 f. 178 Siehe Valverde 2003, 167 ff., 191 zum Beispiel der Responsibilisierung von Gastronomieanbietern für einen maßvollen Alkoholkonsum ihrer Gäste mittels Lizenzvergaben: „the legal duty to know“. 179 Vgl. Krasmann 2003c, 97 f., die Normalisierung und Dämonisierung daher als zwei Effekte im Zusammenhang der Kriminalisierung nennt. 180 Zusammenfassend Lemke 1997, 183 ff. 181 Siehe Foucault 2004a, 100 ff. 182 Dazu Albrecht 2005, 56 ff. 183 Siehe Pieper/Guitiérez Rodríguez 2003a, 10 f. 177

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F. Macht und Kriminalisierung

rungstechniken bei den Subjekten. Der Staat ist daher „keine an sich autonome Quelle der Macht“, sondern kann als „beweglicher Zuschnitt einer ständigen Verstaatlichung“184 von Praktiken und Techniken beschrieben werden. Zwar ist das Gesetz als staatliche Handlungsform im Bereich der Kriminalisierung äußerlich und ursprünglich eine Technik der Souveränität. Bei deren Anwendung durch die Instanzen im Kriminalisierungsprozess werden aber, wie dargestellt, Regierungstechniken relevant. Wenn man so will, wird das Gesetz durch Techniken der Regierung kolonisiert bzw. verbindet sich mit diesem in verschiedenen Formen.185 Das betrifft einerseits die Anwendungsweise des Gesetzes, andererseits aber auch die Wirkung der Kriminalisierung auf die Einzelnen. Diese bleibt nicht bei ihrer repressiven Seite stehen. Vielmehr lässt sich Kriminalisierung als produktiver, gestaltender Akt begreifen. Sie ist nicht auf die dem Gesetz mitunter zugeschriebene starre, zirkulär auf Gehorsam gerichtete Form und Wirkung beschränkt,186 sondern von Regierungstechniken bestimmt, auch wenn sie in der Form des Gesetzes erscheint.

IV. Zusammenschau Die Rechtsanwendung bei der Kriminalisierung lässt sich als von Regierungstechniken im Sinne der Gouvernementalität durchzogen beschreiben. Fremdund Selbstführung begegnen sich und interagieren hier in zweifacher Weise: Ebenso wie sich im diskursiven Wissen eine bestimmte Interpretation machtvoll durchgesetzt hat, wirkt sie ihrerseits für den Einzelnen leitend und motivierend. Diese Verschränkung von Macht und Wissen im Rahmen des Dispositivs der Kriminalisierung bringt Kriminalität als Gegenstand und gültige Wahrheit hervor. Grundlage dessen ist die gegenwärtige Rationalität der Kriminalisierung, die als spezifische Denkweise Wahrnehmung und Handeln der Instanzen wie auch jedes Einzelnen strukturiert und prägt.187 Die dabei wirksam werdenden Wissensformen sind ebenso wie die Techniken nicht objektiv, sondern selbst Element der Regierung und so in das Feld der Machtverhältnisse einzuordnen.188 Demnach haben Diskurse nicht nur eine Machtwirkung, indem sie eine bestimmte Wahrheit produzieren, die für den Einzelnen leitend wird. Sie geben auch Auskunft über Machtverhältnisse, da es nicht zufällig ist, welche Sichtweise sich im Diskurs als Wahrheit durchsetzt. Dies wird vielmehr durch ein Geflecht aus Kräfteverhältnissen, Machtbeziehungen und Wissen reguliert, das die Möglichkeiten absteckt und Wahrscheinlichkeiten produziert.189 Dement184 185 186 187 188 189

Foucault 2000a, 69. Siehe auch Turkel 1990, 170 sowie Lemke 1997, 76 f. Vgl. Brunnett/Gräfe 2003, 58. So Foucault 2005a, 197 f. Vgl. Lemke/Krasmann/Bröckling 2000, 20 f. Krasmann 2003b, 56 ff.

IV. Zusammenschau

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sprechend haben einige Subjekte und Gruppen mehr Einfluss auf die Selbstführung in einem bestimmten Bereich als andere. Einen nicht nur nebensächlichen Aspekt in diesem Geflecht stellen die Instanzen und das durch sie hergestellte Wissen dar. Denn sie operieren von einer besonderen Sprecherposition aus und ihren Äußerungen kommt ein besonderes Gewicht zu. Dem Ansatz der Gouvernementalität zufolge lässt sich die Rechtsanwendung im Kriminalisierungsprozess damit weniger als institutionalisierte Herrschaft eines legitimierten Gesetzgebers beschreiben. Wesentlicher ist die in der Rechtsanwendung liegende als auch wirkende Macht bei den Instanzen und neben dem Gesetz. Diese Betrachtung eröffnet eine innovative Perspektive nicht alleine auf die Prozesse der Rechtsanwendung, sondern auch für das Verständnis von Regierungs- als Machttechniken. Denn Regierungstechniken agieren hier verschränkt mit der souveränen Form des Rechts. Sie durchdringen es, auch wenn der Glaube an die Möglichkeit, die Exekutive an das Gesetz zu binden, dies verdeckt.190 Es geht also darum, die verschiedenen Ebenen der Macht in ihrer Verschränkung zu begreifen und zu verstehen, wie Repression und produktive Macht ineinander greifen.191 Foucaults Charakterisierung dieses Verhältnisses zufolge geht es nicht mehr darum, „den Menschen ein Gesetz aufzuerlegen; es geht darum, über die Dinge zu verfügen, das heißt vielmehr Taktiken statt Gesetzen oder äußerstenfalls Gesetze als Taktiken einzusetzen und dafür zu sorgen, dass mit einer bestimmten Anzahl von Mitteln dieser oder jener Zweck erreicht werden kann“.192 Das bedeutet keine Geringschätzung der Herrschaft oder gar ihr Verschwinden, auch wenn die juridische, souveräne Macht des Gesetzes als bestimmende Machttechnik durch die dargestellten Machtformen verdrängt wurde.193 Das Gesetz stellt jedoch nicht mehr die bedeutendste, nicht die entscheidende Ebene der Macht dar. Vielmehr wird diese Form überlagert und ebenso wie Regierungstechniken genutzt für Zwecke, die sich auf einer anderen Ebene bilden.194 Kriminalisierung stellt somit kein sich aus dem Staat ergebendes Bündel von Handlungsweisen dar, sondern es handelt sich vielmehr umgekehrt um eine Materialisierung, eine Verstaatlichung bestimmter Praktiken im Sinne der Gouvernementalität.195 Vor diesem Hintergrund kann das Recht in seiner Anwendung nicht als institutionalisierte Macht eines abstrakten Staates verstanden werden. 190

Vgl. Opitz 2004, 30, 32: „Überspringen des Gesetzes“. Siehe Brunnett/Gräfe 2003, 58 f. 192 Foucault 2000, 54. 193 Siehe Krasmann 1999, 109; Foucault 1983, 101 f. 194 Siehe Foucault 2000, 62 f. sowie bereits Foucault 1983, 8, 19, 93, 101 f.: „Ich habe mich nur gefragt, ob man zur Entschlüsselung der Beziehungen zwischen der Macht, dem Wissen und dem Sex die gesamte Analyse am Begriff der Repression orientieren müsse.“ 195 Siehe Foucault 2000a, 69. 191

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F. Macht und Kriminalisierung

Vielmehr ist es als von Subjekten getragenes Element selbst durchdrungen von Techniken des Regierens. Der Staat stellt sich daher als der „bewegliche Zuschnitt einer ständigen Verstaatlichung“, als der „bewegliche Effekt eines Regimes vielfältiger Gouvernementalität“ 196 dar.197 Zusammenfassend besehen wird die strategische Bedeutung des Staates damit nicht geleugnet, sondern vielmehr in ihrer Verschränkung mit und ihrer Durchdrungenheit von Regierungstechniken gesehen.198

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Foucault 2000a, 69 f. Vgl. Lemke/Krasmann/Bröckling 2000, 27. Lemke 1997, 151 f.; Opitz 2004, 23; Palmer/Pearce 1983, 377 f.

G. Zusammenfassung und Bewertung Die vorliegende Arbeit trägt den Forschungsstand zu Rolle und Wirken außergesetzlicher Anwendungsregeln bei der Rechtsanwendung im Kriminalisierungsprozess zusammen, um hierauf aufbauend eine an den „practical turn“ der Sozialwissenschaften anknüpfende, wissenssoziologisch orientierte Diskursanalyse als Perspektive innerhalb des gesellschaftskritischen Paradigmas der Kriminologie zu konzipieren. Damit eröffnet sie zum einen eine innovative Perspektive auf die Prozesse der Strafrechtsanwendung durch die Instanzen im Kriminalisierungsprozess. Zum anderen vermag die Anwendung des Forschungsprogramms der sozialwissenschaftlichen Diskursanalyse im Rahmen der Kriminologie auf übergeordneter Ebene neue Antworten darauf zu geben, wie Kriminalität als soziale Wirklichkeit gesellschaftlich konstituiert wird. Wie im zweiten und dritten Kapitel gezeigt wurde, dominiert im gesellschaftskritischen kriminologischen Paradigma eine Perspektive, die das Gesetz als relevanten Faktor bei der Rechtsanwendung ansieht. Daneben bzw. dadurch bestehen dieser Sichtweise zufolge jedoch ausfüllungsbedürftige Wertungs- und Entscheidungsspielräume, die in den konkreten Akten der Rechtsanwendung mit Hilfe außergesetzlicher Anwendungsregeln gefüllt werden. Diese Spielräume bei der Sachverhaltsfeststellung wie auch der Normhandhabung sind durchaus umfangreich. Andererseits können außergesetzliche Regeln die bestehenden gesetzlichen Regelungen überlagern, sodass diesem so genannten „second code“ eine erhebliche Bedeutung für die Rechtsanwendung und damit für Entscheidungen im Kriminalisierungsprozess sowie daraus folgend für die Kriminalitätswirklichkeit zukommt. Die Untersuchung dieses Codes kann für die kriminologische Grundfrage der Entstehung von Kriminalität daher als mindestens ebenso interessant angesehen werden, wie die Untersuchung des geltenden Rechts. Diese Perspektive konnte im vierten und fünften Kapitel durch die Heranziehung des Forschungsprogramms der Diskursanalyse zur Untersuchung von Akten der Rechtsanwendung im Kriminalisierungsprozess und damit eines neueren Ansatzes innerhalb des interpretativen Paradigmas der Sozialwissenschaften konsequent fortentwickelt und fundiert werden. Danach bilden Diskurse als Bestände basalen, überindividuellen gesellschaftlichen Wissens die Grundlage für das Denken und Handeln der Subjekte, die aufgrund dieser Sichtweise und Interpretation der Welt in ihren Praktiken soziale Wirklichkeit hervorbringen. Damit wird die herkömmliche Vorstellung, dass wir auf der Basis einer objektiv bestehenden, materiellen Wirklichkeit durch Erfahrung und Forschung kontinu-

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ierlich Wissen anhäufen und fortentwickeln, quasi umgekehrt. Es ist demzufolge nämlich das etablierte Wissen über die Welt, das die Konstituierung sozialer Wirklichkeit in und durch die Praktiken der Subjekte bestimmt. Diese wenden das basale diskursive Wissen als Tiefenstruktur in ihren Praktiken an und produzieren damit an der Oberfläche soziale Wirklichkeit, die ihrerseits wiederum kreislaufartig das Wissen der Diskurse reproduziert, bestätigt und die Subjekte prägt. Das diskursive Wissen geht sozialer Wirklichkeit mithin voraus und bestimmt diese. Das gilt auch für Kriminalität, ihre Kategorien, Täter und Opfer sowie die Strategien und Formen ihrer Bearbeitung durch die Gesellschaft, die in dieser Perspektive ebenso durch diskursive Praktiken aufgrund von überindividuellen Wissensbeständen als soziale Wirklichkeit erst hervorgebracht werden. Dabei kommt nicht alleine oder vorrangig den Kriminalisierten Bedeutung zu, die aufgrund diskursiven Wissens in ihren Praktiken bestimmte Formen von Kriminalität hervorbringen. Vielmehr haben auch die hier im Fokus befindlichen Instanzen der Strafverfolgung mit ihrer Tätigkeit im Rahmen von Kriminalisierungsprozessen eine herausgehobene Stellung, da sie in diesen Praktiken von einer besonderen Sprecherposition aus alltäglich und massenhaft das entsprechende diskursive Wissen an der Oberfläche umsetzen und reproduzieren. Das Gesetz stellt in dieser Perspektive keinen festen Gegenpol dar, keinen dominanten begrenzenden Faktor, der einer solchen Leitung der Instanzen durch das diskursive Wissen entgegenstünde. Es kann stattdessen selbst als materialisierte Form von Wissen über Kriminalität angesehen werden, das durch den Gesetzgeber zu einem bestimmten Zeitpunkt institutionalisiert worden ist, und dessen Verständnis sich im Laufe der Zeit wandelt, wenn sich das entsprechende diskursive Wissen über Kriminalität verändert. Diese verschiedenen Ebenen und Arten von Wissen – die diskursive Tiefenstruktur in Form basalen Wissens, das Wissen der Instanzen über Kriminalität einerseits und über das Recht andererseits sowie das Gesetz selbst als materialisiertes Wissen – bilden zusammen die Grundlage für Deutungsmuster und außergesetzliche Anwendungsregeln, die – wie im fünften Kapitel herausgearbeitet – die Rechtsanwendung leiten. Diese Deutungsmuster und Anwendungsregeln entstehen nicht nur durch die verschiedenen Formen und Arten von Wissen. Sie bringen diese umgekehrt in Übereinstimmung und setzen sie in Praktiken um, in denen das Wissen reproduziert, etabliert und transformiert wird. Damit können diskursbasierte Deutungsmuster und Anwendungsregeln, die die prinzipiell bestehende Kontingenz in Kriminalisierungsprozessen kulturell begrenzen, als Maßstab dafür gelten, wie die Instanzen Kriminalität als soziale Wirklichkeit gesellschaftlich konstituieren. Ihrer Untersuchung kommt daher eine ganz besondere Bedeutung für die Frage zu, wie Kriminalität gesellschaftlich hergestellt wird.

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Dieser Ansatz, außergesetzliche Anwendungsregeln als Form diskursiver Praktiken innerhalb einer diskursanalytischen Perspektive auf die Rechtsanwendung im Kriminalisierungsprozess zu konzipieren, ermöglicht einerseits ein genaueres Verständnis der Rolle und der Praktiken der Instanzen der Strafverfolgung im Kriminalisierungsprozess. Andererseits hat die Anwendung der sozialwissenschaftlichen Diskursanalyse auf kriminologische Fragestellungen gezeigt, wie diese Forschungsperspektive für die Kriminologie fruchtbar gemacht werden kann. Im Gegensatz zum bisherigen Verständnis von Wissen in Kriminalisierungsprozessen ist dabei vor allem die konstitutive Bedeutung überindividueller, struktureller Wissensordnungen innovativ. Es geht nicht mehr (alleine) um das kleinteilige, subjektiv geprägte Alltags- und Erfahrungswissen der Einzelnen, das sich in konkreten Regeln niederschlägt. Im Zentrum der Betrachtung steht vielmehr das basale gesellschaftliche Wissen, das die inhaltliche Grundlage für Denken und Handeln auch im Kriminalisierungsprozess bildet. Entsprechend dem Vorgehen der Diskursanalyse in zwei Schritten – Dekonstruktion bestehender Evidenzen und Freilegen der Prozesse, die diese Evidenzen aufgebracht und etabliert haben – hat der hier herausgearbeitete Ansatz zum einen im vierten und fünften Kapitel gezeigt, dass Kriminalität kein bestehendes soziales Phänomen ist, sondern erst in sozialen Interaktionsprozessen auf der Basis von gesellschaftlichen Wissensbeständen konstituiert wird. Zum anderen wurde im fünften und sechsten Kapitel untersucht, wie diese Prozesse konkret gestaltet sind und Kriminalität als Evidenz hervorbringen. Demzufolge richtet sich die Rechtsanwendung durch die Instanzen der Strafverfolgung weniger nach dem Gesetz als einem feststehenden Faktor, sondern basiert auf dem leitend wirkenden Wissen der Subjekte und ihren Praktiken. Damit stehen den Subjekten bei den Instanzen einerseits nicht unerhebliche Freiheiten in Form von Entscheidungs- und Wertungsspielräumen zu, denn das Gesetz begrenzt die Rechtsanwendung nicht derart wie es scheint. Andererseits ist diese Freiheit nicht beliebig ausübbar, denn bei der Rechtsanwendung werden die Instanzen von ihrem Wissen geleitet, das auf diesem Wege die bestehenden Spielräume, die bestehende Kontingenz begrenzt, indem es sich als Tiefenstruktur in entsprechenden Anwendungsregeln niederschlägt. Rechtsanwendung in der Kriminalisierung lässt sich daher als diskursive Praxis beschreiben, die mittels Deutungsmustern und Anwendungsregeln diese diskursive Tiefenstruktur reproduziert, umsetzt und transformiert und so Kriminalität insgesamt und in ihren verschiedenen Formen als soziale Wirklichkeit konstituiert. Damit negiert diese Perspektive weder soziale Wirklichkeit, noch erklärt sie diese für beliebig, wie relativistische oder vergleichbare konstruktivistische Ansätze dies tun. Sie geht vielmehr nur davon aus, dass soziale Wirklichkeit nicht objektiv feststehend ist, sondern auf gesellschaftlichem Wissen basiert und durch dieses erst hervorgebracht wird. Dieses geschieht damit eben gerade nicht beliebig, sondern ist abhängig von den bestehenden Wissensbeständen, die sich

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im Diskurs durchsetzen konnten. Damit sucht dieser Ansatz nicht nach anderen, verdeckten Kausalzusammenhängen zur Erklärung von Kriminalität, nach der „richtigen“ Wahrheit. Stattdessen beschreibt diese nominalistische Perspektive, dass und wie sich eine bestimmte Wahrheit gesellschaftlich durchsetzen konnte. Vor diesem Hintergrund kommt Diskursen mit ihrem Wissen eine erhebliche Machtwirkung zu, die sich – wie im sechsten Kapitel gezeigt – mit dem machtanalytischen Ansatz der Gouvernementalität erfassen lässt. Denn es ist das diskursive Wissen, das die Subjekte in ihren Praktiken und ihrem Selbstverständnis führt und so die Konstituierung sozialer Wirklichkeit leitet. Im Hinblick auf die Rechtsanwendung im Kriminalisierungsprozess bedeutet das eine zweifache Machtwirkung. Zum einen werden die Instanzen selbst durch das diskursive Wissen geleitet; zum anderen reproduzieren, transformieren und etablieren sie auf diesem Wege die Kriminalitätswirklichkeit mit entsprechender Machtwirkung für die Gesellschaft insgesamt. Dabei handelt es sich um eine produktive, nicht ausschließende, unterdrückende Form von Macht, die den Einzelnen in seinem Handeln anleitet und zu Aktivitäten im Sinne der überindividuellen Ziele des Diskurses anregt. In diesem Sinne führt die diskursive Konstituierung und dramatisierende Problematisierung von Kriminalität allgemein und in ihren verschiedenen Erscheinungsformen – wie etwa bei Delikten mit extrem rechtem Hintergrund – zu einer Aktivierung sowohl der Instanzen als auch der Allgemeinheit. Während erstere dazu angehalten werden, möglichst effektive rechtliche Möglichkeiten für einen Umgang mit den aktuell problematisierten Formen von Kriminalität zu finden und insofern besonders aktiv zu werden, wird die Allgemeinheit angeregt, sich selbst möglichst umfassend und aktiv an der Bearbeitung entsprechender Geschehensabläufe zu beteiligen. Dieses Konzept der Gouvernementalität der Rechtsanwendung, das Macht in der Rechtsanwendung verortet und zwischen verschiedenen Formen von Macht und Herrschaft unterscheidet, leistet somit einen Beitrag für ein differenziertes Machtmodell im gesellschaftskritischen Paradigma der Kriminologie. Der in dieser Untersuchung erarbeitete Ansatz einer diskursanalytischen und gouvernementalen Perspektive auf die Rechtsanwendung im Kriminalisierungsprozess ist in verschiedener Weise und in unterschiedlichen Bereichen von Relevanz. Aus sozialwissenschaftlicher und diskursanalytischer Sicht ist er von Interesse, da er mit dem Konzept der Deutungsmuster und Anwendungsregeln insbesondere die diskursiven Praktiken der Instanzen und so die Umsetzung des Diskurses an der Oberfläche in den Blick nimmt und dies mit der Form des Rechts und seiner Anwendung verbindet, welche ansonsten meist vereinfachend dem Bereich der Herrschaft zugerechnet werden. Aus kriminologischer Sicht kann der Ansatz sozialen Wandel im Rahmen der Kriminalisierung auf der Ebene der Transformation gesellschaftlicher Wissensbestände erklären und analysieren. Dabei ist er deshalb von besonderem Inte-

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resse, weil die Bedeutung der Instanzen der Strafverfolgung und ihrer Rechtsanwendung zunimmt, sodass die Interaktion zwischen Gesellschaft und Justiz an Relevanz gewinnt. Dies gilt nicht alleine deswegen, weil die Dichte formeller Sozialkontrolle in den vergangenen Jahrzehnten zugenommen hat.1 Vielmehr ist auch die Grenze zwischen normal und abweichend immer weniger fest und wird diffuser, was sich in den diesbezüglichen gesetzlichen Regelungen niederschlägt. Zum einen lässt sich eine zunehmende Schaffung von weicheren Normen und Gefährdungstatbeständen beobachten, die mehr Spielräume belassen; zum anderen findet parallel dazu eine Entformalisierung von Verfahrensabläufen statt.2 Angesichts dessen nehmen die leitende Wirkung des Verfahrens und des Gesetzes als institutionalisiertem Wissen ab, sodass die Praktiken der Recht anwendenden Subjekte der Exekutive und Judikative wichtiger werden, die ihre verbreiterten Spielräume unter Leitung des diskursiven Wissens ausfüllen. Das gilt in besonderem Maße für die strafrechtliche Sozialkontrolle, die vor diesem Hintergrund als selbstreferenziell oder gar autopoietisch beschrieben wird3. Darüber hinaus kann der hier entworfene diskursanalytische Ansatz im Prinzip auf jedes andere gesetzlich vorstrukturierte Handeln durch Subjekte übertragen werden, sodass er grundsätzlich geeignet ist, auch für andere Gebiete der Rechtsanwendung eine vergleichbare Perspektive anzuregen.

1 Vgl. für das letzte Drittel des 20. Jahrhunderts bereits Cohen 1993, 218; Baratta 1993, 401 f. 2 Siehe auch schon oben C.I.4. sowie Kreissl 1996, 38; Quensel 2003, 27. 3 Siehe Baratta 1993, 413, 415; Frehsee 2003, 366; Kaiser 2005, 1365 m.w. N.

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