Discere et militare: Studien zu Antike, Militär und Universität. Festschrift für Burkhard Meißner zum 60. Geburtstag 3447120487, 9783447120487

Mit dieser Festschrift soll der Althistoriker und Strategiewissenschaftler Burkhard Meißner gewürdigt werden. Die inhalt

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Discere et militare: Studien zu Antike, Militär und Universität. Festschrift für Burkhard Meißner zum 60. Geburtstag
 3447120487, 9783447120487

Table of contents :
Cover
Titelseiten
Inhalt
Vorwort
Tabula Gratulatoria
Andreas Mehl: Burkhard Meißners Jahre als Mitarbeiter von Andreas Mehl (1989–2004)
Stefan Bayer: Professor Dr. Burkhard Meißner: Strategische Wirkungen eines Althistorikers
Eran Almagor: Lucian’s Anacharsis: an Exercise in Greek Culture
Andreas Gerstacker: Die Lex de Imperio Vespasiani und die Nutzung von Quellen im althistorischen Proseminar
Marie-Linda Günther: Verlorene Schlacht – verlorene Heimat: Herodots Sicht auf Migrationsoptionen
Stefanie Holder: Stefan Georges Kunstsprache in Ursprünge, Verse 38–9, und seine Auseinandersetzung mit Friedrich Nietzsche
Michael Jonas: Von Liddell Hart und Howard zu Strachan (mit Clausewitz im Gepäck): Disziplingeschichtliche Anmerkungen zur britischen Beschäftigung mit Krieg und Strategie
Andrea Jördens: Die Truppe als Ersatzfamilie: Claudius Terentianus und seine Väter
Maxim M. Kholod: Delius of Plutarch and Dias of Flavius Philostratus: on the Political Activities of Platonists in the Fourth Century BC
Oleg Klimov: Between the Academy and Lyceum: the Attalids of Pergamon and the Athenian Schools of Philosophy
Clemens Koehn: Soldaten sind Mörder: Zur Vorstellung vom Töten im Krieg als Morden in der heidnischen Antike
Angela Pabst: Wasserwesen –Der antike Mensch und die Bewohner des nassen Elements
Tassilo Schmitt: König Pharasmanes I. als Bumberazi (ბუმბერაზი) bei Tacitus:Erwägungen zu kaukasisch-iberischer Heldenepik, Kulturtransfer, senatorischer Selbstdarstellung und römischer Historiographie
Stephan Selzer: Die Anfänge der Universitäten in Europa: Vom Nutzen einer Institution zwischen Mittelalter und Moderne
Bernd Wegner: Weise für immer? Vom Lernen aus der Geschichte und seinen Fallstricken*
Michael Zerjadtke: Counterinsurgency im ersten Jahrhundert und in der Moderne: Nichtmilitärische Strategien der Aufstandsbekämpfung im transepochalen Vergleich
Schriftenverzeichnis Burkhard Meißners
Autoreninformationen

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Discere et militare Studien zu Antike, Militär und Universität, Festschrift für Burkhard Meißner zum 60. Geburtstag Herausgegeben von Andreas Gerstacker, Stefanie Holder und Michael Zerjadtke

PHILIPPIKA

Altertumswissenschaftliche Abhandlungen Contributions to the Study of Ancient World Cultures 172

Harrassowitz Verlag

© 2023, Otto Harrassowitz GmbH & Co. KG, Wiesbaden ISBN Print: 978-3-447-12048-7 - ISBN E-Book: 978-3-447-39437-6

P H I L I P P I K A

Altertumswissenschaftliche Abhandlungen Contributions to the Study of Ancient World Cultures

Herausgegeben von /Edited by Joachim Hengstl, Elizabeth Irwin, Andrea Jördens, Torsten Mattern, Robert Rollinger, Kai Ruffing, Orell Witthuhn 172

2023

Harrassowitz Verlag . Wiesbaden

© 2023, Otto Harrassowitz GmbH & Co. KG, Wiesbaden ISBN Print: 978-3-447-12048-7 - ISBN E-Book: 978-3-447-39437-6

Discere et militare Studien zu Antike, Militär und Universität. Festschrift für Burkhard Meißner zum 60. Geburtstag Herausgegeben von Andreas Gerstacker, Stefanie Holder und Michael Zerjadtke

2023

Harrassowitz Verlag . Wiesbaden

© 2023, Otto Harrassowitz GmbH & Co. KG, Wiesbaden ISBN Print: 978-3-447-12048-7 - ISBN E-Book: 978-3-447-39437-6

Bis Band 60: Philippika. Marburger altertumskundliche Abhandlungen.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über https://dnb.de/ abrufbar. Bibliographic information published by the Deutsche Nationalbibliothek The Deutsche Nationalbibliothek lists this publication in the Deutsche Nationalbibliografie; detailed bibliographic data are available on the internet at https://dnb.de/.

Informationen zum Verlagsprogramm finden Sie unter https://www.harrassowitz-verlag.de/ © Otto Harrassowitz GmbH & Co. KG, Wiesbaden 2023 Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen jeder Art, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Einspeicherung in elektronische Systeme. Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier. Druck und Verarbeitung: Memminger MedienCentrum AG Printed in Germany ISSN 1613-5628 eISSN 2701-8091 ISBN 978-3-447-12048-7 eISBN 978-3-447-39437-6

© 2023, Otto Harrassowitz GmbH & Co. KG, Wiesbaden ISBN Print: 978-3-447-12048-7 - ISBN E-Book: 978-3-447-39437-6

Inhalt

Vorwort. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . VII Tabula Gratulatoria. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . IX Andreas Mehl Burkhard Meißners Jahre als Mitarbeiter von Andreas Mehl (1989–2004). . . . . .

1

Stefan Bayer Professor Dr. Burkhard Meißner: Strategische Wirkungen eines Althistorikers . .

5

Eran Almagor Lucian’s Anacharsis: an Exercise in Greek Culture . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

13

Andreas Gerstacker Die Lex de Imperio Vespasiani und die Nutzung von Quellen im althistorischen Proseminar . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

33

Linda-Marie Günther Verlorene Schlacht – verlorene Heimat: Herodots Sicht auf Migrationsoptionen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

65

Stefanie Holder Stefan Georges Kunstsprache in Ursprünge, Verse 38–9, und seine Auseinandersetzung mit Friedrich Nietzsche . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

79

Michael Jonas Von Liddell Hart und Howard zu Strachan (mit Clausewitz im Gepäck): Disziplingeschichtliche Anmerkungen zur britischen Beschäftigung mit Krieg und Strategie. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Andrea Jördens Die Truppe als Ersatzfamilie: Claudius Terentianus und seine Väter. . . . . . . . . . .

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VI

Inhalt

Maxim M. Kholod Delius of Plutarch and Dias of Flavius Philostratus: on the Political Activities of Platonists in the Fourth Century BC. . . . . . . . . . . . .

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Oleg Klimov Between the Academy and Lyceum: the Attalids of Pergamon and the Athenian Schools of Philosophy . . . . . . . . . . . .

171

Clemens Koehn Soldaten sind Mörder: Zur Vorstellung vom Töten im Krieg als Morden in der heidnischen Antike. . . .

183

Angela Pabst Wasserwesen – Der antike Mensch und die Bewohner des nassen Elements. . . . .

199

Tassilo Schmitt König Pharasmanes I. als Bumberazi (ბუმბერაზი) bei Tacitus: Erwägungen zu kaukasisch-iberischer Heldenepik, Kulturtransfer, senatorischer Selbstdarstellung und römischer Historiographie . . . . . . . . . . . . . . .

225

Stephan Selzer Die Anfänge der Universitäten in Europa: Vom Nutzen einer Institution zwischen Mittelalter und Moderne. . . . . . . . . . . . .

269

Bernd Wegner Weise für immer? Vom Lernen aus der Geschichte und seinen Fallstricken. . . . . .

287

Michael Zerjadtke Counterinsurgency im ersten Jahrhundert und in der Moderne: Nichtmilitärische Strategien der Aufstandsbekämpfung im transepochalen Vergleich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Schriftenverzeichnis Burkhard Meißners. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Autoreninformationen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Vorwort Der vorliegende Band geht auf ein Festkolloquium anlässlich des 60. Geburtstages von Burkhard Meißner zurück, das am 20. September 2019 an der Helmut-Schmidt-Universität in Hamburg stattfand. Dank der unschätzbaren Hilfe und Verschwiegenheit von Antje Meißner konnte die Organisation im Vorfeld (fast) ohne Wissen des Jubilars durchgeführt werden. Frau Meißner sei hierfür herzlich gedankt. Während der Veranstaltung standen uns die studentischen Hilfskräfte der Professur zur Seite, OLt. Samuel Bast,  M.A., OLt. Oliver Hoffmann, M.A., und OLt. Julian Koppenstein, M.A., auch ihnen noch einmal ein herzliches Dankeschön. Im Rahmen des Kolloquiums wurden Vorträge von Kollegen, Weggefährten und Schülern Burkhard Meißners gehalten. Dies waren: – Prof. Dr. Catherine Trümpy (Université de Genève): „Wie die Polis zu ihrem Namen kam“ – Prof. Dr. Christian Mileta (Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg): „Ständiger Ärger im Hinterhof. Die unvollkommene Herrschaft der Römer über das Imperium Romanum der Republik“ – Prof. Dr. Stephan Selzer (Helmut-Schmidt-Universität): „Als Doktorvater im Krieg. Der Hanseforscher Fritz Rörig und seine Schüler.“ – PD Dr. Clemens Koehn (University of New England, AU): „Soldaten sind Mörder. Zur Idee des Diktums in der Antike“ – Oberst i.G. Prof. Dr. Matthias Rogg (GIDS, Hamburg): „Terrorziel Kultur: Der Schutz von Kulturgütern in Krisen und Konflikten als neue strategische Aufgabe“ In der vorliegenden Festschrift sind weitere Beiträge von Schülern, Kollegen und Weggefährten gesammelt, die ihn auf diesem Wege ehren wollen. Deren thematische Breite spiegelt die Vielfalt der Interessen des Jubilars als Forscher wider. Aufgrund der Coronapandemie und der mit ihr einhergehenden Einschränkungen verzögerte sich die Publikation leider erheblich. Bei der Redaktionsarbeit halfen die studentischen Hilfskräfte Lt. Rebecca Huppertz, B.A. und Lt. Philipp Marenbach, stud. phil. Die Aufnahme in die Reihe Philippika – Altertumswissenschaftliche Abhandlungen ermöglichte Prof. Dr. Andrea Jördens. Auch ihnen sei hier noch einmal herzlich dafür gedankt. Zuletzt gilt unser Dank Herrn Stephan Specht und Frau Ulrike Melzow vom Harrassowitz Verlag für die gute Zusammenarbeit und reibungslose Kommunikation. Hamburg/Leipzig Andreas Gerstacker, Stefanie Holder und Michael Zerjadtke

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Tabula Gratulatoria

Eran Almagor Klaus Beckmann Thomas Brüggemann Gerrit Deutschländer Stefan Dickmann Benjamin Fellmann Egon Flaig Peter Funke Marius Gerhardt Andreas Gerstacker Volker Grieb Linda-Marie und Wolfgang Günther Jörn Happel Kaja Harter-Uibopuu Helmut Halfmann Stefanie Holder Andrea Jördens Roxana Kath Maxim M. Kholod Clemens Koehn Oleg Klimov Hilmar Klinkott Thomas Kühne Michael Lurie

Rudolf Mark Kresimir Matijevic Andreas Mehl Christian Mileta Sigrid Mratschek Jutta Nowosadtko René Nünlist Angela Pabst Marcus Payk Vasilis Politis Kurt Raaflaub Patrick Reinard Werner Rieß Michaela Rücker Johannes Saltzwedel Christoph Schäfer Tassilo Schmitt Charlotte Schubert Wolfgang Spickermann Stephan Selzer Till Stueber Ernst-Joachim Waschke Alexander Weiß Bernd und Anneli Wegner Michael Zerjadtke

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Burkhard Meissners Jahre als Mitarbeiter von Andreas Mehl (1989–2004) Andreas Mehl

Als Burkhard Meißner am Abend des 1. Januars 1989 im Heidelberger Hauptbahnhof in den „Italia-Express“ einstieg, um zu einer von mir und ihm geleiteten, aus Stipendiaten und Stipendiatinnen der Studienstiftung bestehenden, nach Rom reisenden Exkursionsgruppe zu stoßen, trat er seinen Dienst als Wissenschaftliche Hilfskraft mit Studien­ abschluss bei mir an. Dass mit diesem ungewöhnlichen Beginn eine gemeinsame Zeit von fast 16 Jahren begann, ahnte damals weder er noch ich. Diese lange Zeit verbrachte Burkhard in wechselnden Anstellungsformen an drei Universitäten: TH (inzwischen TU) Darmstadt für nur wenige Monate des Jahres 1989, Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg 1989–1992 sowie Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg 1993– 2004 und damit für den weitaus größten Teil unserer gemeinsamen Zeit. In die Erlanger und Hallenser Jahre fielen zwei längere Auslandsaufenthalte Burkhards: 1991–1992 über die kurz zuvor geschlossene Erasmus-Partnerschaft der Alten Geschichte an den Universitäten Roma I „La Sapienza“ und Erlangen-Nürnberg als Gastdozent in Rom sowie 2004–5 als „Gerda Henkel Scholar and Visiting Associate Professor of Classics“ an der gerade in den Klassischen Altertumswissenschaften bedeutenden Brown University, Providence, R.I., USA. Letzteren Aufenthalt unterbrach Burkhard im Dezember 2004, um die neugeschaffene Professur für Alte Geschichte der Helmut-Schmidt-Universität der Bundeswehr in Hamburg zu übernehmen. Die Anstellungen in Erlangen und Halle waren von besonderen umstands- und ortsbedingten Tätigkeiten gekennzeichnet: In Erlangen richtete Burkhard zu einer Zeit, in der Arbeit an Computern in den Geisteswissenschaften zumal in der Bundesrepublik Deutschland noch weitgehend unüblich war und sich PCs kaum im Besitz von Studenten befanden, einen Computerpool ein. Burkhard war zur Erledigung dieser Aufgabe in der Lage, weil er im Oxforder Teil seiner Studienzeit Arbeit am Computer einschließlich Programmieren gelernt hatte. In Halle kamen andersartige Aufgaben auf Burkhard zu. Sie ergaben sich aus der Umbruchsituation einer Universität in der ehemaligen DDR und aus der besonderen Situation der Alten Geschichte an der Hallenser Universität: Sie war seit 1977 nur noch durch zwei Angehörige des akademischen Mittelbaus für Studierende der allgemeinen Geschichte in den ersten Studiensemestern unterrichtet worden und als eigenes Fach nicht mehr vorhanden. Die Gewinnung von Studierenden für die Alte Geschichte und die Ausarbeitung eines eigenen Studiengangs und Veranstaltungsplans wa-

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Andreas Mehl

ren vordringliche Aufgaben. An ihnen wirkte Burkhard mit der ihm eigenen Kompetenz und Energie mit, und es gelang ihm, gerade auch Studenten aus Halle und Umgebung zu gewinnen, die dann ihre Studienabschlüsse im Fach Alte Geschichte machten. Einer von ihnen wurde in Halle unter der gemeinsamen Betreuung von Burkhard und mir promoviert. Er erhielt später eine Position an einer australischen Universität und wurde kurz nach deren Antritt bei Burkhard in Hamburg habilitiert. Ein anderer aus dieser Gruppe ist seit Jahren in verantwortlicher Position an den Museen der Stiftung Preußischer Kulturbesitz in Berlin tätig. Die Bibliothek der Alten Geschichte und der Klassischen Altertumswissenschaften insgesamt, in die die Hallenser Alte Geschichte organisatorisch eingegliedert ist, hatte einen ungeheuren Nachholbedarf an Anschaffungen. Die hierzu staatlicherseits und durch eine Stiftung bereitgestellten erheblichen Finanzmittel mussten sinnvoll ausgegeben und die Bücher zügig bearbeitet und in den Bestand eingegliedert werden. Auch hier setzte sich Burkhard mit voller Tatkraft ein, so dass wir nach einigen Jahren über eine ansehnliche Bibliothek verfügten. Schließlich ging Burkhard aus eigener Initiative auch rein praktische Tätigkeiten an, so bei der Verlegung von Internetleitungen in dem altehrwürdigen Institutsgebäude „Robertinum“ oder bei der dringend notwendigen, von der Universitätsverwaltung aber nicht vorangetriebenen Sanierung und Modernisierung einer Toilette. Mit seinem den Notwendigkeiten angemessenen Neuerungstempo schuf sich Burkhard nicht nur Freunde. Zu diesen Zeit verschlingenden und Energie raubenden Aktivitäten kamen weitere Aufgaben hinzu: Während seines Rom-Aufenthaltes lief Burkhards Lehre – in italienischer Sprache – auf die Vertretung des durch plötzliche Erkrankung arbeitsunfähig gewordenen Lehrstuhlinhabers hinaus. Die meiste Zeit in Halle über war Burkhard verantwortlich für die Papyrus- und Münzsammlung und beteiligte sich an der Einrichtung und Durchführung eines drittmittelgeförderten elektronischen Inventarisierungs- und Publikationsprogramms zusammen mit den Papyrussammlungen der benachbarten Universitäten Leipzig und Jena. Vor allem in den vielen Hallenser Jahren betrieb Burkhard mit großem Arbeitsaufwand althistorische und, zusammen mit Kollegen anderer Fächer, zwischenfachliche Lehre, beide in einem weiten Feld von Themen und unter Einschluss der Abnahme von Prüfungen. Außerdem vertrat er eine Professur und nahm Lehraufträge in Bielefeld und Leipzig wahr. Nicht zuletzt betreute Burkhard in Zusammenarbeit mit mir Doktorarbeiten und Habilitationsschriften und hatte so an der Außenwirkung der daraus entstandenen Publikationen und damit auch der Hallenser Alten Geschichte einen gewichtigen Anteil. Angesichts aller dieser Belastungen mag man sich fragen, ob noch Arbeitszeit für das eigene akademische Vorankommen blieb. Tatsächlich ermöglichte seine große Arbeitskraft es Burkhard, nach nur dreieinhalb Jahren Tätigkeit an der Universität Halle-Wittenberg eine Habilitationsschrift einzureichen und sich wenige Monate später, im Dezember 1996, zu habilitieren. Seine Habilitationsschrift brachte Burkhard den Christian-WolffPreis der Universität ein. Zumal Burkhard zur Zeit seiner Habilitation einige weitere gewichtige Publikationen, unter ihnen bereits seine Tübinger Magisterarbeit aus dem Jahr 1984 „ΠΡΑΓΜΑΤΙΚΗ ΙΣΤΟΡΙΑ, Polybios über den Zweck pragmatischer Geschichts-

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Burkhard Meißners Jahre als Mitarbeiter von Andreas Mehl (1989–2004)

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schreibung“, aufzuweisen hatte, waren die Voraussetzungen für den baldigen Erhalt eines Rufes auf eine Professur in glänzender Weise geschaffen. Dennoch sollten Jahre, die bittere Enttäuschungen durch Bewerbungsverfahren mit teilweise erstaunlichen Verläufen und Resultaten mit sich brachten, vergehen, bis Burkhard den Ruf an die BundeswehrUniversität Hamburg erhielt und mit dem Antritt der Professur im Dezember 2004 in völlig neue Verhältnisse eintrat, die seiner Veranlagung in besonderer Weise entsprachen. In seiner von der Universität Heidelberg 1989 angenommenen Doktorarbeit „Historiker zwischen Polis und Königshof, Studien zur Stellung der Geschichtsschreiber in der griechischen Gesellschaft in spätklassischer und frühhellenistischer Zeit“ hatte Burkhard die Epoche des Hellenismus und die Geschichtsschreibung miteinander verbunden. Eben dies, dargeboten in höchst qualitätvoller Ausarbeitung, trug wesentlich dazu bei, dass ich mich seinerzeit für Burkhard entschied. In Burkhards Erlanger und vor allem Hallenser Jahre fiel die Arbeit an einer Monographie, weiter an mindestens 25 (ohne Lexikonbeiträge und dergleichen) vielfach umfangreichen und in jedem Fall gehaltvollen Arbeiten für Zeitschriften sowie Tagungs- und Sammelbände über unterschiedlichste historische Gegenstände, die Ausarbeitung und Veröffentlichung eines Computer-Suchprogramms und mit Kollegen zusammen die Veranstaltung einer Tagung mit folgender Herausgabe des Tagungsbandes. Durchaus konsequent galten einige von Burkhards Forschungen und Publikationen in seiner Erlanger und Hallenser Zeit dem Hellenismus oder der Historiographie mit Ausweitung in die historische Biographie. Insbesondere Publikationen zu Krieg und Kriegswesen in der Antike traten hinzu. Rückblickend wird man dieses Forschungsfeld als Präludium zu Burkhards Berufung auf die Professur an der Bundeswehr-Universität Hamburg und auf seine dortige Tätigkeit verstehen. Das Thema für seine Habilitationsschrift „Die technologische Fachliteratur der Antike: Struktur, Überlieferung und Wirkung technischen Wissens in der Antike (ca. 400 v.Chr.–ca. 500 n.Chr.)“ (Titel der veröffentlichten Version) entnahm Burkhard einem für einen Althistoriker jedenfalls in Deutschland eher ungewöhnlichen Gebiet. Gerade deswegen spiegelt diese hervorragende Arbeit Burkhards besonderes Interesse an praktischen Dingen und zugleich an deren theoretischer Fundierung wider. Unvergessen ist mir unter Burkhards vielen Arbeiten insbesondere sein auf sein Computer-Suchprogramm gestützter sprachstatistischer Aufsatz zur spätantiken Biographiensammlung der sogenannten „Historia Augusta“, in dem er sowohl die im Werk selbst behauptete Anzahl von Autoren als auch die zur modernen communis opinio gewordene These eines einzigen Verfassers erschüttert und eine von der antik genannten Personenzahl abweichende Anzahl von Autoren herausgearbeitet hat. Schließlich benutze ich, wenn ich mich mit Eduard Meyer in seiner Kontroverse mit Karl Bücher befasse, dankbar Burkhards wissenschaftshistorischen und geschichtsphilosophischen und zugleich auch der Universität Halle geltenden Beitrag „Der Universalhistoriker Eduard Meyer“. Die Länge unserer gemeinsamen Zeit bedeutet auch, dass das Verhältnis zwischen Burkhard und mir vom Anfang bis zum Ende von gegenseitigem Vertrauen bestimmt gewesen ist. So wäre etwa ohne Verständnis für den jeweils anderen schon das aus Platzmangel im „Robertinum“ gewählte gemeinsame Dienstzimmer unmöglich gewesen oder zumindest als schwer zu ertragender Zwang empfunden worden. Tatsächlich diente der

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Andreas Mehl

Aufenthalt im gleichen Raum neben dem eigenen Arbeiten der dienstlichen wie privaten Kommunikation und erwies sich so als Vorteil und Annehmlichkeit. Einige Tage gemeinsamer Exkursionen im September 2003 in Zypern, die wir beide einer Tagung über Herodot in Nikosia vorgeschaltet hatten, sind mir besonders intensiv in Erinnerung geblieben. Nicht nur für seine Leistungen zugunsten der jeweiligen Lehrstühle und Institute, sondern auch für seinen Beitrag zu unserem guten Miteinander, das uns schließlich zu Freunden werden ließ, danke ich Burkhard Meißner.

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Professor Dr. Burkhard Meissner: Strategische Wirkungen eines Althistorikers Stefan Bayer

Die außergewöhnliche wissenschaftliche Vita von Burkhard Meißner wird an anderer Stelle des Bandes hinreichend gewürdigt – nachfolgende Ausführungen sollen die strategische Weitsicht und das Wirken Burkhard Meißners in den Blick nehmen. Ich lernte Burkhard Meißner im April 2006 kennen, als ich die Professur für Finanzwissenschaft an der Helmut-Schmidt-Universität / Universität der Bundeswehr Hamburg (HSU/UniBw H) im seinerzeitigen Frühjahrstrimester vertreten durfte – wie der Zufall es wollte, handelte es sich ausgerechnet um die Professur, die nach meiner Vertretung der jetzige Präsident, Professor Dr. Klaus Beckmann, regulär besetzte. Zu dieser Personalie aber im weiteren Verlauf etwas mehr. Schon die ersten Gespräche mit Burkhard Meißner, der seine Professur für „Alte Geschichte“ an der HSU/UniBw H ebenfalls noch recht frisch innehatte, waren beseelt von strategischen Ideen einer Kooperation zwischen der Führungsakademie der Bundeswehr (FüAkBw) und der HSU/UniBw H: Er war vom damaligen Präsidenten der Universität, Prof. Dr. Hans Christoph Zeidler, gebeten worden, als „Point of Contact“ für die Zusammenarbeit der HSU/UniBw H mit der FüAkBw zu fungieren. Da ich wegen meiner Vertretungsprofessur vom damaligen Kommandeur der FüAkBw, Generalmajor Wolf-Dieter Löser, mit der exakt gleichen Aufgabe an der Führungsakademie betraut war, sprachen also auch die „richtigen“ Funktionsträger miteinander. Schnell waren wir einer Meinung darüber, dass die friedliche Koexistenz zweier großer Bildungseinrichtungen der Bundeswehr am Standort Hamburg, die von interdependentem wohlwollendem Desinteresse geprägt war, eigentlich aus der Zeit gefallen war: Ein gemeinsamer Masterstudiengang an der HSU, in dem ein exklusives Angebot an die Teilnehmenden des Lehrganges General-/Admiralstabsdienst National (LGAN) geschaffen werden und das für Deutschland einzigartig nach dem Muster angloamerikanischer Studiengänge den Gegenstandsbereich „Strategische Studien“ ausbilden sollte, musste her. Gesagt, getan – und schon acht Jahre später starteten wir den weiterbildenden und berufsqualifizierenden MA-Studiengang MFIS, der Militärische Führung und Internationale Sicherheit komplementär zum LGAN in einem akkreditierten Studiengang akademisch vertieft. Allein schon wegen der acht – bei mir sogar zehn – Jahre zeigt sich die strategische Gestaltungskraft Burkhard Meißners: Trotz mehrerer Fehlversuche wird ein nachvollziehbarer und gut begründeter und -barer Plan auch gegen Widerstände um-

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Stefan Bayer

gesetzt. By the way: Temporal erfüllten die zehn Jahre Vorbereitungszeit für den MFIS ja nahezu alle Kriterien einer Entscheidung mit strategischer Reichweite. Hier kommt übrigens der jetzige Präsident, Klaus Beckmann, wieder ins Spiel, der als Vorstand des neu gegründeten Zentrums für Wissenschaftliche Weiterbildung (ZWW) an der HSU und davor auch als Vizepräsident Lehre den institutionellen Rahmen schaffte, um Burkhard Meißners visionäre Ideen auch institutionell umsetzen zu können. Kurzum: Der frühe MFIS kannte die „Drei von der Tankstelle“ gut und gemeinsam starteten und etablierten wir den MFIS zu Beginn seiner Lebenszeit zu einem funktionierenden Weiterbildungsstudiengang, der derzeit der größte weiterbildende Studiengang an der HSU ist und kumuliert bereits etwa 350 Absolventinnen und Absolventen hervorgebracht hat – vom Hauptmann bzw. Kapitänleutnant bis hin zum 3-Sterne General. Die im MFIS betriebenen „Strategischen Studien“ erweisen sich regelmäßig als die Methode, die an der Schnittstelle von Theorie und Praxis den Gegenstandsbereich strategischer Facetten sicherheits- und verteidigungspolitscher Phänomene ergebnisorientiert zu analysieren vermag. In Deutschland hat Burkhard Meißner damit erstmals auf universitärer Ebene einen derartigen Studiengang etabliert, der großes Interesse bei den Studierenden entfaltete, die sich freiwillig an mindestens sechs Wochenenden neben ihren jeweiligen Hauptberufen einem wissenschaftlichen Studium widmeten. Die Defizite in der Vertiefung der Analyse von strategischen Fragen sowie in Bezug auf Beratungsleistungen von Soldatinnen und Soldaten in diesem Bereich wurden von Anbeginn an aktiv angegangen und erfolgreich ausgemerzt – nicht zuletzt durch die Entscheidung, die jeweils besten Masterarbeiten aus dem MFIS in einer eigenen Buchreihe (GIDS Analysis) zunächst im Verlag Barbara Budrich und später dann im Nomos Verlag zu publizieren und damit einer breiteren Öffentlichkeit zugänglich zu machen. Der MFIS hat sich im Nachhinein als genau die richtige strategische Idee Burkhard Meißners und der weiteren zwei von der Tankstelle herausgestellt, die es vermochte, militärische Professionalität mit wissenschaftlicher Exzellenz zu verheiraten und daraus Beratungspotential für strategische Entscheidungen mit Sicherheits- und Verteidigungsbezug zu entfalten. Die freiwillige Bereitschaft einer Coalition of the willing (unsere MFIS-Studierenden), sich ebenfalls auf diesen Weg zu begeben, motivierte unseren Spiritus Rector in strategischen Angelegenheiten, Burkhard Meißner, die weitreichende und umfassende Ausrichtung des Verbundes von FüAkBw und HSU/UniBw H noch weiter auszubauen, indem am Standort Hamburg zwischen den beiden Häusern ein gemeinsames strategisches Forschungsinstitut etabliert werden sollte: Ausgangspunkt hierzu war eine Grundsatzrede der ehemaligen Verteidigungsministerin Dr. Ursula von der Leyen, die im November 2016 anmahnte, die gesamte FüAkBw solle sich zu einem Think-Tank fortentwickeln, der auch Output aus den vielen Federn aller Mitarbeitenden an der FüAkBw generieren und professionell in die politische Beratung einspeisen sollte. Derartige politische Forderungen, vorgetragen in Anwesenheit des Strategen Burkhard Meißners, brauchten nicht lang, bis sie von ihm mit einem Konzept versehen wurden. Selbstverständlich wurden diese Vorstellungen sogleich mit Anregungen zu möglichen Umsetzungen garniert und so war im Frühjahr 2017 relativ schnell klar, dass ein „Center for Security and Strategic Studies (CS3)“ in Hamburg etabliert werden soll,

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Professor Dr. Burkhard Meißner: Strategische Wirkungen eines Althistorikers

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das auf Basis des MFIS ein Forschungsinstitut zwischen HSU/UniBw H und FüAkBw gründet. Die Konzepte wurden verfeinert und immer differenzierter ausgearbeitet; auch Gespräche zwischen Akademie, Universität und dem Bundesministerium der Verteidigung rückten den Startschuss des gemeinsam getragenen Institutes immer näher. Einzig der geplante Name des Instituts, CS3, besorgte den damaligen Kommandeur der Führungsakademie, damals Konteradmiral, jetzt Vizeadmiral Carsten Stawitzki, wegen der Verwendung seiner Initialen, was er (aus überaus nachvollziehbaren Gründen) für unangemessen hielt. In einer Abendsitzung gelang aber mit Hilfe von Burkhard Meißner der Durchbruch und das „German Institute for Defence and Strategic Studies (GIDS)“ war geboren. Hierin kulminieren die weitreichenden Bemühungen Burkhard Meißners, am Standort Hamburg strategisches Denken und Handeln auszubilden, zu studieren und weiter zu erforschen in der Form, dass das GIDS als eines der ganz wenigen Forschungsinstitute weltweit auf einen eigenständigen Studiengang, den MFIS, zurückgreifen und mit dessen Hilfe strategische Studien erarbeiten kann. Das GIDS besteht nun seit fast fünf Jahren und – trotz erwartbarer Turbulenzen zu Beginn seiner Tätigkeit – entfaltet mehr und mehr Durchschlagskraft in Forschung und kritischer Beratung. En passant wird zudem ein derzeit sehr differenziertes Medieninteresse (Fernsehen, Funk und Printmedien) befriedigt – in Deutschland, Europa und der Welt wird man auf Ergebnisse des Institutes zunehmend aufmerksam. Über den institutionellen Strategen hinaus muss man Burkhard Meißners Weitsicht auch in seinem wissenschaftlichen Werk und Wirken würdigen. Sein gesamtes wissenschaftliches Werk wird im Beitrag von Andreas Mehl hinreichend gewürdigt – in diesem Teil möchte ich auf ein paar Facetten seines Wirkens als Stratege aus dem MFIS und dem GIDS näher eingehen: Geschichte als „Change Management“ Burkhard Meißner hat in mehreren MFIS-Jahrgängen einen wunderbar tiefsinnigen Text mit der zentralen These „Geschichte als Change Management“ vorgetragen und diskutiert. Es war in jedem Studiengang eine wahre Freude, miterleben zu dürfen, wie die Studierenden sich mit ihm intellektuell maßen. Schwarmintelligent näherten sie sich regelmäßig sehr schnell seiner Kernthese und diskutierten diese kontrovers: Als zentrale Frage blieb stets, wer Geschichte „protokolliert“ und wie man sicherstellen könne, dass da auch „das Richtige“ kommuniziert und der Nachwelt hinterlassen wird. Über das Erkennen, dass dies bei Facebook etc. bisweilen nicht immer unbedingt qualitätsvoll gelingt, bis hin zur Analogienbildung, ob dies in der Geschichte bei Mitschriften gänzlich anders war und auf welche Weise so etwas wie etwa Verifikationsschleifen eingezogen werden könnten, die sicherstellen, dass „es wirklich so war“, gelangt man regelmäßig zu der Erkenntnis, welch hohen Stellenwert ein Tool wie das „Change Management“ aufweist. Und wenn „Blödsinn“ kommuniziert wird, dann wird die Nachwelt genau das aus der Vergangenheit mitgeteilt bekommen, was den Wert des Lernens aus der Geschichte

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stark beeinflusst. Es stellt sich also aus Sicht eines vernünftigen „Change Managements“ die Frage, was überhaupt berichtenswert ist und wie man sicherstellt, dass genau darüber auch Debatten geführt werden. Das mag zwar unheimlich trivial klingen, hat aber viel mit der Anwendung ökonomischer Grundtugenden zu tun; nämlich der Frage der Priorisierung und der Durchsetzung bestimmter „Trends“ und dem Erkennen von „echten Nachrichten“ oder schlicht der „Wahrheit“ – es kann nicht ausgeschlossen werden, dass Sachverhalte oder „Events“ übermittelt werden, die wenig zur Erklärung geschichtlicher Zusammenhänge beitragen, aber Speicherkapazitäten irreversibel binden: Einen Unterschied zwischen vergangenen Situationen und heutigen Konstellationen gibt es dabei aber nicht. Und damit ist Geschichte ein ausgezeichnetes Instrument, um so etwas wie „Change Management“ zu betreiben oder in den Worten Burkhard Meißners: Die Geschichtswissenschaft ist „Change Management“. Wiener Strategiekonferenz: Die Wiener Strategiekonferenz wird von unserem guten Kollegen Brigadier Wolfgang Peischel, PhD, seit 2016 ausgerichtet. Internationale Expertinnen und Experten aus Theorie und Praxis treffen sich jeweils Ende Juni eines Kalenderjahres in Wien, um sich über strategische Aspekte mit sicherheitspolitischer Bedeutung den Kopf zu zerbrechen und Lösungen zu diskutieren, die auch strategisch Bestand haben könnten. Faktisch hatte Brigadier Peischel (sowie seine höchst geschätzten Mitstreiterinnen und Mitstreiter) mit seiner Konferenz in Wien – salopp formuliert – die perfekte Jahrestagung für das GIDS bereits vor dessen Gründung geschaffen. Selbstverständlich wurde nach offizieller Gründung des GIDS dann auch Burkhard Meißner (mit weiteren Kollegen des GIDS) nach Wien eingeladen, um dort mitzudiskutieren und Netzwerke zu gründen bzw. zu verfestigen. Viele Vorurteile über das GIDS konnten dort aufgegriffen und bisweilen auch ausgeräumt werden – bei jeder Teilnahme stand eines fest: Strategische Institute und Formate erzeugen stets nur begrenzte Freude bei aktuellen Entscheidungsträgern, die aber die grundsätzliche Notwendigkeit solcher Formate und Institute anerkennen und dies auch auf der Wiener Strategiekonferenz betonten. Burkhard Meißner nahm die Konferenz von 2019 zum Anlass, diese Thematik aufzugreifen und zum Thema „Strategie als Lehre – Strategie als Literatur: Wissenschaft und Rhetorik in der antiken Strategie“ 1 vorzutragen und zu diskutieren. Der etwas antiquiert anmutende Titel klingt zunächst wenig spannend – die Lektüre sei allen Leserinnen und Lesern jedoch sehr ans Herz gelegt: Burkhard Meißner entfaltet fast ein Curriculum, das bei der Lehre von „Strategie“ auch in unserer Zeit von erheblicher Bedeutung ist! Dabei betont er stets auch den Zusammenhang von strategischem Denken und Handeln – insbesondere letzteres gerät bei vielen Strategiedebatten gern aus den Augen. Die Abendgespräche waren reich an Diskussionsstoff und der MFIS hatte viele neue Anregungen erhalten, wie das Modul zum „strategischen Den1 Meißner 2021.

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ken“ noch passgenauer auf unsere Klientel zugeschnitten werden könnte. Auch Brigadier Peischel brachte sich in der Folgezeit als Referent ein; die präzisen Ausführungen von Burkhard Meißner in Wien dankte er mit ebensolchen bei uns im MFIS – leider coronabedingt zweimal nur im Rahmen einer Vorlesung per Videostream. Sprachkompetenz als Voraussetzung strategischer Studien: Burkhard Meißners zentrales Anliegen zum Verständnis vieler strategischer Grundsatzfragen besteht seit jeher darin, dass er besonderen Wert auf das Lesen, Hören und Kommunizieren derjenigen Sprachen legt, die in Regionen gesprochen werden, deren strategische Bedeutung von besonderem Interesse ist: Sprache stellt – nach Burkhard Meißner – insofern eine zentrale Bedingung dafür dar, dass man alle Einflussfaktoren einzelner Entscheidungen auch nachvollziehen und rationalisieren kann. Das kann er als MultiSprachtalent sicherlich zu Recht einfordern – bei der personellen Erstausstattung im GIDS war diese Forderung eine stets von Burkhard Meißner eingebrachte. So berechtigt diese Präferenz mit Blick auf strategisches Systemverständnis auch immer war, allein die Erfüllung dieser Forderung ließ sich bei den besagten Stellenbesetzungen stets aufs Neue kaum umsetzen. Und doch ist die Notwendigkeit nur allzu verständlich: Gesellschaftliche Diskurse nicht unmittelbar nachvollziehen zu können, sondern auf notwendiger Weise subjektive Übersetzungen angewiesen zu sein, verursacht Interpretationsspielräume, die tatsächliche Sachverhalte möglicherweise verfälscht darstellen. Burkhard Meißners Einstellung zu dieser Tugend ist vorbildlich! Er übersetzte sehr schnell aus dem Russischen verschiedene Originaltexte und legte (jeweils mit einem Koautor zusammen) erstmals im deutschen Schrifttum eine eigenständige Übersetzung sowohl der russischen Atomstrategie 2 als auch Putins Versuch der Neujustierung von „Krise, Krieg und Kirche“ 3 vor. Beide Werke werden von verschiedenen Stellen (auch im politischen Berlin) als „das“ Nachschlagewerk verwendet, um möglichst exakt beschreiben zu können, wie Präsident Putin einzelne strategische Rahmenbedingungen zu gestalten versucht. Damit liefert er allen Interessierten jeweils ein Papier, das spezifische strategische Interessen Putins beschreibt und damit auch illustriert und einer strategischen Analyse zuführt. Diese Serviceleistung wird von ihm und seinen Koautoren jeweils in den Papieren zusätzlich angeboten – Grundlage dafür sind seine außergewöhnlich vielfältigen Sprachkompetenzen, die er sicherlich auch deshalb als Wunschvorstellung bei Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern im GIDS einfordert.

2 Meißner/Pleyer 2020. 3 Meißner/Gerstacker 2023.

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Interview aus dem Hamburger Abendblatt am 4. März 2022 zum Krieg in der Ukraine Eine weitere Facette seiner außergewöhnlichen strategischen Fähigkeiten hat Burkhard Meißner nach Ausbruch des Ukraine-Krieges im Rahmen eines Interviews mit dem Hamburger Abendblatt am 4. März 2022 unter Beweis gestellt. Unter dem Titel „Dieser Krieg ist für Russland schon verloren“ 4 äußert sich Burkhard Meißner zu Präsident Putin, dem Einsatz von Nuklearwaffen, Fehlern des Westens sowie der neuen Normalität, auch in Deutschland angesichts des Ukraine-Krieges wieder über Bunkerkonzepte nachzudenken. In aus heutiger Sicht erstaunlicher Präzision leitet er in vielen Fragen eine immer noch aktuelle strategische Analyse des Krieges und seiner Begleiterscheinungen ab, die seinesgleichen suchte und sucht. Im Vergleich zu etlichen Äußerungen vieler anderer Expertinnen und Experten kann dieses Interview an strategischer Brillanz kaum übertroffen werden und setzt damit Maßstäbe für das Genre eines wirklichen „Experteninterviews“. Diese strategische Klarheit unterstrich er in vielen weiteren Interviews in Funk, Fernsehen und Zeitungen immer wieder und wies fortwährend auf Aspekte hin, die in den bisweilen recht hektischen Debatten strategische Vernunft einforderten. Visionskraft und strategische Klugheit: Vorausschauqualität Burkhard Meißners Womit wir bei der letzten Facette des außergewöhnlichen Werks Burkhards Meißners als Strategen sind: Seine Prognosen werden fachlich brillant eingerahmt, äußerst differenziert mit Blick auf den einzuordnenden Sachverhalt analysiert und darauf aufbauend nachvollziehbar begründet. Dabei geht es ihm nie um sich selbst (selbstverliebtes Selbstmarketing ist keine Tugend, die Burkhard Meißner als Rationalist betreibt; nein, sogar etwas, das er ganz dezidiert fundamental ablehnt), sondern stets darum, mit Hilfe wissenschaftlicher Methoden Aussagen über die strategische Zukunft treffen zu können. Doch damit nicht genug: Mit gleicher Präzision leitet er dafür erforderliche Maßnahmen ab, um durch strategische Implikationen seiner Überlegungen entweder (a) bereits heute die Politik für mehr Prävention in die Pflicht zu nehmen oder (b) Vorbereitungen auf die sich einstellenden Konsequenzen in der Zukunft zu intensivieren, die wegen mangelnder bzw. wenig erfolgreicher Prävention dann „ausgehalten“ werden müssen. Wenn beide Maßnahmen ausbleiben, dann – so Burkhard Meißner – sollten wir uns nicht überrascht zeigen, wenn keine der beiden Maßnahmen unternommen und umgesetzt wird und wir die strategischen Konsequenzen unseres Nicht-Handelns werden erleben und erdulden müssen. In der jetzt über 17-jährigen Freundschaft zu Burkhard Meißner ist eines absolut sicher: Die Präzision seiner Gedankenführungen in der strategischen Analyse macht ihn zum 4 Meißner 2022.

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unbequemen Kämpfer für strategische Interessen. Ob dies die „große“ Weltpolitik oder die „kleine“ Universitätspolitik ist – Burkhard Meißner bemisst sich einstellende Konsequenzen stets mit dem Maßstab der Verantwortung für deren Zustandekommen und gibt erst auf, wenn keine Möglichkeiten des Handelns mehr verfügbar sind. Gepaart mit seiner grundlegenden Ehrlichkeit macht ihn das zu einem strategischen Streiter, den niemand gern zum Gegner hat, weil er um die Sache konsequent ringt. Und genau das schätze ich am Menschen Burkhard Meißner außerordentlich und ich danke herzlich für die lange vertrauensvolle Zusammenarbeit und die vielen Aspekte, die ich in dieser Zeit von ihm lernen durfte. Literatur Meißner, Burkhard, Gerstacker, Andreas: Krise, Krieg und Kirche. Übersetzung und Kommentar eines neuen Erlasses des russischen Präsidenten, #GIDSresearch 1/2023 (16. Januar 2023), https://gids-hamburg.de/krise-krieg-und-kirche/, zuletzt abgerufen am 08.05.2023. Meißner, Burkhard: Dieser Krieg ist für Russland schon verloren, Hamburger Abendblatt, 4. März 2023, Seite 6. Meißner, Burkhard: Strategie als Lehre – Strategie als Literatur: Wissenschaft und Rhetorik in der antiken Strategie, in: Peischel, Wolfgang (Hrsg.): Wiener Strategie-Konferenz 2019. Strategie neu denken, Berlin: Carola Hartmann Miles-Verlag, 199–220. Meißner, Burkhard, Pleyer, Severin: Zur Nuklearstrategie Russlands. Übersetzung und Kommentar des Dekretes über Prinzipien der nuklearen Abschreckung, #GIDSstatement 6/2020 (9. Juli 2020), https://gids-hamburg.de/zur-nuklearstrategie-russlands/, zuletzt abgerufen am 08.05.2023.

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Lucian’s Anacharsis: an Exercise in Greek Culture Eran Almagor

Within the context of the representation of assimilation in Classical Literature, the dialogue Anacharsis of Lucian of Samosata (c. 125–after 180 CE) 1 occupies a special place as a display of an interesting cultural debate or cultural negotiation. 2 It deals with one central aspect of Greek culture, namely, gymnastic exercise or Greek physical practices in general, 3 and is pertinent to the question of education and acquisition of culture as well as the nature of civilisation at large. 4 The short dialogue takes place in 6th Century BCE Athens, between Solon, the famous Athenian law-giver, and the legendary Scythian wise man Anacharsis, one of the seven sages of antiquity. 5 It is based on Herodotus’ story (4.76–7) of Anacharsis’ sojourn in Greece in an effort to introduce Greek customs to his country. The two characters are introduced by Lucian in order to address the topic of gymnastic exercise from both an internal and external perspectives: Solon analyses the matter from the point of view of a Greek, whereas Anacharsis represents the ‘outsider’, as is usual with Lucian. 6 However, Lucian does not portray the Scythian wise man Anacharsis as a typical barbarian figure. Anacharsis converses in Greek, is interested in Hellenic practices and culture, 7 and is presented as a Scythian and a sophos (17: Σκύθης μέν ἐστι, σοϕὸς δἐ ὤν), i.e.,

1 On Lucian’s Anacharsis see in particular Müller 1926; Kindstrand 1981, 65–67; Branham 1989, 82–104; Saïd 1994, 163–70; Goldhill 2001, 1–4; König 2005, 45–96; Newby 2005, 143–54; Konstan 2010. I am grateful to the editors of this volume for their comments and assistance. I would like to thank Prof. C. Schubert for the opportunity to present this paper in Leipzig, Prof. C. Pelling for his comments on an earlier version and Dr. P. Marzillo for her helpful comments and suggestions. 2 On the post-colonial theory of culture (and cultural assimilation) as negotiation, see, e.g., Gomille 2008, addressing Lamming 1984 and Naipaul 1987; Cf. Simon 1996, 153. 3 König 2005; Newby 2005; Visa-Ondarçuhu 2010, 319–38. 4 On the cultural importance of physical accomplishments see Dombrowski 2009. 5 On a literary tradition juxtaposing the two persons, see Kindstrand 1981, 39–40. 6 Cf. Goldhill 2001, 2, 4. See Elsner 2001, 140; König 2005, 74. 7 Cf. Hartog 1983, 168–73. In Lucian’s Scythian Anacharsis is completely foreign and does not speak Greek (3). Toxaris the Scythian is also fluent in Greek and desires Greek culture (Tox. 57; cf. Scyth. 1,3–4 [a different Toxaris?]). For Anacharsis’ complexity see Bompaire 1958, 740; Branham 1989, 102; cf. Anderson 1976a, 82. Elsewhere, Lucian uses the figure of a Gaul who speaks in eloquent Greek (Her. 4–6).

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a barbarian who is considered wise by Greek standards. 8 The designation as a sophos is particularly revealing and is related to the sophists Lucian knew. The personae of the public declaimers (as indeed of the Imperial authors) of Lucian’s age were carefully crafted as extraordinary figures, familiar with Greek texts and culture as well as seemingly unacquainted with them, in order to serve both current requirements of precision and orthodoxy in references to the canonical books on the one hand, and innovation or originality in the delivery and style of speeches and texts, on the other. 9 One of the important facets of this self-fashioning was the ability of the rhetor to locate himself between worlds, between cultures or between centre and margin, 10 exactly like Anacharsis. The ‘alien’ motif was visible in the growing contemporary interest in the exilic mode of life, which involved someone moving from his surroundings to another place. 11 Corresponding to these trends, Lucian displays himself as an ‘outsider’, 12 and he appears to present the figure of the visitor Anacharsis, completely external to Greek and Athenian culture, as resembling his own position, thus providing the author with an opportunity to supply profound observations on the Greek approach to gymnastics. 13 Lucian is successful in going beyond the mere treatment of the nature of physical exercises and their importance in Greek culture. He presents us with a theoretical and rhetorical exercise which displays the contradictions inherent in Hellenic civilisation itself. As this chapter will show, Lucian uses the agon, or contest, between Solon and Anacharsis to introduce two themes. 14 First, civilized life as perceived in Greek imagina-

8 Cf. Menander, Frg. 612 Sandbach [533 Kock]. For Anacharsis as a wise barbarian see Armstrong 1948; Ungefehr-Kortus 1996; Montiglio 2000; Schubert 2010; Taube 2012. The Greek text used here is that of Macleod 1984, 237–60. Anacharsis also appears in Luc. VH 2.17 among the few barbarians inhabiting the Isle of the Blessed. 9 Cf. Russell 1983, 74–86, 106–27; Anderson 1989, 89–103; Swain 1996, 81–87, 94–96, 193–94; Schmitz 1997, 156–59; Whitmarsh 2005, 24–32, 34–37, 38–39; Almagor 2016, 117–18. 10 Cf. Bowersock 1969, 43–58; Jones 1978, 104–31; Desideri 1991, 3882–901; Swain 1996, 69–79, 192– 97, 225–41. 11 Exile was present in the Second Sophistic from the time of Aeschines (Philostr. VS 481, 509) – whose personal life story involved a relocation from Athens to Rhodes and Samos. One need only compare the stories of Herodes or Heliodorus as they are found in Philostratus (VS 562, 627). There are discussions on the emphasis placed on the exilic mode of life, explored, for instance, in Dio’s 13th Oration: See Jones 1978, 45–55; Swain 1996, 211–12. Cf. Philostr.VS 482 or the treatise of Musonius Rufus, That Exile is not an Evil; cf. Whitmarsh, 2001, 134–80. 12 He occasionally presents his respective narrators as “Syrian” (e.g., Adv. Ind. 19), “Assyrian” (Syr. D. 1) or “barbarian” (Bis Accusatus 27, 34), depictions that if taken to identify Lucian (see Whitmarsh 2004, 467–68; cf. Clay/Brusuelas 2021, 8–16) may indicate he was originally of the indigenous Semitic population (see Jones 1986, 6–8); Swain 1996, 70, 298–312, 329; Whitmarsh 2001, 116–29, 247–94 and 2005, 82–83. 13 This is made explicit by Lucian in Scyth. 9 (φημὶ δὴ ὅμοιόν τι καὶ αὐτὸς παθεῖν τῷ Ἀναχάρσιδι). Cf. Branham 1989, 83; König 2005, 74–75, n.121, 94. 14 I here ignore the question whether Lucian follows the Cynics’ disapproval of athletics; see Anderson 1976a, 114–16. See Branham 1989, 89–91, 101–4 for the suggestion that Lucian is here dealing with broader cultural issues.

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tion. 15 Second, the Greek concept of the process of Hellenisation, as allegorised in the way the agon develops between the two speakers. 16 Direct or Indirect? The controversy between Solon and Anacharsis may be summed up as follows: Anacharsis holds that athletic exercises, which are first and foremost repulsive, are also futile; that is, they are aesthetically revolting and pragmatically unnecessary. 17 By contrast, Solon answers Anacharsis on the same two planes and contends that athletic exercises are both attractive and valuable. According to Solon, athletic exercises have a certain usefulness (ἔχει τινὰ χρείαν: 6), and are not unpleasing (οὐκ ἀτερπῆ: 6). 18 The direct level of discussion, in the form of the aesthetic interpretation of the practices, is thus followed by another, which deals with their ethical or pragmatic, indirect value. It seems that Anacharsis is usually depicted as relating to Athletics in a straightforward manner, while his adversary generally maintains a circuitous approach, especially concerning the significance of the exercises. 19 This variance can be seen in the use Anacharsis makes in his arguments regarding the explicit visible features of wrestling. These seem to be presented from the standpoint of a viewer, a spectator, commenting on what he sees. Note the recurring motif of seeing relating to the Scythian wise man: ἑώρων (1); ὡς ὁρᾷς (3); εἶδον (23); οὐ γὰρ εἶδον (34); ἢν ὁρᾷς (38). Note also his use of pointing, e.g., οὑτοσὶ (3). 20 One persistent response of his, which recurs throughout the dialogue, is laughter at the ostensible: γέλωτα (1); ἐγέλασας (9); ἐπιγελῶν (13); γελοιότερα (23, 28); γέλωτα (33); γελάσῃ (37). In other cases, he attempts to interpret what he sees, as a viewer of a spectacle in a very subjective way. For instance, he claims (1) «... begging off, I take it, so that he may not be strangled completely” 21 (ἱκετεύων οἶμαι, ὡς μὴ τέλεον ἀποπνιγείη), and says (2): “in order that it may be harder to break away in the clinches, I suppose” (ὡς ἀφυκτότεροι εἶεν ἐν ταῖς συμπλοκαῖς, οἶμαι...). Anacharsis

15 On the importance of the agon cf. Branham 1989, 88, 99; König 2005, 75. 16 On the Hellenisation of Scythia cf. König 2005, 85. Cf. his hesitation (83): “the text makes it very difficult for us to imagine how that conversion from incredulous mockery to acceptance might take place”. The present chapter will hopefully show how this comes about. 17 Pace König 2005, 82. 18 Cf. 10: τὸ λυσιτελὲς καὶ ἡδὺ. For Solon’s views on Athletics see Diod. Sic. 9,2,5, Diog. Laert. 1,55–56; Plut. Sol. 23,3. 19 This may have to do with one trait of the gymnasium noted by König 2005, 47, namely, its insulation and its detachment from normal life. 20 Corresponding to this unmediated approach is the fact, noted by Branham 1989, 88 and Newby 2005, 146 that the dialogue begins without an introductory framework and with an initially anonymous speaker (= Anacharsis). 21 The English translation of the dialogue used is that of Harmon 1925, 2–68, slightly changed. Cf. the position of the Scythian Toxaris and his friend as spectators of a gladiatorial show (Tox. 59).

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alludes to apparent gestures and visible behaviour. His first question is: “Why are your young men doing all this?” (1: ταῦτα δὲ ὑμῖν, ὦ Σόλων, τίνος ἔνεκα οἱ νέοι ποιοῦσιν;). 22 Conversely, Solon, as the one who brings indirectness to the conversation, 23 refers to future or hypothetical situations in his answers. 24 Note also the frequent use of the rhetorical device litotes as well as other roundabout means in Solon’s words: οὐκ ἀτερπῆ... οὐ μικρὰν… οὐκ εἰς μακρὰν (6); οὐκ ἀχρεῖον, μὴ μικρὸν (28); οὐ μικρὰ (36); οὐκ ἄδικα (40). 25 He openly proposes an oblique and gradual way to reach a description of everything. 26 Solon even assumes that his discussion might be long (19: καὶ μακρὰ λέγοιτο... ἐξέστω ἀπομηκύνειν). In contradistinction to the Athenians, who are not in peril, the Scythians face danger constantly (13). Moreover, unlike the Athenians, the existence of the Scythians is moulded by temporary caprice rather than by law. 27 This way of life makes the use of weapons necessary. Lucian ironically portrays this difference in the manner the interlocutors position themselves in the dialogue in relation to their approach and arguments: Anacharsis, the external spectator, steps closer to the scene of action, and, corresponding to his nomadic way of life and to stereotypical barbarian straightforwardness, moves directly towards the wrestling spectacle he fails to understand. By contrast, in order to answer Anacharsis, Solon, who first defends the practices of his own society and culture, is forced during the conversation into an indirect stance whereby he steps out of his own world, as it were, in a way that suits his own arguments in the debate. 28 22 In a sophisticated allusion to Plato (e.g., Charm. 153a, Lys. 203a; cf. Anderson 1976a, 154), the dialogue takes place near a gymnasium, but following the straightforward approach of Anacharsis, the potential significance of physical training is not hinted, but rather made the very topic of the discussion. 23 This, again, corresponds to another observation made by Newby 2005, 146 that it is only through Solon’s answer, that we learn the questioner is the Scythian Anacharsis. 24 See 6: “if you stop for some time… in Greece, before long you yourself will be one of the muddy or dusty set” (ἢν γοῦν ἐνδιατρίψῃς... τῇ Ἑλλάδι, οὐκ εἰς μακρὰν εἷς καὶ αὐτὸς ἔσῃ τῶν πεπηλωμένων ἢ κεκονιμένων); 10: “After a while you will think differently about them” (μετὰ μικρὸν δὲ ἄλλα σοι δόξει περὶ αὐτῶν). Cf. 14: (ἢν δέ σοι μελήσῃ ποτὲ εἰδέναι... ἐπαινέσῃ τότε...). Cf. 12: “If it were time, Anacharsis, for the Olympic, or the Isthmian or Panathenaic games, what takes place there would itself have taught you...” (εἰ καιρὸς ἦν, ὦ Ἀνάχαρσι, Ὀλυμπίων ἢ Ἰσθμίων ἢ Παναθηναίων, αὐτὸ ἄν σε τὸ γιγνόμενον ἐδίδαξεν...). Note that in the last case, Solon is away moving from the gymnasium to the Panhellenic games; cf. Newby 2005, 146. Cf. 38: “if you ever go to Sparta... if you see...” (ἤν ποτε καὶ εἰς Λακεδαίμονα ἔλθῃς... ἢν ὁρᾷς...). The last is a play on Hdt. 4.77. 25 Cf. Lausberg 1960, § 586–88. 26 Cf. 15: “if you take it up a little at a time, you will find out in detail all the opinions we hold about the gods and about parents, marriage, and everything else” (ἀλλὰ κατὰ μέρη ἐπιὼν εἴσῃ ἕκαστα, οἷα μὲν περὶ θεῶν, οἷα δὲ περὶ γονέων ἢ περὶ γάμων ἢ τῶν ἄλλων δοκεῖ ἡμῖν). Solon also uses longer sentences; cf. Branham 1989, 95. 27 See 34: “your distrust of one another, inasmuch as your relations with each other are adjusted by individual caprice and not by law, makes steel always necessary” (ἥ τε πρὸς ἀλλήλους ἀπιστία, καὶ μὴ ἐν νόμῳ συμπολιτευομένων, ἀναγκαῖον ἀεὶ τὸν σίδηρον ποιεῖ). 28 There may also be an allusion here to the portrayal of Solon as a nomad, a traveller, in Herodotus’ depiction (1.30): “So Solon, having left his native country for this reason and for the sake of seeing various lands, came to Amasis in Egypt, and also to Crœsus at Sardis” (αὐτῶν δὴ ὦν τούτων καὶ

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Lucian’s Anacharsis: an Exercise in Greek Culture

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Anacharsis’ nomadic lifestyle compels him to move from one place to another and not dwell in one place too long. Accordingly, he is only able to perceive everything he experiences up to a certain extent, and his approach treats everything at face value; he is unable to grasp layers of significance and fails to understand the subtle obliqueness of Greek language and attitudes. For example, he does not appreciate the significance of the prizes, and claims that athletics go through the hardships merely for apples and parsley, 29 while Solon emphasises that the prizes are simply tokens or symbols of the victory. 30 In this, Lucian seems to be following Herodotus and his portrayal of the Scythians. Herodotus depicts the Scythians as having no use of metaphors, an aspect which is addressed and enhanced in several ways by the historian. The obvious case is the interpretation of the three gifts the Scythians give to Darius (Hdt. 1.131–2). 31 The best explanation would be to take them as they are (a frog is a frog, a mouse is a mouse). In Herodotus, these features are probably related to the unique state of the Scythians, who have no home in the proper Greek understanding, nor feel the need to mark their dwelling place or symbolise it in any way (except for the tombs of their fathers or kings). It is no accident that they have no use for statues or symbols for gods, as Herodotus tells us (4.60). This behaviour reflects on their language and use of signs, which, to use the differentiation of Peirce’s Semiotics, 32 is indexical rather than symbolic, i.e., the relationship between the representation and what the sign stands for is direct rather than indirect. A possibility for explaining the nomadic special system of communication depends on comprehending the significance of a word as a direction pointing at something outside itself. 33 It implies a separation between two fixed items and an indirect relation between the two. It is not surprising that the Scythians, who do not have a fixed abode that can be used as a ground place from which to go forth and return to, also lack the possibility of a distant, indirect, relation between signs and their significance in their language. 34 Let us return to Lucian’s use of this ‘nomadic language’. His Anacharsis typically does not comprehend metaphors or other ‘travelling’ meanings. He does not understand irony

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τῆς θεωρίης ἐκδημήσας ὁ Σόλων εἵνεκεν ἐς Αἴγυπτον ἀπίκετο παρὰ Ἄμασιν καὶ δὴ καὶ ἐς Σάρδις παρὰ Κροῖσον). Cf. Scyth. 5. See Mestre 2003 on both Solon and Anacharsis as travellers. See 9: “so that they will go through all these preliminary hardships and risks, getting choked and broken in two by one another, for apples and parsley” (…ὥστε μήλων ἕνεκα καὶ σελίνων τοσαῦτα προπονεῖν καὶ κινδυνεύειν ἀγχομένους πρὸς ἀλλήλων καὶ κατακλωμένους…). This is presumably a subtle allusion to Hdt. 8.26. See 10: “it is not the bare gifts that we have in view! They are merely tokens of the victory and marks to identify the winners” (οὐκ εἰς ψιλὰ τὰ διδόμενα ἡμεῖς ἀποβλέπομεν. ταῦτα μὲν γάρ ἐστι σημεῖα τῆς νίκης καὶ γνωρίσματα οἵτινες οἱ κρατήσαντες). Cf. West 1988. Cf. the version of Pherecydes (FGrH 3 F 174). Cf. Peirce 1998, 160–78. Cf. the two meanings of “sens” in French or “senso” in Italian, and even of the word “reference” in English as metaphorically pointing at the spatial presence of the significance of a word. Yet the Persians do have it (cf. Hdt. 4.97: σωθέντος ἐμεῦ ὀπίσω ἐς οἶκον τὸν ἐμὸν). Corresponding to the ambivalence of their language, for instance, it is not surprising that the Persians in Scythia also use a bridge which has two directions (i.e., outward and homeward).

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or double significance, and complains that Athenians never mean what they say. 35 Confronting contradictions or mixtures of attitudes, Anacharsis is at a loss. 36 He questions the possibility of the audience getting pleasure seeing men struck or hit. 37 He inquires the meaning of the contradiction between the fact that the wrestlers are peacefully rubbing oil on each other at the beginning, and their violent struggle with each other immediately afterwards (1). Anacharsis is perplexed with regard to the manifest illusion. 38 Solon, on the other hand, is Greek, that is to say, civilised, and in his arguments a point is made that learning virtue is done indirectly. According to him, the Athenians do not think that it is sufficient for each man to be as he was born in body or soul (20: οὐ γὰρ ἱκανὸν ἡμῖν ἔδοξε τὸ μόνον φῦναι ὡς ἔφυ ἕκαστος ἤτοι κατὰ τὸ σῶμα ἢ κατὰ τὴν ψυχήν), but they wish education and disciplines to be given them (ἀλλὰ καὶ παιδεύσεως καὶ μαθημάτων ἐπ᾽ αὐτοὺς δεόμεθα), by which their good features will be improved, and the bad will change for better (τά τε εὐφυῶς διακείμενα βελτίω παρὰ πολὺ γίγνοιντο ἂν καὶ τὰ φαύλως ἔχοντα μετακοσμοῖτο πρὸς τὸ βέλτιον). In other words, education involves nurture, a specific intervening action, which surpasses nature. 39 This is a central Greek belief. Indeed, culture or paideia presupposes special care. The simile Solon uses is the favourite one of agriculture (20: τὸ παράδειγμα ἡμῖν παρὰ τῶν γεωργῶν). 40 Just as farmers expose the plants to the winds to be shaken and tossed, to make them more fruitful, so does athletics. The same theme recurs later in another metaphor comparing athletics to winnowing. 41 In his reply, Anacharsis demonstrates that he is not only a barbarian, but also a sophos. In his personality are combined both barbaric straightforwardness and cultural indirectness. From the start, he seems aloof from the Athenian wrestlers, a feature which ironically puts him on a sophisticated, detached position and places the Greeks on a plane closer to nature, being aggressive and violent. It is indeed ironic that the way to assimilate to the Greeks and to receive so called ‘higher culture’ goes through this brutal and violent practice. 42 It is not accidental that Anacharsis compares the Athenian boys to animals in his initial questions (1): “others are choking and twisting, and grovelling together in 35 See 18: “Ah! That is just what I used to hear about you Athenians, that you never really mean what you say” (τοῦτ᾽ ἐκεῖνο ἦν ἄρα, ὃ ἐγὼ περὶ ὑμῶν ἤκουον τῶν Ἀθηναίων, ὡς εἴητε εἴρωνες ἐν τοῖς λόγοις). Cf. König 2005, 90. I take ‘irony’ here simply as the speech act of conveying more than one meaning. Cf. Quint. Inst. 8,6,54; cf. 6,3,85; 9,1,29; Lausberg 1960, § 582–85, 902–4; Barbe 1995; Booth 1974. 36 Cf. Anderson 1976b, 14: “the despondent Scythian lost in a foreign city” (and cf. Scyth. 3); cf. 92: misunderstanding of Greek institutions. 37 See 11: “I cannot yet conceive what pleasure it is to them to see men struck, beaten, dashed on the ground, and crushed by one another” (οὐδὲ γὰρ ἐκεῖνό πω δύναμαι κατανοῆσαι ὅ τι τὸ τερπνὸν αὐτοῖς, ὁρᾶν παιομένους γε καὶ διαπληκτιζομένους ἀνθρώπους καὶ πρὸς τὴν γῆν ἀραττομένους καὶ συντριβομένους ὑπ᾽ ἀλλήλων). Cf. Kindstrand 1981, 146–47, on Diog. Laert. 1,103, where Anacharsis also criticises Greek inconsistency with regard to athletics. 38 See 4: “others... jump up and down as if they were running but stay in the same place” (ἄλλοι… ἐγκονοῦσι καὶ ἀναπηδῶσιν ὥσπερ θέοντες ἐπὶ τοῦ αὐτοῦ μένοντες). 39 On education as the breaking of nature cf. Plato’s metaphor of horse taming (Apol. 20a–b, 24e–25b). 40 Cf. the agricultural metaphor in Plato, Euthyph. 2d , Apol. 20a; Alc. 131ab. 41 See 25: ὅπερ γὰρ δὴ οἱ λικμῶντες. Cf. also Anach. 26. 42 On Greek criticism of the athletic practices see the references in Branham 1989, 242, n.25.

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the mud, wallowing like swine (ὥσπερ σύες)”, 43 “... they put down their heads and begin to push, and crash their foreheads together like rams (ὥσπερ οἱ κριοί)”; “like eels slipping through each other’s hands (ὥσπερ αἱ ἐγχέλυες ἐκ τῶν χειρῶν διολισθαίνοντες)”; “heap dust like cockerels” (2: αὐτοὶ ἑκόντες ἐπαμῶνται τὴν κόνιν ἀλεκτρυόνων δίκην). In a sort of an ironic reversed ethnography, Anacharsis is amazed (θαυμάζω: 11) at the attitude of the spectators. 44 The Greeks are those who provide the θαῦμα. It is, I believe, this distance and indirectness that would eventually allow Anacharsis to move closer to Solon’s approach, and to mark his acceptance of some of his adversary’s arguments as a form of cultural assimilation. 45 Aesthetics and Athletics It would appear that throughout the debate, each interlocutor wishes to pull the other towards the level of discussion in which he finds himself more comfortable, namely, either one that uses a straightforward approach towards human or social behaviour or one that imposes an indirect interpretation of its meaning. Anacharsis starts with direct observations, commenting on the act of wrestling itself and its visible features. Solon, who wishes to drag the discussion to another sphere, that is, the embedded practical utility of gymnastics, makes certain rhetoric concessions to his opponent. For instance, he refers to the impression Anacharsis might have (6: τοιαῦτά σοι… φαίνεται) of a visual scene in the form of people gathering to look at the spectacles and of their attitude towards the winner. 46 Solon is confident that the usefulness of the physical exercise is evident. If a game were taking 43 Cf. Galen, Protrepticus, 11. 44 On the concept of ‘wonder’ (θαῦμα) in Greek ethnography, see Hdt. 1.194; 2.35; 2.79; 3.111–12. See also Hartog 1988, 230–37 and Munson 2001, 232–65. Indeed, cf. 6: “In like manner you yourselves probably have much in your education and training which would appear strange to us Greeks if one of us should look in upon it as you are doing now” (καθάπερ καὶ ὑμῖν πολλὰ εἰκὸς εἶναι μαθήματα καὶ ἐπιτηδεύματα τοῖς Ἕλλησιν ἡμῖν ἀλλόκοτα εἶναι δόξαντα ἄν). In Scyth. 3, Anacharsis the foreigner is mocked by the Athenians for his looks. See Branham 1989, 241, n.18 on the reversed perspective of Anacharsis. Diog. Laert. 1,103 uses the verb θαυμάζειν when referring to Anacharsis’ wonder at the Greek games (also Scyth. 7); cf. Scyth. 9 [Lucian himself]. 45 In a note we can say that from the Hellenic perspective, we see a Scythian denigrating an ostensibly more refined culture (namely, the Greek one) – in the same way Greeks belittled the cultures of the east in their biased approach towards the Eastern civilisations (for example, the Syrian background of Lucian himself). Cf. Aristotle’s threefold division of humanity (Pol. 7.1327b18–33l; cf. De aër. aqu. et loc. 22): the groups living in the cold climate of Europe are full of spirit and therefore remain free. However, they lack political organisation. Conversely, the population of Asia is intelligent and sophisticated but wanting in spirit, and hence is always in a state of subjection. This is another layer in Lucian’s irony, since this sophisticated Anacharsis shows us how the arguments would have sounded like if an Eastern protagonist were to utter them. 46 See 10: “When you go to the games and see that great throng of people gathering to look at such spectacles, and amphitheatres filling that will hold thousands...” (ἐπειδὰν εἰς τὰς πανηγύρεις ἀπιὼν ὁρᾷς τοσοῦτο πλῆθος ἀνθρώπων συλλεγόμενον ἐπὶ τὴν θέαν τῶν τοιούτων καὶ θέατρα μυρίανδρα συμπληρούμενα...).

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place then, he remarks, it would ‘of itself’ show that it is not time spent in vain (12: αὐτὸ ἄν σε τὸ γιγνόμενον ἐδίδαξεν ὡς οὐ μάτην ἐσπουδάκαμεν ἐπὶ τούτοις). In all these statements, a claim is made that the visible features of the games would convey their practicality. Furthermore, Solon wishes to convince Anacharsis of the indirect utility of wrestling by pointing to its immediate aesthetic qualities (mainly perfection, physical beauty, skill and strength). 47 Later on, he returns to this rhetorical device, and dwells on the aesthetic observable physical traits of the Athenians: he refers to the bodies of the men, which show neither pale hefty bits nor skinniness like women who stay in the shade. 48 The Athenians display a kind of frankness through their bodies, which Solon finds beautiful, and therefore he keeps on describing the athletes’ skin and their corporal qualities. 49 Finally, Solon does his best to blur the distinction between the aesthetic and ethical (or practical) realms. He maintains that Athenian boys are instructed in theatres through comedies and tragedies, in which the virtues and the vices of the ancients are seen (22: ἀρετάς τε ἀνδρῶν παλαιῶν καὶ κακίας θεωμένους). That is, they observe directly what is essentially indirect and implicit. The goal of the action played in drama, Solon maintains, is that the boys will emulate the virtues displayed and abstain from the vices presented (22). 50 It is evident in comedies, where real citizens are ridiculed when they follow practices which are base. This scolding makes the citizens better (ἀμείνους γὰρ οὕτω γίγνονται ὀνειδιζόμενοι), but it is also meant for the general public, so that the spectators may avoid being chided. Solon’s seemingly lack of differentiation between the layer of the action or the story and the artistic evaluation of the entire play leads to a conflation of the two levels of dramatic appreciation, appropriate to different genres. 51 It is interesting to note Anacharsis’ reactions to all these claims. First, he makes a distinction where Solon does not. He cannot conceive of any pleasure (and aesthetic at that) derived from seeing men suffer and struggle. 52 Furthermore, even accepting, for the sake of the argument, the perfection of the wrestlers’ physique, Anacharsis claims that it is all the more wasted because of the futility of athletics and the risk of physical injuries (13: μάτην δὲ τοσαῦτα πάσχοντες καὶ ταλαιπωρούμενοι καὶ αἰσχύνοντες τὰ κάλλη καὶ τὰ 47 See 12: “Just by talking about the delightfulness of the doings there, one cannot convince you of it as thoroughly as if you yourself, sitting in the midst of the spectators, were to see manly perfection, physical beauty, wonderful condition, mighty skill, irresistible strength, daring, rivalry, indomitable resolution, and inexpressible ardour for victory” (Οὐ γὰρ οὕτω λέγων ἄν τις προσβιβάσειέν σε τῇ ἡδονῇ τῶν ἐκεῖ δρωμένων, ὡς εἰ καθεζόμενος αὐτὸς ἐν μέσοις τοῖς θεαταῖς βλέποις ἀρετὰς ἀνδρῶν καὶ κάλλη σωμάτων καὶ εὐεξίας θαυμαστὰς καὶ ἐμπειρίας δεινὰς καὶ ἰσχὺν ἄμαχον καὶ τόλμαν καὶ φιλοτιμίαν καὶ γνώμας ἀηττήτους καὶ σπουδὴν ἄλεκτον ὑπὲρ τῆς νίκης). 48 See 25: οἷα γυναικῶν σώματα ὑπὸ σκιᾷ μεμαρασμένα. 49 Οὗτοι δὲ ἡμῖν ὑπέρυθροι εἰς τὸ μελάντερον ὑπὸ τοῦ ἡλίου... εἰς τὸ σύμμετρον περιγεγραμμένοι (25). 50 Cf. the professed goals of Plutarch’s Lives, which are stated by the narrator more than once, to imitate good examples and abhor negative ones: cf. Aem. 1,1–6, Per. 1, Demet. 1,5–6. Cf. Quom. Quis sent. 84a-85b. See Verdegen 2010, 19–26. On Plutarch’s moralism, cf. Pelling 2002, 237–39. 51 Cf. Aristotle’s distinction (Poetics, 1451b8) between history and poetry, in that the first tells us what happened (i.e., the actions) and the other what might happen (i.e., the type of character). 52 See 11; note the stark contradiction of a happy audience (εὐδαιμονίζουσιν) and the suffering wrestlers (αἵματι ῥαινομένους ὁρῶντες ἢ ἀγχομένους ὑπὸ τῶν ἀντιπάλων).

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μεγέθη). Anacharsis is still in the overtly visible plane when he asserts that he sees the futility of the wrestling or athletics (13: ὁρῶ οὐδενὸς μεγάλου ἕνεκα παραπολλυμένας ὑμῖν). Finally, Solon’s lack of differentiation between the aesthetic evaluation of the play (which goes beyond the mere facts of the plot) and the practical assessment (which only takes account of the story and the action, morally judged) is carried further by Anacharsis, up to the point where he indeed fails to discriminate between the characters and the actors. 53 The Usefulness of Athletics Anacharsis finishes his first series of queries (5) by raising the question “What good (τίνος ἀγαθοῦ) is all this? Can it not be madness?” Solon retorts by discussing at length various objectives of the exercises. Among those of the first group he names the said prizes (9–10) and honours (14), hoping that Anacharsis would understand the mixture of the useful with the hardships (εἴσῃ ὅτι πολὺ τὸ χρήσιμον ἔχουσιν ἐγκαταμεμιγμένον τοῖς πόνοις) 54 and realise that in fact, there is only an indirect path to glory, through pain. 55 To this line of argument Anacharsis responds by considering the objectives as futile (9–10) or by displaying his inability to comprehend how the valued objects (e.g., honour) are given to the wrestlers from the audience (9). Another class of goals consists of the physical benefits of athletics. Solon mentions, for example, within his first long speech (20–30) the manner in which the body becomes more elastic by the use of oil (like leather: 24), or the acquired slipperiness which contributes to strength and the muscular system (28). One argument used by Solon concentrates on what is lost: the bodies of the athletes lose the useless and worthless parts. 56 Addressing yet another group of objectives which gymnastic exercises aim to achieve, Solon portrays 53 See 23: “their headpieces were far more ludicrous. In fact, the whole audience laughed at them; but they all wore long faces while they listened to the tall fellows, pitying them, I suppose, because they were dragging such clogs about!” (Καὶ τὸ θέατρον γοῦν ἅπαν ἐγέλα ἐπ´ αὐτοῖς· ἐκείνων δὲ τῶν ὑψηλῶν σκυθρωποὶ ἅπαντες ἤκουον, οἰκτείροντες, οἶμαι, αὐτοὺς πέδας τηλικαύτας ἐπισυρομένους). Cf. Anderson 1976a, 19. 54 This might be another Platonic allusion. The metaphor of ‘mixing’, derived from the act of combining fluids, especially of diluting wine with water within the κρατῆρ (LSJ I.1) is used by Plato to designate the mingling of opposites in the contradictory world of becoming (Rep. 7,508d, with shadows; cf. Phaed. 59a, Philb. 50d; cf. Leg. 10,889c; Tim. 35a, 68d, 69d) as opposed to the unchanging intelligible forms. 55 See 10: “Without hardships it cannot be acquired; the man who covets it must put up with many instances of unpleasantness in the beginning before at last he can expect the profitable and delightful outcome of his exertions” (Οὐ γὰρ ἀπονητὶ προσγένοιτο ἂν αὕτη, ἀλλὰ χρὴ τὸν ὀρεγόμενον αὐτῆς πολλὰ τὰ δυσχερῆ ἀνασχόμενον ἐν τῇ ἀρχῇ τότ´ ἤδη τὸ λυσιτελὲς καὶ ἡδὺ τέλος ἐκ τῶν καμάτων περιμένειν). 56 See 25: “they have sweated away the useless and superfluous part of their tissues, but what made for strength and elasticity is left upon them uncontaminated by what is worthless, and they maintain it vigorously” (τὸ μὲν ἀχρεῖον τῶν σαρκῶν καὶ περιττὸν τοῖς ἱδρῶσιν ἐξαναλωκότες, ὃ δὲ ἰσχὺν καὶ τόνον παρεῖχεν ἀμιγὲς τοῦ φαύλου περιλελειμμένον ἐρρωμένως φυλάττοντες).

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athletics in a different way altogether. Instead of assuming that it makes the wrestlers insensitive to hardships, Solon apparently claims that the purpose of the exercises is to protect the practitioners from suffering, i.e., an exercise with dust is done so that the wrestlers would not be harmed by the wind (29). This is also true of their mental states. Solon argues that athletics keep the wrestlers far from vice because it gives them diversion and keeps them occupied (30: διατρίβουσιν καὶ ἀσχόλοις οὖσιν ἐν αὐτοῖς). However, the most important arguments stated by Solon relate to the benefits of athletics in the political (i.e., military) sphere. Firstly, Solon employs a roundabout argument which links exercises to the best way of managing a state, Anacharsis’ main interest. 57 This is done through the mediating claim concerning the excellence of the citizens, and hence their education. Anacharsis’ wish to dwell on this link marks the transition to the second phase in the dialogue. 58 In this section, Anacharsis enquires how exercises could contribute to the excellence (ἀρετή) of the Athenian boys (18). His question connects two fields: the physical and the psychological or ethical. Solon’s answer to the query concerning the connection between these two realms makes the argument even more oblique and uses a rhetorical ploy. In Solon’s opinion, the city is not its physical dimension, such as buildings, walls, temples and docks (20). These are like a body for the protection of the community (ταῦτα μὲν ὥσπερ σῶμά τι ἑδραῖον καὶ ἀκίνητον ὑπάρχειν εἰς... ἀσφάλειαν τῶν πολιτευομένων). The citizens who plan, carry out everything and guard the city (21) are like the soul in the individual (20: οἷόν τι ἐν ἡμῖν ἑκάστῳ ἐστὶν ἡ ψυχή). Thus, paying attention to the body of the wrestlers means to take care of the soul of the city (i.e., of the citizens). 59 A further indirect link to the political sphere is presented in an analogy: gymnastics is connected to another competition (ἀγών), “whose prize... contains all human felicity, individual and public freedom” (15). 60 Solon views the wrestling contests as having the same purpose as this contest, which he terms the “greatest” and the prizes of athletics as being parts of the goal of this one (16). He returns to this theme, and explains that wrestling is a preparation to that great contest, which is under arms. 61 The wrestlers become experts, and might use in battle what they had learned. 57 See 14: “If ever you make it your object to find out how a state is to be organized in the best way possible and how its citizens are to reach the highest degree of excellence, you will then praise these exercises and the rivalry which we display in regard to them” (ἢν δέ σοι μελήσῃ ποτὲ εἰδέναι ὅπως ἂν τὰ κάλλιστα οἰκηθείη πόλις καὶ ὅπως ἂν ἄριστοι γένοιντο οἱ πολῖται αὐτῆς, ἐπαινέσῃ τότε καὶ τὰς ἀσκήσεις ταύτας καὶ τὴν φιλοτιμίαν ἣν φιλοτιμούμεθα περὶ αὐτάς). 58 See 14: “for I used to hear that you were maker of laws, an inventor of excellent institutions...so do be quick about teaching me and making a disciple of me” (ἤκουον νόμων τε συγγραφέα τινὰ εἶναι σε καὶ ἐθῶν τῶν ἀρίστων εὑρετὴν... διδάσκων με καὶ μαθητὴν ποιούμενος...). Cf. Kindstrand 1981, 29–30. 59 This metaphor alludes to Plato’s analogy of the soul and the Polis: See Rep. 2,368c-9a; 4,434d-45e; 5,462c-e; 8,544d-5c. See Ferrari 2003; Neu 1971; Williams 1999. 60 Κοινὸς γάρ τις ἀγὼν ἄλλος ἅπασι τοῖς ἀγαθοῖς πολίταις πρόκειται, καὶ στέφανος… ὃς ἐν αὑτῷ συλλαβὼν ἔχει τὴν ἀνθρώπου εὐδαιμονίαν, οἷον ἐλευθερίαν λέγω αὐτοῦ τε ἑκάστου ἰδίᾳ καὶ κοινῇ τῆς πατρίδος... 61 See 24: “Clearly such a man, when he closes with an enemy, will trip and throw him more quickly, and when he is down, will know how to get up again most easily. For we make all these preparations, Anacharsis, with a view to that contest, the contest under arms” (δῆλον γὰρ ὅτι καὶ πολεμίῳ ἀνδρὶ ὁ τοιοῦτος συμπλακεὶς καταρρίψει τε θᾶττον ὑποσκελίσας καὶ καταπεσὼν εἴσεται ὡς ῥᾷστα

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What seems to be prima facie a reasonable point 62 turns out to be ridiculous as soon as Solon explains his argument in detail and tries to establish a more direct link. He claims that the exercises are useful in war (εἰς τοὺς πολέμους καὶ χρήσιμα), as, for instance, in case one should have to carry a wounded friend out of the battle site (28). Anacharsis, picking up on this direct approach to the utility of exercises, points to its ineffectiveness in a reductio ad absurdum argument, describing a scenario, which is not immediately given, that Athens’ enemies will use arrows and spears (31): “Then if the enemy attacks you, Solon, you yourselves will take field rubbed with oil and covered with dust, shaking your fists at the them, and they, of course, will cower at your feet and run away, fearing that while they are amazed in confusion you may sprinkle sand in their mouths, or that after jumping behind them so as to get on their backs, you may wind your legs about their bellies and strangle them by putting an arm under their helmets”. 63 It is interesting to note that Anacharsis refers to the more developed culture of Athens’ enemies, who use sophisticated weapons of war, as opposed to an alleged more primitive combat technique of the Athenians. 64 Thus, it is through this argumentation that Anacharsis uses the indirect rhetorical approach of his adversary and casts the Athenians into a simple, straightforward position, which is removed from the image of refined and cultivated culture employed earlier. Pale or Beyond the Pale: the Change in Anacharsis’ Position It appears that Anacharsis’ position shifts towards that of his adversary. When this happens, Anacharsis finds himself playing in Solon’s field of circuitousness and obliqueness. This change is symbolically represented by the movement of the interlocutors to the shade. In suggesting this change of position, Anacharsis seems to reveal his acceptance of several ἐξανίστασθαι. πάντα γὰρ ταῦτα, ὦ Ἀνάχαρσι, ἐπ᾽ ἐκεῖνον τὸν ἀγῶνα ποριζόμεθα τὸν ἐν τοῖς ὅπλοις...). On this link (especially between the ephebeia and training for war) see Arist. AP 42; Philostratus, Gym. 43; Newby 2005, 169–70; König 2005, 53, 58. 62 Accepted as such by Spivey 2004, 18. 63 ἤν ποτε ὑμῖν ἐπίωσιν οἱ πολέμιοι, χρισάμενοι τῷ ἐλαίῳ καὶ κονισάμενοι πρόϊτε καὶ αὐτοὶ πὺξ τὰς χεῖρας ἐπ´ αὐτοὺς προβεβλημένοι, κἀκεῖνοι δηλαδὴ ὑποπτήσσουσιν ὑμᾶς καὶ φεύγουσιν δεδιότες μὴ σφίσι κεχηνόσι πάσσητε τὴν ψάμμον εἰς τὸ στόμα ἢ περιπηδήσαντες, ὡς κατὰ νώτου γένησθε, περιπλέξητε αὐτοῖς τὰ σκέλη περὶ τὴν γαστέρα καὶ διάγχητε ὑπὸ τὸ κράνος ὑποβαλόντες τὸν πῆχυν. These absurd arguments are specifically highlighted here. See Sansone 1988, 95–96. Cf. König 2005, 88–89. Cf. Konstan 2010, 189: “The Anacharsis is to gymnastic sport what the True History is to literature; an argument that παιδεία is not, in the end, so very different from παιδιά.” Cf. Anach. 32. 64 Cf. König 2005, 82 on this dialogue as a scene of confrontation between primitive and new-fangled lifestyles. Incidentally, this line of argument might seem to employ the same biased approach directed at eastern cultures by the Athenians that has some affiliation with the modern term ‘Orientalism’. See Said 1978, 2–3, 21, 56, 97.

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features in Hellenic culture. He already confessed that he had come to Greece in order to learn Greek laws and to be acquainted with the best form of polity (14: ὅπως νόμους τε τοὺς Ἑλλήνων ἐκμάθοιμι καὶ ἔθη παρ´ ὑμῖν κατανοήσαιμι καὶ πολιτείαν τὴν ἀρίστην ἐκμελετήσαιμι). He now admits that he left his cap in Scythia, in order not to appear foreign in Athens (16). Anacharsis thus has de facto already adopted an ambiguous stance, in that he pretends to be what he is not. Later on, for the sake of the argument (19), Solon supposedly makes his guest an Areopagite (Ἀρεοπαγίτην ἐν τῷ παρόντι ποιοῦμαι). Anacharsis is made to be assimilated to Athenian society to such a degree, that he holds an office in it. Yet, this is of course imaginary and rhetorical, and even as an ‘Athenian’, Anacharsis is a judge, holding an external (judicial) position to the situation, not of a participant in it. 65 It is no accident that Anacharsis suggests moving away from the sun to the shade (16: εἰς τὸ σύσκιον ἐκεῖσε ἀπελθόντες). This transition is a metaphor for a shift in the argumentation to roundabout reasoning which deals with indirect significance. 66 Even though the conversation seems to be overt and frank (cf. the phrases καθ´ ὁδὸν; εἰρήσεται), it is in fact now only obliquely related to athletics. Anacharsis even explicitly suggests moving away from the men who are shouting at the wrestlers (16: ὡς μὴ ἐνοχλοῖεν ἡμῖν ἐπικεκραγότες τοῖς παλαίουσιν). The correspondence between form and content is clearly visible. The moment Solon claims that it would be easy to dwell on an indirect topic (16: “it will be an easy matter for us to hark back to the beginning, to the common competition which is, as I say, the object of all these practices”; ῥᾳδίως πρὸς τὴν ἀρχὴν καὶ τὸν κοινὸν ἀγῶνα δι´ ὅν φημι πάντα ταῦτα ἐπιτηδεύεσθαι), Anacharsis says that it is not easy standing in the blazing sun with a bare head (οὐδὲ τὸν ἥλιον ἔτι ῥᾳδίως ἀνέχομαι ὀξὺν καὶ φλογμώδη ἐμπίπτοντα γυμνῇ τῇ κεφαλῇ), i.e., standing and facing the hard questions, as it were. The shade is thus a location where an indirect talk takes place, and where both interlocutors have plenty of time, as Solon claims (19: ἀλλὰ ἥ τε σκιὰ πυκνὴ καὶ ἡμεῖς σχολὴν ἄγομεν). The Platonic connotation of shadows as a world of images and phantoms far removed from truth and reality (symbolised by the sun) 67 naturally comes to mind and indicates that the topics discussed in the shade, namely, Greek culture and practices, or even the oblique mode of discussion itself, involve a measure of unreality or illusion. 68 A subtle irony may be found in Anacharsis’ reference to himself as a nomad (cf. 18: ἐγὼ νομὰς καὶ 65 Turning Anacharsis into a judge is ironic, bearing in mind some of the apophthegmata connected with him, which criticise the judicial practices among the Greeks: see Plut. Sol. 5,6 and Diog. Laert. 1,103 (κρίνουσι). Cf. Kindstrand 1981, 150–51. 66 Marking this instance as a key point does not accord with the division of the dialogue into sections made by Branham 1989, 91, i.e., parag. 6–13, 14–37, 38–40. 67 Cf. Rep. 7,515a–e: ignorance of the truth and reality is likened to a gaze on shadows created by artificial light in the cave parable. Shadows are the objects of illusion or images (εἰκόνες) in the divided line simile (6.510a). On the important place of Plato among Second Sophistic authors, see de Lacy 1974; Anderson 1989, 119–23. 68 Let alone the artistic representation of this very fictitious meeting between Solon and Anacharsis. This goes back to the Phaedrus (229ab), where a shaded spot is suggested as a place for philosophical discussion. Cf. Anderson 1976a, 154; Hunter 2012, 12, but this allusion also has metapoetic and cultural meanings.

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Lucian’s Anacharsis: an Exercise in Greek Culture

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πλάνης ἄνθρωπος) and the intimation that the Athenians are autochthonous, who never left their city. This image points to an opposite position from the initial one held by the speakers: now the Scythian is being indirect and going in a roundabout manner, while the Athenians are being simple, as in staying in the same place. It would seem that in parallel to Anacharsis’ shift towards Solon, the latter feels much at ease to fall back on a direct evaluation of athletics. 69 He claims that Anacharsis himself would choose the firm athletes rather than the delicate and pale persons living in the shade (29), 70 i.e., he would choose the visibly strong rather than the visibly weak. As Anacharsis himself prefers to be in the shade, this could be taken as a point to show his lack of athletic training. Indeed, when Anacharsis asks Solon how it is that he, an elderly man, is not troubled by the sun (16), the Athenian is not slow to emphasise the better ability of the Athenians’ bodies as a result of their exercises. 71 The Athenians have no use of a cap; they can face the sun directly. In response to Solon’s attempt to lump together athletics and warfare and to minimise the gap between them, Anacharsis seeks to emphasise the real hiatus that subsists between the two realms. It is the Scythian who points out that athletics is but a play and amusement to idle youngsters, an observation which shows a deep (and indirect) understanding of the difference between war and leisure. 72 He contends that it is opposed to real training, which takes place under arms (32: ἄλλων ὑμῖν γυμνασίων δεήσει καὶ ἀσκήσεως ἀληθινῆς τῆς ἐν τοῖς ὅπλοις), and consists of drawing the bow and throwing the spear. In fact, Anacharsis claims that athletics is so far removed from real combat, that he could frighten away the wrestlers with his own dagger (33: ἢν... τοῦτο ξιφίδιον... ἐπεισπέσω τοῖς νέοις... ἂν ἕλοιμι τὸ γυμνάσιον φυγόντων ἐκείνων). He concludes by saying that peace has led the Athenians into such a decadent state (33: ὡς μὴ ἂν ῥᾳδίως ἀνασχέσθαι λόφον ἕνα κράνους πολεμίου ἰδόντας). It would seem that when Anacharsis acknowledges a state of peace in Athens he begins to understand the embedded indirect approach of the Athenians. In reply to Anacharsis, Solon says that in times of peace it is unnecessary to carry arms all the time (34: ὁπλοφορεῖν ἀεὶ καὶ ἀκινάκην παρεζῶσθαι περιττὸν ἐν εἰρήνῃ οἰόμεθα εἶναι), referring to Anacharsis’ practice of carrying a dagger. According to the Athenian legislator, the Scythians are constantly at war and need the direct use of weapons (34: ὑμεῖς δὲ συγγνωστοὶ 69 Cf. two moments in the dialogue noted by König 2005, 87: Solon jumps to conclusions “avoiding detailed philosophizing”, while Anacharsis seeks “an elevated discussion” (esp. in paragraph 21). In these cases, the two seem to have switched their original positions. 70 ...συνεστηκὼς καὶ συγκεκροτημένος εἶναι μᾶλλον ἢ θρύπτεσθαι καὶ διαρρεῖν καὶ λευκὸς εἶναι ἀπορίᾳ καὶ φυγῇ εἰς τὰ εἴσω τοῦ αἵματος. 71 See 16: “These useless exertions, Anacharsis, the continual somersaults in the mud and the open-air struggles in the sand give us our immunity from the shafts of the sun” (Οἱ μάταιοι γὰρ οὗτοι πόνοι, ὦ Ἀνάχαρσι, καὶ αἱ συνεχεῖς ἐν τῷ πηλῷ κυβιστήσεις καὶ αἱ ὕπαιθροι ἐν τῇ ψάμμῳ ταλαιπωρίαι τοῦτο ἡμῖν τὸ ἀμυντήριον παρέχουσι πρὸς τὰς τοῦ ἡλίου βολάς). 72 See 32: “all these clever tricks of yours are silliness, nothing but child’s play, amusements for your young men who have nothing to do and want to lead an easy life” (ταῦτα μὲν ὑμῖν τὰ κομψὰ λῆρος ᾖ καὶ παιδιὰ ἄλλως καὶ διατριβαὶ ἀργοῦσι καὶ ῥᾳθυμεῖν ἐθέλουσι τοῖς νεανίσκοις).

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ἐν ὅπλοις ἀεὶ βιοῦντες). When Anacharsis accepts this difference between the Scythians and the Athenians, he seems to have learnt some aspects of Greek culture. 73 Note that his next question is about a topic which is not immediately visible to him, i.e. why the great competitions are not under arms (36). Solon can once again turn to the Athenian way of instant assessments. He answers that viewing (36: εἰ... ἴδοιεν) the games and the honours bestowed on the winners are the cause of the zeal (προθυμία) of the young to participate in athletic exercises (cf. ἀπίασιν... πόνων ἐρασθέντες). Gradually, Anacharsis seems to adopt certain rhetorical measures typical for a Greek. Surprisingly, he uses the device of litotes himself (19: οὐ μικρὰν), employs irony, 74 and even mentions a hypothetical situation (33, see above). Solon’s assumption that the Scythians have exercises themselves (παρ´ ὑμῖν καὶ οἷστισι γυμνασίοις), a remark not contradicted, might as well point at Anacharsis’ ultimate acceptance of the value of athletics in an indirect and circuitous upbringing. It would thus seem that Anacharsis has gone beyond the pale (by Scythian standards) in accepting Greek (rhetorical and otherwise) practices (symbolised by the metaphorical movement to the shade) at the very moment that his pale complexion has betrayed his foreignness (the movement to the shade, taken as real, only highlights that the Scythian is not really assimilated to this civilisation but is distant from it). Solon and the Spartan Case Solon, on his part, seems to move closer to Anacharsis’ position. Apparently, two steps are needed to reach his opponent’s position. Solon changes his view of physical exercises. In response to Anacharsis’ question regarding the purpose of exhausting the strength of the young, 75 the Athenian sage likens potency to the fable of Hydra (35). 76 Such a comparison discloses Solon’s acceptance of his adversary’s claim that exercises do injure (at least temporarily), though this is immediately refined by his assertion that out of that harm develops a much stronger body.

73 The argument is another instance of tongue in cheek rhetoric used by Lucian, since it is more typical of Roman than of Archaic or Classical Athens. Cf. Newby 2005, 149, König 2005, 51, 55–58, Konstan 2010. The readers know that Athens would soon be constantly involved in wars, either with the Persians or with other Greeks. 74 See 31: “the missiles will not affect you... tanned as you are by the sun and supplied in abundance with blood” (οὐ καθίξεται τὰ βέλη κεχρωσμένων πρὸς τὸν ἥλιον καὶ πολὺ τὸ αἷμα πεπορισμένων). See Anderson 1976a, 115. 75 See 35: “...when no danger threatens you wear out the bodies of your young men by mauling them and wasting them away in sweat, not husbanding their strength until it is needed but expanding it fruitlessly in the mud and dust?” (τὰ δὲ σώματα τῶν νέων οὐδενὸς δεινοῦ ἐπείγοντος καταπονεῖτε παίοντες καὶ ὑπὸ τῶν ἱδρώτων καταναλίσκοντες, οὐ ταμιευόμενοι πρὸς τὸ ἀναγκαῖον τὰς ἀλκὰς αὐτῶν, ἀλλ´ εἰκῆ ἐν τῷ πηλῷ καὶ τῇ κόνει ἐκχέοντες;). 76 Τὸ δὲ οὐχ οὕτως ἔχει σοι, ἀλλὰ ὅσῳ τις ἂν αὐτὴν ἐξαντλῇ τοῖς πόνοις, τοσῷδε μᾶλλον ἐπιρρεῖ κατὰ τὸν περὶ τῆς Ὕδρας μῦθον, εἴ τινα ἤκουσας, ὡς ἀντὶ μιᾶς κεφαλῆς τμηθείσης δύ´ ἀεὶ ἄλλαι ἀνεφύοντο.

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Furthermore, Solon admits (37) that the acts of wounding or killing the wrestlers and of watching these acts are bestial and cruel (θηριῶδες γὰρ καὶ δεινῶς). It is also unprofitable (ἀλυσιτελὲς) to kill the best men. This may be regarded as very close to Anacharsis’ initial stand, for it is both a direct evaluation, and one that deems the act ugly and useless. The only difference is that Solon comments on exercises under arms. 77 Earlier on, however, he claimed that the aims of gymnastics are the same as that of a great armed contest, as are the preparations for both. In fact, Solon cites a clear example of an exercise which is also lethal and bloody. In Sparta, the young are indeed injured very hard to the point where they drip blood, and even die in the competition (38: Πολλοὶ γοῦν καὶ ἐναπέθανον τῷ ἀγῶνι), not wishing to give up in sight of their kinsmen. Solon claims that the Spartans do not see this as madness, and that Lycurgus would argue that this behaviour aims to create guardians of the country who will be superior to every fear. 78 The Athenian legislator seems to espouse this line of thinking, but he only reaches so far and declares that the Athenians would not copy foreign things (39: ζηλοῦν δὲ τὰ ξενικὰ οὐ πάνυ ἀξιοῦμεν). 79 Anacharsis sees it as a clear sign that the Athenians understand that flogging a person to death is both hideous and futile. 80 As Solon places himself against Anacharsis and the Athenians against this Spartan practice, a threefold scheme seems to emerge. On the one hand, the Athenian confronts a sophisticated barbarian, on the other hand, he opposes barbarian and brutal Greeks – the Spartans. These two opponents appear to resemble each other. For one thing, there is an obvious similarity between Anacharsis and Lycurgus. According to Solon, Lycurgus went to the Cretans because he believed their laws were the best. 81 This corresponds to Anacharsis’ manifest reason of going to Athens (14). In addition, the Spartans might 77 Cf. Newby 2005, 151, n.28 and König 2005, 91 on the link between this criticism and the Greek attack against gladiatorial games in Rome (cf. Dio Chrys. 31,131; Philostratus, Life of Apollonius, 4,22). 78 See 38: “[Lycurgus] desires that those who are destined to preserve their country should be tremendously staunch and superior to every fear” (Λυκοῦργος... καρτερικωτάτους καὶ παντὸς δεινοῦ κρείττονας ἀξιῶν εἶναι τοὺς σώσειν μέλλοντας τὴν πατρίδα). Cf. Cicero, Tusc. Disp. 2,34; Philostratus, Gym. 58. 79 This is of course an allusion to Thucydides, 2,37,1: “Our constitution does not copy the laws of neighbouring states; we are rather a pattern to others than imitators ourselves” (χρώμεθα γὰρ πολιτείᾳ οὐ ζηλούσῃ τοὺς τῶν πέλας νόμους, παράδειγμα δὲ μᾶλλον αὐτοὶ ὄντες τισὶν ἢ μιμούμενοι ἑτέρους). 80 “No: you understand, I think, what it is like to be flogged naked, holding up one’s arms, for no advantage either to the individual himself or to the city in general” (συνίης, οἶμαι, οἷόν τί ἐστι μαστιγοῦσθαι γυμνὸν ἄνω τὰς χεῖρας ἐπαίροντα μηδενὸς ἕνεκα ὠφελίμου ἢ αὐτῷ ἑκάστῳ ἢ κοινῇ τῇ πόλει). On the different attitudes of Lycurgus and Solon as legislators see Plut. Sol., 16,1; 22,2. Note the irony in that the Spartan whipping contest is said to be a progress from an earlier ritual of human sacrifice to the goddess Artemis Orthia, whose worship came to Greece from Scythia (cf. Pausanias, 3,6,10; Philostratus, Life of Apollonius, 6,20; Newby 2005, 152, n.33). Solon defends an (ultimately) Scythian practice – while the Scythian resents it. 81 In Solon’s words (39): “He was an old man when he made the laws for them on his return from Crete. He had gone to visit the Cretans because he was told that they enjoyed the best laws, since Minos, a son of Zeus, had been their lawgiver” (Πρεσβύτης ἤδη ὢν ἔγραψε τοὺς νόμους αὐτοῖς Κρήτηθεν

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strike one as reminiscent of the barbarians. Note that they show the same response of laughter (38: καταγελῶν) to scourging, like Anacharsis, but this time not as external viewers of the situation, but as prisoners of war tortured by their captors. 82 Near the end of the dialogue, Solon retorts that Anacharsis will not be winning the case against Sparta by default, in the absence of adversaries (40), because someone will answer in Sparta. But did the Scythian wise man win his argument in Athens? Apparently, the opposite is true. Firstly, notwithstanding the Athenians’ reluctant admission that the Spartan bloody exercises are repellent, Anacharsis still does not emerge triumphant from the debate, for his goal was to show that athletics or gymnastics in themselves are useless or revolting. Secondly, the Athenians’ reluctance to adopt foreign customs only underscores Anacharsis’ rhetorical inability to make Solon the Athenian change his mind and fully accept the view of his antagonist. Earlier, we may recall, when he was more confident of his position, Solon claimed that Anacharsis might teach the Athenians, and that Athens would not be ashamed to learn useful matters from a barbarian and foreigner (17: Καὶ εὖ ἴσθι ὡς οὐκ αἰσχυνεῖται ἡ Ἀθηναίων πόλις παρὰ βαρβάρου καὶ ξένου τὰ συμφέροντα ἐκμανθάνοντες). 83 Since Anacharsis is a sophos (17), Athenian boys are encouraged to converse with him, and to learn from him what is right and noble (22). Indeed, it is one of the options Solon envisages to end the debate: either Anacharsis will be persuaded after all his objections are refuted, or else Solon will see that he himself is in the wrong, and will be instructed by his adversary (17). In the latter case, Anacharsis would teach Athens through correcting Solon’s erroneous position (17: ἐκείνην τὰ μέγιστα ἔσῃ ὠφεληκώς), for the latter would display it publicly (εὐθὺς εἰς τὸ μέσον καταθήσω). Nevertheless, Solon’s later frank admission (40) that the Athenians will not emulate foreign customs 84 makes Anacharsis’ recounting of the practices of his country redundant. It is no wonder that he does not specify them in the dialogue (apart from making a promise to mention them the following day: 40). 85 Solon’s penultimate statement thus abruptly ends the debate in an artificial manner. It also shows the extent of Solon’s sophistry, in that his ostensible willingness to change his position was only tactical and not real. 86

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ἀφικόμενος. Ἀποδεδημήκει δὲ παρὰ τοὺς Κρῆτας, ὅτι ἤκουεν εὐνομωτάτους εἶναι, Μίνωος τοῦ Διὸς νομοθετήσαντος ἐν αὐτοῖς). See Cartledge 1993, 95–97, 232, on Spartans as aliens, different from the traditional Greek political and social norms and as the ‘internal’ Greek others. Cf. Kindstrand 1981, 17–18. In itself it is an ironic reversal of the image of Solon found in Herodotus (see n.28 above) and Plato (Tim. 21e-23d). See also Plut. Sol., 31,3; 32,1. and Arist. AP 11,1. For other occasions where Anacharsis is known to mention Scythian habits see his so called Epistles (5,9). Cf. Plut. Sept. sap. conv. 148e. and Kindstrand 1981, 64–65, Arist. Analyt. Post.. 1,13,78b29–31, Diog. Laert. 1,104; Cf. Athen. 4,159c (~ Plut. Quomodo quis suos in virtute sentiat profectus 7,78f). Cf. Anderson 1976a, 115, 155: the weakness of Solon’s defence of Spartan whipping reveals that “Solon is the impostor”.

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Memory (in Lieu of a Conclusion) According to Solon, the education of Athenian boys involves recitation of the sayings of wise men and ancient deeds. 87 Solon claims that these are adorned with metre in order that the students may remember them better (21: ἐν μέτροις κατακοσμήσαντες, ὡς μᾶλλον μνημονεύοιεν). Appropriately, the educational procedures as described by Solon also involve memory, an indirect process, whose purpose is to regain what is essentially lost. It is interesting to note that while the education of the souls of the Athenians makes use of memory, the physical exercises make the Athenians unmindful of their bodies (24: τῶν σωμάτων ἀφειδεῖν), i.e., they employ forgetfulness. In the same way, while there is an effort to develop sensitivity in the minds of the Athenians and to make them avoid bad examples (22), the opposite is true regarding the body. Here the goal is to accustom the Athenians to bad and harsh conditions (24: ἐθίζειν ἀξιοῦμεν πρὸς τὸν ἀέρα... ὡς τούς τε πόνους καρτερεῖν ἐθίζοιντο). In the conversation, memory plays several roles, enhancing its roundabout nature. The topic itself is admitted by Solon (21) to be very far from the matter under discussion (ἔξω τοῦ πράγματος), which is not how the souls are disciplined, but how the bodies are trained with hardships. While dwelling upon it, Solon fears that his own discussion will confuse Anacharsis’ memory (21: μή σου ἐπιταράξῃ τὴν μνήμην ἐπιρρέων), presumably since earlier on, Anacharsis expressed a related concern, that if Solon’s explanations were too long, he would forget the beginning. 88 One might also say that Anacharsis’ concern is that Solon’s indirect approach might influence him. Apparently, it has done so. On first impression, it may be argued that the agon of Solon and his adversary is not settled. 89 Yet, a closer look indicates otherwise. Anacharsis defers 87 See 21: “Their souls we fan into flame with music and arithmetic at first and we teach them to write their letters and to read them trippingly. As they progress, we recite for them sayings of wise men, deeds of olden times, and helpful fictions, which we have adorned with metre that they may remember them better” (Τὴν μὲν τοίνυν ψυχὴν μουσικῇ τὸ πρῶτον καὶ ἀριθμητικῇ ἀναρριπίζομεν, καὶ γράμματα γράψασθαι καὶ τορῶς αὐτὰ ἐπιλέξασθαι διδάσκομεν· προϊοῦσιν δὲ ἤδη σοφῶν ἀνδρῶν γνώμας καὶ ἔργα παλαιὰ καὶ λόγους ὠφελίμους ἐν μέτροις κατακοσμήσαντες, ὡς μᾶλλον μνημονεύοιεν, ῥαψῳδοῦμεν αὐτοῖς). 88 See 18: “I say this in order that you may not make your explanations too involved or too long, for I am afraid that I may forget the commencement if the sequel should be too profuse in its flow” (Λέγω δὲ ὡς μὴ περιπλέκῃς μηδὲ ἀπομηκύνῃς τοὺς λόγους· δέδια γὰρ μὴ ἐπιλανθάνωμαι τῶν πρώτων, ἢν τὰ μετὰ ταῦτα πολλὰ ἐπιρρέοι). 89 Ostensibly, similar to the dialogue Toxaris (62), in which the Scythian and the Greek speakers (Toxaris and Mnesippus) remember that they forgot to appoint an arbiter to determine the winner, and decide to do so the next time they engage in a similar contest. On the Anacharsis see Putnam 1909, 171: “The dialogue ends somewhat inconclusively with an appointment for the morrow”. Kindstrand 1981, 67: “It is probably not his intention to side with either participant, but only to provide witty entertainment. Consequently the outcome is neutral” (cf. Anderson 1976a, 114: “a neutral conclusion”); Branham 1989, 101–2: “end... with the Scythian showing so little respect not only for Greek athletics but for Greek institutions generally... neither speaker is given a decisive edge in the argument... neither side can claim victory...”; Goldhill 2001, 4: “His Anacharsis remains unconvinced

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the rest of the discussion to the next day, intending to discuss Scythian customs, and claiming that he has to go over what he wanted to say in his memory (40: μνήμῃ). 90 This assertion presupposes an indirect approach to the topic, which is consistent with his earlier shift in opinion from his original position. In this sense, it might be considered that the debate ends slightly in favour of Solon and his approach; Anacharsis’ concession thus designates the initial stage of his actual assimilation into Greek culture. 91 Bibliography Almagor, Eran: Josephus and Greek Imperial Literature, in: Honora Howell Chapman, Zuleika Rodgers (eds.): A Companion to Josephus, Chichester, Malden, MA 2016, 108–22. Anderson, Graham: Lucian. Theme and Variation in the Second Sophistic, Leiden 1976. (Anderson 1976a) Anderson, Graham: Studies in Lucian’s Comic Fiction, Leiden 1976. (Anderson 1976b) Anderson, Graham: The pepaideumenos in Action. Sophists and their Outlook in the Early Empire, in: ANRW II 33.1, 1989, 79–208. Armstrong, A. MacC.: Anacharsis the Scythian, in: G & R 17, 1948, 18–23. Barbe, Katharina: Irony in Context, New York 1995. Bompaire, Jacques: Lucien écrivain, Paris 1958. Booth, Wayne: A Rhetoric of Irony, Chicago 1974. Bowersock, Glen Warren: Greek Sophists and the Roman Empire, Oxford 1969. Bowersock, Glen Warren (ed.): Approaches to the Second Sophistic, University Park PA 1974. Branham, Robert Bracht: Unruly Eloquence. Lucian and the Comedy of Traditions, Cambridge MA, London 1989. Cartledge, Paul: Greeks. A Potrait of Greeks and Others, Oxford 1993.

by Solon’s case”; Newby 2005, 145: “Solon’s explanations of these acts and the roles that they play within Greek culture, none of which appears ultimately to be accepted by Anacharsis”; König 2005, 45: “Solon’s defence of Greek athletics… can only be partly convincing”…; cf. 80: “Neither side of the argument comes out clearly on top”; cf. 83. Hunter 2012, 12–13 sees Anacharsis as “a ‘Phaedrus’” and claims “this ‘Phaedrus’ is not shaken from his beliefs as easily as Plato’s”. Interestingly, Anderson 1976a, 82 pairs Toxaris and Anacharsis together in that in the former, there is an advantage to the Greek Mnesippus over the Scythian protagonist, while in the latter, “it is the Scythian who begins by disbelieving the Greek institutions, and remains sceptical about them to the end”. 90 See 40: “But let us put off the discussion, if you will, till tomorrow, so that I may quietly ponder a little longer over what you have said, and get together what I must say, going over it in my memory. At present, let us go away with this understanding, for it is now evening” (Εἰς αὔριον μέντοι, εἰ δοκεῖ, ὑπερβαλώμεθα τὴν συνουσίαν, ὡς ἅ τε αὐτὸς ἔφης ἔτι μᾶλλον ἐννοήσαιμι καθ´ ἡσυχίαν ἅ τε χρὴ εἰπεῖν συναγάγοιμι τῇ μνήμῃ ἐπελθών. Τὸ δὲ νῦν ἔχον ἀπίωμεν ἐπὶ τούτοις· ἑσπέρα γὰρ ἤδη). 91 Indeed, Solon in the Scythian is expected to make Anacharsis “a Greek among Greeks” (7–8).

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Lucian’s Anacharsis: an Exercise in Greek Culture

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Eran Almagor

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Die Lex de Imperio Vespasiani und die Nutzung von Quellen im althistorischen Proseminar Andreas Gerstacker

Einleitung Mit dem folgenden Beitrag soll der Jubilar nicht nur als Forscher, sondern zugleich auch als profilierter Hochschullehrer geehrt werden, dem es ein echtes Herzensanliegen ist, seinen Studenten die Arbeit an und mit antiken Quellen nahezubringen. Uns als seinen Mitarbeitern hat er dieses Anliegen ebenfalls nachdrücklich ans Herz gelegt: Lesen Sie viele Quellen mit ihren Kursen und üben Sie die Quelleninterpretation mit ihnen ein! Etwas Besseres können Sie mit ihnen nicht machen! So (oder zumindest so ähnlich) lauteten einige der ersten Sätze, die ich von dem geschätzten Jubilar, meinem damals neuen Chef, zu Beginn meiner Tätigkeit an der HSU zu hören bekam. Seit dieser Zeit begleiten mich, neben allen weiteren Aufgaben, die Proseminare und Propädeutika, in denen ich mit angehenden Historikerinnen und Historikern Quellen lesen und die Quelleninterpretation mit ihnen einüben darf. Dabei hat sich im Lauf der Zeit ein Fundus an v.a. literarischen Quellen, Inschriften und Münzen angesammelt, die ich gerade den Studienanfängern immer wieder vorlege, da sich an ihnen exemplarisch zeigen lässt, welche Möglichkeiten bestimmte Quellen bieten, vor welche Probleme sie aber auch stellen können. Eine dieser immer wieder behandelten Quellen und ihre exemplarische Verwendung in der Lehre mit Studienanfängern soll in diesem Beitrag im Mittelpunkt stehen. Thema dieses Beitrags ist die lex de imperio Vespasiani, das sogenannte Bestallungsgesetz Vespasians, und der Charakter dieser Inschrift als ein Einzelstück. Bei der lex de imperio Vespasiani handelt es sich bekanntermaßen um das einzige erhaltene Zeugnis dieser Art für die Übertragung der kaiserlichen Macht im Prinzipat. Zugleich ist der Text dieses Gesetzes nur in fragmentarischer Form bekannt, da die Inschrift, die uns den Text überliefert, unvollständig ist. Diese beiden Umstände machen sie zu einem hervorragenden Fallbeispiel für die Vermittlung quellenkritischer Ar­beit in der althistorischen Lehre. Gerade diese Verbindung von Einzigartigkeit und Bruchstückhaftigkeit ist es, die diese lex einerseits so wichtig für unser Verständnis der Herrschaftsform ‚Prinzipat‘ macht, die uns aber andererseits vor nicht zu unterschätzende Probleme bei der Einordnung und

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der Interpretation ihrer Bestimmungen stellt. 1 Diese Probleme können v.a. im Proseminar gewinnbringend durchgespielt werden und zeigen exemplarisch, a) vor welchen Herausforderungen die Interpretation (noch dazu fragmentarischer) Inschriften steht, b) welche Schwierigkeiten sich ergeben, wenn das Zeugnis einer Inschrift mit der literarischen Überlieferung verbunden werden soll, und c) wie sich in der Forschung aus den vorliegenden Quellen zum Teil widersprechende Hypothesen bilden und wie diese in der eigenen Arbeit bewertet werden können. Kurz zur Gliederung dieses Beitrags: Ich werde im Folgenden zunächst knapp die Quellenlage darstellen. Im Anschluss werde ich die Quellen einer gedrängten Interpretation mit Blick auf die Frage der Herrschaftsübertragung im Prinzipat unterziehen sowie wichtige Positionen der neueren Forschung in Auswahl 2 skizzieren. Darauf folgt eine gleichermaßen knappe Interpretation der Bestimmungen der Inschrift, ebenfalls unter Hinzuziehung einer Auswahl an wichtigen, teils kontroversen Positionen der neueren Forschung. Nach einer Zusammenfassung der Ergebnisse werde ich zuletzt Fragen der Vermittlung der besprochenen Sachverhalte in der Lehre ansprechen. Zwei abschließende Hinweise: Zum einen, der etwas sperrige Ausdruck lex de imperio Vespasiani wird im weiteren Verlauf in der Regel als l. d. i. V. abgekürzt werden. Zum anderen, da dieser Beitrag in einer Festschrift erscheint, die die Grenzen der Altertumswissenschaften bewusst überschreitet, rechne ich auch mit einer Leserschaft, die sich nicht auf Vertreter antiker Fächer begrenzt. Daher habe ich versucht, wo möglich Fachausdrücke, Institutionen etc. mit erläuternden Zusätzen zu versehen und auf knappe, einführende Literatur, meist Artikel aus dem ‚Der Neue Pauly‘, zu verweisen. Überlieferung und Form der lex de imperio Vespasiani 3 sowie weitere Quellen Mitte des 14. Jahrhunderts entdeckte Cola di Rienzo in Rom eine Bronzetafel mit dem Text der lex, welche in der Kirche San Giovanni in Laterano aufgestellt wurde. Sie befin1 Vgl. ebenso z.B. Hurlet 2016, 17–39, hier 25 (kursiv im Original): „Though clearly offering fundamental testimony on the nature, legal basis, and evolution of imperial power, the Lex de imperio Vespasiani nevertheless poses rather more questions than it provides clear and consensual answers.“ Siehe auch Mantovani 2005, 25–27, der die Problemlage sehr gut skizziert; vgl. außerdem die Aufzählung von vier zentralen interpretativen Problemen bei Venturini 2009, 210. 2 Eine sorgfältige Darstellung und Analyse der Forschung würden den Rahmen dieses Beitrags sprengen. Darum habe ich mich bei der Auswahl der Sekundärliteratur vor allem auf zentrale und neuere Beiträge beschränkt und hier nicht zuletzt auch auf solche, die sich für den Einsatz in der Lehre gerade bei Studienanfängern eignen. Für einen ausführlichen Forschungsüberblick bis etwa 1964 vgl. Grenzhäuser 1964, 227–45. Weitere Literatur bieten Hurlet 1993, 261, Anm. 2; Meister 1999, 315–17; und Hurlet 2016, 36–38. Einen sehr guten einführenden Überblick über die lex und ihren Inhalt bieten z.B. Crawford 1996, 549–53; Galsterer 1999 (DNP); Pfeiffer 2009, 15–18; ausführlicher Meister 1999, 303–17. 3 Vgl. dazu u.a. Meister 1999, 305; Hurlet 2016, 25–26. Für den lateinischen Text siehe CIL VI 930; ILS, Nr. 244; McCrum/Woodhead 1966, Nr. 1; Crawford 1996, 552; außerdem Epigraphik-Datenbank Clauss/Slaby, Nr. EDCS-17301049 (https://db.edcs.eu/; letzter Abruf: 22.06.2022). Eine

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det sich heute im Kapitolinischen Museum in Rom. 4 Der Text der lex ist unvollständig erhalten. Da die vollständig erhaltene Tafel mitten in einem Satz beginnt, muss es mindestens eine weitere Tafel gegeben haben. Auf der erhaltenen Tafel finden sich acht Paragraphen, die jeweils (bis auf den ersten Paragraphen) mit der für einen Senatsbeschluss (senatus consultum 5) üblichen Wendung utique (... liceat) eingeleitet werden (zu ergänzen ist ein senatus censuit, der Senat hat beschlossen). 6 Andererseits schließt sie mit einer Strafandrohung, einer sanctio 7, wie ein Volksgesetz (lex 8). Die übliche Antwort auf diese zweideutige Form ist, dass ein senatus consultum, weitestgehend ohne Veränderungen im Wortlaut, in eine lex gefasst wurde. 9 Aber die Formulierung „ante hanc legem rogatam“ 10 in Paragraph 8 gibt auch vereinzelt Anlass zu der Vermutung, dass es sich um einen Gesetzesvorschlag, eine rogatio 11, handelt, die, unter Autorisierung durch den Senat (senatus auctoritatae) erfolgt, ohne große Veränderungen in eine lex eingeflossen ist. 12 Fünf der acht Paragraphen (§1, §2, §5, §6, §7) nennen jeweils einen oder mehrere Vorgänger (Augustus, Tiberius und Claudius), welche bereits die entsprechende Rechte besessen hätten. In den verbleibenden drei Paragraphen (§3, §4, §8) wird auf keinen Vorgänger Bezug genommen. Für das Verständnis des Hintergrunds der in der l. d. i. V. verhandelten Sachverhalte sind v.a. literarische Quellen heranzuziehen, die über die Herrschaftswechsel im frühen Prinzipat berichten. Wichtig sind hier v.a. – leider oft nur kurze – Bemerkungen in den Annalen des Tacitus, den Kaiserbiographien Suetons und der Historia Romana des Cassius Dio.

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deutsche Übersetzung findet sich in Freis 1994, Nr. 49; außerdem Meister 1999, 303–05; für eine englische Übersetzung siehe u.a. Crawford 1996, 553. Siehe z.B. Schumacher 1987, 316 = Schumacher 2018, 129; Meister 1999, 305; und Hurlet 2016, 25–26. Vgl. dazu Kierdorf 2001b (DNP), Sp. 405: „Der förmliche Beschluß, mit dem der röm. Senat auf die Frage (consulere) von Magistraten eine Empfehlung oder Weisung aussprach, die zwar nicht rechtlich, aber praktisch bindend war, in der Kaiserzeit sogar teilweise Gesetzeskraft erlangte […].“ Utique ... liceat = dass es (ihm) erlaubt sei; senatus censuit = der Senat hat beschlossen. Vgl. dazu Brunt 1977, 95; Hurlet 1993, 265, Anm. 14; Meister 1999, 308; Galsterer 1999 (DNP), Sp. 120; Pfeiffer 2009, 16; anders Mantovani 2005, 26, Anm. 4, der in der Formel utique + Konjunktiv Präsens keinen hinreichenden Anhaltspunkt für einen Senatsbeschluss sieht (s. dagegen aber Mantovani 2009, 138); außerdem Crawford 1996, 550, der bei einem Senatsbeschluss einen Konjunktiv Imperfekt erwartet, aufgrund des Konjunktiv Präsens hier eine rogatio, d.h. eine Gesetzesvorlage erkennt, die dann als lex publiziert wurde. Siehe Ebner 2001 (DNP). Vgl. Schiemann 1999 (DNP). Vgl. z. B. Meister 1999, 308; ebenso Brunt 1977, 95; Hurlet 1993, 265, Anm. 14; Galsterer 1999 (DNP), Sp. 120; Mantovani 2009, 130; Hurlet 2016, 25; jüngst Brandt 2021, 237; vorsichtiger, aber im Ergebnis gleichlautend Mantovani 2005, 26 mit Anm. 4; auch Crawford 1996, 552, sieht die Möglichkeit, „that our lex advertised itself as passed de senatus sententia“. „utique quae ante hanc legem rogatam acta gesta […]“ / „dass alle Entscheidungen, die vor diesem Gesetzesantrag erfolgten […]“ (ÜS: H. Freis). Siehe de Libero 2001b (DNP). So z.B. Pabst 1989, 132; Crawford 1996, 550; Griffin 2000, 12; Levick 2009, 14; als möglich erwogen, aber letztlich verworfen von Mantovani 2005, 26 mit Anm. 4.

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Die Übertragung der kaiserlichen Macht Ehe wir uns der Einzelinterpretation der Paragraphen zuwenden, gilt es, einige weitere Fragen zu beantworten. Darunter ist die Frage nach dem „Wie“ der Übertragung kaiserlicher Macht von entscheidender Wichtigkeit. Welche Körperschaft übertrug welche Vollmachten? In welcher Weise wurden sie übertragen? Außerdem: Gab es bereits vor der l. d. i. V. eine Übertragung en bloc oder eine lex de imperio? Oder handelt es sich um ein Novum? Dass diese Fragen gestellt werden müssen, liegt daran, dass für die Kaiser vor Vespasian keine vergleichbare Regelung bekannt ist. Epigraphisch ist keine frühere (oder spätere) lex de imperio überliefert und die antiken Historiker und Biographen, die von den jeweiligen Herrschaftswechseln berichten, scheinen sich, das wird im Folgenden deutlich erkennbar, für solche bürokratischen Trivialitäten nicht besonders zu interessieren. 13 Es fehlt also Vergleichsmaterial, um die l. d. i. V. im Ganzen wie des Öfteren auch einzelne ihrer Bestimmungen per Analogieschluss einordnen zu können. Diese Fehlstelle stellt ein ernstzunehmendes Hindernis für eine angemessene Interpretation der l. d. i. V. dar und muss, soweit möglich, geschlossen werden. Um das zu erreichen, sollen im Folgenden die bekannten Informationen über Herrschaftswechsel zwischen Augustus und Vespasian, so spärlich sie auch vorliegen, ausgewertet werden. Zugleich gilt festzuhalten: So wertvoll es auch ist, ein einzigartiges Quellenzeugnis vorliegen zu haben, das uns Informationen vermittelt, die uns sonst verborgen blieben, es zeigen sich hier doch zugleich die Grenzen, die dem Historiker durch solch ein Einzelstück auferlegt werden. Gerade für Studienanfänger ist dieser Zwiespalt aus Erkenntnisgewinn einerseits und offenen Fragen bzw. Problemen für die Auswertung andererseits eine wertvolle Erfahrung, wenn sie sich mit der Quellenarbeit vertraut machen. Augustus Es bietet sich an, mit dem Begründer des Prinzipats, Augustus 14, zu beginnen. Nur so können etwaige Veränderungen oder Entwicklungen festgestellt und eingeordnet werden. Augustus erhielt seine Vollmachten, aus denen er nach und nach den Prinzipat formte, schrittweise. 15 Unter diesen Vollmachten waren das 27 v. Chr. durch Senat und Volk 16

13 Für Lucrezi 2009, 159 und 164, ist dieses Schweigen in den weiteren Quellen dagegen ein sicherer Hinweis, dass es sich bei der l. d. i. V. um einen Einzelfall handelt, eine Maßnahme, die erstmals für Vespasian erlassen wurde und für die es weder Vorgänger noch Nachfolger gibt. 14 Zur Person des Augustus vgl. knapp: Kienast 1997 (DNP). 15 Vgl. z.B. Christ 2002, 83–120; außerdem Bringmann 2007, 112–59; Kienast 2009, 78–118; eine instruktive tabellarische Übersicht findet sich bei Schlange-Schöningen 2005, 98, allgemein vgl. ebd. 86–97. 16 Cass. Dio 53,12,1; 21,1; vgl. dazu auch Hurlet 1993, 266; Kienast 2009, 175: Verleihung durch den Senat, Bestätigung durch das Volk. Mit Nachdruck betont wird das Zusammenspiel von Senat und Volk bei Timpe 1962, 5.

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verliehene imperium proconsulare 17, die 23 v. Chr. durch ein Gesetz (per legem 18) vom Volk verliehene tribunizische Amtsgewalt (tribunicia potestas) 19 – man kann das Einverständnis des Senats annehmen  –  sowie verschiedene Einzelrechte (iura), wie z.B. das Recht der Zuwahl zum Senat und der Patrizierernennung (adlectio 20), das Prüfrecht gegenüber Magistratskandidaten, das Recht zur Nominierung von Magistratskandidaten (nominatio 21), das Recht zur Empfehlung von Magistratskandidaten (commendatio 22), die Erweiterung des Rechts, dem Senat Bericht zu erstatten und Anträge zu stellen (ius relationis), was jetzt auch in Abwesenheit durch Quästoren geschehen konnte. 23 Auffallend ist das immer wieder stattfindende Zusammenspiel von Volk und Senat, durch das Augustus eine möglichst breite Legitimation seiner Stellung erreichen wollte. Tiberius Tiberius 24 besaß beim Tod des Augustus am 19. August 14 n. Chr. bereits seit 10 Jahren das imperium proconsulare 25 und die tribunicia potestas 26 und damit die beiden wichtigsten Bestandteile der Kaisergewalt, nicht aber die weiteren Rechte. Beide Gewalten wurden spätestens im Jahre 13 n. Chr. noch einmal verlängert, sicherlich wieder mit einer zeitlichen Befristung. 27 War also eine Übertragung bzw. Erneuerung der kaiserlichen Gewalten en bloc nötig? Man darf für die Beantwortung dieser Frage nicht vergessen, dass die Stellung des Augustus einzigartig gewesen war und vor allem auf dessen einmaliger Autorität (auctoritas 28), in Verbindung mit verschiedenen formalen Gewalten (potestates 29), beruht hatte. Die Stellung des princeps war noch kein formalrechtlich definiertes Amt. Wie D. 17 18 19 20 21 22 23 24

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Siehe de Libero 1998 (DNP), Sp. 957–58; Bleicken 1995a, 27–29; Jacques/Scheid 1998, 37–38. R. Gest. div. Aug. 10. Siehe Bleicken 1995a, 29–32; Jacques/Scheid 1998, 38–39. Siehe Gizewski 1996 (DNP). Siehe Bleicken 1995a, 33–34; Bleicken 1995b, 81. Siehe Gizewski 1997b (DNP). Zu diesen und weiteren Rechten des Kaisers vgl. Timpe 1962, 5–15; Bleicken 1995a, 27–35; Pabst 1997, 47f.; Jacques/Scheid 1998, 37–42. Zur Person des Tiberius vgl. knapp: Eck 2002a (DNP). Zu den Ereignissen rund um seinen Herrschaftsantritt siehe Vell. 2,124–125; Tac. ann. 1,7–8.11–15; Suet. Tib. 22–25; Cass. Dio 57,2–4.7; vgl. dazu Levick 1999, 49–59; Christ 2002, 182–85; Seager 2005, 40–47; Edelmann-Singer 2017, 15–21 und 27–31; Brandt 2021, 117–22. Vell. 2,121,1. Tac. ann. 1,3.7. So mit Recht Timpe 1962, 27–28; vgl. auch Christ 2002, 185. Die Unsicherheit resultiert aus der Uneinigkeit der literarischen Überlieferung über das zeitliche Verhältnis der Erneuerung (und Aufwertung) des imperium proconsulare zum am 23. Oktober 12 n. Chr. (für den Tag s. Inscr. It. 13,2,134–35 = EDCS-38000281) gefeierten Triumph des Tiberius. Vgl. Vell. 2,121,1–2 (erst Verlängerung, dann Triumph); Suet. Tib. 20–21,1 (erst Triumph, dann Verlängerung); Tac. ann. 1,3,3 (ohne zeitliche Einordnung); vgl. dazu u.a. Christ 2002, 182; Levick 1999, 44; Seager 2005, 37 und 39. Siehe Gizewski 1997 (DNP). Siehe de Libero 2001a (DNP).

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Timpe festhält: „[E]s gab noch keine Bedingung, durch deren Erfüllung man automatisch princeps wurde.“ 30 Tiberius übte zwar seine Gewalten nach dem Tod des Augustus aus – belegbar ist das z. B. für die tribunicia potestas, die er nutzte, um den Senat einzuberufen 31 – er war damit aber noch nicht automatisch princeps im Sinne des Augustus. 32 Außerdem scheint Tiberius auch selbst großen Wert darauf gelegt zu haben, vergleichbar dem Augustus von Senat und Volk gerufen und bestätigt zu werden, die er, wie Tacitus zu kritisch anmerkt, beide „durch sein geheucheltes Zögern zum besten [gehalten hatte]“ 33. In der berühmten Senatssitzung am 17. September 14 n. Chr. 34, in welcher ihm – nach langem Zögern von seiner Seite – die Herrschaft übertragen wurde 35, dürfte es neben der Verleihung der weiteren Ehrungen und Gewalten sehr wahrscheinlich auch zu einer nochmaligen Bestätigung der bereits vorhandenen Vollmachten gekommen sein. Damit hätte er diese dann nicht mehr auf Grund des Wohlwollens und der auctoritas des Augustus innegehabt, sondern auf Grund eigener Autorität. 36 Außerdem wissen wir nach 14 n. Chr. von keiner Erneuerung des imperium proconsulare des Tiberius 37, während es vorher sicherlich nicht lebenslang verliehen worden war. 38 Es lässt sich plausibel annehmen, dass es dem Tiberius dann in der betreffenden Senatssitzung auf Lebenszeit verliehen wurde. 39 Auch wenn letzte Sicherheit nicht zu gewinnen ist, rechtfertigen bereits diese wenigen Gesichtspunkte mit einiger Wahrscheinlichkeit die Annahme, dass bei der besagten Sitzung die kaiserlichen Vollmachten das erste Mal en bloc übertragen bzw. bestätigt wurden und es dann auch zu einer Ratifizierung durch eine lex de imperio 40 gekommen sein 30 31 32 33 34 35

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Timpe 1962, 36; vgl. auch die treffende Einschätzung bei Christ 2002, 182–83 und 185. Tac. ann. 1,7. So auch Timpe 1962, 36. Tac. ann. 1,46; „dum patres et plebem [...] cunctatio ficta ludificetur“ (ÜS: E. Heller); vgl. Vell. 2,124,2; Suet. Tib. 24. Vgl. Tac. ann. 1,7.11–14; außerdem Vell. 2,124; Suet. Tib. 24; Cass. Dio 57,2. Anders bewertet die Vorgänge Levick 2009, 54–59, die davon ausgeht, dass Tiberius durch seine Vollmachten im Jahr 14 bereits Prinzeps war und der Senat ihm nichts mehr übertragen konnte. Erstmals unter Caliguala gälte, „grant of powers and accession to the Principate coincide for the first time: it is the beginning of the dies imperii“. Ähnlich Seager 2005, 42–45, der aber einräumt (ebd., 44), dass es möglicherweise zu einer – rechtlich unnötigen – Bestätigung der Kompetenzen der Tiberius sowie sicherlich zu einer Zuweisung einer konkreten provincia gekommen sein dürfte. Vgl. Timpe 1962, 54; Brunt 1977, 97; Schumacher 1987, 317 = Schumacher 2018, 131; Christ 2002, 185. Dass Tiberius, wie D. Timpe (ebd.) meint, das imperium proconsulare und die tribunicia potestas niedergelegt hatte, um sie dann noch einmal zu empfangen, ist zwar möglich, aber m.E. aus den Quellen nicht nur nicht direkt belegbar, sondern mindestens mit Tac. ann. 1,13,4 kaum vereinbar (vgl. dazu z.B. Seager 2005, 44, im direkten Widerspruch zu D. Timpe). Siehe Cass. Dio, 57,24,1; 58,24,1, der eine solche Verlängerung ausdrücklich verneint. Andernfalls wäre sein imperium dem des Augustus nicht mehr der Form nach beigeordnet (vgl. Vell. 2,121,1) gewesen. Denn das imperium des Augustus wurde formal niemals direkt auf Lebenszeit übertragen, sondern immer wieder verlängert. Siehe Cass. Dio 53,16,1; vgl. Christ 2002, 88. Der Effekt war allerdings, wie bereits Cassius Dio anmerkte, der Gleiche. So z. B. Brunt 1977, 97, auch unter Hinweis auf Suet. Tib. 24,2; ebenso Timpe 1962, 54; Christ 2002, 185; Brandt 2021, 120. In dieser Weise zumindest könnte man Tac. ann. 1,46 und Vell 2,124,2 erklären.

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wird. 41 Dabei spielte sicherlich auch das für Tiberius stets wichtige Vorbild des Augustus eine Rolle 42, der sich viele Vollmachten durch das Volk hatte bestätigen lassen. Die weiteren iulisch-claudischen Kaiser: Gaius, Claudius und Nero Gaius 43 befand sich beim Tod des Tiberius am 16. März 37 n. Chr. in einer völlig anderen Lage: Er war ein privatus und besaß als solcher keinerlei Amtsgewalt. Daher brauchte er, trotz der Akklamation durch Garde- und Flottensoldaten, bereits am 16. März 37 n. Chr., eine Übertragung aller kaiserlichen Vollmachten. Dieser Tatsache war er sich allem Anschein nach auch selbst bewusst, wie sich aus seinem Verhalten schließen lässt. 44 Zwei Tage nach dem Tod des Tiberius, am 18. März 37 n. Chr., wurden ihm dann auch die kaiserlichen Vollmachten und Ehren übertragen bzw., wie es Sueton formuliert, „die volle Verfügungsgewalt und Entscheidungsbefugnis in allem“ 45. Diese erhielt er, wie Cassius Dio berichtet, „an einem einzigen Tag“ 46. Hierbei handelt es sich um die erste gesicherte Übertragung der kaiserlichen Gewalt en bloc. 47 Der ganze Vorgang kann als Zeichen einer fortschreitenden Institutionalisierung des Prinzipats gewertet werden. 48 Andererseits gab es aber auch noch immer Stimmen, die Kritik daran geübt zu haben scheinen, „dass der unerfahrene junge Mann alle Vollmachten und Ehrenrechte, die Augustus im Laufe seiner Regierung übertragen worden waren [...] auf einmal übernahm.“ 49 Inwieweit das Volk formal eingebunden war, lässt sich nur schwer feststellen. Eine Erwähnung findet sich nur indirekt in der Darstellung bei Sueton 50, der den ganzen Ablauf aber als sehr chaotisch schildert. An eine ordentliche Volksversammlung ist dabei wohl nicht zu denken, was aber nicht zwingend heißen muss, dass es eine solche nicht gegeben hat. P. Brunt und ihm folgend L. Schumacher nehmen an, dass unter Gaius das erste Mal mit Sicherheit eine lex de imperio erlassen wurde, verabschiedet durch eine Volksversamm-

41 Mit Nachdruck Brunt 1977, 98: „Thus it may be that as early as A.D. 14 senate and people, for the first time, conferred the totality of imperial powers and prerogatives (in so far as Tiberius did not refuse them) on a new ruler; those which he already possessed were simultaneously confirmed, and extended in time.“; s. auch Castritius 1982, 86. 42 So zuletzt wieder nachdrücklich, wenn auch mit allgemeinerem Bezug Brandt 2021, 121–22. 43 Zur Person des Caligula vgl. knapp: Eck 1997a (DNP). Zu den Ereignissen rund um seinen Herrschaftsantritt siehe v.a. Suet. Cal. 12–14; Cass. Dio 59,1–2; vgl. dazu Balsdon 1977, 24–28; Barrett 1977, 50–59; Christ 2002, 207–10; Winterling 2003, 49–55; Edelmann-Singer 2017, 69–77; Brandt 2021, 148–52. 44 Cass. Dio, 59,3,1–2. 45 Suet. Cal. 14,1; „ius arbitriumque omnium rerum illi permissum est“ (ÜS: H. Martinet). Auf dieses ius arbitriumque omnium rerum wird in Kapitel 4.5 noch einmal zurückzukommen sein. 46 Cass. Dio, 59,3,2; „ἐν μιᾷ ἡμέρᾳ“ (ÜS: O. Veh). 47 So auch Brunt 1977, 98; Schumacher 1987, 318 = Schumacher 2018, 132–33. 48 So mit Recht Timpe 1962, 69 und 75. 49 Timpe 1962, 75. Für die Kritik vgl. Cass. Dio 59,3,1–2. 50 Suet. Cal. 14,1.

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lung zur Verleihung der tribunizischen Amtsgewalt (comitia tribuniciae potestatis), die ein „vorausgehende[s] senatus consultum in toto bestätigt[e]“. 51 Bei Claudius 52 verhielt es sich ähnlich: Auch er war nur ein privatus, als er nach Caligulas Ermordung am 24. Januar 41 n. Chr. von den Prätorianern noch am selben Tag als Imperator proklamiert wurde. Die weiteren Vorgänge im Senat und die Verhandlungen zwischen diesem und Claudius zeigen, dass dieser seinen Herrschaftsanspruch gegen zumindest Teile des Senats behaupten musste. 53 Gestützt auf die Zustimmung der Truppen konnte er sich durchsetzen. Die Ernennung im Senat wurde anscheinend im Zuge dieser Ereignisse zu einer Formalie 54, einer Formalie allerdings, die wichtig genug war, um weiterhin beachtet zu werden. Der Eindruck der Formalisierung des Ablaufs wird sich im weiteren Verlauf unserer Betrachtungen noch verstärken. Wichtig für unser Thema ist aber vor allem, dass, wie Cassius Dio uns sehr knapp mitteilt, Claudius einen Tag nach dem Mord, am 25. Januar 41 n. Chr., alle kaiserlichen Vollmachten übertragen bekam. 55 Auch hier handelt es sich um eine Übertragung en bloc der mittlerweile „institutionell gefestigten und normierten Gewaltenkumulation“ 56. Das Volk findet in diesem Prozess keine besondere Erwähnung, was aber eine formale Beteiligung nicht ausschließt. 57 Nero 58 besaß beim Tod des Claudius am 13. Oktober 54 n. Chr. immerhin ein imperium proconsulare, welches außerhalb Roms Gültigkeit besaß 59, war also nicht völlig ohne Vollmachten. Auch er wurde zuerst von den Prätorianern als Imperator akklamiert. Aus 51 Schumacher 1987, 320 = Schumacher 2018, 136, das Zitat findet sich ebd.; Brunt 1977, 98, hält fest (kursiv im Original): „[…] but at least it is certain that Gaius received them all en bloc, whether or not any similar grant had been made to Tiberius.“ Gegen die umfassende Rechteverleihung durch eine solche comitia tribuniciae potestatis spricht sich z.B. Levick 2009, 14–16, aus. 52 Zur Person des Claudius vgl. knapp: Eck 1997b (DNP). Zu den Ereignissen rund um seinen Herrschaftsantritt siehe Ios. ant. Iud. 19,2,1/162–4,6/273; Suet. Claud. 10; Cass. Dio 60, 1–3; vgl. dazu Levick 2001, 29–39; Christ 2002, 214–15; Osgood 2011, 29–32; Edelmann-Singer 2017, 88–89 und 92–94; Brandt 2021, 164–71. 53 Cass. Dio 60,1,4; 3,2; siehe auch Suet. Claud. 10,3–4 und v.a. die ausführliche Darstellung bei Ios. ant. Iud. 19,2,1/162–4,6/273; vgl. Brandt 2021, 166. 54 Vgl. dazu Timpe 1962, 90: „Formsache“. Anders Osgood 2011, 31. 55 Cass. Dio, 60,1,4: „und man beschloss, all die übrigen Vorrechte, die zur Regierungsgewalt gehörten, zu übertragen.“ / „καὶ τὰ λοιπὰ ὅσα ἐς τὴν αὐταρχίαν αὐτοῦ ἥκοντα ἦν αὐτῷ ἐψηφίσαντο.“ (ÜS: O. Veh); vgl. auch Cass. Dio 60,3,2: „Sogleich nahm er sämtliche ihm zuerkannte Ehren außer der Bezeichnung ‚Vater‘ entgegen, was er dann erst später tat.“ / „τὰ μὲν ψηφισθέντα οἱ εὐθὺς πάντα, πλὴν τῆς τοῦ πατρὸς ἐπωνυμίας, ἐδέξατο (ταύτην γὰρ μετὰ ταῦτα προσέθετο), […]“ (ÜS: O. Veh). 56 Timpe 1962, 92. 57 Bei Cass. Dio 60,1,4, findet es lediglich in den Worten der Gesandten der Konsuln und Volkstribunen, die Claudius von der sofortigen Machtübernahme abhalten wollen, Erwähnung. Diese lassen ihm u.a. mitteilen, „er solle sich vielmehr der Entscheidung des Volkes, des Senats und der Gesetze unterwerfen.“ / „ἀλλ’ ἐπί τε τῷ δήμῳ καὶ τῇ βουλῇ καὶ τοῖς νόμοις γενέσθαι·“ 58 Zur Person des Nero vgl. knapp: Eck/Eder 2000 (DNP). Zu den Ereignissen rund um seinen Herrschaftsantritt siehe Ios. ant. Iud. 20,8,1/148–2/153; Tac. ann. 12,68–69; Suet. Nero 8–9; Cass. Dio 61,1,1–2; 3,1–2 (Xiphilinos); vgl. dazu Griffin 2001,  29–33; Christ 2002, 229–31; Krüger 2012, 29–33; Sonnabend 2016, 54–60; Brandt 2021, 189–93. 59 Tac. ann. 12,41,1; vgl. Tac. ann. 13,21,3.

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der Sitzung des Senats, die am selben Tag stattfand und in der sich die Senatoren den Willensäußerungen der Soldaten angeschlossen hatten 60, kehrte er erst am Abend, mit „Ehren ohne Maß überschüttet“ 61, wieder zurück. Verhandlungen, wie noch im Falle des Claudius, fanden nicht mehr statt. Lediglich die Eile, mit der Nero vorging, lässt möglicherweise vermuten, dass er unter Umständen mit einem gewissen Widerstand zu rechnen schien. 62 Auch hierbei handelt es sich um eine Übertragung der Gewalten en bloc. Unsicher bzw. ungewöhnlich ist allerdings das Datum der Verleihung der tribunicia potestas, die ihm – aus nicht weiter bekannten Gründen – möglicherweise erst am 04. Dezember 54 n. Chr. zuerkannt worden ist. 63 Das Volk findet erneut keine Erwähnung. Das Vierkaiserjahr I: Galba, Otho und Vitellius Galba 64 betrachtete sich, nachdem er Nero Anfang April 68 n. Chr. den Gehorsam aufgekündigt hatte und von seinen Truppen zum Imperator ausgerufen worden war 65, zuerst „demonstrativ“ 66 nur als einen „Beauftragten des Senates und des römischen Volkes“ 67, der für die Freiheit vom Joch Neros kämpfte. Erst nachdem die Abgesandten des Senats bei ihm eingetroffen waren, die ihm von seiner formalen Erhebung durch den Senat am 08. Juni 68 n. Chr. berichteten, nahm

60 Tac. ann. 12,69 hält nur fest: „sententiam militum secuta patrum consulta […].“ / „Der Willensäußerung der Soldaten folgten Beschlüsse des Senats […].“ (ÜS : E. Heller). 61 Suet. Nero 8 : „ex immensis, quibus cumulabatur, honoribus“ (ÜS: H. Martinet). 62 Vgl. Timpe 1962, 101–02; anders Krüger 2012, 32, Anm. 2. 63 So z.B. Kienast 2017, 89, unter Verweis auf CFA, Nr. 25 (ed. Scheid) = AfA (ed. Henzen), p. 64 = CIL VI 2039 = EDCS-21300004 und CFA, Nr. 27 (ed. Scheid) = AfA (ed. Henzen), p. 70 = CIL VI 2041 = ILS, Nr. 229 = EDCS-21300007; außerdem Krüger 2012, 33 mit Anm. 5; ähnlich, wenn auch mit weniger Gewissheit Griffin 2001, 33 mit 244, Anm. 91: „There is no conclusive evidence to show whether Nero reckoned his tribunicia potestas from 13 October or 4 December (though ILS 8794 [= Freis, Nr. 12; AG], which appears to show trib. pot. XIII in November of 67, favours the December date). If Nero did count his tribunicia potestas from 4 December 54 (as I assume throughout), he was stressing the importance of the purely formal comitia, as part of the attention to form he showed in the early reign.“ 64 Zur Person Galbas vgl. kurz: Eck 1998 (DNP). Zu den Ereignissen rund um seinen Herrschaftsantritt siehe Tac. hist. 1,1–12; Suet. Nero 42; 49,2–4; Suet Galba 9–11; Plut. Galba, 2.4–15; Cass. Dio 63,12–5; 23,1–29,6 (Fragmente aus v.a. Xiphilinos und Zonaras); 1,1–3,4 (Fragmente aus v.a. Xiphilinos und Zonaras); vgl. dazu Christ 2002, 237–39 und 243–46; Morgan 2006, 18–22, 25–30 und 38–47; Pfeiffer 2009, 3–7; Brandt 2021, 212–20. 65 Suet. Galba 9,2; 10,1; Plut. Galba 5,2. Das genaue Datum ist unsicher, in der Regel wird entweder der 04. April oder der 06. April angenommen; vgl. Brandt 2021, 216 mit Anm. 26. 66 Brandt 2021, 216. 67 Suet. Galba 10,1; „legatus senatus ac populi romani“ (ÜS: H. Martinet); siehe auch Plut. Galba 5,10; Cass. Dio 64,1.

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Galba den zum Titel gewordenen Namen Caesar an. 68 Nach Plutarch 69 wurde Galba von den Prätorianern, dem Senat und dem Volk zum Kaiser ausgerufen. Eine bei Xiphilinos 70 überlieferte Stelle aus Cassius Dio berichtet, dass es das Volk war, welches Galba in mehr oder weniger tumultartigen Szenen „durch Beschluss […] alle die Sonderrechte“ übertrug, „welche dem kaiserlichen Amte zugehörten“ 71. Allerdings gibt es auch eine parallele, ebenfalls auf Cassius Dio zurückgehende Überlieferung bei Zonaras, dass Galba vom Senat als Kaiser anerkannt und ihm „alle die Sonderrechte, welche dem kaiserlichen Amte zugehörten“ übertragen wurden. 72 An eine ordentliche comitia ist bei der XphilinosÜberlieferung nach P. Brunt 73 nicht zu denken. Da nämlich die Nachricht von seiner Erhebung Galba bereits sieben Tage nach Neros Tod erreichte, würde sonst ein Verstoß gegen das trinum nundinum 74, eine zeitliche Frist, die zwischen der Diskussion und der Abstimmung einer Vorlage durch das Volk eingehalten werden musste, vorliegen. Der Überlieferung bei Zonoras dürfte insgesamt der Vorzug zu geben sein. 75 Anders sieht das H. Castritius 76, der hier einen Bezug zu den Komitien als naheliegend ansieht. Der genaue Ablauf der Ereignisse ist, wenn überhaupt, nur sehr schwer zu rekonstruieren. Wichtig ist hierbei für unsere Fragestellung vor allem, dass es auch hier wieder zu einer Übertragung der Gewalten en bloc kam, vielleicht unter einer – wie auch immer genau gearteten – Beteiligung des Volkes. Wohl noch am Tag der Ermordung Galbas 77, am 15. Januar 69 n. Chr., traf sich der Senat. In dieser Sitzung wurden Otho 78, der zuvor bereits von den Prätorianern und Flottensoldaten akklamiert worden war 79, „die tribunizische Gewalt, der Name Augustus

68 Suet. Galba 11: „deposita legati suscepit Caesaris appellationem“ / „legte er den Titel eines Statthalters [bzw. Beauftragten; AG] ab und nahm den eines Kaisers [Caesars; AG] an “ (ÜS: H. Martinet); vgl. auch Plut. Galba 7.11; und v.a. Cass. Dio 63,29,6 (Zonoras). 69 Plut. Galba 7. 70 Xiphilinos 185,27–186,10. 71 Cass. Dio 63,29,1 (Xiphilinos): „ὁ δὲ δῆμος τῶν Ῥωμαίων […] καὶ τῷ Γάλβᾳ τὰ τῇ αὐτοκράτορι ἀρχῇ προσήκοντα ἐψηφίσαντο.“ (ÜS: O. Veh; Hervorhebung AG). 72 Zonoras 11,13: „ἡ βουλὴ τῷ Γάλβᾳ τὰ τῇ ἀρχῇ προσήκοντα ἐψηφίσατο.“ (ÜS: O. Veh; Hervorhebung AG). 73 Brunt 1977, 99. 74 Siehe Rüpke 2000 (DNP); Michels 1967, 191–206. Es handelt sich um einen Zeitraum, der der Abfolge von drei nundinae, drei Markttagen, die alle acht Tage, d.h. am jeweils neunten Tag stattfanden, entspricht. Die genaue Berechnung und daher Dauer dieses Zeitraums sind allerdings umstritten. 75 So wahrscheinlich zurecht auch Brunt 1977, 99. 76 Castritius 1982, 102. 77 Tac. hist. 1,41. Vgl. u.a. Wellesley 2000, 57. 78 Zur Person Othos vgl. knapp: Eck 2000 (DNP). Zu den Ereignissen rund um seinen Herrschaftsantritt siehe Tac. hist. 1,18–50; Suet Galba 17–20; Suet. Otho, 5–7; Plut. Galba, 19–28; Cass. Dio 63,5,1–81 (Xiphilinos); vgl. dazu Wellesley 2000, 17–33 und 56–58; Christ 2002, 246–47; Morgan 2006,57–73; Pfeiffer 2009, 6–7; Brandt 2021, 222–25. 79 Tac. hist. 1,36.

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und alle fürstlichen Ehren zuerkannt.“ 80 Interessanterweise wird dabei das imperium nicht ausdrücklich genannt. Die Akten der Arvalbrüder für diese Zeit sind nur unvollständig erhalten, eine Notiz über ein Opfer ob imperii, das am 15. oder 16. Januar stattgefunden haben dürfte, ist nicht erhalten geblieben. Es ist aber bekannt, dass die Arvalakten erst für 28. Februar eine comitia tribuniciae potestatis erwähnen. 81 Wie ist das zu erklären? Wahrscheinlich ist der Begriff tribunicia postestas bei Tacitus, wie L. Schumacher mit Recht vermutet, in diesem Zusammenhang als pars pro toto für die gesamte Kaisergewalt, die ja im Kern aus der tribunicia postestas und dem imperium proconsulare besteht, zu sehen. 82 Am 28. Februar wurde dann die Machtübertragung, die zuvor durch den Senat vollzogen worden war, vom Volk ratifiziert. 83 Auch hier wurde die kaiserliche Gewalt en bloc vom Senat übertragen und, jetzt tatsächlich belegbar, vom Volk sehr wahrscheinlich in Form einer lex de imperio bestätigt. Man kann mit Recht fragen, ob eine vergleichbare Beteiligung des Volkes auch bei den vorherigen Herrschaftsübertragungen, obwohl in den Quellen nicht oder kaum erkennbar, angenommen werden sollte. 84 Im Falle des Vitellius 85 zeigt sich eine zumindest teilweise veränderte Lage. Dieser war nämlich bereits am 02. Januar 69 n. Chr., also noch vor Otho, von seinen Truppen in Germanien zum Kaiser ausgerufen worden. 86 Zu einer Anerkennung im Senat kam es dagegen erst nach dem Selbstmord Othos am 16. April desselben Jahres, zwei Tage im Anschluss an dessen Niederlage bei Bedriacum. Am 19. April wurde im Senat, wie Tacitus berichtet, „alles gleich auf einmal bewilligt, was man sonst im Lauf langer Zeiträume den Fürsten zuzuerkennen pflegt.“ 87 Lediglich auf den Namen bzw. Titel Augustus verzichtete Vitellius zunächst, wurde aber nach seiner Ankunft in Rom am 18. Juli dazu genötigt, 80 Tac. hist. 1,47,1: „tribunicia potestas et nomen Augusti et omnes pricipum honores“ (ÜS: J. Borst). In Plut. Galba 28, werden ihm die Namen Caesar und Augustus verliehen und bei Cass. Dio 64,8,1 (Xiphilinos) heißt es: „Der Senat aber beschloss für Otho all die Rechte, die dem kaiserlichen Amte zugehörten.“ / „ἡ μέντοι βουλὴ πάντα τὰ πρὸς τὴν ἀρχὴν φέροντα ἐψηφίσατο·“ (ÜS: O. Veh [dort 63,8,1; AG].) 81 CFA (ed. Scheid), Nr. 40 = AfA (ed. Henzen), p. 92–93 = CIL VI 2051 = ILS, Nr. 241 = EDCS18600711 = Freis, Nr. 47, Z. 58ff. (dt. ÜS); vgl. dazu Brunt 1977, 99; Schumacher 1987, 319 = Schumacher 2018, 133; außerdem Wellesley 2000, 57–58. Zur priesterlichen Bruderschaft der Arvales fratres vgl. Scheid 1997 (DNP). 82 Schumacher 1987, 320 = Schumacher 2018, 135; vgl. Tac. ann. 3,56,2: „Diese Bezeichnung für die höchste Stellung hat Augustus aufgebracht...“/ „id summi fastigii vocabulum vocabulum Augustus repperit...“ (ÜS: E. Heller). 83 Castritius 1982, 103; Brunt 1977, 99–100. 84 Vgl. z.B. Brunt 1977, 100–01; Schumacher 1987, 320 = Schumacher 2018, 136. 85 Zur Person des Vitellius vgl. knapp: Eck 2002c (DNP). Zu den Ereignissen rund um seinen Herrschaftsantritt siehe Tac. hist. 1,14,1; 50–61; 64; 74–75; 2,55; 62; 69; 89–91; Suet. Otho, 8,1; Suet. Vit., 7,1–11,1; Plut. Galba 22–23; Otho 4–18; Cass. Dio 63,10,-64,1; vgl. dazu Wellesley 2000, 34–37, 88–89 und 101–05; Christ 2002, 246–47; Morgan 2006, 53–56, 139–49 und 157–61; Pfeiffer 2009, 5–7; Brandt 2021, 222 und 225–30. 86 Tac. hist. 1,57,1; Suet. Vit. 8,1; Plut. Galba 22,6. Vgl. dazu Schumacher 1987, 325 = Schumacher 2018, 141; Wellesley 2000, 34–36; Morgan 2006, 54–56; Brandt 2021, 222. 87 Tac. hist. 2,55,2; „in senatu cuncta longis aliorum principatibus composita statim decernuntur“. (ÜS: J. Borst). Vgl. Wellesley 2000, 88–89; Morgan 2006, 146 und 149; Brandt 2021, 229.

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ihn anzunehmen; auf den Namen Caesar verzichtete er dagegen völlig „until the last desperate days in December.“ 88 Wie wir aus den Arvalakten wissen, fand dann, am 30. April, die comitia tribuniciae potestatis statt. 89 Hierbei ist es dann allerdings zu einem Verstoß gegen das trinum nundinum gekommen. Als dies imperii legte Vitellius dem Herkommen folgend den 19. April fest, den Tag seiner Anerkennung im Senat, nicht den Tag seiner Ausrufung durch die Truppen Anfang Januar. 90 Da erstmals zwischen beiden Zeitpunkten eine größere Lücke klafft, wären damit die ca. dreieinhalb Monate seit seiner Ausrufung in Germanien, in denen er sicherlich schon Entscheidungen als Kaiser getroffen hatte, nicht rechtmäßiger Teil seiner Herrschaft. Auf diesen wichtigen Punkt wird noch zurückzukommen sein. 91 Das Vierkaiserjahr II: Vespasian Vespasian 92 wurde am 01. Juli 69 n. Chr. von den in Alexandria stationierten Legionen zum Kaiser ausgerufen. In Rom wurde er aber erst spät im Dezember desselben Jahres anerkannt. Im Gegensatz zu Vitellius wählte er allerdings den Tag seiner Ausrufung durch die Truppen als dies imperii. Auch darauf werde ich noch zurückkommen. Vitellius starb wahrscheinlich am 20. oder 21. Dezember 69 n. Chr. 93 Nach dem Bericht des Tacitus waren die Senatoren und Magistrate aus Angst vor den Ereignissen zerstreut und der Senat konnte daher an diesem Tag nicht mehr zusammengerufen werden 94, wegen der Plünderungen und Bluttaten der flavischen Truppen 95 wohl auch nicht in den nächsten Tagen. Wenig später traf sich dann der Senat und „erkannte […] alle die für Regenten üblichen Ehren dem Vespasian zu“ 96, und zwar in dessen Abwesenheit. 97 Außerdem wurden Vespasian sowie Titus zu Konsuln und Domitian zum Praetor mit konsularischem Imperium gewählt. 98 Cassius Dio ergänzt diese Darstellung durch seinen Bericht 88 Wellesley 2000, 96. Siehe dazu Suet. Vit. 7,8; Tac. hist. 2,62,2; 90,2; 3,58,3; vgl. Wellesley 2000, 36, 96 und 104; Morgan 2006, 149 und 159. 89 CFA (ed. Scheid), Nr. 40 = AfA (ed. Henzen), p. 94 = CIL VI 2051 = ILS, Nr. 241 = EDCS-18600711 = Freis, Nr. 47, Z. 81ff. (dt. ÜS); vgl. dazu Brunt 1977, 100; Brandt 2021, 229. 90 Vgl. z.B. Brunt 1977, 106; Schumacher 1987, 325 = Schumacher 2018, 141; anders Timpe 1962, 118, der den 19. April für eine Fiktion hält. 91 Siehe unten S. 57 zu Paragraph 8. 92 Zur Person des Vespasian vgl. knapp: Eck 2002b (DNP). Zu den Ereignissen rund um seinen Herrschaftsantritt siehe Tac. hist. 2,1,1–5,2; 74,1–4,11,3; 38,1—53,4; Suet. Vesp. 5,1–8,1; Cass. Dio 64,8,3–65,10,1; vgl. dazu Wellesley 2000, 114–67 und 183–217; Christ 2002, 247–50; Morgan 2006, 179–255; Pfeiffer 2009, 7–18; Levick 2017, 45–104; Brandt 2021, 229–30 und 234–38. 93 Tac. hist. 3,85,1. 94 Tac. hist. 3,85,1. 95 Vgl. Tac. hist. 4,1,1. 96 Tac. hist. 4,3,3; „cuncta principibus solita Vespasiano decernit“ (ÜS: J. Borst); womit nach Brunt 1977, 100–01, mit Recht, nichts anderes gemeint sein dürfte, wie in der entsprechenden Notiz des Tacitus zu Vitellius. 97 Tac. hist. 4,3,3; vgl. 4,6,3. 98 Tac. hist. 4,3,4.

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von der Anerkennung Vespasians als imperator und der Benennung des Titus und des Domitian als caesares durch den Senat. 99 Um diese Zeit erreichte den Senat ein Schreiben Vespasians, in dem er „als princeps“ sprach. 100 Tacitus ist darin ernst zu nehmen, dass die üblichen Ehren verliehen wurden und es daher zu keiner Ausweitung oder Begrenzung der Macht des princeps gekommen war. Zu letzterem wäre der Senat, der von der Macht der flavischen Truppen und den Statthaltern Vespasians, nämlich Mucianus und Domitian, abhing, wohl nicht fähig gewesen. 101 Eine Erweiterung ist zwar wahrscheinlicher, aber wohl auch nicht anzunehmen. Vespasian, der in seinem Brief, der sicherlich vor der Abfassung eines Entwurfes für die präzise Formulierung des s. c. im Senat verlesen worden sein dürfte, zwar „ut princeps“, aber dennoch „von sich selbst mit Ausdrücken voller Herablassung“ 102 schrieb, hätte diese wohl (noch?) nicht gefordert. 103 Tacitus hätte davon sicherlich berichtet. 104 Fazit Es gab schon seit spätestens 37 n. Chr. – vielleicht schon seit 14 n. Chr. – eine Übertragung der kaiserlichen Vollmachten en bloc durch den Senat in Form eine senatus consultum und  –  sollten P. Brunt und L. Schumacher Recht haben 105 – wahrscheinlich ebenfalls spätestens ab Gaius im Jahre 37 n. Chr. auch in Form einer lex de imperio. Eindeutig nachweisbar ist die geordnete Beteiligung des Volkes allerdings erst mit dem Herrschaftsantritt des Otho. Faktisch spielte das Militär, vor allem die Prätorianer, aber im Falle des Galba, Vitellius und Vespasian auch die Legionen, eine zentrale Rolle bei der Auswahl des neuen princeps. In rechtlicher Hinsicht war es aber der Senat, der im formalen Zusammenspiel mit dem Volk den neuen princeps bestellte. Mit L. Schumacher lässt sich hier die Übertragung der Macht durch das Militär und die der Herrschaft durch den Senat unterscheiden. 106 Mit Blick auf diesen formalen Akt neigten die antiken Historiker und Biographen allerdings dazu, sich fast ausschließlich auf die Rolle des Senats zu konzentrieren und die Rolle des Volkes als „quantité négligeable“ 107 zu vernachlässigen. An den rechtlichen Aspekten der Herrschaftsübertragung hatten sie, wie die jeweils sehr kurzen Vermerke zeigen, ebenfalls kaum Interesse. Auch Vespasian wurden in den letzten Dezembertagen 69 n. Chr. 108 99 Cass. Dio 65,1,1 (Xiphilinos). Die Anerkennung erfolgte am 21./22. Dezember 69 n. Chr.; vgl. u.a. Brandt 2021, 236. 100 Tac. hist. 4,3,4: „ut princeps“ (ÜS: A. Gerstacker); J. Borst übersetzt: „als fester Inhaber des Thrones“. 101 Brunt 1977, 101; vgl. Griffin 2000, 12. 102 Tac. hist. 4,3,4; „[...] ut princeps loquebatur , civilia de se [...]“ (ÜS: J. Borst). 103 Vgl. Brunt 1977, 101–02. 104 Vgl. die Kritik am Brief des Mucianus in Tac. hist. 4,4,1. 105 Brunt 1977, 95 und passim; Schumacher 1987, 320 = Schumacher 2018, 136. 106 Siehe Schumacher 1987, 322 = Schumacher 2018, 138, der auf Ios. bell. Iud. 2,11,2/206 verweist. 107 Schumacher 1987, 321 = Schumacher 2018, 136. 108 Vgl. zur Datierung Brunt 1977, 104ff.; außerdem u.a. Timpe 1962, 120; Grenzhäuser 1964, 70; Griffin 2000, 11–12; Brandt 2021, 236.

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alle herkömmlichen kaiserlichen Vollmachten en bloc vom Senat übertragen. Dieser Akt wurde in einem nicht zu großen zeitlichen Abstand, so wird man annehmen dürfen, vom Volk in der einen oder anderen Weise ratifiziert. Aber wann und wie genau? Und wie verhält sich die l. d. i. V. zu dieser Ratifikation? Was ist die lex de imperio Vespasiani? 109 Nachdem nun der Prozess der Herrschaftsübertragung in Grundzügen deutlich geworden ist, gilt es zu fragen: Welchen Platz in diesem Geschehen nimmt die lex de imperio Vespasiani ein? Ist sie mit der Ratifikation des von Tacitus erwähnten Senatsbeschlusses, durch den die üblichen, dem Kaiser zugehörigen Ehren, die „cuncta principibus solita“ 110 verliehen wurden, durch eine Volksversammlung, die erwähnte comitia tribuniciae potestatis, gleichzusetzen? Oder handelt es sich um eine davon zu unterscheidende Verleihung weiterer, vielleicht sogar teilweise für Vespasian neu konzipierter Vollmachten im Anschluss daran? 111 Der Mangel an echten Parallelen und das Desinteresse der literari-

109 Aus Platzgründen nur kurz angerissen wird die Frage, welche Körperschaft den Kaisern welche Vollmachten verlieh. Verschiedene Grundpositionen stellen Jacques/Scheid 1998, 25–30, sehr übersichtlich dar. Entweder übertrugen der Senat das imperium proconsulare und das Volk die tribunicia potestas sowie die iura in jeweils getrennten Akten (so grundlegend Mommsen 1877, 812–15 u. 838–41; vgl. dazu Jacques/Scheid 1998, 25–26; so jüngst wieder Mantovani 2005, 27–28, Anm. 12) oder der Senat rief den Herrschaftsanwärter zum imperator aus, die Übertragung beider Gewalten, imperium proconsulare und tribunicia potestas, samt den iura vollzog aber das Volk in unterschiedlichen leges (so grundlegend Kromayer 1888, 32–37; vgl. Jacques/Scheid 1998, 26, die diese Position teilen; als wahrscheinlich erwogen auch bei Crawford 1996, 552). Beide Sichtweisen in Reinform sind m.E. problematisch, da beide die klaren Aussagen bei den Historikern, dass der Senat alle Vollmachten verlieh, gegen sich haben. Am sinnvollsten ist es m.E. im Senat das entscheidende Gremium zu sehen, welches imperium und tribunicia potestas verlieh. Bei letzterer müsste es dann, analog zur Übertragung der Magistratswahlen auf den Senat durch Tiberius (Tac. ann. 1,15), zu einer Umverteilung der Kompetenzen gekommen sein (so z. B. Schumacher 1987, 320 = Schumacher 2018, 135–36). Oder aber sie war bereits so sehr Teil der zunehmend als Einheit gesehenen kaiserlichen Gewalt, dass man hier keinen Verstoß gegen das Herkommen mehr sah. Gleichzeitig macht es aber durchaus auch Sinn anzunehmen, daß bei der comitia tribuniciae potestatis auch das imperium proconsulare eingeschlossen war und es zu einer Bestätigung der Übertragung der gebündelten Vollmachten durch das Volk kam (so z.B. Brunt 1977, 99–106, v.a. 105; ähnlich Hurlet 1993, 265–68; Grenzheuser 1964, 70–72, ist ebenfalls der Ansicht, dass beide Gewalten von Volk und Senat verliehen wurden, ist aber dagegen [ebd., 239–42], die comitia tribuniciae potestatis mit der Verabschiedung dieser lex gleichzusetzen; gegen eine solche umfassende Funktion der comitia tribuniciae potestatis ist auch Levick 2009, 14–16). In der Abstimmung in der Volksversammlung sollte man allerdings nicht sehr viel mehr sehen, als ein Abnicken des Senatsbeschlusses (so z.B. Schumacher 1987, 320 = Schumacher 2018, 136; anders aber Pabst 1997, 184–92 und resümierend ebd., 207–08; Levick 2009, 14). 110 Tac. hist. 4,3,3. 111 Vgl. z.B. die Beschreibung des Problems bei Mantovani 2009, 126.

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schen Überlieferung bieten hier dem Interpreten Spielraum bei der Einordnung der nur inschriftlich vorliegenden lex. 112 Die Mehrzahl der Autoren sieht in der l. d. i. V. tatsächlich besagte Ratifikation des Senatsbeschlusses von Ende Dezember 69 n. Chr. 113 Damit ließe sich die l. d. i. V. mit einer bei späteren Juristen erwähnten lex regia 114 gleichsetzen. 115 Im Gegensatz dazu erkannte Th. Mommsen in seiner klassischen Studie zum römischen Staatsrecht gemäß seiner Konzeption des Prinzipats in der l. d. i. V. ausschließlich die Zuerkennung der tribunicia potestas samt damit verbundener iura. 116 Anders wiederum z.B. B. Levick, die u.a. in ihrer wichtigen Vespasianbiographie 117 die l. d. i. V. für eine Ergänzung der formalen Vollmachten Vespasians durch eine Reihe von Rechten hält, die seine Vorgänger zwar durch ihre Stellung auf informelle Weise besessen hätten, die ihm jetzt aber auch formal verliehen wurden. Dadurch sollte seine rechtliche 112 In der Besprechung eines neueren Sammelbandes zur l. d. i. V. hält M. Crawford fest (Crawford 2012, 358): „On the two core questions, of whether the missing beginning of the Lex mentioned the tribunician power, imperium, and the position of pontifex maximus, and of whether it is the Lex Regia of Vespasian, the volume represents every point on the spectrum of opinion, without much evidence of dialogue between the participants, from Dario Mantovani (the tablet bears the Lex (Regia) de imperio Vespasiani) and Francesco Lucrezi (there never was a Lex Regia and our tablet does not bear the Lex de imperio Vespasiani) by way of Carlo Venturini (there was a Lex Regia, but the Lex de imperio Vespasian[sic!] is not it).“ 113 Timpe 1962, 120; Grenzheuser 1964, 70–72 und 238; Brunt 1977, 102–04; Schumacher 1987, 320 = Schumacher 2018, 136; Hurlet 1993, 265–68; Meister 1999, 308 und indirekt 314–15; Griffin 2000, 11–12; Pfeiffer 2009, 17; Mantovani 2009, v.a. 136–38 und zusammenfassend 154–55; zuletzt Brandt 2021, 236; ich folge jetzt weitgehend der einflussreichen Darstellung von P. Brunt. Zur Datierung vgl. Brunt 1977, 104–06; Meister 1999, 307; Griffin 2000, 12; Brandt 2021, 236; abweichend davon datiert Levick 2009, 18–19. 114 Siehe Dig. 1,4,1 pr. (Ulpian), wo eine „le[x] regia quae de imperio eius lata est“ / „ein königliches Gesetz, welches bezüglich dessen [= des Kaisers; AG] Macht gegeben ist“ (ÜS: A. Gerstacker) erwähnt ist. Weitere Belege bei Mantovani 2009, 132. 115 So zuletzt wieder Mantovani 2009, 132–38 und 154. Allerdings ist er unsicher, ob in dieser lex regia auch das imperium proconsulare enthalten war (ebd., 135), spricht sich jetzt aber tendenziell dafür aus (ebd., 136 und 154; anders noch: Mantovani 2005, 27–28, Anm. 12). Anders dagegen aber wieder Venturini 2009, 215–16, der zwar die Existenz einer lex regia annimmt, allerdings der Ansicht ist, bei der l. d. i. V. handle es sich nicht um eine solche. Außerdem Lucrezi 2009, 158–64, der nachdrücklich festhält (ebd., 158), dass es a) eine solche lex regia, mit der die Herrschaft übertragen worden sei, nie gegeben habe und falls doch b) die l. d. i. V. keine solche sei. Diese sei vielmehr allein aus dem besonderen historischen Moment des Jahres 69 n. Chr. zu erklären. Er schlägt daher auch einen neuen Namen für die s.E. fälschlicherweise so bezeichnete lex de imperio Vespasiani vor, nämlich senatus consultum de potestatibus Vespasiano principi decernedis (ebd., 161) und beschließt seinen Artikel mit der Feststellung (ebd., 165): „La Lex de imperio Vespasiani è un’invenzione moderna, mai esistita nella storia antica.“ Es handele sich bei der l. d. i. V. um eine moderne Erfindung, die es in der Antike nie gegeben habe. 116 Mommsen 1877, 841–45. Dem schließt sich Mantovani 2005, 27–28, Anm. 12, an; anders, wenn auch noch immer tastend, jetzt Mantovani 2009, 136 und 154. 117 Levick 2017, 96; ebenso in Levick 2009, 14 und 16–18. Ähnlich auch Venturini 2009, 216, der die l. d. i. V. für ein Unikat („unicum“) der römischen Rechtsgeschichte hält, welches sich allein aus der besonderen Situation des Aufstiegs des Vespasian (einfache Herkunft, Usurpation) erkläre.

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Stellung – immerhin war er vergleichsweise einfacher Herkunft 118 und ‚nur‘ durch einen Bürgerkrieg an die Macht gekommen, seine Legitimation also alles andere als unerschütterlich – gegenüber dem Senat gestärkt werden. 119 Sie spricht im Zusammenhang damit von Vespasians „need to supplement the ‚regular‘ powers of a Princeps, as Julio-Claudians had not, and so for a special grant of powers“. 120 Dies sei umso mehr nötig gewesen, da es in den ersten Wochen nach der Machtübernahme zu einigen Zusammenstößen im Senat über prinzipielle Fragen gekommen sei. 121 „These tussles supply a motive for a delayed ‚Lex‘ as a separate and supplementary enactment provided perhaps by the suffect consuls Mucianus and Cerialis.“ 122 Durch Paragraph 8 würde außerdem klargestellt, dass die Anerkennung des Vitellius durch den Senat zumindest ab dem 01. Juli 69 n. Chr. ungültig war. 123 Auch F. Lucrezi 124 versteht die vorliegende Inschrift in dieser Weise allein aus der besonderen Lage des Usurpators Vespasian heraus und sieht in ihr daher ein Einzelstück. Durch sie habe Vespasian durch ein Gesetz (ex lege 125) die Handlungsmöglichkeiten erhalten, die Augustus und die Angehörigen seiner Familie aufgrund persönlicher Autorität (auctoritas), die dem Flavier fehlte, besessen hätten. F. Jacques und J. Scheid 126 sehen in der l. d. i. V. dagegen nur einen Teil dieser cuncta principibus solita, da sie annehmen, dass die einzelnen Teile der kaiserlichen Gewalt (imperium proconsulare, tribunicia potestas und iura) in verschiedenen Gesetzen nacheinander beschlossen wurden. Die l. d. i. V. stelle nur den letzteren Teil dar, in ihr wären nur die iura verliehen worden, nicht aber imperium proconsulare und tribunicia potestas. Eine ähnliche Sichtweise vertritt auch M. Hammond. 127 Wie kann man nun, angesichts des fragmentarischen Charakters der lex, der fehlenden Parallelen und des weitgehenden Schweigens der literarischen Quellen entscheiden, welche Interpretation vorzuziehen ist? Folgende Überlegungen spielen dabei eine Rolle: Mit Blick auf die fehlenden Präzedenzfälle in den Paragraphen 3, 4 und 8 der l. d. i. V. ist festzuhalten, dass diese Leerstellen eine Verleihung aller üblichen Ehren zumindest nicht ausschließen. Zwei mögliche Erklärungen dafür können ein hohes Maß an Plausibilität beanspruchen: Erstens 128, es sind insgesamt nur drei Vorgänger (Augustus, Tiberius und Claudius) genannt. Gaius und Nero kommen nicht in Frage, da sie der damnatio memoriae verfallen sind, Vitellius war der Feind im Bürgerkrieg, Galba und Otho hatten 118 Vgl. Suet. Vesp. 1,1–4. 119 Gegen eine vergleichbare Sichtweise, nämlich, dass die l. d. i. V. dazu dienen sollte, die mangelnde auctoritas des Vespasian auszugleichen, indem sie das, was vorher schon Praxis gewesen war, jetzt als Gesetz formulierte, wendet sich schon Grenzheuser 1964, 71–72 und 229–31. 120 Levick 2009, 19. 121 Levick 2009, 19, sie verweist auf die Berichte in Tac. hist. 4. 122 Levick 2009, 19. 123 Levick 2017, 96. 124 Lucrezi 2009, v.a. 158–59 und 162–64. 125 Lucrezi 2009, 163. 126 Jacques/Scheid 1998, 27–28 und 40. 127 Hammond 1956, 66. 128 So z.B. Brunt 1977, 103–04; Hurlet 1993, 268; Meister 1999, 309; Griffin 2000, 11.

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jeweils nur kurze Zeit geherrscht. Die Nichterwähnung all dieser Vorgänger ist aus den genannten Gründen mehr als plausibel. Dadurch werden möglicherweise Vorläufer für die in den Paragraphen 3, 4 und 8 genannten Kompetenzen verdeckt. Zweitens, D. Mantovani hat zuletzt vorgeschlagen, das Fehlen der Erwähnung von Vorgängern in diesen Paragraphen allein aus ihrem von den weiteren Bestimmungen abweichenden Inhalt zu erklären. Sie würden anders als der Rest der lex im eigentlichen Sinn keine Vollmachten verleihen, sondern die Wirkungen von Handlungen des Prinzeps regeln. 129 Eine Entscheidung zwischen beiden Interpretationen zu treffen, ist an dieser Stelle unnötig. Es genügt festzuhalten, dass die Leerstellen in den Paragraphen 3, 4 und 8 kein Hindernis für die Annahme darstellen, dass es sich bei der l. d. i. V. um die Verleihung aller üblichen Ehren handelte. Die Nichterwähnung von Vorgängern in den genannten Paragraphen zeigt außerdem, dass die Verfasser der lex recht skrupulös mit dieser Frage umgingen. Das spricht dagegen, dass in den anderen Paragraphen Regelungen, für die es keine Vorläufer gegeben hatte, dem Vespasian unter Erfindung von solchen Präzedenzfällen als vorgeblich traditionelle Kompetenzen verliehen wurden. 130 Außerdem ist festzuhalten, dass es leider insgesamt kaum Quellen für die Gewährung von weiteren Rechten bzw. Vollmachten an Kaiser ab 54 n. Chr. gibt 131, auch das sollte an dieser Stelle zur Vorsicht mahnen. Darüberhinausgehend sind es m.E. zwei Aspekte, die recht deutlich die erste Position als die bessere Erklärung erscheinen lassen: 1) Nach dem wenigen, was die literarischen Quellen mitteilen, ist es doch recht sicher, dass die kaiserliche Gewalt en bloc durch Senat und wohl auch Volk verliehen wurde. 132 Für den Senat wird das durch Formulierungen wie „cuncta principibus solita […] decernit“ 133 oder „cuncta […] statim decernuntur“ 134 deutlich. Es gibt schlicht keinen erkennbaren Grund, warum dieser Block in der comitia noch einmal hätte aufgebrochen werden sollen. 2) Dass Paragraph 8 allen früheren acta Vespasians rückwirkend Gültigkeit verleiht, spricht sehr dafür, dass alle folgenden acta durch die lex selbst legitimiert sind. Das wiederum spricht sehr deutlich dafür, in der l. d. i. V. die summarische und vollumfängliche Übertragung der kaiserlichen Gewalten zu sehen, nicht nur einen Teil davon. All das stellt keinen zwingenden Beweis für diese Position dar, weist ihr aber einerseits ein hohes Maß an Plausibilität zu und zeigt andererseits, dass nichts diesem Verständnis 129 Mantovani 2005. Für eine Zusammenfassung siehe ebd., 42–43: „Les trois normes en question, au contraire, n’attribuaient pas des pouvoirs mais réglaient les effets des actes du princeps […]. […] Il s’agit, au contraire, d’une différence juridique entre actes et effets, entre l’attribution du pouvoir d’accomplir un acte (conforme à des précédents) et la légalisation des effets de l’acte.“ Dieser rechtlich-funktionale Unterschied begründet s.E. die Auslassung möglicher Vorgänger. Vgl. auch ebd., 30. Ebenso in Mantovani 2009, 139 und 141–54 sowie die Zusammenfassung 154–55. Ihm folgt Levick 2009, 19. 130 So zuletzt auch Mantovani 2009, 142–43. 131 So zurecht Brunt 1977, 104. 132 So zurecht Schumacher 1987, 319–20 = Schumacher 2018, 134–36. Darauf verweist ausdrücklich Mantovani 2009, 137. 133 Tac. hist. 4,3,3: „erkannte […] alle die für Regenten üblichen Ehren“ (ÜS: J. Borst). 134 Tac. hist. 2,55,2: „alles gleich auf einmal bewilligt“ (ÜS: J. Borst).

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widerspricht. Es handelt sich schlicht um die einfachste Erklärung der Befunde, die einerseits alle Belege zufriedenstellend integrieren kann und andererseits mit den wenigsten Zusatzannahmen – wie z.B. die einer anderweitig nicht belegten Ergänzung der kaiserlichen Vollmachten – auskommt. Das heißt, in der l. d. i. V. sind sehr wahrscheinlich Teile der lex erhalten geblieben, durch die der Senatsbeschluss über die Übertragung der gesamten kaiserlichen Gewalt an Vespasian vom Volk ratifiziert wurde. Bei den vorliegenden Paragraphen handelt es sich dann allerdings tatsächlich um iura, die sowohl die tribunicia potestas als auch das imperium proconsulare ergänzten. Der fehlende erste Teil der Inschrift dürfte – und hier mache ich nun doch eine Zusatzannahme – die Verleihung genau dieser beiden Säulen des Prinzipats sowie des Augustusnamen und anderer Rechte, Titel und Vollmachten enthalten haben. 135 Die Interpretation der einzelnen Paragraphen §1 136: Außenpolitik Der princeps wird in diesem Paragraphen dazu ermächtigt, ohne eigens von Volk oder Senat legitimiert worden zu sein, Verträge ( foedera 137) abzuschließen. In republikanischer Zeit stellt die Außenpolitik im Allgemeinen sowie der Abschluss völkerrechtlicher Verträge im Besonderen spätestens seit dem zweiten Jahrhundert v. Chr. ein Vorrecht des Senats dar. 138 Es dürfte sich bei unserem Paragraphen um eine Erweiterung des Rechts handeln, über Krieg und Frieden zu entscheiden. 139 Allerdings ist erkennbar, dass sich die Kaiser, v.a. wenn sie auf ein gutes Einvernehmen mit dem Senat Wert legten, geschlossene Verträge auch weiterhin vom Senat haben bestätigen lassen. 140 Als Vorgänger sind Augustus, Tiberius und Claudius genannt.

135 Vgl. Meister 1999, 314–15; Hurlet 1993, 265–68; Pabst 1997, 187–89 und 207–08; und jüngst Brandt 2021, 236: „[…] in deren verlorenem Anfangsteil wohl die Übertragung essentieller Kompetenzen (darunter gewiss das ‚imperium consulare‘ und die ‚tribunicia potestas‘) an Vespasian fixiert worden war […].“; ähnlich auch schon Grenzheuser 1964, 228–29. Anders dagegen im Anschluss an Th. Mommsen z.B. Mantovani 2005, 25–27 mit Anm. 12, für den die l. d. i. V. das imperium proconsulare nicht beinhaltete, vgl. dagegen aber jetzt, wenn auch noch immer tastend, Mantovani 2009, 136 und 154. Vehement gegen diese Sichtweise spricht sich allerdings wie festgestellt Lucrezi 2009, 162, aus. 136 Vgl. dazu Brunt 1977, 103, Anm. 41; Hurlet 1993, 268–69 und 274; Meister 1999, 309; Pfeiffer 2009, 17. 137 Vgl. Galsterer 1998 [DNP]. 138 Bleicken 1995b, 94; Hurlet 1993, 268–69; Meister 1999, 309. 139 Vgl. Strabo 17,3,25; Cass. Dio 53,17, 5–6. Das Recht zur Entscheidung über Krieg und Frieden war Augustus 27 v. Chr. verliehen worden (Cass. Dio 53,17,5–6). 140 Siehe z.B. Cass. Dio 60,23,6 zu Claudius.

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§2 und §3 141: Senat (ius relatio) Der Kaiser wird ermächtigt, Senatssitzungen einzuberufen, Anträge (relationes 142) zu stellen und zurückzuweisen sowie Beschlüsse zu erwirken. Außerdem können Sitzungen auch während seiner Abwesenheit in seinem Auftrag rechtskräftig einberufen werden. Grundsätzlich besaßen die Kaiser seit Augustus das Recht, den Senat einzuberufen, Anträge zu stellen oder zurückzuweisen und Senatsbeschlüsse zu erwirken, bereits durch die tribunicia potestas. 143 Daher dürfte es sich hier um eine Erweiterung dieses Rechtes handeln. 144 Fr. Hurlet schlägt vor, dass der Kaiser von den Beschränkungen durch kalendarische Regelungen befreit wurde und ihm außerdem ein vorrangiges Recht zur Antragstellung und Beschlusserwirkung zugestanden wurde. 145 Bei Paragraph 2 werden Augustus, Tiberius und Claudius, bei Paragraph 3 keine Vorgänger genannt. Dennoch ist es wahrscheinlich, dass auch Paragraph 3 ein Recht beschreibt, das Kaiser schon zuvor besaßen. 146 §4 147: Kandidaten für Ämter (ius commendatio) Der princeps erhält hier das Recht, Kandidaten für die Wahlen 148 zur Besetzung ziviler oder militärischer Ämter oder Amtsgewalten vorzuschlagen (commendatio 149, suffragatio 150), die dann außer der Reihe (extra ordinem) berücksichtigt werden müssen. Versteht man rationem habere als wahltechnischen Fachausdruck im Sinne einer Berücksichtigung bei der Auszählung der Stimmen bzw. einer Zulassung der Kandidatur 151, kann Paragraph 4 in zwei Weisen verstanden werden: Entweder mussten die jeweiligen Wahlleiter

141 Vgl. dazu Hurlet 1993, 269–71; Bleicken 1995a, 34–35; Meister 1999, 309; Pfeiffer 2009, 17–18; Mantovani 2005, 33–35 und 37; ders. 2009, 144–48. 142 Vgl. Bleicken 1995b, 110–11; Kierdorf 2001b (DNP), hier Sp. 402. 143 Vgl. zu Augustus Kienast 2009, 104–05; für die Kaiser allgemein Bleicken 1995a, 29–32; Jacques/ Scheid 1998, 38–39. 144 So schon Brunt 1977, 105 und 113–14. 145 Hurlet, 1993, 269–70; ebenso Mantovani 2005, 37, der v.a. an Abweichungen von der lex Iulia de senatu habendo des Jahres 9 v. Chr. denkt. Brunt 1977, 114, erkennt eine Verleihung der bereits dem Augustus zuerkannten erweiterten tribunizischen Rechte gegenüber dem Senat (siehe Cass. Dio 53,32,5; 54,3,3). 146 Vgl. Grenzheuser 1964, 74; ebenso Brunt 1977, 103–04; Mantovani 2005, 36–37, erklärt das Fehlen eines Vorgängers wieder aus der anderen inhaltlich-funktionalen Ausrichtung des Paragraphen; erneut in Mantovani 2009, 144–48; ebenso bereits Hurlet 1993, 274: Paragraph 3 ergänze Paragraph 2 und stelle lediglich dessen Geltung endgültig sicher, brauche daher also keinen Präzedenzfall. 147 Vgl. dazu Hurlet 1993, 274–777; Bleicken 1995a, 33–34; Meister 1999, 309–10; Pfeiffer 2009, 18; Mantovani 2005, 35–36 und 38–39; ders. 2009, 146–53. 148 Vgl. Bleicken 1995a, 33–34; Bleicken 1995b, 81–82 und 101–03; Eder 2002 (DNP). 149 Siehe Gizewski 1997b (DNP). 150 Siehe Heider 2001 (DNP). 151 Siehe dazu mit ausführlichen Belegen Mantovani 2005, 38, Anm. 39.

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über die kaiserlichen Kandidaten zuerst abstimmen lassen. 152 Oder die kaiserlichen Kandidaten erhielten eine Befreiung von den Vorschriften der leges annales 153 und mussten zugelassen (und natürlich gewählt) werden, auch wenn sie die Voraussetzungen für bestimmte Ämter, z.B. das nötige Mindestalter oder die nötige Vorstufe der senatorischen Beamtenlaufbahn (cursus honorum 154), noch nicht erreicht hatten. 155 Letzteres dürfte v.a. angesichts der von D. Mantovani angeführten Parallelen 156 vorzuziehen sein. Bei dem hohen Ansehen des princeps stellte eine solche commendatio bzw. suffragatio 157 allerdings de facto in jedem Fall eine Garantie dar, gewählt zu werden. Gleichzeitig war es eine besondere Ehre, ein Kandidat des Kaisers (candidatus caesaris) zu sein. Zugleich dürfte in dieser Klausel „die Grundlage der Personalpolitik des Kaisers“ 158 zu sehen sein. 159 Auch wenn kein Vorgänger genannt ist, so spricht nichts dagegen, hier ebenfalls eine überkommene Regelung zu sehen. 160 §5 161: Pomerium Der princeps wird ermächtigt, das pomerium 162, die kultisch-politische Stadtgrenze Roms, zu erweitern. 163 Als Vorgänger wird nur Claudius genannt, was zugleich zeigt, dass die Verfasser „were scrupulous elsewhere not to ascribe to previous emperors specific prero-

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161 162 163

So z.B. Grenzheuser 1964, 73; Levick 1967, 211–12; Levick 2009, 19–20 mit Anm. 42. Vgl. dazu Bleicken 1995b, 130; außerdem Gizewski 1997c (DNP), Sp. 244 mit einer Übersicht. Siehe Gizewski 1997c (DNP). So Hurlet 1993, 274–77, unter Bezugnahme auf Tac. ann. 3,29,1; ebenso Mantovani 2005, 35–36 und 38–42; ders. 2009, 149–53. D. Mantovani diskutiert die lex Malacitana 51.54 (CIL II 1964 = ILS, Nr. 6089 = McCrum/ Woodhead 1966, Nr. 454 = EDCS-48100054; dt. ÜS: Freis 1994, Nr. 60), Cic. Phil. 5,45–46 sowie in Kombination Cic. har. resp. 43 und Brut. 63,226. Der Unterscheid ist nicht eindeutig feststellbar, vgl. die Diskussion verschiedener Möglichkeiten bei Hurlet 1993, 274–75 mit Anm. 54; Mantovani 2005, 35, Anm. 29. Eine ausführliche Diskussion bietet auch Levick 1967, 211–14. B. Levicks Vorschlag, dass es sich bei der commendatio um eine schriftliche, bei der suffragatio um eine mündliche Wahlempfehlung handelt, kann einige Plausibilität beanspruchen. Meister 1999, 310. Für alle drei Punkte vgl. Meister 1999, 309–10. Grenzheuser 1964, 74. Brunt 1977, 104, meint, dass Kaiser frühestens ab Nero dieses Recht innehatten. Hier scheint, v.a. durch den Verweis auf Tac. ann. 3,29,1, mit Mantovani 2005, 38–39, die Existenz einer Regelung der Auswirkung des kaiserlichen Gebrauchs der commendatio bzw. suffragatio schon vor Nero möglich zu sein. Es läge erneut an der inhaltlich-funktionalen Ausrichtung, dass kein Vorgänger genannt ist. Levick 2009, 19–21, dagegen erkennt in Paragraph 4 eine Regelung speziell für Vespasian und seine noch unsichere Situation nach der Machtübernahme. Vgl. dazu Brunt 1977, 104; Meister 1999, 310; Pfeiffer 2009, 18; Mantovani 2005, 31–33; ders. 2009, 142–43. Siehe Galsterer 2001 (DNP). Nach Gell. 13,14,3; Tac. ann. 12,23,2, war das demjenigen gestattet, der das Gebiet des römischen Volkes durch im Krieg gewonnenes Land vergrößert.

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gatives for which there was no precise warrant“ 164. Es ist bekannt 165, dass dieser das pomerium auch tatsächlich erweitert hat. Tacitus notiert dazu aber nur, dass es denen, welche das Reich vergrößern, auch erlaubt ist, das pomerium zu erweitern. Eine explizite Übertragung eines solchen Rechts erwähnt er nicht, wie auch sonst nichts davon bekannt ist. Der Text der l. d. i. V. impliziert eine solche formale Übertragung allerdings. Vespasian hat dieses Recht dann in Anspruch genommen. 166 §6 167: Die diskretionäre Klausel/Ermessensklausel Diese Klausel stellt ein zentrales Problem für die Interpretation der l. d. i. V. dar. Sie gestattet es dem Kaiser, alles zu tun, was nach seiner Ansicht im Interesse des Staates liegt und der maiestas 168, der Hoheit der göttlichen, menschlichen, stattlichen und privaten Dinge, angemessen ist. Als Vorgänger sind Augustus, Tiberius und Claudius genannt. Die Interpretationen dieser Klausel sind zahlreich und widersprüchlich. Im Folgenden werden im Anschluss an K. Meister 169 einige gängige Interpretationen skizziert und knapp kommentiert. a) Verordnungsrecht bzw. Notstandsrecht Hier sollen nur kurz zwei Positionen aus der vor allem älteren Forschung erwähnt werden, die heute weniger einflussreich sind, aber forschungsgeschichtlich einige Bedeutung besitzen. 170 Nach Th. Mommsen 171 handelt es sich lediglich um das Recht, Verordnungen im Bereich der Verwaltung zu erlassen, das aber zum Teil auf die Gesetzgebung übergreifen konnte. Dagegen ist einzuwenden, dass sich eine so enge Auslegung aus dem Text (agere facere ...) nicht ergibt. J. Kromayer u.a. 172 erkennt hier nur eine Art Notstandsrecht mit Befugnissen für schwere Krisen. Auch diese Auslegung lässt sich aus dem Text der Klausel nicht belegen. 164 So Brunt 1977, 114; ebenso Mantovani 2005, 32–33 mit Anm. 21. 165 Tac. ann. 12,23,2; 12,24,2, epigraphisch durch Grenzsteine (cippi) belegt, z.B. CIL VI 31537; ILS, Nr. 213. 166 Belegt ebenfalls durch Grenzsteine (cippi), z.B. CIL VI 31538; vgl. Meister 1999, 310; Mantovani 2005, 33, Anm. 23. 167 Vgl. dazu Brunt 1977, 109–16; Pabst 1989; Hurlet 1993, 271–73; Meister 1999, 310–13; Pfeiffer 2009, 18. 168 Vgl. Gizewski 1999 (DNP). 169 Meister 1999, 310–12; er diskutiert dort noch weitere Hypothesen; siehe auch Pabst 1989, 140–41, Anm. 3–5. 170 Vgl. dazu und zur Kritik daran Meister 1999, 311. Siehe aber Hurlet 1993, 272! 171 Mommsen 1877, 867–77, v.a. 871–73. Erwogen als eine von zwei möglichen Interpretationen bei Hurlet 1993, 272 mit Anm. 43–44. 172 Kromayer 1888, 49, der meint, die Klausel erinnere „an die Zeit der unumschränkten triumviralen Herrschaft“, die damalige „absolute Willkürherrschaft“ sei aber „als schärfste Waffe des Herrschers […] jetzt nur noch für den Notfall aufbewahrt.“ Erwogen als eine von zwei möglichen Interpretationen bei Hurlet 1993, 272 mit Anm. 43–44.

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b) Die extreme Auslegung Diese Position vertritt zum Beispiel P. Brunt 173: Dem princeps würden durch diese Klausel „praktisch unbegrenzte Vollmachten“ 174 übertragen. „Clause VI by implication authorizes the emperor to act at his discretion even if this involves violation of existing laws.“ 175 Er datiert diese Klausel zurück bis in das Jahr 37 v. Chr. Zur Unterstützung verweist er auf die sanctio, die Gesetzesverstöße auf Grund der l. d. i. V. erlaubte. Außerdem führt er als Belege u. a. Seneca, „Caesari […], cui omnia licent“ 176, und Cassius Dio, der die kaiserliche Allmacht (legibus solutus) für seine Zeit annimmt und – fälschlicherweise – in das Jahr 24 v. Chr. zurückdatiert 177, an. Aus dem Panegyricus des Plinius 178 leitet er ab, dass sich auch Domitian, der hier Trajan gegenübergestellt wird, als über den Gesetzen stehend („princeps super leges“) betrachtete. 179 Einwenden lässt sich dagegen, dass eine solche Allmacht die ausführlichen Bestimmungen der gesamten l. d. i. V. überflüssig machen würde. Außerdem entbindet Paragraph 7 den Kaiser konkret von einigen bestimmten Gesetzen. Auch das wäre dann nicht nötig. Für P. Brunt handelt es sich bei Paragraph 7 allerdings um eine Klausel aus dem Jahr 14 n. Chr., die aus Traditionalismus beibehalten wurde, obwohl sie seit 37 n. Chr. unnötig war. 180 Weiterhin wird die extreme Deutung der Tatsache nicht gerecht, dass Augustus der erste genannte Vorgänger mit diesem Recht ist, derselbe Augustus, der so großen Wert auf seine Rechtsstellung als princeps innerhalb der res publica restituta gelegt hatte. 181 Diese Deutung ist nicht mit dem System ,Prinzipat‘ in Einklang zu bringen. Auch kann Plinius d. J. noch zu Beginn des zweiten Jahrhunderts n. Chr. festhalten: „der Princeps steht nicht über den Gesetzen, sondern die Gesetze über dem Princeps“ 182, was Fr. Hurlet zu der zutreffenden Folgerung veranlasst, dass es auch zu dieser Zeit noch keinen ‚Absolutismus‘ gegeben habe. 183 Zuletzt steht dem auch der Wortlaut entgegen, da dort das Interesse des Staates und die maiestas der göttlichen, menschlichen, stattlichen und privaten Dinge als Leitlinien und damit wohl auch Grenzen gegeben sind. Daran wurden ja auch ‚schlechte‘ und ‚gute‘ Kaiser unterschieden, wobei für erstere durchaus auch „illegale Akte [...] vorstellbar sind“. 184 173 Für weitere Anhänger dieser Deutung s. Grenzheuser 1964, 227ff.; Pabst 1989, 140, Anm. 3. 174 Meister 1999, 310. 175 Brunt 1977, 109. Ähnlich klingt das Fazit bei Levick 2009, 22, die Worte der Bestimmung seien „a pleasing fig leaf, or rather a set of emperor’s new clothes, leaving the emperor restricted only by his own pudor.” 176 Sen. ad Polyb. 7,2: „der Kaiser […] der alles darf “ (ÜS: G. Fink), aus der Zeit des Claudius; in de clem. 1,1ff., aus der Zeit des Nero, erörtert er nach P. Brunt ebenfalls die “absolute authority” (Brunt 1977, 109) des Kaisers. 177 Cass. Dio 53,18,1; 28,2. 178 Plin. Paneg. 65,1. 179 Brunt 1977, 108–09. 180 Brunt 1977 109. 181 R. Gest. div. Aug. 5; 6; und v.a. 34; vgl. dazu Bleicken 1995a, 20–45; Christ 2002, 86–93. 182 Plin Paneg. 65,1: „non est princeps super leges sed leges super principem“ (ÜS: W. Kühn). 183 Hurlet 1993, 272. 184 Pabst 1989, 135.

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c) Der Kaiser als zentrales Entscheidungsorgan Nach J. Bleicken 185 hat Paragraph 6 lediglich „den Kaiser als zentrales Entscheidungsorgan hinstellen wollen.“ 186 Allerdings stellt er in Paragraph 6 zugleich einen „gewissen Widerspruch zu dem übrigen Teil des Gesetzes und zum Prinzipatsgedanken überhaupt“ 187 fest. Denn dieser widerspräche „nicht nur den republikanischen Rechtsgedanken, sondern auch den Gedanken des Prinzipats, der ja gerade nicht auf Willkür, sondern auf Begrenzung der Gewalt beruhte.“ 188 Auch wenn er in Paragraph 7 eine Eingrenzung des sehr frei formulierten Paragraph 6 sieht, so bleibe dieser Widerspruch doch bestehen. Gerade Paragraph 6 drückt für ihn am stärksten „die Einheit der kaiserlichen Gewalt“ 189 aus. Hier zeige sich, dass die kaiserliche Gewalt zu dieser Zeit schon so fest als Einheit verstanden wurde, dass „die einzelnen Teile, wie sie unter Augustus und nach ihm für den Kaiser zusammengestellt worden waren, kaum noch als Teile“ 190 begreifbar waren. Diese etwas „vage [...] Interpretation“ 191 zeigt, welche Schwierigkeiten Paragraph  6 dem Historiker – nicht zuletzt aufgrund fehlender Parallelen – bereitet. d) Ableitung aus Republik A. Pabst 192, ihr schließen sich z.B. K. Meister, S. Pfeiffer und zuletzt H. Brandt an 193, versucht nachzuweisen, dass das Konzept, das hinter der Maßgabe steht, sich am Nutzen des Gemeinwesens zu orientieren (ex usu reipublicae), aus der Zeit der Republik stammt. 194 Die Parallele sieht sie in Senatsbeschlüssen, die es Magistraten unter Einräumung eines sehr weiten Handlungsspielraumes erlaubten, eigenständig zu handeln. Es sei dabei unter anderem um die Möglichkeit gegangen, auf Unvorhergesehenes zu reagieren, also die Erledigung der „laufenden Geschäfte jenseits der Routine“, wozu der Magistrat „von der Pflicht zu Einholung der Expertise des publicum consilium befreit“ sein musste. 195 Dabei sei aber stets eine Grenze gezogen worden, nämlich dass seine Handlungen dem Nutzen des Volkes und Staates (e re publica) dienten und „unter Wahrung der Grundnormen des Staates“ ( fas, ius und mos) vollzogen werden mussten. 196 Das Herkommen gebot dabei auch die Einbeziehung des Senats. Sie schließt:

185 186 187 188 189 190 191 192 193 194 195 196

Bleicken 1995a, 41–42; vgl. Meister 1999, 311–12. Bleicken 1995a, 42 Bleicken 1995a, 42. Bleicken 1995a, 41. Ebd. Bleicken 1995a, 41. Meister 1999, 312. Pabst 1989; Pabst 1997, 95–97. Meister 1999, 312–13; Pfeiffer 2009, 18; Brandt 2021, 237. Pabst 1989, 137. Pabst 1997, S. 96. Die Formulierung lautet (Pabst 1997, 96): „si ei e re publica fideque sua viderentur“; siehe für diesen Zusammenhang auch Pabst 1989, 137–39.

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„Selbst bei größter Skepsis steht nach dem gesagten ohne Zweifel fest, dass auch die Republik – und zwar keineswegs unter Liquidierung der Verfassung – Klauseln kennt, die magistratus/pro magistratibus unbestimmte und vorab gar nicht zu bestimmende ius potestasque agandi faciendi verleihen. Wie zu den erlaubten Handlungen gewiss auch, aber nicht ausschließlich Verordnungen gehören, so spricht alles dafür, dass die ‚diskretionäre Klausel‘ unter Anlehnung an solche Vorbilder dem Kaiser, bei Beachtung des usus rei publicae, von fas, ius und mos, eine Bewegungsfreiheit gewährt, die sich im Erlaß von Edikten, jedoch ebenso in anderen acta und res gestae niederschlagen kann.“ 197 Zumindest ähnlich ist wohl die Äußerung D. Timpes zu verstehen, dass die diskretionäre Klausel dem princeps „Handlungsfreiheit (agere und facere) nach dem Maße eines Konsuls gibt, ohne ihn deswegen zum Konsul zu machen.“ 198 Er verbindet diese Klausel ebenfalls mit dem Herrschaftsantritt des Gaius und erkennt darin das ius arbitriumque omnium rerum, das Sueton 199 erwähnt. 200 M.E. dürfte A. Pabst mit ihrer Ableitung aus republikanischen Vorbildern den Sinn von Paragraph 6 am ehesten treffen. Sie kann auf enge Parallelen in Sprache wie Form hinweisen und ihre These erlaubt es, den Text der Klausel wörtlich zu nehmen, ohne dabei eine sachlich sehr problematische kaiserliche Allmacht zu fordern oder inhaltlich ins Schwimmen zu kommen, wie es z. B. J. Bleicken in einer gewissen Weise passiert. Ohne Begründung abgelehnt wird diese These allerdings von M. Griffin. 201 §7: Die Dispensationsklausel Hier wird der princeps von der Beachtung konkreter Gesetze und Plebiszite freigestellt, von denen auch schon Augustus, Tiberius und Claudius freigestellt waren. Außerdem wird ihm gestattet, alles zu tun, was diese drei kraft lex oder rogatio tun durften. Unter diesen Gesetzen sind z. B. bestehende Ehe-, Adoptions- und Erbgesetze. 202 A. Pabst 203 differenziert hier insofern, als sie auf Grund philologischer Argumentation nachzuweisen versucht, dass dem Vespasian einerseits eine Freistellung von den Pflichten seiner Vorgänger gewährt wurde, es ihm aber andererseits erlaubt wurde, diese Verpflichtungen, welche seine Vorgänger übernommen hatten, entweder zu übernehmen oder auch nicht. Es handele sich also im zweiten Teil nicht um eine Kompetenzerneuerung, sondern um eine Wahlmöglichkeit, diese Kompetenzen bzw. Verpflichtungen anzunehmen oder nicht.

197 198 199 200 201 202 203

Pabst 1989, 139–40. Timpe 1962, 75; kursiv im Orginal. Ihm schließt sich Grenzheuser 1964, 233 an. Suet. Cal. 14,1: „die volle Verfügungsgewalt und Entscheidungsbefugnis in allem“ (ÜS: H. Martinet). Timpe 1962, 75. Gegen letzteres wenden sich entschieden Jacques/Scheid 1998, 27. Griffin 2000, 12, Anm. 39. Cass. Dio 54,2;55,32;59,15; Dig. 1,3,31. Pabst 1989, 132–34.

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§8: Die transitorische Klausel Hier werden alle kaiserlichen acta, die vor diesem Gesetz erlassen wurden, für rechtskräftig erklärt. Ein Vorgänger wird nicht genannt. Für diese Klausel gibt es mehrere Erklärungen. Nach B. Levick 204 wird dadurch die Anerkennung des Vitellius durch den Senat zumindest ab dem 01. Juli 69 n. Chr. ungültig. Ähnlich auch M. Hammond 205, für den die Rückdatierung des dies imperii in erster Linie gegen Otho und Vitellius gerichtet ist. Nach F. Jacques und J. Scheid 206 wird dadurch nur die Zeitspanne zwischen der Entscheidung des Senats und der Ratifizierung dieser Entscheidungen durch das Volk überbrückt. Ein Bezug zu den von dem Krisenjahr 69 n. Chr. verursachten Verzögerungen (Vitellius, Vespasian) wird ausdrücklich abgelehnt. Die meisten anderen Autoren 207 sprechen sich allerdings für genau diesen Zusammenhang aus. Durch die transitorische Klausel werde die Zeit zwischen der Ausrufung des Vespasian und seiner Anerkennung durch Senat und Volk überbrückt. Außerdem werde dadurch auch die Festlegung des dies imperii auf den 01. Juli legitimiert. Meines Erachtens kann P. Brunt 208 sogar sehr plausibel darlegen, dass diese Klausel vermutlich auf Vitellius zurückgeht, bei dem erstmals ein längerer Zeitraum zwischen Proklamation und Anerkennung lag und der seine acta aus dieser Zwischenzeit sicherlich bestätigt haben wollte. K. Meister dagegen sieht die transitorische Klausel ganz „auf die besondere historische Entwicklung des Jahre 69 und die Modalitäten der Usurpation bzw. des Regierungsantritts Vespasians zugeschnitten.“ 209 Auch B. Grenzheuser sieht in dieser Klausel eine Neuerung, die allerdings auf den Wunsch des Senats zurückgehe, dem Vespasian, der wie man an seinem dies imperii sieht, seine Stellung als von den Legionen kommend ansah, den eigenen Legitimitätsstandpunkt entgegenzuhalten. Auch wenn sich nicht ganz ausschließen lässt, dass es sich hierbei um die einzige echte Neuerung handeln könnte, würde ich insgesamt dem Verständnis von P. Brunt folgen. Schließlich hatte auch Vitellius bereits vor dem Problem gestanden, dass eine erhebliche zeitliche Lücke zwischen seiner Ausrufung durch die Truppen und seiner Bestätigung durch Senat und Volk klaffte und in dieser Zeit außerdem ein Rivale ebenfalls als Kaiser Rechtshandlungen vollzog sowie acta erließ. In irgendeiner Form muss dieses Problem auch für ihn formal gelöst worden sein. Die transitorische Klausel der l. d. i. V. oder eine analoge Regelung in seiner lex de imperio würden sich dafür anbieten.

204 205 206 207

Levick 2017, 96. Hammond 1956, 77. Jacques/Scheid 1998, 28. Timpe 1962, 120; Brunt 1977, 106; Castritius 1982, 105–07; Schumacher 1987, 326 = Schumacher 2018, 142; Meister 1999, 313; Brandt 2021, 237; soweit ich es sehen kann auch Griffin 2000, 12. 208 Brunt 1977, 106. 209 Meister 1999, 313.

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Zusammenfassung der Ergebnisse Wir haben jetzt einen Gewaltmarsch durch die Herrschaftswechsel von Augustus bis Vespasian einerseits und durch die einzelnen Paragraphen der lex de imperio Vespasiani andererseits hinter uns. An dieser Stelle will ich noch einmal die Ergebnisse beider Teile dieser Arbeit kurz zusammenfassen und fragen, was sich daraus an Einsichten für die akademische Lehre gewinnen lässt. Eine blockweise Übertragung der kaiserlichen Macht in Verbindung mit einer lex de imperio gab es seit spätestens 37 n. Chr. – vielleicht auch schon seit 14 n. Chr. Die vorliegende lex enthält Teile derjenigen Vollmachten, die dem Vespasian Ende Dezember 69 n. Chr. übertragen wurden. Es handelt sich dabei – vielleicht mit Ausnahme der transitorischen Klausel – um die „bei Herrschern üblichen Ehren” 210, wie es Tacitus formulierte, und die erhaltenen Teile davon sind als die das imperium proconsulare und die tribunicia potestas ergänzenden iura anzusehen. Bei der Interpretation der einzelnen Paragraphen der lex stellen vor allem die diskretionäre Klausel und die transitorische Klausel vor Fragen, die in der Forschung kontrovers beantwortet werden. Es scheint aber, dass sich beide Klauseln bereits auf Vorgänger Vespasians zurückführen lassen und dass sich auch die sperrige diskretionäre Klausel durch den Ansatz von A. Pabst recht plausibel deuten lässt. Insgesamt zeigt das Vorhandensein einer solchen lex de imperio, für welche unsere lex das einzig erhaltene Beispiel darstellt, sehr gut, wie aus der einzigartigen Sonderstellung des Augustus, die aus einer auf ihn zugeschnittenen Kombination einzelner Gewalten bestand, im Verlauf weniger Jahrzehnte die festgefügte Institution ,Prinzipat‘ entstand. Andererseits aber können wir aus der Aufschlüsselung der Gewalten in einzelne Paragraphen auch sehen, dass das Bewusstsein dafür, dass diese Institution einmal aus einer Kombination verschiedenster Komponenten entstanden war, zumindest im Senat noch nicht erloschen war. Und so sehr die Bestallung des neuen princeps durch Senat und Volk zu einer Formalie erstarrt war, so wurde dennoch nicht darauf verzichtet, da nur auf diese Weise der Herrschaft formale Legitimität verliehen werden konnte. Der Ertrag für die akademische Lehre Was am Ende als Gesamtbild so glatt und einfach klingt, ist das Ergebnis mühevoller Kleinarbeit am Text der Inschrift, unter Bezugnahme auf eine zwar vorhandene, aber nur in bescheidenem Maße hilfreiche literarische Überlieferung. Mit Blick auf Studienanfänger lassen sich an dieser Stelle bereits wertvolle Erträge für die Einführung in die Quellenarbeit festhalten. Vieles davon ist für erfahrene Fachleute nicht besonders neu, für Erst- oder Zweittrimester bzw. -semester aber, das wird mir in jedem Proseminar wieder deutlich, handelt es sich um elementare Bausteine beim Erlernen historischer Arbeit.

210 Tac. hist. 4,3,3: „cuncta principibus solita“.

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1. Wie bequem (und legitim!) es auch immer sein mag, eine Einführung zum Beispiel in die frühe römische Kaiserzeit oder zu den flavischen Kaisern zu lesen, um sich Wissen anzueignen, der Blick in die Quellen selbst und die Frage, wie moderne Autoren zu ihrem Verständnis bestimmter Quellentexte oder Sachverhalte kommen, sind unabdingbar! Gerade an einer Quelle wie der vorliegenden Inschrift lässt sich diese Notwendigkeit sehr gut aufzeigen. Es mag wie eine Übung im Eulen nach Athen tragen aussehen, doch dieser einfache Sachverhalt – lest Eure Quellen! – ist zu Beginn des Studiums keineswegs selbstverständlich und kann gerade in den ersten Trimestern nicht oft genug vermittelt werden. 2. Einzigartige Quellen wie die l. d. i. V. sind einerseits in Gold nicht aufzuwiegen, würden wir doch sonst über die dargestellten Zusammenhänge nichts wissen können, andererseits stellen sie aber den Interpreten vor ganz eigene Herausforderungen, da Vergleichsmaterial zu ihrer Einordnung fehlt. Durch die Einzigartigkeit unserer Quelle, verbunden mit ihrer Bruchstückhaftigkeit, lassen sich sehr deutlich die Möglichkeiten wie auch die Grenzen der Quellenarbeit aufzeigen sowie methodische Grundsätze illustrieren. Zugleich ergeben sich dadurch aber auch Freiräume für Studenten, die Ergebnisse der Forschung einer Prüfung zu unterziehen, eigene Überlegungen anzustellen und zu eigenen Schlussfolgerungen zu kommen, die unbedingt fruchtbar gemacht werden sollten. Wenn sich die Forschung nicht einig wird, dann ist es auch nicht möglich, fertige Antworten einfach zu übernehmen. Hier wird das eigene, begründete Urteil geradezu eingefordert! 3. Ein methodischer Aspekt historischer Arbeit, der in der Theorie oft etwas trocken klingt, aber umso wichtiger ist und mittels der Arbeit an unserer Inschrift eingeübt werden kann, ist die Verbindung unterschiedlicher Quellengattungen. So zeigt sich hier einerseits die Notwendigkeit, soweit möglich dokumentarische Quellen wie unsere Inschrift mit vorhandener literarischer Überlieferung ins Gespräch zu bringen, um über das knappe Schlaglicht hinaus, das sie werfen, die weiteren Zusammenhänge auszuleuchten. Hier: Was wissen wir überhaupt über Herrschaftswechsel und die Verleihung kaiserlicher Macht in dieser Zeit, um vor diesem Hintergrund die l. d. i. V. einordnen zu können? Andererseits wird aber auch deutlich, welche Grenzen literarische Quellen mitunter aufweisen, was sie nicht sagen bzw. nicht sagen wollen und wie dokumentarische Belege helfen können, erstere zu ergänzen, besser zu verstehen oder zu korrigieren. Hier: Was verbirgt sich im Einzelnen hinter den knappen Formulierungen in den literarischen Quellen hinsichtlich der Verleihung aller üblicher Ehren etc.? Gab es noch ein Bewusstsein dafür, dass die kaiserliche Gewalt von ihrer Genese her aus einzelnen Bausteinen besteht? 4. Deutlich wird die Notwendigkeit erkennbar, sich bei der Bildung von Hypothesen mit der Abwägung von Wahrscheinlichkeiten zu begnügen. Geschichte ist keine exakte Wissenschaft, sie kann keine mathematischen Beweise liefern, sondern sie interpretiert Befunde, teilweise sehr bruchstückhafte Befunde, und versucht, auf Grundlage dessen möglichst stimmige Bilder der Vergangenheit zu (re)konstruieren. Dabei kommt sie über Grade an Wahrscheinlichkeit nicht hinaus. Die Unmöglichkeit, immer und überall eine letztverbindliche Antwort zu finden, gehört ‚zum Geschäft‘ (sie

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macht m.E. sogar einen Teil des Reizes der geschichtswissenschaftlichen Arbeit aus). An dieser Stelle ist meiner Erfahrung nach dem einen oder der anderen unter den Studienanfängern ein metaphorischer Zahn zu ziehen. Je früher desto besser! 5. Diese Begrenzung auf Wahrscheinlichkeitsaussagen zeigt sich sowohl bei der Einbettung der Inschrift in den historischen Kontext mittels der literarischen Quellen als auch bei der eigentlichen Interpretation ihrer Bestimmungen. In beiden Fällen ist es an mehreren Stellen durchaus möglich, anders ‚abzubiegen‘ als hier vorgeschlagen, biegen renommierte Fachvertreter tatsächlich anders ab, obwohl wir alle dieselben Quellen lesen und diese mit denselben Methoden auswerten. Vor allem Studienanfänger werden davon leicht verunsichert – ‚wenn schon die Fachleute sich nicht einig werden, wie soll dann ich…?‘ –, aber gerade diese relative Unbestimmtheit erlaubt es, im Gespräch mit der Forschung um eine eigene Position zu ringen und am Ende z.B. in einer Hausarbeit oder Qualifikationsarbeit zu einem eigenen, begründeten Urteil zu kommen. Hier ist Mut zu machen, diese Chance zur Schärfung des eigenen Urteilsvermögens, die sich daraus ergibt, nicht nur vorgefertigte und in Stein gemeißelte Antworten zu haben, zu ergreifen. Die in der Literatur ausgetragenen Meinungsverschiedenheiten erlauben es, angeleitet durch die jeweiligen kritischen Erörterungen, vorgebrachte Argumente sowie die Kritik daran nachzuvollziehen und zu gewichten. 6. Zugleich ist damit nicht einer interpretativen Beliebigkeit das Wort geredet. Alle Rekonstruktionen bzw. Konstruktionen der Vergangenheit haben sich an den vorhandenen Quellen messen zu lassen. Es gibt dabei auch solche, die sich im Licht dieser Quellen als nicht tragfähig erweisen. So ist es, um vielleicht ein etwas extremes Beispiel zu nennen, das mir aber in Proseminaren v.a. zu Beginn eines Trimesters schon begegnet ist, allein angesichts der l. d. i. V. unmöglich zu behaupten, römische Kaiser im ersten Jahrhundert hätten sich nicht um die rechtliche Legitimation ihrer Stellung zu kümmern brauchen, sie hätten als allmächtige Gewaltherrscher losgelöst von solchen Petitessen herrschen können. Die vorliegende lex zeigt vielmehr das genaue Gegenteil, das Bemühen, der eigenen Position zumindest in formaler Hinsicht einen klaren rechtlichen Rahmen zu geben, auch wenn dieser sicherlich sehr großzügig abgesteckt worden ist. So schwierig ihre Interpretation mitunter auch erscheinen oder tatsächlich sein mag, die zu Grunde liegenden Quellen sind der entscheidende Prüfstein für jede historische Hypothesenbildung; ihr Vetorecht ist in jedem Fall zu achten! Auch das kann anhand dieser Inschrift Studienanfängern vermittelt werden. Lesen Sie viele Quellen mit den Studenten und üben Sie die Quelleninterpretation mit ihnen ein! Etwas Besseres können Sie mit ihnen nicht machen! Diesem Rat bin ich in den letzten Jahren an der HSU immer wieder aufs Neue gefolgt und ich freue mich sehr, dass ich gerade in dieser Festschrift einen kleinen Ertrag dieser Tätigkeit präsentieren durfte. Damit schließe ich meine Überlegungen und entbiete dem geschätzten Jubilar einen letzten Glückwunsch und Gruß. Vale, magister!

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Die Lex de Imperio Vespasiani und die Nutzung von Quellen

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Andreas Gerstacker

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Verlorene Schlacht – verlorene Heimat: Herodots Sicht auf Migrationsoptionen Linda-Marie Günther

Herodot legt in seinen ‚historiai‘, seine ‚Forschungsergebnisse‘ zu den Ereigniszusammenhängen der Perserkriegszeit dar, wobei er eine Fülle von Erzählungen einflicht über Vertreibungen und freiwillige Auswanderung kleinerer oder größerer Personengruppen infolge militärischer – oder auch ‚nur‘ politischer – Unterlegenheit. Der Autor hatte selbst als Jugendlicher gemeinsam mit seiner Familie seine Heimatstadt Halikarnassos verlassen, war später dorthin zurückgekehrt, erneut ‚ausgewandert‘. Im unteritalischen Thurioi hat er allem Anschein nach seine letzten Lebensjahre verbracht, denn dort ist er gestorben und begraben. 1 Wenn auch Herodots eigene Erfahrungen im Kontext von ‚Vertreibung und Migration‘ in seinem Werk keine auffällige Rolle spielt, lässt sich m.E. eine charakteristische Perspektive auf Notwendigkeit, Unabdingbarkeit oder lediglich Wünschbarkeit einer Aufgabe der Heimat erkennen. Auf dem allgemeinen griechischen Erfahrungshorizont mit ‚Auswanderung‘ muss freilich differenziert werden zwischen der mit dem Verlust des Bürgerrechts einhergehenden phygé als einer Vertreibung, Flucht oder Verbannung bzw. Ausbürgerung und der Migration in eine ‚neue Heimat‘: Von den Betroffenen wurde die phygé als erzwungener Heimatverlust auf eine zwar unbestimmte, aber nicht unbegrenzte Dauer innerhalb der eigenen Lebenszeit begriffen 2 während ‚Auswanderung‘ einen mehr oder weniger freiwilligen Aufbruch in eine ‚neue Heimat‘ bedeutete, wo zumal Hoffnung auf eine dauerhafte vollbürgerliche Existenz bestand, da eine neue ‚polis‘ konstituiert wurde, in der alle daran Beteiligten das Bürgerrecht erhielten. Die phygades hatten also nicht die Absicht, an ihrem Exil- bzw. Zufluchtsort zu bleiben, sondern strebten nach Rückkehr im Sinne einer rehabilitierenden Wiederaufnahme in die ursprüngliche Siedlungsgemeinschaft; diese suchte man notfalls gewaltsam und auch mithilfe der Gastpolis herbeizuführen, etwa durch einen Regimewechsel in der patrís. 3 1 Vgl. Suda s.v. Herodotos; Dionys. Hal. de Thuc. 820 Usener Rademacher O 331 f.; Strabo. Geogr. 14,2,16 p. 656 c.; Plut. de exilio 13 = Moral. 604f. 2 Dazu vgl. Seibert 1979, 353–56; Gehrke 1985, 216–20. 3 Seibert 1979, 355f, 384 f., 395, 400–4; Gehrke 1985, 224–32.

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Zwei weitere Formen der mehr oder weniger erzwungenen Abwesenheit aus der Heimatpolis sollen im Folgenden nur benannt, aber nicht in Herodots Werk aufgespürt werden: zum einen die kollektiven Zwangsumsiedlungen nach der Eroberung einer Stadt, durch die das ursprüngliche Bürgerrecht verlorenging, 4 zum anderen die Mobilität von Gewerbetreibenden (Händler, Künstlern, Söldnern), die als mehr oder weniger dauerhaft ansässige Fremde in einer anderen polis bestenfalls einen spezifischen Rechtsstatus als metoikoi (oder auch paroikoi etc.) genossen, ihren Vollbürgerstatus der patrís aber nicht aufgegeben hatten. 5 Zwischenformen sind denkbar: der staatenlose phygás als ‚Metöke‘, der im Exil einer Tätigkeit zum Erwerb seines Lebensunterhalts nachging; 6 die kollektiv in eine andere Stadt aufgenommenen und dort als eigene Gruppe auftretenden phygades aus einer anderen, etwa militärisch-politisch eliminierten polis, die an ihrer früheren Bürgeridentität festhielten. 7 Der entscheidende Faktor für eine Unterscheidung zwischen phygé und Migration ist also der Verlust des bisherigen Bürgerrechts einerseits, der Gewinn eines neuen Bürgerrechts in der ‚neuen Heimat‘ andererseits. Der Halikarnassier Herodot selbst hat demnach sowohl als phygás in Samos, dann als – in welchem Umfang auch immer – herumreisender und zeitweilig ansässiger Fremder etwa in Athen 8 und schließlich als Bürger der neugegründeten Stadt Thurioi gelebt. Seine ‚Mobilität‘ ist insofern untypisch, als er nach dem zweiten Verlassen der patrís nicht ‚gezielt‘ in die spätere neue Heimat in Unteritalien übersiedelte. * Die meisten Beispiele, die in den Historiai für Migration infolge einer militärischen oder politischen Niederlage begegnen, zeichnen sich dadurch aus, dass die Akteure sich bewusst und zumeist ohne äußeren Zwang für das Verlassen der Heimat entscheiden; ihr Motiv ist dabei die Sorge um den dauerhaften Erhalt ihrer Freiheit: Sie wollen unter obwaltenden oder drohenden Umständen nicht in der Heimat bleiben, sondern sich 4 Beispiele sind die Ansiedlung der 494 von den Persern besiegten Milesiern in Ampe an der Tigrismündung (Hdt. 5,20) und die Delier, die 422 von den Athenern vertrieben, aber auf Anweisung des Delphischen Apollon im Folgejahr repatriiert wurden (Thuk. 5,1). 5 Der Bildhauer Bion Diodorou aus Milet, dürfte in Syrakus gewirkt haben, für deren Machthaber um 480/470 v. Chr., die Deinomeniden, er deren Siegesmonument in Delphi gestaltete (vgl. HGIÜ I Nr. 37); seine Heimatpolis war 494 von den Persern zerstört worden (s.o. Anm.4). 6 Ein Beispiel geben die Delphier, die 363/2 verbannt wurden und in Athen willkommen geheißen wurden: Seibert 1979, 131, Anm.1026 (zur Diskussion des athenischen Dekrets IG II2 109). 7 Beispiele sind die um 540 in ihre Apoikie umgesiedelten Phokaier (Hdt. 1,164,3–166,1) und die im 4. Jh. infolge der zahlreichen politischen Umstürze geflohenen Syrakusaner, die verstreut in der griechischen Staatenwelt lebten, als Timoleon nach der Neugründung ihrer Heimatstadt seinen Siedleraufruf an sie richtete: vgl. Günther 2012, 9–19. 8 Vgl. Bichler/Rollinger 2000, 111f. unter Hinweis auf das inschriftliche Zeugnis eines athenischen Ehrendekrets für Herodot; dazu Chaniotis 1988, 290–92.

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Verlorene Schlacht – verlorene Heimat: Herodots Sicht auf Migrationsoptionen

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eine gänzlich neue suchen. Die für Herodot charakteristische Betonung der eleutheria im Sinne der Abwehr von douleia ist unabdingbares Element seiner Vorstellung echter Hellenizität, 9 feiert er doch in seinem Werk den Sieg über den persischen Großkönig Xerxes als die erstaunliche Leistung derer, die in einem ‚gesunden‘ Bewusstsein des Griechentums kompromisslos kooperierten. Einem zeitgenössischen Publikum, das sich nicht auf Bürger einer einzelnen polis beschränkte, führt der Historiograph anhand vielfältiger paradigmata den Zusammenhang zwischen militärischen – oder politischen – Niederlagen und dem Verlust der Heimat vor Augen. Aufgrund der damaligen Lebenswirklichkeit waren Erfahrungen mit Mobilität, phygé und Migration ubiquitär (s.u.). Als scharfer Beobachter seiner Zeit (ca. 470– 420 v. Chr.), der mit wachsender Sorge den Entfremdungsprozess zwischen Sparta und Athen verfolgt haben dürfte, unterstreicht Herodot mit seinen Erzählungen von Auswanderungen in früheren Zeiten seine grundlegende Ansicht, dass aus der ‚Geschichte‘ Rückschlüsse auf die Gegenwart gezogen werden könnten und sollten: 10 Er bezweckt damit nicht nur die Sensibilisierung der Zeitgenossen für eine Vermeidbarkeit dieses bitteren Schicksals, sondern zugleich einen Appell, politische Konflikte nicht bis zum Heimatverlust der einen oder anderen Seite eskalieren zu lassen. Das kleinere Übel erkannte Herodot offenbar in der Auswanderung nur dort, wo persönliche und politische Freiheit tatsächlich verloren oder massiv bedroht war; in einem solchen Fall erschien ihm eine – letztlich aber vorübergehende – existenzielle Entwurzelung ein angemessener Preis für die eleutheria zu sein. Im Folgenden wird an einigen Beispielen Herodots zunächst das Spektrum der Motivationen zu Migration aufgezeigt; anschließend geben einzelne Fälle von Heimatverlust in den Jahren der Pentekontaetie, für die vornehmlich Thukydides die Informationen liefert, einen Einblick in die zeitgeschichtliche Folie, auf deren Hintergrund die exempla der historiai ihre Wirkung entfalten könnten. ** Der bekannteste Fall ist wohl die Abwanderung der Phokaier nach Korsika, als die Eroberung ihrer Stadt durch Harpagos, den Feldherrn des Großkönigs Kyros, drohte. 11 Obgleich von den Bürgern dieser ionischen Stadt nur eine symbolische Unterwerfung gefordert worden war – einen Turm der Mauer niederzulegen und ein öffentliches Gebäude 9 Vgl. Raaflaub 1985, 82–92, bes. 89f., zum Fehlen eines ‚Freiheitsbewusstseins‘ der griechischen Poliswelt vor den Perserkriegen. 10 Als Beleg für die große Sympathie Herodots für die athenischen Leistungen bei der Abwehr der Perser gilt sein ‚Athen-Exkurs‘ (7,139): vgl. Will 2010, 68 mit dem deutschen Text der berühmten Passage über den Mut der Athener, sich gegen Xerxes zu stellen, die Will einleitet mit den Worten: „Zum Kampf blieb ihnen nur die Alternative: Auswanderung oder Kapitulation“ (l.c.). – Vgl. die ältere Diskussion über Herodots Verhältnis zu Athen bei Kleinknecht 1940, 241–64, wiederabgedruckt in: Marg 1962, 541–73 (seitengleich 1982) und bei Strasburger 1955, 1–25, wiederabgedruckt in Marg 1962/1982, 574–608, bes. 600f. 11 Hdt. 1,162–165.

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für die persische Verwaltung bereitzustellen – brachten sie sich und ihre Familien samt Hab und Gut auf die Schiffe und segelten ab, denn: „die Phokaier hassten die Knechtschaft ingrimmig“. 12 Zwar hatten sie einen hochheiligen Eid geschworen, nie wieder in die nunmehr den Persern anheimfallende patris zurückzukehren, doch als der Plan scheiterte, sich im benachbarten Gebiet der Chier anzusiedeln, und daher eine ‚neue Heimat‘ im fernen – aber nicht allzu unbekannten – Westen zu suchen war, da trieb das Heimweh mehr als die Hälfte der ‚Auswanderer‘ zurück nach Phokaia. Die Eidbrüchigen lebten fortan ohne eleutheria in der ‚alten‘ Heimat, während die anderen, „die ihrem Schwur treu blieben“ 13, nach Alalia fuhren, einer rund 20 Jahre zuvor gegründete phokäische apoikia an der Ostküste Korsikas. Ähnlich wie die Phokaier handelten auch die Bürger von Teos, die 543 v. Chr. an der thrakischen Ägäisküste Abdera gründeten respektive die rund 100 Jahre zuvor von ionischen Kolonisten unter Führung des Klazomeniers Timesios angelegte, aber am Widerstand der Thraker gescheiterte apoikia neu besiedelten. 14 Herodot beendet seinen Bericht über die Durchsetzung der persischen Herrschaft im eroberten Lyderreich und den zugehörigen griechischen Poleis an der Küste mit folgender Reflexion: „Das waren die beiden ionischen Städte, die als einzige die Knechtschaft nicht ertrugen, sondern ihr Vaterland verließen. Die anderen Ionier außer Milet gerieten mit Harpagos in einen Kampf wie die, die ihre Heimat aufgaben; sie schlugen sich tapfer, jeder kämpfte für seine Stadt. Schließlich wurden sie aber doch besiegt und unterworfen. Sie blieben im Lande und kamen einzeln den auferlegten Verpflichtungen nach.“ 15 Im Ionischen Aufstand bezeugt Herodot die Beteiligung von drei Schiffen aus Phokaia in der Schlacht bei Lade (494 v. Chr.); deren Kommandant Dionysios bewog zunächst die Aufständischen zu notwendigen, für viele aber doch zu mühseligen Exerzitien und Manövern mit dem Argument, anders keine Chance auf Erfolg gegen die Flotte des Großkönigs zu haben und folglich das Ziel der eleutheria zu verfehlen. 16 Als dann im Seegefecht die Niederlage absehbar war, „[...] nahm er drei feindliche Schiffe und fuhr davon, aber nicht zurück nach Phokaia; denn er wusste recht wohl, dass Phokaia mit dem übrigen

12 Hdt 1,164,2. 13 Hdt. 1,165,3; vgl. o. Anm.7. – Vgl. Hdt. 1,166–167 zum weiteren Schicksal der ausgewanderten Phokaier und ihrer Umsiedlung nach Hyele/Velia. 14 Hdt. 1,168; Zahrnt 1989, 77; vgl. Herrmann 1981, 1–30; Boardman 1981, 170f. (engl. London 2 1980) – Die enge Bindung zwischen beiden Poleis wird auch in der Münzikonographie deutlich, denn die Migranten übernahmen den Greifen (nach links schauend), der sich in der Mutterstadt (nach rechts schauend) aus dem Kult des hyperboräischen Apollon erklärt: Vgl. Franke/Hirmer 1964, 94, Taf.138 (Abdera), leider ohne Abbildung einer Münze von Teos. 15 Hdt. 1,169,1. 16 Hdt. 6,8,1; 11,1–3 (zur Rede des Dionysios).

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Verlorene Schlacht – verlorene Heimat: Herodots Sicht auf Migrationsoptionen

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Ionien in Knechtschaft geraten werde.“ 17 Aus der auffällig kleinen Anzahl dieser Schiffe wird gelegentlich geschlossen, dass Phokaia seit der Auswanderung eines großen Teils der Bürgerschaft zwei Generationen zuvor nur noch als politisch wie ökonomisch eher unbedeutende Polis weiterexistiert hätte. 18 Wahrscheinlicher ist m. E., dass Phokaia – ähnlich wie Ephesos – nicht bereit gewesen ist, sich am Ionischen Aufstand zu beteiligen und dass Dionysios mit den drei Schiffen nicht seine Heimatstadt repräsentierte, sondern in eigener Initiative und mit Gesinnungsgenossen um der eleutheria willen die kleine Flottille aufbot. 19 Im Zusammenhang mit der Unterwerfung Ioniens durch den persischen Feldherrn Harpagos um 540 v. Chr. erwähnt Herodot den Vorschlag des Bias aus Priene zur gemeinsamen Auswanderung nach Sardinien und zur dortigen Gründung einer ‚einzigen Stadt aller Ionier‘, den der Weise folgendermaßen begründet habe: „[...] Sie würden der Knechtschaft entgehen und zu Wohlstand kommen; denn die größte aller Inseln sei dann ihr Eigentum, und sie besäßen die Herrschaft über andere. Wenn sie aber in Ionien blieben, sagte er, sehe er nicht, wie die Freiheit noch bestehen könnte [...].“ 20 Herodots Kommentar dazu lautet: „Hätten sie ihm gehorcht, hätten sie die Möglichkeit gehabt, die glücklichsten und reichsten Menschen ganz Griechenlands zu werden.“ 21 Die Vision des Bias war zweifellos absolut unrealistisch, denn Sardinien war kein Niemandsland, wie die nach Alalia ausgewanderten Ionier, die einige Jahre später wegen ihrer Übergriffe auf den Seeverkehr der Karthager und Etrusker mit Sardinien von jenen ver17 Hdt. 6,17. – Im gleichen Kontext berichtet Herodot – allem Anschein nach mit einer gewissen Bewunderung für diesen Mann –, dass Dionysios zunächst direkt zur phönizischen Küste segelt, dort Piraterie betrieb und später seinen Stützpunkt für fortgesetzten Seeraub nach Sizilien verlegte, allerdings niemals griechische Schiffe, sondern nur karthagische und etruskische; vgl. die von Lipara aus betriebene Piraterie der um 570 nach Sizilien gelangten knidisch-rodischen ‚Kolonisten‘, die sich nach dem Tod des Pentathlos beim Gründungsversuch einer Stadt nordwestlich von Selinunt jener Insel bemächtigt hatten: Diod. 5,9; Paus. 10,11,3–4. 18 Vgl. o. Anm.11–13. – Hdt. 1,165,3 berichtet davon, dass einige Bürger ihrem Schwur, Phokaia definitiv zu verlassen, um nicht unter persische Herrschaft zu geraten, dann doch brachen und in die verlasse Stadt zurück-kehrten. Vgl. Graf 1985, 403: „Dieser Aderlass gerade am unternehmungslustigen Teil der Bevölkerung zusammen mit dem Zusammenbruch des Westhandels nach der Niederlage vor Alalia kostete der Stadt für immer ihre Bedeutung.“ Dagegen weist Tanriöver 2008, 686 darauf hin, dass Phokaia seine Elektronprägungen bis weit ins 4. Jh. v. Chr. fortsetzte. 19 Hier sei auf den Fall des Krotoniaten Phayllos verweisen, der sich mit einem einzigen Schiff an der Schlacht bei Salamis beteiligte: Hdt. 8,47. 20 Hdt. 1,170,2–3. 21 Hdt. 1,170,1.

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nichtend geschlagen worden waren, bitter erfahren hatten. 22 Auch dem Publikum Herodots dürfte das Schicksal der tyrrhenischen Phokaier bekannt gewesen sein und folglich der damalige Ratschlag eigenartig angemutet haben. Bedeutsam ist hier allerdings, dass Herodot den Bias eine Alternative zum Erleiden der persischen Herrschaft aufzeigen lässt. *** Die Inselpolis Samos hatte nach der Niederschlagung des Ionischen Aufstandes dank des rechtzeitigen Überlaufens ihrer Schiffe zum Feind 23 während der Seeschlacht keine weiteren Vergeltungsmaßnahmen der Sieger zu gewärtigen; deren Propaganda hatte denjenigen Ioniern, die sich unmittelbar vor der Schlacht wieder den Persern zuwenden würden, Verschonung von alledem versprochen, was die Abtrünnigen als Besiegte würden erleiden müssen – und dann ja auch zum größten Teil erlitten. 24 Allerdings kehrte der gestürzte und zum Großkönig Dareios geflohene Tyrann Aiakes, Sohn des von demselben Dareios um 520 gewaltsam in Samos ‚inthronisierten‘ Syloson und Neffe des berühmt-berüchtigten Polykrates, in seine frühere Machtposition in der Heimat zurück. 25 Um nicht wieder unter seiner Herrschaft leben zu müssen, migrierten zahlreiche Samier nach Sizilien, nämlich gerade solche Bürger, „die noch etwas Vermögen besaßen und beschlossen auszuwandern, ehe noch der Tyrann Aiakes in ihr Land komme [...]“; ihrer Auswanderung schlossen sich auch Flüchtlinge aus Milet an. 26 Dem zügigen Entschluss zur Migration nach Sizilien lag ein Aufruf der euböisch-ionischen Polis Zankle zugrunde, an der Nordostküste der Insel bei Kale Akte „eine ionische Stadt zu gründen.“ 27 Nach Herodot war diese Einladung an ‚die‘ Ionier adressiert, doch allein die Samier, die „nicht als Knechte der Meder und des Aiakes im Lande (sc. bleiben wollten)“ 28 sowie die wenigen milesischen Flüchtlinge folgten jenem Aufruf dann auch wirklich. 29 Wer die Initiatoren der Einladung zur Koloniegründung waren, ist unklar, allerdings auch für unseren Kontext nicht weiter bedeutsam: Im fraglichen Zeitraum ca. 496/494 war Zankle von dem expansiven Tyrannen in Gela, Hippokrates, erobert worden, der dort als ‚Statthalter‘ den aus Kos stammenden Skythes eingesetzt hatte. 30 Daher könnte 22 Vgl. Hdt. 1,166. 23 Hdt. 6,13,1–14,1: Elf Kapitäne verweigerten diesem Befehl allerdings die Gefolgschaft und wurden bei Lade aufgerieben. Später, nach dem Ende der Perserherrschaft (nach 479), wurden sie für ihren heldenhaften Kampf für die Freiheit von ihrer Polis mit einem Denkmal auf der Agora geehrt: Hdt. 6,14,2–3. 24 Hdt. 6,15–16 (zu Chios); 6,18–20 (zu Milet). 25 Hdt. 6,13,2; 23,1. – Vgl. Hdt. 3,39,2; 139 ff.; 144; 149. 26 Hdt. 6,22,1–2. 27 Hdt. 6,22,2. – Hier liegt in der Betonung der ‚polis Ionon‘ eine gewisse Parallele zum Ratschlag des Bias (Hdt. 1,170,2; s.o. Anm.21), eine ‚polis panton Ionon‘ auf Sardinien zu gründen. 28 Hdt. 6,22,1. 29 Hdt. 6,22,2. – Vielleicht ist damals der Bildhauer Bion Diodorou Milesios (vgl.o. Anm.5) nach Sizilien und via Zankle/Messana zu Gelon v. Syrakus gekommen? 30 Vgl. Günther 2019, 227–41.

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der Aufruf in Ionien, Siedler für die Gründung von Kale Akte zu schicken, von Zankle angesichts einer Bedrohung durch Hippokrates (und zur Verstärkung der unter euböisch-ionischer Kontrolle stehenden Nordostküste Siziliens zwischen Zankle und Himera) ergangen sein. Aber auch eine Initiative von Hippokrates bzw. Skythes ist denkbar, die zur Stärkung der eroberten Region hätte gedacht sein können und die möglicherweise in Kenntnis der Lage im Ionischen Aufstand mit einer positiven Reaktion der Ionier hätte rechnen können. Sicher ist dagegen, dass sich das Unternehmen nicht so entwickelte, wie von den – wie auch immer zu identifizierenden – Initiatoren geplant, denn die Migranten wurden vom Tyrannen Anaxilaos von Rhegion zur Eroberung Zankles überredet. Die Stadt wurde in ‚Messana‘ umbenannt und deren neue Münzprägung erweist mit dem Bildnis eines Löwenkopfes die starke samische Präsenz. 31 In unseren Kontext interessieren die Motive, die Herodot den Auswanderer zuweist: Diejenigen Samier, die sich mit einer erneuten Tyrannis des Aiakes nicht abfinden mochten, beratschlagten über ihre Optionen: entweder bleiben und damit den Persern und ihrer Marionette unterworfen sein oder die patrís verlassen und in Sizilien in der neuzugründenden ‚ionischen‘ Stadt ein selbstbestimmtes Leben führen. Angesichts dessen, dass sich zu diesem Schritt in eine ‚neue Heimat‘ nur ein Teil der Samier entschloss und von den übrigen Ioniern nur Flüchtlinge aus dem zerstörten Milet mitzogen, wird die Darstellungsabsicht Herodots deutlich: Er sieht in den Migranten Männer, die der Freiheit den Vorzug gaben und die daher auch nicht die neue, nicht zuletzt von samischen Feldherrn mitverantwortete Lage nach dem persischen Sieg bei Lade, 32 billigten – sich also nicht mit der Restauration persischer Herrschaft arrangieren wollen. Zumindest vermeidet es der Autor hier, anders als im Fall der vor Harpagos fliehenden Phokaier, die Entscheidung zur Auswanderung als eine von den Umständen unbedingt erzwungene darzustellen. Die Haltung der migrationswilligen Samier erinnert mutatis mutandis an die Motivationen zweier Spartaner, von denen Herodot in anderen, ganz unterschiedlichen Zusammenhängen berichtet: Theras, der Vormund und Onkel mütterlicherseits der Könige Eurysthenes und Prokles, zog es vor, auf die Kykladeninsel Kalliste (später nach ihm Thera benannt) auszuwandern, nämlich weil es ihm nach der Übergabe der Herrschaft an die mündigen Neffen „unerträglich war, sich von anderen beherrschen zu lassen, da er ja selbst das Herrschen gekostet hatte.“ 33 Eine Verbindung zu den 494/3 v. Chr. nach Zankle auswandernden Ioniern liegt m.E. in dem Wissen um den ‚Geschmack‘ der Freiheit, denn auch die Samier (und die beteiligten Milesier) hatten ja die Unabhängigkeit von persischer Herrschaft ‚gekostet‘. Bedenkt man, dass es damals rund 40 Jahre her war, dass Polykrates seine Herrschaft errichtet hatte und dass etwa 15 Jahre später sein Bruder Syloson mit persischer Unterstützung die Tyrannis übernahm, die sich mit seinem Sohn bis um 500 v.

31 Vgl. Günther 2019, 233f., Anm.43. 32 Hdt. 6,14,2; indem 49 der insgesamt 60 Kapitäne die Flotte der Aufständischen Ionier im Stich ließen, bewahrten sie ihre Heimat vor persischer Revanche, ermöglichten allerdings die Rückkehr des Aiakes Sylosonos (vgl. o. Anm.25). 33 Hdt. 4,147,2–3.

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Chr. fortsetzte, dürften die Auswanderungswilligen nur von ihren Vätern vom Leben in einer ‚freien‘ Polis gehört 34 und es selbst erst vor rund sechs Jahren kennengelernt haben. Für die Bedeutsamkeit der Entscheidung für die eleutheria aufgrund eigener Erfahrungen mit ihr ist die Erzählung Herodots von der Auswanderung des Spartaners Dorieus heranzuziehen: Dieser zweitälteste Sohn des Königs Anaxandrides, wie seine Brüder Leonidas und Kleombrotos von einer anderen Mutter als der älteste Sohn Kleomenes geboren, war mit der nach spartanischem Gesetz rechtmäßigen Übergabe der Königswürde an den Halbbruder nicht einverstanden: 35 Er hielt sich selbst für wesentlich geeigneter für die Thronfolge: „[...] Weil Dorieus nicht gern von Kleomenes beherrscht werden wollte, bat er die Spartiaten um Leute und wanderte aus [...] Voller Zorn segelte er nach Libyen.“ 36 Nach dem Scheitern dieses Unternehmens kam Dorieus bei einem weiteren Versuch einer spartanischen Stadtgründung, diesmal in Westsizilien bei Eryx, ums Leben. 37 Herodot enthält sich nicht des Kommentars, dass Dorieus allzu unduldsam gewesen sei und macht damit deutlich, dass er dessen Auswanderungsentscheidung nicht für ehrenvoll hält, denn er floh weder vor dem Verlust seiner Freiheit, noch hatte er selbst bereits ‚das Herrschen gekostet‘. 38 Ob Herodot mit dem aus seiner Sicht offenbar kritikwürdigen Migrationswunsch des Dorieus – dem die spartanischen Behörden stattgegeben hatten, vermutlich zur Vermeidung innenpolitischer Spannungen 39 – einen Bezug zur Auswanderung nicht weniger Samier nach Sizilien herstellen wollte, muss offenbleiben. Dass in Samos auch Bürger zurückgeblieben waren, die mit dem restaurierten Tyrannen-Regime nicht einverstanden waren, zeigt die Bitte samischer ‚Oppositioneller‘ an die Flotte des Hellenenbundes im Sommer 479, sie bei der Befreiung ihrer Stadt von der Perserherrschaft zu unterstützen (s.u.). 40 ****

34 Vgl. Hdt. 3,47; 54–55. – Dem Bericht über einen Versuch samischer Exilanten, mit spartanischer Hilfe den Polykrates zu stürzen, ist zum einen die spätere Ehrung der gefallenen Spartiaten in Samos zu entnehmen, zum anderen die besonders engen Beziehungen, die es zwischen beiden Poleis gegeben hat. 35 Zu den beiden Halbbrüdern: Hdt. 5,39–42. 36 Hdt. 5,42,2. 37 Hdt. 5,42,3–46,1; vgl. Boardman 1981, 254; Hans 1983, 8f. 38 Hdt. 5,48: „So fand Dorieus den Tod. Hätte er es ertragen, sich von Kleomenes als König beherrschen zu lassen, und wäre er in Sparta geblieben, dann wäre er selbst König von Lakedaimon geworden; denn Kleomenes blieb es nicht lange. Er starb, ohne einen Sohn zu hinterlassen [...].“ 39 Bei Hdt. 5,42,2 heißt es nur Dorieus habe die Spartiaten „um Leute“ gebeten und sei dann nach Libyen ausgewandert, ohne in Delphi anzufragen und sonstige ‚Auswanderungsgebräuche‘ einzuhalten. 40 Hdt. 9,90,1–2. – In Samos herrschte inzwischen der von den Persern eingesetzte Tyrann Theomestor, dessen Herrschaft zumindest ein Teil der Bürger abzuschütteln hoffte.

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Von einer in Erwägung gezogenen, dann aber verworfenen Migration der Ionier berichtet Herodot im Zusammenhang mit der vieldiskutierten ‚Konferenz von Samos‘, die unmittelbar nach der Vernichtung des persischen Schiffslagers durch die Flotte des Hellenenbundes an der Mykale abgehalten wurde; die an der Mykale siegreichen Flottenkommandeure berieten über die weitere Zukunft der soeben befreiten Insel- und Küstenstädte: 41 „(2) [...] Sie überlegten, in welchem Teil Griechenlands innerhalb ihres Machtbereichs man den Ioniern Wohnplätze anweisen solle; das ionische Land selbst aber müsse man den Barbaren überlassen. Sie hielten es für unmöglich, selbst zum Schutz der Ionier vor der Küste liegen zu bleiben und sie die ganze Zeit zu bewachen. Wenn sie sich aber nicht dort aufhielten, hatten sie keine Hoffnung, die Ionier ungestraft von Persien freizubekommen. (3) [...] Die Athener waren von vornherein gegen eine Räumung Ioniens und wollten nicht dulden, dass die Peloponnesier über ihre eigenen Kolonien bestimmten. Sie widersetzten sich also hartnäckig; darauf gaben die Peloponnesier bereitwillig nach. (4) So nahmen sie die Samier, Chier, Lesbier und die übrigen Inselbewohner, die den Griechen beigestanden hatten, in ihren Bund auf und ließen sie einen heiligen Treueid schwören, dass sie immer auf ihrer Seite bleiben und nicht abfallen würden [...].“ Für die Spartaner war die gigantische Umsiedlungsaktion der einzige Weg, den Ioniern durch die Verhinderung einer persischen Rückeroberung die gerade gewonnene Freiheit zu erhalten. Für die Alternative, mit einer Flotte in ständiger Abwehrbereitschaft zu stehen, gab es in der griechischen Staatenwelt keine Vorbilder respektive Erfahrungen. Allerdings erschien nun den Athenern eine solche Vorstellung durchaus realisierbar, 42 jedenfalls widersetzten sie sich – daher? – dem Ansinnen der Spartaner. Über ihre Motive kann man nur spekulieren: Hielt man eine Umsiedlungsaktion für ein fatales Signal an die Perser im Sinne einer Preisgabe der ionischen Territorien? Dachte man etwa an die Erfahrungen mit den Phokaiern, von denen mehr als die Hälfte doch nicht nach Korsika ausgewandert, sondern in die von Persern beherrschte Heimatstadt zurückgekehrt war? Wollte der Historiograph zwischen den Zeilen andeuten, dass die Athener selbst bereits damals in das aktuelle Machtvakuum vorzustoßen wünschten? Herodot hat an anderer Stelle großes Verständnis für den – angesichts der Eroberung durch Kyros und seine Feldherrn gegebenen – Ratschlag des Bias von Priene für eine Auswanderung der Ionier nach Sardinien geäußert, wo sie dann, anstatt sich mit der Perserherrschaft abzufinden, über andere herrschen sollten (s.o.). Er mag nach den militärischen Erfolgen zumal über Xerxes’ Flotte eine Umkehrung jener Vision positiv bewertet 41 Hdt. 9,106,2–4. Will 2010, 103: „Die Beratung war aus dem Augenblick geboren, die Weiterungen, die sich aus dem Abfall der Ionier später ergaben, werden die wenigsten vorausgesehen haben.“ – vgl. Hermann-Otto 2005, 1–27. 42 Möglicherweise gab die aus phönizischen Kriegsschiffen bestehende Flotte des Perserkönigs hierzu eine Anregung; auch das Vorbild des sehr schnell mobilisierbaren Landheeres der Spartiaten dürfte eine Rolle gespielt haben.

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haben: ‚Gewonnene Schlacht – gewonnene Heimat‘. Dort, wo man der Knechtschaft entgangen und zur eleutheria gelangt ist, würden die Ionier glücklich (und reich) werden. Auf dem Hintergrund dieser Überlegungen stellt sich das Ergebnis der Samos-Konferenz, die Aufnahme der drei großen Inseln mit ihrem traditionellen bedeutenden maritimen Potenzial in den Hellenenbund, weniger als Durchsetzung der Athener bei völliger Nachgiebigkeit der Spartaner dar als vielmehr als ein Kompromiss, dessen Tragfähigkeit sich erst noch zeigen musste: Von einer ‚Sicherheitsgarantie‘ für ionische Küstenstädte ist – zumindest explizit – keine Rede. Den Mitgliedern des zu Land und zur See siegreichen Hellenenbundes stellte sich zwar die Frage nach der Dauerhaftigkeit der gerade gewonnenen Freiheit bzw. nach dem Zeitpunkt eines Wiedererstarkens und erneuten Expandierens der Perser, doch zogen die beteiligten Ionier selber aus den bisherigen Erfolgen nicht den Schluss, sie hätten zwischen künftiger Knechtschaft oder baldiger Auswanderung zu wählen: Ihre Freiheit existierte jetzt, zumindest bis auf weiteres. Aus den Darlegungen Herodots ist nicht zu ersehen, dass es den Spartanern hätte gelingen können, die Ionier davon zu überzeugen, dass ihr künftiges Heil nur in einer Auswanderung auf das griechische Festland liege. Der Widerspruch der Athener gegen den Umsiedlungsplan der Spartaner erklärt sich somit weniger aus einem spezifischen Konflikt mit dem künftigen Rivalen, als aus ihrer Hoffnung, dass die Flotte ein probates Instrument auch für künftige Abwehr der Perser sein werde. Die athenischen Bemühungen den Ioniern die neugewonnene Freiheit zu bewahren, entsprechen Herodots eigenem Credo: Migration ist das kleinere Übel im Vergleich zum Leben in Unfreiheit; solange Aussicht auf Erfolg besteht, lohnt es sich zu kämpfen, statt fortzugehen. Angesichts der Fiktivität der Reden bei der Samos-Konferenz liegt die Vermutung auf der Hand, dass unser Autor die ‚Inszenierung‘ dezidiert im Sinne seiner eigenen Überzeugung zu Migration und Flucht gestaltet hat. ***** Herodot hat seine bisher skizzierten Überzeugungen zu Handlungsoptionen hinsichtlich Migration und Flucht zweifellos in den Jahrzehnten nach dem Sieg des Hellenenbundes über den Großkönig Xerxes entwickelt, mithin in seiner vermutlich rund fünf Jahrzehnte umfassenden Schaffenszeit. Die damalige politische Realität, in der vor allem staseis viele Menschen zum Verlassen ihrer Heimat nötigten, 43 dürfte den Autor und seine Adressaten miteinander verbunden haben. Dabei mögen die Rückblicke des Historiographen in die ältere bzw. jüngere Vergangenheit der griechischen Staatenwelt eine gewisse Folie für den gemeinsamen Erfahrungshintergrund geboten haben. Die Ereigniszusammenhänge in Argos, die um 475 zur Vertreibung eines offenbar nicht allzu kleinen Teils seiner Bürgerschaft und auch anderer argolidischer Städte führten, sind – ungeachtet zahlreicher noch offener Fragen – insofern aufschlussreich, als eine Gemengelage von innen- und außenpolitischen Faktoren eine Kettenreaktion aus43 Vgl. Gehrke 1985, 216–20.

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löste. Die in Kämpfen mit den Spartanern 494 unterlegenen Argiver vermochten erst um 475/465 ihre Dominanz in der Argolis und den südöstlich angrenzenden Gebieten wiederzugewinnen. Sie unterwarfen Tiryns und Mykene sowie Midea, deren Bürger mit Hilfe der Städte Epidauros und Hermione vor allem nach Halieis flüchteten – nämlich vor einstigen Mitbürgern, die als perioikoi zuvor nach Argos geflüchtet waren und dort das volle Bürgerrecht erhalten haben sollen. Nach der demographischen Regeneration in Argos sei es dann zu inneren Unruhen und zur Vertreibung der ‚neuen‘ Familien gekommen. 44 Bemerkenswert ist am skizzierten ‚plot‘ indessen, dass die gewaltsame Expansion einer griechischen Polis wie Argos in den bedrohten Städten zum Verlust von Heimat führte. Zudem ist das movens der Abwanderung aus Argos zunächst nicht eine dräuende direkte bzw. sogar barbarische Fremdherrschaft, sondern eine missliebige, ja nicht akzeptable innenpolitische Entwicklung mit einer Minderung bisheriger Rechte. Eben dieses Muster begegnet dann bei den weiteren Beispielen aus den Jahrzehnten der wachsenden politisch-militärischen Dominanz Athens. Am Beginn dieser Entwicklung steht das Schicksal der Messenier, die um 452 nach rund 10-jährigem Widerstand gegen Sparta freien Abzug aus der Peloponnes und konkret nach Naupaktos erhielten – unter athenischer Protektion. 45 Wurden durch diese Ansiedlungsaktion zunächst nur die bisherigen Bewohner der ozolisch-lokrischen Stadt verdrängt, griffen die ‚Neusiedler‘ alsbald gegen die ätolischen Oiniadai aus und vertrieben die Bewohner in das nördlich anschließende Akarnanien. 46 Dies geschah vermutlich mit Rückendeckung der Athener, die in der Region nördlich des korinthischen Golfes eine Schwächung der dortigen traditionellen korinthischen Dominanz intendierten – notabene zur Zeit des Ersten Peloponnesischen Krieges, bei dem sie die Bündnispartner Spartas außerhalb der Peloponnes zu vereinnahmen suchten. 47 Das nächste Beispiel fällt in ungefähr dieselbe Zeit bzw. in die Endphase des Ersten Peloponnesischen Krieges. Aus dem mit Athen eng verbündeten euböischen Städten Chalkis, Eretria, Karystos und Histiaia waren damals zahlreiche Menschen verbannt oder verdrängt worden; diese phygades hatten sich in den geographisch benachbarten und mit Sparta verbündeten böotischen Städten Orchomenos und Chaironeia niedergelassen. Vor allem ihnen verdankte sich der überraschende militärischen Sieg der Böoter bei Koroneia (447), der die Athener zur Aufgabe aller bisherigen politischen Gewinne in Böotien zwang; folglich konnten die euböischen phygades in ihre Heimat zurück, während nun ihrerseits ihre Gegner das Schicksal der Vertreibung erlitten und nach Athen übersiedel-

44 Hdt. 6,83,1 bezeichnet die eingebürgerten gymnetes als ‚douloi‘; vgl. Strabon 8,373. – Seibert 1979, 40f., Anm.320–26; Gehrke 1985, 25, Anm.9. – Detailliert: Kiechle 1960, 181–200. Zur Diskussion über die damalige argivische Verfassung: Wörrle 1964, 103f.; Lotze 1971, 95–109. 45 Thuk. 1,103. 46 Paus. 4,24–26; vgl. Thuk. 1,111,3. – Seibert 1979, 45, Anm.364; Freitag 2000, 30f. 335. – Die Messenier aus Naupaktos waren nur ein knappes Jahr im Besitz von Oiniadai, weil sie von den vertriebenen Akarnanen mit Hilfe eines akarnanischen Heeres aus der okkupierten Stadt verdrängt wurden. 47 Vgl. zum ‚Ersten Peloponnesischen Krieg die gelungene knappe Darstellung bei Schmidt-Hofner 2016, 164–67.

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ten. 48 Auch wenn Thukydides – wie in der Regel – über innenpolitische Spannungen und Motive von Flüchtlingen schweigt, ist zu vermuten, dass es in erster Linie Eskalationen zwischen zur Stasis bereiten Personengruppen in den einzelnen Städten waren, die zur Entscheidung der Betreffenden führten, die Heimat zu verlassen. Die meisten dieser Flüchtlinge dürften in der Tat eine Handlungsalternative gehabt haben, nämlich im Verzicht auf Widerstand gegen den zunehmenden Einfluss Athens und der von ihm geförderten demokratischen Verfasstheit auf die bislang autonome Politik der Poleis; aber eine Anpassung an die neuen Verhältnisse scheint bei vielen weniger attraktiv gewesen zu sein als ein – als vorübergehend intendiertes – Ausweichen auf einen anderen Wohnort, verbunden mit dortigen Agitationen zur Förderung der eigenen Rückkehr in die Heimatstadt und der neuerlichen dortigen Machtübernahme. Der im Jahr 446/5 auf 30 Jahre geschlossene Friede zwischen Athen mit seinen Bündnern und Sparta mit seinen Bündnern hat bekanntlich nicht lange gehalten. Rund 10 Jahre später entwickelte sich aus einer Stasis in Epidamnos ein Konflikt zwischen Kerkyra und Korinth, 49 in den sich die Athener – wohl aufgrund der starken Agitation des Strategen Perikles 50 – hineinziehen ließen und der den Ausbruch des Großen Peloponnesischen Krieg zumindest beschleunigte. Die Epimachie zwischen Athen und Kerkyra führte bald nach Kriegsbeginn – wohl seit ca. 430/29 v. Chr. – zu einer bürgerkriegsartigen Stasis, offensichtlich infolge der Agitation von Bürgern, die aus korinthischer Kriegsgefangenschaft entlassen worden waren, wobei nicht wenige Athen freundliche Bürger sich zu ihren Protektoren flüchteten. 51 Als eine kerkyräische Delegation diese Leute „von Umtrieben gegen die Heimat abzuhalten“ suchte, wurden die Gesandten von den Athenern als Aufrührer auf der Insel Aigina interniert. 52 Das Grundmuster der politischen Vertreibungen in den Jahrzehnten der Pentekontaetie ist evident: Die zunehmenden staseis in den vornehmlich zu den Mitgliedern des Delisch-Attischen Seebundes zählenden Stadtstaaten – und in solchen, in denen eine ‚Parteiung‘ eine Mitgliedschaft ihrer Polis anstrebte – führten zu so massiven Spannungen, dass die jeweils unterlegenen Gruppen bzw. zahlreiche Personen dieser Gruppen ihre Heimatstadt verließen. Dabei suchten Athenfreunde nicht selten Zuflucht in Athen, während sich die Gegner Athens an Gesinnungsgenossen in solchen Städten wandten, in denen die Spartafreunde (noch) die Oberhand hatten. Mit Beginn des Großen Peloponnesischen 48 Thuk. 1,113,1–3; vgl. 4,76. – Seibert 1979, 50, Anm.398. 49 Thuk. 1,24–45. – Aus den zahlreichen Behandlungen dieses Teils der Vorgeschichte des ‚Großen‘ Peloponnesischen Krieges sei hier nur verwiesen auf Cawkwell 1997 und Forster 2010. 50 Vgl. Thuk. 1,44. – Dass es Perikles war, der größtes Interesse an der athenisch-kerkyräischen Epimachie hatte und für eine wiederholte Abstimmung der Volksversammlung nach einer ersten, negativ ausgegangenen, geworben haben dürfte, geht m.E. aus den von Thukydides angeführten Argumenten hervor – dass ein Krieg mit Sparta ohnehin unausweichlich sei –, die sich mit sehr ähnlichen Worten in der Rede des Perikles (Thuk. 1,139; 144,3) findet; dass Kerkyra als Brückenkopf nach Italien und Sizilien bedeutsam sei, spielte dann bei der Entscheidung über den Sizilienfeldzug von 427 eine entscheidende Rolle (Thuk. 86,4). 51 Thuk. 3,71,2. – Seibert 1979, 62f.; Gehrke 1985, 88–90. 52 Thuk. 3,72,1.

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Krieges erzwangen die militärischen Gegebenheiten – nicht selten in Gestalt vertraglicher Vereinbarungen über Abzug bei freiem Geleit – die Flucht der jeweils Unterlegenen. Das frühe Beispiel der Argiver zeigt indes, dass eine innenpolitisch motivierte phygé nicht auf die athenische Expansion beschränkt war. Auch in der älteren Zeit gab es, wie aus Herodots Geschichtswerk hervorgeht, das Ausweichen von im politischen Richtungsstreit unterlegener Personen oder Personengruppen; typisch dafür ist die prinzipielle Vision dieser Flüchtlinge, in absehbarer Zeit und mithilfe von Gesinnungsgenossen am jeweiligen Zufluchtsort in die alte Heimat zurückzukehren und dort auch wieder an die Macht zu gelangen. Selbst in Poleis im westlichen Kleinasien, die der Perserherrschaft anheimgefallen waren, hat es immer wieder auch solche Bürger gegeben, die sich mit den fremden Oberherren arrangieren konnten und somit keine Veranlassung zur Auswanderung sahen. Im Unterschied zu den ‚innenpolitischen‘ phygades, die auf eine baldige Rückkehr in die Heimat hofften, wussten diejenigen, die vor einer ihnen unerträglichen Fremdherrschaft flohen, um die Aussichtslosigkeit einer baldigen Wiederherstellung der eleutheria. Dass diese Flüchtlinge ihren Schritt ungeachtet der Dauerhaftigkeit ihrer Migration wagten, wird von Herodot betont, ja gerühmt. Wenn wir auch nicht wissen, in welchem Umfang Herodot ‚innenpolitische‘ Vertriebene persönlich gekannt und gesprochen hat, ist doch zu vermuten, dass er zumindest unterschwellig im Heimatverlust der Gegner von Athens Vorherrschaft eine Parallele zum Heimatverlust derjenigen erkannte, die vor den Persern geflohen waren: Die Ablehnung der polis tyrannos bewirkte ähnliche Migrationsentscheidungen wie die Ablehnung der Perserherrschaft, nur mag es in dem bipolaren Machtgefüge der von Sparta und Athen dominierten griechischen Staatenwelt weniger Fatalismus hinsichtlich einer Restaurierung der früheren ‚Freiheit‘ gegeben zu haben – die Folge waren immer mehr staseis, immer weniger Friedenszeiten. Aus der hier eingenommenen Perspektive fällt neues Licht auf die Lebensweisheit, die Kroisos schließlich doch aus seiner Begegnung mit Solon gezogen hat, freilich erst nach seinem Sturz (Hdt. 1, 87, 4): 53 „[...] niemand ist ja so unvernünftig, dass er den Krieg wählt statt des Friedens.“ Und bei seinem Versuch, die Schuld für den gescheiterten Angriff auf das Perserreich auf den ‚Griechengott‘ in Delphi zu schieben, „[...]erkannte er nun, dass er selbst die Schuld trage [...].“ Literatur Bichler, Reinhold, Rollinger, Robert: Herodot, Hildesheim 2000. Boardman, John: Kolonien und Handel bei den Griechen, München 1981 (engl. London 1980). Cawkwell, George: Thucydides and the Peloponnesian War, London 1997. Chaniotis, Angelos: Historie und Historiker in den griechischen Inschriften. Epigraphische Beiträge zu griechischen Historikern, Stuttgart 1988. 53 Hdt. 1,87,4.

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Stefan Georges Kunstsprache in Ursprünge, Verse 38–9, und seine Auseinandersetzung mit Friedrich Nietzsche Stefanie Holder

Jede Generation liest ihre Klassiker neu, interpretiert sie aber, beabsichtigt oder nicht, aufbauend auf den unmittelbar vorangegangenen Deutungstraditionen. Das gilt auch für Stefan Georges Antikenrezeption wie sie beispielhaft greifbar wird in Ursprünge. Das Gedicht entstand im Februar 1904 als Gelegenheitsprodukt für die siebte Folge der Blätter für die Kunst. 1 Einen zentralen Platz im georgeschen Œuvre erhielt es, als es in den Siebenten Ring als zweites Gedicht des Traumdunkel überschriebenen vierten Teils aufgenommen wurde. Die Schlussverse wurden in einer Kunstsprache verfasst. Mehrere Vorschläge wurden gemacht, auf welche Sprachen sie zurückgehen könnte, doch besteht in der Forschung bislang weder ein Konsens, noch wurde ein Übertragungs- und Deutungsversuch der zwei Verse unternommen. Nachfolgend wird sich zeigen, dass die Kunstsprache in Ursprünge vom Griechischen her entwickelt wurde und die Verse zu Georges Auseinandersetzung mit Friedrich Nietzsche gehören. Zunächst der Text von Ursprünge. Heil diesem lachenden zug: Herrlichsten gutes verweser Maasslosen glückes erleser! Schaltend mit göttlichem fug Traget ihr kronen und psalter. Später gedenkt es euch kaum: Nie lag die welt so bezwungen · Eines geistes durchdrungen Wie im jugend-traum. Heil dir sonnenfroh gefild Wo nach sieg der heiligen rebe 1 Morwitz 1948, 83; ders. 1960, 288; Blätter für die Kunst 7 (1892), 145–6; Komm. GA 6/7, 191: „ohne Hinweis auf den Verfasser oder Zugehörigkeit zu einem Zyklus“.

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Nach gefälltem wald und wild Kam in kränzen Pan mit Hebe! Rauhe jäger zottige rüden Wichen weissem marmorbein. Hallen luden wie im süden . Wir empfingen noch den schein. Aus den aufgewühlten gruben Dampfte odem von legion Und von trosses fraun und buben · Hier ihr gold ihr erz ihr thon! Auf dem bergweg seht die schaar – Eine stampfende kohorte! Offen stehen brück und pforte Für des Caesarsohnes aar. Auf diesen trümmern hob die kirche dann ihr haupt · Die freien nackten leiber hat sie streng gestaupt · Doch erbte sie die prächte die nur starrend schliefen Und übergab das maass der höhen und der tiefen Dem sinn der beim hosiannah über wolken blieb Und dann zerknirscht sich an den gräberplatten rieb. Doch an dem flusse im schilfpalaste Trieb uns der wollust erhabenster schwall: In einem sange den keiner erfasste Waren wir heischer und herrscher vom All. Süss und befeuernd wie Attikas choros Über die hügeln und inseln klang: CO BESOSO PASOJE PTOROS CO ES ON HAMA PASOJE BOAÑ.  2 Bisherige Deutungsversuche Bisherige Ansätze, die Schlussverse zu deuten, fielen eher unbefriedigend aus. Hans Albert Maier suchte nach Parallelen in der französischen und spanischen Sprache, endete jedoch damit, bestimmte Interpretationen „rein gefühlsmäßig … annehmen“ zu wollen. 3 Entsprechend rasch verlor sich sein Vermuten in mediterraner Landschaftsromantik.

2 George, GA 6/7, 116–7. Im Kommentarteil 219–20 wird keine Interpretation der Schlussverse vorgeschlagen, nur mit Boehringer ein Bezug zur Odyssee-Übersetzung Georges hergestellt. 3 Maier 1953, 470.

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Stefan Georges Kunstsprache in Ursprünge, Verse 38–9

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Dass es homerische Verse seien, übertragen in eine der georgeschen Kunstsprachen, vermutet August Imholtz. Robert Boehringer fand ein blaues Heft im Nachlass, in dem George das erste Buch der Odyssee in eine seiner Kunstsprachen übertragen hatte. 4 Doch für die Schlussverse von Ursprünge nur wegen dieser Übersetzungsarbeit nach zwei Homerversen suchen zu wollen, die eine Wiederholung enthalten, die der Wiederholung „CO … PASOJE“ entspricht, 5 ist ein mehrfach fragwürdiger Ansatz: 6 Greift George fremde Verse auf, variiert er sie üblicherweise. Das können geringfügige Abweichungen sein, etwa aus metrischen Gründen wie in Tag-Gesang I, 15–6: „O mein tag mir so gross / Und so schnell mir entführt!“, mit Corneilles Cid 3,4, 998: „que notre heur fût si proche et sitôt se perdit“, 7 und in Franken, 32: „RETURNENT FRANC EN FRANCE DULCE TERRE“, mit Chanson de Roland 50 [Hilka]: „Franc(s) s’en irunt en France la lur tere“. 8 Doch auch deutliche Abweichungen zum Original sind zu beobachten: In Nietzsche, ebenfalls aus dem Siebenten Ring, übernahm George mehrere Motive Nietzsches, u.a. aus Ruhm und Ewigkeit im Zarathustra, 9 bot aber inhaltlich einen Gegenentwurf. Und der Anfangsvers Du stets noch anfang uns und end und mitte… aus dem Stern des Bundes zitiert Platon, leg. 715e: „ὁ μὲν δὴ θεός, ὥσπερ καὶ ὁ παλαιὸς λόγος, ἀρχήν τε καὶ τελευτὴν καὶ μέσα τῶν ὄντων ἁπάντων ἔχων…“ „Der Gott, der, wie auch der alte Spruch sagt, Anfang, Ende und Mitte aller Dinge hat…“. 10 Laut Aristoteles bezieht sich der Satz auf Zeus, mittel- und neuplatonische Kommentatoren setzen ihn in orphische Tradition. 11 Bei George wird Maximin angesprochen – neu ist das ans Elementare greifende, persönliche Erlebnis, das George mit der Maximin-Figur 4 Imholtz 1978. 5 Imholtz 1978, 499. 6 ...selbst wenn man nicht auf die Epenredaktion als solche sieht, sondern für George die Epeneditionen des späten 19.Jhdt.s hernimmt. Zur Homerredaktion Haslam 1997; West 1995; ders. 1999; ders. 2001; dagegen Bolling 1921, 258–9: frühalexandrinisch mit Wolf, Lachmann, Wilamowitz; ders. 1914, 132; ders. 1921, 254: um 150 v.Chr. erneut Interpolationen. Stadt- und Grammatikereditionen sind zu trennen, West 2001, 26–7. Aristarch und Vulgata: Allen 1899b; ders. 1899a; Erbse 1959, 275. 7 George, Lieder von Traum und Tod, GA 5, Tag-Gesang I, 79, mit Osthoff 1989, 123. Laut Morwitz 1960, 211 ging auf Corneilles Cid ebenfalls zurück George, ebd., Flutungen, 78, V. 11–2: „…so sagt dem blinden kind / Die kühle an dass schon der abend kam.“ 8 George, Franken, GA 6/7, 18–19, Zitat: 19. Landmann 1963, 76, Zit. George: „Der Vers am Schluss ist nicht wörtlich, aber annährend aus dem Rolandslied genommen.“; Boehringer 1967, 34 und 273, Anm.18; Komm. GA 6/7, 204. 9 Raschel 1984, 39; Komm. GA 6/7, 202. 10 Karlauf 2008, 714, Anm.21. 11 Aristoteles, mund. 401ab; Plutarch, mor.1124f; Clemens Alexandrinus, protrept. 6,69,4; strom. 2,22,132; Albinus, epit. 28,3 [Louis]; Celsus 6,15 [Bader] = Origenes, contr.Cels. 6,15; Eusebius, praep.ev. 11,13,5; Joh.Philoponnos, aetern. 179 [Rabe]; Stobaios 1,3,55a; 1,5,22 [Hense/Wachsmuth].

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verbunden wissen will. Sollte George also Homerverse in den Schlussversen verwendet haben, wie Imholtz meint, kann nicht ausgeschlossen werden, dass George auch sie abänderte, und ist nicht die Kunstsprache Georges über eine mögliche homerische Vorlage zu entschlüsseln, sondern umgekehrt muss zuerst Georges Kunstsprache erfasst werden, bevor die Verse auf möglicherweise vorhandene Vorlagen, etwa Homer, geprüft werden können. Von solch sprachsystematischer Seite her versuchte Manfred Durzak den Schlussversen beizukommen. Seine 1968 erschienene Untersuchung der georgeschen Kunstsprachen entstand im Austausch mit Michael Landmann und Robert Boehringer, 12 wovon Aufbau und vertretene Positionen nicht unberührt blieben. 13 Durzak fasste Georges Kunstsprachen als ersten Schritt zum symbolistischen Ästhetizismus des Frühwerks auf. George habe sie nicht nur entwickelt, um sich eine alternative, künstlerische Realität zu schaffen, sondern um für sich überhaupt zu einer Realität (und damit zu einer Identität) zu gelangen. Die deutsch-französische Zweisprachigkeit des Elternhauses habe den Identitätsbruch teils verursacht, teils unterstützend für Georges Kompensationsstrategien gewirkt. 14 Dass die Kunstsprache in Ursprünge für die Odyssee-Übertragung genutzt wurde, zeige, „welch differenzierte Struktur diese Sprache besessen haben muss.“ 15 Durzak führt sie auf die während der Schulzeit gelernten Sprachen zurück, Latein, Griechisch, Hebräisch und Italienisch, 16 und überlegt weiter, wohl ausgehend von Morwitz’ zweitem Kommentar: 17 „Das Wortmaterial besitzt gewisse Ähnlichkeiten mit dem Griechischen, das gilt besonders für die beiden Wörter ‚ptoros‘, das eine rein griechische Endung besitzt und dem griechischen Wort für Fluss, potamos, verwandt sein könnte, und ‚hama‘, das an eine griechische Präposition erinnert. Inhaltliche Parallelen in der Schluß12 Durzak 1968, 21–44; 277. 13 Durzak 1968, 159–63: Hofmannsthal; 166–7: Maximin; 172 zu Morwitz 1960: „Fruchtbarkeit dieses positivistischen Ansatzes“; „Zwar besteht an Morwitz’ rückhaltloser Bindung an George auch jetzt kein Zweifel, aber er hat dieses subjektive Moment in seinen Ausführungen ausgespart. Morwitz geht es allerdings nicht um Interpretation im philologischen Sinn. Der künstlerische Rang der Gedichte braucht für ihn nicht erst durch eine Deutung erwiesen zu werden. … Was jedoch die faktischen Bezüge betrifft,…, so liefert Morwitz zur Beantwortung dieser Fragen unentbehrliches Material.“; 188–90: Algabal. 14 Landmann 1963, 77; Durzak 1968, 25: „…scheint es gerechtfertigt zu sein, die Geheimsprache auf dieser Stufe … auch unter sprachpsychologischem Aspekt zu betrachten. Sie erscheint als Symptom einer Störung, die auf ein krisenhaftes Verhältnis zur Wirklichkeit hindeutet. Die instinktive und unproblematische Sicherheit, mit der sich die Wirklichkeit dem Heranwachsenden im Medium der Muttersprache erschließt, scheint bei George gefährdet gewesen zu sein“; 26–31; 32: „Ausdruck einer … Wirklichkeitskrise“; „Schaffung einer künstlichen Wirklichkeit“. Ähnlich, obwohl neutraler, Komm. GA 1, 101. 15 Durzak 1968, 34. 16 Durzak 1968, 33: „Kenntnis des Lateinischen, Griechischen, Hebräischen und Italienischen“ habe George während der „Binger Realschulzeit“ erworben. 17 Durzak nennt ihn erst im Folgeabsatz.

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strophe der Ursprünge können das bestätigen, da sowohl das Bild eines Flusses, als auch die Wendung ‚Attikas choros‘ erscheinen. Aber ebenso drängen sich Wort­ analogien zu romanischen Sprachen auf, zum Spanischen etwa, vor allem bei dem letzten Wort ‚boañ‘.“ 18 Die Passage, wie der gesamte Abschnitt S. 34–5, ist nicht frei von sprachlichen Unsicherheiten und argumentativen Widersprüchen Durzaks. 19 In der Endredaktion des Manuskripts Übersehenes oder Verschleierungen ähnlich jenen, die Morwitz in beiden Kommentaren bestrebt war zu geben, sind wohl nicht der Grund dieser Fehler, da sich dasselbe in Durzaks Aufsatzsammlung von 1974 wiederholt, 20 die unabhängig von Boehringer und Landmann entstand und mit teils sehr kritischen Bemerkungen zu George auch innere Distanz zeigt. Eher scheint Durzak Probleme mit der jeweiligen Sprachstruktur gehabt zu haben. So kann Durzak etwa das Wort ἁμά/gemeinsam, zugleich identifizieren und kennt er das Wort πόταμος/Fluss genug, um es hier vorzuschlagen (wobei „inhaltliche Parallelen in der Schlußstrophe der Ursprünge“ den Vorschlag πόταμος weniger „bestätigen“, als Ausgangspunkt des Vorschlags zu sein scheinen). Anderseits entgeht Durzak bei BOAÑ vollständig die Nähe zu βοᾶν, dem Inf. Präs. Akt. von βoάω/rufen, brüllen. „Wort­ analogien zu romanischen Sprachen“ annehmen zu wollen, nur weil ein Zirkumflex auf dem ‚N‘ steht, ist unnötig. Als hilfreich festzuhalten bleibt aber, dass Durzak Bezüge zum Griechischen herstellt und, wenn er Imri und Kunstsprache der Schulzeit trennt, jener Unterscheidung folgt, die Boehringer 1951 und Morwitz im zweiten Kommentar 1960 vertraten (dazu gleich). Reinhardt Döhl bewog der Klang der Schlussverse, ausgehend vom Ästhetizismus Georges, wie er das Frühwerk kennzeichnet, 21 sie als „erste(n) Beleg für eine akustische Poesie im heutigen Sinne“ anzusehen, denn „durch eine solche Umschrift (habe) … der … 18 Durzak 1968, 34. 19 Widersprüche: Durzak 1968, 34: „…aber da George ja in der Zwischenzeit einige in der lingua romana geschriebene Gedichte veröffentlicht hatte, besteht kein Zweifel daran, daß es sich hier um die Sprache der beiden letzten Verse der Ursprünge handelte“, gegen 34: „…ist zu bemerken, dass diese Geheimsprache (in Ursprünge, SH) offensichtlich nicht mit der dritten Form einer Georgeschen Geheimsprache, der sogenannten lingua romana, identisch ist, in der sich kaum griechische, sondern vor allem lateinische Wortanklänge feststellen lassen“, und 35: „Das verdeutlicht nicht zuletzt die Entwicklung einer dritten Geheimsprache, der sogenannten lingua romana“, die Durzak mit den mexikanischen Auswanderungsplänen Georges verbindet und für die er 36–7 Beispiele gibt. Zur Lingua Romana s.unten. 20 Durzak 1974, 19: Lingua Romana; 54: „Dieses Gedicht (Ursprünge, SH) klingt in zwei Versen aus, die ein Zitat aus einer dieser künstlichen Sprachen enthalten.“ 21 George, GA 17, 68–9: Über Dichtung, V. 1–3; 7–11: „In der dichtung – wie in aller kunst-betätigung – ist jeder der noch von der sucht ergriffen ist etwas >sagen< etwas >wirken< zu wollen nicht einmal wert in den vorhof der kunst einzutreten … Den wert der dichtung entscheidet nicht der sinn (sonst wäre sie etwa weisheit gelahrtheit) sondern die form d.h. durchaus nichts äusserliches sondern jenes tief erregende in maass und klang wodurch zu allen zeiten die Ursprünglichen die Meister sich von den nachfahren den künstlern zweiter ordnung unterschieden haben.“ Zur Frage, wie stark ein Ästhetizismus das Frühwerk prägte, s.Anm. 129.

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Text … in einen letztlich nur akustisch rezipierbaren Zustand gesetzt“ werden sollen. 22 Auch wenn Döhl nicht auf Morwitz’ ersten Kommentar von 1933 bzw. dessen Neuausgabe 1948 verweist, könnte seine Position daran anschließen. Morwitz schreibt dort zu den Schlussversen in Ursprünge: „Mit den Tönen dieser, rein des Klanges wegen in früher Jugend vom Dichter erdachten Silben gibt er ein dem Sinn nach nicht faßbares, neues oder auch uraltes Weltgefühl wieder. Für die historische Betrachtung ist es vielleicht wissenswert, daß auch Dante das Bestreben hatte, in einer nicht für alle Welt ausdeutbaren Sprache, deren Ursprung bis heute nicht klar ist, eine bestimmte Empfindung zu vermitteln: Rafèl maì amèch izabi almi, Inferno 31, V. 67“. 23 Dies ist mehrfach problematisch. 24 (i) Die einzige Kunstsprache, die George als Kind entwickelte, ist Imri. Die Kunstsprache von Ursprünge entstand erst in der Darmstädter Gymnasialzeit, die George als Fünfzehnjähriger begann. Die Kunstsprache von Ursprünge und Imri sind also nicht identisch, obwohl hier der entgegengesetzte Eindruck entsteht („in früher Jugend“). Im Kommentar von 1960 unterscheidet Morwitz beide Sprachen. 25 (ii) Morwitz erweckt den Eindruck, die Kunstsprache von Ursprünge habe einzig durch „Klang“ ein „Weltgefühl“ und „eine bestimmte Empfindung zu vermitteln“ gesucht – dass sie also ohne Wortsinn sei. Doch alle Bemerkungen Georges zur Kunstsprache in Ursprünge setzen voraus, dass sie durchaus einen Wortsinn hat, nicht nur lautmalerisch „Empfindungen vermitteln“ soll. Dasselbe gilt für Verse, in denen er sich auf Imri bezieht. 26 George ordnet Musik der Dichtung unter, Sprache ist ihm wichtig gerade wegen ihrer sinnschaffenden und -vermittelnden Qualität. Georges Sprachrhythmus, der Eindringlichkeit beabsichtigt und teils musikalische Qualität hat, soll die Aussagekraft der Worte unterstützen, nicht umgekehrt. 27 (iii) Mit dem Hinweis auf Dante ent22 Döhl 2017. 23 Morwitz 1948, 111. Im Folgenden wird Morwitz’ erster Kommentar in der Ausgabe von 1948 zitiert werden, da diese einerseits ein nur geringfügig veränderter Neudruck der Ausgabe von 1933 ist, anderseits aber bereits ohne Supervision durch George publiziert wurde. 24 ...auch wenn man die Frage der Dante-Verse nachordnet. Eine Übersetzung wurde 1922 und 1938 von Giuseppe R. Scialhub vorgelegt, doch mochte Morwitz zum Zeitpunkt seines ersten Kommentars (1933 bzw. 1948) davon noch keine Kenntnis gehabt haben. Im zweiten Kommentar, Morwitz 1960, 290, verweist er auf Scialhub 1938 und überarbeitete er seinen Text entsprechend. 25 ...gegen besseres Wissen, da Morwitz 1960, 290 erinnert, um 1910 verschiedene Notizen in der Kunstsprache der Odyssee-Übertragung und der Ursprünge gesehen zu haben: 18 Jahre vor dem ersten Kommentar. 26 George, GA 4, 51: Des sehers wort…; GA 3, 76: Kindliches Königtum. Weitere Belege s.unten. 27 Musikkritik: Rouge 1930, 24; Landmann 1963, 138; 199: Dichtung als Fortsetzung der Musik; Raschel 1984, 120–3; 166. Sprachrhythmik: Osthoff 1989, passim; bes. 6; 16. George schätzte mittlere Klangqualitäten bei Gedichtlesungen laut Boehringer, zit. nach Durzak 1974, 70: „Das man richtig liest … In schmalem intervall, also zwischen zwei tönen, die nicht zu weit auseinander liegen, einem tiefsten und einem höchsten. Die wirkende kraft ist größer, wenn die modulation kleiner ist, das heisst: wenn die stimme nur niedere stufen hinauf und hinab steigt“; zwei Artikeln der Vossischen

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spricht Morwitz einer Neigung Georges. 28 Die Behauptung, Dante habe das „Bestreben“ gehabt, sich „einer nicht für alle Welt ausdeutbaren Sprache“ zu bedienen, greift ferner Georges Neigung seit den frühen 1890er Jahren auf, sich über betonte Weltentzogenheit und Exklusivität ein Publikum zu erschließen. 29 Damit liegt es nahe anzunehmen, dass Morwitz im ersten Kommentar auch hinsichtlich der Kunstsprachen Interessen Georges folgt, zumal der Text unter dem Signet der Blätter publiziert und die Fahnenkorrektur von George, Berthold von Stauffenberg und Frank Mehnert gelesen wurde. George griff als Reihenherausgeber auch in Werke Bertrams und anderer ein, seine Einmischung in Morwitz’ ersten Kommentar ist nichts Ungewöhnliches. 30 Der Neudruck von 1948 wurde von Morwitz nur leicht überarbeitet, 31 denn es sei „nicht angängig, den Text zu ändern. Doch wurden Unklarheiten beseitigt“. 32 Obwohl nominell unabhängig publiziert, folgt also auch der Neudruck Kreisinteressen. Dies gilt letztlich auch für Morwitz’ zweiten Kommentar von 1960. Anliegen und Darstellungsmuster des ersten Kommentars werden nur diskreter ausgeführt. Für die Schlussverse in Ursprünge gibt Morwitz nun folgende Erklärung: „Die Kinder bauten sich am stilleren Ufer der Nahe, nicht fern von der Mündung dieses Flusses in den Rhein, Schilfhütten, die sie als Paläste ansahen. Jugendgefährten der Binger Zeit berichten, dass sie aus grenzenloser Lust am Lebendig-Sein, die der Dichter Wollust benennt, sich als Herrscher ihrer eigenen Welt in Kindlichem Königtum 33 fühlten und ihrem Überschwang in Gesängen Ausdruck gaben, deren Sinn niemand als ihnen selbst deutbar war. Von solchen vielleicht wortlosen, viel-

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Zeitung zu Vorträgen Georges bei Sabine Lepsius 1896/7, zit. nach Karlauf 2008, 230–1: „Er las mit leiser, gleichmäßiger Stimme, mit feiner, diskreter Betonung … Mehr und mehr wurden wir hypnotisiert, in die Stimmung hinein gebannt.“; Kassner, zit. nach ebd., 340: „murmelnd Wort an Wort reihend, jedes Pathos vermeidend, als läse er Zauberformeln“; Landmann 1963, 115: „singend“, „mit leiser Kadenz am Schluss des Verses, bannend wie Zaubersprüche.“ Komm. GA 6/7, 193: Werkbezug; 201; Landmann 1963, passim; Karlauf 2008, bes. 255–6. Siehe Anm. 127–28 für Berlin. Durzak 1974, 18; Raschel 1984, 70; 134; 153; 161–6; 171–213: Briefe Bertram/Gundolf, die an der Selbstaussage George, Blätter für die Kunst 5 (1901), 1: „die lehre machen die jünger“, zweifeln lassen. Raschel wird relativiert von Karlauf 2008, 431: Er habe Interpretationen anderer nur lenken wollen; 629. Morwitz 1948, Nachwort: Der erste Kommentar entstand ab 1924, als George nur wenig selbst schrieb, d.h. nachdem Friedrich Gundolf 1922 ausgeschieden war und die Deutungshoheit über das georgesche Werk nun zwischen Morwitz und Rudolf Wolters zu verhandeln war samt der Frage persönlicher Nähe. Morwitz 1948, 176. George, GA 3, 76: Kindliches Königtum, V. 1–12: „Du warst erkoren schon als du zum throne / In deiner väterlichen gärten kies / Nach edlen steinen suchtest und zur krone / In deren glanz dein haupt sich glücklich pries. / Du schufest fernab in den niederungen / Im rätsel dichter büsche deinen staat · / In ihrem düster ward dir vorgesungen / Die lust an fremder pracht und fremder tat. / Genossen die dein blick für dich entflammte / Bedachtest du mit sold und länderei · / Sie glaubten deinen plänen · deinem amte / Und dass es süss für dich zu sterben sei.“, letzteres spielt an auf Horaz, carm. 3,2, V. 13: „dulce et decorum es pro patria mori“/„Süß und ehrenvoll ist es, für das Vaterland

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leicht in Imri-Sprache gefassten Liedern handeln der dritte und vierte Vers der letzten Strophe der Ursprünge. Der fünfte und sechste Vers sprechen von einer späteren Zeit, in der der Dichter, und zwar erst nachdem er Griechisch zu lernen begonnen hatte, für sich allein eine eigene Sprache erdachte, die süss und befeuernd wie die Chöre Attikas klingen sollte. Der einzige Rest dieser Sprache ist im siebenten und achten Vers der Schlußstrophe der Ursprünge erhalten. Wie geheim der Dichter diese Sprache, in der er sein Leben lang Notizen niederschrieb, zu halten wünschte, habe ich selbst erfahren“. 34 Imri und Sprache der Schlussverse werden nun unterschieden; erstere sei Kindheitssprache, letztere in der Gymnasialzeit entstanden („…erst nachdem er Griechisch zu lernen begonnen hatte“). Die ersten drei Sätze wiederholen Formulierungen aus Georges Dichtung und stellen einen autobiographischen Bezug her. Spiele und Gesänge in Imri waren aber wohl kaum Allgemeingut, denn laut Carl Rouge war George als Jugendlicher eher Außenseiter, 35 Morwitz folgt hier späteren Selbststilisierungen Georges. Die Motive ‚Herrschaft‘, ‚Elite‘ und ‚arkane Sprache‘ sind deutlicher noch als in Kindliches Königtum, auf das Morwitz verweist, in Des sehers wort… verbunden, einem Gedicht aus dem Jahr der Seele. 36 Morwitz unterschlägt es, wohl weil es nicht nur inhaltliche Parallelen zu Ursprünge enthält, sondern auch Formulierungen, die beiden Gedichten gemeinsam sind und daher zur für Morwitz ungewollten Entschlüsselung der Schlussverse hätten beitragen können: In Des sehers wort… ist es ein jugendlicher „Seher“ (V. 1–2), in Ursprünge V. 38 ein „PTOROS“, der exklusiven Zugang zu einer für andere sinnstiftenden Welt hat. Zugang gibt der Seher über eine nur „wenigen gemeinsam(e)“ Sprache, 37 in Ursprünge sind die letzten Verse, die die eigentliche Handlungsanweisung geben, in einer Außenstehenden unverständlichen Sprache verfasst. Die Sprache des „Sehers“ und des PTOROS ist eine

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zu sterben“, was allerdings im Kontext augusteischer Diskurse steht, sowie Homer, Ilias 15,496: hier erzwingt noch eine Verteidigungssituation das Selbstopfer für das Gemeinwesen. Morwitz 1960, 290. Rouge 1930, 22: Georges „ausgesprochene Führernatur“, die „nur als Haupt einer von ihm selbst geschaffenen Vereinigung zu denken war“, habe an seiner Isolation Anteil gehabt. Stilisierung als einsamer Dichter-Prophet: Kauffmann 2014, 24. George, GA 4, 51: „Des sehers wort ist wenigen gemeinsam: / Schon als die ersten kühnen wünsche kamen / In einem seltnen reiche ernst und einsam / Erfand er für die dinge eigne namen – / Die hier erdonnerten von ungeheuern / Befehlen oder lispelten wie bitten · / Die wie Paktolen in rubinfeuern / Und bald wie linde frühlingsbäche glitten · / An deren kraft und klang er sich ergezte · / Sie waren wenn er sich im höchsten schwunge / Der welt entfliehend unter träume sezte / Des tempels saitenspiel und heilige zunge. / Nur sie – und nicht der sanften lehre lallen · / Das mütterliche – hat er sich erlesen / Als er im rausch von mai und nachtigallen / Sann über erster sehnsucht fabelwesen · / Als er zum lenker seiner lebensfrühe / Im beten rief ob die verheissung löge .. / Erflehend dass aus zagen busens mühe / Das denkbild sich zur sonne heben möge.“ Ebenso Durzak 1974, 53. Des sehers wort…, V. 1; 4: „Erfand er für die dinge eigne namen“.

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arkane wie gebietende. 38 Und es findet sich in beiden Gedichten eine Abgrenzung zum Christentum. 39 Über all dies wird noch zu sprechen sein. Morwitz fährt fort mit einem Hinweis, wonach die Kunstsprache der Schlussverse identisch sei mit der Kunstsprache von Notizen, die er um 1910 in Gegenwart Georges einsah: „Da mir das Geschriebene als dem Griechischen verwandt erschien, versuchte ich von dieser Richtung her den Sinn zu erraten. Was ich vorbrachte, muss etwas Richtiges enthalten haben, denn zu meinem Vergnügen wurde der Dichter aufgeregt, examinierte mich weiter, und gab sich erst zufrieden, als meine Auslegungskunst völlig versagte.“ Streicht man den Bescheidenheits- und Unterordnungstopos, bleibt, dass Morwitz die Notizen zumindest in groben Zügen verstehen konnte. Die Sprache von Ursprünge war also weder reine Lautmalerei wie im ersten Kommentar behauptet, sondern begriffsgebunden, noch frei erfunden, wie ebenfalls im ersten Kommentar behauptet, 40 sondern dem Griechischen „verwandt“. Doch auch 1960 bietet Morwitz keinen Lösungsvorschlag, unterschlägt sogar die Parallelen zu Des sehers wort… und versucht erneut, nun durch Hinweis auf Kindliches Königtum, auf die Kindheitssprache Imri abzulenken. Er bleibt diskret, da „der Dichter diese Sprache … (geheim) zu halten wünschte“. 41 Ähnlich widersprüchlich sind seine Zeilen zur Verbrennung des im Nachlass gefundenen blauen Hefts, das zu „den wenigen Dingen“ gehört habe, die George „im Handkoffer bis zu seinem Tod mit sich führte“, 42 und eine Übertragung des ersten Buchs der Odyssee in die Kunstsprache von Ursprünge enthielt: „Es entsprach sicherlich dem Wunsch des Dichters, dass die Seiten dieses Heftes nach seinem Tode ungelesen verbrannt und dadurch die beiden letzten Verse der Ursprünge dem Sinn nach undeutbar wurden. Sie waren von vornherein bestimmt, nur als Klang zu wirken. Diese Sprache ist verschieden von der vom Dichter schon im Alter von acht oder neun Jahren geschaffenen, durchaus kindlichen Sprache für seine Freunde, die sich Imri nannten und deren Reich Amhara hiess. Der Dichter hat übrigens später geäussert, er habe gehört, dass Hildegard von Bingen … eine Geheimsprache entwickelt und verwendet habe, die der seinen der Ursprünge ähnlich sei.“ 43 38 Des sehers wort…, V. 5–6: „erdonnerten von ungeheuern / Befehlen“; Ursprünge, V. 38–9: „PTOROS … BOAN“. 39 Des sehers wort…, V. 13: „Nur sie – und nicht der sanften lehre lallen“; Ursprünge, V. 30–1. 40 Ebenso George zu Landmann 1963, 77: „von einem Kinde ohne philologische Anregung. Gott weiss, aus welchen Reminiszenzen das herkommt.“ 41 Morwitz 1960, 290. 42 Morwitz 1960, 290. 43 Morwitz 1960, 290.

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Wenn die Kunstsprache von Ursprünge auf Georges gymnasialen Griechischunterricht zurückgeht, wie oben noch eingestanden („…nachdem er Griechisch zu lernen begonnen hatte“), können die Schlussverse von Ursprünge nicht „von vornherein bestimmt (gewesen sein), nur als Klang zu wirken“. Auch kann eine Sprache, die nur „dem Klang nach wirken“ soll, nicht von Morwitz im „Sinn erraten“ oder „ausgelegt“ werden, oder „dem Sinn nach undeutbar“ bleiben, wenn nur der Sprachschlüssel verbrannt wird, denn sie hat von vornherein keinen wortgebundenen Sinn, der „erraten“ oder „deutbar“ werden könnte. Morwitz versucht nur, die entsprechende Passage seines ersten Kommentars in den zweiten Kommentar hinüberzuretten. Der Hinweis auf Hildegard von Bingen entspricht dem Dante-Hinweis des ersten Kommentars nicht nur in der Textposition, sondern auch in seiner Funktion, weshalb er analog zum Dantehinweis zu werten ist: 44 Beide Kommentare greifen georgesche Selbstinszenierungen auf durch Hinweis auf Kunstsprachen anderer Dichter und versuchen von einer Entschlüsselung der Kunstsprache in Ursprünge abzulenken. Morwitz’ menschliches Grundproblem ist verständlich: Er wollte im zweiten Kommentar weder gegenüber George illoyal werden, der es „ablehnte, andere als rein grammatische Erläuterungen zu seinem Werk zu geben“, 45 noch ein literaturwissenschaftlich interessiertes Publikum enttäuschen, mit dem Morwitz bereits 1948 beim Neudruck des ersten Kommentars rechnete, 46 1960 im Fall des erweiterten und deutlich überarbeiteten Kommentars aber noch viel mehr rechnen musste. Entsprechend heftig schwanken seine Ausführungen 1960 zwischen Ansätzen zur Klärung und dem Bemühen, nicht zu viel preiszugeben. Auch Boehringer setzte in seinem 1951 bei einem Nachfolgeverlag von Georges Hausverlag Bondi erschienenen George-Buch die Sprache von Ursprünge und Imri gleich: „Diese beiden letzten Zeilen sind nicht verständlich; sie gehören zu jener von ihm selbst erfundenen Geheimsprache, die er in der Binger Schulzeit einigen Vertrauten – den IMRI – mitteilte. Er war der Kalif von Amhara und ‚Amhara alai tunis enis alsa‘ ersann er für die Amhariten.“

44 Ähnlich die Selbstaussage Georges zu Landmann 1963, 84: Hildegard von Bingen habe „auch eine eigne Sprache geträumt und niedergeschrieben … mit griechischen und lateinischen Elementen, … die so ähnlich klang wie der Schluss der Ursprünge.“; 175: „Die heilige Hildegard, die eine eigne Sprache erfand: ‚Das ist bei uns so in Bingen. Da ist ein unterirdischer Herd. Sie wäre zu anderen Zeiten eine Dichterin geworden.‘“: Morwitz folgt auch mit dieser Parallele zu Hildegard von Bingen einem kreisinternen Narrativ Georges. 45 Morwitz 1948, 176. 46 Morwitz 1948, 176: „Ergänzung durch einen umfassenden Kommentar ist geplant“, wobei es ihm wie in seiner Übersetzung der George-Gedichte ins Englische um „die Annährung des Fremden und Einheimischen, des Bekannten und Unbekannten“ gehe.

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Doch bereits diese kurze (m.K.n. einzige erhaltene) Zeile aus Imri zeigt eine zur Sprache in Ursprünge verschiedene Lautstruktur. 47 Der insgesamt selbst für Kreisverhältnisse auffallend georgetreue Tenor in Boehringers Buch und die darin wiederholt zu findende Bestrebung, Georges Interpretationen zu folgen, verstärken den Eindruck weiter, dass Boehringer noch weniger als Morwitz im Kommentar aus persönlichen Loyalitätsbindungen heraustreten mochte. 48 Auch er wollte bestimmte Kenntnisse nach außen verschleiern. 49 Im Kommentar folgt ein Hinweis auf die Minusio-Papiere und eine Darstellung der Verbrennung des blauen Hefts: „Wir waren zu Dritt, und der jüngste von uns wollte, dass dieses Heft verbrannt werde, weil man sonst daraus die beiden Zeilen erschließen könne. Der Mittlere stimmte zu, und ich liess es geschehen. Nur noch der Umschlag ist vorhanden mit der Aufschrift Odyssaias I. Die beiden anderen sind tot. Der mittlere, Berthold von Stauffenberg, hat mir noch im Kriege gesagt, er meine, wir hätten recht getan, das Heft zu verbrennen. Ich habe es mir oft zum Vorwurf gemacht, und ich tue es auch heute noch.“ 50 Der „jüngste von uns“ kann nur Frank Mehnert gewesen sein, der im März 1943 an der Ostfront fiel, oder Claus Stauffenberg, der im Juli 1944 erschossen wurde. 51 Wichtiger als die Identitätsfrage ist, dass (i) auch hier die Sprache von Ursprünge und Odyssee-Übertragung gleichgesetzt wird, neun Jahre vor Morwitz’ zweitem Kommentar. (ii) Sind beide Sprachen identisch, können die Schlussverse von Ursprünge nicht per se „nicht verständlich“ gewesen sein, wie Boehringer noch wenige Sätze zuvor glauben machen wollte: Auch er liefert selbst den Hinweis, dass es sich um eine Wortsprache handelte. (iii) Berthold Stauffenberg und „der jüngste von uns“ (Mehnert oder Claus Stauffenberg) befürchteten, dass die Schlussverse bei Heranziehung der Odyssee-Übertragung zu entschlüsseln wären. Die Kunstsprache in Ursprünge kann also weder aus einer allzu obskuren Sprache heraus entwickelt, noch in sich übermäßig komplex gewesen sein.

47 Gegen Durzak 1968, 33: „Etymologische Schlüsse läßt das geringe Wortmaterial nicht zu, es sei denn eine gewisse Klangnähe zum Arabischen“—Es entspricht durchaus nicht der Sprachstruktur des Arabischen! 48 Oder mit den Worten Burckhardts zu Boehringer in Genf, Dohna-Schlobitten 1990, 318–20: „Nach dem Tod von Stefan George, zu dessen Freundeskreis er gehört hatte, wurde er sein Erbe. Carl Jakob Burckhardt bemerkte einmal zu mir: ‚Robert Boehringer liegt wie ein Löwe vor dem Grab von Stefan George. Geht jemand vorüber und sagt etwas Geringschätziges über diesen Poeten, steht er auf und brüllt.‘“ 49 Hoffmann 2009, 186. Haben die Brüder Stauffenberg den Eindruck von zu großer Liberalität Boehringers bei der Auswahl des Materials, das er zu veröffentlichen bereit war, sagt es also nicht nur etwas über Boehringer, sondern v.a. etwas über die wohl noch größeren Abschottungswünsche jener aus. 50 Zitate: Boehringer 1951, 19. 51 Beide waren anwesend laut Boehringer 1951, 201–3; Karlauf 2008, 630–5.

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Zwei Selbstaussagen Georges vom Juli/August 1919, die Edith Landmann überliefert, bestätigen obige Überlegungen. Sie waren noch unveröffentlicht, als Morwitz’ Kommentare und Boehringers Buch erschienen, da das Manuskript 1942 abgeschlossen, ihrem Wunsch gemäß aber erst 1963, dreißig Jahre nach Georges Tod, veröffentlicht wurde. „Ob man nach den Worten am Schluss von Ursprünge fragen dürfe? ‚Ja, nein‘, sagte er, ‚da haben sich schon manche den Kopf zerbrochen. Seltsames Urerlebnis einer Sprache, diese Idealsprache, die völlig ausgebildet war mit Grammatik und allem, und das von einem Kinde ohne philologische Anregung. Gott weiss, aus welchen Reminiszenzen das herkommt.‘“ 52 „Über die heilige Hildegard…: die habe ihn aufs äusserste gefesselt. Er habe vor etwa zwei Jahren erfahren, dass sie auch eine eigne Sprache geträumt und niedergeschrieben habe mit griechischen und lateinischen Elementen, und die so ähnlich klang wie der Schluss der Ursprünge.“ 53 Die Kunstsprache in Ursprünge war somit auch nach Georges bzw. Landmanns Angaben (i) eine, „die völlig ausgebildet war mit Grammatik und allem“, nicht eine, die lautmalerisch oder „dem Klang nach“ wirken sollte. (ii) Die Verbindung mit Hildegard von Bingen, die Morwitz im zweiten Kommentar gibt, ist auf George und die Jahre 1917/9 zurückzuführen. Georges Kenntnis der Kunstsprache Hildegard von Bingens dürfte aber älter sein, als er oder Landmann hier glauben machen will, denn auch Carl Rouge verbindet Hildegard von Bingens Sprache mit einer Kunstsprache Georges aus ihrer gemeinsamen Gymnasialzeit. Rouge hatte nach 1890 keinen Kontakt mehr zu George und äußerte sich in diesem verschriftlichten Vortrag vor einem Darmstädter Heimatverein völlig unabhängig von Kreiskontexten oder -rücksichten. 54 (iii) Wenn die Kunstsprache Hildegard von Bingens „so ähnlich klang wie der Schluss der Ursprünge“ und eine „mit griechischen und lateinischen Elementen“ war, lohnt es, für die erstrebte Entschlüsselung in diese Richtung zu suchen. Georges Ausweichen („Urerlebnis einer Sprache“) und Selbststilisierung („…Kind ohne philologische Anregung. Gott weiss, aus welchen Reminiszenzen das herkommt“), kann jedenfalls beiseite gelegt werden. Sprachliche Klärung und Übertragung der Schlussverse Einschließlich der Notiz Landmanns finden sich vier Belege, wonach die Kunstsprache in Ursprünge auf dem Griechischen basiere: Carl Rouge, Mitschüler in Darmstadt, spricht 1930 von einer „künstlichen Sprache …, (die) ziemlich viele griechische Wurzeln (enthielt)“ und von George im Kreis seiner Mitpensionäre entwickelt und gebraucht 52 Landmann 1963, 8: Veröffentlichung; 74: Datierung; 77: Zitat. 53 Landmann 1963, 84. 54 Siehe Anm. 55.

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wurde. 55 Drittens identifiziert Morwitz die Basis der von ihm 1910 eingesehenen Notizen und der Schlussverse als Griechisch und unterscheidet sie von Imri. 56 Sie wird nun sogar, anders als im ersten Kommentar, in Kontrast zur Kindheit gesetzt: Jene aus dem „Griechisch(en)“ entwickelte „Geheimsprache“ 57 sei allein für den privaten Gebrauch bestimmt gewesen, nicht mehr Gemeingut wie Imri, und geschaffen worden, als George sich aus der Fülle der kindlichen Freundschaften zu emanzipieren und seinen einsamen Weg als Dichter-Prophet zu finden begann. Viertens war laut Boehringer die Übertragung im blauen Heft als „Odyssaias I“ überschrieben. 58 Auch das ist eindeutig Griechisch, nämlich der Gen. Sgl. von ‚Ὀδύσσεια‘. George weicht nur durch das lateinische Zahlzeichen ab (statt des entsprechenden Buchstabens, der im Griechischen stehen würde: A für 1, B für 2, Γ für 3, etc.), sowie durch ein ‚a‘ anstelle des ‚ε‘. 59 Einschätzungen wie die von Hans Albert Maier, wonach griechische Worte in Ursprünge „gewiss … nicht zu erwarten“ seien, 60 sind folglich zurückzuweisen, die explizite Aussage V. 36–7, wonach V. 38–9 „Süss und befeuernd wie Attikas choros / Über die hügeln und inseln“ klangen, wörtlich zu nehmen. 61 Zudem sollte es möglich sein, jedes der Worte aus sich heraus auf ein griechisches Wort bzw. eine mögliche griechische Wortform zurückzuführen, wobei man es wohl mit der klassisch-attischen Form des Griechischen zu tun haben würde – v.a. sie wurde in den Gymnasien gelehrt und in Georges Bibliothek fanden sich noch von seiner Schullektüre her Platons Apologie und Kriton. 62

55 Rouge 1930, 22: „Als sich diese Gemeinschaft (der Mitschüler in Georges Pension, SH) zu bilden begann, wurde in ihr eine Spielerei betrieben, die von dem sprachkundigen George ausging, nämlich der Gebrauch einer künstlichen Sprache. Sie enthielt, soweit ich mich erinnere, ziemlich viele griechische Wurzeln. Als Ursprung dieses Gedankens braucht man wohl keinen Zusammenhang mit der künstlichen Sprache der heiligen Hildegard anzunehmen … Es genügt, daran zu erinnern, daß damals eine künstliche Sprache nach der anderen aus den Gehirnen schoß … Und George war auch hier Selfmademan. Für sein Sprachtalent fand er aber noch reichlich sonstige Betätigung.“ Ähnlich Fuchs, zit. nach Karlauf 2008, 65, wonach George zu einem Mitschüler, für den er schwärmte, „mit seiner selbstgeschaffenen Geheimsprache redete und korrespondierte und an den er auch Verse in dieser Sprache richtete.“ 56 Morwitz 1960, 290, wobei Morwitz’ Bemühen um Verschleierung einzurechnen ist. 57 Morwitz 1960, 291. 58 Morwitz 1960, 290; Boehringer 1951, 19. 59 Dass George die mittlere Klangqualität des ‚a‘ helleren oder dunkleren Vokalen vorzog, fällt am Imri-Zitat auf, das Boehringer überliefert, und an den Beispielen der Lingua Romana, die abgedruckt sind bei Durzak 1968, 36–7: Beide nutzen ungewöhnlich häufig den Vokal ‚a‘. Zur Klangqualität von Vokalen Osthoff 1989, 52, Anm.28. 60 Maier 1953, 470: „Hätte George dieses ausgefallene griechische Wort gekannt, dann hätte er ein gleichlautendes in seiner Phantasiesprache gewiß nicht gebraucht. Griechische Wörter sind nicht zu erwarten.“ 61 Morwitz 1960, 290: „Der fünfte und sechste Vers sprechen von einer späteren Zeit, als der Dichter, und zwar erst nachdem er Griechisch zu lernen begonnen hatte, für sich allein eine eigene Sprache erdachte, die süss und befeuernd wie die Chöre Attikas klingen sollte. Der einzige Rest dieser Sprache ist im siebenten und achten Vers der Schlusstrophe der Ursprünge erhalten.“; Durzak 1968, 33. 62 Karlauf 2008, 713, Anm.18.

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BESOSO: Es gibt keine griechischen Substantive, die dieser Silbenfolge ähneln, jedoch zwei ähnliche Verben: (a) der auf βιóω zurückzuführende und futurisch verwendete homerische Konjunktiv βέομαι (,ich werde leben‘), 63 und (b) das Futur von βαίνω (‚gehen‘): βήσομαι. Βέομαι und βήσομαι sind beides Medialformen. Die griechischen Verbalendungen des Mediums sind alle nicht mit Georges Endung -SO oder -SOSO zu vereinbaren. Der Endung -SO bzw. -SOSO ähneln folgende Verbal- und Partizipialendungen: (a) die Endung des Partizips Futur: -σων (= Nom. Sgl. Part. Fut. masculinum) bzw. -σoν (= Nom. oder Akk. Sgl. Part. Fut. neutrum). In beiden Fällen müsste für das griechische Wort ein -ν am Wortende ergänzt werden. Bei BESOSO mag es weggelassen worden sein in Analogie zum enklitischen -ν der 3.Pers. Sgl. Ind. Präs. Akt., das vor Konsonanten ausfallen kann. (b) -σω bildet als Endung die 1.Pers. Sgl. Ind. Fut. Akt. (c) -σω bildet als Endung die 1.Pers. Sgl. Konj. Aor. Akt., sofern das Verb einen schwachen Aorist bildet. (d) -σω bildet als Endung die 2.Pers. Sgl. Ind. Aor. Med., sofern das Verb einen schwachen Aorist bildet. Da bei Georges Wort das Augment fehlt, ist diese Möglichkeit zunächst zurückzustellen. (e) -σo bildet als Endung die 2.Pers. Sgl. Plusquamperf. Med. Diese Möglichkeit ist wohl auszuschließen, da der Verbstamm von BESOSO BE- sein müsste und dieser hier nicht verdoppelt wurde wie beim griechischen Plusquamperfekt nötig. (1.a) George scheint folglich aktivische Verbendungen verwendet zu haben, obwohl er es eigentlich mit Medialformen zu tun hat. Grund hierfür könnte sein, dass er eine intendierte aktivische Bedeutung der Medialform direkt anzeigen wollte. Ob das ‚E‘ in BESOSO ein Epsilon oder ein Eta sein soll, ist noch unklar. Ebenfalls noch nicht zu entscheiden ist, ob das abschließende ‚O‘ in BESOSO als Omega oder Omikron aufzufassen ist. PTOROS: Das griechische Substantiv πτόρος ist nur bei dem kaiserzeitlichen Grammatiker Herodian bzw. in Abhängigkeit von ihm bei zwei byzantinischen Lexikographen belegt. 64 Herodian setzt πτόρος gleich mit πταρμός/Niesen. 65 Das einzige ähnliche griechische Wort ist πτόρθος/der junge Spross, Trieb, Ast. Dieses ist seit Homers Odyssee und häufig belegt. 66 Da es das weit gebräuchlichere Wort ist, da 63 LSJ, s.v. βέομαι: „I shall live“. 64 Herodian, prosod.cath., GG 3.1, p.191 [Lentz]; onom., GG 3.2, p.900 [Lentz]; Arkadios gramm., accent. p.78 [Schmidt]; Etym.Magn. p.694 Kall. [Gainsford]; Ps.Zonaras, Lex. Π 1590 [Tittmann]. 65 Herodian, prosod.cath., GG 3.1, p.191 [Lentz]: „Τὰ εἰς ρος δισύλλαβα παραληγόμενα τῷ ο βαρύνεται, ὁπότε γίνεται ἀπὸ τῶν παραληγομένων τῷ ε ἢ ει ἢ αι διφθόγγῳ ῥημάτων, εἰ μή τις διαστολὴ γένοιτο, σπόρος, ὅτι σπείρω, πτόρος ὁ πταρμός, ὅτι πταίρω, φθόρος ὅτι φθείρω, μόρος ὅτι μείρω, κόρος ὅτι κείρω, φόρος ὅτι φέρω, φορός δὲ ὁ ἄνεμος ὀξυτόνως, ὅρος“. 66 LSJ, s.v. πτόρθος.

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es auch in der Odyssee zu finden ist, und da es inhaltlich besser passt, soll „PTOROS“ im Folgenden als ‚πτόρθος‘ aufgefasst werden. In seiner grammatischen Form kann das Wort PTOROS in jedem Fall nur ein Nom. Sgl. masculinum sein. PASOJE: Das einzige ähnliche griechische Wort bzw. den einzigen ähnlichen Wortstamm bildet πάσομαι, das Futur sowohl von (a) πατέομαι (Med.: essen, genießen, sich ernähren), als auch von (b) πάομαι (Med.: erlangen, erwerben; Perf.: besitzen). 67 Πατέομαι ist belegt seit der Odyssee mit Übergewicht auf die klassische Zeit, πάομαι seit klassischer Zeit mit Übergewicht auf Autoren hellenistischer Zeit. 68 Der Endung -OJE kommt nur die Optativ-Endung -οιεν nahe (= 3.Pers. Pl. Opt. Fut. Akt.). Eine passende Medialform, die es angesichts der beiden einzig möglichen Wortstämme eigentlich bräuchte, gibt es nicht. Damit scheint George auch hier in die griechische Grammatik eingegriffen zu haben: (1.b) Wieder wird eine Medialform, πάσομαι, mit aktivischen Tempusendungen versehen, um die intendierte aktive Bedeutung direkt auszusagen (korrekterweise hätte George für die 3.Pers. Sgl. Med. Fut. Akt. die Endung -σοιτo/-SOITO bilden müssen). (2) PTOROS kann, wenn es griechisch ist, nur das Subjekt des Satzes und ein Singular sein, denn -oς ist einzig die Endung des Nom. Sgl. masculinum. Damit kann George aber das Prädikat nicht als Pluralform bilden wollen, denn beide müssen kongruent sein. Soll PASOJE das Prädikat sein, müsste es eigentlich als 3.Pers. Sgl. Opt. Fut. Akt. und mit der Endung -σοι gebildet sein. Entweder versuchte George hier eine Analogie zu den Präsensformen, für die er ein -ν/-N am Wortende glaubte ausfallen lassen zu können. Dies wäre nicht ohne innere Logik, denn ein -ν ließ er scheinbar auch bei BESOSO ausfallen. Oder ihm unterlief schlicht eine Verwechslung. Im Folgenden soll das Wort PASOJE als Singular betrachtet werden. Wenn PASOJE nur Prädikat sein kann, dann muss BESOSO ein Partizip Futur sein; es kann kein lyrisches Ich hier sprechen. Folglich entfallen alle oben für BESOSO erwogenen Verbformen außer der ersten Möglichkeit: dem Partizip Futur. (3) Wie bei den Medialendungen wählte George wohl auch hier eine futurische Tempusendung, obwohl das Futur bereits durch den Verbstamm ausgesagt war, um größere Eindeutigkeit zu erzielen. Wenn das ‚E‘ in PASOJE das Epsilon der 3.Pers. eines Optativs ist, dann muss auch das ‚E‘ in BESOSO ein Epsilon sein. Dann aber wurde das Partizip von ‚βέομαι‘ gebildet, nicht das von ‚βήσομαι‘. Welchen Buchstaben George für das Eta verwendete, kann nicht mehr ermittelt werden. Ist das Prädikat eines Hauptsatzes ein Optativ, und PASOJE, soll seine Basis griechisch sein, kann nur ein Optativ sein, dann muss dieser am Satzbeginn durch einen Partikel angezeigt werden. Da ein ἄν fehlt, kann es kein potentialer, sondern muss es ein kupitiver Optativ sein. Bei Dichtern findet man überwiegend ‚Ὦ‘ bzw. ‚Ὠς‘ als den Partikel, der 67 LSJ, s.v. πάσομαι. 68 LSJ, s.v. πάομαι; s.v. πατέομαι.

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einen kupitiven Optativ anzeigt. 69 Sucht man nach etwas Passendem in Georges Versen, kann es nur das ‚CO‘ sein. CO könnte entweder der einem Vokativ zugehörige Partikel ‚ὦ‘ sein, 70 doch gibt es hier keinen Vokativ. Oder es ist ein bloßer Ausruf. 71 Oder es ist der den Optativ anzeigende Partikel. Da das Folgewort BESOSO mit einem Konsonanten beginnt, wäre im Griechi­ schen ‚Ὦ‘, nicht die Form ‚Ὠς‘, zu schreiben. Die Buchstabenfolge ‚CO‘ im letztgenannten Sinn aufzufassen, sei auch vorgeschlagen, da George eine Minuskelschrift mit klar abgegrenzten Rundungen verwendete, in Gedichtabschriften für Freunde ebenso wie in seiner persönlichen Handschrift ab den 1890er Jahren, die von der Kursive der Schulzeit deutlich abweicht. 72 Die Kleinschreibung wiederum findet sich bei George in Anlehnung an die Schreibweise der Gebrüder Grimm und aus ästhetischen Erwägungen. 73 Wenn das Omega durch CO wiedergegeben wird, ist BESOSO als βέσοσoν (Part. Fut. neutrum) zu lesen. Dass BESOSO ein -N fehlt, könnte Analogie zu jenem -ν sein, das bei der 3.Pers. Sgl. Ind. Präs. Akt. vor Konsonanten entfallen kann und auch für den Optativ PASOJE abhandengekommen zu sein scheint – eine Frage der Hiatmeidung. Das Wort steht parallel zum zweiten Wort in V. 39, ‚ON‘. HAMA kann nur das Adverb ἁμά/gemeinsam, zugleich sein, wie Durzak bereits beobachtete. (4) George schrieb den spiritus asper aus. Ihn hier ausgeschrieben zu finden, lässt eine Ausschreibung auch andernorts erwarten. ES: Ist die Ausschreibung des spiritus asper zu erwarten, entfallen für die Entschlüsselung des ‚ES‘ alle entsprechenden Bildungen aus dem Verb ἵημι/sich in Bewegung setzen, herbeieilen; schicken; ertönen lassen; herablassen: ἕς = 2.Pers. Sgl. Imp. Aor. Akt.; ᾗς = 2.Pers. Sgl. Konj. Aor. Akt.; εἵς = Part. Aor. Akt. Nom. Sgl. masculinum, sowie der Nomi­nativ der Kardinalzahl εἷς/eins, einer. 69 70 71 72

Schwyzer, Grammatik, Bd.2, 320. Schwyzer, Grammatik, Bd.2, 60. Schwyzer, Grammatik, Bd.2, 620. Karlauf 2008, 351: Faksimile; 469: Percy Gothein, Erinnerungen an Stefan George, erinnert gemeinsame Schreibübungen (unpubliziertes Typoskript, Privatbesitz Karlauf); Teppich…, Gesamtausgabe Holten, Berlin 1932, 96–120: Faksimiles. Die Kursive als Jugendlicher unterscheidet sich deutlich, s.Faksimile bei Kauffmann 2014, 25; 27. 73 George an Stuart Merrill, 28. Februar 1893, zit. nach Karlauf 2008, 286; Blätter für die Kunst 1 (1893), 5; Wolters 1930, 147: „Sein Ziel war: durch die fast ungemindert gleichmäßige Stärke des Strichs mit geringen Ab- und Anschwellungen eine vermehrte Wucht der Kleinbuchstaben zu erreichen, dabei aber die Stärke zugleich so maßvoll und biegsam zu halten, dass die enge Zurichtung der Buchstaben zum Wortbild, … die feste Fügung der Zeilen zum geschlossenen Block möglich blieb.“; Durzak 1968, 129–32; Landmann 1963, 89; George/Hofmannsthal 1953, 220. George war nicht der einzige: Wilamowitz 1928, 130.

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Es stehen stattdessen zur Auswahl: (a) das Verb ᾖς = 2.Pers. Sgl. Konj. Präs. Akt. von εἰμί: du wärest; (b) die Präposition εἰς bzw. ἐς/hin-zu, an, bis; in Bezug auf; gegen; bis auf, die im Griechischen einen Akkusativ verlangt. Wenn ‚E‘ ein Epsilon ist, wie oben für PASOJE gezeigt, dann kann ES nur die Präposition ‚ἐς‘ sein, nicht das Verb ‚ᾖς‘. ON: Wird das Omega durch ‚CO‘ wiedergegeben, muss der erste Buchstabe hier als Omikron gelesen werden. Ist die Ausschreibung des spiritus asper zu erwarten, kann es nicht das Relativpronomen ὅ (bzw. ὅν im Fall eines nachfolgenden Vokals wie HAMA/ἁμά ihn hat) sein, das andernfalls denkbar gewesen wäre in der Form des Nom. oder Akk. Sgl. neutrum. Damit bleibt nur ὄν = Nom. oder Akk. Sgl. neutrum des Part. Präs. Akt. von εἰμί/sein. Dies ist umso wahrscheinlicher, als ἐς einen Akkusativ verlangt und sonst kein anderer Akkusativ in diesem Vers vorhanden ist. BOAÑ kann nur der Inf. Präs. Akt. von βoάω sein (rufen, brüllen; anrufen bes. in Septua­ gintatexten u.Ä.). Aus diesen Beobachtungen ergibt sich folgender Übertragungsvorschlag: V. 38: Ὦ βέσο|σo[ν] πάσοι|ε[ν] πτόρ[θ]ος V. 39: Ὦ ἐς ὄν ἁμ|ά πάσοι|ε[ν] βοᾶν Dass in V. 38 die vorletzte Silbe wegen des Versfußes kurz sein muss, erklärt vielleicht auch, weshalb George das ‚θ‘ von πτόρθος ausfallen ließ. CO … PASOJE: Nicht gemeint sein kann, dass dem PTOROS etwas gelingt oder er etwas erreicht – dies würde durch προχωρεῖν oder τυγχάνειν τινος ausgesagt. Er erlangt etwas in dem Sinn, dass er in den Besitz von etwas kommt bzw. ihm etwas verfügbar wird. Προχωρεῖν und τυγχάνειν τινος betonen stärker das Prozessuale und an förderliche Umstände Gebundene des Vorgangs, τυγχάνειν sogar, indem es den Faktor Zufall/τύχη im Wortstamm trägt. Πᾶσθαι/erlangen und λαμβάνειν/erhalten betonen stärker den Besitzaspekt. Noch stärker ist das Moment des Besitzens bei κτᾶσθαι/in Besitz nehmen. Doch schon πᾶσθαι geht in diese Richtung – nicht ohne Grund bedeuten πέπαμαι (= Perfekt von πάσομαι) und κέκτημαι (= Perfekt von κτάομαι) dasselbe. 74 BOAÑ: Nicht gemeint sein kann das Verkünden einer Botschaft im Sinn eines Auftrags, den der Bote als bloßes Sprachrohr ausführt – dies würde durch Verben wie ἀγγελεῖν oder μαντεύεσθαι ausgesagt. 75 Es ist auch kein Verkünden einer Botschaft aus innerem Antrieb, 74 LSJ, s.v. πάσομαι: „πέπαμαι = κέκτημαι: possess“. 75 Nicht: κηρύττειν, denn ein Herold hat Verhandlungskompetenz, wie umfänglich (Herodot) oder nichtumfänglich (Thukydides) auch immer, noch viel weniger πρεσβεύειν, denn Gesandte tragen ab Thukydides die Hauptverantwortung für Verhandlungen.

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wie ihn ein Apostel oder Prophet hat, denn der Fokus von βoάω liegt nicht auf der Intention des Boten, sondern auf dem Akt der Bekanntgabe. Den breitesten Spielraum räumt λέγειν/sagen, sprechen ein. Soll Emphase ausgedrückt werden, passt βοᾶν/rufen, schreien bzw. ἀναβοᾶν/ausrufen, aufschreien am besten. Das wird wohl auch bei Georges BOAÑ gemeint sein. Die Wendung „ES ON BOAÑ“ stellt vor das Problem, dass einzig ‚ἐς θεòν βοᾶν‘/zu Gott rufen belegt ist, und zwar in Texten der Septuaginta, der christlichen Spätantike und deren Umfeld, und stets im Sinn eines Anrufens. Weiterhin findet sich seit Homer ‚ἐς θεòν ἐλθεῖν‘ für das Anrufen/Befragen eines Orakels. 76 Abstrakt zum Sein hin zu rufen oder das Sein anzurufen findet sich m.K.n. nirgends, auch nicht für das neuplatonische τó Ἕν, als das man ON vielleicht versucht sein könnte aufzufassen. ON: In V. 35 findet sich die Wendung „Heischer und herrscher vom all“, bei Edith Landmann ist ein „All“ Zielpunkt dichterischen Strebens und als das Stimmige, In-sichRuhende, das „strengste Gesetz, auf dichteste Wahrheit und Richtigkeit bezogen“ definiert, Ziel der „Botschaft vom schönen Leben … die sonst nur aus attischer Ferne herüberklang“ – letzteres zitiert V. 37, was Landmann verschweigt, die Parallele aber einmal auffälliger macht. Über Geheimhaltungsbestrebungen der George kommentierenden Kreisliteratur war bereits gesprochen worden und reflektiert Landmann in ihrer Einleitung. 77 Weiterhin findet sich das Wort „all“ in einem Brief Georges an Hofmannsthal vom 9./10. Januar 1892, in dem er über Einsamkeit und Schaffenskrisen klagt: „diesen übermenschen (jemanden, der Georges Leben teilen und sein Inneres verstehen kann, SH) habe ich rastlos gesucht niemals gefunden grad so wie jenes Andre unentdeckbare im all .. Das aber raten Sie aus meinen büchern. Die große seelische krise drohte … oh mein zwillingsbruder“: 78 für Weber eine direkte Anspielung auf Nietzsches Zarathustra. 79 So ist zu überlegen, ob das ON in Ursprünge nicht im Sinn dieses georgeschen „all“ zu verstehen ist. 80 Ist die Präposition ἐς/ES gewählt und mit Verben des Sprechens verbunden wie hier, dann ist das Rufen/βοᾶν auf den zu ἐς/ES gehörenden Akkusativ gerichtet: ON. 81 Mit ES 76 Homer, Od. 5,97; Pindar, O. 7,31; Plutarch, mor. 299b; 364f. 77 Landmann 1963, 6 und 198: arkan; 21, Anm.1: „All“, „allgemeinen metaphysischen Sinn“; 24: „Ursubstanz“, „Unwandelbarkeit“; 30: „höchste Realität“; 39; 107: „Über die Schönheit des Alls bei Dichtern und Denkern“. Zitat: 22, hier verbunden nicht mit dem PTOROS, sondern dem Engel des Teppichs: „die Botschaft vom schönen Leben …, die der Engel des Vorspiels dem Dichter gebracht, und die sonst nur aus attischer Ferne herüberklang“, letzteres eine direkte Anspielung auf V. 37, weshalb nachzudenken ist über Aufgabengleichheit von PTOROS und Engel, zumal das Vorspiel zuerst veröffentlicht wurde in den Blättern 1896, zeitlich ausreichend nah zu Ursprünge, Karlauf 2008, 257. Karlauf interpretiert den Engel als „Bote und Botschaft in einem“, ebd.: Auch dies wäre auf den PTOROS übertragbar, s.unten. 78 George an Hofmannsthal, 9./10. Januar 1892, George/Hofmannsthal 1953, 13. 79 Weber 1989, 45. 80 Nichts hat es jedenfalls zu tun mit dem Füllwort ‚all‘, das George, wie andere dialektale Wendungen, zeitlebens im Gespräch gebrauchte, Karlauf 2008, 50. 81 LSJ, s.v. εἰς: „of place, the oldest and commonest usage; with verbs of saying or speaking, εἰς relates to the persons to or before whom one speaks“.

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Stefan Georges Kunstsprache in Ursprünge, Verse 38–9

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ON BOAÑ kann also nicht gemeint sein, dass über die Natur des ON etwas herausgerufen wird, denn das Griechische würde dafür die Präposition περί mit Genitiv erfordern. Es kann weiterhin kein Anrufen wie bei ‚ἐς θεòν βοᾶν‘ gemeint sein, denn der Rufende tritt in Ursprünge (berücksichtigt man die Bezüge zu Nietzsche) dem Gegenstand seines Rufens weit autonomer 82 gegenüber als es das deutsche Wort ‚anrufen‘ zuließe. Stattdessen ist entweder (i) eine Handlung des PTOROS auf das ON hin gemeint: ein Rufen hin zum ON. Oder es ruft, so man ἐς kausativ auffasst, (ii) der PTOROS wegen des ON oder um des ON willen etwas heraus. 83 Oder (iii) es wird die Beziehung des PTOROS zum ON laut herausgerufen. 84 Welche der drei Möglichkeiten gemeint ist, hängt davon ab, wie man das Rufen/BOAÑ auffasst. BOAÑ: In Neuer Ausfahrtssegen aus den Pilgerfahrten betritt der Pilger vor Beginn der Reise eine Kirche, um mit göttlichem Segen seinen Weg zu gehen, V. 9–11: „Ich schreite durch den dom zum mittelthron· / Auf goldnen füssen qualmen harz und santel· / Mein sang ist schallend wie zu orgelton·“: ein laut abgelegtes Zeugnis. Noch passender ist Des sehers wort… aus dem Jahr der Seele, Z. 3–6; 13–6: „In einem seltnen reiche ernst und einsam / Erfand er für die dinge eigne namen / Die hier erdonnerten von ungeheuern / Befehlen … / Nur sie · und nicht der sanften lehre lallen · / … hat er sich erlesen / Als er im rausch von mai und nachtigallen / Sann“: 85 BOAÑ entspräche „erdonnerten von ungeheuern / Befehlen“. Oder BOAÑ ist Übertragung von Nietzsches „Notschrei“ aus dem Zarathustra. 86 Er findet sich dort zweifach, beide Male aus tiefstem Seelengrund kommend: Zarathustra schreit am Ende des dritten Teils zu seinem „abgründlichsten Gedanken“, auf dass der Gedanke ihn hören und antworten möge, und bricht danach für sieben Tage zusammen. 87 Im vierten Teil richtet „der höhere Mensch“ „den großen Notschrei“ an seinen Propheten Zarathustra. 88 Dafür, dass BOAÑ auch an Nietzsches Notschrei anschließen könnte, spricht das Nietzsche-Gedicht im Siebenten Ring, V. 22–4: „Du hast das nächste in dir selbst getötet / Um neu begehrend dann ihm nachzuzittern / Und aufzuschrein im schmerz der einsamkeit“: BOAÑ wäre dann das „aufschrein im schmerz der einsamkeit“. Alle drei Möglichkeiten könnten durch ES abgebildet werden, am nahesten kommt ES ON BOAÑ wohl die dritte: Nietzsches Notschrei. Dieser Eindruck verstärkt sich noch durch einen Blick auf das handelnde Subjekt, den PTOROS. PTOROS: (i) „Ein junger Spross“ ist nicht nur der PTOROS, auch Nietzsches Zarathustra wird zum „Kind“, als er nach zehn Jahren im Gebirge, das er als Dreißigjähri82 Autonomie: Nietzsche, Zarathustra, NW 6.1, Von den drei Verwandlungen, 25–7: Das pflichtbewusst Bürden tragende Kamel muss zum freiheitsdurstigen Löwen werden, Herrscher seiner einsamen Wüste, bevor es in kindlicher Unschuld mit Gefährten gleicher Denkungsart Neues schaffen kann – Freiheitsdurst als notwendige Voraussetzung für Schöpfungskraft. 83 LSJ, s.v. εἰς: „of an end or limit; of purpose or object; for good, for his good; to cause sth.; to live for sth.“. 84 LSJ, s.v. εἰς: „to express relation, towards, in regard to“. 85 George, GA 4, 51. 86 LSJ s.v. βοάω: „call for, shout out“. 87 Nietzsche, Zarathustra, NW 6.1, Der Genesende, 267, Z. 5; 15–26. 88 Nietzsche, Zarathustra, NW 6.1, Der Notschrei, 297–8; Die Begrüßung, 342–3.

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ger betrat, als Verkünder seiner Lehre zu den Menschen zurückkehrt. 89 „Verwandelt ist Zarathustra, zum Kind ward Zarathustra, ein Erwachter ist Zarathustra: Was willst du nun bei den Schlafenden?“, fragt ihn der greise Heilige auf dem Weg herab vom Berg. 90 „Unschuld ist das Kind und Vergessen, ein Neubeginnen, ein Spiel, ein aus sich rollendes Rad, eine erste Bewegung, ein heiliges Ja-sagen.“ 91 Bei Landmann hat es die Notiz: „Um es mit dem Urstoff aufzunehmen, muss man frische Kräfte haben.“ 92: „all“ als „Urstoff“. (ii) Wie Zarathustra im Gebirge, gewinnt auch der PTOROS sein Wissen in freier Natur („an dem flusse im schilfpalaste“, V. 32). (iii) Die Welt des PTOROS ist ähnlich fragil wie die Zarathustras, wenn er eine eigene Realität erst schaffen muss. (iv) Der PTOROS tut dies „in einem sange den keiner erfasste“ (V. 34), in einer eigenen, Wesensfremden unverständlichen Sprache. Auch Zarathustra muss feststellen: „Sie verstehen mich nicht. Ich bin nicht der Mund für diese Ohren. Zu lange wohl lebte ich im Gebirge, zu viel horchte ich auf Bäche und Bäume: nun rede ich ihnen gleich den Ziegenhirten. Unbewegt ist meine Seele und hell wie das Gebirge am Vormittag. Aber sie meinen, ich sei kalt und ein Spötter in furchtbaren Späßen.“ 93 (v) So wie die zeitweiligen „Gefährten“ Zarathustras „Mitschaffende“ sein sollen, die „neue Werte auf neue Tafeln schreiben. … Vernichter wird man sie heißen und Verächter des Guten und Bösen. Aber die Erntenden sind es und die Feiernden,“ 94 so bewegt sich auch der PTOROS in einer Gruppe Gleichgesinnter, um christliche Traditionen zu überwinden. Hier werden sie allerdings nicht durch radikalen Bruch und mit dem Ziel einer „Umwertung aller Werte“ überwunden, sondern durch eine stete, organische Entwicklungslinie mit dem Ziel, Ethos und Eros des klassischen Hellenentums wiederaufleben zu lassen – ähnlich dem Dritten Humanismus. Da das Adverb HAMA/zusammen, zugleich vor dem Prädikat PASOJE steht, muss es sich auf dieses beziehen und, berücksichtigt man das zweite Verb, den Inf. Präs. BOAÑ, eine Gleichzeitigkeit der Handlungen ausdrücken: Erlangen und Rufen fallen kausal wie zeitlich zusammen – wer das, was leben wird/BESOSO erkannt hat, muss im selben Moment zum all hin rufen/ES ON BOAÑ. Auch Nietzsches Zarathustra drängt es im zweiten Teil zu den Menschen zurück – sowie er seine Lehre voll erkannt hat, muss er unbedingt von ihr reden, braucht er Rezipienten und Gefolgschaft. 95

89 Nietzsche, Zarathustra, NW 6.1, Vorrede 1, 5, Z. 1–5. 90 Nietzsche, Zarathustra, NW 6.1, Vorrede 2, 6, Z. 25–7. 91 Nietzsche, Zarathustra, NW 6.1, Von den drei Verwandlungen, 27, Z. 7–9. 92 George nach Landmann 1963, 91. 93 Nietzsche, Zarathustra, NW 6.1, Vorrede 5, 14, Z. 29–15, Z. 3. 94 Nietzsche, Zarathustra, NW 6.1, Vorrede 9, 20, Z. 12–14; 19–20. 95 Nietzsche, Zarathustra, NW 6.1, Das Kind mit dem Spiegel, 101–4.

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Stefan Georges Kunstsprache in Ursprünge, Verse 38–9

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Wie in seiner deutschen Dichtung durch enge Wortfolgen, 96 Archaismen, 97 Wortschöpfungen 98 oder dialektale Entlehnungen, 99 reduziert George auch in der Kunstsprache von Ursprünge Worte auf ihren inhaltlich und klanglich aussagekräftigsten Teil. Auf Ebene der Sprachgenese ist sie angesichts der großen Nähe zum Griechischen weniger „Geheimsprache“ 100 als Kunstsprache. Geheimsprache ist sie jedoch auf Geltungsebene, denn V. 38–9 sind nicht nur im Kontext von Georges Sprachbegabung, sondern auch des georgeschen Rückzugs in elitäre Selbstbeschränkung zu sehen, hier umgesetzt durch Schaffung eines hermeneutischen Abgrunds zwischen sich und dem Kreis auf der einen, und den dieser Sprache Unkundigen auf der anderen Seite. „Der jüngste von uns“, der Boehringer zum Verbrennen des Hefts bewog, war sich dessen bewusst und wollte den Abstand erhalten wissen. Insofern unterscheiden sich die Schlussverse in Ursprünge von jenen in Franken. 101 Kunstsprache der Ursprünge und Lingua Romana Da sie auf dem Griechischen basiert, kann die Kunstsprache in Ursprünge, die der von Morwitz erwähnten Privatnotizen und die der Odyssee-Übertragung nicht identisch sein mit Georges Lingua Romana: Carl Rouge unterscheidet letztere Kunstsprache von einer, die „ziemlich viele griechischen Wurzeln enthielt“, 102 George ebenfalls: 96 Wortfolgen betonen verwobene Gedanken: George, GA 4, Ich trat vor dich…, 28, V. 8: „der strengen tempel finsternis erwärmen“; GA 4, Die stürme stieben…, 103, V. 1–2: „Die stürme stieben über brache flächen / Und machen heller ahnung voll die runde“; GA 4, Ich weiß du trittst zu mir…, 98, V. 8: „Und bangem frager milder spruch“. Zu Georges Stil Durzak 1968, 132–58, wobei das Platonische, das Durzak zuletzt bemüht, v.a. das Bild meint, das George von Platon schafft trotz Platon, rep. 377d. 97 „Nachen“ von mhd. ‚nache‘ für ‚Kahn‘; „kirren“ von mhd. ‚kürre‘ für ‚sanft‘; mhd. „harm“ für ‚Kummer‘; „gleiss“ von mhd. ‚glîzen‘ für ‚Glanz‘; „zähren“ von mhd. ‚zaher‘ für ‚Träne‘; „lasse“ von mhd. ‚laz‘ für ‚müde‘; „fahre“ von mhd. ‚vare‘ für ‚Gefahr‘; „gefüge“ von mhd. ‚gevüege‘ für ‚gehorsam‘; „triften“ von mhd. ‚trift‘ für ‚Weide‘; „bühle“ von mhd. ‚bühel‘ für ‚Hügel‘; „gefreundet“ von ahd. ‚frijon‘ für ‚lieben‘, etc. 98 „Zeitenhebel“, „sonnenkuss“, „schmeichelchor“, „hinguss“, „schattensaal“, „wahneswelten“, „äthergezelte“, „veilchendunkel“, „friedensföhre“ etc., sowie „als angebind“ statt ‚als Angebundenes‘, „dränge“ statt ‚Bedrängnisse‘ etc. 99 „Ärme“ statt ‚Arme‘, „läste“ statt ‚Lasten‘ etc. 100 Morwitz 1960, 290 und 291; Boehringer 1951, 19; Durzak 1968, 25; Maier 1953, 468; Fuchs, zit. in Karlauf 2008, 65; 63. 101 George, zit. in Landmann 1963, 76 zu Franken: „...das müsse er selbst erst wieder deuten. ... Jede Generation ... wird etwas anderes verstehen. Was die eine nicht versteht, wird die andere finden. Manche Dinge ... werden missverstanden bleiben. Schadet aber alles nichts. Dunkelheiten, das Infinite, ist schöpferisch, das völlig Klare ist tot“. Zur „Ambivalenz der Texte“ Karlauf 2008, 366–7. 102 Rouge 1930, 22: Jene „ziemlich viele griechische Wurzeln“ enthaltende Sprache der Gymnasialzeit verbindet Rouge nicht explizit mit der Sprache der Ursprünge, doch hat es sonst keine andere zur Auswahl.; 25: „Er versuchte sich damals sogar an einer wieder selbsterfundenen künstlichen romanischen Sprache: ‚rosa galba‘ hieß ein Gedicht in dieser Sprache“.

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„Die Zeichnungen in Grau sowie die erste der Legenden waren zuerst verfasst in einer eigenen nach dem spanischen angeähnelten lingua romana. Diese steht jedoch in keinem zusammenhang mit den erdachten sprachen der kindheit-stufe.“ 103 „Die erdachten sprachen der kindheit-stufe“ sind Imri und die Kunstsprache in Ursprünge, die er ab der Gymnasialzeit entwickelte. Rouge und Georges Aussage wird unterstützt durch überlieferte Sprachfragmente der Lingua Romana, die eine lateinisch-spanische Sprachstruktur zeigen, keine griechische. 104 Somit sind drei Kunstsprachen Georges zu unterscheiden: Lingua Romana; Kunstsprache von Ursprünge, Notizen und OdysseeÜbertragung; Imri. Zu Imri war oben bereits gesprochen worden. Auch sie dürfte letztliche Wortsprache gewesen sein, auch wenn Morwitz und Boehringer das klangliche Element betonen. Die Idee einer Lingua Romana beschäftigte George seit er Germanistik und Romanistik an der Friedrich-Wilhelm-Universität Berlin studierte, dem Wintersemester 1889/90. Bei Studienbeginn hatte er bereits Kontakt zu französisch- und spanischsprechenden Literatenkreisen. In Deutschland hingegen war er noch kaum bekannt oder mit anderen Dichtern verbunden, 105 auch hegte er Pläne, nach Mexiko auszuwandern. 106 Er war unsicher, in welcher Sprache er Dichten oder in welchem Sprachraum er seine Karriere beginnen sollte. 107 In diese Lücke fällt die Lingua Romana. George wollte „aus klarem romanischem 103 George, zit. in Komm. GA 1, 125. Damit ist abzulehnen Durzak 1968, 34–5; ders. 1974, 54. 104 Sprachbeispiele: Komm. GA 1, 125; Karlauf 2008, 648, Anm.30; Durzak 1968, 36–7. 105 Kauffmann 2014, 32; Komm. GA 1, 101; 125; GA 18, 117: „Das dichten in fremden sprachstoff · das der laie leicht für spielerische laune nehmen kann · hat aber seine notwendigkeit. In der fremden sprache in der er fühlt sich bewegt und denkt fügen sich dem dichter die klänge ähnlich wie in der muttersprache. Nicht die anregung von gedichten allein · sondern der ausschliessliche gebrauch des Französischen in den längeren aufenthalten zu Paris und Brüssel muss als ursprung gelten. Ähnlich hatte schon für die Lingua romana in den Legenden das Spanische seinen einfluss gehabt · dessen sich der Dichter mit seinen spanischen freunden die ersten berliner monate 89 fast allein bediente · wo ihm deutscher verkehr noch fehlte“. 106 Boehringer 1951, 45; Karlauf 2008, 118; 121–2. Mexiko und Lingua Romana verbindet Durzak 1968, 44; Kauffmann 2014, 32. 107 Brief George an Arthur Stahl, 2. Januar 1890, zit. nach Boehringer 1951, 46 (= STGA, George II, 5853 = teilw. GA 1, 101; 125: „...der mit einer Passage in lingua romana beginnt“): „Amico de meo cor! El tono elegico con que parlas en tua letra de nostra corespondencia longamente interrompida me ha magis commovido que el vituperio fortisimo. Um gottes willen wirst du ausrufen in welcher sprache schreibt denn der mensch hier, die hauptsache ist dass Du die verstehst – von anderen später [...]. Jetzt noch ein geständnis das mir schwer wird niederzuschreiben: Der gedanke, der mich von jugend auf geplagt und heimgesucht hat, der in gewissen perioden sich wieder und wieder aufdrängte hat mich seit kurzem wieder erpackt: Ich meine der gedanke aus klarem romanischem material eine eben so klingende wie leicht verständliche literatur sprache für meinen eigenen bedarf selbst zu verfassen. Die gründe weshalb ich [in] meiner deutschen sprache nicht gern schreiben will kann ich dir auf diesem gemessenen raum nicht auseinandersetzen (Im anfang des briefs hast Du eine probe). Darin liegt auch der grund weshalb ich seit monden nichts mehr verfasse, weil [ich] ganz einfach nicht weiss in welcher sprache ich schreiben soll. Ich ahne, diese idee wird entweder bei mir verschwinden oder mich zum märtyrer machen. Lebe wohl, Deine Hand? Dein Etienne“;

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Stefan Georges Kunstsprache in Ursprünge, Verse 38–9

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material eine eben so klingende wie leicht verständliche literatur sprache für meinen eigenen bedarf selbst … verfassen“, was dem Trend anderer um die Jahrhundertwende entwickelter Kunstsprachen entspricht, der Zweisprachigkeit des Elternhauses ohnehin. 108 Dagegen die Kunstsprache von Ursprünge sollte Nichteingeweihten unverständlich bleiben, wie George gegenüber Morwitz um 1910 betonte und auch sein Ausweichen gegenüber Landmann zeigt. Lingua Romana und die Kunstsprache in Ursprünge unterscheiden sich also nicht nur hinsichtlich der Sprachbasis, sondern auch im Anwendungsbereich. George ließ die Idee einer Lingua Romana im selben Maß wieder fallen, wie er sich für Deutsch als Sprache seiner Dichtung entschied. Auch endete nach Erscheinen der Hymnen am Jahresende 1890 die Freundschaft mit Carl Rouge und Arthur Stahl. 109 Die aus dem Griechischen und während der Gymnasialzeit entwickelte Kunstsprache in Ursprünge dagegen behielt George für Privatgebrauch und Abgrenzung seines Kreises nach außen bei. 110 Sie konnte längerfristige Bedürfnisse erfüllen. Autobiographische Motive in Ursprünge Unübersehbar sind autobiographische Elemente in Ursprünge: „An dem flusse im schilfpalaste“ (V. 32) träumt nicht nur das lyrische Ich des Gedichts, sondern laut Morwitz auch der Knabe George. 111 V. 18–20: „Aus den aufgewühlten gruben / Dampfte odem von legion / Und von trosses fraun und buben“, bezieht Morwitz auf Scherben und andere Kleinfunde, die George auf Binger Äckern machte. 112 Herrschaftsneigungen sind durch Rouge für Georges Schulzeit belegt. 113 Weiterhin trägt das Motiv des „lachenden zug(s)“ autobiographische Züge (V. 1). Mit Blick auf den Mittelteil des Gedichts mag man zunächst an Umzüge des Dionysoskults denken, doch kann das in der 1. Strophe nicht gemeint sein, da die Personen des Zugs als „Schaltend mit göttlichem fug / Traget ihr kronen und psalter“, V. 4–5, beschrieben werden – es geht um Herrschaft, die mit dem Christentum verbunden und durch Bezug auf Gott legitimiert ist. Morwitz sieht die ka-

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George an Hofmannsthal, 26. März 189(6), George/Hofmannsthal 1953, 90: „wer weiss ob ich – wenn ich Sie nicht … als dichter gefunden hätte – in meiner muttersprache weitergedichtet hätte!“ So das nicht retrospektiv oder Höflichkeitsaussage ist, wäre George noch 1891 im Zweifel gewesen. Dass Dialekte und landsmannschaftliche Zugehörigkeit im Zug der Reichseinung durch Bismarck an Stellenwert verloren, mag zu diesen Tendenzen beigetragen haben. Durzak 1968, 113; Karlauf 2008, 113–7; Kauffmann 2014, 34–5. George, GA 17, 47: Lobreden: Mallarmé, Z. 37–42: „Jeden wahren künstler hat einmal die sehnsucht befallen in einer sprache sich auszudrücken deren die unheilige menge sich nie bedienen würde oder seine worte so zu stellen dass nur der eingeweihte ihre hehre bestimmung erkenne .. klangvolle dunkelheiten sind bei Pindar Dante und manche bei dem klaren Goethe.“ Der Text entstand zwischen 1889 und 1893, Komm. GA 17, 116. Morwitz 1960, 290; Boehringer 1951, 19. Morwitz 1960, 289. Belege: Karlauf 2008, 47–8; Kauffmann 2014, 16. Ähnlich in Kindliches Königtum aus Die Hirtenund Preisgedichte, GA 3, 76, V. 5–6: „Du schufest fernab in den niederungen / Im rätsel dichter büsche deinen staat“; entsprechend Morwitz 1960, 290.

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tholischen Umzüge zum Rochusfest und Weinfeste in Bingen als Vorlage des „lachenden zugs“. 114 Die katholischen Feste hatte George als kultur- und glaubensstiftend im Kindlichen Kalender gewürdigt. Sein persönliches Bekenntnis zum Katholizismus 115 prägt noch den Maximinmythos. Mit dem Motiv des „sieg(es) der heiligen rebe“ (V. 11) wird Dionysoskult und christlicher Ritus, dionysischer Rausch und Sakrament des Abendmahls, Gotteserkenntnis im Rasen und Gotteserkenntnis im Blut Christi gleichgesetzt. 116 Das Motiv des Rausches war nicht nur bei Nietzsche, sondern über ihn auch bei Karl Wolfskehl und den Münchner Kosmikern um Alfred Schuler und Ludwig Klages präsent. George hielt in Ursprünge, obwohl der Bruch mit den Kosmikern zum Jahreswechsel 1903/4 gerade vollzogen war, an diesem Motiv fest. Es wird auch In des sehers wort... mit dem Christentum verbunden – auch der „seher“ überwindet „der sanften lehre lallen“ „im rausch von mai und nachtigallen“ (V. 1; 13; 15). 117 Das lyrische Ich steht in einer Traditionslinie, die von der religiös erweckten vorhistorischen Zeit (V. 14–5), 118 über Klassik (V. 10–5), Rom (V. 18–25) und christliche Kirche des Mittelalters (V. 26–31) 119 bis in die Gegenwart reicht, die es nach dem Vorbild der Antike zu formen gelte (V. 17: „Wir empfingen noch den schein“; V. 32–9). Doch ist die Überlieferung nicht ungebrochen. V. 21: „Hier ihr gold ihr erz ihr thon“, spielt nicht nur auf Hesiods Weltzeitaltermythos an, der in Ovids Version bis heute Schullektüre ist. 120 Der Vers ist zugleich eingebettet in den Zug der römischen Legionen über die Alpen („Auf dem bergweg seht die schaar“, V. 22) an den Rhein („Offen stehen brück und pforte / Für des Caesarsohnes aar“, V. 24–5), den George beschreibt – schon die augusteische Zeit sei tönernes Zeitalter, vergleicht man sie mit der klassisch-griechischen Antike. Die Idee einer Transmission des ‚Staats‘-Gedankens von Platon über den Stauffer Friedrich II., Winkelmann, Goethe, Jean Paul, Hölderlin und Nietzsche zum Dichter-Propheten George als

114 Morwitz 1960, 288. 115 Rouge 1930, 21: „Wichtig ist, dass George katholisch war“; Karlauf 2008, 240: Ablehnung Protestantismus; 307–9; Groppe 2001, 124; Braungart 1997, 192–4. Entsprechend ist seine Kritik an Nietzsche auch Kritik an protestantischen Eigenheiten, Raschel 1984, 103–7; Landmann 1963, 35; 47; 168. George, GA 17, 13–6: Der kindliche Kalender. Dagegen Komm. GA 1, 120 zu Glocken; 123 zu Seefahrt: ambivalentere Haltung Georges, Glaubenskrise als Jugendlicher. 116 Ursprünge, V. 1: „Heil diesem lachenden zug“ (Mänaden, Bassariden und Bakchen des Dionysoskults, SH), mit V. 4–5: „Schaltend mit göttlichem fug / Traget ihr kronen und psalter.“; 117 Ähnlich Landmann 1963, 24 zum georgeschen ‚All‘: „Ursubstanz“, „Unwandelbarkeit“ als Gegensatz zu „Wandelbarkeit, dessen, was so und so sein kann“, worunter hier das Christentum gezählt wird. 118 Ursprünge, V. 10–5: „Heil dir sonnenfroh gefild / Wo nach sieg der heiligen rebe / … / Kam in kränzen Pan mit Hebe! / Rauhe jäger zottige rüden / Wichen weissem marmorbein.“ Dionysos war eine ursprünglich thrakisch-phrygische Gottheit, die Motive Jagd und Wald nicht nur Pan oder Kulturentwicklungsstufen zuzuordnen. 119 Ursprünge, V. 26–8: „Auf diesen trümmern hob die kirche dann ihr haupt / Die freien nackten leiber hat sie streng gestaupt / Doch erbte sie die prächte die nur starrend schliefen“. 120 Hesiod, op. 110–201; Ovid, met. 1,89–150.

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Neubeginn wird am deutlichsten in Kreispublikationen entwickelt. 121 Doch schon in Ursprünge wird sie vertreten, wenn die Herrschaftsansprüche des lyrischen Ich aus Strophe 1 und 4 in eine Traditionslinie gestellt werden, die über Mittelalter und römische Zeit bis in die griechische Klassik zurückreicht. Morwitz liest Ursprünge in seinem zweiten Kommentar daher auf die Binger Herkunft Georges hin, um seine Rolle als Vermittler der Antike zu betonen. Im ersten Kommentar hatte Morwitz noch unspezifisch vom „Erbe der Römer, die Rebe und südliches Blut in die unbehausten Wälder Germaniens pflanzten“, gesprochen. 122 Nun erklärt er im zweiten Kommentar mit denselben, aus der 2. Strophe entnommenen Motiven Rheinhessen zum geographischen Ausgangspunkt: 123 „Es waren die Römer, die den Anbau der Rebe aus Italien in die sonnenfrohe Rheinlandschaft bei Bingium … brachten(,) … (n)achdem das Land durch Beseitigung undurchdringlicher Wälder und wilder Tiere urbar gemacht worden war“. Herrschaft ist in der 1. Strophe zudem durch Vermittlung legitimiert – der „lachende zug“ ist „Herrlichsten gutes verweser / Maasslosen glückes erleser“ (V. 2–3). „Erleser“ impliziert Erwähltsein und Herausgehoben-Werden. 124 Anderseits eint den „zug“ gemeinsames Denken und Handeln – das „maasslose glück“ ist nur in der Gruppe, nicht in Abgeschiedenheit möglich, eine katholische, keine protestantische Auffassung. Die Personen des „lachenden zug(es)“ zeichnet Jugendlichkeit, 125 Begeisterung, Hingabe aus – auch George lebte in und von der Gemeinschaft Jüngerer. 126 Zuletzt wird man mit der 4. Strophe von Ursprünge auch die Umstände und Bedingungen des kaum zehn Jahre früher erfolgten literarischen Durchbruchs Georges verbinden können. Seine Selbststilisierung zum Dichter-Propheten traf den Nerv des Berliner Salonbürgertums, das ihn ab Mitte der 1890er Jahre bekannt machte. 127 Äußere Form und sprachtechnische Klarheit erstrebte er nicht um ihrer selbst willen, sondern sie die121 Morwitz 1948, 83: Die beiden letzten Vorläufer Nietzsche und Hölderlin hätten „einen neuen Daseinsbereich geahnt“, „aber noch nicht darin leben dürfen“, das sei erst mit George möglich geworden; 84: Goethe; 86: Platon, Jean Paul. 122 Morwitz 1948, 110. 123 Morwitz 1960, 289; 290 zur „Binger Landschaft“: „Der Dichter liebte zu betonen, dass sie hessisch und nicht preussisch sei“. 124 George, Das Jahr der Seele, GA 4, 12: Komm in den todgesagten park…, V. 8. 125 Ursprünge, V. 6–9: „Später gedenkt es euch kaum: Nie lag die welt so bezwungen · / Eines geistes durchdrungen / Wie im jugend-traum“. 126 Karlauf 2008, 259–61: das Griechische als Metapher für Homoerotik; 295; 332–3: Schwabinger Kreis; 451: „Dichten ist Herrschen“, zit. Wolters; 456. 127 Publikumsstrategien: Karlauf 2008, 223–4; 237–8; 246–7; Kauffmann 2014, 100–2; 109–15; Groppe 2001, 99–101; 130–40. Exklusivitätsanspruch Blätter: Briefe George/Hofmannsthal 1953, 21–4; 30–6; 45; 54; 66: „mitglieder einer familie“; 69; 110–11; 114; 116–8; 153; 186; 221–2. Probleme, die mit zunehmender Popularität aus Georges Exklusivitätsanspruch entstanden: Karlauf 2008, 292; Kauffmann 2014, 94–6; 99. Karlauf 2008, 237: „George bediente die Sehnsucht bürgerlicher Intellektueller nach dem Ursprünglichen und Echten auf vielfache Weise. Aber er war klug genug, sich von ihnen nicht vereinnahmen zu lassen. Instinktiv blieb er allem Spekulativen gegenüber

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nen dazu, das Einzelerlebnis dichterisch zu überformen, um einen Allgemeinanspruch des Empfundenen abzuleiten. Dies könne allein aus dichterischem Empfinden heraus erreicht werden, nie mit intellektuellen Spekulationen wie sie etwa von Georg Simmel vertreten wurden, aber auch nicht mit bloßer Beschreibung, gar niedrigster Dinge, wie wie bei Richard Dehmel. 128 Entsprechend inszenierte George seine eigene Person als beispielgebend für ‘das Dichterische’ als Lebensform 129 und forderte er in den Blättern für die Kunst der 1890er Jahre immer wieder, das Leben der Kunst zu unterstellen – mit gemischtem Erfolg. Hugo von Hofmannsthal, der selbst in den Blättern publizierte, bevor er 1906 auf Abstand ging, kritisierte in einem Brief an George von 1902, dass die Dichtungen in den Blättern zwar versuchten, „Ausdruck der Herrschaft über das Leben, der Königlichkeit des Gemüthes“ zu sein, die Qualität der meisten dort aufgenommenen Gedichte diesem Anspruch aber nicht gerecht werde. 130 Im Antwortschreiben teilte George die handwerkliche Kritik Hofmannsthals („durch alle haltung und führung wird kein meisterwerk geboren“), hielt aber an allen Publikationen fest, denn sie stammten von „menschen von guter geistiger zucht mit denen Sie wenn Sie sie kennten . aufs schönste leben würden“ 131: Über Kunst als „Herrschaft über das Leben“ hinaus, geht es George v.a. um Lebensform und Publikationsgemeinschaft, 132 ein Motiv, das sich nicht nur in den Briefen an Hofmannsthal wiederholt, sondern ob der seitens Georges damit verbunde-

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misstrauisch. Intellektuelle Unsicherheit überspielte er, indem er eine gewisse Naivität schützend vorschob“; Landmann 1963, 9–19; 29–30. Isolation/Naturalismuskritik: Landmann 1963, 9–10; 27; 69; 114; 153; Briefe George/Coblenz 1983, 40; 42; 79; 82; George/Hofmannsthal 1953, 111; 119–21; 213. Simmel: Karlauf 2008, 235–6; Kauffmann 2014, 47–8: „Heutige Interpreten, die das Frühwerk auf Simmels Linie deuten, verkennen meist, dass das permanente Verfehlen des Ideals einer von durchschlagenden Affekten gereinigten Poesie schon in den Gedichten selbst reflektiert und kommentiert wird“, mit Pan 4.3 (1898) (= zit. nach Kauffmann 2014, 95): Georges Nachahmer kämen über das Technische nicht hinaus, „während bei George jeder Inhalt, den er zugrunde legt, nicht nur in wunderbar intimen Zusammenhang mit seiner technischen Aeusserungsform gebracht worden ist, sondern auch zum Aeusseren und Innern des ganzen Menschen … in so fein abgetönter Harmonie steht, als machte eben diese Persönlichkeit nebst der von ihr geschaffenen Lyrik erst vereinigt das eigentliche, wahre Kunstwerk aus.“ Georges Ästhetizismus: Durzak 1974, 9–12: „Das autonome Gedicht“ von Hymnen, Algabal, Jahr der Seele habe „auch eine gesellschaftliche Dimension“, da es „Isolation und Einsamkeit“ thematisiere. Kauffmann 2014, 38–40; 72–3; 295; Groppe 2001, 104–18; bes. 108: Schon im Algabal sei ein reiner Ästhetizismus überwunden gewesen. Zitat: Hofmannsthal an George, 18. Juni 1902, George/Hofmannsthal 1953, 154. Ebenso 58; 158– 62; 169; 171; 186; 209; 224. Positiv 64; 82; 115; 216; 253–4. George an Hofmannsthal, Juli 1902, George/Hofmannsthal 1953, 158–9. Erst ab 1909 rückte George von den frühen Ausgaben der Blätter ab, Durzak 1974, 68; 78–9. Briefe George/Hofmannsthal 1953, 158; 256–7; 260; George/Coblenz 1983, 56–9: Wolfskehl, Hofmannsthal, Gérardy für Pan-Veröffentlichungen 1895; Landmann 1963, 116.

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nen Ausschließlichkeit auch zur dauerhaften Entfremdung mit Hofmannsthal führte, 133 wie auch die Freundschaft Georges mit Ida Coblenz deswegen endete. 134 Beide Ideen, Einfluss des Dichter-Propheten auf einen Kreis Gleichgesinnter und Herrschaft der Kunst über das Leben, können in V. 35: „Heischer und herrscher vom All“, gemeint sein. Beide nahmen bei George zuletzt dogmatische Formen an. 135 Der 1914 veröffentlichte Stern des Bundes wird vollständig auf die Frage nach dem Zusammenleben ausgerichtet sein und sie mit der Rede vom georgeschen ‚Staat‘ und dem ‚Neuen Reich‘, das es zu schaffen gelte, beantworten. Dass George sich gegenüber den ideologischen Verwerfungen des Ersten Weltkriegs wie den Werbungen Goebbels’ zurückhaltend zeigte, hängt vielleicht auch mit dieser Unklarheit, welche Form von Herrschaft gemeint sein soll, zusammen. Auch wenn Ursprünge im Kontext von Georges ab 1906 erwachendem politischen Interesse gelesen werden muss, zielt der späte George nie auf eine nurpolitische, sondern immer (und vielleicht zuerst) auf eine dichterische Führerrolle bzw. Geistesschule. 136 Werkkontext der Schlussverse Versteht man Ursprünge V. 38–9 wie oben vorgeschlagen, weisen sie auf Positionen der 1. Strophe zurück. (i) Es geht um Einsicht in die letzten Weltzusammenhänge: In der 1. Strophe ist sie christliche Gotteserkenntnis, in V. 38 das „Erlangen“ des „künftig Lebenden“ („BESOSO PASOJE“). (ii) Es geht um Vermittlung: Im ersten Abschnitt ist ein „lachende(r) zug … herrlichsten gutes verweser / Maasslosen glückes erleser“, in V. 39 ein einzelner Rufer („PTOROS … BOAÑ“). (iii) Es sind in der 1. und 4. Strophe junge Menschen: In der 1. Strophe wird der „jugendtraum“ des „lachenden zug(s)“ beschworen (V. 1; 9), in V. 38 ist es ein „junger Spross“/„PTOROS“. (iv) Und es ist eine nur kleine Personen133 Briefe George/Hofmannsthal 1953, 52; 66–73; 110–2; 114–9: Dehmel, mit 149 und 153: Hofmannsthal rudert zurück, Coblenz nicht; 124; 136; 141; 150–2; 188; 213; 226–9. 134 George an Coblenz, 26. Juni 1895, George/Coblenz 1983, 52; Komm. George/Coblenz 1983, 11; 15–8; 24–6. Der Eklat um Richard Dehmel war Anlass, nicht Ursache wie von ihr angenommen (ebd. 38–40; 63; 84). 135 Gundolf an Sabine Lepsius, 3. August 1910. Raschel 1984, 28–36 sieht hier eine Nähe zu Nietzsches „Herrenmoral´“. 136 George, Stern des Bundes, GA 8, 23–6; 68; 83–6; 88–92; 94–5; 100–2; 101, V. 1: „geheime kunde“, V. 5: „liebesring“; 105: Absage an intellektuelle Bildung; 110; George, Das Neue Reich, GA 9, bes. 86–7; Kommerell 1928, 432; 441; 458–83, wobei sich die Abgrenzung Hölderlins von Schiller liest wie eine Vorwegnahme der Abgrenzung Kommerells von George und „der Dichter“ (Hölderlin, George, Kommerell?) als göttlich inspirierter Seher-Heros eines deutschen Nationalstaats inszeniert wird. Besonders ab den 1920er Jahren beschränkte sich Georges politisches Interesse, das sich ab 1906 nachweisen lässt (Durzak 1968, 9–14; Raschel 1984, 94), auf den Aufbau des Kreises, nahm aber von Tagespolitik Abstand: Landmann 1963, 78. Nicht so die jüngere Kreis-Generation (Hoffmann 2009, 73–5; 85; 121–30; 138–9; 185–6) oder Ernst Boehringer, der sich nicht nur für persönlich nahestehende Personen wie Ernst von Weizäcker, sondern auch für die in Landsberg inhaftierten Malmedy-Kriegsverbrecher engagierte, Westemeier 2014, 426.

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gruppe, die Zugang zu letzter Erkenntnis und Erlösung durch den Bezug zu einem „all“/ „ON“ hat, das zugleich ein Neues ist („BESOSO“): Herrschaft kommt nicht der gesamten nachwachsenden Generation zu, sondern nur jenen, die einen tragfähigen Neuentwurf, wie zu leben sei, anbieten können. Die Beziehungen der Auserwählten untereinander leben von der allen gemeinsamen Bindung an jenes Neue/„BESOSO“ bzw. „all“/„ON“, und von wechselseitiger Bestätigung, oder wie George in seinem Widmungsgedicht auf W.L. (Waclaw Rolicz-Lieder) 137 in Das Jahr der Seele formulierte: „Durch deine hoheit / Bestätigst du uns unser recht auf hoheit“ (V. 4–5). Anderseits gehen V. 38–9 über das in der 1. Strophe Gesagte hinaus, da die autobiographischen Elemente der Zwischenverse 32–5 den Bezug zur Person Stefan Georges herstellen: Es ist nicht länger ein „lachender zug“ christlicher Tradition, sondern jener, der sich um George schart, der die Traditionen klassischen Hellenentums vollgültig aufnehmen kann, geistige Haltung und Herrschafts­ ethos, das Rom und christliches Mittelalter nur als totes Wissen überlieferten. 138 Verse 34–5: „In einem sange den keiner erfasste / Waren wir heischer und herrscher vom All“, nimmt die Position von V. 38–9 vorweg, die „süss und befeuernd Attikas choros / Über die hügeln und inseln (klingen)“ lässt (V. 36–7), doch gibt es zwei wichtige Unterschiede: (i) Wenn auf grammatisch-formaler Ebene der Optativ des wiederholten einzigen Prädikats „CO … PASOJE“ die Aussage der beiden Schlussverse als heftig Begehrtes ausweist, steigern sie den in V. 34–5 „im schilfpalaste“ noch spielerisch-selbstvergessen als „sang“ erträumten Herrschaftsgedanken. Es geht in V. 38–9 also nicht mehr um bloße Herrschaftssehnsucht wie in V. 32 und 34–5, sondern es wird ein Herrschaftsanspruch als Handlungsanweisung und Lebensthema dem PTOROS und seinesgleichen aufgegeben. Der müßig-weltabgewandte Gestus der vorherigen, offen lesbaren Verse („Doch an dem flusse im schilfpalaste…“, V. 32; „In einem sange den keiner erfasste“, V. 34) wird unter Eingeweihten abgelegt. (ii) Der Herrschaftsanspruch der 4. Strophe geht über die „kronen und psalter“ des „lachenden zug(s)“ der 1. Strophe auch insofern hinaus, als der PTOROS als Rufer und sein vom Erlangen („PASOJE“) der neuen Lebensform („BESOSO“) bzw. des „all“ („ON“) abgeleiteter Herrschaftsanspruch gerade nicht mehr durch christliche Werte, sondern allein durch Selbstermächtigung legitimiert ist. Im Vorspiel des Teppich des Lebens ist es noch ein Engel, der dem Leser den Zugang zum georgeschen Lebens­ ideal vermittelt. 139 Nun findet der „junge Spross“/„PTOROS“ das Wissen vom Neuen teils wie in Nietzsches Ecce Homo als intuitives Wissen in sich selbst, 140 teils durch die ihn Umgebenden („In einem sange den keiner erfasste / Waren wir heischer und herrscher 137 Morwitz 1960, 338. 138 Römer und Mittelalter enden in „aufgewühlten gruben“ (V. 18), „trümmern“ (V. 26) oder darin, sich „zerknirscht“ an „gräberplatten“ zu „reib(en)“ (V. 31). Für letztere Formulierung siehe auch George an Hofmannsthal, 16. Juli 1897, George/Hofmannsthal 1953, 124: „sich an steinen … reiben“ als Synonym für geistiges Wachstum, Weiterentwicklung durch Konfrontation mit etwas, das erst bezwungen werden muss. 139 Der Engel wird unterschiedlich interpretiert, Positionen bei Kauffmann 2014, 105. 140 Nietzsche, Ecce Homo, NW 6.3, Also sprach Zarathustra 3, 337: „Der Begriff Offenbarung, in dem Sinn, daß plötzlich, mit unsäglicher Sicherheit und Feinheit, etwas sichtbar, hörbar wird, das einen im Tiefsten erschüttert und umwirft, beschreibt einfach den Tatbestand. Man hört, man sucht

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vom All“, V. 34–5). Ethische Grundlagen, die Herrschaft rechtfertigen könnten, bleiben in Ursprünge unreflektiert, ebenso ein möglicher Gemeinnutzen solcher Herrschaft oder eine Konkretisierung, worauf sich diese Herrschaft beziehen soll. Sie kennt weder eine freie Entscheidung zum Herrschen, wenn sie vorherbestimmt ist, noch eine Verantwortungsethik in der Ausübung der Herrschaft. Auch bei Nietzsche ist der Machtwille dem Menschen wesensmäßig eigen und fruchtlos, da selbstreferenziell. 141 Wie stark sich V. 38–9 mit Nietzsches Zarathustra auseinandersetzen, war oben bereits angedeutet worden, wird an neun weiteren Punkten aber noch deutlicher. (i) Es ist dem PTOROS, dem „seher“ aus Des sehers wort… und Nietzsches Zarathustra gemeinsam, dass sie nur von wenigen verstanden werden. In Ursprünge und Des sehers wort… ist mit der Schaffung einer eigenen Sprache zugleich das Schaffen einer eigenen Herrschaftswelt verbunden. Bei Nietzsche unterstreicht sie die Fremdheit zwischen Zarathustra und den übrigen Menschen. (ii) Nietzsche wie George beschwören eine Elite. Bei George ist sie in Abgrenzung zu allen anderen Menschen „heischer und herrscher vom all“ – auch über diese. Nietzsche lässt seinen Zarathustra sagen: „Ihr höheren Menschen, dies lernt von mir: auf dem Markt glaubt niemand an höhere Menschen. Und wollt ihr dort reden, wohlan! Der Pöbel aber blinzelt ‚wir sind alle gleich!‘ … Ihr höheren Menschen, geht weg vom Markt.“ 142 (iii) Bei Nietzsche kann einzig das „Kind … Neubeginn“ sein, in Ursprünge nur der PTOROS/„junge Spross“ eine neue, letztgültige Antwort auf alle Fragen sittlichen Seins geben. Bei Nietzsche ist diese Antwort, wenn auch aporetisch, Bruch mit der christlichen Ethik und ihren Traditionen („Umwertung aller Werte“), bei George eine neue, höhere Lebensform („BESOSO“ bzw. „ON“) erlangt aus dem Geist klassischen Hellenentums, verbunden mit einem Herrschaftsanspruch. (iv) Das „Rufen zum ON“ ist für den PTOROS ebenso wenig Option wie für Zarathustra der „Notschrei“ zu seinem „abgründigsten Gedanken“: Der PTOROS muss „im gleichen Moment“/„HAMA“, in dem er die Erkenntnis des Neuen „erlangt“/„CO … PASOJE“, ins Gespräch mit diesem Neuen („BESOSO“ bzw. „ON“) treten. Wie bei Nietzsche ist es zudem eine laut fordernde Auseinandersetzung mit ihm („ES ON BOAÑ“), kein stilles Erdenken. (v) Es ist, anders als für Jakob am Jabbok, für Zarathustra und den PTOROS nicht Gottes Nähe und Segen, um die und mit der sie ringen. Wo in Des sehers wort… die Selbstermächtigung durch Zweifel an katholisch-christlichen Heilsverheißungen veranlasst wurde, 143 ist der Zweifel in Ursprünge bereits überwunden. Die christliche Ethik wird für unfruchtbar erklärt („Der sinn der beim hosiannah über wolken blieb / Und dann zerknirscht sich an gräberplatten rieb“, Ursprünge, V. 30–1), das nicht; man nimmt, man fragt nicht, wer da gibt; wie ein Blitz leuchtet ein Gedanke auf, mit Notwendigkeit, in der Form ohne Zögern – ich habe nie eine Wahl gehabt.“ 141 Raschel 1984, 67–9. 142 Nietzsche, Zarathustra, NW 6.1, Vom höheren Menschen, 352, Z. 12–7; 19–20. 143 George, GA 4, 51: Des sehers wort…, V. 16–20: „Als er zum lenker seiner lebensfrühe / Im beten rief ob die verheissung löge .. / Erflehend dass aus zagen busens mühe / Das denkbild sich zur sonne heben möge.“

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Neue/„BESOSO“ soll sie überwinden. Was dies sein könnte, sagt die 4. Strophe: Die Aporien, auch des Christentums, können auflöst werden durch jene im „schilfpalaste“, die „(ge)trieb(en)“ von „der wollust erhabenste(m) schwall“ das Neue, d.h. ihre gemeinsame Lebensform und Herrschaftsermächtigung, verheißen, „süss und befeuernd wie Attikas choros“ (V. 32–3; 36). (vi) „ON“ kann nach der Absage an das Christentum und dessen Ethik nicht als ‚Gott‘/θεóς übersetzt werden. Der PTOROS steht am selben Punkt wie Zarathustra, der ebenfalls gerade den alten Werten eine Absage erteilt hat und nun ohne Gott ist, weshalb er am Ende des 3. Teils auch nicht zu diesem, sondern nur zu seinem „abgründlichsten Gedanken“ rufen kann – mit höchst unzureichendem Tröstungserfolg. 144 (vii) PTOROS wie Zarathustra stehen beide an der Wende zur letzten Erfüllung, im unmittelbaren Übergang zum Neuen. Die Abgrenzung vom Alten ist vollzogen, das Neue erkannt, die Forderung „Werdet hart!“ erhoben und der unbedingte Wille zum eigenen Schicksal beschworen. 145 Dann der Ruf Zarathustras: „Und also tönte Zarathustra’s Stimme, dass seine Thiere erschreckt hinzukamen, und dass aus allen Höhlen und Schlupfwinkeln, die Zarathustra’s Höhle benachbart waren, alles Gethier davon huschte…: Herauf, abgründlicher Gedanke, aus meiner Tiefe! … Knüpfe die Fessel deiner Ohren los: horche! Denn ich will dich hören! Auf! … Und bist du erst wach, sollst du mir ewig wach bleiben. … Nicht röcheln – reden sollst du mir! … Dich rufe ich, meinen abgründlichsten Gedanken! Heil mir! Du kommst – ich höre dich! Mein Abgrund redet, meine letzte Tiefe habe ich an’s Licht gestülpt!“ 146 Auch für den PTOROS fällt Erlangen des Neuen („BESOSO PASOJE“) und „laut schallendes Rufen hin zum all“ („ES ON BOAÑ“) unmittelbar („HAMA“) zusammen. (viii) Als ihm sein „abgründlichster Gedanke“ antwortet, bricht Zarathustra besinnungslos zusammen („Ekel, Ekel – wehe mir!“). Nicht so der PTOROS, denn anders als Nietzsche/Zarathustra hat der PTOROS/George nicht nur Tiere um sich, sondern Gefährten, jüngere Freunde, in deren Gemeinschaft „im schilfpalaste“ er sich gehalten weiß

144 Nietzsche, Zarathustra, NW 6.1, Der Genesende 1, 267, Z. 2: „Zarathustra ruft dich, der Gottlose!“ Zu Nietzsches Kritik am Christentum u.a. Götzen-Dämmerung, NW 6.3, 76–81; 89; Antichrist, NW 6.3, passim. 145 Nietzsche, Zarathustra, NW 6.1, Von alten und Neuen Tafeln 29, 264, Z. 4–5; 8; 14–5; 21–2: „Warum so hart! sprach zum Diamanten einst die Küchenkohle; sind wir denn nicht Nah-Verwandte? … Warum so weich, so weichend und nachgebend? … Wie könntet ihr einst mit mir – schaffen? Die Schaffenden nämlich sind hart. … Diese neue Tafel … stelle ich über euch: Werdet hart!“; Tafeln 30, 264, Z. 24–6; 265, Z. 1–2; 4; 9: „Oh du mein Wille! Du Wende aller Noth du meine Nothwendigkeit! Bewahre mich vor allen kleinen Siegen! Du Schickung meiner Seele, die ich Schicksal heisse! … Bewahre und spare mich auf ein Einem grossen Schicksale! … dass du unerbittlich bist in deinem Siege! … Dass ich einst bereit und reif sei im grossen Mittage“. 146 Nietzsche, Zarathustra, NW 6.1, Der Genesende 1, 266–7; Z. 13; 16–7; 22; 1–2; 4–7.

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– auch vor sich selbst. 147 Zarathustras Tiere, so freundlich, sorgend und sprachbegabt im Kleinen sie sein mögen, 148 sind nicht genug. Das ‚Übermenschentum‘ Georges, wenn man überhaupt das Wort auf die von ihm gedachte Elite anwenden will, 149 ist an den Kodex einer Gruppe Gleichgesinnter und gleichermaßen Erwählter gebunden, nicht individualistisch gedacht wie bei Nietzsche. 150 George wie Nietzsche bleiben damit letztlich, so sehr beide auch christlichen Traditionen eine Absage erteilen, der eine durch aemulatio, der andere durch negatio, dem Kirchendogma des jeweiligen konfessionellen Hintergrunds verbunden. (ix) Der PTOROS kann ob seiner Herrschaftsberufung nicht mehr Teil des „kronen und psalter“ tragenden „lachenden zug(s)“ sein. Er ist wie Nietzsches Zarathustra „Gottloser“, weil Überwinder der bisherigen, auf christlichen Traditionen basierenden Ethik. Doch schließt George das Christentum als Übermittler und Vorstufe in die von ihm vorgeschlagene Erziehung zur Herrschaft würdigend ein, und geht es ihm bei seiner Überwindung des Christentums nicht um Abkehr vom Göttlichen, sondern um Neuausrichtung auf die kosmische Ursubstanz, das georgesche ‚All‘. 151 Dass dies letztlich mit dem Bibeltext unvereinbar ist, stehe dahin. Georges Verhältnis zu Nietzsche um 1904 Da wiederholt auf Nietzsche Bezug genommen wurde, muss abschließend und unabhängig von den vorgeschlagenen Interpretationen noch einmal nach dem Verhältnis Stefan Georges zu Nietzsche gefragt werden – ob also für eine solche Interpretation der Verse überhaupt die nötige historische Basis gegeben ist. Dass George das Werk Nietzsches seit den frühen 1890er Jahren und bis in Einzelheiten kannte, wies Frank Weber nach. 152 Angesichts einer Bemerkung von Rouge könnte

147 Ebenso: George, GA 6/7, 12: Nietzsche, V. 28: „Sich bannen in den kreis den liebe schliesst“. Damit entwickelt George seine Position aus Des sehers wort… weiter: Dort blieb die Aufgabe der „wenigen“, die sich um den „seher“ sammeln, noch unbestimmt.; George/Hofmannsthal 1953, 66: „familie“; 166: „hätte ich mich nicht durch den ring gebunden gefühlt“. 148 Nietzsche, Zarathustra, NW 6.1, Der Genesende 2, 267: Sie sprechen mit ihm, seine Adler versorgen ihn mit Nahrung und leisten ihm freundlich Gesellschaft. 149 Zu Georges Kritik am Wort ‚Übermensch‘ Raschel 1984, 46. 150 Zwar stellt auch Nietzsches Zarathustra fest, NW 6.1, Vorrede 9, 19, Z. 26–8: „Ein Licht ging mir auf: Nicht zum Volke rede Zarathustra, sondern zu Gefährten! Nicht soll Zarathustra einer Herde Hirt und Hund werden!“; 19, Z. 21–3: „Ein Licht ging mir auf: Gefährten brauche ich, und lebendige – nicht todte Gefährten und Leichname, die ich mit mir trage, wohin ich will.“; Vom höheren Menschen 9, 357, Z. 1–20, doch können sie nie mehr als nur Weggenossen sein, Bd. 6.1, Vom Freunde, 67–9; Von der Nächstenliebe, 73–5; Vom Weg des Schaffenden, 76–9; Von der schenkenden Tugend, 93–8: Zarathustra weist die Jünger von sich, Ende des 4. Teils auch seine „höheren Menschen“: Er endet allein mit seinen Tieren. 151 Würdigung/Weiterentwicklung Christentum: Landmann 1963, 24; 42; 55. 152 Weber 1989, 36–89 gegen Raschel 1984, 2–12. Methodische Kritik an Raschel Weber 1989, 26–31; 8–36: Forschungsüberblick. Gegen Karlauf 2008, 293: „…die er damals wohl nur kursorisch las“.

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George schon 1889 Nietzsches Zarathustra gelesen haben. 153 Spätestens 1892 schätzte er ihn sehr, was auch 1895 noch unvermindert anhielt. 154 Ida Coblenz erwähnt gegenüber George ihre Zarathustra-Lektüre, voraussetzend, dass auch er mit dem Text vertraut ist. 155 In einem Brief an Hugo von Hofmannsthal zitiert George aus der Genealogie der Moral. 156 George übernahm im Nietzsche-Gedicht, das zuerst in der 5. Folge der Blätter für die Kunst 1900/1 und wieder im Siebten Ring erschien, Stilelemente aus Nietzsches Ruhm und Ewigkeit aus dem Zarathustra; George muss es also gekannt haben. 157 Er zitierte Nietzsche in den Blättern von 1896. Die Bibliotheken Wolfskehls und Friedrich Gundolfs enthielten Werke Nietzsches. Im Nachlass fand sich als Handexemplar Georges die 3. Auflage des Zarathustra von 1894 mit handschriftlichen Notizen. 158 Gegenüber Kurt Breysig bestätigte George, die Geburt der Tragödie gelesen zu haben. Laut Edith Landmann habe er bisweilen Nietzsche gelesen „um das nötige Gift zu haben“, kritisierte er Menschliches Allzumenschliches, Zarathustra, Nietzsches Platon-Interpretation, teilweise Ecce Homo und die Umwertung der Werte, hielt er an Geburt der Tragödie aber fest. 159 Laut Max Kommerell sei Georges Kenntnis wenig systematisch und mehr auf Ecce homo ausgerichtet geblieben. Dies ist angesichts obiger Belege abzuweisen bzw. zu relativieren. In den letzten Lebens153 Rouge 1930, 25: „Ich war einmal mit George in dessen (Paul Nodnagels, SH) Wohnung, wo uns Nodnagel, der noch die Schule besuchte, aus Nietzsches Zarathustra vorlas.“ Dies ist wohl auf Sommer 1889 zu datieren: (i) Nodnagel war drei Jahre jünger als George laut Karlauf 2008, 65, also 1871 geboren, womit er regulär 1889, kaum viel später maturiert hätte. (ii) George war nach seiner eigenen Matura im März 1888 anderthalb Jahre auf Reisen, kehrte vor Studienbeginn im Wintersemester 1889 nach Bingen zurück, hielt sich erneut im Sommer 1890 in Bingen auf, beide Sommer wären möglich, eher nicht der Sommer 1888. (iii) Die Freundschaft mit Stahl war ab Anfang 1890, die mit Rouge ab Sommer 1890 stark belastet (Karlauf 2008, 72; 113; 115; 122; 158), was zusätzlich für den Sommer 1889 spricht. Folgt man dem, ist hinfällig Karlauf 2008, 293: „George war wohl 1891 durch … Klein auf ihn (Nietzsche, SH) aufmerksam gemacht worden“, denn Wolters und jener undatierte Briefentwurf Georges an Klein, auf die sich Karlauf 2008, 689, Anm.23 beruft, sind schwächere Belege. 154 Landmann 1963, 100: „1892 schon hätte er Nietzsche geschätzt als Orator, als Kämpfer, den man brauchen konnte.“; Komm. George/Coblenz 1983, 7, mit 77, Anm.2 für Datierung: Laut Coblenz habe George „im ersten Gespräch“ mit ihr „einen Satz von Nietzsche so zitiert, als sei ihm eben der Titel entfallen – um sie zu prüfen“. Sie lernten sich „Anfang 189(2)“ kennen, und George war bereits so stark von Nietzsche beeindruckt, dass er ihn zum Prüfstein für eine neue Freundschaft machte. 1895 hielt seine Begeisterung noch unvermindert an, George an Ida Coblenz, 26. Juni 1895, George/Coblenz 1983, 53: „man höre nur wahrhaft große Deutsche (Nietzsche), um zu erfahren…“. 155 Ida Coblenz an George, 18. März 1893, George/Coblenz 1983, 41, mit Zitat aus der 3. Vorrede des Zarathustra, Komm. George/Coblenz 1983, 68. Ebenso in einem Brief an Fritz Kögel von 1894, George/Coblenz 1983, 88, wo sie auf Jenseits von Gut und Böse verweist, und in einem Brief an Richard Dehmel vom 1. August 1895, George/Coblenz, 88, wo sie auf den Zarathustra verweist. 156 George an Hofmannsthal, wohl 31. Mai 1897, George/Hofmannsthal 1953, 116, mit Anm. 258. 157 Blätter für die Kunst 5 (1900/1), 5–6: Nietzsche von S(tefan) G(eorge); 7: Zarathustra von K(arl) W(olfskehl). Übernommene Motive: Raschel 1984, 39. 158 Belegstellen in Weber 1989, 38–40. 159 Zitat: Landmann 1963, 54. Einzelwerke: ebd. 45; 64; 98–9; 100–2; 164. Kritik/Umdeutung: ebd. 23; 115.

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jahren hatte sich George von Nietzsche abgewandt und vermied er es generell, Einflüsse anderer auf sein Werk gelten zu lassen, 160 eine Tendenz, die auch für nietzschekritische Aussagen gilt, wie sie Landmann überliefert. Neben den bereits besprochenen Elementen in Ursprünge, dem rein selbstreflexiven Herrschaftsverständnis und dem Motiv des Prophetentums, wie es in der Selbstinszenierung Georges als Dichter auszumachen ist, 161 gehört zu Georges Übernahmen aus Nietzsches Werk auch die Forderung, aus dem Rausch heraus zu schaffen. 162 In Des sehers wort… wird der Rausch, das Dionysische aus der Geburt der Tragödie, zur Schaffensquelle des georgeschen „sehers“ erklärt. In Ursprünge findet es sich für den Kreis derer „im schilfpalaste“ mit V. 33: „trieb uns der wollust erhabenster schwall“, aufgegriffen. Wolfskehls Dichtung, obwohl nicht grundlos als schwelgerisch kritisiert, würdigte George, denn „ich sehe in ihm den einzigen unter den ‚jungen‘ der die forderung begriffen nicht aus einem erzählchen heraus sondern aus rausch und rhythmus heraus zu schaffen. der nicht wie wir sich durchgerungen sondern nachdem er unsre bildung genossen sofort mit dem neuen beginnt. … W. bringt neues: den versuch einer ornamentalen dichtung. warten wir!“ 163 Da schon in Georges Frühwerk der 1890er Jahre, so sehr es vom französischen Symbolismus geprägt war, die Form vom zu vermittelnden Inhalt abhing, scheint auch dieses nicht in Gegensatz zu Nietzsches Kritik am Nur-Apollonischen zu geraten. Leitbild war für beide die griechische Kultur, überhöht als ‚Hellenentum‘. Nietzsche übte später Kritik, 164 George hielt daran fest. 165 Weiterhin polemisierte nicht nur Nietzsche gegen die Wissenschaften. 166 Die kritische Haltung Georges fasst wohl am Besten

160 Weber 1989, 44. Er unterscheidet vier Phasen der Nietzscherezeption, 44–89. 161 Nietzsche, Zarathustra, NW 6.1, Das Kind mit dem Spiegel, 102, Z. 7–8: „wie ein Seher und Sänger“. Max Weber machte Prophetentum als wesentliches Element des Georgekreises und Ursache der sektiererischen Züge des Kreises aus, Brief Max Weber an Dora Jellinek, 9. Juni 1910, MWG, Abt.2, Bd.6, 559–63. Entsprechend auch die Kapitelüberschriften in Wolters 1930 und die Zeitsetzung „ab 1890“ (das Jahr, nachdem Nietzsche in geistige Umnachtung fiel): Wolters bzw. George, der in Wolters Text stark eingriff (Raschel 1984, 131; Karlauf 2008, 598), inszeniert Nietzsche und George mit fast identischen, quasihagiographischen Motiven. Auch bei Nietzsche findet sich der Rückzug vom eigenen Publikum, Götzen-Dämmerung, NW 6.3, 146; Ecce homo, NW 6.3, 358–9. 162 Nietzsche, Geburt der Tragödie, NW 3.1, passim; Götzen-Dämmerung, NW 6.3, 110–2: Apollinisches und dionysischer Rausch; Karlauf 2008, 333: Maximin als Verbindung beider. 163 Zitat: George an Ida Coblenz, Anfang September 1895, George/Coblenz 1983, 58–9. Kritik an Wolfskehl: etwa Ida Coblenz an Richard Dehmel, 22. August 1895, George/Coblenz 1983, 90; Hofmannsthal an George, 25. Mai 189(7), George/Hofmannsthal 1953, 115: „Ich könnte zu diesen Dichtungen weder früher noch später eine wahre Beziehung finden“; Karlauf 2008, 174–5. 164 Raschel 1984, 74–5 mit 79–81. 165 Raschel 1984, 83–4. 166 Nietzsche, Nachgelassene Fragmente, NW 4.1, 175: „Nur wohin der Strahl des Mythus fällt, da leuchtet das Leben der Griechen; sonst ist es düster. Nun berauben sich die griechischen Philosophen des Mythus; also wie halten sie es in dieser Düsternis aus?“ (= Menschliches Allzumenschliches, NW 4.2, Die Anzeichen höherer und niederer Cultur no. 261: Die Tyrannen des Geistes, 218); Götzen-Dämmerung, NW 6.3, Die Vernunft in der Philosophie, 68–70. Raschel 1984, 77–81; 88–90: Wertschätzung der exakten Wissenschaften.

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das bekannte Diktum „von mir führt kein Weg zur Wissenschaft“, zeigt sich aber auch im Einfluss, den er etwa auf die Arbeiten Friedrich Gundolfs nahm. 167 Neben solchen Ähnlichkeiten und Übernahmen steht Georges kritische Auseinandersetzung mit Nietzsche. 168 Bestehendes einzureißen genügte ihm nicht: „Und wenn die strenge und gequälte stimme / Dann wie ein loblied tönt in blaue nacht / Und helle flut – so klagt: sie hätte singen / Nicht reden sollen diese neue seele!“ Seine Kritik an Nietzsche bündelte er nicht zuletzt am Vorwurf, dass jener keinen Kreis Gleichgesinnter habe um sich scharen können. 169 Der Maximinmythos ist Georges Antwort also nicht nur auf die Kosmiker, 170 sondern auch auf Nietzsches Zarathustra, 171 denn Maximin appelliert vor allem an die menschliche Hingabefähigkeit. 172 Neben Georges 167 Zitat: Salin 1954, 249. George, Stern des Bundes, GA 18, 105; Wolters 1930, 385, „fachliche Schulung und allgemeine Bildung als Verzicht auf gesamtmenschliche Bildung“ seien „im Fach die Häufung des Wissens um des Wissens willen, in der Allgemeinheit … Erkenntnis ohne sinngebende Stufen und Ränge und in beiden Bereichen ein Ausschalten dessen, was erst Erziehung und Unterricht zur höheren Bildung befähigt, des leidenschaftlichen liebenden Verhältnisses von Lehrenden und Lernenden, von … Meister und Sohn“; 478–93; Landmann 1963, 29; 31; 40; 65; 75; 81; 95–6; 98; 114. Groppe, Bildung, 61–5; 70–80; 209–12; 311; 437–79; Karlauf 2008, 444–53; 523; Hoffmann 2009, 70–81; Raschel 1984, 84–91; Schlieben/Schneider/Schulmeyer 2004. Durzak 1974, 67. 168 Kritik Georges an Nietzsche: Raschel 1984, 39–54; Karlauf 2008, 293–6; s.unten. 169 Zitat: George, GA 6/7, 13, Nietzsche, V. 29–32. Ebd. V. 28: „Sich bannen in den kreis den liebe schliesst“; Landmann 1963, 21; 72; 100; Morwitz 1948, 85: „Mitten im Verfall der früheren Welt durfte der Dichter des Teppich des Lebens das neue Reich nicht nur vorahnen, sondern auch selbst betreten“: Anspielung auf Nietzsche, der sich bewusst auf die Rolle des Rufers beschränkte, und Mose, der das Gelobte Land nur sehen, nicht betreten darf. Weber 1989, 57–61 mit Textbelegen; Raschel 1984, 102–3; 120; 123–33. Dass George an diesem Anspruch zuletzt gescheitert war, betont zu Recht Raschel 1984, 118; ähnlich Durzak 1974, 68–9; 74–5; 99: Gundolfkrise; Groppe 2001, 119–25 für innere Gründe. 170 Karlauf 2008, 333–5; bes. 333: „Maximin war Georges Antwort auf die Herausforderungen von Klages und Schuler“, sowie auf Nietzsche. Angedeutet in Morwitz 1960, 337–8 zum Dritten Spruch im Siebenten Ring. 171 Raschel 1984, 54–62; 73: Antwort auf und Nachahmung des Zarathustra; Morwitz 1948, 85: Maximin sei „erster Wohner dieser Welt“.“ 172 Morwitz 1948, 83: „Es ist nicht sinnvoll, Greifbareres über das Zusammentreffen aufspüren zu wollen, als der Dichter selbst in seinen Dichtungen niedergelegt hat.“ Karlauf 2008, 352: „Heilsgewissheit seiner (Georges, SH) dichterischen Sendung“; 359; Groppe 2001, 432–41: Der Mythos sei „sinnstiftende Mitte“ und Ausgangspunkt des georgeschen Bildungsprogramms. Parallelen der Maximinfigur zu Jesus Christus sehen Raschel 1984, 42; 55–7; 103–7; 138 und Kauffmann 2014, 139: Es sei bereits angelegt im Siebenten Ring, wo im Maximinteil auf Gebet I–III direkt Einverleibung folgt, oder in der 3. Strophe von Wallfahrt, wo direkt Bezug auf Maria als Gottesmutter genommen wird. Die Parallele sieht auch Morwitz 1948, 87, wo von einem „Blutopfer“ gesprochen wird wie es üblich sei im „Weltgeschehen in Wendezeiten“. „Nach dem Tod Maximins schafft der Dichter nicht mehr aus dem Sehnen nach dem neuen Reich, sondern aus seiner Mitte und Fülle

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Stefan Georges Kunstsprache in Ursprünge, Verse 38–9

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hohem Selbstgefühl ist wohl auch diese sachliche Differenz als Grund anzusehen, warum Nietzsche in Kreispublikationen zunehmend auf die Rolle eines Wegbereiters für George reduziert wurde. 173 Würdigt Wolfskehl in einem Brief an Ida Coblenz George und Nietzsche als einander ebenbürtige Bildungsereignisse, 174 ist das eine Position der frühen Jahre. Die Kunstsprache der Verse 38 und 39 basiert auf dem Griechischen. Es wird von Stefan George ähnlich verwendet wie ältere Sprachstufen der deutschen Sprache: als Rohmaterial für einen sehr konzentrierten Stil, in dem Sprache bis knapp hinter ihre formalen Grenzen geführt wird, um größere Eindringlichkeit, aber auch größere Genauigkeit der Aussagen zu erreichen. Ähnlich wie das gemeinsame Lesen von Gedichten oder das gemeinsame Besprechen von Manuskripten, 175 hatte auch das gemeinsame Verstehen der georgeschen Kunstsprache eine die Kreismitglieder einende bzw. nach außen abgrenzende Funktion. Sie sollte die Eingeweihten von jenen trennen, die zwar Georges Dichtung kannten, jedoch die abschließende Initiation noch nicht erhalten hatten, die nur George selbst gewähren wollte. Abkürzungen GA: LSJ:

George, Stefan: Sämtliche Werke, 18 Bände, Stuttgart 1982–2013. Liddell, Henry George; Scott, Robert; Jones, Henry Stuart: A Greek-English Lexicon with a Revised Supplement, 9. Auflage, Oxford 1996. MWG: Baier, Horst u.a. (Hrsg.): Max Weber Gesamtausgabe, 47 Bände, München 1984–2020. NW: Colli, Giorgio; Montinari, Mazzino u.a. (Hrsg.): Nietzsche. Werke. Kritische Gesamtausgabe, 52 Bände, Berlin 1967–99. STGA: Stefan George Archiv: Württembergische Landesbibliothek Stuttgart.

heraus. Von nun an wirkt er aus der ‚Kommunion‘ seines Geistes mit dem Geiste Maximins.“; 106: „Die Begegnung mit Maximin hat religiöse Bedeutung. In ihm erkennt der Dichter die Verkörperung Gottes, seine Liebe wird zur Andacht, zum Dienst vor dem Überirdischen. Gott erschien in jenem Augenblick.“; 108: „der Dichter … war Helfer, Deuter und Priester zugleich“. Doch mag Kauffmanns interpretatio christiana des Kreises zu weit gehen, der habe zuletzt die Form einer „ecclesia militans“ angenommen, Kauffmann 2014, 144. Besser Karlauf 2008, 333: Maximin verbinde Dionysisches und Apollinisches. 173 Landmann 1963, 21; 72; 100. Kussernow 1927; Raschel 1984, 63–133; Karlauf 2008, 293–6. Morwitz 1948, 84: Nietzsche beschließe das bürgerliche Bildungszeitalter, das mit Goethe begann, George sei Anfang von etwas Neuem. 174 Wolfskehl an Ida Coblenz, Oktober/November 1896, George/Coblenz, 94: „Ihm (George, SH) hätte Nietzsche begegnen müssen!“ 175 Dazu Durzak 1974, 69–71.

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Stefan Georges Kunstsprache in Ursprünge, Verse 38–9

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Von Liddell Hart und Howard zu Strachan (mit Clausewitz im Gepäck): Disziplingeschichtliche Anmerkungen zur britischen Beschäftigung mit Krieg und Strategie* Michael Jonas

Das Nachdenken über Strategie hat auch in Deutschland eine lange Tradition. In der Regel bemüht man antike Autoren, um von diesen über Clausewitz und dessen ebenso häufig zitierte wie ungelesene dreibändige Schrift Vom Kriege einen als modern bezeichneten Strategiebegriff zu entlehnen. 1 Modernität ist dabei zumeist auch als gleichbedeutend mit Wissenschaftlichkeit verstanden worden. Gegen den Automatismus des antiken Rekurses hat der Jubilar, dem der hier vorgelegte Beitrag gewidmet ist, pointiert darauf hinge­ wiesen, dass die behauptete Genealogie von den antiken Ursprüngen moderner Strategie bestenfalls der verkürzten Lektüre jener Autoren geschuldet sein muss. 2 Aus seiner Deutung des antiken Strategie-Diskurses entwickelt Burkhard Meißner die Forderung nach einem pragmatischen, bewusst nicht disziplin-gebundenen, im Kern nicht-wissenschaftlichen Verständnis von Strategic Studies. Ganz im Sinne der Clausewitz-Interpretation Jominis hebt er dabei den Charakter des Nachdenkens über Strategie als Kunst – der antiken Rhetorik gleichsam entlehnt – hervor, als das Gespräch unterschiedlicher Fachlichkeit und Erfahrungsträger. 3 Im abstraktionsfähigen, am Gegenstand Strategie auch theoretisch interessierten militärischen Praktiker – mit mehr als nur leidlich entwickeltem ‚strategischen Humor‘ – erkennt Meißner daher das Ideal des Zunftvertreters. 4

* Der Verfasser dankt Hew Strachan (Oxford/St Andrews) herzlich für die kritische Durchsicht und ermutigende Kommentierung des Aufsatzes. 1 Die Standard-Edition in der deutschen Ursprungsfassung ist ungebrochen die von Hahlweg 1991. Eine patente Zusammenschau der verschiedenen deutschen Ausgaben seit 1832 bei Müller 2021, 297–99. 2 Im Umkehrschluss erscheint Clausewitz vor diesem Hintergrund noch erschreckend moderner, als dies dessen Selbstbild und Antike-Rezeption nahelegen würden. Man ist versucht, Bernard Brodie beizupflichten, dass es sich bei Clausewitz‘ ‚Vom Kriege‘ nicht nur um das größte Buch – im Sinne des Englischen greatest – über den Krieg handelt, sondern um das einzige große. Vgl. Brodie 1973, 291. 3 Für Jomini 1838 Deutung, vgl. Däniker 1960, 267–84; Shy 1986, 143–85. 4 Meißner 2021a, 199–220; für eine verdichtete Fassung vgl. Meißner 2021b.

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Weniger im deutschsprachigen Raum, in dem sich diese ohnehin rare Spezies systembedingt nur selten findet, als in Großbritannien und – in Verlängerung dessen – auch in den Vereinigten Staaten hat sich die Beschäftigung mit Strategie in eben dieser Form und Tradition besonders niedergeschlagen. Dies lässt sich bereits über eine oberflächliche Sondierung der gegebenen Strukturen und Institutionen sowie über eine summarische Übersicht des mit Strategie befassten ‚Personals‘ veranschaulichen. Keines der etablierten Zentren für Strategic Studies oder – als Variation mit leicht andersartiger Zusammensetzung – War Studies kommt ohne den häufig fundamentalen Beitrag der geschichtswissenschaftlichen Annäherung an die Diskursfelder Krieg, Konflikt und Strategie aus. 5 Institutionell verdichtet lässt sich dies anhand der großen, in der Regel mit einem umfangreichen Personalkörper versehenen Zentren in Glasgow, St. Andrews oder Dublin (UCD) aus den letzten drei Jahrzehnten ablesen, insbesondere aber am International Institute for Strategic Studies (IISS) und Department of War Studies am King’s College in London, die beide u.a. auf Michael Howards Wirken ab den späten 1940er Jahren zurückgehen. 6 Nukleus dieser institutionellen Entwicklung dürfte dabei eine der ältesten Institutionen in diesem Feld sein, das Chichele Professorship for the History of War aus dem Jahr 1909, in dessen Wirkungskreis einer der Nachfolger Howards – Hew Strachan – ab 2003 das Changing Character of War (CCW) Programm der Universität Oxford einrichtete. 7 Das eigentliche Interesse der hier vorgelegten Ausführungen gilt indes weniger der institutionengeschichtlichen Dimension der Strategic Studies in Großbritannien als der Beschreibung ihrer ideenhistorischen Ursprünge und intellektuellen Entwicklung. Damit soll eine erstaunlich eigenständige Denktradition im Bereich der Strategieforschung erschlossen werden, die sich vor dem Hintergrund der doppelten Weltkriegserfahrung herausschälte und auch und gerade auf den US-amerikanischen Strategie-Diskurs wirkte. Im Zentrum stand – und steht ungebrochen – die Beschäftigung mit jenen Klassikern der Strategie-Literatur, die der kürzlich verstorbene anglo-amerikanische Strategie-Denker Colin Gray einmal bewusst polemisch vergröbernd wie folgt beschrieb: „If Thucydi5 Ich verzichte im Folgenden aus pragmatischen Erwägungen größtenteils auf den weiteren, im Kern freilich notwendigen Hinweis auf die War Studies als Variante bzw. Geschwisterdisziplin der Strategic Studies. Hier scheint die ältere Prägung durch die Militärgeschichte noch wesentlicher zu sein, während die Strategic Studies ohne den konstitutiven Bezug zum frühen Kalten Krieg und zur Nuklearfrage nicht denkbar sind. Auch entziehe ich mich – ebenso pragmatisch motiviert – einstweilen der Frage, ob sich die Geschwisterdisziplinen überhaupt als solche bezeichnen lassen. Die Frage also, ob die Strategic Studies Wissenschaft oder Kunst – oder beides – sind, soll im Folgenden nur implizit zur Sprache kommen. In Ermangelung von etwaigen Alternativen nutze ich nichtsdestoweniger den Begriff Disziplin, ab und an auch Wissenschaft und Fach. 6 Zur Institutionsgeschichte des IISS und des Department of War Studies am King’s vgl. Howard 2006, 140–65 sowie Howards Beiträge, wie sie kürzlich posthum versammelt worden sind: Rhode 2020, bes. Kap. 2 u. 22. Auch Brian Boyd, einer der profilierten Schüler Liddell Harts und Howards, hat sich zur Genese des Department of War Studies geäußert: Boyd 2018. 7 Die Chichele Professur, eine von insgesamt fünf ihrer Art, firmierte ursprünglich unter der Denomination ‚Chichele Professorship for Military History‘ und erhielt bei Wiederbesetzung nach dem Zweiten Weltkrieg ihre noch heute gültige Denomination ‚for the History of War‘. Vgl. Hattendorf 1990, 3–61; Howard 2006, 140.

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des, Suntzu, and Clausewitz did not say it, it probably is not worth saying.“ 8 Es ist dabei vor allem die sich nach 1945 stark auffächernde, häufig kontroverse Clausewitz-Rezeption im englischsprachigen Raum, in der sich die Beschäftigung mit Strategie verdichtet. Anhand des sich wandelnden Verständnisses von Clausewitz und dessen systematisierender, in vielerlei Hinsicht interpretationsbedürftiger Annäherung an den Krieg lässt sich daher auch die Disziplingeschichte der Strategic und War Studies in Großbritannien nachvollziehen. Vor diesem Hintergrund machen sich die folgenden Anmerkungen daran, diesen recht eigenen Umgang mit Clausewitz anhand seiner wesentlichen disziplin- und rezeptionshistorischen Entwicklungsschritte zu erfassen. Die Etappen dieser Entwicklung spiegeln sich gleichsam repräsentativ im Wirken vornehmlich dreier Historiker, Basil H. Liddell Hart, Michael Howard und Hew Strachan, deren Arbeiten auch und besonders nachdrücklich auf den im Kern historischen Charakter der Geschwisterdisziplinen Strategic und War Studies hinweisen. Meinen Ausführungen kommt dabei in erster Linie schlaglichtartige Qualität zu – angeleitet vom Bedürfnis zu verdeutlichen, dass der Blick auf nur vermeintlich fremde Traditionen und Entwicklungen bei der Bestimmung und Behauptung einer eigenen Position unabdingbar ist. Großbritannien verfügt – wie Frankreich – über eine historisch gewachsene Tradition der Clausewitz-Rezeption, angefangen mit der ersten Übersetzung von ‚Vom Kriege‘, der 1873 erstmals erschienenen Übertragung von J. J. Graham, deren von F. N. Maude verantwortete Herausgabe von 1908 lange die eigentliche Referenz unter den ClausewitzÜbersetzungen in englischer Sprache blieb. 9 Die eigentliche Institutionalisierung und Übersetzung in eine mit Strategie wissenschaftlich befasste Disziplin datiert indessen auf die Zeit nach 1945 und ist ab ovo mit dem Aufkommen des Kalten Kriegs und der Nuklearfrage verwoben. Bernard Brodies hellsichtige Deutung – heute ein Allgemeinplatz – machte bereits früh deutlich, wie fundamental die Atombombe und die mit dieser aufgeworfenen Grundsatzfragen den strategischen Diskurs der Nachkriegszeit veränderten: „Thus far the chief purpose of our military establishment has been to win wars. From now on its chief purpose must be to avert them. It can have almost no other useful purpose.“ 10 Stichwortgeber der um diese Erkenntnis entwickelten Disziplin waren dabei weniger die aufkommende Politikwissenschaft oder ihre Teil- und Unterdisziplinen, namentlich die Internationalen Beziehungen (IB), wie sie sich seit der Zwischenkriegszeit von Aberystwyth und London aus verbreiteten, sondern die Geschichte und hier im 8 Gray 2007, 58. 9 Mit populären Neuauflagen 1911, 1918, 1940, 1962 und 1966. Clausewitz 1873; Neuauflage mit neuer Einleitung, Clausewitz 1908. Maude garnierte seinerseits seine Herausgabe der Übersetzung Grahams mit sozialdarwinistischen, imperialistischen Kommentaren, die die sich anschließende Clausewitz-Rezeption des Werks in der anglo-amerikanischen Öffentlichkeit bis in die 1970er Jahre überformte. Inhaltlich am präzisesten operiert die Übersetzung aus der Feder von Jolles 1943. Als eigentliche Standardübersetzung hat sich, wie eingangs erwähnt, die umfängliche Arbeit und Neuinterpretation von Michael Howard und Peter Paret von 1976/1984 etabliert. Zum Kontext vgl. die exzellente Studie von Bassford 1994a, insbesondere Kap. V, 56–60, der insbesondere Howard und Paret kritisiert und Jolles‘ Übersetzung favorisiert. 10 Brodie 1946, 79; Howard 1981, 3–17.

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Kern die Militärgeschichte der jüngeren Zeit, ja der unmittelbaren zeitgeschichtlichen Kriegserfahrung, die weit in die Gegenwart hineinragte. 11 Als Schlüsselfiguren erwiesen sich dabei Historiker, die aus naheliegenden kollektivbiographischen Gründen über eine mehr oder minder dichte eigene Anschauung des Krieges verfügten. Hierbei zerfällt die kollektive Kriegserfahrung und deren anschließende disziplinäre wie institutionelle Übersetzung im Wesentlichen in zwei generationelle Reaktionsmuster. Die vom Ersten Weltkrieg betroffene Generation von Akademikern erschien vergleichsweise pazifistisch geläutert; sie bemühte sich nach Kräften, über die Etablierung einer eigenen Disziplin – der Internationalen Politik bzw. ihrer Beziehungen – und über das häufig leidenschaftliche Engagement in internationalen Organisationsformen wie dem Völkerbund zur Befriedung der Welt und zur politischen Tabuisierung und völkerrechtlichen Illegalisierung des Krieges einen Beitrag zu leisten. 12 Dies gilt, wenn auch zweifelsohne differenzierter, selbst für die Gründungsfigur des strategischen Diskurses in Großbritannien, Basil Liddell Hart, der sich in seinen Schriften der Zwischenkriegszeit der systematischen Analyse des gewesenen Krieges verschrieb und dabei zugleich Clausewitz und dessen ‚gedankenlose‘ Rezeption für das ‚Gemetzel‘ des Weltkriegs verantwortlich machte. 13 Liddell Harts zentrales strategisches Vehikel bildete der sogenannte ‚Indirect Approach‘; seine Theorie folgt dabei im Kern den klassischen Vorbildern der ‚vegetianischen‘ Schule, in deren Zentrum bekanntlich die systematische Vermeidung der offenen Feldschlacht zugunsten einer ‚indirekten, ökonomischen Kriegführung‘ steht. 14 In Absetzung von Vegetius’ Diktum Qui desiderat pacem, praeparet bellum wird in Liddell Harts Strategie der bewussten Umgehung, des Ausmanövrierens und der Destabilisierung gegnerischer Kräfte auch das kollektive Trauma der Abnutzungskämpfe der Westfront des Ersten Weltkriegs erkennbar. Schlimmer als der Krieg, so hat es der Kriegsdienstverweigerer Robert Lowell formuliert, sei nur das Massaker – und eben in diesem Sinne war Liddell Hart nicht notwendigerweise Pazifist, sondern Opponent jenes um sich greifenden Massakers, zu dem der Krieg insbesondere an der Westfront im Verlauf der Jahre 1914 bis 1918 verkommen war. Unabhängig davon gilt für Liddell Hart wie für die gesamte Alterskohorte, die in Großbritannien unter der Bezeichnung ‚Lost Generation‘ subsumiert wird, die Beobachtung von Richard Crossman: „There is a streak of pacifism in every intelligent European soldier whose character was shaped by the Western Front in the First World War.“ 15 Für die Gründergeneration der in Großbritannien (und Nordamerika) mit Strategie befassten Wissenschaftler hingegen war nicht der Erste Weltkrieg und zumal dessen Westfront, sondern der in vielfacher Hinsicht divergente Zweite Weltkrieg das eigentlich 11 International relations (IR), International Affairs (IA) und International Studies (IS) als vergleichsweise austauschbare begriffliche Referenzen für die sich etablierende Disziplin. 12 Vgl. zuletzt u.a. Stöckmann 2022; Pemberton 2020. 13 Liddell Hart 1954 (Original 1941, ursprüngliche Fassung des I. Teils als ‚The decisive wars of history‘, 1929), 293 (Zit.). Zu Liddell Harts ambivalentem Verhältnis zu Clausewitz vgl. Bassford 1994b, 319–20; Strachan 2007, 15–16. 14 Vgl. Berwinkel 2009, 11–44, 38 (Zit.); Berwinkel: 2005, 27–30. 15 Crossman 1958, 224, hier zit. nach Danchev 1999, 39f.

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prägende Erlebnis. Zur zentralen Figur dieser Alterskohorte wurde dabei mit Michael Howard jemand, der sich durchaus als Schüler, aber nicht minder konsequent als Korrektor Liddell Harts und als dessen intellektuelles Gegengewicht vor allem in Fragen der Clausewitz-Interpretation begriff. Howard hat seine Autobiographie dabei aus guten Gründen um jene gleichsam formative Funktion gebaut, die sein soldatischer Hintergrund für den weiteren Werdegang des Wissenschaftlers besaß. 16 Auch und gerade die Schwerpunkte und Forschungsinteressen des Akademikers Howard sind im Grunde nicht von dessen beruflicher Identität als Offizier und dem Erfahrungshorizont des Weltkriegs zu trennen. Nicht nur Howard war dieser Zusammenhang bewusst; pointierter noch hat ihn Hew Strachan anlässlich des achtzigsten Geburtstags von Howard herausgestrichen, wenn er darauf hinweist, dass nicht nur die gesamte Generation Howards die Kriegserfahrung teilte, sondern dass die ihm nachfolgende Alterskohorte im akademischen Betrieb ebenso nachdrücklich von der Abwesenheit des Krieges als biographischem Schlüsselerlebnis geprägt worden sei. 17 Bei aller Assoziation seines Wirkens mit verwandten Disziplinen wie den Strategic Studies und den War Studies verstand Howard sich in erster Linie als Militärhistoriker in eben jenem Sinne, den man heute mit dem Rubrum ‚modern‘ versieht. Zutreffender scheint eine eher unübliche, weil missverständliche Formulierung, nämlich ‚Historian of War‘, dessen eigentliches Interesse dem Verhältnis von Krieg, militärischer Macht und Gesellschaft galt – ‚War and Society‘ und beides „in width, in depth and in context‘“, wie er dies programmatisch bereits früh erfasst hatte. Die Substanz dieser Erkenntnis spiegelte sich ein ums andere Mal in den Würdigungen anlässlich seines Todes im November 2019. 18 Howard formulierte hier nicht nur einen konzeptionellen Modernisierungsanspruch der Militärgeschichte als historischer Teildisziplin; er setzte das von ihm eingeforderte Bemühen um Kontext auch beispielhaft um. Von der noch heute faszinierenden Beschäftigung mit dem französisch-preußischen Krieg von 1870–71 bis zur offiziellen britischen Geschichtsschreibung des Zweiten Weltkriegs, zu der Howard nicht zuletzt eine begriffliche Neufassung des schillernden Terminus ‚Grand Strategy‘ beitrug – sämtliche der frühen militärgeschichtlichen Arbeiten bemühen sich um die kontextualisierende 16 Howard 2006, 41–119. 17 Strachan 2020a, 538–539. Dies gilt im Übrigen in vergleichbarer Intensität für die deutsche Militärgeschichte der Nachkriegszeit, folgt man dem „von Rolf-Dieter Müller kolportierte[n] Bonmot eines bekannten deutschen Zeithistorikers, wonach es ausgerechnet ehemalige Zivildienstleistende seien, die sich bar militärischer Grundkenntnisse vorzugsweise auf dem Feld der Militärgeschichte tummelten.“ Hier zit. nach Müller 2012. 18 Vgl. Howard 1983², 195–197; Strachan 2020a, 537. ‚War and Society‘ prägnant abgebildet und interpretiert in Heuser 2020, 112–19. Vgl. auch die posthume Herausgabe der von Howard veröffentlichten Beiträge: Rhode 2020, bes. 7–10. Zweifelsohne ist die Substanz dieser Erkenntnis bereits in Hans Delbrücks Grundlegung einer Geschichte des Krieges als Subdisziplin einer modernen Geschichtswissenschaft angelegt, vgl. Delbrück 2003. Zeitlich parallel zu Howard bricht sie sich in Frankreich und Deutschland in durchaus vergleichbarer Manier Bahn, so beispielsweise in Wohlfeil 1967, 21–29. Zu Delbrück vgl. Deist 1998, 371–84; Lange 1995. Die ungebrochen beste Standortbestimmung für die deutsche Militärgeschichtsschreibung und Geschichtswissenschaft in einer Reihe von Essays und Aufsätzen in: Kühne, Ziemann 2000.

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Kartierung des Horizonts, vor dem sich konkretes operatives Handeln vollzog. 19 Diese heute als selbstverständlich angesehene Praxis von Militärgeschichte schloss für den militärischen Praktiker – den ehemaligen Soldaten Howard – die Beschäftigung mit der operativen Kleinteiligkeit regimentshistorischer Traditionen zwar nicht aus; Howard billigte dieser nach 1918 und erneut nach 1945 wuchernden Regimentsgeschichte allerdings eine andere, mit wissenschaftlichen Kriterien nicht fassbare ‚sozialpsychologische Funktion‘ zu. Sie sei ‚Nursery History‘, schrieb Howard ohne jeden pejorativen Unterton, an deren Mythen sich der unerprobte Soldat aufrichten kann, „even when he knows, with half his mind, that it is untrue. […] Breaking children in properly to the facts of life is a highly skilled affair, and the realities of war are among the most disagreeable facts of life that we are ever called upon to face.“ 20 Dem mit Krieg befassten Historiker komme der eigene Gegenstand insofern entgegen, als der Krieg – trotz der Vielfalt und Vielschichtigkeit seiner Erscheinungsformen – im Grundsatz eine der wenigen Konstanten der Menschheitsgeschichte sei, so Howard in Anlehnung an Clausewitz. Mögen sich auch die Formen radikal wandeln, der Charakter, die Natur des Krieges sei von Dauer: „All [wars] are fought […] in a special element of danger and fear and confusion. In all, large bodies of men are trying to impose their will on one another by violence; and in all, events occur which are inconceivable in any other field of experience.“ 21 Zu der subjektiven, individuellen Natur des Gegenstandes, tritt hier ein generalisierendes, objektives Moment hinzu. Die objektivierende Qualität des Krieges ermögliche es der Militärgeschichte, überepochal zu arbeiten, den Blick auf das Prozessuale zu schärfen und den diachronen Vergleich radikaler zu suchen, als andere historische Teildisziplinen dies könnten (von anderen Wissenschaften ganz zu schweigen). Zugleich ist die Konstanz des Krieges in Howards Sicht eben jenes Element, das eine sich in gegenwartspolitischer Abstinenz übende Geschichtswissenschaft mit der Gegenwart von Krieg und Konflikt verknüpft, ganz im Sinne der Beobachtung Collingwoods, dass der Wert der Geschichte sich in dem gleichsam anthropologischen Wissen zeige, „ […] what man has done and thus what man is.“ 22 Howard war sich dabei stets bewusst, dass der Gegenwartsbezug einer Geschichte von Krieg und Konflikt bestenfalls kontextuell sein könne – und nicht pädagogisch im Sinne des vielbeschworenen und vor allem in Militärkreisen zum Klischee geronnenen ‚Lessons learnt‘. Während er den generalstabshistoriographischen Ansatz, aus der Geschichte von Schlachten und Scharmützeln Lehren ziehen zu wollen, als ‚mißbräuchliche‘ Überfrachtung, ja als methodologische Pervertierung der Disziplin ablehnte, hielt Howard es im Allgemeinen mit Jacob Burkhardts ‚neuzeitlich bewegter‘ Variation von 19 Howard 1961; Howard 1967; Howard 1970. In typisch selbstironischem Unterton die Rückschau Howard 2001, 1–10. 20 Howard 1983, 189; auch in: Strachan 2020a, 539–40. 21 Howard 1983, 194–95. 22 Collingwood 1946, 10.

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Ciceros Diktum Historia magistra vitae: „Wir wollen durch Erfahrung nicht so wohl klug (für ein andermal) als vielmehr weise (für immer) werden.“ 23 Howards Verständnis einer modernen Militärgeschichte als historischer Disziplin orientiert sich in seinen Grundlagen an Clausewitz‘ Vorstellungen vom Charakter des Krieges. Über den Bezug zu Clausewitz als gegenwartsrelevantem Denker erschließt er sich die Historiographie und Theorie des Krieges und in Verlängerung dessen auch einen neuen Umgang mit Strategie. Eine Rehabilitierung Clausewitz‘ erschien nach 1945 im doppelten Sinne erforderlich. Zum einen hatte die ideologische Engführung der Clausewitz’schen Gedanken auf dessen Topos vom ‚absoluten Krieg‘ Autor und Werk als vermeintlichen Stichwortgeber des ‚totalen Krieges‘ und damit des Nationalsozialismus kontaminiert. 24 Zum anderen – und von ersterem nicht unbeeinflusst – erschien Clausewitz den jüngeren Kriegstheoretikern im anglo-amerikanischen Raum nicht nur als obskur und unlesbar, sondern als in vielem historisch überlebt. 25 Dies änderte sich erst mit der von Howard und Peter Paret verantworteten Neuübersetzung von Clausewitz‘ ‚Vom Kriege‘, erschienen im Jahre 1976 bei Princeton University Press, deren Breitenwirkung auch an der gleichsam kongenialen, wenn auch recht eigenen Übertragung hing. 26 Beide hatten über die systematische Beschäftigung mit Clausewitz als gleichsam ‚ewigem‘ Theoretiker des Krieges intellektuell zusammengefunden, Paret anfänglich als Schüler des nur vier Jahre älteren Howard. Letzterer betreute Parets Londoner PhD zu Yorck und den Preußischen Reformen zwar der Form nach, ohne sich indes als Betreuer im engeren Sinne zu fühlen. Paret, ein aus großbürgerlichen Verhältnissen stammender Berliner, war 1937 in die USA emigriert. Nach seiner Graduierung in London kehrte er 1960 in die Vereinigten Staaten zurück, um dort an der University of California, Davis, ab 1969 in Stanford und ab 1986 schließlich in Princeton zu lehren. 27 Howard selber avancierte nach langjähriger Tätigkeit am King’s College in London – u.a. als Professor und ab 1962 auch als Gründungsdirektor des Department of War Studies – 1977 zum Chichele Professor for War Studies, dann 1980 (und bis 1989) zum Regius Professor of Modern History an der Universität Oxford. 28 Trotz offensichtlicher Koordinationsprobleme schufen Howard und Paret, anfänglich assistiert vom Diplomaten Angus Malcolm, eine gleichsam kongeniale Übertragung des Clausewitz’schen Opus magnum, das im englischen Sprachraum – nach anfänglichem Interesse im ausgehenden 19. Jahrhundert – intellektuell lange brachgelegen hatte. Die 1976 von beiden vorgelegte Übersetzung war bewusst nicht als solche angelegt, sondern bemühte sich, Clausewitz‘ als obskur wahrgenommene Prosa in ein sinnstiftendes, die Substanz

23 Howard, 1983, 197; Cicero, De oratore 2,9,36 u. 12,51; Koselleck 1989, 38–66. 24 Bassford 1994b, 319–36. 25 Zuletzt Keegan 1993, van Creveld 1991 und Kaldor 1999, deren Einlassungen zu Clausewitz von Strachan 2013a, 48–51, und Sibylle Scheipers 2016, 8, Bassford 1994b, 319–36, und Gantzel 2002, 25–50, überzeugend entkräftet werden. 26 Clausewitz 1976/1984. 27 Daum 2014. 28 Zu Howards Biographie vgl. Howard 2006, 194–210; Strachan 2020a, 536–51.

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des Arguments abbildendes Englisch zu übertragen. 29 Noch heute gilt ‚On War‘ zweifelsohne als die am ehesten zugängliche, stilistisch meisterhafte Übersetzung von ‚Vom Kriege‘, die durch ihre Tendenz zur Vereinheitlichung und nachträglichen Herstellung von Stringenz und Kohärenz selbst deutschen Muttersprachlern verständlicher erscheint als der Ursprungstext. Eben hier liegt freilich auch ein vergleichsweise gravierendes Problem. Ganz im Sinne Howards sahen sich die nachfolgenden zumeist britischen Vertreter der Zwillingsdisziplinen Strategic und War Studies in der Pflicht, zwischen akademischer Welt und Regierungskosmos, zwischen der wissenschaftlichen Beschäftigung mit Strategie und deren konkreten, in die militärpolitische Praxis übersetzten Weiterungen zu vermitteln – stets in dem Bewusstsein, dass das Verhältnis zwischen Geschichtswissenschaft und Strategic Studies weit eher als ‚collision‘ denn als ‚collusion‘ zu verstehen sei, wie Hew Strachan das Konfliktfeld treffend kennzeichnet. 30 Noch pointierter kritisiert Beatrice Heuser die Defizite des nach Howard stark politikwissenschaftlich überformten Felds der Strategic Studies. Der ursprünglich integrationswissenschaftliche, um kontextuelle Breite und historischen Tiefgang bemühte Charakter der Disziplin sei inzwischen einer theoretisch überfrachteten ‚monoglot illiteracy‘ ohne historische Fundierung gewichen. „Historical evidence – particularly anything that happened more than about 30 years ago – is disregarded or brushed aside, myths are created and happily passed on if they fit theories, and the names of obscure scholars and the jargon-heavy, and worse still monocausal, theories they have produced reign supreme.“ 31 Howards Selbstverständnis als Akademiker stand – und steht – jener selbstgewählten intellektuellen Ghettoisierung diametral entgegen, wie sie in den politikwissenschaftlichen Subdisziplinen IB und deren mannigfachen sicherheitspolitischen Geschwistern etabliert ist. Seine Forderung nach Anschaulichkeit in der Darstellung sollte dabei keineswegs nur im methodologischen Sinne verstanden werden; sie ist vielmehr Ausdruck eines Wissenschaftsethos, das implizit auf Popper und dessen kollektive Inpflichtnahme der Intellektuellen der Öffentlichkeit gegenüber rekurriert und in der britischen Geschichtsschreibung lange Zeit als Ideal galt. 32 Unabhängig von der Frage, ob man Heusers ebenso pointierter wie pessimistischer Zustandsbeschreibung der britischen Strategic und War Studies in Gänze beipflichten mag, wird in disziplinhistorischer Perspektive eines deutlich: Howard und die auf ihn folgende, von ihm wesentlich geprägte Akademikergeneration institutionalisierten und konsolidierten den Strategie-Diskurs nicht nur, sondern ermöglichten der Disziplin eine fortgesetzte, 29 Howard 1967/1984, 27–44; zur Debatte um die Übersetzung vgl. Sumida 2014, 271–331; Paret 2014, 1077–80; Honig 2007, 57–73. 30 Strachan 2020b. 31 Heuser 2020,19. Trevor-Ropers Zitat, auf das Heuser Bezug nimmt, wird von Michael Howard in dessen Antrittsvorlesung in Oxford erwähnt, vgl. Howard 1991, 18. 32 Am schärfsten verdichtet in Poppers Auseinandersetzung mit Habermas und Marcuse, Popper 1984, 99–113.

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streckenweise wirkmächtige Präsenz im politischen und im öffentlichen Raum, die selbst den Kalten Krieg und die Herausforderungen der Zeit danach überdauerte. In der multipolaren Realität unserer Zeit waren und sind es schließlich nicht (mehr) die Strategic Studies, die sich gegen den Vorwurf zu behaupten haben, in einer universal befriedeten Welt obsolet geworden zu sein. 33 Wenn die wachsende Infragestellung unipolarer US-Hegemonie und der damit einhergehende Zerfall liberal-teleologischer Fortschrittserwartungen etwas deutlich gemacht haben, dann die Kontinuität von Krise, Konflikt und nicht zuletzt Krieg als systemischen, gleichsam historisch-anthropologischen Konstanten. Optimismus erschien ‚neoklassisch-realistischen‘ Exponenten der strategischen Wissenschaften wie Colin Gray bereits mit der Jahrtausendwende als potentiell ‚letal‘. 34 Der ahistorischen ‚Erwartungseuphorie‘ setzt eine historisch unterlegte und zugleich öffentlich engagierte Strategiediskussion ein wesentliches Korrektiv entgegen. 35 An die älteren Militärwissenschaften erinnernd und doch fundamental gewandelt, kommt den Strategic und War Studies dabei nicht nur ein transdisziplinärer, sondern ein integrationswissenschaftlicher Charakter zu, der weit über ansonsten eng gesetzte Fachgrenzen hinaus wirkt. Über die institutionelle Konsolidierung hinaus verfügen auch die zentralen Vertreter des Fachs über ein wesentlich ausgeprägteres Profil und ein gleichsam naturgemäß wirkendes Gewicht in der politischen Debatte, das den wenigen kontinentaleuropäischen Pendants in der Regel abgeht. Auch hier scheint sich – gegen den deutlichen Trend politikwissenschaftlicher Unterwanderung – die historische Annäherung an Krieg, Konflikt und Strategie zu behaupten, nicht zuletzt mittels der systematischen Beschäftigung mit Clausewitz und der Clausewitz-Rezeption. Neben Lawrence Freedman und Beatrice Heuser, deren Arbeiten Clausewitz konsequent in den Zusammenhang einer erweiterten Geschichte des Umgangs mit Strategie einbetten, wäre hier in erster Linie auf Hew Strachan und dessen Arbeiten zu Clausewitz hinzuweisen. 36 Als einer der Nachfolger Howards auf der Chichele Professur gehört Strachan – auch nach seinem Weggang an die Universität von St. Andrews 2015 – zu den wirkmächtigen Stimmen in der Frage der Neuausrichtung der britischen Verteidigungspolitik vor dem Hintergrund sich wandelnder internationaler und nicht zuletzt gesellschaftspolitischer Gegebenheiten. 37 Es spricht in diesem Zusam33 Betts 1997, 7–33. 34 ‚Neoklassischer Realismus‘ hier als Selbstzuschreibung einer theoretisch wie schulisch aus den Fugen geratenen Politikwissenschaft, deren analytische Durchdringung Gray selber als Form des ‚intellektuellen Masochismus‘ bezeichnet. Vgl. Gray 1999 u.a. 161–62, 181–82. 35 Der Begriff der Erwartungseuphorie geht auf den Auricher Philosophen Lübbe 1994, 6, zurück, der diese vergleichsweise früh und hellsichtig auf den illusionsbehafteten deutschen Umgang mit der Europäischen Union bezogen hat, lange vor u.a. Joschka Fischers Humboldt-Rede v. 12. Mai 2000 ‚Vom Staatenverbund zur Föderation – Gedanken über die Finalität der europäischen Integration‘. 36 Freedman 2013; Heuser 2002; Heuser 2010; Heuser 2017. 37 Neben seinem aktiven Wirken als Berater verschiedener nationaler Sicherheitsgremien, u.a. im Joint Committee on the National Security Strategy, erscheint dabei vor allem seine historische Herleitung des Verhältnisses von Militär, Politik und Gesellschaft zentral, dessen Analyse und Diskussion er bewusst bis in die Gegenwart verlängert. Vgl. Strachan 1997; Strachan 2000; Strachan 2013b; und die gesammelten, häufig einflussreichen Essays, Aufsätze und Interventionen in Strachan 2013c.

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menhang zweifelsohne für die Breite und den Einfluss seines Werks auch und gerade als Historiker des Ersten Weltkriegs, dass sich bereits erste Ansätze zu einer gewissermaßen metahistorisierenden Einordnung der Arbeiten Strachans finden. 38 Für die hier entwickelte historiographie- und rezeptionsgeschichtliche Argumentationsebene scheint dabei vor allem Strachans Korrektur jener Lesart von Clausewitz‘ ‚Vom Kriege‘ zentral, wie sie von Howard und Paret einflussmächtig im öffentlichen Raum verankert wurde und sich in erwartbar verballhornter Form insbesondere im anglo-amerikanischen (und nicht zuletzt im deutschen) Diskurs festgesetzt hat. Mit Strachans historisierender, philologisch geschulter Wiedererschließung von ‚Vom Kriege‘ liegt nicht nur eine ‚revisionistische‘ Quellen- und Historiographiekritik vor, sondern ein programmatisch ambitioniertes Bemühen um eine disziplinäre Neupositionierung der Strategic Studies in historischer Perspektive. 39 Strachans Kritik richtet sich dezidiert gegen die ahistorische Interpretation des Politischen bei Clausewitz durch dessen Übersetzer Howard und Paret. Dadurch erfahre Clausewitz‘ originäres Verständnis von Politik eine unzulässige Verengung, eine gegenwärtigen Befindlichkeiten entlehnte Überdetermination. 40 Diese Verengung hatte ihre Gründe und war von den Übersetzern in der begleitenden Kommentierung und Kontextualisierung des Werks kommuniziert worden. Sie geht zurück auf Howards und Parets Auffassung, dass es sich beim sogenannten Ersten Buch von ‚Vom Kriege‘, in dem sich Clausewitz’ prominente Diskussion des Verhältnisses von Krieg und Politik findet, um den einzigen intellektuell abgeschlossenen Abschnitt des Gesamtwerks handele. 41 Damit erhielt die Howard/Paret-Übersetzung eine Schlagseite zugunsten des Politischen, entgegen der werkimmanenten Offenheit des Originals. In der Unterstellung, Clausewitz‘ Formulierung vom Krieg als der Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln deute auf die Politikbedürftigkeit des Krieges und damit auch auf dessen Einhegung hin, spiegele sich – so Strachan – in erster Linie die ahistorische Rückprojektion liberaler Rationalisierung aus der Hochphase des Kalten Krieges, nicht jedoch die zeitgenössische Erfahrung 38 Vgl. die Beiträge zum Werk und Wirken Strachans von Adam Roberts, Sybille Scheipers, Anthony King, Holger H. Herwig und Jonathan Boff im Sonderheft von Sage Publications, Ltd. (Hrsg.) 2020. 39 Scheipers 2020, 560–74, argumentiert dies überzeugend. 40 Strachan 2013a, 46–63; Strachan 2007, u.a. 102–105. Im Bemühen um Prägnanz wird hier die kontroverse Debatte um Clausewitz’sche Trinitätsvorstellungen vom Krieg nicht resümiert, jene ‚wunderliche Dreifaltigkeit‘ aus (1) Gewalt, Haß und Feindschaft als ‚blindem Naturtrieb‘ essentiell dem Volk zugehörig, (2) Zufall und dem Umgang damit in Form ‚freier Seelentätigkeit‘, von Clausewitz dem Feldherrn und der Armee zugeschrieben, und schließlich (3) der vermeintlichen Rationalität des Regierungshandelns. Clausewitz, Vom Kriege, Buch 1, Kap. 1, § 28, 212–213. Aus der einschlägigen Literatur vgl. die analytisch dichte rezeptions- und diskurshistorischen Habilitation von Herberg-Rothe 2001, u.a. 98–100, 149–76; Heuser 2002, 52–59. 41 Vgl. in dieser Hinsicht vor allem Paret 1967/1984, 3–26; Paret 1985; Howard 1967/1984, 28. Howard/Paret nähern sich in dieser Frage Aron1976. Diese Deutung ist im deutschsprachigen Raum zuerst von Hahlweg 1980, 1–172 widerlegt worden; Hahlweg 1966, bes. 23–31. Zur weiteren Kritik vgl. Gat 1989, 255–63; Strachan 2007, 71–76; Strachan 2013a, 53; Herberg-Rothe 2001, 224–39; Heuser 2002, 4–12. Eine Neuinterpretation der Genese von ‚Vom Kriege‘ nähert sich auf Grundlage neuer Funde im Hahlweg-Nachlass der Deutung Parets (und Arons) an, vgl. Donker 2016, 101–17.

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dieses komplexen Beziehungsgeflechts. 42 Clausewitz selber habe das Verhältnis von Politik und Krieg als gleichsam gegenläufig kennengelernt und begriffen, nicht zuletzt über die prägende, weil so unmittelbare Erfahrung der Revolutions- und Napoleonischen Kriege. Hier begegne uns Politik eben nicht als übergeordnete Kontrollinstanz zur Vorgabe strategischer Prämissen im Krieg, sondern weit mehr als Katalysator und eskalierendes Moment. Auch in der vermeintlichen Nachordnung des Krieges der Politik gegenüber erkennt Strachan primär das Wirken gegenwartspolitischer Befindlichkeiten, die eher den „demokratischen Normen zivil-militärischer Beziehungen“ entsprechen als Clausewitz’ eigener Aussageabsicht und zeitgenössischer Erfahrung. 43 Der moderne, von Clausewitz als ‚absolut‘ – und nicht oder nur bedingt als ‚total‘ – empfundene Krieg, ist, folgt man Strachans Interpretation, seinem Naturell nach ‚ganz‘, nicht jenes ‚Halbding‘, als das er noch vor der Französischen Revolution und dem Aufkommen moderner Politik erschienen wäre. 44 Die Revolution und Napoleons Kriege bildeten dabei für Clausewitz den eigentlichen Ausdruck eines fundamental gewandelten Staats- und Verwaltungsverständnisses, in dem sich ein modernes Verhältnis von Regierung und populärer Mobilisierung und Identifikation Bahn brach. In Strachans Clausewitz-Interpretation, die ihrerseits auf Werner Hahlwegs Vorarbeiten rekurriert, lässt sich Krieg als dynamisches, umfassendes, ja absolutes Phänomen nicht mehr ausschließlich instrumentell deuten, also als Vehikel zur Umsetzung politisch-strategischer Vorgaben. Stattdessen erscheint Krieg als existentielles Phänomen, dessen transformativer Dynamik sich auch die Politik zu unterwerfen hat. Strachans Lesart kehrt damit die allenthalben perpetuierte Vorstellung von einer vermeintlichen Binnenhierarchie im Verhältnis von Politik und Krieg kurzerhand um. Statt Krieg als integralen Bestandteil eines verabsolutierten Politikbegriffs aufzufassen, integriert ein solcherart gelesener Clausewitz die Politik in eine ganzheitlich verstandene Auffassung vom (modernen) Krieg. Über die ‚politische Instrumentalität‘ des Krieges hinaus, wie sie die jüngere Rezeption beherrscht, kommt in Strachans historisiertem ‚Clausewitz‘ die ‚historische Variabilität‘ dieses ‚wahren Chamäleons‘ zur Geltung. 45 So sehr der Krieg also idealiter auch als Instrument von Politik gedacht werden kann (und sollte), in der Substanz wohnt diesem – Strachan folgend – eine ab ovo weniger fixierte, politisch unkontrollierbare Natur inne: „In other words war itself shapes and changes policy.“ 46 Strachans Neuerschließung des Clausewitz’schen Klassikers deutet das Potential einer historischen Annäherung an das Verhältnis der unterschiedlichen Komponenten auf zumindest drei Ebenen an: erstens ersetzt er die den Befindlichkeiten der Nachkriegszeit entlehnte Vorstellung von der Politikbedürftigkeit von Krieg und Strategie durch die 42 Clausewitz, Vom Kriege, Buch 1, Kap. 1, § 24, 210; Strachan 2007, 25–27; Strachan 2013a, 51–54; Honig 2007, 57–73. 43 Strachan 2013a, 55. 44 Clausewitz, Vom Kriege Buch 8, Kap. 6, B, 953; Strachan 2013a, 53–55; Wehler 1969, 220–48; Herberg-Rothe 2001, 88–90. 45 Clausewitz, Vom Kriege, Buch 1, Kap. 1, § 28, 212. ‚Instrumentalität‘ bzw. ‚Variabilität‘ nach Münkler 2005, 385–90, der in seiner äußerst differenzierten Interpretation ansonsten größtenteils Howard/Paret folgt. Vgl. auch Echevarria 2007, 84–97; Bassford 2007, 74–90. 46 Strachan 2013, hier 55.

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Erkenntnis, dass Regierungshandeln Krieg und Politik zu harmonisieren habe – mehr noch, dass Politik dem Krieg nicht seine wahre Natur zu diktieren habe (und dies auch nicht könne), sondern Politik sich – in Umkehrung dessen – stets eben jener wahren Natur des Krieges zu versichern hätte. 47 In Verkehrung der Forderung von Klaus Naumann könnte man konstatieren, dass sich aus dem ebenso dynamischen wie komplexen Widerspiel von Krieg und Politik, wie es Clausewitz für uns entwickelt, die Notwendigkeit einer ‚Politikbedürftigkeit des Militärischen‘ nur bedingt ergibt. Weit eher verlangt Clausewitz vom Politischen, den Krieg und das Militärische adäquat zu erfassen und in eine wie auch immer sich konkret ausformende, stets an den gegebenen situativen Zwängen und am Bedingungsrahmen orientierte Strategie zu übersetzen. 48 Zweitens veranschaulicht Strachans Umgang mit Clausewitz die Bedeutung der begriffssprachlichen, häufig begriffshistorischen Ebene der mit Krieg, Politik und Strategie arbeitenden Wissenschaften. Ohne den historisierenden Zugang zu den Clausewitz’schen Begriffen von Krieg und Politik ergibt auch die Beschäftigung mit Clausewitz – abseits des Formel- und Floskelhaften – keinen Sinn. 49 Damit steht und fällt im Grunde auch der Versuch, Clausewitz als Stichwortgeber für die Legitimierung und strategische Orientierung der eigenen militärisch-politischen Vorhaben zu bemühen, wie Strachan dies unter Hinweis auf die fatale, weil ihrer Historizität entkleidete Praxis unter führenden US-Militärs in der Zeit nach dem Kalten Krieg darlegt. 50 Die naheliegende Bezugnahme zum defizitäreren deutschen Beispiel sei hier nur erwähnt. Sie findet sich diagnostisch klar bei Heuser und in einer neueren Schrift aus der Feder von Christian Th. Müller entwickelt. 51 Drittens macht Strachans systematische Beschäftigung mit Clausewitz’ ‚Vom Kriege‘ deutlich, dass die Strategic Studies ihrer epistemologischen Anlage und fachlichen Tradition nach eine konkrete, empirisch arbeitende, ja im Kern eine historische Disziplin sein müssen, um überhaupt relevant sein zu können. Dies schließt den interdisziplinären, gleichsam integrationswissenschaftlichen Charakter des Faches nicht aus, stellt aber den Hegemonialanspruch der sich in politikwissenschaftlicher Abstraktion, Modellbildung und Schematisierung ergehenden IB in Frage. Wenn die nur sporadisch am historischen Kontext geschulte Friedens- und Konfliktforschung ihre Relevanz in der Bereitstellung von ‚Orientierungswissen’ sieht, so in der Regel auf einem sprachlich vernebelnden Abstraktionsniveau, das der Vermittlung weit eher entgegensteht als diese zu befördern. 52 Das 47 Ebda., 56–57. 48 Naumann 2011. 49 Strachan hat in diesem Zusammenhang wiederholt insbesondere auf den wenig tragfähigen PolitikBegriff von Clausewitz hingewiesen. Von Politik wisse man zum einen nicht, wie man sie adäquat ins Englische übertragen solle; zum anderen ließe sich auch nicht sagen, was genau Clausewitz mit ‚Politik‘ eigentlich meinte und warum er diesen Begriff so zentral verwendete. Vgl. Strachan 2013a, 57–60; in: Strachan 2013c, 13; Strachan 2007, […]; vgl. auch Bassford 2007, 74–90. 50 Strachan 2013a, 46–47; vgl. In: Strachan 2013c, 10–25; in: Strachan 2013c, 210–34. 51 Heuser 2002, 179–94; Müller 2021, 209–73. 52 Zit. ‚Orientierungswissen‘ nach Niemann, Schröder 2020, 131–42. Auch Agilolf Kesselings vergleichsweise schematische Gegenüberstellung von Militärgeschichte und Strategic Studies erkennt diesen Zusammenhang nur unzureichend. Vgl. Kesselring 2020, 67–87.

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Scheitern des Bemühens, Strategie in erster Linie theoretisch abstrakt verstehen und in dieser Weise gleichsam ‚praktizieren‘ zu wollen, dürfte dabei auch dem Umstand geschuldet sein, dass man es hier mit einem a priori der Theorie nur schwer zugänglichen Genre zu tun hat. Dieser inzwischen vorherrschenden Tendenz zur künstlichen Theoretisierung des Theoriefernen ließe sich Wittgenstein entgegenhalten, in dessen Philosophischen Untersuchungen sich folgende Feststellung findet: „Die übersichtliche Darstellung vermittelt das Verständnis, welches eben darin besteht, dass wir die ‘Zusammenhänge sehen’.“ 53 Der britische Philosoph Ray Monk hat diese Beobachtung des späten Wittgenstein einmal dazu genutzt, um auf das gestörte Verhältnis von Biographie und Theorie hinzuweisen. Biographie im Monk’schen Sinne hat, ich erfasse es einmal mit Golo Mann, Erzählung zu sein „oder gar nichts“, und diese Behauptung schien Mann – und mit ihm Monk – so selbstverständlich, dass sie keines Beweises bedürfe. 54 Damit schließt sich der argumentative Kreis auch im Hinblick auf unsere Diskussion von Strategie im Wissenschaftskontext, die wir mit Burkhard Meißners Einlassungen zu antiken Vorstellungen von Strategie aufgenommen haben. Strategie ist und bleibt buchstäblich undisziplinierbar, Kunst und nicht oder nur bedingt Wissenschaft, und erfordert das über Disziplingrenzen hinausgehende Gespräch ebenso wie die eingehende Beschäftigung mit den eigenen historischen und disziplingeschichtlichen Wurzeln. Quellen Clausewitz, Carl von: On War, in: F. N. Maude (Hrsg.) London 1908. Clausewitz, Carl von: On War, in: James John Graham (Übers.), London 1873. Clausewitz, Carl von: On War, in: Michael Howard, Peter Paret (Hrsg.), Princeton 1967/1984. Clausewitz, Carl von: On War, in: Otto Jolle Matthijs Jolles (Übers.): New York 1943. Liddell Hart, Basil: Strategy. The Indirect Approach, London 1954. Wittgenstein, Ludwig: Philosophische Untersuchungen [1953], in: Gertrude Elizabeth Anscombe, Georg Henrik von Wright, Rush Rhees (Hrsg.), Frankfurt a. M. 1988. Literatur Aron, Raymond: Penser la guerre, Paris 1976 [dt. 1980]. Bassford, Christopher: Clausewitz in English. The Reception of Clausewitz in Britain and America, 1815–1945, Oxford 1994. (Bassford 1994a) Bassford, Christopher: John Keegan and the Grand Tradition of Trashing Clausewitz, in: War in History 1, 1994, 319–36. (Bassford 1994b). 53 Wittgenstein 1988, §122. 54 Mann 1991, 232–43. Monk 2007, 527–70. Ich habe dies im Hinblick auf die britische biographische Tradition an anderer Stelle argumentiert: Jonas 2009, 289–97.

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Die Truppe als Ersatzfamilie: Claudius Terentianus und seine Väter Andrea Jördens

Schon seit den frühen Tagen der Papyrologie war man sich bewußt, dass die Begriffe φίλος und ἀδελφός nicht immer im strengen Sinne zu verstehen waren und auch den Kollegen und Amtsbruder bezeichnen mochten. 1 Eine systematische Studie der dem familiären Bereich entnommenen Terminologie hatte jedoch erst 2004 Eleanor Dickey in ihrem grundlegenden Artikel zu „Literal and Extended Use of Kinship Terms in Documentary Papyri“ vorgelegt. 2 Darin wurde erstmals versucht, Kriterien für die Einordnung entsprechender Begriffe zu entwickeln, um dadurch auch in Zweifelsfällen zu einer Plausibilitätseinschätzung zu gelangen. 3 Als Beispiele seien nur die ersten drei Begriffe aus ihren „Conclusions“ genannt: Sofern das beliebte und durchaus vielfältig einsetzbare ἀδελφός nicht den leiblichen Bruder oder auch den Ehemann, sondern eine Person außerhalb der Familie bezeichne und also in übertragenem Sinne verwendet sei, stehe es stets in Verbindung mit einem Namen oder sei als Anrede und folglich im Vokativ gebraucht; letzteres gelte auch für πατήρ, das freilich seltener vorkomme und sich, wenn es denn jemanden anders als den leiblichen Vater meine, im Gegensatz zu dem relativ unverbindlichen ἀδελφός auf Nahbeziehungen beschränke; dasselbe sei analog auch bei υἱός der Fall, allerdings offenbar nur im II. Jhdt. n. Chr., zudem zeige diese Bezeichnung regelmäßig ein Altersgefälle an. 4 1 Das Deutsche kennt zwar Doktorväter und inzwischen auch Doktormütter, bemerkenswerterweise aber keine Doktorgeschwister. Obwohl dies nicht einmal für diejenigen gilt, die zur selben Zeit gemeinsam im Doktorandenkolloquium sitzen, freut es mich sehr, diese kleine Arbeit ungeachtet des üblichen Sprachgebrauchs meinem Doktorbruder Burkhard Meißner dedizieren zu dürfen. Herzlich zu danken habe ich zudem ein weiteres Mal Rudolf Haensch, der mich auf dem mir weniger vertrauten Terrain des römischen Militärs vor dem ein oder anderen Holzweg bewahrte. 2 So der Titel von Dickey 2004b. 3 Vgl. anders etwa noch Koskenniemi 1956, 105 „Die meisten für Familienbeziehungen gebrauchten Wörter erscheinen … ganz allgemein in übertragener Bedeutung“, weswegen er jeden Versuch in diese Richtung offenbar von vornherein für aussichtslos hielt; mit Blick auf das im Folgenden behandelte ‚Archiv‘ des Claudius Tiberianus ähnlich auch Youtie/Winter 1951, Komm. zu P. Mich. VIII 468, 46–47 „In general, it may be said that the evidence for a very loose use of ‚father‘ and ‚mother,‘ in the ancient as in the modern Orient, is abundant“, was auch die weitere Diskussion bestimmte; vgl. jedoch auch unten Anm. 98. 4 So zusammenfassend Dickey 2004b, 164.

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Zur Untermauerung dieser Thesen hat Dickey aus ihrer mehrere Tausend Briefe umfassenden Quellenbasis insgesamt 82 Beispiele ausgewählt, die dies besonders eindrücklich zu illustrieren vermögen. In gleich dreien davon geht es um einen der prominentesten Fälle von biologischer oder fiktiver Verwandtschaft in den Papyri, denjenigen des jungen Claudius Terentianus, der im zweiten Jahrzehnt des II. Jhdts. n. Chr. in die römische Armee eintrat und in den Folgejahren eine Reihe von Briefen an seinen ‚Vater‘ Claudius Tiberianus sandte. Zusammen mit anderer Korrespondenz hatte Tiberianus diese Briefe, die er teils wohl noch zu seiner aktiven Zeit vornehmlich im Legionslager bei Alexandria, teils offenbar erst als Veteran im arsinoitischen Karanis erhielt, an seinem Alterssitz in Haus C/B 167 verwahrt, wo sie bei den 1928/29 durchgeführten Ausgrabungen in einer Nische unterhalb der Treppe wieder zutage traten. Der größte Teil der dort gelagerten Korrespondenz, von der zumal die auf Latein verfassten Briefe seit jeher das Interesse der Forschung auf sich zogen, wurde gut 20 Jahre später von Herbert Chayyim Youtie und John Garrett Winter in P. Mich. VIII 467 bis 481 publiziert. 5 Wertvoll ist dieses singuläre ‚Archiv‘ nicht nur wegen seines schon immer gewürdigten Beitrags zur Kenntnis der lateinischen Umgangssprache, sondern auch aus inhaltlicher Sicht, bietet es doch einen einzigartigen Einblick in die vielfältigen sozialen Bezüge von Armeeangehörigen innerhalb wie außerhalb des kaiserzeitlichen Provinzialheeres. So ist das Themenspektrum, das Terentianus in seinen an Tiberianus gerichteten Briefen berührt, denn auch äußerst breit und reicht von Informationen aus Militär wie Privatleben, die er in teilweise relativ schmucklose Berichte, teilweise aber auch detaillierte Schilderungen fasst, über Bitten, ihm bestimmte Dinge – meist Ausrüstungsgegenstände oder Textilien, aber auch Lebensmittel und wiederholt schlichtweg Geld – zukommen zu lassen, mit den hierauf folgenden Empfangsbestätigungen bis hin zu mehr oder minder ausführlichen Grußadressen von und an den jeweiligen Bekanntenkreis. Als Beispiel hierfür sei nur der mutmaßlich früheste, Claudius [T]er[en]tianus Claudio Tiberiano domino et patri karissimo plurimam salutem überschriebene Brief P. Mich. VIII 467 gegeben. 6 Nach den üblichen Erkundigungen nach der Gesundheit des Empfängers bestätigt Terentianus darin zunächst den Eingang einiger Kleidungsstücke und wendet 5 Vgl. nur Geens, TM Arch 54 (https://www.trismegistos.org/archive/54; letzter Zugriff 17.05.2023) = Vandorpe/Clarysse/Verreth 2015, 113–117, wo auch die wichtigsten Werke aus der reichen früheren Literatur aufgeführt sind; zur Fundsituation bes. Stephan/Verhoogt 2005, 197ff. Die lateinischen Briefe 467–72 wurden in der Folge auch in die einschlägigen Auswahlsammlungen aufgenommen, vgl. nur CPL 250–55, CEL 141–48 sowie ChLA XLII 1216–221. Berühmtheit erlangten sie zumal wegen der häufigen Vulgarismen, die bei den im Folgenden gegebenen Zitaten aufgrund des anders gelagerten Fokus nicht eigens angezeigt sind, wie auch auf die Beigabe der korrekten Form verzichtet wurde. Hierzu zuletzt nochmals Kramer 2007, 59ff. Nr. 3 mit dem Wiederabdruck von P. Mich. VIII 471 und eingehendem sprachgeschichtlichen Kommentar einschließlich eines Überblicks über die ältere Literatur sowie jetzt allgem. Strassi 2008. Die neueste Ergänzung dazu stellt der zwar an anderer Stelle, aber im selben Haus C/B 167 gefundene Brief des Terentianus an seine ‚Schwester‘ Tasucharion P. Mich. inv. 5417a dar, der soeben von Harvey 2020 publiziert wurde. 6 Vgl. mit einer detaillierten Auflistung der hierin thematisierten Warensendungen jetzt auch Rei­ nard 2016, 115ff.

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Die Truppe als Ersatzfamilie: Claudius Terentianus und seine Väter

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sich sodann den Umständen seiner Aufnahme in die Flotte zu. Zwar erwähnt er kurz auch die bevorstehende Verlegung seiner Einheit nach Syrien, doch scheint es ihm eher darum getan, sich über seine eigene Situation und die allgemeine Stimmung im Heer auszulassen. Es folgen erneute Bitten um eine Reihe von Ausrüstungsgegenständen, die aufgrund dieser neuen Entwicklungen erforderlich waren, einschließlich sehr präziser Angaben dazu, wie und wohin die Dinge zu schicken waren. Sendungen umfassten stets auch mehr oder weniger Alltägliches, wie in diesem Fall zwei Amphoren mit verschiedenen Sorten von Oliven, die Terentianus dem Tiberianus zukommen ließ, was möglicherweise sogar den Anlass zu diesem Brief – dann wohl besser Begleitschreiben – gegeben hatte. Im Gegenzug bat er ihn wiederum drei Legehennen zu besorgen, 7 neben weiterem, das am Ende des Blattes verloren gegangen sein mag. Am Rand fügt Terentianus noch die Grüße seiner derzeitigen Umgebung an, bevor er Tiberianus zum Abschluss ans Herz legt, einige namentlich benannte Personen et omnes contubernales tuos von seiner Seite grüßen. Dieses in jeglicher Hinsicht bemerkenswerte ‚Archiv‘ verdient im vorliegenden Zusammenhang nicht zuletzt deswegen Aufmerksamkeit, weil Terentianus in seinen Briefen an Tiberianus außer diesen selbst noch eine weitere Person als ‚Vater‘ bezeichnet. Auf die Frage, was es mit diesen zwei ‚Vätern‘ auf sich hat bzw. welcher von beiden – eben Tiberianus oder aber der offenbar auch ihm gut bekannte Ptolemaios, der verschiedentlich in den lateinischen Briefen und damit nach allgemeiner Auffassung den frühesten Dokumenten 8 begegnet – tatsächlich der leibliche Vater sei, steht eine befriedigende Antwort jedoch bis heute aus. Denn in der Regel pflegte man ohne größere Diskussion den

7 Falls das insoweit unspezifische in P. Mich. VIII 467, 30f. ut em[a]s et mittas tr[e]ṣ toc[ades so zu verstehen ist; grundsätzlich kommt jede Tierart infrage, wie denn auch Preisigke, WB II, 605f. s.v. τοκάς „Muttertier“ außer Hühnern ebenso Schweine und Gänse anführt. 8 So die von Youtie/Winter 1951, Einl. zu P. Mich. VIII 467–81, bes. 16 begründete communis opinio, mit dem Hinweis auf „sufficient internal evidence to support the conclusion that the letters written in Latin are earlier than those in Greek“, die vor allem auf den Karrierestationen der beiden Protagonisten beruht; vgl. auch mit den Details zitiert in dem Survey über die verschiedenen Positionen bei Kramer 2007, 62f., bes. Anm. 5 sowie zuletzt nochmals Reinard 2016, 694f., der dies als „schlüssig“ bezeichnet (695). Für die umgekehrte Zeitfolge dagegen – freilich ohne dies näher zu begründen und sich mit den sonstigen Auffassungen auseinanderzusetzen – Lehmann 1988, 12 „He first wrote his letters in Greek, then in Latin, which might appear to indicate that he learnt or at least perfected his Latin in the army“, vgl. auch 17 mit dem Zitat unten in Anm. 105. Gegen diese grundsätzlich naheliegende Erwartung jedoch schon Kaimio 1979, 158: „But what seems to have been decisive for the language choice was whether Tiberianus was still serving in the army or had already retired: for bilingual persons, the language of the army, Latin, would be the natural choice. This would influence the language choice of private letters, too, as long as both persons were serving, but Greek was more natural for letters as a veteran.“ Anders wiederum Adams 2003, 596f., demzufolge eine rein chronologische Entwicklung abzulehnen sei, da die Sprachenwahl in der Korrespondenz sich vielmehr von der Kommunikationssituation her und damit inhaltlich bestimme; zurückhaltend allerdings Kramer 2007, der überdies den „Faktor Willkür oder Zufall“ (63) zu berücksichtigen rät. Mit dem Versuch, die Abfolge der Briefe innerhalb des Corpus noch genauer zu bestimmen, jetzt Strassi 2008, 91ff.

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Adressaten als solchen anzusehen, 9 während der nur hin und wieder erwähnte Ptolemaios meist gänzlich aus dem Blickfeld geriet. 10 Doch selbst wer sich näher mit der Frage befasste, gestand am Ende seine Ratlosigkeit ein: „As the texts provide no basis for a choice among the alternative hypotheses, I will leave it at that.“ 11 Tatsächlich war auch Dickey nicht entscheidend weitergekommen, obwohl sie sich zuversichtlicher gab. 12 Bemerkenswerterweise meinte sie die fraglichen Briefe bei drei der von ihr herausgearbeiteten Kriterien sogar als Kronzeugen dafür anführen zu können, dass die in den Papyrusbriefen entsprechend bezeichneten Personen leibliche Verwandte waren. Dies gilt für die Wiederaufnahme der Anrede als πάτερ des schon im Anfangsgruß so apostrophierten Vaters mitten im Text, wenngleich „matters are more complicated than 9 So mit der von den Editoren begründeten communis opinio, vgl. nur Youtie/Winter 1951, Einl. zu P. Mich. VIII 467–81, bes. 16f., wonach Ptolemaios’ Bezeichnung als ‚Vater‘ „only as a term of respect“ verwendet sei (17, das gesamte Zitat in der folgenden Anm.), wenngleich sie im Komm. zu 468, 46–47 bekennen „Still other situations are conceivable in which the paternity of Terentianus might be assigned either to Tiberianus or to Ptolemaeus, but evidence to justify a conclusion is lacking“. Vgl. auch den diesbezüglichen Survey von Strassi 2008, 113 Anm. 16, die nicht ohne Grund von einem „consenso più o meno tacito“ spricht (113), sowie allgem. zum Verhältnis von Terentianus und Tiberianus 113ff.; ebenso Kramer 2008, 249 „Die communis opinio geht dahin, daß Claudius Tiberianus tatsächlich der biologische Vater von Claudius Terentianus ist und … Ptolemaeus ein älterer Vertrauter ist.“ 10 So etwa bei Adams 1977, 85f., der das ‚Problem‘ Ptolemaios zwar kurz streift, aber keiner intensiveren Auseinandersetzung würdigt: „It has been assumed throughout that Tiberianus was the father of Terentianus, as Terentianus implies a number of times. But the assumption involves a difficulty. At 471.21 Terentianus refers to a certain Ptolemaeus as his father. Youtie and Winter (1951, 17) argue plausibly as follows: ‚The partial identity of name between Claudius Tiberianus and Claudius Te­ rentianus suggests that they are in reality father and son, and this view is supported by the character of the correspondence, in which nothing betrays a less intimate relationship. In all likelihood, pater is applied to Ptolemaeus only as a term of respect‘ (cf. 30 f.).“ In seiner späteren Diskussion in Adams 2003, 593ff. ist von Ptolemaios endgültig nicht mehr die Rede. 11 So Lehmann 1988, bes. 17 als Résumé seiner eingehenden Erörterung dieser Frage, mit der er seinen Kommentar zu dem von ihm vorgestellten „specimen text“ P. Mich. VIII 471 begonnen hatte: „1. Perhaps the most puzzling problem in the interpretation of this letter – as well as the others in the series – is the fact that the writer appears to have two fathers“ (16). Ähnlich auch Trapp 2003, 202f. im Komm. zu P. Mich. VIII 468 (54ff. Nr. 5), wo er das Konvolut als „letters to him (sc. Tiberianus) by his son (or protégé), Claudius Terentianus“ einführt (202), im Folgenden jedoch von ersterem durchweg nur als „his father“ spricht, um endlich damit zu schließen „Which of Tiberianus and Ptolemaios is Terentianus’ natural father, and which an older man to whom he has some special relationship of respect or obligation, is hard to decide“ (203). Nach Alston 1995, 135ff. sei hierin nicht einmal zwingend ein Dilemma zu vermuten: „Terentianus did not have any problems with his paternity, relating to both men as if they were his father, and I suspect that the biological paternity of Terentianus was unimportant“ (136), womit er es sich freilich zu einfach macht. 12 Vgl. nur Dickey 2004b, 139f. Anm. 16: „There has traditionally been some debate as to whether Tiberianus is really Terentianus’ father, since in the Latin letters he also mentions another ‚father‘; see P.Mich. 8.468.46–7n; but contrast that with P.Mich. 8.467–81 introd. It is my view that Tiberianus is the real father, not only because he and Terentianus share a gentilicium (the name that a Roman father would be expected to share with his son), but also because of the language of the Latin letters; see Dickey (2002: 87).“

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that“ und es hierfür durchaus Gegenbeispiele gebe; 13 die durch „embellishments“ ausgeschmückte Adressformel, wobei auch dies keineswegs zwingend sei; 14 endlich die – hier noch durch das Possessivum erweiterte – Anrede ohne hinzugefügten Namen im Vokativ, obwohl auch dies einer näheren Betrachtung kaum standhalten könne. 15 So vermag letztlich keines dieser Kriterien bereits als solches den Ausschlag zu geben, vielmehr ist notgedrungen stets nach weiteren Argumenten zu suchen. Als wichtigstes Indiz hierfür sah man stets das gemeinsame Gentiliz der Korrespondenzpartner an, das auch Dickey selbst als erstes benannte. 16 Hinzu kommen sprachliche Argumente, die in dieselbe Richtung wiesen; dabei hebt Dickey besonders auf die Anrede als dominus ab, 17 um zusätzlich den Doyen der lateinischen Sprachwissenschaft J. N. Adams als Gewährsmann anzuführen. 18 Deutlich vorsichtiger äußerte sich hingegen Fritz Mitthof, der durchaus Anlass zu gewissen Zweifeln sah: „Zwar wird Tiberianus von Terentianus durchweg als pater et dominus bzw. πατὴρ καὶ κύριος angeredet, und Tiberianus selbst berichtet in einem Brief von seinem Sohn Claudius. Daneben erwähnt Terentianus in seinen Briefen aber eine Person namens Ptolemaeus, die er als pater meus bezeichnet; ferner spricht er Tiberianus 13 Dickey 2004b, 139 mit P. Mich. VIII 476, 5: γεινώσκειν σε θέλω, πατήρ (l. γιγνώσκειν, πάτερ; Nr. 11), das Zitat 140. 14 Dickey 2004b, 141 mit P. Mich. VIII 479, 1f.: Κλαυδίῳ Τιβεριανῷ τῷ πατρὶ καὶ κ[υρί]ῳ πλεῖστα χ[α] ίρειν (Nr. 15); so freilich mit dem umgehend gelieferten Gegenbeispiel derselben Adressformel in SB XXII 15453, 1f., hier eindeutig angesichts des in Z. 8 f. formulierten Vergleichs οὕτως γάρ µοι µέλει περὶ σοῦ ὡς περὶ ἰδίου πατρός. 15 Dickey 2004b, 144 mit P. Mich. VIII 480, 5: [γι]νώσκειν σε θέλω, κύριέ µου πατήρ (l. πάτερ; Nr. 24); so freilich mit dem umgehend gelieferten Gegenbeispiel derselben Anrede in dem „singularly unfamilial letter“ P. Oxy. LV 3812, 17. 16 Vgl. schon oben Anm.12 mit dem Zitat aus Dickey 2004b, 139f. Anm. 16. 17 So jedenfalls in ihrer früheren Darstellung in Dickey 2002, 87, auf die sie in Dickey 2004b, 139f. Anm. 16 verweist. Freilich stellt sich auch ihrer eigenen Analyse zufolge die Verwendung dieser Anrede weniger eindeutig dar, als es ihre Schlussfolgerung nahelegen würde: „Certainly it is notable that the papyrus letters of the ‚Tiberianus archive‘ make a sharp distinction between the address domine, used only to unrelated addressees, and pater ‚father‘, which is consistently used to the writer’s father: this address distinction is the more notable since in reference the dative domino is used in the headings of both type of letter“. 18 So in Fortführung des schon oben Anm. 12 gegebenen Zitats aus Dickey 2004b, 139f. Anm. 16: „J. N. Adams, who has studied the language of this archive in more detail than anyone else, also considers Tiberianus the real father (e.g. 2003: 593)“. Tatsächlich deutet Adams 2003, 593 in der Einführung der Person des Terentianus zwar kurz die bestehende Unsicherheit an („probably the son of Tiberianus“), spricht im Folgenden jedoch durchweg von „father“ und „son“, so dass man darin eher eine reservatio mentis erblicken wird. Allerdings ist es ihm ohnehin in erster Linie um den Charakter ihrer Bilingualität getan, was ihn angesichts des glatteren Lateins des Tiberianus vor allem zu Spekulationen über dessen mögliche Herkunft aus dem Westen veranlasst; vgl. schon Adams 1977, 3f., 85f. und jetzt bes. Adams 2003, 593ff., freilich mit offenem Ergebnis: „It is possible that Latin was the mundane family language of Tiberianus and Terentianus“ (596), aber ebenso „Latin might have seemed the formal language of (military) administration, Greek the more banal language of the family“ (597).

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gegenüber wiederholt von mater mea, fratres mei und pater tuus. Angesichts einer solchen Ausdrucksweise hat es den Anschein, als ob die beiden in anderer Weise – etwa durch ein Adoptionsverhältnis, eine Stiefvaterschaft oder gar eine rein persönliche, rechtlich unverbindliche Beziehung – einander verbunden waren.“ 19 Vor allem sei Terentianus sicherlich kein legitimer Sohn des Tiberianus gewesen, hätte es in diesem Fall doch nicht des von Terentianus so sehr beklagten Umwegs über die Flotte bedurft, da der ersehnte Eintritt in die Legionen ihm als civis Romanus schließlich ohne weiteres offen gestanden hätte. 20 Nochmals wesentlich weiter ging Silvia Strassi, die vor gut zehn Jahren nachdrücklich für eine leibliche Vaterschaft des Ptolemaios warb. 21 In der Tat ließen sich die auf ihn bezogenen Passus ohne weiteres so deuten, hält man sich etwa den oben ausführlicher referierten, insgesamt wohl frühesten Brief vor Augen. Offenbar noch vor dem Antritt seines Dienstes von daheim aus verfasst, versichert Terentianus darin dem Tiberianus scias domo nostrae deorum beneficio omnia recte esse und richtet ihm am Ende hierzu passende Grüße aus: [salutat te mate]ṛ ṃ[ea] ẹ[t] Ptolemaeus pater meus et fratres mei omnes. 22 Dabei ist dies wohlgemerkt derselbe Brief, in dem er Tiberianus gegenüber zuvor noch beteuert hatte nem[i]nem habeo enim karum nisi secundum deos te – dies allerdings verbunden mit einer keineswegs unbescheidenen Bitte um die Ausrüstung mit Waffen und diversen Kleidungsstücken. 23 In einem anderen berichtet Terentianus dem Tiberianus von einer ganzen Reihe Ereignisse, die er anscheinend an diesem selben Ort erlebte, darunter der Niederkunft seiner ‚Mutter‘ und einem Streit, den diesmal Ptolemaios wegen der Kleidungsstücke begonnen hatte. Aktuell sei er zur Untätigkeit verurteilt, da zunächst Pto­ lemaios’ Rückkehr aus Alexandria abzuwarten sei und seine ‚Mutter‘ ihn erst danach zu seinem Dienstort an das Schiff begleiten könne. 24 Fast noch bemerkenswerter als die Figur des Ptolemaios selbst ist bei alldem diejenige dieser nirgends mit Namen genann19 So Mitthof 2000, 395. 20 Mitthof 2000, 395f.; dazu auch unten Anm. 38 mit Text. 21 Strassi 2008, bes. 109ff. zum Problem als solchem mit eingehendem Referat der bisherigen Positionen, 124ff. zur leiblichen Vaterschaft des Ptolemaios. 22 So in P. Mich. VIII 467, 26f. bzw. 32; vgl. auch – hier ohne Namen – P. Mich. VIII 468 col. II, 46ff. sal[u]tat te mater mẹạ ed pater eḍ fratres mei, et scias domo perb[e]ne omnia recte esse. Entsprechend offenbar auch verstanden von Biville 2014, die den Brief 94ff. als Doc. 2 anführt, ohne näher auf die Problematik einzugehen, während sie 91 Tiberianus mit Anführungsstrichen als „son ‚père‘“ bezeichnet. Eine übersichtliche Aufstellung der jeweiligen Bezeichnungen jetzt bei Reinard 2016, 698f., wobei der dort verwendete Terminus „Anrede“ freilich nicht immer dem Sachverhalt entspricht. 23 Vgl. nur P. Mich. VIII 467, 17–22 oro et rogo te, pater – nem[i]nem habeo enim karum nisi secundum deos te –, ut mitt[as m]i[h]i pe[r U]alerium gladiu[m pu]gnatorium et l[ance]am et d[o]labram et copla[m] et lonchas duas quam optimas et byrrum castalinum et tunicam bra[c]ilem cum bracis meis, ut habeam, quoniam extri[u]i tuni[ca]m antequam me pr[o]barem in militiam. 24 So in P. Mich. VIII 471, bes. Z. 15f. non mi d[e]dit aes quam aureum matri mee; Z. 16f. „hoc est“ inquid „quod pater tus mi mandauit“; 18ff. matrem meam aute praegnatam imueni … dende pos paucos dies parit; Z. 20f. item litem abuit Ptolemes pater meu sopera uestimenta mea; Z. 22f. me reliquid con

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ten ‚Mutter‘, die Terentianus sogar nochmals häufiger als den ‚Vater‘ Ptolemaios erwähnt und deren Belange oder besser Wünsche er bei Tiberianus mit besonderer Eindringlichkeit vertritt. 25 Auch wenn das Verhältnis zwischen ihr und Tiberianus nicht mehr genauer zu klären scheint, spricht diese Mittlerrolle doch eher dagegen, in ihr seine Ehefrau zu sehen. 26 Ton und Inhalt der Schreiben, die zahlreichen Bitten wie auch die offenherzige Detailfreude all dieser Berichte stellen jedenfalls außer Frage, dass Tiberianus nicht nur mit Terentianus, sondern mit der ganzen Familie in einem Nahverhältnis stand. Für Giovanni Battista Pighi lagen die Dinge daher klar: „La soluzione piú economica del problema costituito dalla parentela di Terenziano consiste nel considerare pater e mater e fratres equivalenti a ‚zio, zia, cugini‘“. 27 Dem schlossen sich auch Paolo Cugusi und Tiziano Dorandi in ihren Neueditionen der Briefe im Corpus epistularum Latinarum bzw. den Chartae Latinae antiquiores an, 28

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matrem meam; Z. 24 mater mea: „spec[t]emus …“; Z. 27ff. dico illi: „ueni, interpone te, si potes aiutare Ptolemaeo patri meo“; Z. 34 mater ma nos assem uendedi. So bes. in P. Mich. VIII 469, in dem die an Tiberianus gerichtete Bitte, ihr ein nicht mehr entzifferbares Objekt zu erwerben, fast das einzige Thema des Briefes ist, hier erneut mit der Versicherung caṛum {en} eni habeṃus sequndu dẹum te (Z. 20f.); vgl. außer den bereits oben Anm. 22 und 24 zitierten Belegen auch P. Mich. VIII 469, 3 salutat te mater mea, Z. 7 f. mater ṃea minore bolt cụ[lcit] as; zu ihrer Schwangerschaft zudem den fragmentarischen P. Mich. VIII 470, 16 mater mea [ali]bị gnata est, hier vielleicht auch Z. 25 scias me ma[-; allgem. auch Strassi 2008, 126; Reinard 2016, II 715f. Zweifelhaft dagegen noch Youtie/Winter 1951, Komm. zu P. Mich. VIII 468, 46–47 mit der offenbar keineswegs nur rhetorischen Frage: „Is this the wife of Tiberianus, as would normally be the case in a letter addressed to a father, or is she the wife of Ptolemaeus?“; zu einer daraus folgenden Stiefvaterschaft beiläufig etwa auch Mitthof 2000, 395, vgl. das oben zu Anm. 19 gegebene Zitat. Dagegen meint Lehmann 1988 eine solche Annahme aus anderem Grund ablehnen zu müssen: „Moreover, our letter contains the sentence matrem meam ante praegnatam inveni (l. 18f). This would be rather odd if she were the addressee’s wife. It seems probable that, whatever the correct solution to the problem is, this woman is married not to Tiberianus, but to Ptolemaeus“ (17). So Pighi 1964, 56 im Komm. zu P. Mich. VIII 468, 45–46 (sic); entsprechend auch schon in der Einl. „Il soldato di marina Claudio Terenziano, quando non è di servizio, risiede presso Alessandria in casa di parenti, d’uno zio Ptolomaeus, e prende parte alle vicende e alle baruffe di questa famiglia“ (9; zitiert auch von Strassi 2008, 111) bzw. 13f. im Referat von P. Mich. VIII 471, „in cui il giovane racconta al padre un’intricatissima storia, sua e della famiglia che l’ospita. I personaggi della commedia sono lo zio ospite, che Claudio chiama Ptolemes pater meu … Poi c’è la zia, che Claudio chiama mater mea, o mater ma“. Vgl. nur Cugusi, CEL II S. 143 im Komm. zu P. Mich. VIII 467 = CEL 141, 32 „Padre reale di Terenziano pare essere proprio Tiberiano, come si evince sia dal ‚tono‘ delle lettere che dall’onomastica (entrambi sono Claudii): nel caso di Ptolemaeus si potrà pensare a zio (Pighi p. 56 e Väänänen p. 341) oppure semplicemente a persona nei cui confronti l’epiteto di pater costituisce segno di deferenza, cfr. già Youtie – Winter pp. 16–17“; zitiert auch von Strassi 2008, 113 Anm. 16, zuzüglich einiger Belege zur Deutung von mater als ‚zia‘. Ebenso Dorandi, ChLA XLII S. 47 in der Einl. zu P. Mich. VIII 471 = ChLA XLII 1220 „lo zio Ptolemaeus“, entsprechend schon 28 in der allgem. Einl. zum „Carteggio di Karanis“ ChLA XLII 1216–1221 die ohne jede Einschränkung vorgenommene Dar-

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wobei sich ersterer in der Einleitung zu dem „Carteggio di Karanis“ ohnehin überzeugt gezeigt hatte: „Come si evince dalle lettere e dall’onomastica stessa, Tiberiano è padre di Terenziano: i due seguono la tradizione, tipicamente romana, per cui tante volte il figlio di un soldato segue la stessa carriera del padre“. 29 Alternativen kamen dagegen nur selten zur Sprache und wurden vor allem nie ernsthaft geprüft. 30 Anders erst bei Strassi, die nach nochmaliger Abwägung aller bis dahin vorgetragenen Argumente zu dem Schluss gelangte, dass Terentianus entgegen der herrschenden Meinung leiblicher Sohn dieses Paares gewesen und folglich vielmehr „l’epiteto di pater nei confronti di Tiberianus come appellativo di rispetto“ zu deuten sei. 31 Die Reaktionen der Fachwelt blieben indes verhalten. In den Rezensionen wurde die neue Deutung zwar durchweg erwähnt, 32 jedoch ohne überall auf Zustimmung zu treffen, im Gegenteil; die meisten widersprachen und führten dazu eine Reihe von Gründen an. Am eingehendsten setzte sich Johannes Kramer mit der Frage auseinander, der zwar am Ende bemerkte „letzte Klarheit läßt sich eben nicht gewinnen“, aber gleichwohl für eine Rückkehr zur communis opinio plädierte, wofür er außer auf die römischen Namen auch auf Terentianus’ distanzierte Haltung gegenüber dem neuen Geschwisterchen und den Altersabstand zwischen beiden verwies. 33 Dem pflichtete auch Roger S. Bagnall bei, der erneut das Gentiliz ansprach und auch das Argument, dass das Ehrenepitheton

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stellung „Protagonisti principali della corrispondenza sono due militari, padre e figlio, Claudius Tiberianus e Claudius Terentianus“. Cugusi, CEL II S. 131, Einl. zu CEL 141–148. So etwa Cugusi in CEL III S. 230: „Lehmann p. 17 propone una soluzione alternativa: padre naturale di Claudio Terenziano sarebbe Ptolemaeus (marito di colei che in 146 è definita mater mea), mentre Claudio Tiberiano sarebbe suo padre adottivo“, wie schon bei dem oben in Anm. 28 zitierten, zehn Jahre früheren Komm. zu CEL 141, 32 freilich erneut mit dem bloßen Verweis auf Literatur und ohne dies näher zu diskutieren bzw. auf die unterschiedlichen Argumentationslinien einzugehen. So Strassi 2008, 124. Vgl. außer den im Folgenden eingehender behandelten Besprechungen Jördens 2009, 718; mit bloßem Referat und ohne explizit Position zu beziehen Capponi 2008 sowie Reinard 2012, bes. 34f., der einige Jahre später in seiner eingehenden Erörterung des Archivs in Reinard 2016, 693ff. allerdings deutlicher für Strassis Deutung optiert: „Die Indizien scheinen sich dahingehend zu verdichten, dass die Bezeichnung ‚Vater‘ für Ptolemaeus eine familiäre Konnotation aufweist“ (701); so dann auch passim. Kramer 2008, bes. 249ff., mit dem Kommentar „Daß nur Claudius Tiberianus und Claudius Te­ rentianus in ein gutes römisches Namenschema pa(s)sen, beweist, wie Frau Strassi ausführt, in der Tat noch nicht ihre Blutsverwandtschaft, macht sie aber doch wahrscheinlich, denn sonst trägt eben niemand einen so schönen römischen Namen. Ein Wort noch zu Ptolemaeus’ Frau, die von Claudius Terentianus mehrfach als mater mea genannt wird: Er berichtet von ihrer Schwangerschaft und der anschließenden Geburt (470, 16; 471, 19), ohne in irgendeiner Weise auf das Kind Bezug zu nehmen. Das wäre zumindest ungewöhnlich, wenn es für Terentianus um den eigenen Bruder oder die eigene Schwester ginge, und zudem ist es, wenn schon nicht ausgeschlossen, so doch nicht eben naheliegend, daß die Mutter eines mindestens zwanzig Jahre alten Seesoldaten noch einmal schwanger sein könnte“ (250f.); ähnlich auch schon Kramer 2007, 61f.

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τιµιώτατος nur selten in familiärem Kontext begegne, für nicht stichhaltig erklärte. 34 Auf die Rolle des Ptolemaios ging allein Rolando Ferri ein, der freilich ebenfalls skeptisch blieb und vor allem den intensiven Austausch über die Frage der Partnerwahl allein durch Terentianus’ Stellung als Sohn und Erbe begründet sah. 35 Wir haben folglich mit einer klassischen Aporie zu tun, in der die vorhandenen Argumente immer wieder hin- und hergewendet wurden, ohne jedoch zu einem allseits akzeptierten Ergebnis zu führen. Im Folgenden seien daher nochmals systematischer als bisher die Indizien geprüft, die für die eine wie die andere Meinung vorgebracht wurden, um sodann mit einem neuen Ansatz nach dem sozialen Umfeld der beteiligten Personen und also den Kommunikationsformen im kaiserzeitlichen Militär zu fragen, dem unsere beiden Claudier während dieser Phase ihrer Korrespondenz angehörten. Dazu wird erneut auf Beobachtungen von Eleanor Dickey zurückzugreifen sein, wobei der dadurch veranlasste Perspektivwechsel tatsächlich einen Weg aus der beschriebenen Aporie zu weisen vermag. Die bisherige Diskussion hatte sich vorzüglich auf Namen und Stellung unserer beiden Protagonisten konzentriert und auf die Darlegungen Strassis hin nochmals Verstärkung durch zusätzliche Argumente erfahren. Für die leibliche Vaterschaft des Tiberianus schien dabei seit jeher das gemeinsame Gentiliz zu bürgen, wonach Terentianus zudem als römischer Bürger zu betrachten sei. Schon letzteres ist freilich keineswegs sicher; die für Terentianus so wenig erfreulichen Umstände seiner Aufnahme in die Armee, die ihn entgegen seinem sehnlichsten Wunsch und trotz aller Beziehungspflege nicht in die Legion, sondern nur in die Flotte gelangen ließen, 36 weisen sogar eher in eine andere Richtung. Da ihm später doch noch die erstrebte Versetzung in die Legion zuteil wurde, war dies zumindest nicht seiner physischen Konstitution anzulasten, was bei dem Sohn eines civis Romanus, der zudem selbst in den Legionen diente, notwendig nach Erklärung verlangt. 37 Schon Fritz Mitthof hatte daher die Vermutung geäußert, dass 34 Bagnall 2010, 331 „Where would he have acquired the nomen Claudius in this period? Much more likely, his citizenship stems ultimately from an action taken to the benefit of an ancestor under Claudius or Nero. It thus seems perverse to deny that Tiberianus is likely to be the source“, mit dem ausdrücklichen Verweis auf Kramer (wie vorige Anm.) sowie hinsichtlich des von Strassi 2008, 123 als „tipica allocuzione di rispetto“ charakterisierten Epithetons in P. Mich. VIII 479, 24 (dazu unten Anm. 77) auf die von Koskenniemi 1956, 102f. angeführten Ausnahmen. 35 Ferri 2009, 635 „This interpretation is very different from the commonly accepted view that Terentianus was either Tiberianus’ natural or adoptive son. S. refuses to see the onomastic connection as proof of a father-son relationship … but one fails to find ‚decisive‘ proof, for example, of shadowy Ptolemaeus’ fatherhood of Terentianus … If Terentianus was only Tiberianus’ protégé, with no fam­ ily connection, the very raison d’être of the correspondence remains weakly explained. Who but a son and heir would speak of his choice of a partner in the deferential yet determined and cleverly insinuating terms of VIII. 476, where Terentianus’ choice is clearly opposed by Tiberianus, and the younger man presents his intentions as ultimately dictated only by consideration of Tiberianus’ advantage?“ 36 Vgl. nur Davies 1973. 37 Vgl. nur Davies 1973, bes. 21f. Anm. 5 mit der Diskussion der hier bestehenden Möglichkeiten, der sich dies angesichts des Status des Tiberianus („His father was a legionary“) nur durch den Verweis

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„der Herkunft des Terentianus ein Makel anhaftete, daß (sic) sein ius militandi in legione beeinträchtigte. Denkbar ist etwa, daß er während der Dienstzeit seines Vaters bzw. von einer peregrinen Mutter geboren wurde und daher kein Bürgerrecht besaß. Gleiches wäre für den Fall anzunehmen, dass er aus einer peregrinen Familie stammte.“ 38 Wie immer es sich mit dem Bürgerrecht verhielt – wir kommen darauf noch zurück –, ist nach den prosopographischen Forschungen der letzten Jahrzehnte zumindest so viel klar, dass der Name allein diesbezüglich so gut wie nichts aussagt. Vielmehr scheinen in der onomastischen Praxis sehr viel größere Freiheiten geherrscht zu haben als meist vermeint, wobei familiäre Traditionen, lokale Gewohnheiten und persönliche Vorlieben gleichermaßen zum Tragen kamen. Dies betraf durchaus auch römische Namen, während es wiederum innerhalb des Heeres entgegen verbreiteter Auffassung offenbar keine allgemein verbindliche oder gar über alle Zeiten hinweg beibehaltene Systematik gab. 39 So sind in den Militärdiplomen zumindest anfänglich vielfach noch Namen nichtrömischer Herkunft präsent, die in dieser Form offenkundig den Konskriptionslisten entnommen waren. 40 Dasselbe steht auch bei manch römisch klingendem Namen zu vermuten, zumal sich davon oft ebenfalls nur Bestandteile in den buntesten Kombinationen finden. 41 Vor allem aber ist mit unterschiedlichen Praktiken in den verschiedenen Provinzen zu rechnen, wenn nicht gar jeder Heeresverband diesbezüglich jeweils eigene Prinzipien besaß. 42 Selbst bei Trägern der tria nomina wird man folglich annehmen müssen, dass sie, sofern die Tribusangabe nicht anderes lehrt, „zwar dem römischen Milieu sehr nahe standen, wie ihre Namen zeigen, aber keine römischen Bürger waren, als sie ins Militär eintraten.“ 43

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auf die starke Konkurrenz um entsprechende Plätze zu erklären weiß; Terentianus’ Krankheiten gingen offenbar meist auf äußere Einwirkung zurück wie Verwundungen oder eine Lebensmittelvergiftung, vgl. nur Davies 1989, 229f. So Mitthof 2000, 396. Eingehend dazu auch Strassi 2008, 116ff., freilich mit einigen Ungenauigkeiten im Detail und vor allem hinsichtlich der Rechtsstellungen nicht immer zutreffend. Vgl. nur den Survey von Mócsy 1986. So schon als Prämisse bei Mócsy 1986, bes. 437: „Wir gehen von der Annahme aus, daß die Namen der Diplomempfänger einem offiziellen Register entnommen worden sind, d.h., sie beruhten nicht auf einer der Diplomausfertigung vorangehenden etwaigen Rundfrage unter den zur Bürgerrechtsund/oder Conubiumverleihung vorgesehenen Soldaten oder Veteranen“; vgl. auch Pferdehirt 2002, 145ff., bes. 154ff. mit zahlreichen Beispielen aus den Auxiliartruppen, 167 für die Flottensoldaten. Vgl. nur – zum Teil noch in Kombination mit peregrinen Namen – Pferdehirt 2002, 157ff. Vgl. auch schon oben Anm. 40, wobei nach Mócsy 1986, 438 zwar „für die Immatrikulation der Namen je nach Truppengattung verschiedene Normen maßgebend waren“, es aber offenbar auch hierbei keine allgemeingültige Regel gab: „In schroffem Gegensatz zur einheitlichen Praxis der Flotte und der stadtrömischen Truppen steht das Durcheinander des Namenswesens in den Auxilien“ (ebda., 448). Pferdehirt 2002, 159; ähnlich bereits Lesquier 1918, 219ff., bes. 222; Forni 1992a, bes. 347: „Da indagini recenti è emerso che i tria nomina o almeno il gentilizio non furono propri unicamente del cittadino romano, ma assunti anche da chi era in possesso del diritto latino e perfino usurpati dal peregrino“; Reddé 1986, 527: „L’attribution systématique et réglementaire, au moins au deuxiè­ me siècle, des tria nomina aux matelots interdit qu’on puisse tirer des conclusions trop précises de

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Demzufolge spricht viel dafür, dass Claudius Terentianus seinen Namen bereits bei seiner Geburt bekam, ohne dass dem zu entnehmen ist, welchen Status die beiden Eltern besaßen, und noch weniger, welche Überlegungen bei der Namenswahl für sie leitend waren. Da die vorhandene Korrespondenz durchweg aus der Zeit nach Terentianus’ Eintritt in die Armee datiert, wäre grundsätzlich zwar auch denkbar, dass er seinen römischen Namen erst bei dieser Gelegenheit erhielt. Das berühmteste Beispiel dafür liegt zweifellos in dem immer wieder zitierten BGU II 423 vor, in dem Apion die Familie im heimatlichen Philadelpheia über seine wohlbehaltene Ankunft in Misenum informiert und als Postscriptum noch seinen neuen Namen Antonius Maximus mitsamt der Einheit – hier dem Schiff Athenonike – mitteilt, worunter er künftig erreichbar sei. 44 Was man bei Angehörigen der classis praetoria Misenensis hiernach für üblich halten wird, mußte nach dem oben Gesagten jedoch nicht notwendig auch für die alexandrinische Flotte gelten. Tatsächlich scheint man hier auf solche Umbenennungen verzichtet zu haben, wie etwa die Erwähnung von Kalabel und Deipistus nahelegt, von deren Unterstützung bei seiner Aufnahme in die classis Augusta Alexandrina Terentianus dem Tiberianus berichtet. 45 Die beiden müssen unseren beiden Claudiern also unter diesen Namen geläufig gewesen sein, wie im übrigen allem Anschein nach auch der stets nur als Ptolemaios firmierende ‚Vater‘ eine Funktion in der Armee ausübte. 46 Nach Denis B. Saddington handelte es sich bei derartigen Namenswechseln jedoch ohnehin um bloße verwaltungstechnische Maßnahmen, die keinerlei rechtliche Implikationen besaßen: „In certain areas, especially in the East and particularly in Egypt, even serving auxiliaries bore the tria nomina. These can only be regarded as ‚military‘ names, assigned to recruits on enlistment to facilitate regimental communication.“ 47

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l’onomastique“; zu den verschiedenen Möglichkeiten erneut Mócsy 1986, 462f., wonach eine bei der Einschreibung erfolgende Vergabe der tria nomina an Peregrine angesichts der Regelhaftigkeit der jeweiligen Büropraxis womöglich auch als „Zeichen der Zugehörigkeit zu gewissen Truppen“ zu deuten sei (463). Vgl. nur BGU II 423 = W. Chr. 480 = Sel. Pap. I 112 (II. Jhdt.), bes. Z. 22ff. ἔσ[τ]ι.[ν] µου ὄνοµα Ἀντῶνις Μάξιµος, κεντυρί(α) Ἀθηνονίκη (mit BL VIII 27); zum Postscriptum schon BL I 45, so jetzt auch gedruckt bei Palme 2006, 286. So nach P. Mich. VIII 467, 12f. p. [ro]b[ave]ṛ[e] se in cl[ass- ] A[u]g(ust- ) Alex(andrin- ) [et] Kalaḅ[el] et Dẹịpist[us; 16 et p. ẹr eọs me probavi in classe. Eine im Zuge der Einschreibung erfolgte Umbenennung unter Vergabe der tria nomina wird man entgegen Strassi 2008, 121 Anm. 35 insofern keineswegs für zwingend halten. Vgl. zu den ersteren auch Reinard 2016, 706f., zu letzterem unten Anm. 60. So Saddington 2000, bes. 175, vgl. auch bereits 172: „It appears that it must have been the custom to assign such names to recruits on entry into the army“; dezidiert auch schon Mócsy 1986, 439 „Ein Zusammenhang bestand nicht zwischen Namensformel und Rechtsstellung, sondern zwischen Namensformel und Truppenkategorie“, und passim. Vgl. ähnlich auch Forni 1992b, 310 für die beiden italischen Flotten, der dies in ihrem Fall mit der zu Beginn des II. Jhdts. erfolgten Verleihung des Titels praetoriae zu verbinden erwägt; ebenso Mócsy 1986, 442f.

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Die Frage des Bürgerrechts sollte hiervon also nochmals zu trennen sein. Bei dem misenatischen Flottensoldaten hatte sich Bernhard Palme immerhin zu Erwägungen darüber veranlasst gesehen: „Unklar bleibt, ob Apion den lateinischen Namen Antonius Maximus aus freien Stücken angenommen hat bzw. zugewiesen bekam, oder ob die Namensänderung darauf hinweist, dass er beim Eintritt in die militia die latinitas erhalten hatte“. 48 Abgesehen davon, dass Terentianus selbst nichts von einer mit der Einschreibung etwa einhergegangenen Statusveränderung verlauten lässt, ist indes auch die Lage der verschiedenen Flottenverbände nicht ohne weiteres zu vergleichen. Denn während Angehörige der prätorischen Flotten wie auch der Auxiliartruppen darauf hoffen durften, mit der honesta missio das römische Bürgerrecht zu erhalten, mussten solche der classis Augusta Alexandrina nach § 55 des sog. Gnomon des Idios logos damit rechnen, nach ihrem Dienstende wieder als Ägypter eingestuft zu werden. 49 Dies hatte sich allem Anschein nach im I. Jhdt. noch anders gestaltet, wie entsprechende Militärdiplome aus flavischer Zeit bezeugen, 50 freilich ohne dass wir wissen, wie es sich zu Terentianus’ Zeiten damit verhielt. Allein schon die fehlende Perspektive als Flottensoldat in einer der Provinzflotten mag insofern jedoch hinreichenden Grund für seinen Versetzungswunsch geboten ha-

48 Palme 2006, 287; so mit Bezug auf die von Mommsen 1881, 467ff. bzw. 1908, 411ff. begründete Auffassung, wonach Flottensoldaten peregriner Herkunft spätestens seit hadrianischer Zeit beim Eintritt in die Armee das latinische Recht bekamen; dem folgend etwa auch Wilcken 1912, Einl. zu W. Chr. 480, vgl. jetzt jedoch Palme 2006, 287 Anm. 31. Mit einer Übersicht über die verschiedenen Positionen zum ius Latii bes. Forni 1992b, 310f. Anm. 50; diesbezüglich skeptisch etwa auch Reddé 1986, 525ff.; Mócsy 1986, 443 mit Anm. 28. Zuversichtlicher dagegen jetzt wieder Pferdehirt 2002, 169ff. zumindest mit Bezug auf die prätorischen Flotten, während für die Provinzflotten anscheinend anderes galt, vgl. bes. zusammenfassend 173 und unten Anm. 50. 49 So zumindest in der Mitte des II. Jhdts., als das uns jetzt vorliegende Exemplar dieses Handbuchs des für die Sondereinkünfte zuständigen Finanzprokurators entstand, vgl. nur BGU V 1210, 142 ff. ὁµοίως δὲ καὶ οἱ ἐκ. [τοῦ] ἐρετικ. οῦ ἀπ[ολ]υθέντες ἀποκαθίστανται (sc. εἰς τὸ Αἰγύπτιον τάγµα) πλὴν µόνων τῶ̣[ν] ἐ. κ Μησινῶν [σ]τ. όλου (nach 149) mit Palme 2006, bes. 283f., wonach „die Rudermannschaften der misenensischen Flotte eine bevorzugte Stellung gegenüber den anderen classici genossen“ (283). Dabei steht noch dahin, ob diese Vorschrift tatsächlich generelle Geltung besaß oder sich nicht vielmehr auf die den Ägyptern üblicherweise zugänglichen Flottenverbände beschränkte. Nur so ließen sich schließlich die nach Ausweis der EDCS zahlreich überlieferten Militärdiplome für Angehörige anderer Provinzflotten erklären; verwiesen sei nur auf die gerade auch in jüngster Zeit vermehrt zutage getretenen Militärdiplome zumal für die classis Flavia Moesica, worunter AE 2007, 1236 (157) mit Ivantchik/Krapivina 2007 wegen des gesicherten Fundkontextes nochmals besondere Aufmerksamkeit verdient. 50 Vgl. nur die Konstitution des Titus für veterani qui militaverunt in classe quae est in Aegypto vom 8. 9. 79, die wir durch das Diplom des Arsinoiten M. Papirius CIL XVI 24 kennen, oder diejenige Domitians für classici qui militant in Aegypto vom 17. 2. 86, die nach dem 1735 in Theben erworbenen CIL XVI 32 auch C. Gemellus aus Koptos betraf; hierzu auch Pferdehirt 2002, 172f., die gerade diese beiden Diplome als Beleg dafür anführt, dass „[d]er Eintritt in eine Provinzflotte … anscheinend nicht mit einem Statuswechsel verbunden“ war (173); grundsätzlich skeptisch hinsichtlich der Aussagekraft dieser und weiterer früher Zeugnisse allerdings Alföldy 1986, 415: „Schlußfolgerungen, durch welche wir die allgemeine Praxis bei der Privilegierung von Soldaten aus den Provinzialflotten erkennen könnten, lassen diese vier Urkunden aus der Flavierzeit jedenfalls nicht zu.“

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ben; die ungleich besseren Konditionen in den Legionen 51 – und zwar sowohl während der Dienstzeit als auch danach – mögen noch hinzugekommen sein. Letzteres hatte auch schon Barbara Pferdehirt zur Sprache gebracht, die sich jedoch gleichwohl mit der herrschenden Meinung zufriedengab, Claudius Terentianus als römischen Bürger zu betrachten; ja, sie führte ihn sogar als Beispiel dafür an, dass auch diese mitunter freiwillig in den Hilfstruppen dienten, ohne danach zu fragen, wieso er dann überhaupt in der Flotte begann. 52 Wendet man die von ihr selbst entwickelten Kriterien auch auf seinen Fall an, wird man nunmehr jedoch annehmen, dass Terentianus schon immer so hieß, aber (noch) nicht über das römische Bürgerrecht verfügte. Vor allem würde dies nochmals verständlicher machen, warum er so enttäuscht und verärgert auf die Probleme bei seiner Einschreibung reagierte, was sich mit der nachmaligen Versetzung in die Legionen allerdings erledigen sollte – wenngleich er möglicherweise auch dadurch noch nicht unmittelbar in den Genuss des römischen Bürgerrechtes kam. 53 Ein weiteres Argument für Tiberianus’ Vaterschaft wurde häufig in der beiden gemeinsamen Zweisprachigkeit gesehen, die sie sowohl auf Latein wie auch Griechisch kommunizieren ließ. Terentianus sprach von Haus aus offenbar Griechisch, muß aber Latein – oder zumindest die seinerzeitige Umgangssprache – relativ gut beherrscht haben. 54 Tiberianus scheint hingegen, wenn denn der eine von ihm erhaltene Brief so weit aussagekräftig ist, ein gepflegtes Latein gesprochen zu haben. Dies hatte J. N. Adams auf eine Herkunft aus dem Westen schließen lassen, während Terentianus’ Mutter griechischsprachige Peregrine gewesen sei, mit der sich Tiberianus in der Provinz verbunden hätte. 55 Doch auch Terentianus’ Latein sei zu geläufig, als dass er seine Kenntnisse erst

51 Vgl. nur Forni 1992b, 298 mit einer Aufzählung der Vorteile, die sich etwa die Angehörigen der ravennatischen Flotte von der Versetzung in die neu aufgestellte legio II Adiutrix im Gefolge ihrer Parteinahme für Vespasian versprechen mochten, nämlich „certamente una minor durata del servizio (per parecchi addirittura un congedo immediato) e, inoltre, divenuti cittadini romani, soldo, dona militaria, promozioni, donativi e praemia militiae nella misura spettante ai legionari“. 52 Pferdehirt 2002, 248: „Grundsätzlich können ‚Alt-Bürger‘ in Hilfstruppen natürlich nicht ausgeschlossen werden … Außerdem werden solche Personen versucht haben, bei passender Gelegenheit in die Legionen zu wechseln. Hier waren nicht nur die Dienstzeit kürzer und der Sold höher, sondern die Bürgerrechtsprivilegien für ihre Angehörigen ungleich umfangreicher. Bestes Beispiel dafür ist Claudius Terentianus, der als römischer Bürger zunächst in der Flotte diente, sich jedoch schon bald darum bemühte, in eine Legion versetzt zu werden.“ Freilich hätte schon der Umstand Zweifel wecken müssen, dass Terentianus’ Versetzungswunsch von Anfang an bestand, von seiner Verärgerung über diese Lage ganz zu schweigen. 53 Vgl. nur die von Forni 1992a, 351 genannten Fälle. 54 Hierzu grundlegend Adams, vgl. bereits oben Anm. 18 und bes. Adams 2003, 593 ff.; so auch mit eingehendem Referat zustimmend zitiert von Kramer 2008, 250, der dies für eine „mit sprachlichen Argumenten gut untermauerte These“ erklärt; vgl. auch Strassi 2008, 111f. Zu scheiden hiervon sind die Überlegungen zur Sprachenwahl in der Korrespondenz, vgl. auch bereits oben Anm. 8. 55 Vgl. nur Adams 2003, 596 „Tiberianus was a westerner who had married a local woman; Latin would have been his mother tongue“, und bereits oben Anm. 18; mit Vorbehalten gegenüber der familiären Situierung jedoch Kaimio 1979, 190f. („very hypothetical“, 191 Anm. 84).

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in der Armee erworben haben könne, vielmehr deute alles darauf, dass er zweisprachig aufgewachsen war. 56 Zweifellos war es das erklärte Lebensziel des Terentianus, in die Legionen einzutreten, wie immer dies zustande kam  –  ob durch das Vorbild eines selbst im Heer dienenden Vaters, ein familiär begründetes Interesse an sozialem Aufstieg, die Attraktivität einer Laufbahn ohne allzu große persönliche Risiken oder auch das demonstrative Selbstbewusstsein siegverwöhnter Streitkräfte. 57 Gute Lateinkenntnisse dürften bei solchen Ambitionen in jedem Fall förderlich gewesen sein, selbst wenn sie kaum eine unabdingbare Voraussetzung darstellten; zumal bei den Provinzflotten werden sich sicherlich nicht wenige mit dem Minimalbedarf an Sprachkenntnissen zufriedengegeben haben. 58 Bei einem ehrgeizigen jungen Mann wie unserem Terentianus sah das offenkundig anders aus. 59 Diesem Ziel zuliebe scheint er schon früh damit begonnen haben, sich die Sprache anzueignen, ob er nun zwingend leiblicher Sohn eines ‚Westerner‘ oder nicht doch des Ptolemaios war. Schließlich verfügte auch letzterer über enge Kontakte nicht nur zu Tiberianus, sondern auch unabhängig davon zum Militär als solchem, wenn er nicht gar selbst Armeeangehöriger war. 60 56 So dezidiert nochmals Adams 2003, 594, in seiner Kritik an Kaimio (wie vorige Anm.) allerdings offenbar mit einem Missverständnis – der mit dem Ausscheiden aus dem aktiven Dienst verbundene Wechsel vom Lateinischen zum Griechischen in der Korrespondenz betrifft nicht Terentianus, sondern den in der auch von ihm ziterten Darstellung zuletzt genannten Empfänger („especially since the recipient also served in the army“, Kaimio 1979, 190) und damit Tiberianus, was insoweit auch der herrschenden Meinung entspricht; vgl. zudem oben Anm. 8. 57 Allgem. hierzu Davies 1989, 28ff., wenngleich sicherlich zu weit gehend darin, dass Terentianus „joined to avoid being classed as a runaway slave by his father and saw nothing but misery in store“ (28). Dies gründet sich offenbar auf dessen Aussage in P. Mich. VIII 467, 17 ṇe tiḅ[i] pareaṃ a spe ạṃạṛ[a] paṛpa[tum] ṿagari quasi fugitivom, mit der Terentianus gegenüber Tiberianus nochmals die Größe des ihm mit dem Flottendienst abverlangten Opfers herausstreicht, die aber sicher nicht wörtlich zu nehmen ist und im Übrigen keineswegs das Militär als Ganzes betrifft; so allerdings auch Alston 1995, 136, vgl. zuletzt jedoch Strassi 2008, 121. 58 So auch Halla-aho 2003, 251 „There were probably not many men in the Alexandrian fleet who could use Latin more than was required by army policy“; sicher allzu optimistisch dagegen Calboli 1990, bes. 24. Gleichwohl sollte die Bedeutung des Lateins als eines alle verbindenden und damit identitätsstiftenden Elements im Heer nicht zu unterschätzen sein, zumal in manchen Einheiten darin eine der wenigen Gemeinsamkeiten bestanden haben mag, vgl. nur Haynes 1999, 169ff. und bes. 173 in der Zusammenfassung. 59 Insoweit sicher überspitzt, aber wohl doch mit zutreffendem Kern Calboli 1990, 30 „Die Beherrschung des Lateinischen war im römischen Legionsheer ein unumgängliches Erfordernis, und besonders wichtig in einer Umgebung, in der man griechisch sprach und für einen griechischsprachigen jungen Mann wie Terentian … Dieser durfte sein Latein nicht verlernen, bevor er nicht sein Ziel erreicht hatte, nämlich ein λε(γιῶνος) στρα(τιώτης) zu werden“; vgl. auch Mitthof 2000, 396: „Ein Antrieb für Terentianus, sich des Lateins auch im privaten Bereich zu bedienen, mag darin bestanden haben, daß er auf diese Weise seinen Anspruch, zumindest kulturell ein Römer und damit des Dienstes in einer Legion würdig zu sein, unterstreichen wollte“. 60 So nach P. Mich. VIII 471, 21f. factum est illi venire Alexandrie con tirones, vgl. Strassi 2008, 34 Anm. 59 sowie ebda. 125 „in qualche modo occupato nell’esercito“, mit Anm. 49; ebenso jetzt Rei­ nard 2016, 703ff.

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Dass Terentianus nach Tiberianus’ Rückzug in das Privatleben und der im Zusammenhang damit erfolgten Umsiedlung nach Karanis für den inzwischen dort ansässigen ‚Vater‘ allerlei Erledigungen in Alexandria übernahm und auch in rechtlichen Dingen immer wieder für ihn in der Hauptstadt tätig wurde, 61 bestätigt zweifellos das enge und vertraute Verhältnis zwischen beiden, sagt jedoch erneut nichts über die Art dieser Bindung aus; Belege für eine – dann formalisierte – Stellvertretung sind schließlich bestens aus den Papyri bekannt. 62 Ähnliches gilt für den in der Korrespondenz angeschlagenen Umgangston, in dem sich ebenso spaßhafte Übertreibungen wie kritische Bemerkungen finden. 63 Ebenso wenig eindeutig scheint das letzte für Tiberianus’ Vaterschaft ins Spiel gebrachte Argument zu sein, dass nämlich Terentianus in einem der griechischen Briefe so eindringlich um seine Zustimmung wirbt, sich eine Frau ins Haus zu nehmen. 64 Am weitesten ging diesbezüglich Ferri, demzufolge nur ein Sohn und Erbe sich in ähnlicher Weise um das Einverständnis zu entsprechenden Plänen bemühen würde. 65 Was Tiberianus veranlasst hatte, die früheren Vorstöße – wiederholt? – abzulehnen, bleibt unklar. Allerdings hat es den Anschein, als ginge es nicht um eine bestimmte Frau, sondern ‚ums Prinzip‘, was wiederum darauf deuten könnte, dass rechtliche Gründe Tiberianus’ Verhalten bestimmten und er etwa Terentianus’ Karrierechancen dadurch beeinträchtigt sah. Möglicherweise rechnete Terentianus auch aus diesem Grund mit neuerlichem Widerstand, weswegen er seine Auslassungen zum Thema damit begann, dass jemand aus dem gemeinsamen Umfeld die Initiative in dieser ebenso heiklen wie ihm wichtigen Frage ergriffen hatte. 66 Zudem ist dies vielleicht nicht zufällig der einzige Brief, in dem sich 61 So offenbar als Zusatzargument bei Youtie/Winter 1951, Komm. zu P. Mich. VIII 468, 46–47: „It is Terentianus who transacts legal business for Tiberianus at Alexandria“. 62 Nach wie vor grundlegend hierzu Wenger 1906. 63 Zu ersterem vgl. bereits oben Anm. 57, zu letzterem etwa Calderini 1951, 157, der, ohne die Frage der Vaterschaft explizit zu berühren, damit seine Überzeugung „è probabile si tratti veramente del figlio“ begründet: „Il figlio al n. 477 lo rimprovera di andar troppo in giro, invece di fermarsi“ (Anm. 12). 64 Vgl. nur P. Mich. VIII 476, 9–20 und schon Youtie/Winter 1951, Komm. zu P. Mich. VIII 468, 46–47 in Fortführung des oben Anm. 61 zitierten Satzes: „and, as we learn from 476, does not consider himself free to introduce a woman into his household without the consent of Tiberianus“. 65 Vgl. oben Anm. 35; so möglicherweise im Anschluss an Youtie 1981–1982, 736f. bzw. 30f., der Terentianus ebenfalls zum „natural heir“ des Tiberianus erklärt hatte (737 bzw. 31). 66 Vgl. P. Mich. VIII 476, 9 ἔπεµψέ µοι φάσιν περὶ γυναικός, was sich auf den unmittelbar zuvor erwähnten Vater des Iulius beziehen dürfte; so auch Strassi 2006, 221 bzw. 2007, 403 „attraverso l’intermediazione del padre di un commilitone“. Anders allerdings jetzt Reinard 2016, 704f. „Obwohl Ptolemaeus nicht explizit genannt wird, ist doch aufgrund der Formulierung in den Z. 9f. meiner Meinung nach eindeutig von ihm die Rede“ (704), wenngleich er am Ende zugesteht „Der Kontext bleibt aber insgesamt kryptisch“ (705). Für Irritationen hatte stets das folgende γνώµην µου λαµβάνων ἐω. νεῖ.τ. ό. µοι gesorgt, wobei Strassi 2008, 48 Anm. 86 für das nur sehr unsicher gelesene und schon verschiedentlich angezweifelte ἐω. νεῖ.τ. ο. zuletzt π. α. ρέ.σ. χετο „sentito il mio parere me la presenterebbe (?)“ vorgeschlagen hatte. Dies dürfte den Sinn des Passus jedenfalls sehr viel besser treffen, auch wenn die Lesung kaum zu verifizieren ist. Vgl. etwa auch Phang 2001, bes. 237, für deren Annahme, dass sich Tiberianus’ Mitspracherecht zudem möglicherweise dadurch erkläre, dass

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Terentianus in der Adresse auf dem Verso ausdrücklich als Legionssoldat bezeichnet, 67 was nahelegen könnte, dass er mögliche frühere Bedenken durch den neuerlangten Status nunmehr entkräftet sah. Beachtung verdient auch, dass Terentianus Tiberianus zwar in den verschiedensten Wendungen versichert, sich in der Sache ganz nach ihm richten zu wollen, die Bezeichnung als ‚Sohn‘ in der Adresse jedoch erst nachträglich hinzugefügt ist – und auf den Namen möglicherweise erneut das Epitheton τιµιώτατος folgt. 68 Gegen die Elternschaft des ‚Vaters‘ Ptolemaios und der namenlosen ‚Mutter‘ wieder­ um hatte Johannes Kramer die sichtliche Indifferenz des Terentianus gegenüber dem potentiellen neuen Geschwisterchen und vor allem den großen Altersunterschied zwischen beiden in Anschlag gebracht. 69 Was ersteres betrifft, scheinen Aussagen über eine wie auch immer geartete Anteilnahme kaum angemessen, die allein auf dem vorliegenden Brief beruhen, ganz abgesehen davon, dass derartige Rückprojizierungen heutiger Vorstellungen auf antike Verhältnisse ohnehin methodisch höchst bedenklich sind. 70 Was letzteres anbelangt, sind Altersabstände von rund 20 Jahren zwischen Kindern ein und derselben Mutter sicherlich nicht die Regel, aber auch nicht ohne Parallele; erinnert sei nur an den bekannten Fall des Soterichos-Archivs, bei dem drei Söhne in den Jahren um 68 bis 78 zur Welt kamen und der letzte erst im Jahr 95 folgte. Auch hier hatte man die Zugehörigkeit dem gemeinsamen Fundkontext zum Trotz zunächst mit Skepsis betrachtet, zumal der Name des Vaters relativ verbreitet und derjenige der Mutter unbekannt war; erst im Nachhinein publizierte Kopfsteuerquittungen sollten hier Klarheit schaffen, die den Nachkömmling Didymos zweifelsfrei als Kind desselben Elternpaars erwiesen. 71

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die künftige Schwiegertochter in seinem Haushalt leben solle (so 125 Anm. 35), freilich alle Indizien fehlen. Nicht näher erörtert von Reinard, der lediglich 2016, 705 von „‚erwerben‘“ und 2016, 734, erneut in Anführungsstrichen, von „der Ehefrau, die … ‚gesucht‘ wird“, spricht. So P. Mich. VIII 476, 32 f. ἀπόδ(ος) Κλαυδίῳ Τιβεριαν[ῷ]  ̣  [ ̣  ̣ ] ̣ [ ̣  ̣  ̣ ] ̣   ̣   ̣ ωι [π]α̣ [ρὰ] Κλαυδίο[υ Τερε] ν­­ τιανοῦ `υἱοῦ´ λε(γιῶνος) στρα(τιώτου). Zum Nachtrag Youtie/Winter 1951, 57 im Komm. zu P. Mich. VIII 476, 33 „υἱοῦ: written above the line“. Für das nicht mehr entzifferbare Wort würde sich parallel zu P. Mich. VIII 479, 24 von den Platzverhältnissen her eine Lesung τιµιωτάτῳ immerhin anbieten, wie auch der Anfangsgruß in Z. 1f. abgesehen von der Vertauschung der Elemente κύριος und πατήρ in beiden Papyri identisch ist, vgl. unten Anm. 77. Zur Diskussion des nach Dickey 2004a, 57 nicht vor dem I. Jhdt. n. Chr. begegnenden τιµιώτατος auch oben Anm. 34, wobei Sarri 2018, 47 es allerdings erneut außerhalb familiärer Korrespondenz angesiedelt sieht, vgl. nur das Zitat unten in Anm. 99. Vgl. oben Anm. 33. Ähnlich kritisch schon Kramer 2007, 61, Anm. 4 selbst, hier gegenüber der von Pighi vertretenen Deutung, in Ptolemaios und seiner Familie die eines Onkels zu erblicken (vgl. oben Anm. 27): „Diese Idee sieht aber nur die gesellschaftliche Lage im antiken Ägypten durch die Brille unserer Familienstrukturen. In allen Fällen, in denen pater, mater, fratres im uneigentlichen Sinne verwendet werden, läßt sich über genaue Verwandtschafts- oder Freundschaftsbeziehungen nichts Genaues aussagen.“ Diesbezüglich noch zurückhaltend Omar 1979, 17–18 in der allgem. Einl. zu P. Soter., bes. 17f.; vgl. jedoch die nachmals von ihm selbst publizierten SB XX 14629 und 14630 (25. 5. 118), die erstmals den Namen auch der Mutter boten, sowie zuletzt SB XX 15109 (113–117 n. Chr.). Hierzu auch Smolders, TM Arch² 226 (https://www.trismegistos.org/archive/226; letzter Abruf 17.05.2023) = Vandorpe/Clarysse/Verreth 2015, 379–82, bes. 382 den mit den Daten versehenen Stammbaum.

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Keinem der bisher erörterten Argumente kommt folglich Beweiskraft zu. Claudius Terentianus muß Peregriner gewesen sein, wie die so unwillig hingenommene Rekrutierung als bloßer Flottensoldat erweist. Er sollte auch schon immer so geheißen haben, ohne dass sein Verhältnis zu Claudius Tiberianus darüber zu bestimmen ist. Auch inhaltliche oder stilistische Beobachtungen in der Korrespondenz vermögen diesbezüglich keinerlei Erkenntnisse zu liefern. Dasselbe gilt für die von Dickey herausgearbeiteten Kriterien zur Einordnung der Anredeformen; weder sie noch auch das üblicherweise als Ausdruck des Respekts geltende Epitheton τιµιώτατος, das, wie schon Roger Bagnall notierte, zwar bevorzugt, aber keineswegs ausschließlich in außerfamiliärem Kontext auftritt, sind insoweit als ausschlaggebend zu werten. Damit bleibt letztlich nur zu fragen, bei welchem der beiden ‚Väter‘ eine fiktive Verwandtschaftsbezeichnung höhere Plausibilität besitzt. Bei Ptolemaios liefern weder Positionierung im Text noch Kontext irgendwelche Hinweise darauf, warum die Bezeichnung als ‚Vater‘ ehrenhalber verliehen sein sollte. Die Schilderungen, die Terentianus in den Briefen von ihm wie auch der ‚Mutter‘ gibt, gliedern sich jedenfalls ohne weiteres in das auch aus der sonstigen Evidenz geläufige Bild familiären Alltagslebens in Ägypten ein. Danach scheint es sich um eine ganz normale Familie zu handeln, von deren Befindlichkeiten Terentianus dann einem engen Freund eben dieser Familie Mitteilung machen würde – dies wohlgemerkt nur, sofern die Situation es gerade erfordert, weil es ihn mittelbar auch selbst betrifft und sich daher wiederum Weiterungen auch für den Korrespondenzpartner daraus ergeben. Von der Konstellation her wäre es insofern nicht weiter überraschend, wenn Terentianus eben diesen engen und langjährigen Freund der Familie in der Korrespondenz regelmäßig als ‚Vater‘ anspricht. Dennoch reicht auch dies schwerlich aus, über die Frage der leiblichen Vaterschaft ein endgültiges Urteil zu treffen. Es bedarf folglich eines Perspektivwechsels, um aus dieser Aporie herauszufinden. Damit ist erneut auf Forschungen von Eleanor Dickey zurückzukommen, hier vor allem ihre Studien zu den Adressformeln mit ihrem so auffälligen Wandel oder besser ihrer gänzlichen Neuerfindung in späthellenistischer und römischer Zeit, die sie parallel zu den schon oben erörterten Ausführungen zu den ‚kinship terms‘ publizierte. 72 Inter­ esse kommt dabei insbesondere Dickeys Beobachtung zu, dass die für die kaiserzeitlichen Papyri typische Form der Anrede, hier an dem insoweit häufigsten κύριε ἀδελφέ exemplifiziert, 73 dem klassischen griechischen Sprachgebrauch noch gänzlich fremd gewesen war und erst seit dem I. Jhdt. v. Chr. aufkam. 74 Insofern ist auf anderssprachige Vorbilder zu schließen, die angesichts der unverkennbaren Parallelen, die vor allem die 72 Dickey 2004a. 73 Zu dem gegenüber dem klassischen ἄδελφε abweichenden Akzent von ἀδελφέ in der Koine Dickey 2004a, 500 mit Anm. 13 sowie 513f. mit Anm. 63; Dickey 2004b, 144 mit Anm. 25. 74 Vgl. Dickey 2004a, die von „an almost complete discontinuity between the classical Attic address system and that of Egyptian papyri of the Roman period“ spricht (494); zu diesem sog. ‚second address system‘ bes. 500: „This address system resembles that of the classical period in that it allows writers to address all sorts of people: officials, subordinates, friends, relatives, and so on. The vocatives used, however, represent a complete break with the classical period, for although κύριε and ἄδελφε are attested classical literature, they are both rare and found only in high-register poetry.“

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Zeugnisse aus Vindolanda aufweisen, 75 am ehesten im lateinischen Sprachraum auszumachen sind. 76 Dies betrifft sowohl die den Adressaten beigelegten Titel domine als auch die Verwandtschaftsangaben, zumal die kolloquiale Verwendung von frater und soror ein römisches Charakteristikum ist, und nicht zuletzt die Beigabe von Epitheta wie etwa des – gern mit k geschriebenen – karissime. 77 Auch wenn die Entwicklung nicht in jedem Detail mit Ort und Zeit nachzuverfolgen ist, wird man eine Übernahme aus dem inzwischen auch im Osten weitverbreiteten Latein jedenfalls für weitaus plausibler halten als etwaige griechische Einflüsse auf die am Hadrianswall gepflegte Korrespondenz. Demnach hätte das von Dickey rekonstruierte ‚second address system‘ sich am römischen Vorbild orientiert, wobei über Umstände wie Gründe dafür nur zu spekulieren ist und vermutlich auch kontingente Faktoren eine Rolle spielten. Dabei mögen die neuen Herren der Welt schon als solche stilbildend gewirkt haben, so dass sich eine Anpassung an ihre Umgangsformen nicht nur aus politischen Gründen empfahl. Gleichwohl steht noch dahin, ob sich derart tiefgreifende Änderungen allein auf die üblichen Alltagskontakte zurückführen lassen, wie wir sie im Bereich von Militär, Administration und Handel zuversichtlich unterstellen dürfen. 78 Gerade der Umstand, dass die Verwendung fiktiver Verwandtschaftsbezeichnungen eben nicht zu allen Zeiten gleichermaßen gebräuchlich war, lässt vielmehr nach den historischen und vor allem gesellschaftlichen Bedingungen fragen, die solche Entwicklungen zeitigen mochten. Geläufig sind diese Praktiken allerdings aus ganz anderem Kontext, wo sie seit jeher hohe Aufmerksamkeit genossen, nämlich dem frühen Christentum. Schon immer wurde die den Christen bis heute eigentümliche Anrede als ‚Bruder‘ bzw. ‚Schwester‘ als auffällig notiert und sogar für ein bewußt eingesetztes Distinktionsmerkmal gehalten, mit dem man sich von der jüdischen und besonders heidnischen Umgebung abzugrenzen suchte. Dies knüpfte einerseits an Gepflogenheiten an, die aus dem Judentum vertraut und offenbar für dieses spezifisch waren. Andererseits hatte sich dies, wie von Dickey dargelegt und von Peter Arzt-Grabner unabhängig davon bekräftigt, in der Kaiserzeit auch außer75 Nur hingewiesen sei auf den passenden Untertitel „A Band of Brothers“ von Birley 2002, mitsamt der – hier allerdings dem leiblichen Bruder geltenden – Widmung Fratri karissimo (2). 76 Vgl. Dickey 2004a, bes. 501ff. zu Vindolanda sowie 503ff. mit einem Survey über die möglichen Einflüsse sonstiger Sprachen, mit dem Résumé „It therefore seems that the address system of the Greek papyri is found in a context already heavily influenced by Latin, in which it is very likely that the address system itself was affected by Latin“ (509); zur Entwicklung allgem. auch 524f. mit nochmaliger Betonung, dass das Phänomen keineswegs auf Ägypten beschränkt sei. 77 Vgl. Dickey 2004a, bes. 511f. zu den Titeln (hierzu auch schon Dickey 2001), 512ff. zu den Verwandtschaftsangaben und 517ff. zu den Epitheta; zum römischen Vorbild bes. 515 „Since κύριε is based on domine, and since the parallel between the common Greek combination κύριε ἀδελφέ and its Latin twin domine frater is so close …, κύριε ἀδελφέ must be based on domine frater“, vgl. auch 512, 518f. Signifikant erscheint insbesondere die Kombination dieser drei Faktoren, wie sie Terentianus etwa in dem auf Griechisch geschriebenen P. Mich. VIII 479 bietet, vgl. nur Z. 1f. den Anfangsgruß Κλαύδιος Τερεντιανὸς Κλαυδίῳ Τιβεριανῷ τῷ πατρὶ καὶ κ[υρί]ῳ πλεῖστα χ[α]ίρειν sowie Z. 24 die Adresse auf dem Verso Κλαυδ[ί]ῳ Τιβερια[νῷ] τ.ῷ τ.ει.µ. ι.ω. τ.ά. τ.ῳ π(αρὰ) Κλα[υδίου] Τερεντιαν[οῦ]. 78 So Dickey 2004a, 505f., vgl. auch unten Anm. 89 mit Text bzw. Zitat sowie die abschließenden Überlegungen 525ff., die dies aber letztlich offenlässt.

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halb der jüdischen Lebenswelt etablieren können, so dass es jetzt allgemein gleichsam zum ‚guten Ton‘ gehörte. 79 Trotz der vermeintlichen Ubiquität sei Arzt-Grabner zufolge jedoch keineswegs auf völlige Beliebigkeit zu schließen, kennzeichne dies doch stets eine Nahbeziehung besonderer Qualität, so zumal in einer Gesellschaft, in der die Familie der wesentliche Bezugsrahmen war. So werde hierüber letztlich eine neue ‚Familie‘ konstruiert, womit einer solchen Anrede durchaus Bekenntnischarakter zukomme. 80 Skeptischer zeigte sich hingegen Reidar Aasgaard, der am Ende seines Surveys über den „metaphorical use of sibling language“ bemerkt: „Generally, however, the evidence is scanty“, ja mehr noch: „The sibling metaphor appears rarely to have been very central. And only occasionally can we infer that sibling notions played a part in their self-understanding as groups and individuals.“ 81 Bei alldem liegt auf der Hand, dass bestimmte Konstellationen für die Übertragung familiärer Beziehungen geeigneter erscheinen mochten als andere und manche soziale Gruppen geradezu prädestiniert dafür waren. Die Suche nach Parallelen im Vereinswesen lag folglich ausgesprochen nahe, ohne jedoch lange Zeit zum Erfolg zu führen. Dies änderte sich erst, als Philip A. Harland auf die Quellenproblematik aufmerksam machte, die das aus Ägypten vertraute Bild ebenso grundlegend wie irreführend von dem im son­ stigen Osten unterscheidet. 82 Selbst wenn verlässliche Aussagen darüber wohl weiterhin nicht zu treffen sind, ist nach den von ihm vorgenommenen Korrekturen jedoch kaum mehr zu bezweifeln, dass das Phänomen sehr viel verbreiteter als bisher angenommen war. Dabei weist auch Harland auf die Implikationen hin, die mit der Verwendung solcher Verwandtschaftsangaben verbunden waren, wie namentlich Plutarchs Ausführungen zur brüderlichen Liebe lehrten. 83 Das Militär steht hierbei freilich so gut wie nirgends im Fokus. So führt Arzt-Grabner unter den Beispielen, die einen entsprechenden Sprachgebrauch unter ‚officials‘ belegen, auch eine Reihe lateinischer Briefe auf; dass an den von ihm benannten Fundorten durchweg römische Einheiten stationiert waren, bleibt dabei ebenso unerwähnt wie im Fall der griechischen Ostraka vom Mons Claudianus, die er unter den ‚business partners‘ behandelt. 84 Harland wiederum hat ein halbes Dutzend Gruppen benannt, bei denen er 79 Vgl. nur Arzt-Grabner 2002, hier mit besonderem Nachdruck auf den Parallelen in verschiedenen Kulturen und dem Nachweis entsprechender Verwendungen für Amtskollegen, Freunde und Geschäftspartner, entgegen verbreiteter Meinung jedoch erst spät in Berufs- und Kultvereinen. 80 So zusammenfassend Arzt-Grabner 2002, 201ff. und bes. 203 mit Verweis auf Destro/Pesce 1995, die der – im NT bekanntlich nicht immer spannungsfreien – „relation between two Jewish-Palestinian social forms coexisting within the Jesus movement: discipleship and kinship“ (266) nachgehen. 81 So Aasgaard 2004, 116 im Résumé des unter diesem Untertitel stehenden Kap. 7. 82 Harland 2005. 83 So bes. Harland 2005, 513, mit dem Zitat aus Plut., de frat. amor. 479 C-D, wonach jede Freundschaft nur ein Abbild der ersten, von Natur aus gegebenen Bindung innerhalb der Familie sei: σκιαὶ γάρ εἰσιν ὄντως αἱ πολλαὶ φιλίαι καὶ µιµήµατα καὶ εἴδωλα τῆς πρώτης ἐκείνης, ἣν παισί τε πρὸς γονεῖς ἡ φύσις ἀδελφοῖς τε πρὸς ἀδελφοὺς ἐµπεποίηκε. 84 Vgl. nur Arzt-Grabner 2002, 191 „Also in several Latin letters from Egpyt (sic), Dura Europos and Vindolanda the addressee is called ‚brother‘ in a metaphorical way“. Zu den eingehender behandelten lateinischen Ostraka aus dem Wadi Fawakhir 191f., zu denen vom Mons Claudianus 198.

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die Konstruktion fiktiver Verwandtschaft als stets unterschätzt ansieht, doch ist auch bei ihm vom Militär nicht die Rede. 85 Armeeangehörige tauchen überhaupt nur einmal auf, bezeichnenderweise im Zusammenhang mit einer Vereinigung innerhalb des – hier noch ptolemäischen – Heeres. 86 Bei Aasgaards Streifzug durch Familie, Philosophenschulen, Mysterienkulte, Vereine und ethnische Gruppen, den er auf der Suche nach einschlägigen Zeugnissen für den ‚metaphorical use‘ unternimmt, bleibt es sogar gänzlich außerhalb des Blicks. 87 Was den Sprachgebrauch als solchen betrifft, war es Harland indessen auch darum getan, diese Praxis im Vereinsleben des Ostens frei von etwaigen römischen Einflüssen und vielmehr als genuin griechisch zu erweisen. 88 Dem wird man mit Dickey kaum mehr ohne weiteres beistimmen wollen. Nur stellt sich weiterhin die Frage nach den historischen und gesellschaftlichen Bedingungen, unter denen mit der von ihr plausibel gemachten Übernahme zu rechnen ist, konkret also die Frage nach Kontaktzonen und Multiplikatoren. Voraussetzung dafür sollten, wie immer in solchen Fällen, enge und relativ dauerhafte Beziehungen zwischen Angehörigen verschiedener Sprachgruppen sein, die jeweils in nicht geringer Anzahl vertreten waren und bei denen es partielle Überschneidungen der Lebensbereiche gab, ohne dass die sozialen Unterschiede allzu gravierend ausfielen. Wie oben dargelegt, stand Dickey dabei die Allgegenwart von „Roman military units, a constant influx of Latin speakers at the top of the administrative hierarchy, and commercial contacts“ vor Augen. 89 In Ägypten wird man diese letzten beiden Bereiche allerdings weitgehend ausscheiden dürfen, da der Schriftverkehr im Lande, genauer jenseits von Alexandria, bis hoch in die Verwaltungsspitze hinein bekanntlich auf Griechisch abgewickelt wurde. Im mündlichen Austausch, wie er bei Handelsgeschäften üblich war, dürfte dagegen nach wie vor das einheimische Demotisch vorherrschend gewesen sein, dass hier zweifellos von größerer Bedeutung war als das Lateinische, wenn nicht gar als das Griechische, das sich möglicherweise auf die höherwertige Sparte und Fälle schriftlicher Niederlegung beschränkte. Im Alltag scheint Latein nach allem, was wir sehen, bis zu Diokletian jedenfalls kaum eine Rolle zu spielen, so dass sich die im ‚second address system‘ fassbare, offenkundig flächendeckende Adaptation römischer Umgangsformen schwerlich aus Wirtschaft und Verwaltung erklärt.

85 Harland 2005, 512: „Yet what is clear is that many scholars have underestimated the evidence and significance of fictive kinship language within associations and organizations of various kinds (ethnic, cultic, occupational, gymnastic, civic, and other groups) in the Greco-Roman world“. Das Militär wäre damit wohl am ehesten unter den „other groups“ subsumiert, da bei „occupational“ die typischen Berufsvereine in Handel und Gewerbe im Blick sein dürften. 86 Harland 2005, 506f. mit Anm. 45 a. E. sowie 48. 87 Aasgaard 2004, 107ff. Kap. 7. 88 Vgl. Harland 2005, bes. 493 in der Auseinandersetzung mit entsprechenden Meinungen in der Literatur; ähnlich etwa auch 504 Anm. 40; 509 Anm. 55. 89 Dickey 2004a, 506, vgl. auch bereits oben Anm. 78 mit Text.

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Dies muß nicht zwingend auch für andere Gegenden gelten, die im Laufe des Hellenismus unter römische Herrschaft gerieten. 90 Sucht man gleichwohl nach Orten und Situationen, von denen derart starke Impulse auf die umgebende Gesellschaft ausgingen, dass sie auf lange Sicht die Umgangsformen in römischem Sinne zu transformieren verstanden, wird man sie am ehesten in der – schließlich überall gegebenen und daher allen gemeinsamen – Präsenz des Militärs erblicken dürfen. Römische Einheiten waren nicht nur an den von Arzt-Grabner aufgezählten Fundorten stationiert, sondern auch am Hadrianswall, woher Dickey die für ihre These zentralen Informationsquellen bezog, und ebenso in der ägyptischen Ostwüste, wo dieser Sprachgebrauch in den – hier griechischen – Ostraka gleichfalls gängige Münze war; 91 dasselbe gilt für die von Cugusi zusammengestellte Evidenz. 92 Für das Verständnis von pater „in senso lato“ führt Cugusi dabei allein vier Belege auf, für ein solches von frater sogar insgesamt 17, denen er nur einen einzigen Beleg für die Verwendung „in senso proprio“ gegenüberstellt. 93 Allerdings äußert sich Cugusi auch in diesem Fall ausgesprochen vorsichtig, 94 während Michael Alexander Speidel in seiner Neuedition in T. Vindon. 52 darin erneut nicht mehr als eine ‚floskelhafte Wendung‘ sieht, 95 wie sie nach Frédérique Biville zu den Charakteristika der Korrespondenz von Armeeangehörigen zählten. 96 90 Ein Problem ist diesbezüglich zweifellos in dem bekannten Mangel an Zeugnissen außerhalb des Nillands zu sehen, wodurch die Situation in Ägypten stets singulär erscheint. Wird jedoch mit Kaimio 1978 die Quellenproblematik hinreichend in die Betrachtung miteinbezogen, stellen sich die Verhältnisse im gesamten Osten entgegen verbreiteter Auffassung durchaus als vergleichbar dar; vgl. ähnlich auch schon Harland 2005 und oben Anm. 82 mit Text. 91 Fournet 2003, 481; zur Präsenz römischer Einheiten in den Steinbrüchen bes. Hirt 2010, 179ff. 92 Vgl. allgem. Cugusi, CEL I S. 19; dies umfasst, wohlgemerkt noch ohne die nachmals publizierten Funde aus der Ostwüste, insgesamt „245 lettres ou fragments de lettres dont plus de la moitié sont répertoriées comme ‚militaires‘“, wie schon Biville 2014, 90 notierte; allgem. auch Halla-aho 2009, 11: „Another thing connecting these texts is that the writers in most cases were somehow associated with the Roman army.“ 93 Vgl. nur den „Indice delle cose notevoli“ in CEL II S. 392ff., bes. 401 bzw. 397, wobei sich die Belege für frater in der Verwendung „in senso proprio“ nochmals unterteilen in acht „in senso lato, non burocratico“ sowie neun weitere „in senso lato, burocratico (nei confronti di inferiori o pari-grado)“; hierzu auch allgem. CEL I S. 43 unter den „Espressioni d ’e t i c h e t t a“. 94 Vgl. Cugusi, CEL II S. 33 im Komm. zu CEL 16, 1 „Primigenius Camerius Primigenio Oclatio fratri suo salutem: qui frater pare indicare proprio ‚fratello‘, stando all’onomastica, non genericamente ‚caro‘ e simili, come spesso nei papiri epistolari“. 95 Vgl. nur Speidel 1996, Einl. zu T. Vindon. 52, der in diesem Fall sogar mit einer absichtlichen Vertauschung von Gentiliz und Cognomen rechnet und daher zu dem Schluss gelangt: „Frater bezeichnete hier dann nicht den leiblichen Bruder, sondern den Kamerad“, und allgem. S. 35 mit ausdrücklichem Verweis gerade auch auf diesen Brief: „Vor allem in floskelhaften Wendungen wie frater care vale (Nr. 45 (2x)), … opto te bene valere frater (Nr. 4b), … fratri suo salutem. Frater si vales … (Nr. 52) ist wohl die Bedeutung ‚Kamerad‘ zu vermuten“. 96 Vgl. nur Biville 2014, 93: „Si l’on peut envisager une spécificité de l’épistolaire militaire au sein de épistolographie de langue latine, c’est donc avant tout dans les caractéristiques énonciatives qu’il faut aller les chercher : dans le contexte, géographique et historique, d’émission et de réception des lettres ; dans le statut de leurs émetteurs et de leurs récepteurs, qui entraîne l’emploi fréquent de mots tels que pater, ‚père‘, ‚maître‘, frater, ‚frère d’armes‘, contubernalis, ‚compagnon d’armes‘ ; et

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Demnach spricht viel dafür, eben im Militär den Ausgangspunkt für die von Dickey nachgezeichnete Entwicklung zu vermuten, wonach sich das auf römischer Grundlage beruhende ‚second address system‘ sprach- und kontextunabhängig durchzusetzen vermochte. Römische Armeeangehörige hatte zuletzt auch Antonia Sarri mit dem Wandel des Briefstils in Verbindung gebracht, wobei sie vornehmlich auf Kolonisten und Veteranen abstellte, die sich in den Provinzen niederließen. Deren Streben nach Integration in die griechischsprachige Umgebung setzte Prozesse in Gang, in denen es mehr und mehr zu wechselseitigen Beeinflussungen kam, die letztendlich zur Ausbildung einer sprachübergreifend von formalen Konventionen geprägten Briefkultur führten. 97 Hinsichtlich des Briefstils als solchen hat dieses Szenario durchaus einiges für sich, fänden die so offenkundigen römischen Einflüsse darin doch einen angemessenen Platz. Wie weit dies auch die neue Vorliebe für fiktive Verwandtschaftsbezeichnungen zu erklären vermag, steht freilich noch dahin. Schließlich haben wir in Ägypten mit einer Gesellschaft zu tun, in der man solche Titel allenfalls dem Ehepartner beizulegen pflegte, die Vergabe also keineswegs leichtherzig geschah und nicht zuletzt allen Traditionen widersprach. 98 Zu bedenken ist überdies, dass Bürgerkolonien und Ansiedlungen von Veteranen ein kaiserzeitliches Phänomen sind, das außerhalb Italiens erst die von Augustus initiierten Demobilisierungskampagnen ins Leben riefen. Wenn das ‚second address system‘ mit surtout dans les thématiques, relevant de la vie militaire“. Ähnlich zuletzt auch Reinard 2016, der freilich eher beiläufig bemerkt „Die Verwendung von ‚Bruder‘ in Soldatenbriefen ist omnipräsent“ (II 748 Anm. 2773). 97 Sarri 2018, allgem. 44ff. und bes. 51. Da Sarri zu den wenigen gehört, die sich um eine Erklärung und vor allem historische Verortung des Phänomens bemühen, sei ihre Rekonstruktion ausnahmsweise in vollem Umfang zitiert: „Thus, it seems that the Romans who immigrated to the Eastern provinces, despite using Latin in high military and state administration, used Greek in their every­ day life and often in their private correspondence. The obvious reason for this preference is that Greek was regarded as culturally prestigious by high-class Romans, including emperors and orators, who wrote literature and elegant private letters in Greek. The attitude of Roman immigrant soldiers in the Eastern provinces of the Empire was not different from the attitude of the aristoc­ racy at Rome. Since the Roman immigrants in the Eastern provinces were regarded as politically and social­ly superior to Greeks, their linguistic and epistolary style was soon imitated by the latter, especially by those who aspired to ascend socially and enter Roman elite circles. Thus, formulaic constructions, which were imported unconsciously into Greek by Latin native speakers who tried to speak and write in Greek, got established in Greek by being imitated by Greek native speakers.“ 98 So ausdrücklich Dickey 2004b, 156ff.; Dickey 2004a, 514f., bes. Anm. 67 mit Verweis auf die maßgebliche Arbeit von Franke 1983; so jetzt auch Revez 2003, demzufolge der Begriff sn ‚Bruder‘ in klassischen ägyptischen Texten zwar durchaus in übertragenem Sinn auftritt, aber vornehmlich zur Kennzeichnung von Gleichrangigkeit verwendet wird. Zumal außerhalb der religiösen Sphäre besitzt er dabei eher formale Qualität, insofern er auf die Äquidistanz, nicht aber eine emotional gefärbte Nahbeziehung abhebt, wie Belege etwa für Arbeitskollegen oder Parteien vor Gericht bezeugen. Zur Situation außerhalb Ägyptens vgl. erneut Dickey 2004a, 522ff., wo sie nochmals die Entwicklungen im Griechischen jenseits davon bespricht und – mit negativem Ergebnis – auf mögliche Einflüsse hin untersucht. Folglich scheint eher Vorsicht geraten, was die Annahme einer allgemein verbreiteten Praxis betrifft, wie sie etwa auch Youtie/Winter 1951, Einl. zu P. Mich. VIII 467–81 verfochten, vgl. bes. 17 „A loose use of ‚father,‘ ‚mother,‘ and ‚brother‘ was as characteristic of the Orient in antiquity as it is now“ sowie das bereits oben Anm. 3 gegebene Zitat.

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Dickey schon in späthellenistischer Korrespondenz zu beobachten ist, sollte diesen erst nach dem Ende der Bürgerkriege geschaffenen Einrichtungen daher kaum eine maßgebliche Rolle bei der Ausbreitung zuzusprechen sein. In den uns vorliegenden Fällen handelt es sich zudem generell um aktive Soldaten, bei denen dieser formalisierte Briefstil mit erstaunlicher Systematik zum Einsatz kam. Insofern bleiben zentrale Fragen unverändert offen. Sicher ist nach alldem allein so viel, dass derartige Anredeformen in der römischen Armee gang und gäbe waren, obwohl keineswegs immer, wenn nicht gar nur in Ausnahmefällen eine leibliche Verwandtschaft vorlag. Ebenso sicher ist, dass unsere Zeugnisse dafür durchweg aus der Kaiserzeit stammen, als dies zu einem der zentralen Elemente des inzwischen fest etablierten Briefstils avanciert war. Sicher ist endlich auch, dass die Anfänge dessen nach Dickeys Erkenntnissen schon in republikanische Zeit zurückreichten, wobei diese Entwicklung vermutlich eher Jahrzehnte als nur wenige Jahre in Anspruch nahm. Wenn diese Verwandtschaftsbezeichnungen in unseren kaiserzeitlichen Quellen nurmehr als bloß höfliche Konvention erscheinen, stellt dies daher nicht mehr und nicht weniger als das Ergebnis eines langwierigen Prozesses dar. Daraus ist jedoch noch nicht zu folgern, dass dem von Beginn an so war. Vielmehr ist ebenso denkbar, dass der Bedeutungsverlust erst im Verlauf der zunehmenden Standardisierung eintrat, bis diese Art der Anrede endlich in das rein Floskelhafte absank. Gerade die Briefe des Terentianus vermitteln indes keineswegs den Eindruck, als sei die Anrede aus purer Höflichkeit gewählt; anders wäre die Forschung denn auch kaum zu ihrer nahezu einhelligen Deutung von Tiberianus als des ‚echten‘ Vaters gelangt. Stellt man dies etwa dem ungefähr gleichzeitigen sog. Apollonios-Archiv gegenüber, an dessen Beispiel Sarri die Differenzen zwischen geschäftlicher und familiärer Korrespondenz illustriert, sind Terentianus’ Schreiben in jedem Fall von derselben „more intimate, personal language“ getragen, die eben die letztere charakterisiert. 99 Dies lässt eher daran zweifeln, dass die besondere Qualität, die solchen Verwandtschaftsangaben grundsätzlich innewohnte, ihnen im Laufe der Zeit so gut wie restlos abhandenkam. Insofern gilt es nochmals neu darüber nachzudenken, ob die bisherige Überzeugung wirklich Richtiges trifft, dass diese Anredeformen, nur weil sie so regelmäßig zum Einsatz kamen, mehr oder weniger alltägliche Gewohnheit und damit letztlich inhaltsleer waren. Dass diese von Rom ausgehende Praxis insbesondere im Heer eine Heimat fand und gerade dort zum festen Bestandteil der Kommunikation wurde, mag dabei durchaus mehr als nur Zufall sein. So hatte bereits Ramsay MacMullen darauf hingewiesen, wie sehr in antiken wie modernen Armeen die Familie als Bezugsrahmen galt und gerade kleineren Einheiten als Modell für den inneren Zusammenhalt diente. 100 Der dabei immer wieder fallende Begriff der „fraternity“, die die Einheit zusammenschweißte und Veteranen auch 99 Sarri 2018, 47: „For example, in the archive of the strategos Apollonios, the letters that he received from officials, social acquaintances or business partners have a relatively formal linguistic style and proper use of the adjectives φίλτατος and τιµιώτατος, while the letters from his mother, wife and other members of the household show more intimate, personal language.“ 100 So MacMullen 1984, zu den modernen, insoweit nochmals expliziteren Parallelen bes. 447ff.

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noch nach ihrem Ausscheiden aus dem aktiven Dienst mit ihren früheren Kameraden verband, 101 besaß dabei vielleicht keine rechtliche Komponente. Dennoch ist die Bedeutung dessen kaum zu unterschätzen, wie nicht zuletzt die inschriftlichen Belege lehren können, die Jana Kepartová zu sammeln vermochte. 102 Welches Gewicht die Betroffenen dieser Vorstellung beimaßen, erhellt dabei ebenso daraus, dass etwa Valerius Titianus, decanus einer Einheit von scutarii, durch Ursus einen Gedenkstein ex numero ipso pro fraternitate erhielt, 103 wie aus nicht wenigen Grabsteinen für fratres, die offenkundig keine leiblichen Brüder waren. So gelangte schon Kepartová zu dem Schluss, dass Angehörige einer Einheit sich als Mitglieder einer Art Familie betrachteten, was mutmaßlich auch in der gegenseitigen Anrede zum Ausdruck kam. 104 Demnach sind die Anredeformen in den Schriftzeugnissen aus diesem Kontext nur bedingt als bloße Konvention im Rahmen der kaiserzeitlichen Briefkultur zu werten. Vielmehr werden wir darin mit Kommunikationsformen konfrontiert, die vorzüglich im Militär verbreitet waren und zumal innerhalb der Einheiten stabilisierend wirkten. Welch hohe Bedeutung der Titulierung als ‚Bruder‘ als identitätsstiftendem Merkmal zukam, zeigt dabei nichts deutlicher als der Umstand, dass man das im Dienst entstandene Nahverhältnis schließlich auch auf Grabsteinen festhielt und sich damit allgemein sichtbar dazu bekannte. Diese Beobachtungen sollten nun auch im Fall des Claudius Terentianus zu einer Neubewertung des Verhältnisses zu seinen beiden ‚Vätern‘ beitragen können. Denn auch bei ihm haben wir mit jemandem zu tun, der sich als Angehöriger des römischen Militärs in einem Umfeld bewegte, in dem die Verwendung fiktiver Verwandtschaftsbezeichnungen übliche, wiewohl nicht rein konventionelle Praxis war. Dies sollte zweifellos den Umgang der beiden Protagonisten miteinander maßgeblich prägen, so dass auch hier mit dem insoweit gruppenspezifischen, uneigentlichen Sprachgebrauch zu rechnen ist. Auch aus diesem Grund wird man mit Strassi in Ptolemaios und seiner Frau die leiblichen Eltern des Terentianus erblicken dürfen, die offenbar schon seit jeher enge Beziehungen mit Claudius Tiberianus pflegten und ihren Sohn – ob bei ihm selbst oder bei anderen – möglichst früh Latein lernen ließen, bis er am Ende in die Fußstapfen von Vater und väterlichem Freund der Familie trat. Dadurch war auch zwischen unseren beiden Claudiern eine enge persönliche Bindung entstanden, die nach dem Selbstverständnis der Beteiligten einem

101 So mit Bezug auf das antike Heer MacMullen 1984, 442f., vgl. etwa auch 451. 102 Hierzu wie zum Folgenden Kepartová 1986. 103 Jetzt besser greifbar in I. Prusias 101 (IV. Jhdt.); die Neudatierung in EDCS (Zugriff am 26. 10. 2020) aufgrund der erwähnten Dienstgrade sicherlich zutreffend. 104 Vgl. nur Kepartová 1986, 13: „Es würde also nicht überraschen, wenn Soldaten, die … meist in einer und derselben Truppeneinheit gedient hatten und sich durch gemeinsam erlebte Gefahren verbunden fühlten, sich als sozusagen wie in einer ‚Familie‘ ansprechen würden.“ Entsprechend auch Panciera 1993, 265f. mit 275, der die auffällig zahlreichen Belege unter den stadtrömischen Militärs als weitere Bestätigung ansieht und namentlich auf den im Jahr 241 pro fratr]ibus et commil[itonibus gesetzten Altar für Aesculapius CIL VI 16 verweist.

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Vater-Sohn-Verhältnis entsprach, ohne dass es noch einer zusätzlichen rechtlichen Fixierung etwa in Form einer Adoption bedurfte. 105 Damit haben wir hierin geradezu ein Paradebeispiel für den für die römische Armee typischen Gedanken der Truppe als Ersatzfamilie vor uns, was die umgebenden Gesellschaften so sehr faszinierte und beeindruckte, dass es deren eigenes Kommunikationsverhalten nachhaltig beeinflusste und hierin letztlich stilbildend wirkte. Die sieghafte Überlegenheit der römischen Armee hatte dabei sicherlich nicht den geringsten Anteil daran, dass diese Kommunikationsformen eine derartige Wirkung zu entfalten vermochten. Es ist durchaus denkbar, dass sich diese Umgangsformen und die nachweislichen Erfolge in den Augen der Unterlegenen so unlösbar miteinander verbanden, dass man sich von der Übernahme und Adaptation dieser Gepflogenheiten eine Teilhabe an eben diesen Erfolgen – oder sogar noch konkreter ähnliche Karrieremöglichkeiten – versprach und sich dies daher auch selbst zu eigen machen suchte. Unverkennbarer Ausdruck dessen war die gegenseitige Bezeichnung als ‚Brüder‘, als die sich die Mitglieder einer Einheit verstanden, während Nahbeziehungen zwischen Personen unterschiedlichen Alters und Ranges wiederum dem Verhältnis von Vater und Sohn angeglichen wurden. Nur zu spekulieren ist darüber, wo und wie dieser Sprachgebrauch aufgekommen war. Dabei werden wir annehmen dürfen, dass die Initiative zunächst von den Betroffenen selbst ausging und sich erst später zu gewachsenen Traditionen verfestigte, die strukturell und systematisch den inneren Zusammenhalt und letztlich auch der Moral der Truppe zu stärken vermochten. Bei Terentianus gibt es gewiss eine ganze Reihe von Indizien dafür, dass das Vater-Sohn-Verhältnis hier schon seit Jahren bestand. Gleichwohl wird nicht rundweg auszuschließen sein, dass in anderen Fällen erst der Eintritt in die Armee den Grund dafür legte und es im Zuge dessen mitunter auch zur Ernennung gleichsam institutionalisierter ‚Ersatzväter‘ kam. Denkbar erschiene dies vorzugsweise dort, wo es nicht um die Aufnahme geschlossener Verbände ging, die bereits einer anerkannten Führungsfigur unterstanden, sondern sich junge, vornehmlich fremdstämmige Rekruten anwerben ließen und dann als einzelne einzugliedern waren. Wie immer es sich damit verhielt, ist nach alldem kaum mehr zu bezweifeln, dass familiäre Konstellationen sich als Grundmuster für die kaiserzeitliche Armee – oder jedenfalls der einzelnen Einheiten – und das Selbstverständnis ihrer Angehörigen etablierten, als eine Art Ersatzfamilie, die an die Stelle von Heimat und Herkunft trat und ein neues, ähnlich starkes Zugehörigkeitsgefühl vermittelte. Das damit beförderte Ideal des quasi-familiären Zusammenhalts war wie nur wenig anderes geeignet, das Nahverhält105 So allerdings erwogen von Youtie/Winter 1951, Komm. zu P. Mich. VIII 468, 46–47 „Ptolemae­ us might be the natural father (φύσει πατήρ) of Terentianus, and yet the dealings of Terentianus with Tiberianus do not suggest that his constant use of pater for Tiberianus is merely politeness … Tiberianus might be his adoptive father (θέσει πατήρ)“; knapp auch erwähnt von Mitthof 2000, 395, vgl. oben das Zitat zu Anm. 19; Strassi 2008, 110; Ferri 2009, 635; Lehmann 1988, 17, demzufolge dies „would also be consistent with the assumption that Tiberianus expected Terentianus to learn Latin, which might explain the observation that Terentianus in his later letters switched from Greek to Latin“, wobei letzteres allerdings kaum das Richtige trifft, vgl. bereits oben Anm. 8; mit Berufung hierauf allerdings auch Cugusi, CEL III S. 230, vgl. oben das Zitat in Anm. 30.

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nis zwischen ihren Mitgliedern zu betonen, sie aus ihrem bisherigen Kontext zu lösen und nurmehr auf den übergeordneten Gedanken des gemeinschaftlichen Lebens zu verpflichten, um damit neue Loyalitäten zu erzeugen und nicht zuletzt die Integration von Neuankömmlingen zu fördern. In diesem Sinne mag durchaus auch der Schlussgruß des Terentianus zu deuten sein, dem man sich gerne anschließen möchte: bene valere te opto multis annis cum tuis omnibus. 106 Literatur Aasgaard, Reidar: My Beloved Brothers and Sisters. Christian Siblingship in Paul, JSNT Suppl. 265, London, New York 2004. Adams, James Noel: The Vulgar Latin of the Letters of Claudius Terentianus (P. Mich. VIII, 467–72), Manchester 1977. Adams, James Noel: Bilingualism and the Latin Language, Cambridge 2003. Alföldy, Géza: Die Truppenkommandeure in den Militärdiplomen, in: Eck/Wolff 1986, 385–436. Alföldy, Géza, Dobson, Brian, Eck, Werner (Hrsg.): Kaiser, Heer und Gesellschaft in der Römischen Kaiserzeit (Gedenkschrift E. Birley), Stuttgart 2000. Alston, Richard: Soldier and Society in Roman Egypt. A Social History, London, New York 1995. Arzt-Grabner, Peter: ‚Brothers‘ and ‚Sisters‘ in Documentary Papyri and in Early Chris­ tianity, in: RivBibl 50, 2002, 185–204. Bagnall, Roger Shaler: Bespr. von Strassi 2008, in: BASP 47, 2010, 329–33. Birley, Anthony: Garrison Life at Vindolanda. A Band of Brothers, Stroud 2002. Biville, Frédérique: Lettres de soldats romains, in: Jean Schneider (Hrsg.): La lettre grécolatine, un genre littéraire?, Lyon 2014, 81–100.

106 So P. Mich. VIII 467, 35 f., was Strassi 2008, 125 freilich eher den Angehörigen des Tiberianus zuordnen möchte: „[I]n un’altra lettera egli scrive a Tiberianus che il padre Ptolemaeus, la madre e i fratelli lo salutano e, subito dopo aver mandato i saluti di rito ai colleghi e ai contubernali di Tiberianus aggiunge ‚bene valere te opto multis annis cum tuis omnibus‘, riferendosi questa volta ai familiari di Tiberianus“. Allerdings dürften die innerfamiliären Grüße schon in Z. 32 (von seiten des Terentianus, vgl. oben Anm. 22) bzw. Z. 33 (auf seiten des Tiberianus, darunter Aphrodisia und Isityche) ‚abgehakt‘ worden sein, während wir ab Z. 34 durchweg mit Militärs zu tun haben. Dabei lässt Terentianus zunächst einige namentlich genannte Männer höheren Ranges grüßen (S] er[en] um s[c]ribam et Marcellum collegam tuum et Tẹrẹ[ntium collega]m tuum, Z. 34f.) und daraufhin et omnes contubernales tuos (Z. 35), was mit Lendon 2006, 270f. wohl eher weit zu verstehen ist, so dass das abschließende Zitat gut einen nochmals engeren Kreis des Tiberianus auch innerhalb der Truppe bezeichnen könnte; vgl. etwa auch die sehr viel detaillierteren Grüße in P. Mich. VIII 468, 49ff. mit dem bei jedem Namen eigens hinzugefügten con suis. Eine Aufstellung der verschiedenen „Sammelbezeichnungen“ jetzt auch bei Reinard 2016, 748ff., wobei die Diskussion freilich nicht recht befriedigt.

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Delius of Plutarch and Dias of Flavius Philostratus: on the Political Activities of Platonists in the Fourth Century BC* Maxim M. Kholod**

It is a great pleasure for me to contribute to this volume dedicated to Professor Burkhard Meißner. The issue I consider in my essay for the volume was chosen not by accident. It is part of the broad theme that has been also studied by Meißner, especially in one of his books 1 – the relationship between Greek intellectuals and monarchical power. With many other Russian colleagues, I wish you, Burkhard, многие лета! ***** Both Plutarch and Flavius Philostratus write, each in a separate passage, about the special impact that those from the Academy, the Ephesians, had on the Macedonian kings’ decisions to wage war against Persia. Apart from several other details, these accounts differ from one another in that Plutarch states this representative of the Academy to have been Delius, while according to Philostratus, it was Dias. Besides, the Macedonian king mentioned by Plutarch is Alexander the Great, whereas Philostratus records that it was Philip II. The passages are as follows: “And the emissary sent to Alexander by the Greeks of Asia, who more than any other kindled his ardour and spurred him on to take up the war against the barbarians, was Delius of Ephesus, a follower of Plato” 2 (Plut. Adv. Colot. 32.1126d: ὁ δὲ πεμφθεὶς πρὸς Ἀλέξανδρον ὑπὸ τῶν ἐν Ἀσίᾳ κατοικούντων Ἑλλήνων καὶ μάλιστα διακαύσας καὶ παροξύνας ἅψασθαι τοῦ πρὸς τοὺς βαρβάρους πολέμου Δήλιος ἦν Ἐφέσιος, ἑταῖρος Πλάτωνος). * I am grateful to Professor Kai Trampedach (Heidelberg), with whom I had the opportunity to discuss the issue considered in this essay. I have benefited much from his relevant comments. ** Maxim M. Kholod is Associate Professor of Ancient History at St. Petersburg State University, Institute of History, Dept. of the History of Ancient Greece and Rome. [email protected]. 1 Meißner 1992. 2 De Lacy, Loeb.

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“Dias of Ephesus made fast the cable of his philosophy to the Academy, but he was held to be a sophist for the following reason. When he saw that Philip was treating the Greeks harshly, he persuaded him to lead an expedition against Asia, and went to and for telling the Greeks that they ought to accompany Philip on his expedition, since it was no dishonour to endure slavery abroad in order to secure freedom at home” 3 (Philostr. Vitae soph. 485–486: Δίας δὲ ὁ Ἐφέσιος τὸ μὲν πεῖσμα τῆς ἑαυτοῦ φιλοσοφίας ἐξ Ἀκαδημίας ἐβέβλητο, σοφιστὴς δὲ ἐνομίσθη διὰ τόδε: τὸν Φίλιππον ὁρῶν χαλεπὸν ὄντα τοῖς Ἕλλησιν ἐπὶ τὴν Ἀσίαν στρατεύειν ἔπεισε, καὶ πρὸς τοὺς Ἕλληνας διεξῆλθε λέγων, ὡς δέον ἀκολουθεῖν στρατεύοντι, καλὸν γὰρ εἶναι καὶ τὸ ἔξω δουλεύειν ἐπὶ τῷ οἴκοι ἐλευθεροῦσθαι). In the present essay, I intend to assess these passages in terms of historical credibility. To begin with, it should be pointed out that, apart from the information these two passages provide, we know nothing about either Delius or Dias, and this fact seems to give us a compelling reason to believe that the renown the two people enjoyed in their lifetime, if, of course, they existed at all (see below), was quite modest. That alone is enough to regard as implausible the statement occurring in both passages that such persons were the instigators of the Macedonian kings’ decisions to wage war on Persia. But the main point in this connection is the following. It is quite clear that influencing such decisions made by the Macedonian kings would prove impossible for anybody, even for Isocrates in the case of Philip. There is no doubt that both Philip’s decision to start a war with Persia and Alexander’s decision to continue this war were their fully independent decisions. 4 Nevertheless, it does not follow from this that the Macedonian kings did not have any contacts, including personal meetings, with some Greek intellectuals and could not have discussed, inter alia, the issue of the war against Persia with them, because through Isocrates’ efforts this issue had gained widespread popularity in the intellectual milieu, as well as in Greek society in general (Isocrates’ letters to Philip are the best-known proof of the existence of such contacts). Therefore, communication between Philip and Alexander and such people as Delius or Dias does not appear unlikely in and of itself. However, in our case it appears that these episodes should not be considered as both having really taken place. Indeed, while comparing the above-mentioned passages, one can notice some striking similarities which do not seem to have occurred by accident. Rather, they lead us to believe that what Plutarch and Philostratus write about is the same event and not two separate ones: in addition to the statement that both Delius and Dias attempted to persuade the Macedonian kings to start a war against Persia, it is said that they were both Platonists, both Ephesians, and even their names bear a certain similarity to each other (they are relatively short and starting with the same letter). 5 If it is true, a legitimate question then arises: which of the two passages should be recognized as being the record of an event that actually happened? 3 Wright, Loeb. 4 Frolov 2001, 522–27; cf. Markle 1976, 80–89; Isayeva 1994, 165–73. 5 Cf. Natorp 1901, 2446; Berve 1926, 131, n.251; Trampedach 1994, 101.

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Delius of Plutarch and Dias of Flavius Philostratus

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In my opinion, preference should be given to Plutarch’s account in this case. Along with the fact that Plutarch in general is much more trustworthy than Philostratus in terms of conveying historical information (although at times his narrative does contain inaccuracies), another thing should be noted as well. Philostratus’ Dias, with his promotion of the idea of it being necessary to wage war on Persia in order for the Greeks to be free in their native land, in fact completely follows the Panhellenic program of Isocrates. And it is quite noteworthy that further on, in his account of Isocrates’ life, Philostratus makes absolutely no mention of his efforts to enlist Philip’s help to organize such a military campaign (Vitae soph. 503–506). Taking this fact into account, one should raise the question whether Philostratus might have mistakenly ascribed the activities carried out by Isocrates to Dias, knowing from his source that Dias communicated with the Macedonian king regarding the war against Persia. Incidentally, if so, it becomes clear why this Macedonian king in Philostratus’ passage is none other than Philip. At any rate, it is obvious that all this is not conductive to enhancing the credibility of Philostratus’ account. Lastly, it is remarkable that in his narrative Philostratus confines himself to conveying general historical information, which serves as nothing more than the background to the sophistic position of Dias, while the passage of Plutarch contains a number of specific details. Moreover, due to the presence of such details, Plutarch’s account may be put into a more particular historical context than what Philostratus writes, and this also argues for its preferability. 6 Indeed, Plutarch’s words that Delius was “sent to Alexander by the Greeks of Asia” attest to his connection with the Greek cities in Asia Minor. Besides, given the Plutarch’s reference to Delius as an Ephesian (Philostratus’ description of Dias as an Ephesian is further confirmation of his origin), one may suggest that at that time Delius was active mainly in Ephesus. On the other hand, one can infer from Plutarch’s account that the meeting between Alexander and Delius should have taken place before the Macedonian king launched his campaign against Persia, i.e., between October 336, when he ascended the throne, 7 and the spring 334. Therefore, it is clear that Delius’ visit to Alexander, as described by Plutarch, should be considered in the context of events occurring in the Greek cities in western Asia Minor, and in Ephesus in particular, in that period of time. These events were connected with the military operations conducted in western Asia Minor (starting from the spring 336) by the Macedonian expeditionary corps – the advance-guard of the army which under Philip’s command was supposed to invade Persia some time later. Although, as is well-known, Philip’s plans were thwarted, the advance-guard was not withdrawn by the new king Alexander, but it remained in Asia Minor until he arrived there in 334. During the first year of the campaign the Macedonian expeditionary corps managed to achieve considerable successes: if not all, then the majority of Greek cities on the coast of Asia Minor from Cyzicus in the north to Ephesus (or even Magnesia-on-the Maeander) in the south fell under Macedonian control. What happened in Ephesus at that time as 6 Cf. Trampedach 1994, 101. 7 On this date, see especially Hatzopoulos 1982, 21–42.

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well as in the following year, one can learn from Arrian (Anab. 1.17.9–12). According to him, the city’s siding with the Macedonians was attended by overthrowing the rule of the pro-Persian oligarchs and establishing democracy. It is unclear whether Heropythus, one of the leaders of the Ephesian democrats, who was mentioned by Arrian, died in this struggle or soon after that. At any rate, it is known that he received from the winning democratic faction a tomb at the agora and possibly even honours paid to him as a hero. Besides, in the famous temple of Artemis the Ephesian democrats erected a statue of Philip II, which may be considered as a token of gratitude of the new government to the Macedonian king for some help in overthrowing the oligarchic regime and also as an attempt to solicit his favor and protection in the future. However, in 335 the situation on the west coast of Asia Minor changed dramatically. The Persians launched a successful counteroffensive there. As a result, all the Greek cities in Asia Minor, controlled by the Macedonians earlier, with the exception of Abydus (and maybe Rhoeteum), were brought back under the Great king’s authority and thus, pro-Persian oligarchies and tyrannies were restored in them. The same Arrian speaks (see above) that at that time Ephesus surrendered to Memnon, a famous Rhodian merecenary general in the Persian service, who installed a garrison in the city and facilitated the establishment of an oligarchy run by Syrphax and his family. On having seized power, the oligarchs immediately plundered the temple of Artemis, threw down Philip’s statue in it, profaned Heropythus’ tomb at the agora and inflicted penalties on the pro-Macedonian democrats, forcing them into exile and possibly even executing some of them. 8 It cannot be ruled out that at the time of Delius’ meeting with Alexander the former was one of the Ephesian exiles. Indeed, it is highly improbable that Delius was officially sent to Alexander by the Greeks of Asia Minor collectively, as follows from the account of Plutarch, for there is nothing to indicate that they could take any action jointly and in concert at that time. It is quite possible that Delius acted either on his own initiative or, which is more likely, on behalf of his pro-Macedonian fellow citizens while presenting himself as a spokesman for the whole Greek community in Asia Minor. It should not surprise us that in this case Delius would have acted as an adherent of democracy, a form of government which should not be able to command the respect of a disciple of Plato, or at least, should not be actively supported by him (cf. Plato Resp. 557a–558c). 9 Indeed, the crux of the matter seems to be not Delius’ abstract sympathies or antipathies towards some form of government, but rather his implacable opposition, as a graduate of the Academy too, to the barbarians’ dominion over the Greeks (cf. Plato Resp. 469b–c, 470c–d, 471b) or, to be precise, to the Persians’ dominion over the Greek cities in Asia Minor, including Ephesus. In my view, that alone was enough to compel Delius to side with the Ephesian democrats – the political force that was decidedly anti-Persian in his home city. On the other hand, there appears to be one more factor that should be taken into account in this context. The fact is that, regarding the representatives and graduates 8 For a detailed account of the events, see Kholod 2018, 407–46. In addition, on the statue of Philip in the Artemisium, see Kholod 2016, 497, n.7. 9 In more detail: Santas 2007, 70–89; Marshall 2009, 93–105; Topaloğlu 2014, 73–83.

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Delius of Plutarch and Dias of Flavius Philostratus

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of the Academy, one has to distinguish between philosophers proper (such as Speusippus, Xenocrates, Aristotle and naturally Plato himself) and young elitist men, who, similar to Isocrates’ disciples, joined Plato’s school mainly to further their education. When the latter (those of the outer circle of the Academy, so to say) returned to their native cities, they could be involved in local politics, not acting as Platonists but rather as scions of their influential families, and as such they could support democracy if need be. For instance, Leo of Byzantium and Euphraeus of Oreus did exactly that, becoming pro-democracy politicians in their home cities. 10 That could be the case with Delius as well. If Delius actually paid a visit to Alexander while already in exile, this meeting should have taken place sometime in the winter 335/4 or in early spring 334. But it cannot be ruled out that the visit was made earlier – either at the end of 336, when Philip’s demise must have caused fear among the Ephesian democrats (whose representative Delius could have been) that the new young king would postpone or even abandon the war against Persia, 11 or in the autumn 335, when the defeats suffered by the Macedonian advance-guard put democracy in Ephesus at risk. At any rate, it is worth believing that the purpose of Delius’ visit to Alexander was first and foremost to enlist the king’s help to solve the Ephesian matters or, to be more exact, to determine the fate of the pro-Macedonian democratic regime – to support it if it still existed at that time, or to restore it later on if it had already been overthrown. However, it is likely that Delius was concurrently expressing the expectations common for a significant number of the Greeks in Asia Minor – the expectations of Alexander as hegemon of the Hellenic League to deliver them as soon as possible from the ignominy of being controlled by the Persian barbarians, which, as I suppose, is reflected in a rather garbled fashion in Plutarch’s words of Delius’ sending to the Macedonian king by these Greeks collectively. In conclusion, it seems that the offered analysis of the two passages of Plutarch and Philostratus from a historical point of view allows one to think that, despite their apparent discrepancies, they describe the same event. However, in my opinion, preference should be given to Plutarch’s passage since he provides a more credible report of the event (although not a completely accurate one). Thus, there is no need to agree with the scholars casting doubt on the veracity of Plutarch’s account in general. 12 On the contrary, it should be considered as supplying valuable information which, if viewed critically, gives us a better understanding of the processes taking place in the Greek cities in Asia Minor and especially in Ephesus shortly before the Asian expedition of Alexander.

10 Trampedach 1994, 93–100. 11 Cf. Berve 1926, 131, n.251; Bosworth 1980, 131; Trampedach 1994, 101; Flower 2000, 107, n.50; Heckel 2006, 106. 12 See e.g., Gehrke 1985, 59, n.22; Brunt 1993, 291.

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Between the Academy and Lyceum: the Attalids of Pergamon and the Athenian Schools of Philosophy Oleg Klimov*

The dynasty of the Pergamon rulers and kings became famous for their patronage of architecture, sculpture, and other types of artistic creativity, for their scientific school and library. Among the various undertakings of the Attalids in the field of the sciences and culture are their contacts with the philosophical schools in Athens – with the famous Academy and Lyceum. 1 These contacts deserve special attention in order to answer the questions why the first rulers of Pergamon state established contacts with the philosophical schools in Athens and what was the purpose of such a contacts. Chr. Habicht believed that the first relations of Philetaerus and Eumenes I with Athens were precisely of a cultural nature and that they acquired a political nature later on – under Attalus I. 2 E. Hansen wrote that “In the realm of higher learning the Attalids showed their interest by supporting scholars elsewhere as well as by attracting them to their court”. 3 This may be a fair judgment and it may be true according the kings of Pergamon state but it seems to be incorrect for characterizing the early Attalids motives. The state of Philetaerus and Eumenes I was weak, miserable, did not have sufficient military strength and was situated in the vicinity of hostile powerful empires and warlike Galatians. The patronage of the arts and philosophy in such a situation looks unrealistic and it means that we must look for an additional, more convincing explanation for the efforts of the first Attalids to establish contacts with the philosophical schools of Athens. It is known that the Pergamon rulers maintained close ties with the schools of Plato and Aristotle in Athens and that these contacts were largely based on the personal relationships. Diogenes Laertius in his biography of Arcesilaus noted that the famous philosopher maintained close contacts with the ruler of Pergamon Eumenes I. He singled * Oleg Yu. Klimov. Doctor of History, Professor, Head of the Department of Ancient Greek and Roman Studies, Institute of History, St. Petersburg State University, St. Petersburg, Russian Federation. [email protected] 1 Hansen 1971, 390–433; on the contacts with the Athenian schools of philosophy: Hansen 1971, 396–97. See also: McShane 1964, 54–55; Хабихт 1999 [Habicht 1999], 110–11. 2 Habicht 1990, 561–62. 3 Hansen 1971, 396.

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out only him from all the other Hellenistic rulers and dedicated his works only to him (IV,6,38). This fact seems somewhat strange, since Eumenes I was a very modest ruler of a small state who did not bear any official title. 4 He was a meager and insignificant political figure especially as compares with his contemporaries such as Antiochus I, or Ptolemy  II Philadelphus, or Antigonus Gonatas. The special attitude of Arcesilaus to Eumenes I becomes more noticeable against the background of the fact that the philosopher refused to meet with the enlightened and influential Macedonian king Antigonus Gonatas. The philosopher did not want to meet him during his visits to Athens, and once, having agreed to a meeting, turned away from the royal doors (Diog. Laert. 4,6,39). This behavior of the head of the Academy is especially surprising, since Athens in the 260–230s. BC. was under the rule of Macedonia; the city was supervised by a royal representative and there were Macedonian garrisons in Piraeus and in the fortresses of Attica. 5 It is also so important for understanding the special nature of the relationship between Arcesilaus and Eumenes I that Lacydes – the successor of Arcesilaus at the head of the Academy, although he accepted gifts from Attalus I, still preferred to distance himself from the king and refused his invitation (Diog. Laert. 4,8,60). It is impossible to explain the preference that Arcesilaus gave to Eumenes I only by the fact that the Attalids were famous for their patronizing attitude to the arts and sciences: under Eumenes I there was no famous library, no scientific school, no outstanding monuments of art and architecture in Pergamon. The explanation offered by Diogenes Laertius that Arcesilaus dedicated his works to Eumenes I because he allocated a lot of money to him (IV,6,38) also does not seem convincing enough: other rulers also allocated money and patronized scientists and philosophical schools. In this regard, one should recall the position of W. Ferguson on the reasons for the special attitude of Arcesilaus to the ruler of Pergamum. W. Ferguson believed that Arcesilaus was dissatisfied with the establishment of the power of Eumenes I over his hometown of Pitana and therefore once participated in the embassy to Antigonus Gonatas in order to get support from Macedonia. Since Antigonos did not help, the famous philosopher, under the influence of courtesies or money, leaned towards good relations with Eumenes I. 6 This opinion cannot be also accepted: first of all, it contradicts the whole characterization of the relationship between Arcesilaus and Eumenes I, which is offered by our main source – Diogenes Laertius. In addition, nothing is known about the purpose of the aforementioned embassy to Antigonus (IV,6,39). Probably, the special attitude of the head of the Academy to the ruler of Pergamon was determined not only by mercantile interest, but also by subjective motives  –  their long acquaintance and the origin of the famous philosopher. Therefore, the origins of the special relationship that connected Arcesilaus and Eumenes I should be sought in the 4 In the agreement with the mercenaries, in the letter to the civil community of Pergamon and in the decree of the city, Eumenes I is referred to only by name. The ruler does not bear any title denoting his authority (OGIS, 266. lin.1, 26, 27, 35, 39, 44, 51; OGIS 267. I. lin.1, II. lin. 22,24,25,30,33,35,37). 5 On the position of Athens under the rule of Macedonia at that time, see: Хабихт 1999 [Habicht 1999], 150–71 (in Russian). 6 Ferguson 1911, 324, n.3. E. Hansen spoke out against this position. – Hansen 1971, 30.

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peculiarities of the history of Pitana in Aeolis, the hometown of philosopher, and in his personal motives. 7 The famous philosopher spent his youth at home, initially studying in his hometown under the mathematician Autolycus, who had his own school there. Under the guidance of Autolycus Arcesilaus studies astronomy, geometry and some other subjects. Arcesilaus probably took a prominent place among the students of Autolycus, as he accompanied the teacher on a trip to Sardis (Diog. Laert. IV,6,28–29). Later, Arcesilaus continued his studies in Athens. He studied rhetoric and was for some time the pupil of Theophrastes in Lyceum. And then, after a period of searching for his own philosophical position, Arcesilaus became the head of the famous school and the founder of the Middle Academy. Living in Athens for many years, and then heading the Academy, Arcesilaus retained close ties with his hometown: in Pitana he had a profitable estate, where his brother lived, who sent money to the philosopher (Diog. Laert., IV,6,38). Eumenes I and Arcesilaus were people of the same generation. Arcesilaus was born around 315–316. 8 The date of birth of Eumenes I is not known. But it is known that these two figures almost simultaneously took leading positions – Eumenes I took power over Pergamum in 263 BC, and Arcesilaus headed the Academy some years earlier – in 266 or 268 BC. 9 They died in almost one year: the life of Arcesilaus ended in 241/240. BC, and of Eumenes I in 241 BC. Probably, the philosopher and ruler of Pergamum knew each other long before Arcesilaus left for Athens. In this regard, E. Hansen suggested, supported by R. McShane, that Arcesilaus lived for some time at the court of the founder of the dynasty, Philetaerus, before leaving for Athens. This idea, although lacking solid evidence, looks very plausible. 10 Moreover, E. Hansen’s assumption can be continued: Arcesilaus could have been either Eumenes’ teacher or his comrade and co-foster at Philaeterus’ court. The philosopher clearly enjoyed great respect from Eumenes I and had a certain influence on the ruler. This is evidenced by the fact that Arcesilaus brought the Arcadian Archias to Eumenes and thereby helped him to reach a high position, probably at the Pergamon court (Diog. Laert. 4,6,38). Thus, Arcesilaus’ special attitude to Eumenes I may be explained by their long-standing acquaintance, and perhaps by their friendship. The fate of the philosopher’s hometown at the beginning of the 3rd century BC. was not easy. After 301 BC. Pitana was ruled by Lysimachus, then after the battle of Corupedion in 281 BC. the city became a part of the possessions of Seleucus I. After the death of the latter, power over the city passed to Antiochus I, until Eumenes I subjugated the city to himself. Some of the twists and turns of the history of the small town, which became the object of attention of the Hellenistic kings and dynasts, are briefly mentioned in a highly fragmented inscription dedicated to the participation of the Pergamon ambassa 7 On the philosophy of Arcesilaos, see: von Arnim 1895, 1164–168; Long 1996, 10–16, 19, 33; Brunschwig 2003, 176–78; Long 2006, 101–13; Lévy 2006, 448–50, f.; Schofield 2008, 323–34; Thorsrud 2010, 58–62; Adamson 2015, 109, 110–12. 8 Von Arnim 1895, 1164; Dorandi 2008, 48. A.A. Long dates the birth of Arcesilaus between 315 and 305 B.C., see: Long 2006, 103, n.13. 9 P. Adamson dates to 268 BC.: Adamson 2015, 109. 10 Hansen 1971, 396; McShane 1964, 54.

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dors-arbiters in the settlement of the land dispute between Mytilene and Pitana. Since the inscription describes the prehistory of the conflict, it becomes clear that even during the reign of Seleucus I over the city, Philetaerus showed interest in Pitana and acted as a benefactor towards the city, allocating him a certain amount of money (OGIS 335.lin.135). Later on Eumenes I established his rule over the city of Pitana (OGIS 335.lin.141). It was one of the results of the victory of Eumenes I over Antiochus I at the battle of Sardis between 263 and 261. BC. (Strab. 13,4,2). The reason for the war between them is not known: Strabo, reporting about the battle, does not say why it happened. According to R. Allen’s convincing assumption, the reason for the war between Antiochus I and Eumenes I was the desire of the Pergamon dynast to create his own state and the refusal to recognize dependence on the Seleucids, the intention to expand his own territory, including possibly Pitana. 11 It is important to view this event in a broader and broader context. An attempt by Eumenes I to expand his possessions at the expense of the Seleucids was undertaken in connection with the intensification of the Ptolemaic policy in the region of the western coast of Asia Minor; this Ptolemaic activity created favorable conditions for Eumenes I to strengthen the position of his own state. 12 It is clear that in the course of all these changes, the urban population of the western coast of Asia Minor, primarily its elite, had to determine their attitude towards the next suzerain who had already established power over the city or was claiming it. The supportive attitude of Arcesilaus towards Pergamon shows that both the philosopher himself (before leaving for Athens) and his brother, who remained in his homeland to manage the estate, were in Pitana the part of that group of the local urban elite, which chose an orientation towards the Attalids and, thanks to this, enjoyed the constant support of the rulers of this dynasty. 13 The special character of Arcesilaus’s relationship with the members of the family that ruled in Pergamon is also evidenced by the epigram that the philosopher wrote in honor of the victory of a certain Attalus at the Olympic Games in chariot competitions:

11 Allen 1983, 20–21. W. Ferguson also linked the establishment of the power of Eumenes I over Pitana with the victory that the ruler of Pergamum won over Antiochus I under Sardis. – Ferguson 1911, 324, n.3. 12 At the same time, I’m far from assumptions that Eumenes I and Ptolemy II coordinated their actions or established an alliance between themselves. Eumenes I just took advantage of the well-established foreign policy conjuncture to expand his own possessions. The opinion of K.J. Beloch, M.I. Rostovtzevff, R. McShane that allied relations developed between Eumenes I and Ptolemy II Philadelphus do not have sufficiently convincing grounds (Beloch 1925, 593; Rostovtzeff 1941, 555, 561; McShane 1964, 43–44, 46–47). E. Hansen admitted the possibility that Eumenes I prompted Ptolemy II to be active by his actions in the Aegeis (Hansen 1971, 22). R. McShane, recognizing the rapprochement of Eumenes I with the Ptolemies, at the same time believed that apart from the battle of Sardis, there is no other evidence of the hostile nature of Eumenes I’s relations with the Seleucids (McShane 1964, 45). R. Allen resolutely rejected the idea of ​​a n alliance between Eumenes I and Ptolemy II. – Allen 1983, 22. 13 There were an influential persons or parties among the elite of the policies in the Western part of Asia Minor who tended to support Attalid kings: Климов 2010 [Klimov 2010 (in Russian)], 234, 285, 301.

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Pergamum is not famed for arms alone, But often hears its praise resound For its fine horses, at the holy Pisa (Diog. Laert. 4,6,30). 14 The fact of Attalus’ victory at the Olympic Games is confirmed by epigraphic materials: a statue erected in Pergamum with a verse inscription was dedicated to this event (I. Pergamon. 10;11;19). It’s very important to answer the question about who was Attalus – the victor of race to whom the poetic lines were dedicated, and when this dedication was written. According to M. Fraenkel, this Attalus is the younger brother of Philetaerus and the father of the future king Attalus I. It means that the epigram was compiled under the rule of Philetaerus. E. Hansen determined the time of writing the epigram in the same way, but on the basis of the updated genealogy of the Attalids she believes that this Olympian winner Attalus was not the father, but the grandfather of the future king Attalus I. 15 However, one cannot exclude the possibility that it could still be the father of Attalus I, who was Philetaerus’ nephew. He belonged to the same generation as Eumenes I, he was a cousin of this ruler, he was married to Antiochis – the sister of the famous queen Laodice, wife of Antiochus II. In this case, it can be assumed that not only his maternal descent from the royal family of the Seleucids, but also the Olympic victory of his father, served as an additional reason for the fact that at the end of his life Eumenes I transferred power to Attalus I. The epigram mentions that Pergamum is famous not only for weapons, but for horses (Πέργαμος οὐχ ὅπλοις κλεινὴ μο̒ νον, ἀλλὰ καὶ ἵπποις,), but nothing is known with certainty about any significant victories of Philetaerus. He was the clever official, the sophisticated diplomat who demonstrated loyalty to Lysimachus, to Seleucus I and his son Antiochus I, but in fact, while quietly creating an independent mini-state. However, under the second representative of the dynasty – Eumenes I – the situation changed: a war broke out between Eumenes I and Antiochus I, in which the army of Antiochus I was defeated near Sardis between 263–261. BC. (Strab. 13,4,2). 16 So the time after which this epigram was written can most likely be determined shortly after this battle, when Arcesilaus was already the head of the Academy. 17 An additional indirect argument can be the fact that the praise of Pergamon under Philetaerus, who formally recognized the power of Seleucus I and Antiochus I, would look like a manifestation of disloyalty to the overlords – to the Seleucids. Under Eumenes I these considerations have lost their relevance. Later, under Attalus I, contacts with the Academy in Athens continued. It is known that in the middle of the III century. BC, when Lacydes of Cyrene became the head of the 14 Hansen 1971, 27, n.5. 15 Fraenkel 1890, 8–9; Hansen 1971, 27. It should be noted that M. Fraenkel, following some ancient authors (Strab. 13,4,2; Paus. 1,8,2), makes a mistake, since, according to the updated genealogy, Attalus I was not a nephew of Philetaerus, but a grand-nephew. См.: Hansen 1971, 26, n.1; Allen 1983, 181, 184–86. 16 Allen 1983, 20–21. 17 E. Hansen admits also that the epigram mentioned could refer to some other victory in the chariot competition, see: Hansen 1971, 27.

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Academy, Attalus I not only maintained relations with him, but also invited the head of the Academy to his court. However, Lacydes refused an invitation to Pergamum, joking that “it is better to look at the statues from afar,” but did not reject the royal gift in the form of a new garden for scientists arranged at the Academy at the expense of Attalus I (Diog. Laert. 4,8,60). Such an independent position of the philosopher did not lead to a break in relations, so that contacts were preserved under the subsequent leaders of the school. This was facilitated by the fact that the two leaders of the Academy – Telecles and Evander – came from Phocaea – the city situated closely to Pergamon, and Hegesinus from Pergamon (Diog. Laert. 4,8,60). There is a gap in the information about the contacts of the Attalids with the Academy in the subsequent time, but it can be confidently assumed that the ties with the school were continued further. It is not a coincidence that Attalus, the brother of king Eumenes II and the future king Attalus II, in his youth in 178 BC. studied at the Academy together with the Cappadocian prince Ariarathes, the future king Ariarathes V (Syll. 3,666). Thus, rather close contacts with the Academy, which developed during the reign from Eumenes I (maybe even from the time of Philetaerus) to Attalus II (about 100 years), are beyond doubt. Another famous Athenian philosophical school, Lyceum, also had a relationship with the Attalids at the same time and under the same rulers as the Academy had. 18 The first contacts of the Attalids with the school of Aristotle were established when Lyceum was led by Lyco from Troad, a disciple and successor of Theophrastus. He was associated with Eumenes I and Attalus I, “who cared much for him” (Diog. Laert. 4,4,67). We may suggest, that the very first contacts of Pergamon rulers with Lyceum were established with the help of Arcesilaus who was a student of Theophrastus and who surely knew another students of this famous philosopher. Another important evidence of the contacts of the Attalids with the school of Aristotle is the information of Athenaeus that Lysimachus, probably a student of Theophrastus, who later remained at the royal court and wrote several books on the education of Attalus (Athen. 6,252c). Perhaps the connection with the school of Aristotle is also evidenced by the fact that another student of Theophrastus Neleus inherited from the teacher a library containing the works of Theophrastus himself and his teacher Aristotle, and transported it to Scepsis in Troad (Strab. 15,1,54). Why Neleus left Athens and arrived home is not known. Perhaps it is worth suggesting that he, like Lysimachus, was invited to the court of Philetaerus or Eumenes I? Thus, three of Theophrastus’ disciples – Lyco, Lysimachus, and possibly Neleus – were associated with the western part of Asia Minor and with the Attalids. In this regard, we must pay attention to the great role of philosophers from the cities of Asia Minor in Athens. Natives of the cities of Asia Minor, including those under the control of the Attalids, often headed the schools of philosophy in Athens. This indicates, at least, that the study of philosophy flourished in Asia Minor, there were schools of philosophy, there were opportunities for learning and receiving a full-fledged philosophical

18 On the philosophers of Lyceum after Theophrastus, see: Kenney 2004, 91–94; Pellegrin 2006, 239; Bénatouïl 2006, 416–18; Dorandi 2008, 36–37, 53–54.

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education at home. All this is undoubtedly a consequence of the successful development experienced by the cities of Asia Minor during the Hellenistic period. Our sources do not report on other connections of Attalids with Lyceum or individual philosophers of this school. Does the predominance of information on contacts with Plato’s Academy over ties with other schools mean that the rulers of this dynasty made their fundamental choice for the Platonic Academy, as G.P. Chistyakov, said? 19 This opinion does not seem convincing enough. It is important to note that the Attalids demonstrated complete openness in relation to different philosophical schools and philosophical views and invited philosophers of different schools to the court. Among the famous scientists at the Pergamon court in the II century. BC. was Crates from Mallos – a representative of Stoicism, who is more famous for his studies in the field of philology and geography. He occupied such an important place at the royal court that in 168 BC. was sent with the embassy to Rome (Suet. gramm. 2). In Pergamum Crates also taught philosophy. 20 One of his students was the famous Panetius of Rhodes, an outstanding representative of Stoicism. So, the interest of the Pergamon rulers in the philosophical schools is obvious; it is also obvious that contacts with them were of a long and close character. In this regard we must answer the question about the purpose of these contacts. In these contacts, one can assume a desire to attract famous scientists to the court and create their own court scientific school in the future and, possibly, arrange it on the model of the Academy or Lyceum. But does this mean that already the first rulers of Pergamum, who began contacts with the philosophical schools of Athens, originally planned to create their own scientific center and world-class library? Of course, one should not deny the love of the rulers of Pergamum for the arts, sciences and philosophy, but this love could hardly be the main driving force in their politics, especially in the initial period of the history of the state, during the rule of Philetaerus, Eumenes I and Attalus I. But it is impossible to imagine that such a task was set for themselves by the rulers of a small and weak state that was in a very unstable situation and in the hostile environment. It is possible to find an explanation for the contacts of the early Attalids with the philosophical schools of Athens in the context of their foreign policy. The Pergamon state under Philetaerus was a very small political entity, which retained de facto sovereignty only at the cost of formal recognition of the Seleucid power and demonstration of loyalty to a powerful dynasty. Under Eumenes I, the situation changed and the sovereignty acquired not only latent, but also externally demonstrated character, which was reflected in the type of coinage, in the open confrontation with Antiochus I, finally, in an effort to legitimize power. The first Attalids, who created their state in a very specific way, did not possess either military force or significant human resources, were in a hostile environment, were in constant military danger and therefore badly needed diplomatic support and international contacts that would allow them to solve several problems: to declare oneself in the international arena, legitimize the power, the personal status and the state,

19 Чистяков 1992, 298–315. [Chistyakov 1992, 308 (in Russian)]. 20 Wachsmuth 1860; Preus 2015,107.

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to find powerful allies. The Attalids began to use extensively the main resource that they possessed; it was their considerable wealth, in fact stolen from Lysimachus. In order to enlist the favor of neighbors and find allies for himself, Philetaerus, the founder of the dynasty, already in the first years of his virtually independent rule, established contacts with the rich and influential city of Cyzicus and maked very generous gifts (OGIS 748). Philetaerus made a donation of land to the Temple of Apollo, which was located between the cities of Cyme and Myrina (OGIS 312). Another inscription (heavily fragmented) recorded a large sum of money donated by Philetaerus to the city of Pitana (I. Pergamon. 245; OGIS 335). He also made a generous grant to Kyme in Aiolis presenting the shields to the citizens of the city (SEG. 50.1195). 21 All the listed examples of Philetaerus’ donations to cities and sanctuaries refer to territories close to Pergamum and do not cause much surprise. But much more important for our purpose that the founder of the Pergamon dynasty established contacts and made donations also to those cities or sanctuaries that were located far from Pergamon, even on the territory of Balkan Greece. Apparently, the inscriptions are associated with Philetaerus, informing about the donation of land to the sanctuary of the Muses near Thespias in Boeotia (Allen. 1a,1b,1c,1d,1e). 22 A short inscription from Delphi calls Philetaerus and his family benefactors. They were given the προξενία and other honorable privileges (F. Delphes. III.I.432). 23 Another very important resource of the Attalids were their personal relations, that they tried to confirm and strengthen with money and diplomacy. In this regard, it is not surprising that the first Attalids established relations with the philosophical schools of Athens. Of course, the philosophical schools did not have armies and did not enjoy political influence, nevertheless, they had international fame and had a certain prestige, just like the sanctuaries to which Phileterus and Eumenes I made their gifts. It is no coincidence that even the powerful kings of the Hellenistic states also strove to maintain contact with the philosophical schools in Athens. In this regard, the following parallel is important: later – in the II century BC – the Attalids, having considerable possessions, wealth, international relations and strong support from the Rome, began to develop relations with the technites of Dionysus, especially with the regional branch of the organization – the technites of Ionia and the Hellespontus, who gained popularity in the Hellenistic time and developed high activity in the Asia Minor region. Thus, the conclusion about the rather intensive contacts of the Attalids with the two philosophical schools of Athens acquires, perhaps, a paradoxical character and lies in the 21 Manganaro 2000, 403–14. 22 On the international activity of the first Attalids: McShane 1964, 30–35, 37–47, 52–56; Hansen 1971, 15–23; Allen 1983, 14–24. The ideas of B.Chrubasik that “…he (Philetairos – O.K.) was clearly acting within a Seleukid structure” (P. 89) or “Throughout the third century the rulers of Pergamon were semiautonomous dynasts: they fulfilled local needs for administration, security and benefaction, and acted within a Seleukid space, even if they were at times engaged in battle against Seleukid troops” (P. 96) don’t clear up the political status of Philetaerus and Eumenes I (Chrubasik 2013. On that hypothesis, see: Климов 2018, 339–50 [Klimov 2018, 339–50 (in Russian)]. 23 On the inscription from Delphi, see: Hansen 1971, 19, n.31, 32; Allen 1983, 15, n.22.

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fact that these relations were actually poorly related to philosophy. In this regard, I would like to disagree with Chr. Habicht, who believed that the first relations of Philetaerus and Eumenes I with Athens were precisely in a cultural sphere, they acquired a political one later – under Attalus I. 24 Formally, these contacts indeed were of a cultural nature, but they pursued not scientific or educational goals, but political and diplomatic ones. The Academy and Lyceum, as well as the outstanding philosophers who headed them, served for the Attalids as a means of strengthening international ties and prestige of the newly born state. It was an instrument for legitimizing power and status. The considered facts of the relationship between the rulers of Pergamum and the philosophical schools of Athens demonstrate that the first rulers of Pergamum – Philetaerus and then Eumenes I – despite the weakness of their state, lack of military power, and perhaps precisely for these reasons, were looking for various opportunities to legitimize their status, to give to their state a certain international recognition, fame and external shine. Thus, close contacts with the famous philosophical schools of Athens became a link in a chain of international activities of the Pergamon dynasts. Finally, the relationship between the rulers of Pergamum and the heads of philosophical schools, especially the relationship between Eumenes I and Arcesilaus once again shows how closely political and material motives were intertwined in Hellenistic history with personal, informal relationships. Abbreviations AM = Mitteilungen des Deutschen Archäologischen Instituts. Athenische Abteilung. Athen. BCH = Bulletin de Correspondance Hellénique. Paris. CIG = Böckh A. Corpus inscriptiones Graecarum. Vol. I–IV. Berolini, 1828–1877. FGrH = Jacoby F. Die Fragmente der Griechischen Historiker. Berlin; Leiden, 1923–… F. Delphes. III. I. = Fouilles de Delphes. III. Épigraphie. Fasc. 1. Inscriptions de l’entrée du sanctuaire au trésor des Athéniens. Ed. Émile Bourguet. Paris 1929.  IG = Inscriptiones Graecae. Berolini. I.Pergamon = Die Inschriften von Pergamon. Bd. 1. / Hrsg. von M. Fränkel. Berlin: W. Spemann, 1890. OGIS = Orientis Graeci Inscriptiones Selectae. Vol. 1–2. / Ed. W. Dittenberger. Leipzig: S. Hirtzel, 1903–1905. RC = Royal Correspondence in the Hellenistic Period. / Ed. C.B. Welles. Roma: “L’Erma” di Bretschneider, 1966. SEG = Supplementum Epigraphicum Graecum. Leiden. Syll.3 = Sylloge Inscriptionum Graecarum. Ed. 3. Vol. 1–4 / Ed. W. Dittenberger. Leipzig: S. Hirtzel, 1915–1924.

24 Habicht 1990, 561–62.

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Soldaten sind Mörder: Zur Vorstellung vom Töten im Krieg als Morden in der heidnischen Antike* Clemens Koehn

Soldaten sind Mörder – der viel zitierte Satz von Kurt Tucholsky, 1931 in der „Weltbühne“ in einer Der bewachte Kriegsschauplatz betitelten und sich im wesentlichen mit der Tätigkeit der Feldgendamerie im Ersten Weltkrieg befassenden Glosse geschrieben, wurde unmittelbar nach Veröffentlichung Gegenstand einer langen juristischen Debatte in Deutschland, die bis in die jüngste Vergangenheit reicht; erst in den 1990er Jahren hat sich diese beruhigt, als das Bundesverfassungsgericht urteilte, dass die Aussage im abstrakten Sinne zulässig sei, aber nicht individuell auf einzelne Militärangehörige angewendet werden dürfe. 1 Im zeitgeschichtlichen Kontext betrachtet ist der Satz freilich alles andere als singulär. Der ehemalige k.u.k. Soldat Joseph Roth, dessen Werk wesentlich von der Erfahrung des Ersten Weltkrieges und dem daraus resultierenden Zusammenbruch der Vorkriegswelt geprägt ist, der aber als Schriftsteller ideologisch doch unverdächtiger – weil nicht per se pazifistisch – ist, läßt in seinem frühen Roman Hotel Savoy (1924) gleich zu Beginn den aus Kriegsdienst und Gefangenschaft zurückkehrenden Hauptcharakter bei Bezug eines Zimmers in dem titelgebenden Hotel sagen:

* Aus vom Verfasser nur eingeschränkt zu vertretenden Gründen stellen die folgenden Ausführungen lediglich eine leicht überarbeitete Version des ursprünglichen Textes dar, wie er auf dem Geburtstagskolloquium des Jubilars vorgetragen wurde. Der Verfasser möchte damit dennoch seine langjährige Verbundenheit mit dem Jubilar zum Ausdruck bringen und zugleich daraufhinweisen, dass dieser Aufsatz auch deshalb vorläufigen Charakter haben darf, weil er Teil eines größeren Forschungskomplexes darstellt. Einige Überlegungen finden sich jetzt in Koehn 2021 formuliert; die Interpretationen zu den Troerinnen des Euripides sind Gegenstand eines umfangreicheren Aufsatzes, der im Manuskript abgeschlossen ist; die Transvaluation der kriegerischen Wertevorstellungen im Zuge der sogenannten ‚Hoplite Revolution‘ ist Teil eines im Entstehen befindlichen Buchprojektes. – Die Iliaszitate stützen sich auf die editio maior von Thomas W. Allen (Oxford 1931) und die Übersetzung von Wolfgang Schadewaldt (Frankfurt 1975). 1 Tucholsky 1931, 131; zur Debatte vgl. Heep; Otto 1996 und Perger 2002.

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„Ich freue mich, wieder ein altes Leben abzustreifen, wie so oft in diesen Jahren. Ich sehe den Soldaten, den Mörder, den fast Gemordeten, den Auferstandenen, den Gefesselten, den Wanderer.“ 2 Im gleichen Jahr, in dem dieser Roman erschien, veröffentlichte Roth eine Glosse in der Frankfurter Zeitung (dem Vorgängerblatt der FAZ) über die geplante Aufstellung eines Kriegerdenkmals an der Technischen Hochschule Berlin, das einen Handgranatenwerfenden Soldaten zeigte: „Es war höchste Zeit“, schreibt da Roth, „die vielen Schwertschwinger und Speerwerfer durch den modernen Kämpfer zu ersetzen, das Symbolische ins Realistische zu übertragen, es war Zeit, nicht nur die Toten, sondern auch die Töter zu ehren, nicht nur den Tod sondern auch sein Instrument. Es fehlte der Gesinnung, die unaufhörlich vorgibt, die Opfer zu betrauern, indesssen sie den Frieden bedauert, ihr eigener plastischer Ausdruck. Noch hatte die Bestialität des chemisch-technischen Krieges kein Monument. Die Technische Hochschule wird ihr es widmen.“ Im übrigen beendet Roth die Glosse mit dem schönen bon mot, dass bei den zu erwartenden Reden anlässlich der Einweihung des Denkmals sich wohl zur Schmähung des Gedankens die Lästerung der Worte fügen werde. 3 Man kann freilich in der Einordung der Tucholsky’schen Aussage den zeitgeschichtlichen Kontext gleich ganz verlassen und noch viel weiter zurückgehen. Das wurde natürlich in der Auseinandersetzung mit Tucholsky auch immer wieder getan. Man könnte, um eine berühmtes aber auch sehr einschlägiges Beispiel zu zitieren, auf Voltaire verweisen, der in seinem Dictionnaire philosophique die kriegführenden königlichen Potentaten seiner Zeit als „chefs des meurtriers“, als Anführer von Mördern, bezeichnet. 4 Hier soll es aber um die Idee als solcher in der Antike gehen. Von theologischer Seite ist desöfteren darauf hingewiesen worden, dass die frühchristlichen Schriftsteller bereits ganz ähnliche Ansichten wie die Tucholskys geäußert haben. Laktanz etwa oder Cyprian von Karthago haben kritisiert, dass das, was in der Einzeltat als Mord angesehen wird, als ruhmreich gilt, wenn es im Krieg massenhaft geschieht. 5 Noch die byzantinischen Militärhandbücher sehen im Krieg wenig mehr als ein gegenseitiges Morden, dessen Notwendigkeit mit der an sich pazifistischen Argumentation gerechtfertigt wird, dass wenn alles Böse auf der Welt niedergerungen ist, alle Welt dann in ewigem Frieden leben könne. 6 Aber es gibt schon in der heidnischen Antike eine ganz ähnliche Auffassung. Dieser tritt jedoch gleichsam zur selben Zeit, und dann in der Folge immer stärker, jene andere Auffassung vom Töten und Sterben im Krieg gegenüber, die uns heute viel vertrauter ist und die 2 3 4 5 6

Roth 1976 [1924], Bd. 1, 131. Roth 1976 [1924], Bd. 4, 545–546. Voltaire 1764 s.v. Guerre. Vgl. die Sammlung von Gerhards 1991; siehe jetzt auch Gerstacker 2021, 142–149. Leo VI., Tact. praef. 4. Vgl. Riedel 2020.

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uns die Tucholsky’schen Worte so archaisch erscheinen lassen: der Tod im Krieg als Opfertod für die Gemeinschaft. Beides findet sich noch und schon im frühgriechischen Epos. In Hesiods Theogonie gebirt Eris, der personifizierte Streit, Schlachten (machai) und Morde (phonoi) und androktasiai, das Töten von Männern (226–28; vgl. dens. Sc. 155). Dieselbe Reihung findet sich auch bei Homer (Od. 11.612; vgl. Il. 5.909; 7.237; 11.164; 24.548). Der Ausdruck androktasia, das sich aus den Worten für aner, Mann und kteino, töten zusammensetzt, impliziert dabei ganz direkt die Vorstellung des Tötens im Kampf als bewußten Mord. Streit führt zu Kampf, Kampf führt zu Töten und Töten zum Totschlagen von Männern. Homer schildert Eris als ἄμοτον μεμαυῖα, / Ἄρεος ἀνδροφόνοιο κασιγνήτη ἑτάρη τε· / [...] ἥ σφιν καὶ τότε νεῖκος ὁμοίιον ἔμβαλε μέσσῳ / ἐρχομένη καθ᾿ ὅμιλον, ὀφέλλουσα στόνον ἀνδρῶν „die rastlos Eifernde, des männermordenden Ares Schwester und Gefährtin, die warf ihnen auch damals gemeinsamen Streit in die Mitte, schreitend durch die Menge, vermehrend das Stöhnen der Männer (Il. 4.440–444).“ Im Beiwort des Gottes wird eine sehr archaische Vorstellung deutlich – der von Ares personifizierte Krieg mordet die in ihm sich bekämpfenden Männer. Die Sequenz ist immer dieselbe: Kämpfen ist Töten und Töten ist gegenseitiges Morden der Männer. Diese endlosen Kampfsequenzen, die einen Großteil der 16 000 Verse der Ilias füllen, lassen sich, wenn man so will, auf den Vers reduzieren, wo Achill zu dem um den Leichnam Hektors bittenden Priamos sagt: αἰεί τοι περὶ ἄστυ μάχαι τ᾿ ἀνδροκτασίαι τε „Um die Stadt sind Dir immer Schlachten und Männermorde.“ (24.548) Das Beiwort „männermordend“, das den Kriegsgott Ares kennzeichnet, gibt Homer sonst nur den beiden Haupthelden seiner Dichtung: Hektor, von dem Homer an einer Stelle sagt, er gleiche dem Ares, wird mehrfach als androphonos („männermordend“) bezeichnet (Il. 1.242; 6.498; 9.951; 16.77, 840; 17.428, 616, 638; 18.149; 24.509, 724), während die Hände seines Widersachers Achilles ebenfalls als „männermordend“ charakterisiert werden (Il. 18.317; 23.18; 24.478). Man hat aufgrund der Häufigkeit in der Verwendung des Epithetons darüber spekuliert, ob es ursprünglich nur dem Gott zukam, und dann auf die Helden übertragen wurde oder umgekehrt (Ares ist dreimal damit bezeichnet, Hektor zehnmal). Sicher ist, dass es einen indogermanischen Ursprung hat und zum Portfolio epischer Heldendichtung gehört. In der vedischen Dichtung findet man z.B. ein ähnliches Kompositum, das sowohl mit dem Kriegsgott als auch dem Helden verbunden wird. 7 Jedenfalls ist es bezeichnend, dass es gerade die beiden Protagonisten homerischer Heldendarstellung sind, denen das Epitheton „männermordend“ beigegeben ist. Sowohl Hektor als auch Achilles sind Ausnahmekämpfer und haben als solche eine besonders hohe Tötungsrate. Von Hektors Opfern werden in der Ilias 28 namentlich genannt, hinzu kommen zahllose weitere, deren Namen der Dichter nicht nennt. Was sie besonders macht, sind nicht nur ihre überragenden Fähigkeiten, besser zu kämpfen als ihre jeweiligen Gegner und somit über selbige den Sieg davonzutragen. Sie sind vielmehr durch die deutlich herausgestellte Tatsache ausgezeichnet, dass sie mit dem besiegten Gegner keine Gnade haben sondern diesen töten. In Homer gibt es eine ganze Reihe von Szenen, in 7 Vgl. Whallon 1979.

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denen Gegner um Schonung des Lebens flehen, die ihnen der Sieger aber verweigert. 8 Bei der Bestattung Hektors am Ende der Ilias klagt Andromache, Hektors Frau, dass ihr gemeinsames Kind wohl ein trauriges Schicksal erwarte, da die Griechen dem Vater zürnten, ᾧ δή που ἀδελφεὸν ἔκτανεν Ἕκτωρἢ / πατέρ᾿, ἠὲ καὶ υἱόν, ἐπεὶ μάλα πολλοὶ Ἀχαιῶν / Ἕκτορος ἐν παλάμῃσιν ὀδὰξ ἕλον ἄσπετον οὖδας. / οὐ γὰρ μείλιχος ἔσκε πατὴρ τεὸς ἐν δαῒ λυγρῇ „weil wohl Hektor einen Bruder getötet / oder den Vater oder auch den Sohn, da ja sehr viele der Achaier / unter Hektors Händen mit den Zähnen die unendliche Erde fassten. / Denn unmilde war Dein Vater in dem traurigen Kampf.“ (Il. 24.736–739). Hektor hätte demnach auch anders agieren können und seine Gegner anstatt gleich totzuschlagen milder behandeln können. Gleich im Anschluss bringt Homer die Klage der Mutter Hektors, Hekabe: ἄλλους μὲν γὰρ παῖδας ἐμοὺς πόδας ὠκὺς Ἀχιλλεὺς  / πέρνασχ᾿, ὅν τιν᾿ ἕλεσκε, πέρην ἁλὸς ἀτρυγέτοιο, / ἐς Σάμον ἔς τ᾿ Ἴμβρον καὶ Λῆμνον ἀμιχθαλόεσσαν· / σεῦ δ᾿ ἐπεὶ ἐξέλετο ψυχὴν ταναήκεϊ χαλκῷ, / πολλὰ ῥυστάζεσκεν ἑοῦ περὶ σῆμ᾿ ἑτάροιο, / Πατρόκλου, τὸν ἔπεφνες· ἀνέστησεν δέ μιν οὐδ᾿ ὧς „Andere von meinen Söhnen hat der fußschnelle Achilleus / verkauft, wenn er einen fing, über das Meer, das unfruchtbare, / nach Samos und nach Imbros und in das dunstige Lemnos. / Dich aber, als er dir das Leben genommen mit dem langschneidigen Erz, / hat er vielfach geschleift um das Grabmal des Gefährten / Patroklos, den Du erschlugst!“ (Il. 24.751–756). Auch hier wird deutlich, dass der Tod in der Schlacht nicht die zwangsläufige Folge davon war, dem Gegner unterlegen zu sein. Vielmehr konnte man um Schonung bitten, bei der man entweder durch Geldzahlung oder Verkauf in die Sklaverei sein Leben behalten konnte. Homer freilich ist in seiner Fokussierung auf die großen Helden viel zu sehr auf die Ausnahmen, die Nichtgewährung der Schonung, aus, als dass er der Regel allzugroße Beachtung schenkt. Sie wird freilich noch deutlich genug. 9 Bekanntlich zieht sich Achill zu Beginn des Krieges aus dem Kampf völlig heraus, weil er dem Anführer Agamemnon zürnt, der ihm die schöne Kriegsbeute Briseis abspenstig gemacht hat. Erst als Hektor Achills Geliebten Patroklos erschlägt und mit Achills Waffen gerüstet die Achaier reihenweise abschlachtet, kehrt er in das Kampfgeschehen zurück. Dabei kämpft er sich in einen geradezu manischen Blutrausch, in dem er mit keinem der Gegner auch nur die kleinste Nachsicht zeigt. Dem um Gnade flehenden Priamossohn Lykaon hält er entgegen: τόφρα τί μοι πεφιδέσθαι ἐνὶ φρεσὶ φίλτερον ἦεν / Τρώων, καὶ πολλοὺς ζωοὺς ἕλον ἠδὲ πέρασσα· / νῦν δ᾿ οὐκ ἔσθ᾿ ὅς τις θάνατον φύγῃ, ὅν κε θεός γε / Ἰλίου προπάροιθεν ἐμῇς ἐν χερσὶ βάλῃσι 8 Vgl. die oft zitierte Szene mit dem Priamossohn Lykaon in Il. 21.34–135. 9 Vgl. Wickert-Micknat 1983, 36.

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„Bevor Patroklos dem Schicksalstag gefolgt ist, / solange war mir lieber im Sinn, auch einmal zu schonen, / die Troer, und viele habe ich lebend gefangen und verkauft. / Jetzt aber ist der nicht, der dem Tod entrinnt, wen immer / ein Gott vor Ilios in meine Hände wirft.“ (Il. 21.100–104) Achill ist auf Rache aus, und niemand vermag ihn in seinem Rachebedürfnis Einhalt zu gebieten. 10 Rache ist überhaupt ein immer wieder auftauchendes Motiv. Man will den Gegner töten, weil der Gegner ebenfalls zuvor getötet hat. 11 Das Töten in der Schlacht wird dabei dem Töten außerhalb der Schlacht vollkommen gleichgestellt. 12 Dies zeigt sich darin, dass der Ausdruck androktasia, das Männermorden, den wir anfangs näher betrachtet hatten, auch außerhalb eines Kampfkontextes gebraucht wird, da ungefähr im Sinne unseres juristischen Begriffes ‚Totschlag‘. 13 In der Schlacht passiert also nichts anderes als außerhalb der Schlacht: Jemand hat getötet und muss somit rechnen, nun von den Angehörigen des Getöteten zur Vergeltung ebenfalls getötet zu werde. Man kann die Gleichsetzung auch in der bereits erwähnten möglichen Schonung des Gegners erkennen. Im zivilen Mordfall entspricht dem die Möglichkeit, dass der Betroffene, statt sich der archaischen Blutrache auszusetzten, etwa freiwillig ins Exil geht, um sich so der Rache der Angehörigen zu entziehen, oder aber Blutgeld, die sogenannte poine, an die Angehörigen zahlt, als Kompensation. 14 Freilich gibt es einen gravierenden Unterschied. Während schon das archaische Recht eine Unterscheidung zwischen beabsichtigten und unbeabsichtigten Mord kennt, also sehr grob zwar aber doch entsprechend unserer modernen Unterscheidung von Mord und Totschlag, gilt das Töten in der Schlacht immer als bewußter Mord. 15 In dieser Perspektive erscheinen die beteiligten Kämpfer somit tatsächlich als Mörder, und ihre unterlegenen Gegner nicht als Teil der von Anfang an zu erwartenden militärischen Verluste, sondern geradezu als unglückliche Opfer eines Massenmordes, der gerächt werden muss. 16 Diese Vorstellung samt dem entsprechenden Vokabular findet sich noch in der klassischen attischen Tragödie des 5. Jh. Auch die Dramatiker sprechen von der Schlacht und dem Kampf als Morden der Männer. Der homerische Begriff androktasia wird einmal von Aischylos verwendet, neben einer Reihe von entsprechenden adjektivischen Abwandlungen wie androkmes oder androthnetos (androphontes, androktonos, androphonos). 17 Dass der Begriff im Sinne eines bewußten Mordens noch verstanden wurde, beweisen die sogenannten D-Scholien Homers, die auf die im Schulunterricht der klassischen Zeit zurückge10 Vgl. zur mēnis des Achill Muellner 1996. 11 Vgl. Hom. Il. 17.34–40. 12 Siehe grundlegend für diesen Zusammenhang Eck 2018, 131–210, bes. 201–205 (zum Begriff phonos); deutlich illustriert ist die Gleichstellung in Hom. Od. 11.405–420, wo Agamemnon den an ihm verübten Mord beschreibt. 13 Vgl. Hom. Il. 23.86. 14 Vgl. Gagarin 1981, 6–10. 15 Vgl. Pepe 2015, 48–51. 16 Vgl. Hom. Il. 14.476–485; 24.734–738. 17 Aisch. Th. 693; Supp. 679; Ag. 814; Choe. 889; Eum. 956.

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henden Wortlisten zu Homer beruhen. Dort wird das Wort androktasia mit androphonia erklärt (Schol. D in Iliad. Ε 909; Ψ 86), dem juristischen terminus technicus des attischen Rechts für Mord (Lys. 10.7; Dem. 23.29). Noch Euripides spricht in den Hiketiden von den „männermordenden Kämpfen“, die es zu vermeiden gilt (Hik. 525). Ebenso findet sich das Motiv, den Gegner zu bekämpfen und zu töten aus Rache für die Tötung der eigenen Leute. Der Feldzug des Xerxes 480 v.Chr. ist nach Aischylos als Vergeltungsmaßnahme für die bei Marathon 490 v.Chr. erlittenen persischen Verluste gedacht (Aesch. Pers. 475f.). Und Euripides lässt am Ende seiner Hiketiden Athena den jungen Männern der Argiver die Aufforderung erteilen, den Mord an ihren Vätern durch einen Feldzug gegen Theben zu rächen (Hik. 1225). Wer da als Mordopfer dargestellt werden, waren tatsächlich die berühmten sieben Helden, die beim Angriff auf Theben gefallen waren. Die gerade erwähnten Perser des Aischylos nun sind ein gutes Beispiel für das Fortbestehen der epischen Tradition vom Krieg als großer Mordaktion. Das Stück besteht in weiten Teilen aus Trauergesängen über den Verlust der persischen männlichen Jugend. Im Zentrum steht die verlorene Schlacht von Salamis. Es gibt eine Tendenz in der neueren Forschung, dieses Stück als einen frühen Ausdruck europäischen Orientialismus‘ zu deuten, in welchem den Persern die wenig dankbare stereotype Rolle von der westlichen Hochkultur unterlegenen dekadenten Schwächlingen zukommt. 18 Ob sich Aischylos‘ Zuschauer bei der Aufführung im Jahr 472 wirklich dem Gefühl eines kulturell bedingten Triumphalismus hingegeben haben, darf bezweifelt werden. 19 Zu sehr steht das Motiv der Trauer und des Verlustes im Mittelpunkt des Stückes. Das Stück beginnt mit der Beschreibung des Auszuges des persischen Heeres. Die zurückgegebliebenen Granden des Hofes samt der Königinmutter erfahren bald, dass von der männlichen Blüte der Perser nichts mehr übrig ist. Der Feldzug erscheint als Massendeportation der persischen Männer, die in der Massenexekution durch die Griechen in der Schlacht bei Salamis endet. 20 Dem Kampf fehlt es nicht an glorreichen Momenten auf beiden Seiten. Am Ende jedoch werden die Perser wie Tunfische auf dem großen Fischzug in Masse erschlagen, wer sich auf eine nahe Insel retten kann, wird dort von den Griechen massakriert. 21 Während Aischylos noch mit dem epischen Vokabular operierend den Krieg als mordendes Schlachten darstellt, zeigt sich bei Euripides bereits ein anderes Bild. Auch von diesem gibt es ein Stück, das einen gescheiterten Feldzug zum Thema hat. In den Hiketiden geht es um die Herausgabe der Leichen jener sieben Helden, die vor Theben gefallen waren. Adrastos, der Herrscher von Argos, wendet sich an die Athener unter König Theseus um Unterstützung für sein Vorhaben, die Thebaner zur Herausgabe der Leichen zu bewegen. Wie bei Aischylos besteht das Stück aus langen Passagen der Klage und Trauer um die gefallenen Helden. Der Tod, das Fallen im Kampf, ist hier auch noch als Mordtat, als phonos, gedacht (Hik. 42–87; 1145). Die Herausgabe der toten Helden wird verweigert, Theseus kann sie nur durch eine erneute Schlacht erzwingen, obgleich selbiger eine solche 18 19 20 21

Hall 1993; Harrison 2000, 66–75. Vgl. Loreaux 2002, 48, und die Diskussion in Favorini 2003, 104–105. Siehe die Interpretation in Koehn 2021, 183f. Aisch. Pers. 424–426; 463.

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als „männermordende Kämpfe“ zunächst vermeiden wollte. Der Grund freilich, doch neue Tote für die alten in Kauf zu nehmen, ist ein gerechter; die Athener helfen, ein gemeingriechisches Recht, das der Totenbestattung, durchzusetzen. Im Anschluss fordert Theseus den erfreuten Adrastos auf, eine Rede auf die nunmehr zurückerstatteten Helden zu halten, in welcher er die Tapferkeit derselben lobt und zur Nachahmung empfiehlt (Hik. 857–917). Krieg ist Mord und erfordert Rache, aber das Sterben im Krieg erhält einen höheren Sinn. Die Gefallenen haben sich für ihre Stadt und deren Sache geopfert. Hier nun sind wir an einem interessanten Schnittpunkt zweier unterschiedlicher Vorstellungen angelangt. Wie gesehen, ist im frühgriechischen Epos das Töten im Kampf ebenso ein Morden wie das Töten nach dem Kampf oder das Töten im zivilen Kontext. All dies wird als phonos angesehen, ohne zu berücksichtigen, ob es sich um eine Kampfsituation handelt, in der beide Gegner sich verteidigen können, oder aber der Tötung ohne Gegenwehr ausgesetzt sind. Aber schon im frühgriechischen Epos wie in der Lyrik wird parallel dazu die Vorstellung zum Ausdruck gebracht, dass die Kriegstoten nicht Opfer eines Massenmordes geworden sind, sondern ‚Gefallene‘ in einem Konflikt, in welchem sie für die Sache ihrer Gemeinschaft gestorben sind. Homer formuliert es bereits so (Il. 15.494–497): ὃς δέ κεν ὑμέων / βλήμενος ἠὲ τυπεὶς θάνατον καὶ πότμον ἐπίσπῃ, / τεθνάτω· οὔ οἱ ἀεικὲς ἀμυνομένῳ περὶ πάτρης / τεθνάμεν „Wer von Euch / von Wurf oder Hieb getroffen dem Tod und dem Schicksal folgt, / der sterbe! Nicht unwürdig ist es ihm, sich wehrend um die Heimat / zu sterben.“ 22 In diesem Nebeneinander konträrer Perzeptionen spiegeln sich die militärtechnischen wie -taktischen Umwälzungen dieser Zeit wider. 23 Das homerische Kampfgeschehen war im wesentlichen von der Bewegung der Krieger geprägt. Die bevorzugte Angriffsform war der Überfall (λόχος), bei dem aus einem Überraschungsmoment heraus der Gegner möglichst schnell attackiert und in die Flucht geschlagen werden sollte. Man wollte ein Festfahren des Kampfes vermeiden, so dass aus dem Bewegungskampf ein Standkampf (σταδίη) wird, weil dann das Überraschungsmoment hinfällig ist und die Verlustraten für den Angreifer steigen. Mit dem Wechsel von einer durch konstante Vor- und Rückwärtsbewegungen gekennzeichneten Kampfesweise hin zur statischen Phalanx kam es jedoch zu einer dramatischen Umwälzung der kriegerischen Wertevorstellungen; statt dem Überfall als bevorzugter Angriffsoperation, dem Bewegungskampf mit der steten Möglichkeit zur Flucht und dem Wurfkampf als gleichwertig zum Nahkampf galten 22 Zur Frage, ob bei Homer die Gemeinschaft noch eher auf die Familie beschränkt wird und nicht so sehr die Gemeinschaft im abstrakten politischen Sinne der Patris meint, siehe die Diskussion in Irwin 2005, 22–29, die zurecht dahingehend argumentiert, dass der Unterschied zwischen Homer und den archaischen Dichtern letztlich nicht so signifikant ist wie in der Tradition von Forschern wie Werner Jäger oder Bruno Snell in der Literatur oftmals angenommen wird. 23 Die folgenden Ausführen sind Gegenstand des in Fußnote * erwähnten Buchprojektes.

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nun die offene Feldschlacht und das unbedingte Standhalten in der Linie im direkten Nahkampf als oberstes Leitmotiv kriegerischen Verhaltens. Die vieldiskutierte ‚Hoplite Revolution‘ der archaischen Zeit ist in erster Linie eine ‚Battle Revolution‘, in deren Folge andere Formen des Krieges und Kämpfens ab- und umgewertet werden. 24 Die Schlacht mit ihren hohen Verlustraten kann nun nicht mehr wie noch bei Homer als grausame Massenform des Abschlachtens von Männern dargestellt werden, sondern braucht eine neue Sinngebung; Kampf und Tod in der Schlacht werden sinnstiftend als Opfer für die Gemeinschaft aufgefaßt, der Fokus wird vom Töten auf das Sterben gerichtet. Diese Idee wurde zum zentralen Thema in der frühgriechischen Dichtung, vor allem in den Kampfparainesen des Kallinos und Tyrtaios; da man sowieso sterben müsse, sei der Tod auf dem Schlachtfeld viel sinnvoller, da für die Gemeinschaft erbracht, als der Tod zuhause in der eigenen Kammer; im Tod sei man gleichsam unbesiegt. Zu Sterben bedeutet Ruhm, Flucht aus der Schlacht aber Schande und Verrat, zunächst ganz konkret an den Mitkämpfern, und in der Konsequenz an der Polis als Gemeinschaft. Nach Tyrtaios zeigt sich der wahre und schönste Wert (ἀρετή, ἄεθλον) eines jungen Mannes erst dann, wenn er den Anblick des blutiges Mordens in der Schlacht aus- und im Nahkampf gegen den Feind standhält (Tyrt. 12.10–14 West). Tyrtaios kennt auch das epische androphonos, jedoch wird es nicht wie bei Homer auf die Kämpfer, sondern auf deren Waffen bezogen (Tyrt. 19.9 West); das Morden findet nach wie vor statt, aber es wird entpersonalisiert und abstrakt. Wichtiger ist das Sterben: Der Tod für die Heimat ist eines Kriegers nicht nur nicht unwürdig (οὔ οἱ ἀεικὲς), wie es bei Homer heißt, sondern in jeder Hinsicht schön (καλός). 25 Bei den Elegikern finden wir also die uns viel vertrautere Idee, dass das ‚Fallen‘ in der Schlacht kein passiver individueller Akt ist, sondern ein aktives Opfern für die Gemeinschaft. Der berühmteste der römischen Dichter, Horaz, hat dies auf die vielzitierte Formel gebracht, dass es süß und ehrenvoll sei, für das Vaterland zu sterben (dulce et decorum est pro patria mori). 26 In Deutschland nun ist diese Idee dank der beiden verlorenen Weltkriege weitgehend verschwunden, aber in anderen Ländern noch immer allgegenwärtig, gerade auch in westlichen Demokratien wie den USA oder Australien. In letzterem wird jedes Jahr im April der sogenannte ANZAC Day begangen, an dem man die 8000 gefallenen australischen Soldaten der Gallipoli-Expedition von 1915 ehrt. Bekanntlich war dies ein militärisches Desaster, denn anstatt Konstantinopel einzunehmen verbluteten diese Soldaten in den Schützengräben nah an den zerklüfteten Stränden, an denen sie irrsin-

24 Dies wird in den Diskussionen der einschlägigen und mittlerweile weitläufigen Literatur nicht genügend berücksichtigt. Zur ,Hoplite Revolution‘ allgemein und zur Frage der damit zusammenhängenden Diskussion zwischen ‚Orthodoxen‘ und ‚Gradualisten‘ nach den zeitlichen Entwicklungen vgl. Kagan; Viggiano 2013 und Taylor 2021. 25 Kallin. 1 West; Tyrt. 10–12 West; vgl. zur Thematik allgemein Müller 1989; Loreaux 2018. Bei alledem gilt natürlich festzuhalten, dass Kallinos wie Tyrtaios auch den Ruhm besingen, den derjenige erringt, der die Schlacht überlebt, freilich siegreich; man darf zwar der Schlacht nicht entfliehen, kann aber dem Tod entkommen, siehe bes. Tyrt. 12.35–44 West. 26 Hor. Carm. 3.2.13; dass diese Idee eine griechische ist und Horazens Dictum eher eine Ausnahmesituation beschreibt, betont in Nachfolge von Lohmann Rüpke 1995, 233.

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nigerweise angelandet worden waren. Für die Australier der heutigen Zeit sind sie mehr denn je die großen identitätsstiftenden Helden des Landes. 27 Diese Art von Umkehrung der Perspektive, von der Betrauerung von Mordopfern zur Verehrung von Helden, die sich selbst für die Stadt aufgeopfert haben, in der aus dem passiven Opfer ein aktives wird, diese Umkehrung fand ihren im wörtlichen Sinne eloquentesten Ausdruck in der athenischen Beredsamkeit bzw. Rhetorik. 28 Von allen Griechen waren es die Athener, die ihre Kriegstoten im 5. und 4. Jh. v.Chr. in einem offiziellen Staatsbegräbnis begruben und bei dieser Gelegenheit ehrende Reden, sogenannte epitaphioi, Grabreden, hielten. Dabei ging es weniger konkret um die Gefallenen als vielmehr allgemein um die Stadt und ihre Größe. 29 Diese Auffassung nun hat allmählich die ältere vom Töten und Sterben im Krieg als einem Morden in den Hintergrund gedrängt, bis sie in frühchristlicher Zeit wieder formuliert wurde. Anhand der athenischen Tragödie im 5. Jh. lässt sich der Prozess in den Grundzügen nachvollziehen. Während in der öffentlichen Gefallenrede die Trauer gleichsam vergemeinschaftlicht wurde, was wohl auch der wesentliche Zweck derselben gewesen sein mag, bot das Theater die Möglichkeit, dem Gefühl der Trauer und des Schmerzes viel mehr Raum zu widmen. Während exzessive Trauer im öffentlichen Raum verpönt und durch die Staatsbegräbnisse gleichsam eingedämmt und kanalisiert wurde, präsentierten die Tragödien mit ihren endlosen Klageliedern und Trauergesängen geradezu ein Kontrastprogram. 30 Im übrigen gab es zumindest für einige Zeit im 5. Jh. eine Verbindung zwischen beiden, insofern im Theater vor Beginn der Aufführungen an den Dionysien dem Publikum die Kriegswaisen des Vorjahres präsentiert wurden. Hier greift also ein Trauerkontext in den anderen. Wie gesehen, findet sich noch bei Aischylos der Ausdruck androktasia, das Männermorden, sowie eine ganze Reihe von ähnlich konnotierten Abwandlungen. Auch Euripides kann noch mit dieser Vorstellung operieren, wenngleich er in den Hiketiden auch die andere Sichtweise mit hineinbringt: Töten ist nicht Morden, sondern Sterben für die Gemeinschaft. Das endliche Überwiegen der einen Auffassung über die andere bedingte, dass nun klare Trennlinien gezogen wurden. Es musste klar sein, dass das Töten im Kampf nicht mehr gleichgesetzt werden konnte mit dem Töten nach dem Kampf oder gar dem Töten in einem nichtmilitärischen, also zivilen Kontext; das Töten im Kampf konnte nun 27 Zur westlichen Tradition des Gefallenengedenkens siehe Mosse 1990. 28 Diese Umkehrung fand freilich auch Eingang in andere Medien, wie z.B. das Epigramm des Simonides (Anth. Pal. 7. 251 = 9 Page) für die gefallenen Thermopylenkämpfer zeigt, die sich in eine schwarze Wolke des Todes einhüllen und damit die homerische Todesmetapher (z.B. Il. 16.350; 20.417f), in der die Helden in die Wolke eingehüllt werden, in ein aktives Handeln umwandeln. D. Petegorsky hat dies in folgenden Ausführungen sehr schön erkannt: „What is crucial in the poem is the change from a situation in which the cloud of death, as a force beyond their control, consumes the warrior, to one in which they have appropriated death by turning it into a willful act – they are not passively slain, rather they choose actively to die.“, zitiert bei Slatkin 1995, 92f. 29 Zu dieser Tradition siehe das klassische Werk von Loreaux 1986 [1981] und jüngst den Versuch einer kritischen Revision von Wienand 2023. 30 Vgl. Loreaux 2002.

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nicht mehr als Mord aufgefasst werden. In den Mitte der 420er Jahre aufgeführten Hiketiden ist diese Trennlinie noch verschwommen, insofern die vor Theben gefallenen Helden als Mordopfer dargestellt werden, die von ihren Nachfahren, den Epigonen, gerächt werden müssen. Ganz anders die Situation in den 415 v.Chr. aufgeführten Troerinnen. 31 Dieses Stück war das letzte einer ansonsten nur in Fragmenten erhaltenen Trilogie, die den Trojanischen Krieg von der Geburt des Paris bis zur Zerstörung Trojas zum Gegenstand hatte. In den Troerinnen behandelt Euripides die Situation, in der sich die Frauen der Trojaner unmittelbar nach Einnahme der Stadt befanden. Die Stadt ist genommen, aber noch nicht zerstört; die Männer sind tot. Die Frauen nun werden als Kriegsbeute unter den Siegern verteilt. Das Stück gehört zu den handlungsärmsten der Euripideischen Produktionen, vermag aber trotzdem eine geradezu epische Atmosphäre verschaffen. Gerade dass die Handlung in der noch im wesentlichen unzerstörten Stadt angesiedelt ist, macht das menschliche Schicksal besonders tragisch. Der Handlung gibt Euripides so eine negative Klimax. Am Ende des Stückes klagt der Chor angesichts der brandlegenden Griechen, dass die megalopolis nunmehr apolis sei, also die einst mächtige Metropole in ihrer Existenz vernichtet sei (1291f). Ziemlich genau in der Mitte nennt die trojanische Königin Hekuba die Stadt eremopolis, also eine ihrer Bevölkerung beraubte Stadt (603). Dies ist sozusagen die Zwischenstufe zwischen alter Herrlichkeit einerseits und Ausradierung andererseits: die Stadt in ihrer physischen Herrlichkeit steht noch, aber sie ist dennoch eine Einöde, da ihre Menschen fehlen. Die Einwohner sind nicht mehr anwesend. Freilich sind die Frauen noch halb da, sie werden ja gerade unter den Siegern aufgeteilt. Aber die Männer sind ganz verschwunden. Wenngleich deren Schicksal eher nur im Hintergrund auftaucht, da die Protagonisten die weiblichen Angehörigen des trojanischen Königshauses sowie der Chor der trojanischen Frauen und Mädchen sind, läßt sich hier eine interessante Beobachtung treffen. Im Gegensatz zu den Frauen sind die Männer alle tot. Sie sind aber nicht gefallen, sondern in einem Umfeld gestorben, dass als geradezu ur-ziviles Gegenstück zum Schlachtfeld gelten kann: in ihren Schlafzimmern. Die entscheidenden Worte stehen in Vers 564: karatomos eremia, das je nachdem, wo man den Akzent setzt, geköpfte Einöde oder köpfende Einöde heißt. In beiden Fällen ist der Ausdruck, den Euripides gebraucht, ein äußerst starker. Die köpfende oder geköpfte Einöde bringt in den Schlafzimmern einen Siegeskranz für die Griechen, und Trauer für die Trojaner, heißt es in diesen Versen. Der Ort der durch das Kopfabschlagen entstehenden Einöde sind also die Schlafzimmer. Wie auch immer man im einzelnen diese Verse deuten mag, es bleibt festzuhalten, dass sie klar auf die Todesumstände der trojanischen Männer zu beziehen sind. Sie stehen im ersten Stasimon des Chores (511–567), also einem Klagelied, in dem der Chor der Troerinnen die verhängnisvolle Nacht schildert, als die Trojaner das von den Griechen zurückgelassene hölzerne Pferd in die Stadt gezogen haben. Was folgt, ist der bekannte Überfall, der in einem Abmetzeln der Trojaner in ihren Betten endet. Die Darstellung des Chores unterscheidet sich sehr von den zuvor in der Handlung vorgebrachten Klagen der Kassandra und 31 Zu den folgenden Ausführungen siehe Koehn 2021, 190–194, und den in Fußnote * erwähnten Aufsatz mit der jeweils dort aufgeführten umfangreichen Forschungsliteratur.

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der Hekabe. Kassandra beschwört den nun verlorenen Krieg als Verteidigungskrieg für das Vaterland; während die Griechen in fremder Erde fern ihrer Familien gestorben und begraben sind, konnten die Trojaner entsprechend ehrenvoll bestattet werden, und die, die aus der Schlacht heimkehrten, erfreuten sich des Zusammenseins mit ihren Familien (308–461). Hekabe beklagt erst den Tod ihrer zahlreichen im Kampf mit den Griechen gefallenen Söhne, dann die Abschlachtung ihres Mannes Priamos bei der Einnahme der Stadt, und schließlich das ungewisse Schicksal ihrer Töchter (478–484). Sowohl Kassandra als auch Hekabe sprechen vom Tod der Männer während des Krieges als Gefallene des Krieges, für die Verteidigung der Stadt. Der Chor jedoch spricht vom Tod der Männer als Ermordung. Dasselbe Bild gebraucht Euripides auch in der Iphigenie auf Aulis, wo von dem Abreißen der kehldurchschnittenen Köpfe der Trojaner bei der Einahme der Stadt die Rede ist (776), und in der berühmten Szene in der Hekabe, wo der Chor der Troerinnen ebenfalls die letzte Nacht schildert; während die Gattin die Nachttoilette vollendet, liegt der Gatte schlafend im Bett, die Waffen an der Wand hängend. Dann sind plötzlich die Griechen da. Nachdem sie den Tod des eigenen Ehemannes mit ansehen musste, wird sie von den Griechen zu den Schiffen geführt (914–941). In allen diesen Szenen werden die trojanischen Männer von den Griechen ermordet, sie sterben nicht im Kampf. Das ist insofern bemerkenswert, da die epische Tradition seit Homer trotz des Überfalls doch noch soetwas wie die letzte Schlacht, den letzten militärischen Widerstand der überumpelten Trojaner kennt. Insbesondere um Priamos’ Palast wird gleichsam bis fünf nach zwölf gekämpft. In vielen Texten und Darstellungen wird die Schlacht in Nacht der Einnahme erwähnt. 32 Euripides hat also hier den Mythos vollkommen verändert, wobei er die Bildlichkeit der Sprache beibehalten aber in der Aussage transferiert hat : Im Epos werden sinnbildlich die Köpfe der Männer in den Hades geworfen, die in der Schlacht gefallen sind (Hes. Cat. fr. 204.118–119; Hom. Il. 11.55; vgl. ebd. 1.3), bei Euripides im Wortsinne die Köpfe derer, die die Schlacht űberlebt haben. 33 Ob er der erste war, der diese Neuinterpretation vorgenommen hat, kann hier nicht erörtert werden. Für unser Thema ist die Beobachtung entscheidend, dass wir hier eine klare Trennlinie zwischen dem Töten und Sterben in der Schlacht, und dem Töten und Sterben nach der Schlacht haben. Ersteres ist kein gegenseitiges Männermorden mehr wie im frühgriechischem Epos und wie noch bei Aischylos, sondern ein Töten und Sterben für eine mehr oder weniger gute Sache, je nach dem, ob man die Perspektive der Trojaner oder die der Griechen einnimmt. Das Töten und Sterben nach der Schlacht ist hingegen ganz klar ein Morden. Hier also können wir sehen, wie der Perspektivenwechsel erfolgt. Soldaten sind nur dann noch Mörder, wenn sie außerhalb der Schlacht töten, sonst töten sie für eine gute oder weniger gute Sache, respektive fallen für ebendiese Sache. Sie sind aber nur dann noch Mordopfer im engeren Sinne, wenn sie ohne Gegenwehr getötet werden. Vom späten 5. Jh. v.Chr. an haben wir es also mit jener Vorstellung zu tun, wonach der 32 Vgl. z.B. Iliad. Parv. PEG F 10; Hom. Od. 8.519; zu den Details siehe Koehn 2021, 193–196. 33 Vgl. zur Metapher auch Hom. Il. 2.259; 5.214; Od. 16.102, und zum Kopfabschlagen als Ausdruck des heroischen Triumphes über den freilich sonst bereits vorher im Kampf getöteten Gegner Miller 2000, 127–129.

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militärische Kampf insofern ehrenvoll ist, als er einer höheren Sache dient; keinesfalls ist er als reines Morden mehr zu verstehen. Soldaten als Mörder tauchen nur dann noch auf, wenn man den Gegner verunglimpfen möchte. Unter den Fragmenten aus den Philippika des Theopomp finden sich einige, in denen die Hetairoi Philipps von Makedonien lächerlich gemacht werden (FGrHist 115 F 225). Ihre Lebensweise sei nicht geziemend, sondern ähnele der von Räubern. Sie seien keine Hetairoi, Gefährten (womit die Elitesoldaten Philipps gemeint sind), sondern Hetären, also Prostituierte, und keine Soldaten, sondern Hurer; denn von Natur aus seien sie Mörder (ἀνδροφόνοι). Hier sieht man, dass sich die Begriffe Soldat einerseits und Räuber und Mörder andererseits gegenseitig ausschließen. Das homerische epitheton ornans androphonos, Männermörder, hat hier nichts mehr heldisches, sondern ist gänzlich negativ. Man kann auch an die Episode im Alexanderroman erinnern, wo Alexander die Gesandten des Dareios, die ihm einen Brief übergeben hatten, in welchem ihn der Perserkönig als Räuberhauptmann tituliert, ermorden lassen will, woraufhin die erschreckten Gesandten den Grund wissen wollen. Alexander antwortet ihnen, da ihn ja ihr Herr und König als Räuberhauptmann anrede, handele er so, wie man es von einem solchen erwarte: er morde (vit. Alex. 1.36–37). In Rom schließlich kann nur der mit den Feinden kämpfen, der regulär in der Armee dient. 34 Tut er dies außerhalb des militärischen Kontexts, macht er sich strafbar. Umgekehrt ist er aber damit als Soldat per se kein Mörder. Dies gilt freilich nicht gleichermaßen für den Gegner, wenn er nicht ex perduellium numero definitus ist (Cic. de off. 1.37; 3.107). Besonders in den römischen Bürgerkriegen des ersten Jh. v.Chr. hat man Rivalen gern als Räuber und damit Mörder diffamiert. Die spanischen Truppen des Sertorius zum Beispiel werden in den Quellen als berserkerartige Räubertruppe dargestellt (Plut. Sert. 14–15). Bekanntlich präsentiert Augustus in den Res Gestae seinen Sieg über Sextus Pompeius als Säuberungsaktion des Meeres von Seeräubern (Aug. RG 25). Umgekehrt, und hier ist der antike Roman sehr aufschlußreich, versuchen Räuber aus dem schlechten Image auszubrechen, indem sie sich selbst als systratiotai, als Soldatenkameraden, ansprechen, ihre Raubzüge sind stoloi, Heerzüge, wenn sie sich zusammenrotten, rekrutieren sie Truppen (stratiologein), ihr Anführer ist kein Räuberhauptmann, sondern ein strategos, Feldherr, und so fort. 35 Auch wenn zum Teil diese Räuber hochgerüstet sind und über eine erhebliche Kampfkraft verfügen und sich selbst eine soldatische Organisation geben, bleiben sie sowohl in den Augen des regulären Militärs als auch in denen der den Räubern ausgesetzten Zivilbevölkerung das, was sie tatsächlich sind: Räuber und Mörder. Fazit: Die Vorstellung, dass Krieger und Soldaten de facto Mörder sind, findet sich schon in ganz früher Zeit, im indogermanischen Heldenepos. Bei Homer und im frühgriechischen Epos ist diese Vorstellung offen formuliert, ohne moralisch in der gleichen Weise behaftet zu sein wie in der Moderne. Der mordende Held kann soviel Glorie beanspruchen, wie der dem Helden zum Opfer fallende Gegner Mitleid erlangt. Die Trennlinien zwischen militärischem und zivilem Mord sind somit, gerade wegen des oftmals vorherrschenden Rachemotivs, sehr durchsichtig. Parallel dazu entwickelt sich die Vor34 Vgl. Cat. ep. 4 Jordan; Rüpke 1995, 221f. 35 Vgl. etwa Therons Seeräubertruppe im ersten Buch von Charitons Roman Chaireas und Kallirhoe.

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stellung, dass der getötete Soldat kein Mordopfer ist, sondern gefallen ist für die Sache seiner Gemeinschaft. Beide Vorstellungen stehen in der archaischen Dichtung noch unmittelbar nebeneinander; darin spiegeln sich nicht zuletzt die militärtaktischen Umwälzungen dieser Zeit wider, in der die Schlacht zur dominierenden Kriegs- und Kampfform wird. In klassischer Zeit sind die Gewichtungen dann klar verschoben; die Vorstellung vom Soldaten als aktives Opfer, weil er sein Leben für die Gemeinschaft gibt, wird wichtiger als die Vorstellung vom Soldaten als aktiver Mörder, der den Feind aus Rache tötet. In der tragischen Dichtung des 5. Jh. läßt sich die Verschiebung nachvollziehen. Sie dürfte ohne Zweifel mit dem Aufkommen der Gefallenreden in Athen und der damit verbundenen Memorialkultur wie im öffentlichen Raum aufgestellte Gefallenenlisten und zentral platzierte Gemeinschaftsgräber zusammenhängen. In dieser Kultur war es nicht mehr opportun, den Aspekt des Mordens im Krieg allzusehr zu betonen. Bis in die christliche Zeit dann ist die Vorstellung, der den Gegner tötende Soldat sei ein Mörder, aus dem öffentlichen politischen wie literarischen Diskurs weitgehend verbannt. Nur im Theater konnte man noch Sätze hören wie die des Euripides: Abgeschlachtet zu werden sei schrecklich, bringe aber Ruhm, nicht zu sterben sei feige, aber ein Grund zur Freude. 36 Tucholsky hätte es mutatis mutandis nicht besser sagen können. Literatur Burkert, Walter: Krieg und Tod in der griechischen Polis, in: Heinrich von Stietenkron, Jörg Rüpke (Hrgg.): Töten im Krieg, Freiburg–München 1995, 179–196. Eck, Bernard: La mort rouge. Homicide, guerre et souillure en Grèce ancienne, Paris 2018 [zuerst 2012]. Favorini, Attilio: History, Collective Memory, and Aeschylus‘  Persians,  Theatre Journal 55, 2003, 99–111. Gagarin, Michael: Drakon and Early Athenian Homicide Law, New Haven 1981. Gerhards, Thomas (Hrg.): Pazifismus und Kriegsdienstverweigerung in der frühen Kirche – Eine Quellensammlung, 6. Aufl. München 1991.

36 TrGF F 854: τὸ μὲν σφαγῆναι δεινόν, εὔκλειαν δ’ ἔχει· τὸ μὴ θανεῖν δὲ δειλόν, ἡδονὴ δ’ ἔνι. Eine höchst interessante Äußerung in Richtung einer kritischen Betrachtung findet sich in einem im Corpus der Heraklitischen Schriften überlieferten und wahrscheinlich auf eine kynische Diatribe des ersten nachchristlichen Jahrhunderts zurückgehenden Brief, wo der Autor sich über das menschliche Verhalten, darunter auch die Kriege lustig macht: „Soll ich über Eure Kriege lachen […] wenn Ihr Schlachtreihen gegenüberstellend als Menschen mit dem gegenseitigen Abschlachten von Menschen prahlt, wobei Ihr diejenigen, die nicht morden, als Fahnenflüchtlinge bestraft und diejenigen, die voll mit Blut besudelt sind, als Beste ehrt?“ (Ps.-Herkl. Ep. 7.6: φάλαγγας δὲ ἀντιστήσαντες ἄνθρωποι κατὰ ἀνθρώπων ἀλλήλλων σφαγὰς εὔχεσθε, ὡς λειποτάκτας τοὺς μὴ μιαφονοῦντας τιμωρούμενοι καὶ ὡς ἀριστέας τοὺς ἐμπλεονάσαντας αἴματι τιμῶντες;). Text und Kommentar in der Ausgabe von Mondolfo; Tarán 1972, 334–346; vgl. Burkert 1995, 191f. Entsprechend ähnlich kritisch äußern sich auch kaiserzeitliche Autoren wie Seneca (ep. 95.30–31) oder Dion Chrysostomos (or. 38.16–19).

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Wasserwesen – Der antike Mensch und die Bewohner des nassen Elements Angela Pabst

Wasser als Lebensraum – „das nasse Element und seine Bewohner“ – mag zwar, wie ich hoffe, ein Thema sein, das sich als wissenschaftliche Geburtstagsgabe für einen Jubilar eignet, der an der Fachschriftstellerei der Antike 1 interessiert – und zudem noch Hanseat ist. Freilich erscheint es bei flüchtiger Betrachtung zugleich als ein Gegenstand, der sich für eine historische Behandlung nicht unmittelbar anbietet. Denn immerhin hat sich, solange die Erinnerung der Menschen zurückreicht, nicht das Mindeste an der Tatsache geändert, dass unserer eigenen Gattung allenfalls ein höchst begrenzter Aufenthalt in Seen, Flüssen, Bächen, Teichen und dem Meer möglich ist, während andere Spezies dort – teilweise sogar nur dort – problemlos existieren können und quasi wirklich zuhause sind. „Wie ein Fisch im Wasser“, sagt man im Deutschen dann, wenn jemand sich ganz in seinem Element, der ihm angemessenen Umgebung oder Tätigkeit befindet, wohingegen die Antithese, „der Fisch auf dem Trockenen“ in eine ihm gar nicht zuträgliche Lage geraten ist. 2 Genau solche Redewendungen sind allerdings recht gut geeignet, schlaglichtartig zu verdeutlichen, dass die Geschichtswissenschaft ihrerseits beim Thema „Wasser als Lebensraum“, des „nassen Elements und seiner Bewohner“ sich, entgegen des ersten Eindrucks, doch nicht als „Fisch auf dem Trockenen“ zu fühlen braucht, sondern sich sehr wohl als „Fisch im Wasser“ zu tummeln vermag, sich also nicht im fremden Ressort der Zoologie oder Verhaltensforschung bewegen muss, sondern ihr genuines Feld des Menschen und seiner kulturellen Erzeugnisse in einer zurückliegenden Epoche, hier der Antike bearbeiten darf. Denn es sind nicht die im, am, auf dem oder vom Wasser lebenden Geschöpfe per se, mithin die Natur, es ist der Blick des Menschen auf sie, es sind dessen auf solche Wesen bezogenen Beobachtungen und Handlungen, dabei ganz besonders sei-

1 Siehe v.a. Meißner 1999. Von den im Folgenden verwendeten Autoren sind hier speziell die Agrarschriftsteller und Plinius einbezogen. 2 Zu ähnlichen Sprichwörtern in der Antike Köhler 1881/1967, 23 Nr.1, 50 Nr.13; zur Vorstellung vgl. auch Anm.88.

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ne Deutungen, kurz Kulturelles, das uns im Folgenden interessieren soll. 3 Mit dieser Aussage ist, das sei am Rande bemerkt, nicht beabsichtigt, den Zugang der animate history pauschal abzulehnen. Sie zielt bekanntlich darauf ab, Tiere als eigenständige Akteure ins Blickfeld historischer Forschung zu rücken. Freilich bietet die Thematik der Wasserwesen nur im abschließend zu erörterndem Fall der Muränen die Chance, derartige Überlegungen konstruktiv zu nutzen. 4 Verharrt man zunächst und primär bei den menschlichen Akteuren, so erweisen sich als wesentliche Gesichtspunkte erstens die zeitspezifischen Klassifizierungen dieser Fauna, zweitens die der Wasserwelt zugeschriebenen Eigenheiten und drittens die Beziehungen, die zwischen ihr und dem Menschen praktiziert oder angenommen werden, womit vor allem die Kategorien von postulierter oder realer Nähe respektive Ferne ins Spiel kommen. Dass zugleich stets über die Nähe oder Ferne unserer eigenen Zeit zur Vorstellungsund Lebenswelt der Antike zu reflektieren ist, braucht kaum eigens betont zu werden. Wer sind die „Wasserwesen“ (enhydra)? – Denkmuster und Kenntnisse Ein Unterschied von einst und jetzt tritt uns bereits beim Terminus der zoa, der mit Wahrnehmung und Reaktionsvermögen ausgestatteten, mit ihrer Umwelt daher interagierenden Lebewesen, entgegen. 5 Nur kurz sei in Erinnerung gerufen, dass der griechische Begriff des zoon, grundsätzlich auch der lateinische des animal, schon für sich genommen ein Denkmuster enthält, das mit unserer Alltagssprache, anders als der zoologischen Fachterminologie, 6 nicht abzubilden ist: 7 Denn zoon umschreibt Mensch wie Tier 3 Zur Schaffung einer unverzichtbaren Grundlage weiterer Forschung waren viele wichtige Publikationen bisher darauf konzentriert, den Kenntnisstand antiker Autoren im Bereich der Biologie zu ermitteln. Zu nennen sind hier besonders Kommentare zu Aristoteles’ Tierschriften (Kullmann 2007; Epstein 2019; Schnieders 2019) und Monographien zu einzelnen Gattungen/Arten (Scharfenberg 2001; Johnson, Lavigne 1999; Dumoulin 1994). Im Bereich des Umgangs mit Fischen standen die Nutzung als Nahrung, der Fischfang und –transport, die Fischteiche der Römer sowie Speisetabus und der sakrale Bereich im Mittelpunkt. Hinzu kamen Untersuchungen zu einigen philosophischen Äußerungen und Systemen (primär, aber nicht ausschließlich zu Aristoteles). Für mentalitätsgeschichtliche Ansätze verbleibt daher durchaus noch Raum. Die neueste Publikation von Irby 2021 mit dem vielversprechenden Titel „Conceptions of the watery world“ ist weit eher am Phänomen des Wassers insgesamt als an den dort lebenden Wesen interessiert und bietet im Kapitel zur Tierwelt keine vertiefte und differenzierte Analyse. 4 Zur Orientierung über diesen Ansatz v.a. Krüger, Steinbrecher, Wischermann 2014. 5 Diese Facetten des Terminus werden z. B. von der Erzählung über die Erschaffung der zoa im Protagorasmythos (Plat. Prot. 320d–321b) gut veranschaulicht, dazu auch Pabst 2008, 84f. und Pabst 2019, 78f. 6 Hier wäre der Mensch unter dem Begriff der Tiere subsumiert. 7 Zu dieser Problematik sehr klar Sharples 1995, 32, Anm.83. Dabei tritt im Englischen die zusätzliche Schwierigkeit auf, dass “animal” “in the narrower sense of the term” nur für Landtiere steht. Selbst bei einer Übersetzung mit Lebewesen (Sharples wählt „living creatures“) muss eigens darauf hingewiesen werden, dass Pflanzen im Griechischen üblicherweise nicht in die Kategorie der zoa fallen. Vgl. auch Bodson 2014, 556, die sich für „perishable animate-living-beings“ entscheidet so-

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Wasserwesen – Der antike Mensch und die Bewohner des nassen Elements

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gleichermaßen und ohne jede Abgrenzung voneinander. Für seine peri ta zoa historiai, die Tierkunde, kann Aristoteles daher ganz selbstverständlich den Menschen immer wieder als Exempel nutzen und in Reihen auftreten lassen wie „der Mensch, die Biene, die Wespe, die Ameise, der Kranich“ zur Illustration der zoa politika, 8 „beispielsweise der Mensch und das Maultier“ zur Vergegenwärtigung der „zahmen Tiere“ 9 oder als lebendgebärend „beispielsweise der Mensch, das Pferd, die Robbe und alle übrigen, die Haare haben, sowie unter den Wassertieren etwa der Delphin“. 10 Markant weicht freilich auch die Systematisierung dieser menschlich-tierischen Geschöpfe von der heute gebräuchlichen ab. Die Diskrepanz resultiert dabei wohlgemerkt nicht daraus, dass der Antike die Möglichkeit entgangen wäre, die zoa nach der Art der Aufzucht von Jungen, Stichwort: Säugetiere, 11 oder nach der Morphologie, besonders hinsichtlich Skelett, Blut oder Atmung, Stichwort: Wirbeltiere und Wirbellose 12 zu differenzieren. All diese Parameter und noch weitere 13 lassen sich nachweisen, erhalten freilich eine eindeutig andere, nämlich wesentlich geringere Wertigkeit. Als übergeordnetes Kriterium 14 fungiert stattdessen vorrangig der Lebensraum, gedacht als jenes Ambiente, das für die jeweilige Spezies von existentieller Bedeutung ist. Dies führt – wie leicht ersichtlich – ganz direkt zum Wasser als einem von zwei möglichen Habitaten. Explizit mit ihm verbunden und als ta enhydra, aquatilia, Wasserwesen etikettiert werden in erster Linie zoa, die sich ausschließlich dort aufzuhalten vermögen, sekundär auch solche, für welche diese Sphäre in gleichem Maße unverzichtbar ist wie jene des Landes. Im Fall der letztgenannten ‚Grenzgänger‘ scheint nämlich die Zuordnung zu Land- oder Wassertieren im Grunde beliebig, 15 so dass nicht ausgeschlossen ist, dass einige Betrachter sich für

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wie Monbrun 2015, 129 („animé“). Allgemein zur Schwierigkeit einer adäquaten Terminologie in der Moderne Wischermann 2014, 105f. Aristot. hist. an. 488a. Aristot. hist. an. 488a. Aristot. hist. an. 489a; vgl. 540b; ähnlich gen. an. 718b; 732a. Z. B. Aristot. hist. an. 502b; 566b. Z. B. Aristot. hist. an. 489a–490b. Gerade Aristoteles’ Kategorien haben in der Forschung (v.a. in ihrer Relation zur modernen Biologie) starke Aufmerksamkeit gefunden. Grundlegend zu den verschiedenen Einteilungen das kulturhistorisch sensible Werk von Zucker 2005, das, anders als der Titel vermuten lässt, auch „les classements des animaux avant Aristote“ sowie „la zoologie postaristotélienne“ in den Blick nimmt. So etwa das Sozialverhalten mit vorhandener oder fehlender Gruppen- oder Paarbildung, z. B. Aristot. hist. an. 488a und Schnieders 2019, ab 139. Recht prägnant Theophr. h. plant. 4,6,1 und c. plant. 2,3,5 (megiste diaphora). Vgl. auch 1,4,2 und 1,14,3. Bei Aristot. wird deutlich, dass er den Begriff der enhydra nicht selbst geprägt hat (vgl. auch beispielsweise Plat. leg. 823b) und sich bemüht, ihn prägnanter zu fassen (v.a. hist. an. 589a–590a; vgl. 487a). Selbstverständlich benutzt wird die Dichotomie bereits in Aristot. an. post. 91b,18 und top. 144b,31–145a,3 (mit Andeutung einer Diskussion und Verteidigung der Einteilung; vgl. auch Lloyd 1961, 62f.). Zur möglicherweise zentralen Bedeutung des Habitats für Aristoteles’ eigenes System siehe Gelber 2015. Vgl. auch Schnieders 2019, 137f., 432f. zur Untergliederung in Land- und Wassertiere in einzelnen Abschnitten der hist. an. (Nahrungsbeschaffung etc.). Deutlich etwa Aristot. hist. an. 566b; 589a; 631a. Ähnliches findet sich im Bereich der Politik, wo bei der Verfassung Spartas gleichermaßen demokratische wie oligarchische Züge zu konstatie-

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den Wasserbezug entscheiden. Dies liegt dann besonders nahe, wenn sie, wie Oppian hinsichtlich der Mönchsrobbe 16, die See nachgerade als deren Heimat ansehen, welche das Tier bloß zur Geburt der Jungen kurz verlässt, 17 oder, wie der Sprecher in Plutarchs Schrift „ob Land- oder Wasser-zoa, chersaia oder enhydra, mehr Intelligenz, Lebensklugheit, griechisch phronesis besitzen“, auf die Legende rekurrieren, der Vogel Halkyon ernähre sich nicht nur ausschließlich von Fisch und fertige Nester aus Gräten, sondern brüte sogar auf dem Meer. 18 Etwas versteckter ist das Wasser in jenem Terminus präsent, der sich seit dem Hellenismus 19 neben chersaia 20 und enhydra als dritte Kategorie etabliert. Das namengebende „Doppelleben“ der amphibia findet nämlich just in ihrem steten Wechsel zwischen Trocken und Naß statt, so dass – ganz anders als in der heutigen Zoologie – Geschöpfe wie der Biber, das Krokodil, der Fischotter und das Flusspferd, die täglich beide Bereiche benötigen, typische Vertreter der Amphibien sind. 21 Dass römische Agrarschriftsteller Gänse und Enten in diese Gruppe einordnen, 22 dürfte das Geschick der Schwimmvögel sogar in der Realität nicht unwesentlich verbessert haben. Denn bei aller Orientierung an Gewinnmaximierung sowie Gleichgültigkeit gegenüber dem Wohlbefinden der Tiere 23

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ren sind, so dass einige Leute sie als Demokratie, andere als Oligarchie ansprechen (Aristot. pol. 1294b,14–41). Eine Zusammenstellung des antiken Quellenmaterials zu den Mönchsrobben sowie eine Reihe anregender Analysen bieten Johnson, Lavigne 1999. Opp. hal. 1,686. Plut. mor. 982f. (dazu auch Anm.151). Vgl. Aristot. hist. an. 616a. Die Identifizierung der Spezies ist stark umstritten. Die Optik des Tieres deutet auf einen Eisvogel. Der Irrtum bezüglich des Nestbaus wird von Lunczer 2009, 64–67 plausibel erklärt. Skeptisch dagegen Ebstein 2019, 280; vgl. Schnieders 2019, 440, 800–03. Besonderes Erstaunen (vgl. Bouffartique 2012, 60) erregte es, dass in der Antike postuliert wird, die meisten Menschen hätten selbst ein solches Nest bereits gesehen (Plut. mor. 983e). Der Begriff selbst wird in der Antike zwar auf Demokrit (so zu verstehen ist wohl Theophr. de pisc. Frg. 171,12 Wimmer) zurückgeführt, aber von Aristoteles noch nicht benutzt: Stattdessen arbeitet er mit dem Verb epamphoterizein, um die Uneindeutigkeit mancher Befunde zu formulieren. Sie motiviert z. B. im Fall der enhydra zu einer Modifikation und Präzisierung vorheriger Definitionen (vgl. Anm.14). Daher kann bezweifelt werden, dass die Bildung einer gesonderten Zusatzkategorie der „Dualisierer“ / „dualizers/ dualisers“ durch die moderne Forschung Aristoteles’ Aussagen adäquat wiedergibt (zu Bedenken vgl. bereits Parker 1984, 184f.; weitere Literatur Gelber 2015, 267, Anm.1). Demgegenüber gebraucht Theophr. h. plant. 1,4,3 amphibion bereits mit einer gewissen Selbstverständlichkeit. Als Antithese zu den enhydra erscheint (in Analogie zu Aussagen bei Truppen, Reisearten etc.) bei Platon und Aristoteles meist peza, was freilich den Nachteil hatte, dass manche dieser als Landtiere gemeinten „Fußgänger“ gar keine Füße besaßen, wohingegen dies für enhydra wie die Krabbe sehr wohl zutraf. Z. B. Ail. nat. 6,34; 11,37; Varro l. l. 5,13,78; Plin. nat. 28,31,121; 32,13,26. Varro rust. 3,101; l. l. 5,13,78; Colum. 8,13,1. Besonders drastisch verdeutlicht durch Varro rust. 3,4,2–6; zur Größenordnung 3,2,15 und 3,7,2; vgl. auch 3,7,9f.; 3,15; Colum. 8,8,11f. sowie Meißner 1999, 113–15; 174.

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Wasserwesen – Der antike Mensch und die Bewohner des nassen Elements

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schien es den Autoren bei einem amphibion schlechterdings unmöglich, es ohne einen Zugang zu Teich oder Fluss zu halten. 24 Deutet sich hier bereits etwas von der Vielfalt der Existenzformen an, welche mit Wasser in naher Verbindung stehen, so erweist sich auch die Kategorie der enhydra im engeren Sinne, der eigentlichen Bewohner des nassen Elements, als höchst nützlich, um sich die Diversität des Unterwasserlebens zu vergegenwärtigen. Sie sorgt nämlich dafür, dass das Stichwort „Wasser“ durchaus mehr denn die Assoziation „Fische“ auslöst. Dass die Antike bezüglich der Wasserwesen über bemerkenswerte, für manchen modernen Menschen vielleicht sogar überraschende Kenntnisse verfügte, sollte man sich wenigstens kurz vor Augen führen. So unterlag es keinem Zweifel, dass Delphine und Wale mit Lungen atmen und dazu (genau wie Robben und Wasserschildkröten) 25 auftauchen müssen. 26 Dass sie ihre Jungen säugen, war gleichfalls bekannt und wurde durch Beobachtung dieses Verhaltens 27 ebenso erhärtet wie durch die beiden Zitzen des weiblichen Tiers, die man direkt mit der Brust einer Menschenfrau parallelisierte. 28 Völlig zurecht wird dabei unterstrichen, dass der Delphin unserer Gattung in der (bei nichtmenschlichen Tieren ungewöhnlichen) Zwei-Zahl der Brustwarzen gleicht, nicht weniger korrekt ist Aristoteles’ differenzierender Hinweis auf deren Lage bei der Geschlechtsfalte am Unterleib. 29 Neben den großen Meeressäugern findet die Gattung der Krustentiere, also Krebse, Krabben, Langusten, Hummer, Garnelen, 30 mit dem Sonderfall des Einsiedlerkrebses 31, ebenso Berücksichtigung wie jene der Schalentiere, das heißt Muscheln, Austern, Schnecken, darunter die Purpurschnecke. 32 Unter Kopffüßern 33 firmieren Tintenfische, Kraken und Kalmare, 34 als spezielle Form mit Schale das Papierboot/ der Argonaut. 35 Auch Vertreter der Schlangen in Gestalt von Wasserschlangen 36 oder Stachelhäuter wie Seeigel und See-

24 Colum. 8,14,2: nam sine isto primordio (= ein von Natur aus vorhandenes oder künstlich angelegtes Gewässer) non magis quam sine terreno recte vivere nequeunt. 8,13,2 (Zitat Celsus). Vgl. Kron 2014, 125f. Bei Fischen erachtet Colum. 8,17,9 es ebenfalls für nötig, das Meerwasserbecken mit algenbewachsenen Felsen naturnah zu gestalten, um sie die Gefangenschaft möglichst wenig spüren zu lassen. 25 Aristot. hist. an. 589a. Vgl. auch Dumoulin 1994, 21f. 26 Aristot. hist. an. 489b; 537b; 566b; 589b; Plin. nat. 9,6,19; Ail. nat. 2,52;5,4. 27 Aristot. hist. an. 504b. 28 Aristot. hist. an. 504b; 566b; vgl. Plin. nat. 9,8,21; Ail. nat. 10,8; Opp. hal. 1,649. 29 Aristot. hist. an. 504b. 30 Aristot. hist. an. ab 585a. 31 Aristot. hist. an. 548a. 32 Z. B. Aristot. hist. an. 528a/b; 547a/b. Vgl. Epstein 2019, 361f.; 366 und Plin. nat. ab 9,36,125. 33 Aristoteles’ Äußerungen zu den Cephalopoden wurden vorbildlich untersucht von Scharfenberg 2001. 34 Aristot. hist. an. 524b; 541b; 544a; 549b; vgl. 490b; 523b; Athen. 326c. 35 Aristot. hist. an. 525a; 622b; Plin. nat. 9,47,88; Ail. nat. 9,34; Opp. hal. 1,338. Streng genommen handelt es sich stets um das weibliche Tier. Ausführlich zum Thema Scharfenberg 2001, 159–91. 36 Aristot. hist. an. 505b. Vgl. Schnieders 2019, 888.

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sterne 37 sind nicht vergessen. Eigener Hervorhebung wert scheint zudem, dass Lebensformen wie Seescheiden, Seeanemonen oder Schwämme 38 zutreffend unter der Rubrik Tiere und nicht unter Pflanzen eingereiht werden, wenngleich die Empfindungsfähigkeit bei Letzteren nicht unumstritten war. 39 An ihnen demonstriert Aristoteles den fließenden Übergang vom Unbelebten zum Belebten, 40 aber auch generell ein Modell gradueller Unterschiede in der Komplexität von Organismen, die wiederum unterschiedlich komplexe Lebensweisen gestatten. Bei den Fischen schließlich entscheidet sich der Naturforscher erneut richtig, indem er Kiemen, nicht aber Schuppen als signifikantes Merkmal aller Untergruppen aufführt. 41 Dabei wird die heute noch beibehaltene Klasse der Knorpelfische, also Geschöpfe wie Hai oder Rochen, oder der Schleimfische nicht zuletzt mittels ihrer rauen bzw. mit einem Film überzogenen Haut von den Schuppenträgern abgegrenzt. 42 Der Realität entspricht es auch, dass viele Arten von Hai und Rochen ovovivipar sind, also das Schlüpfen der Jungen aus dem Ei noch im Mutterleib stattfindet, so dass sie bereits lebend geboren werden. 43 Die Farbenpracht der tropischen Meeresfauna ist der Antike in nachklassischer Zeit dank Beobachtungen im Roten Meer ebenfalls nicht ganz verborgen geblieben. 44 Einzig die Zusammenfassung einiger Tiere als keta oder keteia scheint die wissenschaftliche Anmutung der Zoologien zu stören, erweist sich freilich bei näherer Betrachtung als weniger irrational, als die gebräuchliche deutsche Übersetzung mit „Seeungeheuer“ vermuten ließe. Mit der Bezeichnung belegt werden in der Regel nämlich durchaus reale Tiere wie Wal, Delphin, Mönchsrobbe, Hai, Rochen, Riesenkalmar, Thunfisch und Meeresschildkröte, die damit als ungewöhnlich groß und tendenziell furchtbar, da gefährlich akzentuiert sind. 45 Einen gewissen optischen Eindruck von den Hauptdarstellern meines Textes vermittelt bekanntlich der sog. Artemidorpapyrus. Er gibt verschiedene Tiere so exakt wieder, dass es dem Zoologen Ragnar Kinzelbach gelungen ist, die porträtierten Arten genau zu bestimmen. Unter den Walen, von denen antike Texte richtig notieren, dass sie das Mittelmeer oft besuchsweise durchstreifen und in Atlantiknähe, also im Westen deutlich

37 Aristot. hist. an. 530b/531a; 548a; als pflanzenähnlich bei Plin. nat. 9,47,154; dagegen bei Ail. nat. 9,22 klar als thalattion zoon (mit Angaben zur Art der Muscheljagd). 38 Aristot. hist. an. 487b; 531a; 548a/b; 549a; Plin. nat. 9,48,146f.; 31,47,123; Plut. mor. 792b; 980b; Ail. nat. 8,16 = 8,15 (da an dieser Stelle die neue Textausgabe von Valdes, Fueyo, Guillen 2009 von der älteren abweicht, ist ihre Zählung an zweiter Stelle angegeben). Vgl. Epstein 2019, 384–89 und Schnieders 2019, 329f. sowie Güremen 2015, 124–28. 39 Vgl. Aristot. hist. an. 548b. 40 Aristot. hist. an. 588b; vgl. auch gen. an. 731a/b; 761a und Schnieders 2019, 327, 333. 41 Aristot. hist. an. 504b; gen. an. 718a; Ail. nat. 11,37. 42 Aristot. hist. an. 505a; 516b; gen. an. 732a. Dieser Aspekt wird, wie Kinzelbach 2009, 56, 58 unterstreicht, auch bei den Rochen und Haien des Artemidorpapyrus berücksichtigt. 43 Aristot. hist. an. 489b; 504b; 510b; 516b; 564b; 565b; gen. an. 718b; 732b; 749a; 754a. 44 Ail. nat. 10,13; 11,21; 11,23; 12,24f. = 12,24 (Valdes, Fueyo, Guillen 2009). 45 Aristot. hist. an. 491a; 520b; 524a; Ail. nat. 9,49; 13,6; 13,16 und 20; Opp. hal. 1,360; 394; 421f.; vgl. Peurière 2003, 41, 77.

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häufiger vorkommen, 46 sind Pottwal 47 und Finnwal 48 vertreten. Da im letzteren Fall der Blas gezeichnet ist, hat der Maler (bzw. seine Vorlage) zumindest eines der Tiere lebend gesehen. Einen Auftritt haben zudem die Mönchsrobbe 49 und die Ganges-Weichschildkröte 50, von den Knorpelfischen erscheinen ebenfalls besonders auffällige Exemplare wie der Hammerhai, 51 der Keulen-, 52 Teufels- 53 und der Stechrochen 54. Als weitere enhydra finden sich ein Fangschreckenkrebs, 55 ein Mondfisch, 56 ein Papageifisch 57 und ein fliegender Fisch 58 auf dem Papyrus. Als Äquivalent zu einer solchen Skizze lässt sich aber auch manche Beschreibung des Aristoteles werten. Eine gesonderte Erwähnung verdient seine Charakterisierung des Seesternes, der so aussähe, „wie man Sterne malt“. Denn dank ihrer wissen wir, dass Aristoteles an jene stilisierte Wiedergabe der Himmelskörper dachte, die in Ägypten üblich war. 59 Aber auch die methodischen Prämissen des Universalgelehrten sind eine Bemerkung wert: Wenn er beklagt, das Paarungsverhalten mariner 46 Z. B. Plin. nat. 9,5,12. Rodrigues u.a. 2016, 934f. weisen darauf hin, dass einige Spezies (Grauwal, Atlantischer Nordkaper, Buckelwal), die durch den Walfang der letzten Jahrhunderte vor der spanischen Atlantikküste ausgerottet wurden, in der Antike dort noch existierten und zur Geburt der Kälber ins Mittelmeer schwammen. Dies wurde durch DNA-Analyse antiker Walknochen für Grauwal und Nordkaper bestätigt, dazu Rodrigues [u.a.] 2018. Bernal-Casasola [u.a.] 2016 haben bei der Verteilung der Knochenfunde eine eindeutige Konzentration auf Spanien und die Römerzeit festgestellt. Das Vorkommen von Beutetieren könnte auch für eine verstärkte Präsenz von Orcas gesorgt haben, die heute aufgrund des Nahrungsmangels nur gelegentlich im Mittelmeer auftreten, dazu Notarbartolo-di-Sciara 1987. 47 Kinzelbach 2009, 62f. (V 20). Eine Population davon findet sich heute bei Kreta. Vgl. Schnieders 2019, 226, 538. 48 Kinzelbach 2009, 103f. (V 40). Aristot. hist. an. 518a erwähnt explizit einen Bartenwal, bei dem es sich mit relativer Sicherheit um einen Finnwal handeln dürfte. Vgl. Schnieders 2019, 539. 49 Kinzelbach 2009, 101f. (V 39). Siehe auch Anm.16. 50 A.a.O. 95f. (V 36), eines der für die Datierung wichtigen Tiere. 51 A.a.O. 57f. (V 18). 52 A.a.O. 35f. (V 10). 53 A.a.O. 55f. (V 17). 54 A.a.O. 72f. (V 23). 55 A.a.O. 77f. (V 26). 56 A.a.O. 46 (V 15). 57 A.a.O. 22–24 (V 05); vgl. unten Anm.83. 58 A.a.O. 37 (V 11). Vgl. Aristot. hist. an. 536a. 59 Aristot. hist. an. 548b. Wie treffend der Vergleich ist, illustrieren beispielsweise die Sterndarstellungen im Tempel von Esna. Der Stern existierte aber auch als Hieroglyphe. Die Frage, woher Aristoteles selbst die ägyptische Praxis kannte (und solche Kenntnis bei seiner Leserschaft als selbstverständlich voraussetzte), lohnt weiterer Untersuchung. Die Tatsache, dass uns eine derartige Astralikonographie durch die Flaggen der USA und der EU vertraut ist, sollte nämlich nicht dazu verleiten, sie für selbstverständlich zu nehmen. In den (spärlichen) erhaltenen Bildzeugnissen des klassischen Griechenlands (dazu siehe Schauenburg 1962 und Gautschy 2007 und 2009) ist sie zwar gelegentlich anzutreffen (v.a. im Bereich der Apoikien in Italien), freilich keineswegs alternativlos. Üblicher ist eine Kugel, die von Strahlen (manchmal auch Punkten) umgeben ist. Dabei ist die für den Seestern entscheidende Fünfzahl eher selten. Das Problem wird von Epstein 2019, 378 (wie bereits von Kullmann 2007, 657) in ihrem ansonsten oft sehr qualitätvollen Kommentar unterschätzt.

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eierlegender Spezies ließe sich schlecht beobachten, 60 bedeutet dies selbstredend, dass dies eigentlich für eine gesicherte Aussage erforderlich wäre. Tatsächlich setzen viele der von Aristoteles berichteten Eigenheiten eine Observierung lebender Wildtiere voraus, so der Farbwechsel des Kraken, 61 die Jagdmethoden der Anglerfische und des Zitterrochens 62 sowie die Brutpflege etlicher Fischarten 63, bei denen die Männchen das Gelege bewachen oder dem geschlüpften Nachwuchs im Maul Zuflucht vor Feinden bieten. Dass weibliche Kraken ihre an Weintrauben erinnernden Eischnüre umsorgen und meist selbst bald danach sterben, ist ebenfalls korrekt wiedergegeben. 64 Erneut exakt ist die Auskunft zum Laichen von Meeresfischen in Flüssen 65 sowie zur Befestigung der Eier an den Beinen der weiblichen Languste 66. Nicht zuletzt werden aus dem Verhalten Rückschlüsse auf das Hörvermögen und das Vorhandensein von Geruchs- und Geschmackssinn gezogen, über welche die Physiologie nicht hinreichend Auskunft erteilt. 67 Es lohnt sich ebenfalls, der Frage nach der Gewinnung solcher Erkenntnisse noch etwas genauer nachzugehen. So werden wissenschaftliche Standards bereits daran sichtbar, dass teils unterstrichen wird, eine Verhaltensweise – etwa das Säugen des Delphinkalbs durch seine Mutter 68 – sei von verschiedenen Seiten oder wiederholt bestätigt worden, was die Glaubwürdigkeit erhöht und das Risiko von Fehldeutungen minimiert. Wo Aristoteles seine Gewährsleute nennt, sind es signifikanter Weise Menschen, die sich mit den entsprechenden Tieren intensiv befassen, bezüglich der enhydra besonders Fischer 69, Schwammtaucher 70, Aalzüchter 71, Überseehändler 72 und Personen in der Purpurherstellung 73. Bei ihnen gelangen wir also über die Anekdote, eine singuläre Wahrnehmung eines Sachverhalts, deutlich hinaus. Denn Fischer können etwa über Jahre hinweg bestätigen, dass zu 60 Aristot. hist. an. 541a (mit Verweis auf dadurch entstehende Irrtümer). Bei den Knorpelfischen wird dagegen von Beobachtungen berichtet: 540b, ebenso bei Languste/Hummer: 541b und für die Besamung der Sepia: 567b; vgl. 535a; 538a; 557b und Schnieders 2019, 920. 61 Aristot. hist. an. 622a. Vgl. Epstein 2019, 407 und Schnieders 2019, 911–13; vgl. Plut. mor. 978e/f. 62 Aristot. hist. an. 620b; vgl. Plin. nat. 9,47,143; Plut. mor. 978 b–d; Ail. nat. 9,24. Vgl. Schnieders 2019, 880–85. 63 Aristot. hist. an. 568b; 569a; 620b; 621a; vgl. Plin. nat. 9,51,165; Plut. mor. 981f–982b; Ail. nat. 1,16 = 1,15 (Valdes, Fueyo, Guillen 2009); 12,14; Opp. hal. 1,747. Nestbau: Aristot. hist. an. 607b; vgl. Schnieders 2019, 555, 666. 64 Aristot. hist. an. 544a; 549b; 550a/b; 622a; vgl. Opp. hal. 1,536. Vgl. Scharfenberg 2001, 142f., 196f.; Epstein 2019, 306, 408, 411. 65 Aristot. hist. an. 566a; 567b; vgl. Plin. nat. 9,35,71; Plut. mor. 981c; Ail. nat. 9,59; Schnieders 2019, 586. 66 Aristot. hist. an. 549a; vgl. Epstein 2019, 394, 397 und Schnieders 2019, 368–70. 67 Aristot. hist. an. 532a; 533b; 534a/b; vgl. Plin. nat. 10,89,193–91,196 und unten Anm.164. 68 Aristot. hist. an. 504b. 69 Z. B. Aristot. hist. an. 544a; 549b; 621a, vgl. auch Epstein 2019, 72–76 und Schnieders 2019, 378, 385, 388, 600. 70 Z. B. Aristot. hist. an. 620b/621a; vgl. Epstein 2019, 381f. und Schnieders 2019, 330, 886; zum Beruf Frost 1968, 183f. 71 Aristot. hist. an. 591b; 592a; dazu Schnieders 2019, 217, 395–400. 72 Z. B. Aristot. hist. an. 532b; vgl. Schnieders 2019, 503, 776, 790. 73 Aristot. hist. an. 603a; vgl. Epstein 2019, 357 und Schnieders 2019, 550, 597.

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bestimmten Zeitpunkten Fischzüge auftreten und stets denselben Routen folgen 74 oder dass der männliche Wels im seichten Gewässer bei seiner Brut anzutreffen ist. 75 Dass vielfach auf die Expertise solcher Gewährsleute zurückgegriffen wird, ist bei der Menge der Spezies, die in den peri ta zoa historiai behandelt werden, nicht verwunderlich und per se noch kein Grund, Aristoteles jedwede eigene Aktivität in diesem Bereich abzusprechen. Sichern lässt sich sein Engagement für immerhin ein Wasserwesen im weiteren Sinn: So gibt er für den Tauchgang des Lappentauchers 76 eine exakte Zeitdauer an. Bewältigt wurde dabei sogar die Schwierigkeit, dass Messungen im Sekundenbereich durch antike Uhren nicht möglich waren. Den Maßstab bildet daher die Laufstrecke, die ein Mensch während jener Zeit zurücklegt, die der Vogel unter der Wasseroberfläche verbringt (Resultat sind 100 Fuß). 77 Hier wurde also ganz unzweifelhaft eine wissenschaftliche Untersuchung angestellt. Der Wert entspricht im Übrigen verblüffend exakt dem nach wie vor gültigen: So wird die durchschnittliche Laufgeschwindigkeit unserer Spezies heute mit 1 Meter pro Sekunde veranschlagt, die Tauchdauer der podicipedidae beläuft sich in einem Mittelwert auf 30 Sekunden. Auf Grundlage solch klarer Fälle ist es kaum eine allzu gewagte Hypothese, wenn man einige der Berichte, die leider durchgängig passiv mit „es wurde beobachtet“ formuliert sind, auf Aristoteles selbst (oder auch potentielle Mitarbeiter) zurückführt. 78 Besonders wahrscheinlich ist dies dort, wo es weder um spektakuläre oder populäre Tiere geht, die getroffen zu haben Reisende gerne prahlerisch erzählen könnten, noch um Wesen, deren Reaktion der Mensch aus Eigeninteresse vorhersehen möchte. Eigenes Erleben reklamiert auch ein anderer Autor, der uns mit unerwarteten Nachrichten aus dem Reich der enhydra versieht. So konnte Plinius d. Ä. in der Zeit des Kaisers Claudius einen Orca beobachten, 79 der, durch die Ladung eines gekenterten Schiffes an74 Aristot. hist. an. 598a/b; vgl. Schnieders 2019, 225, 503, 544, 557. 75 Aristot. hist. an. 621a; dazu Schnieders 2019, 218, 593, 891–98. 76 Es wurde aufgrund des Namens katarrhaktes (der bei anderen Autoren auch für völlig andere Vögel bis hin zu einem Adler verwendet wird, so dass sich die Stellen nicht kombinieren lassen) erwogen, in dem Tier speziell den Ohrentaucher zu sehen, der bei größeren Wassertiefen sein Eintauchen mit einem kräftigen Satz nach vorne einleitet, um einen steileren Eintauchwinkel zu erzielen, vgl. Aubert, Wimmer 1868, 94f. (= Vögel Nr. 42). 77 Der Vorwurf der Ungenauigkeit, den Schnieders 2019, 788 erhebt, ist nicht berechtigt: Bereits das gewählte Verbum (dierchomai) legt keinen Kurzstreckensprint nahe. Vor allem aber ist es für die Aussagekraft des Experiments geboten, keinen Olympiasieger, sondern einen (oder mehrere) ‚gewöhnliche‘ Menschen mit normaler Gehgeschwindigkeit zum Einsatz zu bringen. 78 Dazu Epstein 2019, 402f. (auch zur Erklärung der unpersönlichen Ausdrucksweise sowie dem Vorrang optischer Eindrücke). Als Vokabeln v.a. optai (nur selten andere Formen von horao): Aristot. hist. an. 499b; 501b; 504b; 536b; 540a; 541a/b; 550a; 563a/b; 557b; 567b; 594a; 612a; 618a; 620b; 622b; 624b; 630a; verschiedene Passivformen von theoreo: hist. an. 511b; 513a; 540b; 562a; 578a; 584a; phaneros in Adjektiv oder Adverb bzw. verwandte Verben: hist. an. 504b; 529b; 535a; 536b; 537a; 580a. 79 Vidimus: Diese Form (= wir alle bzw. viele von uns haben gesehen) benutzt Plinius in der Regel dort, wo er damit rechnet, dass sich auch in seiner Leserschaft Menschen befänden, die Augenzeugen eines Geschehens waren, den Singular vidi dagegen z. B. in nat. 2,37,101 (Elmsfeuer während

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gelockt, sich in den neu gebauten Hafen von Ostia ‚verschwommen‘ hatte und dort gestrandet war. 80 In aller Deutlichkeit rückt die Stelle zugleich ein spezifisches Element der römischen Kultur in den Blick: Die Bekämpfung und Tötung des ‚Monsters‘ ist nämlich eine Gelegenheit zur Selbstinszenierung, die sich der Kaiser nicht entgehen lässt. 81 Zwei andere Informationen des Plinius sind freilich nicht weniger wertvoll: Die eine betrifft einen direkten Eingriff in die Mittelmeerfauna. Um den beliebten Speisefisch Scarus, den Papageifisch, der in der Unterart sparisoma cretense tatsächlich im Mittelmeer vorkommt, 82 leichter verfügbar zu haben, werden die Tiere von ihrem natürlichen Habitat in der östlichen Ägäis an die Küste Campaniens verbracht und dort so lange nicht befischt, bis sich eine stabile Population etabliert hat. 83 Auch im Bereich der enhydra findet sich mithin jenes Phänomen der Umgestaltung der Natur durch den Menschen, das man assoziativ wohl eher mit der Geschichte der Ausbreitung von Kirsche, Kohl oder dem europäischen Wildkaninchen verbinden würde. Andere Äußerungen unterstreichen die Chancen, welche die Fischteiche der römischen Oberschicht, die uns bald noch weiter beschäftigen werden, der Forschung zu Verhaltensbeobachtungen bieten. 84 Bewohner eines anderen Universums – und doch verwandte Geschöpfe? Ferne und Nähe als Pole des antiken Diskurses Dass die antike Einteilung der zoa nach ihrem Lebensraum unseren Blick auf das bunte Spektrum der Wasserspezies lenkt, ist keineswegs ihr einziger und wohl nicht einmal ihr wichtigster Effekt. Eine erhebliche Bedeutung kann man dem System nämlich vor allem darin zuschreiben, dass es nahelegt, das Verhältnis des Menschen zu den enhydra unter zwei recht unterschiedlichen Aspekten zu betrachten. Eben diese zeigen sich bei einer genaueren Analyse als jene beiden Polen, um die herum sich die Äußerungen der Quellen gruppieren und in deren Spannungsfeld sich der antike Diskurs bewegt. Akzent Nr. 1

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einer Nachtwache); 2,59,150 (Meteorit im Gebiet der Vocontier) für Erlebnisse, bei denen die Wahrscheinlichkeit gering ist, dass jemand aus dem Adressatenkreis des Buches selbst vor Ort war. Wie Gauly 2017 überzeugend herausarbeitet, steht bei Plinius generell im Vordergrund, wie und wann Menschen ein Tier kennenlernen, nutzen etc. Plin. nat. 9,6,14f. Vgl. Beagon 1992, 148 und Kinzelbach 2009, 56. Zu Orcas und deren Angriffen auf andere Wale richtig 9,6,12 (Münzer 1897, 388 zur Quellenfrage). Ähnliche Aspekte der Besiegung der Natur und zudem der Weltherrschaft finden sich in den venationes, vgl. etwa Gauly 2017, 478–81; Epplett 2014, 509. Vgl. Neumann, Paulus 2005, 1220. Plin. nat. 9,29,62f.; danach auch Macr. Sat. 3,16,10, wo der Transport in Wasserbehältern eigens erwähnt wird. Aufgrund des verantwortlichen Flottenkommandanten Tiberius Iulius Optatus Pontianus (Stein 1918, 683 und s.v. Iulius, PIR 2, Nr. 443) dürfte das Geschehen auf 52 n. Chr. zu datieren sein. Colum. 8,16,9f. attestiert bereits ein häufiges Vorkommen der scari bei Sizilien und stellt nur die Möglichkeit einer bis Norditalien und Südfrankreich reichenden Ausbreitung in Abrede. Die Aussage dürfte die Situation um ca. 65 n. Chr. wiedergeben (zur Datierung des Werkes ausführlich Richter 1983, 588–602). Sammlung antiker Belege zum scarus auch bei Corcoran 1960. So etwa Plin. 9,53,167 (Lebenserwartung) und Anm.164.

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Wasserwesen – Der antike Mensch und die Bewohner des nassen Elements

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ist ein kontrastiver: Der Mensch stellt unbestreitbar kein zoon des Wassers, sondern ein reines Landtier dar. 85 Die Welt der enhydra ist ihm daher kaum zugänglich und weitgehend unbekannt; sie mag nachgerade als ein anderes Universum – wir kommen auf diese Metaphorik zurück – angesprochen werden. Vom Schwimmen in einem Fluss oder See zu träumen, sei, so Artemidors Traumbuch, eine Ankündigung äußerster Gefahr: „Denn was dem Fisch auf dem Trockenen widerfährt, dasselbe widerfährt auch dem Menschen im nassen Element“. 86 Gleichfalls sind Träume von Meerestieren, die sich im Wasser aufhalten, außer beim menschenfreundlichen Delphin, 87 für die schlafende Person ungünstig, während „außerhalb des Meeres und des Feuchten geschaut, jedes Meerestier glückverheißend ist, da es keinen Schaden anzurichten vermag, wo es zappelnd und elend verendend sich selbst nicht retten kann und damit ankündigt, dass die Macht von Feinden gebrochen ist und sie übel zugrunde gehen werden“. 88 Das Image der mehrheitlich kleinen, in unseren Augen ganz harmlosen Meeresbewohner dürfte dabei primär darunter gelitten haben, dass sie nicht zu Unrecht verdächtigt wurden, als Aasfresser auch vor den Körpern ertrunkener Schiffbrüchiger nicht haltzumachen, 89 wohingegen man dem an solchem Futter nicht interessierten Delphin sogar zuschrieb, die Leichname an die Küste zu bringen und beim Nahen des eigenen Endes absichtlich zu stranden, um als König der Wassertiere zu vermeiden, im Magen der Untertanen zu landen. 90 Einen angeschwemmten toten Delphin zu begraben, sieht

85 Explizit unterstrichen z. B. von Colum. 1, praef. 8 (terrestre animal homo) und Phil. Quod deterius poteriori insidiari soleat 151. In Phil. De specialibus legibus 4,155 wird das Wunder vermerkt, dass dieses Landwesen per Schiff sicher über das Wasser zu gelangen vermag, was an zwei anderen Stellen (De specialibus legibus 1,335 und De opificio mundi 147) dazu übersteigert wird, der menschliche Geist (und daraus resultierende Kulturtechniken des Schwimmens und der Seefahrt) lasse die Spezies, entgegen ihrer Naturausstattung, in sämtlichen Elementen zuhause sein und transformiere sie auch zu einem Wasserwesen. Zu dem frühkaiserzeitlichen Optimismus hinsichtlich einer Beherrschung des Meeres vgl. auch Beagon 1992, 178–97. Relativierend allerdings Plin. nat. 32,1,3. Homophylia des Menschen speziell mit Landtieren Plut. mor. 975e. Vgl. auch Colum. 8,17,9, wo das Vorstellungsvermögen des Menschen hinsichtlich des Lebensraumes der Meeresfische als begrenzt eingeschätzt wird. 86 Artem. 2,27. 87 Vgl. unten Anm.91; 158 und 162. Vgl. auch Ail. nat. 11,12 und Lukian. dial. mar. 8 sowie Hübner 1984, 165. Bei Artemidor begegnet er nur hier, während andere enhydra sehr zahlreich sind, dazu Monbrun 2015, 149, 151f. 88 Artem. 2,16. Dass sich die von Fischern an Land gezogenen und dort sterbenden Fische nach dem Meer sehnen, wird bereits bei Homer (Od. 22,387) zu einem eindrücklichen Bild verarbeitet. Sie stehen hier für die Feinde des Odysseus, werden jedoch mit Anteilnahme behandelt (vgl. Sluiter 2014). 89 Dazu v.a. Athen. 226f. (Zitat aus einem Schauspiel des Alexis) sowie bereits Hom. Il. 21,122–127. Vgl. auch Purcell 1995, 132, 133f. 90 Opp. hal. 2,632–641.

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Ailian als sakrale Pflicht jedes Verehrers der Musen an. 91 Gerade Texte wie Artemidors Traumbuch, aber auch das Corpus äsopischer Fabeln 92 sind dahingehend besonders wertvoll, als sie außer Frage stellen, dass die Antithese Wasser  –  Land und der Begriff der enhydra nicht nur in der gelehrten Welt vorkamen, sondern sich als Bestandteile der Alltagssprache und kollektive Vorstellung nachweisen lassen. In dieselbe Richtung deuten zwei weitere Texte: So scheint die Untergliederung der zoa in chersaia und enhydra dem Verfasser eines Leitfadens für erfolgreiche Ansprachen nicht der geringsten Erklärung zu bedürfen, obschon sein Leserkreis weder aus Naturforschern noch Menschen besteht, die den in der Oberschicht üblichen Rhetorikunterricht durchlaufen haben. 93 Auf der anderen Seite vermag Theophrast die beiden Kategorien als derart etabliert anzusehen, dass ihre Übertragung auf das Pflanzenreich für ihn Sinn ergibt. 94 Die Akzentuierung der Distanz des Menschen zu den zoa des Wassers, von deren Fremdheit und Ferne, ihres Aufenthalts auf einem anderen Planeten, ist freilich nur die eine mögliche Konsequenz, die sich aus dem Modell von enhydra und chersaia ergibt. Um dessen alternative Seite auszuleuchten, sollte man zunächst darauf aufmerksam machen, dass die Einteilung in chersaia-enhydra-amphibia keinerlei Hierarchie impliziert, der Mensch als Landtier, anders denn heute als Säugetier oder Primat, keinen Spitzenplatz beanspruchen und sich anderen zoa überordnen kann. Ihr Herr zu sein, vermag er bei den Wassertieren sogar noch weniger als bei den wilden Landtieren zu behaupten. 95 Dass sich das Leben innerhalb der beiden getrennten Sphären ähnlich organisiert, das Wasser also nicht eine Gegenwelt, sondern ein Paralleluniversum darstellt, ist eine hierauf aufbauende Vorstellung. Sie lässt sich zum einen besonders gut daran ablesen, dass viele enhydra mit Namen belegt werden, die es auch bei zoa des Landes gibt. Obschon moderne Tiernamen wie Seehund, Seepferdchen, Seewolf, Seehase, Hundsfisch, Wolfsbarsch noch einen gewissen Nachhall dieser Praxis bieten, ist sie im Original bei weitem drastischer, da die betreffenden Geschöpfe, also etwa ein spezieller Fisch, dann einfach Skorpion, Hund, Fuchs, Rabe, Wolf, Marder heißen und mit vergleichbaren Eigenschaften wie ihre Pendants auf dem Trockenen belegt werden. 96 Auch das Verhalten der enhydra wird terminologisch nicht von dem der chersaia abgegrenzt, Gruppenbildungen daher als Herden etikettiert 97 und der Verzehr von Pflanzen beispielsweise „weiden“ 98 genannt. Zum anderen rückte es die gesamte belebte Welt enger zusammen, dass die Beseeltheit der Tiere (anders als deren Anteil an der Vernunft oder auch anders als die Verpflichtung des 91 Ail. nat. 12,6. Zur besonderen Wertschätzung des Delphins, seiner Verbindung zu Apollo sowie einer breiten Verurteilung von Tötung und Verzehr dieser Tiere vgl. etwa Antonetti 2004, 169, 171f. 92 V.a. Nr. 145 Perry; vgl. Nr. 116. 93 Menander Rhetor 1,1,332. 94 Theophr. h. plant. 1,4,2; 1,14,2; 4,6,1; 4,13,1. 95 Aufschlussreich ist die Metaphorik des Krieges, dazu (mit Quellenmaterial) Pabst 2008, 91f. 96 Das Phänomen ist abundant bezeugt. Beispiele etwa bei Schnieders 2019, 523, 561, 633, 664f., 707, 890 und Kinzelbach 2009, 55f. Speziell zur Übertragung von Vogelnamen auf Fische Lacroix 1937; vgl. Bodson 2014, 563. Ein analoges Phänomen bei den Pflanzen bei Theophr. h. plant. 4,6,2; 4,7,2. 97 Vgl. z. B. Aristot. hist. an. 610b; 631a; Opp. hal. 1,89 und öfter; siehe auch Epstein 2019, 285. 98 Z. B. Aristot. hist. an. 598a; Opp. hal. 1,94.

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Menschen ihnen gegenüber) außerhalb jeder Debatte stand und nichts weniger denn konstitutives Element des Konzepts der zoa bildete. 99 Sogar in der für die Wasserwesen wenig freundlichen Kosmogonie, die Platon im Timaios entwickelt hatte, erhalten die enhydra selbstverständlich Menschenseelen, wenngleich der Autor ihnen hier die im Superlativ unverständigen und unwissenden Exemplare zugeteilt sein lässt. 100 Den Tieren auch Gefühle zu gestatten, war dann nur eine logische Konsequenz. 101 Um die Relation zwischen parallelen Erscheinungen in den Welten von Land und Wasser zu benennen, verwendet Ailian die Termini der koinonia, Gemeinsamkeit und syngeneia, Verwandtschaft 102 Beide Themen – Wasser als anderer Planet und Wasser als Paralleluniversum – sollen nun an wenigen prägnanten Beispielen kurz vertieft werden, um dadurch die Reflektionen über die Eigenart der Wasserwelt etwas genauer in den Blick zu nehmen. Als erster relevanter Faktor tritt dabei das Bewusstsein zutage, über die Welt unter Wasser nur sehr eingeschränkt informiert zu sein. Noch in unserer eigenen Gegenwart sind Filme über die Ozeane leitmotivisch von der Aussage durchzogen, die Oberfläche des Mondes sei der Wissenschaft vertrauter denn die Tiefsee. Als Grenzlinie menschlicher Kenntnis geben Oppian und Ailian übereinstimmend 300 Orgyien, also etwa 500–550 Meter an. 103 Perlentaucher vermochten laut Athenaios bis zu 20 Orgyien, d. h. ca. 34–36 Meter vorzudringen. 104 Ob auch den Wassertieren selbst in der Vertikalen ein Limit gesetzt sei, ob demnach der Meeresboden überhaupt von Lebewesen erreicht werde und besiedelt sei, blieb eine offene Frage. 105 Besonders eindrücklich manifestiert sich das Eingeständnis des Scheiterns menschlicher Neugierde in einer Geschichte des Alexanderromans, damit aber in einem Text, für den wir erneut von einem Lesepublikum außerhalb von Oberschicht oder gar Fachwissenschaft ausgehen dürfen. 106 Der Plan Alexanders, Unmögliches, adynata zu erreichen und in einem von einem Eisenkäfig umschlossenen dickwandigen Glasfass die unzugängliche Tiefe des Meeres zu erkunden, von dessen Grund er Sand mitbringen will, scheitert bei allen drei Versuchen bereits bei maximal einem Drittel der geplanten Strecke. Fische verweisen den makedonischen Welteroberer dabei mit zunehmendem Nachdruck in die seiner Spezies gesetzten Schranken.

99 Vgl. z. B. das zoon als soma empsychos bei Aristot. gen. an. 738b. Siehe aber Anm.109 und 146. 100 Plat. Tim. 92b. Monographisch zu dieser Passage: Burgess 2008, 13–26; zu vielen Aspekten informativ: Frère 1998. 101 Demgegenüber ist, wie einer der führenden Forscher im Bereich der Tierphilosophie, Stephen Newmyer 2006, 13, 70, konstatiert, die moderne Wissenschaft eher bereit, Tieren Denken denn (positive) Emotionen zuzugestehen. Zu einem sich hier derzeit vollziehenden Wandel der Einstellung sowie generell zum Thema der tierischen Emotionen in Antike und Gegenwart siehe Pabst 2019, 82–85. 102 Ail. nat. 15,17 (z. B. hinsichtlich eines “Königs” der Land- bzw. der Wasserwesen, Löwe und Delphin). 103 Opp. hal. 1,84; Ail. nat. 9,35. 104 Athen. 93e; vgl. auch Frost 1968, 182f. 105 Ail. nat. 9,35. 106 Zum Folgenden Vit. Alex. 2,38,6–11 (Text nach der Handschrift L).

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Die nicht überwindbare Barriere der jeweiligen Lebensräume spielt auch bei Plutarch eine gewisse Rolle. Vor allem aber lässt er die Teilnehmer seiner Tischgespräche 107 – und das ist ein zweiter für uns aufschlussreicher Gesichtspunkt – Gründe für das Gefühl von Fremdheit 108 benennen, das der Mensch den Meeresbewohnern gegenüber hegen mag: Nichts habe unsere Spezies mit ihnen gemeinsam, nicht die Atemluft, 109 nicht die Nahrung, nicht das Wasser als Getränk und als Mittel der Reinigung, geschweige denn, wie bei den zahmen Landtieren, Wohnung und Arbeit. Sie lebten von Geburt an, wie explizit formuliert wird, quasi in irgendeinem anderen Universum, hosper en allo tini kosmo, 110 seien, erneut wörtlich, umgeben wie von einem zweiten Universum mit eigenen Grenzen, 111 die sie nur bei Todesstrafe überschreiten könnten, hosper hetero kosmo. 112 Im Fall der Meerestiere gäbe es sogar Leute, welche diesen separaten kosmos als verkehrte Welt ansähen, da sein Leben vom Salz erhalten und nicht vernichtet werde. Dass sich aus solchen Befunden freilich rein gar nichts für den korrekten Umgang mit den enhydra herleiten lässt, verdeutlicht Plutarch dadurch, dass sein fiktives Personal aus exakt denselben Sachverhalten jeweils einander entgegengesetzte Schlussfolgerungen zieht. 113 Während der eine glaubt, der Mensch sei den Fremden aus dem Meer keine Schonung schuldig, zumal sie ihm die Tötung weder durch Blicke, Schreie 114 oder Erinnerung an vorherige Dienste erschwerten und ihm letztendlich sogar die Blutschuld ersparten, da sie an Land gebracht von selbst stürben, 115 glaubt der andere, dass gerade die getrennten Lebensräume den Fischfang jeder Rechtfertigung beraubten, da der Mensch gegen die Wasserbewohner weder sich selbst noch seine Nahrung verteidigen oder seinen Platz auf der Erde gegenüber explodierenden Vogel- und Hasenpopulationen behaupten müsse. 116 In einem letzten Schritt wird durch einen dritten Sprecher sogar die Fremdheit selbst als reine Momentaufnahme rela107 Die relevanten Stellen sind Plut. mor. 669d/e und 728d–730f. 108 Zum Terminus siehe etwa Plut. mor. 729d. 109 Speziell dieser Aspekt auch bei Clem. strom. 7,34 (= SVF 2, 721), hier freilich explizit mit einer Aussage zur geringeren Qualität der Seele eines Fisches verknüpft. Deutlich wird damit fraglos ein Diskurs, ohne dass den Aussagen zwingend dieselbe Quelle zugrunde liegen müsste (letzteres postuliert Teodorsson 1990/1996, zu den Stellen vgl. Bd. 2, 94f. und Bd. 3, 246f.); vgl. zudem Plat. Tim. 92b und Plut. mor. 729b (diese Interpretation wird im weiteren Verlauf der Passage von dem Ich-Erzähler abgelehnt). 110 Plut. mor. 669d. 111 Vgl. Plut. mor. 975a (horoi megaloi). 112 Plut. mor. 730a. 113 Im Kleinen wird dies gleichermaßen bei der 8. Frage des 8. Buches („Warum enthalten sich die Pythagoreer des Fischessens?“) durchexerziert: Auch hier wird das Phänomen von den Sprechern (Theon/Sulla auf der einen – Plutarch auf der anderen Seite) diametral entgegengesetzt erklärt. Es ist also verfehlt, die ab 729d entwickelte These als Lehrmeinung der Pythagoreer anzusprechen. 114 Die Stummheit der Fische (vgl. auch Plut. mor. 728e) ist bereits in der Antike ein beliebtes Thema, das gerade auch Forscher dazu veranlasst, Ausnahmen besondere Aufmerksamkeit zu schenken, siehe etwa Aristot. hist. an. 535b und Schnieders 2019, 894f. Zu weiteren Folgen vgl. Anm.143 und 144. 115 Plut. mor. 669d/e. 116 Plut. mor. 729e–730b.

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tiviert und durch eine Urverwandtschaft von Mensch und Fisch ersetzt, da der Ursprung unserer Gattung ebenfalls im nassen Element liege. 117 Um ergänzend zum bereits Gesagten auch den Aspekt des Paralleluniversums zumindest schlaglichtartig noch etwas genauer zu beleuchten und eine weitere Variante der Grenzüberschreitung ins Spiel zu bringen, eignet sich eine Passage aus Oppians Halieutika. Statt auf die starren Trennlinien wird hier der Blick auf die fließenden Übergänge gelenkt, so dass im Tierreich die Amphibien, aber auch fliegende Fische und Vögel wie Möwe, Eisvogel und Seeadler, ihren großen Auftritt erhalten, im Bereich der elementaren Bausteine der Welt freilich deren Vermischung – Schlamm im Wasser, Wasser in der Luft – betont und ein ewiger Kreislauf konstatiert wird. 118 Im Fokus: Plutarchs tierethisches Werk über Land- und Wasserwesen Noch ertragreicher für unsere Fragestellung ist freilich eine andere Schrift aus dem Corpus von Plutarchs Moralia, zumal sie die enhydra direkt im Titel trägt und danach fragt, ob die Wesen des Landes oder des Wassers mehr Lebensklugheit (phronesis) besitzen. Das gilt selbst dann, wenn man bei einer genauen Analyse des raffiniert komponierten Textes feststellt, dass es dem Autor auch hier nicht vorrangig (wie die Überschrift suggerieren könnte) um die Erörterung des Problems der Tierintelligenz, sondern um den moralphilosophisch richtigen Umgang der Menschen mit anderen zoa geht. 119 Unter aktiver Einbindung der Leserschaft zielt das Werk nämlich darauf, sein Publikum dazu anzuregen, die gängige Praxis der Tötung von Tieren zum Zeitvertreib oder aus Genusssucht kritisch zu reflektieren. 120 Dabei spielt es freilich – damals wie heute – keine geringe Rolle, ob

117 Plut. mor. 730d–f. Der Sprecher (Nestor) beruft sich hier auf „seine Mitbürger“ und „die Nachkommen des alten Hellen“, deren Kultgepflogenheiten er folgendermaßen interpretiert: Fische würden als Wesen verehrt, die gleiche Abkunft haben, weil auch der Mensch aus dem feuchten Stoff entstanden sei und die Frühphase seiner Entwicklung dort verbracht habe. Diese Ansicht wird der Meinung Anaximanders, der den Menschen angeblich direkt aus dem Fisch hervorgehen ließ, vorgezogen (12 A 30 DK; vgl. DK 12 A 10; Parallelüberlieferung bei Teodorsson 1996, 257; der Gegensatz mag aus rhetorischen Gründen übertrieben dargestellt sein, wenngleich die Aussage des Anaximander in der Forschung uneinheitlich gedeutet wird). Dass der ionische Naturphilosoph dennoch (vielleicht intentional) eine tierethische Wirkung zum Schutz der Fische entfaltete, wird von Nestor angedeutet. Zudem legt die Betonung des Alters der Bräuche nahe, dass Nestor in ihnen vage Erinnerungen an die realen Verhältnisse der Vorzeit konserviert sieht. In jedem Fall beweist die höchst bemerkenswerte Stelle, dass Evolutionsmodelle zu Plutarchs Zeit weiterhin im Schwange sind. Vgl. auch Campbell 2014, 240. 118 Opp. hal. 1,409–437. Zu Variationen des Motivs vgl. Gilhus 2014, 360. Vgl. auch Aristot. gen. an. 761a; 762a. 119 Eine Analyse der Grundstruktur des Werkes und seiner Intention, einschließlich der ‚Gebrauchsanweisung‘ zum Text, die Plutarch in mor. 964 a–c selbst gibt, habe ich in Pabst 2019, 87–90 vorgelegt. 120 Siehe v.a. Plut. mor. 959d; 964f; 965a/b.

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man die übrigen Geschöpfe als stammverwandt 121 wahrnimmt oder die eigene Gattung als von ihnen nicht graduell, sondern fundamental unterschieden erachtet. Das Postulat, ‚Geist‘, ‚Verstand‘, ‚Vernunft‘ seien Alleinstellungsmerkmale des Menschen, erklärt unschwer, weshalb ein positiver Nachweis hohen intellektuellen Potentials bei nichtmenschlichen Lebewesen in solchen Debatten als gewichtiges Argument fungiert. Enhydra und chersaia auf ihre Denkfähigkeit hin zu untersuchen 122 ist in der Handlung des Werkes einer Gruppe junger Leute aufgegeben. Sie haben sich, je nach ihrer Leidenschaft für die Jagd oder das Sportfischen, 123 in zwei Parteien aufgeteilt und jeweils einen Sprecher gewählt, der in einem Rede-Agon die höhere intellektuelle Qualität ihrer bevorzugten Beutetiere darlegen soll. Diesen Monologen vorgeschaltet ist die Unterhaltung zweier älterer Männer, die sich vor Beginn des Wettbewerbs generell über den Tierverstand austauschen, dabei ein paar Beurteilungskriterien aufstellen 124 und gängige Positionen philosophischer Richtungen in Erinnerung rufen. 125 In ihrem Gespräch gewinnt das Thema freilich außerdem bereits eine ethische Dimension und zwar in doppelter Hinsicht: So wird zum einen ein Bezug zu den aretai hergestellt, da sie ausschließlich einem Wesen bescheinigt werden können, das die entsprechenden Handlungen bewusst vollzieht. 126 Vor allem aber wird der sehr grundsätzliche Einwand zur Sprache gebracht, mit dem die Stoa jedwede moralische Verpflichtung des Menschen gegenüber Tieren ablehnte. Da letztere außerstande seien, in einen die Grenze der Spezies überschreitenden Gesellschaftsvertrag einzutreten, gebe es in Bezug auf sie kein Gebot der Gerechtigkeit. 127 Beide Gesichtspunkte werden uns bald wieder begegnen. Zunächst aber sei wenigstens kurz auf einige Qualitäten des Werks, das hier nicht in Gänze gewürdigt werden kann, aufmerksam gemacht. Von der literarischen Gestaltung her erscheint die geschickte Kombination eines Dialogs mit Einzelreden hervorhebenswert, kann Plutarch doch dadurch vermeiden, in die Nähe einer rhetorischen Schulübung à la Menander Rhetor zu geraten und zudem Spannung erzeugen. 128 Als gelungener Kunstgriff fällt auch die Einführung von Menschen verschiedener Generationen auf, mit denen eine weitere Aufteilung – 1. abstrakt-theoretische Überlegungen, 2. die 121 Homophylos in Plut. mor. 964b; vgl. 975e; 976c. 122 Der Gegenstand der Erörterung wird in 960a mit synesis, in 960b mit to phronein formuliert. 123 Vgl. Plut. mor. 960a; 965b/c. Für die mit Platon vertraute Leserschaft gewann Plutarchs Komposition noch dadurch an Spannung, dass der Gründer der Akademie die Jagd auf enhydra aufgrund ihres fehlenden pädagogischen Werts als Betätigung junger Leute abgelehnt und nur die Jagd auf Landtiere (nicht aber auf Vögel) in einer bestimmten Ausprägung gestattet hatte (leg. 823b–824a). 124 Besonders Plut. mor. 960a/b. 125 Explizit etwa Plut. mor. 960b; 963f (vgl. Porph. abstin. 1,5f.). 126 Plut. mor. 962a–963a. Zu den Prämissen vgl. v.a. Aristot. eth. Nic. 1107a,1–3; 1111b,8–10; 1112a,15–19; 1114a,20–23; 1116b,32–35. Vgl. Schnieders 2019, 186. 127 Plut. mor. 963f–964c. 128 Falls Porphyrios, der Plutarchs Text fraglos kennt und benutzt (siehe abstin. 3,24), nicht verallgemeinert, gab es „allerlei Untersuchungen“ zu den aretai der zoa, „wobei die einen behaupten, die chersaia seien weiter vorgerückt, die anderen behaupten das von den enhydra.“ (abstin. 3,23). Dass (für ihn unverständlich) der sensus (hier klar im Sinn eines bewussten Einsatzes der eigenen Fähigkeiten gemeint) der aquatilia von einigen bestritten wurde, belegt bereits Plin. nat. 9,47,143.

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engagierte Sichtung und strukturierte Präsentation von empirischem Material, 129 das teils aus eigener Anschauung, teils der einschlägigen Forschungsliteratur gewonnen wird, – glaubwürdig verbunden ist. Klischees werden dabei freilich geschickt unterlaufen: So ist es ausgerechnet der älteste Protagonist, der in Sachen Tierethik die radikalste Position vertritt. 130 Noch vor einem anderen Trugschluss sollte man sich hüten: Die Gegenüberstellung von Theorie und Empirie, der abstrakten Reflektion über die Natur versus deren konkreter Erkundung läuft nämlich keineswegs auf eine einseitige Aufwertung eines der beiden Zugänge hinaus. Auf der einen Seite geht die Untersuchung der Phänomene im Tierreich von einer abstrakten Fragestellung aus und die Darlegung der Rechercheergebnisse gewinnt erst durch abstrakte Begriffe und Kategorien eine Struktur. 131 Dass allerdings die Leistung der Empirie für die Theorie nicht geringer ist, offenbart schlaglichtartig ein Vergleich der Terminologie: Während „die Philosophen“ 132 und hier speziell der Sprecher, der die Position der Stoa referiert, ganz überwiegend und stereotyp nach dem logos der Tiere und der Berechtigung von deren Einordnung als aloga fragen, 133 wird deren Denkleistung in den Darlegungen der jungen Männer weit exakter (und zudem weniger anthropozentrisch) erfasst. 134 In unserem Kontext ist es dabei besonders erwähnenswert, dass die Vokabel logos speziell vom ‚Anwalt‘ 135 der enhydra nur für die eigene Rede, 136 kein einziges Mal aber für die dargelegten Denkleistungen der Wasserwesen gebraucht wird. 137 Die notwendige Differenzierung fordert daher die Theoretiker zu einem durchdachteren Umgang mit ihrem Vokabular und komplexeren Definitionen sowie einer Überprüfung 129 130 131 132 133

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Plut. mor. 963c; 965d. Plut. mor. 964f–965b. Vgl. Plut. mor. 966b; 967a. Explizite Bezugnahme auf deren Position in der Rede des Aristotimos (966b; 966e) mit der Frage, ob die Tiere am logos Anteil hätten (metechein). Siehe v.a. 960c (Bezug zur Stoa in 960b); 962a/b/c; 963f. Eine andere Perspektive klingt zwar bereits zu Beginn des Gesprächs (960a/b) an, wo ein für die Tiere positives Statement der lockeren Unterhaltung des Vortags referiert und mit Vokabeln wie dianoia, synesis, phronein gearbeitet wird. Durch die Rekapitulation philosophischer Einwände wird im Gespräch der älteren Herren dann freilich die Frage nach dem logos dominant. Siehe etwa Plut. mor. 966b (mneme); 967a (aisthesis; phronesis; noein); 968a (synesis; epinoia); 968b (nous); 968c (synesis); 973e (eumatheia; automatheia). Dass Plutarch logos stark mit der menschentypischen Sprache und einer durch diese bedingten spezifischen Form der Intelligenz verbindet, welche andere Arten von Denkvermögen nicht ausschließt, habe ich in Pabst 2020 plausibel zu machen versucht (hier v.a. 342f., 350 mit weiterer Literatur), vgl. bereits Pabst 2019, 86. Dieser Akzent findet sich auch bei anderen Autoren, so etwa Artem. 2,69, dazu vgl. Monbrun 2015, 128–30, 133. Der agon der jungen Leute wird mehrfach mit einer Gerichtsverhandlung parallelisiert, dazu v.a. Plut. mor. 965e; 975c. Plut. mor. 975e; 977e. Stattdessen spricht er von synesis (975e; 976c/d; 979a; 981e), mneme (975e; 981e), gnosis (977c), sophismata/sophos (976d; 978b/d; 979d; 982f), pronoia (978f), deinotes (979a), noein (979b), aisthesis (979c), episteme (979e), emphron (979e). Weissenrieder/Dolle 2019, 250 weisen zurecht auf den Facettenreichtum des griechischen Vokabulars zum Denken hin, wenngleich die Übersetzungsvorschläge noch nicht zu überzeugen vermögen (250–262). Zur Terminologie des Aristoteles Schnieders 2019, 148, 151, 174–200, 319–21, 333, 711.

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ihrer Axiome heraus. Es dürfte kein reiner Zufall sein, dass Plutarch nicht die im Dialogteil artikulierte Frage nach der Teilhabe der Tiere am logos in die Überschrift gesetzt hat, sondern sich hier für das Wort phronesis entscheidet. 138 Vor diesem Hintergrund ist die Hoffnung nicht unbegründet, auch bezüglich der Nähe oder Ferne der enhydra zum Menschen habe uns das Werk Interessantes, vielleicht sogar Originelles zu bieten. Noch keine große Überraschung scheint es zu sein, dass der Fürsprecher der Landtiere, eine Figur namens Aristotimos, bei den enhydra bloß geringe Spuren von Intelligenz konstatiert, 139 was er nicht zuletzt mit Schimpfwörtern der Alltagssprache als kollektive Anschauung belegt. 140 Freilich zeigt ein Vergleich der beiden Monologe, dass im Plädoyer für die enhydra nur mit positiven Komparativen (klug  –  klüger), 141 nicht aber mit Abwertungen der Gegenseite gearbeitet wird. Auch darüber hinaus legt Aristotimos weit mehr Aggressivität an den Tag, was kaum ihn persönlich charakterisieren soll, sondern demonstriert, dass er sich massive Vorurteile des Landtiers Mensch gegenüber den Wasserwesen zunutze machen kann. Äußerst drastisch äußert sich dies an drei Stellen: So verbindet Aristotimos das Thema der fremden Welt mit der Frage ethischer Verpflichtung und erkennt die Position der Stoa mit Blick auf die enhydra als richtig an. 142 Dass es bei ihnen kein Band zwischen Mensch und Tier gäbe, sei auch nicht bloß den äußeren Umständen, sondern der inneren Natur dieser ‚aliens‘ geschuldet: Sie seien misstrauisch bis hinterhältig und gefühllos, quasi „kalt wie ein Fisch“, was ein weiteres überzeitliches Vorurteil respektive Handikap der enhydra in den Fokus rückt. Menschen sind nämlich viel weniger in der Lage, Emotionen bei Tieren zu erkennen, die ihnen physiologisch relativ unähnlich sind. Erschwerend kommt, so erneut die Rede des Aristotimos, hinzu, dass die enhydra sich nicht durch Laute ausdrücken, geschweige denn regelrecht sprechen oder singen können. 143 Ihnen fehlt, wie der Anwalt der chersaia ihnen vorwirft, sogar das bisschen Stimme, das zur Artikulation von Schmerzen oder einem Seufzen erforderlich wäre. 144 Ihren Höhepunkt erreicht die Invektive freilich in der spektakulären Schlusspointe von Aristotimos’ Plädoyer: 145 Hier wird den enhydra nachgerade die Qualität eines Lebewesens abgesprochen 146 und ihr Aufenthalt in der Tie138 Phronesis ist auch der von Platon und Aristoteles bevorzugte Terminus, dazu Labarrière 1990 und Pabst 2019, 86 sowie Schnieders 2019, 179f., 333. 139 Plut. mor. 966b. 140 Plut. mor. 975b. 141 Plut. mor. 977b; 979d; 981b; 982f. 142 Plut. mor. 970b. Wenn Irby 2021, 128 dies als Ansicht Plutarchs erachtet, so ist der Sinn des Werks in rekordverdächtiger Weise verkannt und der Kontext der Passage sowie die literarische Gestaltung der Schrift zur Gänze ignoriert. 143 Dass diese Fähigkeit speziell bei den Vögeln herausgestellt wird (Plut. mor. 972f–973e), bestätigt erneut die enge gedankliche Verbindung von logos mit der Rede (dazu Anm.134). 144 Plut. mor. 973a. 145 Plut. mor. 975b/c. 146 Eine ähnliche Position (in Anschluss an die Stoa = SVF 2, 722) bei Phil. de opificio mundi 65f.: Die Seele der Fische wird als geringerwertig als die von Vögeln und Bewohnern des Landes (diese Einteilung ist durch die Genesis sowie durch die Verbindung zu den Elementen erforderlich) eingestuft und die Aussage dann dazu gesteigert, sie seien „Lebewesen und doch keine Lebewesen, zoa

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fe als eine Verbannung in das Reich der Titanen und Gottesfrevler gedeutet. Wenn man möchte, kann man sie daher als Relikte einer überwundenen Ära sehen, und sich zugleich auch sakral zu ihrer Tötung legitimiert fühlen. Dass Aristotimos nicht einmal bei solchen Zuspitzungen von verbreiteten Ansichten abweicht, verdeutlichen Macrobius’ Saturnalia: Dort wird bei der Besprechung des Sternzeichens der Fische zwar die universal lebensspendende Kraft der Sonne betont. Die Tiere, die in der Tiefe des Meeres weilen, sind freilich dadurch sozusagen im Exil und vom Anblick des Lichtes ausgeschlossen. 147 Durch das Gesagte dürfte mehr als deutlich geworden sein, dass vor dem Fürsprecher der enhydra, einer Person namens Phaidimos, eine weit schwierigere Aufgabe als vor seinem Kontrahenten liegt, gibt es doch neben Menschen, die allen Tieren Intelligenz absprechen und sich ihnen zu nichts verpflichtet fühlen, offenbar solche, die zwar den Landtieren, nicht aber den Wasserwesen gegenüber konzessionsbereit sind. Hinzu kommt ein Hindernis, das Phaidimos selbst thematisiert: Durch die Lebensweise der enhydra sind die Beobachtungsmöglichkeiten reduziert. 148 Zudem entfällt der Faktor echter Domestizierung, der ebenfalls zum Lernen vom Menschen führen kann und eine solche Befähigung der zoa unmittelbar sichtbar macht. 149 Was der Sprecher trotzdem, vorrangig gestützt auf Aristoteles, 150 anzubieten vermag, ist den Leistungen der Landtiere freilich durchaus gleichwertig. Wenn Plutarch seinen Protagonisten dabei deutlich zwischen glaubwürdigen Informationen und Mythen unterscheiden und ihn in diesem Punkt den Anwalt der chersaia klar übertreffen lässt, 151 dürfte es erneut um mehr als eine Charakterisierung der Figur gehen. Hatte Aristotimos die enhydra in ein vorzeitliches Dunkel verbannt und mit den Geschichten von Tartaros und Titanen in Verbindung gebracht, so zeigt Phaidimos, dass es möglich ist, sie zu studieren und dabei auch rational zu verstehen, wodurch sich bereits das Muster des Paralleluniversums andeutet. Obschon die Wasserwelt ihren eigenen Gesetzen folgt, die enhydra weitgehend autonom und frei von menschlicher Beeinflussung agieren, so offenbart der Bereich doch dieselben Grundprinzipien wie das Land: Zoa müssen sich schützen, 152 sich ernähren, 153 mit ihrer Umwelt und untereinander interagieren, 154 Nachkommen erzeugen und sich (jedenfalls bei einigen Spezies) um diese kümmern. 155 Dass das Image der Wasserwelt als Kosmos, wo jeder jeden

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kai ou zoa“, „bewegte Unbelebte, kineta apsycha“ und hätten mehr körperliche als seelische Sub­ stanz, wobei die Seele ihnen nur zur Konservierung des Fleisches beigemischt sei. Mit der letzteren Aussage wird ein bekanntes Diktum der Stoa vom Schwein (z. B. Cic. nat. deor. 2,160; Varro rust. 2,4,10; Plin. nat. 8,77,207; Plut. mor. 685c; Porphyr. abstin. 3,20) auf die Fische übertragen. Dieser Akzent war von Platons Timaios nicht vorgegeben. Ebenso wenig wurde in den nomoi das Verdikt gegen die Wasserjagd (dazu Anm.123) mit der Minderwertigkeit der enhydra begründet. Macr. Sat. 1,21,27. Plut. mor. 975e. Plut. mor. 975e/f. Auf ihn nimmt gerade Phaidimos mehrfach explizit Bezug (Plut. mor. 977a; 978d; 979e; 981b). Plut. mor. 975d; 977a/d; 978d/e/f; 979e; 981a/f; 982b; 985c. Plut. mor. 976c; 978a/b. Plut. mor. 978b. Plut. mor. 979a/b/c. Plut. mor. 981c.

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(selbst den Artgenossen) frisst, falsch ist, wird an Sozialbeziehungen und besonders an symbiotischen Partnerschaften zwischen verschiedenen Spezies verdeutlicht. 156 Nicht weniger als bei Aristotimos wird der Erörterungsteil von besonders eindrücklichen Passagen am Anfang und Ende des Textes umrahmt. Sie stellen dar, wie die Grenzen der Welten überwunden werden, indem es (teils in sakralem Rahmen, dazu gleich mehr) zu freundlichen Begegnungen von Mensch und Fisch kommt und auch die olympischen Götter sich der Wasserwelt annehmen. 157 Einen Beitrag im Superlativ leistet dabei der Delphin, dessen Zuneigung zum Menschen – und zwar aufgrund (!) der Trennung der Lebensräume – als gänzlich uneigennützig gelten kann und damit ein höchstes Ideal der Philosophie erfüllt. 158 Die Zuhörerschaft entscheidet sich denn auch am Ende, den Wettstreit für unentschieden zu erklären, die Sprecher aber dazu aufzurufen, ihre Kräfte zu bündeln und sich vereint gegen die Leute zu wenden, welche die Intelligenz der Tiere bezweifeln. 159 Grenzüberschreitende Begegnungen Auch wenn Plutarch sicher das Thema der Ferne und Nähe der Wasserwelt mit besonderer Kunstfertigkeit durchdekliniert hat und in seinem tierethischen Anliegen auch persönliche Schwerpunkte setzt, sind seine Ansichten keineswegs singulär. Abschließend soll daher jene reale Begegnung der enhydra mit Menschen noch ein wenig Aufmerksamkeit erfahren, die Plutarch seinen Redner Phaidimos ebenfalls thematisieren ließ. Dabei finden sich teils in unseren Quellen sehr weit verbreitete Geschichten, teils aber auch eine Kollektion von einschlägigen Beispielen, die, wie Bouffartique zeigen konnte, 160 auffällig zwischen Plutarch und einer Passage aus Ailians „Wesen der Tiere“ übereinstimmen, ohne dass von einer direkten Abhängigkeit der beiden Texte auszugehen ist. Damit ist zugleich bezeugt, dass noch andere heute verlorene Werke Material zum Thema zusammentrugen. 161 Den Menschen nahe zu kommen, traute man folglich zumindest manchen enhydra zu. Besonders stark wahrgenommen wurden (durchaus auch in der modernen Forschung) –  kaum überraschend  –  die Delphine. 162 Reichlich kommentiert wird auch die Nahbeziehung zu Muränen, 163 welche durch Meerwasserbassins 156 157 158 159 160 161 162

Plut. mor. 977c/e; 979b; 980a/f. Plut. mor. 976a–c; 983f; 984. Plut. mor. 984c. Plut. mor. 985 c. Bouffartigue 2012, XXXVIIf. Dazu auch Anm.170 und 174 (gemeinsame Quelle von Plinius und Ailian). Eine Sammlung einschlägiger Geschichten etwa bei Plin. nat. 9,8,25–33. Vgl. auch Aristot. hist. an. 631a mit Schnieders 2019, 1054f. und Plut. mor. 160f–163a mit Pabst 2020, 353 sowie Ail. nat. 2,6; 6,15. Ein ausführliches Kapitel zu Delphinen fehlt auch bei Irby 2021, 131–35 nicht. Siehe zudem oben Anm.91. 163 Diese erfreuten sich in der römischen Gesellschaft bei weitem größerer Wertschätzung als in Griechenland, vgl. Peurière 2003, 27, 31, 43, 132. Ob die Muräne tatsächlich als Speisefisch genutzt

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der römischen Oberschicht 164 möglich geworden war und bei den von heutigen Tauchern als neugierig erlebten Fischen ohne weiteres denkbar ist. 165 Das Verhalten der Muränen dürfte damals sehr wohl ein historisch spezifisches gewesen sein, werden für unsere Gegenwart doch starke Defizite in der Erforschung der Möglichkeiten der „Interaktion und Kommunikation zwischen Mensch und Fischen“ konstatiert und dabei auch darauf hingewiesen, dass die z. T. sehr intelligenten Tiere in vielfältiger Weise mit den Menschen in Beziehung treten können, wenn ihnen entsprechende Angebote gemacht werden. 166 Wieviel seitens berühmter Römer emotional gerade in diese Tiere investiert wurde, ist Gegenstand vieler Anekdoten. 167 Neben solch bekannten Beispielen bieten Plutarch, Ailian und Athenaios freilich lange Listen von Orten, an denen Menschen Fische nicht bejagen, sondern füttern und sie damit „zähmen“. Überwiegend geschieht dies im Umkreis von Heiligtümern. 168 Besondere Beachtung verdienen dabei Stätten im Zentralbereich

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wurde, wurde angesichts der wenig guten Bekömmlichkeit des Fleisches von der Forschung des Öfteren angezweifelt. Selbst falls man den Begriff als Sammelbezeichnung für alle aalartigen Fische nimmt (vgl. Higginsbotham 1997, 43–46), dürften die als ‚Kuscheltiere‘ behandelten Exemplare jedoch tatsächlich die dekorativen, da „bunten“ (Aristot. hist. an. 543b) Mittelmeermuränen und nicht gewöhnliche Aale gewesen sein. Dezidiert für Muränen plädieren auch Schmölcke, Nikulina 2008, 42. Die ihnen gelegentlich angehefteten Ohrringe sind wohl entweder an Ohr oder Kieme fixiert worden, so dass auch das Fehlen einer Rückenflosse nicht gegen die Identifizierung spricht. Zu ihnen, aber auch zu den weniger kostspieligen piscinae des Binnenlandes siehe v.a. Higginbotham 1997. Anhand des archäologischen Materials konnte der Autor u.a. herausarbeiten, dass ein Großteil der nachgewiesenen piscinae mit Villen verbunden und auf eine Beobachtung der eingesetzten Fische hin angelegt war, indem er dafür z. B. Brücken, Plattformen oder Stufen bot. Vgl. Varr. rust. 3,17,2. Signifikanter Weise leitet Plinius (32,7,16) die Geschichten über zutrauliche Fische, die er aus der Literatur entnommen hat, mit dem Hinweis darauf ein, in seiner Gegenwart fräßen auf den meisten kaiserlichen Landgütern die Fische aus der Hand. Dass sie bei Händeklatschen oder Zuruf des Namens zur Fütterung kommen, wird als Beleg für ihr Hörvermögen genommen (10,89,193). Auch hier ergänzt Plinius also die aus Büchern (Aristoteles) gewonnene Information aus der eigenen Erfahrung und mit Material seiner Zeit. Zum Pflegeaufwand, den Lucullus und Hortensius betrieben, Varr. rust. 3,17,4–9. Dass Muränen bei regelmäßigem Kontakt mit Menschen zutraulich werden, wird aktuell sowohl in Tauchgebieten wie von Aquarien (in Zoos und Privathaushalten) regelmäßig berichtet. Dazu Otterstedt 2007, 194f. Material und Analyse bei Kajava 1998/99. Genannt werden v.a. Crassus, Hortensius und Antonia vgl. Macr. Sat. 3,15,4; Plin. nat. 9,55,172; Plut. mor. 89a; 811a; 976a; Ail. nat. 8,4; Porph. abstin. 3,5,1. Vgl. auch Schmölcke, Nikulina 2008, 48. Einige Angaben zu Fischen in Kultstätten bei Bouffier 1999, 42f. und 46 sowie Lefèvre-Novaro 2010, 41, Anm.26, 44, Anm.52. Archäologischer Beleg in Paestum Higginsbotham 1997, 219f. (aus römischer Zeit). Heilige Fische (ichthys hierous, l.1) sowie Fischteiche (ichthyotrophion, l.13) sind auch inschriftlich vom Heiligtum einer unbekannten weiblichen Gottheit in Smyrna bezeugt (I. Smyrna 735 = LSAM 17): Ihnen darf kein Unrecht widerfahren (me adikein), der Fischteich wird beschirmt und gepflegt. Frevlern wird angedroht, ein grässliches Ende zu finden und dann von Fischen verzehrt zu werden. Stirbt einer der Fische eines natürlichen Todes, so wird er auf dem Altar der Gottheit komplett verbrannt. Pausanias erwähnt bei Aigiai in Lakonien einen Teich bei einem Poseidonheiligtum, dessen Fische nicht gefangen werden dürfen (3,21,5). Ebenso unantastbar sind die Fische in der Hermesquelle in Pharai/ Achaia (7,22,4). Die gedankliche Verbindung von Heiligkeit und Unantastbarkeit zeigt sich auch bei Varr. rust. 3,17,4 und Mart. ep.

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der griechischen Welt wie Euböa 169 und Syrakus 170 sowie in Epirus 171, dokumentieren sie doch, dass das Phänomen nicht ausschließlich im Nahen Osten bzw. Lykien auftrat. 172 Zudem blieb es nicht zur Gänze auf den sakralen Bereich beschränkt. Für Chios geht Ailian etwa davon aus, man wolle mit den zutraulichen Bewohnern eines Hafenabschnitts 173 den hochbetagten Leuten Vergnügen, paramythia bereiten. 174 Das mag zum Ausklang ein wenig für das vorrangig kulinarische Interesse entschädigen, das einige Autoren den enhydra entgegenbringen. So wenig das Wasser ohne Götter, so wenig sind die Wasserwesen ohne den Schutz sakraler Vorstellungen, aber auch ohne Menschen gewesen, die sich ihnen, über die Grenze von Land zu Wasser hinweg, in freundlicher Absicht zuwandten. Paramythia, wenngleich nicht unbedingt deren moderne Variante in Gestalt des Fütterns der Alsterschwäne, sei auch dem Jubilar für die Zukunft gewünscht.

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4,30. Demgegenüber mag das Beispiel der Rhetoi-Gewässer in Attika, wo nur der Priesterschaft der Zugriff auf Fische erlaubt ist, welche Demeter und Kore heilig sind (Paus. 1,38,1), eher zu den Fällen rechnen, wo Heiligtümer aus Tieren auf ihrem Gebiet Einkünfte generieren (vgl. Mylona 2007/8, 136f.). Zu verschiedenen Facetten der Vorstellung ‚heiliger‘ Fische Antonetti 2004 und Lefèvre-Novaro 2010, 41, 43. Verweis auf die Quelle Arethusa bei Chalkis (zu ihr allgemein Ziegler 1964, 531): Hier postuliert Athenaios (331e), er habe selbst Äschen gesehen, die an die Hand gewöhnt waren, ebenso Aale mit silbernen und goldenen Ohrringen, welche die Eingeweide der Opfertiere und grünen Käse erhielten. Er rechnet bei seiner Leserschaft mit ähnlichen Beobachtungen. Zahme Aale in der Arethusaquelle, die auf Zuruf reagieren: Plut. mor. 976a; Ail. nat. 8,4; von großen Fischen in der Arethusa, die heilig und für Menschen unantastbar seien, berichtet Diod. 5,3,6, wobei er das Phänomen als sehr altes, aber aktuell noch bestehendes beschreibt. Barsche und große Aale fressen im Fluss Heloros Brot aus der Hand: Athen. 331e (nach Nymphodoros aus Syrakus), vgl. Ail. nat. 12,30 = 12,27 (Valdes, Fueyo, Cuillen 2009) und Plin. nat. 32,7,16 (hier wird unter Heloros wohl irrtümlich eine Festung der Syrakusaner verstanden). Ail. nat. 12,30 = 12,27 (Valdes, Fueyo, Guillen 2009): In einer Stadt, deren früherer Name mit Stephanepolis angegeben wird, fänden sich zahme Fische in Bassins, die auf beiden Seiten eines Aufstiegsweges zum Tempel der Tyche lägen. Dort wird speziell das Dorf Sura zwischen Phellos und Myra (Plut. mor. 976c; detaillierter Ail. nat. 8,5) und ein Schrein Apollons und eine Quelle in Myra (Ail. nat. 12,1; von Plin. nat. 31,18,22 und 32,8,17 werden beide Stätten zusammengezogen) erwähnt (dort jeweils auch Fischorakel; allgemeiner Athen. 333d). Zahme Fische mit Schmuck zudem in Karien (Quelle bei Zeusheiligtum, Ail. nat. 12,30 = 12,27); gefütterte heilige Fische in Hierapolis in Syrien (Ail. nat. 12,2; Plin. nat. 32,8,17) und in Mesopotamien (Ail. nat. 12,30 = 12,27). Für Nordsyrien zudem Xen. an. 1,4,9 (zahme Fische im Chalusfluß mit angeblich göttlichem Status). Von einem persönlichen Erlebnis mit heiligen Fischen, die von Flötentönen angelockt wurden und sich während eines Opfers dem am Küstensaum platzierten Altar näherten, berichtet Varro (rust. 3,17,4, mit der ungenauen Ortsangabe „Lydien“). Ein weiterer Fall, der hier nicht eingehend erörtert werden kann, wäre Ägypten. Von Ailian als der „sogenannte Hafen der Greise bzw. Geronten“ (kaloumenos geronton limen) bezeichnet. Ail. nat. 12,30 = 12,27 (Valdes, Fueyo, Guillen 2009). Plin. nat. 32,7,16 spricht von einer Verbindung mit einem senum delubrum, was ein Missverständnis jener griechischen Quelle sein dürfte, die er mit Ailian gemeinsam hat, die freilich Ailian wesentlich detailreicher und exakter wiedergibt.

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König Pharasmanes I. als Bumberazi (ბუმბერაზი) bei Tacitus: Erwägungen zu kaukasisch-iberischer Heldenepik, Kulturtransfer, senatorischer Selbstdarstellung und römischer Historiographie Tassilo Schmitt

Nach der georgischen Tradition soll P‘arnavaz (ფარნავაზ), gr. Φαρνάβαζος, in der Zeit kurz nach Alexander dem Großen eine Dynastie iberischer Könige begründet haben, die als Pharnabaziden bis zur Christianisierung das Land beherrscht habe. 1 Wenige der Herrscher haben ein eigenes Profil. Die meisten werden nur als Glieder einer allerdings ununterbrochenen Kette durch rund ein halbes Jahrtausend sichtbar. In einer seiner frühen Arbeiten hat Burkhard Meißner diese Königsliste einer methodischen Analyse unterzogen. Er kommt zu dem Ergebnis, „the local literary tradition on Iberian kingship is comparatively late, secondary and largely fictitious.“ 2 Damit tritt er Bemühungen entgegen, die schon immer bekannten Diskrepanzen zwischen dieser einheimischen Tradition und den Daten aus griechischen und römischen Quellen durch Hypothesen und Interpretationen eher zu verwischen als überzeugend aufzulösen. Die Schärfe seiner Kritik hat nun allerdings in den Hintergrund gedrängt, dass die Versuche, Brücken zwischen den verschiedenen Überlieferungszusammenhängen zu schlagen, Versuche, wie sie vor allem Cyril Toumanoff unternommen hat 3, schon ihrerseits mit dem naiven Vertrauen gebrochen hatten, die einheimische Tradition kritiklos zu übernehmen. Wenn man es also nach und mit Meißner einerseits für ausgeschlossen halten muss, auf der Basis der georgischen Königsliste die tatsächliche Abfolge von Herrschern rekonstruieren zu wollen 4, dürften andererseits Untersuchungen wie die Touma-

1 Das Königreich Iberien lag südlich des Großen Kaukasus, nördlich von Armenien und westlich des Gebietes der kaukasischen Albaner. Westlich erstreckte es sich nur wenig über das Surami-/LixiGebirge, reichte weiter südlich aber gelegentlich nahe an das Schwarze Meer. Eine Übersicht bei Braund 1994 und Lordkipanidse/Brakmann 1995. 2 Meißner 2000, 177 3 Toumanoff 1969, vgl. zuletzt Toumanoff 1990 (non vidi). 4 Methodisch ähnlich Schottky 2012, 2013, 2014, 2015, 2016 und 2017 sowie Schleicher 2019: 70–73.

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noffs hinreichend dargetan haben, dass in das Bild, das die georgischen Quellen zeichnen, durchaus auch korrekte Vorstellungen eingegangen sind. Solche wird man aber entgegen der Zuversicht bei Toumanoff kaum bei Identifizierungen und Datierungen erwarten dürfen, weil der Versuch der Synchronisierung mit zuverlässig bezeugten Ereignissen und Personen sich auf so viele fragile Annahmen stützen muss, dass sich meist keine tragfähige Basis ergibt. 5 Schwierig erscheint es auch, wenigstens einige der Könige als Individuen sichtbar machen zu können, zu der die sicher richtige, auch von Meißner zugestandene Feststellung verleiten mag, dass „there are a few historical names in the list of Iberian Arsacides“. 6 Die trotz allen Scharfsinns in dieser Hinsicht meist wenig plausiblen Bemühungen, die Widersprüche durch Umdeutungen und Umbenennungen von Namen, Verwandtschaftsbeziehungen und Herrschaftstiteln zu entwirren 7, zeigen überdeutlich, dass ein überzeugender Weg dafür noch nicht ge5 Selbst die Überlieferung über wichtige Personen wie etwa über Vaxtang oder über die Vorfahren Petrus des Iberers hat sich in vielfacher Hinsicht als unzuverlässig erwiesen. Zum erstgenannten vgl. neben der klassischen Untersuchung von Martin-Hisard 1983 jetzt Šurġaia 2018; zu letzterem Horn 2014. 6 Meißner 2000, 202 7 Selbst Meißner 2000, 189 Anm. 70 sowie 201 ist einer solchen Versuchung partiell erlegen, wenn er den in der armenischen und georgischen Tradition genannten König Ervand mit Mithridates und Radamistus gleichsetzt. Typologisch mag der Name Ervand tatsächlich, wie Meißner im Anschluss an ältere Forschung feststellt, für einen als illegitim angesehen Herrscher auf dem armenischen Thron stehen. Aber schon die Notwendigkeit, in seiner Person zumindest zwei verschiedene Könige aus Iberien zu sehen, zeigt zusammen mit weiteren notwendigen Adaptionen der Überlieferung, dass historische Realitäten methodisch überzeugend nicht mehr aus diesem Amalgam destilliert werden können. Vgl. die in beiden Fällen wenig plausibel begründete Zuversicht, mit der etwa Schottky 1989, 166–173 ‒ in anderem Zusammenhang auch Schottky 2013, 137–139 mit weitreichenden historischen Schlussfolgerungen ‒ oder Mahé 1993, 77 sehr unterschiedliche Datierungen der Herrschaft und Identifikation der Person Ervands vornehmen. Wer an eine Einordnung in die spättiberische Zeit denkt, erinnert gerne daran, dass Ervand nach Movs. Xor. 2,47 mit einem Ibererkönig Pharasmanes im Bündnis steht. Hier fehlt aber nicht nur jeder Hinweis, dass es sich bei ihm um den Bruder des Ervand=Mithridates oder den Vater des Ervand=Radamistus handelt, sondern es ist überdies bemerkenswert, dass die Schlacht, in der nach Tacitus die Verbündeten obsiegten, nach Movsēs verloren wurde. Pharasmanes kommt in guten Quellen mehrfach als Name für verschiedene iberische Könige vor (vgl. Traina 1997, 291–294) und mag deswegen einen nicht weiter individualisierten Ibererkönig verkörpern; vgl. auch Preud’homme 2019a, 215 mit Anm. 1173, der aber gleichwohl (offensichtlich vor allem wegen des Namens) daran festhalten will: „le premier P’arsman de la Liste Royale I pourrait fort bien être identifié à Pharasmanès Ier, connu principalement à travers le récit de Tacite et d’autres témoignages littéraires et épigraphiques.“ Zugleich erinnern die Feldzüge Ervands Preud’homme aaO. „de manière frappante“ an die armenischen Erfolge unter Artaxias und Zariadris. Den unbestreitbaren, aber keineswegs singulären Ähnlichkeiten stehen freilich wesentliche Differenzen gegenüber, so dass keine methodisch überzeugenden Gleichsetzungen nachzuweisen sind. Ervand, der Sohn einer Frau, die so dick und zugleich so hässlich war, dass niemand sie zu heiraten wagte und die wie Pasiphae ihre Mutterschaft einem Tier verdankte (Movs. Xor. 2,37), sollte eine Sagengestalt bleiben! Selbst wenn die mit ihm verbundenen Auseinandersetzungen letztlich die des frühen ersten Jahrhunderts spiegeln sollten, sind die spezifischen Konturen so verwischt, dass sie zur historischen Rekonstruktion allenfalls illustrierend herangezogen werden können.

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König Pharasmanes I. als Bumberazi (ბუმბერაზი) bei Tacitus

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funden worden ist und wahrscheinlich auch nicht gefunden werden kann. Mit Recht hat Meißner als Analogie an mittelalterliche deutsche Epen erinnert, die ohne jeden Zweifel historische Namen enthalten, deren Historizität im Falle von Ereignissen und Zusammenhängen aber eben nur dort gesichert werden kann, wo bessere Überlieferung den Blick dafür schärft zu erkennen, wie diese literarischen Werke und die ihnen zu Grunde liegenden Quellen einzuschätzen sind: Ohne klare Vorstellungen von der Art der Frucht ist jede Suche nach dem „historischen Kern“ methodisch grundsätzlich zum Scheitern verurteilt. Als weiterführend hat es sich hingegen erwiesen, kulturelle Eigenheiten des iberischen Königtums oder die spezifische Form dieser Herrschaft auf Beobachtungen zu stützen, die sich aus der Untersuchung der georgischen Tradition mit entsprechenden Fragestellungen ergeben. Durchaus in Anknüpfung an Toumanoff hat insbesondere Stephen H. Rapp darlegen können 8, wie eng die soziale und politische Ordnung der Iberer mit der verwandt ist, die auch sonst im iranisch geprägten Raum zu finden ist. 9 Es ist ihm gelungen, in der christlich und von Interessen der Bagratiden überformten Überlieferung 10 ein altes Substrat zu isolieren und zu charakterisieren 11, dem zufolge Iberien fest in ein „Iranian commonwealth“ eingebunden ist. Erst ab dem 11. Jahrhundert habe eine auf die Bagratidendynastie konzentrierte Darstellung zu Neuorientierungen „within a Byzantine matrix“ und zu entsprechenden Überformungen geführt. 12 Die noch erkennbaren

8 Monographisch Rapp 2014. 9 Schon Rostovzeff 1922: IX hatte betont, dass es im Altertum der seinerzeit südrussischen Gebiete der östliche Einfluss war, „which finally carried the day“. 10 Zum Textcorpus von ქართლის ცხოვრება/K‘art’ lis c’xovreba („Leben K’art’lis) vgl. die Notizen bei Rapp 2001, 104 Anm. 4; Rapp 2014, 410 und den Überblick bei Rapp 2014, 353–75. Zur Eigenart prägnant Rapp/Garland 2006, 93: „Works of … historical nature emerged … around the year 800. These earliest histories were composed just prior to the seizure of power by the Bagratid dynasty in 813 and locate the K’art’velian experience within epic Persian history. Furthermore, they depict K’art’velian kingship and society in terms that would have been recognized throughout the vast zone of Persian culture.“ Das Zitat ebd. 11 Zusammenfassend Rapp 2014, 357: „With few exceptions, scholars have handled pre-Bagratid texts and especially The Life of the Kings and The Life of Vaxtang in one of two ways: first, as overwhelmingly literal and factual accounts of the history of ancient and late antique eastern Georgia, a view prevailing among specialists active in Georgian ethno-national circles; and second, as late, exaggerated and legendary tales faintly echoing a past that is mostly lost and unrecoverable, a hypothesis found among some Western academics (who often are not proficient in Caucasian languages). In my view, both explanations overlook the historical cirumstances of the production, evolution and transmission of Georgian historiographical literature. The worth of these sources is not limited to their literal narratives. As holistic objects they have their own histories that reveal cross-cultural vistas onto the interconnected Caucasian, Iranian and Romano-Byzantine experiences.“ 12 Exemplarisch etwa Rapp 2001, 106: „The depictions of two early K’art’velian monarchs vividly demonstrate the linkage of pre-Bagratid kingship to Persia. Significantly, this Persian-like image was not immediately altered with the conversion of the K’art’velian monarchy and their subjects to Christianity beginning in the third decade of the fourth century. Thus the alleged first indigenous (and semi-mythical) K’art’velian king P’arnavaz (r. ?299-?234 BC) and the Christian hero-king Vax-

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übernommenen iranischen Elemente können deswegen als zu älteren Schichten zugehörige Überreste bei der Erhellung der vorigen Verhältnisse helfen. Im Folgenden soll nun der Versuch gemacht werden, durch den Nachweis iranisch geprägter Traditionen in einem Bericht des Tacitus über Einzelheiten der iberischen Geschichte diese These der Zugehörigkeit von kulturellen, sozialen und politischen Strukturen des Südkaukasus zur iranischen Welt zu bekräftigen. Zugleich soll skizziert werden, wie die davon geprägten Überlieferungen ihren Weg in die römische Historiographie gefunden haben. Damit wird an einem Beispiel präzisierend an Überlegungen angeknüpft, die seinerzeit Eugen Täubler in seiner Dissertation zu der Ansicht geführt hatten, dass bei Flavius Josephus „Parthernachrichten“ verarbeitet seien. 13 Mögen dessen Zuweisungen im Einzelnen auch verfehlt sein und mögen die Folgerungen für die Rekonstruktion der politischen Verhältnisse sich an manchen Stellen als problematisch erwiesen haben 14, erscheint die Fragestellung weiterhin fruchtbar. Als „Parthernachrichten“ sollen dabei solche Informationen und Darstellungen gelten, die aus dem iranischen Kulturkreis stammen. Die Chancen, zu tragfähigen Ergebnissen zu gelangen, sind durch ein verfeinertes Instrumentarium gestiegen, das die eben umrissenen neueren Forschungen über das „Iranian commonwealth“ zur Verfügung stellen können. Der Nachweis von „Parthernachrichten“ bei Tacitus bliebe aber bruchstückhaft, wenn man nicht außerdem Möglichkeiten skizzierte, wie diese in den Gesichtskreis des Historikers geraten sein können. Da man mit höchster Wahrscheinlichkeit wird ausschließen können, dass er selbst andere als lateinische und griechische Texte herangezogen hat, müssen Zwischenglieder der Überlieferung identifiziert werden. Dabei wird man über Hypothesen nicht hinauskommen. Deren ausführliche Begründung erscheint aber gleichwohl sinnvoll, weil man so auf Formen und auf Orte von Kulturtransfer aufmerksam wird, deren Beachtung gewiss auch anderweitig zu einem besseren Verständnis von Austausch und Traditionsbildung beitragen kann. 15 Betrachtet werden soll eine Episode im Rahmen der Konflikte um Armenien, die am Ende von Tiberius‘ Herrschaft ausgebrochen sind und in die auch Mitglieder des iberischen Königshauses einbezogen waren. Ziel ist es, einen auffälligen Aspekt und dessen Überlieferung aus spezifischen Verhältnissen abzuleiten, deren Einzelheiten im Kontext

tang I Gorgasali (r. 447–522 AD) are both portrayed in a manner which would have been familiar to peoples throughout the greater Persian world.“ 13 Täubler 1904; vgl auch Täubler 1909. 14 Das gilt wohl besonders für seine Ansichten über die Rolle der Alanen (Täubler 1909), die hier nicht weiter besprochen werden sollen. 15 Ein Gutachter macht mit Recht darauf aufmerksam, dass Motive aus persischer Tradition verschiedentlich in der griechisch-römischen Literatur begegnen und dort kaiserzeitlichen „Orientalismus“ bezeugen. Dem kann hier nicht systematisch nachgegangen werden. Die folgenden Überlegungen sollen deutlich machen, dass neben vielleicht allgemein verbreiteten Voreingenommenheiten jeweils auch spezifische Absichten und Interessen zur Tradition des Stoffes führten.

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König Pharasmanes I. als Bumberazi (ბუმბერაზი) bei Tacitus

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der römischen Geschichtsschreibung irritieren, die aber gut zu den Anforderungen passen, die ein Herrscher in Iberien erfüllen musste. 16 Dazu gehörte, wie Rapp gezeigt hat, sich als გმირი ძლიერი და სახელოვანი (gmiri żlieri da saxelovani), als „starker und berühmter Held“  17, sowie im Einzelfall sogar als ბუმბერაზი (bumberazi) zu bewähren. 18 Bumberazni waren herausragende Krieger, die sich oft vor der Schlacht Einzelkämpfe zu Pferde lieferten. Auch Könige selbst wurden als bumberazni stilisiert. Das Wort selbst ist zwar erst in Sprachdenkmälern seit dem Mittelalter belegt. 19 Aber es eignet sich wie kein anderes dafür, die iberisch-georgische Variante eines Verhaltenstypus zu bezeichnen, der wie das Wort mit ähnlichen Erscheinungen im iranisch geprägten Raum verwurzelt ist. Es geht also darum, in der Darstellung eines aus Iberien stammenden Königs den Prototyp eines bumberazi zu identifizieren und das Ergebnis zu kontextualisieren. Auf eine um notwendige Analysen ergänzte Präsentation des Quellenbefundes folgt eine Rekonstruktion der Quellen und ihrer Herkunft, die in eine zusammenfassende Gesamtinterpretation mündet.

16 Im Rahmen ihrer jeweiligen Gesamtinterpretationen des iberischen Königreiches haben jüngst Preud’homme 2019a, 99–102 sowie Schleicher 2021, 61–62 die Episode behandelt, ohne sich mit den hier zum Thema gemachten Quellenfragen näher zu befassen. 17 Vgl. Rapp 2014, 187f zur christlichen Kombination des Typus eines გმირი ძლიერი და სახელოვანი/ gmiri żlieri saxelovani mit der biblischen Überlieferung in der Urgeschichte des „Lebens der Könige“. Zum ბუმბერაზი/bumberazi ebd. Vom König wurde nach dieser Tradition außerdem erwartet, dass er „weise“, „ein Vorbild im Umgang mit Pferden“ und ein „geschickter Jäger“ sei; vgl. Rapp 2001, 106. 18 Zum bumberazi, Plural bumberazni vgl. Rapp 2001, 109, der hervorhebt, dass „in the Georgian tradition, bumberazni are confined to the Persian world.“ Seine Skizze der Darstellung Vaxtangs endet mit der Feststellung ebd. 111: „Vaxtang lived and died a bumberazi, but a Christian bumberazi.“ 19 Georgischsprachige Texte sind erst seit der Erfindung der georgischen Schrift überliefert. Diese wird in der georgischen historiographischen Tradition mit P’arnavaz, dem Begründer des iberischen Königtums, im Frühhellenismus verbunden. Da die ältesten sicher datierten Texte aus dem 5. Jahrhundert nach Christus stammen, gibt man in der Forschung meist der alternativen Überlieferung den Vorzug, wonach die Schriftentstehung in den Kontext der Christianisierung gehört. Vgl. dazu Seibt/Preiser-Kapeller 2011. Auf den Versuch von Fähnrich 2013, bei Nekresi gefundene kurze georgische Inschriften für weit älter zu erklären, kann hier nicht eingegangen werden.

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Das iberische Königshaus im Konflikt um den armenischen Thron nach dem Tod des Königs Artaxias Im Jahre 34 war der armenische König Artaxias gestorben 20, offensichtlich ohne einen Nachfolger zu hinterlassen. 21 Der Partherkönig Artabanos II. 22 nutzte die unklare Lage und versuchte, seinem Sohn den armenischen Thron zu verschaffen. 23 Dieser trug programmatisch den Namen „Arsakes“. 24 Da Zenon = Artaxias noch von Germanicus eingesetzt 25 und anscheinend zu einem respektablen Herrscher geworden war, konnte die tiberiusfeindliche Überlieferung das langjährige Stillhalten der Parther als Respekt vor Germanicus‘ Entscheidung darstellen und im Vergleich dazu angesichts der neuerlichen Turbulenzen nach Artaxias‘ Tod des nun alten und angeblich schwächlichen Kaisers Rolle für die Stabilität der Beziehungen schmälern. 26 Die römischen Reaktionen auf diesen Coup stehen im Zusammenhang mit weiteren Problemen, die für die letzten Jahre des Tiberius stärkere Spannungen mit dem Partherreich erkennen lassen. Neben der Auseinandersetzung in der armenischen Frage gab es einen doppelten Versuch des Tiberius, Artabanos selbst durch einen der seit vielen Jahren in Rom lebenden Arsakidensprösslinge zu ersetzen. Der Kaiser ist dazu von inneren Gegnern des Königs ausdrücklich aufgefordert worden. Mit der Lösung der Aufgabe wurde 20 Zum Folgenden vgl. Debevoise 1938, 157–60; ̌J avaxišvili 1951, 169–71; Chaumont 1976, 85–91; Wolski 1993, 160–62; Olbrycht 1998, 145–147; Meißner 2000, 189; Gagošiże 2008, 13–14; Hackl 2010, 69–70; Olbrycht 2012, 217–223; Gregoratti 2013, 526–529; Schottky 2013, 134–137; Dąbrowa 2017, 175–178; Gruen 2017, 226 und 231; Treuk 2018, 6; Preud’homme 2019a, 99–102; Schlude 2020, 124–26; Schleicher 2021, 61–62. 21 Ein Sohn des verstorbenen Königs als möglicher Nachfolger ist nicht bezeugt. Denn der auf einer Inschrift auf einem – in einem Grab bei Kosika an der unteren Wolga gefundenen – Silbergefäß genannte Ἀρθεουάζης/Artavasdes, den Vinogradov 1994 mit dem Sohn des Artaxias identifiziert hatte, dürfte wohl einige Generationen älter sein. Vgl. dazu zuletzt Belousov/Treister 2020, 175–180, bes. 174–175 Anm. 4. 22 Zur unterschiedlichen Zählung als Artabanos III. in der (älteren) Forschung und zur Begründung der auch hier benutzten Variante vgl. den Überblick bei Schottky 1991, 78–81. 23 Schlude 2020, 119–22 ordnet diese Aktion in das Bemühen der Arsakidenkönige ein, die Ambitionen von Rivalen zu neutralisieren. Neben Medien habe Armenien dazu Möglichkeiten geboten. Im konkreten Fall erscheinen die Artabanos-Söhne aber nirgends als Konkurrenten, sondern eher als potenzielle Stützen für die Herrschaft ihres Vaters. 24 Tac. ann. 6,31,1 avidus ... Armeniae, cui defuncto rege Artaxia Arsacen liberorum suorum veterrimum inposuit. „ hatte großes Interesse an Armenien, dem er nach dem Tod des Königs Artaxias den ältesten seiner Söhne unter dem Namen Arsakes aufzwang.“ Cass. Dio 58,26,1: ὁ Ἀρτάβανος ὁ Πάρθος τελευτήσαντος τοῦ Ἀρτάξου τὴν Ἀρμενίαν Ἀρσάκῃ τῷ ἑαυτοῦ υἱεῖ ἔδωκε. „Der Parther Artabanos gab Armenien nach dem Tod des Artaxes Arsakes, seinem Sohn.“ Zu „Arsakes“ als Thronnamen und zu den sich darin spiegelnden Absichten des Artabanos Timpe 1963, 362f Anm. 18. Schottky 1991, 81 hält den Namen für „nichtssagend“ und erwägt Anm. 130 allein, dass „Artabanos II., um den Zusammenhang seines Hauses mit den Arsakiden zu unterstreichen, seinen Erben tatsächlich nach dem parthischen Reichsgründer benannt hat.“ Olbrycht 2012, 219: „probably no coincidence“. 25 Tac. ann. 2,56,2–3 26 Vgl. Alidoust 2020, 311–12.

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König Pharasmanes I. als Bumberazi (ბუმბერაზი) bei Tacitus

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L. Vitellius 27, der Vater des späteren Kaisers, beauftragt. 28 Die genaue Chronologie des Gesamtgeschehens und damit das Bedingungsgefüge sind im Einzelnen schwer zu durchschauen und können hier nicht ausführlich behandelt werden. Aber auch die Entwicklung der Auseinandersetzungen um Armenien ist wegen der unzureichenden Darstellung in den Quellen nicht leicht zu beurteilen. Nach Sueton und Cassius Dio habe der Kaiser die Dinge schleifen lassen und gerade dadurch, wie der Historiker ergänzt, weitere parthische Aggressionen ermöglicht. 29 Erst dann habe Tiberius den Ibererkönig Mithridates schriftlich aufgefordert, nach Armenien einzufallen. 30 Bei Tacitus folgen auf die arsakidische Usurpation des armenischen Thrones weitere Provokationen, bevor Tiberius im Rahmen eines Gesamtplanes endlich dieses Problem anpackt: reciperandae Armeniae Hiberum Mithridatem deligit conciliatque fratri Pharasmani, qui gentile imperium obtinebat. 31 Von einem Brief des Kaisers wie bei Cassius Dio ist hier nicht die Rede. Während dort Mithridates adressiert wird, musste sich der Kaiser nach Tacitus zunächst an Pharasmanes 32 wenden, um eine Versöhnung zwischen diesem und seinem Bruder Mithridates zu erreichen. Da Pharasmanes das imperium gentile innegehabt habe, hält man ihn üblicherweise für den König. Daraus ergäbe sich ein Widerspruch zur Überlieferung bei Cassius Dio. Genau besehen sagt Tacitus aber nicht ausdrücklich, dass Tiberius sich an Pharasmanes als König der Iberer gewandt hat. Dieser 27 PIR² V 741 28 Eine Übersicht über dessen damalige Rolle gibt Dąbrowa 1998, 38–41. 29 Suet. Tib. 41: Armeniam a Parthis occupari … neglexerit bezieht sich wohl auch auf diese Phase am Ende der Herrschaft des Kaisers; Cass. Dio 58,26,1 (im Anschluss an die oben Anm. 24 zitierte Stelle) καὶ ἐπειδὴ μηδεμία ἐπὶ τούτῳ τιμωρία παρὰ τοῦ Τιβερίου ἐγένετο, τῆς τε Καππαδοκίας ἐπείρα καί ... („und weil das seitens des Tiberius keine Konsequenzen zeitigte, machte er sich auch an Kappadokien heran und …“). 30 Cass. Dio 58,26,3: ἔγραψε Μιθριδάτῃ τῷ Ἴβηρι ἐς τὴν Ἀρμενίαν ἐσβαλεῖν („forderte den Iberer Mithridates schriftlich auf, nach Armenien einzufallen“). Von der konkreten Stellung des Mithridates ist zwar hier nicht explizit die Rede. Da er aber in der Lage gewesen sein muss, eine militärische Aktion durchzuführen, muss es sich um einen Herrscher gehandelt haben. Zusammen mit der nicht weiter qualifizierten Angabe, dass es sich um einen „Iberer“ handle (1), und der Angabe bei Cassius Dio 58,26,4 zu einem Ibererkönig Mithridates eine Generation vor dem Brüderpaar Pharasmanes und Mithridates (s. unten 232 mit Anm. 37) (2), ist zu erschließen, dass Mithridates damals König der Iberer war. Gegen den Versuch von Toumanoff 1969, 11–13, die Existenz dieses älteren Mithridates zu bestreiten und Pharasmanes zum Enkel des Königs Pharnabazos, des Gegners des P. Canidius Crassus im Jahre 36 v. Chr. (Cass. Dio 49,24,1), zu machen, mit Recht Schottky 2013, 135–36. Über diesen Mithridates ist allerdings sonst nichts bekannt; vgl. PIR² M 643. Denn die zuletzt wieder von Schottky 2013, 134 vertretene Ansicht, dass es sich um denselben Herrscher handle, den Augustus in seinem Tatenbericht (RGDA 31) nur anonym anführt, ist ohne hinreichendes Fundament in der Überlieferung. Preud’homme 2019a, 100–01 hält diesen (älteren) Mithridates für den entscheidenden Akteur in der Gestaltung eines mehr auf Gegenseitigkeit beruhenden römisch-iberischen Verhältnisses. Das ist durchaus möglich, leider aber gerade nicht „assez clairement“ durch Cassius Dio bezeugt, bei dem die Angelegenheit vielmehr durch Tiberius‘ Brief ins Rollen kommt. Zu einer anderen Rekonstruktion vgl. unten 232 mit Anm. 38. 31 Tac. ann. 6,32,3: „Für die Wiedergewinnung Armeniens fällt seine Wahl auf den Iberer Mithridates. Er versöhnt ihn mit seinem Bruder Pharasmanes, der die Herrschaft über das Volk ausübte.“ 32 Vgl. PIR² P 341.

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kann auch dann das imperium ausgeübt haben, wenn der König Mithridates zwar noch lebte, aber zu alt und zu schwach war, seine Pflichten zu erfüllen. Die Berichte der beiden Historiker lassen sich also vereinbaren. Ist das richtig, war aber immerhin auch für Iberien kurzfristig mit einem Thronwechsel zu rechnen. Solche Übergänge führten dort wegen des Ehrgeizes der Anwärter oft zu heftigen Auseinandersetzungen. Aus der georgischen Überlieferung ließen sich zahlreiche Beispiele aufzählen 33, aber auch die römische Geschichtsschreibung zeichnet eine Generation später ein eindrucksvolles Bild solcher Konflikte, als Radamistus anstelle seines Vaters König werden wollte. 34 Die von Tacitus explizit genannte Notwendigkeit, im Hinblick auf das Armenienunternehmen zunächst einen Zwist im iberischen Königshaus zu lösen, gewinnt aus dieser Perspektive Relief: Dort regierte zwar noch der von Cassius Dio erwähnte alte König Mithridates, aber die tatsächliche Herrschaft übte sein – älterer 35 – Sohn Pharasmanes sehr zum Verdruss von dessen Bruder aus, der wie der gemeinsame Vater Mithridates hieß. 36 Die dafür vorauszusetzenden Verwandtschaftsverhältnisse mit einem älteren Mithridates als Vater und einem Brüderpaar Pharasmanes und einem jüngeren Mithridates bezeugt Cassius Dio wenige Zeilen später: Μιθριδάτης ὁ Μιθριδάτου μὲν τοῦ Ἴβηρος, ὡς ἔοικε, παῖς, Φαρασμάνου δὲ τοῦ μετ’ αὐτὸν τῶν Ἰβήρων βασιλεύσαντος ἀδελφός. 37 Das Zögern bei dieser Feststellung (ὡς ἔοικε!) bezieht sich dabei offensichtlich auf die Legitimität der Abstammung 38, die dem jüngeren Mithridates von seinem Bruder abgesprochen worden sein muss. Die Spannungen zwischen den beiden genannten Quellen lösen sich also nicht nur auf, sondern fügen sich in ein Szenario, in dem beide Traditionen wechselseitig Dunkelheiten der anderen erhellen: Bei Cassius Dio blieb fraglich, wieso der von Tiberius mobilisierte König Mithridates nicht selbst reagiert und das weitere Vorgehen ganz in den Händen der nächsten Generation liegt. Der bei Tacitus angedeutete, aber nicht weiter begründete Streit zwischen den Brüdern erweist sich als Auseinandersetzung um die Nachfolge für den (wohl wegen seines Alters inzwischen) schwachen König.

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Zu den strukturellen Gründen vgl. unten 234 f. Vgl. Tac. ann. 12,44–48. Vgl. Tac. ann. 12,46,1 (an Mithridates gerichtet): priorem aetate Pharasmanen. Vgl. PIR² P 644. Braund 1994, 219 verkennt wohl die Verhältnisse, wenn er festhält, dass „according to Tacitus and Cassius Dio, the emperor wrote to Mithridates, younger brother of Pharasmanes, who had become king of Iberia.“ 37 Cass. Dio 58,26,4: „Mithridates, der zum einen, wie es scheint, ein Sohn des Iberers Mithridates zum anderen der Bruder des neuen Ibererkönigs Pharasmanes gewesen ist.“ 38 Etwas anders Schottky 2013, 134–35: Es „sieht … so aus, als ob nach Mithridates I. zunächst sein gleichnamiger Sohn König geworden sei, und dann erst Pharasmanes.“ Mit Blick auf Tac. ann. 6,32 ergänzt er: „Pharasmanes ,behauptete sich‘ (obtinebat) in seinem angestammten Reich, d.h., sein Thronanspruch mag zunächst nicht völlig unbestritten gewesen sein.“ Hätte Tacitus aber ein Ergebnis von Thronstreitigkeiten festhalten wollen, hätte er ein resultatives Perfekt verwendet. Grammatisch verweist das Imperfekt obtinebat auf einen dauernden Hintergrund für die im Hauptsatz erzielte „Versöhnung“ und kann deswegen nicht zugleich mit deren Inhalt identisch sein.

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König Pharasmanes I. als Bumberazi (ბუმბერაზი) bei Tacitus

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Sachlich gesellte sich aus römischer Sicht zu dem armenischen also ein iberisches Problem hinzu. Das allein kann schon erklären, warum Tiberius nicht unverzüglich den Schlag des Artabanos parierte. Er bereitete eine umfassende Lösung vor, die Zeit kostete und in der späteren Geschichtsschreibung deswegen als Schlaffheit des der Lage nur mit Mühe gewachsenen alten Kaisers ausgelegt werden konnte. Doch dieser erwies sich vielmehr als umsichtig und geschickt: Zum einen bestätigte er Pharasmanes als rechtmäßigen Nachfolger, verpflichtete diesen aber, seinen Bruder dabei zu unterstützen, wenn dieser dem Parther Arsakes mit römischer Billigung den armenischen Thron entreißen sollte. 39 Wie genau es zu dieser Lösung kam, lässt sich nicht mehr feststellen. Es ist denkbar, dass erst Erwägungen im Zusammenhang mit der römischen Aufforderung an den älteren Mithridates, Armenien zu überfallen, dazu führten, dass das iberische Problem auch am Tiber Berücksichtigung fand. Vielleicht hat aber gerade der ältere Mithridates überhaupt erst den Kaiser mit den Details der armenischen Frage nach Artaxias‘ Tod vertraut gemacht und deswegen seinen gleichnamigen Sohn nach Rom geschickt, während er den anderen mit der Heeresführung betraute. Der jüngere Mithridates hätte seine Stunde genutzt und sich selbst als Lösung ins Spiel gebracht. Man hat sogar erwogen, ob dieser nicht längere Zeit als eine der vielen Geiseln in der Nähe des Kaisers in der Hauptstadt verbracht hat. 40 Sicherheit ist nicht zu gewinnen: Aber als die „Wahl“ des Tiberius auf Mithridates als potenziellen König von Armenien fiel, waren dem eine umfassende Analyse der Lage und intensive Verhandlungen vorausgegangen. Rom reagierte nicht schnell, aber besonnen, umfassend und an dieser Front schließlich auch mit Erfolg. 41 39 So grundsätzlich auch Braund 1994, 219; vgl. aber oben Anm. 36. Dąbrowa 1998, 39 ergänzt noch ein kaiserliches „promise to provide financial support“. 40 Timpe 1963, 168 hat mit Recht gefragt, ob denn der Kaiser „keinen besseren Kandidaten wusste als einen ihm persönlich unbekannten Kaukasusdynasten, über dessen Bewährung auf so schwierigem Posten man nichts voraussagen konnte und der so machtlos war, dass er erst noch mit seiner eigenen Dynastie wieder ausgesöhnt werden musste? Das würde zu dem, was wir sonst von römischer Klientelpolitik in Armenien wissen, kaum passen. Anders lägen die Dinge, wenn man annähme, dass Mithridates als Emigrant in Rom oder jedenfalls im Reich lebte, dem Kaiser bekannt war und politisch geeignet erschien und deshalb für den armenischen Thron in Frage kam. So bekommt das deligere einen prägnanten Sinn: Mithridates wäre als römischer Beauftragter nach Armenien entsandt worden.“ Diese scharfsinnige Hypothese bevorzugt die Darstellung bei Tacitus so stark, dass die damit in Spannung stehende Notiz Cassius Dios, dass zunächst der ältere Mithridates zum Eingreifen aufgefordert worden sei, als irrig offensichtlich keine weitere Berücksichtigung findet. 41 Nach Wheeler 1977, 99 habe sich Tiberius bei der Wahl des Mithridates für „a candidate from the land of an old enemy“ entschieden. Das wäre wohl ein sehr riskantes Kalkül gewesen, wenn es den Römern doch damals darauf ankam, die Lage in Armenien wieder so zu konsolidieren, wie das mit Zenon/Artaxias gelungen war. Bei dieser Zielsetzung wäre man mit einem Prinzen aus dem Land der Erbfeinde schlecht beraten gewesen, denn das hätte die Akzeptanz erheblich erschwert. Tatsächlich beruht Wheelers Ansicht, dass Iberer und Armenier eine langdauernde tiefe Abneigung gegeneinander empfanden, auf einem Missverständnis einer Bemerkung bei Tacitus über das vetus adverus Armenios odium (Tac. ann. 13,37,3), das an dieser Stelle keine allgemeine, sondern nur eine persönliche Haltung des Pharasmanes charakterisieren soll. Generell wird man sich das Verhältnis zwischen den beiden Königsherrschaften ähnlich dem vorstellen müssen, das besser auf der nächsten sozialen Ebene zu beobachten ist: vor einem geteilten Wertehorizont ausgetragene Rivalität um

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Nur wenige Einzelheiten des Geschehens sind in der Überlieferung bewahrt worden. Die senatorische Geschichtsschreibung interessierte sich im Wesentlichen dafür, das Bild des am Ende auch außenpolitisch versagenden Kaisers zu bestätigen. 42 Gerade weil er als Getriebener erscheinen sollte, dürfte die Aussage, dass er selbst über die Einsetzung des Mithridates entschied, als zuverlässig gelten. Vernebelt ist, dass diese „Wahl“ (deligit) in ein komplexes Gesamtkonzept eingebettet war, mit dem Tiberius die Herausforderung gemeistert hat. Man darf für Tacitus noch annehmen, dass er mit Absicht das Licht verteilte, wie er es wollte. 43 Für die Iberer zeigte er keinerlei Interesse. 44 Cassius Dio hatte gut hundert Jahre später offensichtlich kaum mehr eine Möglichkeit, die Hintergründe auszuleuchten. Nicht einmal zu einem für ihn offensichtlich relevanten Detail der Verwandtschaftsverhältnisse im iberischen Königshaus konnte er Quellen finden. Die Kargheit der Vorlagen zwang ihn dazu, Plausibilitätsüberlegungen anzustellen: ὡς ἔοικε. Diese Befunde und Überlegungen zusammenfassend lässt sich demnach feststellen, dass Tacitus und Cassius Dio neben dem Armenienproblem eine dynastische Krise auch in Iberien erkennen lassen, die zu den strukturellen Bedingungen des dortigen Königtums passt, wonach der Herrscher zwar aus einer bestimmten Familie stammen musste, es aber keine eindeutige Sukzessionsregel gab. Solche Verhältnisse sind insbesondere für Größe und Vorrang. Dabei sind Kooperationen keineswegs ausgeschlossen, häufiger aber wird es Konflikte gerade um die Herrschaft an den jeweiligen Peripherien gegeben haben; solche sind, woran einer der Gutachter erinnert, für die späthellenistische Zeit bei Strab. 11,14,5 p. 528 ausdrücklich bezeugt. 42 Grundsätzlich ähnlich hat das auch in einem sonst hinsichtlich sowohl der handschriftlichen Überlieferung als auch der sachlichen Aussage unklaren Passage Jos. ant. 18,96 dargestellt. Demnach strebte der Kaiser eine Erneuerung der Freundschaft mit Artabanos an. Zur Begründung heißt es: ἐφόβει γὰρ αὐτὸν ἐχθρὸς ὢν καὶ Ἀρμενίαν παρεσπασμένος μὴ ἐπὶ πλέον κακουργῇ. „Tiberius hatte nämlich Furcht vor ihm , dass dieser, der sein Feind war und schon Armenien auf seine Seite gezogen hatte, vor weiteren Untaten nicht zurückschreckte.“ Die vermeintliche Schwäche des Kaisers zeigt sich auch unmittelbar danach darin, dass es ihm angeblich zunächst nicht gelingt, Iberer und Albaner zu einem Angriff auf Artabanos zu veranlassen: ant. 18,97: μεγάλαις δόσεσι χρημάτων πείθει καὶ τὸν Ἰβήρων καὶ τὸν Ἀλβανῶν βασιλέα πολεμεῖν Ἀρταβάνῳ μηδὲν ἐνδοιάσαι. οἱ δὲ αὐτοὶ μὲν ἀντεῖχον. Dieselbe Tendenz zeichnet auch die kurze, aber entschieden wertende Notiz bei Suet. Tib. 41 aus: rei publicae … curam usque adeo abiecit, ut … Armeniam a Parthis occupari neglexerit: magno dedecore imperii nec minore discrimine. „ kümmerte sich … so wenig um die römische Politik, dass … er es in seiner Nachlässigkeit zuließ, dass Armenien von den Parthern eingenommen wurde: Eine große Schande für das Reich und nicht weniger eine Bedrohung!“ Ähnlich urteilt auch Dio 58,26,1. Vgl. Täubler 1904, 30–39, der scharfsichtig die Widersprüche bemerkt, für seine eigene Rekonstruktion aber nicht hinreichend begründete Vorannahmen benötigt. 43 Die von Syme 1958, 378–96 betonte „accuracy of Tacitus“ ist trotz der starken Skepsis in der neueren Forschung – vgl. z. B. Kugelmeier 2017 – nicht erschüttert worden. Denn die literaturwissenschaftliche Analyse hat zwar den Blick auf dessen Techniken erheblich geschärft, ist aber den Beweis schuldig geblieben, dass Ereignisse oder Dokumente erfunden worden seien. Vielmehr belegen nicht zuletzt epigraphische Zeugnisse, dass Tacitus im Umgang mit Vorlagen trotz einzelner Irrtümer im Faktischen weiterhin als besonders sorgfältig gelten darf. 44 Vgl. insgesamt Dąbrowa 2017 und Heil 2017 bes. 263.

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die sasanidische Zeit präzise beschrieben worden 45, finden sich aber auch in der mittelalterlichen georgischen Überlieferung über das iberische Königtum, die in dieser Hinsicht demnach vorzüglich orientiert ist. Gestützt auf die Zusagen des Kaisers gelang es dem jüngeren Mithridates also, sich der Hilfe seines Bruders Pharasmanes zu versichern. 46 Zusammen gingen sie dolo et vi vor. 47 In „listiger Verschlagenheit“ brachte Mithridates Diener des armenischen Arsakiden auf seine Seite, die ihren Herrn ermordeten. 48 Anschläge durch die Dienerschaft gehören zum Repertoire der Methoden, die die georgische Überlieferung bei der Darstellung von Auseinandersetzungen um den Thron nennt. 49 Bei Tacitus wird dieser Aspekt nur am Rande berührt, obwohl der römische Historiker ihn angesichts der Giftanschläge am römischen Kaiserhof im Sinne parallelisierender Betrachtungen gut hätte stärker betonen können. Hier übernimmt er aber nur ihm vorliegende Informationen, die dann aus heutiger Perspektive erkennen lassen, dass diese Form der Machtkämpfe nicht erst für die Zeit typisch ist, in der die aus dem Mittelalter stammenden, erhaltenen georgischen Quellen verfasst wurden. Umgekehrt ergibt sich aus dieser Übereinstimmung ein Indiz dafür, dass hier auch kaukasische Traditionen ihren Weg zu Tacitus gefunden haben. Etwa gleichzeitig mit diesem Anschlag auf den kurzzeitig arsakidischen Herrscher über Armenien (simul) gelang es iberischen „Truppen“, die armenische Königsstadt Artaxata einzunehmen. 50 Hier zeigt sich, was Hilfe „unter Anwendung von Gewalt“ (vi) konkret war. Als Reaktion darauf rüstete Artabanos einen weiteren Sohn, Orodes, zur Rückeroberung Armeniens aus. Außerdem ließ er umfangreich Söldner anwerben. 51 Um diesen Angriff parieren zu können, bemühte sich Pharasmanes mit Erfolg, die Nach-

45 Vgl. zu den Verhältnissen unter den Sassaniden Börm 2008. 46 Braund 1994, 219 vermutet, dass damals auch die Ehe zwischen Mithridates und Pharasmanes‘ Tochter geschlossen worden sei; vgl. Tac. 12.46.1. 47 Tac. ann. 6,33,1: dolo et vi conatus suos iuvare. Wäre Pharasmanes, wie Heller übersetzt, „durch List und Gewaltanwendung dazu“ gebracht worden, den Bruder zu unterstützen, hätte er bestimmt nicht die aktive Rolle übernommen, in der er jetzt erscheint: dolo et vi passt aber gut dazu, wie Pharasmanes seinen Bruder unterstützte ( „seine Bemühungen mit List und mit Truppen zu unterstützen“). Vgl. dazu Woodman 2017, 231 sowie unten S. 241. 48 Tac. ann. 6,33,1: repertique corruptores ministros Arsacis multo auro ad scelus cogunt; simul Hiberi magnis copiis Armeniam inrumpunt et urbe Artaxata potiuntur. 49 Im Leben der Könige 53 ist der König P’arsman Opfer eines Giftanschlages seitens der Perser, die sich dafür eines Kochs bedienen, der am georgischen Hof in mörderischer Absicht anheuert: და ესრეთ მოკლა ფარსმან მეფე ქუელი. („Und so wurde der König P’arsman Kueli getötet.“) 50 Schottky 1991, 82 bezeichnet das Ergebnis als „Eroberung Armeniens durch ein feindliches Land“. Wenn man allerdings beachtet, dass der neue König Mithridates grundsätzlich keineswegs als verlängerter Arm seines Bruders auf dem iberischen Thron angesehen werden kann, wird man solche Wertungen als anachronistisch vermeiden. Sen. tranqu. 11,12 nennt ihn ganz selbstverständlich rex Armeniae Mithridates. 51 Tac. ann. 6,33,1–2

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barn auf seine Seite zu ziehen. Mit dem Albanerkönig 52 ging er ein Bündnis ein. Jenseits des Kaukasus konnte er sarmatische Kleinfürsten durch Geschenke gewinnen. 53 Letztlich scheiterten die Bemühungen der Parther, ihre Ausgangslage zu verbessern, an allgemeinen geostrategischen und an den speziellen Witterungsverhältnissen: Die Iberer sperrten die von ihnen beherrschten Kaukasusübergänge. Der einzige, den sie nicht kontrollierten, nämlich der direkt zwischen Meer und Kaukasus – offensichtlich die später so genannte Straße von Derbent – war wegen starker Überflutungen nicht gangbar. Während solche Sarmaten, die sich den Parthern anschließen wollten, also daran gehindert waren, zu ihren Verbündeten zu stoßen, ergossen sich am Kaspischen Meer entlang iberisch-albanische, von anderen Sarmaten verstärkte Streitkräfte nach Armenien. 54 Der allein auf sich gestellte Orodes (Orodes sociorum inops) hatte es mit einem starken Kampfbündnis unter dem Befehl des Pharasmanes (auctus auxilio Pharasmanes) zu tun. 55 Auch die Art der Truppen unterschied sich. Während der Parther sich ausschließlich auf Kavallerie stützen musste, hatte Pharasmanes überdies eine starke Infanterie zur Verfügung (et pedite valebat). Pharasmanes forderte den Gegner heraus, der schließlich den Forderungen aus den eigenen Reihen nachgab und das Heer zur Schlacht aufstellte. Tacitus flicht hier kurze Resümees von Reden ein, die die Kämpfer anfeuern sollten. Orodes legte demnach angeblich dar, dass es um die Herrschaft über den Osten gehe, wo der Ruhm seiner Familie, der Arsakiden, leuchte, während es sich bei den Gegnern um bedeutungslose Dunkelmänner handle, denen es lediglich gelungen sei, Mietlinge um sich zu sammeln. Pharasmanes hingegen erinnerte daran, dass man sich schon bisher nicht unter das Joch

52 Zu Albanien, dem neben Armenien und Iberien dritten größeren Königreich im Kaukasusgebiet vgl. Trever 1959, Bais 2001, Hoyland [Hrsg.] 2020. 53 Perevalov 2000 versucht die ältere These, dass dazu auch Alanen gehört hätten, mit der Beobachtung zu stützen, dass hier später als alanisch beschriebene neue Formen der Taktik für die schwere Kavallerie belegt seien. Dazu die Kritik von Tuallagov 2014, 15–64. Zur Bedeutung der Kavallerie in der Kriegführung des Altertums vgl. auch Petitjean 2019. 54 Tac. ann. 6,33,3: Hiberi … Caspia via Sarmatam in Armenios raptim effundunt. Die hier genannte Caspia via wird in der Forschung regelmäßig als ein Gebirgspass angesehen; vgl. z.B. Martin 2001, 171 ad loc. Das ist im Wort nicht enthalten. Ohne weiteres enthält Tacitus‘ Angabe nur, dass der Weg (via) zum Kaspischen Meer oder am Kaspischen Meer entlang führte. Im Kontext ist wegen des Ziels Armenien nur die zweite Alternative sinnvoll. Gemeint ist demnach, dass die Iberer die Sarmaten erst zum Kaspischen Meer und durch die später Persarmenia genannten Gebiete gegen die Armenier „ausströmen“ ließen. Diese Etappe ist hier Caspia via genannt. Der „Umweg“ nach Osten erklärt sich leicht damit, dass die Sarmaten auf diese Weise zugleich (1) als eine Bedrohung Atropatenes erscheinen konnten, (2) in den von den Iberern eben erst übernommenen Regionen nördlich von Artaxata besser nicht in Erscheinung treten durften und (3) so noch wie eine Art Puffer gegenüber allfälligen Angriffen der Parther wirkten. Den Namen „Kaspische Tore“ oder „Pforte“ trug neben einem Engpass im nordiranischen Elburz-Gebirge – sehr zum Verdruss des Plinius (nat. 6.30; 40) – auch der heute Kreuzpass genannte Übergang im Großen Kaukasus; vgl. Heil 1997, 224–31; Woodman 2017, 232–33. 55 Tac. ann. 6,34,1

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der Parther gebeugt habe. Nun habe man die Möglichkeit, durch einen Sieg Ruhm und Beute zu erringen. 56 Wie an anderen Stellen auch nutzt hier Tacitus die Gelegenheit, ihm selbst wichtige Themen wie römische imperiale Ansprüche und ihre Wirkungen auf die Umwelt, die Freiheitsproblematik und die Bedingungen und Wechselwirkungen der militärischen und politischen Ordnung kontrastreich zu beleuchten. Was auch immer er in seinen Quellen gefunden haben mag, die Reden sind mit seinen Anliegen verknüpfte Ausarbeitungen des Historikers, dem die Gattungstradition hier viel Spielraum gewährte. 57 Nur im Hinblick auf die generellen Intentionen des Autors sind die Reden also mit dem Geschehen verknüpft, nur in dieser Hinsicht dürfen sie also als Quellenzeugnisse ausgewertet werden. Rückschlüsse auf das, was gesagt wurde, wenn es überhaupt mehr war als Anfeuerungen der eigenen Truppen, sind methodisch angemessen nicht möglich. Überhaupt hätten die sarmatischen Verbündeten dieser Worte des Pharasmanes nicht bedurft. Sie stachelten sich untereinander an, darauf zu verzichten, den Kampf mit Wurfgeschossen zu eröffnen. Statt solcher Eröffnungsgeplänkel griffen sie den Gegner unmittelbar durch eine geballte Reiterattacke an und setzten ihn unter Druck. Die Parther, die aus dem Kampfgetümmel gedrängt werden konnten, trafen dann auf die vorrückenden albanischen und iberischen Fußtruppen. Während die beiden Befehlshaber jeweils umsichtig ihre Leute dirigierten, erkannten sie sich wechselseitig und wandten sich einander zu: inter quae Pharasmanes Orodesque, dum strenuis adsunt aut dubitantibus subveniunt, conspicui eoque gnari, clamore telis equis concurrunt, instantius Pharasmanes. Nam vulnus per galeam adegit. Nec iterare valuit praelatus equo et fortissimis satellitum protegentibus saucium. 58 56 Lerouge 2007, 314 hält fest, dass die Rede „selon toute vraisemblance“ so nie gehalten wurde, sondern „discours prononcés par les généraux romains à la veille de batailles contre les Parthes“ gleiche. Sowohl der Ibererkönig als auch römische Feldherren bedienen sich dabei also aus demselben Reservoir an Stereoptypen. 57 Wie auch immer man Thukydides‘ „Redensatz“ interpretieren will, seine Praxis verrät, dass Richtigkeit jedenfalls nicht in der ohnehin unerreichbaren möglichst wörtlichen Wiedergabe des Gesprochenen bestand, sondern der Formung durch den Historiker unterworfen war. Auch Polybios hat nicht referiert, sondern die Reden genutzt, um das Geschehen zu akzentuieren; zu Polybios vgl. allgemein Meißner 1986; zu einer Rede Schmitt 1989. 58 Tac. ann. 6,35,2: „Dazwischen fallen Pharasmanes und Orodes auf, wie sie ausdauernde Kämpfer unterstützen und denen, die unsicher werden, zur Seite stehen. So bemerken sie sich gegenseitig. Sie stürmen mit lauten Rufen und gezückten Waffen im Galopp aufeinander zu, Pharasmanes mit größerer Wucht. So konnte er dem Feind durch den Helm hindurch eine Wunde beibringen. In einer zweiten Reiterattacke noch einmal zuzuschlagen vermochte er aber nicht, weil die Tapfersten aus seiner Gefolgschaft den Verwundeten schützen konnten.“ Im Kommentar bei Koestermann 1965: 326 und in den Übersetzungen von Heller 1982, 431 oder Martin 2011, 77 wird praelatus equo im Sinne von praeterlatus verstanden: Das Pferd habe Pharasmanes „weggerissen“ bzw. dieser sei „carried past by his horse“. Das ist eine wenig überzeugende unnötige Komplizierung, die außerdem den im Anschluss erwähnten Schutz des Verwundeten als beinahe unnötig erscheinen lässt, weil der

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Das ist die recht ausführlich geschilderte packende Szene eines Einzelgefechtes mitten im Kampfgetümmel. Emsig, energisch und erfolgreich sind die beiden Thronprätendenten und Heerführer dort zur Stelle, wo es nötig ist, und werden so nicht nur aufeinander aufmerksam, sondern zugleich (im verlebendigenden Präsens) dem Leser als tapfere Helden vorgestellt, die schließlich in voller Wucht aufeinander losstürmen. So wie sie Tacitus schildert, verwirklichen die beiden Kämpfer das Ideal, das im Georgischen ბუმბერაზი/ bumberazi heißt. Nicolas Preud’homme hat diesen Zusammenhang und Hintergrund korrekt bemerkt. 59 Allerdings hält er den Zweikampf nur für „un épisode furtif de bataille“. 60 Dabei ist verkannt, dass auch bei Tacitus dieser direkten Auseinandersetzung der Protagonisten die entscheidende Bedeutung zukommt. 61 Pharasmanes erweist sich als überlegen. Über seinen Erfolg im entscheidenden Duell berichtet Tacitus wieder im resultativen Perfekt. Der Ibererkönig durchschlug Orodes‘ Helm und fügte ihm eine schwere Wunde zu. Dann riss er sein Pferd zu einer zweiten Attacke herum, unbeeindruckt davon, dass die Gefolgsleute seines Gegners sich um diesen scharten. Den satellites gelang es in gemeinsamer Anstrengung, ihren Herrn aus der unmittelbaren Gefahr zu befreien. Kurzfristig war Orodes gerettet, aber das Gerücht, er sei gefallen, ließ die Parther erlahmen und sicherte Pharasmanes‘ Männern den Sieg. Von Orodes ist nun keine Rede mehr. Die Schlacht entschied aber nicht nur über das Leben des Partherprinzen 62, sondern auch über den Krieg insgesamt. Zwar erklomm der Konflikt noch eine höhere Ebene, weil nun Artabanos selbst mit einem starken Aufgebot eingriff. Trotzdem gelang es ihm nicht, die Iberer zu besiegen. Er scheiterte an der vor allem auf Ortskenntnis beruhenden überlegenen Kriegsführung der Iberer. 63 Ein starker römischer Aufmarsch in Mesopotamien zwang ihn schließlich zum Rückzug. Sein Versuch der Annexion Armeniens war gescheitert.

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Angreifer dann ohnehin sein Ziel verfehlt hätte. Statt solcher Ungereimtheiten will Tacitus sagen, dass Pharasmanes zu einem zweiten Schlag zu Pferd ausholte: iterare … equo praelatus nimmt equis concurrunt auf und macht zugleich die durch den ersten Hieb veränderte Lage klar. Nur Pharasmanes ist noch aktiv. Auch das et verbindet nicht in einem „harten Wechsel von Part. coniunct. und Abl. abs.“ zwei gleichrangige Satzglieder, wie Koestermann will, sondern betont (wie oft etiam) den Superlativ. Sachlich ist gemeint, dass „gerade“, „sogar“ die „Tapfersten“ nötig waren, um Orodes hier vor dem Untergang zu bewahren. Vgl. das Kapitel „Le combat en duel, marque d’une royauté agonistique“ bei Preud’homme 2019a, 426–32 mit Belegen aus georgischen Quellen. Preud’homme 2019a, 429 Zur quellenkritischen Relevanz vgl. unten S. 260. Jos. ant. 18,98 hält ausdrücklich fest, dass Artabanos‘ Sohn bei den damaligen Kämpfen gefallen sei (καὶ τοῦ βασιλέως ὁ υἱὸς ἐκ τουτωνὶ τῶν μαχῶν ἔπεσε μετὰ πολλῶν στρατοῦ μυριάδων). Es muss offen bleiben, ob er den bei Tacitus‘ Darstellung implizierten schweren Verletzungen erlegen ist oder sich zunächst erholen konnte und bei späteren Gefechten den Tod fand. Tac. ann. 6,36,1; dass es dabei noch einmal zu einer Schlacht gekommen sei, wie Dąbrowa 1998, 39 anzunehmen scheint („defeat of Artabanus in a battle“), ist möglich, aber nicht bezeugt und deswegen eher unwahrscheinlich.

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Bei all dem ist direktes römisches Eingreifen nicht erkennbar. 64 Es war wohl auch nicht nötig. Umso mehr fällt es auf, wie ausführlich Tacitus sich diesen Ereignissen widmet. Das gilt insbesondere für die packende Monomachie. Pharasmanes beweist sich hier als heldenhafter Streiter, der weder die direkte Auseinandersetzung mit seinem Rivalen scheut, sie sogar – wie dieser auch – direkt sucht, noch davor zurückschreckt, den von seiner tapferen Leibwache Umringten neuerlich anzugehen. Tacitus begnügt sich aber nicht mit dieser Einzelszene. Er leuchtet weitere Hintergründe aus und kommt auf viele Einzelheiten zu sprechen: Obwohl die Römer nur noch am Rande betroffen waren, richtet er über drei Kapitel 65 die Aufmerksamkeit auf diese entlegenen Gebiete und Ereignisse und erwähnt „notevoli particolari di costume“ im Kontext eines „grande scontro di popoli ai margini dell’impero romano“. 66 Die Einschätzung, dass die Darstellung „does present many of the features of traditional military history that his work generally seems to lack“ 67, ist allerdings nur teilweise zutreffend. In einer „traditionellen Militärgeschichte“ würde man insbesondere im Rahmen von Schlachtschilderungen Angaben zu Truppenstärken, zur Lokalität, zu Kampfesphasen, zu Gefallenenzahlen usw. erwarten. Stattdessen findet man hier Elemente eines Heldenepos. 68 Tacitus ergänzt diesen ersten größeren Teil seines Exkurses noch um zwei weitere Kapitel mit dem Bericht darüber, wie Vitellius die (für eine kurze Zeit erfolgreiche) Einsetzung eines römerfreundlichen Partherkönigs glückte. 69 Auch dieser Abschnitt enthält in erheblichem Umfang Details, die nur wenig mit den Römern zu tun haben. Beide Digressionen zusammen – mit der Einzelszene des Zweikampfes als Höhepunkt im Zentrum – sprengen als Exkurs sogar das übliche annalistische Darstellungsschema. 64 Jos. ant. 18,97–98 hat das Geschehen stark gerafft: Nach ihrem anfänglichen Zögern gewähren Iberer und Albaner den Alanen den Durchzug durch ihr Gebiet, nachdem sie die Kaspischen Tore geöffnet hatten, und führten sie dann gegen Artabanos. Damit war den Parthern Armenien wieder entrissen (Ἀλανοὺς δὲ δίοδον αὐτοῖς διδόντες διὰ τῆς αὐτῶν καὶ τὰς θύρας τὰς Κασπίας ἀνοίξαντες ἐπάγουσι τῷ Ἀρταβάνῳ. καὶ ἥ τε Ἀρμενία ἀφῄρητο αὖθις). Der gemeinsame Schlag gegen den Armenierkönig und Bruder des Artabanos und die erfolgreiche Verteidigung des wiedergewonnenen Armenien sind hier zu einer einzigen Militäraktion gegen Artabanos zusammengezogen. Textkritisch ist zu beachten, dass am Anfang der zitierten Stelle statt des überlieferten Ἀλανοὶ der Akkusativ Ἀλανοὺς als Objekt zu ἐπάγουσι gelesen werden muss. Das zeigt neben inhaltlichen Erwägungen insbesondere auch die lateinische Übersetzung des Textes, die auf einer früheren als der noch erhaltenen Vorlage beruht und Iberer und Albaner ebenfalls als Subjekt des Satzes kennzeichnet. 65 Tac. ann. 6,33–35; Kühnert 1973 beschreibt den gesamten Abschnitt 6.31–37 als Drama in drei Teilen, von denen die hier vor allem zu betrachtenden Kapitel den zweiten bilden; vgl. auch Kühnert 1980 und Woodman 2017, 223. Nabel 2020 betrachtet die in Tac. ann. 6,31 referierte Maxime des Artabanos nicht in erster Linie als politisches Programm, sondern als Persönlichkeitsmerkmal, das der Historiker dann mit dem „portrait of a ruler who has aimed too high and fallen correspondingly low“ (180) konfrontiert. 66 Garzetti 1956, 224 67 Levene 2009, 232; wichtig hier auch der Verweis auf Ash 1999. 68 Zur literarischen Gestaltung vgl. Woodman 2017, 223, der zum gesamten Abschnitt der Kapitel 31–37 bemerkt: „There is a remarkable concentration of words, meanings or constructions which are unique, very rare or generally unusual“ 69 Tac. ann. 6,36–37

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Tacitus schließt diese Abschnitte mit der Erläuterung, dass er sie eingefügt habe, damit der Leser sich von der Betrachtung der Übel in der Heimat entspannen könne, quo requiesceret animus a domesticis malis. 70 Offensichtlich wollte er die ungewöhnliche Veränderung der Perspektive nicht unkommentiert lassen. Doch seine Erklärung ist in der Sache gewiss nicht hinreichend. Denn sie lässt offen, warum gerade dieser Stoff 71 geeignet gewesen sein soll, zu leisten, was er sollte, und warum ihn Tacitus so zugeschnitten hat, wie er es tat. Eine derartig auffällige Lücke in der Explikation ist als Aufforderung zu lesen, den Zusammenhang selbst zu erschließen. Das ist auf einer allgemeinen Ebene durch den Vergleich mit den auch sonst zu beobachtenden Gestaltungsprinzipien gut möglich und jüngst noch einmal grundsätzlich überzeugend ausgesprochen worden: Zweck sei es, „far from undermining the picture of the decline in Roman warfare, it seems to reaffirm it, with foreigners providing a graphic demonstration of what is missing in most of the campaigns in which Romans are directly involved.“ 72 Einmal mehr sei hier die Vorstellung des „corrupt state of Rome under the Julio-Claudians“ gespiegelt. 73 Dem wird man umso eher zustimmen können, wenn man beachtet, dass einer der Schwerpunkte dieser Episoden und ihr Zentrum auf der Bewährung fremder Könige im direkten Kampf miteinander liegt. Einzelkämpfe wie hier der zwischen Pharasmanes und Orodes fanden in der römischen Historiographie als Ausdruck besonderer militärischer virtus durchaus Beachtung. 74 Solche Stoffe zu behandeln war Gattungserbe: Die homerisch geprägte Tradition der Erinnerung an individuelle Heldentaten gehört zu den Wurzeln der griechisch-römischen Geschichtsschreibung. 75 Auffällig ist aber, dass die in der 70 Tac. ann. 6,38,1; Entspannung ist für Tacitus durch die Betrachtung von situs gentium, varietates proeliorum, clari ducum exitus zu gewinnen (Tac. ann. 4,33,3), also durch eine Geschichte der Bewährung militärisch geprägter Tugenden, die unter den Kaisern sehr selten geworden sind. Nicht ausgesprochen, aber wohl vorausgesetzt ist überdies die römische Perspektive als weitere Voraussetzung für die erhoffte Entspannung. Dann ist die Abwendung von den heimischen Übeln eine notwendige, aber keine ausreichende Motivation dafür, sich auswärtigen Tugenden zuzuwenden. 71 Sicher nicht ausreichend wäre die Hypothese, dass es im frühen 2. Jahrhundert in Rom ein besonderes Interesse an fremden Königen gegeben haben könnte. Für ein solches Interesse könnte man auf Suetons de regibus libri tres verweisen, wo auch exotische Herrscher – unter anderen die Könige der Numider, Parther und Ägypter – behandelt wurden. Vgl. Reifferscheid 1860, 458–77. 72 Levene 2009, 232 73 Levene 2009, 231. Die noch weitergehende Interpretation bei Alidoust 2020, 318–19, wonach „Tacitus diese Darstellung gewählt hat, um durch die Kontrastierung die parthische Kampfweise zu verunglimpfen“, und dass „die einzige, etwas ausführlichere Schlachtbeschreibung“ eines Kampfes, an dem die Parther beteiligt, die Römer aber nicht die Gegner sind, als indirekter Hinweis auf den „Niedergang der römischen Kriegsführung in der Kaiserzeit“ und als „Hinweise für die römischen Militärs“ auf „insgesamt unterlegene ,Barbaren‘“ zu verstehen seien, überzeugt nicht. Für eine Verunglimpfung der Parther gibt es keinen Anhaltspunkt im Text. Unklar bleibt auch, wieso der Historiker sich an dieser Stelle und so klandestin zu einer Zeit als Militärberater hätte zeigen wollen, in der wegen Trajans Partherkrieg der Gegner und seine Kampfkraft nicht unbeachtet geblieben sein können. 74 Grundlegend zu den Einzelkämpfen und den verschiedenen Bedingungen ihrer Wertschätzung in Republik und Kaiserzeit Oakley 1985. Vgl. Wiedemann 1996; Martino 2008, bes. 419 mit Anm. 23. 75 Strasburger 1982

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römischen Historiographie überlieferten konkreten Beispiele für Einzelkämpfe fast ausschließlich in die Zeit der Republik gehören. In dieser Verteilung spiegeln sich zum einen Veränderungen in der Kampfesweise in einer zunehmend professionalisierten Berufsarmee. Ebenso wichtig ist es zum anderen aber, dass ein allzu heller Glanz von Kriegshelden aus der römischen Elite – vor allem an diese erinnerten die Historiker – angesichts der Hochschätzung militärischer Tugenden in der römischen Kultur viele der Kaiser hätten in den Schatten stellen können. Es ist deswegen sicher kein Zufall, dass Tacitus an dieser Stelle zwei um den Thron ringende Barbarenfürsten als Einzelkämpfer porträtiert, deren virtus im Kontrast ein erhebliches Defizit bei Kaisern von der Art eines Caligula, Claudius oder Nero markiert. Nicht nur taten sich diese selbst nicht im Kampf hervor, sondern ihr Anspruch auf Ehre ohne Leistung trocknete auch den Ehrgeiz anderer aus, es den leuchtenden Vorbildern der Vergangenheit gleich zu tun. Die Darstellung der Bravour bei Fremden und potentiellen Feinden verweist indirekt auf die eigenen Fehlstellen. In anderer Perspektive weist das Porträt der kaukasischen Könige Pharasmanes und Mithridates auffällige Parallelen zur Darstellung des Tiberius auf. Der Armenierkönig Mithridates, dem Tiberius zu seinem Thron verholfen hatte und den später Claudius in dieser Position restituieren sollte, nachdem er zwischenzeitlich bei Caligula aus nicht mehr erkennbaren Gründen dazu gezwungen gewesen war, sich in Rom aufzuhalten, zeichnete sich nämlich auch durch ein Vorgehen dolo et vi 76 aus. Solche Methoden erinnern sicher nicht zufällig an die politische Maxime des Tiberius, die Tacitus zweimal und davon einmal sicher mit Absicht im hier zu behandelnden Zusammenhang wiedergibt, plura consilio quam vi perfecisse 77 bzw. consiliis et astu res externas moliri. 78 Im direkten Vergleich mit dem Verhalten des Barbarenherrschers gerät diese Form, die Probleme anzugehen, ebenfalls ins Zwielicht: Tiberius erscheint wie ein ränkesüchtiger orientalischer Despot. L. Vitellius’ „Memoiren“ als Vorlage für Tacitus Soll man nun annehmen, dass Tacitus umfassende Studien betrieben hat, um sein Thema so präsentieren zu können? Kritik an der Kaiserherrschaft und ihren Auswirkungen prägt sein Werk und scheint überall durch. Es gab Gelegenheiten genug, daran zu erinnern. Dafür musste man nicht in entlegenen Winkeln des Kaukasus suchen und Details eines Einzelkampfes ausbreiten. Näher liegt es zu vermuten, dass dieses Material an dieser Stelle grundsätzlich leicht erreichbar gewesen ist, in seiner Anschaulichkeit Reflexionen nahelegte, wie sie für Tacitus typisch sind und wohl auch in den Kontexten vorgelegen hat, in denen es der Historiker verwendet. Tacitus hat dann also nicht Abwege beschritten, um seine Anliegen zu befördern, sondern er ist durch den Umgang mit dem Stoff und seinen Eigenarten dazu angeregt worden, für ihn wichtige Aspekte in einer neuen 76 Tac. ann. 6,33,1 77 Tac. ann. 2,26,3 78 Tac. ann. 6,32,1

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Perspektive zu beleuchten. Bei diesem Stoff handelt es sich im weitesten Sinne um die Entwicklung im Osten, seit dort Vitellius agierte. Grundsätzlich kann der Gegenstand des armenischen Thronstreites auch in älteren, heute verlorenen Geschichtswerken nicht gefehlt haben. Offensichtlich ist aber auch, dass viele Details so, wie sie Tacitus nun bietet, dort noch nicht erwähnt waren. Denn sonst wäre es für ihn nicht mehr nötig gewesen, ihre Behandlung vor einem Publikum zu rechtfertigen, für das vorausgesetzt werden kann, dass ihm das einschlägige Schrifttum geläufig war: Für gut bekannte Überlieferungen waren solche Erläuterungen überflüssig. 79 Auf der Suche nach einer neben der senatorischen Historiographie tradierten, für den senatorischen Autor Tacitus gleichwohl gut zugänglichen Tradition 80 darf es als ein sicherer Ausgangspunkt gelten, dass die wichtigsten Sachinformationen, zumindest soweit es die römische Rolle dabei betraf, wesentlich von Darstellungen geprägt gewesen sein mussten, die der von Tiberius damit beauftragte Statthalter L. Vitellius davon gegeben hat. Dieser hatte gewiss den Kaisern, erst Tiberius, später dann auch Caligula berichtet. Indirekt wurde dann auch der Senat informiert. 81 Die so übermittelten Informationen bildeten das Grundgerüst der Traditionsbildung in der senatorischen Historiographie. Daneben fand Tacitus offensichtlich Unterlagen, auf die er seine Behauptung stützen konnte, Vitellius regendis provinciis prisca virtute egit. 82 Die vorbildliche Amtsführung sei allerdings, so ergänzt Tacitus, durch das spätere Verhalten so überschattet worden, dass man sich an Vitellius nur noch als an das Schreckbild eines würdelosen Schmeichlers erinnerte, zu dem er aus Furcht vor Caligula einerseits und anschließend durch die Nähe zu Claudius andererseits geworden war. 83 Tacitus‘ Korrektur am Bild, das seine Zeitgenossen vom Vater des nachmaligen Kaisers hatten, rettete diesen glatten Höfling nicht. Sie war vielmehr ein weiterer Beleg für die Macht der Korruption, vor der auch tüchtige Senatoren nicht gefeit waren, für eine Korruption, die wiederum in der unbeschränkten Position des Kaisers wurzelte. Gerade wegen seiner ursprünglichen Qualitäten eignete sich der Statthalter als exemplar dedecoris. Denn als 79 Syme 1964 hält es für gut möglich, dass das Geschichtswerk des Servilius Nonianus, eines Mannes, den Tacitus als „senator, orator and consul“ geschätzt habe (420), die wichtigste Vorlage für die erste Hexade der annales gewesen sei. Wenn die Hypothese, was hier nicht weiter erörtert werden soll, zuträfe, würde dies nach dem oben Gesagten zugleich ausschließen, dass dasselbe Buch auch die Informationen für „la digression sur les Parthes en VI, 31–37“ geliefert haben kann. Das aber ist nach Devillers 2003, 17 eine im Anschluss an Syme in der Forschung weithin geteilte Auffassung; vgl. Ash 1999, 115 Anm. 7, wo auch abweichende Thesen notiert sind. 80 Syme 1964, 419 rechnet neben dem „constant recourse to the acta of the senate“ mit der Verwendung der Schriften von „historians“ und „writers of memoirs“. Dąbrowa 2017, 178 (mit Bezug auf diese Episode): „Unfortunately, at no point in his work does Tacitus mention the sources which he used.“ 81 Vgl. Heil 1997, 55: Direkt an den Senat gerichtete „Feldherrnberichte lassen sich … für die Kaiserzeit nicht nachweisen. … Es blieb dem Kaiser überlassen, was und wieviel er dem Senat mitteilen wollte.“ 82 Tac. ann. 6,32,4: „Die Herrschaftspflichten in der Provinz erfüllt er mit dem traditionell gebotenen Anstand.“ 83 Tac. ann. 6,32,4: formidine C. Caesaris, familiaritate Claudii turpe in servitium mutatus exemplar apud posteros adulatorii dedecoris habetur.

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solches war er das Produkt einer Umgebung, deren fatale Konsequenzen zu den Hauptthemen der taciteischen Geschichtsschreibung gehörten. Der Historiker hat also gerne zu Quellen gegriffen, in denen L. Vitellius überzeugend zunächst als fähiger römischer Feldherr und Politiker erschien. Nicht nur die barbarische, auch römische virtus konnte dazu beitragen, dass sich das Gemüt von den einheimischen Übeln erholte 84, ergab sich doch, dass ein richtiges Leben möglich, wenn auch gefährdet war. Auch nach Tacitus war die definitive Lösung des Konfliktes mit Artabanos erst nach dem Tod des Tiberius unter Caligula gelungen und damit dem jungen Kaiser zuzuschreiben. Bei Josephus erhaltene, in diesem Fall sicher zuverlässige Angaben verraten aber, dass es noch unter Tiberius zu einer Einigung gekommen, dass also dessen Vorgehen hier von einem umfassenden Erfolg gekrönt war. 85 Auch wenn man voraussetzen darf, dass Tacitus das ungerne zugegeben hätte, gilt umgekehrt, dass sein Hass auf Tiberius nicht so weit reichte, dass er deswegen den tatsächlichen Verlauf verfälscht habe. Er trägt hier also vielmehr eine Version weiter, die so auch schon in der älteren Geschichtsschreibung zu finden war. Sie fußte zwar letztlich wohl auf Vitellius‘ offiziellen Berichten, attestierte aber Caligula gleich am Anfang seiner Herrschaft einen historischen Durchbruch im Umgang mit den Parthern. 86 Diese Lesart dürfte dem Bild entsprechen, das am Anfang der Herrschaft des jungen Kaisers gezeichnet wurde und auch später wegen der Schatten überlebt hat, die darin auf Tiberius fielen. 87 Vitellius wird auch später gerade wegen seines offensichtlich mit Mühe erreichten Einvernehmens mit Caligula 88 nicht an dieser Version gerüttelt und sich somit dauerhaft festgelegt haben. Da zugleich die alternative Lesart von Antipas stammte, der bei einem traditionalistischen römischen Senator bestimmt keinen

84 Tac. ann. 6,38,1; vgl. oben Anm. 70. 85 Täubler 1909, 39–46 hat – trotz der immer wieder geäußerten Zweifel etwa bei Garzetti 1956 und zuletzt bei Schlude 2020, 137–138 Anm. 60 – mit Hinweis vor allem auf Phil. leg. 21 zeigen können, dass die Einigung mit Artabanos wie bei Josephus noch in die Zeit der Herrschaft des Tiberius datiert werden muss. Von diesem Geschehen muss es früh unterschiedliche Versionen gegeben haben. Vitellius nämlich zeigte sich darüber empört, dass Antipas Informationen nach Rom weitergegeben hatte, bevor sein eigener Bericht dort eingetroffen ist (Jos. ant. 18,105). Täubler hat plausibel vermutet, dass Josephus die Version des Antipas wiedergebe, der seinerseits Augenzeuge gewesen ist. Einerlei, ob man dem folgen will, wird man es für wahrscheinlich halten, dass die von den römischen Quellen einhellig bevorzugte Variante letztlich auf Unterlagen des Senats zurückgehen muss, der von Caligula nach den Berichten des Vitellius informiert worden war. 86 Es ist unklar, ob damit eine der nicht weiter datierbaren imperatorischen Akklamationen verbunden war, auf die Cass. Dio 59,22,2, vgl. 59,25,5a hinweist. Aber auch ohnedies wird es vielen Senatoren leicht gefallen sein, in der kurzen Zeit der Entspannung nach Tiberius‘ Tod, die man als „Versuch einer Kopie des augusteischen Prinzipats charakterisieren“ kann (Winterling 2003, 57), dem neuen Herrscher zuzuschreiben, was sie dem verhassten Vorgänger gerne missgönnten. 87 Zur möglichen anti-tiberischen, aber Caligula-freundlichen Darstellung des Herrscherwechsels bei Seneca dem Älteren vgl. jetzt Damon 2020 bes. 141 Anm. 76. 88 Die Einzelheiten und die Chronologie des Verhältnisses von Vitellius und Caligula können hier nicht ausführlich untersucht werden. Entscheidend ist, dass es Vitellius schließlich gelang, das Misstrauen Caligulas zu zerstreuen (Cass. Dio 59,27,4–6). Vgl. Winterling 2003, 153–56.

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Vertrauensvorschuss genoss, hat sich Vitellius‘ chronologische Retusche durchgesetzt – auch bei Tacitus. Vitellius wird überdies gerne die Gelegenheit genutzt haben, die eigene Rolle gebührend zu profilieren. Ein Rest davon hat sich an unerwarteter Stelle erhalten. Am Ende seines Kapitels über die Feigen und seines Überblicks über verschiedene Sorten 89 hält Plinius fest 90: ex hoc genere sunt, ut diximus, Cottana et Caricae quaeque conscendenti navem adverus Parthos omen fecere M. Crasso venales praedicantis voce, Cauneae. omnia haec in Albense rus e Syria intulit L. Vitellius, qui postea censor fuit, cum legatus in ea provincia esset novissimis Tiberii Caesaris temporibus. Der Rückverweis ut diximus führt auf eine frühere Notiz, wo Plinius im Kontext der Behandlung von Obstbäumen aus Syrien bemerkt: in ficorum autem Caricas et minores eiusdem generis quas Cottana vocant. 91 An beiden Stellen geht es um die Caricae und ihre Unterarten, zu denen die Cottana und die Cauneae zählten. An beiden Stellen geht es um Obst aus Syrien, das inzwischen in Italien heimisch sei. Während das aber nach Plinius für eine Pflaumenart aus Damaskus und für die Schwarze Brustbeere schon länger gelte, sei es erst Vitellius gelungen, Sprösslinge der Caricae erfolgreich auf seinem Landgut anzusiedeln. Die beiden Exzerpte bei Plinius werden dadurch zusammengehalten, dass dort jeweils Unterarten der Caricae, ihre erfolgreiche Überführung aus Syrien und die Inkulturation Gegenstand sind. Letzteres erscheint als eine zu lobende Neuheit, die als solche mit älteren Einführungen von Pflaumen verglichen wird. Woher auch immer Plinius seine Informationen direkt entnahm, es ist ohne Weiteres zu erkennen, dass hier insgesamt Traditionen vorliegen, die auf L. Vitellius selbst zurückgehen. Zugleich ist deutlich, dass diese ursprünglich nicht in pomologischer Fachliteratur zu finden waren. Wie nämlich die in solchen Zusammenhängen unerwarteten Erwähnungen der Statthalterschaft und der nachmaligen Zensur und die präzise Datierung ans Ende von Tiberius‘ Herrschaft zeigen, stammen sie vielmehr letztlich aus einem Werk, das die Leistungen des Vitellius im Osten zum Thema hatte. Trotz des auf den ersten Blick in diesem Kontext abseitigen Themas hatten die Feigen dort einen angemessenen Platz. Denn wenn explizit von den Cauniae als Spezies der Caricae die Rede war, geht es um mehr als um Spezialwissen in der Feigenzucht. Das darf man schon deswegen vermuten, weil Feigen schon vom älteren Cato in der politischen Auseinandersetzung auch symbolisch verwendet werden konnten: Die Frische von dort angeblich drei Tage zuvor geernteten Früchten diente diesem als guter Beleg dafür, in welch gefährlicher Nähe sich die Erzrivalin Karthago befinde. Er benutzte ihn für sein schließlich erfolgreiches Drängen, die Gefahr endgültig zu beseitigen. Eine Aufladung 89 Vgl. Olck 1909, 2110 sowie allgemein Hehn/Schrader 1911, 95–103. 90 Plin nat. 15.83: „Zu dieser Obstsorte gehören, wie wir schon gesagt haben, die Cottana und Caricae, die als „Kaunisches Angebot“ (Cauneae) für M. Crassus, als er sich gegen die Parther einschiffte, durch das Geschrei des Anbieters zum Omen wurden. Diese insgesamt führte aus Syrien L. Vitellius, der später Censor war, als er am Ende der Herrschaftszeit des Tiberius Statthalter in dieser Provinz war, auf sein Gut bei Alba ein.“ 91 Plin. nat. 13,51: „an Feigen aber die Caricae und eine kleinere Unterart, die Cottana heißt.“

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der Caricae mit Bedeutung konnte an dieses berühmte Vorbild anknüpfen. Der Namen Caricae verweist überdies darauf, dass diese Sorte für die Römer in Karien heimisch war. Anscheinend hatte sich ihr Anbau von dort weiterverbreitet. Aber die über die karische Hafenstadt Kaunos nach Italien importierten Früchte wurden offensichtlich besonders geschätzt. Deswegen versäumten es geschäftstüchtige Verkäufer nicht, sie laut als Cauneae, als „ aus Kaunos“, anzupreisen. Das geschah auch, als M. Crassus sich in Brundisium zu seinem fatalen Feldzug gegen die Parther einschiffte. Nach den Aussprachegewohnheiten von Ort und Zeit war der Ruf Cauneas aber auch als Cav‘ ne eas, „pass auf und geh nicht“, zu verstehen. 92 Nach der Katastrophe von Carrhae kolportierte man diese Geschichte als Beleg dafür, dass die Götter vergeblich versucht hatten, den Feldherrn von seinem Vorhaben abzubringen. 93 Die Wiedergewinnung der bei der verlorenen Schlacht von den Parthern eroberten Feldzeichen ist später von Augustus als Wiederherstellung des römischen Ansehens dargestellt und zum Teil seiner Herrschaftslegitimation geworden, die Revision von Carrhae ein Baustein der kaiserlichen Selbstrepräsentation. 94 Vor dem Hintergrund solcher Assoziationsmöglichkeiten ist es leicht verständlich, dass ein militärisch und diplomatisch erfolgreicher Statthalter der Kaiser Tiberius und Caligula diesen Feigen eine bemerkenswerte Aufmerksamkeit gewidmet, sie nicht nur nach Italien transponiert und dort weitergezüchtet, sondern sogar so ausführlich davon berichtet hat, dass seine Notizen dann spätestens bei Plinius Eingang in die dem Obstbau gewidmete Fachschriftstellerei fanden: Wie die Feldzeichen des Augustus konnten nämlich auch die Cauneae an die schmachvollste Niederlage gegen die Parther und an ihre Überwindung erinnern. Der schwere Schlag mochte einem auch wieder in den Sinn kommen, als Artabanos in den späten Jahren des Tiberius es wagte, sich römischen Vorstellungen zu widersetzen. Man konnte sich fragen, ob nun doch die Gefahr aus dem Osten fortbestehe. Vitellius hat – natürlich für seinen Kaiser, der ihm dies dankte – solchen Befürchtungen den Boden entziehen können. Symbolisch dafür war von nun an die Inkulturation von Cauneae in Italien: Früchte, die einstmals den Göttern dienten, um Warnungen zu verkünden, wuchsen jetzt „domestiziert“ vor den Toren Roms. Aus den „Kaunischen“ waren nun „Albanische“ Feigen geworden, die so an die mythische Vorgeschichte Roms (sowie über Aeneas an die Einverleibung der östlichen Tradition) gebunden waren und an einen verhängnisvollen Tiefpunkt der Geschichte nur noch in dem Sinne denken ließen, dass die damit verbundene Sorge radikal überwunden war. Zu den von Vitellius ausgebreiteten Einzelheiten müssen neben den Ausführungen über die Inkulturation der „kaunischen“ Feigen auch Details der Darstellung vom Gang der Verhandlungen mit Artabanos gehört haben. Sueton weiß, dass der Partherkönig damals odium semper contemptumque Tiberii prae se ferens, amicitiam huius ultro petiit venitque ad conloquium legati consularis et transgressus Euphraten aquilas et si92 Zum Sprachlichen vgl. Birt 1897, 137. 93 Cic. div. 2,84. 94 In einer klassischen Untersuchung hat Timpe 1962 differenziert die Geschichte der Erinnerung an die Schlacht bei Carrhae in der römischen Politik aufgehellt.

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gna Romana Caesarumque imagines adoravit. 95 Hinter der Inszenierung habe Vitellius gesteckt, der Artabanum Parthorum regem summis artibus non modo ad conloquium suum, sed etiam ad veneranda legionum signa pellexit. 96 Wahrscheinlich hat Vitellius tatsächlich dafür Sorge getragen, dass Artabanos nicht nur Tiberius´, sondern den imagines gleich mehrerer Caesares seine Reverenz erwies. Dazu gehörten dann sicher Augustus und Germanicus, mit großer Wahrscheinlichkeit auch die jungen, als Träger des Namens Caesar präsumtiven Nachfolger des alten Kaisers, also Caligula und Gemellus. 97 Eine solche Inszenierung wäre in doppelter Hinsicht ein guter Ausweis von summae artes gewesen. Nach außen band sie den aktuellen Partherkönig nicht nur an die Person des aktuellen Kaisers, sondern machte eine Einigung mit seinem gesamten Haus sichtbar. Zum anderen erlaubte sie es dem Statthalter auch, seine eigene enge Bindung an die kaiserliche Familie zu unterstreichen. 98 Historische Dimension sollte das Geschehen auch dadurch erhalten, dass der Partherkönig dazu angehalten wurde, seine Ehrfurcht nicht dem römischen Herrscherhaus, sondern auch den aquilae zu erweisen. Das rief die Erinnerung an die lange diplomatische Geschichte der von den Parthern erbeuteten und von Augustus zurückgewonnen Legionsadler von Carrhae ins Gedächtnis – und ließ sich als eine Steigerung verstehen: Hatten sich die Feinde 53 v. Chr. durch ihren Sieg noch der römischen Feldzeichen bemächtigen können, symbolisierte die Rückgabe im Jahre 20 v.Chr. unter Augustus die wiedergewonnene römische Überlegenheit. 99 Mochte Art95 Suet. Cal. 14,3: „der doch immer den Hass auf und die Verachtung für Tiberius vor sich trug, sich wider Erwarten um seine Freundschaft bemühte und zur einer Besprechung mit dem konsularischen Legaten kam sowie – wozu er den Euphrat überquerte – die Legionsadler, weitere Feldzeichen der Römer und die Bilder der Caesaren verehrte.“ 96 Suet. Vit. 2,4: „den Partherkönig Artabanos mit größtem Geschick nicht nur zur Unterredung mit ihm, sondern auch dazu brachte, die Feldzeichen der Legionen zu verehren.“ 97 Nach Cass. Dio 59,27,3 soll Artabanos lediglich vor Darstellungen des Augustus und des Caligula geopfert haben. Das ist sachlich für die Zeit, in der noch Tiberius herrschte, nicht denkbar und Teil der frühen Klitterung der Chronologie zu Caligulas Gunsten. 98 Wie neuere Interpretationen des Grand Camée de France zeigen, ist die Inszenierung des Herrschers im Kreise seiner engsten Angehörigen (sogar mit Vorstellungen zur Nachfolge) für dessen Umgebung ein mögliches Sujet gewesen sein, um Loyalität zu bekunden. Vgl. dazu Zwierlein-Diehl 2007, 160–166; Giuliani 2010, bes 45: der „Grand Camée ist ein in Stein geschnitztes Treuebekenntnis an die gesamte gens Iulia“; Bechtold 2011, 481–90; von den Hoff 2011, 39 und 41. Gerade wenn die jetzt weithin anerkannte Deutung Giulianis zutrifft, wonach dort eine vermutete Nachfolgeregelung begrüßt wird, die bald darauf obsolet geworden ist, dürfte es für kluge und erfahrene Angehörige des Hofes spätestens dann nahe gelegen haben, dabei zu deutliche Festlegungen zu vermeiden. Aber auch wenn man mit Heinlein 2011 in diesem Kameo lieber eine Darstellung der Nachfolgeregelung sehen will, die Tiberius selbst veranlasst hat (vgl. auch Scherberich 2017), bot diese Aussage Anknüpfungspunkte für Treuebekundungen im Hinblick auf dynastische Kontinuität. In beiden Fällen allerdings musste die weitere Entwicklung gleichfalls Zurückhaltung im Konkreten als ratsam erscheinen lassen. 99 Zu den Quellen vgl. Debevoise 1938, 140–41. Beim Ausgleich 20 v. Chr. hatte der damals junge Tiberius mitgewirkt. Auch damals war das römisch-parthische Verhältnis eng mit der Armenienfrage verknüpft gewesen.

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abanos‘ eigenwillige Politik der vorangegangen Jahre Zweifel an den Machtverhältnissen ausgelöst haben, zeigte er durch seine nunmehrige Demutsgeste sowohl den Römern als auch dem parthischen Adel deutlich, dass er seinen Irrweg als solchen erkannt und verlassen hatte. Als dritte aktualisierende Anspielung auf das von Augustus erreichte Verhältnis zu den Parthern hat Vitellius es auch nicht versäumt, dafür zu sorgen, dass, wie unter Augustus parthische Prinzen als „Unterpfänder der Freiheit“  100 nach Rom geschickt wurden, nun der eben überwundene Artabanos seinen Sohn Dareios mit zahlreichen weiteren Geschenken und dem jüdischen Riesen Eleazar an den Tiber überstellte. 101 Vitellius hatte mit diesem Arrangement seine summae artes 102 unter Beweis gestellt und sich zugleich meisterhaft in der Umsetzung von Tiberius‘ Strategie gezeigt, consiliis et astu res externas moliri. 103 Bestimmt ist er es selbst gewesen, der die sorgsam ausgeklügelte Szenerie auch schriftlich so aufbereitet hat, dass sie ihren Weg zu Sueton fand. Das kann unmöglich schon im offiziellen Bericht für den Kaiser der Fall gewesen sein. Denn die Darstellung ist eng mit dem Bild des alten Tiberius als Schwächling verbunden, das Vitellius sicher nicht zu zeichnen gewagt hätte, solange dieser Kaiser noch am Leben war. Auch in der Zeit unmittelbar nach dem Thronwechsel wäre das kaum ratsam gewesen. Denn erstens bemühte sich Caligula trotz der starken tiberiusfeindlichen Stimmungen in Rom zunächst sehr darum, das Andenken des Adoptivvaters zu schützen, selbst wenn er von dessen Politik abrückte. Er ließ es nicht an der nötigen Pietät gegenüber dem Vorgänger fehlen 104, sodass es nicht gut möglich war, diesen als Gegenstand der Verachtung in den Augen eines Partherkönigs zu zeichnen. Zum anderen hätte Vitellius vom Osten aus damals gar nicht scharf genug sehen können, wie sich die Personenkonstellationen und die damit verbundene Machtlage am Hof veränderten, die es ihm gestattet hätte, durch deutliche Statements selbst Stellung zu beziehen. Er war klug genug, vorsichtig zu bleiben und Festlegungen zu vermeiden. Der Text, aus dem Sueton schöpft, ist also erst später entstanden. Da die Notiz über die Einführung der Cauneae bei Plinius auch Vitellius‘ Zensur erwähnt, die er erst zusammen mit dem Kaiser Claudius bekleidete, ist ein Ansatz unter diesem Kaiser wahrscheinlich. Unter diesen Umständen war es sogar möglich, die erfolgreiche Inkulturation wieder in die letzten Jahre des Tiberius (novissimis Tiberii Caesaris temporibus) zu datieren. Der Friedensschluss – auch in dieser Version ja schon unter Caligula – war in dieser Perspektive jetzt nurmehr eine Formalität, weil die tatsächliche Leistung zwar noch unter Tiberius, aber eben maßgeblich von Vitellius erbracht worden war. Kaiser Claudius wird dem Sena-

100 RGDA 32; vgl. allgemein jetzt auch Nabel 2017. 101 Jos. ant. 18,103; Cass. Dio 59,17,5; 27,3 102 Gerade weil es ihm auf die erwarteten Wirkungen sehr ankam, war er sehr darüber empört, dass Antipas Informationen nach Rom weitergegeben hatte, bevor sein eigener Bericht dort eingetroffen ist; vgl. Jos. ant. 18,105 103 Tac. ann. 6,32,1: „die äußeren Beziehungen mit Klugheit und Schläue zu gestalten“. 104 Cass. Dio 59,3,7; vgl. Winterling 2003, 53–60.

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tor, mit dem ihn ein enges Vertrauensverhältnis verband 105, diesen Erfolg nicht nur nicht geneidet, sondern sehr gegönnt haben. Während die Einigung mit Artabanos also tatsächlich eine Frucht geschickter Planung und Politik des Tiberius war, war sie zwischenzeitlich zu einem Erfolg des Caligula uminterpretiert worden, um nunmehr nicht zuletzt als Ergebnis der summae artes des damaligen Statthalters und nunmehrigen engen Freundes des Claudius zu erscheinen, dem dieser später durch den Senat eine prächtige offizielle Beisetzung ( funus publicum) ausrichten ließ. 106 Als der Senat dem Vitellius schließlich an prominentester Stelle direkt vor den rostra in Rom eine Statue mit Inschrift zu widmen sich veranlasst sah, die die einzigartige immobilis pietas des Vitellius gegenüber dem Kaiser herausstellte 107, war ein Denkmal sowohl für dessen Karriere in und durch Kaisernähe geschaffen, das aber in der Folgezeit eben auch als Mahnmal eines mit allen Wassern gewaschenen und in dieser Hinsicht prototypischen Schmeichlers interpretiert werden konnte. Insgesamt ergibt sich aus diesen Überlegungen, dass Tacitus über die ihm vorliegenden Geschichtswerke hinaus für den Exkurs in ann. 6.33–37 eine Darstellung herangezogen hat, die auf Vitellius selbst zurückgeht. 108 Vor ihm hatte mit völlig anderen Interessen schon Plinius diese Tradition benutzt. Auch Sueton hat sie herangezogen. Selbstverständlich hat Tacitus die Vorlage seinen Intentionen entsprechend umgeformt. Die oben besprochene Positionierung des Zweikampfes im Zentrum dieses Abschnittes ist dafür ein wesentliches Indiz. Neben dieser Episode fanden sich bei Vitellius auch Einzelheiten, die Tacitus im unmittelbaren Kontext im 6. Buch anführt, sowie Nachrichten über die Feigen und Details der Verhandlungen zwischen Artabanos und Vitellius. Indem Tacitus dieses Werk benutzte, konnte er die zu seiner Zeit sonst übliche Version der Ereignisse in der Historiographie ergänzen und beleuchten, die zwar ihrerseits letztlich auf Vitellius zurückging, sich aber auf die knapperen offiziellen Berichte vom Statthalter an den Kaiser in der Form stützten, die der Kaiser dem Senat weitervermittelt hatte. Die Existenz einer solchen Schrift des Vitellius hatte schon Täubler postuliert, weil die Darstellung des Tacitus „nur in ihrer Zusammensetzung aus einem ausgezeichneten Lagebericht und einer Fälschung durch die Person des Vitellius als ihres Schöpfers verständ105 Vgl. nun Michel 2015 bes. 279–80 mit den Quellen. 106 Suet. Vitell. 3: defunctum senatus publico funere honoravit. „Der Senat ehrte den Verstorbenen durch ein offizielles Begräbnis.“ 107 Suet. Vitell. 3: statua pro rostris cum hac inscriptione: Pietatis immobilis erga principem. („Eine Statue vor der Rednerbühne mit folgendem Begleittext: Von unerschütterlicher Treue gegenüber dem Princeps.“) 108 In Einzelheiten ähnlich Galimberti 1999. Galimberti möchte die Schrift des Vitellius entweder für ein (im Übrigen unbekanntes) Geschichtswerk halten, das (zumindest) die Epoche von Augustus bis Caligula zum Gegenstand gehabt habe; vgl. bes. 232–33. Dagegen hat Buongiorno 2020, 75 mit Recht darauf aufmerksam gemacht, dass „i testi richiamati di Galimberti sono tutti reconducibili alle operazioni de Vitellio sul limes partico nel 36–37 d.C.“ Als Alternative hält es Galimberi auch für möglich, dass Vitellius „un opera memorialistico-storica“ vorgelegt habe (233), fragt für diese Variante aber weder nach pragmatischen Zwecken noch zieht er außer Caesars commentarii weitere solche Schriften zum Vergleich heran.

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lich ist.“ Seiner Charakteristik und der Datierung dieser Vorlage als eines „Memorandum über die Ereignisse im Orient“ für Caligula wird man mit Blick sowohl auf die Feigen und auf die akribische Ausmalung des Treffens mit Artabanos, vor allem aber auch auf die erkennbaren Zusammenhänge und Absichten eher nicht folgen. 109 Ein vergleichbares Werk Corbulos 110 zitiert Tacitus explizit und macht damit zugleich deutlich, dass er entsprechendes Schrifttum verwendet hat. 111 Überhaupt fällt auf, dass es gerade aus dem ersten Jahrhundert eine ganze Reihe von Hinweisen auf solche (im weitesten Sinne) „Memoiren“ gibt. 112 Ronald Syme 113 nennt neben Corbulo 114 als weitere Autoren C. Suetonius Paullinus, C. Licinius Mucianus und A. Marius Celsus. 115 Die Liste kann für die davor liegende Zeit durch C. Iulius Caesar und Agrippa sowie für das 2. nachchristliche Jahrhundert durch L. Flavius Arrianus ergänzt

109 Täubler 1904, 55–57 110 Die Zeugnisse sind u.a. bei Heil 1997, 30 mit Anm. 9 und 10 zusammengestellt; vgl. ders. 34 Anm. 29. 111 Vgl. auch Tac. ann. 4,53,2, wo er aus Agrippinas commentarii schöpft. Dazu Malitz 2003, 237: „Tacitus legt dabei großen Wert auf seinen offenbar entlegenen Fund.“ 112 Eine umfassende Untersuchung fehlt und kann hier nicht gegeben werden. 113 Syme 1958, 296–97. Syme nennt in diesem Zusammenhang auch T. Flavius Vespasianus. Es muss allerdings offenbleiben, ob dessen commentarius in eine Reihe mit denen der genannten Befehlshaber oder in die verwandte Tradition der Lebenserinnerungen von Herrschern gehört, von der Augustus‘ de vita sua, ein vielbändiges Werk des Claudius, aber auch die commentarii genannten Schriften des Tiberius und sogar der Agrippina bezeugt sind. Dazu Malitz 2003. 114 Als Ergebnis einer sehr gründlichen Analyse der Überlieferung bestreitet Heil 1997, dass sich „auf indirekten Wegen“ viel mehr über Corbulos Schrift als deren Existenz in Erfahrung bringen lasse (35). Dem in der Forschung häufiger gezogenen Vergleich mit Caesars Commentarii de bello Gallico begegnet er mit größter Skepsis (36). Man kann allerdings methodisch darauf verweisen, dass es bei einem Vergleich wesentlich auch darum gehen kann, Perspektiven zu erweitern, indem vereinzelte Befunde in geeignete Kontexte gerückt werden. Die hier vorgelegte Skizze bezieht sich darauf, dass die Autoren der genannten Schriften jeweils verantwortliche Befehlshaber gewesen sind (1). Von diesen darf vorausgesetzt werden, dass sie offiziell dem Senat oder dem Kaiser berichtet haben (2). Überlieferungsfragmente und -spuren ihrer Darstellungen reichen aber öfters über das hinaus, was in einem solchen Rapport erwartet werden darf (3). Die Themen dieser zusätzlichen Informationen gehören in den Bereich von Geographie und Ethnographie (4). Die jeweils angesprochenen, recht begrenzen Publica in der politischen und militärischen Elite zu Rom müssen sich überschnitten haben, was Bezüge der Schriften aufeinander nahelegt (5). Daraus ergeben sich Erwartungshaltungen und Versuche, diese zu erfüllen, die kumulativ eine Art Literaturform schaffen (6). Wenn diese strukturell erfasst ist, kann man umgekehrt Hypothesen auch zur Gestalt der einzelnen Schriften formulieren. Deren Überzeugungskraft hängt jeweils davon ab, wie weit es gelingt, durch weitere Kontextualisierungen im Einzelnen die Gefahr von Zirkelschlüssen zu minimieren (7). Die oben vorgetragenen Überlegungen versuchen unter diesen Voraussetzungen zu vermeiden, dass man, wie Heil 1997: 33 der Corbulo-Forschung vorhält, zu diesen Texten „entweder kaum eine – oder jede beliebige Aussage treffen“ könne, also über Agnostizismus oder Phantasterei nicht hinauskomme. 115 Für die Belege vgl. Heil 1997, 37–38; 53–57.

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werden. Neben diese Senatoren treten im 1. Jahrhundert noch die Ritter Ti. Claudius Balbillus und M. Antonius Iulianus. 116 Caesars Commentarii de bello Gallico fußen zwar auf den Berichten, die der Prokonsul dem Senat zu erstatten hatte, geben aber geographische und ethnographische Details, die mit dieser engeren Zwecksetzung nicht vereinbar sind. Arrian stellt im Periplus maris Euxini sogar explizit fest, dass er diese Schrift in Ergänzung eines lateinischen StandardRapports (Ῥωμαϊκὰ γράμματα) verfasst habe. 117 Hier kann er Akzente setzen, Anliegen verfolgen, geographische, ethnographische, „archäologische“ 118 und mythologische Details vortragen, die in einem amtlichen Dokument fehl am Platze gewesen wären. Auch an Tacitus‘ Agricola ist zu erinnern, selbst wenn hier nicht der verantwortliche Militärbefehlshaber, sondern sein Schwiegersohn ein aus Elementen von Biographie, Feldzugsbericht, Geographie und Ethnographie bestehendes hybrides Werk geschaffen hat. Die jeweiligen Absichten der Verfasser waren so unterschiedlich wie die Gattungen, aus denen sie ihre Darstellungsmuster hauptsächlich gewannen. Gemeinsam ist all diesen Beispielen, dass die Akteure (oder wie im Falle des Agricola ein Angehöriger) selbst sich als Autoren in Szene setzen und den Taten eindrucksvolle Worte folgen lassen wollten. Dafür zogen sie verschiedene literarische Formen heran und entwickelten kreativ hybride Kombinationen. Caesar, Tacitus mit dem Agricola und Arrian zeigen, dass dabei anspruchsvolle Texte von (unterschiedlich hoher) literarischer Qualität entstehen konnten. Es ist hier nicht weiter zu verfolgen, inwiefern dafür Xenophons Anabasis als Vorbild gedient und ob zumindest Ansätze einer Gattungstradition entstanden sind. Insgesamt waren diese Schriften meist wohl zu sehr aktuellen Wirkungsabsichten verhaftet, als dass sie längerfristig Interesse zu wecken vermochten. Bald haben sich nur noch Antiquare wie Plinius oder skrupulöse Historiker wie Tacitus dafür interessiert. 119 Wegen der engen Bindung an ihre je spezifische Gegenwart sind sie in der Regel verloren. Vor dem Hintergrund der genannten Beispiele und dem skizzierten Befund darf man voraussetzen, dass für Vitellius‘ Schrift neben Ausführungen zu Diplomatie, Strategie und Taktik auch Mythologie 120, Ethnographie, Geographie und klimatische Besonder116 Heil 1997, 39 nimmt für sein Thema der Corbulofeldzüge an, dass „bald nach dem Krieg … eine größere Zahl von Ausarbeitungen“ vorlag. Statt mit solcher themenbezogener Publizistik muss man vielleicht eher mit „Erinnerungen“ beteiligter Generäle in der oben skizzierten Form rechnen. 117 Arr. peripl. m. Eux. 6,2; 10,1. 118 Aufschlussreich Bäbler 2014. 119 Tac. ann. 15,16,1 mit Hinweis auf Corbulo. Vgl. Römer 2005, 146: „Neben einer Reihe von verlorenen Historikern traditioneller Prägung zählt die frühkaiserzeitliche Memoirenliteratur zu den Quellen der erhaltenen historischen Berichterstattung vom Beginn des 2. Jahrhunderts n. Chr.“ Es wäre zu prüfen, ob man auf die Auswertung solcher Literatur meist verzichtet hat, sobald umfassende Geschichtswerke vorlagen. 120 Nach Tac. ann. 6,34,2 sollen die Iberer und die Albaner von den Thessalern abstammen. Tacitus verknüpft diese Herleitung mit der Phrixos-Sage und fügt hinzu, dass dessen Rettung durch einen Widder der Grund dafür sei, dass niemand dort Widder opfere. Dieses Detail kennt auch Strabon 11,2,18 p. 499. Coşkun 2021, 302–03 hält es deswegen für möglich, dass Tacitus Strabon selbst – entweder die „Geographie“ oder das heute verlorene Geschichtswerk – benutzt habe. Das würde bedeuten, dass Tacitus für eine Nebensächlichkeit auf ein Exzerpt zurückgegriffen hat, ohne

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heiten 121 wichtige Bausteine gewesen sein können. Wenn das Werk unter Claudius entstanden ist, hatte sein Verfasser allen Grund, auf dessen Interesse an anderen Völkern als dem römischen durch besondere Akzente zu reagieren und ethnographischen Details (auch anderswo grundsätzlich gewährte, hier aber dann aber besonders) intensive Aufmerksamkeit zu schenken. Es ist also nicht abwegig zu folgern, dass die im unmittelbaren Kontext mit Vitellius‘ Unternehmungen von Tacitus neu in die historiographische Tradition eingebrachten Einzelheiten über Iberer und Albaner sowie ihre Kriegsführung mit den Parthern ihren Ursprung ebenfalls in der Ausarbeitung des Vitellius hatten. Ob diese auf Vitellius zurückgehende Überlieferung weitere Spuren in den heute noch erhaltenen Texten hinterlassen hat, muss offenbleiben. Hier genügt die Feststellung, dass die besprochenen detailreichen Informationen über das Geschehen jenseits des direkten römischen Herrschaftsbereiches grundsätzlich wesentlich auf seine Darstellung zurückgehen werden. Gōsān als Ursprung der Traditionsbildung Vitellius selbst kann und wird seine Kenntnisse aus Unterlagen geschöpft und über Kontakte bezogen haben, die während seiner Statthalterschaft entstanden sind. Fragt man nun genauer danach, woher das Bild von der Aristie des Pharasmanes stammt, ist ein Kern erkennbar, der in der Umgebung des Königs selbst und zu seinem Ruhm entstanden sein muss: Pharasmanes‘ Mut, seine Könnerschaft mit Waffen und zu Pferd, die Überlegenheit und deren Nachweis im Einzelkampf mit einem kulturell gleich geprägten und als Person ebenbürtigen Gegner, all das zusammen sind Züge im Porträt eines nahezu mustergültigen Bumberazi. Wenn die Hypothese zutrifft, dass Einzelheiten in der Darstellung der kaukasischen Königsbrüder Pharasmanes und Mithridates, die deren Verhalten am geltenden Herrscher­ideal maßen, auf einheimische Versionen zurückgehen, muss es dort ein entsprechendes performatives oder literarisches Genus gegeben haben. Die folgenden Überlegungen zur Form, in der diese Erinnerungen bewahrt worden sein können, erlauben dass man recht sieht, warum er es gemacht haben sollte. Viel wahrscheinlicher ist es, dass er diese Einzelheit zusammen mit den übrigen mythologischen Informationen in einer Schrift fand, die in dieser Hinsicht dem erhaltenen Periplous Arrians geglichen hat, der in den Bericht über seine Inspektionsreise auch Mythologeme einflicht. Ist das richtig, wird man wieder zuerst an Vitellius als Autor denken. In einer solchen Darstellung hätte die Erwägung, die Überlegenheit von Iberern und Albanern im Gebirgskampf durch die angebliche Deszendenz von den Thessalern zu erklären, einen plausiblen Kontext. Ihr Stil und die ausdrückliche Quellenangabe, dass diese das selbst behaupteten, passen gut in die Umgebung des antiquarisch interessierten Kaisers Claudius. Gerne wüsste man, ob schon Strabon neben dem Widdertabu auch die Behauptung der thessalischen Herkunft dieser Kaukasus-Völker kannte. Denn als Versuch zuvörderst von iberischen Eliten, sich über eine argonautische Provenienz fest in die hellenistische Welt einzuordnen, wäre diese Version dann schon in oder vor die augusteische Zeit zu datieren. 121 Vgl. die Beachtung der flatus Etesiarum („Wehen der Südwinde“) in Tac. ann. 6,33,3.

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keinen Beweis, dass man sich Genese und Tradition der Überlieferung so vorstellen müsse. Gleichwohl stärkt der Nachweis der Möglichkeit die hier vorgeschlagene Vorstellung von der Provenienz, weil man diese Vorstellung nicht mehr mit dem Argument widerlegen kann, dass für ihre Akzeptanz notwendige Voraussetzungen fehlten. In parthischer Zeit hat es Dichter gegeben, die ihre Werke als Sänger darboten. Ein solcher Dichter hieß gōsān. 122 Das ist ein parthisches Wort mit bislang anscheinend unbekannter Etymologie, dessen Bedeutung erst im 20. Jahrhundert nachgewiesen werden konnte. Aus dem Parthischen wurden Wort und Begriff in verschiedene Nachbarsprachen übernommen. So ist es gusan im Armenischen 123 und im Albanischen 124 belegt. Im Georgischen bezeichnet das auf dieser Basis gebildete Fremdwort მგოსანი (mgosani), Plural მგოსანნი (mgosanni) einen Dichter und Sänger. Die Übernahme in verschiedene Sprachen darf als Indiz dafür gelten, dass diese gōsān Teil einer gemeinsamen iranischen kulturellen Praxis waren, die vor allem an den von ebensolchen Traditionen geprägten Höfen ihren Ort hatte. In der Vorstellung von dem, was einen gōsān ausmacht, zeigen sich im Laufe der Jahrhunderte verschiedene Ausprägungen. Für die sasanidische Zeit gehört die Produktion und Präsentation von Heldenepik zu seinem Tätigkeitsfeld. 125 Die in einem manichäischen Text aus dem vierten oder fünften Jahrhundert bezeugte Rolle als „Künder der Würdigkeit von Königen und Helden der Urzeit“ 126 lässt einen gōsān Maßstäbe formulieren und vertreten, an denen auch die aktuellen Herrscher sich orientieren mussten. Schon für das erste Jahrhundert ist die Konzeption einer Art epischer Kontinuität erkennbar, in der das Handeln solcher Personen in dem von Vorfahren und den Urvätern gespiegelt wurde. 127 Einen Widerschein solcher Praxis könnte man vielleicht auch in der so genannten armazischen Monolingue finden, einer kaiserzeitlichen Inschrift in einer für Iberien typischen Sprach- und Schriftform des Aramäischen. 128 In diesem Text stellt ein Pitiaxes namens Śargas in Versform seine Heldentaten vor. Die literarische Form, in der sich dieser

122 Grundlegend Boyce 1957 mit der älteren Lit; vgl. auch die Zusammenfassung bei Boyce 2002, 167–70. 123 Movs. Xor. 1,14; in der französischen Übersetzung von Mahé/Mahé wird das Wort als „aèdes“ wiedergegeben. Boyce 1957, 12–13 beharrt trotz Movsēs‘ eigenwilliger Quellenheuristik an dieser Stelle methodisch überzeugend auf der Bedeutung seiner Aussage für die Semantik von gusan. 124 Rapp 2014, 197 mit weiterer Lit. 125 Boyce 2002 126 Boyce 1957, 11 zitiert einen von Henning rekonstruierten, aber von ihm noch nicht publizierten Text: „cwʾgwn gwsʾn ky hsyngʾn šhrdʾrʾn ʾwd kwʾn hwnr wyfrʾsyd ʾwd wxd ʿywyc ny kryd“. Da auch Durkin-Meisterernst 2004, 168 s.v. gwsʾn die Stelle nur nach Boyce anführt, scheint weder Henning die angekündigte Edition herausgebracht zu haben, noch wurde das später nachgeholt. 127 Das ist ein wesentliches Ergebnis von Boyce 1957. 128 Zum so genannten Armazischen vgl. Oelsner 1980; Tsereteli 1996 = Tsereteli 1998; Giorgadze 2008; Guniashvili 2021.

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hohe iberische Würdenträger präsentiert, wird auch den Königen nicht fremd gewesen sein. 129 In die performative Praxis des vierten Jahrhunderts erlauben zwei Details in armenischen Quellen einen knappen Einblick. Einen der Befunde bestätigt eine kurze Notiz bei Ammianus Marcellinus. In den Epic histories (Buzandaran Patmutʽiwnkʽ) erscheinen gusan nämlich zweimal in der Umgebung von Königen, im Jahre 358 bei Aršak II. und dann 374 bei Pap. Zur Befreiung des gefangenen Königs Aršak durch Drastamat heißt es: „freed Aršak from his iron chains – from the iron bonds on his hands and feet, and from the bonds of the iron yoke upon his neck. And he washed his head and bathed him, and garbed him in a precious robe-of-honor. And he set out banqueting-couches for him and made him recline [on it]. And he set before him a meal suitable for kings, and placed before him wine such as was fit for kings. He heartend and comforted him, and gladdened him with gusans. 130 König Pap sei ermordet worden, während er „gazed upon the varied troup of gusans“, deren Tätigkeit wenige Zeilen zuvor so beschrieben ist: „all the drummers, flutists, lyreplayers, and trumpeters together skillfully sounded in the various voices.“ 131 Dieselbe Szene beschreibt Ammianus Marcellinus so: cumque apponerentur exquisitae cuppediae et aedes amplae nervorum et articulato flatilique sonitu resultarent, ... 132 Unter den Belegen in der georgischen Überlieferung findet sich eine Darstellung der Reaktionen auf den Tod des Königs P’arsman K’ueli: მაშინ იქმნა გლოვა და ტირილი, და ტყება ყოველთა ზედა ქართველთა წარჩინებულითგან ვიდრე გლახადმდე. და იტყებდეს ყოველნი თავთა თჳსთა ყოველთა შინა ქალაქთა და დაბნებთა, რამეთუ დასხდიან მგოსანნი გლოვისანი, და შეკრბიან ყოველნი და აჴსენებდიან სიმჴნესა და სიქუელესა, და სიშუენიერესა და სახიერებასა ფარსმან ქუელისასა, და იტყოდიან ესრეთ: „ვაჲ ჩუენდა, რამეთუ მოგჳძინა (A 13) სუემან ბოროტმან, და მეფე ჩუენი, რომლისაგან ჴსნილ ვიყვენით მონებისაგან მტერთასა, მოიკლა იგი აცთა მგრძნებელთაგან, და აწ მივეცენით ჩუენ წარტყუენვად ნათესავთა უცხოთა.“ 133 129 Diesen Hinweis verdanke ich einem der Gutachter. Teile der schwer lesbaren Inschrift sind von Zereteli 1962 publiziert worden. Altheim/Stiehl 1961 = 1963 haben die poetische Formung erkannt. Jüngst haben sich Preud’homme 2019a, 592–95 und 2019b und Schleicher 2021, 70, 255–56, 287–98 mit der Inschrift beschäftigt; beide planen gemeinsam eine umfangreiche Neubefassung; vgl. einstweilen das working paper Preud’homme/Schleicher 2022; dort auch 24–27 zur Rolle des Pitiaxes. 130 BP 5.7 (Übers. N. Garsoïan) 131 BP 5.32 (Übers. N. Garsoïan) 132 Amm. Marc. 30.1.18: „Als ausgesuchte Delikatessen aufgetischt wurden und die weiten Hallen vom Klang der Saiteninstrumente, des Gesangs und der Blasinstrumente erfüllt waren, …“ Vgl. Preud’homme 2019a, 368. 133 Leben der Könige 53: „Then all the Georgians, from the most prominent to the poorest, made lamentation, weeping and mourning. They all mourned in all their cities and villages. The mgosanni

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In anderen mittelalterlichen Texten erscheinen mgosanni oft im Zusammenhang mit festlichen Anlässen, deren Beschreibung „has its roots in an older oral literature, from which it inherited a stock of epithets and situations.“ 134 Die Rolle des gōsān war demnach am parthischen, ebenso wie am armenischen und iberischen, später georgischen Hof verwurzelt. „The cumulative evidence suggests that the gōsān played a considerable part in the life of the Parthians and their neighbours, down to late in the Sassianian epoch: entertainer of the king and commoner, privileged at court and popular with the people; present at the graveside and at the feast; eulogist, satirist, story-teller, musician; recorder of past achievements, and commentator of his own times. … Some were evidently the laureates of their age, performing alone before kings.“ 135 Ihre Kunst übten sie mündlich aus. 136 Vielleicht haben sie dabei auch eine spezifische Kunstsprache kultiviert. Jedenfalls waren ihre Darbietungen in einem grundsätzlich ähnlichen kulturellen Milieu an verschiedenen Höfen geschätzt und verständlich, die alle in derselben iranischen Tradition standen. Als spezifische Formen des Umgangs mit der Vergangenheit waren diese Rezitationen von allen Ausprägungen griechisch-römischer Historiographie weit entfernt. 137 Ein römischer Statthalter oder seine Umgebung dürfte allerdings kaum zum Publikum der gōsān gehört haben. Deren Auftritte sind bei Begegnungen von Repräsentanten des Imperiums mit den regionalen Herrschern nicht bezeugt. Wenn von iranischer Tradition geprägte Könige in direkten Kontakt zu den Römern traten, haben sie wie etwa der Iberer Pharasmanes bei seinem Rombesuch unter Antoninus Pius durchaus eindrucksvolle folkloristische Darbietungen präsentiert. Aber die Rezitation durch gōsān ist weder erwähnt noch wegen der Sprachbarrieren plausibel. Analog sind die Verhältnisse auch bei den Begegnungen solcher Herrscher mit Vertretern des Kaisers im Osten. Wenn Römer also Porträts solcher Könige im einheimischen Kolorit zeichnen konnten, muss es Vermittlungsinstanzen gegeben haben. Man könnte an eine Art des Büchermarktes denken. Flavius Josephus hatte einen solchen Kommunikationsraum vor Augen, als er die ursprüngliche Form seiner Monographie über den Jüdischen Krieg auf Aramäisch verfasste 138 und an „Parther, Babylonier, Araber, Juden und Adiabener“ als

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glovisani (= mourning minstrels; vgl. Rapp 2014, 197) sat down; they all gathered and recalled the bravery and kindness, the beauty and goodness of P’arsman K’ueli. And they declaimed: ʿWoe to us, for evil fortune has found us; and our king, by whom we were delivered from subjection to enemies, has been killed by sorcerers; and now we have been given over to the ravages of foreign peoplesʾ“ (Übers. Thomson 1996, 63–64). Boyce 1957, 15–16 mit Belegen u.a. aus Amiran-Darejaniani (ამირან დარეჯანიანი) und Rust‘aveli. Boye 1957, 18 Boyce 1957, 32–36; Garsoïan 1989: 529 (mit weiterer Lit.) erläutert: „gusans were … the transmitters of the oral epic traditions.“ Vgl. für die Parther: Heil 2017, 259, allgemeiner Stickler 2021, 197–98. In der georgischen Forschung ist die wesentliche Rolle der gōsān für die einheimische Traditionsbildung erkannt worden, vgl. Preud’homme 2019a, 431 mit Hinweis auf Arbeiten von Pavle Ingoroqva in Anm. 2521. Die Transmissionskanäle können hier nicht untersucht werden. Zu dieser Version vgl. Gruen 2017, 224.

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potentielle Leser dachte. 139 Wenn man diese zufällig erhaltene Information nicht ohne Weiteres generalisieren darf, bleibt aber grundsätzlich festzuhalten, dass Angehörige des griechisch-römischen Kulturkreises hier gerade nicht genannt sind. Josephus hat, um sie zu erreichen, dann auch eine griechische Version vorgelegt. Überhaupt wäre es trotz der grundsätzlich vorhandenen Erkenntnis, dass Vertrautheit mit den kulturspezifischen Sitten herrschaftsstabilisierend sein kann 140, abwegig und anachronistisch damit zu rechnen, dass Statthalter wie Vitellius oder Mitglieder seines Stabes zur Vorbereitung auf ihre Aufgabe oder während der Amtszeit entsprechende Studien betrieben oder Performanzen der Einheimischen beobachtet hätten. 141 Wenn sie ein Bild einheimischer Herrscher vor Augen hatten, wie es die gōsān entwarfen, hat ihnen eine solche Darstellung in griechischer Sprache vorgelegen. Kulturaustausch in Edessa Niemand kann ausschließen, dass es einen anonymen Verfasser mit solchen speziellen Interessen gegeben hätte, der hier als Übersetzer und Kulturvermittler fungierte. 142 Sucht man aber nach einem Milieu, in dem solche Aktivitäten vor allem zu erwarten sind, fällt der Blick auf Edessa 143, eine Stadt, die „vom Hellenismus bis zum Hochmittelalter ein Brennpunkt der geistigen und politischen Auseinandersetzungen zwischen der hellenistisch-römischen und der iranisch-arabischen Welt“ gewesen ist. 144 Unter ihrem makedo-

139 Jos. BJ 1,1,3 und 1,1,6 140 Plin. nat. 6,141 überliefert als Beispiel für solche Aufklärung etwa die Mission des Isidor, den ad commentanda omnia in orientem praemiserit divos Augustus ituro in Armeniam ad Parthicas Arabicasque res maiore filio. („der göttliche Augustus mit dem Auftrag in den Osten vorausgeschickte hatte, alles zu erkunden, bevor sein älterer Sohn nach Armenien zöge, um sich um die parthischen und arabischen Angelegenheiten zu kümmern.“) 141 Tacitus (ann. 2,56,2) merkt es als Vorzug des Zenon/Artaxias an, dass er mit den Gebräuchen der Armenier bereits vertraut war, als er deren König wurde: favor nationis inclinabat in Zenonem, Polemonis regis Pontici filium, quod is prima ab infantia instituta et cultum Armeniorum aemulatus, venatu, epulis et quae alia barbaria celebrant, proceres plebemque iuxta devinxerat. („Die Gunst des Volkes neigte sich Zenon, dem Sohn des pontischen Königs Polemon, zu, weil der von früher Kindheit an mit den Armeniern in ihren Sitten und Gebräuchen wetteiferte und in der Jagd, bei den Gelagen und bei all dem anderen, was Barbaren zu begehen pflegen, sowohl die Adligen als auch das einfache Volk beinahe in den Schatten gestellt hatte.“) Was der Historiker hier als positives Qualitätsmerkmal für die Position eines Königs hervorhebt, war auch den zeitgenössischen Verantwortlichen in Rom sicher nicht unvertraut. Zugleich macht die abschätzige Bemerkung über das Barbarische dieser Lebensführung auch klar, eine wie hohe Hürde das römische Selbstbewusstsein für jede Form von kultureller Annäherung darstellte. 142 Zu denken wäre an Autoren wie den Armenierkönig Artavasdes (BNJ 678) und Apollodoros von Artemita (FGrHist 779 = BNJ 779), die einige Generationen früher als Historiker bezeugt sind. 143 Vgl. allgemein Kirsten 1959; Segal 1970; Drijvers 1977; Ross 2001; Greisiger 2009; Sommer 2018, 227–71. 144 Kirsten 1959, 552

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nischen Namen hat Seleukos I. die Stadt an der Stelle einer Vorgängersiedlung Adme 145 gegründet. Als Folge der Desintegration des Seleukidenreiches entstand hier eine eigene Königsherrschaft. 146 Grundsätzlich fließen die Quellen sowohl zur Ereignisgeschichte als auch zu den kulturellen Verhältnissen Edessas in der ersten Hälfte des ersten Jahrhunderts sehr spärlich. 147 Gleichwohl lassen sich einige markante Punkte vor allem mit Blick auf den König und seine Umgebung erkennen. Schon der Befund, dass sich die grundsätzlich weithin fiktive Abgarlegende 148 um Abgar V. Ukkâmâ, „den Schwarzen“, rankt, spiegelt bei allen Problemen im Detail eine starke, geschickt agierende und weithin vernetzte Persönlichkeit wider. Dieser Abgar hat jahrzehntelang geherrscht. Seine engen, wenn auch nicht exklusiven Beziehungen zu den Römern erhellen daraus, dass er es war, dem man im Jahre 49 die Betreuung des Meherdates, des römisch gestützten Prätendenten für den parthischen Thron, anvertraute. 149 Abgar (bei Tacitus Acbarus) konterkariert allerdings die römischen Pläne, indem er Meherdates längere Zeit an seinen Hof apud oppidum Edessam, „bei Edessa“, bindet und damit angeblich die erfolgreiche Formierung einer Front gegen dessen Herrschaft ermöglicht. 150 Zwar charakterisiert Tacitus Meherdates als iuvenem ignarum et summam fortunam in luxu ratum. 151 Gleichwohl darf man für den jungen Mann, der als parthischer Prinz im Römischen Reich mit allen Annehmlichkeiten vertraut war, voraussetzen, dass er sicher nicht per multos dies, „viele Tage lang“, hätte aufgehalten werden können, wenn Abgar nicht in der Lage gewesen wäre, eine ansprechende Umgebung zu organisieren. Die Episode zeigt, dass Edessa damals auch für einen mit allen Raffinessen der hellenistisch-römischen Welt vertrauten potenziellen Partherkönig attraktiv sein konnte. 152 145 Harrak 1992 146 Zu den Vorgängen jetzt grundlegend Luther 1999a; 1999b; 1999c. 147 Die von Ramelli 1999, 118 ausgesprochene Hypothese, bei den zur Spätzeit des Tiberius in Rom vorsprechenden Parthern Sinnaces und Abdus (Tac. ann. 6,2) handle es sich um Personen vom edessinischen Hof, hat wenig für sich. Ramelli verweist zwar darauf, dass Abdus‘ Name in der Umgebung des Königs Abgar bezeugt sei: Bei Euseb heilt Thaddäus/Addai nicht nur Abgar selbst, sondern auch dessen Höfling Ἄβδον τὸν τοῦ Ἄβδου, ποδάγραν ἔχοντα (hist. ecc. 1,13,18: „Abdos, den Sohn des Abdos, der an Gicht litt“). Im 7. Kapitel der Doctrina Addai heißt es von „Abdu Bar Abdu; er war einer der führenden Leute Abgars, die im Kabinett Abgars saßen“, genauer „der zweite Mann des Königreiches“ (14) (die Übersetzungen bei Illert); auch diese Quelle weiß von der Heilung der Gicht (10), die Abdu zum Christen machte (33–34; vgl. 65); vgl. noch Acta Mar Maris 5 und Ps.-Const. Porph. narratio de imagine Edessena 18. Bei Tacitus aber ist auffällig, dass er sich bei der Einführung der Gesandten erkennbar darum bemüht, diese etwas genauer vorzustellen. Wenn er von deren Verbindungen nach Edessa etwas gewusst hätte, hätte er diese relevante Information hier mitgeteilt. Für Abdus ist also mit einer Homonymie des parthischen Gesandten und des edessinischen Höflings, nicht mit einer Identität zu rechnen. 148 Frühe Zeugnisse sind insbesondere Eus. h.e. 1,13 und die Doctrina Addai; vgl. insgesamt jetzt Illert 2007. 149 Tac. ann. 12,12,2. 150 Tac. ann. 12,12,3. 151 Tac. ann. 12,12,3: „ein naiver junger Mann, der sein höchstes Glück im Luxus zu finden glaubte.“ 152 Vgl. Segal 1970, 12 und 32.

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Nach Darstellung in der Doctrina Addai 1 wandten sich die Gesandten Königs Abgars auf dem Weg zu Jesus im Jahre 32 zunächst an den römischen Statthalter. Auch wenn dessen Name Sabinus und die Amtsbezeichnung historisch nicht korrekt sind, spiegeln sich hier vielleicht Usancen, die nicht nur in der spätantiken Entstehungszeit der Schrift galten. 153 Hebräische Lehnwörter in syrischen christlichen Texten machen es zu einer ansprechenden Vermutung, dass die in der Doctrina Addai 5 überlieferte paulinische Missionsmethode als zuverlässige Information Teil der Traditionsbildung geworden ist. 154 Diese und weitere Aspekte der Doctrina Addai zeigen, dass diese Schrift Einblick in die Verhältnisse auch des ersten und zweiten Jahrhunderts gewähren kann. 155 In der ersten Hälfte des zweiten Jahrhunderts hat in Edessa eine armenische Dynastie geherrscht. 156 Aber gewiss hat es auch schon zuvor zumindest seit der Herrschaftsbildung des Tigranes im ersten vorchristlichen Jahrhundert lebhafte Kontakte nach Armenien und ein erhebliches Interesse an diesem Nachbarland gegeben. Wenn später der armenische Historiker Movsēs Xorenacʽi die Zuverlässigkeit seiner Darstellung auf edessinische Archive stützen will 157, zeigt sich unabhängig davon, wie es sich damit in seinem Werk wirklich verhält 158, zusammen mit anderen Befunden 159, dass Edessa früh vorzügliche und deswegen geschätzte Archive angelegt haben muss. Außerdem ergibt sich, dass deren Bestand auch Unterlagen über die Nachbarregionen wie Armenien umfasste. 160 Die armenischen Verhältnisse dieser Zeit sind aber so eng mit den iberischen verflochten, dass auch über letztere gute Kenntnisse in Edessa verfügbar gewesen sein müssen. Man darf

153 154 155 156 157 158

Dazu Segal 1970, 30. So Tubach 2015. Vgl. allgemein Sommer 2018, 254 Anm. 105. Kirsten 1959, 555. Movs. Xor. 2,20; 27. Ramelli 1999, 117 attestiert Movsēs mit Blick auch auf das erste Jahrhundert „esattezza cronologica“. Movsēs‘ Angabe bezieht sich aber auf einen weit und allgemein gehaltenen Zeitraum und wird mit der Nennung eines fiktiven römischen Statthalters Marinus gleich ad absurdum geführt. Natürlich bedeutet das nicht, dass in seinem Werk nicht gelegentlich zutreffende Nachrichten bewahrt sein könnten, aber methodisch ist darauf zu bestehen, dass das angesichts der vielen zum Teil grotesken Irrtümer und Verdrehungen immer erst gezeigt werden müsste und niemals einfach deswegen vorausgesetzt werden darf, weil es keine widersprechenden Quellen gibt. Vgl. zur Diskussion auch Wallraff 2006, 49 Anm. 20. 159 Archive sind für diese Zeit, aber eben im Kontext der Abgar-Legende bei Euseb. h.e. 1,13,5 direkt erwähnt. Segal 1970, 24–25; Sommer 2018, 234 Anm. 40 leitet plausible Details in späten Quellen ansprechend aus solcher Überlieferung ab. Luther 1999b, 448–453 kann in einer überzeugenden Interpretation einer Bemerkung bei Ps.-Dionysios von Tell-Maḥre zum Jahr 1960 nach Abraham zeigen, dass eine in die spätere Überlieferung eingegangene Königsliste in Zeiten angelegt worden sein muss, in denen das Wort māryā noch nicht für Gott als den „Herrn“ reserviert war, sondern wie im regionalen Umfeld sonst auch als Bezeichnung eines Dynasten verwendet werden konnte. Dieses Detail muss aus letztlich zuverlässiger wohl archivalischer Überlieferung stammen. 160 Wenn es das bei Movs. Xor. 2,66 genannte Werk des Bardaiṣan zur armenischen Geschichte wirklich gegeben hat, hat sich der edessinische Autor dafür auch auf in seiner Heimat aufbewahrte Quellen stützen können; vgl. Vetter 1893.

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also vielleicht annehmen, dass Traditionen aus diesen Nachbarländern in edessinischen Archiven ihren Niederschlag fanden. Allgemeine Überlegungen lassen darauf schließen, dass dort auch schon im ersten Jahrhundert Schulen betrieben und literarische Bildung gepflegt wurde. Hendrik Jan Willem Drijvers hat für die Zeit vor der Christianisierung hervorgehoben, dass „there must … have been schools and teachers at least for the upper class in society and for the merchants, since Edessa was an important city along the silk road to Asia and China. The first literary products written in Syriac and dating back to the second century C.E., point moreover to a longstanding literary tradition in the Edessene area, of which nothing is preserved.“ 161 Im 2. Jahrhundert herrschte damals ein intellektuelles Milieu, das auch einen „very intelligent man“ 162 wie Iulius Africanus, der zu den „Hellenized upper classes of the Roman Near East“ zählte 163, zeitweise sogar als Prinzenerzieher 164 nach Edessa an einen von „cosmopolitanism“ 165 geprägten Hof zog, von wo aus er durch eine Reise klärte, dass die Arche nach der Sintflut am Ararat nicht in Phrygien, sondern in Armenien („Parthien“) angelandet sei. 166 Dort lebte im späteren zweiten Jahrhundert Bardaiṣan von Kindheit an 167 in der Umgebung des Königs. 168 Die Verhältnisse haben Voraussetzungen, deren Wurzeln zumindest ins erste Jahrhundert zu datieren sind. Dann aber ist es signifikant, dass im Liber legum regionum aus Bardaiṣans Umgebung in der Diskussion um den freien Willen zwar in platonischer Tradition 169 νόμιμα βαρβαρικά herangezogen 170, die konkreten Beispiele aber aus einer Übersicht über Gesetze gewonnen werden, deren Horizont die gesamte damals bekannte Welt erfasst: Über 13 Kapitel geht der Autor die Bestimmungen bei den Serern (c. 26), den Brahmanen in Indien (c. 27), anderen Indern (c. 28), Persern (c. 29), Gelen (c. 30), Baktriern/Kuschanitern (c. 31), Rakamitern, Edessenern und Arabern (c. 32), Leuten von Hatra (c. 33), Griechen (c. 34), Germanen (c. 35), Britanniern (c. 36), Parthern (c. 37), Amazonen (c. 38) und Chaldäern (c. 39) durch. 171 Interessanterweise können hier auch Gesetze der Griechen subsu161 162 163 164 165 166 167

168 169 170 171

Drijvers 1995, 50; vgl. Illert 2007, 16. Wallraff 2007, XIII Adler 2004, 522 Afric. chron. T 88 p. 261 Wallraff; cest. F 12.20 Wallraff/Scardino/Mecella/Guignard. Vgl. Wallraff 2007: XIV. Wallraff/Scardino/Mecella/Guignard 2012, XIII Afric. In Sync. 22,6–10 Epiph. haer. 56,1,3 hält fest, dass er mit dem König aufgewachsen sei und dieselbe Bildung wie dieser genossen habe (ἐξοικειούμενος τὰ πρῶτα καὶ συμπράττων, ἅμα τε καὶ τῆς αὐτοῦ μετασχὼν παιδείας „von Anfang an dasselbe Verhalten gezeigt, mit ihm zusammengearbeitet und zugleich auch an seiner Bildung teilgenommen habe“). Indirekt wird damit dem Hof schon der vorigen Generation ein Niveau zugebilligt, wie es sich in Bardaiṣans Schrifttum spiegelt. Vgl. jetzt Ramelli 2009, deren Bemühen, Bardaiṣan als einen Proto-Origenes zu erweisen, wohl überzogen ist. Vgl. Dihle 1984. Vgl. Ramelli 2009, 56. Vgl. für eine deutsche Übersetzung mit Einleitung Krannich/Stein 2004.

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miert werden, die also nicht Maßstab, sondern nur eines von mehreren Beispielen sind. Die Barriere zwischen Griechen und Barbaren, die für die griechisch-römische Rezeption fremder Kultur so wesentlich war, gab es hier nicht. Anscheinend glaubte der Autor des Liber, bei seinem Publikum mit solchen Ausführungen auf Interesse zu stoßen. Für die philosophische Argumentation allein hätte sicher die Hälfte der Exempel ausgereicht. Offensichtlich ist aber auch, dass die Fülle der Beispiele nur gegeben werden konnte, weil entsprechende Informationen am Ort greifbar gewesen sind. Die globale Ausleuchtung lässt sich nicht allein durch die Handelsverbindungen von Edessa 172 erklären. Ohne darüber hinausreichende intellektuelle Neugier wäre das Material kaum unter solchen Fragestellungen gesammelt und aufbereitet worden. 173 Vielleicht nicht bis in dieselbe Breite und Tiefe aber doch grundsätzlich ähnlich dürfte sich das intellektuelle Umfeld schon im ersten Jahrhundert gezeigt haben. Dann aber ist es wahrscheinlich kein Zufall, dass L. Vitellius ebenfalls auf fremde Rechtsbräuche rekurriert, als er die Möglichkeit einer Ehe zwischen Onkel und Nichte im Interesse des Claudius durch den Verweis darauf rechtfertigt, dass solche Verbindungen andernorts formal möglich und nicht durch Gesetz verboten seien 174: Bei Vitellius in juristischem Zusammenhang 175, bei Bardaiṣan in philosophischen Diskussionen dienen kulturelle Unterschiede in Fragen gesellschaftlicher Ordnung als Argument dafür, weitere als die üblichen Gestaltungsspielräume für menschliches Handeln zugestehen zu dürfen. Beide können für ihre strukturell ähnlichen Argumentationen auf Anregungen zurückgegriffen haben, die im intellektuellen Milieu Edessas wurzelten, wo sehr verschiedene Traditionen gegeneinander ausbalanciert werden mussten.

172 Drijvers 1977, „Edessa liegt 85 km östlich des Euphrat-Übergangs von Birecik … an einem Knotenpunkt von Straßen, die es mit Nisibis und Singara im Osten und von dort mit Indien und China, ferner mit Armenien im Norden und mit den großen seleukidischen Städten im Westen verbinden.“ 173 Ein Gutachter vermisst im Liber legum regionum die Erwähnung von „Colchians, Iberians, Albanians and Armenians“; dieses Manko lässt ihn daran zweifeln, dass man in Edessa viel über den Kaukasus-Raum wusste. Doch ließe sich mit einer solchen Lücke nur dann argumentieren, wenn man in der Liste der besprochenen leges ein vollständiges Repertorium aller durchmusterten Regionen erwarten dürfte. Das ist aber gewiss nicht der Fall. Vielmehr ist vorauszusetzen, dass der Autor eigene, sachliche Auswahlkriterien hatte, über die hier nicht weiter zu handeln ist. Für die hier vorgetragene Argumentation erhellt der Liber die Weltläufigkeit der Diskussionen in Edessa und das Interesse an Gesittung und Kultur. Noch weniger mag der Einwand überzeugen, dass „even in the Armenian sources, the knowledge of neighbouring territories is often scarce“. Denn die Interessen eines Landes an Nachbarn und die diesbezüglichen Auswahlprinzipien seiner Literatur (und deren weitere Überlieferung) verhalten sich keineswegs spiegelbildlich. Der Hof in Armenien ist für das Verständnis der intellektuellen Vorlieben in Edessa insofern irrelevant. 174 Tac. ann. 12,6,3: at enim nova nobis in fratrum filias coniugia: sed aliis gentibus sollemnia neque lege ulla prohibita. („Allerdings Ehen mit Brüdertöchtern wären für uns etwas Neues: Aber bei anderen Völkern gibt es dafür Formen, und diese Ehen sind durch kein Gesetz verboten.“) Damit soll nicht behauptet werden, dass Tacitus hier Vitellius‘ Rede wörtlich referiert. Aber die Argumentation wird er in seinen Vorlagen gefunden haben. 175 Zu Vitellius als Juristen vgl. jetzt Buongiorno 2020, 72–77

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Augenfällig ist auch das dortige für Anregungen aus West wie Ost offene Interesse an Fragen eines Verständnisses der natürlichen Umwelt. Wie Africanus berichtet, war man in Edessa bestrebt, durch Experimente die Fluggeschwindigkeit von Pfeilen zu bestimmen 176: Die Beschäftigung mit diesem Objekt verweist eher auf parthische Traditionen, die Versuche und ihre Anlage knüpfen eher an griechische Wissenschaft an. Die Beteiligten selbst haben dabei vielleicht gar nicht unterschieden. Bardaiṣan, den Africanus „Parther“ nennt 177 und der der jüngeren Forschung fest in die griechische philosophische Bildung eingebunden scheint 178, verkörpert diesen Habitus: Er ist sogar γράφων τοξεύμασι καὶ τοξεύων γραφάς. 179 Bezeichnend ist auch, dass sein Kritiker Ephraem der Syrer ihm einerseits vorwirft, dass er seine Begriffe bei den Griechen stehle 180, ihn andererseits als einen „aramäischen Philosophen“ 181 tituliert. Für einen uomo universale wie Bardaiṣan und für seine Umgebung am Hof der Könige 182 von Edessa ist es leicht vorstellbar, dass sie den epischen Ausführungen eines gōsān lauschten und sich daran erfreuten. Sie kannten aber auch die Fragen und Genregewohnheiten der griechisch-römischen Ethnographie. Überhaupt lässt sich eine „souveräne Handhabung griechischer Genres und literarischer Konventionen durch Bardaiṣan und sein kulturelles Umfeld“ beobachten. 183 Es erscheint als sehr plausibel, dass in einer solchen Atmosphäre der von einem gōsān besungene Zweikampf von königlichen bumberazni im Stile einer griechisch-römischen Heldenaristie in eine Schlachtschilderung integriert wird 184, so dass eine Gesamtkomposition des Geschehens entsteht, wie sie Tacitus dann für seine Anliegen verwendet. Man hat feststellen können, dass „evidently, Greek cultural influence in early thirdcentury Edessa was not limited to mythology or Platonic philosophy, but also extended into the sphere of the belles lettres – even in Christian circles.“ 185 Vielleicht ist hier die

176 Afric. cest. F 12,20,3–24 p. 98–100 Wallraff/Scardino/Mecella/Guignard; vgl. Adler 2004, 535– 36 sowie mit anderer Fragestellung Meißner 1999, 260–61 mit Anm. 540. 177 Afric. cest. F 12,20,25 p. 100 Wallraff/Scardino/Mecella/Guignard: Βαρδησάνης ὁ Πάρθος 178 Tanasenanu-Döbler 2017 179 Afric. cest. F 12,20,43–44 p. 102 Wallraff: „mit Pfeilen malend, ein Gemälde mit Pfeilen schießend“ über Bardaiṣan. 180 S. Ephraim’s prose refutations of Mani, Marcion, and Bardaisan, transcribed from the palimpsest B.M. Add. 14623 ed. Mitchell, Bd. II 223, übers. CVI 181 S. Ephraim’s prose refutations of Mani, Marcion, and Bardaisan, transcribed from the palimpsest B.M. Add. 14623 ed. Mitchell, Bd. II 225, übers. CVI 182 Vgl. Adler 2004, 537–38 zu Africanus‘ Darstellung des edessinischen Prinzen auf der Jagd im Stile von Xenophons Kyrupädie. Jedesmal sind iranische und griechische Ideale zusammengefügt. 183 Tanaseanu-Döbler 2015, 59 Anm. 117 184 Preud’homme 2019a, 429 hat zwar mit Recht auf den Unterschied hingewiesen, dass die Kämpfe von bumberazni anders als beim Beispiel des Tacitus in den georgischen Quellen vom übrigen Schlachtgeschehen getrennt werden; vgl. oben S. 238, Anm. 59 Er hält diese Monomachie in den Annalen deswegen für „un épisode furtif“, verkennt damit, dass hier die Entscheidung fällt, und beraubt sich zugleich eines Ansatzpunktes für die Analyse der Überlieferungsverhältnisse. 185 Bremmer 1999, 27

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Breite der griechischen Bildung über- und Bardaiṣans Exzeptionalität unterschätzt 186, aber am Hof müssen Interesse an und Kenntnisse von sowohl der griechisch-römischen Welt als auch vom iranisch geprägten Osten außergewöhnlich weit gereicht haben. 187 Solche Expertise war Teil der lange erfolgreichen Strategie, sich zwischen den Großmächten zu behaupten. Die regelmäßigen Kontakte mit der römischen Macht produzierten hinreichend Anlässe, als Übersetzer zwischen den jeweils exotischen Welten zu fungieren. Fazit In Edessa herrschten dann die Voraussetzungen dafür, dass ein kaukasischer Bumberazi in einen Topos der griechischen Ethnographie versetzt wurde, wo er direkt dem Bedürfnis eines römischen Statthalters diente, die Darstellung seiner Tätigkeit den Erwartungen eines auch an Fremden interessierten Kaiserhofes unter Claudius angepasst aufzuputzen, und indirekt dem senatorischen Historiker Tacitus erlaubte, seine Kritik an den Imperatoren in neuer Beleuchtung zu bekräftigen. Alle haben sie dazu beigetragen, dass ein Stück einheimischer iberischer Überlieferung seinen Weg in die römische Geschichtsschreibung gefunden hat. 188 Literatur Adler, William: Sextus Iulius Africanus and the Roman Near East in the third century, in: JThS 55, 2004, 520–50. Alidoust, Fouad: Natio molestissima. Römerzeitliche Perserbilder von Cicero bis Ammianus Marcellinus, Mainz 2020. 186 So jetzt kritisch Healey 2007, der zwar warnt, dass „there is a danger of exaggeration of the hellenistic factor in early Edessa“ (107), aber immerhin zugesteht, dass es „hellenism“ in einem „very narrow circle associated with the court“ gegeben habe. Die im Folgenden genannten Momentaufnahmen lassen vermuten, dass der Kreis doch nicht ganz so klein gewesen ist. Healey korreliert Sprachverwendung und Stilformen zu eng mit einer Hellenisierung. Bezeichnend für zumindest Teile der politischen und intellektuellen Elite dürfte es gewesen sein, dass sie sich gleichermaßen in den östlichen und westlichen Traditionen zu bewegen wussten und im Einzelnen gar nicht auf die Provenienz achteten. 187 Ähnlich Tubach 2009, 311: „Die Fürstenfamilie, ehemalige arabische Beduinen, ist nicht nur aramaisiert, sondern auch hellenisiert und obendrein iranisiert. In eklektizistischer Manier übernahmen sie das Beste aus drei Welten, der aramäischen, griechischen und iranischen.“ 188 Die vorliegenden Überlegungen wurden als Beitrag zu dieser Festschrift für Burkhard Meißner verfasst. Als die Drucklegung sich lange verzögert hat, habe ich gerne die Möglichkeit genutzt, den Aufsatz auch in PHASIS zu veröffentlichen. Den Herausgebern sowohl der Festschrift als auch der Zeitschrift danke ich für ihr Verständnis und ihre Zustimmung. Großen Dank schulde ich auch den beiden sehr sorgfältigen anonymen Gutachtern im peer-review-Verfahren von PHASIS, deren Einwände und Ergänzungen ich für beide Fassungen berücksichtigt habe, auch wenn ich nicht allen Anregungen gefolgt bin.

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Die Anfänge der Universitäten in Europa: Vom Nutzen einer Institution zwischen Mittelalter und Moderne Stephan Selzer

Der Mittelalterforscher, der in diese Vortragsreihe eingeladen worden ist, 1 wird die Universität auf seine eigene Art begreifen wollen und sie daher in ihrer historischen Entwicklung zu beschreiben suchen. Doch in der aktuellen Hochschul- und Wissenschaftspolitik wird eine zeitliche Tiefendimension nicht sonderlich wertgeschätzt. Es sei denn, man hielte es für historischen Tiefgang, wenn Idee und Theorie der Universität in Gazetten und Talkshows unter den Parolen „Humboldt ist tot!“ oder wahlweise „Humboldt lebt!“ abgehandelt werden. 2 Überdies bleibt in solcherart geführten Reformdebatten 3 die deutsche Universitätsgeschichte vor Gründung der Berliner Friedrich-Wilhelms-Universität im Jahre 1810, mithin im aufklärerischen Göttingen, im pietistischen Halle, im jesuitischen Ingolstadt, im lutherischen Wittenberg, im mittelalterlichen Prag oder in Greifswald, Rostock, Leipzig, Köln, Erfurt, Tübingen und Heidelberg, völlig blass und scheint weitgehend aus den Augen verloren zu sein. 4 Doch sind die Spuren dieser immerhin sechs Jahrhunderte umspannenden Universitätsgeschichte vor 1810 durchaus noch sichtbar, hörbar und lesbar – und sie sollten uns, die wir der Universität verpflichtet sind, doch wohl verständlich bleiben. So hat es übrigens Thomas Ellwein (1927–1998), vielleicht mit Blick auf mürrische Senatssitzungen, zu unternehmen versucht, als er den Impuls zur Abfassung seines Werks „Die deutsche Universität. Vom Mittelalter bis zur Gegenwart“ folgendermaßen umriss: „Die folgenden Überlegungen und Illustrationen zur Universitätsgeschichte sind durch die Mitarbeit in der akademischen Selbstverwaltung angeregt. Dort wird oft aneinander vorbeigeredet und Unverständnis füreinander gezeigt. […] Dieses Buch will daran nichts ändern. Es ist ohne besondere Absicht aus der Erfahrung geschrieben, daß man in der Universität mehr 1 Der Text basiert auf einem Vortrag im Rahmen der Lunchtime-Lectures der Helmut-Schmidt-Universität/Universität der Bundeswehr Hamburg (im Folgenden: HSU) am 7. Dezember 2016, zu dem mich Carola Groppe und Burkhard Meißner freundlicherweise eingeladen hatten. Der Vortragsstil ist beibehalten worden, grundlegende Literatur wurde ergänzt. 2 So Mittelstraß 2008. Zu den Hintergründen siehe Schwinges 2001. 3 Vgl. Kintzinger/Wagner/Crispin 2018. 4 Siehe als Überblicke: Rüegg 1993–2011; Boockmann 1998; Müller 1990.

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voneinander und von dem Ort, an dem man arbeitet und in mancher Hinsicht auch lebt, wissen, daß dies nützlich sein und vor allem Spaß machen könnte.“ 5 In der Tat ist eine solche Verständigung bereits dann zu leisten, wenn in Selbstverwaltungsgremien einschlägige Begriffe wie Dekan, Fakultät, Magister, Immatrikulation, Venia legendi oder Rigorosum aufgerufen werden, die aus dem Latein, der gemeinsamen Universitätssprache Alteuropas, entlehnt sind und sogar in die neuesten, nach dem Hamburgischen Hochschulgesetz genehmigungsfähigen Studien- und Prüfungsordnungen der HSU gelangt sind. 6 Wenn am Beginn dieser lateinischen Begriffe und der aufzuzeigenden Kontinuitäten nicht die Antike, sondern das Mittelalter steht, liegt das nicht an der Eitelkeit des Epochenspezialisten, sondern an der Tatsache, dass die Universität als „eine europäische Erfindung im Mittelalter“ gelten muss. 7 Jedoch ist mit dem Gebrauch von alltäglichen Worten der mittelalterlichen Universitätsverfassung deren Gehalt oftmals nicht gleichgeblieben. Schon der Begriff der Universität, wie ihn das Mittelalter prägte, ist nicht deckungsgleich mit dem, was wir heute darunter verstehen. 8 Begonnen sei daher mit dem, was uns heute der Begriff Universität bedeutet und was er dem Mittelalter bedeutet hat: In der Bild- und Werbesprache von Pressestellen und Bildungsfunktionären wird Universität mit einem Ensemble von Gebäuden assoziiert, so wie es ja auch auf der Homepage der Helmut-Schmidt-Universität unternommen wird. 9 Präsidenten von wirklichen oder vermeintlichen Eliteuniversitäten verstehen das Wort wiederum anders, zumeist eher unspezifisch ,universal‘, weil nur an ihrer ‚Volluniversität‘ die Gesamtheit aller Wissenschaften (universitas litterarum) studiert werden könne. 10 Folgt man diesem Gedanken, dann ist die Universität der Bundeswehr solange keine wirkliche Universität, bevor sie nicht in eine Hamburger Gesamthochschule überführt worden ist – so der Traum der Hamburger Bildungspolitiker bei Gründung der Hochschule der Bundeswehr im Jahre 1973, der aus heutiger Sicht eher wie ein Albtraum wirkt. 11 Doch selbst, wenn es sich zukünftig so verhielte oder wenn im Sinne anderer Bildungsplaner, bisherige Ausbildungsberufe wie Altenpflege oder Kosmetik zu Studiengängen erhoben werden sollten, wäre die Herleitung der Worterklärung dennoch falsch. Denn universitas bezeichnete in der mittelalterlichen Rechtssprache einen freiwilligen Zusammenschluss von Personen durch coniuratio, d.h. die Bildung einer Genossenschaft durch „geschworene Einung“. Eine solche universitas, als freier paritätischer Zusammenschluss von Personen zu gegenseitigem Schutz und gegenseitiger Hilfe, besaß als Körperschaft das Recht, sich eigene Ordnungen und Statuten zu geben, eigenständige Gerichtsbarkeit auszuüben, sein Leitungsgremium frei zu wählen, Privilegienrechte zu erwerben und genossenschaft 5 6 7 8

Ellwein 1985, 9. https://www.hsu-hh.de/asv/pruefungsordnungen (31.01.2021). Das Zitat nach dem Titel von Müller 2003. Vgl. Walther 2009; Esch 1985. Zu allen folgenden Aspekten sind grundlegend die Studien von Classen 1983; Miethke 2004; Schwinges 2008b. 9 https://www.hsu-hh.de/studieninteressierte (31.01.2021), hier der Beginn vom „pageflow“. 10 Vgl. Rexroth 2011. 11 Zu den Planungen siehe: Ellwein/von Müller/Plander 1974, bes. 22–32.

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Die Anfänge der Universitäten in Europa

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liches Vermögen zu besitzen. 12 Wobei zu bedenken ist, dass universitas im Mittelalter zunächst ein allgemeines genossenschaftliches Bauprinzip für einen Personenverband meinte, weshalb der Begriff gerade nicht an das Feld der Studenten und Professoren exklusiv gebunden war. 13 Universitates waren und hießen auch Kaufleutegilden, Handwerkerzünfte, Heroldskollegien, Söldnerkompagnien und jede Stadtkommune, weshalb immer dann, wenn mit Universität eine Studenten- und Dozentengenossenschaft bezeichnet werden sollte, man erklärend beispielweise hinzufügen musste: universitas magistrorum et scholarium oder universitas studii Erfordensis. 14 Das vornehmste Zeichen der Rechtsfähigkeit einer solchen Korporation war ihr Siegel. Vor der Zeit einer Corporate Identity war es nämlich an Universitäten nicht ein modernes Logo, 15 sondern das Universitätssiegel, das für die Außenwirkung bestimmend war. 16 Deshalb könnte man es zu den grundsätzlicheren Versäumnissen der HSU rechnen, falls sie denn eine Universität ist oder sein will, dass nach Auskunft des Büros des Kanzlers „die Existenz eines Universitätssiegels […] nicht bekannt“ ist und man sich mit einem kleinen Bundesdienstsiegel behilft. 17 Wollte man hier Abhilfe schaffen, vielleicht aus Anlass einer Feier des 50jährigen Universitätsjubiläums im Jahre 2023, 18 könnte es in mittelalterlicher Sicht der Dinge naheliegen, den ideellen Universitätsstifter Helmut Schmidt ins Bild zu setzen – aber eben vielleicht nur aus einer solchen Perspektive des Mittelalters. 19 Die Orte nun, an denen seit dem 12. Jahrhundert zu beobachten ist, dass sich Körperschaften von Bildungsanbietern und Bildungsabnehmern im freien Entschluss zusammentaten und ein Siegel führten, sind allesamt Städte gewesen. 20 Denn aus einer noch so ehrwürdigen Benediktinerabtei (und mag sie eine noch so labyrinthisch-reiche Bibliothek besitzen wie in Umberto Ecos Roman „Der Name der Rose“) 21 entwickelte sich im Mittelalter gerade keine Universität. 22 Es waren Bologna und Paris, wo erstmals, Lehrende und Lernende gemeinsam oder die Studenten allein, eine Körperschaft bildeten, die sich gegen die Zumutungen anderer durch innere Einigkeit und nach außen sichtbarer Geschlossenheit abzusichern suchten. Beim weitgehenden Fehlen von Universitätsgebäuden 23 war dabei die schärfste Waffe eines solchen Personenverbands seine Mobilität, die seiner Drohung mit zeitweisem Abzug oder dauerhafter Verlegung der gesamten Universität, dem Exodus der Gelehrten in eine andere Stadt, hohe Glaubwürdigkeit sicherte, so 12 13 14 15 16 17 18 19 20 21 22

Dazu grundlegend Michaud-Quantin 1970. Vgl. Black 1984. Vgl. Oexle 1985. Zu Erfurt siehe Gramsch 2012. Vgl. Blecher 2007; Alvermann 2006. Vgl. Rexroth 2007; Boockmann 1986, hier 569–74. E-Mail des ständigen Vertreters des Kanzlers vom 22. November 2016. Vgl. allgemein: Kintzinger/Wagner/Füssel 2019. Vgl. allgemein Stieldorf 2010; Borgolte 1985. Vgl. Rexroth 2018a, bes. 43–77. Der Gedanke nach Esch 1985, 96. Zur mittelalterlichen Bildungsgeschichte allgemein siehe Gramsch 2019; Kintzinger 2003; Hammerstein 1996. 23 Siehe als ersten Überblick Wagner 2018a.

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etwa wirksam 1229 beim Abzug aus Paris, 1409 beim Exodus von Prag nach Leipzig oder 1948 beim Verlassen von Ost-Berlin in Richtung des freien Westens. 24 Eine umzugswillige Bundeswehruniversität wäre zweifellos für jeden städtischen Kämmerer, ob in Ahrensburg, Buxtehude oder Celle, ein Geschenk des Himmels. Aber man merkt sofort, dass einem solchem Gedankenspiel vom Exodus der Unzufriedenen, wie im Mittelalter, in der heutigen Realität eine ganze Menge, darunter die ortsfeste Ausstattung der Universität, im Wege steht. Die ersten Zusammenschlüsse zu Universitäten in Paris und Bologna folgten dabei keinem Rahmenplan, sondern begannen spontan, liefen mehrschrittig ab und können als sich institutionalisierende Reaktionen auf wiederkehrende alltägliche Probleme verstanden werden. 25 Arnold Esch meinte, „wie eine Hornhaut dort, wo es scheuert“, 26 entstand die Institution Universität dort, wo es gravierende Rechtsprobleme gab. Diese rechtlichen Zumutungen entstanden strukturell dadurch, dass Auswärtige dem Lehrbetrieb zuzogen: „aus Liebe zur Wissenschaft heimatlos geworden“ (amore scientie facti exules) heißt es in der berühmten Scholaren-Urkunde Authentica Habita Kaiser Friedrich I. Barbarossa aus dem Jahre 1155/1158. 27 Anders als Einheimische und Kleriker waren diese zugereisten Lehrer und Schüler sowohl auf ihrem Reiseweg als auch am Lehr- und Lernort ohne wirksamen rechtlichen Schutz. Da sie am Ort ihrer Bildungseinrichtung keine Stadtbürger waren, hatten sie nicht einmal ein gesichertes Aufenthaltsrecht. Darum forderten die Universitätsgenossen vor allem Rechtssicherheit, und vieles war hierbei zu erkämpfen: 28 Für die Schulden eines Landsmannes sollte kein Universitätsangehöriger haften müssen; jeder sollte berechtigt sein, verbotene Bücher zu lesen und über sie zu disputieren; den zünftischen Arbeitszeitregelungen sollten Studenten nicht unterworfen werden. Denn wer studierte, ließ sich damals von einer Verwaltung seine ,Workload‘ nicht vorschreiben, wer den Liber Extra studierte, dem war nicht in einer Modulbeschreibung vorgerechnet, dass er dafür 23,5 Arbeitsstunden aufwenden müsse. Aber es ging noch durchaus banaler: So konnten Universitätsmitglieder beispielsweise Nahrungsmittel zu gemilderten Zollsätzen einführen, weshalb in Leipzig für sie das begehrte Naumburger Luxusbier preiswerter als für die Bürger zu genießen war. 29 Heute haben nicht nur solche Erleichterungen mit Suchtpotential, sondern grundsätzlich alle Privilegien als Sonderbehandlungen einen schlechten Ruf. 30 Wo sie bestehen, will man sie schleunigst beseitigen oder abschneiden wie alte Zöpfe. Doch muss man wissen, dass es in der Welt des Mittelalters üblich war, dass Privilegien nicht allgemeingültig, sondern an Gruppenzugehörigkeiten gebunden waren. Und Lehrende und Studenten waren eben nicht Bürger der Stadt, sondern Genossen der Universität. Zu akade24 25 26 27 28 29

Vgl. z.B. Schmidt 2012. Siehe dazu am Beispiel von Rostock Wagner 2018b. Für Leipzig siehe Sembdner 2010. Esch 1985, 103. Vgl. Stelzer 1978. Vgl. allgemein: Gilli/Verger/Leblévec 2007. Vgl. Bünz/Rudersdorf/Döring 2009. Zu den Einzelheiten siehe Bünz/Sembdner 2018, hier 299–304. 30 Die folgenden Überlegungen nach Boockmann 1998, 17–23.

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mischen Neubürgern wurden die Neuankömmlinge dabei durch den feierlichen Akt der Immatrikulation, 31 durch das Einschreiben ihres Namens als jüngsten Eintrag in die seit Bestehen der Universität geführten Matrikelbücher, wovon das genehmigte Immatrikulationsformular als erstes Blatt in der Studentenakte der HSU nur noch einen schwachen Abglanz bietet. Mit ihrer Einbürgerung erwarben die Neustudenten nicht nur Rechte, sondern sie unterwarfen sich zugleich der Gerichtsbarkeit des Rektors, weshalb an alten Universitätsorten ein Universitätsgefängnis, der Karzer, oftmals noch zu besichtigen ist. 32 Denn akademische Freiheit schloss damals einen vom Zugriff anderer Gewaltträger gefreiten Raum ein, umfasste einen Rechtsbezirk, der von anderen Ordnungsmächten ohne Erlaubnis nicht betreten werden durfte. 33 Davon blieb bis ins 20. Jahrhundert ein gefühlter Sonderstatus, der in den Jahren um 1968 reflexartig in der Forderung „Keine Polizei auf den Campus“ 34 aufschien und aus dem der Gründungsausschuss der Hamburger Universität der Bundeswehr im Jahre 1972 die Notwendigkeit herleitete, dass das Gelände der HSU nicht zu behandeln sei wie jeder x-beliebige Kasernenhof, sondern dass vielmehr grundsätzlich und dauerhaft sicherzustellen sei, dass „das Betreten des Hochschulgeländes tagsüber jedermann gestattet ist“. 35 Ungefähr zur selben Zeit wurde an den bundesrepublikanischen Universitäten die aus den Gerichtsfunktionen hergeleiteten Herrschaftszeichen des Rektors den Universitätssammlungen überwiesen: Amtstracht und Universitätszepter. 36 Bei der Neugründung der TU Braunschweig hatte man im Jahre 1952 noch Talare und Zepter anfertigen lassen. 37 Daran war zwanzig Jahre später in Hamburg nicht mehr zu denken, weil den Beteiligten an der Gründungsvorbereitung der HSU die an den benachbarten Universitäten praktizierten studentischen Kritikformen recht präsent waren. Bekanntlich wurde 1967 in Hamburg „Unter den Talaren – der Muff von 1000 Jahren“ vermutet, 38 was bezogen auf die Entstehung der Universität im Mittelalter ein Rechenfehler gewesen wäre, jedoch vor allem auf die zwölf Jahre des „1000jährigen Reiches“ anspielen sollte. 39 In Kiel wurde 1968 die feierliche Rektoratsübergabe dadurch szenisch verspottet, dass Zepter und Barett auf einer Performance kurzerhand durch Stahlhelm und Klobürste ersetzt wurden. 40 Wer hätte also damals im Gründungsausschuss der HSU und wer wollte heute solche Insignien für unsere Universität fordern, vielleicht im mittelalterlichen Sinne ein Universitätszepter mit einem Bild der Heiligen Ursula oder des Heiligen Johannes – oder besser als 31 Siehe zum Quellenmaterial Matschinegg 2004; Schuh 2018. Zum Ritual der Aufnahme siehe allgemein Füssel 2006. 32 Am Beispiel von Göttingen siehe dazu Boockmann 1998, 23f. Vgl. allgemein Füssel 2005. 33 Vgl. Schwinges 2008a. 34 Boockmann 1998, 23. 35 Ellwein/von Müller/Plander 1974, 41. 36 Vgl. Füssel 2018. 37 Vgl. Boockmann 1986, hier 575. Grundlegend zu den Zeptern ist weiterhin Paatz 1979. 38 Vgl. Nicolaysen 2012. 39 Vgl. Boockmann 1998, 7f. 40 Siehe die Abbildung bei Bichow 2015, 626.

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subtile Ehrerweisung nicht an himmlische Schutzmächte, 41 sondern an den Parteienproporz, beide zusammen. 42 Indes ist das so lächerlich vielleicht gar nicht, denn ein Blick auf die Schwesteruniversität in München, der wir ja gerne hinterherlaufen, zeigt zumindest, dass dort Talare bei den Absolventen betriebswirtschaftlicher Kooperationsstudiengänge wieder in Mode zu kommen scheinen. 43 Doch zurück ins spätere Mittelalter: Nach den erfolgreichen Anfängen in Bologna und Paris war schnell klar, dass die organisierte Genossenschaft den Erfolg der Universität ausmachte und sicherte. 44 Einen Hinweis darauf liefert der Versuch Kaiser Friedrichs II. im Jahre 1224 in Neapel eine Schule mit universitätsgleicher Lehre, aber nicht als Universität zu errichten. Gedacht war an eine Hochschule, die staatlich durchfinanziert und deshalb angeleitet-kontrolliert in hierarchische Befehlsketten eingeordnet war. 45 Offenbar ging es dem Kaiser um etwas, was heutigen Hochschulplanern ebenfalls naheliegt, nämlich um den Versuch, akademische Berufsbildung und staatliche Planung so eng wie möglich zu verzahnen. Doch wurde dieser erste Versuch einer universitätsgleichen Anstalt an kurzer Leine nicht wiederholt, als der Luxemburger Karl IV. im Jahre 1348 in Prag die erste Universität im Reich nördlich der Alpen stiftete. 46 Damit sind wir bei den mittelalterlichen Universitäten einer zweiten und dritten Welle angekommen, bei deren Gründung, wie bei ,Franchiseunternehmen‘ heute, die Bauprinzipien der älteren Universitäten übernommen werden konnten. 47 Diese neuen Universitäten galten dabei als ein studium generale. 48 Das klingt für uns angenehm vertraut, hört sich an wie EGA und ISA, meint aber durchaus etwas anderes als den Umstand, dass beispielsweise ein Maschinenbauer einmal eine Geschichtsvorlesung hören sollte. 49 Denn im Gegensatz zu einem studium particulare bedeute ein Generalstudium ein allgemeines Studium, wo jedermann, gleich welches Standes oder welcher Herkunft, studieren konnte und wo die verliehenen Grade überall in der abendländischen Welt galten. Das nämlich folgte aus dem Rang als studium generale praktischerweise: Die Prüfungen und alle akademischen Grade galten in der gesamten Christenheit, weshalb bei der Gründung ein Privileg einer oder beider Gewalten notwendig war, deren Entscheidungen eine die abendländische Christenheit umfassende Geltung beanspruchen konnten, also von Kai41 Vgl. Wagner 2018c. 42 Diese tagesaktuelle Anspielung ist vom Gang der politischen Entwicklung bereits überholt und deshalb unverständlich geworden. Sie wurden dennoch nicht gelöscht, als interessantes Beispiel für das Spannungsverhältnis zwischen universitären Strukturen längerer Dauer und einer Politik der Atemlosigkeit. 43 Siehe Mit Talar und Management-Know-how in die zivile Wirtschaft. Gemeinsame Feier für die erfolgreichen Absolventen und die neuen Studenten 2016, 37. 44 Vgl. Rexroth 2002. 45 Vgl. Stürner 2011. 46 Vgl. Rexroth 1992. 47 Zur dritten Welle der Universitätsgründungsgeschichte siehe Schubert 1978. 48 Die folgenden Aspekte nach Boockmann 1998, 13f. 49 Zur Grundidee des mittlerweile in der Praxis stark abgenutzten EGA-Gedankens siehe Ellwein/von Müller/Plander 1974, 24–26.

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ser und/oder Papst (Abb. 1). Zwischen solchen als studium generale privilegierten Universitäten gab es deshalb im Mittelalter wenig Probleme der Harmonisierung oder Anerkennung von Studienleistungen und -prüfungen. 50 Daher wirkt eine licentia ubique docendi des Mittelalters internationaler als heute, wo eine Habilitation der Universität Hamburg schon einige Kilometer östlich der Alster an der Jenfelder Au nicht dazu berechtigt, unabhängig von einer Berufung oder einem Lehrauftrag an der HSU unterrichten zu dürfen, 51 und wo eine Auslandsstudienleistung (anders als ich es noch in meinem eigenen Studium erlebt habe) nicht einfach von einem Dozenten des betreffenden Studienfachs anerkannt werden darf. Dank der gemeinsamen Sprache Latein, der Einheitlichkeit der Studienprogramme, des Prüfungssystems sowie der akademischen Grade war es im Mittelalter wohl sogar praktisch leichter, sein Studium an einer Universität, meistens der nächstgelegenen, zu beginnen und sie an einer zweiten, dritten oder beliebigen anderen fortzusetzen und abzuschließen. 52 Die päpstlichen und kaiserlichen Gründungsprivilegien sollten solche wandernden Interessenten anlocken und für die jeweilige Universität nicht nur durch ihren Inhalt, sondern auch durch ihren Schauwert werben. 53 Das ist eine interessante und nicht gering zu schätzende repräsentative Funktion, der die Gründungsurkunde der HSU vom 3. Oktober 1972 nicht mehr genügt. An diesem „Abkommen über die Errichtung einer wissenschaftlichen Hochschule für Soldaten der Bundeswehr in Hamburg“ 54 ist zudem bemerkenswert, dass eine Abbildung schwer zu beschaffen ist, weil man ein Gedächtnis der Institution, nämlich ein Universitätsarchiv, 55 schmerzlich vermisst (Abb. 2). Doch wirbt die HSU selbstverständlich, wenn auch anders, für ein Studium in Hamburg. Ein neuerer Flyer zeigt dabei reichlich Menschen (Abb. 3). 56 Er wirkt damit bei flüchtigem Blick ähnlich wie Darstellungen des Vorlesungsbetriebes im Mittelalter, beispielsweise die sehr häufig reproduzierte Miniatur aus dem Berliner Kupferstichkabinett, die aus einer etwa um 1380 entstandenen Handschrift des Liber ethicorum stammt und den Verfasser Henricus d’Allemania an seiner Wirkungsstätte, einem Hörsaal der Universität von Bologna, darstellen will (Abb. 4). 57 Solche mittelalterlichen Schüler-LehrerBildnisse sind bestimmt von der Idee einer Gemeinschaft des Lehrers mit seinen Schülern und erwarten eine Wissensvermittlung durch mündlichen Austausch in Präsenz. 58 Kon50 51 52 53 54 55 56 57 58

Zur Habilitation im Mittelalter und den damit verbundenen Rechten siehe: Schwinges 2007. Vgl. Schubert 1993. Vgl. Moraw 1993. Vgl. Weber 2004; Rexroth 2018b. Eine Vorlage stellte mir die Pressestelle der HSU am 21. November 2016 zur Verfügung, wofür dem Leiter Dietmar Strey herzlich gedankt sei. Zu möglichen Gründen für den Verschluss solcher Dokumente siehe Stieldorf 2017. Vgl. z.B. Hartwig 2010. Entscheiden gut – gut Entschieden. Folder-HSU E-Book, hg. vom Präsidenten der Helmut-SchmidtUniversität/Universität der Bundeswehr, Hamburg 2013. Zum Beispiel bei Ellwein 1985, 24 Abb. 3, ohne Nachweis im Abbildungsverzeichnis. Zu den Hintergründen der Szene siehe z.B. Boockmann 1986, 577 und 583 Abb. 24. Vgl. Miethke 1990.

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Abb. 1: Privileg König Maximilians I. zur Errichtung der Universität Wittenberg 6. Juli 1502.

rad von Megenberg etwa spricht von einer communicatio personarum, die keine hierarchische Gesprächssituation sein, sondern nur einen Unterschied in der Erkenntniskompetenz zulassen sollte. 59 So gesehen fällt am Werbematerial der HSU doch auf, dass in den dargestellten Szenen ein Menschenschlag fehlt. Denn selbst bei der Darstellung von Lehrveranstaltungen wird dafür gesorgt, keine Professorinnen oder Professoren ins Bild zu rücken. Eine Gemeinschaft von Lernenden und Lehrenden wird von der HSU-Werbung also gerade nicht gezeigt – und der Grund ist wohl nicht, dass es solche Gemeinschaften an unserer Universität nicht mehr gibt, sondern im Sinne eines kundenorientierten Werbedesigns soll offenkundig der Zielgruppe der Anblick ergrauter und langweilig wirkender Personen erspart bleiben. 60

59 Vgl. Kintzinger 1998. 60 Siehe zur Gelehrtendarstellung im Mittelalter von Hülsen-Esch 2006.

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Abb. 2: Abkommen über die Errichtung der Hochschule der Bundeswehr Hamburg 1972.

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Abb. 3: Vorlesungsszene HSU in der Wahrnehmung der Pressestelle.

Es gehört zu den rezeptionsgeschichtlichen Aspekten der mittelalterlichen Universität, dass häufig dann, wenn es der deutschen Universität schlechtging, sich Mediävisten, gebeten oder ungebeten, zu Wort meldeten und auf die aus dem Mittelalter kommenden Traditionslinien verwiesen. 61 Als im Jahre 1934 in Deutschland die universitäre Steuerung von der akademischen Selbstverwaltung auf das Führerprinzip umgestellt wurde und viele seiner Fachkollegen („Kollegengesindel“) zu dieser Umformung „das Weihrauchfaß schwenkten“, 62 veröffentlichte Gerhard Ritter (1888–1967) eine Geschichte der Heidelberger Universität im Mittelalter und betonte die aus der alten Korporation fortwirkenden akademischen Freiheitsrechte. 63 Bei der 550-Jahrfeier der Heidelberger Universität im Jahre 1936 war er deshalb als Redner unerwünscht. 64 Im Jahre 1956 hielt Herbert Grundmann (1902–1970), gebürtiger Sachse, aber damals schon westdeutscher Professor und Präsident der Monumenta Germaniae Historica in München, in Jena und Leipzig einen Vortrag zum Thema „Vom Ursprung der Universität im Mittelalter“. 65 Er sprach in einem Moment, als in der sogenannten 2. Hochschulreform die Universitäten und Wissenschaften

61 62 63 64 65

Vgl. Wieland 2002. Cornelißen 2001, 238 und 387. Ritter 1936 (ND 1986). Cornelißen 2001, 262–66. Vgl. auch Fouquet 2007. Grundmann 1964.

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Abb. 4: Vorlesungsszene Bologna (Berliner Kupferstichkabinett, 1380, Handschrift des Liber ethicorum von Henricus d’ Allemania).

der DDR auf Parteilinie gebracht wurden. 66 Grundmann beschrieb damals die autonome Entstehung der Universität im Mittelalter und folgerte durchaus selbstkritisch: „Sie ist gewiß nicht immer in der Folgezeit in unbehelligter und mutiger Unabhängigkeit ihren Weg gegangen, allzu oft durch die Jahrhunderte nicht. Aber in ihrem Ursprung und Wesen ist sie auf unabhängiges Denken, Forschen und Lehren gerichtet. Sonst bestünde sie nicht. Dieser historische Befund ist des Nachdenkens wert auch in unserer Gegenwart, auch für das wahre Verständnis unserer geschichtlichen Wirklichkeit überhaupt, auch für unser rechtes Verhalten in ihr.“ 67 In den 1990er Jahren schrieb Hartmut Boockmann (1934–1998), als er als Aufbauhelfer aus dem Westen an der Humboldt-Universität forschte und lehrte, ein posthum veröffentlichtes Buch über „Wissen und Widerstand. Geschichte der deutschen Universität“. Darin bemerkt er beiläufig die List bzw. Dialektik der Geschichte, durch welche die Berliner Universität den Humboldtschen Idealen zwar lange Zeit als Friedrich-Wilhelms-Universität, aber gerade nicht mehr nach ihrer Umbe66 Der Zusammenhang hier nach Boockmann 1998, 9–11. 67 Grundmann 1964, 65.

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nennung in Humboldt-Universität folgen konnte, und es viele, als sie es nach dem Ende der DDR wieder hätte tun können, schon zur Mitte der 1990er Jahre nicht mehr wollten. 68 Die Absicht dieses knappen Versuchs ist es gerade nicht, sich in diese Traditionslinie zu stellen. Denn über den direkten hochschulpolitischen Nutzen solcher Interventionen wird man, wie der eingangs zitierte Thomas Ellwein, eher skeptisch urteilen müssen. Niemand wird erwarten, dass Hochschulpolitiker durch Vorträge und Aufsätze zur Universitätsgeschichte des Mittelalters klüger für ein nächstes Mal, geschweige denn weise für immer werden. 69 Dennoch aber nimmt der Mittelalterforscher eine solche Gelegenheit gerne wahr. Wenn er auch gerade nicht dazu neigt, seine Möglichkeiten zu überschätzen, freut er sich doch, in die Situation zu kommen, in einer Ringvorlesung oder eine Kollegenfestschrift, die beide noch vieles von der klassischen Welt des Studiums enthalten, dem Jubilar sowie allen Bürgerinnen und Bürger der Universität auf seine Weise alles Gute für die Zukunft zu wünschen. Literatur Alvermann, Dirk: Die Siegel der Universität Greifswald 1456–2006. Vom urkundlichen Beglaubigungsmittel zum Logo, in: Pommern. Zeitschrift für Kultur und Geschichte 44,1, 2006, 48–52. Bichow, Stefan: „Verfolgung und Ermordung der Universitätswürde 1968“. Die Studentenproteste an der Christian-Albrechts-Universität, in: Oliver Auge (Hrsg.): Christian-Albrechts-Universität zu Kiel. 350 Jahre Wirken in Stadt, Land und Welt, Hamburg/Kiel 2015, 622–36. Black, Anthony: Guilds and civil society in European political thought from the twelfth century to the present, London 1984. Blecher, Jens: Die Siegel der Universität Leipzig. Bedeutung, Symbolik und Siegelführung vom 15. bis zum 20. Jahrhundert, in: Archivalische Zeitschrift 89, 2007, 369–405. Boockmann, Hartmut: Ikonographie der Universitäten. Bemerkungen über bildliche und gegenständliche Zeugnisse der spätmittelalterlichen deutschen Universitäten-Geschichte, in: Johannes Fried (Hrsg.): Schulen und Studium im sozialen Wandel des hohen und späten Mittelalters, Vorträge und Forschungen 30, Sigmaringen 1986, 565–99. Boockmann, Hartmut: Wissen und Widerstand. Geschichte der deutschen Universität, Berlin 1998. Borgolte, Michael: Die Rolle des Stifters bei der Gründung mittelalterlicher Universitäten, erörtert am Beispiel Freiburgs und Basels, in: Basler Zeitschrift für Geschichte und Altertumskunde 85, 1985, 85–119. Bünz, Enno, Rudersdorf, Manfred, Döring, Detlef (Hrsg.): Geschichte der Universität Leipzig 1409–2009, Bd. 1: Spätes Mittelalter und Frühe Neuzeit 1409–1830/31, Leipzig 2009. 68 Boockmann 1998, bes. 14f. und 26f. 69 Vgl. Mittelstraß 1994.

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Die Anfänge der Universitäten in Europa

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Weise für immer? Vom Lernen aus der Geschichte und seinen Fallstricken* Bernd Wegner

„When will we ever learn?“ — Pete Seeger, „Where have all the flowers gone?“ (1955), Refrain — „Man lernt aus der Geschichte nicht, was man tun soll, aber man kann aus ihr lernen, was man bedenken muss.“ — Richard von Weizsäcker 1 — Die Forderung, – doch endlich! – aus der Geschichte zu lernen, ist so inflationär wie die Behauptung, dass man leider nichts aus ihr lerne, womöglich gar nichts aus ihr lernen könne. Seltener, aber gerade in der bundesdeutschen Gegenwart immer wieder anzutreffen ist auch die Beteuerung, dass man schließlich doch aus der Geschichte gelernt habe, – eine Behauptung, die sich so gut wie immer auf das Erbe des Nationalsozialismus bezieht und sich leider leicht dem Verdacht der Selbstzufriedenheit aussetzt. 2 Dass die Historie tatsächlich irgendwelche Lehren bereithalte, scheint aber in der Tat die Auffassung der allermeisten Deutschen zu sein: Im Jahr 2017 erachteten laut einer repräsentativen Umfrage nicht weniger als 95 Prozent von ihnen den schulischen Geschichtsunterricht als wichtig, und 92 Prozent sogar in der ausdrücklichen Erwartung, aus ihm „Lehren für die Gegenwart“ ziehen zu können. 3

* Für kritische Lektüre und Kommentierung einer früheren Fassung danke ich Jean-Paul Cahn (Paris), Michael Jonas (Hamburg), Holger Bartel (Dassendorf), Rüdiger Lorenz (Gießen) und Peter Scherhans (Offenburg). 1 Weizsäcker 1985. 2 Ohne sich diesem Verdacht auszusetzen, wies etwa Heinrich August Winkler in einem Vortrag darauf hin, die Deutschen hätten „aber doch einigen Grund zu der Feststellung, dass sie in der zweiten Nachweltkriegszeit, anders als in der ersten, gelernt haben, selbstkritisch mit ihrer Geschichte umzugehen.“ Vgl. Winkler 2017. 3 Koerber-Stiftung 2017. Gleiches suggeriert auch der Untertitel des ansonsten klugen Buches von Aleida Assmann.

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Wie immer auch die Frage nach dem Lernen aus der Geschichte gestellt, wie immer sie beantwortet worden ist, – kaum ein Historiker, der auf sich hält, ist ihr ausgewichen. Auch ungezählte Philosophen, Dichter und Essayisten, Bildungstheoretiker und Politiker haben sich mit ihr beschäftigt. Die jeweiligen Gründe und Motive waren und sind dabei vielfältig. Geht es den Einen darum, die Unverzichtbarkeit von ‚Geschichte‘ als Schul- oder Studienfach zu begründen, üben sich Andere in volkspädagogischen Ermahnungen, während wiederum Andere unter Bezug auf angebliche Lehren der Geschichte ihre politischen Meinungen zu veredeln suchen. 1996 stand gar der ganze 41. Deutsche Historikertag unter dem Leitgedanken „Geschichte als Argument“. Angesichts der gar nicht überschaubaren Fülle von Stimmen zum Thema können nachstehende Überlegungen naturgemäß keine Originalität beanspruchen, vielleicht aber für ein wenig Klarheit sorgen. Uns soll deshalb zunächst die Frage beschäftigen, was wir eigentlich meinen, wenn vom Lernen aus der Geschichte die Rede ist, bevor wir einige Fallstricke präsentieren, über die nur allzu leicht stolpert, wer aus der Geschichte lernen zu können glaubt. Schließlich wird in einem dritten Schritt zu skizzieren sein, warum und unter welchen Bedingungen die Beschäftigung mit der Geschichte vielleicht doch hilfreich sein mag, wenn es um Probleme der Gegenwart geht. I. Dass die Frage, ob und ggf. was aus der Geschichte zu lernen sei, so viele und so unterschiedliche Antworten gefunden hat, ist kein Zufall. Viel nämlich hängt davon ab, wie die Frage gestellt und wie sie verstanden wird. So liegt auf der Hand, dass die resignierende Behauptung, die Menschheit lerne nichts aus der Geschichte, etwas ganz Anderes meint als die viel weitergehende These, wonach man aus ihr gar nichts lernen könne. Während erstere nämlich in der Regel mit einer zumindest impliziten Klage über die Uneinsichtigkeit der Menschen einhergeht, bietet letztere den so Gescholtenen insofern eine geradezu perfekte Rechtfertigung, als sie die Möglichkeit des Lernens als solche von vornherein negiert. Von schillernder Mehrdeutigkeit sind indes nicht nur die Phrasierung der Frage und der Antwort auf sie, sondern auch der darin mitschwingende Geschichtsbegriff. ‚Geschichte‘ meint ja nicht notwendigerweise die Gesamtheit menschlicher Vergangenheit, sondern je nach Sprechkontext oftmals etwas sehr Unterschiedliches und leider bisweilen auch etwas sehr Undeutliches. Nehmen wir als Beispiel den berühmt gewordenen Satz: „Die Weltgeschichte ist das Weltgericht.“ Das einem Gedicht Friedrich Schillers entstammende Wort ist oft kolportiert und immer wieder unterschiedlich gedeutet worden 4, wobei Hegels Lob, es handele sich hier um „das tiefste, was man sagen kann“, wohl kaum zu seiner Verdeutlichung beigetragen haben dürfte. 5 Sicher aber wird man sagen können, dass hier etwas höchst Metaphysisches – Gott, die Vorsehung, der Weltgeist – in den Be-

4 Van der Pot 1999, 20. 5 Hegel 1983, 196.

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griff der Geschichte eingewoben wird. Noch deutlicher zeigt dies ein anderes, gleichfalls oft zitiertes Beispiel: „Aber die Geschichte wird schon zu ihrer Zeit aufstehen und reden; und wenn sie geredet hat, so kommt alles vorhergegangene Geschwätz nicht mehr in Betracht.“ 6 Auch in diesem auf Klopstock zurückgehenden Diktum hat ‚die Geschichte‘ weniger mit der Vergangenheit zu tun als mit der Zukunft. Sie wird in prophetischer Manier als eine gleichsam göttliche Macht beschworen, die dermaleinst eine endgültige Wahrheit verkünden werde. Bezeichnenderweise wird Klopstocks Satz, wie ein Blick ins Internet lehrt, heute auffallend oft von Geschichtsrevisionisten zitiert, welche die Forschungsergebnisse gegenwärtiger Historiographie nicht zu akzeptieren gewillt sind und daher ihre Hoffnung auf ‚die Geschichte‘ – immer im Singular und immer mit dem bestimmten Artikel! – als eine Art deus ex machina setzen. Das Spekulative und Wabernde, das dem Geschichtsbegriff im deutschen Wortgebrauch oftmals eigen war, ist auch heute noch zu spüren, wenn vorzugsweise in Sonntagsreden ‚die Geschichte‘ und die aus ihr zu ziehenden Lehren beschworen werden. Dabei bleibt meist sehr im Ungefähren, woraus wir da eigentlich lernen sollen. Vor Jahren stieß ich in einem Jahreskalender auf einen dem Verleger Axel Cäsar Springer zugeschriebenen Satz: „Wer die Geschichte nicht kennt, in die er hineingeboren ist, kann auch die Forderungen nicht erfüllen, die die Geschichte an ihn stellt. Eine geschichtslose Generation ist eine gesichtslose Generation, ja eine Generation ohne Zukunft.“ Auch in dieser als höhere Weisheit daherkommenden Bemerkung erscheint ‚die Geschichte‘ als irgendein übermenschliches Wesen, dessen Geist wir gefälligst zu erspüren suchen sollten, da es – ähnlich dem ‚Jüngsten Gericht‘ – dereinst über Recht oder Unrecht unseres Handelns urteilen wird. Das ist natürlich Unsinn, denn in einer nicht deterministischen Welt gibt es eine solche Macht nicht. Was es gibt, sind lediglich Nachgeborene, die unser Handeln gegebenenfalls billigen oder missbilligen könnten (wobei immer noch offen bleibt, ob sie dann damit recht haben). Solchermaßen heruntergebrochen bedeutet Springers hochtrabender Satz also nicht mehr, als dass wir uns so verhalten mögen, dass unser Handeln vor den Augen der Nachgeborenen bestehen kann, und dass der Blick in die Geschichte helfe, diesem Anspruch zu genügen. Ob dies ein weiser Rat ist, erscheint allerdings zweifelhaft. Er mag funktionieren in einer Welt, die sich einigermaßen kontinuierlich aus der Vergangenheit in die Zukunft bewegt. In einer von fundamentalen Brüchen geprägten Entwicklung aber verliert er seinen Sinn. Man stelle sich nur einmal vor, Springers Aussage sei von einem HJ-Führer der 1930er oder einem FDJ-Funktionär der 1980er Jahre geäußert worden! Würde man ihm dann Weisheit zubilligen? 6 Klopstock 1839, 9.

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Je nach Kontext unterschiedlich zu verstehen ist in unserer Ausgangsfrage nicht nur der Geschichtsbegriff, sondern auch, was hier mit „lernen“ gemeint ist. Man könnte dabei an die „lessons learnt“ denken, von denen vor allem Projekt- und Wissensmanager gerne reden. Die Praxis vieler Unternehmen und think tanks, Erfahrungswissen in einer Weise zu archivieren, die es erlaubt, Fehler der Vergangenheit zu vermeiden, ist im Prinzip sicherlich vernünftig. Mehr noch: Wille und Fähigkeit, aus Fehlern zu lernen, sind konstitutiv für jeglichen Fortschritt in den empirischen Wissenschaften. Und nicht zuletzt ist ja auch das Leben jedes einzelnen Menschen, wenn es gelingen soll, auf Erfahrung angewiesen. Warum also sollte das eigene Bestreben, aus Schaden klug zu werden, nicht auch in Kollektiven Früchte tragen? An seine Grenzen stößt dieses Prinzip freilich immer dann, wenn die Rahmenbedingungen vergangener und zukünftiger Projekte allzu stark divergieren. Solange sich historischer Wandel vergleichsweise langsam vollzog, menschliche Vorhaben überdies von überschaubarer Komplexität waren – also im weitaus längsten Teil der menschlichen Vergangenheit  –  bot die Geschichte oftmals Anschauungsmaterial von hinreichender Ähnlichkeit, um daraus wichtige Lehren für die Zukunft zu ziehen. Alte Menschen galten daher aufgrund des ihnen zugebilligten größeren Erfahrungsschatzes grundsätzlich als weise. Ciceros berühmter Satz von der Geschichte als Lehrmeisterin des Lebens (historia magistra vitae) verlor erst dann und in dem Maße seine Gültigkeit, als seit dem späten 18. Jahrhundert der historische Wandel auf fast allen Gebieten – in technologischer und industrieller Hinsicht ebenso wie bezüglich der politischen und ideologischen, der sozialen und kulturellen Verhältnisse – eine Dynamik gewann, die viele aus der Vergangenheit überkommene Erfahrungsregeln, Kenntnisse und Fähigkeiten in immer kürzeren Zeitabständen veralten ließ. Seitdem ist, mit Reinhart Koselleck gesprochen, für den, der aus der Geschichte lernen will, „die schlichte Übertragung vergangener Ereignisfolgen auf die Gegenwart nicht mehr möglich.“ 7 Der Beliebtheit angeblich lehrreicher historischer Analogien hat das allerdings keinen Abbruch getan. Als zum Beispiel das britische Foreign Office im Herbst 1918 einen jungen Geschichtsprofessor beauftragte, zur Vorbereitung der in Versailles anstehenden Friedenskonferenz eine kurze Geschichte des Wiener Kongresses zu verfassen 8, erwiesen sich die im Auftragswerk verarbeiteten Erfahrungen von 1814/15 als wenig hilfreich. Allzu unterschiedlich waren die Rahmenbedingungen beider Ereignisse. Das Buch sei, wie Henry Kissinger später befand, „eine Illustration, dass die Lehren der Geschichte nicht so einfach zu ziehen sind wie mathematische Beispiele, und dass der Erfolg nicht notwendigerweise das genaue Gegenteil eines Fehlschlages sein muss.“ 9 Der verbreitete Irrtum, über die Ähnlichkeit zweier Ereignisse die Unähnlichkeit der Strukturen zu vergessen, in die sie eingebettet sind, spiegelt sich exemplarisch auch im beliebten Vergleich von Napoleons Russlandfeldzug mit dem ‚Barbarossa‘-Unternehmen

7 Koselleck 2014, 170. Vgl. auch Kosellecks gedankenreiche Überlegungen in: Koselleck 1979, 38–66. 8 Vgl. Webster 1919. 9 Kissinger 1986, 662.

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Hitlers. 10 Letzteres habe scheitern müssen, so ist oft zu hören, weil der deutsche Diktator aus den Fehlern des französischen Herrschers einfach nicht gelernt und daher genau wie dieser die Weite des russischen Raumes sowie die Kälte seiner Winter unterschätzt habe. So naheliegend die Analogie auf den ersten Blick, d.h. in ereignisgeschichtlicher Hinsicht auch erscheinen mag, so wenig taugt Napoleons Russlanderfahrung bei näherem Hinsehen als Lehrbeispiel für Strategen des 20. Jahrhunderts. Zu fundamental ist – von allen politischen, strategischen und ideologischen Besonderheiten ganz abgesehen – allein schon der Unterschied zwischen der Eroberung eines Landes zu Fuß und zu Pferde einerseits und mit Hilfe von Eisenbahnen und Kraftwagen, Panzern und Flugzeugen andererseits. Der Fehlschlag beider hier genannten Eroberungszüge hatte denn auch jeweils eigene Ursachen, die sich zwar in dieser oder jener Hinsicht ähnlich sehen mochten, aber zu spezifisch waren, um als Grundlage für epochenübergreifende Generalisierungen zu dienen. Darum half es Hitler und seiner Generalität auch wenig, dass ihnen – entgegen volkstümlicher Vermutung – Napoleons Desaster unablässig vor Augen stand. Ungeachtet aller hier angedeuteten Fallstricke bedienen sich indessen seit jeher gerade auch professionelle Militärs (und bisweilen auch Militärhistoriker) einer systematischen Erfahrungsanalyse, um aus verlorenen Schlachten zu lernen, wie man die kommenden gewinnt, oder ganz allgemein aus Fehlern vergangener Einsätze zu lernen, wie man in Zukunft erfolgreicher agieren könnte. Das Scheitern des jahrzehntelangen westlichen Militäreinsatzes in Afghanistan, das wir 2021 erleben mussten, wird dazu erneut Anlass geben. Und doch wird man auch in Zukunft mit der Erfahrung von Scheitern leben müssen. Aus der Geschichte von Kriegen lässt sich nämlich nur in einem sehr überschaubaren Rahmen lernen. Aufs Ganze gesehen sind sie in der Regel viel zu komplex, als das sich eindeutige Lehren nichttrivialer Art aus ihnen ziehen ließen. Die Ergebnisse applikatorischer Kriegsgeschichte 11 waren daher stets bestenfalls ambivalent und dürften es seit dem 20. Jahrhundert mehr denn je sein. 12 So etwa hat das intensive, auch intellektuell durchaus anspruchsvolle Studium der Kriegsgeschichte, angefangen von der als Lehrbeispiel besonders beliebten Schlacht von Cannae (216 v. Chr.) über die friderizianischen Kriege bis hin zum deutsch-französischen Krieg von 1870/71 die deutschen Generalstäbler vor dem Scheitern ihres Schlieffen-Plans 1914 nicht bewahren können. Auch wurde der französischen Armeeführung nach ihrer verheerenden Niederlage von 1940 immer wieder vorgeworfen, dass sie – ganz im Gegensatz zur deutschen  –  aus den Erfahrungen des Ersten Weltkriegs nichts gelernt und darum die Schlacht um Frankreich verloren habe. Welch ein Irrtum! Französische Militärs hatten den Großen Krieg von 1914/18 nicht weniger intensiv studiert als ihre Gegenspieler östlich des Rheins und hatten daraus ih10 In einer für seine Generation charakteristischen Manier beschwor z.B. der Publizist Paul Sethe 1964 „die erschreckende Ähnlichkeit der großen Unternehmungen“ Napoleons und Hitlers; vgl. Sethe 1964. 11 Zur applikatorischen Methode in der Militärgeschichte vgl. Nowosadtko 2002, 20ff. 12 Ein gutes Beispiel für den missglückten Versuch, die Geschichte von Schlachten für gegenwärtige Militärpolitik fruchtbar zu machen, bietet Macgregor 2016. – Vgl. auch die grundsätzlichen Überlegungen zum Thema von Sven Lange (Lange 2020, 25–53).

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rerseits klare Folgerungen gezogen: Auch ein neuerlicher Krieg gegen Deutschland, so glaubte man, werde lang sein und die gesamten Ressourcen des Empire beanspruchen. Für Frankreich als die demographisch und industriell schwächere Macht bedeute dies, dass man einen Kampf auf eigenem Territorium in Zukunft unbedingt vermeiden und sich daher hinter einer kräftesparenden Verteidigungslinie verschanzen müsse. Erst wenn der Gegner sich in kräftezehrenden Angriffsversuchen verblutet habe, sei der Zeitpunkt gekommen, unter Hinzuziehung von Verbündeten selbst zur entscheidungssuchenden Gegenoffensive überzugehen. Vom strategischen Grundgedanken her war dieses Kalkül, wie sich zeigen sollte, durchaus realistisch, nicht aber unter militärisch-operativen Gesichtspunkten. Hier unterschätzte man gröblich die seit dem Ersten Weltkrieg erheblich verbesserten Möglichkeiten eines modernen Bewegungskrieges. Kurzum: Man hatte sehr wohl aus dem Weltkrieg gelernt, nur leider die falschen Lehren gezogen. 13 ‚Lernen‘ mag freilich auch etwas grundsätzlich Anderes bedeuten als vorstehend von uns angedeutet. Wer beklagt, dass Menschen aus der Geschichte nichts lernten, meint oftmals gar keine Rezepte oder Handlungsanweisungen im Stile von ‚lessons learnt‘, sondern ein Lernen im Sinne des berühmten Diktums von Jacob Burckhardt: „Wir wollen durch Erfahrung nicht sowohl klug (für ein andermal) als weise (für immer) werden.“ 14 Ein solches Verständnis dürfte, altmodisch wie es klingen mag, dem Selbstverständnis vieler Historiker auch unserer Tage entgegenkommen, halten sie doch die Bildung der Persönlichkeit und die Schulung der Urteilskraft für einen besonderen Vorzug ihrer Profession. Das ist so eingängig, dass man dem kaum zu widersprechen wagt, und doch muss die Frage erlaubt sein, inwieweit die in Burckhardts Diktum enthaltene Hoffnung überhaupt berechtigt ist. II. Im hier von uns diskutierten Zusammenhang ist zunächst einmal vor überzogenen Erwartungen an den Lerneffekt von Geschichte zu warnen. Vor allem in Zeiten vermeintlicher oder tatsächlicher Krisen wird ‚Geschichtsbewusstsein‘ gerne als Heilmittel empfohlen. Wann immer es in Deutschland in den letzten Jahrzehnten zu rassistisch oder antisemitisch motivierten Beleidigungen oder gewalttätigen Übergriffen kam, wurde zum Beispiel schnell die Klage laut, dass Jugendliche zu wenig über den Nationalsozialismus wüssten und es an der Zeit sei, den diesbezüglichen Geschichtsunterricht zu intensivieren. Übersehen wird dabei, dass das Anzünden von Häusern, das Beleidigen, Verprügeln oder gar Erschlagen von Menschen keinem Mangel an historischen Kenntnissen und keinem fehlenden Geschichtsbewusstsein zuzuschreiben ist, sondern fehlendem 13 Diesbezüglich noch immer von beispielhafter Klarheit: Young 1978. 14 Burckhardt 1935, 10.

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menschlichen Anstand. Die Beschäftigung mit der Geschichte vermag dem aber nur sehr bedingt abzuhelfen. Auch verhilft sie nicht notwendigerweise zu ‚Weisheit‘. Weitaus häufiger, zumindest aber weitaus augenfälliger sind die Fälle, in denen Kenntnis der Geschichte als Waffe im politischen oder ideologischen Kampf herhalten muss. Kaum eine Auseinandersetzung zwischen Herrschern, Völkern und Nationen, in der nicht der Bezug auf historische Ereignisse zur Legitimation der eigenen Ansprüche ins Feld geführt wurde und wird. Von der Antike bis zum heutigen Tage hat sich daran offenbar wenig geändert. Manches spricht sogar dafür, dass heutzutage, im Zeitalter der neuen Nationalismen, wieder eine wachsende Zahl von Staaten „Geschichtskriege“ führt. Diese seien, so ein Beobachter, „Teil einer hybriden Kriegführung, die weniger auf materielle Zerstörung als auf Verwirrung, Demoralisierung und innere Zerrüttung des Gegners setzt.“ 15 Vor diesem Hintergrund überrascht nicht, dass gerade die großen Bösewichter der Geschichte historisch oftmals ziemlich belesen waren. Nehmen wir nur Hitler als Beispiel: Seine berühmt-berüchtigten Monologe, auch und gerade im kleinen Kreis, wimmelten nur so von historischen Aperçus. 16 Die Annahme, er habe nicht aus der Geschichte gelernt, greift denn auch zu kurz. Das Gegenteil war der Fall. Er betrachtete die Geschichte als „Lehrmeisterin für die Zukunft“ 17, suchte in ihr unablässig nach passenden Deutungsmustern und war immer wieder bemüht, seine eigene Politik mit den großen Linien der Geschichte, wie er sie verstand, in Übereinstimmung zu bringen. Selbst von entfernten Epochen wie insbesondere der griechisch-römischen Antike 18 hatte er eine klare, wenngleich höchst selektive Vorstellung. Diese lehrte ihn, dass die Geschichte vom Kampf der Rassen gegeneinander geprägt und der ‚Arier‘ zur Herrschaft berufen sei, dass vor allem Juden die Welt vergiftet hätten, dass es dem deutschen Volk an ‚Lebensraum‘ zu seiner Entfaltung mangele, dass stets der Stärkere sich durchsetze und dann auch noch das Recht auf seiner Seite habe, usw. usw. Warum aber empfinden wir ein gewisses Unbehagen, einem Mann wie Hitler zuzubilligen, aus der Geschichte gelernt zu haben? Die Antwort liegt auf der Hand: Er hat nach allgemeiner Auffassung fundamental falsche Lehren aus der Geschichte gezogen. Der gemeinhin als Kompliment verstandene Satz, dass Jemand aus der Geschichte gelernt habe, impliziert nämlich eine Anerkennung dafür, dass der Betreffende die unserer Meinung nach richtigen Lektionen der Geschichte begriffen habe. Die ‚richtigen‘ von den ‚falschen‘ Lektionen der Geschichte zu scheiden fällt leicht, wo wir es als Alternative mit dem offenkundig Bösen zu tun haben. (In diesem Fall bedürfte es nicht einmal des historischen Beispiels, um zu wissen, was richtigerweise zu tun ist.) Schwieriger liegen die Dinge, wenn die moralische Qualität der Alternativen ambivalent ist. Ein treffliches Beispiel dafür boten die Auseinandersetzungen innerhalb der Partei ‚Die Grünen‘ um die Legitimität einer deutschen Beteiligung am Kosovo-Krieg 1999. Sie erreichten ihren Höhepunkt auf einem Sonderparteitag im Mai jenes Jahres, auf dem 15 16 17 18

So Thumann 2020a; vgl. auch Thumann 2020b. Vgl. Jochmann 1980. Hitler, 1933, 468. Vgl. auch Chapoutot 2014, 112ff. Vgl. dazu neben Chapoutot (ebd.) auch Demandt 2005, 248–274.

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der damalige Außenminister Joschka Fischer – gleich zu Beginn von Gegnern mit einem Farbbeutel beworfen – den ersten deutschen Kriegseinsatz nach dem Zweiten Weltkrieg vehement verteidigte und sich angesichts der ‚ethnischen Säuberungen‘ durch die serbische Führung unter Milošević nachdrücklich für die militärische Intervention seitens der NATO aussprach. Während die Mehrheit der Delegierten nach hitziger Debatte die von Fischer vertretene Linie billigte, versuchte eine starke Minderheit radikaler Kriegsgegner bis zum Schluss die Politik der Bundesregierung zu torpedieren. Interessant in unserem Zusammenhang ist, dass sich beide Seiten auf Lehren der Geschichte – und zwar derselben Geschichte! – bezogen. Während sich das pazifistische Lager auf die friedenspolitische Position des „Nie wieder Krieg!“ als zentrale Botschaft der deutschen Geschichte berief, setzte Fischers ‚Realo‘-Fraktion dem ein „Nie wieder Auschwitz!“ entgegen, charakterisierte dementsprechend Milošević als „nackten Faschisten“ (Ludger Volmer) und rückte die serbischen Massendeportationen und Massaker in eine fragwürdige Nähe zur Shoah. 19 Beispiele wie das hier genannte legen die Vermutung nahe, dass ein verbindliches Kriterium zur Unterscheidung von richtigen und falschen Lektionen der Geschichte gar nicht existiert. Vielmehr ist es eine Wahl, die wir selbst gemäß unseren eigenen ethischen oder ideologischen Präferenzen treffen. Diesem Verständnis folgend meinen wir auch mit der Feststellung, dass die Menschheit nicht aus der Geschichte lerne, genaugenommen nur, dass sie leider nicht erkenne, was unseres Erachtens die richtigen, die ‚wirklichen‘ Lehren der Geschichte sind. 20 Wir suggerieren damit, dass wir in einer konkreten historischen Situation besser als die Zeitgenossen wüssten (bzw. gewusst hätten), welche Schlussfolgerungen aus der jeweiligen historischen Erfahrung zu ziehen (gewesen) wären. Damit aber bekommt die Feststellung, Menschen lernten nichts aus der Geschichte, einen gänzlich anderen Charakter. Was als scheinbar intersubjektiv gültige Aussage daherkommt, entpuppt sich bei näherem Hinsehen als eine subjektiv beliebige Meinungsäußerung, die man mit ein wenig Boshaftigkeit auf die Klage reduzieren könnte: Schade, dass die Menschheit nicht so weise ist wie ich! 21 Von dieser Haltung ist es nur ein Schritt zu einer allzu oft elenden Besserwisserei der Nachgeborenen, die sich als Lernen aus der Geschichte ausgibt, ohne es wirklich zu sein. Ein Beispiel, das sich besonders gut eignet, solch manipulative Inanspruchnahme der Geschichte näher zu betrachten, ist der ‚Appeasement‘-Vorwurf, der in zahllosen internationalen Krisen geradezu reflexhafte erhoben wird. Ausgesprochen oder unausgesprochen Bezug genommen wird damit stets auf die Politik der britischen Regierung unter Neville Chamberlain gegenüber NS-Deutschland, die den Frieden um den Preis auch von sub­ stantiellen Zugeständnissen (Stichwort: „München 1938“) anstrebte, stattdessen aber den 19 Vgl. DER TAGESSPIEGEL 14.5.1999. 20 Dies dürfte wohl auch Hegel mit seiner Feststellung gemeint haben: „Die Geschichte und die Erfahrung lehren, dass Völker überhaupt nicht aus der Geschichte gelernt haben.“ Siehe Hegel 1996, 10. 21 Bisweilen freilich mag eine entsprechende Äußerung auch einfach Ausdruck des Leidens an gesellschaftlichen oder politischen Verhältnissen sein, so etwa bei Kurt Tucholsky, wenn er 1926 verzweifelt feststellte: „Denn noch niemals haben Menschen aus der Geschichte gelernt, und sie werden es auch in Zukunft nicht tun.“ (Tucholsky 1926, 3).

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Krieg erntete. Seitdem haben führende Politiker immer wieder mit warnendem Fingerzeig auf sie als abschreckendes Beispiel verwiesen. Das gilt für die Nachfolger Chamberlains wie Premierminister Anthony Eden im Rahmen der Suez-Krise 1956 ebenso wie für Margret Thatcher aus Anlass des Falklandkonflikts 1982 und für Tony Blair bei seiner Rechtfertigung der britischen Beteiligung am Irakkrieg 2003. Besonderer Beliebtheit erfreute sich die vermeintliche ‚Appeasement‘-Lehre der Geschichte bei amerikanischen Präsidenten. Harry S. Truman zum Beispiel war stolz darauf, schon lange vor Antritt seiner Präsidentschaft erkannt zu haben, dass fast alle Regierungs- und Staatsangelegenheiten Parallelen in der Vergangenheit hätten. Der Führer eines jeden Landes müsse daher, so Truman, die Geschichte nicht nur seines eigenen, sondern auch aller anderen großen Länder kennen und bemüht sein, diese Kenntnis bei den zu treffenden Entscheidungen zur Anwendung zu bringen. Trumans Begründung für den amerikanischen Eintritt in den Koreakrieg 1950 fiel denn auch – kaum überraschend – so aus: „Communism was acting in Korea just as Hitler, Mussolini, and the Japanese had acted ten, fifteen, twenty years earlier.“ Die Nordkoreaner gewähren zu lassen „would mean a third world war, just as similar incidents had brought on the second world war.“ 22 Der Hinweis auf das Desaster der Chamberlainschen Appeasementpolitik findet sich auch bei Trumans Nachfolgern zuhauf, so bei Ronald Reagan zur Rechtfertigung seiner Luftschläge gegen Libyen 1986 und bei George W. Bush, der nach gleichem Muster nicht nur den amerikanischen Angriff auf den Irak 2003, sondern später auch seine kompromisslose Iranpolitik zu legitimieren suchte. Als Bushs Nachfolger Barack Obama dann die amerikanische Politik gegenüber Teheran änderte und sie nach jahrelangen Verhandlungen 2015 mit dem internationalen Atomabkommen krönte, stand er für viele Kritiker prompt selber als ‚Appeaser‘ dar. Demselben Vorwurf hatte sich vier Jahrzehnte zuvor übrigens auch schon John F. Kennedy ausgesetzt gesehen, als er – ein ausgewiesener Kenner des historischen Bezugsrahmens 23 – im Zusammenhang der Kubakrise 1962 entschlossen zwar, aber zugleich besonnen zu agieren versucht hatte. In allen diesen Fällen war die mit dem Vorwurf verbundene Botschaft dieselbe: Die britische Deutschlandpolitik der 1930er Jahre sei ein schrecklicher Fehler gewesen, begangen entweder aus Angst vor den Drohgebärden Hitlers oder aber in naiver Verkennung seines totalitären Herrschaftsanspruchs. Das dürfe sich nie wiederholen. Der Vorwurf, ein ‚Appeaser‘ zu sein, war somit gleichbedeutend mit der Beschuldigung, über den Umgang mit Diktatoren aus der Geschichte nichts gelernt zu haben. Wie gut ein solcher Vorwurf noch immer als Waffe im politischen Meinungskampf taugt, zeigte sich beispielhaft auch während der Ukraine-Krise 2014/15. Nach der russischen Annexion der Krim sah sich die um eine diplomatische Lösung bemühte europäische, insbesondere aber die deutsche Russlandpolitik aus unterschiedlichen Richtungen, vorzugsweise von US-amerikanischer und osteuropäischer Seite, immer wieder als Neu-

22 Harry S. Truman, zit. nach Record 2002, 1f. 23 Kennedy hatte als Student am Harvard College seine Masterarbeit der Appeasementpolitik Chamberlains gewidmet und diese durchaus differenziert beurteilt; vgl. Kennedy 1940.

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auflage eines gefährlichen Appeasement diskreditiert. 24 Vergeblich wehrten sich die so Angegriffenen gegen diese Etikettierung: „Viel zu oft“ werde, so der damalige Bundesaußenminister in einem Interview, „München 1938 als Geschichtskeule benutzt.“ 25 (In der Sache freilich waren die deutschen Bemühungen um Konfliktregulierung nichts anderes als eine Politik des Appeasement: nämlich der Versuch, die Eskalation einer kriegsträchtigen Spannungssituation in einen ‚heißen‘ Krieg auf diplomatischem Wege zu vermeiden.) Deutungsmacht über die Geschichte wird, wie die diversen Appeasementvorwürfe zeigen, mithin immer wieder als Mittel eingesetzt, um – zumindest mittelbar – politischen Einfluss auszuüben. 26 Die hier angeführten und zahllose andere Fälle sind Beispiele eines gefährlich eindimensionalen und daher zutiefst fragwürdigen ‚Lernens‘ aus der Geschichte. Charakteristisch für dessen Unzulänglichkeit sind vor allem vier Eigentümlichkeiten. Da ist zum einen die schon an früherer Stelle erwähnte Neigung, den historischen Vergleich auf oberflächliche Ähnlichkeiten von Ereignisfolgen zu beschränken und deren strukturelle Grundlagen, Voraussetzungen und Rahmenbedingungen zu vernachlässigen. Damit verbunden ist zweitens in der Regel eine Verkennung der besonderen Spezifik des historischen Vergleichsfalles, in unserem Fall der britischen Diplomatie der 1930er Jahre. Mag diese historiographisch (v.a. bezüglich der Person und Politik Chamberlains) auch nach wie vor umstritten sein 27, so sprechen doch gewichtige Argumente dafür, dass es zum Appeasement als Grundprinzip britischer Außen- und Sicherheitspolitik seinerzeit kaum eine realistische Alternative gegeben haben dürfte. 28 Kriegsvermeidung durch Diplomatie war eben weder Naivität noch Feigheit, sondern die rationale Strategie einer geopolitisch überdehnten, militärisch überforderten und sozioökonomisch fragilen Weltmacht. Ein dritter typischer Fehler beim Verweis auf vermeintliche historische Lehrbeispiele besteht in der Versuchung, aus einem einzigen historischen Beispiel eine allgemeine Regel ableiten zu wollen. Notorische Appeasement-Warner nehmen in der Regel alle Fälle erfolgreicher diplomatischer Befriedungsstrategien (wie z.B. die zur ‚Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa‘ 1975 führende Entspannungspolitik) ebenso wenig zur Kenntnis wie die Beispiele gescheiterten Anti-Appeasements (wie etwa die amerikanische Japanpolitik 1941). Viertens schließlich ignoriert das eindimensionale Lernen aus der Geschichte den Unterschied zwischen zeitgenössischer und retrospektiver Beurteilung von Politik. Zwar liegt auf der Hand, dass Chamberlains Appeasementpolitik als Kriegsvermeidungsstrategie letztlich scheiterte, doch folgt daraus nicht notwendigerweise, dass sie von Anfang an, d.h. unter dem Erfahrungshorizont der 1930er Jahre, falsch war (ebenso 24 Anders als in den vorgenannten Fällen war das insofern kaum überraschend, als die Vorgänge jenes Jahres rein äußerlich betrachtet tatsächlich einige Parallelen zur europäischen Krise des Jahres 1938 (Annexion Österreichs und des sog. ‚Sudetenlandes‘) aufweisen. Vgl. Wegner 2023. 25 Steinmeier 2014. 26 So unter Bezug auf mannigfache deutsche Beispiele auch Heinrich August Winkler in der Einleitung zu dem von ihm herausgegebenen Band: Winkler 2004, 7. 27 Vgl. zuletzt Bouverie 2019. 28 Vgl. in diesem Sinne sehr nachdrücklich Stedman 2011.

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wie eine schlechte, z.B. gefährlich leichtfertige Politik nicht dadurch gerechtfertigt wird, dass ihr in einem konkreten Fall Erfolg beschieden ist). Die Gefahr eindimensionalen Lernens wird – scheinbar paradoxerweise – durch eine intensive Beschäftigung mit der Geschichte unter Umständen noch verstärkt. Allzu leicht nämlich führen durch historische Interessen verfestigte Geschichtsbilder, wie Hitlers Beispiel nachdrücklich zeigt, zu dem, was Psychologen als „confirmation bias“ bezeichnen, d.h. zu einer Neigung des Gehirns, Informationen nur noch insoweit wahrzunehmen, als sie mit der eigenen Überzeugung übereinstimmen. Für das vermeintliche ‚Lernen‘ aus der Geschichte hat das gravierende Folgen. Es macht, wie bereits früher angedeutet, die menschliche Vergangenheit zu einem beliebig nutzbaren Steinbruch zur Untermauerung ohnehin bestehender oder politisch erwünschter Auffassungen. Wie absurd diese auch immer sein mögen, – stets noch findet sich ein historisches Beispiel, das sie zu bestätigen scheint. Und wenn nicht, so lässt sich ‚die Geschichte‘ soweit zurechtbiegen, bis es passt. Wie leicht sich aus dem Material der Historie politische Waffen schmieden lassen, die dann zu vermeintlichen Lehren aus der Geschichte missbraucht werden, zeigen exemplarisch die in der Politik geradezu inflationären Hitler-Vergleiche. Allein im Nahen Osten scheint es demnach von ‚zweiten Hitlers‘ nur so zu wimmeln: Angefangen von Mohammad Mossadegh, dem 1953 durch amerikanische und britische Nachrichtendienste gestürzten Premierminister des Iran, über den ägyptischen Präsidenten Nasser wenige Jahre später bis hin zum irakischen Diktator Saddam Hussein und dem Syrer Baschar al-Assad, – sie alle und manche mehr wurden von westlichen Politikern und Medien zu gegebener Zeit als Wiedergänger Hitlers etikettiert. Mit einem ernsthaften historischen Vergleich hatte all das überhaupt nichts zu tun. Worum es ging, war in all diesen Fällen allein, die infrage stehenden politischen Gegner als Personifizierung des absolut Bösen zu diskreditieren, um dadurch jegliche Form ihrer Bekämpfung – einschließlich völkerrechtswidriger Methoden – zu legitimieren. In ihrer Gefährlichkeit weniger offenkundig sind die Fälle positiver Manipulation der Geschichte. Auch ihr Zweck ist im Allgemeinen die Rechtfertigung politischer Anliegen. Vor allem, aber nicht nur junge Staaten haben sich auf diese Weise, durch eine „Erfindung der Vergangenheit“ 29 nationale Stammbäume zurechtgezimmert, die ihnen Legitimität und Seniorität verschaffen sollen. So haben im 19. Jahrhundert im Vorfeld der deutschen Reichseinigung Historiker erbittert darum gerungen, ihren Präferenzen einer ‚großdeutschen‘ bzw. ‚kleindeutschen‘ Lösung durch entsprechende Interpretationen der mittelalterlichen Reichspolitik historische Tiefe zu verleihen. 30 Wie wenig altetablierte Nationen auch in jüngerer Zeit vor der Versuchung historischer Manipulation gefeit sind, zeigte sich Mitte der 1980er Jahre in Frankreich, wo nicht allein rechte Kreise das Gedenken an die Thronbesteigung eines gewissen Hugo Capet, des ersten Kapetinger Herrschers, im Jahre 987 zum Anlass nahmen, das ‚tausendjährige Frankreich‘ zu feiern und sich dabei ihrer nationalen Identität zu versichern. 31 Der ‚roman national‘, die in sich 29 So Hobsbawm 1994, 49f. 30 Vgl. Brechenmacher 2003. 31 Los Angeles Times 20.9.1987.

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scheinbar widerspruchsfreie nationale Meistererzählung, gehört zu den weltweit erfolgreichsten Geschichtskonstrukten. Unser Bild der Geschichte ist mithin häufig nichts anderes als ein Spiegel unserer ideologischen Neigungen, unserer Interessen, Wünsche und Ängste. 32 Das ‚Lernen aus der Geschichte‘ ist hier gar kein Lernen, sondern nur Selbsttäuschung oder – schlimmer noch – ein intellektueller Taschenspielertrick. Entsprechend ernüchtert stellte der französische Dichter, Philosoph und Essayist Paul Valéry denn auch 1931 fest: „L’Histoire est le produit le plus dangereux que la chimie de l’intellect ait élaboré. […] L’Histoire justifie ce que l’on veut. Elle n’enseigne rigoureusement rien, car elle contient tout, et donne des exemples de tout.“ 33 Valérys Urteil ist ein Generalangriff auf die Geschichtswissenschaft. Ist diese, so betrachtet, wirklich nur ein Verfahren, um unsere eigenen (Vor-)Urteile durch das Sammeln historischer Beispiele zu zementieren? Die von uns angeführten Fälle zeigen, dass dies leider sehr oft der Fall ist. Manche Historiker – und darunter einige durchaus bedeutende – haben aus dieser ernüchternden Erfahrung die Konsequenz gezogen und der Beschäftigung mit der Geschichte jeglichen Lerneffekt abgesprochen. Vielleicht am plastischsten hat dieser Haltung der britische Historiker A. J. P. Taylor Ausdruck verliehen: „In my opinion we learn nothing from history except the infinite variety of men‘s behaviour. We study it, as we listen to music or read poetry, for pleasure, not for instruction.“ 34 III. Ist das Studium der Geschichte letztlich also reines l’art pour l’art, eine Beschäftigung allein um des Genusses willen? Soweit zu gehen sind wir nicht bereit. Die eigene Erfahrung jahrzehntelanger Forschung und Lehre hat uns vielmehr überzeugt, dass die Geschichtswissenschaft allen Risiken zum Trotz sehr wohl einen wesentlichen Beitrag zur Aufklärung, also zum „Ausgang der Menschheit aus ihrer selbstverschuldeten Unmündigkeit“ (Immanuel Kant) zu leisten vermag. Es ist allerdings ein recht mühseliger Weg, 32 Empirisch bestätigt wird dieser Eindruck u.a. durch eine Studie von May 1973. May untersucht darin diverse Fallbeispiele aus den Amtszeiten der Präsidenten Franklin D. Roosevelt, Truman, Kennedy und Johnson, die mit Lehren der Geschichte begründet wurden. Im Ergebnis kommt er zu der Vermutung, dass wohl keine der grundlegenden Entscheidungen anders ausgefallen wäre, wenn es keine Kenntnis der historischen Fälle gegeben hätte (S.115). 33 „Die Geschichte ist das gefährlichste Produkt, das die Chemie des Intellekts hervorgebracht hat. […] Die Geschichte rechtfertigt, was man will. Sie lehrt absolut nichts, denn sie enthält Alles und liefert für Alles Beispiele.“ Valéry 1931, 63–64. 34 Taylor 1993, 23. Für den Hinweis auf das Zitat danke ich meinem Kollegen Michael Jonas (Hamburg).

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diesem Ziel – und damit zugleich dem an früherer Stelle zitierten Weisheitsideal Jacob Burckhardts – einige Schritte näher zu kommen. Worin besteht die Mühsal? Und worin besteht die Chance? Wie gezeigt, umfasst unsere Vorstellung von ‚Geschichte‘ nicht die Gesamtheit der menschlichen Vergangenheit, sondern nur einen kleinen Ausschnitt von ihr. Aus der unendlichen Fülle vergangener Ereignisse lassen wir stets nur einen winzigen Teil als ‚historische‘ Tatsachen und Daten in unser Bewusstsein dringen. Die Auswahl solchermaßen privilegierter Tatsachen aber bemisst sich nach den Bedürfnissen der Gegenwart. Buchtitel wie „Geschichte ist immer Gegenwart“ 35 bezeugen dies ebenso wie Benedetto Croces vielzitierter Satz „Alle Geschichte ist Zeitgeschichte“ („tutta la storia e storia contemporanea“). Eigene Erfahrungen, Beobachtungen, Interessen und Wünsche verändern unseren Blick auf die Vergangenheit und formen erst das, was wir als ‚Geschichte‘ begreifen. Anders ausgedrückt: Es gibt keine Geschichte ohne Gegenwart. Unser Sehen ist zwangsläufig perspektivisch, unser Erkennen immer auf etwas gerichtet. 36 Somit ist auch das, was ‚Geschichte‘ ist, stets von uns und unseren sich wandelnden Perspektiven abhängig. (Wer sich zum Beispiel einmal der Mühe unterzieht, die bislang 35 Auflagen des seit 1863 erscheinenden ‚Großen Ploetz‘ miteinander zu vergleichen, wird schnell der gewaltigen Veränderungen gewahr, welche das Bild ‚der Geschichte‘ über anderthalb Jahrhunderte gemäß den von Generation zu Generation sich wandelnden Perspektiven durchlaufen hat.) 37 Für das, was wir ‚Geschichte‘ nennen gilt also in besonderem Maße, was Werner Heisenberg einst für die physikalische Welt so formuliert hat: „Die Wirklichkeit, von der wir sprechen können, ist nie die Wirklichkeit an sich, sondern eine gewusste Wirklichkeit oder sogar in vielen Fällen eine von uns gestaltete Wirklichkeit.“ 38 Aus dieser Einsicht folgt, dass nicht nur der Blick auf die Geschichte unser Verständnis der Gegenwart beeinflusst, sondern vice versa auch dieses unser Bild der Geschichte konditioniert. Vielerlei Beispiele belegen dies: So sind globalgeschichtliche Ansätze in der Geschichtswissenschaft nicht zufällig in dem Maße modern geworden 39, in dem die Globalisierung unserer Welt zur dominierenden Alltagserfahrung wurde. Der fortschreitende europäische Einigungsprozess stimulierte die Forschung über „Historische Dimensionen Europäischer Integration.“ 40 Die europäische Kolonialgeschichte wird anders geschrieben, seit der Kampf gegen Rassismus zu einem breiten zivilgesellschaftlichen Anliegen geworden ist. Auch ist die Zahl der Studien zur Klima- und Umweltgeschichte stark angewachsen, seit sich die Menschheit mit diesbezüglichen Krisen verstärkt kon-

35 Baberowski/Conze (u.a.) 2001. 36 Vgl. Nietzsche 1973b, 256f. 37 Der Große Ploetz 2008. Die Erstausgabe von Karl Julius Ploetz erschien 1863 unter dem Titel „Auszug aus der alten, mittleren und neueren Geschichte“. Die Titel wechselten in der Folgezeit verschiedentlich. 38 Heisenberg 1989, 59. 39 So z.B. stand der Deutsche Historikertag des Jahres 2000 unter dem Motto: „Eine Welt – eine Geschichte?“. Vgl. auch Conze 2001, 43–65. 40 So z.B. der Titel einer seit 1996 im Nomos Verlag (Baden-Baden) erscheinenden Schriftenreihe.

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frontiert sieht. 41 Die ‚Spanische Grippe‘ war, obgleich sie zwischen 1918 und 1920 weltweit im Vergleich zum Ersten Weltkrieg ein Mehrfaches an Todesopfern forderte, noch vor zehn Jahren allenfalls einigen Fachhistorikern ein Begriff. Heutzutage, im Zeichen der Corona-Pandemie, ist sie ins Bewusstsein einer breiten Öffentlichkeit gerückt. Selbst innerhalb längst etablierter historischer Themenfelder sind es regelmäßig Bedürfnisse der jeweiligen Gegenwart, welche den Blick bestimmen. So etwa erfuhr die Osteuropageschichte durch den Zusammenbruch der Sowjetunion und der durch sie diktierten Ordnung einen wahren Paradigmenwechsel, der mit ganz neuen Fragestellungen und Erkenntnismöglichkeiten einherging. In der alten Bundesrepublik hatte jahrzehntelang die aktuelle Sorge um die Stabilität der Bonner Demokratie (‚Ist Bonn Weimar?‘) dazu geführt, dass sich Publizistik und Historiographie zur Weimarer Republik vornehmlich für die Ursachen ihres Scheiterns interessierten, ja die erste deutsche Demokratie als solche fast ausschließlich unter diesem Aspekt wahrnahmen. Auch in der Historiographie zum deutschen Kaiserreich spiegeln sich nach wie vor gegenwärtige Befindlichkeiten: In einer 2021 in der ‚ZEIT‘ ausgetragenen Debatte über die Geschichte des deutschen Kaiserreichs warnte zum Beispiel Eckart Conze davor, dass durch eine allzu starke Betonung der Modernität der Wilhelminischen Gesellschaft „die kritische Distanz“ zum damaligen Obrigkeitsstaat verloren gehen könne, die doch „ein wichtiger Indikator der politischen und kulturellen Liberalisierung der Bundesrepublik“ gewesen sei und handelte sich damit prompt als Kritik die polemische Frage ein: „Darf man der deutschen Öffentlichkeit neuere Erkenntnisse über das Kaiserreich zumuten, die ein komplexeres Bild zeichnen? Oder relativiert das die deutsche Schuld am Nationalsozialismus?“ 42 Für die Aufarbeitung der NS-Geschichte gilt erst recht, was sich von der Beschäftigung mit dem Kaiserreich, der Weimarer Republik, aber auch mit älteren Themen wie der preußischen Geschichte oder der Biographie Martin Luthers sagen lässt. Fast keine der großen fachwissenschaftlichen, geschweige denn öffentlichen Debatten wurde geführt, ohne dass nicht von mindestens einer Seite der Vorwurf einer in Hinblick auf die Gegenwart gefährlichen Verharmlosung Hitlers und seines Regimes erhoben wurde. Im Anfang der 1980er Jahre erbittert geführten Historikerstreit über die Stellung des Diktators im ‚Führerstaat‘ 43 warfen sich ‚Intentionalisten‘ und ‚Funktionalisten‘ gar wechselseitig Verharmlosung vor: Während erstere vor einer Marginalisierung Hitlers warnten, fürchteten letztere, durch eine Überbetonung seiner individuellen Rolle den Blick für die strukturelle Gefährdung der Gesellschaft durch den Rechtsradikalismus zu trüben. Solcherart Gegenwartsbezug gilt gemeinhin als erstrebenswert. Nicht erst Geschichtsdidaktiker unserer Tage sehen in ihm ein Kriterium von zentraler Bedeutung, um das Lernwürdige der Vergangenheit vom Lernunwürdigen zu trennen. Bereits Nietzsche hatte, sich auf Goethe berufend, historische Bildung als „Schaden, Gebreste und Mangel“ kritisiert, insoweit sie nur „Belehrung ohne Belebung“ sei, und gefordert: „Nur soweit

41 Vgl. beispielhaft Gerste 2015 sowie Bork 2020. 42 Conze 2021, 17 sowie Richter 2021. 43 Vgl. die zentralen Beiträge der Debatte in Hirschfeld 1981.

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die Historie dem Leben dient, wollen wir ihr dienen.“ 44 Der hier geforderte Bezug der Geschichte zum aktuellen Leben und seinen Herausforderungen ist vom Grundsatz her mit Sicherheit sinnvoll, weil er neue Perspektiven auf die Vergangenheit eröffnen und ihr eben dadurch zugleich neue Deutungsangebote in Hinblick auf die Gegenwart entlocken kann. Die Gefahr eindimensionalen Lernens mit entsprechend fragwürdigen Rückkopplungen besteht freilich auch hier. Sie ist offenbar dort am größten, wo aus der Vergangenheit abgeleitete – oftmals durchaus vernünftige – Lehren in geschichtspolitische Normen umgeformt werden, die dann ihrerseits unseren Blick auf die Geschichte dominieren. Charakteristisch dafür ist z.B. eine 2018 aus Anlass der einhundertjährigen Wiederkehr des Weltkriegsendes veranstaltete Fernsehdiskussion. In ihr entfaltete Gerd Krumeich seine These, wonach der sog. ‚Dolchstoßlegende‘ wohl durchaus ein wahrer Kern innewohne. Jörn Leonhard, ein nicht minder renommierter Weltkriegshistoriker, versuchte daraufhin, diese These u.a. durch den Vorwurf zu entkräften, dass sich Krumeich mit ihr zum „historischen Anwalt“ derjenigen mache, die im Herbst 1918 und Sommer 1919 die politische Kultur der Weimarer Republik vergiftet hätten, indem sie die Dolchstoßlegende als Entlastungsnarrativ erfanden. 45 Leonhards ‚Argumentation‘ (wenn man sie denn überhaupt als solche bezeichnen will) ist aus offenkundigen Gründen heuristisch irrelevant, doch bedient sie ein verbreitetes Bedürfnis nach politischer Korrektheit. Die Neigung, historische Einsichten je nach gegenwärtiger Befindlichkeit zu gewichten, sie gegebenenfalls zu relativieren oder sich ihnen ganz zu verweigern, ist vor allem im tagespolitischen Diskurs häufig anzutreffen. Anschauungsmaterial dafür bietet z.B. ein Skandal, den im Juni 1983 der damalige CDU-Generalsekretär Heiner Geißler mit einer Bundestagsrede zur Verteidigung des damals hochumstrittenen NATO-Doppelbeschlusses auslöste. Bezugnehmend auf die ‚Grünen‘, aus deren Reihen vor einem „atomaren Auschwitz“ gewarnt worden war, erklärte er: „Der Pazifismus der 30er Jahre, der sich in seiner gesinnungsethischen Begründung nur wenig von dem unterscheidet, was wir in der Begründung des heutigen Pazifismus zur Kenntnis zu nehmen haben, dieser Pazifismus der 30er Jahre hat Auschwitz erst möglich gemacht.“ 46 Dieser Feststellung schloss sich ein Tumult im Plenum an, der auch nicht abebbte, nachdem der Redner klargestellt hatte, dass er mit seiner Äußerung natürlich nicht auf die vom NS-Regime verfolgten deutschen Pazifisten, sondern auf die pazifistische Stimmung in Großbritannien angespielt habe. Noch wochenlang sollte Geißlers vermeintlich infame Behauptung die Öffentlichkeit beschäftigen. Im von uns diskutierten Zusammenhang ist das insofern bemerkenswert, als die Feststellung, grob verkürzt zwar und polemisch zugespitzt, einen kaum bestreitbaren Sachverhalt zum Ausdruck brachte: Die britische 44 Nietzsche 1973a, 113. 45 „History Live: 1918 Schicksalsjahr für Deutschland und die Welt“ (www.youtube.com/watch?v=x-RxgmivK8; aufgerufen am 20.3.2021). 46 Deutscher Bundestag 15.6.1983, 755.

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Öffentlichkeit der Zwischenkriegszeit, geprägt durch die Erfahrung des Ersten Weltkriegs, stand bis 1938 tatsächlich jeglicher Form von Kriegsvorbereitung überwiegend skeptisch bis ablehnend gegenüber, erschwerte so eine Politik rechtzeitiger glaubhafter Abschreckung gegenüber Hitler und war damit zumindest indirekt eine der Ursachen dafür, dass der deutsche Diktator seine Eroberungs- und Vernichtungspolitik erfolgreich ins Werk setzen konnte. Diesen offensichtlichen Zusammenhang waren die Kritiker Geißlers im Umfeld der ‚Friedensbewegung‘ 1983 bereit, rundheraus zu leugnen, sei es, weil sie ihre eigene pazifistische Grundüberzeugung infrage gestellt glaubten, sei es, weil sie ihre ablehnende Haltung gegenüber dem NATO-Doppelbeschluss durch den CDUGeneralsekretär diskreditiert sahen. Der hier skizzierte Fall zeigt einmal mehr, wie historische Sachverhalte für politische Zwecke instrumentalisiert werden, und wie sich durch solche Instrumentalisierung zugleich der Blick auf eben diese Sachverhalte verzerrt. ‚Weisheit‘ im Sinne Burckhardts entsteht daraus sicherlich nicht. Abseits des politischen Streits hingegen, also immer dann, wenn nicht die Wirkung von Argumenten zählt, sondern nur deren Qualität, kann es durchaus zu einem fruchtbaren Dialog zwischen Vergangenheit und Gegenwart kommen. Dabei gibt die Gegenwart die Fragen vor, die wir an die Vergangenheit richten, während diese uns Deutungsoptionen zur Beurteilung gegenwärtiger Phänomene an die Hand gibt. So etwa gewinnt, wer sich ernsthaft mit historischer Kriegsursachenforschung beschäftigt, unter Umständen eine Vorstellung vom Möglichkeitsraum, aus welchem heraus auch heute Kriege entstehen können. Wer das Scheitern von Demokratien in der Geschichte umfassend studiert, bekommt ein Gefühl für die Gefahren, die dieser Regierungsform nach wie vor drohen können. Und wer der Entwicklung von Epidemien und Pandemien in der Vergangenheit nachgeht, mag zu Einsichten über die Verlaufsmuster aktuell grassierender Infektionskrankheiten kommen. Das heißt allerdings nicht, dass das Studium der Geschichte klare Antworten auf die Herausforderungen der Gegenwart liefert. Der Lord Byron zugeschriebene Satz „The best prophet of the future is the past“ beruht denn auch auf einem fundamentalen Missverständnis, dem leider immer wieder sogar Historiker erliegen, die es eigentlich besser wissen müssten. Von Massenmedien als sogenannte ‚Experten‘ eingeladen, um aufgrund ihrer Kenntnis der Geschichte zukünftige Entwicklungen zu prognostizieren, scheitern sie, wie mir scheint, nicht seltener als Menschen ohne vertiefte historische Kenntnisse. Insofern erscheint auch ungewiss, ob es um die amerikanische Außenpolitik in Zukunft wirklich besser bestellt wäre, wenn das Weiße Haus von einem ständigen ‚Council of Historical Advisers‘ beraten würde, wie dies anlässlich der Präsidentschaftswahl 2016 zwei Harvard-Historiker des Landes in einem Manifest forderten. 47 Dessen ungeachtet kann historische Erkenntnis bei der Einschätzung aktueller Probleme aber durchaus hilfreich sein. Die Kenntnis historischer Muster und möglicher Entwicklungsspektren schult in der Regel das realistische Beurteilungsvermögen, schärft den Blick für Chancen und Risiken und lehrt nicht zuletzt die Einsicht in die Grenzen des Möglichen. Sie vermag all dies umso eher, je mannigfacher die Perspektiven sind, unter 47 Allison/ Ferguson, „Applied History Manifesto“ (www.belfercenter.org/publication/applied-history-manifesto – aufgerufen am 11.3.2021).

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denen wir Gelegenheit haben, die Vergangenheit zu studieren. Denn erst die Vielfalt der Blickwinkel bewahrt uns davor, letztlich nur unsere eigenen vorgefassten Meinungen und Urteile auf die Geschichte zu projizieren und so den Gefahren eindimensionalen Lernens zu erliegen. Solche Vielfalt verlangt allerdings zweierlei: Zum einen intellektuelle Offenheit von denjenigen, die sich mit Geschichte beschäftigen. Was für Reisen in ferne Länder gilt, gilt nämlich auch für Reisen in zeitlich ferne Regionen: Lernen tut nur, wer bereit ist, das Andersartige im Anderen auch zu sehen und zu akzeptieren. Die zweite Bedingung betrifft das äußere Umfeld, also den politischen und gesellschaftlichen Rahmen, innerhalb dessen wir uns mit der Vergangenheit auseinandersetzen. Er muss die erwähnte Mannigfaltigkeit der Zugänge zur Geschichte gewährleisten. Eine staatlich gelenkte Geschichtswissenschaft ist daher gar keine Wissenschaft im eigentlichen Sinne, auch wenn sie sich als solche geriert. Es bedarf leider nicht einmal diktatorischer oder autokratischer Verhältnisse, um Vielfalt zu gefährden. Genügen mag dazu bisweilen der durch nationale Mythen, ideologische Konformität oder politische Korrektheitspraktiken eingeengte historische Diskurs in prinzipiell demokratischen Gesellschaften. Tendenzen solcher Einengung sind auch in westlichen Gesellschaften, in den USA wie in Europa, unübersehbar. Umso nachdrücklicher ist daher daran zu erinnern: Für fruchtbares Lernen aus der Geschichte ist die offene Gesellschaft eine unabdingbare Voraussetzung. Erst das Wechselspiel aus Spruch und Widerspruch schafft jene Gemengelage, aus der Einsicht, Erkenntnis, vielleicht sogar Weisheit erwachsen können. 48 Allzu breiter Konsens hingegen – einerlei, ob freiwillig oder politisch erzwungen – behindert das lebendige Wechselspiel zwischen Gegenwart und Vergangenheit und erschwert es, aus Geschichte zu lernen. IV. Was also bleibt als Fazit? Das Ergebnis unserer Überlegungen lässt sich in wenigen Sätzen zusammenfassen: 1. Die Frage nach dem ‚Lernen aus der Geschichte‘ ist ohne nähere Erläuterung mehrdeutig und produziert allein darum schon unterschiedliche, oft gegensätzliche Antworten, deren Richtigkeit sich jeder Überprüfung entzieht. Insoweit stellt sie ein pseudophilosophisches Scheinproblem dar, auf das eine allgemeingültige Antwort schlechterdings nicht erwartet werden kann. 2. Die Vergangenheit hält aus sich heraus keine Lehren bereit. Sie erteilt keine Ratschläge zur Zukunftsgestaltung. Natürlich kann – zumindest in einer offenen Gesellschaft  –  Jedermann aus dem, was er bzw. sie für ‚die Geschichte‘ hält, Konsequenzen ziehen, wie immer er/sie es will. Ob diese Folgerungen dann das sind, was andere

48 Dazu gehört für die historischen Wissenschaften auch, in medial vermittelte oder erst inszenierte Debatten einzugreifen, die sich auf überholte, unvollständige oder verfälschte Wissensbestände berufen und eine rationale Debatte kontrovers beurteilter Sachverhalte erschweren oder unmöglich machen.

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Zeitgenossen oder gar Nachgeborene als ‚Lehren der Geschichte‘ zu akzeptieren bereit sind, steht auf einem ganz anderen Blatt. 3. Der Sinn der Geschichte ist allein der, den wir ihr verleihen. So gesehen sind also erst wir Nachgeborene es, die die Geschichte ‚machen‘, und indem wir sie machen, neigen wir dazu, in sie hineinzuinterpretieren, was wir anschließend als ‚Lehren‘ aus ihr herauslesen. Daher überrascht auch nicht, dass ein und dasselbe historische ‚Lehrbeispiel‘ unterschiedliche Menschen immer wieder zu unterschiedlichen, ja gegensätzlichen Schlussfolgerungen kommen lässt. 4. Der erfolgreiche Lernprozess verläuft als wechselseitiger Dialog zwischen Vergangenheit und Gegenwart. Unser Bild der Geschichte beeinflusst unser Verständnis der Gegenwart und wird zugleich von ihm beeinflusst. Je offener dieser Dialog geführt wird, desto größer ist der Erkenntnisgewinn. 5. Der Erkenntnisgewinn der Geschichte beschert kein Zukunftswissen. Er kann allenfalls eine Ahnung vom Möglichkeitsraum zukünftiger Entwicklungen vermitteln. 6. Der Historiker taugt nicht zum Propheten. Literatur Allison, Graham; Ferguson, Niall: „Applied History Manifesto“ (www.belfercenter.org/ publication/applied-history-manifesto – aufgerufen am 11.3.2021). Assmann, Aleida: Der europäische Traum. Vier Lehren aus der Geschichte, München 2018. Baberowski, Jörg; Conze, Eckart u.a., Geschichte ist immer Gegenwart. Vier Thesen zur Zeitgeschichte. Stuttgart, München 2001. Bork, Hans-Rudolf: Umweltgeschichte Deutschlands, Heidelberg 2020. Bouverie, Tim: Appeasing Hitler. Chamberlain, Churchill and the Road to War, London 2019. Brechenmacher, Thomas: Wie viel Gegenwart verträgt historisches Urteilen? Die Kontro­ verse zwischen Heinrich von Sybel und Julius Ficker über die Bewertung der Kaiserpolitik des Mittelalters (1859–1862), in: Ulrich Muhlack (Hrsg.): Historisierung und gesellschaftlicher Wandel in Deutschland im 19. Jahrhundert, Berlin 2003, 87–112. Burckhardt, Jacob: Weltgeschichtliche Betrachtungen, hrsg. von Rudolf Marx, Leipzig 1935. Chapoutot, Johann: Der Nationalsozialismus und die Antike, Darmstadt 2014. Conze, Eckart: Nationale Vergangenheit und globale Zukunft, in: Jörg Baberowski, Conze, Eckart u.a., Geschichte ist immer Gegenwart. Vier Thesen zur Zeitgeschichte. Stuttgart, München 2001, 43–65. Conze, Eckart: Wilhelms Reich in neuem Glanz, in: DIE ZEIT, Nr. 2, 7.1.2021. Demandt, Alexander: Klassik als Klischee. Hitler und die Antike, in: Ders., Sieben Siegel. Essays zur Kulturgeschichte, Köln 2005, 248–274. Der Große Ploetz: Die Enzyklopädie der Weltgeschichte, 35. Auflage, Göttingen 2008.

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Counterinsurgency im ersten Jahrhundert und in der Moderne: Nichtmilitärische Strategien der Aufstandsbekämpfung im transepochalen Vergleich Michael Zerjadtke

Im ersten Jahrhundert v. Chr. hatte das römische Reich bereits enorme Ausmaße angenommen. Die Provinzen rund um das Mittelmeer waren hauptsächlich durch Siege in Feldschlachten zwischen Truppen erobert worden, die unter einer zentralen Führung standen und einem politischen System angegliedert waren. Unter Augustus und im ersten Jahrhundert kamen einige Gebiete im Alpenraum und Britannien hinzu, im zweiten Jahrhundert neben Dakien noch einige kleinere Territorien. Die große Zeit der Expansion war allerdings spätestens mit der Besetzung Britanniens vorüber und abgesehen von den untereinander zerstrittenen Völkern östlich des Rheins und nördlich der Donau war nur noch ein großer, zentral organisierter Gegner im Osten übriggeblieben. Stattdessen fand nun der absolut überwiegende Teil der bewaffneten Konflikte von der späten Republik bis zur Spätantike innerhalb der Reichsgrenzen statt. Dies waren auf der einen Seite die Bürgerkriege des zweiten und ersten Jahrhunderts v. Chr., das Vierkaiserjahr von 69 n. Chr. sowie einige weitere innerstaatliche Konflikte und auf der anderen Seite Aufstände der Bevölkerung oder bestimmter Gruppen in den Provinzen bzw. besetzten Regionen. 1 Insbesondere solche Erhebungen indigener Bevölkerungen gehorchen anderen Regeln als zwischenstaatliche Konflikte, die durch Schlachten zwischen mehr oder minder geordneten Heeren entschieden werden. Die Trennlinie zwischen Kriegern und Zivilisten ist oft verwischt und das Mittel zum Erreichen des Ziels ist mangels gut ausgebildeter Streitkräfte zumeist nicht die militärische Vernichtung der feindlichen Soldaten. Stattdessen wird mit anderen Techniken versucht, die Besatzungsmacht zum Abzug zu bringen oder ihr Zugeständnisse abzuringen. Das letzte Jahrhundert hat eine ähnliche Entwicklung zu verzeichnen. Die zwischenstaatlichen, „regulären“ Kriege wurden seit dem zweiten Weltkrieg immer seltener und stattdessen nahm die Anzahl der „irregulären“ Konflikte immer mehr zu. 2 Dies ist auch 1 Eine Übersicht über die Aufstände von Augustus bis Commodus liefert: Pekáry 1987. Gallien allein betrachtet: Urban 1999. 2 Im „The Correlates of War Project“ (https://correlatesofwar.org/) sind die weltweit geführten Kriege zwischen 1816 und dem Ende des 20. Jahrhunderts erfasst. Davon sind nur 17% konventionelle,

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der politisch-militärischen Gesamtlage zuzuschreiben, in der es mit den USA eine einzige, durch konventionelle militärische Mittel militärisch nicht zu schlagende Supermacht gibt und der Großteil der modernen Staaten mit effektivem Militär aus politischen Gründen aber auch aufgrund der Aussicht auf ein schlechtes Kosten-Nutzen-Verhältnis vor militärischen Angriffen zurückschreckt. Somit bleibt nichtstaatlichen aber auch staatlichen Akteuren nur, auf irreguläre Mittel zurückzugreifen. Die Konflikte der Nachkriegszeit machen deutlich, dass irreguläre Kriegführung für die Aufständischen selbst bei stark unterschiedlichen materiellen Voraussetzungen durchaus Aussichten auf Erfolg haben. Ein Faktor hierfür dürfte die Publikation der entsprechenden Texte durch Mao Tse-tung gewesen sein, dessen Ausführungen zum Guerillakrieg durch andere kommunistische Bewegungen studiert und adaptiert wurden. 3 Die Anwendung von konventionellen Strategien und Taktiken durch staatliche Armeen war bei der Führung von irregulären, asymmetrischen Kriegen selten von Erfolg gekrönt. Doch seit den 1960er Jahren wurde dieser Art von Auseinandersetzung mehr und mehr Beachtung geschenkt und es wurden Techniken entwickelt, mit denen auch irreguläre Konflikte erfolgreich zu Ende geführt werden können. Dabei werden zusätzlich zu militärischen Taktiken auch weitere Mittel eingesetzt, die mit klassischer Kriegführung wenig zu tun haben, wie intensive Gegenpropaganda, Aufbauarbeit und Einbeziehung der besetzten Bevölkerung. 4 Da auch die Römer bei der Bekämpfung der Aufstände innerhalb ihrer Grenzen überaus erfolgreich waren, stellt sich die Frage, ob bzw. inwieweit die heute angewendeten Methoden nicht auch in der Antike bereits zum Repertoire der Bevölkerungskontrolle gehörten. Zwar ist nicht anzunehmen, dass es bereits ausgearbeitete Strategien zur Bekämpfung von Aufständen gab, dennoch sind Parallelen bei bestimmten Elementen zwischenstaatliche Kriege und 83% Bürgerkriege oder Aufstände bzw. insurgencies: Kilcullen 2010, IXf. 3 Mao Tse-tung 1961. Im Jahr 1960 publizierte Ernesto „Che“ Guevara sein Buch „La guerra de guerillas“ sowie 1963 einen weiteren Aufsatz zur Methode in der Zeitschrift „Cuba Socialista“: Guevara 1998. Der brasilianische Revolutionär Carlos Marighella schrieb 1969 das „Minimanual do Guerrilheiro Urbano“, eine Abhandlung zum Guerillakampf in der Stadt an statt in ländlichen Gebieten. Sein Stadtguerilla soll mit seinen Aktionen unter anderem die Guerillakämpfer in den ländlichen Gebieten unterstützen: Marighella 1969, 13–15. Auch die RAF verfasste 1971 am Beginn ihrer Aktivitäten eine Schrift mit dem Titel „Das Konzept Stadtguerilla“, in dem die Besonderheiten eines Kampfes in städtischer Umgebung diskutiert wurde. Dazu auch: Kilcullen 2015. 4 In der deutschsprachigen Literatur wurde die asymmetrischen Kriegführung zumeist in akademischen Abhandlungen betrachtet, in denen das praktische Vorgehen und die Gegenmaßnahmen kaum eine Rolle spielen. Bspw. Eiselt 2011; Ehrhart 2017; Krech 2008; Münkler 2006; Schröfl/ Cox/Pankratz 2009; Schröfl/Pankratz 2014; Wassermann 2015. Zur Definition „asymmetrischer Konflikt“ auch: van Engeland 2011, 134f. Hinzu kommen eine Reihe von teilweise übersetzten, abenteuerromanartigen Darstellungen oder Propagandatexten, wie: Buchner 1965; Djilas 1978; Piekalkiewicz 1969. Das Führen von asymmetrischen Konflikten bzw. die Counterinsurgency wurde in die Betrachtung mit einbezogen bei: Heuser 2013; Steinmetz 2011. Die englischsprachige Literatur, auch in Form von Einzelfallanalysen und strategischen Studien, ist deutlich umfangreicher. Zu nennen sind bspw. Callwell 1996; Donovan 2015; Galula 1964; Gant 2014; Greene 1962; Jones 2008; Kilcullen 2009; ders. 2010; ders. 2015; McFate 2019; Nagl 2005; Parlade 2006; Taber 1965.

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moderner und römischer Herangehensweise erkennbar. In der vorliegenden Studie soll versucht werden, diese Annahme zu überprüfen. 5 Hierfür erfolgt als erstes eine Zusammenfassung einiger Grundlagen und moderner Strategien mit dem Schwerpunkten auf Mao Tse-tungs Kriegführung sowie auf dem Irak und Afghanistan in jüngster Zeit. 6 Im Anschluss wird auf die Entwicklung der Aufstandsbekämpfung, auch Counterinsurgency genannt, eingegangen. Nach einer Diskussion der Vergleichbarkeit antiker und moderner Konflikte erfolgen fünf Case Studies aus dem ersten Jahrhundert vor und nach Christus. Den Anfang macht der Bundesgenossenkrieg, der aufgrund der engen Beziehung der Konfliktparteien aus der Reihe fällt. Die Feldzüge gegen die Erhebungen unter Führung von Julius Sacrovir in Gallien, Boudicca in Britannien und der Bataver in Gallien und Germanien können als reguläre Aufstände gegen die Besatzungsmacht gewertet werden. Zuletzt wird knapp auf den Jüdischen Krieg eingegangen, in dem die Römer die aufständische Bevölkerung gänzlich anders behandelten als in den vorherigen Fällen. Das Problem der Terminologie soll der Vollständigkeit halber kurz zur Sprache kommen. Da weder die römische Sichtweise auf die unterschiedlichen Aufstände noch die juristische Perspektive im Fokus steht, genügt es, einige moderne Begriffe zu besprechen. Guerilla ist wohl der bekannteste Name für Krieger, die sich aus der Zivilbevölkerung rekrutieren und keine ausgebildeten Kämpfer sind. Dieser Begriff wird daher in den entsprechenden Abschnitten über moderne Beispiele gebraucht. Von ihnen sind Partisanen abzugrenzen, die zusammen mit regulären Kräften des eigenen Staates kämpfen und rechtlich als Kombattanten zählen. Der in den letzten Jahrzehnten häufiger genutzte Begriff des Terroristen wird aufgrund seiner stark wertenden Konnotation nicht verwendet. 7 Als Bezeichnung für solche irregulären Konflikte werden und wurden ebenfalls unterschiedliche Namen verwendet, die verschiedene Perspektiven widergeben, ebenso wird deren Führung von staatlicher Seite mit mehreren Begriffen bezeichnet. Hier hat sich allerdings in letzter Zeit der Begriff Counterinsurgency durchgesetzt, der anders als Counterguerilla Operations alle Mittel umfasst, auch friedliche Unterstützung und Aufbauarbeit. 8 Im vorliegenden Aufsatz werden die modernen Begriffe nur in den neuzeitlichen Beispielen verwendet, wohingegen in den Passagen über die antiken Fallstudien auf neutralere Termine zurückgegriffen wird.

5 Althistorische Fachliteratur über Counterinsurgency ist recht selten. Zu Griechenland: Anson 2015; Lentakis 2015. Zu Rom: Breccia/Perea Yébenes/Schmitt 2015; Mattern 2010; Russell 2016. Vgl. Grygiel 2018. 6 Weitere Konflikte in El Salvador, Peru, Spanien, Haiti, Brasilien und Guatemala werden in kürzerer Form abgehandelt bei: Manwaring 2012. 7 Eiselt 2011, 62. Zum Begriff Terrorist: Ebd. 63–67. Zum Kombattantenstatus: Ebd. 236–252. Vgl. Heuser 2013, 15–23. Abgrenzung Partisan: Ebd. 20f. 8 Heuser 2013, 136f. Irreguläre Konflikte werden u.a. small wars, petite guerre, Kolonialkriege, irreguläre Kriege oder Operationen in Übersee genannt. Zum Begriff insurgency, insbesondere in seiner Anwendung auf antike Konflikte: Brice 2016, 8–12. Vgl. Turner 2016, 285.

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Von Mao nach Afghanistan: Insurgency Warfare in der Moderne. Zwar nicht das erste, doch sicherlich das einschlägigste und einflussreichste moderne Lehrbuch zur praktischen Guerillakriegführung stammt aus der Feder von Mao Tsetung. 9 In seinem Werk Yu Chi Chan (engl. On Guerilla Warfare) aus dem Jahr 1937 beschreibt er detailliert den Aufbau einer breiten Widerstandsbewegung im besetzten China mit dem Ziel, die Besatzungsmacht Japan zu vertreiben. Er sieht den Guerillakrieg als einen Aspekt einer allumfassenden Kriegsführung, die auch die regulären chinesischen Armeeeinheiten umfasste und in dem die irregulären Krieger nach und nach in den Status regulärer Soldaten übergleiten sollten. 10 Die Unterstützung der Bevölkerung war ebenfalls von großer Wichtigkeit, weshalb Mao die Bedeutung der politischen Propaganda betonte und die Unterwanderung der Bevölkerung zur Gewinnung von Unterstützern als den ersten Schritt zum bewaffneten Aufstand darstellte. 11 Er schlägt eine Teilung der Kräfte in aktive Guerillakrieger und lokale Selbstverteidigungskräfte vor, die vorrangig Aufklärungs- und Sicherungsaufgaben übernehmen sollten. Die Kampfeinheiten sollten hauptsächlich lokal aktiv sein und bei sich bietenden Gelegenheiten koordinieren. 12 Die Angriffe sollten vielerorts erfolgen und den Gegner dazu zwingen, die Kräfte zu verteilen. 13 Diese Zerstreuung der Kräfte machten sich die Guerillakrieger zunutze, indem sie nur Gefechte gegen relativ schwache Feindkräften führten, die sie sicher gewinnen würden. 14 Aus Maos Ausführungen lassen sich eine Reihe von taktischen Grundsätzen extrahieren, die Robert Taber wie folgt formuliert hat: 1. Vorrangig zersprengte, isolierte, geringe Feindkräfte angreifen, stärkere später 2. Erst Übernahme ländlicher Gebiete und kleiner bzw. mittlere Städte, große Städte später 3. Hauptaufgabe ist das Schwächen feindlicher Kräfte, nicht das Besetzen von Orten 4. In jedem Kampf eine absolute Übermacht aufbieten, idealerweise einschließen und vernichten 5. Schlagen einer Schlacht nur bei sicherem Sieg – niemals unvorbereitet angreifen 6. In der Schlacht keine Zurückhaltung, volle Stärke und voller Einsatz, Verluste egal 7. Überfälle den Feind vorrangig, wenn er in Bewegung ist 8. Verstärke die eigenen Truppen mit den erbeuteten Waffen und gefangenen Personal 9 Das erste Lehrbuch zur Guerillakriegführung ist das Werk „Plan of discipline extracted from journals of Major Robert Rogers“ von 1759, in dem das Vorgehen der „Rogers’ Rangers“ genannten Einheit im Siebenjährigen Krieg in Nordamerika beschrieben ist. 10 Mao Tse-tung 1961, 41f. 11 Mao Tse-tung 1961, 43–45. Die 7 Stufen des revolutionären Krieges lauten: (1) Arousing and organizing the people, (2) Achieving internal unification politically, (3) Establishing bases, (4) Equipping forces, (5) Recovering national strength, (6) Destroying enemy’s national strength, (7) Regaining lost territories. 12 Mao Tse-tung 1961, 78–81. 13 Mao Tse-tung 1961, 94–96. 14 Vgl. Mao Tse-tung 1961, 112.

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9. Zwischen Kampagnen Truppen trainieren und aufrüsten, dem Feind keine Atempausen gönnen 15 Durch die erbeuteten Waffen können immer mehr Krieger ausgerüstet werden, die den Kampf zugleich an unterschiedlichsten Stellen führen. 16 Nach und nach führte diese Taktik der Nadelstiche zum Rückzug der Truppen in die städtischen Zentren, was den chinesischen Truppen mehr Bewegungsfreiheit in den ländlichen Gebieten ermöglichte. Diese massiveren Truppenkonzentrationen in den Städten konnten zwar nicht militärisch geschlagen werden, doch die Waren- und Kommunikationswege dazwischen waren entblößt. Nachrichten und Güter konnten nun leicht von den revolutionären Truppen abgefangen werden, wodurch die Befehlskette, die Nahrungsversorgung, aber auch die ökonomische Ausbeutung des besetzten Gebietes stark gestört wurde. Diese Strategie wurde auch andernorts von Aufständischen übernommen. 17 Mao war klar, dass man mit dieser Strategie dem Gegner stark zusetzen, ihn aber nicht endgültig vernichten konnte. Sein Entwurf der Guerillakriegführung zielte darauf ab, die Kosten der Besatzung massiv zu erhöhen und zugleich die Opposition gegen den Kriegseinsatz in Japan selbst zu stärken. 18 Maos strategischer Entwurf setzte das Vorhandensein einer regulären Armee, die Unterstützung der unterdrückten Bevölkerung sowie eine feste politische Ideologie voraus, deren Verbreitung wichtiger Bestandteil der Kriegführung war. Doch auch wenn diese Voraussetzungen nicht allesamt erfüllt waren, konnten erfolgreiche Guerillakampagnen geführt werden. Robert Taber stellte seine 1965 erschienene Analyse „The War of the Flea“ auf eine breitere Basis, indem er eine Reihe von Aufständen betrachtete. Am Beispiel Kubas machte er deutlich, was für eine erfolgreiche Guerillakampagne vorausgesetzt werden muss, nämlich (1) eine instabile politische Lage, die sich einer starken sozialen Spaltung und vielleicht auch stagnierender Wirtschaft äußert, (2) ein politisches Ziel auf der Basis einer Moral oder Ideologie, die leicht verständlich ist und für die es sich zu kämpfen lohnt, (3) eine unterdrückende Regierung, die nicht zu Kompromissen bereit ist und (4) eine revolutionäre, politische Organisation, die in der Lage ist, eine überzeugte und dauerhafte Führung zu stellen. 19 In neueren Publikationen wird die Grundvoraussetzung unter Punkt eins umfangreicher ausgeführt. Neben der Unzufriedenheit mit der politischen, wirtschaftlichen und sozialen Verwaltungsarbeit werden auch nationale bzw. Unabhängigkeitsbestrebungen genannt. 20

15 16 17 18 19 20

Taber 1965, 52f. Mao Tse-tung 1961, 83. Mao Tse-tung 1961, 67. Verallgemeinert bei: Taber 1965, 164. Mao Tse-tung 1961, 98f. Taber 1965, 154. Die unterste Stufe der SORO (Special Operations Research Office)-Pyramide der unkonventionellen Kriegführung lautet „Dissatisfaction with political, economic, social administration, and/or other conditions; national aspiration (independence) or desire for ideological and other changes“. Kilcullen 2019, 64, Fig. 2. Aus: Tompkins/Bos 2013, 6.

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Die Unterstützung der Bevölkerung wurde nicht allein mit politischer und ideologischer Propaganda erreicht. Oft trugen die Maßnahmen der feindlichen Armee zur Solidarisierung mit den Kriegern bei, wie Taber für den zweiten Indochinakrieg und den Konflikt in Nordirland betont. Ständige Angriffe und Razzien schürten Ressentiments und fördern die Rekrutierung. 21 Eine solche Einbeziehung unbeteiligter Zivilbevölkerung konnte in gewisser Weise auch provoziert werden, indem Guerillazellen sich in bewohntem Gebiet versteckten, das dadurch zur potentiellen Zielscheibe von Militärschlägen wurde. 22 Die Menge an rekrutierten Guerillakriegern musste nicht einmal sehr hoch sein, da, wie bereits Maos beschrieb, ein endgültiger militärischer Sieg nicht zwingend notwendig war. In Nordirland sollte eine Situation geschaffen werden, in der die Weiterführung der Besetzung auf der Weltbühne nicht mehr vertretbar oder für die britische Regierung zu peinlich und schlichtweg zu teuer und unprofitabel war. Georgios Grivas auf Zypern hatte ebenfalls das Ziel, die internationale Meinung gegenüber den Briten zu beeinflussen, sodass schlussendlich die UN einschreiten und das Problem zusammen mit den zyprischen Bewohnern lösen sollte. Verallgemeinert formuliert Taber, das Ziel der Guerillakriegführung sei nicht der Sieg in Schlachten, sondern das Verhindern der eigenen Niederlage und die Verlängerung des Krieges. 23 Dem Phänomen, dass viele Krieger erst aufgrund der Aktionen der staatlichen bzw. Besatzungstruppen zur Waffe greifen und eigentlich gar nicht auf dem entsprechenden ideologischen Fundament stehen, hat der australische Offizier David Kilcullen ein eigenes Buch gewidmet. In seiner Studie über diesen „accidental guerrilla“ beschreibt er einen Kreislauf im Wechselspiel zwischen den in der Bevölkerung präsenten Guerillakriegern, den regulären Feindkräften und der Zivilbevölkerung. Nachdem sich eine Gruppe Guerillas in einer ländlichen Gegend festgesetzt hat (infection) verbreitet sie dort und in der Umgebung mit Gewalt die eigene Ideologie (contagion). Daraufhin kommt es zum Eingriff von bewaffneten Kräften von Außerhalb (intervention), was von der lokalen Bevölkerung abgelehnt wird, die sich daraufhin mit den Guerillakriegern solidarisiert (rejection). Dies führt zu einer Verbreitung der „infection“, wodurch der Kreislauf von neuem beginnt und sich die Unterstützung und Mannstärke der Aufständischen erhöht. 24 Am Beispiel der Aufstandsbekämpfung im Irak 2007 lässt sich zeigen, dass dieser Effekt schwerwiegende Auswirkungen haben kann. Bis zu 70% der Krieger fühlten sich durch die Umstände gezwungen, am bewaffneten Konflikt teilzunehmen, um ihre Gemeinschaft zu schützen. Dieser hohe Anteil resultierte allerdings möglichweise aus der religiösen Zersplitterung der Region und lässt sich nicht unbedingt auf andere Konflikte übertragen. 25 In Afghanistan nennt Kilcullen wiederum andere Gründe für die Teilnah21 22 23 24

Taber 1965, 91; 100; 159. Vgl. Taber 1965, 157. Zum Konflikt in Nordirland: Bennett 1959. Taber 1965, 98; 121f; 147 Grafische Darstellung: Kilcullen 2009, 35, Fig. 1.1. Detaillierte Beschreibung des Phänomens: Ebd. 28–38. 25 Zum Anteil von 70%: Kilcullen 2009, 127. Im Irak ermöglichte die Spaltung in die Hauptgruppen der Schiiten und Sunniten die Entstehung des Kreislaufes zum „accidetal guerrilla“ ohne Beteiligung der Koalitionstruppen. Al-Qaida-Krieger infiltrierten sunnitische Gemeinden, bedrohten sie

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me an den Kampfhandlungen. Manche lokalen Kräfte griffen schlichtweg aus Kampfeslust zur Waffe und nutzen die sich ihnen bietende Chance, um an einem aufregenden Gefecht teilzunehmen. Anders als die Guerillakrieger im Irak zogen viele Paschtunen des Kämpfens selbst wegen in die Schlacht. 26 Bei den Bergstämmen der pakistanischen Paschtunen werden die Kriegszüge und Plünderungen als eine Art „extremer Sport“ angesehen. Manche Familien habe angestammte Plätze für Überfälle, die die Väter den Söhnen zeigen. 27 Der große Unterschied zwischen der geradezu sportlichen Teilnahme an kriegerischen Konflikten durch die Paschtunen und dem verzweifelten Griff zur Waffe durch die Iraker dürfte in der jeweiligen soziokulturellen Situation zu suchen sein. Während die Bergstämme Afghanistans und Pakistans mobil und relativ unabhängig waren und in ihrer Heimat selbst entscheiden konnten, ob und unter welchen Bedingungen sie an einer Kampfhandlung teilnahmen, waren insbesondere die im Flachland oder städtischen Gebieten lebenden Iraker den Angriffen ausgeliefert. Ein weiterer bedeutender Unterschied ist vermutlich auch in der kulturellen und moralischen Prägung zu finden, vor allem zwischen der urbanisierten Bevölkerung des Irak und den tribalen Strukturen der Bergbewohner. 28 Counterinsurgency (COIN) seit dem zweiten Weltkrieg Im Rahmen des Zweiten Weltkrieges 29 fand neben den regulären Gefechten auch eine Vielzahl an irregulären Unternehmen statt, häufig durchgeführt von Kommandoabteilungen oder unabhängig operierenden Einheiten, vorrangig Fallschirmjägern. In manchen Fällen trugen die Teilnehmer dabei auch zivile Kleidung oder gar Uniformen der Gegenseite. 30 Da dies, wie auch andere Verhaltensweisen, aus Perspektive der deutschen

26 27 28 29

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und griffen dann benachbarte schiitische Dörfer an, die sich wiederum an den unschuldigen Sunniten rächten. Dies machte die sunnitischen Gemeindemitglieder wiederum für die extremistischen Ideen empfänglich. Dazu: ebd. 141. Kilcullen 2009, 40f; 77. Kilcullen 2009, 227. Zu den tribalen Strukturen in Afghanistan, siehe: Kilcullen 2009, 74–76. Weiterhin auch Ahmed 1983, 3–28. Um den Rahmen der Betrachtung nicht unnötig auszudehnen, wurden die Ansätze zur Aufstandsbekämpfung vor dem 2. Weltkrieg ausgespart. Vorherige asymmetrische Konflikte fanden vorrangig in den Kolonien der europäischen Mächte statt und wurden nicht so intensiv analysiert wie die späteren Kriege nach 1945. Zu erwähnen wäre die umfangreiche Studie „Small Wars“ aus dem Jahr 1896 von Charles Callwell (1996), das als Basis für das „Small Wars Manual“ des US-Marine Corps von 1935 diente (Small Wars Manual 1940), sowie die Abhandlung über „The Dual Mandate in British Tropical Africa“ aus dem Jahr 1922 von Frederick Lugard (1965). In der Regel trugen Kommandotruppen ihre Uniformen, Sabotageeinheiten hingegen operierten oftmals in Zivil. In Einzelfällen entfernten britische Kommandosoldaten die Abzeichen ihrer Uniformen oder trugen zur Tarnung deutsche Uniformen: Zaddach 1963, 8–10; 98f. Die Haager Landkriegsordnung sah in Artikel 1 folgende Bedingungen für den Status als Kriegführende (Kombattanten) vor: (1) eine feste Hierarchie mit verantwortlichem Vorgesetzten, (2) aus der Ferne

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Führung den Regeln des Krieges widersprach, wurden gefangene Kommandosoldaten oftmals erschossen oder als Spione behandelt und hingerichtet. 31 Andere bewaffnete Kräfte bewegten sich gänzlich außerhalb der Regeln des Krieges und waren gar keine Mitglieder der Streitkräfte. 32 In den vom Deutschen Reich besetzten Gebieten waren dies vorrangig Partisanen. Sie waren in vielen Ländern aktiv und wurden teilweise von den Alliierten unterstützt. 33 Für die deutschen und verbündeten Streitkräfte ergab sich daraus ein Problem, da die Partisanen nicht als Kombattanten gewertet und demnach nicht wie solche behandelt wurden. Da sie nicht uniformiert waren, konnte man sie unter der Zivilbevölkerung nicht identifizieren, doch würde man nicht gegen sie vorgehen, würden ihre Reihen gestärkt. Vielfach entschieden sich die zuständigen Offiziere daher zu brutalen Racheakten als Repressalien. Für jeden getöteten deutschen Soldaten bzw. Kombattanten wurden zumeist zehn willkürlich ausgesuchter Zivilisten hingerichtet, um eine Abschreckungswirkung zu erreichen. 34 Doch die Grausamkeiten hatten wohl eher einen gegenteiligen Effekt und stärkten die Solidarität der Bevölkerung mit den Partisanen. Die Problematik und die relative Machtlosigkeit der deutschen Besatzer illustriert das Dilemma der Bekämpfung bewaffneter Gegner, die sich der Guerillakriegführung bedienten. Die deutschen Truppen waren nirgends sicher, konnten den Feind nicht erkennen, wenngleich sicher war, dass er von der Bevölkerung aktiv oder passiv unterstützt wurde. Dieser

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erkennbares Abzeichen, (3) offenes Führen der Waffen, (4) Beachtung der Gesetze und Gebräuche des Krieges. Laun 1950, 148. Zur Problematik des Kombattantenstatus in asymmetrischen Konflikten: van Engeland 2011. Zaddach 1963, 97–100. Siehe dazu Hitlers Kommando-Befehl vom 18.10.1942 in: Ebd. 101f. Die Mindestanforderungen Uniformierung, offenes Tragen der Waffen, Kriegführung nach Brauch und feste Strukturen wurden in den zwei Zusatzprotokollen vom 8. Juni 1977 abgewandelt. Nun reichte allein das offene Tragen der Waffen beim militärischen Aufmarsch und beim Angriff aus, um als Kombattant zu gelten: Zusatzprotokoll zu den Genfer Abkommen vom 12. August 1949 über den Schutz der Opfer internationaler bewaffneter Konflikte (Protokoll I), Zusatzprotokoll zu den Genfer Abkommen vom 12. August 1949 über den Schutz der Opfer internationaler bewaffneter Konflikte, Art. 43, 44. Das Oberkommando der Wehrmacht ließ seit 1944 für gefangene Partisanen den Status von Kriegsgefangenen zu, wenngleich sich beispielsweis in Italien die Kommandeure nicht daran hielten: Gentile 2012, 408. Zur Problematik der irregulären Kombattanten als Kriegsgefangene bis 1975: Schwab 1976. Vgl. Heuser 2013, 76f. Zum Partisanenkrieg in Italien 1943–1954: Gentile 2012. Zum Partisanenkrieg in Jugoslawien: Forstner 1995. Schreiber 1996, 105. Die Partisanenbekämpfung wurde als „Bandenbekämpfung“ bezeichnet: Gentile, 2012, 75f. Zur Repressalquote von 10 zu 1 aus juristischer Sicht: Gribbohm 2006. Die aus Perspektive der späteren bundesdeutschen Rechtsprechung vom gewohnheitsrechtlich als angemessen gewertete Quote von 10 zu 1 wurde allerdings oftmals massiv überschritten: Heuser 2013, 197– 199. In der Konsequenz wurde 1949 das Genfer Abkommen IV über den Schutz von Zivilpersonen in Kriegszeiten beschlossen. Darin wird in den Artikeln 64 und 65 die Einsetzung zusätzlicher Strafbestimmung durch die Besatzungsmacht ermöglicht. Allerdings konnte nach Artikel 68 die Todesstrafe nur für vergehen verhängt werden, „wenn geschützte Personen der Spionage, schwerer Sabotage an militärischen Einrichtungen der Besatzungsmacht oder vorsätzlicher strafbarer Handlungen schuldig sind, die den Tod einer oder mehrerer Personen verursacht haben, und wenn die Gesetze des besetzten Gebietes, die vor dem Beginn der Besetzung in Kraft standen, für solche Fälle die Todesstrafe vorsahen.“

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Kriegführung hatte man von deutscher Seite nur massive Gewalt entgegenzusetzen, die nur wenig bis keine Wirkung zeigte. In den Jahrzehnten nach der Kapitulation Deutschlands und Japans stieg der Anteil an internationalen Konflikten, die zu einem bedeutenden Teil oder gar ausschließlich von einer Seite als Guerillakrieg geführt wurden. Die regulären Streitkräfte waren in unterschiedlichem Maße fähig und gewillt, sich diesen neuen Gegebenheiten anzupassen. Im Folgenden soll anhand einiger Beispiele die Entwicklung dargelegt werden. Das erstes theoretisches Werk zur Entwicklung einer effektiven Counterinsurgency stammt aus der Feder von David Galula, der in seinem 1964 erschienenen Buch eigene Erfahrungen in Indochina, Griechenland und Algerien verarbeitet hat. Er betonte, dass bei einer Aufstandsbekämpfung die wichtigste Fokusgruppe nicht die feindlichen Kräfte seien, sondern die Zivilbevölkerung. 35 Zudem bestehe, analog zu Maos Diktum, ein solcher Krieg zu 20% aus militärischen Aktivitäten und zu 80% Propaganda. 36 Im Idealfall würde es schon vor Ausbruch der heißen Kriegsphase der bewaffneten Auseinandersetzung gelingen, den Konflikt lösen. 37 Gelang das nicht, empfahl Galula, statt den Guerillakriegern nachzusetzen, auf die Bevölkerung zu fokussieren. Die COIN-Kräfte sollten ihre Anstrengungen auf einzelne Regionen konzentrieren. 38 Ist ein Gebiet ausgewählt, auch anhand von Kriterien wie Terrain, Infrastruktur, Klima und, ob es leicht zu isolieren und abzugrenzen ist, sollen militärische Kräfte den gesamten Bereich von außen nach innen und dann noch einmal nach außen durchkämmen. Im Anschluss werden Truppen bei oder in den Zivilsiedlungen stationiert. Sollte die Bevölkerung zu dünn verteilt sein, muss sie eventuell in größeren Siedlungen zusammengeführt werden. 39 Im Anschluss muss die Akzeptanz, das Vertrauen und schließlich die aktive Mitarbeit der Bevölkerung erreicht werden. Hierfür sollten Maßnahmen im Dialog beschlossen und Entscheidungen begründet werden. Es muss Kontakt mit Personen aufgebaut werden, die sich als Verbündete anbieten. Es muss glaubhaft vermittelt werden, dass man ein dauerhaftes Engagement anstrebt. Diverse Praktiken, wie die Ausgabe von Ausweisen oder das Anlegen von Familienbüchern dienen zur Verbesserung des Verständnisses der Verbindungen und Abhängigkeiten. Projekte zur Verbesserung der ökonomischen, 35 Galula 1964, 4–6. 36 Galula 1964, 63. 37 Die vier von Galula hierfür vorgeschlagenen Mittel sind: 1. direkte Aktionen gegen die Revolutionäre (Gefangensetzen), 2. indirekte Aktionen (Gründe der Unzufriedenheit beseitigen), 3. Infiltration der Revolutionäre, 4. Stärken der politischen Maschine. Galula 1964, 44–47. 38 Bedeutung der Bevölkerung, Ablauf der Säuberung von Guerillas. Galula 1964, 52–55. Drei Typen von Gebieten sind zu unterscheiden: Rote, die von den Guerillas kontrolliert werden, Pinkfarbene, in die sie sich ausbreiten wollen und es wenig Aktivitäten gibt und Weiße, die noch nicht betroffen sind. Ebd. 49. Man könne sich von roten über die pinken zu den weißen Gebieten vorarbeiten, was schwieriger, aber potentiell erfolgreicher sei, oder aber umgekehrt, was leichter sei. Ebd. 67f. Die erste Region sollte als eine Art Test dienen. Ebd. 73f. 39 Kriterien für die Geländeauswahl: Galula 1964, 69. Anfängliches Durchkämmen: Ebd. 76f. Waren Umsiedlungen notwendig, sollte man versuchen, die Wohnverhältnisse zu verbessern, um den entstehenden Unmut zu minimieren. Ebd. 78–80.

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sozialen, kulturellen und medizinischen Situation stärken die Bindung. 40 Wenn genug Daten gesammelt und mögliche Unterstützer und Verwandte der Guerillas ausgemacht sind, werden Verdächte gefangengenommen und zugleich militärische Unternehmen in der Umgebung durchgeführt. Diese Aufgabe sollte von anderen Truppen durchgeführt werden, um das Vertrauen in die schon länger vor Ort stationierten Soldaten nicht zu zerstören. Im nächsten Schritt müssen freie und faire lokale Wahlen durchgeführt werden, deren Ergebnisse zu akzeptieren sind. Geringere Aufgaben dienen zum Testen der gewählten Personen, die bei Versagen mit Hilfe der Bevölkerung durch Effektivere ersetzt werden müssen. Um eine breite Gegenbewegung aufzubauen und in der Bevölkerung zu verankern, ist die Bildung einer Partei zu forcieren. Sind all diese Schritte geglückt, ist eine letzte massive militärische Aktion zu unternehmen, die sich in gleicher Weise wie am Beginn der COIN über das gesamte Gelände einer Region erstrecken muss und durch die die letzten verbliebenen Guerillas vertrieben, gefangen oder ausgelöscht werden sollen. 41 Diese Taktik sollte in allen von Guerillas besetzten oder angegriffenen Gebieten nach und nach angewendet werden. Durch die Einbindung der Bevölkerung können einmal gesäuberte Bereiche idealerweise einem erneuten Einsickern von Guerillas wiederstehen. Diese von Galula vorgeschlagene Strategie entspricht im Wesentlichen dem Vorgehen der Briten in den 1950er Jahren in Malaysia gegen die Malaysische Kommunistische Partei (MCP). 42 Man erkannte frühzeitig die Bedeutung der Unterstützung der Bevölkerung und Generalleutnant Sir Harolf Briggs erstellte den nach ihm benannten „Briggsplan“, der auf die Zivilbevölkerung fokussierte. Diese sollte sich in absoluter Sicherheit wissen, um einen ständigen Informationsfluss aufzubauen und den Kontakt mit den Guerillas der MCP abzubrechen. War die Versorgung mit Nahrung und Nachrichten unterbrochen, sollten die feindlichen Gruppen geschlagen werden, indem man sie zwang, die britischen Truppen auf eigenem Grund anzugreifen. 43 Wie von Galula vorgeschlagen, wurde ein Teil der der Bevölkerung in gesicherte Siedlungen verpflanzt und es wurde eine indigene Polizeitruppe aufgestellt. Man versuchte aktiv, vor allem Chinesen einzubinden, die der Sache der Guerillas gegenüber offener waren. Um stets über die Lage im Land unterrichtet zu sein, pflegte die Führung einen engen Kontakt mit lokalen Beamten und Behörden. Dazu wurde ein effektiver Geheimdienst aufgebaut. 44 Auch das offensive Vorgehen passte man den feindlichen Kräften an. Nachdem sich die konventionelle militärische Taktik als unbrauchbar erwiesen hatten, wurde die Soldaten alternativ geschult. Als Vorbild diente die „Ferret Force“, die ein Offizier in Eigeninitiative aufgestellt hatte. Dabei handelte es sich um vier Gruppen von je zwölf Freiwilligen, die nur leicht 40 Dialoge und Kommunikation von Entscheidungen: Galula 1964, 80f. Datensammlung und Projekte: Ebd. 83–85. 41 Säuberung: Galula 1964, 86–89. Wahlen und Test der Gewählten: Ebd. 89–91. Partei: Ebd. 92f. Abschließender Militärunternehmen: Ebd. 93f. 42 Die Strategie des „revolutionären Krieges“ der Malaysische Kommunistische Partei entspracht recht genau dem Vorbild Maos in China: Nagl 2005, 60–65. 43 Nagl 2005, 71f. 44 Umsiedlung: Nagl 2005, 74f. Aufbau Polizeitruppe: Ebd. 74; 76f. Enger Kontakt mit lokalen Beamten und Behörden: Ebd. 88f. Aufbau Geheimdienst: Ebd. 91–93.

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ausgerüstet waren, sich aus dem Land ernährten und selbst Guerillataktiken anwendeten. Im neu eingerichteten Far Eastern Land Force Training Center, genannt „Jungle Warfare School“, wurden junge Offiziere in der Guerillakriegführung ausgebildet, mittels derer feindliche Kräfte besser aufgespürt und ausgeschaltet werden konnten. 45 Neben Waffengewalt erwies sich auch psychologische Kriegsführung als überaus wirkungsvoll. Es wurden Kopfgelder ausgesetzt, die manche Guerillas dazu brachten, ihre eigenen Anführer zu verraten, Radiosender und Presseorgane geschaffen, Flugblätter mit teilweise individualisierten Inhalten abgeworfen und Flugzeuge mit Lautsprechern eingesetzt, die Aufnahmen von übergelaufenen Gegnern verbreiteten, die zum Aufgeben überreden sollten. 46 Übergelaufene Guerillas halfen dabei, neue Techniken in die Dschungelkampfausbildung zu integrieren. Die Erfahrungen wurden in dem Buch „The Conduct of Anti-Terrorist Operations in Malaya“ zusammengefasst, das 1950 in erschien. Sieben Jahre später wurde Malaysia in die Unabhängigkeit entlassen und nach weiteren drei Jahren konnte der Guerillakrieg siegreich beendet werden. 47 Den Amerikanern gelang es im Gegensatz dazu nicht, der Kriegführung der Nationalen Front für die Befreiung Südvietnams (NFB) eine wirksame Strategie entgegenzusetzen. Nachdem es der NFB mit den von Mao skizzierten Taktiken gelungen war, die französischen Truppen zu besiegten, versuchten auch die Amerikaner den Krieg auf reguläre Weise zu führen, wie sie es in Europa getan hatten. 48 Zwar erkannten viele Offiziere vor Ort, dass die herkömmlichen Methoden nicht geeignet waren, doch das Armeekommando war nicht davon zu überzeugen, nicht einmal von Präsident Kennedy. 49 Vereinzelt kam es zu effektiven Maßnahmen, wie den Combined Action Platoons (CAP) von Vietnamesischen Soldaten und US-Marines, die in den Dörfern vor Ort untergebracht waren, Aktivitäten der CIA oder auf ziviler Ebene durch den Civil Operations and Revolutionary Development Support (CORDS). Man hörte weder auf den Rat der erfolgreich agierenden Briten, noch auf die Ergebnisse diverser Studien. 50 Am Ende erreichte die 45 Versagen konventioneller Taktik: Nagl 2005, 66f. Neue Taktik: Ebd. 68–70. 46 Nagl 2005, 92–95. Die Propagandaarbeit fand auch in den Dörfern statt, wo zusätzlich Fernseher eingesetzt. Ehemalige Terroristen berichteten über ihr Leben im Dschungel und ihre Beweggründe, um überzulaufen. 47 Innovationen durch Guerillas, Buch: Nagl 2005, 96f. Wahlen, Unabhängigkeit und Sieg: Ebd. 101–103. 48 Nagl 2005, 118–120. 49 Offiziere vor Ort: Nagl 2005, 122. Kennedy vergeblicher Versuch: Ebd. 124f. Die Lernunfähigkeit der Armee resultierte unter anderem aus der Kopflastigkeit und Größe des Verwaltungsapparates und speziell des Military Assistance Command in Vietnam (MACV). Ebd. 137–142; 174–177; 180. Ein Beispiel für die Versuche, sich mit kritisch mit der neuen Art der Kriegführung und dem Versagen der konventionellen Kriegführung zu beschäftigen, war der Band von Greene (1962), der bei Präsident Kennedy auf großes Interesse stieß. 50 CAP: Nagl 2005, 156–158. CIA: Ebd. 127–129. CORDS: Ebd. 164–166. Rat der Briten: Ebd. 130f. Die Studie des Program for the Pacification and Long-Term Development of South Vietnam (PROVN) schlug Ansätze wie die der Briten vor. Ebd. 159f. Eine Studie nach der Tet-Offensive machte deutlich, dass man ohne substantielle Verbesserung der südvietnameischer politischen und militärischen Führung nicht würde siegen können. Ebd. 167f. Weitere Stimmen, vor allem vor Ort:

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NFB genau das Ziel, welches im revolutionären Krieg angestrebte wurde, nämlich, dass auf Druck der Öffentlichkeit der Krieg verloren gegeben und die Truppen abgezogen wurden. 51 Die in Malaysia in den 1950er Jahren erfolgreich durchgeführte Strategie wurde in sehr ähnlicher Weise auch auf den Philippinen angewendet. Dort besteht seit 1986 eine kommunistische Insurrektion, die mit mäßigem Erfolg bekämpft wird. Dies liegt unter anderem an der parallelen Existenz mehrerer staatsfeindlicher Gruppierungen, denn neben der „Communist Party of the Philippines“ und ihrer „New Peoples Army“ sind auch die islamistischen „Abu Sayaff Group“ und „Moro Islamic Liberation Fron“ aktiv. Die Herangehensweise der philippinischen Regierung und Armeeführung, von Antonio Parlade analysiert, vereint militärische, propagandistische und enwicklungspolitische Initiativen (Strategy of Holistic Approach). 52 Bestimmte, von Guerillas beherrschte Gebiete werden ausgewählt, um die Strategie des „Clear-Hold-Consolidate-Development“ umzusetzen. Die erste Stufe ist, analog zu Vorschlag Galulas, das Einkreisen und Durchkämmen eines Gebietes. Für die anschließende Sicherung haben sich sogenannte Special Operation Teams als sehr effektiv erwiesen. Ihnen obliegt neben dem aktiven Kampf auch das Sammeln von Informationen und die psychologische Kriegsführung und Propaganda. Sie leben für Monate zusammen mit der Bevölkerung, bauen Verbindungen auf und versuchen Informanten zu rekrutieren. 53 Im Anschluss identifizieren Teams der „Kapit-Bisig Laban sa Kahirapan – Comprehensive Delivery of Social Services“ nach den Informationen der Militärverwaltung Bereiche für Aktivitäten. Durch Koordinationstreffen vor Ort werden die Projekte ausgesucht, wie sozialer Wohnungsbau, Bau von Straßen, Brücken, Bewässerungssystemen, Schulen, Abwassersystemen oder Verbesserung der Stromversorgung. Bei deren Auswahl, Planung, Umsetzung und Weiterführung bzw. Wartung wird die Bevölkerung eng mit einbezogen, wodurch die Aktivitäten der KALAHI-CIDSS hohe Akzeptanz genießen. Zeitgleich wird die Zusammenarbeit mit der Lokalverwaltung verbessert und es werden eigenen Polizeikräfte sowie „Citizen Armed Forces Geographical Units“ aufgestellt, um die Kommunikations- und Handelswege zu schützen. Die Initiativen und Anstrengungen der Regierung wurden ebenso wie deren Grenzen und Grundlagen aktiv verbreitet, um das Verständnis zu erhöhen und Propaganda zu betreiben. Nach und nach wurden die Guerillas auf diese Weise in einem Territorium isoliert, sodass sie sich in andere Gebieten absetzen mussten, wo sie aufgrund mangelnder Ortskenntnis leichter zu finden und zu bekämpfen waren. War auf diese Weise eine Region gesichert, dann konzentrierten sich die Anstrengungen auf ein benachbartes Gebiet. Parlade nennt Ebd. 131–136. Einflussversuche von ministerialer Ebene: Ebd. 160–164. Einige Lektionen aus erfolgreichen der Einbettung von US-Offizieren in die lokalen Truppenverbände sind zusammengefasst bei: Donovan 2015. 51 Nagl 2005, 180. Ziel: vgl. Taber 1965, 121; Mao Tse-tung 1961, 69f; 98. 52 Gesamtüberblick: Parlade 2006, 76–106. Strategy of Holistic Approach: Ebd. 80. Aktive Guerillabewegungen: Ebd. 86. 53 Clear-Hold-Consolidate-Development: Parlade 2006, 86. Umkreisen und Durchkämmen: Ebd. 92f.

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dieses Konzept „Win-Hold-Win“. 54 Eine Reihe von Faktoren steht dieser durchaus erfolgversprechenden COIN-Strategie jedoch im Wege. Schon die Geographische Situation des Landes mit seinen Tausenden von Inseln und vielen schlecht erschlossenen Gebieten spielt den Guerillas in die Hände. Probleme bereiten auch spezifische Merkmale der philippinischen Kultur, in der Reziprozität und Patronage wichtige Rollen spielen und daher persönliche Bindungen als deutlich wichtiger empfunden werden als Zusagen durch die Zentralregierung. Aufgrund der Unterbezahlung der Regierungsbeamten ist die ohnehin verbreitete Korruption nahezu notwendig, was zugleich die Effektivität des gesamten Staatsapparates verringert und so zu massiv reduzierten Steuereinnahmen führt. Zudem hält das Militär an kontraproduktiven Praktiken fest, wie dem häufigen Wechsel von Kommandeuren, was das Aufbauen von gegenseitigem Vertrauen verhindert, und dem Fokus auf „Body Count“ als Maßstab für erfolgreiches Vorgehen. Die gut eingebundenen Special Operations Teams werden nicht effektiv genug genutzt. Sie sind nicht für die Rechtsprechung zuständig, die bei den Stammeinheiten der Region liegt, welche zumeist nur einen geringen Bezug zur Bevölkerung haben und daher wenig Vertrauen genießen. Zudem wechseln die Teams nach einiger Zeit ihrer Einsatzgebiete, wodurch die Verbindung der Bevölkerung mit der Regierung wieder schwindet. 55 In Afghanistan war die COIN der amerikanischen bzw. Koalitionsstreitkräfte am effektivsten, wenn man mit indigenen Gruppen oder lokalen Anführern zusammenarbeitete. Unternehmen, die im Alleingang durchgeführt wurden, waren hingegen am wenigsten effektiv. 56 Dies betraf auch militärische Operationen, bei denen insgesamt eine relativ geringe Mannstärke an Truppen durch die internationale Koalition eingesetzt wurde. Die Bekämpfung feindlicher Guerillas gelang am besten, wenn afghanische Kräfte die Einsätze anführten oder der Waffeneinsatz vorrangig durch lokale Kräfte bzw. Anwohner geschah. In den von Guerillakriegern unterwanderten Gebieten wurde die Strategie „Clear, Hold, and Expand“ angewendet, bei dem sich Einheiten von einem Kerngebiet langsam nach außen vorarbeiteten und so den gesicherten Raum vergrößerten („inkspot“ strategy). Auch hier lebte man über lange Zeit mit der Bevölkerung zusammen, um Vertrauen und einen Informationsfluss aufzubauen. Darüber hinaus wurden mobile bewaffnete Aufklärungs- oder Überfalleinheiten aufgestellt, um Gebiete zu überprüfen, zu sondieren oder durch punktuelle Schläge die Abläufe der Guerillas zu stören. Um die Schlagkraft der relativ geringen Militärpräsenz zu erhöhen, wurde die Luftunterstützung

54 Aktivitäten der KALAHI-CIDSS: Parlade 95f. Zusammenarbeit mit Lokalverwaltung und Polizei: Ebd. 97f. Propaganda und Isolierung Guerilla: Ebd. 98f. Win-Hold-Win: Ebd. 97. 55 Geographie und Kultur: Parlade 2006, 76–79. Unterbezahlung und Korruption: Ebd. 2006, 113f. Er gibt an, dass wohl nur um die 15% der eigentlich fälligen Steuern auch wirklich gezahlt würden. Verhalten Militär: Ebd. 84f; 109. Nutzung der SOT: Ebd. 93f. 56 Jones 2008, 87f. Der auf persönlicher Erfahrung im Einsatz in Irak und Afghanistan basierende Studie von Jim Gant aus dem Jahr 2009 wird bedeutender Einfluss auf die Vorgehensweise der USTruppen in Afghanistan zugeschrieben: Gant 2014.

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stark erhöht. 57 Eine weiterer Fokus der COIN-Strategie lag auf zivil-militärischen Operationen, die lokale und regionale Projekte durchführten in deren Rahmen Informationen aus der Bevölkerung gesammelt werden konnte (human intelligence, HUMINT). Derartige Projekte wurden vorrangig durch Provincial Reconstruction Teams (PRTs) durchgeführt, die aus 60 bis 100 Personen bestanden, darunter auch Personal für Zivilaufgaben, Spezialeinsätze und psychologische Kriegsführung, sowie einer geringen Anzahl an Zivilpersonal aus dem State Department und anderen Regierungseinrichtungen. Die PRTs unterstützten die afghanischen Regierungseinrichtungen, nahmen Sicherungsaufgaben wahr und finanzierten Aufbauprogramme. 58 David Kilcullen stellt den Bau einer Straße in der Kunar Provinz als case study eines solchen Projektes vor. Hierbei wurden vorrangig Paschtunen aus der unmittelbaren Umgebung angestellt, die sich durch ihre Mitarbeit mit dem Projekt in gewisser Weise identifizierten. Die Baumaßnahmen ermöglichten es den lokalen Stammesältesten und den Regierungsvertretern Einkommen zu verteilen, an einer gemeinsamen Aufgabe zu arbeiten und auf diese Weise Ansehen und Vertrauen aufzubauen. Durch Verhandlungen mit den Dorfältesten wurde das Verständnis von deren Zuständigkeiten sowie der politischen Lage verbessert. Um die Arbeiter zu binden, versuchte die Baubehörde stets herauszufinden, wieviel die Taliban für einen Überfall auf die Straße zahlten, um mit dem Lohn über diesem Betrag zu bleiben. Auf diese Weise wurden die Taliban nach und nach von der Bevölkerung separiert und waren besser anzugreifen. Diese Nebeneffekte waren insgesamt wichtiger als die errichtete Straße selbst. 59 Lokal eingesetzte „team village missions“ waren ebenfalls sehr erfolgreich beim Aufbau von Vertrauensbeziehungen. Die Teams bestanden aus Zivilpersonal und solchem für psychologische Kriegsführung, oft unterstützt durch Nachrichtendienstoffiziere, Übersetzer, PR-Agenten, medizinisches Personal und afghanische Kräfte. Die Gesundheitsversorgung war besonders angesehen und wurde oft in Anspruch genommen. 60 In Afghanistan gelang es den Guerillas nicht, die Bevölkerung auf breiter Basis für ihre Sache zu gewinnen. Die afghanische Regierung überwachte die Moscheen, wusste daher über Rekrutierungsversuche gut Bescheid, und wurde zudem auch von einer Reihe religiöser Führer unterstützt. Auch der Versuch, auf Basis ethnischer Bruchlinien Unmut in der Bevölkerung zu schüren, schlug fehl, da Vertreter der unterschiedlichen Ethnien offiziell in die Regierungsarbeit einbezogen wurden. 61 Allerdings gab es bei der Umsetzung der Strategie auch Probleme. So machte die geringe Militärpräsenz eine großflächige Umsetzung von „Clear, Hold, and Expand“ unmöglich. Vielstufige Hierarchien, auch innerhalb des US-Militärs, verzögerten Entscheidungen und verkomplizierten die Kom57 Zusammenarbeit mit lokalen oder indigenen Kräften, relativ geringe Mannstärke: Jones 2008, 88–90. Kampfeinsatz unter afghanischer Leitung: Ebd. 92f. „Clear, Hold, and Expand“ und Aufklärungseinheiten: Ebd., 93–96. Luftunterstützung: Ebd. 96f. 58 Informationen aus der Bevölkerung: Jones 2008, 99f. Provincial Reconstruction Teams: Ebd., 106f. Neben dem erwähnten Straßenbau konnte wurden im Rahmen dieser Projekte auch beispielsweise ein Wasserkraftwerk oder ein Schlachthaus errichtet: Kilcullen 2015, 8f. 59 Kilcullen 2009, 70–109, bes. 82; 90f. 60 Jones 2008, 108. 61 Versagen des Versuchs der Propaganda auf religiöser oder ethnischer Basis: Jones 2008, 101–103.

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munikation in kritischen Situationen. Die Zusammenarbeit mit anderen Staaten war zum Teil schwierig, weil manchen der politische Wille, die nötige Kampfausrüstung und zudem insgesamt eine übergeordnete Leitungsstelle fehlten. Der Einsatz der Provincial Reconstruction Teams wurde durch mehrere Faktoren eingeschränkt. Es war schwierig, das nötige, in Entwicklungsarbeit geschulte Personal zu rekrutieren, weshalb die Arbeit von Soldaten übernommen werden musste. Die Kampagnen waren oft zu kurz, um ein vertieftes Verständnis der lokalen Politik und Kultur zu erhalten. Auch gab es zu wenige PRTs und in manchen Gegenden machte die brisante Sicherheitslage die Umsetzung von Entwicklungsprojekten unmöglich. 62 Die Entwicklungen im Juli und August 2021 machten deutlich, dass, obgleich die Guerillakrieger in Afghanistan zurückgedrängt werden konnten, es nicht gelungen war, die Selbstverteidigungskräfte des afghanischen Staates in der notwendigen Weise aufzubauen. Die Führung der US-Truppen sammelte die Erfahrungen und fasste sie im Counterinsurgency Field Manual für Army und Marines zusammen. 63 Dessen Inhalte reflektieren die wichtigen Aspekte für eine erfolgreiche Counterinsurgency Kampagne. Als erstes wird die Bedeutung der zivil-militärischen Kooperation hervorgehoben und umrissen. Es folgt eine detaillierte Betrachtung der Möglichkeiten zur Informationsgewinnung. Die nächsten Kapitel widmen sich der Gestaltung einer COIN-Kampagne und der praktischen Durchführung entsprechender Operationen, dem Aufbau einer Beziehung zu den nationalen Sicherheits- und Streitkräften vor Ort sowie Erläuterungen zur Führung und ethischen Fragen. 64 Anders als das britische, 1950 in erster Auflage erschienene Buch „The Conduct of Anti-Terrorist Operations in Malaya“, das vorrangig ein taktischer Ratgeber für einzelne Gruppen und Frontoffiziere war, oder der „Special Forces Advisor Guide TC 31–73“ von 2008, fokussiert das CFM auf die operative und strategische Ebene. David Donovan ergänzte die Informationen des CFM durch eine Studie, die auf den Erfahrungen der US-amerikanischen Militärberater in Vietnam aufbaute und künftigen Offizieren eine Reihe von Ratschlägen für den alltäglichen Einsatz formulierte. 65 Das CFM, ebenso wie der Special Forces Advisor Guide von 2008, deckt allerdings naturgemäß nur den vom Militär durchzuführenden Teil einer COIN-Kampagne ab und beinhaltet keine umfangreichen Hinweise zur Propaganda bzw. psychologischen Kriegsführung und zi-

62 Geringe Militärpräsenz: Jones 2008, 95. Hierarchien: Ebd. 97f. Zusammenarbeit mit anderen Staaten: Ebd. 105f. Probleme bei den Provincial Reconstruction Teams: Ebd. 107f. 63 Counterinsurgency Field Manual (2007), hrsg. vom United States Department of the Army, U.S. Army Field Manual No. 3–24, Marine Corps Warfighting Publication No. 3–33.5, Chicago/London. (im Folgenden CFM 2007) 64 Die Titel der Kapitel im CFM 2007 lauten: 1. Insurgency and Counterinsurgency, 2. Unity of Effort: Integrating Civilian and Military Activities, 3. Intelligency and Counterinsurgency, 4. Designing Counterinsurgency Campaigns and Operations, 5. Executing Counterinsurgency Operations, 6. Developing Host-Nation Security Forces, 7. Leadership and Ethics for Counterinsurgency, 8. Sustainment. 65 Donovan 2015. Mit explizitem Bezug auf die fehlenden Informationen aus dem CFM: Ebd. 7.

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vilen Aufbauarbeit. David Kilcullen geht in einem Kapitel seines Buches „Counterinsurgency“ auf diese zivile Seite ein, kratzt allerdings nur an der Oberfläche. 66 Die aufgeführten Beispiele zeigen, dass sich die grundlegenden strategischen Ansätze von COIN seit der erfolgreichen Anwendung in Malaysia eigentlich kaum geändert haben. A. Der Hauptfokus der Anstrengungen muss auf der Bevölkerung liegen, die geschützt und die durch ständige Präsenz von Truppen und zivilem Personal kontrolliert werden muss. Auf diese Weise können die relativ wenigen Guerillakrieger isoliert werden, wodurch sie gezwungen sind abzuziehen, riskante Expeditionen durchzuführen oder sich aufzulösen. B. Der Einsatz von Waffengewalt muss mit Bedacht geschehen und die Taktik muss sich an den Gegebenheiten des Guerillakrieges orientieren, indem die Gegner entweder in gleicher Weise gejagt und überfallen oder mit massiertem Kräfteeinsatz umstellt oder punktuell zerschlagen werden. C. Um die Bevölkerung zu gewinnen, muss die militärische Kampagne von einer umfassenden zivilen Aufbauarbeit begleitet werden, die die Lebensqualität, Sicherheit und Entwicklungsmöglichkeiten merklich verbessert. D. Sowohl bei den militärischen als auch bei den zivilen Aktivitäten muss die Bevölkerung sooft und so intensiv wie möglich eingebunden werden, um den Rekrutierungspool der Guerillas zu verringern, die Identifizierung mit den jeweiligen Projekten zu stärken und das Vertrauen in die Regierung zu vertiefen. E. Die gesamte COIN-Kampagne muss durch Propaganda begleitet werden, um Guerillas zum Abfall zu bewegen und die Anstrengungen der Regierung bzw. Besatzungsmacht zu kommunizieren. Art der Propaganda und Intensität der Anstrengungen hängen stark von der Art des Konfliktes und der „Sache“ der Guerillas ab. Für weltanschauliche Konflikte, wie während des kalten Krieges, gelten möglichweise andere Regeln als für religiös motivierte Konfrontationen.

Vergleichbarkeit und Fallauswahl Trotz des großen zeitlichen Abstandes zwischen neuzeitlicher und antiker Kriegführung, der enormen technischen Fortschritte und des ethischen und rechtlichen Wandels, sind vielfach Parallelen zu finden, sobald man die strukturellen Ebenen betrachtet. Die meisten in den vorangegangenen Abschnitten behandelten Konflikte waren entweder indigene Aufstände gegen koloniale bzw. Besatzungsmächte oder revolutionäre Kriege als Stellvertreterkonflikte im Rahmen des Kalten Krieges. Während letztere Konstellation in der Antike keine Entsprechung hat, lassen sich für erste Situation eine Vielzahl von Beispielen 66 Kilcullen 2010, 147–161. Das entsprechende Kapitel 5 „Deiokes and the Taliban: Local Governance, Bottom-up State Formation, and the Rule of Law in Counterinsurgency“ beginnt mit dem von Herodot (1,96) erwähnten mannäischen König.

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anführen. In den von Rom eroberten oder besetzten Gebiete kam es hin und wieder zu Unmut oder Aufständen, wenngleich nicht so häufig, wie man vielleicht erwarten könnte. Geordnete Erhebungen, wie bei neuzeitlichen Insurrektionen, waren relativ selten. Dies lag vermutlich erstens an der sozialen und politischen Zersplitterung der meisten Gebiete, die einer engen überregionalen Zusammenarbeit im Wege stand, und zweitens an einer fehlenden „Sache“, für die man die Bevölkerung leicht gewinnen konnte. Die Freiheit von der römischen Herrschaft war als Grund kaum brauchbar, weil die meisten Bewohner der Gebiete ohnehin immer Untertanen sein würden und vielleicht wussten, dass ihnen ein riskanter Befreiungskampf nur einen anderen Herrscher einbringen würde und nicht die Freiheit. Daher entstammen die Initiatoren und Teilnehmer an Aufständen gegen die römische Herrschaft zumeist der Oberschicht, die sich bei Erfolg wohl Positionen an der Spitze der neuen Herrschaftsstrukturen erhofften. Die Betrachtung soll sich im Wesentlichen auf die frühe Kaiserzeit konzentrieren. In dieser Phase fanden einige gut dokumentierte Aufstände statt, die in der Forschung intensiv diskutiert worden sind. Auch wurden alle Aufstände erfolgreich niedergeschlagen und die betroffenen Gebiete wieder von Rom besetzt. Nach den augusteischen Reformen waren die Administration und das Militär in den kaiserlichen Provinzen auf die Person des Kaisers ausgerichtet und die staatlichen Einrichtungen dienten nicht mehr als Werkzeuge für ambitionierte Politiker, um ihre Vorhaben umzusetzen oder ihren soziopolitischen Status zu erhöhen. Dies und Professionalisierung von Legionen und Hilfstruppen sowie der hauptsächlich militärische ritterliche cursus honorum steigerten die Wahrscheinlichkeit, dass das Vorgehen der jeweiligen Feldherren und Statthalter zumindest zum Teil einem Schema folgte, einer Strategie sozusagen. Wie aus Thomas Pekárys Liste hervorgeht, sind im ersten, wie auch im zweiten Jahrhundert eine ganze Reihe von Unruhen bekannt. 67 Sicherlich gab es zusätzlich eine Anzahl weiterer Erhebungen, dies nicht den Weg in die überlieferten Quellen geschafft haben oder, wie beispielsweise der Aufstand des Kinadon im Sparta des vierten Jahrhunderts v. Chr., die entdeckt wurden, bevor die Verschwörer zu den Waffen greifen konnten. 68 Andere Unruhen wurden von eigenen Truppen verursacht und hatten keinen Rückhalt in der Bevölkerung und können daher nicht als Aufstände im Sinne der vorliegenden Analyse gewertet werden. Um geeignete Konflikte zu identifizieren müssen einige Merkmale erfüllt sein. Erster und wichtigster Punkt ist, dass es sich nicht um symmetrische Kriege mit staatlichen oder halbstaatlichen Akteuren auf der Gegenseite handelte, sondern um Gruppen oder Schichten innerhalb der Provinzbewohner als treibende Kräfte. Sie waren darauf angewiesen, Unterstützung für ihren Kampf zu erlangen, wodurch ein weiteres Merkmal eines solchen Konfliktes erfüllt ist, nämlich die kritische Bedeutung der Unterstützung der Bevölkerung. Aus dieser Konstellation, verbunden mit dem Status der Römer als fremde Besatzungsmacht, ergab sich eine geographische Dimension, da sich die römischen Kräfte in den Städten bzw. für sie errichteten Lagern konzentrierten und die ländlichen und wenig erschlossenen Gebiete als Rückzugsräume dienen konnten. Bei 67 Pekáry 1987, 137–145. 68 Dazu aktuell: Zimmermann 2019, 105–119.

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der Betrachtung der praktischen Kriegführung durch die Aufständischen lassen sich einige der neun oben auf Seite 312f. genannten taktisch-strategischen Punkte wiederfinden, je nach dem soziopolitischen Aufbau der Gesellschaft und der Gestaltung des Landes. Ein wichtiges Kriterium ist auch das Ziel der aufständischen Kräfte, nämlich die Vertreibung der römischen Besatzer. Da diese vor allem in der Kaiserzeit nicht davon ausgehen konnten, die römischen Streitkräfte zu vernichten, sodass der Staat keine militärischen Ressourcen mehr aufbringen konnte, musste es nur gelingen, den Kampfeswillen oder die Unterstützung der militärischen Kampagne zu brechen. Anders als in den modernen revolutionären Kriegen spielte, soweit nachvollziehbar, die Propaganda keine vergleichbar große Rolle. Dies hatte unterschiedliche Ursachen, darunter sicher auch das Fehlen konkurrierender Weltanschauungen und, mit Ausnahme des Judentums, von exklusiven monotheistischen Religionen. Weiterhin dürfte es auch technische Grenzen gegeben haben, effektive und umfassende Propaganda zu betreiben. Allerdings war es aufgrund der Verbreitung von Waffen, der in den meisten Kulturen traditionellen Rolle der erwachsenen Männer als Krieger, der Bedeutung kriegerischer Betätigung in manchen Kulturen und der geringeren Hemmschwelle zum Einsatz von Waffengewalt auch leichter als in der Moderne, Mitstreiter zu rekrutieren. Mit Ausnahme der ersten Fallstudie werden sich die übrigen vier an diesen Kriterien orientieren. Am Beginn wird mit dem Bundesgenossenkrieg ein Konflikt betrachtet, in dem die aufständische Partei juristisch gesehen nicht aus den Bewohnern einer Provinz entstammte, sondern frei war, wenngleich vertraglich gebunden. Auch waren die Truppen zu einem höheren Grad staatlich organisiert und nicht als Guerillas aus der Zivilbevölkerung rekrutiert. Das Beispiel wurde dennoch aufgenommen, um zu überprüfen, ob die Grundzüge des späteren Vorgehens auch schon in der späten Republik nachweisbar sind. Es folgen der Aufstand des Julius Sacrovir in Gallien, der Boudiccaaufstand in Britannien, der Bataveraufstand sowie der jüdische Krieg. Wie in den vorhergehenden Abschnitten dargelegt wurde, sollte nach der heutigen Vorstellung bei Counterinsurgency warfare ein großer Teil der Mühen in andere Bereiche neben dem aktiven Kampf fließen. Dies sind der Schutz der Bevölkerung, der Aufbau eines Vertrauensverhältnisses, die Verbesserung der Lebensqualität sowie der Möglichkeiten der Teilhabe, die Integration indigener Truppen in die bewaffneten Kräfte und Propaganda für das eigene Regime. Da die Quellenlage es nicht ermöglicht, alle erwünschten Aspekte in der Antike zu bearbeiten, müssen die Punkte zum Zwecke der Vergleichbarkeit ein wenig angepasst werden. Die zu betrachtenden Konflikte wurden mit deutlich intensiverer Waffengewalt gelöst als es in der modernen Counterinsurgency vorgesehen ist. Dementsprechend war kein Aufstand von besonders langer Dauer. In dieser Zeit wird den nichtmilitärischen Maßnahmen, wie sie heute vorgesehen sind, in der Regel keine Aufmerksamkeit geschenkt. Dies ändert sich allerdings nach dem Ende der militärischen Maßnahmen. Dementsprechend sollen in den Abschnitten der case studies nicht vorrangig die praktischen Feldzüge nachvollzogen werden, sondern die Behandlung der Bevölkerung in der Zeit nach dem Ende der Waffengewalt. Da die Römer stets mit dem erneuten Aufflammen von Aufständen rechnen mussten, was im Fall Galliens und der Juden ja auch geschah, war der

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Umgang mit den Bewohnern unmittelbar nach dem Ende der Aufstände von elementarer Wichtigkeit, um keine zusätzliche Feindseligkeiten zu befeuern. Dementsprechend ist anzunehmen, dass die Maßnahmen zumindest zu einem bestimmten Grad darauf ausgelegt waren, die Ablehnung der römischen Herrschaft zu minimieren. Der Bundesgenossenkrieg Der Krieg zwischen Rom und einigen seiner Bundesgenossen auf der Apenninenhalbinsel zwischen 91 und 88 v. Chr. war insofern besonders, als dass die Römer gegen ihre eigenen Mitstreiter kämpfen mussten, mit denen sie seit Jahrhunderten zusammen ins Feld gezogen waren. 69 Einen solchen Konflikt hatte es seit dem zweiten Latinerkrieg 340 bis 338 v. Chr. nicht gegeben. 70 In den zahlreichen Feldzügen der Republik hatten die Bundesgenossen stets einen bedeutenden Teil der Truppen gestellt, oftmals bis zur 50%. 71 Allerdings waren die Bundesgenossen von den Legionären separiert und fühlten sich nicht zugehörig, was die Spaltung vorantrieb. 72 Trotz der enormen Anstrengungen und Opfer war den italischen Bundesgenossen stets das Bürgerrecht verwehrt geblieben und damit das Mitbestimmungsrecht über Krieg und Frieden sowie bei der Binnenpolitik, die ganz Italien betraf. Allerdings mischten sich römische Beamte durchaus in die inneren Angelegenheiten der Völker ein, was sehr kritisch gesehen wurde. 73 Im Jahr 91 v. Chr. war ein letzter Antrag des Volkstribuns Marcus Livius Drusus auf Verleihung des Bürgerrechts gescheitert und im selben Jahr kam es zu den ersten Kampfhandlungen. 74 Der Kern des Aufstandes gegen die römische Dominanz waren die Marser und Samniten, andere jedoch, beispielsweise die Griechenstädte und die Etrusker, beteiligten sich anfangs nicht an der Erhebung. 75 Viele Aufständische schlossen sich zu einem Bündnis 69 Die tatsächlichen Gründe für den Abfall von Rom und die Ziele der Aufständischen werden in der Forschung diskutiert. Zumeist wird angenommen, dass man das Bürgerrecht und damit die rechtliche Gleichstellung anstrebte, doch andere nehmen an, man habe stattdessen eine gänzlich andere Ordnung auf der Apenninhalbinsel errichten wollen. Dazu: Dart 2014, 10–21. Zur Angabe der Kriegsgründe in den Quellen: ebd. 24–41. Zum Ablauf des Krieges siehe auch: Matyszak 2014. 70 Zum Vergleich: Dart 2014, 47. 71 Keppie 1998, 21–44; bes. 21–23. 72 Rosenstein 2012, 91–93. 73 Frühere Versuche, das Bürgerrecht zu erhalten: Dart 2014, 47–51. In den 120er Jahren war die Erweiterung der civitas auf die socii bereits einmal gescheitert: Ebd. 53–56. Statt ihren Verbündeten entgegen zu kommen, wurden die Bundesgenossen, die nach Rom umgezogen waren, 95 v. Chr. noch einmal hinausgeworfen. Die lex Licinia Mucia zwang sie zur Rückkehr in ihre Heimat. Ebd. 61–64. Zur Einmischung in die inneren Angelegenheiten: Ebd. 56–59. 74 Dart 2014, 64f. Marcus Livius Drusus wurde ermordet, um die Einbringung des Gesetzes zu verhindern: Ebd. 93–97. 75 Appian nennt Marsi, Paeligni, Vestini und Marrucini, die sofort dabei waren sowie bald darauf Picentes, Frentani, Hirpini, die Leute von Pompeji und Venusia, Iapyges, Lucani, Samnites und andere Völker südlich des Flusses Liris. App. Civ. 1,39. Im Jahre 90 kam es aus in Etrurien und Umbrien zu kleineren Revolten, sodass Rom auch Truppen dorthin entsandte: Dart 2014, 143–146.

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zusammen, das eine Art Gegenentwurf zum römischen Staat sein sollte. Es wurde ein Senat in der Stadt Corfninium eingerichtet, die programmatisch passend in Italia umgetauft wurde. Eigene Münzen mit dem italischen Stier, der die römische Lupa besiegte, unterstrichen die Absicht des Vorhabens. 76 Da die socii bestens mit den römischen Praktiken vertraut waren, konnten diese trotz der Aufstellung großer Heere keine Entscheidung allein auf militärischem Wege erzwingen. Man gab daher dem Drängen nach und eröffnete mit der Lex Julia und der Lex Calpurnia den Italikern, die nicht an der Erhebung beteiligt waren, einen Weg zum Bürgerrecht. 77 Im Folgejahr 89 v. Chr. wurde durch die Lex Pompeia de Transpadanis den treuen Bundesgenossen südlich des des Po das Bürgerrecht und denen nördlich davon das latinische Recht verliehen. Die Lex Plautia Papiria weitete das Angebot schließlich auch auf die Aufständischen aus und konnten so den Großteil der bewaffneten Auseinandersetzungen beenden. 78 Lukaner und Samniten führten den Krieg in Unter- und Mittelitalien allerdings noch fort. Ihnen kam der Zufall zu Hilfe, denn durch den neu aufflammenden Bürgerkrieg zwischen Sullanern und Marianern konnten die Römer ihnen nicht militärisch beikommen. Um Unterstützung unter den Italikern zu gewinnen, die sich noch nicht unterworfen hatten, wurde die Bedingung der Lex Plautia Papiria, sich Rom zu ergeben, gestrichen. 79 Als sich 85 v. Chr. Sullas Rückkehr aus dem Osten andeutete, versuchte Cinna nochmals, unter den Italikern auszuheben. Sulla hingegen versuchte dies zu verhindern und bot Schonung und das Bürgerrecht an. Kalabrien, Apulien und der Großteil Picenums sagten zu, die Samniten, Lukaner, große Teile Kampaniens, Etruriens und Umbriens blieben ihm gegenüber feindlich. Somit waren die Italiker nun gespalten, erhielten schlussendlich aber alle das Bürgerrecht. 80 Die eingebürgerten Gebiete unterliefen in den nachfolgenden Jahrzehnten einen Wandel, der auf administrativer Ebene Romanisierung genannt werden kann. 81 Nachdem durch Sulla bis zu 120.000 Veteranen auf konfisziertem Land angesiedelt worden waren, 82 wurden die Gebiete Italiens durch neue errichtete oder dazu erhobene municipia gegliedert, die eigene ordines erhielten. Dadurch wurde die Urbanisation ländlicher Gegenden voran trieben. Lokale Identitäten blieben allerdings weiterhin bestehen. In der maßgeblichen Zenturiatsversammlung in Rom hatten die Stimmen der Italiker nun Gewicht und konnten Entscheidungen beeinflussen. 83 Auch diente man nun in den Le76 Dart 2014, 106–113; Salmon 1982, 129. 77 Zur Verleihung der Lex Julia: Dart 2014, 172–178. Zuerst erhielten die Bewohner von Etrurien und Umbrien das Bürgerrecht: Ebd. 44f. Die Lex Calpurnia erlaubte die Vergabe der civitas an Soldaten, die zusammen mit den Römern gekämpft haben: Ebd. 180f. 78 Dart 2014, 181–185. 79 Keaveney 1987, 180–184. 80 Keaveney 1987, 184–187. 81 Manche Autoren sehen die kulturellen Veränderungen eher als Hellenisierung an, da der maßgebliche Einfluss, auch auf Rom, von Griechenland ausging. Speziell Samnium wurde auch durch Kampanien beeinflusst. Scopacasa 2015, 239; 284. 82 Salmon 1982, 131f. 83 Keaveney 1987, 189f. Die Anzahl der städtischen Kommunen erhöhte sich vermutlich von 125 auf das Doppelte. Salmon 1982, 135. Die neu eingebürgerten Italiker wurden anfangs nur in wenige

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gionen anstatt in eigenen Verbänden. Vor allem Picenum und die Regionen der Vestini, Marruncini und Marsi waren nach dem Bundesgenossenkrieg wichtige Gebiete für die Aushebung von Soldaten. 84 Selbst einige Senatoren kamen aus den neuen Gebieten. Durch die Einführung römischer Strukturen, Munizipalämter und auch Gesetze schritt die Angleichung schnell voran. 85 Hierzu trugen auch die Bürgerkriege der nachfolgenden Jahrzehnte bei, in denen es sich die jeweiligen Kontrahenten nicht leisten konnten, die Unterstützung der Italiker zu verlieren. Spätestens 30 v. Chr., nach dem endgültigen Sieg des Augustus, zwei Generationen nach dem Bundesgenossenkrieg, war die Integration abgeschlossen. Nun waren die Römer in Gebieten der ehemaligen socii von denen in Latium praktisch kaum noch zu unterscheiden. Latein war überall vorherrschend, mit der Ausnahme von Neapel. 86 Unter Augustus kamen Mitglieder des italischen Landadels in größerer Zahl in den Senat und wurden sogar Konsuln. Eine Reihe von Familien wurde zudem in den Patrizierstand erhoben. Der Ritterstand, auf den sich Augustus besonders stützte, entstammte ebenfalls zu einem großen Teil aus den Reihen der Italiker. Er war das Rückgrat für die Reichsverwaltung in den Provinzen, wodurch die italischen Ritter mit denen aus Rom und Latium auch faktisch gleichgestellt waren. Durch die umfassenden Bauprogramme der augusteischen Zeit passten sich die städtischen Zentren der Apenninhalbinsel auch optisch der Hauptstadt an. 87 Es muss allerdings auch betont werden, dass nicht alle italischen Völker gleich behandelt wurden und keinesfalls sämtliche Gebiete nach dem Ende des zerstörerischen Krieges und der Verleihung des Bürgerrechts florierten. 88 Speziell die Samniten wurden von Sulla hart behandelt. Er verheerte ihr Gebiet, zerstörte Städte und ließ sie bei Gefangennahme exekutieren. Nach der Einbürgerung entsandte Samnium auch deutlich weniger Senatoren als andere Gebiete. Da unter Sulla Teile des Landes konfisziert und an Römer verteilt wurde, ist nicht einmal sicher, ob es sich dabei um traditionell samnitische Familien handelte. 89 In ländlichen Gebieten Samniums ist ein Rückgang der Siedlungen zu beobachten und die Wirtschaft war hauptsächlich ärmlicher Ackerbau und Viehzucht. Die geringe Anzahl an Truppen, die man nach dem Bundesgenossenkrieg für Rom stellte, weist ebenfalls auf einen Niedergang hin. 90

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tribus und classes eingeschrieben, um ihren Einfluss zu mindern. Bald wurden sie allerdings breiter verteilt. Salmon 1982, 130f; Dart 2014, 178f. Das Bestreben, den Einfluss der Neubürger zu beschränken, ist angesichts deren Menge durchaus nachvollziehbar. Sie stellten einen signifikanten Anteil der dienstpflichtigen und damit auch Wahlberechtigten Bürger das. Dart 2014, 65–67; Brunt 1971, 97, Tabelle VIII. Dart 2014, 45. Salmon 1982, 132–138. Salmon 1982, 133; 140f. Salmon 1982, 144–149. Zur zerstörerischen Natur des Krieges: Brunt 1971, 285. Scopacasa 2015, 288–291, Vgl. Keaveney 1987, 191. Scopacasa 2015, 293f; Brunt 1971, 356–358.

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Der Aufstand des Julius Sacrovir Siebzig Jahre nach der Eroberung Galliens durch Caesar kam es zu Unruhen bei den Treverern unter Führung des Julius Florus und den Haeduern unter Julius Sacrovir. Beide entstammten Familien, denen schon vor längerer Zeit das Bürgerrecht zuteil geworden war und sie gehörten zur Führungsschicht ihrer Stämme. Tacitus beschreibt, man habe sich aufgeteilt, um Mitstreiter für die Erhebung zu finden. Florus sollte die Belgier zum Abfall von Rom bewegen und Sacrovir die gallischen Stämme in der Umgebung seiner Heimat. Die beiden sprachen bei geheimen Zusammenkünften und vor Volksversammlungen und konnten viele Überzeugen, sich ihnen anzuschließen. Der Autor gibt als Gründe für den Unmut der Provinzbevölkerung die hohen Tribute, Zinswucher sowie herablassendes und grausames Verhalten der Statthalter an. 91 Allerdings gab es auch solche, die aufseiten der Römer verblieben. 92 Die Andecavi und Turoni wurden verfrüht aktiv und verhinderten so ein koordiniertes Losschlagen. Beide Stämme können nicht allzu viele Krieger aufgestellt haben, da sie von einer Kohorte und einer Vexillation oder Ala aus Niedergermanien besiegt werden konnten. Auch Julius Florus wurde bald darauf von Truppen aufgespürt und sah sich, in die Enge getrieben, zum Selbstmord gezwungen. Damit war der Aufstand bei den Treverern vorüber. 93 Julius Sacrovir konnte sich hingegen Unterstützung sichern und nahm Augustodunum ein, den Hauptort der Haeduer. Er verteilte im verborgenen hergestellte Waffen an die adeligen Jünglinge, die sich dort ausbilden ließen und konnte laut Tacitus insgesamt 40.000 Krieger aufstellen. Allerdings war davon nur ein Fünftel gut und der Rest notdürftig bewaffnet. Aus den Nachbarregionen strömten weitere Mitstreiter hinzu und vergrößerten die Streitmacht. In Rom machte das Gerücht die Runde, es haben sich 64 civitates dem Aufstand angeschlossen und auch in Spanien würde es unruhig werden. Zwei Legionen verwüsteten das Land der Sequaner, die sich ebenfalls erhoben hatten, und marschierten dann auf Augustodunum und die Truppen Sacrovirs. Die Bewohner der Stadt waren den Aufständischen keine Hilfe und die Römer entschieden die Schlacht für sich. Sacrovir floh und nahm sich in einem Landhaus ebenfalls das Leben. 94

91 Tac. Ann. 3,40. Die Treverer hatten unter Tiberius tatsächlich ihren Status als civitas libera verloren und mussten nun als civitas foederata Steuern und bei Bedarf Truppen stellen. Plin. nat. hist. 4,106. Anton 2006, 179. Anders als Tacitus impliziert dürfte es sich bei den Aufständischen nur um einen Teil der Aristokratie und der Bevölkerung gehandelt haben und keinesfalls um eine Revolte mit breiter Unterstützung. Drinkwater 1983, 27. 92 Beispielsweise der adelige Treverer Julius Indus und seiner Reiter, die ebenfalls Treverer waren. Sie stellten sich dem Florus entgegen. Tac. Ann. 3,42. Aus der Truppe wurde später die reguläre Hilfstruppeneinheit Ala Gallorum Indiana gebildet. Vgl. Haalebos 2000, 41f. 93 Tac. Ann. 3,41f. Sacrovir kämpfte sogar auf römischer Seite mit, aber machte sich für die Gallier kenntlich, damit er nicht angegriffen wurde. Erwähnung einer Ala in Tac. Ann. 3,46. 94 Tac. Ann. 43–46. Auch wenn Tacitus die breite Unterstützung erwähnt, die man in Rom annahm, so war den römischen Kommandeuren vor Ort doch klar, dass es ein leichter Sieg sein würde, meint Stein 1918, 796f.

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Der Aufstand scheint der Integration der beteiligten Gebiete und Stämme kaum geschadet zu haben. 95 Es spielte sicherlich auch eine Rolle, dass bedeutende Teile der Bevölkerung den Römern treu geblieben waren oder sich sogar aktiv den Aufständischen entgegengestellt hatten. Der Hauptort der Treverer Augusta Treverorum war wohl erst in augusteischer Zeit um 18 oder 17 v. Chr. gegründet worden und trug als Verwaltungs- und Wirtschaftszentrum zur Integration in die Struktur des Reiches bei. 96 Im ersten Jahrhundert wurde die Stadt deutlich erkennbar zu einer typischen römischen Kolonie mit regelmäßigem Straßennetz und insulae ausgebaut. 97 Vermutlich wurde Trier unter Kaiser Claudius zur colonia latina erhoben und der Führungsschicht die civitas Romana verliehen. 98 Als Dienstsitz des römischen Prokurators für die Belgica und Germanien wurde die Stadt in die Reichsverwaltung integriert. 99 Die aus der Reitertruppe entstandene Ala Treverorum bestand weiterhin als Einheit des römischen Militärs. 100 Erst aufgrund ihrer Teilnahme am Bataveraufstand von 69/70 n. Chr. sahen sich die Römer gezwungen, die Treverer abzustrafen. Die Oberschicht wurde umstrukturiert und die Reiterala aufgelöst und ihre Soldaten auf andere Einheiten verteilt. Die Treverer hatte ihre politische Bedeutung verloren. 101 Auch den Haeduern, zu denen sich Julius Sacrovir zurückzog, wurde ihre Rolle offenbar nicht angekreidet. Der von Augustus als Ersatz für das zerstörte Bibracte angelegte Hauptort Augustodunum war schon zur Zeit des Aufstandes eine reiche Stadt und wurde weiterhin ausgebaut. Die 6 km langen Mauern schlossen eine Fläche von 200 ha ein, die nach römischen Muster gegliedert und mit einer Reihe von repräsentativen Bauten versehen war. 102 Kaiser Claudius erlaubte es den Haeduern als einem der ersten gallischen Völkern, Vertreter in den Senat nach Rom zu entsenden. 103 Über die Sequaner, die sich ebenfalls erhoben hatten, ist wenig überliefert. Allerdings blieben sie 50 Jahre später beim Bataveraufstand auf der Seite Roms, weshalb nicht anzunehmen ist, dass dauerhafte Repressalien erfolgt waren. Die Stadt Vesontio, der wichtigste Ort der Sequaner, florierte von flavischer bis antoninischer Zeit, wenngleich unklar ist, welche öffentlichen und repräsentativen Gebäude in der Stadt vorhanden waren. 104

95 „There is no sign at all that the events of 21 in any way adversely affected the developing Romanisation and material prosperity of the Three Gauls.“ Drinkwater 1983, 29. 96 Heinen 1985, 45. 97 Cüppers 1990, 579. 98 Anton 2006, 180; Heinen 1985, 66. 99 Tac. Hist. 1,58. Bechert 1999, 125. 100 Cichorius 1893, 1267. 101 Anton 2006, 182. 102 Neben den Stadttoren waren dies eines der größten Theater Galliens und der sogenannte Janustempel, die beide heute noch zu sehen sind. Hinzu kommen, allerdings nur durch Texte belegt, ein Amphitheater, drei weitere Tempel. Martin 1976, 122f. 103 Urban 1999, 45. 104 Lerat 1976, 972.

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Der Boudiccaaufstand Der von Rom beherrschte Teil Britanniens beschränkte sich 17 Jahre nach der Invasion unter Claudius auf die Mitte und den Osten Englands. Wales und Nordengland gehörten noch nicht dazu, wenngleich letzteres durch ein Klientelkönigreich kontrolliert wurde. 105 Ein erster Aufstand war unter Führung des Caratacus im Jahr 51 im noch freien Südwales ausgebrochen, konnte aber niedergeschlagen werden. 106 Der Aufstand unter Führung Boudiccas hatte seinen Ursprung hingegen mitten in der Provinz. Die beteiligten Icener waren mit den Römern verbündet und die Trinovanten lebten um die Veteranenkolonie Camulodunum, den damaligen Hauptsitz der römischen Verwaltung. In beiden Stämmen war die Abneigung gegen die Besatzer aus mehreren Gründen gewachsen. Eine Reihe von Gläubigern, darunter Seneca, forderte ihre Kredite zurück. Eine weitere finanzielle Belastung waren Beiträge, die für den Bau des Claudiustempels in Camulodunum abgetreten werden mussten. Die Trinovanten wurden von den römischen Kolonisten misshandelt und von ihren Ländereien vertrieben und auch die Icener sollte nach dem Tod ihres Königs die Hälfte des Königslandes abtreten. Bei der Inventarisierung des königlichen Besitzes erniedrigten die Römer die Tochter des verstorbenen Königs und ihre Familie, entkleideten Boudicca, geißelten sie und vergewaltigten ihre Töchter. Möglicherweise war diese Tat der Auslöser für den Ausbruch des Aufstandes, zusammen mit dem Umstand, dass ein großer Teil der Truppen sich gerade in Nordwestwales beim Feldzug gegen das Heiligtum der Druiden von Anglesey befand. 107 Die Icener und Trinovanten zogen beim Beginn gegen das beinahe ungeschützte Camulodunum, sie plünderten die Stadt und steckten sie in Brand. Eine vom Prokurator entsandte Truppe wurde aufgerieben. Die neunte Legion zog gegen die Aufständischen, konnte sie aber nicht aufhalten und musste abrücken. Im Anschluss wurde auch Londinium erobert und gebrandschatzt, es folgte Verulamium. Wenig später fand die entscheidende Schlacht an der Watling Street statt, in der die Soldaten der 14. und 20. Legion mitsamt Hilfstruppen die Britannier vernichtend schlugen. 108 Der Statthalter Gaius Suetonius Paulinus plünderte die Regionen der aufständischen Stämme, allerdings auch die der neutral gebliebenen. Seine Strafaktionen sorgten für zunehmende Unruhe, sodass sich der Prokurator Julius Classicianus darüber in Rom beschwerte. Daraufhin schickte der Kaiser den Freigelassenen Polyclitus, um die Situation zu untersuchen. Bald darauf wurde der Statthalter durch Publius Petronius Turpilianus abgelöst, dessen Amtsführung deutlich friedlicher war. Vorerst wurden keine weiteren

105 Vgl. die Karte in: Salway 1993, 100. Überblick von der Eroberung bis Hadrian: Todd 2004; Mattingly 2006, 101–119. Zu den Schlachten: Ebd. 97f, Tabelle 2. 106 Dazu: Webster 2003b. 107 Webster 2003a, 86–89; Sealey 2004, 12f. 108 Webster 2003a, 89–101. Vgl. Tac. Ann. 14,33. Die 14. Legion erhielt aufgrund ihrer Leistungen in der Schlacht den Beinamen Martia Victrix, die 14. Legion den Namen Valeria Victrix: Salway 1993, 88.

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Eroberungen durchgeführt. 109 Stattdessen sicherte die friedliche Politik von Turpillianus und Classicianus den Süden Englands für Rom auf Dauer, sodass dort nie wieder eine Revolte losbrach. 110 Auch die nachfolgenden Statthalter schonten die Bevölkerung und es wurde zumindest versucht, die Fehler der Vergangenheit nicht zu wiederholen. Bei der Anlage der beiden Bürgerkolonien Lincoln und Gloucester, die hauptsächlich von ehemaligen Soldaten bewohnt wurden, achtete man nun darauf, anders als bei den Trinovanten, den Landverlust der Bevölkerung gering zu halten. 111 Durch die Sicherung der Nordgrenze nach der Aufgabe der Expansionsbestrebungen durch Hadrian, wurde den Bewohnern der Provinz auch ein langandauernder Frieden beschert, der zuvor nicht möglich gewesen wäre, als die Stämme und Völker Britanniens sich noch gegenseitig bekämpften. 112 Die vier, später nur noch drei Legionen und Hilfstruppen verblieben als Abschreckung gegen mögliche Aufstandsbewegungen. 113 In der Wissenschaft ist umstritten, in welchem Maße die Römer als Bewahrer bzw. Erzwinger des Friedens willkommen geheißen oder zumindest toleriert wurden. 114 Die Legionen und Hilfstruppen waren zwar zumeist in größeren Lagern untergebracht und damit unter sich, doch der Kontakt mit der Bevölkerung intensivierte sich dennoch recht schnell. 115 Um die größeren castra bildeten sich Siedlungen zur Versorgung und, um aus den relativ gut bezahlten Soldaten Profit zu schlagen. 116 Trotz des Heiratsverbotes kam es zu Familiengründungen. 117 Somit entstand ein enges Geflecht aus den fremden Legionären und Hilfstruppen 118 auf der einen und der indigenen Bevölkerung auf der anderen Seite. Das römische Militär bot allerdings auch die Möglichkeit, für ein geregeltes Einkommen Dienst zu tun und am Ende das Bürgerrecht zu erlangen. Es wurden im ersten Jahrhundert mindestens 16 Kohorten und zwei Alen in Britannien ausgehoben, die zumeist in andere Regionen des Reiches geschickt wurden. Auf diese Weise wurde der Rekrutierungspool für potentielle Aufstände durch die Abschöpfung verringert. 119 109 Webster 2003a, 101f; Sealey 2004, 52. Classicianus war vermutlich selbst keltischer Abstammung: Salway 1993, 89. 110 Salway 1993, 90. 111 Salway 1993, 113f. 112 Hadrian: Salway 1993, 127. Das Fehlen von Stadtmauern zeugt von der friedlichen Periode. Jones 2004, 179 113 Mattingly 2006, 89–92. Die 14. Legion wurde 66 oder 67 abgezogen. Salway 1993, 94. 114 Aldhouse-Green 2004, 194. 115 Zu den Stationierungsorten der Armee: Mattingly 2006, 133, Abb. 5. 116 Bei über 100 Lagern lassen sich zivile Siedlungen nachweisen. Mattingly 2006, 193. 117 Mattingly 2006, 175f. 118 Zur Zeit der Eroberung stammte etwa 81% Legionäre aus Italien, gegen Ende des 1. Jh.s nur noch 20%, der Rest kam aus Kolonien in Spanien, Gallien und Germanien. Mattingly 2006, 187. Die Hilfstruppen stammten im 1. Jh. auch hauptsächlich aus Gallien und dem Rheinland: Ebd. 168. Im 2. Jh. stieg der Anteil der Britannier in den Truppen an: Ebd. 169. 119 Viele wurden an die Donau oder nach Germanien verlegt. Ab hadrianischer Zeit verblieben viele wohl in Britannien. Schätzungsweise 1.200 bis 1.500 Rekruten begannen jährlich ihren Dienst in den Rängen der Hilfstruppen: Mattingly 2006, 92f. Zu den positiven Effekten der Armee: Ebd. 2006, 167f.

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Durch die Truppen wurde der regionale Handel gefördert, da die Versorgung im Wesentlichen aus der landwirtschaftlich geprägten Provinz selbst sichergestellt wurde. 120 Aus anderen Provinzen wurden unter anderem Wein, Olivenöl, Fischsoße sowie Terra Sigillata importiert, wichtige Exportgüter für anderen Regionen des Reiches waren Metalle. 121 Noch vor der endgültigen Aufgabe der Versuche, auch Schottland zu erobern, wurden in den Städten Britanniens umfangreiche Bauvorhaben umgesetzt. Der Bau des Statthalterpalastes in Londinium und die festen Legionslager wurden aus der Staatskasse bezahlt. 122 Auch in anderen Städten wurden römische Bauformen umgesetzt, hauptsächlich Platzanlagen, Thermen und die zugehörigen Aquädukte, seltener Theater oder Amphitheater. 123 Die meisten dieser öffentlichen Anlagen wurden von der lokalen Elite selbst finanziert, um sich hervorzuheben und gegenüber den Römern zu profilieren. 124 In den Städten wurden römische Häuser gebaut und teilweise von der Bevölkerung bewohnt, die aus dem Land abgewandert waren. 125 Dort, in den ländlichen Gegenden, entstanden auch große Villenanlagen, allerdings wurden vielerorts auch die indigenen Haus- und Hofformen beibehalten. 126 Neben den Bauformen hielt auch die römische Bildung Einzug, deren Einfluss von Tacitus besonders hervorgehoben wurde. 127 Sie ermöglichte der Oberschicht die Teilhabe an der regionalen Verwaltung, beispielsweise in der relativ kleinen Gruppe der curiales der Städte. 128 Neben dieser Tätigkeit und der bereits genannten Förderung von kommunalen Bauten konnte sich die Elite durch die Übernahme einer Priesterschaft im Kaiserkult profilieren. Dieser war recht weit verbreitet und hatte sein Zentrum beim Claudiustempel

120 Der Fokus der Landwirtschaft lag auf der Produktion von Getreide sowie Vieh, hauptsächlich Rinder, Schafe und Schweine. Fulford 2004, 312f. Versorgung der Armee: Ebd. 314. Vgl. Jones 2004, 184f. 121 Fulford 2004, 313–318. 122 Salway 1993, 117. Während der Statthalterschaft des Agricola scheint sich die Bautätigkeit intensiviert zu haben. Ebd., 104. 123 Zu einer tabellarischen Übersicht, welche römischen Bauformen (Forum, Tempel, Therme, Theater, Amphitheater, Zirkus, Aquädukt) in den Städten bisher belegt sind, siehe: Mattingly 2006, 268f, Tabelle 9. Bisher ist nur 1 Zirkus bekannt, Thermen hingegen oft, teilweise auch in kleinen Städten, wo sie kommerziell betrieben wurden. Ebd. 282f. Neben den großen Repräsentativbauten wurden auch Abwassersystem eingerichtet. Jones 2004, 175. Die Bauarbeiten wurden vermutlich durch römische, vielleicht vom Heer gesandte Architekten unterstützt. Salway 1993, 105; Jones 2004, 169. 124 Jones 2004, 162; 182f; Mattingly 2006, 280f. 125 Die Stadthäuser wurden noch länger auch aus Holz errichtet und erreichten dabei bemerkenswerte Qualität. Im 2. Jh. stieg der Anteil der Steinhäuser. Echte Repräsentativbauten sind in den Städten erst im ab 150 n. Chr. nachweisbar. Mattingly 2006, 284f. 126 Salway 1993, 118f 127 Tacitus schreibt wesentliche Erfolge der Romanisierung seinem Schwiegervater Agricola zu. Salway 1993, 116. Der Rhetorikunterricht vermittelte nebenbei auch Elemente der römischen Kultur. Ebd. 1993, 106. Zur Bedeutung der Städte, vgl. Mattingly 2006, 292. 128 Mattingly 2006, 293.

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in Colchester. Heiligtümer für die kapitolinische Trias sind nicht so oft belegt. 129 Dafür ist in Britannien mit dem „Romano-Celtic“ Tempel, auch gallorömischer Umgangstempel genannt, eine genuin nordgallisch-britische Form für Kultbauten zu finden, die den Einfluss der römischen Kultur im nahen Gallien zeigt. 130 Traditionelle Kulte wurden vorrangig im Militär gepflegt. 131 Sie wurden der britannischen Gesellschaft nicht aufgezwungen, die stattdessen weiterhin die indigenen Gottheiten verehrte. 132 Es lassen sich aber auch Mischformen wie Sulis-Minerva nachweisen. 133 Der Bataveraufstand Im Rahmen der Kämpfe um den Kaiserthron während des Vierkaiserjahres kam es zum Ausbruch des Bataveraufstandes. Im Mittelpunkt der Kämpfe standen neben den Kriegern aus den beteiligten Regionen unter Führung des Julius Civilis auch die acht ursprünglich auf Seiten des Vitellius kämpfenden, batavischen Auxiliarkohorten. Letztere waren mit dessen Truppen nach Italien gezogen und hatten bei der Schlacht von Bedriacum zum Sieg beigetragen. Im Anschluss wurden sie zurück nach Mainz geschickt. 134 Da bald darauf mit Vespasian ein neuer Teilnehmer am Ringen um die Macht teilnahm, forderte Vitellius zusätzlich Truppen an. Es sollten unter anderen weitere Krieger unter den Batavern ausgehoben werden, was zum Ausbruch des Aufstandes führte. Neben den Batavern waren auch die benachbarten Cananefaten und Friesen beteiligt. 135 Julius Civilis führte zu dieser Zeit noch eine batavische Kohorte auf römischer Seite an. Sein

129 Henig 2004, 220; 222. Der Großteil der Fora weist keinen Kapitolstempel auf: Mattingly 2006, 281. 130 Jones 2004, 176; Mattingly 2006, 282 131 Henig 2004, 225–227. In Britannien sind auch Mithras- und andere Kulte aus dem Osten nachweisbar. Ebd. 231–235. 132 Aldhouse-Green 2004, 215f. Es ist allerdings nicht einfach, römisches und britische streng zu trennen, da selbst zum Zeitpunkt der Invasion 43 n. Chr. der römische Einfluss aus Gallien bereits 100 Jahre wirkte. Ebd. 193. 133 Henig 2004, 224f. 134 Erste Schlacht von Bedriacum: Tac. Hist. 2,39–49. Es handelte sich um berittene Kohorten, die schon seit den Kriegen des Germanicus in römischen Diensten standen. Cichorius 1900, 249f. Kohorten in Mainz: Tac. Hist. 4,15. 135 Tacitus erwähnt auch sexuelle Vergehen an batavischen Jünglingen, die für den Kriegsdienst eigentlich noch zu jung waren. Tac. Hist. 4,14. Unter den Cananefaten wird der Häuptlingssohn Brinno hervorgehoben, der more gentis auf den Schild erhoben und damit zum Anführer bestimmt worden sei. Hier auch die Erwähnung der Friesen. Tac. Hist. 4,15. Die batavischen Kohorten stießen später zum Heer des Civilis hinzu: Tac. Hist. 4,20f. Ralf Urban kommt in seiner Studie zum Bataveraufstand zu dem Schluss, dass es die Erhebung im Rahmen der Kämpfe um den Kaiserthron stattfand: Urban 1985, 98–102. Brian Turner interpretiert die „Insurgency“ als einen Versuch in einer Phase der machtpolitischen Wirren die Kontrolle über das Gebiet zurückzuerlangen: Turner 2016, 307f.

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Seitenwechsel erfolgte während der ersten Schlacht der römischen Strafexpedition und trug zur Niederlage der Römer bei. 136 Anders als der 50 Jahre zuvor ausgebrochene, zuvor besprochene Aufstand des Julius Sacrovir erforderte der Bataveraufstand größere militärische Anstrengungen von Rom. Bald nach der ersten Niederlage mussten sich die Römer erneut bei bei Gelduba geschlagen geben. Es fielen auch die Treverer und Ubier von den Römern ab, ebenso wie einige gallische Stämme, wie die Lingonen. 137 Inzwischen war die Lage im Lager von Vetera kritisch geworden. Nach dem Zugeständnis eines freien Abzuges wurden die Römer angegriffen. Die wortbrüchigen Bataver erschlugen alle Abziehenden und brannten das Lager selbst nieder, mit allen verbliebenen römischen Soldaten darin. 138 Nun entsandte Rom eine größere Streitmacht von insgesamt acht Legionen, um den Aufstand niederzuschlagen. Es kam zu einer Reihe von batavischen Niederlagen, doch aufgrund der effektiven Nutzung des Geländes, insbesondere der Gewässer, konnten sich die Bataver behaupten. 139 Nach einem verlustreichen, koordinierten Angriff auf vier Lager erfolgte ein letzter nächtlicher Überfall auf das lagernde Heer des Cerialis, bei dem die Germanen einige Schiffe kapern konnten. Wenig später drangen die Römer auf die sogenannte Bataverinsel vor, verheerten das Gebiet, konnten allerdings keinen entscheidenden Sieg erringen. Am Ende kapitulierte Julius Civilis mit seinen Truppen und der Konflikt war vorüber. 140 Trotz der relativ großen Gefahr, die der Bataveraufstand für Teile der Provinzen und die Kontrolle der unterworfenen Gebiete darstellte, schonten die Römer die beteiligten Völkerschaften. Nachdem bereits während des Vierkaiserjahres die vor allem aus Batavern bestehende germanische Leibwache des Kaisers aufgelöst worden war, ereilte nun die beteiligten Kohorten sowie die Ala höchstwahrscheinlich dasselbe Schicksal. Allerdings wurden bald darauf wieder neue Kohorten aufgestellt und nach Britannien sowie an die Donau versetzt. 141 Neben dem Heeresdienst mussten die Bataver offenbar keine Abgaben leisten. Tacitus erwähnt, sie hätten keine Tribute abzuführen und müssten auch keine 136 Vielleicht führte er eine 9. Kohorte an, die sonst nicht weiter erwähnt wurde. Bleckmann 2009, 140. Zum Seitenwechsel des Civilis in der Schlacht: Tac. Hist 4,16. Warum sich Civilis auf die Seite der aufständischen Bataver schlug, ist umstritten. Bleckmann 2009, 141. Vgl. Urban 1999, 69–83. Eine längere Besprechung des Vorgehens des Civilis bei der Suche nach Unterstützung und Anhängern sowie der Darstellung des Tacitus: Turner 2016, 288–294. 137 Gelduba: Tac. Hist. 4,26ff. Tacitus nennt Ubier, Tungrer, Treverer und Lingonen als wichtigste Gruppen, die an der Aufstandsplanung teilnahmen. Tac. Hist. 4,55. 138 Tac. Hist. 4,58–60. Bleckmann 2009, 141. 139 Im Gefecht bei Vetera wurde der Rhein angestaut, um den Römern die Verfolgung zu erschweren. Tac. Hist. 5,14–18. Zur amphibischen Kriegführung: Zerjadtke 2021. Zur Nutzung der Sümpfe: ders. 2019. 140 Tac. Hist. 5,20–26. 141 Es bestand nur die ebenfalls später bekannte cohors VIIII Batavorum weiter, die offenbar nicht am Aufstand beteiligt war. Anders als die vorhergenannten war sie in Rätien stationiert, vielleicht zusammen mit der cohors I Batavorum miliaria pia fidelis. Cichorius 1900, 249–253. Die Ala Batavorum war bis zur ersten Schlacht auf römischer Seite geblieben und dann übergelaufen. Tac. Hist. 4,18. Es ist unwahrscheinlich, dass sie weiterbestand. Cichorius 1893, 1233f; vgl. Ihm 1897, 120. Einsatz der Bataver später in Britannien: Tac. Agr. 36. Auf den Vindolanda Tafeln finden sich

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Steuerpächter bei sich dulden. Die Stellung von Truppen war alles, was man am Ende des ersten Jahrhunderts von ihnen verlangte. 142 Die Informationen über die Cananefaten sind überaus dürftig, doch sind sie auch weiterhin als Soldaten auf Militärdiplomen und Inschriften erwähnt. 143 Auch die Friesen wurden nicht für ihre Teilnahme bestraft. Das in ihrem Land gelegene Kastell Flevum war während des Aufstandes von 28 n. Chr. belagert und um die Mitte des ersten Jahrhunderts aufgegeben worden. Somit wäre der Bau eines Lagers zu ihrer Kontrolle nicht ohne Vorgänger gewesen. Die Römer verzichteten jedoch darauf und die Friesen verblieben außerhalb der durch den Limes gesicherten Reichsgrenze. 144 Die Ubier, deren Hauptstadt Colonia Claudia Ara Agrippinensium im Jahr 50 von Claudius zur Kolonie erhoben worden war, unterstützten nur vorübergehend den Aufstand.  145 Ihnen entstand daraus offenbar kein Nachteil. Den Lingonen war kurz zuvor von Otho das Bürgerrecht verliehen worden, bevor sie die Waffen erhoben. Nach dem Ende des Aufstandes befürchteten sie Plünderungen, doch stattdessen blieben sie und ihr Besitz gänzlich unangetastet. Im Gegenzug sollen sie eine große Anzahl bewaffneter Krieger gestellt haben. 146 Auch die Tungerer stellten weiterhin viele Soldaten zur Verfügung, wie die drei Alen und vier Kohorten bezeugen, die in ihrem Gebiet ausgehoben wurden. 147 Einzig die Treverer scheinen aufgrund ihrer erneuten Teilnahme an einem Aufstand abgestraft worden zu sein. Die treverische Ala wurde offenbar aufgelöst und auch später sind keine Offiziere treverischer Herkunft mehr bekannt. Die adeligen Rädelsführer sowie über hundert Ratsherren durften nicht wieder in ihre alte Stellung zurückkehren und wurden durch neue loyale Familien ersetzt. 148 Der wirtschaftlichen Entwicklung des Gebietes scheint es aber nicht geschadet zu haben. 149 Die Verteidigung am Limes wurde wieder wie zuvor eingerichtet. Das zerstörte Lager Vetera wurde durch das neue Kastell Vetera II in geringer Entfernung ersetzt, die Trup-

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Hinweise auf Soldaten aus der 3. sowie der 9. batavischen Kohorte, die demnach am Hadrianswall stationiert war. Bowman/Thomas 1994, 22. […] nam nec tributis contemnuntur nec publicanus atterit; exempti oneribus et collationibus et tantum in usum proeliorum sepositi, velut tela atque arma, bellis reservantur. […] Tac. Germ. 29,2. Ihm 1899. Aufstand der Friesen: Tac. Ann. 4,72–4,74. Kastell Flevum: Bosman 2006. Zur Lage der Friesen: Bechert 2007, 29, Abb. 18. Tac. Hist. 4,21–57. Zur Kolonieerhebung: Tac. Ann. 12,27; Tac. Germ. 28,5. Bürgerrechtsverleihung: Tac. Hist. 1,78. Auspiciis Imperatoris Caesaris Domitiani Augusti Germanici eo bello, quod Iulius Civilis in Gallia moverat, Lingonum opulentissima civitas, quae ad Civilem desciverat, cum adveniente exercitu Caesaris populationem timeret, quod contra exspectationem inviolata nihil ex rebus suis amiserat, ad obsequium redacta septuaginta milia armatorum tradidit mihi. Frontinus, Strategemata 4,3,14. Die von Frontin genannte Zahl von 70.000 Kriegern dürfte kaum der Realität entsprochen haben. Es handelt sich um die: Ala I Asturum et Tungrorum, Ala I Tungrorum, Ala I Tungrorum Frontoniana sowie die Cohortes I-IIII Tungrorum. Nouwen 1996, 123. Heinen 1985, 80. Vgl. Anton 2006, 182. Zur Villenlandschaft im Trierer Land: Seiler 2015.

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pen am Limes wurden durch andere, treue Einheiten ersetzt. Die generelle Truppenstärke wurde jedoch nicht erhöht, stattdessen verließ sich Vespasian auf die Diplomatie. 150 Der Jüdische Krieg Der Umgang mit den Juden nach dem jüdischen Krieg zeigt eine gänzlich andere Herangehensweise der Römer. Nach 60 Jahren unter römischer Kontrolle brach 66 n. Chr. der sogenannte jüdische Aufstand aus. Judäa wurde zu diesem Zeitpunkt noch von einem in Caesarea Maritima residierenden procurator verwaltet, der dem Statthalter von Syria in Antiochia am Orontes unterstand. In Judäa selbst befanden sich einige Auxiliareinheiten, aber keine Legion. Rom hatte die Bewohner vom Militärdienst freigestellt und die einheimische Oberschicht genoss eine gewisse Autonomie, weshalb sie Rom unterstützte. 151 Allerdings verschlechterten sich die Beziehungen zwischen Rom und einem Teil der Bevölkerung, vor allem den Zeloten, in den letzten Jahrzehnten zusehends. 152 Als im Jahr 66 aufgrund von Geldmangels und sinkender Steuereinnahmen der Tempelschatz geplündert wurde, brach ein Aufstand aus. Der Prokurator floh nach Caesarea und forderte die indigene Oberschicht auf, die Ordnung wiederherzustellen. Mit Hilfe von 3.000 Reitern, die der Klientelkönig Agrippa II. schickte, konnte die Festung gehalten werden. Doch nach einiger Zeit der Belagerung gab man auf. Die Truppen Agrippas durften abziehen, doch die Römer wurden ermordet. 153 Ein erster Rückeroberungsversuch des Statthalters von Syria Gaius Cestius Gallus scheiterte im Herbst 66. Das Heer erlitt bei einem Hinterhalt schwere Verluste und musste bei der Flucht viel Material zurücklassen. 154 Im Folgejahr marschierte Vespasian mit drei Legionen, 23 Kohorten, sechs Alen und weiteren Hilfstruppen auf Judäa. Mit seinen 60.000 Soldaten konnte er erfolgreich vorrücken und nahm eine Reihe von Städten und Festungen ein. Als er von Neros Ermordung und den Streitigkeiten um die Nachfolge erfuhr, ließ er die Offensive für ein Jahr bis zum Sommer 69 ruhen. Nachdem er im nächsten Jahr selbst zum Kaiser ausgerufen worden war, begab 150 Vetera II: Schmitz 2008, 141. Truppentausch: Bechert 2007, 27. 151 Zur Oberschicht: Schäfer 2010, 130f. 152 Im Jahr 26 kam es zu Unruhen als Feldzeichen, auf denen der Kaiser zu sehen war, nach Jerusalem gebracht werden sollte. Dies verstieß gegen das Bilderverbot. Eck 2014, 175. Caligula wollte 41 seine Statue im Tempel aufstellen, was vermutlich Krieg bedeutet hätte. Seine Ermordung verhinderte die Umsetzung des Vorhabens. Eck 2016, 37. Die Ausbeugung des Landes durch die Prokuratoren wurde als starke Belastung wahrgenommen und in den Jahren 46 bis 48 kam es zu einer Hungersnot auf dem Land. Ein Prediger namens Theudas, der sich großer Beliebtheit erfreute, wurde in dieser Zeit hingerichtet. Schäfer 2010, 139f. Nach der Ermordung eines galiläischen Pilgers durch Samaritaner begannen Zeloten, diese anzugreifen und zu ermorden. Später wurde der zelotische Anführer El’azar ben Dinai gefangengenommen, woraufhin die Zeloten ihre Aktivitäten in die Städte verlegten, wo sie Gegner mit Dolchen ermordeten. Der Konflikt zwischen den Gruppen wurde intensiver, doch der Prokurator Lucceius Albinus sah sich außer Stande, etwas dagegen zu unternehmen. Schäfer 2010, 141–144. Zu den Zeloten: Schäfer 2010, 132–137. 153 Schäfer 2010, 143–146; Eck 2016, 38. 154 Bringmann 2002, 250.

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er sich nach Italien und ließ er seinen Sohn Titus den Krieg zu Ende führen. Jerusalem wurde gestürmt und bald darauf fielen auch die übrigen Festungen. Allein Masada hielt noch bis 73 oder 74 durch. 155 Die Konsequenzen für die jüdische Bevölkerung waren deutlich härter als in den zuvor behandelten Fällen. Schon der Krieg war äußerst verlustreich gewesen, der Zeitzeuge Flavius Josephos spricht von 1,1 Millionen Toten, was allerdings wohl stark übertrieben ist. 156 Insbesondere die Bewohner Jerusalems traf es hart, denn die, die nicht bei der Eroberung starben, wurden versklavt und teilweise zur Arbeit im Bergwerk gezwungen. 157 Der Tempel selbst wurde abgebrannt und geschleift, da er als Festung verwendet werden konnte. 158 Zwar hatte Rom auch in anderen Fällen Heiligtümer zerstört, doch die monotheistischen Juden traf der Verlust des Tempels besonders schwer. Judäa wurde nun als eigene Provinz eingerichtet, deren proprätorischer Statthalter den Platz des Prokurators in Caesarea Maritima einnahm. Die Stadt wurde unter dem Namen Flavia Augusta Caesariensis zur römischen Bürgerkolonie erhoben. Die Gemeinde der Samaritaner wurde aus Sichem vertrieben, ihr Heiligtum auf dem Berg Garizim zerstört und an seiner Stelle ein Zeustempel errichtet. In der Nähe von Sichem wurde die neue Stadt Flavia Neapolis gegründet. Im zerstörten Jerusalem wurde die zehnte Legion stationiert, die ihr Lager in den Ruinen des Königspalastes des Herodes aufschlug. Es kamen weitere Auxiliareinheiten als Besatzungstruppen hinzu, sodass nun neun Alen und Kohorten in Judäa waren, die offenbar allesamt aus dem Westen des Reiches stammten. Durch ausgebesserte und neue Straßen wurde die Mobilität der Truppen gesteigert. Das gesamte Gebiet des Tempelstaates ging in den Besitz des römischen Kaisers über. In Emmaus, 60 Stadien vor Jerusalem, wurden 800 Veteranen als Unterstützung der Truppen in Jerusalem angesiedelt. Das übrige Land wurde verpachtet, zumeist wieder an die indigenen jüdischen Bauern. Später scheint die Pacht in eine Art Grundsteuer umgewandelt worden zu sein. Viele Juden flohen infolge der Maßnehmen in die Diaspora. Doch auch außerhalb Judäas bekamen die Juden die Folgen des Krieges zu spüren. In Ägypten und in der Kyrenaika, wohin sich eine Anzahl von Sikariern geflüchtet hatte, um ihren Befreiungskampf fortzuführen, wurden sie mit eiserner Hand verfolgt. Vespasian ließ dort die letzte verbliebene jüdische Opferstätte in Leontopolis schließen. Von nun an mussten alle praktizierenden Juden eine jährliche Sondersteuer in der Höhe einer Doppeldrachme zahlen. 159

155 Bringmann 2005, 251–258; Schäfer 2010, 148–154; Schall 2002, 212–245. Zur Erstürmung der Festungen Macherus und Masada: Schall 2002, 246–253. 156 Jos. Bell. Iud. 6,9,3. Schäfer 2010, 156f. 157 Die kräftigen jungen Männer wurden wohl in die Bergwerke geschickt oder für Gladiatorenspiele ausgebildet, die Kinder in die Sklaverei verkauft und die Älteren getötet. Schall 2002, 244. 158 Weikert 2016, 83–90. 159 Bringmann 2005, 261–263. Er nennt die Ala Veterana Gaetulorum, die Ala I Thracum Mauretana sowie die Cohors I Augusta Lusitanorum, Cohortes I und II Thracum und die Cohors II Cantabrorum. Die Zahl von neun Auxiliareinheiten nennt: Eck 2016, 41. Konfiskation des Landes, Ansiedlung in Emmaus: Jos. Bell. Iud. 7,6,6. Straßenbau: Schall 2002, 253. Grundsteuer: Ebd. 254. Zur Diaspora und Reorganisation der Juden nach dem Ende des Krieges: Teitelbaum 2012, 247–252.

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Dieser Umgang mit den Juden war gänzlich untypisch für die Römer nach der Niederschlagung einer Revolte. Normalerweise versuchte man, die Kooperation der Bevölkerung schnell zurückzugewinnen und verzichtete auch auf die Stationierung weiterer Truppen. Einerseits war hierfür vielleicht die breite Unterstützung der Erhebung oder die Schwere der anfänglichen militärischen Niederlage verantwortlich. Andererseits könnte auch gänzlich unabhängig davon das Bestreben Vespasians, die gerade beginnende Dynastie durch einen Sieg absichern, eine Rolle gespielt haben. Diese Annahme wird von der Art und dem Umfang der römischen Propaganda untermauert, in der die Niederschlagung des Aufstandes wie ein äußerer militärischer Erfolg gegen einen externen Feind dargestellt wurde, was gänzlich unüblich war. 160 In der Folge gelang die Integration der Juden in Judäa sowie in der Diaspora nur bedingt, was in den nächsten drei Generationen zu zwei weiteren großen Aufständen führte, dem Diasporaaufstand von 115 bis 117 und dem Bar-Kochba-Aufstand von 132 bis 136. 161 Fazit Die ersten vier im Überblick betrachteten Fallstudien haben gezeigt, dass es einige deutliche Parallelen zwischen der modernen Herangehensweise im Rahmen von Counterinsurgency und der Aufstandsbekämpfung im ersten Jahrhundert vor und nach Christus gibt. Am Ende des Abschnittes zur Counterinsurgency seit dem zweiten Weltkrieg waren fünf Punkte aufgeführt, in denen die wesentlichen Merkmale der modernen Strategie zusammenfasst sind. Diesw waren kurz gesagt: A. Der Hauptfokus der Anstrengungen muss auf der Bevölkerung liegen. B. Der Einsatz von Waffengewalt muss mit Bedacht geschehen. C. Die militärische Kampagne muss von einer zivilen Aufbauarbeit begleitet werden. D. Die Bevölkerung muss bei militärischen und zivilen Aktivitäten eingebunden werden. E. Die gesamte Kampagne muss durch Propaganda begleitet werden. Der militärische Teil der römischen Aufstandsbekämpfung wurde in die vorliegende Studie nicht mit einbezogen, da sie – soweit erkennbar – deutlich von dem modernen Ansatz abwich. Während heute versucht wird, die Guerillakrieger möglichst ohne allzu viel Waffengewalt zur Aufgabe zu bringen und bei Angriffen mit kleinen Spezialteams agiert wird, um präzise Operationen auszuführen und zivile Kollateralschäden weitestgehend zu vermeiden, hatten die Römer bei ihren Feldzügen weniger Skrupel. Dennoch ermordeten die römischen Truppen im Rahmen von Aufstandsbekämpfungen nur sehr selten große Teile der zivilen Bevölkerung, obwohl dies durchaus machbar gewesen wäre. Die Sondersteuer musste offenbar nur von praktizierenden Juden gezahlt werden: Gambash 2015, 158f. 160 Gambash 2015, 190–193. 161 Dazu u.a. Bringmann 2005, 267–289. Zum Bar-Kochba-Aufstand: Eck 2007.

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Insofern ist das Merkmal B (Schonung der Zivilbevölkerung) durchaus zu finden. Der Grund für diese Parallele zur heutigen Herangehensweise ist allerdings gänzlich verschieden. Moderne Armeen sollen die Zivilbevölkerung schonen bzw. schützen und selbst die Guerillakrieger nicht um jeden Preis vernichten, da dies gegen bestehende Kriegsordnungen, Konventionen und Menschenrechte verstößt, die Kritik der eigenen Bürgerschaft heraufbeschwört, was insbesondere in repräsentativen Demokratien von Bedeutung ist, die Missbilligung der internationalen Gemeinschaft zur Folge hätte und letzten Endes zu Sanktionen oder sogar dem militärischen Eingreifen weitere Staaten führen könnte. Den Römern standen diese Hürden nicht im Weg. Ihre Gründe, die Bevölkerung von Gebieten, in denen Revolten stattfanden, nicht einfach auszuradieren oder zu vertreiben, hatte eher wirtschaftliche oder anderweitige rationale Gründe. Der Zweck der Aufrechterhaltung einer Provinz war nicht der reine Zugewinn an Land, sondern die Kontrolle und Ausbeutung der dortigen Bevölkerung. Ein weiterer, nicht zu unterschätzender Unterschied zwischen antiker und moderner Guerillakriegführung und damit auch ihrer Bekämpfung ist die veränderte Bewaffnung. Die Nutzung von Schusswaffen, insbesondere halb- und vollautomatischer Langwaffen ermöglicht es, aus versteckten Positionen und aus der Ferne anzugreifen. Zudem ist die Ausbildung an einer Schusswaffe in kürzester Zeit durchführbar, während eine effektive Ausbildung zum Nahkämpfer deutlich aufwändiger ist und deutlich höhere körperliche Voraussetzung an den Krieger stellt. Nach Feuerüberfällen aus verdeckten Stellungen können sich Guerillakrieger schnell in für die Angegriffenen schlecht erreichbare Positionen zurückziehen, ohne dass die Angegriffenen nachsetzen, da die Gefahr eines weiteren Hinterhaltes droht. Im ersten Jahrhundert mussten die Soldaten zwar auch auf der Hut sein, um nicht in Fallen zu geraten, doch da die meisten Abteilungen im Feindesland mindestens in Kohortenstärke marschierten und zumeist eher in deutlich größeren Verbänden unterwegs waren, war diese Gefahr gering. Auch hatten unter der Bevölkerung eilig rekrutierte Guerilla im Nahkampf mit römischen Truppen kaum eine Chance und die Flucht war auch oftmals nicht ohne weiteres möglich, da den Römer zumeist Reiterei zur Verfügung stand, die den Fliehenden nachsetzen konnte. Aufgrund dieser Unterschiede in der Herangehensweise der Römer, der anderen rechtlichen und machtpolitischen Lage sowie der gänzlich anderen Kampfweise und Taktik waren die Aufstände in den allermeisten Fällen innerhalb weniger Jahre – zumeist maximal zwei – militärisch niedergeschlagen. Im Gegensatz dazu dauert moderne Counterinsurgency deutlich länger. Bei solch kurzen Kampagnen, wie sie die Römer durchführten, ist es unnötig, parallel Aufbauarbeit zu leisten und die Bevölkerung mehr als unbedingt nötig für das Gelingen des Feldzuges einzubinden. Auch hier stößt die Vergleichbarkeit moderner und römischer Counterinsurgency an ihre Grenzen. Abgesehen von diesen Unterschieden und Einschränkungen sind Parallelen in der Konzentration der Anstrengungen auf die Bevölkerung zu finden (A), der zivilen Aufbauarbeit (C) und der Einbindung der Bevölkerung in militärische und zivile Aktivitäten (D). Alle drei Aspekte gingen dabei ineinander über. Die zivile Aufbauarbeit manifestierte sich in der Anlage von neuen und dem Ausbau von bestehenden Städten. Bei den Bundesgenossen wurde die Urbanisierung vorangetrieben, nach dem Aufstand des Julius

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Sacrovir wurde Trier nach römischem Muster ausgebaut, zur latinischen Kolonie erhoben und wurde Sitz des Prokurators. Auch Augustodunum und Vesontio wuchsen und florierten in der Folgezeit. In Britannien wurden nach dem Boudiccaaufstand die Städte teils durch Rom, teils durch die indigene Oberschicht ausgebaut. Bei der Anlage neuer Kolonien wurde darauf geachtet, weniger Land zu okkupieren. Nach dem Bataveraufstand wurden die Städte und Ortschaften um die Legionslager ebenfalls ausgebaut. Die Anlage von neuen Städten in eher ländlich geprägten Regionen, in die Teile der Bevölkerung mehr oder minder freiwillig umsiedelten, ähnelt dem oben besprochenen modernen Ansatz, konzentrierte, befestigte Siedlungen einzurichten, wie es David Galula vorschlug und es in Malaysia praktiziert wurde. In allen Gebieten wurde zudem die Infrastruktur ausgebaut. Hinzu kamen sekundäre Effekte, wie der dauerhafte innere Frieden und die Teilnahme an neuen Handelsmöglichkeiten. Dies war einerseits der Handel mit den angesiedelten Kolonisten sowie den Legionären, die zudem auch mit Nahrung versorgt werden mussten und andererseits die Vereinfachung der Teilnahme am überregionalen Handel. Es entstand vollkommen neue Verdienstmöglichkeiten. Die zivile und militärische Einbindung der Bevölkerung geschah auf unterschiedlichen Ebenen. Die einfache Bevölkerung und ein kleiner Teil der Oberschicht diente als Soldaten und Offiziere im römischen Militär. Nach der Verleihung des Bürgerrechts war es den Bundesgenossen nun möglich, als Legionäre Dienst zu tun, die Ritter konnten den entsprechenden militärischen cursus honorum durchlaufen und bis zum Legat oder Statthalter aufsteigen. Die Ala Treverorum blieb auch nach dem Sacrovir-Aufstand bestehen, wurde allerdings nach der erneuten Erhebung im Rahmen des Bataveraufstandes aufgelöst. In Britannien wurden im ersten Jahrhundert 16 Kohorten und zwei Alen ausgehoben, was vielen jungen Männern Verdienstmöglichkeiten gab. Auch die Bataver und Cananefaten wurden nach dem Aufstand weiterhin rekrutiert. Erstere blieben sogar von Abgaben befreit und mussten nur Militärdienst leisten. Die Oberschicht wurde weiterhin in die Selbstverwaltung der Städte, Regionen und teilweise selbst des Reiches eingebunden. Vor allem für die ehemaligen Bundesgenossen taten sich neue Türen auf, da viele in den Ritterstand erhoben wurden, in den Senat einzogen, manche sogar zu Patriziern aufstiegen. Hinzu kam die Möglichkeit, in der römischen Volksversammlung abzustimmen. Auch in Britannien, Gallien und der Belgica hatte die munizipale Oberschicht eine Sonderstellung und konnte im Rahmen der römischen Herrschaft an der Administration teilhaben oder als sich als Priester hervortun. Der Punkt der gezielten Propaganda (E) wurde aufgrund des Mangels an Quellen nicht betrachtet. Doch über die propagandistische Wirkung der dargestellten Maßnahmen lassen sich einige Aussagen treffen. Durch den Ausbau der Städte, der Infrastruktur, die Verdienstmöglichkeiten im Militär, bei der Versorgung der Truppen sowie durch den Handel wurden der Bevölkerung die Vorzüge der römischen Herrschaft vor Augen geführt. Der dauerhafte innere Frieden, eine gewisse Rechtssicherheit und das Fortbestehen der lokalen Eigenverwaltung schufen einen Rahmen, der Vielen durchaus lebenswert erschien. Die einfache Bevölkerung hatte oftmals wenig unter der Besatzung zu leiden und hatte im Vergleich zu vorherigen Zeiten an Möglichkeiten gewonnen. Familien der Oberschicht wurden gewürdigt und konnten sich in Szene setzen. Die Vorteile der römi-

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schen Herrschaft sprachen für sich selbst und können als eine Art passive Propaganda gewertet werden. Die römischen Maßnahmen, die der Bevölkerung und der Oberschicht entgegenkamen, waren allesamt aus der Erfahrung der Römer mit unterworfenen Gebieten entstanden. Sie dienten vorrangig der Verringerung der Kosten und Risiken des Provinzialsystems und waren nicht vorrangig dazu gedacht, die kontrollierten Völkerschaften für Rom zu gewinnen. So sollte mit der Aushebung von Truppen das kriegerische Potential abgeschöpft werden und die Auxiliareinheiten sollten die Aufgaben übernehmen, für die die Legionen nicht geeignet waren. Die Infrastrukturmaßnahmen dienten in erster Linie dazu, die Verlegungsgeschwindigkeit der Einheiten zu erhöhen. Auch die Einbindung der lokalen Eliten und die häufige Beibehaltung lokaler Eigenverwaltung hatte eher praktische Gründe, da erstens das Personal fehlte, um alle Regionen direkt zu administrieren und sich zweitens herausgestellt hatte, dass die indirekte Herrschaft besser funktionierte. Die im Rahmen von Counterinsurgency vorgesehene enge Verbindung militärischer und ziviler Arbeit geschah in der Republik und im Prinzipat aus dem einfachen Grund, dass die jeweiligen Statthalter sowohl die militärischen als auch die zivilen Leitungsbeamten waren und beides unweigerlich aufeinander anstimmten. Insbesondere die Reformen des Augustus hatten gute Rahmenbedingungen für die Kaiserzeit geschaffen, um die Provinzbevölkerungen zu gewinnen und Aufstandsgebiete schnell wieder einzubinden. Anders als zuvor waren keine publicani mehr unterwegs, die die wehrlose Bevölkerung ausplünderten und die Statthalter konnten sich nicht mehr straflos bereichern oder unnötige Konflikte provozierten, um in Rom den Siegesruhm einzufheimsen. Das Beispiel der Behandlung der Italiker nach dem Bundesgenossenkrieg macht deutlich, dass die wirksamen Maßnahmen auch schon in republikanischer Zeit bekannt waren. Die Herrschaft der Kaiser hat dann eine größere Stabilität in die Reichsverwaltung gebracht und ermöglichte es, langfristige Strategien zu entwickeln, da die Imperatoren – anders als die Konsuln oder republikanischen Statthalter – nicht in Amtszeiten denken mussten. Die Maßnahmen zur Beruhigung und Einbindung von Völkerschaften wurden bedächtiger eingesetzt. Allerdings zeigt die Bestrafung der Treverer, deren Ala aufgelöst und deren Oberschicht geschasst wurde, sowie die harte Behandlung der Juden, dass diese Maßnahmen auch angepasst oder gänzlich über Bord geworfen werden konnten. Die römische Administration hatte Herangehensweisen entwickelt, mit befriedeten Konfliktherden so umzugehen, dass sich die ehemals teilweise aufständische Bevölkerung zu treuen Reichsbewohnern entwickelte. Hier haben die Römer über längere Zeit die Lernfähig- und -willigkeit bewiesen, deren Fehlen David Nagl für das Versagen der US-Amerikaner in Vietnam verantwortlich machte. Auch wenn die republikanischen und frühkaiserzeitlichen Politiker und Strategen sicherlich nicht die Absicht hatten, eine durchdachte Strategie zur Befriedung von aufständischen Provinzen zu entwickelt, so ergab sich aus den angewendeten Methoden dennoch eine Methodik, die auf der nichtmilitärischen Ebene durchaus mit den heutigen Ansätzen der Counterinsurgency vergleichbar ist.

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Schriftenverzeichnis Burkhard Meißners

Aufsätze in wissenschaftlichen Zeitschriften ΠΡΑΓΜΑΤΙΚΗ ΙΣΤΟΡΙΑ, Polybios über den Zweck pragmatischer Geschichtsschreibung, in: Saeculum 37, 1986, 313–351. Sum enim unus ex curiosis. Computerstudien zum Stil der Historia Augusta, in: Rivista di cultura classica e medioevale 34, 1992, 47–79. Lo storiografo emarginato: Osservazioni sulla storiografia del primo ellenismo, in: Rivista di cultura classica e medioevale 34, 1992, 191–222. Meris VI ad ludum Neronianum. Beobachtungen und Überlegungen zu einer Inschrift des Katasters von Orange, in: Zeitschrift für Papyrologie und Epigraphik 90, 1992, 167–192 mit Taf. XXI. Geschichtsbilder in der Historia Augusta, in: Philologus 137, 1993, 274–294. Über Zweck und Anlaß von Diokletians Preisedikt, in: Historia 49, 2000, 79–100. Hofmann und Herrscher: Was es bei den Griechen hieß, Freund eines Königs zu sein, in: Archiv für Kulturgeschichte 82, 2000, 1–36. zusammen mit Ringo Dengler, Matthias Finke, Steffen Hohenberg: Brief über Steuereintreibung, in: Archiv für Papyrusforschung 46, 2000, 41–49 mit Tafel IV. A Belated Nation: Sources on Iberia and Iberian Kingship, Archäologische Mitteilungen aus Iran und Turan 32, 2000, 177–206. Krieg und Strategie bei den Griechen, in: Seminari romani di cultura greca V.1, 2002, 107–135. zusammen mit Cornelius Hahlweg, Wenjing Zhao, Hendrik Rothe: The idea of the Lambertian surface. history, idealization, and system theoretical aspects and part 1 of a lost chapter on multiple reflection, in: Proc. SPIE (The International Society for Optical Engineering), Vol. 7792, 779202, 2010; DOI: 10.1117/12.860172; DOI link: http:// dx.doi.org/10.1117/12.860172. zusammen mit Cornelius Hahlweg, Wenjing Zhao, Hendrik Rothe: Time depending techniques for volume and discrete boundary surface scatterometry and part II of a lost chapter in Lambert’s Photometria on multiple reflection, in: Proc. SPIE (The International Society for Optical Engineering), Vol. 7792, 77920A, 2010; DOI:10.1117/12.860170; DOI link: http://dx.doi.org/10.1117/12.860170. Strategy, Strategic Leadership and Strategic Control in Ancient Greece, in: Journal of Military and Strategic Studies 13.1, 2010, 4–27. Pirates, Warfare and failing states in Ancient Greece, in: Journal of Classical Studies (Journal of the Classical Society of Japan) 58, 2010, 57–82. Ancient Greek Coalition Warfare: Classical and Hellenistic Examples, in: Journal of Military and Strategic Studies 14.3–4, 2012. Стратегия, стратегическое руководство и стратегический контроль в древней Греции, in: Мнемон – Исследования и публикации по истории античного мира. Выпуск 13. Под редакцией професора Э.Д. Фролова. Санкт-Петербург, 2013, 91–102. Officium. Beamte im antiken Rom, in: Zeitschrift für Ideengeschichte XI.1, 2017, 13–18.

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Some Remarks on Roman Imperial Ballistae, in: Мнемон – Исследования и публикации по истории античного мира, Выпуск 18.2, Санкт-Петербург, 2018, 82–92. zusammen mit Andreas Gerstacker: Krise, Krieg und Kirche. Orthodoxie, Caesaropapismus und Weltkrieg der Werte in Russland. Übersetzung und Kommentar eines neuen Erlasses von Putin, #GIDSresearch 01/2023, 16. Januar 2023. (https://gids-hamburg. de/wp-content/uploads/2023/01/GIDSresearch2023_01_Gerstacker-Meissner220109. pdf) Strategische Folgerungen aus dem Krieg in der Ukraine, in: Europäische Sicherheit und Technik 5, 2023, 12–15. (https://mittler-report.de/europaeische-sicherheit-technik/) Beiträge zu Reihen- und Sammelwerken POxy 3854, in: The Oxyrhynchus Papyri 56, published by the Egypt Exploration Society, London 1989, 104–106. Diskussionsbeiträge in: Herman Verdin, Guido Schepens, Eels de Keyser (Hrsg.): Purposes of History in Ancient Greek Historiography, Lovanii/Leuven 1990, 118f.; 201f.; 357. TLG und PHI CD-ROM: Ein neuer Zugang mit dem Erlanger »View & Find«-Programm, Gnomon 63, 1991, 670–671. V&F: Sistema interattivo per l’analisi dei testi greci e latini, Bollettino d’informazioni, Centro di Ricerche Informatiche per i Beni Culturali III, N. 1, Pisa 1993, 57–68. Vorstellungen der Griechen von den Bergen, in: Eckart Olshausen, Holger Sonnabend (Hrsg.): Stuttgarter Kolloquium zur Historischen Geographie des Altertums 5, 1993, Geographica Historica 8, Amsterdam 1996, 351–369. Adherbal (4), in: Der Neue Pauly I, 1996, 112. Berufsausbildung in der Antike, in: Max Liedtke (Hrsg.): Berufliche Bildung – Geschichte, Gegenwart, Zukunft, Schriftenreihe zum Bayrischen Schulmuseum Ichenhausen 15, Bad Heilbrunn 1997, 55–99. Computergestützte Untersuchungen zur stilischen Einheitlichkeit der Historia Augusta, in: Giorgio Bonamente u. Klaus Rosen (Hrsg.): Historiae Augustae Colloquium Bonnense, Bari 1997, 175–215. Naturkatastrophen und zwischenstaatliche Solidarität im klassischen und hellenistischen Griechenland, in: Eckart Olshausen, Holger Sonnabend (Hrsg.), Naturkatastrophen in der antiken Welt (Stuttgarter Kolloquium zur historischen Geographie des Altertums VI 1996), Stuttgart 1998 242–262. Bochus (1) (2); Bogud(es) (1), in: Der Neue Pauly II, 1997, 712; 728f. Gulussa; Hiarbas (2), Hiempsal, Iugurtha, in: Der Neue Pauly V, 1998, 9; 529; 532; 1213f. Tradition und Technik: Technische Fachliteratur der Antike zwischen 400 v.Chr. und 400 n.Chr., in: Marie-Louise Recker, Doris Eizenhöfer, Stefan Kamp (Hrsg.): Intentionen – Wirklichkeiten. 42. Deutscher Historikertag in Frankfurt am Main, München 1999, 282. Massinissa; Massiva; Mastanabal, in: Der Neue Pauly VII, 1999, 991–993; 993; 995.

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Gaius Flaminius, in: Karl-Joachim Hölkeskamp, Elke Stein-Hölkeskamp (Hrsg.): Von Romulus zu Augustus. Große Gestalten der römischen Republik, München 2000, 92–105. Micipsa, Misagenes, Nabdalsa, in: Der Neue Pauly VIII, Stuttgart, 2000, 153; 255; 658. Gesetze, Verwaltungsschriftgut, politische Pamphletistik, in: Michael Maurer (Hrsg.): Aufriß der historischen Wissenschaften 4, Stuttgart 2002, 33–59. Forschung, Lehre und Organisation des Lehrstuhles für Alte Geschichte der Universität Halle im 20. Jahrhundert: Profilsuche zwischen Orient und Abendland, Mangel und Fluktuation, in: Hermann-Josef Rupieper (Hrsg.): Beiträge zur Geschichte der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg 1502–2002, Halle/Saale 2002, 223–242. Der Universalhistoriker Eduard Meyer, in: Werner Freitag (Hrsg.): Halle und die deutsche Geschichtswissenschaft um 1900, Studien zur Landesgeschichte 5, 2. Aufl. Halle/ Saale 2004, 136–157. Mündliche Vermittlung und schriftliche Unterweisung in der antiken Berufsausbildung, in: Marietta Horster, Christiane Reitz (Hrsg.): Antike Fachschriftsteller. Literarischer Diskurs und sozialer Kontext, Wiesbaden 2003, 153–175. Kriege – Krisen – Katastrophen. Stadtzerstörung und Stadterneuerung in der griechischen Antike, in: Andreas Ranft, Stephan Selzer (Hrsg.): Städte aus Trümmern. Katastrophenbewältigung zwischen Antike und Moderne, Göttingen 2004, 26–53. Strategies in Herodotus, in: V. Karageorghis, I.Taifacos (Hrsg.): The World of Herodotus, Nicosia 2004, 223–237. Über Modelle antiker Geldverkehrssysteme, in: Robert Rollinger, Christoph Ulf (Hrsg.): Commerce and Monetary Systems in the Ancient World. Means of Transmission and Cultural Interaction, Melammu Symposia 5, Wiesbaden 2004, 311–326. Philipp II. von Makedonien, Aigai 336 v.Chr., in: Michael Sommer (Hrsg.): Politische Morde. Vom Altertum bis zur Gegenwart, Darmstadt 2005, 45–54. Waffen- und Kriegstechnik, in: Kurt Erlemann, Karl Leo Noethlichs, Klaus Scherberich, Jürgen Zangenberg (Hrsg.): Neues Testament und Antike Kultur II. Familie – Gesellschaft – Wirtschaft, Neukirchen-Vluyn 2005, 211–214. Anfänge und frühe Entwicklungen der griechischen Historiographie, in: Eve-Marie Becker (Hrsg.): Die antike Historiographie und die Anfänge der christlichen Geschichtsschreibung, Berlin/New York 2005, 83–109. Die Alte Geschichte an der Karl-Marx-Universität Leipzig: Anmerkungen zum Geschichtsbild Rigobert Günthers, in: Isolde Stark (Hrsg.): Elisabeth Charlotte Welskopf und die Alte Geschichte in der DDR, Wiesbaden 2005, 90–107. Politik, Strategie und Kriegführung. Anmerkungen zum klassischen und hellenistischen Griechenland, in: Burkhard Meißner, Oliver Schmitt, Michael Sommer (Hrsg.): Krieg – Gesellschaft – Institutionen. Beiträge zu einer vergleichenden Kriegsgeschichte, Berlin 2005, 289–315. zusammen mit Oliver Schmitt: Einleitung, in: Burkhard Meißner, Oliver Schmitt, Michael Sommer (Hrsg.): Krieg – Gesellschaft – Institutionen. Beiträge zu einer vergleichenden Kriegsgeschichte, Berlin 2005, 11–14.

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Die Mechanik und ihre Anwendungen in der Antike, in: Astrid Schürmann (Hrsg.): Physik/Mechanik, Geschichte der Mathematik und Naturwissenschaften in der Antike 3, Stuttgart 2005, 129–144. Die antike Technik in der althistorischen Forschung, in: Wolfgang König, Helmuth Schneider (Hrsg.): Die technikhistorische Forschung in Deutschland von 1800 bis zur Gegenwart, Kassel 2007, 163–188. Die Kultur des Krieges, in: Gregor Weber (Hrsg.): Kulturgeschichte des Hellenismus. Von Alexander dem Großen bis Kleopatra, Stuttgart 2007, 202–223 u. 462–467. Altertumswissenschaft und Kunstwissenschaft – Anmerkungen zu Adolph Goldschmidts Beziehungen zu den Klassischen Altertumswissenschaften, in: Gunnar Brands, Heinrich Dilly (Hrsg.): Adolph Goldschmidt (1863–1944). Normal Art History im 20. Jahrhundert, Weimar 2007, 147–160. Natural Disasters and Solidarity in the Ancient World: Cases for Comparison, in: René Favier, Christian Pfister (Hrsg.): Solidarité et assurance. Les sociétées européennes face aux catastrophes (17e–21e siècles), Grenoble 2008, 17–35. Taktiker und Tückebold. Skrupellos behauptete sich der Makedone Philipp V. – Dann stoppten ihn die Römer, in: Johannes Saltzwedel (Hrsg.): Götter, Helden, Denker. Die Ursprünge der europäischen Kultur im antiken Griechenland, München 2008, 241–246. Reparationen in der klassischen griechischen Welt und in hellenistischer Zeit, in: Friedrich Burrer, Holger Müller (Hrsg.): Kriegskosten und Kriegsfinanzierung in der Antike, Darmstadt 2008, 246–259. Magie, Pseudo-Technik und Paratechnik. Technik und Wissenschaft in den Kestoi des Julius Africanus, in: Martin Wallraff, Laura Mecella (Hrsg.): Die Kestoi des Julius Africanus und ihre Überlieferung, Berlin/New York 2009, 17–37. Dispositions in Greek Historiography, in: Gregor Damschen, Robert Schnepf, Karsten Stüber (Hrsg): Debating Dispositions. Issues in Metaphysics, Epistemology and Philosophy of Mind, Berlin 2009, 47–67. Reformen in der griechisch-römischen Antike?, in: Ernst-Joachim Waschke, Johannes Thon (Hrsg.): Reformen im Alten Orient und der Antike. Programme, Darstellungen und Deutungen, Orientalische Religionen in der Antike (ORA) 2, Tübingen 2009, 41–70. Περἱ ἱστορίας: Über Probleme antiker Geschichtstheorie, in: Thomas Brüggemann, Burkhard Meißner, Christian Mileta, Angela Pabst, Oliver Schmitt (Hrsg.): Studia hellenistica et historiographica. Festschrift für Andreas Mehl, Gutenberg 2010, 179–202. zusammen mit Thomas Brüggemann, Christian Mileta, Angela Pabst, Oliver Schmitt, Zum Geleit, in: Thomas Brüggemann, Burkhard Meißner, Christian Mileta, Angela Pabst, Oliver Schmitt (Hrsg.): Studia hellenistica et historiographica. Festschrift für Andreas Mehl, Gutenberg 2010, 11–13. War as a Learning-Process: The Persian Wars and the transformation of fifth century Greek warfare, in: Κώστας Μπουραυζέλης (Hrsg.): Μαραθων. Η Μάχη και ο Αρχαιος Δήμος / Kostas Bouraselis, Katerina Meidani (Hrsg.): Marathon. The Battle and the Ancient Deme, Athen 2010, 275–296.

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War, Politics and Technology: Classical Models and Hellenistic Innovation in Greek Siege Warfare, in: Nicholas V. Sekunda, Aljandro Noguera Borel (Hrsg.): Hellenistic Warfare I, Valencia 2011, 115–136. Kidnapping und Plündern. Piraterie, und failing states im antiken Griechenland, in: Sabine Todt, Volker Grieb (Hrsg.): Piraterie von der Antike bis zur Gegenwart, Historische Mitteilungen der Ranke-Gesellschaft Beihefte 81, Stuttgart 2012, 21–45. Betrachtungen über Widerstand, in: Linda-Maria Günther, Volker Grieb (Hrsg.): Das imperiale Rom und der griechische Osten. Festschrift für Jürgen Deininger zum 75. Geburtstag, Stuttgart 2012, 35–49. Polybios als Militärhistoriker; in: Volker Grieb, Clemens Koehn (Hrsg.): Polybios und seine Historien, Stuttgart 2013, 127–157. Peace, Publicity and Panhellenism. Greek Freedom, Propaganda and Communication at the Great Games; in: Nikos Birgalias, Kostas Buraselis, Paul Cartledge, Ariadni Gartziou-Tatti, Maria Dimopoulou (Hrsg.): War – Peace and Panhellenic Games, Athens 2013, 423–437. Egypt in Fourth Century Greek Strategies, Strategical Considerations and Strategic Concepts, in: Volker Grieb, Krysztof Nawotka, Agnieszka Wojciechowska (Hrsg.): Alexander the Great and Egypt. History, Art, Tradition, Wiesbaden 2014, 15–27. Überlegungen zur methodischen Funktion der Trennungsmetaphorik bei Aristoteles, in: Katharina Alsen, Nina Heinsohn (Hrsg.): Bruch – Schnitt – Riss: Deutungspotentiale von Trennungsmetaphorik in den Wissenschaften und Künsten, Münster 2014, 85–95. Reguläre und irreguläre Kämpfer in der Antike, in: Frank Becker (Hrsg.): Zivilisten und Soldaten. Entgrenzte Gewalt in der Geschichte, Essen 2015, 13–50. Sicherheit in einer Welt ohne Statistik, in: Sabine Panzram, Werner Riess, Christoph Schäfer (Hrsg.): Menschen und Orte der Antike. Festschrift für Helmut Halfmann zum 65. Geburtstag, Rahden 2015, 313–333. Geschichtsdenken, Geschichtsmetaphysik, Geschichtspragmatik in der Zeit Marc Aurels, in: Volker Grieb, Clemens Koehn (Hrsg.): Marc Aurel – Wege zu seiner Herrschaft, Gutenberg 2017, 163–188. Aus welchem Material waren die Federn antiker Torsionsgeschütze?, in: Hans Beck, Benedikt Eckhardt, Christoph Michels, Sonja Richter (Hrsg.): Von Magna Graecia nach Asia Minor. Festschrift für Linda-Marie Günther zum 65. Geburtstag, Wiesbaden 2017, 327–338. Climate Change, Critical Infrastructure, and Security: Concluding Remarks, in: German Institute for Defence and Strategic Studies (Hrsg.): Kritische Infrastrukturen und Klimawandel als Herausforderungen für die Sicherheitspolitik. Südamerikanische Erfahrungen als Modell für Deutschland?, Hamburg 2021, 225–229. Strategie als Lehre – Strategie als Literatur: Wissenschaft und Rhetorik in der antiken Strategie, in: Wolfgang Peischel (Hrsg.): Wiener Strategie-Konferenz 2019: Strategie neu denken, Berlin 2021, 199–220. Einleitung, in: Burkhard Meißner, Stefan Bayer (Hrsg.): See, Land, Geld und Waffen. Studien zur Strategie, Baden-Baden 2021, 1–6.

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Rezensionen Dietmar Kienast: Römische Kaisertabelle, Darmstadt 1990, in: Historische Zeitschrift 1992, 157–158. William M. Calder III, Alexaner Demandt (Hrsg.): Eduard Meyer. Leben und Leistung eines Universalhistorikers, Mnemosyne Suppl. 112, Leiden 1990, in: Journal of Roman Studies 82, 1992, 309–310. Karl Christ, Emilio Gabba (Hrsg.): Römische Geschichte und Zeitgeschichte in der deutschen und italienischen Altertumswissenschaft während des 19. und 20. Jahrhunderts, Biblioteca di Athenaeum, Como. Vol. I: Caesar und Augustus, No 12, 1989; Vol. II: No 16, L’impero romano fra storia generale e storia locale, 1991, in: Journal of Roman Studies 83, 1993, 267–268. Kenneth Sacks: Diodorus and the First Century, Princeton (NJ) 1990, in: Gnomon 65, 1993, 313–317. Dörte Teske: Der Roman des Longos als Werk der Kunst, Münster 1991, in: Gnomon 65, 1993, 589–593. Astrid Schürmann: Griechische Mechanik und antike Gesellschaft, Stuttgart 1991, in: Centaurus 35, 1993, 356–358. Giangiacomo Panessa: Fonti greche e latine per la storia del ambiente e del clima nel mondo greco I, II, (Pubblicazioni della classe di lettere e filosofia VIII, IX), Pisa 1991, in: Rivista di cultura classica e medioevale 35, 1993, 186–190. Otto Lendle: Einführung in die griechische Geschichtsschreibung – Von Hekataios bis Zosimos, Darmstadt 1992, in: Historische Zeitschrift 260, 1995, 159–161. Gabriele Wesch-Klein: Funus publicum. Eine Studie zur öffentlichen Beisetzung und Gewährung von Ehrengräbern in Rom und den Westprovinzen, Stuttgart 1993, in: Historische Zeitschrift 260, 1995, 848–849. Claudia Schulte: Die Grammateis von Ephesos – Schreiberamt und Sozialstruktur in einer Provinzhauptstadt des römischen Kaiserreiches, Stuttgart 1994, in: Historische Zeitschrift 261, 1995, 508–509. Michael Dräger: Die Städte der Provinz Asia in der Flavierzeit, Studien zur kleinasiatischen Stadt- und Regionalgeschichte, Frankfurt/Main 1993, in: Historische Zeitschrift 262, 1996, 844–845. Phillip Harding: Androtion and the Atthis – The Fragments Translated with Introduction and Commentary, Oxford 1994, in: Gnomon 68, 1996, 511–514. Gerhard Krüger (Hrsg.): Das Verhältnis von Staat und Individuum in der Antike. Antike historische und philosophische Texte, ausgewählt, übersetzt und kommentiert, Baden-Baden 1994, in: Klio 79, 1997 210–212. Claudia Moatti: Archives et partage de la terre dans le monde romain (IIe siècle avant – Ier siècle après J.-C.), Collection de l’école française de Rome, Rome 1993, in: Gnomon 69, 1997, 374–376. Gregor Weber: Dichtung und höfische Gesellschaft – Die Rezeption von Zeitgeschichte am Hof der ersten drei Ptolemäer, Stuttgart 1993, in: Gymnasium 105, 1998, 261–264.

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Gerhard H. Waldherr: Erdbeben – Das aussergewöhnliche Normale. Zur Rezeption seismischer Aktivitäten in literarischen Quellen vom 4. Jahrhundert v. Chr. bis zum 4. Jahrhundert n. Chr., Geographica Historica IX, Stuttgart 1997, in: Historische Zeitschrift 269, 1999, 706f. Erwin K. Ruprechtsberger: Die Garamanten. Geschichte und Kultur eines libyschen Volkes in der Sahara, Mainz 1997, in: Historische Zeitschrift 270, 2000, 428–429. Klaus Meister: Die Interpretation historischer Quellen. Schwerpunkt: Antike Bd. 1: Griechenland, Paderborn/München/Wien/Zürich 1997, in: Historische Zeitschrift 271, 2000, 413f. Ulrich Huttner: Die politische Rolle der Heraklesgestalt im griechischen Herrschertum, Historia-Einzelschriften 112, Stuttgart 1997, in: Gymnasium 108, 2001, 51–53. Colin Chant, David Goodman (Hrsg.): Pre-Industrial Cities & Technology, New York 1999; Colin Chant (Hrsg.): The Pre-Industrial Cities & Technology Reader, London/ New York 1999, in: Technikgeschichte 67.3, 2000, 232–233. Max Zlattner: Hannibals Geheimdienst im Zweiten Punischen Krieg, 2. Auflage, Konstanz 2000, in: Historische Zeitschrift 274, 2002, 426–428. Sergej Jurʹevič Saprykin: Heracleia Pontica and Tauric Chersonesus before Roman Domination (VI – I centuries B.C.), Amsterdam 1997, in: Gnomon 74, 2002, 513–516. Arno Mauersberger, Christian-Friedrich Collatz, Hadwig Helms, u. a. (Hrsg.): PolybiosLexikon I 1, Berlin 2000, in: Historische Zeitschrift 274, 2002, 420. Hans-Ulrich Wiemer: Rhodische Traditionen in der hellenistischen Historiographie, Frankfurter Althistorische Beiträge 7, Frankfurt/Main 2001, in: Historische Zeitschrift 277, 2003, 406–410. Anne Kolb: Transport und Nachrichtentransfer im Römischen Reich, Klio Beiträge zur Alten Geschichte, Beihefte, Neue Folge 2, Berlin, 2000, in: Historische Zeitschrift 277, 2003, 416f. Herman T. Wallinga, Xerxes’ Greek Adventure. The Naval Perspective, Leiden/Boston 2005, in: Historische Zeitschrift 283, 2006, 441–443. Christian Müller-Goldingen: Xenophon. Philosophie und Geschichte, Darmstadt 2007, in: HSozUKult 2008-2-073. Jeannine Boëldieu-Trevet, Commander dans le monde grec au Ve siècle avant notre ère, Besançon 2007, in: Gnomon 86, 2014, 31–38. Hans-Christian Grassmann, Die Funktion von Hypokausten und Tubuli in antiken römischen Bauten, insbesondere Thermen. Erklärungen und Berechnungen, British Archaeological Reports International Series 2309, Oxford 2011, in: Sehepunkte 3, 2014, 24823. Kay Ehling, Gregor Weber (Hrsg.): Hellenistische Königreiche, Darmstadt 2014, in: Antike Welt 6, 2015, 91. Eckart Olshausen, Vera Sauer (Hrsg.): Mobilität in den Kulturen der antiken Mittelmeerwelt, Stuttgarter Kolloquium zur historischen Geographie des Altertums 11, 2011, Geographica Historica 31, Stuttgart 2014, in: Ancient West and East 15, 2016, 447–451. Pascal Warnking: Der römische Seehandel in seiner Blütezeit. Rahmenbedingungen, Seerouten, Wirtschaftlichkeit, Rahden 2015, in: Gymnasium 124.3, 2017, 290–293.

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Mark Beck: Der politische Euergetismus und dessen vor allem nichtbürgerliche Rezipienten im hellenistischen und kaiserzeitlichen Kleinasien sowie dem ägäischen Raum, Rahden 2015, in: Gymnasium 124.3, 2017, 286–288. Armin Eich: Die Söhne des Mars. Eine Geschichte des Krieges von der Steinzeit bis zum Ende der Antike, München 2015, in: Gnomon 93, 2021, 512–518. Garrett G. Fagan, Linda Fibiger, Mark Hudson u. a. (Hrsg.): The Cambridge World History of Violence 1. The Prehistoric and Ancient Worlds, Cambridge 2020, in: Historische Zeitschrift 314.1, 2022, 154–157. Wissenschaftspublizistik Römische Kalender, Universitätszeitung der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg, Dezember 1999, 7. Gewährt Einblicke in den Alltag der Antike. Die Papyrussammlung des Robertinums in Halle, Scientia Halensis. Wissenschaftsjournal der Martin-Luther-Universität HalleWittenberg 2/2000, Halle 2000 17f. zusammen mit S. Kliesch, C. Rauch-Gelhaar, M. Stickler, C. Tammer: Eine Reform zum Schaden des wissenschaftlichen Nachwuchses. Eine notwendige Polemik zur Hochschullehrerdienstrechtsreform, in: Forschung & Lehre 4/2002, 2002, 195–198. Die Papyrussammlung, in: Wilfried Grecksch, Udo Sträter (Hrsg.): Jubiläumskalender April 2002 Dezember 2002 Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg, Halle/Saale 2002, 34–35. Papyri als Quellentexte zu Altertumswissenschaft und Sprachforschung, in: Gunnar Berg u.a. (Hrsg.): Emporium – 500 Jahre Universität Halle-Wittenberg. Landesausstellung Sachsen-Anhalt 2002, Halle/Saale 2002, 332f.; Papyrussammlung, in: ebd. 413. zusammen mit Andreas Mehl: Zur Geschichte der Alten Geschichte. Forschung am Lehrstuhl für Alte Geschichte in Halle, Scientia Halensis. Wissenschaftsjournal der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg 2/2002, 2002, 23f. Taktiker und Tückebold (Philipp V.), in: Spiegel Spezial Geschichte 2/2008, 134–136. Vom Städte- zum Bewegungskrieg: Alexanders Feldzug in Asien, in: Damals 10/2009, 32–37 Ein Speer für zwei. Mit Panzerrittern und Bogenschützen schreckten die Sasaniden selbst Rom, in: Spiegel Geschichte Persien 2, 2010, 52–55. Interview von Jens-Rainer Berg u. Dr. Frank Otto, Am Anfang war Alexander, in: Alexander der Große, Geo Epoche 63, 2013, 156–159. Die Maschinerie des Kriegs – Militärtechnik, in: DAMALS 7, 2014, 38ff. Athen und Sparta [Besprechung von: Marcel Bohnert, Lukas J. Reitstetter (Hrsg.): Armee im Aufbruch, Berlin (2014)], in: if – Zeitschrift für Innere Führung Nr. 2, 2015, 5–10. Überlegungen aus Anlass eines Virus, #GIDSstatement Nr. 3, April 2020. zusammen mit Stefan Bayer: Bewaffnete Drohnen. Kritik der Kritik, #GIDSstatement Nr. 5, Juni 2020.

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zusammen mit Severin Pleyer: Zur Nuklearstrategie Russlands. Übersetzung und Kommentar des Dekretes über Prinzipien der nuklearen Abschreckung, #GIDSstatement Nr. 6, Juli 2020. Praxis, Rhetorik, Wissenschaft. Über die Lehrbarkeit der Strategie, #GIDSstatement 07/2021, Hamburg 2021. zusammen mit Stefan Bayer, Deniz Kocak, Julian Pawlak, Severin Pleyer, Gary S. Schaal, Jörn Thießen: Was dürfen wir erwarten? Sicherheitspolitische Anmerkungen zum Koalitionsvertrag, #GIDSstatement 11/2021, Hamburg 2022. Liveinterview des WDR mit Prof. Meißner zur strategischen Lage in der Ukraine (25.02.2022). Liveinterview von Bild-TV mit Prof. Meißner zur strategischen Lage (26.02.2022). Liveinterview von Bild-TV mit Prof. Meißner zur Lage (27.02.2022). Interview des Hamburger Abendblattes mit Prof. Meißner zur strategischen Lage (04.03.2022). Livediskussion des „Behörden Spiegel“ mit Prof. Meißner und Hans-Gert Pöttering zu Lage und Entwicklung des Krieges (10.03.2022). Podiumsdiskussion der Universität Hamburg über Russlands Krieg gegen die Ukraine mit Prof. Meißner (11.03.2022). Interview von Bild-TV mit Prof. Meißner (15.03.2022). Live-Interview von Bild-TV mit Prof. Meißner über strategische Fragen (15.03.2022). Live-Interview von WELT-TV mit Prof. Meißner über strategische und ideologische Fragen des Krieges (18.03.2022). Live-Interview von Bild-TV mit Prof. Burkhard Meißner über den Krieg am Schwarzen Meer (19.03.2022). Thüringer Allgemeine u.a., „Ukraine-Krieg: Diese Fehler hat Putins Armee gemacht“, mit Zitaten von Prof. Dr. Burkhard Meißner zur militärischen Führungskultur und Operationsführung Russlands, 25.04.2022. Bild-TV, Interview mit Prof. Dr. Burkhard Meißner zur Parade am 9. Mai in Moskau, 09.05.2022. Hamburger Abendblatt u.a., „Warum Odessa für Putins Truppen eine Nummer zu groß ist“, mit Zitaten von Prof. Dr. Burkhard Meißner zur Verteidigung der südukrainischen Metropole, 11.05.2022. zusammen mit Stefan Bayer, Sören Bernhardt, Sören Bock, Marie Fölger, Martin Hamm, Jerome Hartsuiker, Franziska Heinemann, Florian Henneke, Hendrik Hoppe, Nicolai Kreutzer, Tanja Merkl, Frank Neff, Severin Pleyer, Tobias Scheytt, Steven Scholz, Fabian Schroppe, Robert Stiller, Frank Weiske, Tobias Zernechel, Neun Thesen zum Ukraine-Krieg. Welche Schlüsse und Konsequenzen schon jetzt aus dem Angriffskrieg Russlands gegen die Ukraine gezogen werden können, GIDSstatement Nr. 6/2022. Mitunterzeichner von: FAZ, „Putin nicht belohnen“, Stellungnahme von Strategieexperten zum Krieg in der Ukraine, unterzeichnet u.a. von Prof. Dr. Burkhard Meißner, 14.07.2022. zusammen mit Severin Pleyer, Escalate to De-Escalate: Ein Mythos über die russische Nuklearstrategie, GIDSstatement Nr. 7/2022.

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Deutsche Welle, „Армия РФ „в шоке“, а Украине нужно оружие – эксперты о войне“, mit Zitaten von Prof. Dr. Burkhard Meißner zur militärischen Lage nach sechs Monaten Krieg in der Ukraine, 25.08.2022. ntv, „Wie die Ukraine eine US-Kriegsstrategie nutzt“, Interview mit Prof. Dr. Burkhard Meißner zur militärischen Lage in der Ukraine, 29.08.2022. wirtschaft tv, Interview mit Prof. Dr. Burkhard Meißner zu den strategischen Implikationen des Kriegs in der Ukraine , 08.09.2022. WDR 5, „Echo des Tages“, Interview mit Prof. Dr. Burkhard Meißner zur ukrainischen Gegenoffensive, 12.09.2022. ntv, „Ukraine hat eine Art Zwickmühle aufgebaut“, Interview mit Prof. Dr. Burkhard Meißner zur ukrainischen Gegenoffensive, 13.09.2022. NDR, „Russlanddeutsche haben Angst, in den Krieg ziehen zu müssen“, mit O-Tönen von Prof. Dr. Burkhard Meißner zur Teilmobilmachung Russlands, 22.09.2022. RTL, „Putins Nukleardrohungen sind Teil einer propagandistischen Erpressungsstrategie“, Interview mit Prof. Dr. Burkhard Meißner zu einer möglichen atomaren Eskalation, 26.09.2022. Deutsche Welle, „Die Bundeswehr kann von der Ukraine lernen“, Interview mit Prof. Dr. Meißner zu den Geländegewinnen der ukrainischen Streitkräfte, zu Propaganda und Atomwaffen, 04.10.2022. ntv, „Meißner zu Ablenkung und Abnutzung: ,Denkbar, dass Russen Trick der Ukraine anwenden wollen‘“, Interview mit Prof. Dr. Burkhard Meißner zu den strategischen Implikationen des Kriegs in der Ukraine, 14.10.2022. Berliner Morgenpost, „Russland: Warum Putins Truppen zu billigen Waffen greifen“, mit Zitaten von Prof. Dr. Burkhard Meißner zu Waffen, Munition und Personal im Ukraine-Krieg, 16.10.2022. Berliner Morgenpost, „Winterelend im Ukraine-Krieg: Wem setzt die Kälte mehr zu?“, mit Zitaten von Prof. Dr. Burkhard Meißner zu den Auswirkungen von Wetter und Gelände auf die Operationsführung, 10.12.2022. Historiker als Weltenrichter? Der deutsche Historismus war kein Kernelement des kolonialen Projekts. Robert Heinze verwirrt in seiner Replik auf Egon Flaig die Begriffe und verfehlt das Ziel, Frankfurter Allgemeine Zeitung 298 (22. Dezember 2022) Seite 12. ntv, Historiker: Ukraine-Krieg bringt westliche Panzerbestände „an Grenzen“, Interview mit Prof. Dr. Burkhard Meißner zur Leopard-2-Lieferung an die Ukraine, 26.01.2023. Vorfahrt für die europäische Rüstung, in: LIBERAL Das Magazin der FriedrichNaumann-Stiftung für die Freiheit 2 (2023) Berlin: https://liberal-magazin. de/2023/02-2023/verteidigung-des-westens RLT News: Russen bereiten sich auf statischen Krieg vor – Oberst der Reserve Meißner: „Es ist selten gelungen.“ 04.05.2023. RTL News: Wann startet die große Gegenoffensive der Ukraine? 04.05.2023. Tagesschau-Beitrag: Wann beginnt Kiews Gegenoffensive? Seit Wochen wird gerätselt: Wann beginnt die Ukraine ihre Gegenoffensive? Die Militärexperten Markus Reisner, Nico Lange und Burkhard Meißner geben ihre Einschätzung. 11.05.2023.

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Leserbrief FAZ 12. Mai 2023 „Durch Russlands Angriff bestimmte Lage“: https://www. faz.net/aktuell/politik/briefe-an-die-herausgeber/briefe-an-die-herausgeber-vom12-mai-2023-18886299.html. ntv, Warum sich Kiews Gegenoffensive so lange hinzieht – Burkhard Meißner über Erfolge und Probleme, 22.06.2023.

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Autoreninformationen Eran Almagor, PhD, a scholar based in Israel. His main topics of research are Greek Imperial Literature, Ancient Persia, Reception of Antiquity Stefan Bayer, Prof. Dr. rer. pol., Leiter Forschung und stellvertretender Direktor GIDS, Professor für Volkswirtschaftslehre, Helmut-Schmidt-Universität/Universität der Bundeswehr Hamburg Andreas Gerstacker, Dr. phil., Wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Professur für Alte Geschichte & am Netzwerk interdisziplinäre Konfliktanalysen (NIKA) des GIDS, Helmut-Schmidt-Universität/Universität der Bundeswehr Hamburg Linda-Marie Günther, Dr. phil., 1999 bis 2018 Professorin für Alte Geschichte/Griechi­ sche Geschichte, Ruhr-Universität Bochum, jetzt im Ruhestand Stefanie Holder, Dr. phil., Wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Professur für Alte Geschichte & am Netzwerk interdisziplinäre Konfliktanalysen (NIKA) des GIDS, Helmut-Schmidt-Universität/Universität der Bundeswehr Hamburg Andrea Jördens, Dr. phil., Universitätsprofessorin für Papyrologie, Zentrum für Altertumswissenschaften, Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg Michael Jonas, PD, Dr. phil., Docent of European History (Univ. Helsinki), lehrt und forscht an der Professur für Neuere und Neueste Geschichte der Helmut-Schmidt-Universität und am German Institute for Defence and Strategic Studies (GIDS). Maxim M. Kholod, PhD, Associate Professor, Department of Ancient Greek and Roman History, Institute of History, St. Petersburg State University, St. Pe­tersburg, Russian Federation Clemens, Koehn, Dr. phil., Senior Lecturer, Faculty of Humanities, Arts, Social Sciences and Education & School of Humanities, Arts, and Social Sciences, University of New England, Armidale Oleg Yu. Klimov, Doctor of History, Professor, Head of the Department of Ancient Greek and Roman History, Institute of History, St. Petersburg State University, St. Petersburg, Russian Federation

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Autoreninformationen

Andreas Mehl, Prof. (em.) Dr. phil., Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg, jetzt im Ruhestand Angela Pabst, Prof. Dr., außerplanmäßige Professorin und wissenschaftliche Angestellte am Institut für Altertumswissenschaften / Alte Geschichte der Martin-Luther-Universität Halle (Saale) Tassilo Schmitt, Dr. phil., Professor für Alte Geschichte, Universität Bremen Stephan Selzer, Prof. Dr. phil., Professor für Mittelalterliche Geschichte an der Helmut-Schmidt-Universität / Universität der Bundeswehr Hamburg Bernd Wegner, Prof. (em.) Dr. phil., Helmut-Schmidt-Universität/ Universität der Bundeswehr Hamburg Michael Zerjadtke, Dr. phil., Wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Professur für Alte Geschichte, Helmut-Schmidt-Universität/Universität der Bundeswehr Hamburg

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