Dionysius Exiguus-Studien. Neue Wege der philologischen und historischen Text- und Quellenkritik

221 46 13MB

German Pages [552] Year 1960

Report DMCA / Copyright

DOWNLOAD FILE

Polecaj historie

Dionysius Exiguus-Studien. Neue Wege der philologischen und historischen Text- und Quellenkritik

Table of contents :
Vorwort des Bearbeiters
Inhaltsverzeichnis
Siglenverzeichnis
Einleitung
1. Die kanonistische Gesamtüberlieferung
2. Die Arbeitshs. des Dionysius Exiguus
3. Die Chronologie der Bearbeitungen
4. Die Vorlagen des Dionys: Sardica
5. Die Dekretalensammlung
6. Zur Methode textkritischer und quellenkritischer Forschung
7. Abschluß: Die »Dionysiana«

Citation preview

PEITZ-FOERSTER DIONYSIUS EXIGUUS-STUDIEN

ARBEITEN

ZUR

Κ I R CH Ε Ν G Ε S CH I C Η Τ Ε

B e g r ü n d e t v o n K a r l H o l l f und H a n s L i e t z m a n n f Herausgegeben von Kurt Aland, Walther Eltester und Hanns Rückert 33

DIONYSIUS

EXIGUUS-STUDIEN

NEUE WEGE DER PHILOLOGISCHEN UND HISTORISCHEN TEXT- UND QUELLENKRITIK VON

WILHELM Μ. PEIT2 S. I. BEARBEITET UND HERAUSGEGEBEN VON

HANS FOERSTER

WALTER DE G R U Y T E R & CO. vormals G. J. Göschen'sche Verlagshandlung — J. Guttentag, Verlagsbuchhandlung Georg Reimer — Karl J. Trübner — Veit & Comp.

Berlin i960

Gedruckt mit Unterstützung des Schweizerischen Nationalfonds zur Förderung der wissenschaftlichen Forschung

Archiv-Nr. 32 02 60 Alle Rechte, insbesondere das der Übersetzung in fremde Sprachen, vorbehalten. O h n e ausdrückliche G e n e h m i g u n g des Verlages ist es auch nicht gestattet, dieses Buch oder Teile daraus auf photomechanischem Wege (Photokopie, Mikrokopie) zu vervielfältigen. ©

I960

by Walter de Gruyter & Co., Berlin W 3 5 Printed in Germany Satz und D r u c k : Walter de G r u y t e r & Co., Berlin W 3 6

Vorwort des Bearbeiters Dankerfüllt und hoffnungsfreudig berichtete Wilhelm M. Peitz dem Unterzeichneten im Jahre 1954 von einer Reise zu alten und neuen Freunden, die ihm die Erfüllung seines brennendsten Wunsches zu verheißen schien: die Veröffentlichung seiner überaus mühseligen Forschungen über Dionysius Exiguus. Freilich nicht in ihrem vollen Umfange, wie ursprünglich geplant. Das hatte sich einfach als unmöglich erwiesen. Aber in der Beschränkung auf einen starken Band anstelle der ursprünglich vorgesehenen sechs Doppelbände und unter Beigabe einer verhältnismäßig kleinen Anzahl von Tafeln hätte sich der Plan doch wohl verwirklichen lassen sollen. Es war dem so überaus fleißigen, gelehrten Forscher nicht vergönnt, die Publikation seines Werkes auch nur in dieser verkürzten Form zu erleben. Noch auf der Reise wurde er in die ewige Heimat abberufen. Der Unterzeichnete hat es als selbstverständliche Freundespflicht übernommen, das Manuskript zu überarbeiten und zum Druck zu bringen, in vollem Bewußtsein der Tatsache, daß bei aller in der Sache liegenden Schwierigkeit dieses Unternehmens das wissenschaftliche Verdienst und die Verantwortung bei dem verstorbenen Verfasser liegen. Mit dem nachgelassenen Manuskripte wurde nach Möglichkeit schonend verfahren und die Auffassung des Verfassers auch da respektiert, wo sie nicht mit der des Herausgebers voll übereinstimmt. Welch einen Aufwand von Zeit und Kraft W. M. Peitz der Untersuchung des Ursprunges und der Überlieferung der ältesten kirchenrechtlichen Sammlungen gewidmet hat, geht aus dem vorliegenden Bande nicht entfernt hervor, da auf die Beigabe von Tafeln verzichtet werden mußte. Hat der Verfasser doch in tausenden von immer wieder verbesserten Tabellen sämtliche in Betracht kommenden Kanones der fraglichen

VI

Vorwort des Bearbeiters

Konzilien aus allen zu Gebote stehenden Texten Wort für Wort synoptisch-chronologisch dargestellt, derart, daß das Schicksal eines jeden einzelnen Wortes unmittelbar daraus abzulesen war. Nur auf diese Weise konnte Peitz zu seinen Ergebnissen kommen, mit denen er seine Jahrzehnte lange Beschäftigung mit dem Problem abschloß. Nur so konnte er zu der schier erdrückenden Fülle von Beweisen für seine Grundthese und zu seinen umstürzenden Folgerungen daraus gelangen. Die durch die Tabellen ermöglichte Synopse erklärte ihm die Kombination mehrerer Elemente zu eigenen Bildungen in einzelnen Handschriften verschiedener Texte, die Übernahme von Wörtern und Wortformen in den eigenen Normaltext seitens verschiedener, auch außerordentlich zuverlässiger Kopisten, das Auftreten singulärer Übersetzungen in einzelnen Handschriften, das Vorkommen von Doppelübersetzungen für das gleiche griechische Wort in derselben Handschrift u. a. m. Wenn Peitz auch nicht die »Überlieferungskontamination«, die Verschlechterung des Textes durch die handschriftliche Vervielfältigung, in allen Fällen in Abrede stellen will, so weist er doch wohl eindeutig nach, daß weitaus die meisten der erwähnten Erscheinungen auf einer »Ursprungskontamination« beruhen und darauf zurückzuführen sind, daß Dionysius Exiguus das päpstliche Archiv in einem Zustande arger Verwahrlosung, die kanonistischen Quellen vernachlässigt und verstümmelt vorfand. Dazu kam, daß er selber anfangs das Lateinische nur schlecht beherrschte und seine Griechischkenntnisse nicht besonders gründlich waren. So stellte dieser Mann sich eine Arbeitshandschrift her, an der er ständig feilte und verbesserte. Und diese Arbeitshandschrift mit all ihren Streichungen und Zusätzen, mit ihren des öfteren vorgenommenen Verbesserungen, mit ihren Erklärungsversuchen, ihren Auswahllesungen, ihren mannigfaltigen Abkürzungen — diese Handschrift hat die immer wieder benutzte Grundlage für alle späteren Abschriften geboten. Die bedenklichen, unzureichend oder gar nicht erklärten Abweichungen der einzelnen Texte sind so zahlreich, sind so gleichmäßig auf alle einzelnen Kanones, auf alle Handschriften, sowohl Einzelabschriften wie auf Vertreter angeblicher Handschriftenfamilien, sei es in ihrer Gesamtheit,

Vorwort des Bearbeiters

VII

sei es auf einzelne von ihnen verteilt, auf ganz alte wie auf ursprungsferne, auf gleichzeitige wie auf posthume — daß jede andere Erklärung als unzureichend abgewiesen werden muß. Für Peitz sind die wichtigsten, weil aufschlußreichsten Zeugen die gemeinhin abgelehnten Mischhandschriften und solche, die zahlreiche Textunterschiede aufweisen. Er will den Urheber des Ganzen, den Skythen Dionysius Exiguus, bei seiner Arbeit beobachten, will dessen Text in seinem Werden bestimmen, sucht vorzudringen zur Kenntnis seiner Schrift, seiner Tilgungszeichen, seiner Abbreviaturen, seiner Ersatzformen, zur Erklärung seiner Doppelformen, seiner formalen wie sachlichen Änderungen, sucht das allmähliche Hineinwachsen des Autors in seine Aufgabe festzustellen. Daß nicht allen seinen Belegen der gleiche Beweiswert zukomme, war Peitz klar. Daß Widerspruch gegen seine Folgerungen laut werden wird, ist ebenso selbstverständlich. Denn sie stellen ja die ganze bisherige text- und quellenkritische Methode in Frage und wollen sie von Grund auf umgestalten. Solchen Widerspruch haben auch frühere Arbeiten von Peitz gefunden. Begreiflich, da auch sie liebgewonnene Anschauungen bekämpften. Wissenschaftlich zu begründende Einwendungen können nur fruchtbar und nützlich sein — fruchtbarer und nützlicher als hochmütige Äußerungen von Intelligenzen, die in der Beschäftigung mit derartigen »sterilen Problemen« nur einen »Zeitverlust« zu erblicken vermögen. Allen Widersprüchen ist die Forderung entgegen zu halten: Liefert eine einleuchtendere Erklärung für die dargelegten Erscheinungen, als sie Peitz geboten hat. Die bisherigen können auf keinen Fall befriedigen. Eine Kontamination der Überlieferung durch Benutzung von Handschriften anderer Überlieferungsklassen will Peitz nur zugeben, wenn sie im Einzelfall positiv bewiesen wird. Die Annahme der üblicherweise angenommenen Handschriftenfamilien lehnt Peitz rundweg ab, ebenso wie die darauf fußende Bewertung gewisser Einzelhandschriften; er verlangt die Darlegung des Verhältnisses einer jeden Handschrift nicht zu einem Zwischengliede, sondern bis zum Autor hinauf. Mit Recht stellt er die Frage nach dem Bildungsgrade der einzelnen Kopisten,

VIII

Vorwort des Bearbeiters

die Frage, ob sie überhaupt zur selbständigen Vornahme der verschiedenen Änderungen in ihren Abschriften befähigt waren; die Frage weiterhin, ob sie überhaupt materiell in der Lage gewesen wären, eine Auswahl aus den verschiedenen Überlieferungen zu treffen, ob ihnen denn überhaupt so viele nach Ort und Zeit verschiedene Vorlagen zur Verfügung stehen konnten, wie sie die Mannigfaltigkeit ihres Textes jeweils voraussetzt. Angesichts der gesamten Tatbestände bleibt doch wohl nur die eine Erkärung übrig: fast alle Verschiedenheiten in der Uberlieferung sind in der Beschaffenheit eines vorliegenden Exemplars begründet, nämlich der stets neu bearbeiteten Arbeitshandschrift des Dionysius Exiguus. Diese hatte ihrerseits die griechische Sammlung zur Grundlage, die der nämliche Dionysius aus den Beständen des päpstlichen Archivs zusammengebracht hatte. Ähnlich sieht Peitz in den Akten von Chalkedon und entsprechend in denen von Ephesus eine Bearbeitung der Originalprotokolle durch Dionysius. Diese Aufgabe begriff eine Rekonstruktion des Zusammenhanges wie auch einzelner Teile des Textes selber in sich. Jedoch wagt Peitz es nicht, die Zuweisung von einzelnen Teilen zu den Beständen des Protokolles bzw. zu den Ergänzungen des Bearbeiters vorzunehmen. Auch die Überlieferung der Dekretalen beruht nach Peitz auf der Arbeitshandschrift des Skythen, und ihre Sammlung war von Anfang an als Ergänzung zu den Synodalkanones gedacht. Schon vor deren erster Bearbeitung, der Hispana, bildete sie mit diesen eine Einheit. Zum Schlüsse obliegt es mir noch, um gütiges Verständnis zu bitten für die Versehen, die sich in die umfangreiche, eigenartige und mehrfach gekürzte Arbeit trotz aller verwandten Sorgfalt eingeschlichen haben. Freiburg im Üchtland

Hans Foerster

Inhaltsverzeichnis V o r w o r t des B e a r b e i t e r s V e r z e i c h n i s der S i g l e n Einleitung Erstes Kapitel:

V XI ι

DiekanonistischeGesamtüberlieferung

Ihre gemeinsame Vorlage — Ihr einziger Urheber

6o

A. Die Dionysiana und die Gesamtüberlieferung

60

1. Ant. 3 2. Weitere Belege aus der »Dionysiana« B. Beweis aus der Gesamtüberlieferung 1. Einzelbeispiele 2. Mendelismen. Handschriftenbastarde C. Die innere Entwicklung der Texte

61 72 87 87 114 159

1. Die Entwicklung eines einzelnen Kanons 159 2. Die Entwicklung der Übersetzung und Überlieferung einzelner Ausdrücke 182 3. Vereinzelte Texterweiterungen — Gesamtanalyse von D-Texten 212

Z w e i t e s K a p i t e l : Die Arbeitshandschrift des Dionysius Exiguus 216 A. Die Schrift

216

B. Der Schreibstoff der Arbeitshandschrift

225

D r i t t e s K a p i t e l : Die Chronologie der Bearbeitungen231 A. Die ältesten Bearbeitungen

231

B. Die »Hispana«

252

C. Die vermeintliche »Dionysiana III«

273

1. Die Aussöhnung zwischen Ost- und Westkirche bis zum Winter 520/521 273

X

Inhaltsverzeichnis 2. Die Ausgleichsverhandlungen des Winters 520/521 und die Sammlung des Dionysius Exiguus 291 3. Der Ausgleich und seine Bedingungen 308 D. Die »Dionysiana«

316

V i e r t e s K a p i t e l : Die Vorlagen des Dionys: Sardica.

.351

A. Sard. 7 und seine Parallelüberlieferungen 1. Sard. 7 in der Überlieferung. Allgemeine Grundlegung . 2. Sard. 7: Untersuchung einzelner Stellen 3. Sard. 7: Aufschlüsse aus dem Zusammenhang der Texte in Verbindung mit dem Inhalt des Kanons B. Die Zählung der Kanones von Sardica in den Handschriften F ü n f t e s K a p i t e l : Die Dekretalensammlung

352 354 366 381 399 441

A. Die Widmung des Dionysius Exiguus 444 B. Die Vorlagen des Dionysius für die Dekretalen nach der Widmung 450 C. Das Zeugnis der Überlieferung 454 D. Zur Entwicklung der päpstlichen Kanzlei 485 S e c h s t e s K a p i t e l : Zur Methode textkritischer quellenkritischer Forschung

und 489

A. Die Klassifizierung der handschriftlichen Überlieferung. . 492 B. Die Bewertung der Handschriften 506 C. Die Gesamtschau der Überlieferungen 511 Siebentes Kapitel:

Abschluß: Die »Dionysiana« . . . 526

Siglenverzeichnis ι . Handschriften Peitz A Ad M Β

Turner Schwartz — Aid M Β

Wurm

Λ — — y

— — — Ba

— C

— C

Β C

— C





C



Cr-e

Cr-e

Cr-w

Cr-w

D



Gj





D



Ruf-D





θ — E E R-E Ruf-E

D — —

— Ev —



Mp

R-D

F

F

-

Ν

Vatic, lat. 1322 pars II. saec. V I . Colon, capit. X C I saec. V I I I . Gothan. I 75 (Morbacens.) saec. V I I . Mediolan. Ambros. S 33 sup. (Bobiens.) saec. I X . ex. Vatic. Barber, lat. 680 saec. I X . Paris, lat. 12097 (Corbei.-Sangerman.) saec. V I . ex. (sec. Turner: descriptus de exemplari hie illic mutilo; nonnulla habet ad instar familiae Μ proxime accedens ad eius cod. Dfiess.-Monacens.]; correctus a diorthota non multo recentiore; compactus cum parte altera ab alio scriba in alio scriptorio exarata.) Paris, lat. 11611 saec. I X . (in Actis Chalced.) Cod. deperditus a Voellio et Christoph. Justellio in edenda »Bibliotheca Juris Can. Veteris, Lutetiae Paris«. 1661 adhibitus. Oxon. Bodlei. Laudian. misc. 436 (Wirceburg.) saec. I X . in. Monac. lat. 5508 (Diessen.) saec. I X . (825/ 850) [sec. Turner ex cod. S tunc Augiensi descriptus (?)] Paris, lat. 18282 (eccl. Dominae Nostrae Paris.) saec. V I I I . [Hist, ecclesiast. Rufini.] Montepessulan. lat. 58 saec. I X . Vindobon. lat. 411 (Ambras.) saec. I X / X . Einsiedl. 347 saec. V I I I . [Hist, eccles. Rufini.] Paris, lat. 1451 (S. Maur. Fossat.) saec. V I I I . ex. (vel. saec. V I I I / I X . )

XII Peitz

Siglenverzeichnis Turner Schwartz

Wurm







F

R-F

Ruf-F





G

G





3

3

R

3

J

J

J



Κ L

Κ L

— —

Κ L

m



M

M

— —

— —

Μ Μ

— —





Ν



— Ρ —

— Ρ —

Ν — Ρ

— — —

Ρ



Ρ



— R-P

— Ruf-P

— —

Ρ —

r

R

R

R





R



S

S

Bb

Sa

Sp ed Sp



Eg

T

t

^t

T

Monac. lat. 6243 (Frisingens.) saec. V I I I / IX. Paris, lat. 11738 (S. Maur. Fossat.) saec. I X . [Hist, eccles. Rufini.] Paris, lat. 12444 (Sangerm.) saec. I X . in. [sec. Turner plerumque cum C consentit.] Vatic. Reg. lat. 1997 (cod. Ingilrami episcopi Teatini) saec. I X . in. (vel saec. VIII/IX.) Oxon. Bodlei. e Mus. 101 (Floriacens.Christoph. Justel.) saec. V I / V I I . Colon, capit. C C X I I saec. V I / V I I . Vatic. Palat. lat. 574 (Lauresham. ?) saec. IX. Vatic. Palat. lat. 577 (Mogunt.) saec. V I I I . ex. Montecasin. 2saec. X I I . (inActisChalced.) Merseburg. 104 saec. X . (in Canon. Chalced.) Paris, lat. 16832 saec. I X . (in Actis Chalced.) Vatic, lat. 1322 (Veron. capit.) saec. V I . Cheltenham. Phillip. 17849 saec. V I I I / I X . Mediolan. Ambros. Ε 147 sup. saec. V I I . (in Actis Chalced.) Paris, lat. 2796 saec. I X . (in Canon. Chalced.) Paris, lat. 1564 (Pithouan.) saec. I X . Vatic. Palat. 822 saec. I X . [Hist, eccles. Rufini.] Berolin. Phillip, lat. 1743 (Rose 84) (Remens. Claromont.-Haagens.-Meerman. Cheltenham Phillip.) saec. V I I I . Vatic. Reg. lat. 1045 saec. I X . (in Canon. Chalcedon.) S. Paul. Carinth. X I X kass. 1 ( X X V a — 7 ) (Augiae Mai.-Sanblas.) saec. V I I / V I I I , [sec. Turner scriptus in Italia circa 700.] Codices hispani quibus innititur editio Collectionis Hispanae a Fr. Ant. Gonzalez Matriti 1808 evulgata. Tolosan. bibl. publ. 364 (I 63) (Albigens.) saec.VII. (ante 667) eiusque fragmentum: Paris, lat. 8901 (scil. Tolosani quaternio XXI.)

Siglenverzeichnis

XIII

Peitz Turner Schwartz Wurm —



τ



T*

κ

t

Aa

υ V

υ ν

w

w

ν u V W

X

χ

Bp

Sp





X



Υ

Y

Be

Sc





Y



Ζ

Ζ

B1

SI





Ζ



a

a

Da

Da

Paris, lat. 3837 (Andegav.) saec. I X . in.





Ka



Vatic. Palat. graec. 376 [Collectio graeca







Ya

Vatic, lat. 630 vol. II. (Atrabat.) saec. XI.

bb

bb





bi c d

bi — alv

— c Sa

—• — Ea

Bruxellens. lat. 2493 (burgund. 8780/8793) saec. V I I I . Paris, lat. 2796 (Bigot) saec. I X . Casselan. Theol. Quart. I. saec. I X . in. Escurial. I D 2 (monast. Vigiliani Alvel-

e — f

esc — aem

Ss — Sf

Es Ed Ef





Paris, lat. 3848 Β saec. X . (in Actis Chalced.) Albigens. bibl. publ. 2 (capit.) saec. IX/X. [codicis Τ apographon.] Yeron. capit. L X I (59) saec. VII/VIII. Veron. capit. L I X (57) saec. V I . ex. Vatic, lat. 1319 saec. X I I . Wirceburg. Univers. Mp. theol. f. 146 (capit.) saec. I X . Paris, lat. 3836 saec. V I I I . [»Uteris scripturae Corbei. ab« (Wurm). Sec. Turner descriptus in Gallia septentr. de cod. Trevirensi( ?) derivati ex archetypo Capuano( ?).] Leydens. Vossian. lat. 122 saec. X . (in Actis Chalced.) Colon, capit. C C X I I I saec. V I I I . in. [Sec. Turner descriptus (scriptura insularisemiunciali) de exemplari fortasse Anglico; ad canones Constantinopolitanos ex cod. Graeco non admodum antiquo nonnulla additamenta mutuatus est.] Veron. capit. L V I I I (56) saec. X . [cuius apographum habetur in cod. y = Vatic, lat. 1321 saec. X V I . ] Luccens. capit. 490 saec. VIII/IX. [Sec. Turner apographon eiusdem archetypi, de quo cod. S derivatus est.] Montepessulan. bibl. publ. lat. 308 saec.X.

X I V titulorum; in Canonibus Chalced.]

dens.) saec. X . Escurial. I Ε 13 saec. X/XI. Escurial. I Ε 13 saec. X/XI. Escurial. I D 1 (monast. S. Aemiliani) saec. X . ex. (scriptus anno 992) [in Canon. Chalced.]

XIV

Siglenverzeichnis

Peitz Turner Schwartz Wurm f

f



Me

ff

ff

W

Mh

— h j

ger h j

— — j

— — —

d

Db





?

Er

1

1

m

m

m

mat

m



m









Dm

— —

— —

— —

En Yo





paris



g

Za





Zb





Zm

— —

— r

— y

Zv —





reg



s

s

s

Ds

t

t



•—

r —

vail r

Vatic. Reg. lat. 1127 (Engolismens.) saec. I X . in. [»quasi certe apographon cod. Mh« ( = ff) Wurm.] Haagens. 9 Mus. Meerman-Westraem. (Μ ί ο Β 4) (Claromont.) saec. VIII/IX. Gerundens. capit. saec. X I . Vatic, lat. 5751 (Bobiens.) saec. X . Oxon. Bodlei. lat. e Mus. 103 (cod. Christoph. Justel.) saec. X . Vatic, lat. 5845 (orig. Benevent. vel Capuan. ?) saec. IX/X. (scriptus a. 915/934 sub abbate Joanne.) Paris, lat. 1536 ] ,, , > r [gemeU,] Paris, lat. 3845 j ^ ^ saec. X . Matrit. bibl. publ. Ρ 21 ( = Gonzalez »Bibl. Regiae« ?) saec. X/XI. Matrit. 1872 10041 saec. X I . [in Canon. Chalced.] [nunc idem ac prior ?] Mutinens. capit. ord. I ur 12 saec. VII/ VIII. Vatic, lat. 1341 saec. X . ex. Vatic. Ottobon. lat. 93 saec. I X . [ex Gallia septentr. oriundus; sec. SilvaTarouca Ps.-Isidoro coaevus.] Paris, lat. 1683 (N. Dominae Paris.) saec. IX/X. Rom. bibl. Vallicell. A 5 (Ravennas 83) saec. V I I I / I X . Vatic, lat. 1353 saec. X V . [descriptus »de cod. vetusto Bergameno«: sec. Wurm affinissimus cod. Zv = Vercell. capit. L X X V I saec. IX/X.] Monac. lat. 14000 (S. Emmeram. Ratisbon.) saec. IX/X. Vercell. capit. L X X V I saec. IX/X. Oxon. Bodlei. Barocc. graec. 26 saec. X/XI. Vatic. Reg. lat. 1045 (Sangerman.) saec. IX/X. [scriptus Sangermani.] Rom. bibl. Vitt. Emman. 2102 (Nonantul. ? -Sessorian. S. Crucis 63) saec. VIII/IX. Vatic, lat. 1319 saec. XII/XIII. [apud Gallos ut videtur scriptus] [in Canon. Sard, et C'polit.]

Siglenverzeichnis

XV

Peitz Turner Schwartz Wurm t



toi 1 — toi 2 tree tree —

u —

V

u urg

V

•—•

veron

w ζ

w ζ

Gt













Lß —

La

Vi! —

Vv —

Yv Ve Bv



Ly ζ Bz

A





Β

Kl













Ba Bb Bo

& A

Β

Γ

Γ

r

Γ

Γ



Ky



— • — —

F

F

Δ Θ

Δ





θ

θ



Λ

Λ

r



5

5

Ο

Ο

Μ —

π

π

Qe Qt

Qe Qt

Σ

Σ





Υ

Υ

Qw

Qw

Φ Ψ

Φ Ψ

Qx Qa

Qx Qa

Matrit. bibl. publ. 10041 (Toletan.) saec. X I . Toletan. capit. X V 16 saec. X I . Toletan. capit. X V 17 saec. X I . Montepessulan bibl. Univers. 233 (Trecens.) saec. I X . Vatic. Barber, lat. 679 (Farf.-Barber. X I V 52) saec. I X . [sec. Schwartz saec. V I I I . ] Urgelit. capit. saec. X/XI. Vatic, lat. 1342 saec. I X . Veron. capit. L V I I I (56) saec. I X / X . [»ex archetypo VI. saec. ut videtur scripto derivatus« Turner.] Vatic, lat. 3791 saec. X I I . [Ps.-Isidor.] Florent. Laurent, aedil. eccl. 82 saec. X . Vercell. capit. C X I saec. X . Paris, lat. 4279 saec. I X . Oxon. Bodlei. Barocc. graec. 185 saec. I X . in. Oxon. Bodlei. Laudian. graec. 39 saec. X . [Coll. X I V . titulorum.] Vindobon. hist, graec. 27 saec. X I I . Vatic, graec. 831 — saec. X V . Vatic. Ottobon. graec. 29 saec. X V I . Sangallens. lat. 682 saec. IX. Oxon. Bodl. Barocc. graec. 26 saec. X/XI. [Coll. X I V titulorum.] Monac. lat. 6243 (Frisingens.) saec. VIII/IX. Einsiedl, lat. 205 saec. I X . Veron. capit. L X (58) saec. V I I I . (script, a Theodosio diac.) Leningrad, lat. F II 3 (Lugdun.-Claromont.) saec. VII. Venet. Marcian. graec. 355 saec. X I . Erfort. bibl. Amplonian. fol. unicum (ex tegumento codicis F 74) saec. VII. [cognat. cod. j.] Einsiedl, lat. 191 saec. VIII/IX. Paris, lat. 3848 A (Trecens.-Franc. Pithou) saec. I X . in. Paris, lat. 1454 (cod. O. Sacher)] gemelli Paris, lat. 3842 A / saec. IX/X. Vindobon. lat. 2141 (Fuldens. ?) saec. I X . in. [»egregia cura scriptus« Turner.] Vindobon. lat. 2147 saec. IX/X. Atrebat. bibl. publ. 572 (644) (S. Vedasti)

XVI Peitz

Siglenverzeichnis Turner Schwartz

Wurm

Ω α

Ω α

Ρ γ ε

β Υ δ



— ·



ϊ

ί

W

ζ

ζ

π



κ λ

κ λ

κ λ



μ

μ

π

π

Ρ



ττ'

π'

q









Ha

Ρ Υ

He Hg





Oxon. colleg. Oreliens. lat. X I I I . saec. X I I . S. Paul. Carinth. 6 (34) (Augiens.) saec. I X . in. Paris, lat. 8921 (Bellovac.) saec. V I I I / I X . Paris, lat. 11710 (Sangerman.) scriptus 805 Bern. 89 saec. V I I I . ex. Stuttgart. Η. Β . V I . Jur. et polit. 113 (Weingart.) saec. V I I I . Wirceburg, Univers. lat. mp. th. f. 3 (capit.) saec. V I I I / I X Colon, capit. lat. C X V I saec. I X . in. Colon, capit. lat. C X V saec. I X . in. [scriptus sub Hildebaldo episcopo ante 819.] Paris, lat. 3838 (ecclesiae cuiusdam S. Martini) saec. X . Patmens. coenob. S. Joannis graec. Ρ Ο Β ' (172) saec. I X . in. Patmens. coenob. S. Joannis graec. Ρ Ο Γ ' (173) saec. I X . in.

Ein Asteriscus hinter der Sigle bedeutet 1. Lesung der Handschrift. Eine 2 daselbst bedeutet zweite Lesung.

2. »Handschriftenfamilien« Peitz Turner Schwartz Β C Cr DI D — F Η Μ Q S Sp ν — φ *

Β — — DI D — — Η — Q Β S L — Φ *

φc φa

Φ Φ

c a

Wurm Β — G — D Ζ Μ Η — Q S Ε V Y — — —

Dionysiana Bobiensis Collectio codicum Gallicorum Cresconii Breviarium et Concordia Dionysianae redactio prior Dionysiana Dionysiana aucta Collectio S. Mauri Fossatensis Dionysiana Hadriana Collectio Maassen a Turner dicta Quesneliana Sanblasiana Hispana Vaticana Ps-Isidoriana Rustici diaconi editio Gestorum Chalcedonensium Actorum Chalcedonensium versio »correcta« Actorum Chalcedonensium »versio antiqua«.

Einleitung Die Erforschung der ältesten kanonistischen Überlieferungen, ihres Ursprungs, ihrer Geschichte und Zusammenhänge, ihrer Bedeutung, ihres Geltungsbereiches, ihrer Stellung innerhalb der kirchlichen Gesamtentwicklung und ihres Einflusses auf die geistige Entfaltung des christlichen Abendlandes zog seit dem Anfange des 16. Jh.s immer aufs neue die trefflichsten Gelehrten in ihren Bann. Dies hing zum Teil wohl damit zusammen, daß 1524 Jakob Merlin die erste kanonistische Sammlung durch den Druck veröffentlicht hatte, zu einer Zeit also, da eben die seit langem im Verborgenen schwelende Glut der Opposition und des Protestes gegen alle »Menschensatzung« in hellen Flammen emporloderte. Zum Unglück war die von Merlin veröffentlichte Sammlung gerade die Pseudo-Isidoriana, jene Sammlung, die durch ihren Zusatz von Fälschungen die Kritik am meisten herausforderte und ihr offene Angriffsflächen bot. Die Flut der zu dieser Frage Stellung nehmenden Schriften überbordete bald alle Dämme und rief eine Gegenflut von Seiten der Verteidiger hervor. Ganz unübersehbar wurde die Masse derSchriften und Gegenschriften im Zeitalter des Absolutismus und der Jurisprudenz vom 17. bis weit ins 18. Jh. hinein. Eine neue Welle brachte der Historismus des 19. Jh.s. Auch neue Sammlungen waren inzwischen zutage gefördert worden und hatten neben der bloßen Streitschriftenliteratur eine große Zahl durchaus ernst zu nehmender Forschungen ins Leben gerufen. Die Veröffentlichungen und Untersuchungen von Christoph Justel (1580—1649) U I 1 ( i seines Sohnes Heinrich (1620—1693), des Jansenisten Paschasius Quesnel (1634—1719), des Mauriners Pierre Coustant (1654—1721), des gelehrten Anglikaners William Beveridge, vor allem aber die monumentalen »Disquisitiones criticae« der beiden Brüder Giacomo (1702—1781) ι

Peitz-Foelster,

Exiguus-Studien

2

Einleitung

und Pietro Ballerini (1698—1769) im dritten Band ihrer LeoAusgabe ragten als Werke von mehr denn gewöhnlicher Bedeutung über alle andern empor. Die Arbeit der Ballerini wurde sogar noch in neuester Zeit als das nicht übertroffene und nicht überholte Standardwerk der historisch-kanonistischen Forschung bezeichnet. Wohl war bei diesen Forschern die Kenntnis der überlieferten Handschriften, gemessen an heutigen Maßstäben, verhältnismäßig bescheiden.Diesen Mangel behob 1870 Friedrich Maassen (1823—1900) durch seine »Geschichte der Quellen und der Literatur des canonischen Rechts im Abendlande«, in der er das umfassende gesammelte Material gleichzeitig nach Überlieferungsgruppen und Familienzusammengehörigkeit schichtete. So schien alles für eine abschließende kritische Bereinigung der Texte vorbereitet. Diese Arbeit übernahm der Oxforder Cuthbert Hamilton Turner als Lebensaufgabe in seinen »Ecclesiae occidentalis Monumenta Juris Antiquissima« (1898—1939) für die lateinischen Texte mit Ausnahme des Chalcedonense, dessen Kanones Ed. Schwartz im Band II seiner »Acta Conciliorum Oecumenicorum« (1908— 1940) ergänzte. Die Summe des Ergebnisses aller Forschungen über die Entstehung und die Überlieferung der Sammlungen zog dann der gleiche Ed. Schwartz in einem großen Aufsatz der »Savigny-Zeitschrift für Rechtsgeschichte«, Kanonistische Abteilung 1936. In seinen Hauptzügen ist das Bild dasselbe geblieben, wie es die Ballerini schon 1757 gezeichnet hatten. Nur in Nebendingen hat die spätere Forschung Ausdruck und Kolorit aufgefrischt. Die Übereinstimmung konnte als sicheres Merkmal der Echtheit und Naturwahrheit gelten. Nicht ganz so glücklich war die Forschung über die mit den Kanonessammlungen verbundenen Sammlungen päpstlicher Dekretalen. Coustant hatte zwar die vorleoninischen Briefe kritisch herausgegeben, durch die Ballerini waren die Briefe Leos d. Gr. ergänzt. Aber für die Zeit nach Leo fehlte eine befriedigende Ausgabe. Die Publikation durch A. Thiel ließ den kritischen Blick und Sinn jener Vorgänger vermissen. Dazu hatte es niemand gewagt, die labyrinthischen Irrgänge ihrer Überlieferung aufzudecken. K. v. Silva-Tarouca S. J. machte seit 1919 eine Reihe von Vorstudien dazu, überließ aber dann

Einleitung

3

die Aufgabe seinem Schüler Hubert Wurm, der 1939 in ausführlichen »Studien und Texten« die Vorarbeiten zur Bereinigung auch dieser Probleme vorlegte. Zwar erlebten die letzten Jahrzehnte auch über die Kanonessammlungen noch eine Kontroverse. Die Veranlassung dazu gab die radikale Leugnung der Echtheit der Kanones von Sardica durch den Münchener Professor Friedrich (1836—1917). Die hervorragendsten Vertreter der Wissenschaft griffen in den Streit ein. Gegen Friedrichs Verwerfungsurteil waren alle einig. In der positiven Erklärung der sardizensischen Kanones mit ihrer Doppelgleisigkeit der inhaltlich ζ. T. verschiedenen griechischen und lateinischen Fassung aber blieb ein gewisser Gegensatz bestehen. Doch gerade dieser bewies, wie einhellig das Urteil über die wichtigsten Punkte tatsächlich ist. Es fiel niemandem ein, in Zweifel zu ziehen, daß beide Fassungen authentische Formulierungen der Synode selbst seien. Nur bei der Beantwortung der Frage, welchem der beiden Texte die Priorität zukomme, dem griechischen oder dem lateinischen, gingen die Meinungen auseinander. Die Doppelsprachigkeit selbst wurde noch vor kurzem von Ed. Schwartz als sicher behauptet. Er hatte sich damit nur die von den Ballerini gegebene Erklärung dieser Erscheinung zu eigen gemacht. Die Einmütigkeit der besten Gelehrten der neuesten Zeit in der Überzeugung von der Richtigkeit der Forschungsergebnisse und deren volle Übereinstimmung mit den hervorragendsten Forschern der Vergangenheit scheint als sicheres Kennzeichen dafür gelten zu dürfen, daß es sich um ein objektiv bewiesenes, wissenschaftlich unbedingt gesichertes Ergebnis handelt. Suchen wir in großen Zügen ein Bild von der Entwicklung der kanonistischen Sammlungen nach der bisherigen Anschauung zu entwerfen: Der schon genannte Aufsatz von Schwartz über »Die Kanones der alten Reichskirche« in der Savigny-Zeitschrift für Rechtsgeschichte, Kan. Abt. 1936, (Jetzt: Gesammelte Schriften Bd. 4, i960, S. 139ft) soll die wesentliche Grundlage bilden, wenn er auch in manchen Einzelheiten von den gewöhnlich gebotenen Erklärungen abweicht und nicht selten darüber hinausgeht. 1*

4

Einleitung

Ganz allgemein wird als sicher hingestellt, daß alle Sammlungen, griechische wie lateinische, reine Privatarbeiten ihrer Verfasser ohne jeden amtlichen Auftrag irgend einer Autorität seien. Die einzelnen Kirchen, so sagt man, vor allem die bedeutenderen, mögen besondere Sammlungen angelegt haben. Wir kennen sie nicht. Jedenfalls waren sie nicht weiter verbreitet. Die älteste Sammlung, die wir nachweisen können, war im Pontus durch Vereinigung der griechischen Beschlüsse von Ancyra und Neocäsarea entstanden. 325 oder bald nachher fügte man die griechischen Kanones von Nicaea hinzu. Die neue Idee fand Beifall. Die kleine Zusammenstellung verbreitete sich. Eine Abschrift gelangte nach Antiochia und wurde dort um die Kanones der antiochenischen Enkäniensynode vermehrt. Später kamen auch die Kanones von Gangra, von Laodicea und nach 381 jene von Konstantinopel hinzu. Das allmähliche Anwachsen läßt sich noch in der Gruppierung der Synoden und der verschiedenen Umstellung dieser Gruppen in spätem Ableitungen verfolgen. Der Abschluß mit den Kanones von 381 aber und damit auch der Gesamtbestand werden, wie man allgemein glaubte, mit unwiderleglicher Gewißheit bewiesen durch das ausdrückliche Zeugnis des Dionysius Exiguus über die von ihm nach Rom mitgebrachte Abschrift, seine »Graeca auctoritas«, und die damit in vollem Einklang stehende, uns aus den Akten des Chalcedonense bekannte allgemeine Praxis des Orients in der Art, dieKanones zu zitieren. Dionysius sagt in seiner Widmung II, er zähle nach dem Muster der griechischen Sammlung die Kanones von Nicaea bis Konstantinopel durchgehend von 1—165. Hat spätere Zeit diese Zählung aus praktischen Gründen auch durchweg mit der Sonderzählung der Kanones jeder Synode vertauscht, so beweisen doch mehrere Abschriften der »Dionysiana« daß seine Angabe der Wahrheit entspricht. In den Akten von Chalcedon aber werden einige Kanones, ζ. B. von Antiochia, ausschließlich mit der jener Zählung entsprechenden Ordnungszahl zitiert, ohne jede Andeutung, zu welcher Synode sie gehören. Das zeige, so folgerte man, daß die Sammlung, aus der sie verlesen wurden, und die Art ihrer Einrichtung als allgemein bekannt und allen Konzils-

Einleitung

5

vätern vertraut vorausgesetzt werden durfte. Die Existenz einer vordionysianischen, in das 4. Jh. zurückgehenden griechischen Sammlung galt mithin als unumstößlich feststehend. Die Wiege der Kanonistik stand im Orient, genauer, in dem geistig regsamen Gebiet Kleinasiens. Damit war für die Forschung der feste Standpunkt gewonnen, von dem aus man nur systematisch weiter vorzugehen brauchte, um die ganze Entwicklung und die Geschichte ihrer Verbreitung zu klären. Dabei fiel wieder einer Beobachtung eine entscheidende Rolle zu, die an sich mit der griechischen Sammlung nichts zu tun hatte. Sie betraf die Überlieferung der lateinischen Kanonessammlungen. In manchen ihrer Handschriften war nämlich die Reihenfolge, in der die einzelnen Konzilien aufgeführt wurden, von der in den bekannten griechischen Handschriften und auch in den übrigen lateinischen Handschriften verschieden. Und zwar waren es jeweils bestimmte gleiche Gruppen, die bald so, bald anders gegeneinander verschoben wurden. Zudem waren bei einigen Synoden die Texte ineinander verschachtelt: Stücke, die zu dem vorausgehenden Konzil gehörten, waren von diesem durch die Texte der folgenden Synode getrennt. Nun waren aber die lateinischen Sammlungen nach Inhalt und Form offensichtlich der griechischen nachgebildet. Überdies bezeugte der Autor einer dieser lateinischen Sammlungen, der einzige, dessen Name uns erhalten ist, ausdrücklich: seine Sammlung sei eine Übersetzung aus einer »Graeca auctoritas«, deren Anordnung, deren eigenartige Zählung und deren Inhalt nach seinen Angaben genau dem entspricht, was uns die Zitate in den »Akten von Chalcedon« darüber verraten. Wir stehen also wieder auf ganz festem Boden, wenn wir aus den Eigenheiten in der lateinischen Überlieferung Rückschlüsse auf deren Vorlage, die alte griechische Sammlung, und deren allmähliche Entwicklung ziehen. Das Ergebnis ist folgendes: Die ersten Anfänge kanonistischer Sammlungen gehören ausschließlich dem griechischen Osten an. Im lateinischen Westen lag die Entwicklung weit zurück. Die afrikanische Kirche hatte wohl in Karthago eine sehr umfangreiche Zusammenstellung von Kanones karthagischer und afrikanischer Synoden geschaffen, die spanische eine solche der

6

Einleitung

spanischen, die südgallische eine Sammlung gallischer Konzilsbeschlüsse. Aber über den Rahmen der eigenen Kirchenprovinz und des eigenen Landes griff man nicht hinaus. Und diese Sammlungen hatten einen besonderen Grund und eigenen Zweck. Es hatte sich nämlich im Westen, wenigstens in Afrika und in Spanien, die Gewohnheit herausgebildet, bei den wichtigeren gemeinsamen Zusammenkünften alle oder doch die bedeutsamsten Beschlüsse früherer Synoden zu verlesen und so neu einzuschärfen, öfters sogar durch einen neuen Beschluß den alten Wortlaut neu zu bekräftigen. Die römische Kirche hatte nichts dergleichen. Erst die Geltendmachung der primatialen Jurisdiktionsansprüche im Laufe des 4. Jh.s führte dazu, daß Innozenz I. (401—417), ihr eifriger Verfechter, die Kanones von Nicaea durch jene von Sardica 344 ergänzen ließ. Denn in Sardica hatte man in einigen Kanones von einem gewissen Appellationsrechte der Bischöfe schlechthin an den Bischof von Rom gesprochen. Aber Sardica war in der griechischen Kirche nicht anerkannt, in der lateinischen kaum bekannt. So konnte man den Versuch wagen, die der römischen Primatialtheorie günstigen sardizensischen Kanones als »nizänische« auszugeben und dadurch mit einer überragenden, allgemein respektierten Autorität zu versehen. Eine Fälschung gewiß, aber zweckdienlich. »Lügen haben kurze Beine«: Trotz entgegenstehender eigener Synodaldekrete, die den Appell nach Übersee selbst den Bischöfen untersagten, hatte sich ein von seinem Bischof gemaßregelter afrikanischer Presbyter Apiarius beschwerdeführend nach Rom gewandt. Der unüberlegt rasche, eigenwillige Papst Zosimus (417—418) nahm bereitwillig die Appellation an. E s war eine Gelegenheit, den römischen Ansprüchen zur Nachachtung zu verhelfen. Die Sache wurde ganz groß aufgezogen. Eine eigene dreigliedrige Gesandtschaft ging nach Karthago; eine ausführliche päpstliche Instruktion enthielt ihren Auftrag. Sie hatte die Aufhebung der Maßregelung des Apiarius und dessen einfache Wiedereinsetzung zu verlangen. Zur Begründung, die offenbar jeden Widerspruch von vornherein erledigen sollte, waren zwei »nizänische« — in Wirklichkeit sardizensische — Kanones aus der Sammlung Innozenz' I. im vollen Wortlaut

Einleitung

7

wiedergegeben. Man sieht also klar, wozu die Sache des Apiarius dienen sollte. Die afrikanische Kirche war jedoch durch ähnliche frühere Vorstöße vorsichtig gemacht worden. Nur war es jetzt nicht mehr ein feiner Diplomat wie Innozenz, mit dem sie es zu tun hatte: Zosimus hatte zu offen gespielt. Die Verhandlung wurde bis Ende Mai 419 hinausgeschoben. Inzwischen durchforschte man sämtliche Abschriften der Kanones von Nicaea, deren man habhaft werden konnte, griechische wie lateinische. In keinem fand sich auch nur eine Silbe der Bestimmungen, auf die sich Zosimus gestützt hatte. In der Maisynode 419 hatten die päpstlichen Gesandten einen schweren Stand. Sie mußten die päpstliche Instruktion wörtlich vorlesen. Einstimmig verlangte die Versammlung deren ausführliche Aufnahme ins Protokoll. Man erklärte es als selbstverständlich, daß die Kirche Afrikas alles heilig halte und befolge, was das große heilige Konzil »der 318« im Jahre 325 beschlossen habe. Aber gegen die römische Berufung erhob man Einspruch. Bischof Caecilian von Karthago war persönlich in Nicaea dabei gewesen. Man besaß noch den Text der Kanones, den er selbst mitgebracht haben sollte. Sie wurden im Wortlaut protokolliert. Von den angeblichen Texten, auf die sich der inzwischen verstorbene Zosimus stützte, keine Spur. Alypius, der Freund des gleichfalls anwesenden großen Augustinus, befreite die Gesandten aus einer recht peinlichen Lage. Es sei denkbar, so argumentierte er, daß die in Karthago und Afrika bekannten Abschriften der nizänischen Kanones unvollständig seien. Man möge also vorläufig auf Grund der von der afrikanischen Kirche anerkannten Verbindlichkeit der nizänischen Bestimmungen und angesichts des behaupteten nizänischen Ursprunges der fraglichen Kanones diese unter Vorbehalt gelten lassen. Inzwischen möge eine Nachfrage bei den großen Kirchen des Ostens, die zweifelsohne im Besitz der authentischen Texte des Nicaenums seinen, den wahren Sachverhalt klären. Demgemäß wurde beschlossen. Die sofort entsandten Vertreter der Kirche von Karthago brachten schon im Herbst des Jahres die gesuchte Aufklärung: Die Kanones stammten nicht von Nicaea. Die römischen Ansprüche waren zurückgewiesen. Das Prestige Roms hatte eine schwere Einbuße

8

Einleitung

erlitten. Ein später erneuter Vorstoß machte die Niederlage nur noch deutlicher. Die Apiarius-Sache hatte für die Kanonistik die wichtigsten Folgen. Deren restlose Darlegung ist erst der neueren Forschung besonders C. H. Turner und Ed. Schwartz zu verdanken. Sie bildet die Krönung der vorausgehenden langen Bemühungen. Unter den zahlreichen Sammlungen, die uns in den Handschriften europäischer Bibliotheken erhalten sind, hatte man schon früh eine Gruppierung vornehmen können. Dabei hatte sich herausgestellt, daß in den allermeisten von ihnen für die einzelnen Konzilien verschiedene Übersetzungen herangezogen waren. Häufig wiesen sogar einzelne Kanones und selbst Kanonesteile eine andere Übersetzung auf als der Rest. In mühevoller Kleinarbeit war es gelungen, die verschiedenen Übersetzungen voneinander zu unterscheiden, jeder das Ihrige zuzuweisen und die vielfach verschlungenen Pfade ihrer Wanderung von Sammlung zu Sammlung zu verfolgen. Der Grazer Friedrich Maassen hat das größte Verdienst daran durch seine gefeierte »Geschichte der Quellen und der Literatur des canonischen Rechts« I (1870). Daneben hatte man sich immer aufs neue bemüht, die Heimat und die Entstehungszeit der einzelnen Sammlungen wie der verschiedenen Übersetzungen festzustellen. Die von den ersten Pionieren gebrauchten Bezeichnungen, wie »Prisca«, »Isidoriana« usf., oft auf unvermeidlichen Irrtümern beruhend, haben sich dabei bis heute erhalten. Durch diese lange Kette mühsamer und scharfsinnigster Untersuchungen wissen wir, daß die karthagische Gesandtschaft von 419 auch eine Abschrift der bis dahin dem Abendland unbekannten griechischen Sammlung mit nach Hause brachte. Sie erregte Aufsehen und Bewunderung. Der Wunsch, sie auch der Heimat zugänglich zu machen, führte zur Übersetzung und zur Verbindung mit dem eigenen Überlieferungsschatz afrikanischer Synoden. So entstand zwischen 419 und 431, ein imposantes kanonistisches »Corpus Africanum«. Die Form der Übersetzung, die darin den griechischen Originaltexten gegeben war, bezeichnen wir als »Isidoriana antiqua«. Das große Werk selbst hat nur eine kurze Lebensdauer gehabt.

Einleitung

9

Es verschwindet mit der Vandalen-Katastrophe aus dem Gesichtskreis des Forschers. Abschriften des »Corpus Africanum« waren jedoch schon nach Spanien, nach Gallien und auch nach Italien und nach Rom gelangt. In einer von ihnen, vielleicht in Spanien, wenn nicht schon in Karthago selbst, hatte man die erste Übersetzung gefeilt und vervollkommnet und so aus der ersten Redaktion eine zweite, verbesserte, die »Isidoriana vulgata« hergestellt. Die weite Verbreitung ihrer Spuren beweist, daß das erste Interesse an der Neuerscheinung nicht weniger allgemein und lebendig war als s. Zt. das Interesse des Orients an dem griechischen Vorbild. Aber die Verhältnisse lagen im Westen anders. Waren es im Osten Geisteskämpfe um dogmatische Grundfragen des christlichen Glaubens, die das literarische Schaffen bestimmten, so wurde das Abendland erschüttert durch den siegreichen Eroberungswillen der andrängenden und einander ablösenden Wellen des Völkersturmes gegenüber dem Selbsterhaltungstrieb der bodenständigen Träger alter Überlieferung und Kultur. Von dem kaum geschaffenen Monument einer erst entstehenden Kanonistik konnte jahrzehntelang nicht mehr die Rede sein. Nur Spuren deuten in den spärlichen Überresten einzelner Synoden nicht mehr zu bestimmender Kirchen Südgalliens darauf hin, daß nicht alle Keime vernichtet waren. So konnte sich in den alten Kulturzentren der Provence gegen Ende des 5. Jh.s eine Rechtsschule entwickeln, die den Gedanken an die Wiederbelebung und die Fortführung des lang Verschütteten ernstlich aufnahm. Was sie von dem stolzen »Corpus Africanum« noch vorfand, waren nur Trümmer. Aber es gelang, aus diesen Überresten das Wichtigste zusammenzustellen und zu ergänzen, ja es durch eine Einzelübersetzung der Kanones von Chalcedon, wie deren schon bald nach 451 in Umlauf gekommen waren, und durch Hinzufügung von gallischen und spanischen Synoden fortzuführen. So entstand die »Quesneliana«. Aus ihrem Werden versteht man, daß auch sie hauptsächlich den Wortlaut der »Isidoriana vulgata« wiedergibt. Auch in Italien hatten sich inzwischen Ansätze des neu erwachenden kanonistischen Geistes gezeigt. Wir können es feststellen aus Trümmern einer Überlieferung von Übersetzungen

10

Einleitung

des Nicaenums und einiger anderer Synoden, die in spätere Sammlungen übernommen wurden und als »Prisca« bezeichnet werden. Eine eigentliche Sammlung aber vermögen wir erst an der Wende vom 5. zum 6. Jh. nachzuweisen. Sie ist das übereilte Augenblickswerk von Stümpern aus dem Kreis um den in zwiespältiger Wahl auf den päpstlichen Stuhl erhobenen Symmachus (498—514) aus der Zeit (498—501), da dieser schwer um seine, mühsam durch das Eingreifen des Arianers Theoderich erkämpfte Anerkennung zu ringen hatte. Durch Verklitterung von Fragmenten der alten Übersetzung »Prisca« mit eigenen, ζ. T. unfertigen und in barbarischem Latein erscheinenden Übergangsstücken hat sie selbst den Namen der Sammlung »Prisca« erhalten. Ein Verdienst hat diese »Prisca« aber doch, wenn auch ganz unbeabsichtigt. Seit einigen Jahren lebte damals in Rom ein Mann, der wirklich etwas vom Griechischen verstand, der zugleich die Sprache Roms meisterte, soweit meisterte, daß ihm die Barbarei der »Prisca« schon aus bloßer Entrüstung die Feder des Übersetzers in die Hand zwang. Es war der Skythenmönch Dionysius Exiguus. Stammte er doch aus der doppelsprachigen byzantinischen Provinz »Scythia Secunda«, der heutigen Dobrudscha. Dazu war er im Besitz einer Abschrift der griechischen Sammlung. Auf Drängen einiger Freunde, vorab des Bischofs von Spalato Stephanus, entschloß er sich, eine neue, bessere Übersetzung herzustellen. Es entstand die »Dionysiana I«, von der Abschriften, mit der uns erhaltenen »Widmung I« versehen, an Gönner und Freunde gingen. Eine Überarbeitung, die »Dionysiana II«, wurde mit einer für unsere Kenntnis der Zusammenhänge sehr aufschlußreichen Erweiterung der alten Widmung, mit der überlieferten »Widmung II«, gleichfalls im Kreise der Freunde verbreitet. Der Hauptwert der Arbeit des Dionys liegt neben der besseren und richtigeren Übersetzung in der geschlossenen Ordnung, der Ausschaltung alles nicht streng zur Sache Gehörenden, Nebensächlichen. Die Sammlung lag etwa um 504 vollendet vor, jedenfalls in den ersten Jahren des 6. Jh.s. Um 533 läßt sich ihre Verwendung auch in der päpstlichen Kanzlei erweisen. Doch ist sie niemals als die authen-

Einleitung

11

tische Sammlung der Kirche angesehen, ihr Text nicht als offizieller Text erklärt worden. Die Kanzlei stellte sich im Gegenteil bei Anfragen auch späterhin auf den Standpunkt, daß die Texte der vordionysianischen Übersetzungen gleichberechtigt seien. Eine Sammlung päpstlicher Dekretalen, die Dionys in späteren Jahren anlegte und dem Presbyter Julian von St. Anastasia widmete, wurde erst nach seinem Tode mit der Kanonessammlung verbunden. Durch die Widmung wird bestätigt, was die Untersuchung der kanonistischen Sammlung bereits gezeigt hatte, nämlich daß Dionys das päpstliche Archiv nie hat benützen können. Die von ihm überlieferten Dekretalen hat er mühsam aus schon bestehenden kleineren Zusammenstellungen, »canones urbicani«, und aus Einzelstücken zusammengebracht. Eine dritte von Papst Hormisda verlangte Redaktion, die den griechischen Urtext und dessen lateinische Wiedergabe Wort um Wort in parallelen Doppelspalten bot, die »Dionysiana III«, ist bis auf die Widmung verloren gegangen. Gegen Ende des 7. oder Anfang des 8. Jh.s entstand in Spanien eine neue Kanonessammlung, die hauptsächlich dem alten afrikanischen Texte der »Isidoriana vulgata« folgte, ihn jedoch durch eine in Gallien da und dort nachzuweisende, dem 5. Jh. angehörende Einzelübersetzung der Kanones von Chalcedon vervollständigte. Außerdem verband sie damit eine große Zahl afrikanischer, gallischer und spanischer Synoden, sowie die von Dionys entlehnten Dekretalen. Diese zuletzt entstandene ist auch die reichste und vollständigste Sammlung, die wir besitzen. Zwar wird sie an Inhalt wohl übertroffen von der im 9. Jh. im nordöstlichen Gallien auftauchenden »Pseudo-Isidoriana«. Indes handelt es sich bei dem Mehrbestand dieser im späteren Mittelalter ziemlich einflußreichen Sammlung, soweit die ersten Jahrhunderte in Frage kommen, um pure Fälschungen. Die »Dionysiana II« erhielt ihre überragende Bedeutung erst im 8. Jh. 774 überreichte Papst Hadrian I. dem Frankenkönige Karl eine Abschrift der »Dionysiana II« mit einigen Erweiterungen. Auf Befehl des Königs wurde sie später zum offiziellen Text für das ganze Frankenreich erklärt. In zahlreichen Abschriften ist uns diese »Dionysio-Hadriana« überliefert. Eine

12

Einleitung

andere Bearbeitung der »Dionysiana« aus dem 10. J h . liegt vor in der »Dionysiana Bobiensis«, die sich jedoch keiner großen Verbreitung erfreut hat. Sie ist deswegen besonders wertvoll, weil für sie anscheinend auch der griechische Urtext wenigstens zu manchen Stellen neu herangezogen worden ist. Die Gesamtheit der Untersuchungen zeigte, daß die ganze kanonistische Sammelarbeit der ersten Jahrhunderte bis weit in das Mittelalter hinein ausschließlich der Privatinitiative der einzelnen Sammler entsprang, und daß es in jener Zeit kein offizielles Rechtsbuch der Kirche gab. Dies ist in großen Umrissen und in den Hauptzügen das Bild, das die bisherige Forschung von Ursprung und Entwicklung der griechischen und lateinischen Kanonessammlungen gezeichnet hat. So gewagt es erscheinen mag, die folgenden Blätter wollen den Nachweis erbringen, daß die Wissenschaft in der Darstellung der Geschichte der ältesten Kanonistik Irrwege gegangen ist. Ihre Ergebnisse sind unhaltbar. Das Bild der Entwicklung, das sie gezeichnet hat, stimmt mit der Wirklichkeit kaum in einer einzigen Linie überein. J a , die Methoden, nach denen sie vermeintlich sicheren Schrittes von Resultat zu Resultat vorgeschritten ist, bedürfen der Revision. Die Kühnheit dieser Behauptungen mag es entschuldigen, wenn auch die Darstellung manche liebgewordene und als unabdingbar betrachtete Forderung des Herkommens nicht erfüllt. So gilt es als unwissenschaftlich, das Ergebnis der Untersuchung bekannt zu geben, bevor die einzelnen Teile auf induktivem Wege gefunden seien. Das Endergebnis gleichsam als These vorauszuschicken, ist als »scholastisch« verpönt. Aber gerade die durchsichtige Klarheit scholastischer Beweisführung ließ diese Form der Darstellung wählen. Auch heute noch wird es niemandem beifallen, dem Mathematiker unwissenschaftliche Voreingenommenheit vorzuwerfen, wenn er dem klar formulierten Satz die Beweise erst folgen läßt. Und doch ist klarste und durchsichtigste und sauberste Logik wohl in keinem Wissenschaftszweige mehr erforderlich und zuhause als in der Mathematik. Das Verfahren mag vielleicht zu genauerer Nach-

Einleitung

13

prüfung Anlaß geben. Aber eben das ist gewünscht. Auf die Wahrheit allein kommt es an. — Auch erwartet man von wissenschaftlicher Darlegung ein peinlich genaues Eingehen auf die Anschauungen früherer Gelehrter, einen ganzen Ballast von literarischen Angaben, den Einzelnachweis ihrer Mißverständnisse und deren Widerlegung. Von alle dem wird im folgenden nicht die Rede sein. Die ganze Darstellung wird sich bemühen, ausschließlich positiv zu arbeiten und die eigenen Ergebnisse zu beweisen. Dabei werden aber die zur Sprache kommenden Nachweise nur in einer ganz geringen Auswahl von Beispielen und Proben bestehen. Daß der Arbeit eine möglichst erschöpfende Induktion zugrunde liegt, die mich schrittweise, ungesucht, ja wider Willen zwang, alte, auch von mir lange und zäh festgehaltene Anschauungen aufzugeben und neue Züge allmählich zu einem der bisherigen Auffassung diametral entgegenstehenden Bilde der Entwicklung zusammenzufügen, mag hier ein für allemal betont sein. Ebenso lege ich Wert darauf zu erklären, daß ich trotz aller Gegensätze vor dem Wollen wie vor der Leistung meiner Vorgänger die aufrichtigste Hochschätzung habe. Die Entwicklung der bekannten kanonistischen Sammlungen bis zum Ende des ersten Drittels des 6. Jh.s läßt sich im großen Ganzen nach den neuen Ergebnissen mit folgenden Strichen umreißen. — (Ich schließe mich hier im allgemeinen den Ausführungen an, die ich in meinem Aufsatz »Dionysius Exiguus als Kanonist« niedergelegt habe. Doch mache ich darauf aufmerksam, daß in den seit deren Niederschrift verflossenen Jahren, eigene Forschung mich in mehreren Punkten weitergefördert hat. Ich werde im folgenden die gewonnenen neuen Erkenntnisse einsetzen, ohne im einzelnen auf die Änderungen hinzuweisen. Ich halte es für die einfache Pflicht eines jeden, dem es um die Wahrheit zu tun ist, nicht auf halbem Wege stehen zu bleiben und auch Fehler und Unzulänglichkeiten der eigenen Bemühungen durch neue, bessere Einsicht zu korrigieren). — Bis zum Ende des 5. Jahrhunderts hat es weder eine griechische noch eine lateinische Sammlung der Synodalkanones gegeben. Die vermeintlich unwiderleglichen Beweise für die Exi-

14

Einleitung

stenz und weite Verbreitung einer im griechischen Osten allgemein bekannten Sammlung griechischer Synodalbeschlüsse, die man in den Zitaten der sogenannten »Akten von Chalcedon« (451) glaubte sehen zu müssen, beruhen auf einem einzigen großen Irrtum über Ursprung und Wesen dieser »Akten«. Sie sind weder eine gleichzeitige Veröffentlichung noch, wie Ed. Schwartz annahm, eine von Justinian um 550 veranlaßte offizielle Darstellung der Ereignisse. Vielmehr handelt es sich bei ihnen um eine von Dionysius Exiguus versuchte Rekonstruktion und teilweise Ergänzung der Synodalprotokolle, einen ersten Versuch ihrer Übertragung ins Lateinische und eine wenigstens einmalige, durchgreifende Neubearbeitung sowohl des griechischen wie des lateinischen Textes durch den gleichen Autor. Die Arbeit fällt in der Hauptsache in die Zeit von November 496 bis etwa Ende 500. Es ist möglich, daß einzelne größere Metropolitankirchen die im Bereich der eigenen Kirchenprovinz abgehaltenen Synoden zu einer »Sammlung« vereinigt hatten. Einen positiven, wenn auch sehr unsichern und zweifelhaften Anhaltspunkt für eine derartige Annahme besitzen wir allerdings nur bzgl. der Kirche von Konstantinopel, sonst für keine griechische. Unter den Kirchen des Abendlandes läßt sich auch für die von Rom eine Art von »Sammlung« nachweisen, seit der Zeit des Papstes Innocenz I. (401—417). Dort war der als Einheit behandelte ungeteilte »canon Nicaeanus« mit der wahrscheinlich aus dem gleichen Pontifikate stammenden Übersetzung des griechischen, ebenfalls ungeteilten »canon Sardicensis« verbunden worden, da man beide wegen des Vorsitzes des Osius von Cordoba auf beiden Synoden als nizänisch ansah und auch so bezeichnete. Diese Sammlung war jedoch nicht sehr weit verbreitet. Die erste und älteste griechische Sammlung ist jene, die Dionysius Exiguus zwischen 496 und 500 in Rom aus den Beständen des päpstlichen Archivs angelegt hat, und die er in seiner sogenannten »Widmung I« als seine »Graeca auctoritas« bezeichnet. Der Plan einer solchen Sammlung der Synodalbeschlüsse und der Auftrag dazu scheint von Papst Gelasius I. (492—496) ausgegangen zu sein. Wohl durch seine Legaten am Kaiserhof, namentlich den Alexandriner Dioskur, auf den in

Einleitung

15

Konstantinopel weilenden Skythenmönch als die geeignete Persönlichkeit aufmerksam gemacht, berief er diesen gegen Ende seines Pontifikates nach Rom. Bevor Dionys dort eintraf, starb der Papst im November 496. Dionysius Exiguus, d. i. der »Mindere Bruder« = Mönch, stammte wohl aus dem südkaukasischen Randgebiet des Pontus oder wenigstens aur dem nördlichen Armenien und gehörte guten gesellschaftlichen Kreisen an. Bereits in früher Jugend war er in das Kloster von Mabbug, Hierapolis, östlich von Antiochien, gebracht und dort erzogen worden. Später wurde er dort Mönch. Mit den Freunden von Mabbug hat er noch von Rom aus in enger Verbindung gestanden, wie er auch seiner Heimat stets ein pietätvolles Andenken bewahrte. Von dieser Seite her ist seine eigene, nachmalige Übersetzertätigkeit, aber auch der Theopaschitenstreit und das Auftreten der »Skythenmönche« sowie ihres Beschützers Vitalian neu zu untersuchen und darzustellen. Die monotheletischen Streitigkeiten nach dem Konzil von Chalcedon (451) und das immer stärker hervortretende Übergewicht häretischer Tendenzen auch in Mabbug bestimmten Dionys, sein Kloster zu verlassen und nach der Hauptstadt des griechischen Ostens zu ziehen. Die Zeit der Übersiedelung ist nicht näher zu bestimmen. Dionys war damals bereits ein Mann in reiferen Jahren und eine Persönlichkeit von Bedeutung. Hatte er schon in Mabbug Griechisch und Lateinisch soweit erlernt, daß er ζ. B. die Heilige Schrift in beiden Sprachen lesen konnte, so vervollkommnete er sich in Konstantinopel durch den Umgang mit gebildeten Griechen im praktischen Gebrauch ihres Idioms in Wort und Schrift. Doch hat er zeitlebens die Sprache nicht vollkommen beherrscht, da ihm jede schulmäßige grammatikalische Ausbildung in ihr abging. Wie lange sich Dionys in Konstantinopel aufgehalten hat, ist nicht zu ermitteln. Im Winter 496/497 traf er in der ewigen Stadt ein. Entsprechend dem ihm erteilten päpstlichen Auftrage fand er herzliche gastliche Aufnahme im Kloster zu St. Anastasia am Palatin. Dessen Mönche waren damals mit der Führung der päpstlichen Kanzlei betraut, wie auch die Residenz der Päpste in jener Zeit in der Nähe von St. Anastasia am Palatin

16

Einleitung

zu suchen ist. Vorsteher des Klosters und damit zugleich Leiter der Papstkanzlei war der Presbyter Julian vom Titel St. Anastasia, in beiden Ämtern Nachfolger des zum Papst erwählten Gelasius. Dort im Kloster St. Anastasia, dem spätem »Griechenkloster«, das während des ganzen Mittelalters in der Rangordnung der Klöster Roms die erste Stelle einnahm und sich besonderer kirchlicher Ehrenrechte erfreute, ist auch der Ursprung des »Liber Pontificalis«, des »Liber Diurnus« in seiner überlieferten Gestalt, der »Konstantmischen Schenkung«, der »Sylvesterlegende«, der »Symmachianischen Fälschungen« und anderer Überlieferungen zu finden. Der päpstliche Auftrag, der ihn nach Rom geführt hatte, erschloß dem Neuangekommenen von Anfang an die Schätze des päpstlichen Archivs. Aus diesem stammen denn auch ausnahmslos sämtliche Aktenstücke und Schriftwerke, die uns durch die rastlose Tätigkeit dieses unermüdlichen Arbeiters erhalten sind. Ihm entnahm er das Material zu den von ihm bearbeiteten »Akten« von Ephesus und Chalcedon, die Unterlagen der in seine Sammlungen eingereihten Kanones und Dokumente der griechischen und lateinischen Synoden, aber auch die der afrikanischen, spanischen und gallischen Provinzialsynoden, die uns nur durch seine Sammlungen bekannt sind, die Briefe und Dekretalen der Päpste nicht bloß in seiner kanonistischen Dekretalensammlung, sondern auch für die von ihm angelegten und geordneten Sammlungen der Briefe, z. B. Innocenz' I., Leos d. Gr. und ihrer Nachfolger bis einschließlich Hormisdas, oder die Aktenstücke seiner »Avellana« und anderer von ihm angelegten Sammlungen, die griechischen patristischen Werke, die er übersetzte und vor dem Untergange rettete, u..s.f. Denn das päpstliche Archiv fand er in einem geradezu trostlosen Zustande der Verwahrlosung vor. Es fehlte an jeder Ordnung. Zusammengehöriges lag überall zerstreut. Wichtigste Dokumente, selbst verhältnismäßig jungen Ursprunges, wie ζ. B. die auf Chalcedon bezüglichen, waren auseinandergerissen, vieles zerfetzt und nur in Bruchstücken vorhanden, manches verschleudert und vollends in Verlust geraten. Es brauchte schier unendliche Mühe und Geduld, sie zusammenzusuchen, wieder herzustellen und zu ergänzen. Dionysius Exiguus ist nicht nur

Einleitung

17

der Ordner, er ist geradezu der Neubegründer des päpstlichen Archivwesens. Erst durch das Studium der kanonistischen Sammlungen und die daraus sich ergebenden Aufschlüsse über die Tätigkeit des Dionysius Exiguus, seine Quellen und Vorlagen und seine Arbeitsweise sind wir imstande, die unersetzlichen Verluste und Schäden in etwa zu ermessen, die das päpstliche Archiv seit den Tagen des Papstes Damasus durch die Zerstörung seines Sitzes bei San Lorenzo in Damaso 410 und durch den Vandaleneinfall von 455 erlitten hatte. Neben der Sammlung der griechischen Kanones begann Dionys auch bald mit deren Übersetzung ins Lateinische. Daß es sich dabei für die Kanones von Ancyra und Neocaesarea, von Antiochia und Gangra um etwas völlig Neues handelte, um eine Erstübersetzung, für die keinerlei Vorlagen vorhanden waren, läßt sich heute noch an den erhaltenen Texten feststellen. Anders steht es mit den Kanones von Nicaea. Von ihnen gab es bereits ältere Übersetzungen. Die römische »Vetus Romana«, wie ich diese vordionysianische Übersetzung nizänischer Beschlüsse bezeichne, kannte Dionys schon damals und konnte sie benützen. Andere Fassungen, wie ζ. B. die in den Akten von Karthago 419 wiedergegebene oder die Paraphrase Rufins lernte er erst etwas später kennen. Wie die erste dionysianische Fassung der nizänischen Kanones gelautet hat, wissen wir nicht. Die uns überlieferten Texte setzen sämtlich die Kenntnis der jüngern Funde voraus. Die Übersetzung der Kanones von Laodicaea gehört gleichfalls erst dieser spätem Periode an. Begreiflich. Denn sie waren auch griechisch nur mehr in traurigen Resten und Bruchstücken vorhanden und bedurften erst der Wiederherstellung des Urtextes. Daß diese überhaupt nur zum Teil möglich war, zeigt die Überlieferung. Abschriften dieser ersten, wie Dionys selbst öfters betont »wörtlichen Übersetzung« widmete er einigen Freunden. Von keiner dieser Abschriften ist uns etwas erhalten geblieben. Wir kennen nur die Widmung und diese bloß aus dem Konzept des Verfassers. Es ist die sogenannte »Widmung I«. Die Nachforschungen im päpstlichen Archiv förderten auch die »Akten von Chalcedon« zutage. Zunächst ohne die Kanones. Wie schon oben bemerkt wurde, handelte es sich in Wirklichkeit 2

Peitz-Foetstet,

Exiguus-Studien

18

Einleitung

um die fragmentarischen Originalprotokolle der Synodalsitzungen. Dazu kam eine große Zahl von Aktenstücken und Belegen, von Legatenberichten und Auszügen, von Kaiserurkunden, Papstschreiben und andern Dokumenten, die ζ. T. wohl den Protokollen beigelegt waren, ζ. T. jedoch erst von Dionys ergänzt oder mit den Protokollen verbunden wurden. Die in den Akten im Wortlaut aufgenommenen Texte von Nicaea, Antiochia und Konstantinopel 381 ζ. B. sind nachweislich erst von Dionys eingeschoben worden, und zwar in den griechischen Bearbeitungen sowohl wie in den lateinischen. Das Gesamtergebnis dieser Bearbeitung ist es, was wir als die »Akten von Chalcedon« zu bezeichnen pflegen. Die grundlegend geänderte Auffassung von Ursprung und Wesen dieser Quelle ist natürlich von ausschlaggebender Bedeutung für die Untersuchung und Bewertung sämtlicher in ihr überlieferten Texte wie etwa der Symbole u. a. Aus den in den »Akten« verarbeiteten Protokollen und ihren Beilagen erfuhren die griechische Kanonessammlung des Dionys, seine »Graeca auctoritas«, wie ihre lateinische Übersetzung einen Zuwachs zunächst durch die Kanones von Konstantinopel 381. Später kamen in der lateinischen Übersetzung die in mindestens vier getrennten Bruchstücken aufgefundene Übersetzung der Kanones von Sardica aus der Zeit Innocenz' I. und die lateinischen Akten von Karthago 419 samt dem ersten Schub afrikanischer Synodalkanones hinzu. Die sogenannten »Widmungen I und II« bieten uns durch die besonders in II enthaltenen Angaben, wie durch den Vergleich ihrer Texte untereinander eindeutige und verläßliche Anhaltspunkte zur Genüge dafür, daß von der lateinischen Übersetzung sowohl vor der Ergänzung durch Konstantinopel, wie nach dieser und erneut nach dem Zusatz der Funde von Sardica und Karthago jeweils auch Abschriften der Sammlung hergestellt und im Freundeskreis des Verfassers verbreitet waren. Ob sie auch schon die auf eigenen Blättern stehenden und erst nachträglich in Frage kommenden Kanones von Chalcedon enthielten, oder ob diese erst in einer vierten Serie von Reinschriften erstmals aufgenommen werden konnten, das läßt sich nicht mit Sicherheit entscheiden. Die aus den Konzepten des

Einleitung

19

Verfassers in doppelter Ausführung überlieferte Fassung des Schlusses von »Widmung II« spricht für das letztere. Von allen diesen Texten in ihrer damaligen Gestalt ist uns nur jener der Kanones von Chalcedon mehr oder weniger getreu in den Hss. der Gruppe F (St. Maur) erhalten. Von den übrigen besitzen wir Spuren und vielleicht eine nach den Funden der karthagischen Akten revidierte Bearbeitung der altern Form der Kanones von Nicaea. Charakteristisch war für alle die dieser Periode angehörenden Übersetzungen des Verfassers und seine Verbesserungen das Streben nach möglichst treuem Anschluß an das Griechische. Diese Arbeiten waren im Jahre 500 abgeschlossen. Denn eine Abschrift der griechischen Sammlung mit Einschluß der Kanones von Chalcedon hat Dionys den Freunden in Mabbug geschickt, die schon im Jahre 501 die älteste nach ihr angefertigte Übersetzung ins Syrische vollenden und datieren konnten. Friedrich Schulthess hat sie als Text Α in seine Veröffentlichung der »Syrischen Kanones« aufgenommen. Ebenso läßt sich nachweisen, daß die päpstliche Kanzlei eine Abschrift der lateinischen Sammlung in dieser erweiterten Gestalt besessen und verwendet hat. Selber war Dionys von seiner Übersetzung nicht restlos befriedigt. Schon an der ersten Redaktion hatte er für die Abschriften und dann bei der zweiten und jeder folgenden erweiterten Gestalt seiner Sammlung Änderungen und Verbesserungen vorgenommen. Sie betrafen die Einteilung in Einzelkanones, deren Zählung, ihre Abfolge, die von ihm als erstem einem jeden Kanon beigefügten Inhaltsangaben, einzelne Worte oder auch Wortverbindungen. Doch das genügte ihm nicht. Seine Kenntnis des Lateinischen hatte sich vervollkommnet, er hatte die feine römische Bildung, aber auch die gespreizte, schwülstige Rhetorik kennengelernt, die damals Mode war. Der wenn auch recht gekünstelte Schliff der gebildeten Sprache ging seiner Übersetzung nur allzu fühlbar ab. Dazu gab es auch im Lateinischen Verbindungen, in denen ein sonst ganz gutes und richtiges Wort, das ihm sein Glossar angegeben haben mochte, nun einmal nicht am Platze war. Nubere ζ. B. war ein solches. Anderen Wendungen fehlte die Prägnanz des 2*

20

Einleitung

Ausdruckes, das Charakteristische, das dem Griechischen seine Plastik gab. Literarisch-stilistisch gab es gar manches zu feilen. Außerdem hatte sich der hochbegabte und für Sprachen besonders veranlagte Skythe, im Laufe der Zeit immer mehr in das Griechische seiner Vorlagen eingelebt. Er wurde sich immer stärker bewußt, daß seine Übersetzung alles eher als vollendet genannt werden konnte. An gar vielen Stellen hatte er doch mehr geraten als wirklich übersetzt. Es gab Kanones, bei denen es ihm nicht hatte gelingen wollen, dem Griechischen einen Sinn und Zusammenhang abzugewinnen. Er hatte die Schwierigkeit beseitigt, indem er entweder nach eignem Gutdünken einen Zusammenhang konstruierte oder Unverstandenes einfach überging. Anderwärts war ihm der sachliche Gehalt der Bestimmungen nicht klar geworden. Allmählich erst erschloß sich ihm, sei es durch eigenes unablässiges Bemühen, sei es durch Befragen oder durch spontane Hinweise von Freunden in der Kanzlei manches dieser Rätsel. Neben literarisch-stilistischer Politur bedurfte die wörtliche Übersetzung auch einer inhaltlich-sachlichen Verbesserung. Vierzehn Jahre im Leben des Dionys sind vergangen, ehe wir den Erfolg dieser bessernden Eingriffe, oft als Ergebnis wiederholter Anstrengungen und Versuche, wieder feststellen können. Es ist die Periode, in der die meisten seiner sonstigen Übersetzungen und seine Sammlungen päpstlicher Briefe und Dekretalen entstanden sind. 514 war Papst Symmachus gestorben. Der damalige Vorsteher des Klosters zu St. Anastasia und gleichzeitige Leiter der Papstkanzlei, Hormisda (514—523), der Nachfolger Julians und besondere Freund des Dionys, wurde auf den päpstlichen Stuhl erhoben. Dionys übernahm das vom Gewählten bisher verwaltete Doppelamt. Der neue Papst brachte ein weit ausschauendes Programm mit auf den apostolischen Stuhl. Bei seiner Ausführung war Dionys eine wichtige Rolle zugedacht. Seit Jahrzehnten dauerte nun schon die unselige Spaltung des akazianischen Schismas an. Weder der Bannstrahl Felix' II (483—492). noch die juridischen Plädoyers Gelasius' I. (492—496) noch das Entgegenkommen Anastasius' II. (496—498) und die Diplomatie des

Einleitung

21

Papstes Symmachus (498—514) hatten es zu beseitigen vermocht. Jetzt eben schienen die Aussichten auf eine Verständigung günstiger. Der neue Papst war sich jedoch darüber klar, daß nur mittels eines Kompromisses der Friede hergestellt werden könne. Die Entwicklung der tatsächlichen Verhältnisse im Osten hatte sich so gestaltet, daß es unmöglich schien, die rein negative Einstellung zu den Geltungsansprüchen der östlichen Kaiserstadt, der »Neuen Roma«, noch weiter beizubehalten. An Rom war es, eine positive Lösung zu finden. Ein Zugeständnis durch Anerkennung der 381 dem Bischof von Konstantinopel zugesprochenen ersten Patriarchalrechte nach Rom war möglich ohne Preisgabe wesentlicher Rechte und Pflichten, zumal Alexandrien sich damals vom Stuhle Petri getrennt hielt. Dagegen mußte Ostrom in aller Form auf sämtliche weiteren Ansprüche aus c. 28 von Chalcedon verzichten, in dessen Inhalt ihm eine Primatialstellung neben Altrom zugebilligt war, die von päpstlicher Seite weder anerkannt werden konnte noch durfte. Anerkennung der Vorrangstellung von Konstantinopel unter den Patriarchen des Ostens bedeutete aber zu gleicher Zeit die Anerkennung der Synode von 381 als des zweiten ökumenischen Konzils durch Rom. In der Sammlung des Dionys fanden sich die Beschlüsse von 381 neben denen von 325 und von 451, stand das Konzil von Konstantinopel neben denen von Nicaea und Chalcedon. Aber von ihr ausgeschlossen war der Kanon 28 von Chalcedon. Annahme der auf päpstliches Geheiß entstandenen Sammlung des Dionysius Exiguus als verpflichtenden Rechtsbuches war ein klarer, sichtbarer Ausdruck der vollen Zustimmung zu den Versöhnungsund Friedensgedanken des Papstes. Für die weitere Entwicklung der Beziehungen zwischen der römischen Kirche und der noch immer im Schisma verharrenden Kirche der Kaiserstadt des Ostens sind wir bezüglich der Einzelheiten vorläufig auf Folgerungen angewiesen, zu denen die klar erweisbaren Tatsachen kein eindeutig sicheres Fundament bilden. Fest steht folgendes: Der Tod des oströmischen Kaisers Anastasius I. 418 bedeutete eine entscheidende Wendung der Dinge. Justin I. und sein einflußreicher Neffe und späterer Nachfolger Justinian setzten sich energisch für die Aussöhnung

22

Einleitung

ein. 519 feierte ein päpstlicher Legat in Konstantinopel das Osteramt in Gegenwart des Hofes und des Bischofs, der sich auf die nachdrücklich geltend gemachte Willenserklärung des Kaisers hin zur vorbehaltlosen Unterzeichnung der vom Papst Hormisda aufgestellten und verlangten Glaubensformel hatte verstehen müssen. Abschriften der entsprechenden wichtigsten Aktenstücke mitsamt der Glaubenserklärung des Bischofs sind vom Papst eigens an die Kirchen von Spanien versandt worden. Sie sind durch spanische Überlieferungen erhalten. Tatsache ist außerdem, daß Hormisda schon in den vorausgehenden Jahren einen ungewöhnlich regen Briefwechsel mit den spanischen Bischöfen gepflogen hat. In diesem spielt gerade die Frage des Akazianischen Schismas die wichtigste Rolle. Es tritt das besondere Interesse stark in den Vordergrund, das die spanische Kirche an dessen Beilegung nehme; die wirksame Hilfe, die Spanien dazu geboten habe, wird eigens darin hervorgehoben. In diesem Zusammenhang taucht nun in mehreren päpstlichen Schreiben neben der gewöhnlichen kanzleiüblichen Datierung eine zweite Datierung auf: die Berechnung der Jahre nach der nur in Spanien nachweisbaren »spanischen Aera« d. h. mit der Zählung der Jahre seit Christi Geburt gemäß der von Dionysius Exiguus durchgeführten Berechnung zuzüglich der Zahl von 38 Jahren. Dabei darf nicht außer acht gelassen werden, daß die Jahresrechnung nach Christi Geburt als Ausgangspunkt, die sogenannte »Christliche Aera«, auf den Vorschlag des Dionys zurückgeht. Der päpstlichen Kanzlei lag um 519 der Gedanke an eine solche »Christliche Aera« noch völlig fern. Erst 525 wird diese Art der Zeitangabe in ihr erwogen, wie wir aus erhaltenen Briefen des Dionys selber positiv wissen. Ihre wirkliche Übernahme erfolgt noch viel später. Tatsache ist aber weiter, daß auch die von Dionysius Exiguus stammende Bearbeitung seiner Kanonessammlung, die mit Recht den charakteristischen Namen der »Hispana«, der »Spanischen Sammlung« trägt, ihre chronologischen Angaben nach der »Spanischen Aera« berechnet. Diese Angaben sind aber nicht erst in Spanien selbst in die Überlieferung eingedrungen, sie stammen vielmehr von Dionysius Exiguus persönlich. Denn sie

Einleitung

23

standen nachweisbar in seiner Arbeitshandschrift in Verbindung mit seiner »Hispana«-Redaktion seiner Übersetzung. Nun wissen wir durch die Forschungen des Präfekten der Balmesiana in Barcelona Jose Vives und dessen sorgfältige kritischen Nachweise in seinen »Inscripciones cristianas de la Espana Romana y Visigoda« (Barcelona 1942), daß die Rechnung nach spanischer Aera wenigstens seit der zweiten Hälfte des dritten Jh.s bekannt war. Ursprünglich beheimatet in einem fast unzugänglichen Winkel des schluchtenreichen asturisch-kantabrischen Grenzgebietes, erscheinen ihre Angaben zuerst unter der dem römischen Brauch entnommenen, aber als einer chronologischen Sigle aufgefaßten Bezeichnung »Cos«, dann in Verbindung mit dieser als »Aera Cos« (Aera Cons), erst in nachkonstantinischer Zeit mit bloßem »Aera« (Era) und bis zur Mitte des 6. Jh.s ausschließlich in Sepulcralinschriften, d. h. in Zeugnissen zähester volkstümlicher Lokaltradition. Mit vollem Recht weist deswegen Vives jeden Versuch, den Ausgangspunkt in irgend einer Tatsache der römischen Eroberung finden zu wollen, zurück, und erklärt die Aera als eine »Institucion indigena de una tribu de los cantabros«. Statt eines Siegesmales römischer Eroberung, so scheint mir, müssen wir in der »Aera« vielmehr die bleibende Erinnerung an eine Teilstat der Freiheit sehen, die einzige uns erhaltene Spur erfolgreichen Widerstandes einiger von der Natur geschützter Talschaften und ihrer »urchigen« Bewohner gegen die sonst unbesiegbar scheinenden Römer. Im Laufe des vierten Jh.s finden sich die ersten Beispiele in den unmittelbaren Nachbargebieten. Bis gegen Ende des 5. Jh.s hat sich ihr Gebrauch auf Lusitanien, die Baetica und Galizien ausgedehnt. Erst im Laufe des 6. Jh.s gewinnt die Aera eine raschere Verbreitung. Die Synode von Tarragona 516 ist die erste spanische Synode, die nach ihr datiert, obschon gerade Tarragona wie der ganze Osten der Pyrenäenhalbinsel sie in der westgotischen Zeit sonst nicht kennt. Wenn aber der für chronologische Berechnungen besonders interessierte Dionys mit ihr in Rom vertraut wird, wenn er ausgerechnet die für Spanien bestimmten Abschriften seiner Sammlung mit dieser Aera versieht, so muß wohl zwischen der »Hispana« und der Beschleunigung ihrer Ver-

24

Einleitung

wendung in ihrem Heimatland ein inniger Zusammenhang bestehen. Dies umso mehr, als seit der Mitte des 6. Jh.s auch in Spanien die Aera nicht mehr ausschließlich in Sepulcralinschriften erscheint, sondern auch in Weiheinschriften nachzuweisen ist und der Westgotenkönig Athanagild ihr öffentlichrechtliche Gültigkeit verleiht. Nun ist aber die »Hispana«, die charakteristisch spanische Form der dionysianischen Sammlung, nur möglich gewesen, wenn ihre ersten Exemplare vor etwa 520 und nach 500 dorthin gelangt sind. Wir haben ein Recht, die »Hispana«, die spanische Aera und ihre ganz ungewöhnliche Verwendung dieser Datierung in Papstschreiben an spanische Bischöfe unter solchen Umständen und von solchem Inhalt mit Dionys und seiner Tätigkeit sowie mit der von ihm ausgehenden Zeitrechnung in der »Hispana« nach Jahren der Aera in ursächlichen Zusammenhang zu bringen. War die von Hormisda ins Auge gefaßte Beendigung des akazianischen Schismas, dessen Auswirkungen weit über den Sprengel von Konstantinopel hinausreichten und eine erste große Gefahr der völligen Spaltung auch der kirchlichen Einheit heraufbeschworen, überhaupt ausführbar, ohne dadurch die Gefahr eines neuen, noch weit folgenschwereren Schismas heraufzubeschwören ? Nicht im Osten. Dort konnte nur alles gerettet werden. Aber im Westen. Wie werden sich die Kirchen Spaniens, Galliens, Oberitaliens zu dieser Frage stellen. Werden sie die Schwenkung der päpstlichen Politik gutheißen ? Können sie die kaum verhallten, mit der ganzen Eindrücklichkeit alter kraftvoller »Majestas Romana« nachwirkenden feierlichen Proteste des großen Leo gegen jeden Versuch einer Minderung des hochheiligen Konzils von Nicaea, jeder Änderung seiner Beschlüsse vergessen ? Es handelte sich überdies in der vom Papst beabsichtigten Lösung der Frage um eine Entscheidung, die in gewissem Sinne die ganze soziale Struktur der Kirche beeinflußte, die aber in etwa auch die einzelnen Bischöfe, vorab die Metropoliten, persönlich anging, die zudem einen starken politischen Einschlag hatte und die Stellung der abendländischen Kirche gegenüber dem Osten sicher nicht unbeeinflußt ließ.

Einleitung

25

Aus allem, glaube ich, dürfen wir folgern, daß die Synode von Tarragona 516 die Gelegenheit war, bei der sich die spanische Kirche zum ersten Male zu dieser Frage zu äußern hatte, und ferner, daß die von da an einsetzenden Unterhandlungen zwischen spanischen Vertretern und dem Papst sich großen Teils um die Aussöhnungsfrage zwischen Rom und Byzanz drehten. Bei dieser Gelegenheit dürfte auch die erste Abschrift der dionysischen Sammlung nach Spanien gegangen sein. Jedenfalls ist zu beachten, daß in den Schreiben aus jenen Jahren die Betonung der Kanones der Väter eine wichtige Rolle spielt. Andererseits gestatten die erstmals von Ed. Schwartz mitgeteilten Varianten der Kanonestexte von Chalcedon die Feststellung, daß wenigstens für sie von den untersuchten Hss. zwei Archetypi vorausgesetzt werden, die auf verschiedene vor der Bearbeitung der „Dionysiana" gefertigte Abschriften zurückzugehen scheinen, während ein dritter Archetypus sicher erst auf einer nach der Redaktion der D gemachten Kopie beruht. Diese Auffassung wird ergänzt durch die im »Liber Pontificalis« überlieferte Nachricht, Papst Hormisda habe sich in diesen Jahren einmal persönlich zum Ostgotenkönig Theoderich begeben. Wenn auch der Zweck der Reise und der Gegenstand der Verhandlungen nicht ausdrücklich erwähnt werden, so dürfte doch wohl die Annahme zutreffen, daß dieser außergewöhnliche Schritt des Papstes ebenfalls zum Ziele hatte, sich des Einverständnisses Theoderichs zu versichern. Denn nach Lage der Dinge bedeutete dessen Zustimmung praktisch auch die der norditalienischen und südgallischen Bischöfe. Stärkere Bedenken könnten gegen die oben angeführte Voraussetzung erhoben werden, die Kanonessammlung des Dionys habe in den Plänen Hormisdas einen Platz eingenommen. Indessen dafür besitzen wir einen, wie es scheint, ziemlich sicheren Anhaltspunkt. Bei den Verhandlungen nämlich, die im Winter 520 auf 521 zur endgültigen Wiederherstellung voller kirchlicher Einheit vom Papst mit einer feierlichen kaiserlichen Gesandtschaft geführt wurden, erhoben die byzantinischen Vertreter gleich zu Anfang Protest gegen einen von Rom vorgelegten Kanon und seine römische Auslegung. Wir wissen aus der

26

Einleitung

sogenannten »Widmung III« des Dionys, daß es sich um den Kanon Nie. 6 gehandelt hat. Aus ihr entnehmen wir auch, daß es um den griechischen Text ging. Der Text von Nie. 6, wie er heute vorliegt und auch bei der Redaktion der D deren Verfasser vor Augen schwebte, enthält jedoch nichts, was den Protest begründen könnte. Denn er ist bis heute von den Griechen anerkannt. Dagegen kennen wir durch eine Überlieferung der Akten von Chalcedon eine ältere Fassung, die uns — zumal im Zusammenhang mit den ältern Redaktionen der lateinischen Wiedergabe — die von den Gesandten erhobene Schwierigkeit verständlich macht. Nun ist es aber wohl ausgeschlossen, daß vor 519 die erst zur Zeit des Schismas im Auftrag des Papstes angelegte und übersetzte Sammlung dem Bischof von Konstantinopel zugesandt worden wäre. Dagegen liegt es nahe, daß die anstößige griechische Fassung eben der in den Akten übermittelten älteren Textierung entsprach. Denn die Neuredaktion der Dionysiana war erst die Folge jenes für den Papst höchst peinlichen Zwischenfalls. Das bedeutet aber nichts anderes, als daß eben die Annahme der von Rom veranstalteten Sammlung von Anfang an mit zum Aussöhnungsprogramm Hormisdas gehörte. Wie eben bemerkt, gaben die Verhandlungen von 520—521 Anlaß zu einer erneuten Bearbeitung der Sammlung durch ihren Urheber. Papst Hormisda fühlte sich durch den Einspruch der Byzantiner persönlich getroffen. Dionys hat den Unmut seines Herrn zu spüren bekommen. Der ganze Ton seiner »Widmung III« zeugt davon. Er erhielt den gemessenen Befehl, alsbald eine wortgetreue Übersetzung der griechischen Kanones vorzulegen, in eigener Reinschrift, Urtext neben Wiedergabe, Spalte neben Spalte, Wort neben Wort. Dionys hat den Befehl selbstverständlich ausgeführt. Er schreibt zwar dem Papst in der Widmung, er sei sich eigentlich bewußt, schon längst dem Auftrag entsprochen zu haben durch seine das Griechische »ad verbum« wiedergebende Übertragung ins Lateinische. Wenn er also gleichwohl versichert, dem Befehl mit aller Sorgfalt nachgekommen zu sein, so kann es sich bei der für den Papst eigens gefertigten Sammlung in deren lateinischem Bestände nur um eine Überholung der früheren Übersetzung »ad verbum«

Einleitung

27

im Sinne eines noch genaueren Anschlusses an das Griechische gehandelt haben. Man hat aus dem Vorurteil heraus, nur die »Dionysiana« könne eine Arbeit des Dionysius Exiguus sein, diese für Papst Hormisda gefertigte Bearbeitung als »D III« bezeichnet. Folglich müßte unter der »iam dudum« vorliegenden Übersetzung »ad verbum« in der Widmung jene Überlieferung verstanden werden, der wir den Namen »DI« beilegen. Wie der Autor freilich diese als »wörtliche« Übersetzung hätte ansprechen dürfen, ist eine Frage für sich. Unter der eigenartigen Voraussetzung, dieses für den persönlichen Gebrauch des Papstes und zu einem ganz bestimmten, zeitbedingten Zwecke hergestellte einzigartige Exemplar müsse selbstverständlich eine vervielfältigende abschriftliche Überlieferung gehabt haben wie irgend eine andere für die Veröffentlichung bestimmte Arbeit, hat man eifrig nach der vermeintlichen »D III« gefahndet. Natürlich erfolglos. Wir besitzen allerdings für ein Konzil, das Chalcedonense, zwei lateinische Überlieferungen, die ungefähr in dem Verhältnis zueinander stehen, wie wir es nach den Worten der Widmung III erwarten müssen. Man braucht nur den Wortlaut der chalcedonensischen Kanones in der Veroneser Abschrift des Theodosius Diakonus —Θ— dem Text der Überlieferung von St. Maur —F— gegenüberzuhalten und beide Wort für Wort mit der griechischen Vorlage zu vergleichen. Mit vollster Sicherheit wird man zunächst feststellen, daß beide Texte, im weiten Umfang miteinander identisch, als wörtliche Übersetzungen des Griechischen zu bezeichnen sind. Ebenso wird man sich überzeugen können, daß sie sich im einzelnen mit Rücksicht auf den Urtext so zu einander verhalten, daß man sagen muß, eine Überarbeitung einer ersten, wörtlichen Übersetzung im Sinne einer noch genaueren Übereinstimmung mit der Vorlage sei unverkennbar. Will man jedoch näher bestimmen, welcher von den beiden Texten der ursprüngliche genannt, welcher als dessen Bearbeitung angesehen werden müsse, so gerät man in Verlegenheit. Bald erscheint F als der ältere Text, Θ als Bearbeitung, bald scheint sich das Verhältnis geradezu umzukehren und F die Bearbeitung des älteren Θ zu sein. Dann ergeben sich auch nicht wenige Stellen an denen F wie Θ sich dem Grie-

28

Einleitung

chischen gegenüber völlig frei verhalten und keiner von beiden dem Begriff einer »wörtlichen« Übertragung entspricht. Eine wirkliche Erklärung dieser Tatsache war auf Grund der bisherigen Anschauungen über die Entstehung der verschiedenen Übersetzungen ausgeschlossen. Erst die Erkenntnis, daß Dionysius Exiguus der alleinige Urheber sämtlicher Texte ist, daß die gesamte Überlieferung aller Texte in ein und derselben Hs., dem oftmals durchgearbeiteten und verbesserten Arbeitsexemplar des Autors ihren Ursprung hat, löst restlos alle Rätsel. Sowohl F als auch Θ folgen im allgemeinen der ursprünglichen Übersetzung »ad verbum«, dem Grundtext des dionysianischen Manuskriptes, daher ihre weitgehende Übereinstimmung. Aber F wie Θ nehmen bald hier bald dort Änderungen auf, die der Autor bei seiner mehrfachen Bearbeitung oder bei der Revision der vermeintlichen D III an jenem Grundtexte vorgenommen hat. Im allgemeinen darf man F mehr als Repräsentanten der ursprünglichen wörtlichen Übersetzung bezeichnen, während Θ häufiger deren Revision für Papst Hormisda von 520—521 wiedergibt. Beide nehmen aber auch Bestandteile anderer Bearbeitungen auf. Oft sind sie sogar förmlich aus Bruchstücken diverser Bearbeitungen zusammengesetzt. Wir haben es mit »Mischhandschriften« zu tun, wobei allerdings diesem Wort ein von der bisherigen Auffassung grundverschiedener Begriff gegeben wird. Denn Ursache und Entstehung der Mischung sind nicht in der Überlieferung zu suchen, nicht in den Abschriften, sondern in der Urschrift, in der Ur-Vorlage. Es handelt sich um Ursprungskontamination, nicht um Überlieferungskontamination. Das Ergebnis der Verhandlungen war die Annahme des päpstlichen Vergleichs durch die Byzantiner. Beweis dafür ist die Übernahme der griechischen Kanonessammlung des Dionysius Exiguus durch die Kirchen des Orients als Grundlage des gesamten orientalischen Kirchenrechtes. Sie ist in dieser Zeit erfolgt. Denn vorher hätte die schismatische Einstellung gegenüber Rom, wenigstens der einflußreichsten unter ihnen, der Kirche der Reichshauptstadt des Ostens, sie nicht gestattet. Sie erfolgte nicht später. Denn die Vulgatüberlieferung der Kanones in den orientalischen Kirchen zeigt die Texte in einem

Einleitung

29

Wortlaut, der schon 525 nicht mehr jener griechischen Vorlage entsprach, die der damalige Stand der lateinischen Übertragung voraussetzt. Dem entsprechen die geschichtlichen Tatsachen. Von dieser Zeit ist der Widerspruch der Päpste gegen die Patriarchatsansprüche Konstantinopels und gegen die Synode von 381 verstummt. Orient und Okzident kennen, anerkennen und zählen von da an die Synode von Konstantinopel als zweites »heiliges allgemeines Konzil« der Gesamtkirche, und die päpstliche Kanzlei sieht im Bischof von Konstantinopel den rangersten unter den Patriarchen, vor Alexandrien, vor Antiochien. Anderseits ist in Ostrom nicht mehr die Rede von c. 28 von Chalcedon. Wohl scheint etliche Jahrzehnte später der alte Streit wieder neu aufzulodern, Gregor der Gr. die ablehnende Haltung Leos des Gr. wieder aufnehmen zu wollen. Es ist nur Schein. Die Forschung hat sich durch ihn täuschen lassen, weil sie den wesentlichen Unterschied zwischen den Forderungen der Byzantiner in Const. 3 und in Chalc. 28 nicht beachtet hat. In Wirklichkeit bedeutete der von den byzantinischen Patriarchen angenommene und selbst im Verkehr mit Rom gebrauchte Titel »Universalis Patriarcha« einen erneuten Vorstoß in der Richtung der Primatialansprüche von 451, den Versuch einer Gleichstellung anstatt einer Unterordnung, einen Bruch des Kompromisses von 521. Gegen diesen Versuch erhebt der Papst Einspruch. Der Protest Gregors gegen den Titel schmälert die im Jahre 521 dem byzantinischen Patriarchen gemachten Zugeständnisse nicht im geringsten. Rom bleibt dem Friedensabkommen treu. Außer der römischen Kanonessammlung dürfte die byzantinische Gesandtschaft 521 auch eine Abschrift der dionysianischen »Akten von Chalcedon« mit sich genommen haben. Jedenfalls hat Dionys sie zu diesem Zweck neu bearbeitet, denn die griechische Vulgata der Akten entspricht der neuen Bearbeitung ihrer lateinischen Übersetzung sowie der Neugestaltung der lateinischen Kanonessammlung, die uns in der »Dionysiana« vorliegt. Diese Zusammenhänge sind nicht bloße Vermutungen : sie lassen sich aus den Texten selbst erweisen. Daß man sie nicht früher erkannt hat, beruht auf den festgewurzelten Vorurteilen, die man auf Grund der unhaltbaren Forschungs-

30

Einleitung

methoden über die kanonistischen Sammlungen hegte, auf der vom kritischen Herausgeber der »Akten« seiner Ausgabe zugrunde gelegten irrigen Ansicht, die im Überlieferungszweig φα (Φ>) erhaltene Form der »Akten« biete die älteste, und nicht, wie doch ein wirklich kritischer Textvergleich mit aller wünschenswerten Klarheit dartut, die jüngste Redaktion ihrer lateinischen Übersetzung. Um die Vorgänge von 520 und 521 in ihrer vollen Bedeutung erfassen, um die in der kanonistischen Überlieferung gegebenen verwickelten Probleme überhaupt richtig würdigen zu können, ist es unerläßlich, die lateinischen Texte der griechischen Synoden insgesamt in ihrem gegenseitigen Verhältnis zu überschauen. Hier, wie so oft, erweist sich die Unmöglichkeit, eine auch nur einigermaßen begründete und der Wirklichkeit nahekommende historische Darstellung einer Periode und ihrer Entwicklung zu unternehmen, ohne nicht bloß mit den Ergebnissen der wissenschaftlichen Erforschung der Quellen völlig vertraut zu sein, sondern auch deren Grundlagen bis in die feinsten Fragen der Text- und Quellenkritik hinein persönlich durchgearbeitet zu haben.

Die überlieferten lateinischen Texte der griechischen Kanones lassen sich in vier große Kategorien ordnen. Die erste umfaßt jene Uberlieferungen, deren Kopisten im großen Ganzen die wörtliche Übersetzung des Dionys wiedergeben, und in diese nur jene Verbesserungen und Änderungen in größerer oder geringerer Vollständigkeit aufnehmen, die sie nicht im Wesentlichen umformen. Zur zweiten gehören die Überlieferungen der »Hispana«. Die dritte bilden die Handschriften der »Dionysiana« in ihren verschiedenen Formen, einschließlich der von der bisherigen Forschung als selbständige neue Bearbeitungen aufgefaßten Gruppen (wie »Hadriana« oder »Bobiensis«). Eine vierte Gruppe endlich enthält jene Überlieferungen, die zwar auch wie die der ersten Kategorie den Urtext der wörtlichen Übersetzung zur Grundlage haben, in dieser jedoch so große Teile der in Sp und in D angebrachten Änderungen einfügen, daß es vielerorts zweifelhaft erscheinen kann, ob sie nicht als Vertreter der dritten

Einleitung

31

oder auch der zweiten Kategorie anzusprechen seien, die »Mischtexte«. Noch in meinem Aufsatz »Dionysius Exiguus als Kanonist« wurde den Hauptvertretern der vierten Kategorie, den Handschriften der »Quesneliana«, wenn auch mit Bedenken und Zweifeln, eine andere Rolle und Stellung zuerkannt. Ich glaubte — noch befangen von manchen Überresten der bisherigen Gesamtanschauungen über die Entwicklung der ältesten Kanonistik — in der »Quesneliana« eine selbständige Bearbeitung durch Dionys sehen zu müssen und wies ihr die dritte Stelle, zwischen der Sp und der D an. Ich betrachtete die Q als ein Übergangsstadium zwischen beiden, als ersten Querschnitt durch die infolge der Erfahrungen von 520 und den Befehl des Papstes Hormisda neu aufgenommenen Redaktionsarbeiten des Dionys. Eingehenderes Spezialstudium zeigte mir dann zur Genüge die Unhaltbarkeit dieser Auffassung. Die seit etwa 500 fertig vorliegende Sp ist als eigentliche »Dionysiana I« anzusehen. Wenn auch mancherlei kleinere Verbesserungen an ihrem Text im Zeitraum von 501 bis 520 vorgenommen sein mögen und gelegentlich sogar nachzuweisen sind: sie war ursprünglich gedacht als die endgültige Gestalt der lateinischen Sammlung und hat als solche auch in der päpstlichen Kanzlei Anerkennung und Verwendung gefunden. Um so klarer tritt jetzt der Unterschied zwischen der Sp und der D zutage, um so bedeutsamer und folgenschwerer stellt sich die Entscheidung des Jahres 520 und der Einfluß des Papstes auf die gesamte Tätigkeit des Dionysius heraus. Gemäß dem Selbstzeugnis unseres Kanonisten war seine erste Übersetzung eine Übertragung des griechischen Textes ins Lateinische »ad verbum«. Diese Früharbeit können wir aus den Handschriften der ersten Kategorie bruchstückweise bloßlegen. Eine auch nur einigermaßen zusammenhängende Rekonstruktion ist unmöglich. Aber aus den Trümmern sehen wir, daß auch diese primitiven Erstversuche öfters Neubearbeitungen erfahren haben, bevor aus ihnen endlich die in der Sp vorliegende Gestalt der Kanones hervorging. Wenn wir allerdings die Sp mit dem Griechischen vergleichen, so müssen wir feststellen, daß der Begriff einer wörtlichen Über-

32

Einleitung

setzung auf sie nur sehr bedingt angewendet werden kann. Gewiß, so weit die Sp sich mit den Überlieferungen des älteren Textes deckt, —• und das gilt für ausgedehnte Teile ihres Bestandes fast in jedem Kanon, — bietet auch sie eine wörtliche Wiedergabe des Urtextes. Dabei gelten für die älteren Texte wie für die Sp die gleichen Vorbehalte. Wir werden in unserer Untersuchung die Tatsache feststellen müssen, daß der von der Forschung auf Grund der fast enthusiastischen Lobeserhebungen Kassiodors ob seiner vollendeten Beherrschung des Griechischen so gefeierte Skythenmönch auch nicht annähernd des literarischen Griechisch in dem Maße mächtig war, wie wir es anzunehmen geneigt waren, — daß er anfänglich dem Schriftlatein ähnlich hilflos gegenüberstand, — daß er über viele der in den Kanones erwähnten oder geregelten kirchlichen Einrichtungen, Zustände und Bräuche auch des Orientes eine geradezu erstaunliche Unkenntnis verrät, — daß er aber auf der andern Seite eine ungewöhnlich hohe Begabung, zumal für Sprachen, besessen hat. Das hat es ihm ermöglicht, in der verhältnismäßig kurzen Zeit von seinem Eintreffen in Rom, bald nach dem 19. November 496, bis zum Abschluß der hauptsächlichsten Redaktionsarbeit an der Sp, etwa Ende 500, erstaunliche Fortschritte zu machen in Verständnis und Handhabung beider klassischen Sprachen wie in der Kenntnis der in der Mehrzahl der meisten Kanones behandelten Gegenstände. Dem entspricht es, daß die Sp an einer recht großen Zahl von Stellen Einschübe und Zusätze aufweist, die in der griechischen Vorlage nicht begründet sind, sich vielmehr klar als sachliche oder sprachliche Erklärungen einzelner Worte oder Teilbestimmungen erweisen, manchmal sogar direkt als persönliche Deutungen durch den Verfasser charakterisiert sind. Überdies tritt in der Sp ziemlich stark eine literarisch-stilistische Tendenz hervor. Der Bearbeiter sucht die Texte den Gebildeten seiner Zeit und seiner römischen Umwelt mundgerecht zu machen und verfällt deswegen oft ins Bombastische, oder er verziert seine Texte mit gesuchten literarischen Feinschmeckereien nach der Mode der Zeit. In fühlbarem Gegensatz sowohl zu den wörtlichen Übersetzungen der ersten Kategorie wie zur Sp stehen die Texte der D. Die stilistischen Härten und sprachlichen Unrichtigkeiten

Einleitung

33

der ältesten Übersetzungen werden ausgemerzt. Es verschwinden aber auch alle Modetorheiten und alle willkürlichen Zutaten der Sp. Statt dessen zeigt sich das ausgeprägte Bemühen, eine wirkliche »Übersetzung« zu liefern, nichts anderes, d. h. eine möglichst getreue und vollkommene Wiedergabe eines Textes im Gewand einer fremden Sprache unter möglichster Wahrung der sachlichen Übereinstimmung und des sprachlichen und stilistischen Denkens und Empfindens der Fremdsprache. *Rein äußerlich und augenfällig wirksam läßt sich dieses Verhältnis der Texte zu einander veranschaulichen, indem man den Text eines Kanons etwa von Chalcedon, nach der Fassung der D wiedergibt und darin die mit den »wörtlichen« Übersetzungen — im Chalcedonense also mit den Überlieferungen F und θ — bzw. mit der Sp übereinstimmenden Teile sowie das der Formulierung in D Eigentümliches in irgend einer Weise kennzeichnet. Man wird wohl überrascht sein zu sehen, wie gering der prozentuale Anteil des Eigengutes der Bearbeitung D, wie groß dagegen jener des mit F und Θ gemeinsamen Bestandes ist. Darin liegt aber schon, nebenbei erwähnt, eine fast mit Händen zu greifende Bestätigung dafür, daß Dionysius Exiguus allein der Urheber aller dieser Texte ist. Es wird nur sehr wenige Kanones geben, in denen nicht die älteren Bearbeitungen, — im Chalcedonense F und Θ, — sowie Sp einen Beitrag zu D geliefert hätten. Am weitaus stärksten trifft das für die »wörtlichen Übersetzungen« (im Chal. F Θ) zu, und zwar in einem Ausmaße, mit dem Sp keinen Vergleich aushält. Ist aber das nicht geradezu wie eine Illustration der Angaben der »Widmung III« an Papst Hormisda, —- einer Widmung also des Dionysius Exiguus zu einer Abschrift seiner Übersetzung der griechischen Kanones? Und das sollte ein reiner Zufall gewesen sein in Rom, wo man sich in kirchlichen Kreisen offensichtlich glücklich schätzte, endlich aus dem Orient einen Mönch gewonnen zu haben, der wenigstens in etwa Griechisch und Latein verstand? — Noch mehr. Dionysius Exiguus müßte ein vollendeter wissenschaftlicher Hochstapler gewesen sein, wenn er sich in jener »Widmung« als »Autor« einer »wörtlichen Übersetzung« —• verstehe: der D ! — hätte aufspielen wollen, die er zu mehr als drei Vierteln 3

Pei tz- F o c r s t e r ,

Exiguus-Studien

34

Einleitung

von andern »wörtlich« — abgeschrieben hätte. Mit einer solchen Behauptung hätte er sich zudem unsterblich lächerlich gemacht. Denn er sprach zu Wissenden. Und doch sollten ihm diese geglaubt haben ? Sollten sie trotz allem von seinem Können und Schaffen, von seiner Wahrheitsliebe und Ehrenhaftigkeit überzeugt geblieben sein? Unter ihnen selbst ein hochgebildeter Aristokrat aus altem Geschlecht, ein erfolgreicher Staatsmann von Format in schwerster Zeit, ein Charakter, der es über sich gewann, auf der Höhe irdischen Ruhmes alle Ehren, ein fürstliches Vermögen und die eigene Person zu opfern im Dienste Gottes und der Wissenschaft ? Man stelle sich diese Fragen und lese dann Kassiodors dithyrambisches Epitaph auf den toten Dionys. Mehr braucht es nicht, um sich der ganzen Unsinnigkeit und Gedankenlosigkeit einer solchen Auffassung bewußt zu werden. — 525 war die letzte Bearbeitung der dionysianischen Sammlung noch nicht ganz abgeschlossen. Denn in seiner »Epistula Paschalis I« führt Dionys den »Kanon 79 = Ant. 1« im vollen Wortlaut an. Als Autor wird er doch wohl seinen eigenen Text kennen und zitieren, wie er ihm selbst damals vorlag. Das Zitat selbst dürfte beweisen, daß es nicht frei nach dem Gedächtnis aufgezeichnet ist. Was er jedoch als Text des Kanons bietet, ist zwar nicht der Text der Sp, auch nicht der Text der ältesten Übersetzung, soweit wir uns von dieser aus der Überlieferung ein Bild machen können. Es ist aber ebensowenig die letzte Fassung der D. Und doch soll die D i l nach den positiven Behauptungen eines ganz modernen kritischen Forschers bereits 504 abgeschlossen worden sein! Wenn wir hier die »Quesneliana« aus der Reihe der als selbständige Sammlungen und als eigene Bearbeitungen des Dionysius Exiguus aufzufassenden Textüberlieferungen gänzlich ausschalten, so vereinfacht das alle mit der Entstehung der Sammlungen zusammenhängenden Fragen bedeutend. Auf der andern Seite aber erschwert diese Ausschaltung unsere Stellung zu der Forschung der letzten drei bis vier Jahrhunderte nicht unwesentlich. Denn gerade über die Q ist sehr viel geforscht und geschrieben worden. Fournier — Le Bras stehen nicht an, im

Einleitung

35

ersten Band ihrer »Histoire du Droit ecclesiastique« zu behaupten: wer auch nur die Geschichte der Kontroversen schreiben wolle, die allein über die Q seit ihrer ersten Veröffentlichung durch Pasquier Quesnel in seiner Ausgabe der Werke Leos d. Gr. 1675 ausgefochten wurden, werde einen dicken Band damit füllen. Doch nicht darin liegt die Schwierigkeit, um die es sich handelt, vielmehr ist diese darin zu sehen, daß man enttäuscht feststellen muß, daß kein einziger dieser gelehrten Forscher und Kontroversisten sich darüber klar geworden ist, daß man den Text der vermeintlichen Q überhaupt nicht kannte. Die Behauptung klingt absurd. Sprechen doch Fournier — Le Bras selbst von dessen erster Veröffentlichung. Die Ballerini haben nicht nur ihre große Streitschrift gegen Quesnel in ihre Ausgabe der Werke Leos aufgenommen, sondern dessen Text auch eine neue Textrezension gegenübergestellt. Neuestens hat Turner die aus dem Griechischen übersetzten Kanones außer Chalcedon kritisch herausgegeben. Das Chalcedonense hat Ed. Schwartz in seinen »Acta Conciliorum« ergänzt. Wie dürfen wir also die Behauptung wagen, man habe den Text der Q nicht gekannt ? Und doch ist es so. Bleiben wir bei den modernen kritischen Ausgaben und schauen sie uns etwas näher an. Schwartz hat den Text der Q wie er in den Hss. der angeblichen »Handschriftenfamilie Q« überliefert wird, mit den Texten der Handschriften»Familie« S ( = Sanblasiana) und L (v = Vaticana), sowie der Einzelüberlieferungen R (unser θ) J, Ρ und W zusammen geworfen und zu einem Textragout verarbeitet. Und doch zeigen sich zwischen Q W J und S y 8 durchgängig nicht ganz bedeutungslose Verschiedenheiten. Turner war bei den von ihm kritisch verarbeiteten Kanones noch weiter gegangen und hatte sogar die Überlieferung der Sp mit der Q, S und F und derQ, der »Kölner Familie«, in einen Topf geworfen. Schwartz hat in Chalcedon wenigsten die Sp für sich allein behandelt. Aber dabei glaubt er, ohne Bedenken Lesarten der einzelnen ziemlich späten Handschrift & an vielen Stellen in den kritischen Text einsetzen zu sollen, obschon sämtliche übrigen Zeugen dem widersprechen. Aber auch darin ist er nicht konsequent und gibt anderwärts den übrigen Zeugen den Vorrang vor &. Aus

36

Einleitung

welchen Gründen? Gewiß, er sieht in seinen fünf spanischen Hss.Angehörige einer »Familie«. Ihr Zeugnis gilt ihm also nur als eines. Aber auch dann steht & noch immer zwei anderen gegenüber. Wie erst, wenn die spanische »Familie« sich als irrige Zusammenfassung von zwei, von drei verschiedenen, selbständigen Familien erweisen läßt ? Wenn gezeigt werden kann, daß & so ziemlich die unzuverlässigste aller Hss. dieses Textes ist? Man sieht, die Frage ist eine ganz allgemeine, sie betrifft die Grundlagen unserer kritischen Methoden überhaupt. Eine kritische Textausgabe, zu der restlos sämtliche Hss. herangezogen wurden, ergibt an sich nur einen kritischen Text dieser Überlieferung, die uns zufällig erhalten ist. Richtiger würden wir sagen: ihren Durchschnittstext. Man sieht es jedoch als eine Selbstverständlichkeit an, daß die kritisch behandelte Gesamtheit aller Hss., die im Wesentlichen den gleichen Text als Überlieferung eines literarischen Erzeugnisses vergangener Zeiten wiedergeben, notwendig den echten, den authentischen Text jenes Geistesproduktes in schlackenfreier Reinheit wieder herstelle. Das ist ein Grundirrtum. Aristoteles würde sagen, es handle sich um einen logisch unzulässigen Syllogismus, da er ein vierfüßiges Monstrum sei. Ist etwa die Überüeferung das Gleiche wie der authentische Text? Und wenn im konkreten Fall eine dreigliedrige Überlieferung ein zwei- oder dreifaches Zeugnis für eine Stelle abgibt, welches Mittel gestattet mir, in dem einen das Zeichen des echten, des authentischen Ringes zu sehen, die beiden anderen als durch die Überlieferung verfälscht zu erkennen? Ist es richtig, daß der »authentische Text« das letzte Ziel der Kritik sei, oder müssen wir nicht den Begriff des authentischen Textes selbst noch genauer definieren? Ein authentischer Text ist doch wohl jener, der aus der Feder des Autors selber stammt. Aber das genügt nicht. Auch dem Autor konnten bei seiner Arbeit verschiedene Fassungen seines Gedankens nicht nur vorschweben, sondern auch in die Feder fließen und durch sie nebeneinander auf einer Schreibunterlage Gestalt annehmen. Das Ziel der kritischen Textuntersuchung kann nur sein, den letzten, den endgültig gewählten und gewollten Gedankenausdruck des Verfassers festzustellen. Die kritische Forschung darf nicht voraussetzen, daß das handschrift-

Einleitung

37

liehe Werk des Autors, das sie durch die Überlieferungen kennen lernt, ein Einheitstext war, in dem die Überlieferungen erst Abweichungen, »Lesarten« nichtauthentischen Ursprungs, hineingetragen haben. Sie müßte das erst für jeden Text beweisen. Sonst ist ihr Produkt, der von ihr rezensierte Text der kritischen Ausgabe, eben kein authentischer Text des Autors mehr, sondern ein von ihr geschaffener Einheitstext, zusammengesetzt aus jenem Material, das die Durchschnittstexte der verschiedenen Überlieferungen bieten. Im Namen und unter der Flagge voraussetzungsloser Objektivität also Subjektivismus in Reinkultur. Ist das Urteil zu hart ? Nun wohl, dann hier ein paar Muster. In Anc. 13 wird eine manichäische Aszese verurteilt, welche auch den geringsten Genuß von Fleischspeisen verbietet, weil sie unrein seien und den Genießenden verunreinigten. Turner faßt im Ancyranum die Hss.-»Familien« Sp Q F S ν C und die Einzelüberlieferungen V Θ als Zeugen eines und desselben Textes, der »Versio Isidori vulgata«, zusammen und rezensiert daraus einen Einheitstext, den kritischen Urtext. Aber er muß feststellen: 1. daß V und die Hss.F mehr als die Hälfte des Textes auslassen, nämlich die Zeilen 12—24 seines Druckes; 2. daß auch die Hss. C die ersten etwa fünf Zeilen (Z. 10—16) dieser zweiten Hälfte des Kanons nicht enthalten; 3. daß »zweifellos« diese zweite Hälfte nur eine andere Übersetzung des nämlichen griechischen Textes wiedergebe als die erste Hälfte, weshalb er auch diesen zweiten Teil Z. 11—24 mit eckigen Klammern einschließt; 4. daß die Hss. der Sp zwar fast den ganzen Text bringen, jedoch in einer sonderbaren Verschiebung der einzelnen Teile. Bezeichnet man nämlich die Turner'schen Druckzeilen 1 — 3 mit a, 3—5 mit b, 5—11 mit c, 12—19 mit d, 20—24 mit e, so folgen sich in den Handschriften Sp a—d—c—e, während b fehlt. Es ist mithin der Anfang der zweiten Hälfte, d. h. einer ganz andern Übersetzung »des nämlichen griechischen Textes« hinter dem — unvollständig kopierten — Anfang der ersten Hälfte eingeschoben. Durchgeführte Vergleiche zeigen,

38

Einleitung

wie wenig die bisher auch von kundiger Meisterhand angewandte Methode imstande ist, selbst eine verhältnismäßig einfache Verwirrung in der Überlieferung wirklich zu klären. Wir wissen von sehr vielen griechischen Synoden, die vor dem Ancyranum und nach ihm abgehalten sind. Von keiner kennen wir die Beschlüsse außer etwa jener besonderen Entscheidungen, derentwegen sie erwähnt werden. Und doch sind viele von ihnen durch die Zahl der Teilnehmer weit bedeutender gewesen als ζ. B. das Ancyranum mit seinen 12—18, das Neocaesariense mit angeblich 24 Bischöfen. Manche haben wichtigere Entscheidungen getroffen. In den Sammlungen, den griechischen wie den lateinischen, entdecken wir von ihnen keine Spur. Und doch: hat nicht selbst die »hochheilige große Synode von Nicaea«, die »Synode der 318«, sich ausdrücklich auf frühere Synoden und ihre Beschlüsse berufen und gestützt ? Weshalb sind nicht wenigstens diese der Aufnahme gewürdigt worden? — Papst Innocenz I. hatte schon 100 Jahre vor Dionys die Antwort gegeben. Andere Kanones als die des Konzils von Nicaea erkenne die römische Kirche nicht an, hatte er an Theophilus von Alexandrien geschrieben. Das war gesagt im Hinblick auf die Kanones von Antiochien. Also damals wurde die Enkäniensynode von Antiochien 341 in Rom nicht anerkannt. Seit Dionys behaupten die Kanones von Antiochien in seiner von der päpstlichen Kanzlei selber verwendeten und verbreiteten Sammlung ihren Platz neben denen von Nicaea. Auf der andern Seite finden wir die Kanones von Sardica in den griechischen Sammlungen seit Dionys ebenso wie in den lateinischen. Aber noch im Spätherbst 520 läßt Dionys nach eigener Versicherung in seiner »Widmung III«, an Papst Hormisda in dem für diesen eigens gefertigten doppelsprachigen Exemplar der griechischen Kanones die von Sardica mit der Begründung aus, die Griechen anerkennten sie nicht. Liegt darin nicht die volle Bestätigung dessen, was wir über die Rolle ausführten, die die »Dionysiana« bei den Friedensverhandlungen 520—521 spielte? Aber auch dafür, daß Dionys seine griechischen Texte des Sardicense nicht aus dem Orient hatte ? Woher also ? Nur das päpstliche Archiv kann der Fundort gewesen sein. In der Sammlung des Dionys

Einleitung

39

besitzen wir die Bestimmungen aller Synoden, griechischer wie lateinischer, die er im päpstlichen Archiv noch vorfand. Es handelt sich bei diesen Darlegungen nicht um ein Spielen mit Gedanken, nicht um bloße Möglichkeiten, sondern um die aus den Tatsachen abgelesene Antwort auf die Frage, was die verworrene Überlieferung dieses Kanons in der sonst so korrekten Sp verursacht habe. Denn die Uberlieferung des gleichen Kanons in den Hss. C Κ einerseits und V F (mit F und ff) anderseits beweist, daß die verschiedenen Bearbeitungen von allen diesen Überlieferungen aus einer und derselben gemeinsamen Vorlage genommen sind, da sonst dieses gegenseitige Verhältnis von Sp : C : VF unmöglich wäre. Diese gemeinsame Vorlage aber muß die Teiltexte so enthalten haben, wie wir es eben aus dem Bestand von Sp erschließen können. Und das wird wieder durch eine andere, von den bisherigen Ausführungen ganz unabhängige Reihe von Beobachtungen bestätigt. Denn wir brauchen nur den Apparat Turners zu dem von ihm destillierten Einheitstext »Isidori Vulgata« selbst oberflächlich zu durchmustern, um zu sehen, daß alle Texte angeblich ganz verschiedenen Ursprungs in den der »Isidori Vulgata« eigen sein sollenden Zeugen ihre Spuren hinterlassen haben. Ebenso haben aber auch sämtliche Textüberlieferungen außer der vermeintlichen »Isidori Vulgata« von dieser wie voneinander ebenso bedenken —• wie verständnislos Formen, Wörter, Wendungen entlehnt, —• sogar bis in die Uberlieferung der D hinein. Damit haben wir aber auch den Namen des Übersetzers und Bearbeiters aller Texte: es ist Dionysius Exiguus. Dafür, daß Turner das nicht gesehen hat, gibt es nur eine Erklärung und Entlastung. Die Binde, die eine als unbedingt zuverlässig und wissenschaftlich hundertfach bewiesen und erprobt angesehene Methodik um sein kritisches Auge legte, verschloß ihm jeden freien Blick über die von derselben Methodik als sichere Wegführung aufgerichtete Schranke des Vorurteils hinaus, daß die Varianten in den erhaltenen Handschriften jedes Textes nur die Schuld der Kopisten, die natürliche Folge jeder handschriftlichen Überlieferung sein könnten. Nehmen wir zur Kontrolle noch ein zweites Beispiel hinzu.

40

Einleitung

In seiner »kritischen« Ausgabe des Sardicense übernimmt Turner von den Ballerini und der Gesamtheit der übrigen früheren Forscher die Überzeugung, die lateinischen Texte der Kanones, die inhaltlich und formell so häufig mit dem der griechischen Vorlage gar nicht in Einklang zu bringen sind, seien ebenso wie die griechischen Texte eine Arbeit der Synode selbst, die damit den tatsächlichen Verschiedenheiten östlicher und westlicher, lateinischer und griechischer Kirchenordnung und -disziplin in gleicher Weise habe gerecht werden wollen. Aus dieser Überzeugung heraus unternimmt er nun den Versuch, mit »kritischer Methodik« den authentischen lateinischen Urtext, den gemeinsamen Ursprung aller lateinischen Überlieferungen, aus deren Gesamtheit wieder herzustellen. Er ist ihm, wie er glaubt gelungen. In einer »kritischen« Ausgabe erscheint in technisch glanzvoller Gestaltung der »textus authenticus«. Und der als Muster gefeierte Meister vollendeter kritischer Methode Ed. Schwartz beglückwünscht ihn in einer wissenschaftlich führenden Zeitschrift zu diesem Erfolg. Er betont, er habe gerade dieses Meisterstück bis in die letzten Feinheiten des Apparates nachgeprüft. Ja, er sieht sogar darin, daß dieses Werk so tadellos gelungen sei, den endgültigen Beweis für die Richtigkeit der Voraussetzungen wie der Rekonstruktion. Sucht man den Grund dafür durch persönliches Studium von Apparat und rekonstruiertem Einheitstext zu finden und zu verstehen, so findet man sich bald in einer trostlosen Verlegenheit. Man bekommt das Gefühl, vor dem Prokrustesbett der Sage zu stehen, an dem die Texte der handschriftlichen Überlieferung ihre Bewährungsprobe haben durchmachen müssen. Ringsum Berge von Textgliedern die diesem operativen Gemetzel zum Opfer gefallen sind. Aber ein einheitlicher diagnostischer Gedanke, weshalb hier diese, dort jene Hs. hat bluten müssen, ein konstruktiver Plan, nach dem an dieser Stelle gerade das von der einen Überlieferung gebotene Material als das einzig passende aufzunehmen sei, nicht das einer andern, der ist nicht zu entdecken. Ich glaube, hätte Turner nur einmal gewagt, nach der Feststellung seiner Hss.-»Familien«, nach der Konstruktion ihrer »Stammbäume«, nach der Gliederung seines reichen Apparates, nach dem Versuch der Rezension des Textes

Einleitung

41

nochmals die Frage des Ursprungs dieser Varianten aufzugreifen, er hätte auf die richtigen Wege der Erkenntnis der Wahrheit kommen müssen. Aber daran hinderte ihn der Bann der Methode. Sie bestimmte: hier ist die wissenschaftliche Arbeit getan, die Aufgabe wissenschaftlicher Kritik gelöst. Und es war doch nur das Ende der vorbereitenden Handlangerdienste, der Punkt, an dem eigentlich kritische Forschungsarbeit erst beginnen konnte. Was hier für die kanonistischen Texte gesagt ist, gilt grundsätzlich für alle kritische Forschung. Die erste Fundamentalfrage, die nach jenen Vorarbeiten gestellt werden muß, lautet: Wodurch und wie sind die verschiedenen Überlieferungen geworden ? Erst wenn sie beantwortet ist, kann die zweite Frage, die Frage der praktischen Rezension, aufgestellt werden. Und ihre Formulierung kann nicht sein: Wie ist wohl der T e x t gewesen ? Sie wird heißen müssen: Wie ist also der T e x t gewesen ? Ihr W e g wird der empirische Weg experimenteller Wissenschaft sein, der Weg der eindringendsten, möglichst vollständigen Beobachtung und Prüfung aller Tatsachen im kontradiktorischen Beweisverfahren. Hätte man so gehandelt, dann hätte wenigstens ein Irrtum von den Forschern, die seit Maassen den kanonistischen Quellen, unserm Beispiel, ihre Aufmerksamkeit zugewandt haben, längst erkannt und ausgemerzt werden können und müssen. Seit Jahrhunderten redet die kanonistische Forschung von einer »Hadriana«, einer »Bobiensis«, einer »Sanblasiana« usf. als sicher erwiesenen Ηss.-»Familien«. Aber keine einzige aller Gruppen, die man aufgestellt und bis heute als wirkliche Hss.-»Familien«, wie man annahm, erwiesen hat, besteht eine Probe. Also muß die Methode, nach der man voranging, revisionsbedürftig sein. Neue Wege sind zu gehen. Dem Papste Johannes II. (533—535) lag bei seinem Regierungsantritt die »Dionysiana«, wie wir sie kennen, abgeschlossen vor. Nach ihrem Wortlaut zitiert er die Texte mehrerer Kanones. 525 war nach dem eigenen Zitat des Dionys in der »Epistula Paschalis I« der Umbau der Sp zur D im Sinne einer Rückwärtsbewegung zur Restitution der ursprünglichen wörtlichen Übersetzung im wesentlichen vollzogen. Das berechtigt uns, diese Redaktionsarbeit als schon erheblich vor 533 beendet

42

Einleitung

anzusehen, etwa 527, zumal wenn wir uns das Arbeitstempo des Dionys vor Augen halten, wie es sich uns in der Zeit von 497— 500 in der Sammlung des Materials, in der ersten Übersetzung der griechischen Kanones und Akten und den wiederholten Bearbeitungen bis zur Sp darstellt. Hat nun 527 die »Dionysiana« fertig vorgelegen, so dürfte auch der Tod des Verfassers um diese Zeit anzusetzen sein, während man sein Todesjahr bisher erst in das Jahrzehnt von 550—560 verlegt hat. Als Begründung galt das spätere Wirken des Dionys in Vivarium, das man in einigen Worten Kassiodors bezeugt finden wollte. Allein es handelt sich auch hier um eine Deutung, die man auf Grund der vorgefaßten Meinungen über Leben und Wirken des Dionys in die Worte Kassiodors hineingelegt gat. Persönlich scheint dieser den »Vater der Kanonistik« überhaupt nicht, wenigstens nicht näher gekannt zu haben. Es wäre kaum recht verständlich, daß von etwa 525 ab jede greifbare Spur von dem Wirken und Schaffen des Mannes fehlt, dessen Leben, soweit wir es verfolgen können, ein rastloses Schaffen gewesen war. Durch fast dreißig Jahre hätte er seine Vergangenheit verleugnen, dabei übrigens geradezu das Alter eines Methusalem erreichen müssen. Was aber am stärksten gegen die Richtigkeit der bisherigen Annahme über sein Todesjahr spricht, sind die Beobachtungen, die wir an seinem Hauptwerk, der Kanonessammlung, machen. Sollte es wirklich die Absicht des Dionys gewesen sein, sein Werk in dem Zustande zu hinterlassen, in dem wir es durch die Überlieferung kennen lernen ? Wir haben Grund, daran zu zweifeln. Zu viele Stellen der »Dionysiana«, wie sie uns vorliegt, können kaum als fertig bezeichnet werden. Es scheint vielmehr der Tod dem bereits Hochbetagten die Feder aus der nimmermüden Hand genommen zu haben, bevor er sein Werk endgültig abschließen konnte. Das würde auch die volle Unordnung erklären, in der er sein Manuskript zurückließ. Es wird die Aufgabe der künftigen Untersuchungen sein festzustellen, wann die spätere Ordnung erfolgte. Daß eine solche Untersuchung mit Erfolg gemacht werden könne, setzt aber voraus, daß zuvor eine wirklich wissenschaftliche kritische Rezension der »Dionysiana« und der »Hispana«, sowie der Versuch einer ebenso streng Wissenschaft-

Einleitung

43

liehen Rekonstruktion der ältesten Übersetzung des Dionys samt dem Nachweis ihrer Entwicklung zur Sp die erforderlichen zuverlässigen Unterlagen bereitstellt. Keine einzige dieser kritischen Textrezensionen aber ist möglich, wenn man sie isoliert und nicht gleichzeitig auch die gesamte übrige Überlieferung, wie die sogenannte »Quesneliana«, »Sanblasiana« usf. in gleicher kritischer Genauigkeit durcharbeitet und einbezieht. Die von Turner und Schwartz gebotenen Apparate genügen dazu auf keinen Fall. Manche von ihnen ausgeschaltete Hss. sind geradezu wesentlich erforderlich und werden bis auf die letzten Feinheiten der Orthographie und der Kürzungen zu vergleichen sein, bevor man an die kritische Textgestaltung überhaupt denken darf. Vielleicht wird sich dann sogar ergeben, daß nicht nur einmal, sondern wiederholt posthume Bearbeitungen der dionysianischen Originalhs. erfolgt sind. Auch darauf deutet eine ganze Reihe von Beobachtungen hin. Das Problem der Vielgestaltigkeit der Überlieferung der Texte ist durch die neuen Ergebnisse zwar vereinfacht worden; sein Schwerpunkt hat sich aus der Vielheit der überlieferten Abschriften verlagert in die Einheit der allen Überlieferungen als Quelle und Ausgangspunkt gemeinsamen Urschrift. Dafür ist es aber auf der andern Seite unvergleichlich schwieriger und verwickelter geworden. Denn es setzt für jede einzelne Abschrift die klare Kenntnis ihres besonderen Verhältnisses zu dieser Urschrift und für diese selbst den Nachweis der Entwicklung jedes einzelnen Textteiles von seiner ersten Niederschrift durch den Autor bis zum Abschlüsse seiner letzten Bearbeitung voraus, ja darüber hinaus bis zum letzten Augenblick, für den die Erhaltung und Benutzung seiner Hs. sich erweisen läßt. Die Möglichkeit späterer Eingriffe und Änderungen in der Original-Arbeitshs. des Dionysius Exiguus war dadurch gegeben, daß sich sein Ms. nach seinem Tod im Besitz der päpstlichen Kanzlei erhielt und von ihr immer aufs neue als Vorlage für neue Abschriften verwendet wurde. Das läßt sich mit voller Sicherheit nachweisen ζ. B. für das 8. und 9. Jh., für das 10., 11. und 12. Jh. Es gilt höchstwahrscheinlich auch noch für die Mitte des 13. Jh.s Für die ambrosianische, aus Bobbio stammende Kanoneshs. des 9. Jh.s ist ζ. B. sicher, daß sie unmittelbar aus

44

Einleitung

dem Ms. des Dionys abgeschrieben wurde. Daraus erklärt sich, — ohne daß man auch nur den geringsten Anlaß hätte, zu den verzweifelten und unglaublich verzwickten Erklärungsversuchen der bisherigen Forschung seine Zuflucht zu nehmen — , ihr eigenartiges Verhältnis zu den vermeintlichen zwei Redaktionen der D wie die Rößlisprunglösung des rätselhaften Verhältnisses ihrer angeblichen Schwesterhs. ζ zu ihr selbst. Denn ζ geht ebenfalls, nur nicht unmittelbar wie B, sondern mittelbar, auf die Dionyshs. zurück. So ist auch die immer wieder geäußerte Vermutung begreiflich, der Abschrift Β liege an manchen Stellen ein erneuter Vergleich mit dem griechischen Urtext zu Grunde. Es ist richtig: Manche ihrer Varianten sind unmittelbar nach dem Griechischen geformt. Aber ihr Urheber und Übersetzer war nicht ein Unbekannter des 8. und 9. Jh.s, sondern Dionys, der diese Übersetzung bei einer seiner Bearbeitungen einmal ins Auge gefaßt und in seine Arbeitshs. eingetragen, dann jedoch durch eine ihm besser scheinende Formulierung ersetzt hatte. Für das 12. Jh. gestatten uns schon die Nachweise Friedbergs im Apparat seiner Stereotyp-Ausgabe des Decretums Gratians einen für die Arbeitsweise des Magisters aufschlußreiche Feststellung. Gratian hat nur in seinen Quellen die von ihm zur Aufnahme ausersehenen Dokumente oder deren Ausschnitte angezeichnet. Wir kennen derartige Zeichen ja zur Genüge aus der Registerforschung. Sowohl das Register Gregors VII., wie die ersten acht Jahrgänge des Registers Innocenz' III. und dessen Thronstreitregister weisen derartige Zeichen auf, deren Zusammenhang mit kanonistischen Sammlungen Fr. Kempf S. J. in seiner paläographisch-diplomatischen Untersuchung über die »Register Innocenz' III.« positiv nachgewiesen hat. Wenn dieser dann freilich im gleichen Zusammenhang die absonderliche Ansicht vertritt, einer der drei Hauptzwecke bei Anlage und Führung der Register sei gewesen, »offizielle Materialsammlung von Dekretalen« zu sein, »die den etwa abzufassenden Rechtskompilationen dienen sollte«, so scheint das eine unberechtigte Überspitzung der Bedeutung einiger nur der Erleichterung der praktischen Arbeit dienender Benützerzeichen zu sein. Jedenfalls halte ich die Auffassung, die Kanzlei selbst habe diese Zeichen »durch ihre

Einleitung

45

Beamten anbringen lassen«, »um die Benutzung der Register für das kanonistische Studium zu erleichtern«, für verfehlt. Gratian hat nur die »Capitulationes« seines großen Sammelwerkes nebst den entsprechenden Fundorten mit eigener Hand zusammengestellt. Die Ausführung der Texte war Sache der Kopisten. Vergleichen wir die Texte, die den griechischen Kanones der ersten fünf Jahrhunderte entnommen sind, soweit wir in Friedbergs Apparat nähere Angaben über deren handschriftliche Überlieferung besitzen, untereinander und mit der Gesamtüberlieferung der dionysianischen Arbeit, so ergibt sich als unzweifelhafte Tatsache: 1. daß es sich um wenigstens drei voneinander unabhängige Texte handelt, 2. daß jede dieser drei Überlieferungen für sich selbständig auf die Arbeitshs. des Dionys als Vorlage zurückgeht, 3. daß sie trotz ihrer gegenseitigen Unabhängigkeit und ihres selbständigen Ursprungs aus der Originalhs. des Dionys in Auswahl und Umfang der aufgenommenen Stücke übereinstimmen, d. h. daß der Grund der Übereinstimmung in dieser Vorlage gegeben sein mußte. Es handelt sich also bei den Zeichen in den Registern Innocenz' III. nicht um eine Neuerung. Der Ursprung dieses naheliegenden, einfachen und zweckdienlichen Hilfsmittels ist aber überhaupt nicht in der Kanzlei und bei den Registratoren zu suchen. Wir kennen die praktische Verwendung derartiger Verweise schon aus den kanonistischen Werken der voraufgehenden Jahrhunderte, ja, aus der Kanonessammlung des Dionys selbst und ihrer Überlieferung. Dionys ist zudem der erste gewesen, der die Anregung dazu gegeben hat. In dem Schluß Β seiner »Widmung II«, dessen Bedeutung von der bisherigen Forschung allerdings nicht erkannt worden ist, bezeugt er selbst, daß er eine derartige Zusammenstellung aller über die gleiche Frage handelnden Kanones der verschiedenen Synoden der Sammlung vorausschickte. Die Breviatio des Ferrandus, jene des Cresconius, die Epitome Hispana u. a. sind nur Abschriften oder höchstenfalls Nachahmungen dieses Vorbildes. Wenn Turner nach dem Vorgang früherer Forscher, unter ihnen so-

46

Einleitung

gar der Ballerini, die »Concordia Cresconii« als desselben — völlig legendären — Verfassers zweites Werk ansieht, das in vielen Schwesterhss. erhalten sei, so hat er damit die Geschichte der Kanonistik nur um einen bedauerlichen Irrtum bereichern helfen. Eine wirklich kritische Textvergleichung auch nur weniger Hss. der »Concordia« würde den ehrlichen Wahrheitssucher davon bald überzeugt haben. Aber eben — der Bann der Tradition und die gewiß hohe und verdiente Autorität des Namens Ballerini sperrten die Fernsicht. Aus den hier im Zusammenhang nur kurz skizzierten Ergebnissen, für deren wesentliche Punkte die vorliegende Untersuchung den Beweis zu erbringen unternimmt, erklären sich manche Rätsel der Uberlieferung. Wir verstehen, weshalb die Hispana in Spanien völlige Alleinberechtigung erlangen konnte. Man muß sich nur vergegenwärtigen, was das Erscheinen der ersten »Hispana« im Bereiche der spanischen Kirche bedeutete. Ein unerhörter Reichtum der für alle Belange christlichen Denkens und Lebens, für alle Grade der kirchlichen Hierarchie maßgebenden wegweisenden Dokumente ersten Ranges, die eine Fülle von Fragen des sozialen, des wirtschaftlichen, des religiösen Alltags auch der Laienwelt regelten, Dokumente ersten Ranges, die bis dahin zum größten Teil nicht einmal vom Hörensagen bekannt waren, wurden auf einmal in einer dem Gebildeten gerecht werdenden und dennoch auch dem Ungebildeten verständlichen, einfachen Sprache und Form, übersichtlich geordnet und für die unmittelbare Verwendung in jeder Lage bereit, vor den Augen der Bischöfe ausgebreitet. Es war zugleich ein Kompendium, das das Wichtigste der universalen wie der heimischen Kirchengeschichte in den Hauptzügen enthielt. Alte Bräuche und Überlieferungen, von denen man nie gehört, wurden bekannt, die halb erstorbene Erinnerung an fast vergessene wurde aufgefrischt. Die »Hispana« bedeutete und ersetzte eine Bibliothek. Das katholische Spanien stand unter der Herrschaft westgotischer Eroberer. Und diese Goten waren Arianer. In den Symbolen der Sammlungen, in den Entscheidungen der Konzilien, in den Dekretalen der Päpste, in den historischen Bemerkungen des Sammlers fand man ein Arsenal von Rüstzeug

Einleitung

47

für die geistige Auseinandersetzung mit ihnen. Es ist wohl verständlich, daß die erste Bekanntschaft auch nur eines kleinen Kreises von einflußreichen Männern mit diesem Schatz dem gesamten Geistesleben einen mächtigen Auftrieb gab, Sinn und Interesse für die eigene alte Tradition fördern und heben mußte. Selbst wenn sie vorher schon da und dort geübt sein sollte, jetzt mußte die Sitte allgemein werden, bei den häufigeren Provinzialsynoden Bestimmungen früherer Versammlungen zu erneuern, aufzufrischen, wieder einzuschärfen und deshalb deren Beschlüsse, soweit sie für die auf dem Programm stehenden Fragen in Betracht kamen, vorzulesen. Die Möglichkeit dazu hatte man jetzt. Denn in der Sp besaß man ja auch die erste Sammlung der früheren Synoden der spanischen Kirche. Das Bestreben, ihren Text, und zwar im gleichen Wortlaut, in allen wirklichen Zentren zu besitzen, mußte sich notwendig geltend machen. Die päpstliche Kanzlei ist dem Wunsche nachgekommen. Wir besitzen Hss. der Sp, die erst nach der Vollendung der Dionysiana, nach dem Tod des Dionys aus dessen Arbeitshs. als Vorlage abgeschrieben sind. Nun war es ja verhältnismäßig einfach, auch in dem durch die mehrmals vorgenommenen Umarbeitungen mit ihren Verbesserungen, Zusätzen, Streichungen und Änderungen schwer lesbaren Exemplar den Wortlaut der ersten Neuredaktion des Grundtextes der ursprünglichen wörtlichen Übersetzung, der Sp, zu rekonstruieren. Und dennoch können wir in dem verhältnismäßig geringen Vergleichsmaterial, das uns die Ausgaben von Turner und Schwartz gerade für diese Frage zugänglich machen, an vielen Stellen den je nach der Persönlichkeit des Kopisten verschieden starken Einfluß erkennen, den nicht zum Text der Sp gehörende redaktionelle Änderungen auf den Sp-Text der Abschrift ausgeübt haben. Um vieles schwieriger mußte es sein, aus dieser Vielheit von Korrekturen den vom Autor gewollten endgültigen Wortlaut der »Dionysiana« festzustellen. So sehen wir in der Tat, daß eine große Anzahl von Kopisten bei dieser Aufgabe gründlich versagt hat. Ich rede hier nicht von der angeblichen Di. Es sind harmlose Schönheitsfehler, die in den ihr zugerechneten Hss. den Text der D entstellten. Nur eine im Bann der Tradition befangene Forschung konnte sie zu einer eigenen Redaktion

48

Einleitung

stempeln und dabei sogar die von ihr angeblich so gewissenhaft befolgte Methode zum allermindesten in einem kaum zu rechtfertigendem Ausmaß dehnen, um die als Vertreter der »Di« in Anspruch genommenen Zeugen als »Schwestern« in eine gemeinsame Familie zu bringen. Als D-Hss. bilden sie sozusagen das Parkett gleich nach den Sperrsitzen der Aktenüberlieferungen der Kanones von Chalcedon, die in ähnlicher Lage sind und mit gleichem Recht als Redaktion »Dia« hätten bezeichnet werden können. In der Treue der Wiedergabe, bzw. in dem progressiv wachsenden Abstand ihrer Texte vom Original, schließt sich diesen Kopisten und Kopien eine ganze Reihe von minderen Brüdern und Schwestern an bis zu den letzten Stehplätzen einer Galerie, die von dem Drama nur noch eine allgemeine Anschauung zu gewinnen und den einen oder anderen Passus des Textes ohne Zusammenhang zu erhäschen gestattet. Es sind die Gruppen der »Quesneliana«, der »Sanblasiana« u. ä. bis hinauf zu den »Gallica«, »Gallo-Hispana« usw. getauften »Mischlingen« — nicht etwa erst durch die Überlieferung verdorben, sondern Mischlinge von ihrem Ursprünge her. Die blutechten Vertreter der »Dionysiana« sind einmal die älteren Einzelkopien der D wie Λ, s, 1, a, j, m, r, dann aber die Vertreter der »Hadriana«. Die kanonistische Forschung hat auch sie als Abkömmlinge einer »Familia« ausgegeben. Sie hat damit sogar die kritische Geschichtschreibung verleitet, den Frankenherrscher Karl als den eigentlichen geistigen Urheber hinzustellen, der das ihm von Papst Hadrian I. überreichte königliche Exemplar huldvoll vervielfältigen lassen oder zur Vervielfältigung freigegeben habe. Ein Irrtum, der nur möglich war, weil man sich bei der Blutprobe allzu leicht zufrieden gab. Richtig ist, daß diese Hss. einander außerordentlich nahe stehen, daß nur wenige Beimischungen sie entstellen. Aber ebenso sicher gehen die Beimischungen in den »H-Hss.« nicht auf das königliche Exemplar zurück, sondern haben mit diesem den Ursprung gemeinsam : es sind Abschriften aus der gleichen Vorlage, aus der Hs. des Dionys. Daraus folgt aber weiterhin bei der genauen Vergleichung der »Hadriana«-Hss. mit den sicher vor ihnen aus der Urschrift entnommenen Abschriften, sodann durch Vergleich der nachhadrianischen, aus der gleichen Urschrift gefertigten

Einleitung

49

Überlieferungen, wie ζ. B. der »Bobiensis«, mit den vorhadrianischen Kopien, daß auch unter Papst Hadrian eine Bearbeitung der Dionyshs. vorgenommen worden ist, die der Abschrift des Königsexemplares voranging. Sie bestand nicht in einer erneuten selbständigen Redaktion des Textes, geschweige denn in einer nochmaligen Revision der Ubersetzung nach dem Griechischen, sondern nur in einer — ich möchte sagen — deutlichen Hervorhebung der für die endgültige Fassung in Frage stehenden Textteile und Verbesserungen. Das scheint aus den Vergleichen hervorzugehen. Dem scheint es auch zuzuschreiben zu sein, daß die Vertreter der sogenannten »Bobiensis«, Β und z, an zahlreichen Stellen übereinstimmend eine Korrektur aufweisen, bald im gleichen, bald im entgegengesetzten Sinne. Denn im Laufe der Zeit waren auch die für die Hadriana erneuerten Zeichen in ihrem Aussehen den ursprünglichen ähnlich geworden und damit eine Entscheidung zwischen ihnen schwierig. Man könnte den Einwand erheben, eine solche Auffassung mute doch den Kopisten, denen eine ähnliche Hs. als Vorlage hätte dienen sollen, fast Unmögliches zu. Allein, wer die erhaltenen Konzepte päpstlicher Schreiben kennt, aus denen doch auch tadellose und völlig korrekte Reinschriften hergestellt wurden, dem wird es durchaus nicht unglaublich vorkommen. Zudem lassen sich diese Dinge für die Zeit unmittelbar nach Dionys wie für die folgenden Jahrhunderte durch Hunderte von Tatsachen aus allen Teilen der kanonistischen Überlieferung beweisen. Als Märchen dagegen läßt sich positiv dartun, daß die handschriftliche Überlieferung als solche die notwendige Ursache fortwährender Verschlechterung der Texte gewesen sei. Wenigstens für die Zeit vom 5. Jh. an bis über das Ende des ersten Jahrtausends ist das sicher. Auch nach dieser Seite hin müssen wir in der kritischen Forschung von der Urschrift des Verfassers ausgehen, nicht von den erhaltenen Hss. Das graphische Gesamtbild der Originalhs. des Verfassers war die wirkliche Ursache der Verschlechterung. Wenn es oft scheinen mag, als wachse ihr graduelles Ausmaß mit der Zeit ihrer Dauer, so dürfte es sich im gegebenen Einzelfall um die Schwierigkeit handeln, die verschiedenen Überlieferungsreihen nach ihrem 4

Peitz-Foerster,

Exiguus-Studien

50

Einleitung

Verhältnis zur Urschrift und nach dem Zeitpunkt des ersten Ursprungs einer jeden aus dieser Urschrift zu trennen. Es ist leicht verständlich, daß eine Abschrift aus der gleichen Vorlage der Gefahr von Fehlern durch falsche Lesung der alten Schrift, durch geändertes Brauchtum in Kürzungen u. ä., durch materielle Verschlechterung der Vorlage selbst und dergleichen stärker ausgesetzt ist, wenn sie 300 Jahre nach dem Tode des Verfassers angefertigt wird, als wenn sie drei Monate nach seinem Hinscheiden von einem Zeitgenossen gemacht wäre. So sehr die Vielheit der Texte und der Reichtum ihrer erhaltenen Hss. eine Erschwerung der Untersuchung gerade der kanonistischen Überlieferungen nicht bloß zu bedeuten schien, sondern auch anfangs und durch lange Jahre tatsächlich bedeutete: schließlich war es nicht trotz, sondern gerade wegen der Fülle des Materials möglich, jene sich rasch vermehrenden und bald durch andere von ganz anderem Standpunkte aus gestützten Anhaltspunkte zu gewinnen, die allmählich zur Klarheit der Erkenntnis der Zusammenhänge und zur Sicherheit der Beweise verhalfen. Es seien nur einige Beispiele angeführt: Erstmals brachte der minutiöse Vergleich zwischen der kanonistischen Überlieferung der Paraphrase der Beschlüsse von Nicaea 325 durch Rufinus von Aquileja und deren Überlieferung in Rufins »Kirchengeschichte« den Nachweis, daß in der Urschrift, von der die gesamte Überlieferung der Kirchengeschichte abstammt, der Text der Paraphrase gar nicht stand, sondern statt dessen auf eine Kanoneshs. verwiesen war, aus der dieser Text vom Kopisten entnommen werden sollte. Diese Kanoneshs. aber war das Arbeitsexemplar des Dionysius Exiguus. Das bedeutete, daß auch die Urschrift unserer Überlieferung der »Kirchengeschichte« gleichfalls eine Hs. des Dionys war. M. W. das erste Beispiel, an dem wir nachweisen können, daß eine unserer literarischen Quellen, noch dazu »der erste kirchengeschichtliche Versuch des Abendlandes«, uns nur durch das päpstliche Archiv erhalten ist. Die Feststellung ist wichtig zum Vesständnis mancher Aussagen aus karolingischer Zeit, mit denen wir bis heute nichts anzufangen wußten. Noch mehr.

Einleitung

51

Ein Zeugnis des Dionys selbst zeigt uns, daß er den Text in Bruchstücken mehrerer Abschriften aus dem literarischen Nachlaß Papst Innocenz' I., eines Zeitgenossen Rufins, gefunden, d. h. also, daß er selbst ihn erst wieder hergestellt hat. Ein ähnlicher peinlich genauer Vergleich der Aktenüberlieferung der Kanones von Chalcedon mit ihrer kanonistischen Überlieferung ergab, daß auch in der dionysianischen Urschrift der Akten die Kopisten für den Text der Kanones auf die Urschrift der Kanonessammlungen verwiesen waren. Nun geht aber die gesamte, nach Schwartz in drei, in Wirklichkeit wenigstens in vier durchaus selbständigen, gegenseitig nicht beeinflußten Ästen, jeder mit mehreren Abschriften erhaltene lateinische Aktenüberlieferung auf Archetypi zurück, die spätestens 560, frühestens nach dem Tode des Dionys entstanden sind. Die meisten uns erhaltenen Abschriften sind wenigstens 400 Jahre jünger. Zeit genug, daß sich die Verschlechterung hätte bemerkbar machen können. In Wirklichkeit zeigen die erhaltenen Abschriften nur jene Textunterschiede, die sich schon in die Archetypi, und zwar nachweislich aus dem Arbeitsexemplar des Dionys, ihrer Vorlage, eingeschlichen hatten. Hinzugekommen sind auf dem Jahrhunderte langen Weg der Überlieferung nur ganz wenige und auf den ersten Blick erkennbare leichte Schreibfehler. Mit der selbstverständlichen Verschlechterung der Überlieferung als der naturgemäßen Folge handschriftlicher Vervielfältigung ist es also im ersten Jahrtausend nichts. Derselbe Vergleich erbrachte überdies den Beweis, daß die Grundlagen, auf denen Schwartz seine kritische Ausgabe der lateinischen Akten aufgebaut hatte, falsch war. Ein weiterer Vergleich dreier in den Akten erhaltener Kanonesentwürfe mit den entsprechenden vom Konzil umgearbeiteten Beschlüssen zeigte endlich positiv, daß das wirkliche Verhältnis der Überlieferungen zueinander genau das Gegenteil von dem ist, was der Herausgeber in seiner Ausgabe angenommen hatte. Was Schwartz als die jüngste Redaktion meinte erwiesen zu haben, ist tatsächlich die älteste und umgekehrt. In den Kanones von Sardica finden wir eine neue Bestätigung für die erwähnte Art des Dionys, Zitate nur durch Verweise auf seine Kanonessammlung zu erledigen. Zwei Kanones von 4*

52

Einleitung

Sardica, die Papst Zosimus 418 in einer Instruktion für seine Legaten nach Karthago wörtlich angeführt hat, werden auf der karthagischen Synode 419 verlesen und im vollen Wortlaut ins Protokoll aufgenommen. Dionys hat dieses Protokoll seiner Sammlung einverleibt. Aber wo der Text der zitierten Kanones stehen sollte, fanden die Kopisten nur einen Hinweis darauf, wo sie ihn in der lateinischen Kanoneshs. in der Gruppe der Kanones von Sardica zu finden hätten. Wieder war es der bis in die letzte Einzelheit durchgeführte Vergleich der Texte, der den unumstößlichen Beweis dafür erbrachte. Damit war die Bahn frei gemacht für die Wegräumung des schwersten Hindernisses zum vollen Verständnis und zur Erkenntnis der wahren Zusammenhänge. Als absolut zuverlässiger Ausgangspunkt aller Forschungen über die geschichtliche Entwicklung der kanonistischen Sammlungen hatten bisher die erwähnten Zitate einiger Kanones von Antiochia und von Nicaea auf dem Konzil von Chalcedon 451 gegolten. Der Wortlaut der Zitate wie die Art der Ausführung bildeten die feste, jedem Sturm gewachsene Stütze der bisherigen Anschauungen, den soliden, gewaltigen Eckstein ihres Fundamentes. Auch hier waren es die nüchternen Tatsachen, die der sichern Stütze ihren ganzen imaginären Wert nahmen. Wieder brachte der Vergleich der Zitate der Akten mit der Gesamtheit der Kanonesüberlieferungen den handgreiflichen Beweis, daß der vermeintliche Eckstein aus Granit nur papierne Fassade war. Auch in den Akten stand nicht der Text der zitierten Kanones, sondern nur der Hinweis auf ihren Fundort in der — Arbeitshs. des Dionys. Von da aus war es ein Leichtes, das ganze Geheimnis zu entschleiern, das bisher die kanonistische Forschung umgeben hatte. Diese Beispiele mögen genügen. Sie zeigen, glaube ich, deutlich genug, daß die vorliegende Arbeit für die ganze philologische und historische Text- und Quellenkritik neue Wege sucht, so sehr auch die kanonistische Überlieferung in den Vordergrund tritt. Wenn es aber gelingt, für die Geschichte der Kanonistik eine allen bisherigen Auffassungen diametral entgegengesetzte Darstellung auch nur in den wesentlichsten Punkten als richtig zu erweisen, so ist damit von selbst gegeben,

Einleitung

53

daß die methodischen Voraussetzungen und Anleitungen, nach denen wir bisher vorangegangen sind, nicht stimmen können. Die Glaubwürdigkeit und Sicherheit der im Vorausgehenden zusammenfassend skizzierten Darstellung mit all ihren weittragenden Folgerungen beruht nun, wie es schon aus dem Gesagten hinreichend einleuchten dürfte, wesentlich auf der Möglichkeit des unanfechtbar sicheren Nachweises, daß alle bekannten »Übersetzungen« der griechischen Kanones nur Bearbeitungen der ersten wörtlichen Übersetzung des Dionysius Exiguus sind, — Bearbeitungen, die der Verfasser selbst vorgenommen hat, — vorgenommen durch Änderungen und Verbesserungen an dem Grundtext seiner »wörtlichen« Ubersetzung in derselben Hs., in der die wörtliche Ubersetzung stand, seiner »Arbeitshs.«, — und daß diese Arbeitshs. allen Überlieferungen als gemeinsame Quelle und Vorlage zu Grunde liegt. Der Nachweis muß sich stützen auf Tatsachen, nicht auf bloße Annahmen und Voraussetzungen oder Erklärungsmöglichkeiten. Er ist zu erbringen aus den überlieferten Texten selbst. Dieser Beweis läßt sich erbringen. Zu seiner restlosen Durchführung wäre an sich erforderlich die genaueste Untersuchung und Vergleichung sämtlicher aus dem Griechischen übersetzten Kanonestexte in ihrer durch die Gesamtheit aller erhaltenen Hss. gebotenen Gestalt. So i s t er t a t s ä c h l i c h d u r c h g e f ü h r t worden. Die Absicht, ihn auch nur in einer genügend großen Auswahl aus dem gesamten Material vorzulegen, scheitert an der Unerschwinglichkeit der Kosten. Die Arbeit muß sich darauf beschränken, die aus den analytisch-synoptischen Tafeln unmittelbar abzulesenden Gegebenheiten der Überlieferung mit ihren Übereinstimmungen und Abweichungen der Worte, Wortformen und Wortfolge nach den Textzeugen zusammen zu stellen und aus diesen gegebenen Tatsachen die unabweisbaren Schlüsse zu ziehen. Ich glaube aber, daß auch auf diese Weise eine klare, wissenschaftlich fundierte Überzeugung gewonnen werden kann. Zum Verständnis der in den Tafeln gebotenen analytischsynoptischen Übersichten dürfte es beitragen, wenn ich kurz den Weg beschreibe, auf dem ich zu ihnen gekommen bin.

54

Einleitung

Die schon seit Jahren gewonnene Erkenntnis, daß zwischen »Dionysiana«- und »Prisca«-Überlieferung ein so enges Verhältnis bestehe, daß es durch keine auch noch so weit und ausgedehnt angenommene »Kontamination der Überlieferungen« wirklich erklärt werden könne, führte zur Einsicht, daß einmal nur ein schriftlich durchgeführter Vergleich der Texte genügenden Aufschluß ermöglichen könne, und daß das Problem aus der Sphäre der Uberlieferung in den Kreis der Entstehung und der Entwicklung der Texte zu verlagern sei. Schriftlicher Vergleich der Texte in Parallel-Spalten, auf Einzelzettel für jeden Kanon und schließlich für jeden Kanonteil ergab die Notwendigkeit, immer vollständiger die gesamte Einzelüberlieferung nicht nur der verglichenen Texte, sondern auch aller übrigen einzubeziehen. So gelangte ich zu der Feststellung, daß es sich nicht um Übersetzungen der verschiedenen Autoren handeln könne, daß vielmehr in den bisher als selbständige Übersetzungen aufgefaßten Texten nur Redaktionen eines und desselben Textes durch eine einzige Persönlichkeit, durch Dionysius Exiguus, zu sehen seien. Das Problem nahm die Form der konkreten Frage an: Wie ist Dionysius Exiguus bei den Bearbeitungen seiner Übersetzung vorangegangen und in welcher Folge hat er diese Bearbeitungen vollzogen ? Um diese Frage zu beantworten, war es erforderlich, die einzelnen Texte ohne Verlust des Zusammenhanges so aufzulockern und zu zerlegen, daß man gleichsam mit einem Blick durch ihre Gesamtheit hindurch zu blicken und dabei ihre innere Struktur genau vor sich zu sehen vermochte. Das griechische Original wäre gleichsam die Lichtquelle, deren Strahlen sich in den einzelnen Texten wie in eben so vielen Prismen brechen. Damit war die Grundidee für die Anlage der Tafeln gegeben. Der erste Teil der Frage war gelöst. Schwieriger war die Lösung des zweiten Teiles. Sollte man wirklich den Übersetzer in seiner Tätigkeit beobachten und verfolgen können, so mußten die verschiedenen Texte in der chronologischen Abfolge ihrer Entstehung in die Tafel eingereiht werden. Denn jeder einzelne Text war ja nicht mehr eine isolierte Größe, sondern nur der Querschnitt durch eine lange Zeit fortgesetzte Tätigkeit. Er setzte einen anderen Text voraus, aus dem er entstanden und —

Einleitung

55

außer D — einen dritten, in den er übergegangen war. Nur zwischen diesen beiden war sein Platz. Jede Verschiebung mußte das Bild von der Tätigkeit des Autors und ihrer Entwicklung verfälschen. Von Anfang an war damit die Norwendigkeit gegeben, die Feststellung der genetischen Abfolge der Texte für jede der in Frage stehenden Synoden neu vorzunehmen. Denn schon aus der früheren Forschung, zumal durch Maassen, war bekannt, daß in der größten Zahl der Hss. die Kanonestexte der verschiedenen Synoden verschiedenen »Übersetzungen« angehörten. Ja, diese Mischung fand sich sogar innerhalb der gleichen Synode und selbst innerhalb desselben Kanons. Bisher hatte man den gordischen Knoten durchschnitten. Folgte eine Hs. in einer Synode dem Text der »Prisca«, in einer andern dem der »Hispana«, in einer dritten der »Dionysiana«, so mußte halt die traditionsgeheiligte. Panazee der »Kontamination« im großen Stil herhalten. War damit auch keine wesentliche Erklärung geboten, so war es doch ein genügend geheimnisvolles Wort, das wissenschaftlichen Äthergeruch verbreitete. Daß man dabei in der Zuweisung der Texte zu den verschiedenen »Versionen« außerordentlich weitherzig vorgehen mußte, verschlug nicht viel. Wies etwa ein Kanon mit »Prisca«-text charakteristische »Dionysiana«-Elemente auf, so war das eben eine »Kontamination« im kleinen. Papier ist geduldig. Das Mittel zur Erkenntnis der richtigen Abfolge der Texte im Sinn ihrer Entwicklungen durch die redaktionelle Tätigkeit des Autors lieferte die Mischung von »Patientia infatigabilis« und »Experimentum continuum«. Es hat denn auch bei allen Synoden eine mindestens drei- bis fünfmalige Anlage der Übersichten über die meisten, manchmal über sämtliche Kanones erfordert, bevor ein brauchbarer Sinn erreicht war. Damit trat aber auch immer klarer das Wesen und Werden dieser Texte in Erscheinung. Man sah wirklich Dionysius Exiguus an der Arbeit. Nur mit Widerstreben wurde schließlich der anfangs für aussichtlos gehaltene Versuch gemacht, die gleiche Methode auch auf die in den Sammlungen überlieferten Dekretalentexte zu übertragen. Nach oftmaligen vergeblichen Versuchen führte endlich die mehrere Monate beanspruchende Durcharbeitung

56

Einleitung

der beiden Dekretalen, für die allein durch die einigermaßen kritische Ausgabe von H. Wurm hinreichende Angaben vorlagen, zu einem durchschlagenden, aber auch überraschenden und unerwarteten Erfolge. Es waren die Dekretalen Innozenz' I. »Consulenti tibi« und Leos I. »Ut nobis gratulationem«. Durch die genaue und sorgfältige Bearbeitung der Dekretale Leos verpflichtete mich Η. H. Ludwig Kaufmann aus Zürich zu besonderem Dank. Eindeutig ergab sich daraus auch für diese Dekretalentexte das Licht in der Entwicklung in drei Redaktionen durch den Autor der kanonistischen Sammlung Dionys. Das Ergebnis war um so wertvoller, als damit der positive Beweis geliefert war, daß diese Methode auch auf die Überlieferungen literarischer Texte restlos und mit Erfplg angewendet werden kann. Eine volle Bestätigung dessen lieferte inzwischen der befreundete hochgeschätzte Gräzist der Universität Salamanca, Prof. Dr. A. Tovar, der laut vorläufigen brieflichen Mitteilungen nach der gleichen Methode das von ihm gesammelte Material zur kritischen Ausgabe einer der Hauptschriften des Aristoteles neu untersuchte. Er fand dadurch eine die bisherigen Anschauungen über die Handschriftüberlieferung der Werke des Stagiriten völlig umstürzende, ganz sicher erweisbare Entwicklung der Überlieferung im Sinne der von mir für die kanonistischen Arbeiten des Dionysius Exiguus nachgewiesenen Resultate. Die in der vorliegenden Untersuchung behandelten Gegenstände, erschöpfen weder die Probleme der kanonistischen Sammlungen selbst, noch die mit ihnen zusammenhängenden Fragen geschichtlicher Forschung. Völlig beiseite gelassen wurden so ζ. B. die in den Sammlungen enthaltenen Symbole, die von Dionys beigefügten und bearbeiteten historischen Einleitungen, die verschiedenen »Capitula« oder »Tituli« mit ihrer mannigfachen Formulierung, Stellung und Anordnung, deren Bearbeitung allein schon einen vollgültigen Beweis für die Ableitung aller überlieferten Texte aus der Arbeitshs. des Skythenmönches als des einzigen Übersetzers und Bearbeiters liefert, und vieles andere. Unter den Fragen, die mit der kanonistischen Arbeit des Dionysius Exiguus in Verbindung stehen, sei beispielshalber

Einleitung

57

hingewiesen auf jene, die die Entwicklung des Bußwesens in der alten Kirche betreffen, die Büß- und Katechumenatsstufen, Probleme der liturgischen Überlieferung, dogmatische Streitfragen wie jene des Theopaschitenstreites usf. Auch auf die Folgerungen, die sich aus den neuen Aufschlüssen über Leben und Wirken des Dionysius Exiguus in scheinbar fernliegenden Fragen und Gebieten der historischen Forschung ergeben, sei nur kurz hingewiesen. Sie sind von enormer Tragweite und in ihren Ausstrahlungen vorderhand noch nicht zu überblicken. Ich erwähne die Bedeutung der Kanonessammlung für die mittelalterliche Latinität. Wörter, Wortformen, Wortverwertung in vorher unbekanntem Sinne gehen vielfach nachweisbar auf Dionys zurück. Gar manches Wort des mittelalterlichen, zumal kirchlichen Latein hat er gebildet, oder es ist durch Kopisten aus den weniger deutlichen mehrfachen Verbesserungen ihrer Vorlage, seiner Hs., geformt worden. Lehn- und Fremdwörter, die schon im frühen mittelalterlichen Latein Hausrecht besitzen, hat er zuerst eingeführt. Besonders wertvoll wäre es, scheint mir, wenn ein philologischer Fachmann durch sachkundige Untersuchung die Beobachtung bestätigen könnte, die sich mir während meiner langen Beschäftigung mit den Kanonestexten immer wieder aufdrängte: über die nahe Verwandtschaft der Sprache des Dionysius mit der der frühscholastischen Summen. Fraglos ist auch der Inhalt seiner Kanonesübersetzungen und die Deutung, die er in bester Absicht und mit voller Überzeugung von ihrer Richtigkeit den Dingen manchmal gegeben hat, von starker Nachwirkung gewesen. Das vorübergehend auch im Abendland eingeführte Chorepiskopenamt ist ein solches. Die Verselbständigung der kirchlichen Moralwissenschaft in Praxis und Lehre nimmt von ihm ihren Anfang. In einer dem Ursprünge und der Überlieferung der Kanones von Nicaea 325 gewidmeten umfangreichen Spezialuntersuchung hoffe ich darzutun, daß die Literatur der »Libri poenitentiales«, der »Bußbücher«, von der Sammlung des Dionys, wahrscheinlich sogar von ihm persönlich inauguriert ist. Für die von ihm zuerst aus kanonistischen Gründen vorgenommene Sammlung

58

Einleitung

von Papstbriefen und ihre chronologische Ordnung ist sein Beispiel maßgebend geworden. Auch in anderer Beziehung ist das Wirken dieses Wahlrömers für das geschichtliche Denken und Wissen der mittelalterlichen Nachwelt und in mancher sogar bis in die heutige wissenschaftliche Forschung hinein von Einfluß gewesen. Wir wissen, was der »Liber Pontificalis« als historische Quelle dem gesamten Mittelalter war. Unsere Kritik hat vermocht, ihn gründlich zu entthronen. Aber sie war nicht imstande, die Spreu in ihm vom Weizen zu sondern. Nur zögernd beginnt sie, auch das Echte in ihm zu erahnen. Ihr Befangensein in unzulänglichen Methoden und ihr Festhalten an irrigen Anschauungen über Dionys, sein Werk und seinen Kreis machte es ihr unmöglich, den Ursprung der Uberlieferung des »Liber Pontificalis« zu erkennen und damit die Grundlage zu seiner wahren kritischen Wertung zu gewinnen. Anderseits redeten wir von einer großen Sammlung afrikanischer Provinzialsynoden, einem »Corpus Canonum Ecclesiae Africanae«, von dem uns nur Trümmer in der Dionyssammlung erhalten seien. Und wir ahnten nicht, daß erst Dionys das gerettet hat, was wir von afrikanischen Synodalkanones wissen, und daß seine Versuche, sie zu scheiden und zu ordnen, das einzige sind, was jemals von dem sagenhaften »Corpus« bestand. Dagegen leugneten wir mit wissenschaftlicher Sicherheit, daß die Synode von Nicaea überhaupt schriftliche Protokolle geführt habe, obwohl Gelasius von Cyzikus bezeugt, sie gekannt zu haben. Dionysius hätte uns belehren können, daß er sie vor Augen und in Händen hatte, als er die Kanones von Nicaea ins Lateinische übertrug. Wir suchen krampfhaft zu ergründen, wie es möglich war, daß seit etwa 400 die römische Kirche eine allmähliche Anerkennung ihres Jurisdiktionsprimates durchsetzen konnte, von dem die zwei ersten Jahrhunderte nichts gewußt hätten. Und doch hätte ein kritisches Studium der Arbeiten des Skythenmönches uns zu überzeugen vermocht, daß die Anerkennung und Hochschätzung des universalsten Jurisdiktionsprimates Petri und seiner Nachfolger in der Kirche des Ostens wie des Westens das Primäre, die lange vor dem Nicänum festgewurzelte Uberzeugung war. Ja, wir finden unter den durch Dionys allein vor dem Untergang ge-

Einleitung

59

retteten und uns in seinen mannigfachen Sammlungen erhaltenen Dokumenten auch eines, dessen Bedeutung wir allerdings nicht gesehen haben, das uns eben diesen Jurisdiktionsprimat bereits im ersten Jahrhundert in höchster Geltung zeigt, als apostelgleich geschätzt und hochheilig gehalten. Wills Gott, so hoffe ich, darauf in einer eigenen Untersuchung zurückzukommen. Ich hielt es für ratsam, in diesem zusammenfassenden Gesamtbild auch wenigstens einige von den Aufgaben anzudeuten, die unserer Forschung auf neuen Wegen warten. Natürlich ist es unmöglich, in dieser sich auf das Wesentliche und Grundsätzliche beschränkenden Untersuchung auf diese Probleme einzugehen. Ein Menschenleben reicht nicht, eine solche Aufgabe zu bewältigen. Mögen andere fortsetzen, was zu tun bleibt: Es ist übergenug. Wenn es nur erst gelingt den Ballast zu räumen, den wir selbst wie eine unübersteigbare Wand vor uns aufgetürmt haben. Dann ist der Weg wieder frei, der Höhenweg ins Sonnenland der Wahrheit.

I. K a p i t e l

Die kanonistische Gesamtüberlieferung Ihre gemeinsame Vorlage — Ihr einziger Urheber Im Arbeitsexemplar des Dionysius Exiguus als des einzigen Ubersetzers und Redaktors die gemeinsame Quelle der gesamten kanonistischen Überlieferung der ersten Jahrhunderte nachzuweisen, soll die Aufgabe dieses Kapitels sein.

A. Die Dionysiana und die Gesamtüberlieferung Daß der Skythenmönch Dionysius, der Verfasser der .Dionysiana' sei, ist noch niemals bezweifelt worden. Als unumstößlicher Beweis dafür wurden die Widmungen angesehen, die uns in manchen Hss. gleichzeitig mit dieser Sammlung überliefert sind. Da auch andere Arbeiten von ihm ähnliche Widmungen enthalten, in deren Adressen er stets mit vollem Namen als Dionysius Exiguus zeichnet, hat Ed. Schwartz die Behauptung aufgestellt, nur die durch solche Widmungen beglaubigten Werke seien als Dionysiana anzuerkennen. Die Behauptung ist von der Forschung übernommen worden. Sie ist aber unhaltbar. Schon das Fundament, auf dem sie ruht, ist ein Irrtum. Die Widmungen, die als unumstößliche Beweise für die Autorschaft des Dionys an der seinen Namen tragenden Sammlung angesehen wurden, gehören überhaupt nicht zu jenen Redaktionen der Texte, mit denen sie in Verbindung gebracht werden. J a , die 'Di', die mit der 'Widmung!' gemeinsam entstanden sein soll, ist als reale Erscheinung, d. h. als überlieferter Text, nur das Erzeugnis der Irrtümer einiger Kopisten, als Begriffskategorie eine Legende der gelehrten Forschung. Gleichwohl steht die Autorschaft des Dionysius Exiguus an dieser Samm-

Die Dionysiana und die Gesamtüberlieferung

61

lung oder richtiger: auch an dieser Sammlung, fest. Der Beweis liegt in dem Zeugnis des Kassiodor: ' . . . fuit . . . nostris temporibus et Dionysius monachus, Scytha natione, sed moribus omnino Romanus, in utraque lingua valde doctissimus . . . Qui petitus a Stephano episcopo Salonitano ex Graecis exemplaribus canones ecclesiasticos moribus suis, ut erat planus atque disertus, magnae eloquentiae luce composuit, quos hodie usu celeberrimo Ecclesia Romana complectitur . . . A u c h dieser Beweis ist aber nur dann stichhaltig, wenn es gelingt, die Einheit der von Bischof Stephanus von Salona erbetenen Sammlung mit der von der römischen Kirche 'celeberrimo usu' übernommenen nachzuweisen. Die Widmungen selbst hätten nur dann Beweiskraft gehabt, wenn man hätte zeigen können, daß ihre Überlieferung samt der begleitenden Sammlung auf die Reinschrift des Widmungsexemplars zurückging. Nun hatte aber die Wissenschaft selbst das Material für den Nachweis bereitgestellt, daß die Quelle der Überlieferung nur die Konzepte, und zwar die korrigierten und mit Änderungen versehenen Konzepte des Verfassers gewesen sein können. Wenn sie aus Ähnlichkeiten zwischen einzelnen Angaben der Widmung und Eigenheiten der Sammlung den Zugehörigkeitsnachweis versuchte, übersah sie, daß dadurch höchstens eine Erklärungsmöglichkeit geschaffen wurde, neben der andere Möglichkeiten vielleicht mit viel berechtigteren Ansprüchen geltend gemacht werden durften. Nur Tatsachen, Wirklichkeiten, nicht Möglichkeiten können Tatsachen, Wirklichkeiten erhärten. Die uns zu Gebote stehenden Tatsachen sind in unserem Fall die überlieferten Texte in der Form, äußerer wie innerer, in der sie von jeder einzelnen Hs., nicht von einer kritischen Ausgabe geboten werden'. Aus ihnen müssen wir also unsere Nachweise entnehmen. i. Ant. 3 Ant. 3 verbietet den eigenmächtigen Übergang eines Angehörigen des Klerus von dem ihm zugewiesenen Amtssitz auf einen andern: εί . . . των του Ιερατείου Tis καταλιττών τήν έαυτοϋ παροικίαν είς έτέραν άττέλθοι, εττειτα παντελώς μεταστάς διατρίβειν . . . ττειρδται έττι πολλω χρόνω . . .

62

Die kanonistische Gesamtüberlieferung

D j j : s i . . . quilibet ex clero parrociam propriam deserens ad aliam properaverit, deinde omnino demigrans in alia parrocia per multa tempora nititur immorari . . . D j : si . . . quilibet ex clero parrociam propriam derelinquens ad aliam properaverit, dehinc omnino demigrans in alia paroicia per multa tempora nititur immorari . . . So der kritische Text Turners. Dessen Apparat verzeichnet für die einzelnenHss.: Λαβδκλ deinde omnino. Θ *deindemnino. Θ c o r r deinde omnino. s j Cr-w-e a dein omnino. Β * dein omnino. Β c o r r de his. 1 Dj dehinc omnino. m inde. Es handelt sich um lauter Abschriften der Dil bis auf die einzige Hs., die hier die angebliche D x überliefert. Bis auf diese sind folglich alle übrigen sicher aus einer einzigen Quelle, der Originalhs. der D I I ( abgeleitet. Woher dann die Verschiedenheiten ? Es handelt sich um ein einfaches Wort, und man wird kaum behaupten wollen, daß es zu Verlesungen besonderen Anlaß gegeben habe. Das um so weniger, als ein Vergleich des übrigen Kanontextes in D zeigt, mit welcher Aufmerksamkeit diese Schreiber gelesen, und mit welcher Sorgfalt sie geschrieben haben. Die Ursache dieser Häufung von Abweichungen kann auch nicht durch Kontamination erklärt werden. Außer D hat kein anderer Text für ε-π-ειτα -παντελώς auch nur annähernd Ähnliches: 8 'etiam omnino': Sp Q 'et ibi paulatim': Ga 'omnino'. Das 'deinde' ist also vom Übersetzer der D erstmals und von ihm allein an dieser Stelle gebraucht worden. Nicht seine schlechte Handschrift kann die Ursache der Fehler sein. Ebensowenig der Umstand, daß 'de-in-de' dieselbe Silbe zweimal verwendet. Wir finden zwar im Antiochenum nur dieses eine Mal 'deinde' gebraucht, können also einen positiven Gegenbeweis nicht direkt erbringen. Aber es gibt in Ant. 21 in D eine ähnliche Verbindung: 'nec inde': sämtliche Hss. überliefern sie tadellos richtig. Folglich bleibt nur eine Erklärungsmöglichkeit: die Art, wie der Übersetzer in der Vorlage das Wort gebildet hatte, muß die Ursache der Verzweigung der Abschriften sein. In fünf — B* eingeschlossen sogar sechs— Fällen ist das zweite 'de' ausgelassen, in einem Falle das erste 'de'. Es handelt sich um die verschiedensten, von einander ganz unabhängigen, sonst zuverlässigen Kopisten. Also kann in der Vorlage 'de' nur ein-

Die Dionysiana und die Gesamtüberlieferung

63

mal geschrieben gewesen sein. Ferner verbessert B, der zuerst 'dein' geschrieben hatte, nachträglich: 'de his'. Es muß folglich auch ein 'h' vorhanden gewesen sein, das erst bei wiederholtem Zusehen als maßgebend erkannt wurde. Überdies hat 1 mit Dj 'dehinc' gemeinsam, in dem zugleich das 'h' zu finden ist. Verbinden wir diese Spuren, so ergibt sich: der Verfasser der D hatte zuerst geschrieben: 'hinc'. Nicht 'dehinc', denn dann hätte cod. m nicht das 'de' ans Ende rücken können. Bei erneuter Überlegung fand der Verfasser 'hinc' ungeeignet. Mit Recht. Nach dem Zusammenhang hätte es statt temporal auch lokal verstanden und auf das nächstvorausgehende έτέραν (ιταροικίαν) bezogen werden können, wie es in 8 auch wirklich geschehen zu sein scheint. Mit 'de-in-de' war die Schwierigkeit behoben. Und dies war leicht herzustellen. In 'h-in-c' war schon '-in-' gegeben. Zur Tilgung von 'h' und 'c' genügte je ein Pünktchen. Zu ergänzen war ein 'de' mit einem Strich oder Häkchen und dem gleichen Zeichen über dem vorhandenen 'n': in' c: 'de-in-de' war fertig. Daraus konnten die Kopisten ihre sämtlichen Formen herauslesen, sogar Β sein 'de his'. Denn Β schrieb erst im Anfang des io. oder am Ende des 9. Jh.s. Es brauchte nur das Pünktchen unter 'c' etwas verblaßt zu sein. Da das Tilgungszeichen sowohl unter als auch über dem Buchstaben angebracht werden durfte, konnte das Verdoppelungszeichen auch als Tilgungszeichen angesehen werden. Vorerst stehen wir damit nur vor einer Möglichkeit der Erklärung. Sie hat das gleiche Recht wie jede andere, vielleicht etwas mehr, da sie aus den Tatsachen an Ort und Stelle abgeleitet ist, nicht aus irgendwelcher Theorie. Sie hat auch ihre Schwierigkeiten. Die DoppelVerwendung einer nur einmal geschriebenen Silbe kennt bis heute, soviel ich sehe, auch die Papyrologie nicht. Die Änderung von Wörtern unter Zuhilfenahme von Teilen und Buchstaben des schon vorhandenen Wortes scheint eine gewagte Annahme. Doch das sind Bedenken, die nur die Erklärung der Entstehung des Wortes in der Vorlage angehen. Daß in ihr eine Verbesserung stattgefunden hatte, bleibt Tatsache. Sie zeigt, daß die Vorlage der Überlieferung D jedenfalls Änderungen aufweisen konnte und nicht eine fehlerund fleckenlose Reinschrift war.

64

Die kanonistische Gesamtüberlieferung

Nun finden wir etwas später im gleichen Kanon bei D das gr. καλοΰυτι τω έτησκόπω wörtlich übersetzt: 'vocanti . . . episcopo'. In der Überlieferung treffen wir jedoch bei Θ a m die Form 'vocatus', die gar nicht in den Zusammenhang paßt. Zuerst hatte m etwas anderes geschrieben, es ist jedoch nicht zu erkennen, was. Die Hss. α δ schreiben: 'vocati'. In Β findet sich nach 'vocanti' die Rasur eines nicht mehr festzustellenden Buchstabens. Aus α δ dürfen wir schließen, daß das 'n' nur durch einen Kürzungsstrich angedeutet oder aber über 'a' geschrieben war. Wie kommen aber gleich drei gute Schreiber dazu, hier dieselbe falsche Form einzusetzen? Die Erklärung gibt der durch die Hss.θ J und die Gruppen ν und S vertretene Text θDort ist in anderer Satzkonstruktion καλοϋντι übersetzt mit 'evocatus'. Aber Hs. w schreibt: 'vocatus', und Hs. S hatte zuerst dasselbe, hat aber dann verbessert: 'evocatus'. Also i n 8 zwei Hss., die sich im Anfang des Wortes zu D hin verlesen haben, in D drei Hss., die sich umgekehrt in der Endung zu S verirren. Kontamination ? Im ganzen Kanon ist dies in 8 das einzige Beispiel. Und in D gleich sechs Verlesungen oder dreimal gleiche Kontamination, dreimal gleiche Verlesung? Es stehen sich nur Q und D gegenüber, denn Sp Q übersetzen das καλοϋντι nicht. Doch halt: auchGa hat es wiedergegeben, und zwar mit 'pro-vocaverit'. Sollte nicht hier die Lösung zu finden sein? 8 änderte 'pro-voca-verit' zu 'e-voca-tus', D machte daraus *voca-n-t-i'. Es würde allerdings fordern, daß die Änderungen für θ und D in derselben Hs. erfolgt waren, die Ga enthielt, und daß diese Hs. die Vorlage der Überlieferung D war. Man wird einwenden: α und δ in D gehören einer eigenen Überlieferungsklasse Η an, haben also mit β κ λ den gleichen Stammvater, auf den sie direkt zurückgehen. Von einer Verbesserung in einer gemeinsamen Vorlage als Erklärung für Fehler, die α δ gemein hätten, sei also unmöglich zu reden. Dasselbe gelte in erhöhtem Maße für die Hss. w und S, die gleich zwei verschiedenen Klassen angehören. Vorläufig können wir den Einwurf nur zur Kenntnis nehmen. Kurz vorher ist διατρίβειν in Ga S nicht übersetzt. Sp gebraucht dafür: 'per-manere',Q: 'communicare', D:-im-morari'. Nun haben aber die Hss. C Τ F in ihrem Text Q statt 'com-

Die Dionysiana und die Gesamtüberlieferung

ß5

municare' die Form: 'com-manere', d. h. sie haben die für Q neu eingesetzte Präposition mit dem alten Verbalstamm von Sp verbunden. Hier kann man nicht von natürlicher Verschlechterung der Überlieferung als Folge der handschriftlichen Vervielfältigung sprechen. Denn C und Τ gehören zu unsern ältesten Hss.: Ende des 6. bzw. 7. Jh.s. Auch die Ausrede auf Kontamination gilt nicht. Denn Hs. f, gleichfalls mit Text Q, schreibt: 'co-muni-re' und zeigt damit die Art, wie die Umwandlung von 'per-mane-re' zu 'com-muni-ca-re' zustande gekommen ist. Alle vier Hss. bezeugen mithin, daß sie in direkter Linie von jener Hs. abstammen, in der der Verfasser der Q seinen Text aus dem der Sp erarbeitet hatte. Das gibt aber eine starke Stütze für die vorausgehende Erklärung des Verhältnisses D : 8 : Ga in der Übertragung von καλοϋντι. Zugleich zeigt f, was von dem erwähnten Einwand bezüglich der Uberlieferungsklassen zu halten ist. F und f sollen mit einer dritten Hs. ff eine selbständige Klasse bilden. Turner will sogar wissen, daß ff der Ahnherr der beiden anderen sei. Leider ist die Lesart von ff an dieser Stelle nicht bekannt. Wollte man f selbst entlasten und einem seiner Vorfahren die Schuld am 'comunire' aufbürden, so wäre damit wenig geholfen. Ob f jun. oder f sen. diesem Bastard das Leben gab: in die Familie F gehören sie nicht hinein. Τ gibt etwas später noch eine Bestätigung seiner Provenienz aus einer Sp und Q gemeinsam umfassenden Arbeitshs. Denn παραινουν-π wird in Sp zu 'exhortatus', in Q zu 'exhortandus': Τ schreibt seelenruhig 'exhortatus'. Das griechische ίπτό κοινή* συνόδου hat in der Überlieferung der Übersetzungen eine merkwürdige Geschichte: Ga: 3 SV: cett.: Sp ed RpW: Ε: D: Y: Q Π Ύ V: — Ο: ΣΤ: j

in communi concilio a communione synodo (Y: commonione) consensu universo synodo a communi synodo communi synodo a commonion synodo (D* synodu) a communi synodo (Y* communioni) a communi synodo a communioni synodo (O* communione) a communione synodi

Peitz-Foerstet,

Exiguus-Studien

66

Die kanonistische Gesamtüberlieferung C:

a communionis synodo

Ff:

a communione synodo

A: B:

a communioni synodo a communione synodo (B* communi?)

D:

a communi synodo

Das spricht wohl für sich selbst. Im gleichen Zusammenhang hat D für griechisch έτπτιμίαζ τυγχάνει ν: 'coerceatur'. Aber Λ* hatte statt dessen: 'arceatur', und Λ2 verbessert: "quo-arceatur". Das 'arceatur' erklärt sich unmittelbar aus Q: 'ar-quatur'. Daß in der gemeinsamen Vorlage das guttural gesprochene 'c' in 'co-' von dem Syrer Dionys — (er war in früher Jugend aus seiner »skythischen« Heimat zur Erziehung nach Kloster Mabbug im Antiochenischen gekommen und dort später Mönch geworden) — als 'qu' geschrieben war, bezeugt eine Menge von Tatsachen in der Überlieferung. Β und Di bezeugen endlich noch im letzten Wort ihres Textes, daß ihre D-Vorlage zugleich die Q enthielt. B* hatte: 'constituta dissolvat'. Das war richtig. Trotzdem verbessert B 2 : 'const, dissolvens', denn 'dissolvens' hat Q mit Sp. Di schließt sich mit 'iura dissolvens' noch enger an Sp Q an. Waren alle Texte in der Vorlage der D enthalten, nicht nur Q und Sp, sondern auch Ga und so versteht man auch die Überlieferung der sog. Di in der Übersetzung von καταλπτών zu Beginn des Kanons. Alle Hss. der D außer Μ haben ohne die leiseste Variante: 'deserens', Μ aber sagt: 'derelinquens'. Ga und θ haben eben: 'derelinquens', und das hat der Schreiber Μ irrtümlich eingesetzt. Er konnte leichter auf den Gedanken kommen, dies sei das richtige Wort, da 'de-serta' aus 'derelinquens' gebildet war. Das zeigt die Hs. R im Text Sp. Sie verbindet den Verbalstamm 'de-relic-' mit der Endung '-ta' von von Sp Q 'de-ser-ta'. Allerdings muß der Übersetzer, bevor er auf 'de-ser-ta' verfiel, zuerst 'de-reli-c-ta' versucht haben. Ähnlich hat Sp für gr. ίπτομένοι: 'ob-oedi-erit', formell dem 'permans-erit' = έτπμένοι in Ga = ö angeglichen, aber graphisch aus dem entsprechenden 'audi-at' umgemodelt. Beweis: die Hss. R D Υ ρ W der Sp schreiben: 'ob-audi-at', und die Hss. mit Text Q: 'ob-oedi-at'. Aber unter den Vertretern von Q treffen wir Τ mit 'ob-oedi-erit'. Diese Verbindung der Elemente eines

Die Dionysiana und die Gesamtüberlieferung

67

und desselben Wortes in den verschiedenen Formen mehrerer Texte oder auch der Elemente verschiedener Wortstämme und verschiedener Endungsformen aus mehreren Texten in einer oder einigen Hss. im Gegensatz zu den übrigen Zeugen der gleichen Bearbeitung ist doch wohl ein sicheres Zeichen dafür, daß dem mechanisch arbeitenden Schreiber diese sämtlichen Elemente gleichzeitig an derselben Stelle vor Augen lagen. Er konnte sie nicht erst aus verschiedenen Hss. zusammenklauben. Das kam ihm nicht in den Sinn, und er hätte es auch nicht vermocht. Wohin hätte er sonst kommen sollen? Er hatte abzuschreiben, nicht zu formen. Und woher hätte er die Hss. nehmen sollen, alle mit verschiedenen Texten, von deren Existenz er ziemlich sicher nicht einmal eine Ahnung hatte ? Und wir sind bis jetzt nur mit einem einzigen, verhältnismäßig kurzen und einfachen Kanon beschäftigt. Dieser ist noch längst nicht ausgeschöpft. Es sei nur hingewiesen auf Sp cod. D 'perseveret' statt Ga Sp Q 'perseveraverit': θ 'permanserit', aber D 'perdurat' und D cod. Τ 'perduret'. Es ist ein Kennzeichen des posthumen Ursprunges von Sp cod. D. Eine andere beachtenswerte Erscheinung bietet sich in Di bei Wiedergabe von αταξία. Ga hat dafür: 'ibi'. Es dürfte wohl ein entsprechendes Wort in dem Originalprotokoll gestanden haben, das dem Übersetzer auch für das Antiochenum vorlag. & gebraucht: 'inquietudini'. Sp Q übergehen das Wort. In D wird übersetzt: 'indisciplinatione' nach dem variantenlos übereinstimmenden Zeugnis aller Hss. außer M. Diese aber bringt gleich zwei Übersetzungen: 'intemperantia et obstinatione'. Das beweist, daß in der Vorlage der D auch Übersetzungsversuche standen, die der Verfasser sich notiert hatte, die er aber in keine Bearbeitung aufnahm. Die Vorlage der D war im eigentlichsten Sinn des Wortes das Arbeitsexemplar ihres Urhebers. So kann es uns nicht verwundern, daß in ihr Μ für καθαιρεΐσθαι neben Ga 'deiciatur': S 'degradari': Sp Q 'deponi': D 'removeatur' auch sein 'abdicetur', für εχειν = Ga 3 Sp Q 'habere': D 'inveniat' auch sein 'accipiat' fand und aufnahm. Ich übergehe einige weitere Tatsachen, die in Ant.3 vorliegen und in dieselbe Richtung weisen. Wir sind wohl berechtigt, das Ergebnis der Untersuchung dieses Kanons in s*

68

Die kanonistische Gesamtüberlieferung

folgenden Sätzen zusammenzufassen: Die Vorlage der gesamten Überlieferung von D war die Arbeitshs. des Dionysius Exiguus. In ihr befanden sich auch die Texte θ SP Q, d. h. nachweisbar aus Ant. 3 alle Texte außer Ga. Diese Texte waren jedoch in der Arbeitshs. nicht etwa Abschriften vorhandener Übersetzungen, sondern Umformungen einer in ihr eingetragenen Übersetzung des Verfassers durch Umänderung und fortlaufende Verbesserung. Das beweisen die Kombination mehrerer Elemente verschiedener Bearbeitungen zu eigenen Bildungen in einzelnen Hss. verschiedener Texte, die Übernahme von Wörtern oder Wortformen aus anderen Bearbeitungen in den eigenen Normaltext seitens der verschiedensten, sonst außerordentlich zuverlässigen Kopisten, das Auftreten singulärer Übersetzungen in einzelnen Hss., besonders in der sog. Di, das Vorkommen von Doppelübersetzungen für dasselbe griechische Wort in der gleichen Hs., endlich das fast regelmäßige Zusammentreffen der Unregelmäßigkeiten der Überlieferung mit Stellen, an denen die Bearbeitung eines neuen Textes Wort- oder Formänderungen unter Benutzung schon vorhandener Wort- und Formelemente vorgenommen hatte. Es soll nicht geleugnet werden, daß manche Erscheinungen auch auf andere Weise erklärt werden können, ζ. B. die Übernahme von Worten aus einer anderen Bearbeitung in den eigenen Text seitens einzelner Schreiber durch Entlehnung aus Hss. anderer Überlieferung, durch 'Überlieferungskontamination', wie wir sie nennen wollen, im Gegensatz zu der hier beobachteten 'Ursprungskontamination'. Auch ist das Eindringen von Glossen in die Überlieferung als Erklärungsmöglichkeit gewiß nicht von vornherein und unbedingt abzulehnen. Aber die Erscheinungen sind in der kanonistischen Uberlieferung überaus häufig und in allen Teilen gleichmäßig. Dazu wird die Erklärung aus dem gemeinsamen Ursprung durch die Zusammenhänge in der Mehrzahl der Fälle zwingend als alleinberechtigt geboten. Wir müssen deshalb, zunächst für die kanonistische Überlieferung, die Forderung aufstellen, daß jede andere Erklärung der Unregelmäßigkeiten als jene aus der gemeinsamen Quelle der Gesamtüberlieferung, im Einzelfall als berechtigt und zutreffend zu beweisen ist. Wir haben es freilich

Die Dionysiana und die Gesamtüberlieferung

69

in der kanonistischen Überlieferung mit besonders günstigen Bedingungen zu tun. Ihrer Natur nach aber ist sie nicht verschieden von jeder anderen handschriftlichen Überlieferung, gleichviel welche Art von Texten sie enthält. Es ist deswegen nicht einzusehen, weshalb die gleiche Forderung nicht auch für jede handschriftliche Überlieferung erhoben werden müßte. Für die Sammlungen ergibt sich als erste Folgerung, daß es ein Grundirrtum war, wenn wir die Bezeichnung 'Dionysiana' auf die letzte Bearbeitung beschränkten. Sämtliche Texte zusammengenommen bilden die eine, wirkliche Dionysiana, jeder einzelne für sich stellt einen Querschnitt durch ihre Entwicklung dar. Dadurch wird es aber erst möglich, dem Gang dieser Entwicklung nachzuspüren und zugleich über Person und Tätigkeit des Skythenmönches neue Aufschlüsse zu gewinnen. Wissen wir, daß sämtliche Texte auf Dionys als Ubersetzer und Redaktor zurückgehen, so können wir diese Vermutung durch den Vergleich der verschiedenen Bearbeitungen untereinander und mit dem Griechischen in seinem uns vorliegenden Wortlaut voll bestätigen. Der griechische Wortlaut et δέ καΐ entspricht den lateinischen Übersetzungen erst von Sp an. Sp und ebenso Q und D beginnen mit 'quod si' einen neuen Satz. In Ga S dagegen ist dieser Satz mit dem Vorausgehenden verbunden. Das καΐ in den Worten et δέ καΐ hat in Ga θ die Bedeutung von 'und', ist also rein konjunktiv, in Sp Q dagegen die Bedeutung von 'sogar', ist also adversativ und steigernd. In D wird es ganz unterdrückt. Rein äußerlich war die vorgenommene Änderung im lateinischen Arbeitsexemplar des Dionys daran zu erkennen, daß 'quod si' als nachträglicher Zusatz über der Zeile stand. Nur so war es möglich, daß Sp cod. Ε das *si' sowohl vor als nach 'et' einfügen konnte: 'quod si etsi'. Die Änderung war nicht nur eine stilistische. Das zeigt die kurze Übersicht der Texte. Der Kanon ist gänzlich umgebaut. Für Ga und 8 schließt der erste Satz mit λειτουργεΐν. Die Mahnung des Bischofs und seine fruchtlosen Versuche, den Flüchtling zur Umkehr zu bewegen, gehören zusammen und bilden die Voraussetzung für die Sanktion. Und das ist ein logisch und rechtlich wohl sicher zutreffen-

70

Die kanonistische Gesamtüberlieferung

der Zusammenhang. Denn das 'numquam ministret' ist nicht Sanktion, sondern mit dem im ersten Teil charakterisierten Verhalten des Klerikers von selbst gegeben: er hat seinen Amtssitz dauernd verlassen, aber trotz seines gegenteiligen Wunsches im fremden Sprengel rechtlich natürlich keinen neuen erworben. Folglich kann er das an den zugewiesenen Ort gebundene Amt auch nicht ausüben. Sein Widerstreben gegen die Mahnungen seines Bischofs belasten ihn aufs neue und schwerer, weshalb als Strafe über ihn der Verlust des Amtes, die Unfähigkeit zu dessen Ausübung überhaupt, ausgesprochen wird. — Die in D enthaltene Auffassung bedeutet eine Milderung. Die Befugnis zur Ausübung des Amtes gilt als endgültig und mit Sicherheit erloschen, wenn der Heimatbischof zur Heimkehr mahnt. Es soll damit das eigenmächtige Verhalten des Klerikers nicht legalisiert werden. Deshalb ist mit der Änderung der Konstruktion der Zusatz von μάλιστα erst nötig geworden. Die lateinischen Texte zeigen noch die Spuren dieser Änderungen in der griechischen Vorlage. Ga θ kennen nur ein Verbum für die erste Mahnung des Bischofs, das sie übersetzen mit 'provocare monendo' bzw. mit 'evocare'. Q gibt dort, wo der gr. Text heute •τταραιυοΟν-π sagt, ein 'correptus', das schwerlich zu jenem paßt. Nach Ga gehört έττανελθεϊν . . . zu 'voluerit' (lies: 'noluerit'), während es in θ mit 'evocatus' verbunden ist und in D zu παραινοΰντι gezogen wird. Vor allem aber ist die Verschiebung in Sp zu beachten. Dort erscheint 'post evocationem sui episcopi' = καλοΰν-η τφ έτπσκόιτω τω ISfcp erst nach dem zweiten 'si', das schon zu 'quod si' ergänzt ist und das ursprüngliche "et" verdrängt hat. Durch Versetzung des 'non oboedierit' und Zusatz von 'sed' ist die Eingliederung in den neuen Zusammenhang geregelt. Das bedeutet aber, daß die Änderung vom Bearbeiter vorgenommen wurde und nicht etwa Sache der Abschreiber ist. Nun handelt es sich aber um Kanones eines Konzils. Dionysius Exiguus kann es kaum gewagt haben, aus eigenen Stücken so willkürlich mit ihnen zu verfahren. Zudem widerspricht es der ganzen Art seiner Arbeit, wie wir sie aus den Texten kennen lernen. Also muß er die Handhabe zu seinem Vorgehen in seiner Vorlage selbst gefunden haben. Diese war ein Protokoll mit verschiedenen Anträgen und Vorschlägen, doch ohne endgültige

Die Dionysiana und die Gesamtüberlieferung

71

Formulierung. Die Aufschlüsse, die uns die Kanones von Antiochien über die griechischen Vorlagen des Kanonisten Dionys bieten, stimmen mit dem überein, was wir darüber aus den Zitaten von Chalcedon erfahren. Das hat auch für unsere Kenntnis der Persönlichkeit des Dionys und seines Lebens seine Bedeutung. Die Protokolle der Synoden von Nicaea, von Antiochia, von Chalcedon konnten in Rom nur an einer Stelle zu finden sein: im päpstlichen Archiv. Hatte Dionys vom Beginn seines Aufenthaltes in der Ewigen Stadt freien Zutritt zu diesem Archiv, so kann seine Übersiedlung dorthin nur auf ausdrückliche Berufung durch den Papst erfolgt sein, — kann seine Tätigkeit als Sammler und Übersetzer der Kanones nicht einei rein privaten Initiative entspringen, wie man bis jetzt immer wieder mit Nachdruck betont hat, sondern war päpstlicher Auftrag. Man weist zwar auf 'Widmung I' hin, nach der ein 'carissimus frater Laurentius' und Bischof Stephan von Salona das Verdienst hätten, zur Übersetzung der Kanones angeregt und ermuntert zu haben. Man übersah, daß Dionys in derselben Widmung diese Übersetzung als eine 'Arbeit im Auftrag' — 'ingestum laborem' — bezeichnet, und daß die gleichen Komplimente außer Bischof Stephan auch ein unbekannter Bischof Petronius und andere Adressaten der Widmungen I und II erhalten haben. So ist die sog. 'Dionysiana' nach allen Seiten hin aufs engste mit den übrigen Überlieferungen äußerlich wie innerlich verknüpft. Wo immer wir ihren Wortlaut genauer studieren, werden wir darauf geführt, daß ein volles Verständnis ohne das gleichzeitige Studium aller übrigen Texte gar nicht möglich ist, daß ihre Überlieferung mit der Überlieferung aller übrigen zusammenhängt, daß unsere gesamte Kenntnis der in ihr enthaltenen Kanones auf die beiden Arbeitshss. des Dionysius Exiguus zurückgeht, die griechische als Quelle der griechischen, die lateinische als Quelle der lateinischen Überlieferungen. Es war notwendig, an einem Beispiel diese Tatsachen ausführlicher zu besprechen und dabei auch auf die weiteren Folgerungen hinzuweisen, die sich daraus ergeben. Mag die Darstellung dadurch auch schwerfälliger erscheinen und der Übersichtlichkeit entbehren. Es liegt in der Natur der Sache. Die Forschung hat

72

Die kanonistische Gesamtüberlieferung

ihre irrigen Grundanschauungen über die Entstehung und Entwicklung der Sammlungen in alles hineingetragen, was mit ihnen zusammenhängt. Darum wird es oft notwendig, auch Zusammenhänge zu berücksichtigen, die nur lose mit dem jeweiligen Fragepunkt in Verbindung stehen. Da es sich ferner um die Fundamentalfragen handelt, deren Lösung nach vielen Seiten hin neue Ausblicke eröffnet, schien es geboten, auf diese hinzuweisen. Gehörten endlich die Probleme der kanonistischen Uberlieferung wegen der Mannigfaltigkeit ihrer gegenseitigen Beziehungen zu den verwickeltsten Forschungsobjekten, so steigert sich diese Durchdringung des einen durch das andere und ihre gegenseitige Verflechtung, je stärker sich die Einheitlichkeit des Fragekerns in der verwirrenden Vielfalt der äußeren Erscheinungen verliert. Es dürfte jedoch möglich sein, die weiteren Belege in ihrer Bedeutung und Tragweite leichter zu erfassen, wenn man an einem Beispiel die gesamten Fragen durchgearbeitet hat. Im folgenden werden die wichtigsten Punkte, die bei Ant. 3 zur Sprache kamen, durch eine größere Anzahl von parallelen Belegen erhärtet. Daß es sich dabei nur um eine kleine Auswahl von Proben handelt, sei nochmals betont.

2. W e i t e r e Belege aus der ' D i o n y s i a n a ' In Chalcedon 2 lautet die Sanktion gegen den Bischof oder Kleriker, der sein Amt durch Simonie erworben hat, in D: * . . . sit alienus . . . dignitate, quam pecuniis quaesivit.' Die Hs. B* hatte zuerst: " . . . quam per pecunias acquisivit'. Dagegen heißt es in B 2 : 'quam per pecuniis acquisivit'. Schreiber Β spielt in der Forschung eine sonderbare Rolle. Er soll eine Hs. der 'Di' kopiert, aber häufig nach einer Hs. 'Dn' verbessert haben. Umgekehrt sind aber auch die Stellen nicht allzu selten, an denen eine Hs. 'Di' den Grund zur nachträglichen Verbesserung einer mit ' D u ' übereinstimmenden ersten Lesung gegeben haben soll. Außerdem soll noch eine Hs. der Überlieferungsklasse 'Hadriana' zu Korrekturen herangezogen sein. Man glaubte sogar herausfinden zu können, bei welcher Gelegenheit

Die Dionysiana und die Gesamtüberlieferung

73

und aus welcher H-Hs. diese Verbesserungen gemacht seien. Alle drei Arten von Korrekturen sollten ζ. T. von Β selbst, ζ. T. von einem Korrektor stammen. Wie immer es sich mit dieser letzten Behauptung verhalten mag: für die Sache selbst spielt es keine wesentliche Rolle, ob die Änderungen auf Β selbst oder auf einen gleichzeitigen Korrektor zurückgehen. Nur ein solcher ist hier in Frage. Wie steht es nun mit unserer Stelle ? Ohne Zweifel stimmt B* mit der nach dem Apparat von Schwartz durch sechs Hss. vertretenen Di überein. Wir können sogar mehr behaupten. Auch die Aktenüberlieferung Ch q>r bat 'acquisivit' wie Di, — allerdings verbunden mit 'pecuniis' = Du, während a codd. Β Ν. Alle übrigen schreiben 'ordinar-i'. Ordinar-e' haben sämtliche Zeugen von I . — I I I . Dagegen findet sich 'ordinar-e' in VI. bloß bei im Kanontitel, in V. bei ζ u im Kontext, bei Y z J im Indextitel, in IV. bei θ im Kontext. Also dürfen wir sicher sein, daß es in V I I . heißen muß: 'ordinar-i'. Denn für I . — I I I . ist 'ordinar-e' gesichert. Anderseits gewährleisten die Texte IV.—VII. mit Ch, daß Aktiv- und Passivform in der Vorlage standen, wo ursprünglich nur das Aktivum vertreten war. Die einzige Bearbeitung, durch die das Passivum hinzukommen konnte, war VII. Scheiden die Texte IV.—VI. auch als unmittelbare Zeugen der Entwicklung des Textes aus, so sind ihre Überlieferungen doch in doppelter Hinsicht von großem Wert. Einmal bestätigen sie die Beobachtungen und Schlüsse, die uns eine genauere Untersuchung der meisten Kanones aller griechischen Synoden der Sammlungen aufdrängen: daß nämlich die uns, wenn auch nur lückenhaft erreichbare älteste Gestalt der lateinischen Übersetzung bereits eine sehr intensive Bearbeitung durch den Übersetzer erfahren hatte. Zweitens aber gestatten sie uns durch ihre eigenen Überlieferungen den Nachweis, daß unsere neuen Auffassungen über Autor, Entwicklung und Überlieferung der Kanonessammlungen nicht vorgefaßte subjektive Ansichten und bloße Erklärungsmöglichkeiten darstellen, sondern das bedeuten, was etwa dem Chemiker seine Formeln geben: den sprachlichen Ausdruck für die in hunderten von Versuchen stets gleich beobachteten und durch Probe und Gegenprobe immer wieder kontrollierten und erhärteten Tatsachen. So seien analog auch hier die eine oder andere Gegenprobe aus den Überlieferungen IV.—VI. ausgeführt. Die Hs. V. Ρ beginnt den Kontext des Kanons erst von 'neque presbyterum' an, d. h. sie läßt die von den andern Vertretern derselben Fassung als Titel behandelten und durch besondere Schrift hervorgehobenen Anfangsworte des Kanons, 'nullum absolute liceat ordinari', einfach aus. Man denke nicht,

168

Die kanonistische Gesamtüberlieferung

Ρ habe die Ausführung der Titel eben dem leider weniger pflichttreuen und arbeitseifrigen Miniator überlassen oder dergleichen. Denn ob auch das Übergehen der Titel bei Ρ das Gewöhnlichere ist, so gibt es doch genug Beispiele, in denen auch er den Titel hinzufügt, gleichviel ob dieser eigens formuliert ist oder durch das Initium gebildet wird. So sind ζ. B. Chalc. 2, 4, 5, 9 die Titel ( = Init.) ausgelassen, in Chalc. 8 , 1 1 ( = Init.) hinzugefügt. In Chalc. 3, 7 , 1 7 sind die Titel (besondere Formulierungen) aufgenommen, in Chalc. 10, 12, 14, 16 die gleichartigen nicht. In Chalc. 10 fehlt der Doppeltitel eigener Prägung wie gleich dem Initium u. s. f. Auf die geistigen Qualitäten des Mannes und seine Befähigung zu selbständigem Denken wirft das kein sonderlich günstiges Licht. So hängt auch Chalc. 6 bei Ρ der ganze erste Satz des Kanons sinnlos in der Luft. Im zweiten Teil des Kanons, der Sanktion, setzt Ρ am Anfang des Satzes hinzu: 'quorum', fährt aber dann nicht wie die Kopisten J ν u fort: 'autem ordinatio, qui absolute . . . ' , sondern mit den Hss. S: 'qui vero absolute . . . ' . Woher stammt 'quorum' ? Wir finden es auch in IV. W: 'quorum autem ordinationem qui absolute ...', während die anderen Hss. IV. sagen: 'eorum a u t e m . . . ' , die Hss. V. J ν u: 'horum autem . . . ' . Also gleich drei verschiedene Versuche, von denen wohl 'quorum' als erster, 'horum' als zweiter anzusehen ist. Sie liegen alle drei vor I. F, dessen Auffassung sie teilen ('ordinatio' als Subjekt), dessen Formulierung jedoch als verbesserte, jüngste in den folgenden Bearbeitungen zu Grunde gelegt ist. — Ρ fährt fort: 'et munus quam posse minus dare ad ordinandis iniuriam'. Nun ja, einem Kopisten, der 'ministrare' als 'minus dare' verlesen kann, ist wohl verschiedenes zuzutrauen. Aber 'minus quam posse' haben auch S Ζ X z, und es ist bei ihnen ebenso unsinnig wie bei P, trotz ihres tadellosen 'ministrare'. Und S Ζ Χ ζ sollen Schwestern von Y sein, Glieder der gleichen angeblichen »Familie« S. Y sagt aber nicht: 'munus quam', sondern: 'munus nusquam'. Es gehört wohl nicht viel dazu, um die Herkunft dieser Weisheit zu verstehen. Y hat schärfer zugeschaut und entdeckt, daß in dem 'mu-nus-quam' seiner Vorlage '-nus-' mit einem Verdoppelungszeichen versehen war. —- Und nun warten die Hss. V. J ν u mit einer andern Lesung auf, die auch nur sie in ihrer Vorlage — mit dem Text

Die innere Entwicklung der Texte

169

IV.! — gesehen haben, und die sonst niemand kennt, auch die Hss. IV. nicht: 'in nullo' statt 'nusquam'. Die Hss. VI. R aber beweisen, daß ihre Vorlage statt 'posse' sage: 'possit*. Sie beweisen es. Denn dasselbe 'possit' hatte auch Ch φ 1 cod. R aus seiner Vorlage entnommen, wo alle andern Gi-Hss. mit denen von VII. 'posse' gefunden hatten. Daraus folgt aber notwendig, daß in der gleichen Vorlage auch eine Formulierung wie etwa 'constituit ut . . . sit' (oder: 'possit') gestanden haben muß, die von keiner einzigen Abschrift überliefert ist. Unsere Gegenprobe bestätigt uns also, daß in der Vorlage von Ch = VII., von VI., von V., von IV. mehrfache Veränderungen an diesen wenigen Worten vorgenommen waren, die dem Text I. vorausgingen, und daß diese so als wahre Arbeitshs. gekennzeichnete Vorlage die Originalhs. des Dionysius Exiguus gewesen ist. Aus ihr konnte VII. B* ebenso wie die Hss. VI. ihr 'esse' entnehmen, aus ihr B 2 die Verbesserung zu 'haberi', wo die Hss. VII. 1 j mit denen vonCh lasen: 'habere' u.s.f. Die Überlieferung von Chalc. 6 gibt aber zugleich nicht bloß den Familien der kanonistischen Überlieferung, sondern der ganzen Theorie der Hss.-Familien unserer kritischen Methode einen Todesstoß. Dagegen erweist der äußerliche Befund der Überlieferung in den Tatsachen, die die Gegenprobe ans Licht brachte, daß die in den Texten zu beobachtende innere Entwicklung gleichfalls nicht eine vermutete Erklärung, sondern eine objektiv vorhandene Wirklichkeit darstellt. Ein zweites Beispiel dieser inneren Entwicklung der Texte finden wir in Chalc. 16. Im folgenden beschränken wir unsere Untersuchung wieder auf den zweiten Teil des Kanons. VII. D meiner analytisch-synoptischen Übersicht beginnt mit dem Wort 'confitentibus', für das wir in der griechischen Vorlage auch beim besten Willen keine Spur zu entdecken vermögen. In den Hss. VI. und V. Gruppe S finden wir dasselbe. Die übrigen Hss. V. und die von IV. kennen es nicht, bringen jedoch eine andere Wendung, die ebenso wenig durch das Griechische gedeckt ist und inhaltlich das gleiche besagt: 'si velit eos reconciliare.' Sachlich entspricht dem auch in II. Sp ein dem Griechischen ebenfalls fremder Zusatz: 'si ita probaverit'. Wie

170

Die kanonistische Gesamtüberlieferung

steht es nun mit den »wörtlichen« Übersetzungen ? In III. findet sich nichts dergleichen. Um so mehr in I. Dort wird sogar das Hauptverbum des Griechischen, von dem der ganze erste Satz des Kanons grammatisch abhängt, ώρίσαμεν, vollständig übergangen. Alle anderen Texte kennen es: II. als 'statuimus', III. als 'definimus', IV./V. als 'praebemus' bzw. 'praebebit', VI./VII. als 'decrevimus'. In I. schwebt also der Satz in der Luft. II. und III. sagen: 'statuimus vero', alle übrigen, IV.—VII. mit Ch haben an zweiter Stelle die Konjunktion 'autem'. In I. lautet der Anfang des Satzes: 'paenitentes autem factae exomologesin facientes'. Offensichtlich stimmt hier etwas nicht. 'Paenitentes factae' ist doch nichts anderes als das latinisierte 'exomologesin facientes". Denn die εξομολόγηση war der Beginn der μετάνοια, der (öffentlichen) Buße, die darum auch selbst als εξομολόγηση bezeichnet wurde. Derjenige, der in Text I. die Latinisierung des Ausdrucks vorgenommen hat, hat dies genau gewußt, da er im Lateinischen 'paenitentes factae' schreibt, während es beim griechischen 'exomologesin' geheißen hat: 'facientes'. Aber weshalb dieses Hendiadyoin? Es ist vom Bearbeiter nicht beabsichtigt; sonst hätte er die beiden synonymen Ausdrücke irgendwie zueinander in Beziehung setzen müssen und nicht asyndetisch nebeneinander stellen können. Eben so wenig vom Übersetzer, der dafür nicht das Hauptverbum hätte preisgeben dürfen. Es kann nur auf Rechnung des Kopisten geschrieben werden, der 'paenitentes' als Ersatz für das Verbum ('statuimus'?), nicht für 'exomologesin' ansah. Praktisch heißt das nichts anderes als: 'paenitentes' war in der Vorlage über dem Verbum zwischen den Zeilen eingetragen. Die Vorlage von I. F war mit Sicherheit eine mit den Verbesserungen eines älteren Textes versehene Hs. Kommen wir auf D zurück. Das 'confitentibus' an der Spitze des Satzes in D ist nur ein Ersatz des 'paenitentes factae' durch den Bearbeiter Dionysius Exiguus, also der Ersatz eines Wortes, das weder im Griechischen noch in irgend einem anderen Text vorkommt außer in I., und auch dort nur als Abschrift der in der Vorlage nachträglich hinzugefügten Verbesserung für das griechische Fremdwort 'exomologesin'. Dionysius Exiguus hat also bei der Bearbeitung dieser Stelle, so können wir behaupten, den Text I. vor Augen gehabt.

Die innere Entwicklung der Texte

171

Aber wir müssen mehr sagen. 'Confitentibus' ist ein Ersatz für 'paenitentes', und ein besserer Ersatz, wie es nach den Umständen sein muß, nur mit Rücksicht und im Hinblick auf das Wort 'exomologesin'. Würde statt dessen etwa 'metanoian facientes' in I. stehen oder in der Vorlage von F und in der Vorlage des Bearbeiters von I. gestanden haben, so wäre 'confitentibus' nicht eine Verbesserung, sondern eine ausgesprochene Verschlechterung. Und weiterhin: hätte Dionys nicht neben 'paenitentes' gleichzeitig dessen Vorgänger 'exomologesin' vor Augen gehabt, er hätte gar nicht auf den Gedanken kommen können, hier eine Änderung vorzunehmen. Daraus ergibt sich logisch, daß Dionys bei Bearbeitung seiner D weder eine Hs. F noch eine andere Abschrift des Textes I. benützt hat, sondern die Original-Arbeitshs. des Bearbeiters von Text I., dem in dieser Hs. selbst schon eine frühere Übersetzung des griechischen Kanons vorlag. Und in diese nämliche Hs. hat Dionys seine Verbesserung 'conf-itent-ibus' eingetragen. Denn nur so war es möglich, daß eine der Hss. aus der angeblichen Familie S, nämlich ausgerechnet die »führende« Hs. S selbst, nicht das von Dionys aus 'paen-itent-es' verbesserte und von seiner weiteren Textgestaltung D geforderte 'conf-itent-ibus' einsetzt wie alle übrigen Schwestern der Sippschaft S, sondern: 'conf-itent-es'. Wir haben hier die Gegenprobe gleich bei der Hand. Daraus ergibt sich aber wieder mit zwingender Folgerichtigkeit, daß die Arbeitshs. des Dionysius Exiguus mit der Arbeitshs. des Bearbeiters von Text I. und der des ersten Übersetzers von Chalc. 16 identisch, daß Dionysius Exiguus dieser erste Übersetzer war. Und für die Richtigkeit dieser Folgerung — oder sagen wir richtiger: dieses sprachlichen Ausdrucks der beobachteten und offen vorliegenden Tatsachen — besitzen wir wieder eine unbedingt zuverlässige Gegenprabe. Denn Dionys bezeichnet sich selbst unter Umständen, unter denen er nur die volle und reine Wahrheit sagen durfte, gegenüber hochgestellten Freunden, auf deren persönliches Wissen und engstes Miterleben er sich direkt beruft — ja unter Umständen, unter denen eine falsche Behauptung oder auch nur ein Vertuschungsversuch für ihn selbst unangenehme und bedenkliche Folgen hätte haben müssen, gegenüber dem genau informierten Papst Hormisda in

172

Die kanonistische Gesamtüberlieferung

einem recht kritischen Augenblick — Dionys selbst bezeichnet sich offen und im Bewußtsein seiner Leistung als den Urheber der ersten Übersetzung der griechischen Kanones insgesamt wie der Kanones von Chalcedon insbesondere. Was können wir mehr verlangen ? Selbst wenn wir eine notariell beglaubigte Originalurkunde der Zeit besäßen, die uns die gleichen Dinge versicherte : wir müßten zuerst ihre Echtheit und Glaubwürdigkeit aufs genaueste prüfen und feststellen, bevor wir uns auf sie stützen dürften, —• prüfen größtenteils mit denselben Mitteln und auf die gleiche Art, wie wir es hier getan haben. Erst die Tatsachen gäben uns Sicherheit. Um andere mehr nebensächliche Punkte zu übergehen, sei noch kurz die Wiedergabe von φιλανθρωπία gestreift. In I. heißt es einfach: 'habere auctoritatem in earum humanitatem . . . epör' (!). Daraus wird in I I . : 'posse in eis facere humanitatem, si ita probaverit, loci episcopus'. Woher der Bearbeiter den Bedingungssatz genommen hat, ist zunächst nicht ersichtlich. Das Griechische hat nichts davon. Nach I I I . hat der »localis« 'episcopus auctoritatem in eosmisericordiae'. In IV. sucht man vergebens nach einer Übertragung: 'episcopo de hac re auctoritatem praebemus, si velit eos reconciliare'. Da nach dem Vorausgehenden die Gefallenen aus der Kirchengemeinschaft auf unbefristete Zeit ausgeschlossen waren, hat die dem Bischof — es wird nicht ausdrücklich der Ortsbischof genannt — übertragene Vollmacht zur 'reconciliatio' den Sinn der Wiederaussöhnung mit der Kirche und der Wiederaufnahme in ihre Gemeinschaft. Das ist gewiß an sich ein Akt von φιλανθρωπία, sogar der größte und höchste in diesem Fall ("de hac re'). Mit dem Griechischen hat es aber nichts zu tun, wenigstens nicht als Übersetzung. Geradezu mysteriös wir die Lage in V. Die Hss. der S-Gruppe überliefern einfach Text VI./VII. Aber J und Gruppe v! Ihr Text scheint zuerst Text IV. wiederholen zu wollen, aber es ist doch bei weitem nicht der gleiche. Der Unterschied liegt nur in zwei Worten. Statt IV.: 'episcopo . . . auctoritatem praebemus . . . " heißt es bei V. J v: 'episcopus . . . auctoritatem praebe-W . . . W e m der Bischof die Vollmacht erteilen wird, die Gefallenen wieder aufzunehmen, wird nicht einmal angedeutet. Ob das 'si velit' den vom Bischof Bevollmächtigten an-

Die innere Entwicklung der Texte

173

geht, oder ob es sich auf den Auftraggeber beziehen soll, ist nicht zu ersehen. Am allerwenigsten ist klar, wie sich dieser Text irgendwie mit dem Griechischen vereinbaren lassen könnte. Aus sich heraus, als Übersetzung des überlieferten griechischen Wortlautes, scheint es ausgeschlossen, diesen Text zu verstehen. Wir sind gezwungen, ihn mit der Version IV. gemeinsam zu behandeln. Daß ein Übersetzer das Wort und den Sinn des Wortes φιλανθρωπία bei der Durchsichtigkeit der Zusammensetzung und der Einfachheit der Einzelteile nicht irgendwie verstanden haben würde, scheint kaum annehmbar. Jedenfalls hätte er, selbst wenn ihm ein lateinischer Ausdruck für das auch im Neuen Testament und in der hellenistischen Literatur wie in den Papyri und in Inschriften oft genug vorkommende Wort nicht bekannt gewesen sein sollte, zur Umschreibung wohl nicht 'reconciliare' herangezogen. Überdies erweitert er ja willkürlich den Text der Vorlage durch den Zusatz 'si velit'. Die Wahl gerade dieses Ausdrucks: 'si velit eos reconciliare' setzt fast notwendig einen Wortlaut des griechischen Kanons zur Zeit der Entstehung der Texte IV./V. voraus, der auch von I. gefordert wird. Die Verwendung von 'exomologesin' in I. F und dessen nachträgliche Latinisierung sichert das Vorkommen des griechischen Wortes in der Vorlage zur Zeit der Entstehung und Bearbeitung von F. Zu einem vorausgehenden 'exomologesin = paenitentia' ist die ausdrückliche Bevollmächtigung des Ortsbischofs 'si velit eos reconciliare' die sinn- und sachgemäße Ergänzung. Schon bei Chalc. 6 gelangten wir zur Erkenntnis, daß die Texte IV./V. für diesen Kanon nicht eine neue Bearbeitung sein könne, die nach Entstehung von I.—III. vorgenommen sei, daß vielmehr IV./V. von Chalc. 6 in den zeitlichen Geltungsbereich von I., vor Bearbeitung von II. fallen müßten. Ja, wir glaubten, die Texte IV./V. als »prähistorisch« noch vor I. ansetzen zu dürfen. Das galt für die Texte IV./V. innerhalb der Überlieferung von Chalc. 6, soweit wir diese dort untersuchten. Gilt es auch für die gleichen Texte in Chalc. 16, soweit dieser hier zur Untersuchung steht, d. h. für dessen zweiten Teil ? Was die Formel 'si velit eos reconciliare' angeht, ja. Denn in I. ist

174

Die kanonistische Gesamtüberlieferung

diese Formel durch die andere Wendung mit 'humanitatem' ersetzt. Für den Anfang des Satzes gilt das Gegenteil. Text I. hat dort eine ältere Form aufgenommen und bewahrt als IV./V. Wir erkennen es einmal aus der Umstellung von 'episcopus' in IV./V. Das fand sich nach dem Doppelzeugnis von I. und I I I . , das durch II. verstärkt wird, wie im Griechischen so auch im Lateinischen bis zur Bearbeitung von VII. am Schluß des Kanons. Daß die Umstellung in den Abschriften IV. erfolgt ist, zeigt das bei derartigen Fällen in allen Hss. der kanonistischen Überlieferungen oft zu beobachtende Fehlen der das umgestellte Wort begleitenden näheren Bestimmungen, wie ζ. B. hier des 'eiusdem loci'. Daraus läßt sich auch der Unterschied zwischen IV. 'episcopo' und V. 'episcopus', sowie in I. die sonst ganz unverständliche Überlieferungsform 'epör' begreifen, die wenigstens eine Kürzungsform mit auslautendem '-o' voraussetzt. Das 'praebe-bit' in V. endlich beweist, daß auch diese Form in der Vorlage der Kopisten stand, daß also auch hier noch weitere Änderungsversuche vorgenommen waren. Über deren Art können wir jedoch höchstens Vermutungen anstellen. So ließe sich hier denken, daß das Subjekt zu 'praebe-bit' ein nicht bezeugtes 'synodus' gewesen sei. Eines geht aus all diesem hervor: der Text der Hss. V. S ist ein Mischtext, entstanden durch Benutzung einer Arbeitshs. als Vorlage, in der sowohl die Übersetzung des Kanons Chalc. 6 nach einem von dem überlieferten Wortlaut bedeutend abweichenden griechischen Text, als auch deren Umarbeitung nach dem uns bekannten griechischen Text enthalten war. Die Umarbeitung bestand in der an der früheren Übersetzung selbst vorgenommenen Verbesserung und Umformung. Sie war in verschiedenen Etappen erfolgt. Die Hss. S haben Teile verschiedener Etappen miteinander verbunden. Das gleiche gilt von den Hss. IV. — Die ursprüngliche Übersetzung aber hat auch auf die folgenden Bearbeitungen — Sp und D — noch maßgebend eingewirkt. Da der Urheber der D aber Dionysius Exiguus gewesen ist, muß auch die Arbeitshs., aus der die Texte und die Verbesserungen in die Überlieferung eingingen, seine Arbeitshs., muß der Übersetzer und Bearbeiter aller Texte Dionysius Exiguus gewesen sein.

Die innere Entwicklung der Texte

175

Auf eine anscheinend ganz bedeutungslose Variante sei noch aufmerksam gemacht, die geeignet ist, als weitere Gegenprobe für die Richtigkeit unserer Ausführungen zu dienen. In I. F lesen wir: 'paenitentes fact-ae'. Es handelt sich nicht um einen Kopistenfehler, obschon es nachher wenigstens in der Hs. ff heißt: 'e-o-rum'. Denn auch im ersten Teil des Kanons finden wir: 'invent-ae, excommunicat-ae'. Diesen weiblichen Formen in I. stehen in allen folgenden Texten, ζ. T. bei den gleichen Worten, die entsprechenden männlichen Formen gegenüber. Ist unsere Auffassung richtig, so müßten also diese Formen in II.—VII. ebenfalls auf Verbesserung aus den älteren weiblichen Formen in der Arbeitshs. zurückgehen. So ist es in der Tat. Die Übersicht der Texte zeigt uns zunächst den Grund. In I. fehlt das von II. an in sämtlichen Fassungen sich findende Wort 'monachis'. Das ist um so merkwürdiger, als gerade die Dionysiana VII. im Titel des Kanons nur hat: 'de virginibus', während VI. c Μ im Gesamtverzeichnis der Titel und VI. ^ im Kanontitel schreiben: 'de virginibus et monachis', genau so wie die Hss. V. (außer P) und IV. 3. Und in Sp lautet der Titel: 'de monachis vel puellis' ('de mon. puellis-que'). Aber noch mehr: wo die übrigen Texte die 'monachi' einführen in der Verbindung 'similiter et monachi' — genau nach dem Griechischen ώσαύτω$ δέ και μονάζοντα —, findet man bei I. nur ein isoliertes 'similiter', von dem man nicht recht weiß, was es dort will und soll. Also eine Folge der naturbedingten, durch die menschliche Armseligkeit der Kopisten verursachten Verschlechterung jeder handschriftlichen Überlieferung! Gemach. Die Sache verhält sich in Wirklichkeit umgekehrt. Chalc. 16 bildet in I. F mit dem vorausgehenden Kanon Chalc. 15 ein Ganzes, den »Kanon 15«. Dessen erste Hälfte, die von II. an allein als Chalc. 15 gezählt wird, handelt von gottgeweihten Jungfrauen, die durch feierliche Handauflegung in den Stand der Diakonissen aufgenommen sind, und verhängt über solche, die ihrem Gelübde durch Eingehen der Ehe untreu geworden sind, die Exkommunikation. Ihnen stellt die zweite Hälfte des Kanons, unser Chalc. 16, gegenüber die 'virgo quae se ipsam offert domino deo', also ohne die Weihe zur Diakonisse, und erklärt, auch dieser 'similiter' — wie der Diakonisse — 'non

176

Die kanonistische Gesamtüberlieferung

licere nubere'. Darum heißt es ganz richtig weiterhin: 'quod si inventae fuerint. . . n i c h t : "inventa fuerit', obschon im Text I. des Kanons 16 späterer Zählung nur von der 'virgo' — in der Einzahl — gesprochen war. Dem 'similiter' des ursprünglichen Wortlautes hat der Bearbeiter von II. mithin eine neue Bedeutung gegeben und es sehr geschickt zur Ergänzung des 'monachus' herangezogen. Damit haben wir die unzweideutige Bestätigung dafür, daß unsere Darlegung des Tatbestandes richtig war: Sp ist eine Bearbeitung von I., und nicht nur der Text der Übersetzung, sondern auch jener der griechischen Vorlage ist vom Bearbeiter der Sp umgeformt und ergänzt worden. Diese Bearbeitung ist aber in der Weise erfolgt, daß der Bearbeiter in seiner Arbeitshs. die notwendigen Änderungen als Verbesserungen am dort schon stehenden Text I. selbst vornahm. Wir brauchen nur den angesponnenen Faden konsequent weiter zu verfolgen, um durch unsere Gegenprobe auch hierfür die vollgültige Bestätigung zu erhalten. Wir sahen bereits: die Texte IV. und V. gehören ihrem Ursprung nach jener Entwicklungsperiode an, die der Entstehung von II. Sp vorausging, der gleichen, aus der Text I. stammt. Sie rechnen jedoch zum Unterschied von F Chalc. 16 als selbständigen Kanon, nicht als Teil von Chalc. 15. Sie kennen auch schon den zusätzlichen 'monachus', allerdings noch nicht in der genial einfachen Lösung des Problems seiner Einordnung, wie wir sie bereits II. Sp und von dort an allen Bearbeitungen eigen ist, — 'similiter et monachum' —, sondern in der umständlichplumperen Formulierung: 'eodem modo et mon.' Außer den Hss. IV. Q W bringen sie auch einen entsprechend erweiterten Titel: 'de virginibus et monachis.' Es ist natürlich auch da 'et monachis' ein Zusatz, der erst nach der Aufnahme des 'monachis' in den Kontext möglich war, eine Erweiterung aus der Zeit vor Entstehung der Sp. Lassen wir den Zusatz fort, so haben wir — den Titel von Chalc. 16 in VII.! Suchen wir auf dem Weg, den dieser erste Lichtstrahl weist, bis zur vollen Klarheit durchzudringen. Als Titel zum verselbständigten ersten Teil des ursprünglichen Einheitskanons bringt die Sp: 'de diaconissis mulieribus ut nisi quadragenarias non liceat ordinari', dagegen vor dem verselbständigten zweiten Teil Chalc. 16:

Die innere Entwicklung der Texte

177

'de monachis vel puellis' (cod. d: 'puellisque') 'deo dicatis quod non liceat eis nuptiis iungi'. In VII. D lautet der Titel zu Chalc. 15 im Gesamtverzeichnis wie an der Spitze des Kontextes: 'de diaconissis mulieribus', und ebenso in VI. vor dem Kontext, während es im Index nur heißt: 'de diaconissis'. Das besagt: Dionysius hat als Titel für Chalc. 15 einfach den gekürzten Titel übernommen, den der Bearbeiter von Sp ihm gegeben hatte. Weshalb nicht auch für Chalc. 16 ? Weshalb hier den noch nicht erweiterten Titel, den die Abschreiber von IV. θ und V. dem Text voranschicken, den sie aus dem Anfangsstadium der Entwicklung des Kanons vor Entstehen von II., jedoch unter Berücksichtigung der erst in II. vorgenommenen Teilung des Kanons zusammenbrauen? Die Antwort ist jetzt einfach. 'De virginibus' war der Titel oder wenigstens der Anfang des Titels des Einheitskanons 15 = Chalc. 15 + 16. — Und noch mehr. Der Bearbeiter von II. hat zuerst nicht nur den Anschluß des 'monachus' anders gedacht und in seiner Arbeitshs. formuliert: er hat auch den Eingang des verselbständigten Kanons Chalc. 16 neu geschaffen. Im Einheitskanon hatte es weder geheißen: 'virginem quae. . .', wie es jetzt in VII. und VI. lautet, noch: 'virginem se ipsam offerentem', wie man aus I. entnehmen möchte, sondern: 'nec eam . . . ' , wie IV. und V. Chalc. 16 beginnen lassen. Denn wir sahen, daß der Einheitskanon ohne 'monachi' nur das genus femininum kannte, dem erst der Bearbeiter das stilgerechte männliche Gewand anpaßte: I. 'invent-ae' : II. 'invent-i' : III. 'repert-i'; I. 'excommunicat-ae' : II. — III. 'excommunicat-i'. Nun finden wir in IV. Q θ : 'nec earn quae se . . . virginem devovit', bei IV. θ und V. außer Y 2 jedoch: 'nec eam qui se . .. virginem (de-)vovit'! Y 2 aber, der zuerst auch geschrieben hatte: 'eam qui', verbessert nicht etwa: 'earn q u a e . . . ' , sondern; 'ei q u i . . . ' , verwahrt sich aber zugleich gegen den Vorwurf, er, ein bloßer Kopist, habe hier aus eigenen Stücken dem Autor am Zeug geflickt, indem auch er seelenruhig fortfährt: 'qui se . . . vovit', nicht: 'voverunt'. Und das Allerschönste: VI. schreibt: 'virginem qui. . .'. Die ganze Entwicklung des Textes von der frühesten, für uns prähistorischen Gestalt bis zu ihrer letzten, endgültigen Form VII. hat sich abgespielt in einer und deriz

Peitz-Foerstcr,

Exiguus-Studien

178

Die kanonistische Gesamtüberlieferung

selben Hs., der Arbeitshs. des Dionysius Exiguus. Und als Nebenerträge: Die griechischen Kanones sind ebenfalls von Dionysius Exiguus formuliert und bearbeitet, also auch die griechische Vorlage ist sein Werk. Eine ältere, vordionysianische griechische Sammlung hat es nie gegeben. Die älteste lateinische Sammlung, die als Abschluß der redaktionellen Arbeit gedacht war und als endgültige Form der lateinischen Sammlung auch längere Zeit im Gebrauch der päpstlichen Kanzlei stand, ist die Hispana. Ihre außerordentlich treue und zuverlässige Überlieferung in den Hss. der Gruppe Sp geht auf mindestens zwei verschiedene Archetypi zurück. Die sog. »Quesneliana« ist keine selbständige Bearbeitung, geschweige denn eine selbständige Sammlung oder gar Übersetzung, vielmehr eine Gruppe von mehr oder weniger minderwertigen Abschriften aus der Originalhs. des Dionysius durch Kopisten, die ihrer Aufgabe nicht gewachsen waren. Um so wichtiger aber sind diese Hss. zur Erforschung des Entstehens des Gesamtwerkes und der Entwicklung seines Textes. — Auf einige Folgerungen für die Methodik der kritischen Textforschung werden wir weiter unten zurückkommen. Zu diesem Exkurs zwecks Klärung der den Texten IV. und V. innerhalb der Gesamtüberlieferung anzuweisenden Stellung zwang uns die konkrete Frage nach der Ubersetzung des φιλανθρωπίας in Chalc. 16. Ist das Gesagte auch nur ein Bruchteil dessen, was sich über die Stellung und den Wert der sog. Q samt Anverwandten ausführen ließe und einmal wird ausgeführt werden müssen, so geht doch schon so viel aus den obigen Darlegungen und Nachweisen im Vergleich mit dem, was schon früher bei Chalc. 6 gesagt wurde, hervor, daß das positive Urteil über den Text der Q bei jedem einzelnen Kanon verschieden lauten wird oder lauten kann, daß folglich der Text der Q für jeden Kanon gesondert in seinem Verhältnis zur Gesamtüberlieferung einschließlich des Griechischen untersucht werden muß. Für Chalc. 16 sind mit dem Gesagten die Hindernisse beseitigt, welche den sicheren Gang der Arbeit bedrohten, und wir nehmen den Faden unserer Untersuchung wieder auf, wo wir ihn auf S. 173 für einige Zeit mußten fallen lassen.

Die innere Entwicklung der Texte

179

Wir sahen, daß der Bearbeiter anstelle von 'humanitas' in III. θ für φιλανθρωπία eingesetzt hatte: 'misericordia'. In VII. verbindet er beide Übertragungen miteinander, wie es bei ihm sehr häufig auf allen Stufen seiner Tätigkeit beobachtet werden kann. Es ist allerdings nicht immer leicht festzustellen, ob diese Vereinigung zweier, früher einzeln verwendeter Synonyma zur Wiedergabe eines einzigen griechischen Ausdrucks auf den Bearbeiter selbst zurückgeht. Oft genug läßt sich im Gegenteil zeigen, daß vielmehr der Kopist der »Verbindungsmann« war. Ja, in einzelnen Fällen scheint es sogar, als ob eine fremde Hand erst nach dem Tod des Dionys in dessen hinterlassener Arbeitshs. die Verbindung hergestellt habe, so daß von da an die Doppelübersetzung in alle späteren Abschriften überging, denen sie als Vorlage diente. In Chalc. 16 können wir wohl sicher damit rechnen, daß Dionys selbst in seiner Schlußredaktion VII. 'misericordiam humanitatemque' gewollt hat. Dafür spricht zunächst, daß alle Uberlieferungen des Kanons in Ch so lesen. Sie sind aber die ältesten Zeugen, die wir für die Kanones von Chalcedon besitzen und beruhen auf Abschriften, die von ausgezeichneten, zuverlässigen Kopisten gemacht sind. Und sie sind unmittelbare Zeugen. Denn sie sind, wie wir schon früher sahen, aus der gleichen Vorlage entnommen, wie die kanonistischen Überlieferungen, eben aus der kanonistischen Originalhs. des Verfassers. Wir finden außerdem in der kanonistischen Überlieferung selbst alle Mittel zu einer gründlichen Gegenprobe. In VII. tr lesen wir nicht: 'misericordiam humanitatemque', sondern: 'misericordiam humilitatemque'. Die Hs.π gehört zu der angeblichen Familie H, d.h. sie soll abgeleitet sein aus dem von Papst Hadrian I. dem Frankenkönige Karl d. Gr. 774 überreichten, angeblich bedeutend vermehrten Exemplar der Dionysiana. Keine andere Hs. Η hat Ähnliches. Hs. ir stammt selbst aus der Wende vom 8. zum 9. Jh., ist also wenig mehr als eine Generation jünger als die Urschrift, von der sie abstammen soll. Mithin kann nicht so leicht der verschlechternde Einfluß der Überlieferung für die Sonderstellung von tt haftbar gemacht werden. Eine Verlesung ist bei ir kaum anzunehmen, dazu arbeitet er zu gewissenhaft und genau. Sollte der Grund in der Vorlage gesucht werden können ? Dann 12*

180

Die kanonistische Gesamtüberlieferung

müßte es sich dort um einen Fehler gehandelt haben, der korrigiert war. Alle hätten ihn bemerkt und vermieden, nur π nicht. Das wäre denkbar und möglich. Wir möchten jedoch wissen, was Tatsache, nicht was möglich war. Folgendes gibt uns Aufschluß: Auch die Hs. VII. ζ hat 'humilitatemque'. Wieder eine Tochter, die auf Abwege geraten ist. Denn ζ soll zur erlauchten Familie der Dionysiana Bobiensis gehören, die ihr Blut, wollte sagen: ihren Text, wie man behauptet, sogar durch erneute Verbindung mit dem griechischen Kanontext aufgefrischt haben soll. Die einzige Schwester Β kennt aber korrekt nur 'humanitatemque'. Also vielleicht ein zufällig gleiches Verlesen von π und z? Dazu ist das eine Schriftbild jedoch zu verschieden vom andern. Obendrein meldet sich auch VI. R und behauptet, 'humilitatemque' sei das Richtige, so habe er es aus seiner Vorlage entnommen, und VI. c gehören mithin, so schließen wir aus dem Vergleich der Lesung dieser Hss. mit der aller übrigen Hss., für die uns ähnliche Voruntersuchungen gleichfalls entsprechende Kenntnis ihrer Entstehung und Entstehungszeit vermittelten, zu den allerältesten Zeugen des Textes. Gleichwertig steht ihnen nur gegenüber φ*. Wir beobachten, daß der zeitliche Abstand zwischen φΓ c und Τ einerseits, den übrigen Zeugen außer φ" anderseits ein immerhin beträchtlicher ist, selbst Λ aus dem 7. Jh. eingerechnet. Wie kommt es nun, so lautet unsere erste kritische Frage, daß die ganze Masse der übrigen Zeugen einstimmig für 'auxili-o' spricht, die ältesten — außer φ" — für 'auxili-um'? Die Antwort muß gegeben, muß also gesucht werden. Wir müssen das Verhalten von q>r c und φ" gegenüber den übrigen Zeugen systematisch erforschen — in allen Kanones von Chalcedon, — bei den übrigen griechischen Synoden, — wir müssen φΓ, fu>erint' eine dieser Pluralformen, so w a r die natürliche Wortfolge des A n f a n g e s nicht: 'si episcopi', sondern: 'episcopi si'. E s ist nun eigenartig, daß alle z-Hss. mit der k-Überlieferung davorsetzen: 'placuit autem u t si', daß aber gerade innerhalb der k-Überlieferung auch eine andere Formulierung dieser Einleitung bezeugt wird, nämlich f ü r S p : 'et hoc placuit ut si'. ©k h a t nur :'placet ut si', und tk, das sonst zwischen der älteren F a s s u n g und Θ vermittelt, sagt bloß: 'si'. E s scheint also das Verhältnis vielmehr so zu liegen, daß S p 'et hoc placuit u t ' : 0 k ' p l a c e t ' : f j Q D 'placuit autem ut si' spätere Z u t a t des B e a r beiters der R V darstellen. Die Hss. f 2 haben die durchweg zu beobachtende Tendenz, ältere Fassungen herzustellen. Diese Ausführungen mögen auf den ersten Blick reichlich abstrakt und problematisch erscheinen. A b e r von einer andern Seite erhalten sie eine ganz unabhängige und beachtenswerte Unterlage. I n der Überlieferung von Sard. 7 finden wir nämlich bei γζ die Z a h l V I . Sie h a t nichts zu schaffen mit der Einteilung und Zählung der K a n o n e s selbst, obwohl die Hss. S Ρ Χ Y R Κ Μ

Sard. 7 und seine Parallelüberlieferung

363

gerade diesen Kanon als V I . zählen. Denn nach f k würde es sich u m Sard. 26 handeln. Zudem folgt in den A k t e n von K a r t h a g o später noch ein zweites Zitat, Sard. 17, bei f k als c. 36 gerechnet. A u c h hier erscheint die Bezeichnung X I V in Gr und t. Aber wir können sicher beweisen, daß es sich bei f z auch in diesem Falle nicht um die Übernahme dieser Kanonzählung handelt. Denn in γζ sind sowohl die Angabe V I bei Sard. 7 wie die A n g a b e X I V bei Sard. 17 zwei am richtigen Platz eingereihte Größen einer fortlaufenden Zahlenreihe. So folgt die Angabe V I bei Z. 74 des Turnerschen Abdrucks der A k t e n auf Z. 60: 'V Commonitorium', und es schließen sich ihr an: Z. 102: ' V I I Alypius', Z. 1 4 1 : "VIII Faustinus', Z. 1 6 1 : ' I X Aurelius', Z. 170: ' X Universum concilium', Ζ. 172: ' X I N o v a t u s ' , Ζ. 182: ' X I I Aurelius', Ζ. 185: ' X I I I Danihel notarius', Z. 1 9 1 : ' X I V Osius' u . s . f. E s handelt sich also um eine Einteilung der karthagischen A k t e n in einzelne, fortlaufend gezählte Abschnitte. Diese Einteilung und Zählung ist uns, soweit bis heute bekannt, nur in der Hs. f z erhalten. Ihr Urheber aber ist Dionysius Exiguus, der sich das in W i d m u n g II ausdrücklich zum Verdienst anrechnet. E s ist zu unterstreichen, daß diese dionysianische Einteilung und Zählung ausgerechnet durch eine Hs. überliefert wird, die mit den vermeintlich einzigen »dionysianischen« Texten D gar keine Berührung hat. Mit dieser Feststellung gewinnt der Zusammenhang der beiden Zahlangaben in γζ eine neue Bedeutung. In Sard. 7 heißt es nach γζ: 'VI. placuit autem ut . . . ' , in Sard. 17 dagegen: ' X I V osius episcopus dixit . . . " In γζ folgt mithin bei V I unmittelbar der für ζ typische A n f a n g des Kanons nach dem Präskript, bei X I V hingegen der in Sard. 7 für die k-Überlieferung charakteristische A n f a n g mit Präskript. Nun ist das Merkwürdige, daß diese Einbeziehung des Präskripts in die z-Überlieferung wie bei k sich in Sard. 17 bei allen z-Hss. findet. Die Verschiedenheit des Kanonanfangs im Zitat der A k t e n rührt mithin nicht von den Kopisten her: sie ist von ihnen aus der Vorlage übernommen. Diese Vorlage war jedoch für alle Kopisten in Sard. 17 genau so einheitlich wie in Sard. 7. Der Grund der Verschiedenheit kann also auch nicht die Vorlage an sich gewesen sein.

364

Die Vorlagen des Dionys: Sardica

D a s l e t z t e W o r t in der F r a g e h a t die H s . Yz. A u c h dieser Z e u g e f ü r ζ h a t eine eigenartige Z a h l e n a n g a b e z u beiden Z i t a t e n , S a r d . 7 w i e Sard. 1 7 , allein erhalten. I n Sard. 7 s c h i c k t Υ ζ d e m I n i t i u m des K a n o n s ,

' p l a c u i t a u t e m u t ' , die Z a h l I v o r a u s .

In Sard. 1 7 s u c h e n w i r eine e n t s p r e c h e n d e A n g a b e v o r d e m A n f a n g des K a n o n s v e r g e b l i c h . A b e r n a c h d e m ersten S a t z des K a n o n t e x t e s in Sard. 1 7 h a t l a u t e t also b e i Y z :

pz die Z a h l I I . D e r K a n o n S a r d . 17

'osius episcopus d i x i t :

quid me moveat

a d h u c , reticere n o n debeo. I I . si episcopus . . . D e r erste S a t z des K o n t e x t e s e n t h ä l t m i t h i n eine rein s u b j e k t i v

gehaltene

M o t i v i e r u n g des A n t r a g s t e l l e r s f ü r seinen A n t r a g . U n d dieser S a t z ist in der a - Ü b e r l i e f e r u n g v o n allen Hss. a u s g e l a s s e n : sie b e g i n n e n u n m i t t e l b a r : 'si e p i s c o p u s . ' D i e Z a h l I I s t e h t m i t h i n in γζ dort, w o n a c h der Ü b e r l i e f e r u n g a d a s Z i t a t v o n S a r d . 17 b e g i n n e n soll u n d in allen a-Hss. t a t s ä c h l i c h b e g i n n t . D i e Z a h l e n b e z i e h e n sich folglich auf die Z i t a t e u n d b e z e i c h n e n Sard. 7 v o n 'placuit a u t e m u t ' a n als Z i t a t I , S a r d . 17 v o n 'si e p i s c o p u s ' a n als Z i t a t I I . D i e s e A r t der A n g a b e ist a b e r in W i r k l i c h k e i t in S a r d . 1 7 n u r f ü r die a-Hss. m a ß g e b e n d g e w o r d e n , w ä h r e n d die z-Hss. s a m t u n d sonders einen v e r s c h i e d e n e n E i n s a t z des Z i t a t s b r i n g e n , also i n s g e s a m t a m F u n d o r t des T e x t e s , in der G r u p p e der sardizensischen

Kanones,

die e n t s p r e c h e n d e

Anweisung

g e f u n d e n h a b e n . D a s b e w e i s t d u r c h s c h l a g e n d , d a ß der v o l l e W o r t l a u t w e d e r in d e n A k t e n n o c h i m Aureliusbrief s t a n d , d a ß in diesem die Stelle, w o d a s Z i t a t z u b e g i n n e n h a t t e , m i t I I , b z w . m i t I b e z e i c h n e t , i m ü b r i g e n a b e r auf die K a n o n e s t e x t e v e r w i e s e n w a r , w o n a t ü r l i c h diese Z e i c h e n ebenfalls s t e h e n m u ß t e n u n d n a c h Yz standen.

Hätten

die A k t e n

dieselben

Z e i c h e n e n t h a l t e n , so w ü r d e in der z - Ü b e r l i e f e r u n g v o n S a r d . 1 7 der K a n o n gleichfalls erst mit 'si e p i s c o p u s ' beginnen. W e l c h e s Z e i c h e n s t a t t dessen in den A k t e n v e r w e n d e t w a r , l ä ß t sich a u s einem a n d e r n U m s t a n d erschließen. D i e Hs. t k schließt

in

S a r d . 7 m i t k d a s P r ä s k r i p t ein, b e g i n n t a b e r den K o n t e x t m i t 'si e p i s c o p u s ' wie a. A l s o m u ß w o h l dieses 'si e p i s c o p u s ' irgendwie h e r v o r g e h o b e n gewesen sein. N u n ist v o n Sard. 17 n u r die erste H ä l f t e als Z i t a t in d a s C o m m o n i t o r i u m des Z o s i m u s u n d folglich in die A k t e n v o n K a r t h a g o u n d in d a s S c h r e i b e n des Aurelius aufgenommen.

In der z - Ü b e r l i e f e r u n g mit

einziger

Sard. 7 und seine Parallelüberlieferung

365

Ausnahme der Hs. bbz wird am Schluß beigefügt: 'et cetera'. Für das Schreiben des Aurelius wäre dieser Zusatz ebenso berechtigt, aber in der a-Überlieferung findet er sich nicht. Also muß wohl für die z-Hss. ein Verweisungszeichen verwendet worden sein, das die Kopisten verleitete, Präskript und Motivsatz als zum z-Text gehörig, das 'et cetera' dagegen als dem a-Text fremd anzusehen. Am ehesten läßt sich wohl annehmen, daß als Merkzeichen für die Kopisten in den Akten eine Linie angegeben war, die den Text am Rand begleitete und unten in eine Kürzung für 'etcetera' auslief. Im Kanontext war die entsprechende Vertikale etwas zu hoch eingesetzt: die Kopisten von ζ betrachteten Präskript und Motiv als zugehörig, die Kopisten von a hielten das 'etcetera* für ausschließliche Eigentümlichkeit von z. Aus dem vorliegenden Tatbestand erhält aber auch die oben geäußerte Vermutung eine neue Stütze, daß der Anfang von Sard. 7 in der V R ganz anders gelautet habe, als wir aus der Überlieferung, wie die Hss. sie uns erhalten haben, schließen sollten. Tatsächlich dürfte das 'placuit autem ut' wie das 'et hoc placuit ut' der Sp, das 'placet ut' in 9k und die Schlußsentenz in tk erst den Bearbeitungsversuchen des Dionys ihren Ursprung verdanken, ebenso aber auch die Umstellung 'si episcopus', während die V R geschrieben haben dürfte: 'episcopi si Sehen wir in der Herstellung des vom Autor gewollten Textes das Ziel einer kritischen Ausgabe, so müßten wir den — von vornherein aussichtslosen—Versuch unternehmen, für die z-und a-Überlieferung beider Zitate den Wortlaut der V R herzustellen. Wenigstens aber müßten wir uns entschließen, sowohl in Sard. 7 wie in Sard. 17 die z-Überlieferung erst mit 'si episcopus' beginnen zu lassen. Das gegenteilige, wenn auch übereinstimmende Zeugnis der Hss. bildet kein Hindernis, da es auf einem durch die gemeinsame Vorlage bedingten Mißverständnis der Kopisten beruht. Für die Rezension eines 'textus authenticus' aber dürfte die k-Überlieferung überhaupt nicht in Frage stehen, selbst wenn sich eine solche Rezension rechtfertigen ließe. Was Turner unter irrigen Voraussetzungen und mit ungeeigneten Mitteln unternahm, war in Wirklichkeit nichts anderes als der

366

Die Vorlagen des Dionys: Sardica

Versuch, die V R wiederherzustellen. Dieser aber ist, wie gesagt, mit den uns noch zu Gebote stehenden Überlieferungen aussichtslos. Diese aus einer allgemeinen Übersicht über Sard. 7 in seiner dreifachen Überlieferung gewonnenen Bestätigungen und Ergänzungen der früheren Ergebnisse in betreff des Ursprungs unserer kanonistischen Texte sollen im folgenden durch die Untersuchung einzelner Stellen des Kanons noch weiter geklärt und gestützt werden.

2. S a r d . 7: U n t e r s u c h u n g e i n z e l n e r S t e l l e n Gleich die ersten Worte des Kanons verdienen noch einige weitere Ausführungen. Wir gehen aus vom Text t k : 'osius episcopus dixit: si appetitus episcopus aliquis et accusatus fuerit, ut congregati episcopi regionis ipsius de gradu eum suo removeant et appellationis usus auxilio videatur ad beatissimum aecclesiae romanae episcopum convolasse Hier verbindet tk mit dem für a charakteristischen Initium "si . . . " (ohne 'placuit . . . ' ) das für k charakteristische Praeskript, das von 0k ergänzte 'appetitus', ändert jedoch dessen Stellung, wie auch das von 0k aus dem Gr hinzugefügte 'quis' zu "aliquis", geht mit "et accusatus fuerit' wieder zu dem T e x t der älteren Übersetzung über, wobei selbständig das 'vel' von 0k zu 'et' umgeformt ist, mit 0k wird das im Gr fehlende 'iudicaverint' und demgemäß auch das folgende 'et' übergangen dagegen mit 'episcopi regionis ipsius' erneut der alte Text zur Geltung gebracht, um in 'removeant' eine Reihe von selbständigen Formulierungen zu beginnen. In diesem kurzen T e x t liegt mithin ein buntes Mosaik aus kleinen und kleinsten Steinchen vor: V R + a + 0k + t + V R + t ('ut') + V R + t. Aus getrennten Einzelvorlagen wäre ein solches Vorgehen des Bearbeiters kaum verständlich. Bildeten dagegen V R und deren Bearbeitung in 0k, bildeten die Überlieferungen k, ζ und a in der Vorlage eine Einheit, so erscheint das Vorgehen des Bearbeiters von tk nicht mehr erstaunlich.

Sard. 7 und seine Parallelüberlieferung

367

Das griechische συναθροισθέντες oi έττίσκοι της ενορίας της αύτη; hatte Qk mit 'collecti episcopi finium suorum' wiedergegeben. Er hat also statt TFJS Α Υ Τ Ή ; offenbar gelesen oder eingesetzt: CCÜTOO. Wenn tk mit den übrigen Hss. dafür 'ipsius' gebraucht, ist die Möglichkeit nicht abzuweisen, daß auch sie im Griechischen αύτοΟ vor Augen hatten, denn die gegebene und naheliegende Übertragung fürτής αύτής wäre: 'eiusdem'. Nun überliefert bbk noch eine andere Übertragung: 'illius'. Es wäre sehr bequem, darin eine bloße Verlesung zu sehen, wenn nur eine Ähnlichkeit zwischen 'ps' und '11' in irgend einer Schriftart eine Möglichkeit dazu böte. Auch eine lautliche Verwechslung liegt nicht eben nahe. Umgekehrt ließe sich leicht verstehen, daß das Griechische an dieser Stelle in der Vorlage des Übersetzers eine Bearbeitung erfahren und so den Übersetzer zu verschiedenen Übersetzungen oder Änderungen veranlaßt hätte: έκεί-ν-ης : αύτ-oö : τ · (αυτ-). Die Wahl des griechischen Ausdrucks ένορίας in diesem Zusammenhang ist bezeichnend für die Zeit des Sardicense, in der die Metropolitanverfassung auch im Osten sich noch keineswegs restlos durchgesetzt hatte. Die Wortverbindung 'episcopi regionis ipsius' hat in der handschriftlichen Überlieferung eine merkwürdige Verwirrung angerichtet, zumal innerhalb der D. Alle Dz-Hss. ergänzen nach 'episcopi' die Kürzung 'sei' (Az, sz, az, jz, Mz) oder 'scae' (rz, αζ, λζ, Bz). Dabei scheint aus der Umformung von 'regionis' zu 'religionis' (rz, σζ, λζ) geschlossen werden zu können, daß die Überlieferung von 'scae' statt 'sei' nur eine Angleichung an 're-li-gionis' bedeutet. Die Lesung 're-li-gionis' muß in der Vorlage der D begründet gewesen sein. Denn auch Ma h a t : 'episcopi re-le-gionis'. Dazu steht in Ba 'epi regionis ip-' auf Rasur, ohne daß der getilgte Wortlaut sich feststellen ließe. Aber die Tatsache und der Umfang der Rasur an dieser Stelle zeigt, daß der Schreiber, der in Bz geschrieben hatte: 'epi scae religionis ipsius', zuerst auch für a eine ähnliche Formulierung als geboten erachtete, also in seiner Vorlage für a sie ebenso sah, wie Ma sein 're-le-gionis'. Aber diese Möglichkeit der Verwechslung hatte auch für Ya vorgelegen, der in Ya* 're-li-gionis' geschrieben hatte. Ebenso hatte bbz 'congregatis episcopis scae religionis' seiner Vorlage entnommen, während uz, fz, Rz in ihr

368

Die Vorlagen des Dionys: Sardica

gefunden hatten: 'epi sei regionis', vz dagegen statt 'epi sei' geschrieben hatte: 'eppis sei', d . h . für 'episcopi' die gleiche Kasusform gebraucht wie bbz und neben diesem auch Ja, va, 0a. Überdies deckt Ga* mit seinem 'congregatis' sowohl das 'congregatis' in bbz als auch die Kasusform 'episcopis'. Weist schon diese Überlieferungslage fast zwingend auf eine für k, ζ und a gemeinsame Vorlage als Grund der Verschiedenheiten, so wird der Zusammenhang von Ursache und Wirkung zwischen Vorlage und Überlieferung noch deutlicher durch die formale Behandlung des 'episcopi' in den Abschriften. Unter 43 Abschriften der k-Überlieferung ist nur eine einzige Kürzung (Ak). Dagegen weist die z-Überlieferung neben sieben Fällen der vollen Ausschrift 15 Kürzungen, die a-Überlieferung neben i6maliger voller Ausschrift fünf Kürzungen auf. Dabei verwenden nur ν und Β eine Kürzung im z- und zugleich im a-Text, bloß Λ kürzt in allen drei Texten. Woher kommt es, daß gerade in ζ so viele Abschreiber auf den Gedanken kommen, das Wort kürzen zu müssen ? Es sei daran erinnert, daß zwölf z-Abschriften mit der Kürzung den Zusatz 'sei' oder 'scae' verbinden, nur zwei (bbz Mz) trotz des Zusatzes die volle Form schreiben. Warum bringen die gleichen Schreiber den Zusatz nur in z, nie in a, wo doch ζ und a an sich völlig übereinstimmen müßten ? Waren nicht doch für die k-, die z-, die a-Überlieferung getrennte Vorlagen maßgebend? Gewiß nicht. Denn wir vermögen aus der Gesamtüberlieferung dieser Stelle zu zeigen, wie es zu den Verschiedenheiten gekommen ist. Bei ζ überwiegen die Kürzungen, bei ζ finden wir die auffällige Bezeichnung 'episcopi saneti' mit ihrer Mißdeutung: 'episcopi sanetae re(li)gionis*. Aber eine a-Hs. zeigt uns, daß jenes 'episcopi saneti' schon eine irrige Entzifferung der Vorlage war. S a schreibt nämlich 'episci', d . h . mit leichter Änderung geschrieben: 'epi sei — ' mit Ausnahme der Kürzungsstriche das, was wir meist in ζ finden. Das ist aber genau das gleiche, was Jz mit seinem 'episc' in seiner Vorlage gesehen hat, nur hat er die Andeutung der Endung übersehen. Genau so hat auch X z seine Vorlage gelesen: 'episc'. Der Kürzungsstrich fehlt bei 'sei, scae' fast nie (nur bbz), bei 'epi' öfter; daß er aber vom Schreiber j nicht nur in ζ bei der Kürzung 'epi', sondern auch bei der Vollform

Sard. 7 und seine Parallelüberlieferung

369

'episcopi' in a beigefügt ist, muß doch etwas sonderbar erscheinen. Man nehme dazu, daß es in J a heißt: 'episcopis', in vz 'eppis sei', in va 'eppis regionis', in rz 'epis scae religionis', in ©a* 'congregatis epis', und in 0a 2 'congregati epis', in bbz endlich 'congregatis episcopis scae religionis*. Es fließen also nicht nur Kürzung und Vollform, verschiedene Schreibungen der Kürzungsformen und ihrer Bezeichnung sowie ihrer Deutungen, sondern auch verschiedene Kasusformen von einem Text in den andern über. Das zeigt wohl deutlich genug, daß die Vorlage für k, ζ und a an dieser Stelle für alle Überlieferungen die gleiche war, daß aber in dieser Vorlage ein ursprüngliches 'congregatis episcopis' — als Kürzung geschrieben, nachträglich zu 'episc-(op)-i-s' verbessert war. Ist es zulässig, solchen angeblich von der Willkür der Kopisten allein abhängigen Kleinigkeiten und Äußerlichkeiten eine Bedeutung beizumessen und aus ihnen Schlüsse auf die Vorlage zu wagen ? Die Frage ist eine grundsätzliche und erhält dadurch ein Gewicht, das es rechtfertigt, wenn wir ihr noch einige Aufmerksamkeit schenken. Für das gleiche Wort 'episcopus' treffen wir in zehnmal in den Hss. eine Kürzung: 'epi' bei Sa, Sz*, 'epis' bei Xa, 'eppis' bei va, 'episc' bei Pk, 'episc.' bei J a , 'episc' bei Sz, Jz, Xz. Außer in f 2 wird immer die volle Form 'episcopus' ausgeschrieben, der die Kürzungen 'epi', 'epis' und 'eppis' ganz und gar nicht entsprechen. Für die Form 'episcopum' schreiben Sz, S a 'eps', Jz, Vk, Ma 'episc.', Rz 'epm', bbz, Ok, Ak, Aa 'epsm'. Für 'his episcopis' haben Sk, uz, fz, Wz, Ok, Ck* 'eps', B a * 'epi' (?), Jz, Ma 'episc', Ak, Az 'epsis', S a 'episcis'. Y a scheint mit seinem 'episcopiscopis' zu bestätigen, daß in der Vorlage eine erste Kürzung für 'episcopo' in eine zweite für 'episcopis' geändert war. 'Episcopum' erscheint weiterhin als 'epo' in Sk, als 'eps' in S z , S a , als 'epsm'in Az, als 'episc' in J z und als 'episc.' in J a , Ma. Statt 'episcopis' verwenden Sz, uz, vz, 0 a * , bbz 'eps', Sk, Rz, Yz 'epis', Ak 'epsis', Az 'episcis', Aa 'epsi'. J z mit 'episcopiscs' bestätigt auch hier, daß eine Verbesserung in der Vorlage die Varianten veranlaßt hat. 24

Peitz-Foerster,

Exiguus-Srudien

370

Die Vorlagen des Dionys: Sardica

An einer weiteren Stelle sollte nach den meisten Zeugen in D die Form lauten: 'episcopos'. Aber ra, ßa, Xa sagen: 'episcopum', Ma 'episcopo'. Nun finden wir geschrieben: 'eps' in 8z, Sk, Sz, uz, vz, Tk, Ak, Ok, Yk*, Fk, Rk, Rz, Kk, cck*, Ck; "eps' in ua, tk; 'epi' in bbk, 'epis' in bbz, 'epsos' in Ak. Außerdem haben va, 0k 'episcopo', Sa, Ja, Sa, Xa, Za 'episcoporum'. Aus dem Zusammenhang und der Gesamtüberlieferung läßt sich, wie wir weiter unten sehen werden, der sichere Beweis erbringen, daß an dieser Stelle eine mit Änderungen und Umgestaltungen verbundene Bearbeitung des Textes in einer und derselben Hs. allen Kopisten sämtlicher Textgruppen von γ2 bis D und für die drei Überlieferungen k, ζ und a als alleinige Vorlage gedient hat. Damit ist schon durch den einen Kanon Sard. 7 eine weitere Frage entschieden. Alle Zeugen der Textgruppe Sp haben den Zusatz 'provinciales', der natürlich die Form 'episcopos' voraussetzt. Den gleichen Zusatz haben die Hss. der angeblichen Familien S und v, jedoch nur in k, nicht in ζ und a. Dagegen kennen die sonst den gleichen Text überliefernden Hss. f2, 3, J den Zusatz auch in k nicht. Also handelt es sich wirklich nur um einen erklärenden Zusatz des Bearbeiters in seiner Bearbeitung Sp und bloß für diese. Seine Aufnahme in S und ν beruht auf einer Textmischung. Diese ist jedoch nicht Überlieferungskontamination, d. h. Entlehnung des 'provinciales' im Archetypus der beiden Familien, sondern Ursprungskontamination. Die Hss. S und ν haben irrigerweise geglaubt, 'provinciales' sei ein ursprünglicher Bestandteil des Textes, den sie abzuschreiben hatten. Diese Beobachtungen können durch Heranziehung sämtlicher Stellen, an denen in den Sammlungen der Kanones bei irgend einer beliebigen Synode das Wort episcopus auftaucht, nur vertieft und bestätigt werden. Sie haben mithin allgemeine Gültigkeit und erstrecken sich auch auf sämtliche analogen Fälle, ob es sich dabei um das Wort 'episcopus' oder ein anderes handelt. Sard. 7 gestattet sogleich eine Nachprüfung an dem Wort 'praesbyterum'. Weitere Proben bietet Sard. 17. Es gilt diese Beobachtung aber nicht nur von Worten eines besonderen Inhalts, wie etwa den Titelbezeichnungen, sondern ganz allgemein.

Sard. 7 und seine Parallelüberlieferung

371

Sard. 7 hat der Bearbeiter in Sp hinzugefügt: 'qui deiectus videtur', das in Q D umgewandelt ist zu: 'qui deiectus est'. Die ausdrückliche Hervorhebung des Subjekts der Appellation und zugleich deren Begrenzung auf k hat erneut die Vertreter von k in f 2 l Sk und vk verleitet, den Zusatz in der zweiten Form seiner Bearbeitung: 'qui deiectus est', irrig auch für Sk und vk gelten lassen. Die Überlieferung weist nur eine Variante auf: 'de-ab-iectus' in bbk. Diese kann nur aus einer Änderung entstanden sein, die der Bearbeiter an dem als 'deiectus' überlieferten Wort vorgenommen hatte, indem er ursprüngliches 'ab-iectus' zu 'de-iectus' änderte. Der Kopist hat sich darin geirrt, daß er als Zusatz auffaßte, was als Ersatz gedacht und geschrieben war. So hat er zwei synonyme Teilformen ahnungslos zu einer monströsen Vollform zusammengeschweißt. Ahnungslos. Denn 'qui deiectus est' ist ja nur eine ausdrückliche und genauere Bezeichnung des Subjektes zu 'appellasse' als identisch mit dem Subjekt des vorausgehenden 'de gradu suo eum deiecerint', das seinerseits aus 'de gradu suo deiecerint eum' durch bloße Umstellungszeichen hergestellt war — bzw. richtiger: das erst in Sp durch Zusatz von 'eum' nach 'deiecerint' entstanden war. Trotzdem wird von sämtlichen Hss. 'eum' in dieser ersten Stellung auch in den z- und a-Text aufgenommen, sogar von den Hss. Dz und Da, obwohl es nach dem einhelligen Zeugnis von Qk und Dk in ihrer Vorlage hinter 'suo' gehörte. Nun vergleiche man aber die Überlieferung von 'deiecerint'. Es schreiben de — i — cerint Ja. Wz. Λ a. ja. e — i — cerint Rk. Rz. e — i — e — cerint Y a*. sa. de — i — e — cer — u — nt Ya. Mz. de — i — e — rint s 2 k. Fk. de — i — c — e — rent 0 a * . Aa. de — i — e — c — e — rent A k. Λ ζ.

Es ist leicht zu erkennen, daß alle Kopisten eine Hs. als Vorlage vor Augen hatten, in der aus 'e-i-ce-rent* durch mehrfache Verbesserung 'de-i-e-ce-rint' geworden war. Aber auch Ceicerent' war nicht die erste und ursprünglichste Form gewesen, sondern: 'ab-i-ce-rent'. Denn dem 'de-iecerint' entspricht 'de gradu', wie es fast alle Hss. haben. Für 'e-i-cerent' hätte es 2

4*

372

Die Vorlagen des Dionys: Sardica

heißen müssen: 'e gradu'. Dafür findet sich kein Zeugnis, weil V bei Ergänzung des anlautenden 'd' ja unverändert in 'de' weiterlebte. Einem 'ab-i-cerent' aber, wie es durch die Variante bbk 'de-ab-iectus' bezeugt wird, hatte ein 'a gradu ab-icerent' entsprechen müssen. Und gerade dieses 'a gradu' bezeugt bbz für seine Vorlage. Die Varianten der handschriftlichen Überlieferung sind also nicht ohne weiteres als Folge der naturgemäßen Verschlechterung durch die Abschriften aufzufassen: sie sind zunächst als gleichwertige Zeugen des Werdens der Texte unter Heranziehung der Gesamtüberlieferung und aus ihrem Zusammenhang zu verstehen und zu werten. Wollen wir eine Variante als Folge des verschlechternden Einflusses der handschriftlichen Vervielfältigung auffassen und erklären, so müssen wir dafür im konkreten Fall den Beweis erbringen. Auch hier dürfen wir aus dem einen ausgeführten Beispiel den allgemeinen Schluß ziehen, weil sich dieselben Tatsachen in allen Teilen der kanonistischen Überlieferung immer neu wiederholen. Einen Parallelfall aus Sard, n zur Illustration. Es überliefern im Zusammenhang: 'qui abiectus est': qui abiectus est alle Dk. qui eiectus est alle Dz und Da außer aa. eiectus f 2 k. Qk. Qz. Qa. J k . Jz. J a . Sz. Sa. Xa. Zz. Za. iste qui eiectus est Sk. uk. wk. Vk. iste qui deiectus est Yk. Spk. iste qui eiectus est Xk. Xz. (h )is qui abiectus est Qk. iniectus aa. iectus Yz. Ya.

Entsprechend bunt ist das Bild der Überlieferung gleich darauf in der Verbindung: 'is episcopus qui . . . abiecit eum.' Wir finden: reicet f 2 k. Λ a. reiecit Qkza. Jkza. Sza. Xza. Zza. Yza. ua. va. ©a. Y z. Wz 2 , bbz. Λ ζ. sza. az. jza. rz. α za. β a. λ za. Bza. Mza. reicit Y a. f z. Wz*, deiecit uz. vz. Rz. eiecit aa a . ra. deiecerit ©a. proiecit tk. abiecit alle übrigen k-Hss.

Sard. 7 und seine Parallelüberlieferung

373

Die Verteilung der verschiedenen F o r m e n auf Überlieferungen, T e x t e und Hss. beweist, daß die Änderungen sämtlich von dem gleichen Bearbeiter Dionysius E x i g u u s an derselben Stelle seiner Arbeitshs. vorgenommen waren, von der alle Kopisten ihren Wortlaut zu entnehmen hatten. Man beachte aber auch den Parallelismus der beiden Stellen. E i n e Probe ganz anderer A r t vermittelt uns Sard. 7 in den Worten der D k 'qui deiectus est' in ihrem Zusammenhang mit dem Vorausgehenden. Die Worte erscheinen ausschließlich in k-Hss. als S u b j e k t des Bedingungssatzes: r si appellaverit qui deiectus est'. S t a t t dessen heißt es bei allen Dz- und Da-Hss. ebenso einhellig: 'si appellasse videatur', wozu das S u b j e k t aus dem Vorausgehenden zu ergänzen ist. Allein bei den Hss. Sk, v k liest m a n : 'si appellasse videatur' — die F a s s u n g D z a — verbunden mit 'qui deiectus est' = D k . Dagegen fehlt 'qui deiectus est' bei p 2 k, S k ; sie gehen jedoch wieder auseinander, indem f 2 k schreibt: 'appellasse v i d e a t u r ' , S k 'appellasse videt u r ' . ^ k steht jedoch nicht allein da mit seinem ' v i d e t u r ' : γζ hat ' v i d e a t u r ' , pa hingegen 'videtur'. Yz* h a t t e : ' v i d e t u r ' , das Yz 2 zu ' v i d e a t u r ' verbessert. — Die Lösung erheischt zuvor eine K l ä r u n g der H e r k u n f t des ' v i d e a t u r ' : v i d e t u r ' . E s kann sich nur u m eine Wiedergabe des griechischen ώσττερ έκκαλεσάμενος handeln. In dem S a t z 'si . . . deiecerint eum et appellasse v i d e a t u r ' liegt an dieser Stelle ein Wechsel des S u b j e k t s vor. Der Zusatz von 'qui deiectus est' ist mithin gerade hier wohl berechtigt. A b e r 'si . . . deiecerint' ist nicht die ursprüngliche F o r m : Y a und Mz bezeugen, daß es geheißen h a b e : ' s i . . . deiecerunt'. Dem entspricht: 'et appellasse v i d e t u r ' . E r s t mit der Änderung von 'deiecerunt' zu 'deiecerint' w a r auch die von ' v i d e t u r ' zu 'videatur' gegeben. N a c h dem einstimmigen Zeugnis der Hss. S p ist dort die Umänderung zuerst versucht. Sp macht den Wechsel des S u b j e k t s in doppelter Weise a u f f ä l l i g : statt 'et appell.' wird ein neuer Bedingungssatz begonnen: 'si a p p . ' , statt 'appellasse v i d e t u r ' wird gesagt: 'si appellaverit qui deiectus videtur." Diese U m w a n d l u n g ist nur allmählich erfolgt. Zuerst h a t t e der Bearbeiter gesagt: 'si . . . deiecerint, si ipse appellasse v i d e a t u r ' (vgl. Sk). Die Appellation ist jedoch Tatsache, und so ändert der Bearbeiter ein zweites Mal, indem

374

Die Vorlagen des Dionys: Sardica

er das ehemalige 'videtur' mit dem Subjekt verbindet: 'qui deiectus videtur'. In diesem Zusammenhang war ein 'videatur' nicht angebracht; das vorher zu 'vide-a-tur' erweiterte 'videtur' mußte seine erste Form wiedererhalten. Das sind Tatsachen, die in der Überlieferung selbst offen vor Augen liegen. Wir müssen ihr sogar noch viel mehr entnehmen. Rz bringt anstelle von 'appellasse videatur': 'in causa respondisse videatur'. Das kann der Schreiber unmöglich erfunden haben, ebenso wenig wie 0a*, Az* ihr 'videantur' erfunden oder durch bloßes Verlesen geschrieben haben können, weil es mit der durch mehrere andere Abschriften bezeugten ursprünglichen Formulierung des Kanons im Plural übereinstimmt. Jede der hier auftauchenden Varianten — 'appellasse videtur' : 'videantur' : 'videatur' — deiecerint' : 'eiecerint' : 'deicerent' : 'deiecerunt' — 'deiectus' : 'deabiectus' — 'de gradu' : 'e gradu' : 'a gradu' u. s. f. wird im Zusammenhang durch entsprechende Varianten anderer Überlieferungen an anderen Stellen gedeckt, während wieder andere Zeugnisse und Tatsachen beweisen, wie intensiv zu wiederholten Malen hier an der Gestaltung des Textes gearbeitet ist. Die Varianten, soweit sie eine Änderung der Konstruktion, der Auffassung, des Zusammenhanges andeuten, d. h. also die Varianten, die mit einem Wort als Unterschiede des Textes bezeichnet werden könnten, sind nicht als bloße Versehen oder Verlesungen zu betrachten: sie haben vollgültigen Zeugniswert für einen einmaligen Zustand des Textes und für die bearbeitende Tätigkeit des Autors. Grundsätzlich ist damit noch eine weitere Frage entschieden, die bisher in unserer kritischen Forschung eine große Rolle gespielt hat. Hss., so hieß es, die untereinander in auffallenden Fehlern und Eigenheiten, besonders auch in gleichen Auslassungen und Lücken übereinstimmten, seien damit als Abkömmlinge eines gemeinsamen Stammvaters erwiesen, eines Archetypus, der jene Merkmale auf die verschiedenen, aus ihm abgeleiteten Überlieferungsreihen vererbt habe. Soviel Familien also, soviel verschiedene Ahnen. Für die Wertung des Zeugnisses der »Schwesterhss.« war eine solche Auffassung natürlich von der größten Bedeutung. Die Übereinstimmung von fünf Schwestern einer Familie besagte danach in Wirklichkeit das

375

Sard. 7 und seine Parallelüberlieferung

Zeugnis eines einzigen Kopisten. Ist die Forschung bisher wenigstens in dieser für die Beurteilung der Hss. und ihres gegenseitigen Verhältnisses sowie ihres Zeugniswertes grundlegend wichtigen Frage von der Methodik richtig geführt worden ? Zur Probe untersuchen wir nur eine »Familie« von wenigen Gliedern, deren Einheitlichkeit von der kritischen Forschung unterschiedslos anerkannt wird. Nur drei Hss., u - ν - w, gehören dieser »Familie« der »Vatikanischen Hs.« (v) an. Läßt sich auch nur für den einen Kanon Sard. 7 die gemeinsame Familiendeszendenz der drei »Schwestern« aufrechthalten? Es ist richtig: u v w zeigen ganz auffallende Ubereinstimmungen auch in Eigenheiten und Fehlern, in einem Umfang, der das Aufkommen jener Ansicht verstehen läßt. Man vergleiche: uz*, v z uz*, v z 11z. ua. v z uz. v z uz. v z uk. wk uk. wk ua. v a

ludicaverit statt iudicaverint cum fugerit statt confugerit moveri statt moverit mittendus statt mittendos erit in eius arbitrio statt erit in suo arb. exquirant statt requirant ex latere suo statt e lat. suo quod statt quid.

Wir müssen jedoch feststellen, daß die gleichen »Eigenheiten« sich finden: mittendus bei f 2 k. f k*. f a. Rk. K k . bbz. Aa. Ba. erit in eius arbitrio bei Spk. Rz. bbz. Dz. exquirant bei Sk. X k . Pk. quod bei Qz. Qa. J z . J a . Sz. Sa. X z . X a . Zz. Za. lk. jk*. richtig) 0 k . tk.

und

(allein

Von den für eine Familiendeszendenz sprechenden Belegen kommt also tatsächlich nur in Betracht: »ex latere suo«. Nicht »iudicaverit«, da uz verbessert : »iudicaverint«, und nicht festzustellen ist, von wem die Verbesserung herrührt, ob nicht vom Schreiber selbst, — und ebenso wenig, ob ihn nicht gerade seine Vorlage dazu veranlaßt hat. Nicht 'cum fugerit', da mk an der gleichen Stelle 'non fugerit' hat, mithin der Verdacht begründet ist, daß Undeutlichkeit des Wortbildes in einer gemeinsamen Vorlage die Schuld an den Fehlern trägt, diese also bloß als Verlesungen oder falsche Auflösungen derselben Kürzung aufgefaßt werden müssen. Nicht 'moveri': dem steht va entgegen.

376

Die Vorlagen des Dionys: Sardica

Ein Induktionsbeweis ist nicht zu führen mit einfacher mechanischer Aufzählung von Varianten: er erheischt bei jeder als Beleg gültigen Variante den Nachweis ihrer Gültigkeit, d. h. den Nachweis, daß es sich um charakteristische Erbüberlieferung einer Familie handelt. Und auch damit allein wäre der Beweis im Sinn der traditionellen Auffassung von einer Familiendeszendenz der Hss. nicht erbracht. Jeder Mathematiker stellt im Verlauf einer längeren und komplizierten Berechnung des öftern eine Gegenprobe an. Jeder Physiker untersucht in einer längeren Reihe von Experimenten auch die weniger genau übereinstimmenden Resultate oder offenbare Fehlresultate auf sämtliche möglichen Fehlerquellen. Ebenso muß auch der Textkritiker die Gegenprobe machen. Er muß die Fehlresultate auf alle Fehlerquellen prüfen. Das Mittel dazu bietet ihm die Gesamtüberlieferung. Seine Gegenprobe besteht in der Feststellung der Ungleichheiten, d. h. der Varianten innerhalb der Familie, und in der Prüfung ihrer Ursachen. Wenden wir das auf die angebliche Familie ν in der Uberlieferung von Sard. 7 an. va

eppis

uz

ua ua. va uz vz. va uz vz. va uk. uz uz vz va va uz

eiecerint a latere prbm pbrum vellit vellet aut extimet existimet aestimet episcopo facient

v z eppis sei regionis va eppis regionis uz eps uz iuxtam ua iusta uz deprecatione uz presentes uz.vz eius ua sapientissimus

epi sei regionis

Da mehrere dieser Varianten später in anderem Zusammenhang ausführlicher behandelt werden müssen, seien hier nur einige Beispiele herausgehoben: Der Zusammenhang ist nach der Überlieferung Dk: »erit in potestate episcopi quid velit et quid aestimet«. Hier kommen für uns nur die Worte velit — et — aestimet in Betracht. Die typologische Übersicht der in der Überlieferung dafür eingesetzten Formen zeigt folgendes Bild:

Sard. 7 und seine Parallelüberlieferung

Ν -

• 3 Λι ^ Ν 3 .8 o Ν Ν 'S Ο ΝJ H tä ϊ* α ΑΪ Ν Ν Ν Ν Μ •Μ Η-1« cfl ar—ι χr ιΟ )

Μ

•ι Λ 3 Λ .

Ν

Μ tn „_£ Φ -U •c D > •εΗ Χ 4>

rt β

378

Die Vorlagen des Dionys: Sardica

Die Form 'vellit' findet sich demnach in allen Textgruppen außer Sp unterschiedslos in allen drei Überlieferungen. Wk*, mk*, Aa* : Wk 2 , mk 2 , Aa 2 = * 'vellit' : 2 'velit' deutet darauf hin, daß in der gemeinsamen Vorlage 'velit' aus 'vellit' durch Tilgung eines Ί' gebildet war. Die Form 'vellet' in Überlieferungen, deren Gegenstand die älteste Formulierung bilden sollte, läßt auf 'vellet' als Ausgangsform schließen. Diese Auffassung wird bestätigt durch die Entwicklungsreihe: 'ex-i-stimet': "(a)-e-s-timet'. Dadurch, daß 'ex-' getilgt, 'i' unterpunktiert und durch übergeschriebenes ' a + e ' ersetzt war, sind in späteren Abschriften sämtliche vorkommenden Formen als ζ. T. irrige Entzifferungen leicht verständlich. Dem entspricht auch hier die bunte Mischung der Varianten in allen Überlieferungen, während 'aut' : 'vel' : 'et' zeigen, daß es sich wirklich um Verbesserungen in der Vorlage handelte. Nicht anders steht es mit dem von uz überlieferten 'facient'. Mit der Gesamtüberlieferung dieses Wortes steht es so: In D :

faciet Ak.Tk.sk.lk.ak.jk. Az. sz*. jz. rz. ocz. mk. Crk. k. Bk.

Aa. sa*. aa. ja.ra.

Az2. Bz.

aa.ßa.Aa.Ba.Ma.

sz 2 . az. Mz.

sa* 2 .

Az*. fz. Wz. bbz.

Ya. pa.

Ck. faciat In Q :

Mk.

facient 5k. Kk. Ak. faciet Qk. F k 2 . fk. K k .

bbk. R k . (fatiet) faciat pk. s2 k. W k . Yz. facient Rz. In Θ :

fiet

Fk*.

faciet

tk.

faciat In S p : faciet

6a.

6k. edk. E k . V k .

In: p-2 faciet p2k. Qk. Sk. v k . facient

Qz.Jz.Sz.Xz.Zz.vz. Y z . uz.

S a . Ja. Sa. va.

Diese Zusammenstellung zeigt unmittelbar, daß die Ursache des Auseinandergehens der Überlieferungen nicht in der handschriftlichen Vervielfältigung zu suchen ist. Gerade D, dessen Überlieferung sich sonst auf einer ganz erstaunlichen Höhe hält, so sehr, daß für ganz große Teile der Sammlungen die Hss. in den synoptischen Tafeln selten- und selten weise kaum die eine oder andere leichte Verschreibung enthalten, ist hier

Sard. 7 und seine Parallelüberlieferung

379

am stärksten betroffen. Die Art der Mischung der Varianten auch innerhalb derselben Hs. (s. a. λ) beweist, daß es sich nicht um Überlieferungskontamination handelt, wie anderseits das Auftreten von 'facient' neben 'faciet' von f 2 bis D, von 'faciat' dagegen erst von Θ an dartut, daß diese Form erst durch die Übersetzung aus dem Griechischen in die Texte Aufnahme fand. Das wird unterstrichen durch das Verhalten der Hss. derselben angeblichen »Familie« Η zueinander. Die Zusammenstellung zeigt eine allen Hss. sämtlicher Textgruppen und aller drei Überlieferungen gemeinsame Vorlage, in der Verbesserungen vorgenommen waren, die allerdings nicht in jedesmaliger Neuschrift des ganzen Wortes bestanden. Vielmehr geschahen die notwendigen Änderungen in der Tilgung der nicht mehr passenden Buchstaben der älteren, schon vorhandenen Form durch Unterpunktieren und Beifügung des oder der für die neue Form noch erforderlichen Bestandteile (Buchstaben oder Buchstabenteile, evtl. auch Silben) über der Zeile oder da, wo eben Platz war. Da 'facient' in allen Kategorien bezeugt ist, muß diese Form in der Vorlage gestanden haben. Wenn nun uz schreiben kann: 'facient', vz dagegen schreibt: 'faciet', ist klar, daß die gemeinsame Urvorlage der Gesamtüberlieferung auch die konkrete Einzelvorlage sowohl des Schreibers uz als auch des Schreibers vz gewesen ist. Ein Stammvater ν und Begründer einer Hss.-»Familie« ν ist dadurch ausgeschlossen. Man mag die Untersuchung des Verhältnisses von u zu ν zu w ausdehnen, so weit man will: das Ergebnis ist unweigerlich und mit einer fast erdrückenden Monotonie stets dasselbe, wie es die gebotenen Beispiele, wie es sämtliche Belege aus Sard. 7 zu Tage fördern. Anderseits läßt sich nicht leugnen, daß u, v, w an auffälligen Fehlern, an Eigenheiten, oft Ungereimtheiten der Textgestaltung, an Auslassungen und Lücken so zahlreiche Übereinstimmungen aufweisen, daß auch diese Harmonie in den Fehlern notwendig eine gemeinsame Ursache bedingt. Die Fehler beruhten auf einer Irrung des Kopisten in der Entzifferung der Vorlage und der Wahl der für seinen Text in Betracht kommenden Verbesserung. Der objektive Grund zu den Varianten war also die Eigenart der Vorlage, der subjektive

380

Die Vorlagen des Dionys: Sardica

Grund lag in der Einstellung des Kopisten zu dieser. Die Gleichheit der Fehler in mehreren Abschriften muß folglich in dieser subjektiven Einstellung begründet gewesen sein. Die Hss. u, ν und w sind nacheinander angefertigte Abschriften aus der gleichen Urvorlage der Gesamtüberlieferung durch den selben Abschreiber. Wir können sogar feststellen, daß dieser eine und gleiche Kopist zuerst ν geschrieben hat und nach einer längeren Zwischenzeit erst u und w, diese jedoch ziemlich unmittelbar nacheinander. Diese Untersuchungen dürfen wohl als abschließend hingestellt werden. Denn sie erstreckten sich nicht nur auf die angebliche Familie v : sie wurden ebenso für die Familien F, Q, Η, Β im weitesten Umfange oder in so bedeutendem Ausmaße durchgeführt, daß für alle eine volle Sicherheit erreicht wurde. Das Ergebnis war stets und unverändert gleich. Es wäre ein bedauerliches und gefährliches Mißverständnis, wollte man diese Ergebnisse nur für die kanonistische Überlieferung gelten lassen. Gewiß, sie ist das Beispiel gewesen, aus dem sie gezeigt werden konnten. Es hieße jedoch, bedenkliche Vogel-Strauß-Politik treiben, wollte man den Kopf in den Sandhügeln unsicherer und irriger Traditionen vergraben, um so das Unvermeidliche nicht zu sehen, im Wahn, es damit auch aus der Welt zu schaffen. Weder in ihren objektiven Grundlagen der dargelegten Überlieferungsverhältnisse noch in den subjektiven Bedingungen der vermittelnden Kopisten ist deren Beschränkung auf die kanonistischen Quellen begründet. Es handelt sich vielmehr um einen Grundpfeiler des ganzen wissenschaftlichen Aufbaus unserer kritischen Methodik, um einen Hauptträger unserer gesamten Text- und Quellenkritik als solcher. War er von Anfang an und von Grund auf morsch, so reißt sein Einsturz das ganze Gebäude mit sich. Und es sei ausdrücklich hervorgehoben, daß das über die kanonistischen Überlieferungen Gesagte ebenso für andere literarische wie historische Überlieferungen gilt. Die Kargheit der Untersuchungsmittel, der handschriftlichen Überlieferungen, mag nicht in jedem Einzelfall die Durchführung der Untersuchung und des positiven Beweises ermöglichen. Das hindert nicht, daß wir besonders einer äußerst bedauerlichen Tatsache ruhig

Sard. 7 und seine Parallelüberlieferung

381

und klar ins Auge sehen müssen: wir besitzen bis heute in keiner noch so modernen und »methodisch richtig« angelegten »kritischen« Ausgabe einen Text, auf den wir uns verlassen dürften, dessen gesamte grundlegenden Vorarbeiten — bis in die Sammlung, Sichtung und Bearbeitung der einzelnen Hss. — nicht völlig neu revidiert werden müßten. 3. Sard. 7: A u f s c h l ü s s e aus dem Z u s a m m e n h a n g der T e x t e in V e r b i n d u n g mit dem I n h a l t des K a n o n s Im Vorausgehenden galt unsere Aufmerksamkeit vorzugsweise der Entwicklung einzelner Textstellen in der Abfolge der verschiedenen Überlieferungsgruppen. Vom Standpunkt meiner analytisch-synoptischen Tabellen aus gesehen, war es deren Untersuchung hauptsächlich in Richtung der Vertikalen. Aber auch die synoptische Schau der einzelnen Texte oder Bearbeitungen in ihrem inneren Zusammenhang, die horizontale Untersuchung der Tafeln, vermag uns manche neue Aufschlüsse zu bieten und führt uns tiefer in die Kenntnis und das Verständnis des Kanons ein. Der Kontext beginnt: ήρεσεν, ΐν' εΐ Tis επίσκοπος καταγγελθείη καΐ συναθροισθέντες ot επίσκοποι της Ινορία; Tfjs ocCrrfjs του βαθμού αύτόν άποκινήσωσιν και ώσττερ έκκαλεσάμενο$ καταφυγή έττΐ τόν μακαριώτατον της ρωμαίων έκκλησία5 έπίσκοπον καΐ βουληθείη αύτοΟ διακοϋσαι δίκαιον τε είναι νομίση διανεώσασθαι αύτοΰ τήν έξέτασιν τοϋ πράγματος, γράφειν τούτοις τοις συυεπισκόποις καταξίωση τούς άρχιστεύουσι τη επαρχία, ίνα . . . Nach Dk: placuit autem ut si episcopus accusatus fuerit et iudicaverint congregati episcopi regionis ipsius et de gradu suo eum deiecerint si appellaverit qui deiectus est et confugerit ad episcopum romanae ecclesiae et voluerit se audiri si iustum putaverit ut renovetur examen: scribere his episcopis dignetur qui in finitima et propinqua provincia sunt, ut . . . Lesen wir beide Texte unmittelbar nacheinander, so stößt uns sogleich und unwillkürlich auf, daß sie nicht übereinstimmen, obschon es sich um griechisches Original und latei-

382

Die Vorlagen des Dionys: Sardica

nische Übersetzung handelt. Es sind in erster Linie relative Kleinigkeiten, die uns auffallen. Zu dem lateinischen 'iudicaverint' fehlt die entsprechende Vorlage. Statt der Doppelübersetzung 'finitima et propinqua' kennt das Griechische nur einfaches άγχιστεύουσι. Umgekehrt kommt das griechische ώσττερ im Lateinischen gar nicht zum Ausdruck. Auch mit dem lateinischen 'examen' wird die Vorlage nur unvollkommen wiedergegeben, und befremden muß die Übersetzung von βουλήθείη carroö διακοΰσαι mit 'voluerit se audiri'. Aber all das sind schließlich nur nebensächliche Kleinigkeiten. Sieht man genauer zu, so zeigt sich ein weit tiefer einschneidender Gegensatz beider Texte in der Gesamtkonstruktion. Im Lateinischen ist an zwei Stellen das griechische καΐ durch 'si' nicht übersetzt, sondern ersetzt, richtiger: verdrängt worden. Dadurch wird die Gruppe: "si appellaverit — se audiri' und wiederum die Gruppe 'si iustum — examen' dem unmittelbar Vorausgehenden gegenübergestellt. Mit 'examen' schließt der Vordersatz, und es beginnt der Nachsatz: 'scribere . . . dignetur'. Damit ist sicher derjenige gemeint, an den die Berufung eingelegt ist. In Sp sehen wir tatsächlich dem Rechnung getragen. An die Stelle von 'scribere his episcopis dignetur qui . . . " ist getreten: 'scribere episcopis dignetur romanus episcopus his qui . . . ' . Es ist also vor 'his' eingeschoben: 'romanus episcopus". Dieser Einschub ist jedoch in der Weise erfolgt, daß nur 'romanus' über und vor 'his' hinzugeschrieben, 'episcopis' mit entsprechender, ebenfalls ergänzter Endung verdoppelt, beiden mitsamt dem 'his' der Platz nach 'dignetur' statt vor diesem durch Verweisungszeichen zugeteilt wurde. Da haben wir den Grund und die Erklärung für die Kürzungen 'eps', für die sonderbare Verdoppelung 'episcopis-copis' bei Ya, für die Auslassung des 'his' vor und seine Verschiebung nach 'episcopis' in bbk und seine Auslassung in der ganzen Überlieferung Dz, für die Umstellung des 'episcopis' nach 'dignetur' in tk, Crk. — Ist 'romanus episcopus' nach Sinn und Überlieferung das Subjekt des 'dignetur', so muß nach dem ganzen Bau des Satzes in Dk auch wenigstens das unmittelbar vorausgehende 'si . . . putaverit' das gleiche Subjekt haben. Daraus folgt aber mit zwingender Notwendigkeit, daß der Bearbeiter von Dk für den

Sard. 7 und seine Parallelüberlieferung

383

vorangehenden Bedingungssatz 'si appellaverit — audiri' ein anderes Subkejt, den appellierenden Bischof, angenommen hat. Grammatisch ist also 'voluerit se audiri' richtig konstruiert: es steht in logischem Zusammenhang mit der Änderung von 'et iustum' in :'si iustum'. Meine analytische Übersicht zeigt, daß diese Änderung von der Bearbeitung Sp herrührt. Von da an zeigt die ganze k-Überlieferung: 'si', die ganze za-Überlieferung ebenso konsequent: 'et', obwohl die »Übersetzungen« ©k, tk dieses 'et (que)' als das Richtige anerkennen. Zwar haben auch in f 2 die Zeugen Sk und vk: 'si', aber f 2 k, 3 k haben: 'et'. Diese Tatsachen haben ihren Grund in der gemeinsamen Vorlage, der Arbeitshs. des Dionysius Exiguus, keines andern. Denn mit dem Einsatz von 'si iustum' hängt innerlich und folgerichtig die Änderung des dem Griechischen entsprechenden 'audire' in 'audiri' und — ebenfalls in Sp — dessen spätere Ergänzung (in Q D) durch 'se' zusammen, obwohl 0k, tk wieder richtig übersetzt haben: 'eura (ei)'. Die Änderungen in der gemeinsamen Vorlage aber führten zu den Irrtümern 'audiri', 'eum audiri', 'audire', 'se audire' in der gesamten Überlieferung von f 2 bis D. Nehmen wir jetzt den Vergleich mit dem griechischen Zusammenhang auf. Daß auch im Griechischen innerhalb des mehrgliedrigen bedingenden Vordersatzes ein Wechsel des Subjekts eintritt, ist einleuchtend. Die durch Synodalentscheid den angeklagten Mitbischof seines Amtes entsetzenden Bischöfe der gleichen ενορία werden durch diesen als Appellant den Bischof von Rom Anrufenden abgelöst, der Bischof von Rom hinwieder ist derjenige, der die Berufung annimmt und ihn — αύτοϋ — hören will. Als Ergänzung wird zu diesem διακοϋσαι hinzugefügt und durch τε, nicht mehr durch KCÜ, eng mit dem unmittelbar Vorausgehenden verbunden: δίκαιον τε νομίση . . . Demgemäß heißt es auch, erhalte es für gerecht, διανεώσασθαι— transitiv, also nicht passivisch —, jenes andern, —-αύτοϋ —, Angelegenheit: prüfen zu lassen (oder selbst zu prüfen). — Ganz klar liegt also ein schweres Mißverständnis sowohl des Inhaltes des griechischen Satzes wie seines grammatisch fein durchdachten Aufbaues vor, wenn im Lateinischen der zweite Subjektwechsel erst in das 'si iustum crediderit' verlegt wird. Man kann nur bedauern, dieses Mißverständnis nicht nur in der

384

Die Vorlagen des Dionys: Sardica

Überlieferung Dk aufrechterhalten zu sehen, sondern auch den Urheber der D, Dionysius Exiguus, mit der Schuld daran als Bearbeiter der Sp belasten zu müssen. Aber zu einem Urteil über seine Kenntnisse des Griechischen gibt dieses Mißverständnis kein Recht. Denn in seinen »Übersetzungen« 0k, tk hat er die Sache richtiggestellt. Als er die Sp bearbeitete, kannte er den griechischen Text noch nicht. Der alte lateinische Text der V R aber scheint die Ursache gewesen zu sein, weshalb er wegen des 'audiri' den Subjektwechsel in der Sp erst bei 'si iustum putaverit' eintreten ließ und später durch die Ergänzung von 'si' zu 'audiri' noch schärfer hervorhob. Als ob es im Griechischen habe heißen sollen, der Appellant habe »sich Gehör schaffen« wollen. Auf eine Einzelheit sei in diesem Zusammenhang noch besonders eingegangen. Zu den nebensächlichen Divergenzen zwischen Dk und Gr tritt noch eine hinzu, die wir oben nicht erwähnt haben. Dk läßt die Berufung vorbringen 'ad episcopum romanae ecclesiae'. Nach dem einstimmigen Zeugnis der Überlieferungen ζ und a wie der k-Zeugen außer Q und D sollten wir annehmen, so habe es in der V R gestanden. Aber die Hss. Sk + vk in Verbindung mit Fk, Ya und Ma zeigen, daß die V R die im 4. bis 5. J h . gebräuchliche Titulatur enthalten hatte: 'ad beatissimum ecclesiae urbis romae episcopum'. Wie ist die Doppelübersetzung 'finitima et propinqua provincia' zu erklären? Wir müssen ausgehen von dem griechischen ol έπίσκοποι της ενορίας της αυτής. DerZeit der Synode von Sardica — 343 — und ihrer Zusammensetzung aus orientalischen und okzidentalen Vertretern entspricht es in einer Weise, die kein späterer Fälscher hätte erfinden, die auch kaum ein gleichzeitiger griechischer Übersetzer aus dem lateinischen 'regionis ipsius' hätte ableiten können, daß man gerade diesen Ausdruck wählte. Die Metropolitanverfassung der Kirche war auch im Orient damals noch nicht so allgemein durchgeführt und gefestigt, war dem Okzident so völlig fremd, daß an dieser Stelle ein speziellerer Ausdruck wie etwa επαρχία kaum möglich war. Dem Griechischen hätte im Lateinischen ein 'episcopi eiusdem regionis' entsprechen müssen. Rz und 0k zeigen, daß

Sard. 7 und seine Parallelüberlieferung

385

und wie Dionys an der Stelle gearbeitet hat. Wenn es nun nachher heißt: γράφειν τούτοις τοις συνετπσκόποις τοις άγχιστεύουσι ττί επαρχία, so konnte hier der — politische — Begriff der Ιπαρχία keinen Anstoß mehr erregen, da er durch τούτοι? ausdrücklich mit jenen kirchlichen Zirkumskriptionen in Verbindung gebracht war, die zuvor als ενορία ή αυτή gekennzeichnet wurde, zudem hier entsprechend nicht irgendwelche Bischöfe, sondern die συνεπίσκοτΓοι genannt werden. Gemeint sind mithin die »Mitbischöfe«, die Bischöfe, die zum Appellanten in näherer Beziehung stehen, und dies erklärt: jene, die die nahen (oder nächsten) Nachbarn der (politischen) Eparchie seines Sprengeis sind. So hat es Dionys bei Bearbeitung der Sp aufgefaßt, sonst hätte er nicht erläuternd und noch ohne Kenntnis des Griechischen hinzufügen können: 'qui in finitima et propinqua altera provincia sunt'. Aus dem Konsens fast der ganzen Überlieferung könnte man nun den Schluß ziehen, daß 'finitima et propinqua' schon aus der V R stammten. Für 'finitima' dürfte er berechtigt sein. Denn es ist zu auffällig, daß tk ausschließlich 'finitima' kennt, daß auch ak bloß 'finitima' aufnimmt, daß ra schreibt: 'finit-a', und Rz: 'finitim'. Die Konstruktion des Relativsatzes muß nämlich ursprünglich nicht gelautet haben: 'qui in . . . provincia sunt', sondern: 'quibus' (vergl. fk, s2k) ' . . . provinciae sunt' (vgl. fz 'provintiae' und dazu Aa 'finitimae'). Nichts dergleichen in der Überlieferung von 'propinqua'. Statt dessen finden wir bei diesem den Beweis, daß es erst durch Umformung aus 'vicina' (vgl. fk, s2k, Rk, Wk) entstanden ist. Denn az und λζ entziffern ihre Vorlage an dieser Stelle zu 'propria', Β aber, dieser Tüpfler von einem Kopisten, liest zwar in k und a: 'propinqua', in ζ aber hat er herausgebracht: 'proprii qua'. War 'vicina' Vorgänger und Blutspender für 'pro-p-in-qua', so hatte zu 'vic-in-a' sowohl das 'pro' wie das 'q(u)' von 'qu-a' neu hinzugeschrieben werden müssen, trat mithin für den späten Kopisten stärker hervor. Dagegen waren die Änderungen zweiten Grades an dem bereits selbst nachgetragenen interlinearen 'vic-in-a' im einzelnen schwerer zu bestimmen. Daß dem Bearbeiter Dionys der ganze Zusammenhang der Stelle nicht wirklich klar geworden ist, trotz des auf dem engen Wortanschluß an das Griechische beruhenden scheinbaren 2]

Peitz-Foefster,

Exiguus-Studiea

386

Die Vorlagen des Dionys: Sardica

Gegenteils in der Übersetzung 0k, beweist in eben dieser die Wiedergabe des άγχιστεύουσι τη επαρχία mit 'providentibus provincie'. Das ist zwar auch eine — in anderem Zusammenhang — zutreffende Übertragung, hier aber können wir ihr bloß Wortrichtigkeit, nicht Sinnrichtigkeit zubilligen. Auf die Verbindung beider aber kommt es in einer Übersetzung an. Mit wenigen Ausnahmen stimmen die Hss. aller drei Kategorien darin überein, daß auf 'iustum putaverit' ein 'ut' zu folgen habe. Nur bei f 2 k, S k , S a , J a , fa, Ya wird 'ut' ausgelassen, bbz sagt 'et' statt 'ut'. Nun ist es etwas sonderbar, daß 'ut' gerade in solchen Überlieferungen fehlt, die den ältesten Wortlaut des Textes erwarten lassen, dazu kommt, daß auch in tk 'ut' nicht zu finden ist. Sollte es sich tatsächlich um die wahre Fassung der Y R handeln ? f 2 k sagt nicht: ' . . . putaverit renovetur', sondern: 'putaverit renovandum esse . . . ' . Und diese Gerundivform wird auch von tk aufgenommen. Mit Recht. Denn in der V R war, wie wir sahen, der Wechsel des Subjekts innerhalb des Bedingungssatzes nicht beachtet worden. Dort wurde also 'putaverit' auf den appellierenden Bischof bezogen. In solchem Zusammenhang war aber die gegebene Prägung: ' s i . . . iustum putaverit renovandum Erst die in der Bearbeitung Sp durchbrechende bessere Einsicht in den Bau des Vordersatzes ließ mit der Änderung 'si iustum putaverit — romanus episcopus — ' auch die Wiederaufnahme des Verfahrens als dessen Willensakt und Entscheidung auffassen und 'renovandum' in 'ut renovetur' ändern. Jene Hss., die 'ut' übergehen, haben also eine für sie eigentlich maßgebende Form des Verbums durch die umgearbeitete Form ersetzt. Eine ähnliche Lücke durch Auslassung von 'ut' wiederholt sich gleich darauf zu Beginn des von 'scribere' abhängigen Nebensatzes 'ut . . . — definiant'. E s fehlt das 'ut' bei p2k, Vk, Fk, fk, fk, s 2 k, Wk. Die Bearbeitung Sp zeigt, daß die Auslassung der V R entsprach, in der mithin der Inhalt des Schreibens asyndetisch angeschlossen war. Sp schreibt nämlich: 'et ipsi . . . ' . Und dieses 'et' wird auch durch R k bestätigt. Damit war die erste, rein koordinierende Verbindung mit 'scribere' hergestellt. Da die griechische Vorlage, die dem Bearbeiter in diesem Stadium seiner Arbeit bekannt wurde, ίνα bot, übersetzt

Sard. 7 und seine Parallelüberlieferung

387

©k: 'quo', für das tk 'ut' einsetzt. Gleichwohl haben außer p2k sämtliche Abschreiber der Textgruppe f 2 und ohne Ausnahme alle z- und a-Zeugen sowie die Sp-Abschrift E k : 'ut ipsi Nach dem Zeugnis sämtlicher Vertreter von Dk außer ak fährt der Text fort: '(ut ipsi) diligent er omnino requirant e t . . . Dagegen heißt es bei ak, bei allen Hss. Dz außer sz und bei sämtlichen Hss. Da: '(ut ipsi) diligenter omnia requirant e t . . . Der gleiche Gegensatz besteht bei einem Teil der Überlieferung von Textgruppe Q. Die Hss. Qk und Fk haben 'omnino' = Dk, während die Einzelabschriften pk, s 2 k, Rk, Wk, Kk, bbk mit Yza, pza, Rz, Wz, bbz 'omnia' lesen = Dza. ©k übersetzt έκαστα wörtlich: 'singula', ©a dagegen hat 'omnia', und auch tk stellt 'omnia' wieder ein statt des 'singula' von ©k. E s handelt sich hier um eine bewußte Wiederherstellung. Denn tk versetzt das 'omnia' vor sein 'subtiliter'. Dieses 'et subtiliter' entspricht dem 'cum scrupulositate' von ©k und enthält in seinem 'et subtiliter' eine Korrektur des unverbundenen 'cum scrupulositate', dem griechischen καΐ μετά ακριβείας entsprechend. Nun stehen aber die »Übersetzungen« ©k, tk mit dieser Wiedergabe des Griechischen allein: in allen andern Texten und Überlieferungen ist diese Bestimmung des Griechischen übergangen. Das zeigt, daß der Übersetzer Qk einen ihm vorliegenden Text des Kanons mit 'diligenter omnia' nach dem Griechischen verbessert hat, indem er darüber zwischen den Zeilen ergänzte: 'cum scrupulositate singula'. Daraus hat tk verbessert: 'et su-te-l-i-te-r, hat 'singula' getilgt und die Tilgung von 'omnia' wohl durch Streichung der Tilgungspunkte aufgehoben. Wegen dieser Wiederaufnahme des bereits vor ©k vorhandenen 'omnia' und wegen der Ergänzung von 'et' lag es für den Kopisten nahe, 'et subtiliter' erst nach 'omnia' einzusetzen. E s wäre aber auch denkbar, daß tk selbst diese Umstellung vorgenommen hatte, um den Hiatus 'omnia investigent', der sich aus seiner Änderung von (VR:) ©k 'scrutentur': tk 'investigent' zu vermeiden. Denn die V R dürfte überhaupt nicht 'omnia' gesagt haben, sondern: 'causam'. So überliefert nämlich sz die Stelle, während sk 'omnino' und sa 'omnia' schreibt. Der Kopist s hat also bei den drei Gelegenheiten, bei denen er Sard. 7 zu kopieren hatte, genau zugeschaut und sorgfältig gearbeitet. Daß er aber 'causam* aus

388

Die Vorlagen des Dionys: Sardica

'omnia' oder 'omnino' oder gar aus 'singula' verlesen hätte, ist ausgeschlossen. Folglich mußte an dem ©k vorliegenden Text bereits 'causam' durch 'omnia' ersetzt worden sein, und 0 k konnte die Ergänzung 'cum scrupulositate' nebst der Verbesserung 'singula' statt 'omnia' schwerlich mehr in dem Zeilen zwischenraum unterbringen: er mußte dafür den Rand in Anspruch nehmen und mit Verweisungszeichen arbeiten. Dort mußte auch tk seine Änderungen anbringen. Und dafür spricht noch ein weiterer Umstand. Doch bevor wir diesen erörtern, verfolgen wir die Überlieferung des 'omnia: omnino' bis zu ihrem Anfang. Das ist mit kurzen Worten geschehen. Sowohl die gesamte Sp als auch die gesamte kennen nur: 'omnia' in k, ζ und a. Aber nun machen wir gerade in eine neue Entdeckung. Sämtliche Hss. überliefern in ζ und a: 'omnia requirant'. In k dagegen spalten sie sich. f 2 k, 8 k und Y k schreiben: 'omnia requirant', Sk, Xk, Pk dagegen und uk, wk sagen: 'omnia exquirant'. Eine Verlesung kann nicht vorliegen, schon weil es sich um zwei ganz verschiedene Überlieferungsreihen handelt, die angeblichen »Familien« S und v, und weil Y k mit seinem 'requirant' zur gleichen Familie S mit dem Erbfehler 'exquirant' gehören soll. Es muß also in der Vorlage von S und u außer 'requirant' auch 'exquirant' wirklich gestanden haben, d. h. nach Maßgabe der Tatsachen der Gesamtüberlieferung: es muß in der Vorlage 'requirant' aus 'exquirant' verbessert worden sein. Da schon Sp einhellig bezeugt: 'omnia requirant', hat diese Änderung vor der Festlegung des Textes Sp stattgefunden. Folglich war der Wortlaut der V R : 'diligenter causam exquirant'. Auch damit ist jedoch der Text der VR nicht endgültig bereinigt. Wir sahen im Vorausgehenden, daß in der VR das einleitende 'ut' nicht stand. Nun schreibt Ok statt 'requirant': 'requir-e-nt', und B k : 'requir-u-nt'. Wir dürfen schließen: also hieß es in der V R : 'ipsi diligenter causam exquirent. Denn eine Umschrift von 'e' zu 'a' konnte in der jüngeren lateinischen Kursive gerade einen Tifteler wie Β auf den Gedanken bringen, der Schaft des ursprünglichen, mit vorausgehendem 'r' ligierten 'e' sei durchgestrichen, der getrennte, mit folgendem 'n' ligierte Kopf des 'e' dagegen solle ein 'u' sein.

Sard. 7 und seine Parallelüberlieierung

389

Kehren wir nun zu dem Gegensatz Dk 'omnino': Dza 'omnia' zurück. Die gesamte Entwicklung der Stelle, im Zusammenhang gesehen und in Verbindung mit der Gesamtüberlieferung, bestätigt uns, daß der einzige Bearbeiter aller Texte Dionysius Exiguus war, daß seine verbesserte Arbeitshs. die gemeinsame Quelle der ganzen Überlieferung bildete, daß ihr graphisches Bild die Ursache der verschiedenen Textunterschiede darstellt, daß unsere traditionelle Behandlung der Überlieferung, die Auswahl und Sichtung der Hss., ihre Gliederung nach Familien mit getrennten Stammbäumen, ihre Wertung zumal der »Mischhss.«, die Beurteilung der »Varianten« nach ihrer Bedeutung wie nach ihrem Ursprung, die Rezension des »kritischen« Textes und des gegenseitigen Verhältnisses der Quellen zueinander, kurz die ganze wissenschaftliche Text- und Quellenkritik in ihrem bisherigen Aufbau, ihren Anweisungen und ihren Ergebnissen sich auf unhaltbare methodische Voraussetzungen und irrige Anschauungen gründet. So schwer es uns werden mag: es gibt keinen anderen Ausweg, als von Grund auf neu anzufangen. Wir müssen zurück bis in die Zeit des beginnenden Humanismus, bis vor Laurentius Valla, bis in den Anfang des 15. Jh.s. Für die Richtigkeit der hier durchgeführten Untersuchung könnte die Prüfung der Überlieferung des gleich darauf folgenden 'iuxta' und des 'definiant' am Schluß des 'ut '-Satzes nur weitere Belege bringen. E s genüge, darauf zu verweisen. Statt dessen sei noch eine für die Geschichte der kanonistischen Texte und ihre Auswertung wichtige logische Folgerung hervorgehoben. Dk sagt: "ut ipsi diligenter omnino requirant.' Nach der Intention ihres Urhebers Dionysius Exiguus soll das eine getreue lateinische Wiedergabe des griechischen ίνα αύτοί επιμελώς (καΐ μετά ακριβείας) έκαστα διερευνήσωσι darstellen. Sehen wir selbst von dem in Klammern gesetzten Gliede ab, so ist doch die Frage, ob wir den Anspruch des Verfassers gelten lassen können. Die Fassung Dk ist, wie wir sahen, die eigenste persönliche Arbeit des Autors. Aber sie entspricht doch höchstens im allgemeinen dem Sinn nach, und auch das nur von ferne, der griechischen Vorlage, die er getreu zu übersetzen vorhat und vorgibt. Zwischen der Dk und der griechischen Vulgata klafft eine Lücke, die nicht zu überbrücken scheint. Entweder entspricht

390

Die Vorlagen des Dionys: Sardica

die griechische Vulgata, die mit dem Bearbeitungsstadium ©k in voller Harmonie steht, nicht jener Formulierung, die Dionys im Bearbeitungsstadium D voraussetzt, das bedeutet aber: die er selbst als die endgültige seinem griechischen Text geben wollte, — oder aber: unsere gesamte Überlieferung Dk weist hier einen Fehler auf, der in der Art ihrer gemeinsamen Vorlage begründet war. Und darum dürfte es sich tatsächlich handeln. Bei verschiedenen Gelegenheiten konnten wir schon feststellen, daß es eine Schreibgewohnheit des auf möglichste Kürze bedachten Skythenmönches war, Doppelbuchstaben, Silben mit gleichem Buchstabenbestand (s-ent-mi-ia) oder in denen wenigstens der Hauptbuchstabe derselbe war (me-w-ni, mewo-ravi), ja ganze Wörter gleichen Stammes mit verschiedener Endung (es sei erinnert an die früheren Ausführungen über 'episcopus' in Sard. 7) nur einmal zu schreiben und die Verdoppelung durch ein Zeichen (Kürzungsstrich, Häkchen) anzudeuten unter Beifügung der, wie immer, hochgestellten, klein geschriebenen Endung. Das ist das Kreuz seiner Kopisten, die Quelle zahlreicher Irrtümer. Hier steht 'omnino' an der gleichen Stelle wie 'omnia'. Das griechische καΐ μετά ακριβείας bleibt unberücksichtigt. Und doch kennt er es. Sollte nicht unsere Überlieferung hier bloß die Verdoppelung übersehen haben? Oder könnte nicht der gute Dionys selbst auch einmal vergessen haben, ein entsprechendes Zeichen anzubringen ? Jedenfalls hat sich ak berechtigt geglaubt, auch in diesem Text k zu lesen: 'omni-a'. Sollte der Text Dk auch als Übersetzung allen Ansprüchen gerecht werden, die man unter diesen besonderen Umständen an ihn stellen kann und darf, so braucht er nur zu lauten: 'ut ipsi diligenter omnino omnia requirant." Für die wissenschaftliche Forschung ergibt sich aus allem als zwingendes Gebot, daß auch bei einer sachlichen Behandlung eines dieser Kanones die Untersuchung der genetischen Entwicklung und der Vergleich jedes Einzeltextes mit dem Griechischen unerläßliche Voraussetzungen sind. Selbst hochgelehrte juridische Untersuchungen über diesen und andere Kanones von Sardica ζ. B. sind ohne Bedeutung nur deswegen, weil sie sich einseitig auf einen Text einer als meisterhaft angesehenen modernen kritischen Ausgabe stützen.

Sard. 7 und seine Parallelüberlieferung

391

So fremd, ja vielleicht exzentrisch diese Feststellungen uns im ersten Augenblick anmuten mögen: es sind einfach die mit logischer Folgerichtigkeit aus den vorliegenden Tatsachen sich ergebenden Schlüsse. Dies zeigt die Untersuchung der weiteren Abschnitte von Sard. 7, wenn wir auch sie im Zusammenhang der Texte unter gleichzeitiger beständiger Berücksichtigung der Gesamtüberlieferung prüfen. Gr.: et δέ Tts άξιο! Kai πάλιν αύτοϋ τό πρδγμα άκουσθήναι κοα τη δεήσει Trj έαυτοϋ τον ρωμαίων έπίσκοπον )κινεϊν( δόξη άπό τοΟ Ιδίου ττλευροϋ πρεσβυτέρους άποστείλοι, είναι έν τη εξουσία αΰτοϋ τοϋ επισκόπου, όπερ αν καλώ; είναι δοκιμάσ^ Kai )εάν{ όρίση δεϊν άποσταλήναι τούς μετά των επισκόπων κρινοϋντας έχοντας τε την αύθεντίαν τούτου παρ' ού απεστάλησαν, Kai τοϋτο θετέον, εϊ δέ . . . Dk: quod si is qui rogat causam suam iterum audiri, depraecatione sua moverit episcopum romanum, ut e latere suo praesbyterum mittat, erit in potestate episcopi quid velit et quid aestimet, et si decreverit mittendos esse, qui praesentes cum episcopis iudicent habentes eius auctoritatem, a quo destinati sunt, erit in suo arbitrio. Auch hier sehen wir mit Befremden, daß die endgültige lateinische Bearbeitung des Kanons durch Dionys mit der griechischen Vorlage der »Übersetzung« nicht übereinstimmt. Denn 'si is qui rogat . . . moverit . . .' gibt dem Satz eine eindeutige Beziehung auf das Subjekt der im vorausgehenden erwähnten Appellation. Das Griechische sagt ganz allgemein: ε ί . . . Tis, ja es schließt diese Beziehung durch das beigefügte δέ aus und stellt die in καταξιοϊ ... enthaltene neuerliche — καΐ πάλιν — Berufung in Gegensatz zu der vorher erwähnten. Im Griechischen sind άξιοι und δόξη gleichgeordnet, während das Lateinische das 'rogat' dem 'moverit' unterordnet: es ist nur eine nähere Bestimmung zu dessen Subjekt 'is'. Unklar ist, wie das lateinische 'quid velit et quid aestimet, et si decreverit..." mit dem griechischen όπερ öv . . . — όρίση in Einklang zu bringen sei. Vollends klaffen Griechisch und Lateinisch auseinander in den Schlußworten: καΐ τοϋτο θετέον: 'erit in suo arbitrio'. Die Überlieferung von D zeigt uns auch hier einen scharfen Gegensatz nicht nur in der Formulierung, sondern in der ganzen Auffassung. Es stehen sich zwei Fassungen gegenüber:

392

I.

Die Vorlagen des Dionys: Sardica

. . si (h)is qui rogat', vertreten durch alle k-Hss. außer Mk und durch alle a-Hss., II. . . si quis rogat', vertreten durch alle z-Hss. außer Mz. Mk und Mz verbinden I mit II, indem sie schreiben: 'si qui rogat'. Die Überlieferungen der Textgruppe Q bieten in sämtlichen Texten Q und F — also auch in Yz — die Fassung I, von den Einzelabschriften dagegen haben wohl die k-Hss. und die einzige Hs. der a-Überlieferung, pa, Fassung I, von den vier z-Überlieferungen dagegen bringen bloß fz und Wz Fassung II, während Rz und bbz nur schreiben: 'si rogat'. 0k und tk haben Fassung II 'si quis', während 0a Fassung I bietet. In 0k ist 'quis' eine Verbesserung von ursprünglichem 'quivis', wie es scheint. Spk kennt ausschließlich Fassung I: 'si his qui rogat'. In f 2 lesen f2k und Sk nur: 'si rogat' (wie Rz, bbz). Sk und vk sowie sämtliche a-Hss. schreiben Fassung I (wie Dka). Die Hss. Sz haben Fassung II 'si quis' ( = Dz), die Hss. vz aber Fassung I 'si (h)is qui rogat'. Die Übersicht zeigt also, daß der ursprüngliche Text nur gelautet hat: 'si rogat'. Die Bearbeitung Sp verdeutlicht dies unter Wahrung der dem ursprünglichen Text zu Grunde liegenden Auffassung, daß der 'rogans' hier identisch sei mit dem 'appellans' vorher: 'si is qui rogat'. Die Kenntnis des griechischen Textes vermittelt Dionys die Einsicht, daß diese Auffassung nicht dem Griechischen entspreche, und er verbessert: 'si quis'. Zugleich hat er das jener Auffassung Rechnung tragende, einleitende 'quod si' durch 'si vero' ersetzt. Unglücklich genug vermittelt tk zwischen älterem, korrigiertem und neuem, nach dem Griechischen revidierten Text: 'quod si quis roget. . .'. Daß nun ausgerechnet in Text ζ die Kopisten den durch tk geschaffenen Kompromiß als maßgebend ansehen, in Text k und a hingegen die Bearbeitung Sp beibehalten, muß in der äußeren, graphischen Erscheinung der allen drei Texten gemeinsamen Vorlage einen Grund gehabt haben, den wir nicht mehr zu erkennen vermögen. Nur die Gemeinsamkeit der Vorlage kommt in den verschiedenen Varianten — Rz, bbz, Mk, Ma —• zum Ausdruck.

Sard. 7 und seine Parallelüberlieferung

393

Sowohl die Urfassung: 'si rogat', wie deren erklärende Erweiterung: 'si (h)is qui rogat', machten natürlich die Aufnahme eines ' e t ' = καΐ nach 'rogat. . . audiri' unmöglich. Dagegen war nach 'si quis r o g a t . . dieses 'et' ebenso unentbehrlich wie im Griechischen. Demgemäß finden wir in D 'et' nur bei den z-Hss., bei diesen aber auch überall, selbst bei Mz, wo es nicht paßt. Ebenso haben die z-Hss. der übrigen Textgruppen das 'et' außer Rz und bbz, die es haben sollten. Die k- und a-Hss. hingegen lassen 'et' aus bis auf Sk und Fk. Gerade diese »Varianten« in Rz, bbz, 3 k , F k beweisen aber schlagend, daß es sich nicht um eine Überlieferungskontamination im herkömmlichen Sinn handeln kann. Das Verhältnis der Überlieferungen zueinander (besonders ζ : a), die Entwicklung der Bearbeitungen und der Zusammenhang der einzelnen Texte sind ein unwiderleglicher Beweis dafür, daß an dieser Stelle die ganze Überlieferung Dk trotz ihrer Einmütigkeit im Unrecht ist. Kritisch kann es in Dk nur heißen: 'quod si quis rogat . . . et', in Dz und Da dagegen müßte der Text lauten: 'quod si rogat . . . et'. Die Gemeinsamkeit der gleichen Vorlage für alle drei Überlieferungen äußert sich drastisch in der Überlieferung des von 'rogat' abhängigen 'audiri'. Xz, 0k, Yk,